Realismus und Gründerzeit 2 : Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880 3476004171

Als Ergänzung zu den literarischen Texten bezeugen die Manifeste und Dokumente den Funktionswandel der Literatur, der ne

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Realismus und Gründerzeit 2 : Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880
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Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880

Realismus und Gründerzeit 2 Herausgegeben von Max Bucher, Werner Hahl, Georg Jäger, Reinhard Wittmann

VERLAG

J.B. METZLER

Realismus und Gründerzeit



Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848—1880

Band 2

Realismus und Gründerzeit

Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848 — 1880 Mit einer Einführung in den Problemkreis und einer Quellenbibliographie herausgegeben von Max Bucher, Werner Hahl, Georg Jäger und Reinhard Wittmann

Band 2

Manifeste und Dokumente

J. B. METZLERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG STUTTGART

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur. - Stuttgart: Metzler

1848-1880. Realismus und Gründerzeit: mit e. Eint, in d. Problemkreis u. e. Quellenbibliogr. / hrsg. von Max Bucher ... 1848-1880, Bd. 2. Manifeste und Dokumente. 1981. ISBN 3-476-00417-1 NE: Bucher, Max [Hrsg.]

ISBN 3 476 00417 1 (kartoniert) ISBN 3 476 00267 5 (Leinen)

© J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1975/1981 Druck: Guide-Druck GmbH, I übmgen Printed in Germanv

Inhalt

Das Inhaltsverzeichnis enthält zur leichteren Orientierung verkürzte und vereinfachte Titelangaben. Die genauen Nachweise stehen über den Dokumenten. Sie geben Auskunft über die Kürzungen und die abgedruckten Ausschnitte, über Anonyme und Pseudonyme. Der Zeitschriftenfundort wird hier nur hinzugefügt, wo die Verfasser nicht ermittelt wer­ den konnten. Die Jahreszahl bezeichnet die (Erst-)Veröffentlichung, die als Druckvorlage dient. Die maßgeblichen Neudrucke finden sich in den Angaben über den Dokumenten.

Der Realismusbegriff in der Kunst Religionskritik., Ästhetik und Geschichte

1 Friedrich Theodor Vischer: Rez. Friedrich Overbeck, Der Triumph der Religion in den Künsten. 1841.................................................................................................. 2 Anton Springer: Kritische Gedanken über die Münchner Kunst. 1845 ... 3 David Friedrich Strauß: Aesthetische Grillen. 1848 ................................................. 4 Hermann Hettner: Drangsale und Hoffnungen der modernen Plastik. 1846 . .

2 5 7 9

Die Diskussion um die Historienmalerei

5 Friedrich Theodor Vischer: Die Aquarell-Copien von Ramboux in der Gallerie zu Düsseldorf. Einleitende Betrachtungen über den Zustand der jetzigen Ma­ lerei. 1842 ........................................................................................................................ 6 Anton Springer: Die geschichtliche Malerei in der Gegenwart. 1846 .... beiden Bilder von Gallait und de Biefve. 1843 ...................................................... 7 Franz Kugler: Sendschreiben an Herrn Dr. Ernst Förster in München über die 8 Anton Teichlein: Louis Gallait und Die Malerei in Deutschland. 1853 ... 9 Max Schasler: Ueber Idealismus und Realismus in der Historienmalerei. 1S58

19 21 26

30 34

Die Plastik als Vorbild der Dichtung 10 Anton Gubitz: Kunst und Künstler in Berlin. 1851.............................................. 39 11 Theodor Fontane: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1S48. 1S53 . .

40

Idealrealismus und Panentheismus 12 Aus Ernst Rietschels Notizbüchern. 1863 ............................................

42

VI

Inhalt

13 Moriz Carriere: Die Aufgabe der Kunst in der Gegenwart. 1857 ...................... 14 Melchior Meyr: Die deutsche Kunst in der münchener Ausstellung. 1859 . . 15 Adalbert Stifter: Ausstellung des oberösterreichischen Kunstvereines. 1867 . .

43 46 48

Der Realismus in der Literatur (Vorbereitung, Programm, Kritik)

Revolutionsprogramme 16 17 18 19

Heinrich Landesmann (Ps. Hieronymus Lorrn): Poesie und Politik. 1848 . . Ferdinand Kürnberger: Gedanken über die Lyrik der Zukunft. 1848 .... Richard Wagner: Die Kunst und die Revolution. 1849............................................ Hermann Hettner: Die Kunst und ihre Zukunft. 1850 ............................................

52 54 58 61

Der programmatische Realismus der »Grenzboten« und verwandte realistische Positionen Volk und Nation als Basis des neuen Realismus

20 Hermann Hettner: Die romantische Schule in ihrem inneren Zusammenhänge mit Goethe und Schiller. 1850........................................................................................ 21 Deutsche Dorfgeschichten. In: Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, 1854 . 22 Julian Schmidt: Rez. Leo Cholevius, Geschichte der deutschen Poesie nach ihren antiken Elementen. 1856 ..............................................................................................

64 67

69

Realismus und Bürgertum: Das sittliche Prinzip in der Darstellung der Arbeitsivelt 23 Gustav Freytag: Deutsche Romane. 1853 .................................................................. 24 Gustav Freytag: Neue deutsche Romane. 1853 ....................................................... 25 Julian Schmidt: »Wilhelm Meister« im Verhältnis zu unsrer Zeit. 1855 ...

71 72 73

Literatur und Revolution: Die Abrechnung mit der Literatur der Restaurationszeit 26 Friedrich Theodor Vischer: Noch ein Wort darüber, warum ich von der jetzi­ gen Poesie nichts halte. 1844 ........................................................................................ 27 JulianSchmidt: Die Märzpoeten. 1850............................................................... 78 28 Julian Schmidt: Die Reaction in der deutschen Poesie. 1851............................83

75

Die Ausbildung des Realismusbegriffs 29 Julian Schmidt: Georg Büchner. 1851................................................................... 87 30 Julian Schmidt: Einige Uebelstände in unsrem Theaterwesen.1852 .... 31 Julian Schmidt: Der neueste englische Roman und das Princip des Realismus. 1856 .................................................................................................................................... 32 Julian Schmidt: Schiller und der Idealismus. 1858 .... . .

88

90 94

Inhale

33 34 35 36 37

Vil

Julian Schmidt: Neue Romane. 1860 ....................................................................... 96 Theodor Fontane: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848. 1853 . ... 98 Otto Ludwig: Shakespeare-Studien. (Aus dem Nachlaß.)........................................... 101 Berthold Auerbach: Rez. Gottfried Keller, Die Leute von Seldwyla. 1856 . . . 104 Karl Frenzei: Das >Moderne< in der Kunst. 1868 ....................................................... 108 Forderungen nach einer Synthese von Idealismus und Realismus: Der Realidealismus

38 39 40 41

Karl Gutzkow: Realismus und Idealismus. 1857 . .................................................. Rudolph Gottschall: Poetik. 1858 ............................................................................ Adolf Helfferich: Das Stilgesetz in den bildenden Künsten. 1863 ...................... Heinrich Emil Hornberger: Der realistische Roman. 1870.......................................

111 112 115 117

Der religionsphilosophische Streit um den Realismus

Der Pantheismus 42 Friedrich Theodor Vischer: Akademische Rede zum Antritte des Ordinariats. 1845 ................................................................................................................................... 43 Theodor Mundt: Aesthetik. 1845 .............................................................................

122 124

Die panentheistische Ästhetik als Theologie der Verklärung

44 Melchior Meyr: Gedichte. 1857 .................................................................................. 45 Moriz Carrière: Aesthetik. 1859 .................................................................................. 46 Melchior Meyr: Emilie. Drei Gespräche über Wahrheit, Güte und Schönheit. 1863 ................................................................................................................................... 47 Ludwig Eckard: Vorschule der Aesthetik. 1864 .......................................................

127 129 132 135

Idealismus und Aristokratismus 48 Hermann Grimm: Rafael und Michelangelo. 1859 ................................................. 49 Wilhelm Scherer: Bürgerthum und Realismus. 1870 ............................................ 50 Emerich du Mont: Der Fortschritt im Lichte der Lehren Schopenhauers und Darwins. 1876........................................................................................ ....

139 141 143

Die Dorfgeschichte Dorfgeschichte und Nationalgedanke im Vormärz

51 Berthold Auerbach: An J. E. Braun vom Verfasser der »Schwarzwälder Dorf­ geschichten«. 1843 ........................................................................................................ 52 Karl Hagen: Berthold Auerbachs »Schwarzwälder Dorfgeschichten«. 1844 . 53 Ferdinand Gustav Kühne: Vorwort zur Zeitschrift »Europa«. 1846 .... 54 St. René Taillandier: Über Roman und Kritik in Deutschland. 1846 ....

148 152 154 155

Inhalt

VIII

Der Liberalismus und die Ästhetik des Volkstümlichen 55 Berthold Auerbach: Schrift und Volk. 1846 ............................................................ 56 Ferdinand Kürnberger: Ein Votum über die Literatur der Dorfgeschichten. 1848 57 Carl Dolde: Gegen »ein Votum über die Literatur der Dorfgeschichten von Fer­ dinand Kürnberger«. 1848 .............................................................................................. 58 Ferdinand Kürnberger: Leopold Kompert. 1848 ...................... 59 Gottfried Keller: Jeremias Gotthelf. 1849 ..................................................................

158 163

166 167 168

Gesellschaftlicher Konservatismus im Nachmärz 60 Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Literatur im neunzehnten Jahrhun­ dert. 1855. (Zu Auerbach und Gotthelf.)....................................................................... 176 61 Deutsche Dorfgeschichten. In: Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, 1854 . 178 62 Die Dorfgeschichte. In: Weimarer Sonntagsblatt, 1857 ...................................... 182 63 Gustav Hauff: Über Dorfgeschichten. 1859 ................................. .... 185

Kritik der verklärten Primitivität 64 Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik. Die Dichtkunst. 1857. (Zu Auerbachs »Dorfgeschichten« und Goethes »Hermann und Dorothea«.).................................189 65 Julian Schmidt: Otto Ludwig. 1857 ............................................................................. 190 66 Heinrich Treitschke: Otto Ludwig. 1859 .................................................................. 193 67 Gustav Freytag: Deutsche Dorfgeschichten. 1862 .................................................. 196 68 Karl Gutzkow: Die realistischen Erzähler. 1857 ....................................................... 197 69 Rudolph Gottschall: Rez. Berthold Auerbach, Barfüßele. 1857 ............................ 200

Klassische und romantische Interpretationsschemata 70 Rez. Berthold Auerbach, Barfüßele. In: Literatur-Blatt des Deutschen Kunst­ blattes, 1857 .................................................................................................................... 204 71 J. F. Faber: Riehls »Geschichten aus alter Zeit«. 1863 ............................................ 207 72 Karl Stieler: Volksausgabe von Auerbachs Dorfgeschichten. 1871........................... 211

Roman und Novelle

Roman und Gesellschaft Epik in der verwalteten Welt

73 Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik. Die Dichtkunst. 1857. (Zum Roman)

216

Goethes Gesellschaftsroman im Nachmärz

74 Hermann Hettner: Goethe und der Socialismus. 1852 ............................................ 75 Julian Schmidt: »Wilhelm Meister« im Verhältniß zu unsrer Zeit. 1855 . . .

221 226

Inhalt

IX

Roman und staatsbürgerliches Bewußtsein

76 Jeremias Gotthelf: Erlebnisse eines Schuldenbauers, Vorwort. 1853 ....

232

77 Adolf Stahr: Rez. Wilibald Alexis, Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. 1852 . . . 78 Karl Hillebrand: Vom alten und neuen Roman. 1884 ...........................................

234 237

Das Problem des gesellschaftlichen Pluralismus

79 Adolf Rutenberg: Der deutsche Roman der Gegenwart. 1873 ...................... 80 Friedrich Spielhagen: Der Ich-Roman. 1881-82 ......................................................

243 249

Roman und soziale Integration

81 82 83 84

Otto Ludwig: Volksroman - Volkslitteratur. (Aus dem Nachlaß.)...........................258 Otto Ludwig: »Harte Zeiten« von Dickens. (Aus dem Nachlaß.).......................... 262 Ludwig Walesrode: Rez. Berthold Auerbach, Auf der Höhe. 1865 .... 263 Erwin Schlieben: Zur Theorie des Romans. 1876 ................................. 269

Roman und Geschichte

Der nationalhistorische Roman 85 86 87 88

Julian Schmidt: Der vaterländische Roman. 1852 ................................................. Wilibald Alexis: Isegrimm, Vorrede und Schlußwort. 1854 .... Gustav Freytag: Rez. Wilibald Alexis, Isegrimm. 1854 ...................................... Theodor Fontane: Wilibald Alexis. 1872 .................................................................

278 282 285 288

Geschichtlicher Stoff und modernes Bewußtsein 89 Julian Schmidt: Rez. Charles Kingsley, Westward ho! 1856 ................................. 90 Otto Ludwig: Walter Scotts Einheitlichkeit. Seine Durchschnittshelden. (Aus dem Nachlaß.)............................................................................ • • 91 Joseph Victor Scheffel: Ekkehard, Vorwort. 1855 .... . .

290 292 294

Populäre Romangattungen Der biographische Roman 92 Adolf Stern: Der biographische« Roman. 1863 . 93 Karl Frenzei: Der historische Roman. 1866 .

.

296 299

94 Adolf Stern: Der Kriminalroman und die Kriminalnovcllc. 1864 ...................... 95 Adolf Rutenberg: Der Criminalroman und das Zeitalter des Modernen. 1S74 .

301 304

.

Der Kriminalroman

Inhalt

X

Kontroversen

Gutzkows allegorischer Zeitroman 96 Karl Gutzkow: Die Ritter vom Geiste, Vorwort. 1850................................. 97 Julian Schmidt: Rez. Karl Gutzkow, Die Ritter vom Geiste, 2. Aufl. 1852 .

.312 . 314

Der Roman und die Arbeit (G. Freytag)

Gustav Freytag: Soll und Haben, Motto und Widmung. 1855 ............................ 323 Karl Gutzkow: Rez. Gustav Freytag, Soll und Haben. 1855 ................................. 324 Theodor Fontane: Rez. Gustav Freytag, Soll und Haben. 1855 ...................... 328 Robert Giseke: Rez. Gustav Freytag, Soll und Haben. 1855 ................................. 336 Hermann Marggraff: Rez. Gustav Freytag, Soll und Haben. 1855 ...................... 340 Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Literatur. 4. Aufl. 1858. (Zu Freytag, Soll und Haben.)................................................................................................................... 343 104 Rudolph Gottschall: Rez. Gustav Freytag, Die verlorene Handschrift. 1865 . . 346 105 Michael Bernays: Charakteristik von Gustav Freytags Roman »Die verlorene Handschrift«. 1865 ......................................................................................................... 349

98 99 100 101 102 103

Le roman expérimental (Zola) 106 Ludwig Pfau: Emile Zola. 1880 ................................................................................... 107 Michael Georg Conrad: Zola und Daudet. 1880 . ... ....

352 359

Die Novelle Realistische Erneuerung

108 Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik. Die Dichtkunst. 1857. (Zur Novelle.) . . 109 Hermann Hettner: Die romantische Schule in ihrem inneren Zusammenhänge mit Goethe und Schiller. 1850........................................................................................ 110 Friedrich Theodor Vischer: Gottfried Keller. 1874 .................................................. 111 Theodor Storm: Eine zurückgezogene Vorrede aus dem Jahre 1881 ....

363

364 366 368

Die Kontroverse Riehl - Heyse 112 113 114 115

Wilhelm Heinrich Riehl: Geschichten aus alter Zeit, Widmung. 1863 .... Paul Heyse und Hermann Kurz: Deutscher Novellenschatz, Einleitung. 1871 . Paul Heyse: An Frau Toutlemonde in Berlin. 1869 .................................................. Wilhelm Heinrich Riehl: Novelle und Sonate. 1885 . . ....

369 370 372 377

Die Erzähltheorie Formen der Erzählung

116 Otto Ludwig: Formen der Erzählung. (Aus dem Nachlaß.) .

....

379

Inhalt

XI

Das objektive Erzählen

117 Julian Schmidt: Rez. Gottfried Keller, Der Grüne Heinrich. 1854 ...................... 118 Julian Schmidt: Rez. William M. Thackeray, The Newcomes. 1856 . . . 119 Friedrich Spielhagen: Der Held im Roman. 1874/1883 ......................................

381 382 384

Verteidigung des Erzählers 120 Berthold Auerbach: Goethe und die Erzählungskunst. 1861 . . . . 121 Berthold Auerbach: Der Pfarrer von Wakefield. 1865 .................................

.

388 390

122 Julius Duboc: Über die Darstellungsweise im Roman. 1871 ................................. 123 Gustav Freytag: Für junge Novellendichter. 1872 ................................ . .

394 397

Winke für literarische Handwerker

Versepik und Dramatik Programme zu einem Gegenwartsepos

124 Robert Prutz: Rez. Theodor Mundt, Thomas Müntzer. 1842 ........................... 125 Gegenwart und Zukunft des Epos in Deutschland. In: Literarische Zeitung, 1846 .................................................................................................................................. 126 Max Waldau: Neuere epische Dichtung und Rudolph Gottschall. 1854 . . . 127 J. F. Faber: Das moderne Epos. 1855 .......................................................................

402

405 407 412

Die Epostheorie des Klassizismus und Spätrealismus 128 Rudolph Gottschall: Die deutsche Nationalliteratur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. 1855 ...................................................... ... 415 129 Rudolph Gottschall: Poetik. 1858.. ...416 130 Moriz Carriere: Die Poesie. 1884 ................................. . 421

Staat, Gesellschaft und Drama nach 184S 131 Robert Prutz: Das Drama der Gegenwart. 1851 ...................................... 132 Ludwig Eckardt: lieber das deutsche Drama der Neuzeit. 1858 .

.

424 428

Die Technik des Dramas 133 Gustav Freytag: Die Technik des Dramas. 1849 .

.

432

Die Kritik an Hebbel 134 Heinrich Treitschke: Friedrich Hebbel. 1860.

.

437

Inhalt

XII

135 Adolf Strodtmann: Friedrich Hebbel. 1862 ............................................................. 136 Robert Prutz: Friedrich Hebbel. 1864 ........................................................................

442 445

Der Klassizismus im Drama 137 Constantin Rössler: Gustav Freytag und die deutsche Dichtung der Gegen­ wart. 1860 ......................................................................................................................... 138 Antike Dramenstoffe auf der deutschen Bühne. In: Literatur-Blatt des Deut­ schen Kunstblattes, 1858 .............................................................................................. 139 Rudolph Gottschall: Die französisirende Richtung der neuem deutschen Dra­ matik und Dramaturgie. 1857 ........................................................................................ 140 Julian Schmidt: Antike Versuche auf dem modernen Theater. 1857 ....

448 450 454 456

Das bürgerliche Drama

141 Emil Müller-Samswegen: Das bürgerliche Drama. 1858 ....................................... 142 Ferdinand Kümberger: Rez. Friedrich Hebbel, Maria Magdalena. 1848 . . . 143 Heinrich Treitschke: Otto Ludwig. 1859 ..................................................................

460 465 468

Das Geschichtsdrama

144 Karl Gutzkow: Vorrede zu »Wullenweber«. 1848 .................................................. 145 Rudolph Gottschall: Ueber die historische Tragödie. 1859 ................................. 146 Melchior Meyr: Die Gefahr und das Heil des deutschen Dramas. 1868 . . .

470 471 475

Die Meininger: Historismus und Drama 147 Hans Hopfen: Die Meininger in Berlin. 1876 ............................................................. 148 Albert Lindner: Die Meininger und ihr Kunstprincip. 1878 .................................

479 480

Die Gründerzeit

Historismus und Nationalismus Kriegsmanifeste

149 Friedrich Pecht: Der Krieg und die deutsche Kunst. 1870 . . 150 Berthold Auerbach: Wieder unser. 1871 .................................

......................

484 487

Der historische Roman in der Nationalpädagogik

151 Wilhelm Jensen: Wilibald Alexis und die »preußische * Dichtung unserer Zeit. 1866 .................................................................................................................................... 152 Franz Hirsch: Geschichte und nationale Erziehung. 1882 ......................................

489 491

Inhalt

XIII

Der archaisierende Roman

153 Berthold Auerbach: Bemerkungen zu Gustav Freytag, Ingo und Ingraban. 1873 154 Paul Lindau: Rez. Gustav Freytag, Ingo und Ingraban. 1872 ...........................

493 496

Das germanische Nationalepos

155 Wilhelm Jordan: Epische Briefe. 1876 ...................................................................... 156 Wilhelm Jordan: Das Kunstgesetz Homers und die Rhapcodik. 1869 . . 157 Ferdinand Kürnberger: Der Rhapsode Jordan. 1870 .................................

501 .

502 504

158 Fritz Koegel: Frauen-und Goldschnitt-Literatur. 1884 . . . 159 E. Last Literatur-Institut. Nachtrags-Verzeichniß. 1890 ...................................... 160 Emil Kuh: Rez. Robert Hamerling, Der König von Sion. 1869 . . 161 Julius Hart: Julius Wolff und die »moderne« Minnepoesie. 1887 . . .

507 509 510 514

.

Die triviale Versepik

Weltanschauliche Positionen

Der Spätidealismus und das Reich 162 Moriz Carrière: Die sittliche Weltordnung in den Zeichen und Aufgaben un­ serer Zeit. 1870 ................................................................................. . . .517 163 Moriz Carrière: Pessimismus und Idealismus in der Kunst. 1874 . .518 164 Adolf Friedrich von Schack: Nächte des Orients. 1874 ................................. 521 165 Gustav Wacht: Emile Zola und die Commune in der Literatur. 1880 . . 525 Kritiker des Spätidealismus 166 Leopold von Sacher-Masoch: Die Ideale unserer Zeit. 1875 . . . 167 Ludwig Anzengruber: Dorfgänge. Eine Plauderei als Vorrede. 18“9

.

527 529

Der Pessimismus 168 Leopold von Sacher-Masoch: Das Vermächtniß Kains. Gesamtkonzept im Brief an den Bruder Karl. 1869 ....................................................................................... 531 169 Leopold von Sacher-Masoch: Das Vermächtniß Kains. Prolog des Wanderers. 1870 ................................................................................................................................... 532 170 Johannes Volkelt: Rez. Siegfried Lipiner, Der entfesselte Prometheus. 18 . 535 171 Wilhelm Jensen: Wilhelm Raabe. 1879/80 ................................. 540 172 Eduard von Hartmann: Aphorismen über das Drama. 18“0 . 543 173 Hieronymus Lorrn: Contemplative Lyrik. 1874 . . 545

Der germanische Tragismus 174 Felix Dahn: Odhin’s Trost. 1880 .

549

XIV

Inhalt

Der Darwinismus in der Literaturtheorie 175 Carl du Prel: Psychologie der Lyrik. 1880 .

.

..................................................

551

Aristokratismus (Heroentum, Kultur und Klassenherrschaft)

176 Herman Grimm: Leben Michelangelo’s. 1860............................................................ 177 Herman Grimm: Goethe. 1877 ................................................................................... 178 Friedrich Nietzsche: Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern. Der grie­ chische Staat. 1872 ......................................................................................................... 179 Heinrich von Treitschke: Der Sozialismus und seine Gönner. 1874...................... 180 Eduard von Hartmann: Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins. 1879 . .

554 555 558 561 565

Wagner und sein Kreis (Religionsstiftung, Lebensreform und Kulturkritik)

181 182 183 184

Richard Wagner: Religion und Kunst. 1880 ............................................ . . Richard Wagner: >Was nützt diese Erkenntniß?« 1880 ............................................ Hans von Wolzogen: Von der Sperlingsgasse bis zum Krähenfelde. 1881 . . . Otto Glagau (?): Die Juden im Roman. 1882 .............................................................

568 574 577 580

Literarisches Leben

Schriftsteller und Gesellschaft Aspekte der Emanzipation des Schriftstellers Auflösung der Ständegesellschaft

185 Hermann Hauff: Gedanken über die moderne schöne Literatur. 1840 . . 186 Wilhelm Heinrich Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft. Kap. Die Proletarier der Geistesarbeit. 1851 .........................................................................................................

586 593

Revolutionäre Organisationsentwürfe

187 Wolfgang Müller (von Königswinter): Vergangenheit und Zukunft der Kunst. 1848 ....................................................................................................................................

597

Mäzenatentum oder Selbsthilfe

188 Franz Ferdinand Dingelstedt: Die deutsche Schillerstiftung. 1865 ...................... 189 Gustav Freytag: Fürst und Künstler. 1866..................................................................

601 608

Inhalt

XV

Die Entfremdung zwischen Autor und Publikum 190 Robert Prutz: Literatur und Literaturgeschichte in ihren Beziehungen zur Ge­ genwart. 1858 .................................................................................................................. ...... 191 Friedrich Spielhagen: Produktion, Kritik und Publikum. 1883 ...........................

613

Literatur als Ware in der Gründerzeit

192 Wilhelm Jordan: Briefwechsel zwischen der Frau Commerzienräthin S. in Berlin und dem Dichter W. Jordan in Frankfurt. 1868 ...................................................... 618 193 Manuscripten-Vermittelung. In: Der literarische Verkehr, 1872 ...................... 620 194 Oswald Zimmermann: Brief an den Herausgeber der »Deutschen Dichter­ halle«. 1880 .................................................................................................................. 623

195 Correspondenz mit den Einsendern und Mitarbeitern des »Deutschen Dichter­ heims«. 1882 ..................................................................................................................

624

Zur Distribution der Belletristik

Buchbesitz und nationale Gesinnung

196 Gustav Freytag: Luxus und Schönheit im modernen Leben. Die Anlage von Hausbibliotheken. 1852 .................................................................................................. 197 Adolf Zeising: Deutsche Originalromane. 1854 ... ......................

626 630

Leihbibliotheken und Romankonsum 198 Verfügung des Königl. Preuss. Ministeriums des Innern über die Beaufsichti­ gung der Leihbibliotheken. 1842 ................................................................................. 199 Albert Last: Ueber Romane und Romanverleger. Winke für den Verleger. 1S64 200 Otto Janke: Entgegnung auf und Berichtigung zu »Winke für den Verleger«. 1864 ................................................................................................................................... 201 Albert Last: Der Einfluß der Leihbibliotheken auf den Roman-Absatz. 1884 .

633 635

639 641

Das Klassikerjahr 1867 Der Buchhandel

202 Christian W. Wurst: Kreuz- und Querzüge in Sachen der deutschen Classiker. 1868 ............................................................................................................................. 203 Otto Mühlbrecht: Der Feldzug der deutschen Verleger im Jahre 1867. 1867 .

647 649

Die Diskussion um den Klassikerbegriff

204 Literatur und Kunst für das Bürgerhaus. In: Die Gartenlaube, 1867 . 205 Rudolph Gottschall: Die Classiker als Nationaleigcnthum. 1867 .

651 654

Inhalt

XVI

206 Christian W. Wurst: Kreuz- und Querzüge in Sachen der deutschen Classiker. 1868 .................................................................................................................................... 207 Karl Frenzei: Die Classiker frei! 1867 ......................................................................

656 657

Der Kolportageroman der Gründerzeit 208 Otto Glagau: Der Colportage-Roman, oder »Gift und Dolch, Verrath und Rache«. 1870 ....................................................................................................................

661

Illustration und Prachtausgaben

209 Die Illustration als Hebel der Volksbildung. In: Illustrirte Zeitung, 1868 . . 210 Friedrich Theodor Vischer: Rez. Schillers Gedichte. Jubiläumsprachtausgabe.

669

1861 ....................................................................................................................................

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Volk und literarische Bildung 211 212 213 214

Karl Gutzkow: Volk und Publicum. 1855 .................................................................. Friedrich Schaubach: Zur Charakteristik der heutigen Volksliteratur. 1863 . . Moritz Müller: Göthe im Arbeiterbildungs-Verein. 1863 ....................................... Pfarrer Grob: Referat über die von der Jahresdirektion der Schweiz, gemeinnüt­ zigen Gesellschaft ausgeschriebene Frage betreffend Volksliteratur. 1867 . .

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Der Realismusbegriff in der Kunst

Religionskritik, Ästhetik und Geschichte

1 Friedrich] [Theodor] Vischer: Der Triumph der Religion in den Künsten, von Fried­ rich Overbeck [1]. In: Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst 1841, 2.-7. August, S. 109-11, 113-14, 117-20, 121-24, 125-28. Hier S. 123-24, 126. (Neu­ druck Vischer: Kritische Gänge, 2. Aufl., hg. v. Robert Vischer, Bd. 5, München 1922, S. 3-34.)

[...] Ich fasse die Sache jetzt an der Wurzel und sage: das Princip der Reformation, in der Kirche selbst nur unvollständig aufgestellt, von der Wissenschaft, von der Weltbildung durchgeführt, hat den Olymp des Mittelalters ein für allemal rein ausgeleert. Unser Gott ist ein immanenter Gott; seine Wohnung ist überall und nirgends; sein Leib ist nur die ganze Welt, seine wahre Gegenwart der Menschengeist. Diesen Gott zu verherrlichen ist die höchste Aufgabe der neuen Kunst. Die Geschichte, die Welt als den Schauplatz des Herrn, die naturgemäße, in scharfen, nicht romantisch schwankenden, festen Umrissen als eine Bewegung, worin sittliche Mächte Gottes Gegenwart verkündigen, wo Himmelskräfte auf- und niedersteigen und sich die goldnen Eimer reichen, das ist das Feld des modernen Künstlers. Wir kennen keine Wunder mehr, als die Wunder des Geistes, diese innere Romantik bringe der Künstler in gediegenen plastisch ge­ läuterten Formen zur Erscheinung. Hiedurch ist die kirchlich-religiöse Malerei, die man sonst als den höchsten Zweig der historischen Malerei ansah, offenbar von dieser Stelle vertrieben, ja sie ist aufgehoben. Sind es ja doch schon dreihundert Jahre her, daß sie Todes verblichen ist, und nur mit galvanischen Reizen hat man ihr ein neues Scheinleben einzutreiben gesucht. Unter Anderem mögen Madonnen und Heilige u.s.f. immer noch vorkommen; man kann dem Künstler nicht vorschreiben, die Stimmung des katholischen Mittelalters mag ihn gelegentlich ergreifen, daß er einmal ein Heiligenbildchen malt, so wie er unter Anderem auch einmal die alten Götter wieder auf einige Stunden bei uns einführen mag. Aber er stelle diese Aufgaben nicht als Princip auf. Er mag es, wenn er eine lebendige Leiche sein will. Unsere Kunst hat Alles verloren und dadurch Alles gewonnen; verloren die ganze Fata Morgana einer transcendenten Welt, gewonnen die ganze wirkliche Welt. Die Malerei des Mittelalters wie sein Glaube, legte die ganze Erde in den Himmel hinüber, die unsrige zeige den Himmel auf Erden. Die Atmo­ sphäre unseres Planeten ist für uns keine Geisterwohnung mehr, der Horizont ist gereinigt; keine Feeen [!] und Gnomen schimmern mehr durch den Nebel, keine Götter und Marien thro­

nen auf abendrothen Wolken: es ist Nebel, es sind Wolken, aber die Welt selbst rückt nun ins volle Licht, da vorher zwischen ihr und der Sonne eine zweite Körperwelt ihr das Licht entzo­ gen, sie liegt aufgeschlagen vor uns, die Strahlen der Kunst können ihr bei, es ist Luft, Licht, offen. Daß, wer diese helle, klare Welt im Segen ihrer Götterkräfte darstellt, indem er das Gemeine, was bloß endlich an ihr ist, im Läuterungsfeuer der Phantasie ausscheidet, Gott nicht verherrliche, daß man nur entweder Gott, oder die Welt, entweder die Idee oder die Wirklich­

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keit, entweder die Natur in der heiteren Regung großer Kräfte oder die Übernatur darstellen, entweder nur artistischer Naturalist oder Supranaturalist sein könne: wer dies behauptet, ist ein Manichäer, ein Künstlerpietist, ein Mensch, der nicht weiß, daß nicht bloß unsere Theolo­ gie, sondern unsere ganze Bildung längst über das Dilemma des Rationalismus und Suprana­ turalismus hinaus ist, ja er ist ein Mensch, der keine wahre Religion hat. Denn wahre Frömmig­ keit vertraut auf Gott, daß er bei uns und mit uns, daß er ein Geist sei, der nicht in sich bleibt und sich nicht verliert, wenn er seinem Andern sich ganz mittheilt. Meint ihr denn, das sei zufäl­ lig, daß wir einen Luther, einen Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Strauß haben? Das könne in der Wissenschaft eingeschlossen bleiben, sei nicht Symptom und Sprache unserer Gesammtbildung, fließe nicht in sie zurück und müsse auch in der Kunst durchbrechen? Ein großes Stück Geschichte verläugnen, ist immer Wahnsinn. Verkenne nur dein Volk und was es gethan, den Blitz des freien Gedankens auf seiner tiefgefurchten Stirne; geh nach Rom, um die ewig junge Antike zu verachten und das verwelkte Mittelalter zu verjüngen, laß dich von Rothstrumpf und Blaustrumpf mit abgestandenem Weihwasser sprengen: wir lassen die Todten ihre Todten be­ graben.

[...] Es sei denn; wer durchaus Mönch und Pfaffe werden will - wir können's ihm nicht ver­ wehren. Daß nun in diesem eng beschlossenen Kreise das Ideal der Madonna es sei, wozu diese Hand [2] am meisten Beruf hat, begreift sich; zwar nicht die stolze Königin der Himmel, wohl aber die keusche Magd des Herrn, die schamhaft über dem Geheimniß ihrer Berufung sinnende Braut, ist ganz eine Aufgabe für seine kindliche Grazie. Ja, sie ist schön, diese Madonna, diese reine Taube sonder Galle. Und doch - es ist etwas darin, ich weiß nicht was, etwas Almanach, etwas Vielliebchen und Vergißmeinnicht [3], Es ist ein Zug, der in allen neueren Madonnen unverkennbar ist; man sieht ihnen eben eine Zeit an, wo es Stammbücher, viele Spiegel, Mode­ journale und Titelkupfer von Taschenbüchern giebt. Wie soll es auch anders möglich sein! Wie kann ein Mensch seine Zeit verläugnen! Die betende Madonna von Heinrich Heß in der Aller­ heiligenkirche zu München [4] ist ein wunderlicbliches, frommes Bild, und doch auch sie hat denselben Zug. Wir wissen einmal, es giebt keine menschliche Jungfrau, die zugleich eine göttli­ che, keine Empfängniß, die zugleich außerdem Naturgesetz wäre. Mag der Einzelne es glauben, oder nicht: dies ist ganz gleichgiltig; es ist in der Atmosphäre, er schlürft diese Bildung in jedem Athemzuge mit ein. Nun soll aber dennoch eine jungfräuliche Mutter dargestellt werden; wohl­ gemerkt nicht in dem rein sittlichen Sinne, wonach die wahre Liebe das Sinnliche adelt, die wahre Frau stets keusche Braut bleibt, sondern im kirchlichen Sinne eines Mirakels, einer unbe­ greiflichen Existenz. Diesen Zwang gegen das Zeitbewußtsein, diese Absichtlichkeit sollte man dem Bilde nicht anfühlen? Nein, eure Madonnen sind nicht Madonnen der alten Kirche; sie haben in den Stunden der Andacht [5] gelesen, sie sind in einer Pension, in einer Töchterschule aufgewachsen, ein Jährchen wenigstens, ja sie trinken Thec, wenig, aber etwas. Diese hier hält ja gar eine Schreibfeder in der Hand; gebt Acht, sie nimmt ein Blatt aus einem Album mit Rococoarabesken am Rande und schreibt etwas aus Jean Paul darauf - nein, schönes Mädchen, ich

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glaube es nicht, daß dies Kind Ihr Kind ist, Sie sind zu sittlich, auch hat der heilige Geist einen anderen Geschmack, etwas derber; einen Zimmermann hätten Sie schwerlich geheirathet; viel­ mehr ein Ideal von einem sittlichen, höchst musterhaften jungen Mann, angestellt etwa beim Kirchen- und Schulwesen, irgend einen Oberhofprediger, der Glockentöne geschrieben hat [6] -den würd’ ich Ihnen empfehlen. Aber wie frevle ich! Das Bild ist doch so schön! Und ich habe doch Recht; eine Madonna ist für uns eine Unmöglichkeit. Die alten Maler, ja die konnten es. Wie innig der Einzelne an sie und den ganzen Mythenumfang der Kirche glaubte, war dabei nicht wichtig; die Forderung einer besondern Frömmigkeit an den Künstler ist in allen Zeiten lächerlich, und was Fiesoie [7] malen konnte, dankte er gewiß nicht den Gebeten und Thränen, mit denen er an die Staffelei trat. Daß die Weihe der Stimmung nicht fehlen darf, versteht sich, aber wie der praktisch-menschliche Charakter und die Innigkeit dogmatischer Überzeugung damit Zusammenhängen, inwieweit das Ideal seiner ästhetischen Contemplation auch die Per­ sönlichkeit des Künstlers durchdrungen haben müsse, darüber muß man in seinen Behauptun­ gen sehr vorsichtig zu Werke gehen, denn die Frage ist gar nicht einfach. Von dem alten, stren­ gen, kirchlichen Giotto [7] hat man mancherlei Anekdoten, worin er eben nicht sehr lammfromm erscheint; der andachtglühende Perugino war, wenn man auch von Vasari’s Schil­ derung Manches abzieht [8], ein Mann, der die Güter des Lebens wohl zu schätzen wußte, und die Maler der reifen Periode ohnedies waren sammt und sonders Weltkinder. Allein wie locker sie leben und denken mochten: die Principien, die Grundstimmung des Katholicismus hatten sie mit der Muttermilch eingesogen, wir Neueren aber, Katholik wie Protestant, wir Kinder einer Zeit, wo es Fräcke und Cravatten giebt, haben die entgegengesetzte Stimmung in allen Nerven und Adern, und jede Mühe ist vergeblich, uns auf dem Wege der Ueberzeugung, der Dogmatik in jene zurückzuversetzen. Dahin kommt man nicht mit Dampfkraft, es ist aus und vorbei.

[•••]

1 Friedrich Overbeck (1789-1869), Haupt der Nazarener, Konversion 1813. Der Triumph der Religion in den Künsten (h. 3,83, br. 3,89 m; bestellt für das Städel’sche Institut zu Frankfurt/M., begonnen 1830, vollendet 1840) gehört zu den vielgefeierten, einflußreichen Spätwerken. Es stellt die Entwicklung der Kunst im Dienste der christlichen Kirche dar. 2 Overbeck im Triumph der Religion. 3 Vielliebchen. Historisch-romantisches Taschenbuch von A. v. Tromlitz [d. i. August von Witzleben] u. a., Bd. 1-22, Leipzig 1827-1848 mit Fortsetzung. Vergissmeinnicht. Ein Taschenbuch von H. Clauren [d. i. Karl Gottlob Samuel Heun], Leipzig [1818-1837). Aufgegangen in Rosen und Vergissmeinnicht, Leipzig [1838-1844], Die Titel waren beliebt und begegnen auch bei weniger erfolgreichen Taschenbü­ chern. 4 Heinrich Hess (1798-1863), seit 1827 Prof, an der Münchener Akademie, führender religiöser Maler. Arbeiten an der Allerheiligenhofkirche 1827-37. 5 Heinrich Zschokke (1771-1848): Stunden der Andacht zur Beförderung wahren Christenthums und häuslicher Gottesverehrung, Jg. 1-8, Aarau 1809-1816 u. ö. 6 Friedrich Strauß (1786-1863): Glockentöne. Erinnerungen aus dem Leben eines jungen Geistlichen, 3 Bde., Elberfeld 1815-1819 u. ö. St. war seit 1822 Hof- und Domprediger in Berlin, seit 1836 Oberkonsistorialrat und Vortragender Rat im preußischen Kultusministerium.

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7 Fra Angelico da Fiesoie (1387-1455) und Giotto di Bondone (1266 od. 1267-1337) waren Vorbilder für Overbeck. V. will die Irrelevanz der subjektiven Ehrlichkeit, die er Overbeck in seinem Glauben nicht abspricht, für die Frage nach der geschichtlichen Möglichkeit christlicher Kunst deutlich machen. 8 Giorgio Vasari: Le vite de’ piü eccellenti pittori scultori e architettori (1550, 2. Aufl. 1568), TI. 2 über Pietro Perugino (um 1450-1523).

2 [AntonSpringer:] Kritische Gedanken über die Münchner Kunst. In: Jahrbücher der Gegenwart 1845, S. 1022-34. Hier S. 1023-26, 1028-29. [...] Wir legen den entschiedensten Protest ein gegen diese Anmaßung der Münchener Schule, eine nationale und historisch bedeutsame Kunst heißen, die Blüthe des modernen Zeitbewußtseins bilden zu wollen. Zuerst, weil ihr der Äthern der Freiheit fehlt. Nur die freie Kunst kann in der Gegenwart historische, allgemeine Bedeutung erlangen; diese kann aber nicht pilzartig über Nacht erstehen, sie muß, besonders wenn sie als blos umbildende Kunst auftritt, auf der Basis einer freien Wirklichkeit, eines bewußten Volklebens [!] fußen, ein politisch reges Bewußtsein, eine freie Wissenschaft und Poesie zur Voraussetzung haben. Nun ist Baiern zwar ein konstitutioneller Staat, aber deutsch, ein Staat, wo die Gesinnung mit Stock und Hut im Vorsaale der Kammer oder ganz zu Hause gelassen wird. Die Liberalen behaupten, daß das Repräsentativsystem das Volksbewußtsein belebe und aufrege: den Beweis aus Baiern zu holen, dürfte sie wohl in einige Verlegenheit versetzen.

[...] Deutschland besitzt überhaupt keinen Ueberfluß an Freiheit, hier mehr als irgendwo nistet noch die mittelalterliche Partikularität und egoistische Vereinzelung, aber in allen Gauen ist es unendlich freier als in Baiern, welches im Ultramontanismus wattet [!], und den geringsten Antheil an den gegenwärtigen, vielversprechenden Bewegungen hat. Die Münchner Künstler mögen nicht glauben, daß die Jesuiten, etwa weil sie auch in Belgien blühen [1], nothwendig zur Kunst gehören. Dort ist der Katholizismus ein politisches Moment, in Baiern riecht er allzu­ stark nach dem Katechismus. Der deutsche protestantische Geist ist in der baierischen Kunst nicht vertreten, eine deutsch nationale Basis mangelt derselben gänzlich. Die freie Kunst als unmittelbarer Ausfluß des modernen Geistes ist ferner demokratisch, nimmt ihren Ursprung vom Volke und kehrt wieder zu diesem zurück. Demokratisch sind die gegenwärtigen religiösen und politischen Bewegungen, demokratisch wird auch die Kunst sich entwickeln. Der Schöpfer der »glorreichen Kunstära« in München ist König Ludwig [2]. Dem­ nach ist die Münchener Kunst weniger als lokal, sie ist eine Privatunternehmung. [•••] Scheuen wirnichtdas Wespennest bis in seine letzten Schlupfwinkel zu verfolgen, wir werden über die gräßliche Geistesverwirrung, den kolossalen Widerspruch staunen. Zuerst hinsichtlich der Architektur. Wer in München promenirt, um die »unserem Geiste verwandte Formengestaitung« zu betrachten, hat die beste Gelegenheit, die ganze Geschichte

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der Baukunst, von der Gegenwart bis zur ägyptischen Kunst zurück, kennen zu lernen. Der steinerne Kunstatlas bleibt ihm stets zur Seite. Vom Renaissancestil angefangen ziehen sich diese Modelle durch die Zeit des germanischen, romanischen, altchristlichen, römischen und griechischen Stiles hindurch [3] - um wahrscheinlich mit der Nachahmung orientalischer Bau­ ten zu enden. Wie herrlich wird es sich dem freien Volke unter dem Schatten einer ägyptischen Pyramide ruhen [!], wie begeisternd wird eine chinesische Pagode auf das freie Bewußtsein wir­ ken! Oder ist der Schritt von einem pompejanischen Hause, einer Basilika zu einem indischen Tempel so weit? Jene verhalten sich auf völlig gleiche Weise zum modernen Bewußtsein, drükken mit gleicher Prägnanz den Geist der Gegenwart aus, wie dieser. [...] Der Geist, welcher sich in diesen Werken abspiegelt, muß sehr origineller Natur sein, daß er sich in den heterogensten Formen gleich heimisch fühlt, sehr fadenscheinig muß sein Inhalt sein, daß seine Fetzen eben so gut am griechischen Giebel, wie am germanischen Thurm hangen bleiben, sehr übel seine logischen Kenntnisse bestellt, die ihm nicht einmal sagen, daß wenn er im Renaissancestile, im Rundbogen seinen entsprechenden Ausdruck gefunden, er den germanisch-christlichen, oder, wenn er sich im letztem zu Hause fühlt, den griechisch freien Stil wie eine Pest fliehen müsse, daß seine Fähigkeit, jede beliebige Form anzunehmen, Formlosig­ keit, Charakterlosigkeit sei. Man nennt im gewöhnlichen Leben dieß charakterlose Fügen und Schmiegen, Kriechen und Wedeln eine hündische Natur; entweder ist also der Geist der Gegen­ wart dupirt und hündisch; dann ist es unter der Würde der Kunst, ihn zu verewigen und zu verherrlichen, oder -.

[•••] Der christlich-germanische Geist starb im 15ten und löten Jahrhundert, als die Entdeckung beider Indien den Realismus in Vordergrund schob, Galiläi und Copernikus den machtvollen Geist in der Natur entdeckten, Spinoza die Materie von der Sünde theoretisch, wie Rubens und Titian praktisch, befreite, die griechische Literatur und Kunst den Humanismus gebar, die Reformation endlich dem Subjekte den Richterstab über Sein und Nichtsein der Substanz in die Hände legte. Die seelenlose Hülle allein ist geblieben, auch diese zu dem längst abgeschiede­ nen Geiste in das Grab zu legen, ist Geschäft der Gegenwart. Und weil der Geist fehlt, darum sind alle Versuche, ihn und seine Schöpfungen heraufzubeschwören, eitle, erfolglose Versuche - die Aukirche [4] nur ein gut durchgeführtes Modell. Oder glaubt man wirklich, in diesem konfiturenartig gehaltenen Werke ein ächtes Kunstprodukt zu besitzen? weiß man nicht, daß man nicht einmal ein germanisch-christliches, geschweige ein die Gegenwart befriedigendes Monument geliefert hat? die Kleinlichkeit, geputzte Zierlichkeit der Verhältnisse nur die Unfä­ higkeit unserer Zeit zum Geiste der Väter zurückzukehren beweisen? Der germanische Stil hat zum Principe Identität der Einzelheit und der Masse, und ist als versuchter Rückgang zur ori­ entalischen Kolossalität anzusehen. Diesen Rückgang zu bewerkstelligen, hat die Zeit durch ihr allmächtiges Veto verhindert; er blieb meist eine Ruine, und man raube ihm dieß Ruinen­ hafte nicht; die gothischen Dome jetzt aufbauen [5], heißt, ihnen ihre Poesie, ihren tiefen Sinn, Denkmäler des geistigen Aktes, durch welchen die Zeit ihre Richtung plötzlich veränderte und statt nach aufwärts nach vorwärts blickte, nehmen. Den gothischen Bau hat nicht der Zahn

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der Zeit, sondern der Zahn des sich weiter entwickelnden Geistes zerstört. Nur Charlatane bannen Geister, beschwören Todte.

[•••] Auf diesen Artikel antworteten [Friedrich Theodor Vischer]: Die Münchner Kunst. Eine Ergänzung der kritischen Gedanken. In: Jahrbücher der Gegenwart 1846, S. 95-107. Neudruck Vischer: Kritische Gänge, 2. Aufl. hg. v. Robert Vischer, Bd. 5, München 1922, S. 173-85. Rudolph Marggraff: Die Münche­ ner Kunst und ihr neuester Ankläger. In: (Augsburger) Allgemeine Zeitung, Jg. 1846, Beilage, 9.-10. Febr., S. 313-14,323-26. Replik [Anton Springer:] Rudolph Marggraff als Apologet der Münchner Kunst. In: Jahrbücher der Gegenwart 1846, S. 587-93.

1 Blüte der Historienmalerei nach der Staatsgründung 1830. Patriotische Themen, z.T. in Staatsauftrag. Hauptvertreter de Biefve, s. Dok. 7 Anm. 3, und Gallait, s. Dok. 7 Anm. 2, S. 30. 2 König Ludwig I. von Bayern (1825-1848) machte München zur Kunststadt und ließ zahlreiche Pracht­ bauten ausführen. 3 Beispiele: Die Glyptothek (1816 von Klenze) im ionischen, das Kunstausstellungsgebäude (Antiken­ sammlung) (1838-1848 von Ziebland) im korinthischen, die Propyläen (1848-1860 von Klenze) im dorischen Stil. Die Basilika St. Bonifaz (1835-1850 von Ziebland) im Stile der altchristlichen romani­ schen Basiliken Italiens. Über die gotische Mariahilfkirche s. Anm. 4. Der Königsbau der Residenz (1826-1835 von Klenze) im Stil des florentinischen Quatrocento (Vorbild Palazzo Pitti in Florenz). Die Feldhermhalle (1841-1844 von Gärtner) nach dem Vorbild der Loggia dei Lanzi in Florenz. 4 Joseph Daniel Ohlmüller (1791-1839) schuf 1831-1839 die Mariahilfkirche in der Münchner Vorstadt Au, ein frühes Hauptwerk der Neugotik. 5 Der Kölner Dom, an dem die Arbeiten seit 1560 ruhten, wurde nach den alten Plänen 1842 bis 1880 vollendet.

3 David Friedrich] Strauß: Aesthetische Grillen. In: Jahrbücher der Gegenwart 1848, S. 61-62. Hier S. 62. [...] Er. Simrock [1] hat das Nibelungenlied, hat die Gudrun, wie du gewiß selbst anerkennst, trefflich in unser Neudeutsch übersetzt; nun fand er, daß von etlichen andern Zweigen unserer vaterländischen Heldensage noch nicht ebenso, wie von jenen, eine dichterische Bearbeitung aus dem Mittelalter vorliegt: war es nicht natürlich, daß in ihm der Trieb entstand, diese, daß ich so sage, fehlenden Thürme und Flügel des nur halbvollendeten Doms, mit genauer Beobach­ tung der alten Risse, selbst auszubauen? Ich. Ganz gut gesagt; aber eben hier ist die Gränze, welche du, wie ich sehe, ebenso leichthin überspringst, wie unsere romantischen Zeitgenossen. Daß Simrock die Nibelungen und Gudrun übersetzte, ist ebenso löblich, als es untadelhaft ist, an einem alten Dome das zu erneu­ ern, was die Unbilden der Zeit und Witterung davon abgesplittcrt haben. Über diejenigen ver­ wandten Sagen, welche im Mittelalter eine gleiche dichterische Gestaltung nicht gefunden ha­ ben, hätteer Untersuchungen anstellen und veröffentlichen mögen, wie von den unausgebauten Theilen mittelalterlicher Dome Risse und Zeichnungen erwünscht waren. Aber sich nun selbst

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hinsetzen, sich in das Gewand des Nibelungensängers costümiren, das von ihm und seinen Collegen liegen gelassene Pensum übernehmen, seine Weise bis auf das schleppende Metrum seiner Strophe hinaus nachäffen, und diesen Einfall durch zwei starke Bände hindurch fortführen: so weit konnte sich nur ein Dichter am Rhein verirren, wo er an den restaurirten Burgen und Domen [2] die gleiche Verkehrtheit täglich vor Augen sah. Er. Du magst eben das Mittelalter nicht. Ich. Darauf kommt es hier gar nicht an. Setze statt des christlichen Mittelalters das heidnische Alterthum und dessen Denkmale: ich werde, bei aller Vorliebe für dasselbe, doch streng bei meinen Sätzen bleiben. Hier bieten sich übrigens kaum ähnliche Verirrungen zur Bekämpfung dar. Ein Philologe [3] zwar hat den Versuch gemacht, die verlorenen Bücher des Livius zu restauriren. Ihr Coliseum [!] dagegen flicken die Römer wohl, daß es nicht nach und nach vollends einstürze, die liegenden oder verschütteten Säulen graben sie aus und stellen sie auf: aber dazu sind sie viel zu natürliche, unverschrobene Menschen, daß sie sich beigehen ließen, nach alten Angaben oder Mustern neu-antike Tempel zu meiseln und aufzurichten. Er. Daß es die Deutschen jetzt mit dieser Liebhaberei übertreiben, räume ich ein — aber in Extremen bewegt sich einmal die Geschichte - und ist das jetzt herrschende nicht doch immer viel edler und erfreulicher, als dasjenige, dem es entgegengetreten ist? Erinnere dich doch der Zeiten, die noch nicht so weit hinter uns liegen, wo eine Burgruine, die Zierde der Gegend, wo ein alter Klosterbau, an dem die Kulturgeschichte einer ganzen Landschaft hing, in den Augen banausischer Privaten und engherziger Finanzbeamten nur den Werth der Steine hatte, aus de­ nen sie bestand; wo stattliche Thürme, um ein Spottgeld auf den Abbruch verkauft, von den Bergen in’sThal rollten, um als Bierkeller wieder aufzustehen, und wo in ähnlicher Weise unsere alte Nationaldichtung Ich. Die Zeiten waren immer noch besser als die jetzigen. Er. Du übertreibst. Ich. Fällt mir nicht ein. Ich bin dem Vandalismus so wenig hold als du; aber wenn ich zwi­ schen Vandalen und Romantikern wählen muß, so schlage ich mich ohne Bedenken zu den er­ steren. Vandalen gehen von dem Grundsatz aus: Der Lebende hat Recht. Den Keller, den ich baue, die Fabrik, die ich einrichten will, ist ein der Gegenwart angehöriger, in ihr lebendig wur­ zelnder Zweck, gegen welchen dieser alte Thurm, dieses ausgestorbene Kloster, rechtlose Schatten sind. Solche Menschen wissen doch, was sie wollen, sie fühlen Leben in sich, und sind dann freilich nicht bedenklich in der An, diesem Raum zu schaffen. Dagegen dieses jetzige Geschlecht, d. h. glücklicherweise nur die romantische Fraktion desselben, in ihres Nichts durchbohrendem Gefühle, bückt sich vor den Schemen der Vorzeit, und sucht deren Denkmäler wieder mit einem Scheine des Lebens zu umkleiden, weil ihnen das wirkliche, gewaltige Leben der Gegenwart unheimlich ist. Aus Vandalen, wenn nur erst ihre Kraft sich mäßigt, kann noch Alles werden, ihr ist die Zukunft; aber was kann aus Romantikern werden, die sich selbst gegen Gespenster der Vergangenheit aufgegeben haben? 1 Karl Simrock (1802-1876), Dichter und Germanist, Prof, der altdeutschen Literatur Bonn 1850. Über­ setzungendes Nibelungenlieds (1827), der Gudrun (1843) und der Edda (1851). »Seine Übertragungen

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der gesamten volkstümlichen Epik des deutschen Mittelalters vereinigte er im Heldenbuch (6 Bde., 1843—49), dessen drei letzte Bände u. d. T. Das Amelungenlied die Lücken der deutschen Überlieferung teils auf Grund nordischer Gestaltung der Sage, teils durch freie Erfindung ausfüllten« (Der Große Brockhaus, 15. Aufl., Bd. 17, Leipzig 1934, S. 423). 2 Der Stadtrat von Koblenz machte 1823 die Burg Stolzenfels (am linken Rheinufer oberhalb Koblenz) dem Kronprinzen Friedrich, späterem König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, zum Geschenk. Die Burg, die nach der Zerstörung durch die Franzosen 1689 Ruine war, wurde nach Entwürfen von Schinkel 1836 bis 1842 wiederaufgebaut. Dieses Beispiel machte Schule. Die Herzogin von Sagan, die Freundin Friedrich Wilhelms IV., schrieb im Mai 1843 gelegentlich einer Rheinreise in ihr Tagebuch: »Alle die Gemeinden, die Burgruinen am Rhein besitzen, haben sie den verschiedenen Prinzen des preußischen Königshauses zum Geschenk gemacht. So hat man außer Stolzenfels, welches dem König, und Rhein­ stein, welches dem Prinzen Friedrich gehört, eine dem Prinzen von Preußen, eine andere dem Prinzen Karl geschenkt, selbst die Königin soll ihre eigene Ruine haben. Sie sind alle auf dem linken Ufer des Rheins, und der König hat den neuen Besitzern befohlen, sie zu restaurieren und bewohnbar zu machen.« (Beschreibung der Burg Stolzenfels. Neudruck der von Roben Dohme im Jahr 1850 verfaßten Schrift. Eingel. v. Georg Poensgen, Berlin 1930, S. 7/8.) Über die Vollendung des Kölner Domes s. Dok. 2, Anm. 5, S. 7. 3 B[anhold] G[eorg] Niebuhr (1776-1831) (Hrsg.): M. Tullii Ciceronis orationum Pro M. Fonteio et Pro C. Rabirio Fragmenta, Rom 1820. T. Litii historiarum libri XCI fragmentum plenius et emendatius ex membranis editum, S. 85-97.

4 Hermann Hettner: Drangsale und Hoffnungen der modernen Plastik. In: Jahrbücher der Gegenwart 1846, S. 1003-39. Hier S. 1003—08, 1027-37. (Neudruck Hetrner: Kleine Schriften, Braunschweig 1884, S. 228-73.) Thorwaldsens Einfluß [1] ist jetzt überall sichtbar. Die malerische xManierirtheit der Zopfpe­ riode [2] ist ein für allemal überwunden, der Marmor in seine unverbrüchlichen Rechte einge­ setzt, der echte, plastische Stil wieder erobert. Es ist in der That erstaunlich, was für Fortschritte die Plastik mit dem ersten Auftreten Thorwaldsens gemacht hat. Schon haben wir viele Werke, die sich, unbefangen betrachtet, einem großen Theile von Antiken kühn an die Seite stellen kön­ nen; entschieden Stümperhaftes sieht man selten, fast nirgends. Es ist eben hier ein gemeinsamer Boden gewonnen; das Handwerksmäßige, das Stilistische in diesem Sinne, ist das durchgängige Eigenthum fast aller Künstler. In dieser Sicherheit des plastischen Tactes hat diese Kunst alle anderen weit überflügelt. [...] Aber wohl gemerkt! hier ist nur von der äußersten Spitze der formellen Seite die Rede. Und dieser, bei Vielen bis zu hoher Meisterschaft gediehenen technischen Stilistik kann und darf man die vollste Anerkennung nicht versagen, will man nicht ungerecht gegen die neuere Kunst sein, wie es so oft beschränkte Archäologen zu sein pflegen. Ist denn damit gemeint, daß wir nun auch wirklich eine echte Plastik, daß wir die Alten erreicht hätten? Dazu fehlt wahrlich noch viel und Grund zur Klage bleibt noch genug. Was hilft denn dieser technische Fortschritt? dieses lebendige Stilgefühl? Dieses ist ja nur die eine Seite der Kunst, zwar eine wichtige und unerläßliche, der Anfang und die Grundlage derselben, aber eben nur dieses. Das Gebäude steht darum noch nicht fertig da. Oderist es nicht so? [...] Wir wollen uns hier noch nicht vorgreifen.

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aber so viel ist zunächst klar, daß, weil die körperliche Gestalt das einzige Ausdrucksmittel der Plastik ist, der Geist auch in dieser lebendig aufgegangen, in vollster Durchsichtigkeit in ihr frei und sichtbar, die Sinnlichkeit, die äußere Lebensform mit einem Worte, eine schlechthin schöne sein müsse. Eine freie und selbständige Entwicklung der Plastik kann daher erst die letzte und reifste Frucht gewaltiger Umwandlungen aller unserer öffentlichen, socialen und sittlichen Zustände sein, nur vom Baume der durchgreifendsten Freiheit kann sie gepflückt werden. Der Weg bis dahin ist noch lang und mühevoll, und Keinem zu verargen, wenn er zuletzt an einer selbständigen Zukunft dieser Kunst ganz und gar zu verzweifeln anfängt. Gegenwärtig ist daher die Plastik noch immer ohne den geringsten Zusammenhang mit unserm Leben, ohne das Gepräge unseres eigenen Geistes. Trotz jener hohen technischen Vollendung ist und bleibt sie für jetzt eine in künstlicher Wärme gezogene Pflanze, vom besorgten Gärtner mit ängstlicher Liebe gehegt und gepflanzt; aber eben deßhalb ohne jene erquickende Lebensluft, die wir als einen Theil unseres eigenen Wesens fühlen. Sie ist eine künstlich potenzirte, eine wurzellose Scheinexistenz. [...] [...] Unsere Plastik antikisirt durch und durch; gräcisirende Motive und Behandlung werden ohne Unterschied, selbst in unserer monumentalen Kunst angewandt. Seit Thorwaldsen hat al­ lerdings die Plastik wieder Stil, wenn wir nämlich dieß Wort im Sinne Rumohrs [3] fassen und es ausschließlich auf das zur Gewohnheit gewordene sich Fügen in die Forderungen des Mate­ rials beschränken. Allein der Ausdruck »Stil« hat noch eine andere Bedeutung, eine unmittelbar geschichtliche. Stil bezeichnet eben so sehr den specifischen künstlerischen Ausdruck, »das in Formen verkörperte Empfindungsvermögen« [4] einer bestimmten Zeit. Und in diesem Sinne müssen wir ihn der Plastik ganz und gar absprechen. Auffassung und Behandlung ist in ihr nicht unsere eigenste, unmittelbarste Denk- und Gefühlsweise, die wir rückhaltlos verkörpern, son­ dern eine durch Reflexion erzeugte, durch vielfache Bildung künstlich erlernte, gewaltsam auf­ gedrungene. [...] Aufgabe der höheren Plastik ist es, nachdem der Geist der Antike, oder was dasselbe sagen will, das Wesen des plastischen Stils erkannt und in wahren Meisterwerken vor Augen gestellt ist, jetzt unserer Seits eine Darstellungsweise zu finden, in die auch wir unser eigenes Herzblut hineinarbeiten können. Wir müssen die beiden Seiten, die der Begriff des Stiles in sich schließt, das darstellende Material und den von unserer Zeit gebotenen darzustellenden Inhalt, auf organische Weise mit einander zu vermitteln suchen. Mit einem Worte: die Plastik muß gegenwärtig dem Zuge der übrigen Künste folgen, sich mit ihnen dem unaufhaltsamen Fortschritt der Geschichte anschließen; sie darf nicht länger in ihrer vornehm isolirten Stellung, in ihrer kalt abweisenden Idealität, in der abstracten Reproduction einer vergangenen Weltanschauung verharren. Auch die übrigen Künste haben kurz vor oder um die Zeit vor Thorwaldsens erstem Auftreten dieselbe antikisirende Entwicklungs­ phase durchgemacht; die Plastik und die ihr so eng verwandte Architectur stehen allein noch in ihr und zwar deßhalb, weil ihre Darstellungsmittel am dürftigsten und am schwerfälligsten und deßhalb vom unmittelbaren werkthätigen Eingreifen in die Bewegungen des Kampfes selbst von vornherein ausgeschlossen sind. Dieses antikisirende Element der damaligen Zeit, das zu­ erst in der deutschen Literatur in Klopstock und im Göttinger Dichterbund noch ganz roh und abstract äußerlich aufgetreten war, hatte sich, um sich aus den derb naturalistischen Wirren

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der Sturm- und Drangperiode heraus zu retten, in Göthes lphigenia und Tasso, in Schillers Braut von Messina und in ähnlichen Erscheinungen damaliger Zeit zu milderwärmender, in wahrhaft großen Zügen gehaltener Idealität verklärt. Seinem innersten Princip nach war aber auch dieß in dem Grade noch bloß abstracte Reproduction des Alterthums, daß Göthe damals eine Achilleis [5] dichten zu können glaubte. [...] Aber eine Weltanschauung, die einmal sich ausgelebt hat, ist ein für alle Mal verschwunden und kann nicht wieder künstlich reproducirt und noch einmal durchlebt werden. Alle diese Künste folgten dem Gesetze der unabänderlichen, historischen Nothwendigkeit. Sie konnten der realistischen Richtung unseres Jahrhunderts nicht widerstehen, die Gluth und der Drang des Individuellen durchbrach die engen Schranken der in großen streng allgemeinen Zügen sich bewegenden, griechischen Objectivität. Die einer fremden Weltanschauung, einer rein idealen Transcendenz entlehnten Stoffe wurden verdrängt, und das gewaltsam zurückgepreßte, lebenskräftige und lebenslustige Blut des 19ten Jahrhun­ derts warf sich rückhaltlos und mit frischem Feuereifer in die Arme der unmittelbaren, ge­ schichtlichen Wirklichkeit. Die Zeit der mittelalterlichen Romantik, die nun in Poesie und Malerei eintrat, war nur eine gewaltsame Reaction des unnatürlich zurückgehaltenen, fast er­ stickten Individuellen, das sich nun seinerseits gewaltsam Luft machte. Auch dieß war eine be­ reits überlebte Epoche. Nachdem also der moderne Geist noch einmal in kurzen schnell aufein­ anderfolgenden Zeiträumen die beiden größten Phasen seiner vergangenen Entwicklung durchlebt hatte, erfaßte er jetzt mit der vollsten Frische und Energie sich selbst und schaute un­ verwandten Blickes dem Kampf mit der Zukunft in’s Auge. Er hat redlich gekämpft und kämpft noch heute, dieser vielfach verkannte, gekränkte und geschmähte Geist des 19ten Jahrhunderts. Er, der als die lebendige Prosa und als durch und durch unkünstlerisch verschrieen ist, ist nicht Schuld, wenn unsere gesellschaftlichen und öffentlichen Zustände noch diesen Vorwurf mit Recht verdienen, denn die Zeit und die große träge Masse kann er nicht demagogisch überstür­ zen. Aber wo er es nicht mit der leidigen Faulheit der Menge zu thun hat, da weiß er, was er will. Die Wissenschaft hat alle antike und romantische Transcendenz der himmlischen und irdi­ schen Götter- und Heroenwelt in das Nichts des dunklen Urgrundes zurückgestoßen; die Poesie ist eine im höchsten Sinne des Wortes individuell geschichtliche geworden, - denn in George Sand, in der Verfasserin von Klementine, Jenny und Eine Lebensfrage [6], in Mosens Don Johann von Oestreich [7] ist diese bereits da -, und die Historienmalerei ist, namentlich in der französischen Schule [8], dem Beispiele der Poesie auf dem Fuße gefolgt und ist auf dem besten Wege zu einem großen historischen Stil, der die specifische Aufgabe der Gegenwart und das Resultat der ganzen Kunstgeschichte ist. So wären denn alle diese Künste auf den geschichtlichen Boden getreten, als den realen Schauplatz des Ideals, wie Vischer [9] sich ausdrückt. Und nur die Plastik sollte in der fremden, transcendenten Mythenwelt, in der alles Reale, Individuelle vornehm abweisenden, durch die ungeheuere Kluftvon Jahrtausenden von uns geschiedenen Idealität hartnäckig und eigensinnig verharren? Sie sollte nach wie vor mit unsern heiligsten Interessen Nichts zu schaffen haben? Noch immer mehr begriffen als empfunden sein wollen? Diese Einsicht fängt allmählich auch an, zu unseren Künstlern durchzudringen. Und während der eine Theil nach wie vor in dähmlicher Unverdrossenheit fortfährt, die Götter Griechenlands mit allen möglichen Symbolen und

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Attributen, und unsere Feldherrn und Gelehrten in kühn geschwungener, halb idealer, halb griechischer Draperie oder wohl gar, wenn die Kühnheit verwegen wird, in edler Nacktheit zu bilden, sieht sich ein anderer Theil nach anderen, näherliegenden Stoffen, nach einer anderen, individuelleren Form um. Doch schwankend und rathlos irren auch diese Künstler umher. [...]

Welche Wege führen zu »einem nationalen und zeitgemäßen Stil« (S. 1008/09)? H. unterscheidet die ideale und monumentale Plastik. Er handelt zuerst von der idealen Plastik. Sie soll »der durchaus freie und selb­ ständige Ausdruck unserer eigensten Gedanken, die sinnliche, an keinen äußeren Zwang gebundene Ver­ körperung unseres eigenen Wesens sein« (S. 1009). Das Christentum eignet sich nicht für die Plastik, weil es den Körper verdammt. »Das Christenthum ist extravagant, eine beständige Sehnsucht nach oben, ein ewiges Unbefriedigtsein in sich; die Plastik dagegen beruht auf architectonischem Gleichgewicht, auf im­ manentem Schwerpunkt, auf gediegenem Ebenmaaß« (S. 1011). Die germanischen Götter und Heroen sind aus dem Glauben und dem Bewußtsein geschwunden. Allegorien bleiben ein Spielwerk der »Geistesaristo­ kratie« (S. 1017). Die griechische Mythologie und Sage, die das Eigentum der gesamten Menschheit gewor­ den ist, liefert eine universale Bilderwelt für Darstellungen rein menschlichen Inhalts. Sie bleibt aber »nur eine subtile Nothilfe« (S. 1025). »Wir wollen eine nationale, eine aus dem Bewußtsein unserer Zeit mit innerer NothWendigkeit erzeugte Plastik, und diese Plastik soll das Gepräge unseres Geistes an sich tragen.« (S. 1025) Poetische Stoffe bieten einen Ausweg, z. B. ein plastisches Werk im unmittelbaren Anschluß an Schillers Wallenstein.

[...] Dieß wäre dann aber auch ein Werk, das, wie die Gestalt des Dichters mit dem reinsten Herzblut des deutschen Geistes geschrieben ist, nun auch seinerseits in unser innerstes Mark und Bein dringen müßte. Hier müßten wir unser eigenes, deutsches Wesen, unsern eigenen Geist verkörpert sehen. Gräcisirende Behandlung wäre hier am allerwenigsten an der Stelle, des deut­ schen Dichters Wort müßte unmittelbare lebendige Gestalt geworden sein. Ein solches Bildwerk müßte sich gerade so von der Antike unterscheiden, wie sich unsere Poesie, die Kunst unserer dramatischen Darstellung von der alten unterscheidet. Dieser Punkt ist wichtig. Es handelt sich hier um die höchsten, geschichtlichen Fragen, und bedenken wir, daß die Ausdrucksweise der Plastik mit allen übrigen Künsten in Einklang kommen solle, so ist hier der eigentliche Sitz und die einzig mögliche Lösung unserer Aufgabe. Hier sind wir von selbst mitten in die eigentlich stilistische Frage hineingekommen. Der Stil einer solchen, dem Dichter entlehnten Figur wäre das Prototyp für die Folgezeit. Er zeigte uns einstweilen an einer aus dem idealen Gebiet der Kunst selbst entsprungenen Gestalt, wie der realgeschichtliche Boden zu behandeln sei, wenn er erst selbst poetisch und künstlerisch geworden. Ich habe gesagt, der Stil einer solchen Figur müsse sich vom alten unterscheiden, wie sich alte und neue Kunst überhaupt, wie sich alte und neue Poesie, alte und neue Bühnen­ darstellung unterscheidet. Dieser Unterschied liegt vornämlich in der verschiedenen Mischung des idealen und realen Momentes, die in der alten und neuen Kunst stattfindet. In der neueren Kunst ist das Reale, Individuelle vorwiegender. Bedenken wir nur das Wesen der alten und neuen Tragödie, und die daraus hervorgehende Verschiedenheit der Bühneneinrichtung. Dort ist durchweg feierliches, strenges, gehaltenes Gleichmaaß, hier unmittelbare Illusion; dort ein scharf in sich abgeschlossener Kreis, eine durchaus aus aller Gemeinschaft mit der unmittelba­ ren Wirklichkeit herausgehobene, streng von ihr abgegrenzte Idealität, hier durchweg individu-

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eile, zwar durch höhere Vermittlung wiedergeborene, aber doch in ihrer Form den Schein der Unmittelbarkeit erstrebende Realität. So wird also die neue Plastik im Unterschiede gegen den von den Griechen überkommenen Stil auch ihrerseits jenes Moment des mehr Realen, Individu­ ellen, wenn man will, des mehr Illusorischen in sich aufnehmen; die Behandlungsweise wird naturalistischer sein müssen. Der neue plastische Stil wird sich zu dem alten, griechischen unge­ fähr so stellen, wie die Characteristik eines tragischen Helden in der modernen Tragödie zur tragischen Figur des Sophokles. Es ist da von der größeren oder geringeren Schönheit des einen oder des anderen Stils, und wem von beiden der Vorzug gebühre, gar nicht zu streiten und zu rechten. Die neuere Kunst ist einmal naturalistischer, und die Plastik muß diesem allgemeinen Drange der künstlerischen Entwicklung folgen, ohne Zaudern und Streben, sonst ist und bleibt sie für immer eine fremde, an den Zauberhauch eines andern Lebens wundersam gemahnende, aber von allem selbständigen Leben ausgeschlossene Mignonsgestalt. Aber, wer sagt Euch denn überhaupt, daß dieser neue, von der Analogie der übrigen Künste mit NothWendigkeit geforderte, mehr individuelle, mehr naturalistische Stil der Plastik dem griechischen schlechthin an Schönheit nachstehen müsse? Verstehen wir uns recht. Es ist hier nicht von einem trocknen, mechanischen Copiren der Natur, oder deutlicher gesagt, von einem copistenmäßigen, an alle Zufälligkeiten gebundenen Abschreiben eines bestimmten, zufällig gegebenen Modells die Rede. Dieß hieße den Tod der Kunst zur Forderung der Zukunft ma­ chen, und wir können nicht streng genug aburtheilen über den platten Naturalismus, der sich heutzutage namentlich wieder in den Arbeiten von italiänischen und französischen Bildhauern [10] breit macht. [...] Hat denn Thorwaldsen umsonst gelebt? Sage ich, der moderne plastische Stil müsse dem Momente des Realen und individuell Naturalistischen größeren Raum gönnen, so heißt dieß nur: innerhalb der von der unverbrüchlichen Natur des Darstellungsmaterials selbst geforderten Idealität, innerhalb der von ihr gestatteten Grenze. Diese Grenze muß inne gehalten werden, denn sie ist eine ewige, sie ist das, was die Kunst zur Kunst, die Plastik zur Plastik macht; aber jene Idealität selbst kann individueller bestimmt, individueller durchgebildet werden, so wie die moderne Tragödie deßhalb, weil sie eine schärfere, individuellere Cha­ racteristik der einzelnen Figuren hat, sich zwar von der antiken Tragödie specifisch abscheidet, aber nicht aus dem Gebiete der Kunst selbst heraustritt. Forderungen dieser Art können mit Recht Manchem verdächtig scheinen, insofern sie bloß unbestimmte, vage Phantasie in die blaue Zukunft hinein wären. Glücklicher Weise ist dieß nicht der Fall. Ich habe hier ein sehr bestimmtes, mustergiltiges Beispiel vor Augen, oder viel­ mehr ich muß gestehen, daß mich ein sehr bestimmter, einzelner Fall auf diese Betrachtungen geführt hat. Wie in allen für die Kunst ungünstigen Übergangsperioden, hat sich auch gegen­ wärtig in der Plastik eine Mittelgattung ausgebildet, die am besten als historisches Genre be­ zeichnet wird. [...] Indem sich nämlich die Kraft des Künstlers und die nach tieferem Inhalt dürstende Zeit nicht in dem harmlosen, engen Kreise des einfachen Genre befriedigt finden, andrerseits aber die unmittelbar geschichtliche Entwicklung noch nicht reif ist für eigene, große historische Darstellungen, pflegt man den großen, historischen Stil einstweilen auf einzelne Gegenstände des Genrelebens zu übertragen [11]. [...]

Gewöhnlich wird der herrschenden Schulrichtung gemäß auch in diesen Darstellungen der

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historische Stil gräcisirend gehalten. Damit wären wir dem Stoffe.nach weiter gekommen, in der Form nicht. Jedoch geht es jetzt auch hier vorwärts. Erst in diesen Tagen ist auf diesem, der Gegenwart specifisch angehörigen Gebiet dieß Werk entstanden, von dem ich oben sagte, daß es die Forderungen eines neuen plastischen Stils vollkommen erfülle, oder vielmehr, diesel­ ben erst recht deutlich zum Bewußtsein gebracht habe. Ich meine eine eben vollendete Gruppe von Jerichau [12]. [...] Ein Jäger hat einer Panthermutter ihr Junges geraubt, es ruht ihm schla­ fend, mit geschlossenen Augen auf dem rechten Arme. In wunderbar schwungvoller, wilder Bewegtheit springt die Bestie an dem Jägerjüngling hinan, krampfhaft stemmt es sich mit den Hinterfüßen auf den Boden und auf den Fuß des Jägers, mit den Vorderfüßen seinen Leib um­ krallend. Weit sperrt es den Rachen auf, aufblickend zum Räuber. Es ist schwer zu sagen, was für ein wunderbarer Ausdruck in diesem Blick liegt, halb ist es die Mutterliebe, die aus ihm spricht und die schon zufrieden ist, wenn sie ihr geliebtes Junges wieder erhält und sich um Rache am Räuber nicht kümmert, halb ist es die Drohung des sicheren Todes, falls er nicht in Güte die Beute zurückgeben will. Der Jäger aber holt eben mit der Linken aus, dem Panther den tödtlichen Wurfspieß in den geöffneten Rachen zu stoßen. In der krampfhaft gerunzelten Stirne, in dem stier auf die Bestie gerichteten, wilden Blicke, malt sich der Schrecken des letzten, fürchterlichsten Kampfes auf Tod und Leben. Das Gewand ist vom Körper herabgefallen, nur ein schmaler Streif zieht sich um den Schenkel und dient zugleich als Stütze. Alle Muskeln und Adern des schönen nackten Körpers sind nur diesem Einen Effect dienstbar, überall schwellend und strotzend, ohne doch irgendwie die großartige, einfache Idealität des Marmors zu über­ springen. Trotz aller Bewegtheit, trotz aller Detailbildung in der Form ist der Gesammteindruck ein durchaus mächtig ruhiger, ein im edelsten Sinn antiker. Leider reicht hier, wo es auf die feinsten Nüancen ankommt, bloße Beschreibung nicht aus, das Werk selbst lebendig vor Augen zu stellen. Und doch ist es von der höchsten Wichtigkeit, sich klar bewußt zu werden, in wie weit der Künstler vom griechischen Idealstil abgewichen, in wie weit er einer mehr naturalistischen Darstellung Raum gegeben habe. Von Naturalismus im gemeinen Sinne des Wortes ist hier, wie gesagt, nicht die Rede. Es ist dieser Stil nur die höhere Einheit, eine von der Berechtigung des Individuellen durchglühte und durcharbeitete Objectivität. Nur ein solcher individualisirter und doch von marmorner Großheit getragener Stil ist der specifische Ausdruck der Gegenwart und der nothwendige Ausgangspunkt der Zukunft. Denn er allein ist das, was das moderne Ideal selbst ist, nämlich die höhere, gediegene Vermittlung der bisher im Alterthum und im Mittelalter einseitig aufgetretenen Momente. Universalge­ schichtlich ist dieß zunächst für Jeden klar, der überhaupt die Natur des modernen Ideals [13] gefaßt hat. Aber auch eine rein kunstgeschichtliche Betrachtung liefert dasselbe Resultat. An die Stelle der großartigen Objectivität der Antike war in der Plastik des Mittelalters und Michel Angelo’s Subjectivität und Naturalismus getreten. Die Anecdote ist bekannt, daß der letzte, in gewissem Sinne großartige Ausläufer dieser Richtung, Bernini, darüber lachte, daß Zeuxis an fünf Schönheiten von Croton die schönsten Theile ausgewählt habe, um seine Juno zu malen. Er hielt es für ungereimt und erdichtet, weil kein bestimmtes Glied einem andern Körper ange­ bildet werden könne, als zu dem es an sich gehöre. Diesem gemeinen Naturalismus hat der wie­ dererwachende, reine Geschmack ein Ende gemacht. Wenn er aber nun dieses individuelle

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Moment ganz negirte, und sich, wie Thorwaldsen, schlechthin und rückhaltlos nachahmend in die Arme der Antike warf, so war dieses eine unhistorische Wendung, die keine Ahnung da­ von hatte, daß auch dieser naturalistische Tic ein nothwendiges und organisches Entwicklungs­ glied gewesen sei. Erst der Stil, der beide Ausdrucksweisen, die antike und mittelalterliche wahrhaft künstlerisch verschmolzen hat, ist die richtige, nachhaltige Lösung. Es bleibt einmal dabei, in jenem Werke hat Jerichau gezeigt, welchen Weg die neue Plastik einzuschlagen habe, und wir würden gerechte Hoffnung haben, in diesem Künstler den Wiedererwecker seiner Kunst zu begrüßen, wenn nur die Zeitumstände nicht so entsetzlich ungünstig und unkünstle­ risch wären. Denn unplastisch ist unsere Zeit durch und durch, unplastisch in Sitte und Denk­ weise, in Tracht- und Staatsleben, unplastisch selbst in unseren leiselebenden, jede energische Leidenschaft einschnürenden, geschniegelten und gebiegelten [!] Menschengestalten. Und so ist diese stilistische Wendung von selbst die beste Antwort auf die Frage nach der Wahl der Stoffe. Das mythische Ideal [14] ist aufgelöst, das rein geschichtliche zwar als der letzte und höchste Zielpunkt theoretisch begriffen, seine künstlerische Verwirklichung aber noch practisch unmöglich. Wer weiß, wie lange wir noch auf diese geschichtliche, immanente Kunst warten müssen? Lange, noch sehr lange wird es dauern. Bis dahin müssen wir uns in den selbständigen Anfängen und Vorstudien jener neuen, kommenden Kunst einhausen. Diese Vorbereitungsstufe, die Vorschule des historischen Genre in diesem neuen Stile, ist jetzt die ein­ zig zeitgemäße und wahrhaft nationale Plastik. Und wir dürfen nicht ungeduldig murren und drängen, wenn unsere Künstler uns nicht die höchsten Aufgaben der idealen Kunst hinstellen, sondern es ist eine sittliche Pflicht, mit Bewußtsein zu resigniren und die Einsicht zu haben, daß nicht die Künstler, sondern wir selbst und unsere Zeit Schuld an diesem Elend sind, und daß voreiliges Hindrängen zum unmöglichen Ziel nur die schwachen aufkeimenden Kräfte der jun­ gen Kunst lähmt und verkrüppelt.

Hat man aber diese Einsicht gewonnen, so folgt von selbst daraus die mißliche und bedenkli­ che Stellung unserer gegenwärtigen Monumentalkunst. Wenden wir uns nun zu diesem zweiten Punkte. Wir können kurz sein, denn die leitenden Gesichtspunkte haben wir bereits gewonnen. Ihrem Begriff nach ist die monumentale Kunst im höchsten Sinne des Wortes historisch. Glücklich die Zeit, wo das historische und ästhetische Interesse schlechthin zusammenfällt. Bei den Griechen war es so. Bei ihnen ging Alles im Begriff des Allgemeinen, des Staates auf, das Individuelle, Subjective als solches hatte kein Recht; der große Idealstil ihrer Plastik war also auch der unmittelbar historisch monumentale. Wie ganz anders, wie viel kläglicher bei uns! Wir haben eben gesehen, was für ein schreiender Wider­ spruch jetzt stattfindet zwischen den rein künstlerischen Forderungen und der vorliegenden Wirklichkeit. Und doch wollen und sollen wir unsere großen Männer, unsere Helden, Künstler und Gelehrten monumental verewigen. Was soll siegen, die Aesthetik oder die Geschichte? dieß ist die große Streitfrage, die bei jedem historischen Monument unserer Tage wiederkehrt, ver­ schieden gelöst, immer beklagt wird, und doch unlösbar, und ewig beklagenswerth ist. Wie die Sachen jetzt stehen, ist eine Vereinigung schlechterdings unmöglich.

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In dieser Noth der Zeit hat man denn auch hier den Weg eingeschlagen, den die characterund gedankenlose Menge immer einzuschlagen pflegt, wenn zwei einander schnurstracks ent­ gegen laufende, schneidende Gegensätze unter Einen Hut gebracht werden sollen. Man ist zu­ frieden, wenn man statt einer höheren, gediegenen, wahrhaft concreten Einheit nur eine halbweg leidliche, neutrale Vereinigung erreicht hat. Diese Neutralität des Geschichtlichen und Aesthetischen, in der Keines von Beiden zu seinem vollen Rechte kommt, ist der vorherrschende Character unserer heutigen, monumentalen Kunst, der Grund der grenzenlosen Unsicherheit unserer Künstler bei diesen Aufgaben, der Grund, warum wir immer so unbefriedigt vor den Denksteinen unseres eigenen Fleisches und Blutes, vor den Statuen unserer großen, geschichtli­ chen Charactere stehen. Das Juste milieu [15], die Neutralität ist eben weder kalt noch warm, sie ist ihrem Begriff nach fröstelnd.

[•••] Dieser totalen Characterlosigkeit müde, hat man auch hie und da schüchterne Versuche ge­ macht, das historische Interesse ganz fahren zu lassen. Man warf sich unbedingt dem griechi­ schen Muster in die Arme, überließ sich rücksichtlos [!] dem abstracten Genuß der Formschön­ heit, unbekümmert um Individualität und historische Treue. Erst jüngst sah ich in Rom ein solches Erzeugniß. Ein Künstler hatte einen berühmten Astronomen ganz und gar nackt hinge­ stellt; nur ein leichtes, griechisches Gewand schlang sich über Schulter und Unterleib. Was wür­ den nur die guten Bürger, die in jener Statue ihren berühmten Mitbürger und sich in ihm ehren wollten, gesagt haben, wenn auf einmal der ihnen so wohl bekannte und befreundete, von ihnen allgemein verehrte Mann auf dem Markte als ein ihnen durchaus Fremder, anderen Zeiten und Völkern Angehöriger in göttlicher, nach ihren Begriffen aber unanständiger Nacktheit erschie­ nen wäre? Sie würden unzufrieden den Kopf geschüttelt haben, sie hätten ihren Mitbürger nicht erkannt, sich nicht in ihm geehrt gefunden. Und ich meine, die guten Bürger hätten Recht ge­ habt, der monumentale Zweck wäre verfehlt gewesen. Ich sage »wäre.« Der Künstler mußte nämlich seinen ursprünglichen Plan aufgeben. Er hatte den Körper in idealer Nacktheit gebil­ det, im Kopfe aber mußte er natürlich die Porträtzüge beibehalten, denn hier die Auffassung im griechischen Sinne fortzuführen, hätte vollends den Begriff des Monumentalen aufgehoben. Hier zeigte sich nun recht die Misere unserer Zustände. Das Gesicht dieses Astronomen war eine durch Studiren und Versitzen verwetterte Physiognomie, kein idealer, rein menschlicher, schöner Zug wehte in ihr, es war ein in bloß particulares, in fachwissenschaftliches Interesse festgerannter Stubengelehrter. Das Gesicht war mit der idealen Nacktheit schlechthin unver­ träglich. Der Künstler mußte zu einem innigeren Anschließen an die historische Treue zurück­ kehren. [•••] So treibt die monumentale Kunst mit derselben geschichtlichen Nothwendigkeit zu jener in­ dividuelleren, detaillirteren, wenn man will, im Verhältniß zu den Griechen mehr porträtarti­ gen, naturalistischen Durchbildung hin, die wir bereits im historischen Genre und zwar, da je­ nes Gebiet von den Einflüssen der unmittelbaren Wirklichkeit losgelöster und unabhängiger ist, dort bereits vollendeter angetroffen haben. [...]

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Bei der totalen Unschönheit unserer geschichtlichen Wirklichkeit ist es freilich eine traurige Pflicht der Resignation, die heutzutage den monumentalen Künstlern auferlegt ist. Während im historischen Genre der specifische Stil des modernen Ideals, der individualisirte Idealstil be­ reits frisch und freudig aufblüht, muß die an engere Fesseln gebundene monumentale Kunst so lange mit Bewußtsein hinter der eigenen Einsicht des künstlerischen Ziels Zurückbleiben, bis die Natur des modernen Ideals unmittelbare geschichtliche Wirklichkeit geworden ist. Wenn aber erst diese schöne Zeit eingetreten; das jetzt erst postulirte Ideal wahrhaft immanent ge­ worden sein wird, dann können wir sicher sein, daß auch der Zwiespalt zwischen historischem und ästhetischem Interesse aufhört. Das wahrhaft Künstlerische ist dann auch das unmittelbar Historische; monumentale und ideale Kunst sind dann wieder wie bei den Griechen unmittelbar eins, ja um so mehr, als es dann überhaupt gar keine ideale Kunst mehr gibt, die nicht unmittel­ bar historisch, keine historische, die nicht unmittelbar ideal wäre. Dieß ist der Unterschied und der Fortschritt, den die moderne Kunst über die Griechen hinaus zu machen berufen ist. Denn um in Kunstausdrücken zu sprechen, die mythische Kunst der Griechen ist dann historisch real, das transcendente Ideal wahrhaft immanent geworden. [••■] 1 Bertel Thorvaldsen (1768-1844), dänischer Bildhauer, 1825 Präsident der römischen Lukasakademie, 1833 Direktor der Kunstakademie von Kopenhagen. Sein strenger Klassizismus hat über Jahrzehnte prägend gewirkt. 2 Gesellschaftskultur des vorrevolutionären Frankreich. 3 C(arl) Fr(iedrich) von Rumohr: Italienische Forschungen, hg. v. Julius Schlosser, Frankfurt/M. 1920. Haushalt der Kunst (1827), S. 7-88. Hier S. 60. Stil »ein zur Gewohnheit gediehenes sich Fügen in die inneren Foderungen [!] des Stoffes«. »Styl, older solches, was mir Styl heißt, entspringt also auf keine Weise, weder wie bey Winckelmann und in anderen Kunstschriften, aus einer bestimmten Rich­ tungoder Erhebung des Geistes, noch, wie bey den Italienern, aus den eigenthümlichen Gewöhnungen der einzelnen Schulen und Meister, sondern einzig aus einem richtigen, aber nothwendig bescheidenen und nüchternen Gefühle einer äußeren Beschränkung der Kunst durch den derben, in seinem Verhältniß zum Künstler gestalt-freyen Stoff.« 4 Anton Hallmann: Kunstbestrebungen der Gegenwart, Berlin 1842, S. 50: »Stil im weiteren Sinne ist nichts anderes, als das in Formen verkörperte Empfindungsvermögen einer bestimmten Zeit.« 5 Die Achilleis (Bruchstück, 1799) ist ein klassizistischer Versuch, mit Homer im Epos großen Stils zu wetteifern. 6 Fanny Lewald (1811-1889), Zeitromane im liberaldemokratischen Sinne im Anschluß an George Sand: Clementine (1842), Jenny (1843), Eine Lebensfrage (1845). 7 Julius Mosen (1803-1867), Dramatiker und Epiker im Geiste der Junghegelianer: Don Johann von Österreich (Trauerspiel, gedruckt 1863). 8 Gallait, s. Dok. 7, Anm. 2, S. 30. 9 s. Anm. 14. 10 David d’Angers (1788-1856), der Hauptvertreter der zeitgenössischen französischen Plastik, verfocht das Recht des Realismus (Kostüm, Porträthaftigkeit) gegenüber dem Klassizismus. 11 Das Genre als Übergang zur geschichtlichen Kunst nach Vischer, s. Anm. 14. Im gleichen Sinne bereits Vischer: Kritische Gänge, 2. Aufl., hg. v. Robert Vischer, Bd. 5, München 1922, Overbecks Triumph der Religion (1841), S. 3-34, hier S. 26: »Unsere höchste Aufgabe ist jetzt das sogenannte profan-hi­ storische Gemälde nebst seiner Voraussetzung, Vorstudie oder wie man cs nennen mag, dem edleren Genrebild.« 12 Jens Adolph Jerichau (1816-1883) war 1838 bis 1849 in Rom, von wo aus H. berichtet. Die Bewegung und Realistik des Pantherjägers (vollendet 1846) sollte den Vorwurl der Nachahmung der Antike wi­ derlegen.

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13 Vischer: Kritische Gänge, üd.S, Deutsche Kunstgeschichte (1844),S. 98-172, hier S. 102: »Die Frage, die Lebensfrage für uns ist nun diese: ist es möglich, die Reinheit des Stiles, diese kostbare Erwerbung der neuen deutschen Malerei, zu retten und dennoch das Moment der Individualität in tieferer Weise als bisher zu seinem Rechte zu bringen? Ist es möglich, mehr van Eyck und Dürer in den Stil aufzuneh­ men und doch auch die so weit bis in die Nähe der Häßlichkeit getriebene Härte der Selbständigkeit an dieser haarscharfen Linie zu erfassen und die Großartigkeit des reinen, höheren Stiles zu retten? Ich sage: ja, und ich setze hinzu, daß sich auf diesem Wege ein nationaler deutscher Stil ausbilden würde, ich behaupte, daß dies unser Ziel und unsere Aufgabe ist.« Dieselbe Geschichtskonstruktion bei Vischers Schüler Springer, s, Dok. 6, S. 24. 14 Die Unterscheidung des mythischen und geschichtlichen Ideals nach Vischer: Deutsche Kunstge­ schichte, hier S. 135-38. »Seine eigentliche historische Blüte aber hatte das Genre in seiner Selbständig­ keit, als das mythische Ideal aufgelöst, das rein geschichtliche noch nicht gefunden war; es ist jedoch so entschieden schon in dieser ersten, selbständigen Blüte desselben der Anfang und die Vorstudie des rein geschichtlichen Ideals zu erkennen, und es hat so viel Recht, neben der höheren Ausbildung des letzteren fortzubestehen, daß es diesem nicht koordiniert, sondern subordiniert werden muß. Demge­ mäß würde ich zwei große Epochen unterscheiden, deren eine ich die Epoche der Kunst des (christlich) transzendenten, die andere des immanenten Ideals nennen würde. Die zweite derselben bildet drei Zweige aus: Darstellung der unbeseelten Natur - Landschaft; Darstellung des menschlichen Lebens in seiner anspruchslosen Wirklichkeit ohne Erhebung in einen großen historischen Moment - Genre; Darstellung des Menschenlebens im Durchbruch der großen historischen Tat und des tragischen Schicksals, kurz der Idee - geschichtliches Gemälde.« (S. 137) 15 Schlagwort für die Innenpolitik von König Louis Philippe von Frankreich (1830-1848). Übertragen für einen unentschiedenen Zwischenzustand.

Die Diskussion um die Historienmalerei

5 Friedrich] [Theodor] Vischer: Die Aquarell-Copien von Ramboux in der Gallerie zu Düsseldorf. 1. Einleitende Betrachtungen über den Zustand der jetzigen Malerei. 2. Die Copien. In: Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst 1842, S. 550-59; 841-46,849-51,853-63. Hier TI. 1, S. 550-52. (Neudruck des ersten Teils Vischer: Kritische Gänge, 2. Aufl., hg. v. Robert Vischer, Bd. 5, München 1922, S. 35-55 u. d. T. Zustand der jetzigen Malerei.) [...] Wir sehen zuerst nach den Stoffen der Kunst und decken die Wurzel des Siechthums auf, die allgemeine unendliche Unsicherheit in der Wahl der Gegenstände. Wo irgend in der Vergangenheit ein großes Kunstleben blühte, da schöpften alle hohem Zweige der einzelnen Künste aus Einer, ein- für allemal gegebnen, gemeinsamen Quelle von Stoffen, und diese Quelle war nichts Andres, als die Substanz des Volksgeistes. Die Kunst stellte dar, was in Aller Herzen gegenwärtig lebte, worin jedes Bewußtsein den Kern alles Daseins fand. Die Kunst traf im Volksgeiste und dieser traf in der Kunst sich selbst wieder an. Der Grieche bildete Götter und Heroen, und was waren diese Andres, als die verklärte Phantasiegestalt der sittlichen und sinn­ lichen Kräfte seines Volkes? Der Italiener, der Deutsche im Mittelalter bildete und malte die Gestalten des christlichen Mythus, und was war dieser Andres, als das magische Spiegelbild des Gemüths, dem seine innre, noch verschloßne und weltlich nicht durchgebildete Unendlich­ keit aufgegangen war? Die Zeit der Rückkehr zu antiken Gegenständen und Formen suchte in der heitern Sinnlichkeit der alten Fabelwelt ein entsprechendes Gegenbild für den frischen Weltsinn, das Behagen im Dasein, das die Völker fühlten, als sie so eben dem Geist einer finstern Askese entwachsen waren, und so subjectiv und unhistorisch auch im 16. und 17. Jahrhundert das Alterthum zubereitet und zugeschnitten wurde, es war doch ungleich mehr innres Verständniß, Wärme des Gemeingefühls mit dieser verschwundnen lachenden Welt vorhanden, als in unserm gelehrten und freudlosen Jahrhundert, so wie die Schauspieler auf Shakespear’s Bühne die alten Helden in Federhut und Plumphosen gewiß viel antiker spielten, als die unsern in ihrer archäologischen Garderobe. Wo aber diese Zeit den bereits ausgelebten christlichen Mythus noch auszubeuten fortfuhr, bestrafte sich dieser Widerspruch mit der Gegenwart und dem Bewußtsein des Jahrhunderts alsbald durch eine entstellende Einmischung der weltlichen Stimmung in den geistlichen Stoff, durch den Ausdruck der Üppigkeit und Empfindsamkeit. Aber auch der antike Stoff blieb freilich immer ein geborgter, da doch ein- für allemal Zeit und Volk in der Kunst mit vollem Recht sich selbst ausgeprägt sehen will. Die Kunst verließ ihre Stelle, rückte nach dem Norden, und zum ersten Mal trat die nächste, unmittelbare Wirklichkeit mit der Behauptung des vollen Anspruchs auf eine Stelle unter den Kunststoffen auf. Der Nie­ derländer malte derbe Volkslust und behagliches Bürgerleben, und was war das Andres, als das Ebenbild des tüchtigen, wohlbestellten und bequemen Daseins seiner Nation? Der Franzose der Revolutionszeit ging ins classische Alterthum zurück und malte römische Helden; theatralisch

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gnug, aber der revolutionäre Wille traf sich und seinen straffen Entschluß in dieser Kunst wieder an. Also immer und überall, wo Kunstleben war, hatte es seine Wurzel im Bewußtsein der Nation, und nahm daraus seine Stoffe. Nun, und was malen denn wir? Wir malen Alles und noch einiges Andre. Wir malen Götter und Madonnen, Heroen und Bauern, so wie wir griechisch, byzantinisch, maurisch, gothisch, florentinisch, ä la renaissance, Rococo bauen und nur in keinem Styl, der unser wäre. Wir ma­ len, was der Welt Brief ausweist; wir sind der Herr Überall und Nirgends. Da ist keine Mitte, keine Hauptgattung, kein Hauptgericht zwischen all den Zuspeisen, Süßigkeiten, Zuckerbäkkereien, unter denen die Tafel seufzt. Reflectirend und wählend steht jetzt der Künstler über allen Stoffen, die jemals vorhanden waren, und sieht den Wald vor Bäumen nicht. Dies ist das bedenkliche Prognostikon unsrer modernen Kunst. Niemals fragte man in einer schwungvollen Periode der Kunst, was denn darzustellen sei? Das war ein- für allemal ausgemacht, man wußte es nicht anders, es war durch das gemeinsame Bewußtsein des Volkes und der Künstler gegeben, und dieser durfte nur in den gegebnen Reichthum hineingreifen. Unsre Kunst ist entwurzelt,

sie flattert bodenlos in den Lüften, weil sie nicht eine absolut gegebne Welt von Stoffen mit der Substanz des Volksbewußtseins gemein hat; sie ist heimathlos, ein Vagabund, der Alles kennt und kostet und dem es mit Nichts Ernst ist, unsre Kunst ist der Verstorbne, der Semilasso, der Vergnügling, kurz der Graf Pückler-Muskau [1]. Hüten wir uns wohl, ihr allein die Schuld davon beizumessen; böte nur die Zeit ein fruchtba­ res Erdreich, sie könnte und müßte Wurzel schlagen. In der Zeit selbst liegt das Uebel. Ich fasse es in der Mitte und sage: unsre Zeit hat keine Gegenwart, sondern nur eine Vergangenheit und eine Zukunft. Wir ringen nach neuen Lebensformen-, sind sie erst da, so wird die Kunst ihren Stoff haben. Denn, so Gott will, so werden es Formen sein, worin die absoluten Bedingungen aller Kunstdarstellung, Charakter, Individualität, Natur sich wieder regen dürfen. Es wird wie­ der Helden geben, und sie werden hoffentlich keinen Frack, keine Cravatte tragen; es wird Gelehrte und Beamte geben, die zugleich Männer sein und nicht auf zehn Schritte nach Actenund Schulstaub riechen werden; es wird Menschen geben, die lachen und singen und tanzen und denen man nicht in jedem Zug ansieht, daß hinter der nächsten Ecke ein Polizeidiener steht. Aber gut Ding will gut Weil. Da nun die alten Stoffe ausgelebt, neue aber noch nicht gegeben sind, die Kunst jedoch inzwischen die Hände verlangend schon ausstreckt, was soll sie denn in dieser kritischen Zwischenzeit thun? Die Hände in den Schooß legen kann sie und soll sie nicht. Also herumtüpfeln an X. Y. Z., herumnaschen an allen dagewesnen Stoffen und in kei­ nem zu Hause sein ? Das scheint die traurige Consequenz. Aber laßt uns sehen, ob denn wirklich nichts Andres bleibt.

Das Genre, die Landschaft, das Tierbild geben als untergeordnete Kunstzweige keinen bedeutenden Stoff.

Was bleibt denn aber, wenn das Alles noch keinen hinreichenden Inhalt giebt? Das bleibt, woraus die Zeit selbst ihre großen Lehren für die Zukunft nimmt; der unendliche Stoff bleibt,

Die Diskussion um die Historienmalerei

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aus dem die werdelustige Zeit die Kraft zu neuem Leben schöpft: die Vergangenheit, die Geschichte. Wir wollen wieder Geschichte haben, und darum ist die Geschichte, die da war, unsre Nahrung. Für Niemand mehr als für die Deutschen gilt es, daß ihr Grundmangel und Erbfehler ihr ungeschichtlicher Charakter ist. Wir innerliches und transcendentes Volk haben es bisher noch nicht verstanden, Erfahrungen zu machen; wir waren überall und nirgends zu Hause, wir sahen nach den Vögeln, indem man uns den Stuhl unter dem Leibe wegzog. Endlich fangen uns die Augen an aufzugehen, wir studiren Geschichte. Das heißt nicht: wir studiren, wann man in England die Wölfe ausrottete, oder wie viele Seelen das Hausruckviertel zählt; nein, es heißt: wir leben uns in die großen kritischen Momente der Geschichte ein, in die Glanz­ blicke, wo die bewegende Seele des Völkerlebens auf die Oberfläche hervortauchte; es heißt: wir fassen jede Wissenschaft, und die abstracteste, die Philosophie, zuerst, im weltgeschichtli­ chen Sinne und holen ihre versäumte Anschließung ans Leben nach. Dies ist unser Pathos, dies die Stelle, wo uns die Gottheit erscheint. So thue denn die Kunst deßgleichen; sie male immerhin Götter, aber unsre Götter der Geschichte, und sie wird nicht kalte Bewundrung weniger gelehrten Kenner, nicht den unreinen Beifall weniger Zeloten des Mittelalters zum Danke haben, sondern sie wird die Herzen ihres Volks erschüttern, sie wird kein Fremdling mehr sein, sondern ihre Heimath haben, wo das gegenwärtige Bewußtsein der Menschheit sie hat.

[•■■] Briefe eines Verstorbenen (4 Bde., 1830—1832), Vorletzter Weltgang von Semilasso. Aus den Papieren des Verstorbenen (3 Bde., 1835), Semilasso in Afrika. Aus den Papieren des Verstorbenen (5 Bde., 1836).

1 Hermann Fürst von Pückler-Muskau (1785-1871):

6 Anton Springer: Die geschichtliche Malerei in der Gegemvart. Eine Kunstbetrachtung bei Gelegenheit der Ausstellung des Columbus von Christian] Ruben [1], Prag 1846, S. 14-23. [...]

Allerdings kann nur eine Geschichtsmalerei die Kunst wieder zu ihrer Würde erheben, kön­ nen wir nur allein in ihr die Begeisterung uns holen, deren Mangel eines der Hauptgebrechen der modernen Kultur abgibt. W'ir müssen aber darum auch streben, statt der Klage zum klaren Bewusstsein über die künftige Gestaltung der Malerei zu gelangen, die Forderungen der Zeit, das Ziel der Kunst zu begreifen. Historisch ist ein Gemälde nicht schon wegen des Stoffes, welcher genreartig oder porträt­ mässig behandelt, seinen ganzen Charakter verliert; es wird auch nicht durch den sogenannten Stil, wie viele Neuere meinen, dazu gestempelt, durch eine alles individuelle Leben, alle Wirk­ lichkeit wegwischende Behandlung. Man gebraucht zwar meist das Wort in dem Sinne einer dramatischen Durchführung einer Aktion, wogegen dem Genre mehr die einfachere Situation

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überlassen wird, eine solche geschichtliche Malerei kann aber schon darum nicht gemeint sein, weil sie bereits in musterhafter Vollendung dagewesen, das Wiederholen aber des schon fertig Vorhandenen uns wenig fördern möchte. Wie die Geschichte überhaupt in und für die Gegen­ wart zu einer früher nie geahnten Bedeutung gelangt, wo die Nationen für das Ungleichartige, nicht durch Namen, Abstammung, Denkweise Verbundene weder Theilnahtne noch Verständ­ nis« zeigten, wie sie uns jetzt unser eigenstes Wesen, unsere Welt kennen lehrt; so muss auch die historische Malerei im Sinne der Neuzeit in jeder Darstellung das menschliche Leben, wie cs sich in immer steigender Enrwiklung abrollt, das Beherrschtsein der Individuen von den Ideen des Gcisres, welche wesentlich in das allgemeine Geschik des Menschengeschlechtes eingreifen, aufwcisen. Es genügt nicht, lebendig individualisirte Gestalten zu malen, es gehört noch das Weitere und Wichtigere dazu, dass man in dem Kampfe der Personen das Geschichtliche, das Ringen berechtigter Ideen nicht blosse Privatkampfe erblike. Wer z. B. die Kämpfe der Hohenstauffen zur Darstellung brächte, thäte sehr übel daran, blos der einen Partei alle »eine Liebe zuzuwenden, dieser allein durch die Darstellung zur Theilnahme des Volkes zu verhelfen, die andere hingegen fast karikirend in aller Leerheit und Nichtigkeit vor die Augen zu stellen. Steht cs denn dafür, mitTollköpfen oder Stumpfsinnigen zu fechten, macht sich nicht der am meisten lächerlich, welcher mit erhabenem Pathos, mit aller Macht einer begeisterten Seele daran geht, sein Leben im Kampfe mit einer gespreizten seifenblasigen Natur zu wagen, welcher die Wahr­ heit der ihn beseelenden Idee gegen ein Geschöpf beweist, in dessen Hirn nicht der leiseste Anflug eines Gedanken|s] stekt. Ich habe bereits als Charakter des historischen Drama das Überragtsein der einzelnen Hcldenindividualität durch Unterordnung unter die allgemeinen menschlichen Mächte ange­ führt; cm Gleiches gilt von der historischen Malerei. Wir haben in diesem Sinne noch keine geschichtliche Kunst gehabt. Gehen wir auf diejenige Kunsrperiode, welche uns am nächsten steht, auf das Mittelalter zurük, so finden wir zwar eine vielfache Verherrlichung geschichtli­ cher Gestalten, ein mannigfaltiges Verweben längst vergangener Ereignisse in gegenwärtige Interessen, ein grossartiges Streben, die Bedeutung des Nahestehenden durch Beziehung auf Entfernteres zu heben; wir bemerken aber, abgesehen davon, dass die Vergangenheit nur wegen ihres Bezuges auf die nächste Gegenwart, nicht wegen ihrer an und für sich seienden Geltung zur Darstellung gebracht wurde, eine blos natürliche Behandlung, wir erbliken herrliche kräf­ tige Persönlichkeiten, keine Helden. Es ist charakterisri|s|ch, dass im Mittelalter diejenigen ge­ schichtlichen Momente, die in der Gegenwart den Stoff zu den grossartigsten Darstellungen abgeben, meist nur als Porträt verwendet wurden. Die Zeit fand in ihnen nur Personen, hatte Sinn und offenes Auge wohl für die äusserliche Erscheinung, nicht für die innere Bedeutung der Handlung. Der menschliche Geist hatte es noch nicht dahin gebracht, Spiegelbilder seiner höchsten Mächte in allen Phasen menschlicher Enrwiklung zu gewahren, die sich entwikelnde Idee, welche durch alle Zeiten hindurch maulwurf-artig im Innern arbeitet, reizt, loket und spornt, auch äusserlich in allen allgemeinen Fortgängen deutlich ausgeprägt zu finden, er hat sich seine Weltanschauung in den früheren Geschichtsperioden nicht durch das Unheil mit kla­ rem, durchdringendem Bewusstsein, sondern in naiver Gemüthseinfalt gefunden; ohne nach dem Warum zu grübeln, war er durch das faktische Dasein der Idee zufrieden gestellt. So war

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dem Künstler für den Inhalt des Kunstwerkes nichts zu thun übrig geblieben, er konnte, wie das gesammte Volk sich über das Wesen der es beseelenden Idee keine Rechenschaft gab, auch selbst nicht die Bedeutung desselben sich erobern; sein Schaffen war geistig formell. Dadurch aber, dass er sich bei bereits im Gemüthe festgestelltem Inhalte nur in den Formen bewegte, musste ihn die Weltgeschichte, die inhaltliche Entwiklung des Geistes kalt lassen, und wo er sie benuzte, war der Gebrauch formell, d. h. sie diente ihm als Folie für den bereits in vorhinein in sie gelegten Inhalt, er verherrlichte nicht im Individuellen, Momentanen den Geist der Geschichte, sondern durch diesen die Individuen. Ich will mich in Beispielen erklären. Wenn die altdeutsche Malerei fremde Stoffe zur Anwendung brachte, so war es ihr keineswegs darum zu thun, ihre absolute Geltung dem Volke zur Schau zu stellen, vielmehr nur seinen eigenen Zuständen und Verhältnissen, den Interessen der Gegenwart eine lokendere romantische Form zu verleihen. Statt das Persönliche, Lokale, Natürliche dem Allgemeinen unterzuordnen, wurde dieses nur die Form, in welcher sich jene 3 Momente als Inhalt bewegten; diess an sich hatte keinen Werth, ja kein Dasein für sie; es musste erst ein lokales Gepräge annehmen, um in die Kunst einzugehen. Darum hat auch Schule, Aufenthalt, landschaftliche Umgebung, Heimat, in­ dividueller Charakter des Künstlers auf den Inhalt des Kunstwerkes einen so ungeheueren Ein­ fluss, während das Allgemeine sich nur dem Künstler unbewusst auf eigene Faust Geltung ver­ schaffen kann. [...] Der grosse Unterschied der Kunstauffassung in der Vergangenheit und Gegenwart liegt in Kurzem darin, dass dort der Inhalt unmittelbar durch das Gemüth, hier durch den Geist mit Bewusstsein gefunden wird.

Wie die Wahrheit der griechischen Mythologie in den antiken Kunstwerken zu suchen ist, die bedeutungsvolle Seite der mittelalterlichen Romantik durch die Anschauung ihrer künstle­ rischen Schöpfungen gewonnen wird, so muss auch die freie Wahrheit der Geschichte in der historischen Kunst der Neuzeit gefunden werden. Es muss in jedem geschichtlichen Momente die Menschlichkeit mit ihrem nimmer rastenden Streben nach Verwirklichung ihres Wesens in der Äusserlichkeit zum Ausdruke kommen, der Inhalt objektiv gefasst, die Handlung um ihrer selbst willen bedeutend, die Herrschaft des freien Geistes in ihm geoffenbart sein. Die Geschichte ist das reine Menschenreich, die Individuen, die in ihr (in der Kunst) auftreten, tra­ gen den Urtypus menschlicher Beschaffenheit an sich, die Idee, die Verklärung der Macht des menschlichen Geistes in ihnen hat ihre ganze Individualität durchdrungen, ist in ihnen wirklich geworden. Hat die vergangene Kunst ihre grösste Meisterschaft in der Darstellung natürlicher Menschen, der hilfsbedürftigen oder gegen diese Hilfsbedürftigkeit sich auflehnenden Einzel­ nen und aller daran sich knüpfenden Verhältnisse kundgegeben, so wird die Kunst der Neuzeit die Apotheose des historischen Menschen (ich brauche wohl nicht zu erinnern, dass ich durch die Entgegensezung von Natürlichkeit und Geschichte diese keineswegs zur Unnatur stempeln will) feiern, d. h. diejenigen Zustände darstellen, welche ihren Ursprung aus der Konzentration der allgemeinen Interessen, des Menschheitslebens im Einzelnen, aus der Vereinigung der Mächte des menschlichen Geistes mit dem Ich genommen haben.

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Der Gewinn, welchen die Kunst aus dem modernen wissenschaftlichen Treiben, der histori­ schen Begründung des Gegebenen, dem Nachweis seiner inneren Entwiklung zieht, und noch weit mehr bei der raschen Fortbildung der Philosophie ziehen wird, ist der Nachdruk, der auf den Inhalt der Kunstschöpfungen gelegt wird, die Bedeutung, welche der Stoff erlangt. Wir wis­ sen sehr wohl, dass die Stoffe, welche in früheren Perioden zur Darstellung kamen, den künstle­ rischen Geist im Allgemeinen kräftig begeisterten, im Einzelnen jedoch der Form zum Opfer gebracht werden mussten, erst durch diese ihre Bedeutung erlangten. Die Blüthezeit der Malerei zeigt mit aller nur wünschenswerthen Klarheit, wie wenig die Künstler die stoffliche Sprödigkeit anfocht, wie sehr sie Geläufigkeit besassen, aus ihm Alles, was ihrem besonderen Charakter entsprach, zu machen. Und wenn andererseits die alleinige Individualität das Prinzip abgab, so ist diess zwar ein Fortschritt, der die Kunst dem Leben näher bringt, aber sie nothwendig auf einen kleinen Raum beschränkt und zulezt denn doch nur in der Form den Kunstinhalt fin­ det, nicht umgekehrt im Inhalte die Kunstform. Das Höchste der Kunst, die eigentliche Lebens­ frage derselben, Stil und Individualität zur Einheit zu bringen, ohne Hintansezung des Einen oder der Anderen [2], haben die früheren Perioden wohl in den einzelnen Nationen gelöst, in­ dem sich die eine den Stil, die andere die Individualität vindizirte, und eine solche vertheilte Einheit zum glanzvollen Abschlüsse gebracht. Wollen wir nicht bei dem bereits Erworbenen stehen bleiben, die ursprüngliche Nahrung blos wi[e]derkäuen, so müssen wir daran arbeiten, beide Momente zu konkreter Einheit zu bringen. Und diese Lösung, glaube ich, erfolgt in der echt geschichtlichen Malerei. [...]

Indem die Handlung um ihrer eigenen Bedeutung willen ohne alle subjektive, partikuläre Färbung dargestellt wird, erweitert sich auch die Thätigkeit des Künstlers, wird nebst der For­ menschöpfung auch die Gestaltung des Inhaltes seine Aufgabe. Wäre es auch in der alten Kunst nicht der Fall gewesen, dass sich dem Inhalte ganz fremde Einflüsse und Beziehungen einmeng­ ten, so blieb der Stoff, weil er nicht begriffen, sondern nur geglaubt wurde, das Gemüth ihn an sich riss, oder eigentlich weil seine Natur sich gegen das Bewusstsein sträubte, an sich gleichgiltig, der objektive Sachverhalt dem subjektiven Bedünken ohne Gnade preisgegeben. Der Künstler erhielt den Stoff von aussen her fixirt, die Bedeutung, die er ihm durch seine Verkörpe­ rung bewies, sein eigen Verdienst. Ganz anders erscheint diess Verhältniss in der Geschichte; in sie Etwas, was nicht ursprünglich in ihr liegt, und von selbst sich hervorthut, hineinsteken zu wollen, beraubte die Darstellung nicht nur der Wahrheit, eines Hauptvorzuges der neuen Kunst, sondern auch aller Anmuth, welche nur durch die Ursprünglichkeit der Auffassung wie­ dergegeben werden kann. Diese beginnt aber nicht mehr in dem Gemüthc des Künstlers, son­ dern schon in der Reinheit des Stoffes. Was das Gemüth in Herzenseinfalt erfasst, mit dem zar­ ten Hauche des Glaubens belebt hat, ist wohl willfährig, die Gestaltung zu wechseln, den Inhalt von den verschiedensten Seiten her beleuchten zu lassen; was aber die Geschichte mit sicherer Hand in nimmer verwischbaren Zügen festgestellt, daran lässt sich nicht deuteln oder mäkeln, hier ist das Faktum die einzige Leuchte, und der Künstler muss, weil die Bedeutung der ge­ schichtlichen That eine objektive, in ihr selbst ruhende ist, zum Stoffe herabsteigen, diesen be­

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greifen, dann erst mit Bewusstsein an seine Formirung gehen. Somit tritt der Künstler in ein neues Verhältniss - zur Wissenschaft, deren Ziel die Darlegung der Weltgeschichte als des Complexes der nach einander auftretenden Mächte des menschlichen Geistes bildet. Der Cha­ rakter der Neuzeit ist der des Wissens. Wir können uns für nichts interessiren als für das vom Urtheil Erfasste, auf keine andere Weise zu einer festen Überzeugung gelangen, als durch wis­ senschaftliche Begründung. In der Gegenwart hat diese Eigenthümlichkeit wohl einen unbefrie­ digenden trüben Anstrich, wir haben uns durch dieselbe in jene unheilvolle Reflexion einge­ rannt, welche uns aller heiteren Lebensblüthen beraubt, Alles in dem schmuzigen Gewände einer nüchternen Prosa erscheinen lässt; aber der Winter währt nicht ewig. Nicht umsonst hat der Geist drei Jahrhunderte bereits an dem Aufbaue einer gewussten [!] Weltanschauung gear­ beitet, nicht blos zu dem Zweke, von den Gelehrten die Langeweile zu verscheuchen und die Welt mit Büchern zu überschwemmen. Sowie jede Weltanschauung, wiewohl anfangs das Eigenthum einzelner Weniger, scheinbar schwierig im Verständniss, unpraktisch in der Anwendung, doch im Laufe der Begebenheiten die Herzen der Völker sich unterjochte, durch Zuhülfenahme der Anschauung, welche für sich nichts ist und dem Gedanken unbedingt folgt, in jede Seele eindrang, so wird auch die Wissenschaft ihre Resultate klar und einfach in gang­ bare Münze umsezen, leichter und schneller als jede andere, weil sie an das eigenste Wesen des Menschen, das Urtheil, appellirt, und die Wahrheit in sich enthält, jeder wird denkend die Welt betrachten, durch das Urtheil sich orientiren. Es fehlt übrigens nicht an Anschauungen, welche der Wissenschaft freundlich entgegentreten, ihr Auftreten unterstüzen; die Industrie sprengt die starren Bande des mechanischen Arbeitens, die Association verscheucht den Egoismus, die ganze moderne Prosa trägt ihren Theil zur Lösung der grossen Aufgabe bei. Hat der Griechen­ knabe in der Palästra dem idealen Körper gehuldigt, auf der Agora das substantielle Leben be­ wundert, so staunen unsere Kinder Eisenbahnen, Dampfmaschinen an, und das Kind, das schon in seinen ersten Jahren den menschlichen Geist kennen lernt, wird ihn als Mann wohl nicht verachten. [...] Soll die Kunst das historische Leben schildern, die Bedeutung desselben in seinen mannigfa­ chen Momenten zur Anschauung bringen, so muss sie es vor allem kennen. Verschaffte der Künstler sich diese Erkenntniss seiner Stoffe in anderen Zeiten auf anderem Wege, so kann er diess im vorliegenden Falle wegen der Eigenthümlichkeit der Weltgeschichte, vorerst Wissen­ schaft zu sein, nur auf dem Wege des Denkens. Er muss den ganzen Prozess, welchen die Philo­ sophie in ihrer Erkenntniss des menschlichen Wesens durchgemacht hat, wieder durchwandeln, nicht philosophisch in der Form des allgemeinen Begriffes, sondern auf seine künstlerische Anlage gestüzt, konkret durch das Zusammenfassen der einzelnen Momente zur Kunsteinheit. Die Wesenheit des Stoffes wird auf den Bearbeiter übertragen; fordert jener Begreifen, so muss dieser denken, und denken müssen unsere Künstler, sonst geht die Kunst den Weg alles Heils. Erst nachdem ihnen die Geschichte zum bekannten Lande geworden, die Heldengestalten vor ihrem Auge mit aller Klarheit vorüberziehen, sie ihre Zweke, ihren Charakter begriffen haben, erst dann können sie an die äussere Erscheinung gehen, gestalten und zeichnen nach Herzens­ lust, aber auch erst dann werden die Gestalten ein historisches Gepräge haben, zusammenstim­ men mit dem Gedanken, der ihnen innewohnen und zum Beschauer sprechen soll [...]

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1 Christian Ruben (1805-1875), Historien- und Genremaler, Schüler von Cornelius, München 1826 bis 1840, Akademiedirektor in Prag 1841 bis 1850, in Wien 1852 bis 1872: Columbus erblickt die Küste Amerikas (1846), Geschichtsbild mit liberaler Tendenz, s. Abbildung im 1. Band. 2 s. Dok. 4, Anm. 13, S. 18.

7 F(ranz) Kugler: Sendschreiben an Herrn Dr. Ernst Förster [1] in München über die beiden Bilder von Gallait (2) und de Biefve [3]. In: Kunstblatt (zum Morgenblatt für gebildete Stände) 1843, S. 241-43, 246-48. Hier S. 242-43, 246-47. (Neudruck Kugler: Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte, TI. 3, Stuttgart 1854, S. 401-07).

[...] Es ist vorzugsweise der geistige Inhalt beider Bilder, die Entwickelung und die 1 Bedeutung desselben, worüber ich mit Ihnen zu streiten habe. Gallait werfen Sie vor, daß sein Bild in der Darstellung des gewählten Gegenstandes, de Biefve gar, daß sein Bild schon in der Wahl des darzustellenden Gegenstandes verfehlt sey. Lassen Sie uns dies etwas näher betrachten. Für’s Erste eine allgemeine Bemerkung zur weiteren Verständigung. Beides sind historische Bilder, oder deutlicher, Bilder geschichtlichen Inhalts, und zwar solche, die den Zweck haben, der geschichtlichen Erinnerung eines bestimmten Volkes (der Niederländer) als Denkmale zu dienen und dem Volke an einem Orte von nationaler Bedeutung (dem Palais de la nation zu Brüssel) als Erinnerungs- und Mahnzeichen gegenüberzutreten. Die Geschichte aber ist etwas positiv Gegebenes, und die geschichtlich-künstlerische Darstellung muß nothwendig einen ge­ wissen Grad von Vertrautheit mit diesem positiv Gegebenen voraussetzen. [...] Der Künstler muß bei diesen Darstellungen diejenigen Voraussetzungen machen, die der Zweck seines Wer­ kes erfordert, zu denen ihn das Wissen und Bewußtseyn von Zeit und Nation berechtigen. Gal­ lait und de Biefve durften diese Voraussetzungen in Bezug auf ihr Volk machen; wenn uns zu­ fällig die vorausgesetzten Kenntnisse fehlen sollten, so ist es nicht ihre Schuld. Gallait hat die Abdankung Kaiser Karls V. gemalt. Sie sagen - und scheinbar mit Recht man sehe in dem Bilde nichts davon; der Künstler hätte nicht den von ihm dargestellten Moment, sondern einen andern wählen sollen, durch den die That des Abdankens deutlicher werden, durch den somit die Person des Kaisers wirkungsreicher hervortreten würde. Sie ver­ langen zugleich, daß statt des vor Seelen- und Altersschwäche zerfallenden Kaisers hier der Ausdruck «eines durch das Bewußtseyn kaiserlicher Macht starken und durch religiöse Bewe­ gungen großen Geistes« erscheinen sollte. Herr v. Quandt [4] stimmt Ihnen darin mit andern, noch mehr poetischen Ausdrücken bei. Beiläufig bemerkt, ist dies letztere Begehren schon ganz unstatthaft. Wenn Sie die Historiker, und namentlich unsere gründlichen neueren Forscher, etwa Ranke [5], nachschlagen, so werden Sie finden, daß Karl eben gar nicht in wundersam idealer Resignation, sondern ganz anders, der Körper von Krankheit verzehrt und die Seele mit finsterer Hypochondrie belastet, mit Vernichtung seiner schönsten Pläne und ohne Mittel, neue durchzuführen, weil der Staatsbankerott vor der Thür war, vom Throne in das Kloster ging.

Dk Dtskusskn um Jk hfetononiLro

HäaeGaUan also, wie Herr v. Quandt will, erneu »über die inbscbe Henbcbkeu skh erbeben­ den Charaktere malen wollen, so haue er ihn irgendwo anders soeben mässen; und häne er

seinen Kaiser, nach dem bekannten PietoribiK atqne poeos etc. ¡61, dennoch zu einem solchen Charakser ungeprägg, so häK er die Bedeunmg seines Bildes sehr verfehlt. Denn das Wort

.Ahd—Aw^. iw«iremä»dir»rrTiwlfiirdas

und der Kaiser nicht dessen Hauptperson.

In weicher Form Kari vom Schmgdatte abtrat, mag fast ^eichgükig erscheinen, wenn man im

Somedes Niederländers die Folgen erwägt, die sich daran anschlossen. Die Abdankung ist der große Wendepunkt m der mederländtschen Gesdncbce [7), und dies ist es, * as uns Gallah in

den Hauptpersonen seines Bddes so unoachahntbch meisterhaft andeutet. Die Gestalten seiner

beiden Lieblinge, die der an Körper md Geist zerfallene Kaiser den Versammelten zur Schau stellt, lassen uns die ganze nächste Zukunft der niederländischen Geschichte erkennen: Philipp,

der tugon und in steifer FörmlicfakeK, den Rücken gegen das Volk gewandt, welches ihm huldi­ gen soll, vor dem Vater kniet, und Oranten, der •Schwager«, in hohem männlichem Add vot

dem Kaser stehend, und zugleich in jener verschlossenen Besonnenheit und in yener Festigkeit, die ihn zum Helden des Volkes machen muhte. Auch des Kaisers Schwester, Mana von Lingam, die imbeweglich zur Seite der Gruppe sitzt, trägt wesentbch dazu bei, das Charaktensnsche des

Momentes zu erhöben. .Man muß es freilich wissen. daß sie bisher die Statthalterschaft der Nie­ derlande, und zwar mit Milde, geführt hat: def in sich versunken, einer greisen Nome rocht

unähnlich, scheint ste die Schauer der Zukunft zu empfinden, die bei dem bedeutungschweTen Wechsel der Herrschaft in ihr emporsteigen mußten, l .

Der Inhalt des Bildes von de Biefve stehl mit dem des Bildes von Gallait in nahem Zusam­ menhänge; die Geschichte ist fortgeschntten, und der erste entschiedene .Moment des nothwen­ digen Widerspruches zwischen Philipp und Oranien. zwischen spanischer Tyrannei und niederländtscbem Freibeitsgefühl, wird uns gegenübergeführt. Es ist die Versammlung der niederländtschen Edlen im Kuylenburg'sehen Palast zu Brussel und die Unterschrift des Compromisses ¡8i. wodurch sie gegen religiösen und politischen Druck oftenen Protest einlegten. Aber sie sagen: wie kann man aus dem Papier, das von Einem unterschrieben wird, von .Andern unterschneben »st und von Vielen erst unterschrieben werden soil. den Inhalt des Geschriebenen oder zu Schreibenden ermessen? und könnte die Versammlung, statt z. B. gegen die Inquisition, rocht etwa gerade für dieselbe sich vereinigt haben? Ich frage Sie mit demselben Recht: kann man aus dem Papier, welches der Priester in Raphaels .Messe von Boisena in den Hander. halt, etwa aut das Wunder der Mutenden Hostie und am dessen Bedeutung riir die mtneialterbch-katholtscbe Kirche, was doch den Inhalt des Bildes ausmachc. schließen? Wir haben auch hier die historische Voraussetzung zuzugeben. Wir müssen es wissen, dab die Unterschritt des Compromrsses einer der wichtigsten Schn ne in der Betretung der Niederlande war: aber wie­ derum ist sie. wie die Abdankung Karls, nur das äußere, zufällige Vehikel, um die Bedeutung der Zeit - in diesem Bilde die ernste Bereitung zur That - zur Erscheinung zu bringen. Hier hat Herr v. Quandt, sehr abweichend ion Ihnen und seihst treilich auch nicht ohne aiierhanc Clausein,doch sehr richtig bemerkt: -Es ist in diesem Bude durchaus die Idee des X'oikswiöer.s

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gegenwärtig.« Das ist es, worauf es in dem ganzen Bilde ankam, und was de Biefve, obwohl nicht ganz frei von Mängeln der Anordnung, doch in sehr überlegter, klarer Abstufung und in meisterhafter Bewegung dargelegt hat: das zum Bewußtseyn seiner Würde, seiner Freiheit erwachende Volk. Herr v. Q. bemerkt übrigens zugleich als einen Tadel, daß der Maler die hi­ storisch merkwürdigsten Personen abgesondert von den klebrigen in den Vorgrund des Bildes gebracht habe, und daß es ihm somit mehr am geschichtlichen Detail als an der das Ganze durchdringenden Idee gelegen habe. Die Antwort darauf giebt auch wieder die Geschichte. Die merkwürdigsten Personen waren die Vornehmsten, deren Vorangang man wünschte, denen man somit natürlich auch den ersten Platz zur Unterschrift - in der Nähe des Tisches, der eben im Vorgrund des Bildes steht - überließ; sie waren aber zugleich auch die Bedächtigeren, denen die heftigere Bewegung der niederen Edelleute nicht ganz genehm war, und die sich somit ab­ sichtlich ein wenig abgesondert hielten. Oder soll die Geschichte wieder zu Gunsten eines be­ liebigen Gesetzes für künstlerische Composition gemodelt und die schärfere historische Cha­ rakteristik einem zweideutigen Erfolge aufgeopfert werden?

Ich meine indeß mit der Rechtfertigung der Gegenstände, die die Bilder behandeln, und der Art und Weise, wie dieselben aufgefaßt sind, doch noch nicht Genügendes gesagt zu haben; die Bilder könnten dabei dennoch ziemlich wirkungslos bleiben. Was ihnen die eigentlich künstlerische Bedeutung giebt, das ist die frische Energie, mit der die also aufgefaßten Gegen­ stände in’s Leben treten. Es ist in diesen Gestalten - im Gegensatz gegen so manch ein conventionelles Scheinleben, das zu bewundern man uns nöthigen will - eine Kraft der Existenz, eine Fülle des Daseyns, der sich nur ein blöder Sinn verschließen könnte; es ist in ihnen, zum größe­ ren Theil wenigstens, eine Haltung und Gemessenheit, die uns nothwendig mit Ehrfurcht erfül­ len muß, es ist ihnen ein Gepräge nationalen Gemeingefühles aufgedrückt, das unser Publikum fast mit einer Art Verwunderung ansah, und aus dessen Einwirkung ich mir vorzugsweise den lebhaften Enthusiasmus, der den Bildern aller Orten zu Theil ward, erkläre; es ist in ihnen in der Gesammtheit des Gallait’schen Bildes und wenigstens in einzelnen Partien des von de Biefve - eine Würde und Feier des malerischen Styles, welche den Eindruck auf wohlthätige Weise zu einem gerundeten und abgeschlossenen macht. - Ich denke wir haben die Gültigkeit dieses malerischen Styles ganz in gleichem Maße anzuerkennen wie die des linearen; ebenso, wie in der Musik das Gesetz der harmonischen Durchbildung dieselbe Bedeutung hat wie das der melodischen Durchbildung; wobei es sich aber freilich von selbst versteht, daß die gleich­ mäßige Entwickelung beider Elemente auf eine noch höhere Stufe der Vollendung führen muß. Ich muß bekennen, ich verstehe Sie nicht, wenn Sie dennoch für die historische Auffassung in diesen Bildern » nicht weniger als Alles« vermissen. Sie stoßen sich an dem Streben nach mög­ lichst getreuer Verwirklichung, - als ob das nicht unbedingt das Streben des Künstlers seyn müßte, unbeschadet anderweitiger Anfordernisse, die allerdings an ein Kunstwerk zu machen sind, und als ob es nicht, bis auf gewisse Theorien der modernen Zeit, das Streben aller Kunst gewesen wäre! Hat denn der Künstler ein anderes Mittel zur Darstellung seiner Ideen, als die

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Natur? und ist es nur denkbar, daß ein freier Geist durch möglichst vollkommene Ausbildung dieses Mittels, das je mehr ausgebildet auch um so reichhaltiger wird, nur irgend beschränkt werden könnte? Ich breche ab, um den nutzlosen Streit nicht noch weiter fortzusetzen. So lasse ich auch, was Hr. v. Q. im Gegensatz gegen den belgischen Realismus über die »von poetischen oder religiösen Ideen belebte Kunst« und über die »wahrhaft ästhetische und wahre Freiheit des Geistes« sagt, zu welcher dieselbe emporsteige, unberührt und frage nur, wo wir denn eigentlich die Poesie zu suchen haben? Ich wüßte kaum irgendwo mehr Poesie zu finden, als in dem glorreichen Freiheitsringen der Niederländer. -

Seyen wir aufrichtig, lieber Freund! Unsere Kunst hatte bisher ein gewisses exclusives, ich möchte sagen, aristokratisches Element in sich. Sie entwickelte sich - ich meine unsere neuere Kunst-in einem zerfahrenen Zeitalter, in welchem auch die kräftigsten und rüstigsten Talente, deren es gar wohl unter unsern Vorgängern gab, auf der Bahn des Alten keine neuen Erfolge mehr zu erreichen vermochten. Da zogen sich die Geister, welche den Puls der neuen Zeit in sich fühlten und den Drang zu einer neuen Gestaltung des Lebens in ihrer Brust trugen, von dem Gewühl des Marktes zurück und ließen in ernster, gedankenvoller Stille das Werk solcher Erneuung reifen. Daß sie den rechten Weg eingeschlagen, bezeugte ihnen die bewundernde Anerkennung der Besten ihres Volkes. Aber sind glücklicher Beginn und Vollendung schon eins und dasselbe? Man fühlt es den Werken dieser Männer an, daß sie aus der, allerdings nothwendigen Zurückgezogenheit, aus der Contemplation, aus der geistigen Flucht vor dem Leben ent­ standen sind; die hohen Resultate, die sie bringen, stehen dem Leben dennoch in einer gewissen Entfremdung gegenüber. Daher — verzeihen Sie, wenn ich, um mich deutlich zu machen, die Farben stark auftrage - daher auf der einen Seite diese Stylistik, deren Erstarrung wir befürchten müssen, auf der andern dies Gefühlsleben, das in’s Gestaltlose verschwimmen zu wollen scheint. Die Kunst soll aber dem Leben nicht fremd bleiben; im Gegentheil, es ist ihr Beruf, das Leben in seiner vollen frischen Unmittelbarkeit zu durchdringen und sich selbst davon durchdringen zu lassen. Die Schätze, die in geheimer, stiller Grube gegraben sind, müssen wie­ der auf den Markt, unter das Volk hinausgetragen werden; unsere Kunst muß jenem aristokra­ tischen Element - denn ohne das würde sie freilich gleich von ihrer Höhe hinabsinken - als nothwendiges Gegengewicht ein demokratisches zugesellen. Und sollen wir uns nun nicht freuen, wenn ein verwandtes Nachbarvolk uns ein Paar künst­ lerische Meisterwerke zusendet, aus denen dies letztere Element in seiner freudigen Kraft her­ vorleuchtet? Ja, ein demokratisches, in der ganzen kecken Bedeutung des Wortes! Wie sich die niederländische Kunst, wohl nach dem Vorgänge der französischen, dahin entwickelt, will ich hier nicht näher auszuführen versuchen; ich kann es auch nicht, da mir die genaueren Kennt­ nisse ihres neueren Entwickelungsganges fehlen. Dazu aber bedarf es keiner großen Divination, um zu erkennen, daß das, was sich in den Meisterwerken der heutigen französischen und belgi­ schen Kunst — ob vielleicht auch in beschränkten Kreisen — bewegt, doch einem frischen volks­ tümlichen Leben seinen Ursprung verdankt. Nur wo ein kräftiges Gemeingefühl im Volke

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waltet, wo dasselbe eine nationale Existenz hat, da gewinnen auch die künstlerischen Darstel­ lungen jene sieghafte Existenz, der wir unsern Sinn nicht verschließen können. Und weil seit der jüngsten Zeit auch in Deutschland das Gemeingefühl des Volkes, das nationale Bewußtseyn in aller Freudigkeit erwacht ist, so mußten jene beiden Bilder, in denen man die verwandte Stim­ mungerkannte, auch bei uns mit so entschiedenem Beifall aufgenommen werden, vielleicht mit größerem als in ihrem eigenen Vaterlande, eben weil sie uns etwas brachten, was uns mehr oder weniger noch fehlte. |...] 1 Ernst Förster (1800-1885), Münchner Kunstschriftstellerund Historienmaler, Parteigänger von Corne­ lius, Redaktion des Cottaschen Kunstblattes 1842 bis 1849. Bezug [Emst Förster:] Aus dem gegenwärti­ gen Kunstleben am Rhein und in den Niederlanden. In: Kunstblatt (des Cottaschen Morgenblattes) 1843, hier S. 110-13, 118-19. 2 Louis Gallait (1810-1887), mit de Biefve Begründer der neueren belgischen Historienmalerei: Abdan­ kung Karls V. (1841), belgischer Staatsauftrag; Die Brüsseler Schützengilde erweist Egmont und Hoorn die letzten Ehren (1851). 3 Edouard de Biefve (1808-1882): Kompromiß des niederländischen Adels zur Abwehr der Inquisition 1566 (1841), belgischer Staatsauftrag. 4 Johann Gottlob von Quandt (1787-1859), Kunstschriftsteller und Mäzen: Vorträge über Ästhetik (1844). Bezug: Die belgischen Bilder. Aus einem Briefe des Herrn v. Quandt in Dresden an einen Freund in München. In: Kunstblatt (des Cottaschen Morgenblattes) 1843, S. 165-66, 170-71. 5 Ranke: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. 5 (1843), Buch 10, Kap. 6. 6 Horaz: Ars poetica, V. 9/10. »pictoribus atque poetis / quidlibet audendi semper fuit aequa potestas.« 7 Ranke (s. Anm. 5) über die Abdankungszeremonie am 25. 10. 1555: »Ein Moment voll Schicksal und Zukunft! Da war der mächtige Kaiser, der bisher die großen Angelegenheiten der Welt verwaltet hatte; mit denen, die ihm zunächst standen, beinahe der Generation, die ihn umgab, nahm er Abschied. Neben ihm erschienen die Männer, denen die Zukunft gehörte, Philipp II. und der Prinz von Oranien, in denen sich die beiden entgegengesetzten Direktionen repräsentierten, die fortan um die Weltherrschaft kämp­ fen sollten.« 8 16. 2. 1566. 9 Die Messe von Bolsena gehört zu Raffaels Stanza dell’ Eliodoro (1511-1514) im Vatikan.

8 A[nton] Teichlein: Louis Gallait [1] und Die Malerei in Deutschland, München 1853, S. 8-15, 20-21. |...] Wenn Franzosen und Belgier, wie es bei einem Gallait und allen Besseren unter ihnen der Fall ist, den leibhaftigen Menschen, nicht allein mit äußerer Naturtreue, sondern den beseelten Menschen, in der Schärfe individueller Charakterbildung, und mit aller Feinheit des Ausdrucks malen, so werden wir uns hüten, ihre Kunst gehaltlos zu nennen, so lange sie dabei, sei es in Darstellung einzelner Gestalten oder ganzer Versammlungen nicht über die Ansprüche des Portraitmalers hinausgehen. Denn die beseelte Natur ist in derThat an sich schon ein gehaltvoller

Vorwurf der Kunst und es versteht sich von selbst, daß ein einziges Portrait von Raphael oder Titian, Holbein oder van Dyk, und somit auch von jedem guten Franzosen oder Belgier mehr

Die Diskussion um die Historienmalerei

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werth ist, als ganze Säle voll allegorischer Hieroglyphen und konventioneller Schattenrisse, wie sie bei uns, wir bekennen es ja in Demuth, mit unterlaufen. Greifen aber unsere verehrten Nachbarn nach Gegenständen, bei welchen es darauf an­ kommt, mit innerlich und äußerlich bewegten Menschen eine gehaltvolle Handlung, d. h. eine Handlung, in welcher eine bedeutende Idee enthalten ist, darzustellen: dann wird es erlaubt sein zu fragen, ob sie auch die vollendete und ausdrucksvolle Realität ihrer Gestalten zur Dar­ stellung des ideellen Kunstgehaltes der Handlung zweckmäßig verwenden, oder etwa nur eine malerische Außenseite des Vorgangs abconterfeien. Und bei aller Bescheidenheit darf man doch wohl noch sagen, daß in diesem Bezüge diesseits des Rhein’s manches Bessere geleistet worden ist und noch geleistet werden könnte, wenn nicht die deutsche Künstlernatur endlich unserer kosmopolitischen Zerfahrenheit erliegt. Wer aber noch einigen sanguinischen Glauben an deutsche Zukunft in der Kunst hat, der darf seinen Unwillen nicht unterdrücken, wenn er hört und sieht, wie viele sich dergestalt in diese »vollendete Malerei« vergafft haben, daß sie überden Reichthum an Kunstvermögen vollständig übersichtig für die Armuth an Kunstgehalt geworden sind, und nicht begreifen wollen, daß in all dem Ausdruck dieser mit Recht bewun­ derten Charakterköpfe, und all dieser malerisch abgerundeten Wirkung solcher Bilder, doch gar selten die Seele des Gegenstandes, seine Idee, ihren vollständigen und ästhetisch-wirksam­ sten Ausdruck findet. Zum Beispiel! Da hat zufällig Shakespeare auch eine Thronentsagung gemalt. Man darf wohl sagen gemalt, denn die Abdankungs-Scene in Richard II. ist das Muster eines sinnvollen und anschaulichen Bildes. Vor Aller Augen erscheint der besiegte Richard vor dem siegreichen Bolingbrock[e], »Gebt mir die Kron’!« sagt er, »Hier, Vetter, greif die Krone, An dieser Seite meine Hand, die deine dort. Nun ist die goldne Kron’ ein tiefer Brunn Mit zweien Eimern, die einander füllen, Der leere immer tanzend in der Luft, Der and’re, unten, ungeseh’n voll Wasser. Der Eimer unten, thränenvoll, bin ich, Mein Leiden trink ich und erhöhe dich.«

Man wird doch wohl Shakespeare nicht des Aliegorisirens bezüchtigen wollen, weil er das Symbol des Königthums, welches überdieß zum Costume der Zeit gehört, auf die Scene bringt. Daß er die Krone vor unsern Augen von einer Hand in die andere wandern läßt, ist ein so rea­ listisches Mittel, um das Faktum eines Thronwechsels vollständig auszudrücken, wie es sich ein Maler für seine sinnliche Kunst nicht besser wünschen könnte. Und stehen dabei die beiden Könige nicht als leibhaftige Charaktere vor uns? Läßt sich nicht in der Stellung eines jeden vom Wirbel bis zur Zehe die wahre Stellung beider zu einander versinnlichen? Können wir nicht Gedanken und Empfindungen in ihren Augen lesen und bis in die äußerste Fingerspitze verfol­ gen, welche die Krone nimmt und giebt? Und bei alledem liegt etwas mehr, als das Interesse andern historischen Faktum und den historischen Persönlichkeiten, in diesem Bilde: Im Beson­ dersten ist das Allgemeinste ausgesprochen, die tragische Idee des historischen Schicksalswech­ sels; freilich nicht als eine abstrakte und triviale Sentenz allegorisirt, sondern in einer ergreifen­

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Der Realismusbegriff in der Kunst

den Realität individualisirt. Kein Maler vermöchte diesen Gegenstand malerisch-poetischer darzustellen, als es hier sein nächster Kunstverwandter, der ächte Dramatiker, gethan hat. Hier ist keine Rede von der Aeußcrlichkcit moderner Realisten, welche »die Wahrheit« le­ diglich in der Lokalfarbe des Costum’s und der Lokalitäten, mit einem Wort auf dem Trödel­ märkte suchen, und, wenn es weit geht, dem Staub und Schmutz antiquirter Meubles und ver­ blichener Stoffe eine »historische Stimmung, ein Zeitbild« abringen. Ebenso weit aber sind wir von dem abstrakten Idealismus entfernt, welcher den Dichter viel­ leicht am tiefsten zu fassen glaubte, wenn er, um diese Scene aus dem Richard zu illustriren, einen allegorischen Ziehbrunnen anbrächte, während der Poet ächt malerisch verfährt, das Glcichniß Richard’s am Throne selbst versinnlicht, und zwei Menschen von Fleisch und Blut wie jene leid[-] und freudvolle Eimer auf und nieder steigen läßt. Wahrlich! Gewissen Leuten, welche auf dem besten Wege sind, aus Widerwillen gegen eine abstruse Idealistik in eine wahre Gespensterfurcht vor Ideen überzuschnappen, kann man keinen bessern Rath geben, als sich von Freund Shakespeare den Kopf zu recht setzen zu lassen! Und wie nimmt sich nun Meister Gallait’s Abdankung Karl[s] V. neben diesem klassischen Stück der Shakespeare-Gallerie aus? [...] Wir lassen die Lokalität wie sie ist und Jedermann auf dem Platze, den er einnimmt. Nur ein paar Hauptfiguren wollen wir etwas zur Rechenschaft ziehen. Karl steht im kaiserlichen Ornate unter dem Thronhimmel. Er stützt sich mit der Linken auf Wilhelm von Oranien, was mindestens ein Zeichen von Altersschwäche ist. Aber die Rechte legt er auf das Haupt Philipp’s, der vor ihm auf den Stufen des Thrones knieet [!], sich in seiner schwarzen Tracht freilich vortrefflich von der hellen Treppe und dem goldenen Kaiser abhebt, und, kühn genug mitten ins höchste Licht gesetzt, allerdings aller Augen auf sich zieht. Ich frage aber, kann jener väterliche Segen nicht jeder beliebigen diplomatischen oder kriegerischen Mis­ sion gelten, mit welcher der Sohn etwa betraut würde? Was nöthigt uns, dem Maler auf’s Wort zu glauben, daß es sich hier um einen Thronwechsel handelt? Man kann einwenden, bei derlei Bildern müsse irtmer mehr oder minder die Kenntniß des Gegenstands vorausgesetzt werden, und im Grunde liegt auch nicht viel daran, wenn sich ein Unwissender oder geistesträger Beschauer bei der Beschreibung Rath’s erholt, findet der Aufgeklärte nur den bekannten Gegenstand so erschöpfend dargestellt, daß er den rechten und vollen Eindruck auf ihn nicht verfehlt. Das dürfte aber bei Gallait nicht im gleichen Grade der Fall sein, wie bei jenem Bilde nach Shakespeare. Es ist wahr, in Kaiser Karl’s Abdankung ist keine Schuld und keine Versöh­ nung, durchaus kein tragischer Gehalt, wie in der Thronentsagung des brittischen Königs. Nur die Reflexion über die schweren Folgen, welche sie für die Niederlande hat, kann einen tragi­ schen Schatten über diese glänzende Versammlung werfen. Darum ist und bleibt diese Staatsaktion ein undankbarer oder eigentlich gar kein Gegenstand der Kunst für das abgeschlossene vereinzelte Bild, während sie in einem monumentalen Cyklus, als Vorspiel der Tragödie vom Abfall der Niederlande, nicht fehlen dürfte. Aber wie nahe läg’ es am Ende doch bei aller Verschiedenheit zwischen Karl und Richard, Philipp und Bolingbrocke einen annäherungsweise sinnvollen und mindestens erschöpfenden Ausdruck der näm­ lichen Situation zu finden? Wolke es Meister Gallait all zu shakespearisch dünken, wenn man ihm zumuthete, gleichfalls die Eimer auf und ab steigen, und den lebensmüden Kaiser vielleicht,

Die Diskussion um die Historienmalerei

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wie es ihm bereits vorschwebte, auf den schweigsamen Wilhelm gestützt, vom Throne herab schreiten zu lassen, so hätte er ihn doch, in gleichem Rapport mit seinem stillen Nachbar, in den Stuhl zurücksinken lassen können: Der bleiche Philipp aber in seiner schwarzen Tracht, ganz so wie ihn der gefeierte Künstler gemalt hat, müßte für alle Fälle auf dem Throne stehen, und eine Stufe tiefer neben ihm der Kardinal-Legat, welchen Gallait links in den Vordergrund geschoben hat. Beiden zu Füßen dürfte der kniende Dominikaner nicht fehlen, welcher dort vor dem Legaten das Evangelium hält, »auf welches die anwesenden Stände dem neuen Souverain den Eid leisten sollen,« wie die Beschreibung sagte, und welches hier der Kardinal eben von diesem empfangen, oder aufschlagen, oder auch, die Eidesformel vorsprechend, mit ge­ strecktem Arm berühren könnte, - denn, wie man das auch im Einzelnen ausdrücken wollte, der Moment der Eidesleistung wäre im Anzug oder der wirkliche Moment des Bildes. Hiebei geriethe natürlich die ganze Versammlung, ohne daß sie darum noch die Arme zum Schwur in die Luft zu strecken brauchte, in eine mannigfach nüancirte Spannung und niemand bliebe vollständig passiv, als derjenige, der hier wirklich in den Ruhestand versetzt wird: Der Kaiser. Fern sei mir die eitle Behauptung, diese Conception wäre, in Rücksicht der stofflichen Umstände, eine Shakespeare’sche, aber allegorisch ist sie nicht, das weiß ich gewiß, und etwas von einer Vorahnung des Schicksalwechsel’s der Niederlande dürfte sich darin auch malen las­ sen. Aber wie will der Aesthetiker mit seinem idealen, vieldeutigen Gesetz gegen den schwarz auf weiß geschriebenen Codex des Chronikschreibers und die spanische Dienstvorschrift des Oberst-Zeremonienmeisters ankämpfen! Nun gut, auch die chronikhafte Treue, welche uns die hirstorische Scene ganz so malt, wie sie wirklich gewesen sein kann, lassen wir gelten. Wir läugnen auch nicht, daß Gallaits Bild, abgesehen von dem Reiz der Farbe und der Meisterschaft der Technik, welche die Maler vor ihm fesselten, ein Interesse einflößte, nicht höher noch gerin­ ger, als es in der Wirklichkeit eine solche Versammlung bedeutender Männer und Frauen her­ vorrufen müßte, wie er sie mit portraithafter Individualisirung dargestellt hat. Nur lasse man die windschiefen Parallelen bei Seite und verarge Freunden vaterländischer Kunst die Schaden­ freude nicht, welche sie bei der Wahrnehmung anwandelt: Daß es französisch-belgischen Malern nicht weniger schwer werden möchte im Geiste Shakespeares zu denken, als es deut­ schen Denkern sauer wird shakespearisch zu malen.

T. wendet das Nationalitätsprinzip auf die künstlerische Auffassung und Behandlung an. Er bezeichnet »den Realismus als das Nationale der französisch-belgischen Kunst« (S. 26), während der Charakter Deutschlands sich im Idealismus äußere. Der Idealismus wird allerdings nach der herrschenden Manier der fünfziger Jahre mit dem Realismus ausgeglichen. Der Stoff tritt hinter der künstlerischen Auffassung an Bedeutung zurück. »Auf eine nationale Kunstanschauung, welche im Geiste des Volkes auffaßt und schafft, kömmt es also an, nicht auf eine patriotische Kunstansicht, welche mit vaterländischen Stoffen, gleichviel ob edle oder unedle Nebenzwecke verfolgt, statt des reinen Selbstzwecks der Kunst, der sich überall und jederzeit in seinem Wesen ungetrübt nationalisiren läßt.« (S. 22) Gallait hat die Stoffe seiner bekanntesten Bilder der Nationalgeschichte Belgiens entnommen.

Dieses ungebrochene Nationalgefühl beurkundet Gallait nebenbei auch dadurch, daß er im­ mer wieder nach vaterländischen Stoffen greift. So lobenswerth dieses patriotische Bestreben

t-t

Der Rcalismusbegriff in der Kunst

ist, muß inan sich doch hüten, einen allzugroßen Werth darauf zu legen. Der Patriotismus hat in seinem Wesen und seinen Absichten nichts mit einer nationalen Kunstanschauung zu schaf­ fen, denn diese verherrlicht die Nation ohne die Verherrlichung zu einer absichtlichen Tendenz zu machen. Es dürfte nicht schwer sein an hundert Beispielen nachzuweisen, daß Kunstwerke, in welchen aus absichtlicher patriotischer Wahl vaterländische Gegenstände dargestellt wur­ den, immer etwas tendenziöses an sich haben, weil der Künstler, welcher mit einem wenn auch patriotischen, doch immerhin mit einem Nebenzweck, nicht um des reinen Kunstzweckes wil­ len an’s Werk geht, unwillkührlich den Stoff, nach seiner subjektiven Ansicht, radikal oder re­ aktionär, rationell oder orthodox auffaßen und gruppiren wird. Es ist darum ein viel zu enger Begriff vom Nationalen, welcher der Kunst wenig Heil bringt, wenn man es mit dem Patrioti­ schen verwechselt. Historische Ereignisse wie historische Personen sind für den Künstler eben nur äußerlicher Stoff, l’orm, aber keineswegs Idee, Inhalt, oder er hört auf Künstler zu sein, und wird Geschichtschreiber. Wollte man dieß auch als einen wünschenswerthen Tausch be­ trachten, so bliebe doch zu erwägen, daß zur historischen Kunst des Geschichtsschreibers zwar Kombinationskraft, aber weit mehr noch nüchterner Forschergeist gehört, während ihr ein Zuviel von Einbildungskraft und Gemüthsantheil gefährlich wird. Letztere sind aber gerade die ersten Voraussetzungen des Bildners, und wie wir die Künstlernatur kennen, wird sie auf dem Wege historiographischer Darstellung mit dem besten Willen jederzeit Gefahr laufen vom Geschichtskünstler zum trockenen Chronikschreiber herabzusinken, oder häufiger noch in den fanatischen l’artheigänger umzuschlagen.

.I I.. Die zahlreichen Hervorhebungen des Originals sind getilgt worden. 1 s. Dok. 7 Anin. 2, S. 30.

9 M(ax) S(chasle)r: lieber Idealismus und Realismus in der Historienmalerei. Eine Par­ allele zwischen Mlorizl v[onj Schwind's » Kaiser Rudolph, der gen Speyer zum Sterben reitet« und Ad[olfl Menzel's »Friedrich's //. und Joseph's 11. Zusammenkunft zu Neisse« |l]. In: Die Dioskuren 3 (1858), S. 143-46.

I-..1 In der Kunst ist cs fast durchgängig der Gegensatz zwischen Idealismus und Realismus, wel­ cher in ihrem eigensten Wesen begründet und daher berechtigt, doch zugleich nach der einen oder andern Seite hin den Abweg von der Wahrheit bestimmt. Ein solcher Fall nemlich tritt immer dann ein, wenn einer der beiden das künstlerische Produkt bildenden Faktoren, entwe­ der der ideelle Inhalt oder die reale Form, für sich allein zur Geltung zu kommen sucht und demzufolge den andern Faktor zu einem untergeordneten Moment herabsetzt, ja wohl gänzlich zu unterdrücken versucht. Wenn nun zwar letzteres auch nicht möglich ist, so führt doch solche,

Die Diskussion um die Historienmalerei

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dem wahren Zweck der Kunst widerstrebende Überhebung des einen über das andere Element nothwendig zu einer Verrückung ihres wahren und richtigen Verhältnisses, ja zu einer Zerreis­ sung jener Harmonie zwischen Inhalt und Form, welche allein das wahre Wesen der künstleri­ schen Schönheit ausmacht. Wir sagen »Harmonie«, nicht Gleichheit, denn die Harmonie be­ ruht keineswegs in einer quantitativen Gleichstellung der beiden Faktoren, sondern in ihrer qualitativen Verhältnißmäßigkeit. Es kommt dabei also gänzlich auf den Gegenstand der Dar­ stellung an, ob das eine oder andere Moment, das ideelle oder das formelle, darin die Hauptrolle zu spielen habe. Im ersteren Falle wird sich in der Darstellung ein mehr idealistischer Charakter, im zweiten ein mehr realistischer ausprägen. Nur wenn die Unterordnung des einen unter das andere Element bis zu einer einseitigen und darum unberechtigten Abstraktion fortgeht, ent­ steht jene Differenz zweier extremen Richtungen, in denen der berechtigte Idealismus zum ab­ strakten Spiritualismus, der berechtigte Realismus zum abstrakten Materialismus wird. Die Wahrheit aber liegt nicht - wie es in der trivialen Redensart heißt - in der Mitte, sondern in der Einheit der Gegensätze; sie ist keine Abstraktion von den Extremen, sondern eine Ver­ schmelzung ihres wesentlichen Inhalts. Weder jene Idealisten also, welche das wahre Wesen der Kunst in der Abstraktion von dem blos Realen, noch jene Realisten, welche es in der ängstli­ chen Vermeidung alles blos Naturunwahren suchen, haben Recht, sondern beide haben Recht und zugleich Unrecht. Recht in dem Bruchtheil Wahrheit, welches in der Ansicht jeder Partei liegt, Unrecht, weil sie dieses Bruchtheil für die ganze Wahrheit halten. Die ganze Wahrheit aber ist einzig und allein die, daß jede Kunstrichtung wie jedes einzelne Kunstwerk vor allem die Einheit von Natur und Ideal zur Erscheinung zu bringen habe und daß allein die graduelle Erreichung dieser Einheit den Maaßstab für den künstlerischen Werth abgebe. Gedanke und Gestaltungsform sind also die beiden Elemente des Kunstschaffens, gleichsam die Seele und der Leib des Werkes, welches geschaffen wird. Scheinbar einander widerstrebend und entgegengesetzter Natur, weil verschiedenen Sphären angehörend, sollen sie doch in eine Einheit zusammenfließen, um jene Harmonie zur Erscheinung zu bringen, welche das Wesen des Schönen ausmacht. Dieses Zusammenfließen aber ist keine unterschiedslose Vermischung, sondern ein Aufgehen des einen in das Andere: der Gedanke, das Motiv, die Idee soll durch die konkrete Gestaltung verkörpert, die Gestalt durch die in ihm lebendig wirkende Idee beseelt erscheinen. Durch diese doppelte und doch an sich einfache Verschmelzung der beiden Ele­ mente stellt sich die Wahrheit der Kunst d. h. die Schönheit einerseits der Wahrheit der Wissen­ schaft andererseits der Naturwahrheit gegenüber. Die Wissenschaft hat es nur mit dem Gedan­ ken zu thun, sofern die wissenschaftliche Gestaltung desselben für sich keinen andern Zweck haben soll, als jene Wahrheit zu Tage zu bringen, die Natur dagegen hat es nur mit der Gestal­ tung zu thun, indem die darin liegende Idee ganz und gar in die Form aufgeht und nur als Form Existenz hat. Die Kunst dagegen strebt weder dahin, die Idee der Form noch die Form der Idee überzuordnen, sondern dahin, beide zu einer auf Gleichberechtigung beruhenden harmoni­ schen Versöhnung zu bringen.

Wenn wir diese allgemeine Begriffsbestimmung auf eine einzelne Kunstsphäre, z. B. auf die Historienmalerei anwenden, so steht diese zwischen der Philosophie der Geschichte und der

Insofern ist der Tod dieses Individndlai das Lehen der Gasanqfr die in der Ausbreitung des Raumes und in der Aufeinanderfolge der Zeit niemals

einen gaaz adäqnattn

Ausdruck zu gewinnen vermag. Darin liegt zugleich die Möglichkeit, daß durch die Unpmst der Verhaltmsse natürliche Arial, selbst Gasungen, zu Grunde gehen.

Der Individnalisnms in der Namr weist woH auf ein Typisches hm, ssdt

kein solches

dar. Das ist jene Ohnmacht, in welche die schaffende Natur Hamer wieder zauwcksMct, auch

weiter zu spinnen hat. Die Kunst soll den Gattungsbegriff ndbst darsudkn, und je mehr sie sich dksem Ziele uäert,

desto gewaltiger ist die Wirkung dmer Schöpfsmgen. Zwar mA-m we Lefacwdjgs dammmflen Far ist sie an da« nai iidudw Individnaütäisgesetz gehsmden, aha sie darf BckdechSKidmgs bei dem bloß Indtvidnellen, äxrwridian die Gattung als die höhen Macht da Vcnnudt schwebt,

mehr CTehen bleiben, har vielmehr dac Grarrrfle ■——¡»aJhar m legen und durch dieses zur Exscheunmg zu

hrhyn Das aha und nichts Anderes ist das Typi­

sche an dem Kunstwerk. Das Kunstuxhvidnmn muß einen normativen Sinn und Chatakna ha-

so gewaltig er sich auch aufblaht, weil er über die einfache Nachahmung nicht hsnauagdangt. Da Künstler har insofern das IndividneDe da Naturbüdungen zusammen za fassen in ein Urmdhridmim oder Gattungsrndtviduum, ein scheinbarer Widenprndi, da durch dasKdiaigesicfa von selbst lost.

1 Goethe: Vrworte. Orpbisch.

nach einer Synthese von Ideahsmus ™*d

u Der Reabdealimius

11"

41 [Heinrich Emil Hornberger:] Der rralrttiscbe Roman. (Rez. Gostavt Flauheit: L’Fdaratiott saümaiale - Histoire iTtm jeme bamme * 1 Me., Pans 1870.) In: (Angsbiager) Allgemeine Zeürmg * Jg. 1870, Beilage, 18.-20. März, S. 1189-90, 1206-07, 1222-23. Hier S. 1207, 1222-23. [...] Aber dieß ist die Klippe an welcher der Realist scheiten. Was heißt es daß der Dichter der Natur den Spiegel verhalten [1] soll? Welcher Spiegel vermag die Natur wiederzughen? Und

welche Natur vermag wiedetgygrhrn zu werden?

Die Wirklichkeit ist endlos in Zeit und Raum, Erscheimmg folgt auf Erscheinung; Ar gränzenloses Nebeneinander und Nacheinander—wie kann es in cm Bild gefaßt werden? Das Unter­

nehmen wäre hoffnun^los wenn der Spiegel welcher die Natur ahhälden soD ein todter Körper wäre, gleichsam eine das- oder MetaIMäche, worauf die Erschemangen im Vorüberhiischen

sich abzeichnetai. In ihrer Unbegränztheit, in ihrem wirren Gedränge, in ducr unstäten Ffaxhc

- wie vermochten sie ein Haies und bfabendes Büd zu hinterlassen? Aber niHw auf einer todten Fläche, «mAtn in dem lebendigen Gr iw«1 des Dichters malen A-h die Dinge, «md dieser leben­ dige Geist, nachdem er die Eindrücke leidend empfangen, gestaltet sie thätig zum danmvlm

Bilde. Er gestaltet sie zum Bilde, mehr indem er die Ersehe! mmgrn alle ahnAJden sucht, son­

dern indem er das Wesentliche in ihnen, das Bedeutende, das dauernde, das Nochwendige fest-

häk - mit einem Wort: er gibt statt des Zufälligen das Gesetz, statt der Wirklichkeit die Wahr­ heit, aber - denn er ist ja Dichter, nicht Philosoph — das Gesetz in der Form des Zufälligen, die Wahrheit im Kleide der Wirklichkeit. Es ist also vergebens daß der Dichter uns glauben machen will: er verhalte sich nur empfin­

dend nnd schafft» nicht, er gebe nur dir Natur wieder nnd thue nichts von och selber hinzu. Indem er dir Natur wiedergibt, schafft er: er schafft mir geringerem oder größerem Bewußtsein, naiv oder refleenrend, er läßt sein eigenes Ich hervortrrten, oder verbirgt es und ist subjeeth

oder objecnv, aber immer ist er es welcher dem von der Außenwelt gelieferten Stoffe die Gestalt

gibt, nnd immer thut er dieß indem er von der realen Weh deren ideales Bild zeichnet. Darmn wäre es falsch, wollte man den Unterschied zwischen realistischen nnd idealistischen Dichtern

so auffassen, als stellten jene das Wirkliche dar, diese die Idee. Das dichterische Schaffen setzt sich nnrhwendig aus Beiden Flementen zusammen, «md jene Bezähmungen gehen nur auf die

Unterschiede des Verhältnisses des einen rum andern Jeder Dichter ist zugleich Idealist und Realist, aber nur der große Dichter ist das eine so sehr als das andere. Nur der Dichter m wel­ chem sich Idealismus und Realismus das Gleichgewicht halten, ist wahr — unwahr nicht allem

derjenige welcher, statt die Natur abzubilden, Seme eigenen Einbildungen schildert, sondern auch der weicher die Erscheinungen selbst gibt, statt ihres Wesens. Der Idealist gibt die Willkür seines Gehirns, der Realist die Willkür, nämlich den Zufall, m der Außenwelt.

Der Realist glaubt, um die Natur wahr zu schildern, sie sich selbst schildern lassen zu müssen I~>r»rh das ist em verhängnisvoller Irrrhiim Die Namr schildert «ach nicht seihst Ein Maler muß. um eine I andschaft zu malen, einen Standpunkt wählen, und sie aufnehmen nicht wie sie ist.

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Der Realismus in der Literatur (Vorbereitung, Programm, Kritik)

sondern wie sie von diesem Standpunkt aus sich ihm vorstellt. Er kann nicht, um von einem Baum ein recht treues Bild zu geben, um den Baum herumgehen und neben die Vorderseite auch die Rückseite stellen, noch wird er die einzelnen Blätter zu zählen suchen, noch wird er durch ein Fernrohr erkunden ob auf dem Gebirge, dessen blaue Wand durch die Zweige des Baumes durchschimmert, Häuser stehen. Die Dinge an sich lassen sich nicht abbilden. Sonnen- und Wetterseite eines Baumes neben einander gestellt, geben nicht einen um so wahreren Baum, sondern eine Ungestalt, welche nie existirt hat. Es ist unmöglich die Blätter eines Baumes zu zählen, und wäre es möglich, so vermögen sie doch nicht alle, jedes in seiner besonderen Indivi­ dualität, mit allen seinen Zacken und Fasern und Aederchen, dem Auge vorgeführt zu werden. Es ist unmöglich zugleich den nahen Baum und den fernen Berg mit derselben Deutlichkeit des Einzelnen zu sehen. Wer die Natur wiedergeben will, muß sie wiedergeben wie sie dem Auge sich darstellt. Das Nahe nah, groß, deutlich, das Ferne fern, klein, undeutlich. Es hilft nichts zu sagen daß ja in Wirklichkeit der ferne Berg größer sei als der nahe Baum. Das ist wirklich, aber wahr für die Anschauung wird es nur durch Beobachtung des Gesetzes der Perspective. Das Auge kann nun einmal nicht an zwei Orten zugleich sein. Einer der, um recht treu zu sein, das Ferne so deutlich darstellen wollte wie das Nahe, würde sich eben gegen die Treue der Natur versündigen, denn er würde das Ferne nicht so schildern wie er es sieht, sondern wie er es nicht sieht. Was von dem Landschaftsmaler gilt, das gilt von jedem der es unternimmt »der Natur den Spiegel vorzuhalten.« [1] Kein Künstler kann mit Mikroskop oder Teleskop hantieren; ein jeder muß das Gesetz der Perspective befolgen. Dieses Gesetz aber, kraft dessen allein sich die Kör­ perwelt anschauen läßt, ist ein ideales, eine nur im menschlichen Auge oder Geist existirende Nothwendigkeit. Es gibt andere solche Gesetze durch welche die Anschauung der moralischen Welt bedingt ist. Das Ideal ist das einzige Mittel der Erkenntniß des Realen. Das Ideal bringt Ordnung in die Wirrniß der Erscheinungen, macht das Große zum Großen, das Kleine zum Kleinen, verbindet das Zusammenhanglose, und setzt dem Schrankenlosen Schranken. Wie die Bedeutung des Verses keineswegs bloß in der äußerlichen Harmonie für das Ohr besteht, son­ dern in der inneren, weil er den Dichter zwingt nur das Zweckmäßige, das Bedeutende, das wahrhaft Nothwendige zu sagen, so ist das Ideal nicht etwa, wie manche wähnen, ein geheimes Toilettenmittel, ein Schönheitswasser, womit der Dichter die Flecken und Runzeln der Wirk­ lichkeit zu verbergen und ihr eine rosige Jugendblüthe anzumalen versteht, sondern es ist viel­ mehr der wunderthätige Quell der sein blödes Auge hell macht, und ihm Wesen und Wahrheit der Natur offenbart. Durch das Ideal wird der Dichter frei von Unklarheit und Unordnung, frei von blindem Zufall und gesetzloser Willkür - und so sind auch hier Freiheit und Gesetz unzertrennlich. Wie der Idealismus welcher den Boden der realen Welt verläßt zu luftiger Phantasterei wird, so sinkt der Realismus welcher die Wirklichkeit, den Stoff, nicht durch das Ideal vergeistigt, zum plumpen Materialismus herab. Der Verfasser der Madame Bovary und der Empfindsamen Erziehung scheint uns interessant eben als vollendetes Muster eines materialistischen Dichters. In der scharfen Beobachtung der sinnlichen Natur kann Flaubert nicht wohl übertroffen werden: kein feinster Unterschied der Farbe, des Geschmacks, der Härte, der Wärme, der elek­

Forderungen nach einer Synthese von Idealismus und Realismus: Der Realidealismus

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trischen Spannung entgeht ihm. Und er ist keineswegs bloß Naturbeschreiber, er ist Chemiker, Anatom, Physiolog, und unterzieht seiner Analyse, seinem Mikroskop nicht bloß die physische, sondern auch die psychische Natur. Aber überall sieht er nur Atome, nicht Organismen Kräfte, nicht Gesetze - von außen stoßende Mechanik, nicht innere Spontaneität. Er behandelt die lebendige Seele ganz so wie er den todten Leichnam behandelt. Im Sturme der Revolution gewahrt er nur die Explosion des eingezwängten Dampfes, in der ersten Liebe eines jungen Mädchens nur das dunkle Suchen der sinnlichen Begier. Diese Gleichstellung des Druckes und des Triebes, des Triebes und der Empfindung, der Empfindung und der bewußten Handlung - was ist sie anderes als Mangel an moralischer Perspective? Alles, Steine, Pflanzen, Möbel, Kunstwerke, Menschenherzen liegen für den Dichter neben einander auf gleicher Fläche, und darum beschreibt er sie alle gleich sorgsam, gleich treu und gleich theilnahmlos. Es gibt nichts wichtiges in dieser unaufhörlichen Schilderung, welche sich immer auf demselben Plane fortbe­ wegt, und nichts bleibt als zu unwichtig ungeschildert; der Spiegel welcher der Natur vorgehal­ ten wird, hat keinen Brennpunkt, das Bild welches er spiegelt keinen Abschluß. Denn wo will der Realist Gränzen finden wenn das Ideal sie ihm nicht zieht? Und während das Ganze unbegränzt bleibt, fehlt zwischen dem Einzelnen Zusammenhang und Verhältniß. Denn nur der Geist verbindet die Dinge und weist jedem seine Stelle an. Wo der Geist sich seiner gesetzmäßi­ gen Führung begibt, da wandern wir aufs Gerathewohl durch die Unendlichkeit der Erschei­ nungen; der Zufall läßt uns der einen näher treten, und entzieht uns die andere. Diesen Eindruck des Zufälligen werden wir bei Flaubert nicht los. Wenn er diesen Gegenstand beschreibt, warum beschreibt er nicht auch jenen? Und wenn er uns ein Ding von der einen Seite zeigt, warum nicht auch von der andern? Nun ist es aber nur die Nothwendigkeit welche die Gewißheit der Wahrheit gibt. Und so vermag Flaubert bei aller Genauigkeit des Einzelnen uns nicht die Ueberzeugung von der Wahrheit des Ganzen einzuflößen. [...] Es wäre auffallend wenn der Welt des Realisten nicht auch sein Styl entspräche. Und in der That, wie seiner in Atome aufgelösten Welt, so fehlt auch seinem Styl »leider nur das geistige Band.« [2] Flauberts Styl ist im Einzelnen stets klar, scharf, farbenreich, plastisch, strot­ zend von Sinnlichkeit - reich an Substantiven und Adjectiven, welche eben das Stoffliche der Sprache ausmachen, aber im Ganzen eintönig, kalt, ungegliedert, arm an Conjunctionen welche den Stoff ordnen, in Beziehungen bringen, ihm das Gesetz dictiren. Und wie der Dichter seines Realismus kein Ende findet in dem was er sagt, so auch nicht in der Form in welcher er es sagt. Wie alles Wirkliche, eben weil es wirklich ist, genannt, beschrieben, geschildert werden muß, so muß dieß auch geschehen in den wirklichsten Ausdrücken. Der Dichter will ja Realität, keine Abstraction geben. Könnte er, statt der Namen der Dinge, die Dinge selber vorführen, so wäre das ohne Zweifel noch viel besser. Doch da er sich nun einmal mit Namen behelfen muß, so seien es wenigstens die rechten, die eigentlichen, die wirklichen. Also kein Name der das Ding nur von weitem andeutete, der es verschönte oder verhüllte. Nein, je deutlicher, je rückhaltloser, je nackter das Wort ist, desto näher kommen wir dem Dinge selbst. So wird denn das nackteste Wort uns das Ding geradezu mit Händen fassen lassen? Nein, es wird uns nur daran erinnern daß sich doch noch ein nackteres finden ließe. Die Worte sind eben nicht die Dinge selbst, son­ dern deren ideale Bilder. Vergebens sucht das Bild die Wirklichkeit zu erreichen, die Kluft zwi-

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Der Realismus in der Literatur (Vorbereitung, Programm, Kritik)

sehen beiden ist unüberbrückbar. Indem das Bild so zu sagen der Wirklichkeit nachläuft, ohne doch je Wirklichkeit werden zu können, werden wir nur an die Ohnmacht des Bildes erinnert; über dem eitlen Bemühen wirklich zu werden, wird es nur wirkungslos, während es, wenn es in seiner idealen Sphäre bliebe, wahr und deßhalb wirksam zu sein vermöchte. Diese Unwahrheit des Realismus ist es welche demselben mit Recht den Vorwurf der Unsitt­ lichkeit zuzieht. Andernfalls verstünde sich nicht warum ein Dichter wie Flaubert unsittlich ge­ nannt zu werden verdiente, ein Dichter welcher keine unsittlichen Grundsätze aufstellt - denn er stellt überhaupt keine Grundsätze auf - der nicht das Laster preist und die Tugend verhöhnt - denn er hat sich alles Unheils begeben - der nicht geflissentlich das Edle für gemein, und das Gemeine für edel ausgibt, der aber in der Welt welche er schildert mehr gemeines als edles findet, und das Gemeine, statt es zu verschleiern, nackt und kahl vor Augen stellt. In der Welt mehr Gemeinheit als Adel zu finden, ist Pessimismus, allein der Pessimismus ist an sich so wenig sitt­ lich oder unsittlich als der Optimismus. Gerade sehr frommen und reinen Seelen scheint die Erde ein Jammerthal. Wenn solche Seelen sich inmitten des Jammers der Erde durch den Glau­ ben an eine überirdische Herrlichkeit trösten, so mag das für ihre Glückseligkeit sehr viel be­ deuten, aber sittlich ist daran nichts. Und wer diesen Trost nicht findet, ist darum nicht unsitt­ lich. Eine Ueberzeugung hegen und aufrichtig bekennen, kann nie und nimmer für eine Unsitt­ lichkeit gelten, so verkehrt auch die Ueberzeugung sein mag. Unsittlich ist: eine Ueberzeu­ gung vorzugeben welche man nicht hegt. Und dieß eben thut der Realist welcher uns eine von ihm selbst verstümmelte Natur als die ganze Natur darstellt, eine Natur aus der er den Geist gebannt hat - als gäbe es eine Natur ohne Geist, und als ob der Geist nicht auch Natur wäre. In einer verfeinerten Gesellschaft pflegen gewisse Dinge nicht genannt zu werden von wel­ chen eine rohe Gesellschaft ohne Bedenken redet. Wenn ein Dichter der einer verfeinerten Gesellschaft angehört und zu einer solchen spricht, derartige Dinge nennt als ob er zu rohen Hörern spräche, so ist das unsittlich. Vergebens gibt der Dichter vor: er schildere die Wirklich­ keit und schildere sie unverschleiert, um wahr zu schildern; niemand glaubt an diese Wahrhaf­ tigkeit. Der Dichter kann nicht den Geisteszustand seiner Hörer und mindestens nicht seinen eigenen ignoriren. Er, der Sohn einer verfeinerten Welt, muß wissen daß, wenn er unverschlei­ erte Wirklichkeit schildert, er in seinen Hörern etwas mehr als das Bild dieser Wirklichkeit, nämlich den Gedanken wachruft daß man von dieser Wirklichkeit nicht zu reden pflegt. Die Nacktheit ist an sich nichts unsittliches. Die ersten Menschen, solange sie ihrer Nacktheit unbe­ wußt waren, schämten sich nicht. Erst als sie wußten daß sie nackt waren, wurde die Bekleidung ein Gebot der Sittlichkeit. Damit die Nacktheit in einer bekleideten Zeit nicht unsittlich sei, darf sie den Menschen nicht an den Stand der Thierheit erinnern, aus welchem er herausgetre­ ten. Die Nacktheit der Venus von Milo ist nicht unsittlich, weil sie, als eine der innern Geistig­ keit des Menschen entsprechende Idealisirung der äußern Gestalt, nicht an den rohen thierischen Trieb erinnert. Aber der Realist welcher die reale Nacktheit und nicht das Ideal darstellt, ist unsittlich, weil er zu einer Gesellschaft deren Bewußtsein sich im Gegensatz zur Thierheit befindet, so spricht als ob sie noch unbewußt innerhalb der Thierheit stünde. Vergebens beruft sich der Realist auf sein Recht der Objectivität. Die echte Objectivität ist die welche nicht Grillen für allgemeine Wahrheit, Einbildungen für Gegenstände ausgibt. Aber

Forderungen nach einer Synthese von Idealismus und Realismus: Der Realidealismus

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eine Objectivität welche sich stellt als sei die ganze geistige und moralische Bildung der Mensch­ heit nur Einbildung, ist eine Maske. Wohl preist Flaubert nicht das Laster und verhöhnt nicht die Tugend, aber er preist auch nicht die Tugend und verdammt nicht das Laster. Wohl gibt er nicht das Gemeine für edel, aber er gibt auch nicht das Edle für edel, sondern gebärdet sich als verstehe er überhaupt nicht was diese Ausdrücke bedeuten. Diese Gleichgültigkeit ist un­ wahr, denn sie ist unmenschlich. »An sich ist nichts weder gut noch böse erst das Denken macht’s dazu,« sagt Hamlet [3]. Ja wohl! wenn nur der arme Grübler sich des Denkens überhe­ ben könnte. Flaubert will die Dinge an sich darstellen. Unmöglich! Er ist Mensch, und als Mensch denkt er, als Mensch muß er gut gut, und böse böse nennen ; andernfalls ist er außerhalb der menschlichen Wahrheit, und außerhalb der menschlichen Wahrheit zu sein ist keinem Menschen gegeben. Nur Gott schwebt über den Gewässern. Und in der That täuscht der Realist mit seiner scheinbaren Objectivität nur sich selbst. Er glaubt parteilos zu sein, und ergreift Partei für die Sinnlichkeit gegen den Geist, für den Zufall gegen das Gesetz, für das Verhängniß gegen die Freiheit. Er zeigt keine Theilnahme an seinen Geschöpfen; gleichgültig läßt er Madame Bovary, Salammbô, Frédéric Moreau [4] die wider­ standlosen Opfer der Umstände und ihrer Nerven werden; doch es ist kein Zufall daß er immer nur solche lediglich leidende, réceptive, jeder Selbstthätigkeit unfähige Charaktere schafft - er zeigt dadurch daß er nur solche Charaktere zu schaffen weiß. Er selbst ist ein dichterischer Fré­ déric Moreau von unendlich feiner Sinnlichkeit, der aber über die Reproduction des Sinnlichen nicht hinausgelangt. Gesetzt auch er überredete uns daß es in der wirklichen Welt nur solche Charaktere gebe, so löst er doch nicht das Räthsel warum unserm Geist noch ganz andere Gestalten vorschweben, Gestalten die uns um ihrer Thätigkeit, Kraft und Freiheit willen so sehr viel interessanter dünken. Er will uns volle Wirklichkeit geben, und wir fühlen daß er uns nur die halbe Wahrheit gibt, daß seine Welt nur eine Welt niedern Grades ist, und daß ihn die Schwäche seiner Augen hindert eine höhere Welt wahrzunehmen. So wird der des Ideals bare Realismus subjectiv beschränkt, und dadurch unwahr, gerade wie der die Wirklichkeit verach­ tende Idealismus. Dieser verzerrt die Natur, und jener zerstückt sie. Der eine sinnt Mißdeutun­ gen aus welche nicht lebensfähig sind, der andere zerschneidet Leichen, und wähnt so das Geheimniß des Lebens zu ergründen; der eine gibt die Fratze, der andere den formlosen Stoff für das wahre Abbild der Natur aus. 1 2 3 4

Shakespeare: Hamlet III, 2. Goethe: Faust I, 1939. Shakespeare: Hamlet II, 2. Hauptfiguren in Flauberts Romanen Madame Bovary (1856), Salammbô (1863), L'éducation mentale (1869).

senti­

Der religionsphilosophische Streit um den Realismus

Der Pantheismus

42 Friedrich Theodor] Vischer: Akademische Rede zum Antritte des Ordinariats am 21. Nov. 1844 zu Tübingen gehalten [1], Tübingen 1845, S. 24-28. (Neudruck Vischer: Kritische Gänge, hg. v. Robert Vischer, 2. Aufl., Bd. 1, München o. J., S. 130-81.)

[...] Es hat sich aber im Schooße des Protestantismus die neuere kritische Theologie ausge­ bildet. Diese erscheint auf den ersten Blick als ein völlig negatives Verfahren; in Wahrheit aber liegt ihr eine Metaphysik zu Grunde, welche eine wahrhaft bejahende und positive Weltan­ schauung enthält, eine Weltanschauung, welche nicht etwa von der Philosophie geschaffen ist, sondern, das Product einer freien weltlich sittlichen Bildung, in ihr nur den wissenschaftlichen Ausdruck gefunden hat. Diese Weltansicht nun, welche überzeugt ist, daß das ganze Leben im Lichte der Unendlichkeit betrachtet und im Geiste der Unendlichkeit behandelt werden könne und müsse, auch ohne daß das Unendliche in den positiven Formen der kirchlichen Vorstel­ lungsweise aufgefaßt wird, muß der Kunst so willkommen seyn, wie die helle Sonne, welche sich zwar nicht mit romantischen Licht-Effecten in Wolkengebilden bricht, aber frei und klar die Erde und jedes ihrer Wesen beleuchtet. Ob diese Weltansicht auf rein sittlichen Grundlagen mit der ihr entsprechenden Kunst dann noch Religion zu nennen sey, darüber läßt sich streiten, aber daß eine neue Kunstwelt aus dieser Bildungsform aufgegangen sey und noch aufgehen werde, ist außer Zweifel. Die Aesthetik nun als Wissenschaft kann sich nicht nur, wenn sie die Kunstgeschichte begreifen will, dieser geschichtlichen Betrachtung des von seinen ursprüngli­ chen historischen Grundlagen sich ablösenden Protestantismus nicht entziehen, sondern sie be­ darf, wenn sie den Begriff des Schönen soll erklären können, auch derjenigen Metaphysik, worin jene Weltansicht ihren philosophischen Ausdruck gefunden hat und dadurch ist sie mitten in die Kämpfe der jetzigen Theologie hineingestellt. In seiner ganzen Schärfe aber entzündet sich dieser Kampf erst in der Philosophie. [...] Nichts scheint dem Schönen fremder, als die Metaphysik, allein der Wissenschaft des Schönen, wie ich bereits hervorgehoben, ist dieselbe so unentbehrlich, daß diese vielmehr nichts Anderes ist, als eine der streng philosophischen Disciplinen, welche ihren Grundgedanken und seine Durchführung unmittelbar aus der Metaphysik ableiten. [...] Die Metaphysik aber, durch welche die Aesthetik allein das Schöne erklären kann, ist nach meiner innigsten Ueberzeugung keine andere, als diejenige, der man den jetzt verrufenen Namen des Pantheismus beilegt, und ich habe mich zu dieser Ansicht frei und offen zu bekennen. Wie soll ich das Schöne erklären, das Schöne, das nichts Anderes ist, als ein Leib und eine Seele in untrennbar harmonischer Ein­ heit, wenn ich nicht die Einheit von Denken und Seyn als das Wesen der Dinge begriffen habe?

Der religionsphilosophische Streit um den Realismus

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Und wenn ich dieß begriffen habe, warum soll ich außer dieser Einheit, welche die wirkliche Idee ist, von dieser noch Prädicate aussagen, welche ihr im Grunde nichts Anderes als einen allen Schranken der Sinnlichkeit unterworfenen Körper beilegen? In dem Kampfe der Prinzi­ pien, in den mich hiedurch meine Wissenschaft hineinstellt, habe ich meine Grundsätze auszu­ sprechen. Man sollte meinen, es müsse zwischen den streitenden Prinzipien eine Vermittlung geben. Denn es ist jedem Unterrichteten bekannt, daß wir keineswegs eine einfache Identität der ein­ zelnen Existenz mit dem absoluten Geiste lehren, daß vielmehr nach unserer Ueberzeugung die Idee in keinem Einzelwesen, keinem Volke, keinem Momente der Weltgeschichte sich erschöpft und also alles Einzelne und Endliche jenen noch unendlich über sich erkennen muß. Allein dieß führt zu keiner Verständigung mit den Entgegengesetzten, weil sie dieses Unendliche wieder in einer Weise von der Welt trennen, welche sie selbst als die wahre Fassung des Begriffs der göttlichen Persönlichkeit, wir aber als eine Trübung dieses Begriffs ansehen. Auch was die soge­ nannte »Praxis der Idee«, die praktischen, politischen Consequenzen der Idee betrifft, so sollte man eine Verständigung für möglich halten. Man weiß, daß wir mit Rüge gebrochen haben, weil wir die Wirklichkeit nicht nach abstracten Maaßstäben über’s Knie abbrechen wollen, weil wir die Demagogie als eine Thorheit hassen, weil wir überzeugt sind, daß man in besonnenem Gange die Geister reifen soll, damit seiner Zeit die Frucht der Zukunft von selbst vom Baume falle. Aber auch dieß verkennt man und es führt zu keiner Versöhnung. Daher bleibt nur übrig, daß ich streng unterscheide zwischen der Sache oder dem Prinzip und dem persönlichen Ver­ hältnisse seiner Vertreter. Im Prinzip also gibt es keine Vermittlung. Auch ich bin kein Vermitt­ ler. Andere mögen es seyn, es mag auch gut und ehrenwerth seyn, zu vermitteln, aber ich kann es nicht und ich will es nicht. Ich will es nicht, weil ich es nicht kann und ich kann es nicht, weil ich es nicht will. Ich bin ganz Mann der Partei, weil ich meine Partei nicht für bloße Partei, sondern, so Gott will, für die Sache selbst halte. Ich kenne auch keine Ueberzeugung, die blos Ueberzeugung ist, sondern ich fordere, daß die Ueberzeugung ganz zur Gesinnung werde, ganz in Blut, Nerv, Empfindung, Gluth und Feuer der Energie und des Charakters übergehe. So ver­ spreche ich denn den Feinden - im Prinzip - einen Kampf ohne Rückhalt, ich verspreche ihnen - im Prinzip - meine volle, ungetheilte Feindschaft, meinen offenen und herzlichen Haß. Ich habe auch in meinem Amtseid nicht geschworen, Rücksichten zu nehmen, sondern, ohne links und rechts zu sehen, ohne Menschenfurcht meiner Ueberzeugung und der Wahrheit treu zu fol­ gen. [...] Ich begann arglos; ich meinte immer, das verstehe sich von selbst, daß ein Kampf der Ansichten kein persönlicher sey. Ich bin grob im Prinzipienstreit: man soll wieder grob seyn. Man mißkannte mich, ich machte mir Feinde und wußte es nicht, und erst nach dieser Erfah­ rung hat sich das Herz in Bitterkeit und Einsamkeit zurückgezogen, aber es ist fest und treu geblieben und hat sich den Glauben an die Menschheit bewahrt. Das Schlimmste jedoch von Allem, was geschehen ist, und ich muß es sagen, das Unehrlichste, was in einem offenem Kampfe geschehen kann, ist dieß, daß man uns untergeschoben hat, als halten wir das, wofür wir kämpfen, selbst für schlecht und frivol und kämpfen dennoch dafür. Als ob wir für eine Sache unser persönliches Glück, unsere Laufbahn einsetzen und sie zugleich verachten könnten! Man konnte das, weil man ihn nicht ahnt, weil man ihn nicht begreift, den Genius mit den blit­

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zenden Silberschwingen, dem wir dienen, dem ich diene, der leben und schwebend thronen wird, wenn auch diese flüchtige Form längst verschwunden ist, und für den ich - wer mich kennt, wird es mir glauben - auch mein Blut geben könnte!

[•••] 1 Vischers Rede behandelte das Verhältnis der Ästhetik zu den übrigen Fakukättwttsenschaften. Die Besprechung des Verhältnisses der Ästhetik zur Theologie und Philosophie, in der Vischer sich offen zum Pantheismus bekannte, löste eine Pressefehde seitens des orthodoxen Protestantismus und des Pietismus aus (Augsburger Allgemeine Zeitung, 18. 12. 1844, 7. 1. 1845; Schwäbischer Merkur, 14. 12. 1844, 3. 1. 1845; Christoph Hoffmann (1815-1885): 21 Sätze wider die neuen Gottesleugner und andere Schriften, 1844). Vischer verteidigte sich auf Anforderung am 2. Januar 1845 in einem Brief an das Rek­ torat, den Akademischen Senat und das Ministerium und besorgte die Drucklegung des Vortrags, um den Wortlaut festzustellen. Für Vischer traten u. a. Eduard Zeller, David Friedrich Strauß, Edmund Märklin, Wilhelm Rapp und vor allem Albert Schwegler ein (Schwegler: Ein Wort in der Vischersehen Angelegenheit. In: Jahrbücher der Gegenwart, 1845).

43 Theodor Mundt: Aesthetik. Die Idee der Schönheit und des Kunstwerks im Lichte unserer Zeit, Berlin 1845, S. 12-19, 21. (Neudruck Göttingen 1966.)

[•••] Die Völker sind auf den Wegen der Vernunft und Geschichte von großen Illusionen zurück­ gekommen, und unter den Füßen des fortschreitenden Geschlechts ist alimälig zertreten worden jene transcendente Weltansicht, die alles Glück, alle Freiheit und allen Werth des Daseins an ein jenseits liegendes, unerreichbares Ideal überlassen hat. Nur in dem Einen, das jenseits aller Wirklichkeit lag, war der Geist, der nach Willkür von sich ausströmen oder für sich behalten konnte von seiner Herrlichkeit und seinem Himmel, was ihm beliebte. In dem Scaatenleben war dies die declarirte Geistesabwesenheit des Volks, seinen Herrschern gegenüber, die, als die Stellvertreter Gottes und der göttlichen Gnaden, sich allein das geheimnißvolle Privilegium Vor­ behalten hatten, die Maschinerie zu verstehn und zu lenken. Dieser Transcendenz des politi­ schen Lebens, welche in dem alten absoluten Staat ihre Verkörperung gefunden, ihr entsprach in dem religiösen Bewußtsein der Völker jener Dualismus des Christenthums, welcher, aus den Jahrhunderten der Ascese und des Märtyrerthums geboren, eine Blume des Moders, mit dem die neue Zeit erst hatte gedüngt werden müssen, den Geist ebenfalls entzweit hatte mit der Materie, dieser christliche Dualismus hatte die Wirklichkeit verstoßen in die Finsoerniß und in die Unfreiheit, und den Leib überantwortet an die Sünde und die Knechtschaft, dagegen er allein erhöht hatte den Geist zu einer jenseitigen Himmelslust, zu einem Anschauen und Genuß des göttlichen Seins, das zu erreichen aber erst die ganze schöne grüne Wirklichkeit sich in Opfer­ flammen hatte verzehren müssen. [...] [...] Das hohe Streben unserer Zeit ist dies, die wahre Wirklichkeit der ewigen Ideenwelt darzu­ stellen, sie zu Form und Gestalt zu bringen, und die himmelweit gerissene Kluft zwischen dem

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Geist und der Materie auszufüllen durch das Glück, die Freiheit und die Einheit des Menschen­ geschlechts. Die Völker haben frisch und zutraulich, wie es immer in der Volksnatur liegt, ihre Lebens­ kreise der neuen Zeit geöffnet, und auf die heitern Gründe des Volkslebens soll heraussteigen aus den Amtsstuben, Regierungsgebäuden, Polizei-Bureaux und Wachthäusern Alles, was der Staat bisher in dieser geheimen Pein seines Organismus in sich verschlossen, und es soll endlich dort unter dem offenen Himmel, unter dem das Volk wohnt, an Licht und Luft überantwortet werden, die Machthaber aber sollen sich niederlassen mitten unter ihren Völkern, in ächt menschlicher Gemeinschaft, und sich stärken und sich fröhlich beleben an der ursprünglichen Kraft des Volksdaseins, wie Antäus an der Kraft des mütterlichen Erdbodens. Aber es fehlt noch viel, daß solchergestalt sich dies zugetragen hätte in den Kreisen der heuti­ gen Zeit, vielmehr ist gegen diese feststehende Erkenntniß gesündigt und angekämpft worden von beiden Seiten, und auf und nieder wird gerungen und gezogen, und Gegensatz an Gegensatz bald gewaltsam abgerieben, bald durch Kunstgriffe, Täuschungen und künstliche Maßnahmen aller Art die Entscheidung hingezögert und scheinbar aufgehalten der Tag des Schicksals. So sind in der Unentschlossenheit des Tages schon die kräftigsten Flügel lahm, und die besten Gesinnungen schwankend geworden, die Ueberzeugungen haben sich plötzlich wieder zersplit­ tert, und das geschichtliche Leben, das sich durch Erkenntniß und Thal in seine wahre Einheit erheben will und soll, hat sich an Illusionen und an dem angreifenden Wechsel zwischen Hoff­ nung und Täuschung abgearbeitet. Bei diesem Zwiespalt des mündig gewordenen Bewußtseins mit den Lebensformen, die sich daraus neu gebären und gestalten sollen, ist die große Zeit, die sich in uns bereitet, zugleich als eine schlimme erschienen, und Vielen hat sich das Mark in den Knochen verzehrt aus Schmerz und Sehnsucht. Dies Unterwegs zur That, welches unsere Zeit darstellt, hat einen verdüsternden Schatten um sich her geworfen, den Schatten des Todes, der Krankheit, der politischen Abschwächung und der religiösen Zerrissenheit. Das neue Gesetz aber, welches wir heut in allen unsern Zuständen erstreben, ist das heilende, und Alles zusammenfugende Gesetz der Immanenz zu nennen, in welchem das transcendente Ideal der frühem Zeiten seine vollkommene Auflösung zu finden bestimmt ist. Immanent heißt diejenige Weltansicht, welche sich der unheilvollen Trennung zwischen der Idee und Wirklichkeit frei entwunden, welche die nothwendige göttliche Lebenskraft der Wirk­ lichkeit erkannt und zum Princip aller Gestaltungen des Daseins erhoben hat. Immanent heißt die Weltansicht, die zu der Erkenntniß vorgeschritten, daß die Materie, die Welt, die Wirklichkeit nicht unrein sei, so daß Gott nur jenseits von ihr gedacht werden könne, sondern rein und würdig, um den Gott in sich zu tragen und aus sich heraus zur Anschauung zu bringen. Immanent heißt das aus dieser Weltansicht hervorgebildete Staatsleben, welches das Volk nicht mehr wie sonst als die unreine und unwürdige Matrie betrachtet, auf welche der jenseits von ihm thronende absolute Herrscher nach Umständen bald Sonnenschein bald Regen herab­ fallen läßt, sondern wo in dem Volke, als in der wahren und reinen Wirklichkeit des Staatsle­ bens, die höchste Idee des Staats, welches die Idee der Freiheit ist, sich wesentlich verkörpert und organisch ineinsgebildet hat.

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Immanent heißt diejenige ethische Bildung des Charakters, welche von der Gesinnung jetzt zugleich die That verlangt, von dem Denken das Sein, von der Handlung die Alles an sich berausstellende Oeffentlichkeit. In diesem Streben, immanente Zustände des Lebens herauszubilden, haben wir unsere Zeit in jene Mißstimmungen und Unentschiedenheiten sich verwickeln sehn, die ich zuvor anzudeu­ ten gesucht. Die Philosophie der Zeit, die in Hegel bis zur immanenten Selbstbewegung des Begriffs gelangt war, hatte für das neue Gesetz der Selbstbestimmung des Geistes nur die logi­ sche Methode entwickeln können, war aber durch diese zugleich wieder herausgefallen aus dem wahrhaft geschichtlichen Geist der Zeit, indem sie den logischen Prozeß des Begriffs für die wahre Wirklichkeit und Realität selbst ausgeben wollte. Eine andere Bethätigung der menschli­ chen Geisteskraft, die eine der Philosophie entgegengesetzte ist, nämlich die Kunst, scheint darin schon ihrem ganzen organischen Wesen nach, als freie Bildnerin des Lebens aus seiner unmittelbaren Fülle heraus, den höchsten Aufgaben des Völkerlebens näher zu stehen und ein wirksameres Verhältniß zu denselben zu haben. Die Kunst ist es, welche hineinstrahlt in alle Zeiten als die wahre Verkündigerin, daß die Wirklichkeit überall Gottes sei, und welche durch diese ihr inwohnende Wahrheit immer auf die sonnigen Gipfel der Menschheit uns erhebt, während unten in den Thälem noch die schwe­ ren Dünste der Nacht lagern können. In dieser Verkündigung, welche jedes wahre Kunstwerk in sich trägt, in der Verkündigung, daß der Gott Wirklichkeit geworden, daß das Bewußtsein seine Form, die Idee ihre Gestalt aus sich selbst gefunden, daß die Freiheit des schaffenden Wil­ lens hat eins werden können mit der Schönheit und Wahrheit des aus ihm hervorgegangenen Organismus, hierin liegt zugleich ausgesprochen, wie sich das Gesetz der Immanenz, das wir heut als ein neues Lebensgesetz suchen, schon im Kunstwerk verkörpert und als das wesentliche Gestaltungsprinzip darin erwiesen hat.

[•••] Die künstlerische That, die That des schaffenden Genius, sie enthält immer die Gewährlei­ stung in sich für die That der Geschichte, für die That des politischen Gesetzgebers, für die That des in seine Einheit und Freiheit sich erhebenden Staatslebens, eine Gewährleistung, indem sie den Bildungs- und Formtrieb des menschlichen Geistes an einem Object der Freiheit siegreich aufzeigt. Wird dieser freie Bildungstrieb der Völker, der durch die Kunst gewissermaßen seine Erziehung erhalten kann, die politischen Verhältnisse, den Staat, ergreifen, so wird das poli­ tische Schöpfungswerk von dem Kunstwerk die Idee der freien Organisation zu entlehnen ha­ ben. [...]

Die panentheistische Ästhetik als Theologie der Verklärung

44 Melchior Meyr: Gedichte, Berlin 1857, Vorwort, S. IX-XXVIII. HierS. XXI-XXVL

[•••] Was ist es denn nun aber für eine Poesie, die man heutzutage mitten in der Verehrung der Modegötzen erwartet, zu der es die edlem Geister hindrängt und die in der That als die Poesie der Zukunft bezeichnet werden kann? - Ich will ihr einen Namen geben: es ist die Poesie des Geistes. Goethe, in den Noten zu seinem West-östlichen Divan, macht die Bemerkung [1], daß der höchste Charakter der orientalischen Poesie, mit der er sich beschäftigte, der Geist sei, das Vor­ waltende des oberen Leitenden. Er erkennt den Geist hauptsächlich in dem Alter, in einer al­ ternden Weltepoche, bezeichnet ihn ausdrücklich als genialisch und charakterisirt sein poe­ tisches Hervorbringen in der Art, daß mit ihm alle übrigen Eigenschaften thätig seien, ohne daß eine, das eigenthümliche Recht behauptend, hervorträte. Hier sind Züge zu der »Poesie des Geistes« gegeben, wie wir sie erwarten und dem jetzigen Geschlecht in Aussicht stellen; aber diese selbst ist noch nicht umschrieben. Um den Sinn des gebrauchten Wortes zu völliger Klarheit zu bringen, bedarf es einer weitern Aushölung. Der Geist ist die Macht, durch die wir zur Erkenntniß, zur gerechten Unterscheidung der Dinge kommen und frei werden von einer bestimmten Weise des Seins. Wir treten durch ihn nicht nur in eine neue Entwickelung ein, wir behaupten, indem wir es thun, unsre Freiheit und sind fähig, den früheren Bildungsstufen so gut wie der neuen und eigenen gerecht zu werden und siegelten zu lassen in ihren eigenthümlichen Vorzügen. Der Geist ist niemals allein, er setzt die Mächte, die wir als unmittelbare Kraft - als Natur - und als Gemüth bestimmten können, voraus. Die Stufe des Geistes ist eine solche, wo der Geist herrscht und die mit ihm vorhandenen Mächte der Natur und des Gemüthes regiert. Auf dieser Stufe sind wir darum nicht nur fähig, die vorangegangenen Entwickelungen zu erkennen und zu denken, sondern auch sie wieder zu sein und zu leben. Wir sind fähig, die Bestimmtheiten ihres Lebens in uns wieder zu erwecken, und zwar frei - wann wir es wollen, wie wir es wollen und so lange wir es wollen. Die Stufe des Geistes ist die Stufe der Versöhnung, des Friedens, der Harmonie und der har­ monischen Thätigkeit aller menschlichen Kräfte. Wenn auf ihr das Leben früherer Zeiten wie­ der erweckt wird, so geschieht es nicht unbedingt, wie es war, sondern bedingt durch gleichbe­ rechtigtes Leben; nicht ausschließend und Entgegengesetztes verneinend, sondern so, daß es eingeschlossen ist ins Ganze als Theil und seine Stelle darin ausfüllt neben andern Theilen. Der Mensch auf der Stufe des Geistes kann sich zurückversetzen in die Zeiten der vorherrschenden Natur, in die Zeiten des vorherrschenden Gemüthes; er kann die eigenthümliche Herrlichkeit der einen und der andern wieder auferstehen lassen, sich beseligt fühlen in ihnen und sie wieder zum Gegenstand künstlerischer Darstellung machen. Aber seine Darstellung wird sich von der

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Der Realismus in der Literatur (Vorbereitung, Programm, Kritik)

entsprechenden der frühem Epoche unterscheiden durch die mangelnde Unmittelbarkeit, Nai­ vität und unbedingte Leidenschaft - durch das Gepräge des Gewollten und Frcigepflogencn durch die, wenn auch unausgesprochene Bemessenhcit auf Anderes, das dieselbe Anerkennung, dieselbe Liebe verlangt und erhalten soll. Der Mensch auf der Stufe des Geistes wird wieder jung sein können und lieben, was die Jugend liebte, und verherrlichen, was sie verherrlichte; aber er wird es in anderm Sinn und in anderer Form, weil er zugleich im Mannesalter steht und liebt, was dieses liebt, und verherrlicht, was dieses verherrlicht. In der Poesie des Geistes, wie wir sie fassen müssen, wird die Entwicklung der Dichtkunst ihr höchstes und letztes Ziel erreichen und ihren Abschluß im Zusammenschluß finden. Der Geist, der als selbstbewußter zur Herrschaft gelangt, thut sich nur Genüge in der Erkenntniß des Ziels und des Zusammenhangs der Dinge. Er findet in dem Ziel das Ideal des Lehens und in diesem den Maßstab, mit dem er die einzelnen Erscheinungen messen kann. Diese Erscheinungen in ihrem Verhältniß zum Ideal, in ihrem cigenthümlichen Leben, ihrem Zweck für sich und für das Ganze zu sehen und aufzufassen, ist sein Geschäft. Für ihn ist das Größte nicht zu groß und das Kleinste nicht zu klein; zum Ganzen, das er will, darf auch das Kleinste nicht fehlen, darum hat auch das Kleinste seinen Werth für ihn. Alles Einzelne auf seinen Platz im Ganzen zu stellen und es festzuhalten auf ihm, ist das Ziel seines Strebens. Wenn er dies vermag, hat er das Einzelne bewältigt, er ist frei dagegen, und ohne Gefahr kann er es gelten lassen, kann er es lieben und hegen und pflegen; ohne Gefahr kann er das Geringste mit dem Höchsten und Erhabensten verbinden. Die Poesie des Geistes wird allerdings den Geist, geistiges Leben und Streben und Schaffen besonders feiern, cs in seiner eigenen lichtvollen Schönheit und Hoheit vor Augen stellen. Aber eben mit dem Geist hinabgehend in seine Voraussetzungen und erkennend, wie sic für ihn, er für sie da ist, wird sie jede Lebensoffenbarung in ihrer Schönheit erglänzen lassen - am herrlich­ sten aber die höchste und letzte: die Harmonie aller Lebensmächte! Die Poesie des Geistes, wie sie höher als jede frühere sich hinaufschwingt zu dem Ziel der Dinge, wird auch tiefer hinuntersteigen zu ihren Quellen; und aus den Quellen sie herleitend und an dem Ziele sie messend wird sie reicheres Licht werfen über Gutes und Böses in der Welt und alle seine Manifestationen. Sie erst wird die tiefsinnigsten Probleme behandeln können; sic erst wird auch dem Bösen sein Recht geben, indem sie den Grund enthüllt, dem es entstammt, indem sie es werden und wachsen und darüber hinaus die Glorie erstrahlen läßt, zu der es füh­ ren, der es dienen muß. Die Poesie des Geistes ist die freieste, die reichste, die klarste, die liebevollste und die seligste Poesie. Aus der Gerechtigkeit, die sich genug gethan, aus der Macht, die nichts mehr zu befahren hat, erblüht dem Geiste die Liebe auch zu dem, was ihm Widerstand geleistet. Seinem innersten Wesen nach frei gegen den Haß, haßt er das Häßliche, so lang cs dazu hcrausfordert, und tilgt es nach seiner Macht in dem Träger desselben; aber wo es räumlich und zeitlich endet, da endet auch sein Haß und macht der Anerkennung des Guten, dem Rettungs- und Erhaltungstriebe Platz. Mit der höchsten Strenge paart er die höchste Milde; mit der Strenge der Gerechtigkeit, die das Ihre fordert, die Milde, die eben in der Strafe das Mittel des Heils erkennt - die Güte, welche dem Gestraften alle Gunst zuwendet, die seinem Wesen zukommt und zu Gute kommt.

Der religionsphilosophische Streit um den Realismus

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Die Poesie des Geistes verbindet mit dem erhabenen Ernst des Kampfes die Heiterkeit des Sieges, mit dem Glück des Besitzes das Glück des Wechsels, mit den Freuden des Sinnen- und Gemüthslebens die Freuden des Denkens, mit der Lust der Mannigfaltigkeit die Wonne der Harmonie, mit der Seligkeit des Wirkens und Schaffens die Seligkeit des Bewußtseins und der Zweckerkenntniß. Sie ist im höchsten Verstände natur- und lebenfreundlich, und im höchsten Verstände sittlich und religiös. Sie läßt jede Erscheinung in ihrer Eigenthümlichkeit erstehen, aber zugleich an ihrem ewigen Ziele schauen. Sie ist zugleich die Poesie des Lebens und des Lichtes, der Wirk­ lichkeit und der Wahrheit. Das Höchste, was die bisherige Dichtkunst in diesem Betracht ge­ schaffen hat, kann mit ihren Aufgaben verglichen nur als vorläufig erscheinen. In allen Formen, zu deren vollendetster Ausführung das höchste Maaß von Erkenntniß, Freiheit und Liebe ge­ hört, wird sie die Palme gewinnen. — [•••] 1 Goethe: Noten und Abhandlungen zu besserem

Verständniß des west-östlichen Divans. Allgemeinstes.

45 Moriz Carriere: Aesthetik. Die Idee des Schönen und ihre Verwirklichung durch Natur, Geist und Kunst, 2 Tie. Leipzig 1859. Hier TI. 1, S. 482-83, 485-89. [...] Wir können also sagen: der Künstler stellt die Dinge im Lichte der Ewigkeit dar, wie sie vor dem Auge Gottes stehen, oder er erfaßt den Höhenpunkt ihres Daseins, welchem ihre Entwikkelung zustrebt, von welchem aus ihre Auflösung anhebt, in welchem also ihr Wesen concentrirt erscheint; er sammelt in einem Brennpunkt die verschiedenen Strahlen, welche in der Natur nach und nach leuchten, und verdichtet die zerstreuten Züge der werdenden Schönheit zu einem vollen harmonischen Glanzbild ihres Seins. So offenbart er uns die innere gestaltende Seele und das Ideal, dem sie in der Entfaltung ihrer Kräfte nachringt; er regt uns an durch den Ausdruck ihrer Thätigkeit und befriedigt uns durch die Darstellung von deren Erfüllung. All dies ist aber nur möglich, wenn der Blick des Künstlers von dem Wechsel der äußern Erscheinungen zu dem bleibenden Kern hindurchdringt, der dieselben bedingt, und nur wenn sein Auge sich zur Anschauung jenes den Dingen eingeborenen, ihrer Entwickelung vorschwcbcnden Ideals erho­ ben hat, kann er den Moment der Blüte erkennen, in welchem dasselbe aus ihnen hervorbricht, kann er beurtheilen welches die einzelnen Züge sind durch die cs im Flusse des Werdens sich ankündigt, und kann er diese sinnvoll verbinden.

(•••] Das künstlerische Idcalisiren besteht nicht darin vom Besondcrn und Individuellen zu abstrahiren und ein begrifflich Allgemeines auszusprechen, sondern gerade in der einzelnen Bege­ benheit ein allgemeines Gesetz des Geschehens und in der Individualität des Charakters die menschliche Natur erkennen zu lassen. Die rechten Ideale sind nicht jene Charakterbilder des

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französischen Classicismus, von denen Lessing sagt daß sie mehr die pcrsonificirte Idee eines Charakters als eine charakterisirte Person darstellen [1], sondern jene ganz eigenthümlichen und originalen Gestalten, die aber zugleich das Menschheitliche nach einer bestimmten Seite oder Richtung auf seinem Gipfel zeigen, wie Achilleus und Odysseus bei Homer, Tasso bei Goethe, Romeo und Julie bei Shakspere. Wenn schon der Maler in Emilia Galotti sagt daß das Porträt den Menschen wiedergeben müsse wie die plastische Natur sich ihn dachte [2], ohne den Abfall welchen der widerstrebende Stoff nothwendig macht, ohne den Verderb mit wel­ chem die Zeit dagegen ankämpft, so können wir hinzusetzen daß der frei schaffende Künstler aus der Fülle des wirklichen Lebens diejenigen Züge welche zum Ausdruck der Idee dienen, zu einem geschloßnen Ganzen zusammenfügt, und das mit klarer Bestimmtheit darthut was den ewigen Sinn der Dinge, was den idealen Gang des Geschehens überhaupt ausmacht. [...] [.. .| Dazu muß freilich der Künstler hinabsteigen zu den geheimnißvollen Quellen des Lebens im Reich der Mütter; dazu genügt nicht die Copie der Erscheinung, denn auf eine noch nie da­ gewesene Weise soll uns das Wesen der Dinge offenbart werden. Zu dem alldurchwaltenden schaffenden Geist also muß der Künstler sich erheben, in ihm die Ideen anzuschauen welche die Typen und bleibenden Musterbilder der Dinge sind, und diese, welche in der Natur durch eine Fülle sich ergänzender Individuen in einem Wechsel der Entwickelung ihre Herrlichkeit offenbaren, sucht er in seinen Gestalten bleibend darzustcllen, so daß er nicht die sinnliche Erscheinungswclt, sondern deren Urbild abbildet, und weniger ein Nachahmer der Natur als ein Nachahmer Gottes genannt werden kann, wenn er gleich diesem die inneren geistigen Gedanken in raumzeitlicher Ausdehnung und Begrenzung durch die sin­ nenfällige Form objectiv macht. [...] Was in der Natur die Pflanzen und Thiere zu lebendigen Wesen macht, den fortwährenden Gestaltungsproceß des Organismus im Wechsel der Stoffe und die rastlose Neubildung der Form, dies ahmt die bildende Kunst nicht nach, sic kleidet vielmehr originale Gedanken des Geistes in Formen der Natur, die sie jenen zubildet, sodaß sie ihnen völlig gemäß werden, und darum unveränderlich bleiben; und der Dichter versetzt die Thaten die er besingt, die Gefühle die er ausspricht, in eine andere Sphäre als die der gewöhnlichen Erfahrung, er hebt sie aus der viel verschlungenen, vielfach störenden Realität der Außenwelt rein hervor in die Freiheit seines eigenen Gemüths, und leiht ihnen die harmonische Stimmung seiner eigenen Seele bis in den Tonfall der Worte hinein. Die Kunst ist die unmittelbare und erscheinende Verwirklichung des Ideals. Stünden Idee und Wirklichkeit, Geist und Materie ohne innere Einheit und gemeinsamen Lebensgrund einander gegenüber, so wäre dies freilich nicht möglich, und die idealbildcnde Thätigkeit müßte in andern Formen als denen der Natur oder Geschichte sich offenbaren; nun aber ergreift sie diese Formen in dem Augenblicke wo sie am charaktervollsten und herrlichsten sich zeigen, oder erfaßt einen einzelnen besonders sprechenden Zug und nimmt ihn zum Aus­ gangspunkt für eine ihm gemäße Gestaltung des Ganzen, während sie das Ungenügende, Unwesentliche, Zufällige ausscheidet, sodaß die Form als das selbstgesetzte Maß innerer Bil­ dungskraft erscheint, und der innige Zusammenhang alles Unterschiedenen zur geschlossenen Einheit wird. So erkennen wir im Factischen zugleich das Nothwendige oder das Gesetz in der

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Erscheinung, und die Idee ist nicht ein Jenseits für die Wirklichkeit, sondern ihr Kern und ihre Seele. Wenn ihr Strahl in der Vielheit der Dinge sich trübt und bricht, so stellt die Kunst sie in einem Einzelbilde rein und ganz dar, und concentricrt den Reichthum der Welt in einem ein­ zelnen Werk, dessen Umfang wir zu fassen vermögen, dessen Inhalt aber unerschöpflich ist, wie der Aether klar und unergründlich tief. Die Kunst ist die Verklärung der Natur, sie befriedigt die Paradiesessehnsucht der Mensch­ heit; oder um ein Wort aus den Religiösen Reden hier zu wiederholen, das Werk der Kunst ist die Krystallgestalt des Lebens: es sind dieselben Elemente, die aber nicht wirr und wüste durcheinander liegen oder trüb aufgähren, sondern sie sind geordnet nach ihrem eingebornen Gesetz und damit durchsichtig dem Auge und farbenhell im freudigen Licht. Das Reich der Kunst ist der Festsaal der Menschheit, in welchem sic die Bilder ihres Seins und ihrer Entwicke­ lung in schlackenlosem Metallglanz aufstellt; der tiefste Gehalt des Geistes, die religiöse und sittliche Weltanschauung eines Volkes wird von Bildnern und Dichtern ausgesprochen, die wie im Spiel das Räthsel der Welt zu lösen scheinen, die seine Lösung für die Anschauung hinstellen lange bevor die Philosophie sie für die denkende Vernunft vollzieht. Schlank und leicht wie aus dem Nichts gesprungen steht vor dem erstaunten Blick die Schöpfung der Kunst, und doch ist ihre Mutter das Herz das die Wehen und Wonnen der Welt und Zeit in sich durchlebt hat, des­ sen subjcctivster Stimmung sie entquillt, wenn sie von eigener Schwere getragen nur um ihrer selbst willen da zu sein scheint. »Schönheit ist das Weltgeheimniß, das uns lockt in Bild und Wort« singt Platen [3]; die Kunst offenbart dies Geheimniß, sie hebt den Isisschleier vom Antlitz der Natur, auf daß wir in ihm den beseelenden Gottesgeist erkennen. In ihrem Werk zeigt sie uns als in einem leuchtenden Punkte daß der Einklang des Unterschiedenen, daß die Versöh­ nung der Gegensätze, daß das Schöne wirklich ist, und wie die Noth des Daseins, wie der Schmerz der Endlichkeit auch unser Gemüth gefesselt hielt, in diesem einen Punkte erheben wir uns wie erlöst vom finstern Bann in das göttliche Leben, sehen die Dinge in ihrem Zusammen­ hang und in ihrer Wahrheit, glauben wieder an die Macht der Liebe, nehmen wieder das Leid als den Schatten im Gemälde unsers Geschickes, und freuen uns wieder der Harmonie der Sphä­ ren, die uns allwärts umrauscht [4].

Des Göttlichen, Heiligen, Ewigen wird der Mensch im Gefühl sich bewußt noch eher als die wissenschaftliche Gedankenentwickelung diese Begriffe begründet; die begeisterte Anschauung erhebt uns aus den Schranken der Sinne in das unendliche Freie; das Gefühl verlangt nach sei­ nem Ausdruck, und die Phantasie verleiht ihm Gestalt. Wie der Erkenntnißtrieb nicht rastet bis er die Gedanken wiedergefunden die als schöpferische Macht und bestimmendes Gesetz die Wirklichkeit beherrschen, so trachtet auch fortwährend der Bildungstrieb dies ideale Wesen der Dinge künstlerisch darzustellcn. Wie der Wille durch seine Thaten, so strebt die Phantasie durch ihre Werke der Idee des Guten eine allseitige Verwirklichung zu bereiten. Alles Wirkliche ist darstellbar für die Kunst, und wo der Künstler dessen eigenthümliches Ideal erfaßt, da spricht er ein Allgemeingültiges aus, da weckt er dieselbe Anschauung in allen Gemüthern die sein Werk aufnehmen, denn dies Aufnehmen ist ja ein Wiedererzeugen im eigenen Innern, und so sind die Künstler die Urheber und Vermittler der ununterbrochenen Thätigkeit der Menschheit

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das Ewige sinnlich zu vergegenwärtigen und das Natürliche zum Symbole des Geistes zu erhe­ ben, Geist und Natur zu vermählen. Indem die Kunst die Natur verklärt, hebt sie zugleich die verborgenen Schätze der Schönheit in der Menschenbrust und stellt sie in das Licht des Bewußt­ seins. [...] 1 2 3 4

Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 9S. Stück. Lessing: Emilia Galotti I, 4. Platen: Die verhängnisvolle Gabel I. Selbstzitat. Carrierc: Religiöse Reden und Betrachtungen für das deutsche S. 288-90.

Volk, 2. Aufl., Leipzig 1856,

46 Melchior Meyr: Emilie. Drei Gespräche über Wahrheit, Güte und Schönheit, Stutt­ gart 1863, S. 148, 151-55, 159-63.

[...] »Was wir hier aber auch thun mögen, so wie es seyn soll wird es auf Erden doch nicht; immer fehlt noch etwas, immer erscheint uns auch das Bessere noch sehr unvollkommen! Und damit wir nun doch auch das Vollkommene, das Beste sehen, schaffen wir es uns einstweilen durch die Kunst - im Bilde.« »Vortrefflich,« rief hier der Professor mit freudiger Zustimmung. »Wir können uns ein Bild machen vom Seynsollenden, wir können das Ideal denken: und wir verklären uns nun selbst und verklären die Welt und sehen Welt und Menschen, wie sie noch nicht sind, aber einst wer­ den sollen - im Gleichniß der Kunst.« »Und damit schaffen wir im Bild, im Gleichniß, was Gott selbst am Ende der Dinge lebendig und wirklich und im Ganzen schaffen wird: das verklärte Leben, die Schönheit.« [■••] »Sie muß das Leben so spiegeln, wie es nach dem Urtheil der Wahrheit von der Güte gewollt und von der Wahrheit bestätigt wird! - Haben Sie aber dabei gesehen, mit welchen andern gro­ ßen Begriffen Wahrheit und Güte Zusammenhängen?« Emilie, nach einem Moment des Besinnens, machte eine fragende Miene. »Mit Gerechtigkeit und Gnade! - Die Wahrheit ist gerecht; darum ist sie der Ausgang und die Basis. Die Güte ist gnädig; darum ist sie der Fortgang und das Mittel. Gerechtigkeit und Gnade befinden sich in relativem Gegensatz. Wo jene sich verwirklicht, muß diese weichen, und umgekehrt. Aber sie können verglichen werden und das geschieht in der Schönheit.« Emilie nickte. Dann fragte sie: »Wie das aber?« »Betrachten wir ein Werk schöner Kunst, wie wir Menschen es liefern, z. B. ein dramatisches Gedicht, so spiegelt dieses das Leben verklärt, in einer Ordnung, wie wir sie in der Wirklichkeit nicht finden, und so, daß auch das moralisch Verdammliche, das Böse, einen ästhetisch erfreu­ enden Eindruck macht. Darin beweist sich die Gnade: die Gnade des Dichters, die poetische

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Gnade. Aber die Gerechtigkeit ist durch diese nicht verletzt. Das Böse ist nicht etwa als das Gute vorgeführt und behandelt, sondern es erscheint nur so motivirt und so gerichtet, daß es in seiner Begreiflichkeit und seiner durch die Strafe getilgten Häßlichkeit selber eine tragisch wohlthuende Empfindung erweckt, indem beim Anschauen der vollen Bestrafung die nun mög­ liche Wiederaufnahme des Trägers voraus empfunden wird.« Die Jungfrau stand überlegend. Jener fuhr fort: »Ja, meine Freundin: das vielleicht höchste Werk menschlicher Kunst, die dramatische Dich­ tung, zeigt uns am deutlichsten die Ausgleichung der Gerechtigkeit und der Gnade in der Schönheit und gibt uns damit das ausgeführteste Gleichniß der letzten und höchsten Werke Gottes, durch welche diese Ausgleichung lebendig vollzogen wird. - Wie wäre die dramatische Handlung und in ihr der Sieg des Guten möglich ohne den Gegensatz? Dieser ist also nothwendig. Wenn aber das Böse damit nicht zum Guten wird, so kommt ihm seine Unentbehrlichkeit zum Guten doch zu Gute. Wir ertragen es nicht nur, wir fordern es, und es erfüllt uns, wenn es thatkräftig seinen Zwecken nachringt, mit schauriger Lust; aber um diese, und nicht vielmehr Abscheu zu erregen, muß es, wie der Kirchenvater Augustin so schön sich ausdrückt, mit der Zierde der Strafe erscheinen! Nur indem es zugleich als nothwendig und doch gerichtet er­ scheint, ist es in seiner Art auch schön und hat die Ehre zur höchsten Verherrlichung des Guten zu dienen.« »Diese Erklärung des Drama’s und seiner Wirkung auf uns«, versetzte Emilie, »ist mir neu; aber einleuchtend und befriedigend. Von den Werken der Schönheit aus werden wir milder ge­ gen das Böse, ohne dem Guten und dem Recht etwas zu vergeben - es ist wahr!« »Wir sehen in ihnen«, fuhr jener fort, »wozu das natürlich entstandene Böse gut ist! - und wir ahnen das Ziel, das nach vollster Büßung auch diejenigen endlich erreichen werden, die das Böse gewählt und verübt haben.« »Fernerhin ihrerseits gut zu sein -« »In ihrer Art«, fuhr jener fort, »und an ihrem Ort! Sie sollen das, was sie blind und mit feind­ licher Absicht gewesen, fortan sehend und mit freundlicher Absicht seyn: die Bedingung des Guten!« »Dieß ist aber nach ihrer Ansicht der Fall, wenn Gott am Ende der Dinge selber die Schönheit im höchsten Sinne geworden?« »Allerdings, denn er wird die Schönheit, die ohne lebendige Gegensätze nicht bestehen kann - nur durch specifische Verklärung der Geister und der Naturen, der Guten und der Bösen. Durch eben diese specifische Verklärung beruhigt er aber zugleich die Gerechtigkeit und die Gnade, indem er beiden genugthut: der Gnade, indem er jedes Geschöpf idealisirt - der Gerech­ tigkeit, indem er jedes specifisch idealisirt, also dem Bösen auch nach der Bußung eine Stelle im Ganzen und eine Rolle zuweist, die von der des Guten wesentlich verschieden ist und in wel­ cher der Böse ewig die Folgen seiner früheren Entschließungen und Handlungen mit sich führt. Denn wenn der bös Gewesene, indem er nun freundlich negirend die Position ermöglicht, auch in seiner Art gut und glücklich ist, so ist doch seine Güte wie seine Freude eine ganz andere als die des positiv Guten, des Guten von Anfang an. - Gott, wenn er durch specifische Verklä­ rung alles Geschaffenen selber Schönheit geworden im vollendetsten Sinne des Wortes, hat

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wirklich Gnade mit Gerechtigkeit verglichen, Wahrheit und Güte befriedigt! Und es ist der höchste Triumph menschlicher Kunst, von der zugleich lebendigen und vollkommenen Aus­ gleichung und allseitig freudenreichen Harmonie der ewigen Schönheit in zeitlichem Bilde schon einen Vorschmack zu geben.«

[•••1 »Das Alles ist klar wie die Sonne«, entgegnete Emilie, - »klar und neu! denn ich habe wohl schon die Forderung gehört, aber nicht diese Begründung und Erklärung. - Wenn Sie aber« (fuhr sie mit einem fragenden Ausdruck fort) »die Schönheit verlangen, die Wahrheit und Güte in sich enthält, so müssen Sie die Erzeugnisse schöner Kunst, in welchen von beiden nichts anzu­ treffen ist, nothwendig verwerfen!« »Wenn sie ganz darin fehlen oder gar gekränkt, scheinbar vorgespiegelt und geheuchelt sind, allerdings. Dann haben wir, mit wie vielen Sinnesreizen derartige Werke ausgestattet seyn mö­ gen, doch nur artige Werke ausgestattet seyn mögen, doch nur ästhetische Lügen - Blendwerke, die aus der Hölle stammen, um von der Hölle verschlungen zu werden!« Emilie, durch den starken Ausdruck erheitert, fuhr fort: »Auch eine andre Gattung, die heutzutag sehr beliebt ist, wird dann vor Ihnen kaum Gnade finden!« »Sie meinen?« »Die Werke der sogenannten realistischen Kunst.« »Nun - je nachdem. Wenn diese die Wirklichkeit nur abspiegelt, wie sie ist, dann kann ich sie freilich nicht für eine Kunst, sondern nur für eine Art von Handwerk gelten lassen. Denn im Kunstwerk suchen wir nicht die Wirklichkeit, sondern die Wahrheit der Dinge!« »Sie wollen sagen: wir suchen darin nicht die jetzige Wirklichkeit, die nicht ist, wie sie seyn soll, und darum vergeht, sondern die wahre, die seyn und dauern wird?« »So ist es! Wir fordern von der Kunst ein Gleichniß des Lebens, wie es in den Himmel zuge­ lassen wird: rein erfaßtes, gerecht beurtheiltes, nach seinem eigenen Ideal liebevoll verklärtes Leben! Wenn die realistische Kunst von der Wirklichkeit ausgeht und diese in einem idealisirten Bilde vorführt, worin ihre Art immer noch zu erkennen ist, dann soll sie willkommen seyn! Denn allerdings, meine liebe Freundin; die Wirklichkeit ist etwas, und eine wunderbare Fülle göttlicher Erweisungen tritt uns aus ihr entgegen! Wenn sie an den Gebrechen der Zeitlichkeit krankt und nicht geordnet ist, so hat die Kunst den Theil, den sie aus ihr herausnimmt, als neuconstruirten Organismus vorzuführen. Thut sie das aber irgendwie, dann ist sie Kunst; denn diese soll nicht nur das Große und Erhabene, sondern auch das Kleine und Geringe, ja das Nied­ rige und das Gemeine verklären!« Emilie stimmte zu; jener fuhr fort: »Aber freilich, die Kunst erhöht sich mit ihren Gegenständen und wächst mit ihren Zwecken. Je reicher an Geist und Gemüth der Dichter ist, je mehr er den göttlichen Geist und das göttliche Gemüth fühlend und denkend in sich lebendig zu machen vermag, um so mehr wird er das höchste heilige Leben in seinen Werken erscheinen lassen und über die Gegenstände und die Art der vorherrschend realistischen Kunst weit hinausgehen. Und wenn es recht traulich ist, im Kunstwerk den Menschen und den Dingen zu begegnen, wie wir sie kennen, nur anspre­ chender gemodelt und gruppirt: wahrhaft und im großen Styl heimlich wird uns doch nur bei

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Schöpfungen zu Muthe, die nach ihrer Wesenheit aus dem ewigen Seyn stammen und in erhabe­ ner Weisung darauf deuten.« »Diese Bemerkung«, entgegnete Emilie, »hab’ ich von Ihnen erwartet! - Ich muß Ihnen ge­ stehen, wenn ich Theaterstücke sehe oder Erzählungen lese, wo ich die Menschen gezeichnet finde, wie man sie im Leben trifft und immer angetroffen hat, mit ihren bekannten Schwächen und ihren bekannten besseren Seiten, so sehe ich nicht wohl ein, wozu sich der Autor die Mühe gegeben hat, uns noch einmal vor Augen zu stellen, was wir schon längst kennen. Ich meine, der Erzähler, der den Namen eines Dichters verdienen will, sollte uns menschliche Leidenschaf­ ten und Tugenden in ungewöhnlicher Stärke, aber so schildern, daß sie gleichwohl natürlich erscheinen - auch da, wo das menschlich Edelste und Beste vor unsere Seele tritt.« »Damit bin ich vollkommen einverstanden. Der Dichter muß zeigen, daß er wesentlich Schöpfer ist, und in natürlicher Weise das Neue, das Größere und Tiefere geben, indem er tiefer zurückgeht in den Ursprung und höher sich aufschwingt zu dem Ziel der Dinge. Wenn ihm die Leute hernach zurufen: »so sind wir nicht!« dann könnte er ihnen entgegnen: »das weiß ich wohl; aber so sollt und könnt ihr werden! Bessert euch, dann wird’s besser seyn für euch, und ich hab’ dann Recht auch in eurem Sinn!«

47 Ludwig Eckardt: Vorschule der Aesthetik. Zwanzig Vorträge. 2 Bde., Karlsruhe 1864. Hier Bd. 1, S. 116-20. [•••]

Hier, wo es sich um das Verhältniss von Natur und Kunst handelt, gehen zwei Hauptrichtun­ gen der Kunst auseinander: der Realismus und der Idealismus. Der erstere erfreut sich an der Gestaltenfülle der Wirklichkeit und sucht sie lebendig und treu wiederzugeben; er strebt vor Allem darnach, charakteristisch zu sein und verschmäht zu diesem Zwecke selbst die Darstellung des Hässlichen nicht. Nur zu oft erinnert eine moderne realistische Kunst an Schiller’s Wort: Der Schein soll nie die Wirklichkeit erreichen, Und siegt Natur, so muss die Kunst entweichen [1],

Das Charakteristische ist eben nicht immer schön! Der Idealismus geht nicht von der Wirklichkeit, sondern von der Welt der Ideen und der Ideale, dieser verkörperten Ideen, aus und sucht Formen, um dieselben symbolisch zu versinnli­ chen; das geschaffene Bild ist fast nur das Zeichen einer Idee. Einseitig nach dem Schönen stre­ bend, verschmäht der Idealismus das charakteristische Element und wird leicht zu allgemein, eintönig, flach. Wir stellen uns auch hier in die Mitte, auf die Gefahr hin, auch hier von zwei Extremen be­ kämpft zu werden, und bekennen uns zu einem Ideal-Realismus, der keine matte Vermittlung

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ist, sondern die Wahrheit beider Richtungen aus innerem Drange in sich aufgenommen, das Falsche Beider mit Bewusstsein abgestreift hat. Das Gesetz der geschichtlichen Bewegung fordert die Erscheinung des Ideal-Realismus, nachdem bis jetzt in den ihm vorhergegangenen Kämpfen bald der Realismus einen idealen Aufschwung, bald der Idealismus eine realistische Reaktion gefordert hatte. Ein zu weit vorge­ hendes Extrem ruft immer das andre. Es ist auch in der Geschichte dafür gesorgt, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Zunächst haben wir uns darüber auszusprechen, in welchem Sinne wir das Idealisiren ver­ werfen, in welchem annehmen. Wenn unter Idealisiren ein phantastisches, äusserer und innerer Wahrheit entbehrendes Aus­ schmücken von Personen und Ereignissen, ein hyperbolisches Gross- und Schönthum ohne Mass und Zweck, ein jeder festen Grundlage spottendes Irrlichteriren verstanden sein sollte, dann lehnen wir es ab. Nur das erklärte Märchen, die übermüthige, phantastische Posse eines Aristophanes dürfen mit der Wirklichkeit in dieser Weise umspringen. Dagegen wird der Künstler doch Gestalten und Ereignisse zu seinem Zwecke umformen und von der Wirklichkeit abweichen müssen, aber gerade um wahr zu sein. Die Wahrheit des Portraitmalers besteht nicht darin, dass er uns die Warze malt, sondern, dass er das Bleibende, den von allem Zufälligen und Nebensächlichen gereinigten Grundcharakter scharf auffasst und wiedergibt. Wir sind nicht in jedem Momente ganz wir, Unwohlsein, Laune, Ermüdung, Aufre­ gung verändern uns. Dies Zufällige ist abzustreifen, wenn man unser wahres Selbst auffassen will. In diesem Sinne idealisire man immerhin!

[•••] Indem wir eine Gestalt, die wir künstlerisch verwerthen wollen, z. B. ein Streitross an­ schauen, erzeugen wir gleichzeitig ihr Urbild in uns, vergleichen mit diesem das Abbild und rei­ nigen nunmehr dieses im Hinblicke auf jenes. Das Unwesentliche wird vernichtet, gerade um das Wesentliche um so energischer hervorzuheben. Für manchen Künstler gehört auch das mo­ derne Kostüm zum Unwesentlichen; der Realismus eines Rauch, Rietschel [2] ist ihm fremd. Unsere Helden haben freilich kein Römerkleid getragen; aber das Kleid macht wenigstens in der Weltgeschichte den Mann nicht. Wir tadeln daher den Bildhauer nicht von Vorne herein, wenn er einem Schiller die Toga umwirft. Es wird sich nur fragen, ob der Grundcharakter ge­ troffen, ob er nicht etwa durch das antike Kostüm getrübt ist. Man denke sich z. B. einen Luther in der Toga! In seinem Rechte ist der Künstler jedenfalls, wenn er den Helden in voller Reife der Manneskraft darstellt und damit den im Leben flüchtigen Moment der höchsten Schönheit dauernd festhält; er ist dann sogar wahrer als die rauhe Wirklichkeit, welche die in jenem Hel­ den verkörpert gewesene Idee hinterher erbleichen und verwesen lässt. Unsere Helden essen, trinken und schlafen nicht, unsere Heldinnen besorgen den Küche- und Waschzettel nicht, was eine recht realistische Darstellung nicht vergessen sollte: aber ihre Gedanken, Gefühle, Thaten werden uns um so breiter und tiefer entwickelt. In einem verwandten Sinne idealisirt der Künstler auch die Ereignisse (Shakspeare’s Julius Cäsar). Er bildet sie an der Hand der zu Grunde gelegten Idee um, lässt das Unwesentliche fal­ len, ergänzt die Lücken des Historikers und legt auf die Wendepunkte Licht und Nachdruck.

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Ein gewisses Ereigniss spielte sich in Wochen und Monaten ab; neben ihm begegnete dem Hel­ den Vieles, was für das Ereigniss ganz gleichgültig ist. Wollten wir den einseitigen Realismus auf die Spitze treiben — und ein falscher Grundsatz wird am Besten widerlegt, wenn man zeigt, wie man ihn ad absurdum führen kann - so müsste ein jenes Ereigniss behandelndes Drama gerade so viele Wochen als in der Wirklichkeit dauern und alles Unbedeutende neben dem Bedeutenden wiederholen. Wir müssten mit den Helden aufstehen und zu Bene gehen. Indem uns aber das Kunstwerk einen beschränkten Raum oder Zeit anweist, das Drama zwei bis drei Stunden, sind wir sofort zu einem Idealismus gezwungen. Wir müssen das Wichtige zusammen­ ziehen, der Leidenschaft, die sich vor unseren Augen rascher als in der Wirklichkeit entwickeln muss, zum Ersätze erhöhteren Ton mit dem schnelleren Tempo leihen. Indem aber der Dichter das ganze Ereigniss in wohlmotivirter Aufeinanderfolge und hellsehender Ergänzung der Lukken vorführt, wer ist dann im höheren Sinne des Wortes wahrer, der Historiker, der das Wirkli­ che mit allen Schlacken überliefen, oder der Künstler, der die im Wirklichen enthaltene einheit­ liche Idee bloslegt? Der Historiker gibt uns die Dinge, wie wir Menschen sie sehen, - der wahrhaft grosse Künstler, der als ein zweites Neusonntagskind die Geister der Geschichte zu schauen vermag, - wie Gott sie sah und sieht. Aber nun müssen wir auch dem Realismus gerecht werden, wenigstens dem griechischen, wenn auch nicht dem holländischen, der sich selbst in der Darstellung des Hässlichen gefiel und glaubte, einer meisterhaften Technik müsse man jeden Stoff verzeihen. [...] Winkelmann sagt: »Das Schöne soll wie das Quellwasser sein, das, je weniger Geschmack es hat, als desto gesunder erachtet wird« [3]. Wenn diese Aeusserung sagen soll, der Gegenstand der Kunst müsse möglichst verallgemeinert werden, so treten wir hier auf die Seite des Realis­ mus: Ein Kunstwerk muss ideal und doch individuell sein, eine Idee enthalten, diese Idee aber in eigenthümlichen Zügen ausprägen. Cäsar, Alexander, Scipio waren Helden, aber jeder ver­ körpert den Gattungsbegriff Held in seiner Art. Nachdem daher die Kunst den Stoff in der oben angedeuteten Weise idealisirt haben wird, hat sie ihn alsdann zu realisiren, alle diejenigen klei­ nen Züge der Wirklichkeit festzuhalten, welche der Idee nicht widersprechen oder im Wege ste­ hen, sondern sie noch beleben können. [...] Innerhalb der gesteckten Gränze kann der Künstler nicht leicht zu realistisch sein; er weiche nur immer der doppelten Gefahr aus, nicht aus Sucht nach leerem Idealismus charakterlos, aber auch nicht aus Jagd nach realistischem Charakterisiren hässlich zu werden. Der Ideal-Realismus als das Ziel der Kunst wie der Menschheit - auch in der sittlichen Welt lässt er sich als Grundgesetz hinstellen - ist in dem einzig dastehenden Bunde Goethe's und Schiller’s vorgebildet, ich sage rorgebildet; denn es ist die Aufgabe unseres kommenden gros­ sen, die neue Epoche beherrschenden Dichters, beide Richtungen in Einer Person zu versöhnen. Rietschel's Dichtergruppe zu Weimar ist das symbolische Denkmal des Ideal-Realismus [4] [...]. Hier reichen sich die Vertreter der bisher getrennten Richtungen die Hand zum Liebes­ bunde.

1 Schiller: .Ar:

Goethe, als er den -Mahomet- von Voltaire auf die Buhne brachte.

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2 s. Dok. 10-12, S. 39-43. 3 Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Mterthums, hg. v. Heinrich Meyer u. Johann Schulze, Bd. 2, Dresden 1811 (= Werke, Bd. 4), S. 54: »Aus der Einheit folget eine andere Eigenschaft der hohen Schönheit, die Unbezeichnung derselben, das ist, deren Formen weder durch Punkte, noch durch Linien, beschrieben werden, als die allein die Schönheit bilden; folglich eine Gestalt, die weder dieser oder jener bestimmten Person eigen sey, noch irgend einen Zustand des Gemüths oder eine Emp­ findung der Leidenschaft ausdrücke, als welche fremde Züge in die Schönheit mischen, und die Einheit unterbrechen. Nach diesem Begriff soll die Schönheit seyn wie das vollkommenste Wasser aus dem Schooße der Quelle geschöpfet, welches, je weniger Geschmack es hat, desto gesunder geachtet wird, weil es von allen fremden Theilen geläutert ist«. 4 s. Abbildung, Bd. 1.

Idealismus und Aristokratismus

48 Hermann Grimm: Rafael und Michelangelo (1857). In Grimm: Essays, Hannover 1859, S. 175—260. Hier S. 180-82, 184-85. (Neudruck Grimm: Zehn ausgewählte Essays zur Einführung in das Studium der modernen Kunst, Berlin 1871, S. 7-103.)

[•••] Der Künstler stellt das Ideale dar. Dieses Wort ist wie alle, welche im Munde des Erkennen­ den Zeichen hoher Verehrung sind, auf den Lippen derer, die nur darum die Kunst lieben, weil sie die Leerheit ihrer Seele mit ihr füllen möchten, zu einem nichtigen Lobe geworden, bis man es zu gebrauchen Scheu trug. Füllen wir es wieder mit seinem edlen Inhalte. Indem wir leben und Erfahrungen sammeln, werden wir inne, daß nichts auf Erden vollkom­ men sei. Während wir auf der einen Seite in Allem, was geschieht und geschaffen ist, eine Mani­ festation ewiger in sich verbundener Gesetze gewahren, sehen wir auf der andern, daß diese Gesetze überall einer Störung unterliegen, deren Wesen wir das Zufällige nennen, ehe wir es erkannt haben, und wir entdecken, daß durch eine ewige Kreuzung unendlicher Einflüsse, nichts in der Vollkommenheit zur Erscheinung komme, zu welcher es seine innere Anlage befä­ higt und der es entgegenstrebt. Des Menschen Seele aber, beugt sie sich auch zuletzt unter der Wahrheit dieser Erfahrung, gibt sich dennoch nicht zufrieden bei dem Gedanken, daß dem einmal so sein müsse; ein tief verborgenes Gefühl wiederholt ihr, daß es einst anders war und einst anders sein werde. Aber auch mit diesem Tröste begnügt sie sich nicht, sondern in unbewußt schaffender Thätigkeit ge­ staltet sie nach dem Muster dessen, was sie sieht und erlebt, ein geistiges Bildniß der Schöpfung, frei von jenen Störungen, als doppeltes Symbol eines höheren Daseins, das in der Vergangenheit begraben liegt und in der Zukunft auferstehen wird. Diese unsichtbare selbstgeschaffene Welt nennen wir die ideale. Kein Mensch, auch der niedrigste nicht, dem dieser Besitz fehlte. Kein Verlust, der den seinen nach sich zöge. Als ein unveräußerliches Gut verbleibt, das Ideal dem Menschen eigenthümlich und selbst wo es versunken und verloren schiene, taucht es immer wieder empor. Es ist das Land, an dessen Scholle wir Alle kleben, dessen Leibeigene wir sind. Es ist eine Sclaverei, der wir nicht zu entrinnen vermögen, sei es nun daß wir stolz und beglückt durch sie in ihr das einzige wahre Gut erblicken, sei es, daß wir uns ihr mit verneinender Hartnäckigkeit zu entrei­ ßen suchen. Jedem Sterblichen ist die Sehnsucht nach dem Ideale angeboren. Sie kann ermatten, sie kann fast ganz ertödtet sein, und wenn selbst der Fall einträte, daß sie beim Einzelnen nicht mehr zur Erscheinung käme, stets wird sie dennoch die Nation im Ganzen besitzen und niemals aufgeben. Entweder träumt sie von einer zukünftigen Größe oder sie betrauert eine verlorene. Was dem Ideale eines Volkes entspricht, nennen die Menschen das Schöne, Gute; diejenigen, welche es lebhafter als andere empfinden, stehen hoch in der allgemeinen Achtung, die, welche

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das Gefühl des ganzen Volkes in sich vereinigen und aussprechen, deren Seele die Seele Aller ist, sind die Männer, die man liebt und verehrt, die aber, in denen der Wiederschein [!] des allge­ meinen Bewußtseins so stark wird, daß es sich in ihnen am reinsten abspiegelt, und daß sie dieses Abbild in Musik, in Sprache oder sonstwie von sich loslösen, bis es ein eigenes Dasein gewin­ nend als die Verkörperung dessen, was die Nation für gut und schön hält, dasteht: die Männer sind die Künstler, Männer, die die Verehrung des Volks zur höchsten Höhe emporhebt. Sie zei­ gen ihm seine eigene Seele am tiefsten, seine Sehnsucht am lockendsten, seine Zukunft und Ver­ gangenheit im reinsten Lichte. Sie wiederholen ihm mit überraschenden Worten seine geheim­ sten Gedanken und lehren es seine eigene Sprache reden. Sie zeigen ihm seine Gestalt in der Vollendung. Wo sie auftreten, grüßt sie jeder, wo sie fortgehn, folgen ihnen begehrlich alle Gedanken, und was von ihren Werken zu erlangen ist, wird als das höchste Besitzthum gewahrt und festgehalten. In solchem Gefühle ehren wir Goethe, Beethoven, Schiller, Mozart. Der Künstler steht mit seinem Volke in notwendigem Zusammenhänge. Steht ein Volk so hoch unter den andern Völkern da, daß es sich zu ihnen verhält, wie seine Künstler zu ihm sel­ ber, dann erweitert sich deren Herrschaft in’s ungeheuere. Die Griechen nehmen einen so hohen Rang ein. Phidias, Homer, Sophokles arbeiteten für alle Völker und alle Zeiten, Corneille und Racine dichteten nur für Frankreich, Shakespeare für alle germanischen Völker. Dennoch wa­ ren jene Griechen, und dieser ein Engländer, und der nationale Boden gehört zu ihrer Persön­ lichkeit. Ohne den Boden, auf dem sie stehen, sind sie nicht denkbar. Ohne die blühende Erde, auf die sie herabscheint, wäre die Sonne eine todte Masse qualvoller Klarheit, ohne ihre Strahlen die Welt eine finstere Wildniß, ein formloses grauenvolles Dickicht, eines bedarf das andere, erst die Berührung läßt das Leben entstehn. So bedarf ein Volk seiner Künstler, erst das Verständniß der Menschen und die Verehrung gibt ihnen Name und Würde, aber auch erst ihr Wort, ihr Werk dem Volke die Fähigkeit, zu lieben und zu verehren. Der Künstler steht da zwi­ schen dem Endlichen und Unendlichen; wo beide aneinanderstoßen, fängt er den Blitz des Gewitters auf, hält ihn fest und gibt ihm ewige Dauer. Ewig: so lange Menschen leben, die ihn verstehn; sterben die Völker, die ihn liebten, so geht sein Ruhm mit seinen Werken unter. [...] [...] Ein großer Mann spricht sich aus als eine allgemeine Macht. So bedeutend ist sein Geist, daß der Stoff fast gleichgültig wird, an dem er sich erprobte, die andern, die nur groß waren in einer bestimmten Richtung, bedürfen erst des Vergleiches mit den übrigen, setzen eine niedere Masse voraus, aus der sie hervorragen. Sie waren fähiger, klüger, glücklicher, als ihre Genossen, diese bilden stets den Maßstab für ihre Größe; jene aber bedürfen dieser Folie nicht, sie trennen sich von der Menge der Sterblichen, sie führen ein eigenes Dasein. Wie zerstreute Körper eines anderen Gestirns scheinen sie vom Himmel gefallen hier und dort nach dem Willen des Schick­ sals aufzutreten. Wo sie sich zeigen, fällt alles Licht auf sie allein, die anderen stehen im Schat­ ten. Verwandt unter einander wie die Glieder einer unsichtbaren aristokratischen Familie ste­ hen sie dicht zusammen in einer leuchtenden Wolke vor unseren Augen; die Jahrhunderte, die Nationalität trennen sie nicht, Rafael und Phidias reichen sich die Hände, Friedrich der Große stehtuns nicht näher als Cäsar, Plato und Homer uns nicht ferner als Goethe und Shakespeare. Eine irdische Unsterblichkeit läßt sie wie lebende erscheinen, unwillkürlich legen wir alles, was

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Bedeutendes geschieht, vor ihre Füße und fragen nach ihrem Unheil. Fremd auf Erden und den­ noch eingig [einzig 1871] berechtigt, sie zu bewohnen, glücklicher als die Glücklichsten und unglücklicher dennoch als die Geringsten von uns, die wir nicht wie sie das Vollkommene ah­ nen, und nicht wie sie deßhalb den Jammer fühlen, durch eine ungeheure Kluft von ihm geschie­ den zu sein, über [die 1871] keine Brücke führt und keine Flügel tragen. Einige gab es, die ein früher Tod vor den Jahren fortnahm, wo die Qual der einsamen Arbeit beginnt, die Meisten aber lernten in einem weithingestreckten Alter die Schmerzen kennen, die sie nur allein erfahren und begreifen konnten. [...]

49 W(ilhelm) Scherer: Bürgerthum und Realismus. In: Die Presse, 23. Jg., Nr. 202, 24. Juli 1870. (Neudruck Scherer: Kleine Schriften, hg. v. Konrad Burdach u. Erich Schmidt, Bd. 2, Berlin 1893, S. 183-87). [...] Man vergleiche irgend eine antike nackte Venus, etwa die knidische, mit der Susanna des Rembrandt. Beides sind Darstellungen der Scham. Alle antiken Liebesgöttinnen sind schamhaft, entweder erscheinen sie halb bekleidet, oder sie haben die Hände frei, um sich jeden Augenblick durch Bewegung und Geberde zu schützen vor zudringlichen Blicken. Die Venus von Knidos hat - nach Brunn’s [1] vortrefflicher Beschreibung - in ihrer Stellung etwas Schwankendes. Man erhält den Eindruck, daß der Göttin bei etwaiger Ueberraschung eine schnelle Wendung gestattet sei. Mit der Rechten deckt sie die Mitte des Körpers, die Linke zieht von einem neben ihr stehenden Wassergefässe ein Gewand gegen die Brust empor. Der Blick richtet sich etwas nach links, als ob von dort jene Störung käme. Rembrandt’s Susanna, ein ziemlich gewöhnlich aussehendes, derbes Frauenzimmer, ist in dem Moment dargestellt, wo sie ein Geräusch von rückwärts hört und in der Thar gewahrt man im Dunkel des Gebüsches den Kopf eines der Alten. Sie haue sich bereits ganz ausgezogen und greift nun rasch nach einem Stück Gewand, das sie sich mit der Rechten vor die Scham hält, während sie mit der Linken nach dem Busen fährt, um ihn zu decken. Die Oberschenkel klemmt sie zusammen. Mit dem linken Fuß war sie eben in den Badepantoffel getreten, der rechte wurde auf seinem Wege nach dem Pantoffel durch den Schrecken gelähmt und steht auf demselben. Man sieht, es ist beidemal dasselbe Motiv. Beidemal soll weibliche Schamhaftigkeit versinn­ licht werden. Beidemal dieselbe Regung des unwillkürlichen Schutzsuchens vor nahender Gefahr. Und wie für gewisse Empfindungen die Geberdensprache nur eine ist, so ergaben sich für beide Künstler einige Bewegungen, das Grundschema der Gestalt als beinahe feststehend und darum übereinstimmend. Aber betrachte man im Einzelnen, betrachte man die Mittel, mit denen gewirkt wird. Die natürliche Bewegung ist bei Rembrandt möglichst genau nachgebildet, staunenswürdig

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Der Realismus in der Literatur (Vorbereitung, Programm, Kritik)

treffend jeder einzelne Zug, das Leben gleichsam ertappt in seiner unbewußten Aeußerung. Pra­ xiteles dagegen hat das Natürliche gemildert. Kein plötzlicher Schreck, kein angstvolles Zusammenfahren, das Tempo der Bewegung mäßiger, die Gestalt nicht so erfüllt von der einen beherrschenden Seelenregung. Alle mannichfaltigen Vorstellungs- und Empfindungskreise, die sich in einem Menschen zu­ sammenfinden, stehen in einer Art hierarchischer Verbindung unter einander. Je durchgebilde­ ter diese Hierarchie, desto mehr die Harmonie des Wesens erreicht. Es ist ein Kennzeichen der Vornehmheit, daß diese Harmonie, diese Ordnung nie völlig ge­ stört werden kann. Man mag das Fassung nennen. Wenn Rembrandt's Susanna nicht gänzlich fassungslos erscheint, so beruht das zum Theil vielleicht auf niederländischem Phlegma, zum Theil ohne Zweifel darauf, daß sie die frechen Eindringlinge noch nicht sieht, daß sie der Störung noch nicht gewiß ist, daß sie erst ängstlich aufhorcht und nur erst eine Ahnung der Gewißheit in ihr dämmert, nicht die Gewißheit selbst über sie hereingebrochen ist. Wenige Augenblicke später, sobald sie die Lauscher sieht und diese auf sie zustürzen, wird sie .zappeln, um sich schlagen, kratzen, beißen und aus Leibeskräften schreien, so viel sie Äthern hat. Die Venus des Praxiteles verleugnet die vornehme Ruhe nicht. Ihre vollendete Gelassenheit ist kaum durch einen Schatten getrübt. Wenn diesem Weibe ein Verfolger nahte, es würde durch die Hoheit der Erscheinung, durch die Macht des Blickes den Verwegenen zu bändigen wissen. In der Susanna keine Spur von Haltung, Ruhe, Gelassenheit, Sicherheit; alle sonstigen Gedanken und Empfindungen in dem Augenblicke verdrängt von dem Gefühl grenzenloser Schwäche und Schutzlosigkeit. Dies füllt ihr Bewußtsein ausschließlich. Darin geht sie auf. Das ist plebejisch. Und hiemit haben wir den Gesichtspunkt für die Beurtheilung des Unterschiedes gefunden. Dort idealistische Milderung des Natürlichen, hier realistische Nachbildung der ungemilderten, ungemäßigten Natur. Dort vornehme Haltung, hier plebejische Haltungslosigkeit.

[•••] Das Selbstgefühl des Bürgerstandes ist die Quelle der niederländischen Kunst. Dieser Stand blickt nicht neid voll oder verehrend zu einem höheren auf wie der deutsche Phi­ lister des achtzehnten Jahrhunderts. Er holt sich nicht seine Muster aus einer über ihm gelege­ nen Schichte [!]; er holt sie aus sich selbst. Er strebt nicht in die aristokratische Region empor, um sich Selbstgefühl zu erbeuten, er trägt es in sich selbst. In Werken rednerischer und bildender Kunst stellt er daher nicht die Vornehmen, sondern sich selber dar. Daher einerseits das Ungemilderte, Urwüchsige, Ursprüngliche, das »Frappante« in der nie­ derländischen Kunst. Daher andererseits noch ein zweites. Unzertrennlich von dem Bürgerthum ist die weitgetriebene Arbeitstheilung. Woher sollte die in den Adel kommen? Staatsmann, Soldat, Jäger, Gutsbesitzer, Bischof; das gibt ohne Zweifel eine Reihe charakteristischer Unterschiede. Aber man weiß, daß alle Berufssphären im Mittelalter einander noch weniger ausschlossen als heute. Gemeinsam ist allen eine gebietende Stel­ lung, die bestimmte Lebensbeziehungen überherrscht, und den Einzelnen oder eine Anzahl von

Idealismus und Aristokratismus

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Individuen nach seinem Willen lenkt. Jeder Adelige trägt gleichsam einen Commandostab in der Hand [2]. Und dieses Bewußtsein bedingt sein Auftreten und seine Erscheinung. Darum war es möglich,daß sich ein ziemlich einheitliches Ideal ritterlichen Wesens entwikkelte, das über ganz Europa hin beiläufig mit denselben Zügen, in derselben Weise ausgestattet war. Wie ganz anders das Bürgerthum. Es bedarf keines Beweises, daß der Mensch anders aus­ sieht, wenn er von früh bis spät im Comptoir steht; anders, wenn er als Schneider, anders, wenn er als Schuster, anders, wenn er als Weber sein Brod verdient; anders, wenn er am Ambos[s] schwitzt; anders, wenn er an den Actentisch gebannt ist. So viele bürgerliche Berufsarten, so viele Schemata der Standes-Physiognomie, innerhalb welcher erst das Individuum sich geltend macht. Wenn nun das Bürgerthum sich selbst darstellt, wo bleibt der einheitliche Typus? Die Indivi­ duen sondern sich viel schärfer von einander ab und kein Princip ist vorhanden, das die Unter­ schiede mildern könnte. So hält das Charakteristische seinen Einzug in die Kunst und vermag das Schöne gänzlich zu verdrängen. Die bürgerliche Kunst wird ihren Ursprung nicht verleug­ nen. Auch wo sie andere Gegenstände ergreift, die außerhalb der bürgerlichen Sphäre liegen, kann sie die einmal angenommene Methode nicht mehr abändern. Sie sucht auch dort nur das Charakteristische. Und mit Recht hat man bemerkt: Während die Griechen selbst die Porträts durch Vereinfachung der Formen und Hervorhebung der bedeutendsten Theile idealisiren, ge­ winnen bei den Niederländern selbst die idealen Gestalten der Maria, der Apostel, der Prophe­ ten und Heiligen ein porträtartiges Ansehen. [...] 1 Heinrich Brunn (1822-1894), bedeutender Archäologe der Zeit. Seine Geschichte der griechischen Künstler (2 Bde., Stuttgart 1853-59) zeichnet sich durch genaue Stilanalysen und Beschreibungen aus. 2 Aristokratische Umdeutung des Napoleon zugeschriebenen Ausspruches: »Tout soldat français porte dans sa giberne le bâton de maréchal de France.«

50 Enterich du Mont: Der Fortschritt im Lichte der Lehren Schopenhauer’s und Dar­ wins, Leipzig 1876, S. 43-45. [•••] Wie aber die Wahrheit selten beim großen Haufen wohnt, so fehlt auch dem Vulgus der Sinn für die Kunst. Wir brauchen dabei nicht gerade an die unterste Schicht des Volks zu denken: »Werke des Geistes und der Kunst sind für den Pöbel nicht da« [1], die Künste auf ihrer höch­ sten Stufe, die Meisterwerke der Kunst, haben aber in der That nur ein sehr kleines Publikum und tragen dadurch ein aristokratisches Gepräge, während die Wissenschaft, allen zugute kom­ mend, selbst solchen, welche sich kaum mit ihr befassen, demokratisch erscheint. Nichts ist schwerer den Menschen zuzumuthen, als die Anerkennung und Verehrung einer Sache ohne

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Der Realismus in der Literatur (Vorbereitung, Programm, Kritik)

faßlichen Nutzen; wie wir aber in der Moral das Gute um des Guten willen, so müssen wir in der Kunst das Schöne um des Schönen willen lieben und uns aller Gedanken des Nutzens bei beiden in gleichem Maße entschlagen. So kommt cs also, daß die Verehrer der wahren Kunst nur eine kleine, auserlesene Schar bilden können, da die Menge jetzt und lange noch nur vor dem Götzen »Nutzen« kniet und knien wird. Die Geschichte vom goldenen Kalbe, welches Aaron den Juden machen mußte, während Moses am Berge Sinai die Gesetze Gottes vernahm und niederschrieb, bleibt ewig neu. Oft aber schließen, dem Zuge der Zeit nachgebend, die Künste ein leidiges Compromiß mit dem empirisch-demokratischen Geiste, indem sie, ihre Ideale verlassend und verrathend, dem Realismus gestatten, seine Fahnen auf ihren Zinnen aufzupflanzen. »Vielen gefallen ist schlimm« [2], aber der Realismus in der Kunst entspringt vielleicht aus dem Verlangen nach Anerkennung in weitern Kreisen, nach Ruhm und Lob von den Zeitgenossen, oftmals wol auch aus Noth und Mangel, und bedeutet im Künstler: ein theils bewußtes, theils unbewußtes Abfal­ len von dem richtigen Schönheitssinn, um dem verdorbenen und ungeläuterten Geschmack der Menge zu schmeicheln. Da es sich bei diesen Abtrünnigen um eine Wirkung auf die Menge, statt auf die geringe Zahl der Kunstverständigen handelt, so scheint auch Effecthascherei das richtige Wort, um ihr Gebaren zu bezeichnen. Das Bestreben, es der Mehrzahl recht zu machen (als ob der Werth eines Kunstwerks durch Stimmenmehrheit entschieden werden könnte), legt in derThat Zeugniß vom Einfluß des demokratischen Geistes auf den Künstler ab. Noch deutlicher erhellt der Zusammenhang zwischen Realismus in der Kunst und Demokratismus, wenn wir das Vorge­ hen, die Methode des Realisten untersuchen. Wie sich der Naturforscher der inductiven Methode bedient und aus der Beobachtung vieler Einzelfälle einen Lehrsatz der Wissenschaft bildet, ein Naturgesetz aufstellt; wie der Demokrat dieselbe Methode unbewußt befolgt und aus der Mehrzahl der Stimmen auf die Gerechtigkeit einer Forderung, auf den Werth eines Staatsgesetzes schließt, so geht auch der realistische Künstler inductiv zu Werke, indem er die Natur auf allen ihren Wegen belauscht und jeden Zug derselben sammelt, um daraus sein Werk zu bilden; während der Idealist, der wahre Künstler, nach einem ihm fertig vorschwebenden, hohem Musterbilde, welches über die Natur hinausreicht, schafft und dabei gleichsam deductiv zu Werke geht. Am besten sehen wir Realismus und Induction in der bekannten Annahme ver­ eint, das sich das Ideal menschlicher Schönheit durch Zusammensetzung einzelner Züge, wel­ che an verschiedenen Menschen am schönsten vorkämen, bilden ließe. Daran schließt sich die Fabel, daß ein Maler, welcher also vorging und die einzelnen Theile seines Werks successive verdeckte, nach der Enthüllung des vollendeten Gemäldes über den abschreckenden Ausdruck des ihm entgegenstarrenden Gesichts wahnsinnig geworden sei. Ist dies auch nur eine Fabel, so fehlt ihr doch nicht die Moral! Aber dürfen wir es dem Künstler verargen, der gleichsam auch in seiner Kunst die zwin­ gende Macht des Gesetzes empfindet, welches im Verhältniß zwischen Angebot und Nachfrage besteht, und der deshalb den »Parnaß passirt, um in ein fettes Thal zu laufen«? Es kann wol keine Nachfrage nach classischen Werken geben zu einer Zeit, da die schönen Künste in den Augen der Mehrheit hinter den nützlichen Wissenszweigen weit zurückstehen. Wie Doctor

Idealismus und Aristokratismus

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Faust dem Geiste, der stets verneint, so verschreiben auch Künstler ihre Seelen dem Geiste der Zeit, der gleichfalls die Ideale verneint; um die Anerkennung der Mehrheit geben sie den Ruhm bei der Nachwelt preis.

[•••] 1 Goethe: 2 Schiller:

Venetianische Epigramme 9. Tabulae votivae. Wahl.

Die Dorfgeschichte

Dorfgeschichte und Nationatgedanke im Vormärz

51 Berthold Auerbach: An J. E. Braun vom Verfasser der Schwarzwälder Dorfgeschich­ ten. In: Europa, 1843/4, S. 33-36. Ihre wohlwollend eindringende Auffassung einiger von mir in Zeitschriften veröffentlichten Dorfgeschichten [1] war die Veranlassung, daß ich der so eben erschienenen Gesammtdarstellung [2] keine Vorrede vorausschickte; es war mir eine wahrhafte Erquickung, mich in meinen Bestrebungen so von einem Manne erkannt zu sehen, den ich persönlich nicht kenne. Dennoch möchte ich sowohl Ihnen als dem Publikum noch Manches über das genannte Werk sagen, und ich wähle hierzu die Form eines offenen Briefes. Sie mahnen mich an Immermann, und wie ich es schon anderwärts gethan, bringe ich dem wackern Verstorbenen gern hier nochmals meinen Dankeszoll; ich bekenne gern, daß mich der Vorgang Immermanns ermuthigt [3], wenn gleich nicht zuerst angeregt hat, das Volksleben in seiner Selbständigkeit zum Gegenstände der Dich­ tung zu machen. Unsere Zeit ist berufen, die sogenannte Masse in selbständige Individualitäten aufzulösen. Nicht mehr bloß diejenigen, die auf eine Höhe der Bildung oder der Macht gestellt sind, repräsentiren das Zeitleben und seine Konflikte. Das Pulver hat die Tapferkeit einzelner hervorragender Persönlichkeiten aufgehoben, das Maschinenwesen hat die Handgeschicklich­ keit Einzelner aufgelöst; nun tritt die allgemein menschliche Bildung ein und hebt den letzten Rest der Bevorzugungen auf: das Schicksal der Nationen ist nicht mehr von einzelnen Banner­ trägern abhängig, sondern in unzähligen Individualitäten macht sich das Zeitbewußtseyn gel­ tend. Erst dadurch wird es wahrhaft und unverwüstlich zum Zeitbew'ußtseyn. Wir dürfen uns nicht irren lassen durch den Aberwitz lächerlicher Gleichheitsmacher; wir dürfen uns die heilige Aufgabe der Zeit dadurch nicht entweichen und aus den Händen reißen lassen. Nicht der Besitz und die Macht, sondern der Geist allein macht frei und gleich; nicht die Überhebung über Stan­ des- und Gewerbsunterschiede, sondern die rein menschliche Erhebung in denselben ist das Ziel der sittlichen Freiheit und Bildung. Die Aufgabe der Zeit ist: den Geist, das Denken zu verallge­ meinern, die Besonderheiten in ihrer jeweiligen Eigenthümlichkeit zu erkennen, anzuerkennen und zu ihrer Vollendung zu führen, nicht aber in eitlem Stolze den Geist aufzuheben und die Besonderheiten zu vernichten. Einer Seits tritt daher die in höheren Gebieten gewonnene Erkenntniß heran zu dem Volke und strebt in sein Bewußtseyn überzugehen [4]; anderer Seits sucht die Poesie das Leben auch der untersten Schichten zu erkennen, sich von ihm zu erfüllen und so eine lebendige Wechselwirkung zwischen dem natürlich Gewordenen, Geschichtlichen und dem aus der Reflexion Gewonnenen [5] herzustellen. Je mehr wir das sogenannte niedere Volksleben erkennen, um so mehr werden wir wiederum von ihm erkannt werden, je tiefer wir uns in sein Daseyn versenken, um so mehr lernen wir aus der Gesammtheit und für die Gesammtheit wirken; Kunst und Wissenschaft werden dadurch immer volkstümlicher und nationaler und der Fortschritt wird einheitlich, einig. Im vorigen Jahrhunderte hatte sich die Bildung der höheren Stände so weit vom eigentlichen Volksleben entfernt, daß Friedrich der

Dorfgeschichte und Nationalgedanke im Vormärz

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Große seiner Akademie die Frage vorlegen konnte: est il permis de tromper le peuple? - Gibt es auch noch heutzutage Viele, welche glauben, das Volk (wovon man sich selber natürlich aus­ nimmt) müsse stets in geistiger Unmündigkeit verharren, so würde doch Niemand mehr jene Frage in der gegebenen Fassung offen als Frage aufwerfen. Niemand wagt mehr zu bestreiten, daß Fortschritt und Vernunft erst dann wahrhaft bestehen, wenn sie zum Gemeingut geworden [6], und daß eine Erkenntniß, die nicht Gesammtgut werden kann, in sich selber den Keim des Widerspruchs, des Todes birgt. Es soll nicht ewig eine Aristokratie der Bildung geben; Glauben und Wissen, das unmittelbare Leben und die abstrakte Erkenntniß sollen nicht ewig geschieden seyn. Sie müssen nicht nur versöhnt, sondern vereint werden. Das ist der auszeichnende Karakter der modernen Bestrebungen, daß sie zum Leben, zur That zu werden suchen; daran, daß sich ergibt, in wie weit dieß jetzt oder in Zukunft möglich ist, muß sich Gestalt und Haltbarkeit erproben. Ich konnte diese Ansicht hier nur kurz andeuten, und füge noch hinzu, daß auch ich, gleich Andern, aus diesem Bewußtseyn die mir verliehenen Kräfte dem Volksthume zuwendete. Von diesem Gedanken geleitet, gab ich das Büchlein: Der gebildete Bürger [7] heraus, und die Zeit, da ich die Dorfgeschichten schrieb, gehört zu den glücklichsten meines Lebens. Ob es mir gelungen ist, nicht bloß, wie Sie es nennen, »kindliche« Naturen darzustellen, son­ dern auch starke bewußte Männer zu zeichnen [8], mag sich jetzt aus der Gesammtdarstellung ergeben. Es ist schwer, dem Publikum gegenüber ein poetisches Produkt zu versprechen, dennoch ge­ stehe ich, daß es mein Vorsatz ist, den »Buchmaier« zum Gegenstand einer besondern Darstel­ lung zu machen. [9] Ich habe zu Anfang dieser Zeilen gesagt, daß Sie die Veranlassung waren, daß ich meinen Dorfgeschichten keine Vorrede beigab. Indeß möge diese, wie ich sie bereits im vorigen Winter niedergeschrieben, hier stehen, und für die Leser der Europa, die das Buch zur Hand nehmen, manchen Gesichtspunkt erörtern.

Vorreden spart Nachreden sagt ein gutes deutsches Sprichwort, und es sollen daher den Dorfgeschichten ein Paar einlei­ tende Worte vorausgehen. Fern von ihrem Schauplatze sind diese Darstellungen aufgenommen und ausgeführt worden; der Leser möge beurtheilen, ob Standpunkt und Ton der richtige. Einer Seits nicht mitten aus dem Bauernleben heraus, anderer Seits nicht vom städtischen Gesichts­ punkte befangen, diese Lebensbilder vor Augen zu stellen, war mein Bestreben; so auch glaubte ich, sollten sowohl Städter als Landbürger sich ihnen mit Interesse zuwenden können. Die Eigenthümlichkeiten des Dialekts und der Redeweisen sind daher nur in so weit beibehalten, als das wesentliche Gepräge derselben damit dargethan wird. Ich habe mich fast immer als mündlich erzählend gedacht; die Ereignisse stehen als geschichtliche Thatsachen da. Daher mußte es kommen, daß hin und wieder manche Lebensregel und allgemeine Bemerkung einge­ streut wurde. Ich habe absichtlich nicht in eine geschichtliche Vergangenheit zurückgegriffen, obgleich eine

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Die Dorfgeschichte

solche freieren Spielraum zu phantastischen Gebilden und zur Anlehnung an große Ereignisse geboten hätte; alle Seiten des jetzigen Bauernlebens sollten hier möglichst Gestalt gewinnen. Zunächst verfolgte ich damit nicht die Tendenz, in irgend einem Bereiche Mißbräuche, Irrthümer und dergleichen abzustellen; ergibt sich eine solche Nothwendigkeit aus den vorliegenden Erzählungen, so wird mir das eine freudige Genugthuung seyn. Daß Mißstände des katholi­ schen Klerus berührt wurden, liegt einzig in der Örtlichkeit. Ich verwahre mich ausdrücklich dagegen, als ob solche nur im katholischen Klerus stattfänden; in protestantischen Gegenden finden sich andere in anderen Erscheinungen. Das religiöse Leben, hier zunächst als kirchliches, bildet ein Grundelement im deutschen Volksthume; es ist das historische Bewußtseyn des Unendlichen, in seiner Ganzheit feststehend, den Karakter erfüllend. Macht sich hier auch be­ reits das individuelle Bewußtseyn geltend, erheben sich Einzelne über die gegebenen Formen, so geben diese doch noch im Allgemeinen den Karakteren das wesentliche Gepräge. Frivol ist es daher, im Bauernleben den religiösen Grundzug zu ignoriren, und poetisch unwahr oben­ drein. In den Ländern der Zentralisation, der geschichtlichen Einheit und Einerleiheit, kann der Dichter weit eher Nationaltypen aufstellen. Engländer, Franzosen, sind unter denselben Geset­ zen, ähnlichen Lebensbedingungen und geschichtlichen Eindrücken aufgewachsen; ihr Karak­ ter hat nicht bloß in der Richtung auf das Allgemeine, sondern auch in Einzelheiten, in Gewohnheiten, Ansichten etc. etwas Gemeinsames. Wir aber, durch die Geschichte getrennt, stellen weit mehr die Ausbildung des Provinziallebens dar. Die aus dem Volksthume genom­ mene Poesie wird sich daher, ähnlich der neueren Richtung geschichtlicher Forschung auf das Provinzielle, immer mehr lokalisiren müssen. Wie wir die Einzelheit politisch auszubilden ha­ ben, so haben wir auch poetisch diese Aufabe; das Bewußtseyn der Vereinigung und Einheit muß hindurchgehen, und so auch hier ein in sich gegliedertes Leben sich herausstellen. Durch die Länderarrondirungen ist das Provinziale freilich vielfach zerschnitten, aber noch steht der Kern desselben fest. Ich habe ohne Scheu ein bestimmtes Dorf, meinen Geburtsort genannt [10], Nach Nachrich­ ten von dort ist die früher veröffentlichte Erzählung: Die Kriegspfeife, in das Anzeigeblatt: Der Schwarzwälder-Bote aufgenommen worden; die Bauern sind nun über mich höchlichst er­ grimmt und sagen: das sei Alles erlogen und ich hätte sie lächerlich machen wollen. Man sieht, daß man in höheren wie in niederen Kreisen gern einen fingirten Schauplatz für Darstellungen aus der Gegenwart verlangt. Ich halte es aber für Pflicht, daß wir, je mehr wir dem Leben nahe treten wollen, auch ohne Zagen ein Wirkliches zum Schauplatz der Darstellungen wählen und mit Namen nennen. Durch den historischen Roman suchte man den realen Boden zu gewinnen, und hier durfte der Dichter ohne Scheu einen bestimmten Ort nennen. Dieß Letztere ist aber auch nicht minder bei Darstellungen aus der Zeit anzuwenden; dadurch wird das Zeitbild zum historischen. Die neuere Volksdichtung kann damit zugleich mit Bewußtseyn aufgreifen und fortsetzen, was ehedem die Sage in rein naiver Weise that, indem sie bestimmte Orte mit ihren Gebilden umwob. Ich habe es versucht, ein ganzes Dorf gewissermaßen vom ersten bis zum letzten Hause zu schildern; die vorkommenden Sitten und Gebräuche sind dem wirklichen Leben entnommen,

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oben an meinem HetHsadrsone vocbdraasctaen - der gro& deutsche Strom bat sie freudig aufgenoemnen und tragt sie hinab in das Meer. - So mögen ascb diese Gebdde, «fie ich hmatts sende

ms Vaterland, aidgebea in dem Strom deutschen Lebens ab eine bescfeetdaoe Wefle, den bennt-

schen Bergen entsprangen. ’ 11

Mainz.

BenboH Auerbach

1 s l E. Esr Fbjxmts as ¿¡r araesa™ Litgraár. fa. jz. 1 S *3 1. S- 12 -34. 2 GÍskuí sz he SohverñcksbchaBg Benboid Aeezbach: Sc¿warr®uíárr DongscháctaK, 2 Tie _ t‘ .ii nm 1843. 3 hathhe des groeíiaarrhrhrn Obethoks m k »iri ¡n¡nr Miaai-f^f 'ex. Eaat GtsebtdK at Arabesfcra. 4 Tie_ DüsseJdos l&3#-39. 4 Pt cJii i«c 11_ ■ li i rtr Vofcs< derch bébete sectaescae ea i^yrrw Bddaag n sajg^n sachres. Erwahet ses-t he Bessfamgea Kari Pteusfars ; 1~86-18” 1 tat Vcdks- md Gewerhesehdea, Verme rat i~~ii «fdtar Ju^nd-, VofcGewerbeiabfeocáekea ssw. Aaertochs entese besaeb^get. jet áescs Gefaaer k»ea aes ¡f nÑMgn i potasdt-¡¿erases Gessz: Aaeróach: Dar prb¿deie Sir^tr. B»¿r fir m ¿’■fa.’wd.w Mkt',|faL 1343; Aaerbai: Srirci wat Vafe. IM6; Aaerbacfc Dí~ GestEm^tw . * Vkwr KAtader par dex S&ads-wad Laadbwprr Jte 1 *45 ! Í+fe-4X\ 4 Jot_ ÍS-44-J". 5 Das aas ¿er Reóesooc Cs-»-xrot bedeoter ai óer Secadle de" Zrr. ¿e loeokape des occosKioeeíjer IcberabsEcs.

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Die Dorfgeschichte

52 Karl Hagen: Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten. In: Jahrbücher der Gegenwart, 1844, S. 810-17. Hier S. 810-16. In einem der früheren Hefte dieser Jahrbücher wurden die Mysterien von Eugen Sue bespro­ chen [ 1 ] und als das Charakteristische und Lobenswerthe dieses Buches die Tendenz desselben hervorgehoben, das Interesse des Publikums für die niederen Classen in Anspruch zu nehmen. Als deutsches Gegenstück dazu kann man die Schwarzwälder Dorfgeschichten von Berthold Auerbach betrachten. Diese Ansicht mag im ersten Augenblicke als barock erscheinen. Aber mißverstehe man mich nicht! Die Ähnlichkeit dieser Schriftsteller finde ich nur in der höchsten und letzten Tendenz, welche beide mit einander gemein haben, nämlich in dem Bestreben, das Volk und zwar die untersten Stände desselben uns wieder näher zu bringen, unser Mitgefühl für sie zu erregen. Denn in allen andern Stücken sind sie weit von einander verschieden, [...] man kann wohl sagen, daß Eugen Sue den französischen Nationalgeist repräsentirt, während in Berthold Auer­ bach der deutsche seinen Ausdruck findet. Schon im Stoffe tritt dieß hervor. Eugen Sue, der Franzose, bei welchem Paris das ganze Reich repräsentirt, begnügt sich damit, die untersten Classen in der verdorbenen Hauptstadt zu zeich­ nen, wobei er freilich, wie es nicht anders sein kann, einen Abgrund der furchtbarsten Laster und Verbrechen den Lesern vor die Seele führt: denn zu den vielen Uebeln, welche eine demoralisirte große Stadt mit sich bringt, kommt gerade in Paris das furchtbare Mißverhältniß zwi­ schen Armuth und Reichthum, und das Bewußtsein desselben, welches neuerdings in den un­ tersten Classen erwacht ist - lauter Dinge, welche keineswegs im Stande sind, schöne Verhältnisse zu erzeugen, vielmehr einen Zustand des Gährens, des Mißmuths, der Unzufrie­ denheit, der Unsittlichkeit, des Verbrechens herbeizuführen. Der deutsche Schriftsteller hinge­ gen, welcher keine Hauptstadt für ganz Deutschland kennt, bei dem die Individualität noch nicht in dem Centralisationssysteme aufgegangen ist, führt uns unmittelbar in die Mitte von Volkszuständen, wo noch die stille Natur waltet, wo das Heiligthum einer naturgemäßen Ent­ wicklung noch nicht durch die Laster der großen Welt getrübt worden ist. [...] Schon aus dem eben Gesagten erhellt die Bedeutung des Auerbachischen Werkes. Es verlohnt sich wohl der Mühe, näher darauf einzugehen, namentlich auf das Verhältniß, in welchem das­ selbe zu den Bestrebungen der Gegenwart steht. [...] Wir haben uns früher begnügt, Theorien auszudenken und Systeme aufzubauen. [...] Wir schwebten mit unseren Idealen viel zu hoch in der Luft, und inzwischen ging uns die Wirk­ lichkeit verloren. Diese Täuschung mußte uns bittere Schmerzen bereiten - es konnte nicht an­ ders sein. Das Mißverhältniß zwischen dem Ideale und zwischen dem Leben, die Niederlage der Idee vorder Macht der Reaction oder dem Indifferentismus der Zeitgenossen mußte wohl um so tiefer unser geistiges Leben verletzen, je inniger wir an jener hingen - so konnte es kom­ men, daß Manche in jenen Zustand der Verzweiflung und der Zerrissenheit hineingeriethen, welche einen Theil unserer neueren Literatur charakterisirt [...]. Aber die Nation im Großen und Ganzen hat jenen Zustand überwunden [...]. Sie hat eingesehen, daß es mit Worten und

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Phrasen allein nicht gethan sei, sondern daß man einen positiven Boden gewinnen müsse. Vor allen Dingen trat die nähere Befreundung mit dem Volke, nämlich mit den untersten Ständen desselben, als eine nothwendige Pflicht hervor; und zwar einmal in so fern, daß die Bildung, deren wir, die höheren Stände, uns erfreuen, wenigstens in ihren wesentlichsten Resultaten auch jenen zuTheil werde, aber auch in so fern, daß wir uns um die Zustände jener niederen Classen bekümmern, um ihr Wohl und Wehe, um ihr Dichten und Trachten, ihr Sein und Leben: denn nur auf einer breiten Grundlage vermag das Prinzip unseres Jahrhunderts sein Ziel zu erreichen: und diese breite Grundlage bildet unser gemeines Volk. Es ist erfreulich, zu bemerken, wie die Literatur sofort diese Richtung einschlägt [...]. Unter den Männern, welche neuerdings in dieser Richtung arbeiten, nimmt nun unser Bert­ hold Auerbach einen nicht unbedeutenden Platz ein, ja ich möchte ihm vor allen unseren Dich­ tern hierin die Palme zuerkennen. In den Schwarzwälder Dorfgeschichten - denn diese hatten wir im Sinne bei dem eben aus­ gesprochenen Urtheile - scheint er zunächst den Plan gehabt zu haben, das Publikum wieder auf das Volk, auf die Bauernschaft aufmerksam zu machen und namentlich auf den guten Kern, der in demselben noch liegt. Er hebt den gesunden Sinn des Volkes, der sich in dem gewöhnli­ chen Leben ausspricht, die Poesie, die in den alten Liedern sich forterhielt, den Mutterwitz, der auf Alles eine Antwort weiß - hervor und nimmt dieß Alles in Schutz gegenüber einer verfeiner­ ten Bildung, verschrobener Bücherweisheit, oder Beamtenwillkühr. [...] Doch würden sich die Leser einen falschen Begriff von den Dorfgeschichten machen, wenn sie in ihnen etwa nur eine Apologie des Landlebens zu finden meinten, wornach nur Gutes und Schönes von demselben aufgezeichnet wäre, und das Böse und Ueble verschwiegen: etwa nach Art jener Idyllen im vorigen Jahrhundert, die uns eine Hirtenwelt schilderten, wie sie niemals existiren konnte. Nein! die Dorfgeschichten enthalten eine treue Darstellung des Bauernlebens; auch die Schwächen der menschlichen Natur sind nicht dabei vergessen, wie sie denn in allen Verhältnissen wiederkehren, nur mit mehr oder weniger Modificationen. Gerade darin unter­ scheidet sich die Auerbachische Idylle von der gewöhnlichen [...]. Aber ein feiner Takt lehrt den Dichter, überall die Tugend siegen zu lassen oder Verirrungen in ihren schlechten Folgen und Ausgängen zu zeichnen, im Gegensätze zu den günstigen eines redlichen Lebens. [...] Gerade deßhalb sind die Dorfgeschichten für die Gegenwart so bedeutend. Denn das hat uns die nächste Vergangenheit auch gründlich gelehrt, daß für eine schöne Entwicklung unserer Volkszustände nur in der Ausbildung des Charakters das Heil zu suchen ist. [...] Wir sind über die Zeit hinaus, welche den witzigen geistreichen Schriftsteller auf Kosten des Charakters be­ wunderte: die Tüchtigkeit des Willens, die Reinheit der Gesinnung und die Beständigkeit des Entschlusses, mit Einem Worte die Tugend wird als ein nothwendiges wichtiges Element bei allen denen angesehen werden müssen, welche auf das Volk, auf die öffentlichen Verhältnisse wirken wollen. [2] In so ferne ist das sittliche Element, welches sich durch die Dorfgeschichten hindurchzieht, von großer Bedeutung. Natürlich verstehen wir unter der Tugend, die uns helfen soll, nicht blos die alltägliche, auf einen kleinen Kreis beschränkte, sondern die öffentliche, die Treue und Ausdauer in dem Stre­ ben nach der Verwirklichung der Idee. Doch wird die letztere immer erfolgen, wenn die erstere

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nur aus der wahren Quelle entstanden ist, nämlich aus der Menschenliebe, aus dem Mangel des Egoismus. Unser Verfasser, beschränkt auf die bescheidenen Verhältnisse eines Dorfes, kann natürlich in diesen nicht die öffentlichen Zustände behandeln. Allein wie Alles, so ist doch auch das niederste Glied in der Staatsmaschine von den politischen Verhältnissen berührt, und so finden wir denn in einer Novelle Befehlerles den gesunden derben Sinn des Volks mit der Willkührdes Polizcistaates in Conflict kommen. Es spricht sich hier namentlich in dem Haupt­ charakter, in dem Buchmeier, eine tüchtige Gesinnung, überhaupt ein wohlthuender Charakter aus. Und cs kann diese kleine Geschichte, mit dem scheinbar untergeordneten Gegenstände, welchen sie behandelt, uns schon zeigen, wie viel doch immer der Charakter, der feste Wille, die Entschiedenheit der Gesinnung vermag. [3] [...] 1 W. Zimmermann: Der Roman der Gegenwart und Eugen Sue’s Geheimnisse. In: Jahrbücher der Gegen­ wart, Jg. 1844, inshes. S. 101-02. 2 Vor allem die Haitischen Jahrbücher, das Organ der junghegelianischen Opposition, führten seit ihrem Erscheinen 1838 eine publizistische Kampagne gegen die weltschmerzlichc, subjektiv-geistreiche und »unsittliche« Richtung der älteren Opposition, d. h. gegen Heine und die Jungdeutschen. Heines Atta Troll ist die Antwort an die »Tendenzbären«, die den Charakter programmatisch über das Talent stellen. 3 s. Dok. 51, Anm. 9, S. 151.

53 (F[erdinandJ Gustav Kühne:) Vorwort [des neuen Herausgebers der Zeitschrift] Europa. Chronik der gebildeten Welt, 1846, Bd. 2, 14. Lieferung.

[...] Es gibt keine Bollwerke mehr gegen die Macht der Öffentlichkeit und der Gemeinsam­ keit Aller mit Allen. Es gibt keine Treibhäuser mehr für Künste und Wissenschaften, schon ihre Blüthen suchen nach dem Thau vom allgemeinen Himmel, ihre Früchte reifen nur an der Sonne die Allen gemein ist. Die Literatur darf nicht populär, darf nicht exclusiv sein wollen, die Sache der Nation ist ihre Sache. Neben novellistische Darstellungen wird sich in unserem Blatte vor allem die Skizze stellen die uns deutsches Land und Volk schildert. Der Deutsche ist noch sehr fremd in seiner Hcimath; cs ist noch jeden Tag mciglich Entdeckungsreisen unter uns zu machen; wir kennen noch zu wenig unsere Tugenden und unsere Gebrechen, und wenn plötzlich an ferner Grenze ein Bru­ dervolk seine Hand nach uns ausstreckt, so wissen wir diese Hand oft nicht zu fassen, zu drükken, verstehen die Bewegung nicht, wissen nicht wie tief sic greift, wie lange schon dies Feuer unter der Asche glimmt. Schilderung deutscher Stämme und Länder, deutscher Städte und Menschen, finden wir die Kräfte dafür, wird in unserem Blatte vorzugsweise gepflegt werden. Womit nicht gesagt ist, daß wir den übernommenen Titel dieser Wochenschrift nur dem Namen nach fortführen wollen. Den Deutschen ist soviel von Rom, von Frankreich überkommen, daß wir uns in Europa zurecht finden müssen, schon um die Quellen unserer verworrenen Entwikkelungzu kennen. Wächter sind der deutschen Presse so heute wie vor zehn Jahren als ich zuerst die Leitung eines Blattes übernahm, hinreichlich gestellt, Wächter voll Mißtrauen und scheeler

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Sorge, die das ernten was sie säen. Wir können das Unkraut der Zwietracht das sich immer wieder von selber säet, den in Deutschland wuchernden Argwohn Aller gegen Alle, der dadurch verschuldet wird, nicht ausjäten; wir wollen nur daran arbeiten, daß trotzdem mitten hindurch die Sache der Nation gedeiht. [•••]

54 St. René Taillandier: Über Roman und Kritik in Deutschland. (Aus der Revue des deux mondes [15. Juni 1846].) [Übersetzung.] In: Die Grenzboten 5/3 (1846), S. 17-33. Hier S. 18-19, 21-22,30-33. [...] Wer in diesem Augenblick in den Literaturen der europäischen Völker verschiedene Rich­ tungen und eine jedem Lande eigenthümliche Poesie sucht, sucht vergebens. Man könnte fast sagen, daß fremde Literaturen nicht mehr existiren. [...] Besonders ist Deutschland uns Franzosen zu ähnlich geworden, mehr als wir wünschen können. Die literari­ schen Untugenden, die Erschlaffung, die Zügellosigkeit, die sich spreizende Unfruchtbarkeit, alle Fehler, die wir bei uns zu rügen haben, haben sich in dem Vaterlande Goethe’s und Schiller’s eingebürgert. Die Phantasie ist auch dort eine von der Industrie ausgebeutete Waare geworden, und die Kunst verschwindet in dem Maße, wie die geistige Bildung der Besitz einer großem Zahl wird. [...] Die politischen Bewegungen Deutschlands sind dem Gedeihen der Poesie nicht sehr günstig. Diese Bewegungen, die unsere innigste Theilnahme verdienen, werden sicherlich von großem Gewinne begleitet sein: der Geist der Nation wird dadurch neue Eigenschaften annehmen, neue verborgene Seiten aus sich entwickeln. Aber diese Umwandlung ist mit Gefahren verbunden: es ist zu befürchten, daß gar kostbare Dinge dabei verloren gehen. Man fängt nämlich an, die alten Nationaltugenden als unbequem und gefährlich zu betrachten, weil sie oft gemißbraucht worden sind: man verspottet sie, man verleugnet den Nationalcharakter. Die Furcht, übertöl­ pelt zu werden, ist das Gift, das die Geister verdirbt. Diese Furcht ist bei einem so oft getäusch­ ten Volke wohl zu begreifen. Gleichwohl ist sie ein trauriges Symptom, ein Zeichen von Schwä­ che. Wäre es nicht schöner, die Traditionen der Vorfahren treu zu bewahren und dennoch mit Ruhe und Festigkeit die neuen Ziele zu verfolgen? [...] [...] Das Talent Auerbach’s spricht sich besonders in zarten Gemälden aus, in den ge­ schickt gruppirten Scenen von anmuthig heiterer Farbe, von naiver Wahrheit, durch welche stetseine reine, moralische Erhebung durchscheint. Zuweilen brechen auch politische Anspie­ lungen durch, aber mit welcher besonnenen Anordnung! Hierin erkenne ich den zarten Künst­ ler. Die Rechtschaffenheit, die Gradheit seiner Bauern, das naive Bewußtsein ihrer Rechte spre­ chen sich ohne Prunk aus, in achter Gutmüthigkeit. Das schöne Lied Uhlands über das »alte Recht« [1] könnte den Hauptstücken der Sammlung zum Motto dienen. Nordstetten hat seine

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Patriarchen, die in allen Sachen, die das gemeine Recht betreffen, eine große Autorität besitzen. Der Oberamtmann darf es sich nicht herausnehmen, neue Gebräuche einzuführen und die alten Freiheiten zu beschränken; er wird einer verständigen, zähen Opposition begegnen. Einer jener stets zu Rathe gezogenen Rechtskundigen, einer jener Vertheidiger der Gemeinde, ist der »Buchmaier«. [...] Doch der Buchmaier ist nicht immer tadellos; oft legt er die Gerechtsame, die er vertheidigt, auf eine engherzige Weise aus und hält seine Vorurtheile für wirkliche Rechte. Zum Glück wird der Schulmeister, der von ihm sehr schlecht empfangen wird, diesen ehrlichen, aber beschränkten Volksverstand, der oft so sehr zur Unzeit eigensinnig ist, berichtigen. So ent­ wickelt sich in diesen verschiedenen Bildern die Einheit dieser liebenswürdigen Chronik, das lebendige Archiv einer kleinen Gemeinde, die man wachsen und sich vervollkommnen sieht un­ ter der Leitung ihrer würdigsten Mitglieder, unter welchen besonders der Seminarist Ivo und der Schulmeister von Lauterbach sich auszeichnen. Ich habe genug gesagt, um das innere Verdienst dieses Werkes und seinen raschen Erfolg be­ greiflich zu machen. Jenes Verdienst liegt in der Verschmelzung der Neuheit mit einem kindli­ chen Anschmiegen an die guten literarischen Ueberlieferungen. Das sind wahrhaft deutsche Bil­ der, und doch wird man ihnen nicht den übermäßigen Idealismus, die gefährliche Indifferenz vorwerfen, die in der letzten Zeit so lebhafte Reaction hervorgerufen. Um diesem Idealismus zu entgehen, um sich zu den Kämpfen des practischen Lebens vorzubereiten, hat sich Deutsch­ land verleiten lassen, seinen Genius zu verleugnen; es hat zu einer Literatur ä la Voltaire die Zuflucht genommen, die ihm nie zusagen wird; es haben sich mancherlei Schulen mit Geräusch gebildet, welche Ironie und Spott als ein heilsames Mittel gegen die berauschenden Verlockun­ gen des Mysticismus empfohlen haben. [...] Verständige Geister erkennen jetzt, daß man sich auf einen falschen Weg verlor; der Erfolg Auerbach’s ist ein beruhigendes Symptom [...]. Herr Auerbach wird in diesem kleinen aber reichen Gebiet viel mehr wirken, als auf den unge­ sunden Wolken falscher Träumereien. Der Künstler hat dabei gewonnen; das Studium der Wirklichkeit hat ihm Feinheit und Abrundung gelehrt; auch der Philosoph hat dadurch neue Vorzüge erworben, klarere Gedanken und eine eindringlichere Moral. Endlich ist dieser kleine Erdwinkel ein ächt deutscher Boden und da unsere Nachbarn mit den Sorgen ihres politischen Lebens und den nahe bevorstehenden Umwandlungen in demselben beschäftigt sind, welche schönere Aufgabe für einen ächten Künstler gibt es da, als das Vaterland zu besingen und sich an alle rechtmäßigen Wünsche einer neuen Generation anschließend die Kette der nationalen Dichtungs-Traditionen, welche ein blinder Zorn zerbrochen hatte, wieder anzuknüpfen. [...] Ein Voltairisch gewordenes Deutschland würde uns Franzosen wenig Ehre machen. Möge es etwas von unserm Geist, den graden Verstand, die Klarheit der Ansichten annehmen; möge es von uns die aufrichtige Anhänglichkeit an die großen Principien der modernen Welt, an die Eroberungen von 1789 lernen. Aber in dem Ausdruck seiner Ideen, in seiner Poesie und Kunst, möge es ja die ihm eigene Form behalten. Es ist nicht gut, daß die Völker ihre Kleidung i vertauschen, sie werden das Kleid des Nachbarn immer ungeschickt tragen. Wir würden bei | uns den Dichter tadeln, der durchaus deutsch würde, eben so wenig aber können wir selbst mit: den Dichtern und Romanschreibern jenseits des Rheins zufrieden sein, die ungeschickt den 1 französischen Geist nachahmen. Wir suchen die Originalität, diese kostbare Blume der Kunst,

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deren Samen auf dieser durch die Verbindungen der Völker schon so sehr geebneten europä­ ischen Erde täglich mehr verloren geht. Sollte sie nicht wieder aufleben können? Sie würde es, wenn der Schriftsteller, ohne den Ideen seines Jahrhunderts fern zu bleiben, die Tradition, den lebendigen Geist des Vaterlandes bewahrte. Sie würde in dem bescheidensten Winkel der Erde, im Schatten einer Dornhecke emporblühen. Darum habe ich auf den glücklichen Versuch des Herrn Auerbach ein solches Gewicht gelegt. 1

Das gute alte Recht, zuerst anonym veröffentlicht (1816), dann als Nr. 2 der Vaterländischen Gedichte von Ludwig Uhland (1817). Das Gedicht beinhaltet und fordert die Garantien der alten ständischen Landesverfassung Württembergs, nachdem König Friedrich diese Verfassung zuerst außer Kraft gesetzt hatte (1805), dann sie durch eine gnadenhalber gewährte neue Verfassung ersetzen wollte.

Der Liberalismus und die Ästhetik des »Volkstümlichem

55 Berthold Auerbach: Schrift und Volk. Grundzüge der volkstümlichen Literatur, an­ geschlossen an eine Charakteristik J[ohann] Pfeter] Hebel’s, Leipzig 1846, S. 17-18, 57-58, 78-81, 83-84, 87-88, 90-91, 93, 113, 117-20, 127-32.

Das Volksthum ist die innerste Lebensbedingung in allen Kreisen eines Nationalkörpers, dennoch aber findet es sich in seiner eigentümlich besondern Ausprägung wesentlich in dem sogenannten gemeinen Mann. In dieser Beziehung läßt sich von einer volksthümlichen Literatur reden, die nicht sowol ein Gegensatz zur nationalen, als vielmehr ihr ursprünglicher Ausgangs­ punkt ist. [...]

Betrachten wir nun weiter das Verhältniß des Einzelmenschen zur Darstellung des Volks­ tums, so muß diese für den Dichter ein Cultus sein. Gehalten in seiner endlichen Individualität, erhebt er sich da zur unendlichen Individualität eines Volksstammes. Das erheischt eine Demuth und Hingebung, ähnlich der religiösen. Es darf nicht in die Dichtung hineingetragen werden, was dem Individuum in den Sinn kommt; es muß seine Sendung nach den Gesetzen des Volksgeistes erfüllen, die in ihm individuell sich gestalteten, aber auch als allgemeine außer ihm stehen und über dasselbe herrschen. Das Volksthum ist nirgends greifbar in der Wirklichkeit der Einzelmenschen, das Volk ist in Stände und Besonderheiten aller Art gespalten; das Volksthum ist in keinem Einzelnen ganz, aber in Allen, es ist die Gemeinseele. Wir können hier das Verhältniß des Individuums zum Allgemeingeiste erkennen. Jeder ein­ zelne Mensch ist als Individuum frei, unabhängig, schafft und handelt selbständig, rein aus sich heraus; er trägt aber in und mit dem individuellen Geiste auch den allgemeinen Geist in sich. Dieser allgemeine Geist ist in keinem Individuum absolut dargestellt, der Volksgeist, der Geist der Menschheit, der Geist Gottes steht in und außer ihm. Je reiner sich das Individuum entwickelt, um so mehr wird der allgemeine Geist in ihm erlöst, um so mehr wird es in ihn hineingehoben, eins mit ihm. [...] Das Volksthümliche und die romantische Schule.

[•••] Es war gegen Ende des vorigen und zu Anfang unsers Jahrhunderts, als die romantische Schule das Volksthümliche wieder aufzuerwecken trachtete. Man tauchte in die Vergangenheit unter, in welcher noch eine in sich geschlossene Weltanschauung die Gesammtheit beherrschte, in welcher das Individuum sich noch nicht so frei ablöste, sondern sein wesentliches Gepräge

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noch von Gemeinzuständen empfing. Mit überschwänglicher Phantasie wurden bunt glänzende Bilder des Volkstümlichen dargestellt, daneben mit sprudelndem Witz der Stolz der theoreti­ schen Vernunft gegeißelt, die die Welt nach ihrem dürren Schema umzumodeln trachtete, die, aus der Abstraction heraus, alles Natürliche, organisch nach eigenen Gesetzen Erwachsene, als unberechtigt umstoßen wollte. So vollkommen berechtigt - geschichtlich und rein vernünftig - dieser Gegenkampf der Romantiker erscheint, eben so verkehrt ist jene Sehnsucht nach einer Vergangenheit, jenes Zurückschrauben auf dieselbe, wenn es mehr sein will als bloße momentane Stimmung. Es geht im Leben der Völker wie in dem einzelner Menschen. Viele sehnen sich nach der ent­ schwundenen Jugendzeit, da sie noch einig waren mit der Welt, noch glaubten, hoffnungsreich schwärmten. Aber vergebens. Jedes Leben hat seinen nothwendigen Fortschritt. Die schöne Blüthe muß zur Frucht werden, die in ihrer Vollendung noch die Blüthe in sich hegt. [.••] Von nationaler Seite betrachtet erschien die Romantik nicht als eine natürliche Blüthe des Volkslebens, ja nicht einmal in ihren Vertretern zeigt sie sich als eine Forderung des in ihnen verkörperten Nationalgeistes. Im Gegentheil, man ging in leckerhafter Kunstgenießerei bei al­ len Nationalitäten zu Gaste. [....] Die kernhafteren Erscheinungen und Gestaltungen des deutschen Volkslebens wurden nicht deshalb heraufbeschworen, weil sie ein nationales Ureigenthum waren, weil das allgemein Menschliche in ihnen ein eigenthümliches Leben gewonnen hatte; man fand Wohlgefallen an diesen Zuständen, weil sie zeitlich fremd waren, wie man sich an dem örtlich Fremden ergötzte. Menschen, die kein Herz für das Volk hatten, für seine niedergetretenen Rechte, seine verlo­ rene Größe, seine Jahrhunderte lange Knechtung, sein Leiden und Hoffen - sie trieben ein er­ götzliches Spiel mit willkürlichen Gebilden, die sie in die Kreise des Volkslebens versetzten. [...] Aus einer innern, wohl selbstbewußten Nothwendigkeit konnten darum auch die Romanti­ ker nur äußerst selten Menschen mit alltäglichen Lebensbeschäftigungen zu Helden wählen, um an ihnen die Höhen und Tiefen von Leid und Freud aufzuzeigen, im Gegentheil, sie hielten sich am liebsten an ganz subjective Naturen, oder wenn sie darüber hinausgingen vorzugsweise ja fast ausschließlich an Musikanten, Schnurranten etc. Mit diesen konnte man schon leichter umspringen, die Menschen und die Natur sich possirlich vor ihren Augen drehen lassen und allerlei seltsamen Spuk treiben. Auch andererseits blieben die Romantiker subjectiv und konnten darum die Gestalten, die ihnen vorschwebten, nicht emancipiren, nicht dramatisch frei für sich auftreten lassen. Der Unterbau ihrer Werke ist meist so luftig und kunstreich durchbrochen, daß sie nicht in sich ru­ hen könnten, sondern von außen gehalten werden müssen, dabei aber selten einen wirklichen Ausbau zu tragen vermögen. Sie haben aus ihrer reichen Phantasie so viel Glanz und Wunder­ lichkeit um ihre Figuren gewoben, daß sie dieselben fast nur schildern, nicht für sich gebaren lassen können. Solch ein Held, der aufträte und spräche, wie es seine Verhältnisse und seine Bildungssstufe erfordern, würde oft die ganze um ihn gebaute Überschwänglichkeit über den Haufen werfen. Darum bleibt er an den Autor gebunden, der für ihn auftritt. Wir sehen die

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Welt nur spärlich auf eine neue eigenthümliche Weise mit den Augen des Helden, sondern fast immer mit denen des Dichters und der Held selber muß sich oft ironisiren lassen. Ja, der ironi­ sche Standpunkt der Auffassung ist - wo man nicht Altes auffrischte - bei neuen Schöpfungen der vorherrschende; es ist, als ob der Autor sagen wollte: ich bin noch viel gescheiter, ich weiß noch viel mehr u. s. w. als diese meine Gestalten; ich begnade sie nur mit meinem Wohlwollen. Da fehlt dann die Liebe, die eins wird mit ihrem Gegenstände. [...] Das Volksthümliche verlangt ein völliges Zurücktreten des Autors und es ist nicht ohne Bedeutung, daß wir oft von den besten Gebilden in diesen Kreisen die Namen der Urheber nicht mehr kennen. Die romantische Schule konnte sich nicht zur Selbstentäußerung bringen. Wo sich in der Romantik ein politischer Grundsatz bildete, der noch heutigen Tages in man­ chen hochgetragenen Köpfen spukt [1], da möchte man gerne das zeitgenössische Leben auf einen willkürlich ausersehenen feudalen Punkt zurückführen. Weder die Gegenwart mit ihren Forderungen, noch diejenige Vergangenheit findet eine Anerkennung, wo das gegliederte Staatsleben seine festen unentwendbaren Rechte hatte. Man möchte jetzt gerne eine büreaukratische Monarchie und dabei doch ein gegliedertes Staatsleben, gerade wie die ästhetischen Genußmenschen in der Romantik für sich die ungebundenste Subjectivität beanspruchen, vom Volke aber eine völlige Unterordnung und Hingebung an Autoritäten verlangen. Der Romantiker findet es schön, wenn das Volk allerlei alten Aberglauben nachschleppt, er selber kümmert sich um alles das nicht und buhlt mit allen Göttern, findet aber an den poeti­ schen Vorurtheilen des Volkes einen ästhetischen Genuß. [...] So sehr nun auch die Romantik sich von dem Volksthümlichen entfernte, ist es doch wie­ derum der von ihr ausgehende poetische Hauch, der uns vor dem schmutzigen Realismus der Nachbarvölker bewahrt. [...] Unbestritten bleibt zugleich auch den Romantikern das Verdienst, das alte Volksthümliche wieder erweckt zu haben. [...] Der Kampf der Romantiker gegen die abstrakten Theorien, die alles Leben nach ihren Programmen abschnurren lassen wollen, dieser Kampf setzt sich noch fort in dem modernen Dichten und Trachten. Wir wollen Gestalt und Gehalt der Gegenwart nicht zurückschrauben in die politischen, kirchlichen und socialen Zustände der Vergangenheit - so bequem und anziehend sie auch er­ scheinen mögen, eben weil sie in sich abgeschlossen und fertig sind - wir wollen aber, daß die Kanzlei- und Schulweisheit das heilig halte, was der Volksgeist aus sich selber erzeugt hat, daß die Staatsmaschine vor dem organischen Leben zurücktrete. Mit der Berufung auf das geschichtliche Volksgemüth und seine unantastbaren Wahrzeichen in Sitten und Bräuchen treten wir der mit Ordonanzen gerüsteten Büreaukratie, wie dem nagel­ neuen in der Brust Einzelner ausgeheckten Radikalismus entgegen, denn beide treffen von ent­ gegengesetzten Seiten in der Despotie zusammen. Der Jahrtausende alte Volksgeist bequemt sich nicht nach den Theorien, die einzelne Hoch­

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weise aushecken. [...] Sollen dem Volke seine natürlichen und geschichtlichen Denkmale nicht nach der neuen Denk- und Sprachlehre corrigirt werden, sondern aus sich heraus neue Formen gewinnen, so muß mit dieser Anerkennung des vergangenen Geschichtlichen auch die des Zeitgeschichtlichen sich verknüpfen. Die Freiheit des Individuums ist der vorherrschende Charakter unserer Zeit. Es läßt sich nicht mehr Alles im Gemeinbegriffe zusammenfassen, und halten, jeder schafft sich mehr oder minder seine innere und äußere Welt. Daß das freie Individuum Formen und Ein­ richtungen finde, in denen es sich selbständig mit dem Gesammtwillen zusammenschließe und von ihm getragen fühle, das ist Aufgabe des modernen staatlichen und religiösen Lebens. Selbsterkenntniß des Volkes ist hiezu der erste Schritt und dies die erste Aufgabe der volksthümlichen Literatur. [...] Wir Deutschen haben keinen nationalen Mittelpunkt, wir haben keine Typen des National­ lebens. Wir sind auch darin das Weltvolk, daß wir nicht nur das Fremde leicht in uns aufneh­ men, sondern auch in uns selber die größte Mannichfaltigkeit darstellen. Seit lange nur auf die innere Freiheit des Individuums hingewiesen, die nicht zu fesseln und zu binden ist von äußeren Gewalten, hat sich das individuelle Leben, losgetrennt von aller Gemeinsamkeit, bei uns am unfügsamsten ausgebildet. So bei einzelnen Menschen, so bei den Volksstämmen. Der Schritt über die subjektive Poesie hinaus zur provinzialen bezeichnet schon ein Eingehen in eine Gemeinsamkeit. Ist es nun wol eine zu hoch getriebene Erwartung, wenn wir von der provinzia­ len Poesie aus den Gang zu einer erneuten volksthümlichen und nationalen erwarten? [...]

Schiller’s Ideal eines Volksdichters. Idealistische und realistische Dichtungsart. [Auerbach zitiert aus Schillers Bürger-Rezension die Stellen, die sich um folgende Punkte drehen: Der Volksdichter soll »Situationen und Empfindungen wählen, die dem Menschen als Menschen eigen sind«, er soll »das Leidenschaftsbedürfniß, das der Alltagspoet so geistlos und oft so schädlich befriedigt, für die Reinigung der Leidenschaften nutzen«, er soll die »Idealisirung seines Gegenstandes« betreiben.]

Diesen erhabenen Aussprüchen gegenüber, an denen man wie zu einem heiligen Vorbilde aufschauen muß, darf man es kaum wagen, etwas hinzuzusetzen, sie sind erschöpfend; nur einige Andeutungen in Bezug auf die Gegenwart seien gestattet. Man ersieht aus dem Angeführten, wie aus anderen ästhetischen Aufsätzen, wie sehr auch Schiller die Versöhnung von Idealismus und Realismus zur Bedingung der lebendigen Poesie setzte. Wie schroff stellt sich die Gegenwart diesen ewigen Anforderungen gegenüber. Der »Kunst­ form«, wie man es nennt, soll man sich wesentlich nur noch bedienen, um diese und jene Ideen und Zustände an den Mann zu bringen; je greller und mißtönender, desto besser. Die realistische Seite der Poesie soll so stark vorgekehrt werden, daß auch die Poesie wie die meisten Lebenszustände keinen Abschluß in sich finden können. Eine bloße Tendenzdichtung, die, statt allgemeiner Sätze, Personen und Ereignisse als Beweisführungen gruppirt, eine solche mag vorherrschend bei den dunkeln und unfertigen Par­ tien des Zeit- und Weltlebens verweilen; sie mag dann mit einem mißtönenden, grellen Klange

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plötzlich abbrechen, gerade um dadurch anschaulich zu machen, wie düster, unfertig und un­ harmonisch die Zustände des Lebens sind. Ein Kunstwerk dagegen muß zu einem in sich ver­ söhnten Abschlüsse gelangen. Zu diesem Behufe müssen die Lichtseiten in all dem grausen Wirwarr bestimmt hervorgehoben werden, weil in ihnen die Strahlen der endlichen Versöhnung ausströmen. Der Dichter richtet und ordnet auch die auf der Wirklichkeit von ihm auferbaute Welt nach höheren Gesichtspunkten, er schaltet frei, er kann und soll abschließen, wo die Wirklichkeit noch bei der Halbheit und Zerrissenheit verharrt. Wie er Stimmungen und Cha­ raktere zu Consequenzen führt, die sie vielleicht äußerlich nie gewonnen, so kann er auch die Ereignisse zu einem Abschlüsse führen, den die baare Wirklichkeit noch nicht gibt. Das kann er aber nur, wenn er einen bis zu einer gewissen Festigkeit erlangten Boden hat und nicht erst gestern angeschwemmtes lockeres Land, das vielleicht morgen die Fluth wieder verschlingt. Beziehungen und Kämpfe, die noch durchaus keinen Abschluß ertragen, die jeder vorgreifenden Lösung widersprechen und bei denen der Dichter an eine außerhalb der Poesie liegende Macht (an die Zukunft der Geschichte) appelliren und ihr den Abschluß anheim stellen muß, den er nicht prophetisch zu ahnen wagt — solche sind nicht Gegenstand der Poesie. Man kann hier durch Gestaltungen die Debatte beleben, ein Kunstwerk aber nicht daraus bilden. Die strengen Politiker freilich kümmern sich wenig um dieses letztere, sie wollen die Dichtung feuilletonisiren, die Dichtung soll die Erörtertung des Zeitungstextes in Gestalten ausführen, oder auch nur die Erörterungen den Gestalten in den Mund legen. In Deutschland namentlich, wo der Erörte­ rung so empörende Schranken gesetzt sind [2], findet dieselbe bisweilen noch eine ungehinder­ tere Entfaltung unter dem »poetischen Gewände« und hiermit auch ein Eindringen in Kreise, die für theoretische Erörterung als solche unzugänglich sind. Was kümmert sich eine einseitige Politik um die Barbarei in der Kunst? In dem Bankbruch der Gegenwart soll auch die Kunst mit draufgehen.

[•••] Die tragische Schlußwendung der Volksgeschichten.

Mit dem realistischen Charakter der Volksgeschichten ist auch die meist tragische Wendung derselben verbunden. Dies liegt aber nicht nur in dem Anschlüsse an die äußere Wirklichkeit, sondern auch in der innern, rein idealen Folgerichtigkeit der schöpferischen Phantasie begrün­ det. Alle Geschichte, die äußerlich wie die ideal wirkliche, bewegt sich innerhalb des Gegensatzes. Das in sich verschlossene Naturleben, das rein und frei sich aus seinen eigenen Gesetzen entwikkelt, in gegensatzloser Unschuld, wo die Begriffe von gut und böse noch nicht statt haben, weil hier der reine Standpunkt des Naturgemäßen inne gehalten wird, Alles dies hat noch keine Geschichte, die sich erst durch den Conflikt der Gegenseitigkeit erzeugt und beim Menschen alsbald mit dem Gemeinleben beginnt [...]. Alles Leben verzehrt sich und nur die ewigen Gesetze bleiben; diese in Gestaltungen heraus­ treten zu lassen, ist Aufgabe der Poesie. Mit der Beendigung des Kampfes hat die Poesie ihr Endziel erreicht und hebt sich selbst als Poesie auf. Wird die Leidenschaft und ihr Gegensatz absolut gefaßt, so können wir menschlich bedauern, daß es zur tragischen Selbstverzehrung

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führt, poetisch nothwendig aber ist es. [...] Die tragische Endung des absoluten Confliktes kann und muß auch die Versöhnung in sich tragen, wenn sich diese auch nicht in einer bestimmten Formel fassen läßt; sie mag uns jenes Rauschen der Urmächte vernehmen lassen, das sich unter der Oberfläche des Lebens bewegt, und hat damit genug gethan. [...] In den dunkeln Waldesgründen und an Bergeshängen gibt es noch Charaktere wie die wilden Rosen, einblättrig und offen bis in den Herzensgrund, und Weißdornblüthen, die nur in einer Sturmnacht aufbrechen. Hier ist die Herrschaft der halben Zustände, der relativen Hingebung, die sich in der Re­ flexion einen Hinterhalt wahrt, noch spärlich. Hier ist noch Lachen und Weinen, Jauchzen und Klagen, herzhaft, ohne Zurückhaltung. Die Leidenschaft hat hier noch ihren vollen Muth, man weicht ihr nicht aus, sie wird hier leicht zur absoluten, das ganze Sein brennt in ihr und verzehrt sich. [...] Darum brachte es auch eine innere Folgerichtigkeit und nicht eine Mode mit sich, daß man Charaktere aus dem Volke wählte, die noch einem einzigen Gedanken ihr ganzes Sein widmen, um an ihnen rein menschliche oder sociale Conflikte bis zur tragischen Vollendung durchzu­ führen. [...] 1 vermutlich Anspielung auf romantisch-restaurative Tendenzen des preuß. Königs Friedrich Wilhelm IV., der 1840 die Regierung angetreten hatte. 2 durch behördliche Zensur der Druckerzeugnisse.

56 Ferdinand] Kürnberger: Ein Votum über die Literatur der Dorfgeschichten. In: Oesterreichisch-Kaiserlich-privilegirte Wiener-Zeitung, Jg. 1848, 15.-16. Jan., S. 65-66, 71-72. (Neudruck Kürnberger: Gesammelte Werke, hg. v. Otto Erich Deutsch, Bd. 2., neue, wesentlich verm. Ausg., München u. Leipzig 1911, S. 351-61.) ]am satis...

[...] Definire ich mir das peinliche und unbehagliche Gefühl recht, das mir die Dorfpoesie verur­ sacht, so ist es die Empfindung eines Fragmentarischen. Nicht als ob einem Auerbach’schen Gemählde selbst gewisse wesentliche Theile zu seiner Ganzheit abgängig wären; im Gegentheil - sie sind sämmtlich classisch in sich vollendet und durch und durch fertig bis zur lebendigsten plastischen Anschaulichkeit - aber sie sind unvollendet und unfertig im Verhältniß zur großen Weltsumme überhaupt, davon sie nur Bruchtheile geben. Die Aufgabe der Kunst ist die volle und erschöpfende Repräsentation der Welt-Idee in einer gewissen Summe sinnlicher Erschei­ nungen [...].

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Das Kunstwerk in seinem strengsten unerläßlichsten Begriffe muß sich zur Welt verhalten, wie die Kontur zum Körper, der Aufriß zum Gebäude, die Nationalversammlung zur Nation. [...] Man hat die innere Mangelhaftigkeit der Dorfpoesie dadurch zu bezeichnen geglaubt, daß man sie Local- Poesie nannte. Aber dieser Ausdruck ist nicht das rechte Schlagwort. [...] Nicht eine äußere, räumliche Beschränkung ist es, sondern eine innere, sittliche, die uns die vorge­ stellte Person entfremdet; nicht weil dieser Bauer im Schwarzwalde und jener im Böhmerwalde sein Land baut, wird uns seine Welt zu enge, sondern weil er eben ein Bauer ist; kurz nicht eine Local- Poesie, sondern - um mit einem Mahle das harte Wort zu nennen — eine weit ärgere Stände-Poesie ist es, welche durch die Dorfgeschichten vorgestellt wird. [...] Die Kunst ist be­ rufen, die sämmtliche Menschheit als einen einzigen Körper zu repräsentiren, und Auerbach und Rank [ 1 ] haben sie in Kammern getheilt und sich selbst an die Spitze des durch sie separirten tiers-etat gestellt. Wir können das nicht gelten lassen. Mögen die ehrenwerthen Landleute in ihrer Section auf’s musterhafteste dastehen — wir alle wissen, um wie viel besser es ist, wenn sie überhaupt in keiner eigenen Section stehen, sondern sich auflösen und untergehen im Begriffe einer allgemeinen Vertretung der Menschheit. Diese Universalität der Welt-Darstellung und sie allein und zuvörderst ist es, die das Wesen des Dichters in sich begreift, und seine poe­ tische Sendung in höchster Potenz beurkundet. Goethe’sche Charakteristik und Objectivität ist die seltenste Vollkommenheit nicht, die sich an dichterischen Producten offenbaren kann - ich spreche sie unsern jungen Meistern unbedenklich zu - aber das ist’s was Goethe - mit Aus­ nahme Shakespeare’s - zum größten Dichter aller modernen Zeiten und Völker machte, daß er einer so complicirten, vielgegliederten, tausendseitigen Welt ihre einfachsten und bedeuten­ desten Momente absah, daß er in dem verworrenen Knäuel den leitenden Faden entdeckte, der in jede einzelne Brust hineingriff, an dem das gesammte Dasein in all seinen Erscheinungen und Widersprüchen hing, daß er klar und groß ohne ins Specielle herabzusinken die Hauptsumme zog aus all den ganzen und gebrochenen Zahlen unserer irdischen und geistigen Interessen mit einem Worte: daß er gerade das für die gesammte Menschheit war, was der Dorfpoet für ein einzelnes Glied, für eine besondere Schattirung derselben. Man hat die Dorfpoeten vorzugsweise im Gegensätze zu einer verbildeten, französirenden, verderbten Literatur-Richtung so gesund und erquicklich gefunden, daß man ihnen mit einem Jubelruf freudig in die Arme sprang. Ist aber dieser Gegensatz wirklich vorhanden? Wenn wir von der bloß äußern Erscheinung absehen, die zwischen der Adelsclasse und dem Bauernstand allerdings einen formalen Unterschied darstellt - ist ein solcher Gegensatz in Ansehung der Kunst selbst vorhanden? Ist es im Principe, ist es für die Decadence der Kunst nicht ein- und dasselbe, daß überhaupt ein einzelner Stand repräsentirt wird, gleichviel weicher? Ich denke die Antwort kann nicht parteyisch ausfallen, - und weit entfernt also, daß unsere Dorfpoeten zu den Vornehmen in einem Gegensatz sich verhielten, so steht unser geliebter Berthold Auer­ bach - das Wesentliche ins Auge gefaßt - geradezu auf Einer Linie mit der Gräfin Hahn-Hahn [2]. Jener repräsentirt die Bauern, diese die Aristokratie, beide aber sind sich darin gleich, daß sie, statt der gesammten Menschheit, einen einzelnen besondern Stand derselben vertreten und die Poesie particularisiren.

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[...] Erinnern wir uns noch des ersten Gefühls bei Lesung der Dorfgeschichten, so empfan­ den wir ungefähr dasselbe, was wir empfinden, wenn wir dem Treiben der Thiere oder der Kin­ der zusehen. Das Wohlgefallen an der Äußerung der unmittelbaren Natur, verbunden mit dem schmeichelhaften Innewerden unserer Überlegenheit. Das sind aber die Eindrücke nicht, die uns die Kunst in ihren Schöpfungen mittheilen soll. Nicht die unmittelbare Natur, sondern die in uns moralisch-freie und selbständig reproducirte Natur wollen wir im Kunstbilde anschauen; nicht Überlegenheit wollen wir inne werden, sondern Gleichheit mit dem vorgestellten Cha­ rakter. In dieser letzteren Rücksicht berührt sich Dorf- und Salonpoesie noch näher. Denn wenn die Gräfin Hahn-Hahn ihre Gebilde zu Aristokraten macht, an deren geistige Gourmandise, an deren sublimen haut-goût unser gewöhnlicher Geschmackssinn nicht hinan reicht, so macht Auerbach uns selbst zu Aristokraten, indem er seine Menschen in eine Sphäre der Unentwick­ lung stellt, über die wir erhaben sind, und uns nothwendig erhaben fühlen müssen. [...] Es ist gesagt worden, daß für den Menschen nur der Mensch der würdigste Gegenstand künstlerischer Darstellung sei, und fast überflüssig zu ergänzen scheint es: der Mensch im Zustande der Cultur. Denn außer diesem hört er überhaupt auf ein Mensch zu sein, sondern wird etwas Fremdes, ein Wesen, in dem wir unser Bild etwa nur noch naturhistorisch erkennen, mit dem wir nicht weiter Zusammenhängen, als durch die Bande des Abscheues oder der Hoff­ nung. Cultur aber ist die Entwicklung der menschlichen Seelenkräfte zu geistiger Selbstständig­ keit und Mündigkeit. Cultur ist moralische Freiheit - Bewußtsein. Cultur ist ein wesentlich integrirender Theil zum Begriffe des Menschen — ja der Mensch selbst. [...] [...] Darin aber liegt eben der Nachtheil der Dorfpoesie, daß sie so unharmonisch sich zur gesammten Volksbildung verhält. Dieser Uebelstand ist es, der alle Wirkungen einer so großen und vortrefflichen Darstellungskunst so zweifelhaft und schwankend macht. Denn stellt sich nicht auf jedem Schritte, mit dem wir den ländlichen Helden begleiten, der Gedanke als Schei­ dewand zwischen uns und ihn: Würde dieser Mann noch eben so fühlen und denken, und in dieser und jener Lage handeln, wenn ihm das Bewußtsein über sich selbst und die Welt aufge­ gangen wäre? Wie er jetzt fühlt und denkt, ist nur bedingt menschlich, ist nur menschlich unter dem Gesetze seiner gegebenen Einfalt, und geht Niemanden näher an, der außer diesem Gesetze steht, wie er aber denkt und fühlt, wenn er zum Tage seiner geistigen Freiheit erwacht ist, das ist absolut menschlich, das ist reinmenschlich und geht Alle an. [•••I 1 s. Autorenbiographien 2 Gräfin Ida Hahn-Hahn (1805-80) schrieb vor 1848 eine Reihe von Romanen, in denen sie nach dem Vorbild von George Sand Emanzipationsprobleme der gebildeten Frau aus der höheren Gesellschaft dar­ stellt. Weltschmerzlicher Titanismus und ein gesuchter, an französischen Wörtern und Wendungen überreicher Stil überdecken bei ihr weithin das Emanzipationsthema.

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57 Carl Dolde: Gegen ’ein Votum über die Literatur der Dorfgeschichten v[on] Ferdinand] Kürnberger’. In: Der Wiener Zuschauer. Zeitschrift für Gebildete, Jg. 1848, 9. Febr., S. 173-75. Hier S. 174-75. [...] Nur das Ganze der Poesie kann in alle Sphären eingreifen und den Charakter der Ganzheit an sich tragen. Der Vorwurf, daß die Dorfpoesie sich in einem beschränkten Raume bewege, ist daher keiner; sie trägt als Theil zur Ergänzung von jener bei. Sie dürfte uns gerade das seyn, was den Alten die Idylle war. Herr K. meinte, »die vorgestellte Person entfremde, eben weil sie ein Bauer sey;« dieser sey ohne Kultur, aber Kultur nennt er »entwickelte moralische Freiheit.« O unendlich arme Welt, wenn der Bauer ohne Kultur in diesem Sinne ist, und die Millionen aus andern Ständen mit ihm, die auf gleicher Stufe stehen. Es ist klar, daß Herr K. die Kultur, die ihm doch moralische Freiheit ist, gleich wieder mit materieller und wissenschaftlicher Bildung verwechselt, gerade wie er Weltidee und Ideales, Kunst und Kunstwerk nicht unterscheidet. Nicht durch die Wis­ senschaft wird der Mensch zur Moralität erzogen, sonst müßte der wissenschaftlichste Mensch der sittlichste, und also Humboldt ein wahrer Heiliger seyn, sondern durch Religion und Gesellschaft; die Wissenschaft befestigt ihn höchstens darin. Ich frage aber, ob die Umgebung des Bauers eine schlechtere immer ist, als die des gebildeten Städters, oder ob ihm eine andere, minder werthvolle Religion geboten wird? Oder hat nur der Philosophirende moralische Frei­ heit? dann wären noch Tausende der sogenannten Gebildeten, die nicht philosophiren, morali­ sche Sklaven. Ja nicht einmal zur Bildung des Verstandes ist die Wissenschaft unentbehrlich, sie erhebt ihn nur auf eine höhere Stufe. [...] Die Dorfpoesie ist das Kind unserer gebildeten Zeit, welche die letzte Schlacke des Mit­ telalters abstreift, das nicht einig mit sich war, ob es den Bauer, wie die Römer, für eine Sache oder für einen Menschen halten solle und ihn zum - Leibeignen machte. Sie hebt ihn - den Men­ schen - zu uns, den Menschen, herauf. Wer aber wie Herr K. die Dorfdichtung darum verwerfen will, weil ihre Personen auf einem niedrigem Grade der Bildung stehen, der muß dem Poeten auch das Zurückgreifen - nach historischen Stoffen verbieten. Die Gestalten der Vergangenheit stehen oft in dem, was wir gewöhnlich unter Kultur verstehen, und wie auch Herr K. zuletzt den Begriff nimmt, so weit unter uns, wie der Bauer jetzt, und dieser kann in seinem engen Kreise gar wohl die Charaktergröße eines Brutus, Hermann, Götz u. s. w. haben, denn das Wechsel­ spiel des Schicksals im Dorfe kann für ihn das werden, was das Schicksal von Tausenden für einen Hermann war, und die schlummernde Kraft seiner Seele zu einer starken Flamme anfa­ chen. Was er dann Großes denkt, fühlt und thut, bleibt groß und interessirt uns, wenn es auch nicht auf Millionen hinwirkt, sondern nur auf ein paar arme kindliche Menschen. [...]

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58 Ferdinand] Kürnberger: Literarische Charaktere. Leopold Kompert. In: Literatur­ blatt. Beilage zu den Sonntagsblättern 2/12, Wien, 10. Sept. 1848, S. 49-52. Hier S. 49-51. Wie der französischen Revolution, als bedeutungsvolles Vorzeichen, der Umschwung der Philosophie durch die Enciklopädisten voranging, so war die schöne Literatur, und zwar die Poesie der Dorfgeschichten das Symptom der Revolution in Deutschland. Eigenthümlich und neu war die Erscheinung wie plötzlich ohne Verabredung, ja ohne Bewußtsein und Tendenz eines politischen Zweckes deutsche Schriftsteller anfingen, das schlichte Volk der Wälder, den Bauern bei seinem Pfluge, die Magd bei ihrem Spinnrade, den Knaben in der Dorfschule zur Herrschaft der deutschen Literatur zu berufen. Neu nenn ich diese Erscheinung, denn das trat anders auf, als Geßners süßliche Spielerei, anders als Voßens homerische Reminiscenzen [1], das griff tief, breit, energisch mit des Geistes und Herzens heiligstem Ernste in das Innerste des urdeutschen Volkslebens das griff sein Werk an mit der Ueberzeugung eines Christus für die Erlösungsthat, eines Columbus für die neue Welt Amerika, das dröhnte wie eine Postulation des ewigen Rechtes an die Throne der schlafenden Könige, an die Thüren der deutschen Volks­ kammern, - das war Demagogie im bedeutendsten Sinne des Wortes. Ja, diese sanften, freund­ lichen Dorfgeschichten, die so unschuldig schienen, wie ein Veilchen, so harmlos wie ein Tag­ falter, diese friedlich umhegten Dorfgeschichten waren es, welche es mahnend verriethen: der Tag der Volksherrschaft ist in Deutschland angebrochen, und die Poesie, der Herold des Zeit­ geistes, verkündet sein Morgenroth. Wär ich ein König, oder ein Aristokrat gewesen, diese Novellen hätten mich mehr erschreckt, als die verwegenste Destruktions-Phrase eines französi­ schen Redners. Angegriffen werden ist nichts, aber vergessen, übergangen werden ist alles! Und das thaten die Dorfgeschichten den Optimaten Deutschlands. Sie machten eine Miene, als ob es keinen König, keinen Erzherzog, Großherzog, Herzog, Fürsten, Grafen, gefürsteten Grafen, keinen Baron, keinen Ritter, keinen Junker und kein Edelfräulein mehr gebe durch ganz Deutschland, für sie war nur der dritte Stand vorhanden, das Zweikammersystem gestürzt, die Pairskammer abgeschafft, die Privilegien vernichtet. Erschien je die Zipfelmütze eines Fürsten neben der souverainen Bauernjake, wie in Ranks vier Brüdern [2] so hatte sie weiter keine Bedeutung im Staate, sie gehörte bloß einem verschlemmten Sybariten an, der etwa ein Land­ mädchen verführte und ein guter Posten im Buche des Austernhändlers war, der Dichter behan­ delte ihn mit keiner Spur von Zorn, sondern mit einer Ruhe, mit einer Gutmüthigkeit - es war furchtbar! Man sah, dem Adel war bereits der Stab gebrochen, er gehörte zu den Todten. Und doch war es noch hoher und höchster Adel, den die Dorfpoeten behandelten, die Bauern des Schwarz- und Böhmerwaldes hoffähige Aristokraten und der ganze dritte Stand ein bevorzug­ ter, gegen einen großen Theil der vaterländischen Bevölkerung. Ja, ist nicht die sämmtliche Christenheit eine privilegirte Kaste, den Juden gegenüber? Konnten und durften sie übergangen werden, als sich der demokratische Geist der Dichter zum Rächer suspendirter Menschenrechte waffnete, und der Freiheit eine Gasse, der Mooshütte des schwielenvollen Fröhners in der Literatur eine vorbildliche Perspektive auf die ewige

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Gerechtigkeit der Volksvertretung öffnete? Nein, auch für diese am schwersten und tiefsten ge­ knechtete Classe der Staatsbürger trat ein Repräsentant auf, der sie mit dem glänzenden Golde der Poesie aus dem Bagno der politischen Gefangenschaft und der öffendichen Meinung los­ kaufte-es war Leopold Kompert mit seinem Novcllenbuche, betitelt Aus dem Ghetto [3]. [...] Die Poesie hat immer etwas Entscheidendes. Wenn Philosophie und Kritik lang und fruchtlos genug an ihren Fragen sich müde gejagt haben, denn tritt der Dichter auf, und ist ihm sein Werk gelungen, so bleibt seine Stimme zuversichtlich die letzte im Streite, die definitive und maßge­ bende. Es wird in Frage gestellt, ob der dritte Stand reif und mündig sei, seine politischen Rechtsverhältnisse selbst zu pflegen und zu regieren; Auerbach und Rank erscheinen und zeigen ein Volk in der ganzen Kraft und Schönheit menschlicher Einsicht und Gesittung, verständig, mäßig, besonnen, offenen Sinns und klaren Unheils, bescheiden, treu schlicht und gerecht, voll frommer Zucht und Ehrbarkeit. Ihre Gemälde eben so ree) als ideell, schlagen jede Verneinung des Böswilligen, jeden Zweifel des Schwachsinnigen nieder, und zur Bestätigung folgt ihnen das Jahr 1848 auf dein Fuße und die Demokratie wird Thatsache. Eben so Kompert. Es wird in einem langen und widerlichen Streite mit vielem Aufwande von Gründen und Gegengründen durch alle Kammern Europa's die Frage hin- und hergezerrt, ob die Juden der bürgerlichen Gleichberechtigung mit den Christen fähig sind, oder nicht; Kompert entriegelt die traurigen Pforten des Ghetto’s und zeigt uns im Spiegel der Dichtung, die ihre Schönheit nur von der Wahrheit leiht hinter den eisernen Gittern ein eben so würdiges Volk als vor denselben. [...] 1 Salomon Gcßncr (1730-1788), Zürcher Dichter, Maler, Radierer und Verleger; Verfasser und Illustra­ tor berühmt gewordener empfindsamer Schäferidyllen in poetischer Prosa. Fern von sozialer Realistik. - Johann Heinrich Voß (1751-1826), klassischer Philologe; übertrug Homer in deutsche Hexameter; seine Idyllen in Hexametern (u. a. Die Leibeigenschaft und das bürgerliche Epos Luise. Em ländliches Gedicht in drey Idyllen, 1795) sind mehr als »Reminiszenzen«. 2 Joseph Rank: Vier Brüder aus dem Volke. Ein Roman aus Österreichs jüngsten Tagen, 1844. 3 erseh. 1848.

59 [Gottfried Keller:] Jeremias Gotthelf. (Rez. Gotthelf: Uli der Knecht. Ein Volksbuch, Bearbeitung des Verfassers für das deutsche Volk, 1846; Gotthelf: Uli der Knecht. Ein Volksbuch, T. 2. A. u. d. T.: Uli der Pächter, 1849.) In: Blätter für literarische Unterhaltung, 1849, Nr. 302-05, S. 1205-07, 1209-11, 1213-14, 1217-18. Hier S. 1205-07, 1211, 1213-14. (Neudruck Keller: Sämtliche Werke, hg. v. J. Fränkel u. C. Helbling, Bd. 22, S. 43-73.) Die Verlobten gingen miteinander über die Wiese, da raufte Reinhard jene Pflanzen aus, und zeigte Lorie den wundersam zierlichen Bau des Zittergrases und die feinen Verhältnisse der Glockenblume; »Das gehört zu dem Schönsten was man sehen kann«, schloß er seine lange Erklärung. »Das ist eben Gras«, erwiderte orle, und Reinhard schrie sie heftig an: »Wie du nur so was Dummes sagen kannst, nachdem ich schon l. eine Viertelstunde in dich hincinrede.«

Diese gute Stelle kommt vor in Auerbach’s Trau Professorin. Sie machte mich augenblicklich stutzen. Wie, dachte ich, sollte diese Stelle am Ende bezeichnend sein für die ganze Dorfge-

Der 1 >11 liiiMm- und die Ästhetik Jes VcJksrambcben

Ife?

M-huduro-I jrernnr? »Das ist eben Gras!« SoObe das Volk neOetcbt den Schilderungen seines

eigenen »Bräglirhrji Lebern einen ähaitcheo Titel gaben, nachdem wir Gebildeten nad Szudinea

schon eine Viendaunde und länger in dassefee hineingeredet haben? Wenigstens haben wir keinen Beweis roa Gegendieil: denn wir haben überhaupt noch gar keinen Bericht, ob unsere

VolksschriftsreOer in den Honen des Lndwolks ebenso bekannt seien wie in den Liferattnblät«ern und aüenfaßs bei den Bütgerdassen der Städte, und wer» säe es sind, weiche Wirkung sie gemacht haben [1J. Nur von Hebd weiß man, daß er in den aBemannhchen Gauen poptdair

geworden rsr. Es kam auch nicht anders sein. Die wohlfeilste Ausgabe von Bestaioxn's L *ewhard and Gertrud, dem unübertroffenen Muster, kostet, trotzdem daß das Buch vor einem hal­

ben Jahrhundert geschrieben wurde [2 j, beute noch über einen Gulden; Auerbach's verschie­ dene Auflagen sind besgtzr noch sämtndich von dem gewöhnlichen belktiistKchea PuHkum

coosumin worden, gleichwie Geßoer's IdyHen nicht von Schafhirten, sondern von Marquisen

und Patriciern gelesen wurden, ohne daß ich übrigens eine weitere Vergleichung hier beabsich­ tigte. Die in der Überschrift angeführten zwei Bücher von Gottheit : Uh der Knecht und Uh der

Pächter, kosten zusammen beinahe vier Gulden. Wie lange es geht bis etn Bauer für ein Buch, das nicht gerade die Bibd ist, vier Gulden disponibel bat, weiß Jeder selbst der mehr in einem

Bauernhaus verweih hat als blos um an einem heißen Sommertage eine frische Mikh darin zu essen. Und vollends ein armer Bauer oder gar ein Knecht! Und wenn sich endlich ein solcher

Sonderling und Verschwender findet, gewiß eine Vogelscheuche für das ganze Dorf: wie soll

das Buch zu ihm gelangen, öderer zu dem Buche? Er bekommt keine Böcherpackete »zur gefäl­

ligen Einskhi * , und ebenso wenig hat er Muße und Gelegenheit sich in den Buchläden berumzutreiben und nach -Novitäten * zu fragen, und auf den Btkberuscben am Jahrmarkt, wo der

Enlemfnegel und der Gehörnte Siegfried, der Trenk und das Kochbuch liegen, sind obige •Volksschnften» leider nicht zu finden. Ich übertreibe zwar: ich weiß woU, daß hier und da

ein Schullehrer. ein aufgeklärter Pfarrer oder sonst em ordentlicher Mann sich Dergleichen hält und diesem oder jenem strebsamen Jüngling oder Mädchen in die Hände gibt; aber Das ist erst

ein schwacher Anfang der auf eine fernere Zukunft deutet ’S;.

Auf obige Stelle nun, das »Gras» betreffend, hat Auerbach selbst in SchnrtVolk S. ~2' sehr gut geantwortet: Das Volk bebt es mehr sich seine ebenen Zustände wieder vorpaührt zu sehen: seine Neugierde ist nach Fremdem. Fernem genchiet. wie sich Das auch in andern BiJdungsLreisen zeigt. Erst wenn sich die Überzeu­ gung aurthut, daß man m sich selbst neue Bekanncschatten genug machen kann, wenn höhere Beziehungen in dem alltäglich Gewohnten aufgeschlossen werden, lernt man das Alte und Heimische neu heben.

Es handelt «eh eben darum, daß das »Volk» so gut zu sich selbst zurückgetuhrt werde wie überhaupt alle Menschheit, und auch bei ihm der Geschmack am Fremden und Sonderbaren vertrieben werde. Denn Vieles was man tur ursprünglich Volkstümliches halt, die Lust an al­ lerlei gepfeffertem Abenteuer- und Sagenspuk, ist ebenfalls nur em Hinzugekommenes und in den ueten Grundschichten und Spalten langer Hangengebliebenes. E.s ist sehr natürlich, daß der Gorres des 19. Jahrhunderts Dasjenige fur unolksmaßig und ewig erkläre was etn Gorres des 10. Jahrhunderts ausgestreut hat: aber nicht so natürlich ist es, daß war andern Leute daraut schworen 4., Und was vor tausend Jahren da oder don volksthumiich gewesen sein mag, es

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ist es jetzt nicht mehr. Das Volk streift zeitweise alte geborstene Rinden von sich ab, und man wird vergebens diese Bruchstücke trocknen, zu Pulver stoßen, und ihm wieder unter die Nah­ rung mischen wollen; sie werden entweder sogleich ausgespien oder die gute Natur hilft sich durch Geschwüre und Ausschläge. Ewig sich gleich bleibt nur Das was reinmenschlich ist, und Dies zur Geltung zu bringen ist bekanntlich die Aufgabe aller Poesie, also auch der Volkspoesie, und derjenige Volksdichter der ein gemachtes Princip braucht um arbeiten zu können thut daher am besten die Würde der Menschheit im Volke aufzusuchen und sie demselben in seinem eigenen Thun und Lassen nach­ zuweisen. Gelingt ihm Dies, so erreicht er zugleich einen weiteren Zweck, und deckt eine Blöße im Getriebe der Cultur. Es ist nämlich die laute Klage der Retrograden und wirklich eine häufige Erscheinung, daß durch die sogenannte Aufklärung, d. h. durch die Verbesserung und Ausbrei­ tung der Volksschule, ein unnatürlicher Ehrgeiz, allerlei windiges Wesen und Unzufriedenheit mit seinem Stande geweckt werden. Mancher Bauer, dessen Sohn einen guten Brief schreiben, eine Wiese ausmessen gelernt, oder in Erfahrung gebracht hat, daß die Gewächse sich auch ge­ schlechtsweise fortpflanzen, oder der über 1812 und 1798 hinauf noch einige historische Jahrs­ zahlen mehr kennt, der sagt: Potz Blitz! mein Bub muß ein Gerichtsschreiber oder gar ein Advocat, ein Ingenieur, ein Doctor, ein Lehrer werden, und statt eines tüchtigen, kundigen Bürgers der mit Rath und That bei der Hand und eine Zierde seiner Gemeinde ist, erzieht er mit seinem sauererworbenen Geldedem Staate ein mislungenes Subject, einen Winkeladvocaten und käuf­ lichen Geschäftsmacher, einen versoffenen Geometer, welcher Nichts zu thun hat, weil er über das Ausmessen der Wiese hinaus zu nichts Weiterm das Zeug im Kopfe hatte, einen Quacksal­ ber und einen aufgeblasenen Schulmeister, der sich auf Alles versteht, nur nicht auf die Kinder. An dieser Calamität ist aber nicht die Aufklärung schuld, sondern die menschliche Schwachheit, und die Abhülfe liegt in der Bildung selbst, einestheils dadurch daß dieser falsche Ehrgeiz eben einfach ein erstes Stadium ist, welches durch den steten Fortschritt von selbst überwunden wird; anderntheils durch die Volkspoesie, von der wir sprechen. Wenn die Bewohner der Bauernhüt­ ten erfahren daß ihr Herz gerade auf die gleiche Weise schlägt wie das der feinen Leute wenn sie sehen daß ihre Liebe und ihr Haß, ihre Lust und ihr Leid so bedeutungsvoll ist wie die Lei­ denschaften der Prinzen und Grafen; wenn der kräftige Bauernbursche fühlt, daß seine Faust ihr bestimmtes Gewicht und Ansehen hat, und daß seine frischen Augen im Lande so guten Schein geben als irgend andere Augen; wenn die einsame graue Großmutter weiß, daß ein Dorf­ kirchhof so gut eine adelige Burg der Trauer und des geheimnißvollen Schicksals ist wie der Kreuzgang einer alten Abtei; wenn das ländliche Dirnchen merkt, daß sein Kränzlein grüner ist und höher im Werthe steht als manches andere: - dann wird endlich jene Sucht nach Carrière und Vornehmheit wie ein trüber Nebel verschwinden, und für jeden Kopf welcher dennoch, mit Berechtigung, aus seinem Stande sich herausarbeitet wird alsdann ein anderer aus andern Ständen sich einfinden; aus manchem vornehmen Feldverderber und Branntweinbrenner, der jetzt nicht Fisch und nicht Vogel, nicht Herr und nicht Bauer ist, wird dann ein tüchtiger Ackersmann werden, wenn die Vorurtheile verschwunden sind, und er nicht mehr gemeiner zu werden braucht, indem er endlich den Zwillichrock anzieht und die Hand wirklich an den ersehnten Pflug legt. Dann wird es hoffentlich auch dahin kommen, daß es nur noch Eine Poesie

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gibt [5]. [...] Wenn man gegenwärtig von Volksschriftstellern spricht, so stehen Berthold Auerbach und Jeremias Gotthelf (Pfarrer Bitzius zu Lützelflüh im Canton Bern) obenan. Auerbach ist von der Höhe der jetzigen Bildung aus zu der Volksschrift gelangt, er hatte einen philosophischen Roman geschrieben, ehe er an seine Dorfgeschichten gerieth, und auch von diesen vermag ich nicht zu berichten, ob ihn ein bewußter Beruf für das Volk zu schreiben dazu trieb, oder ob es mehr ein glücklicher Wurf des Künstlers war welchen Lust und Talent auf dies Gebiet führ­ ten, wie etwa ein frischer Morgenwind eine heitere Wolke am Himmel dahintreibt. Sei Dem wie ihm wolle, die Dorfgeschichten sind, mit Ausnahme des miserabeln Reinhard in der Frau Professorin, alle frisch und gesund und ein festtägliches Weißbrot für das Volk. Sie sind schön gerundet und gearbeitet, der Stoff wird darin veredelt ohne unwahr zu werden, wie in einem guten Genrebilde, etwa von Leopold Robert [6], und wenn sie auch ein wenig lyrisch oder wie ich es nennen soll gehalten sind, so thut Das meines Erachtens der Sache keinen Eintrag. Nicht so verhält es sich mit Gotthelf. Dieser besitzt die gleiche Intensität des Talents, den Sinn für Haushalt und Leben des Volks, für die Durchdringung besonders ländlicher Zustände; er ver­ mag vielleicht noch tiefer herabzusteigen in die Technik und Taktik des Bauernlebens, gibt das­ selbe mit allem Schmuze des Costume und der Sprache, mit der größten Treue wieder, und gleicht hierin einem Niederländer; aber er ist dabei ohne ästhetische Zucht geblieben, und wenn er als Pfarrer über seinem Publicum steht, so steckt er wieder als Schriftsteller wie ein Natur­ dichter mitten unter demselben, und scheint ohne Nachdenken und Mäßigung zu arbeiten. Wie Auerbach sich im heimatlich schwäbischen Schwarzwalde bewegt, so nimmt Gotthelf Stoff und Scene seiner Erzählungen aus dem Canton Bern, und sie bekommen dadurch ebenfalls die locale Färbung und Wahrheit welche in guten Volksschriften von je gefunden worden sind und, kann man hinzusetzen, überhaupt eine Lebensbedingung der ursprünglichen classischen Dichtungen fast aller Zeiten und Völker sind; denn es ist ein bedeutsamer Wink, daß Alles was einem gesun­ den Volksbuch zugutekommt bei Licht besehen jedem poetischen Product, da wo ein reiner Geschmack herrscht, zum Vorzug gereicht. [...] Bitzius sagt in einer Vorrede: man werde ihm wenigstens nicht ein gedankenloses und feiles Segeln mit herrschenden Winden vorwerfen können. Das ist allerdings sehr wahr; er verfällt aber in das andere Extrem und sucht mit dem größten Eigensinn gegen den Strom zu schwim­ men, und Das ist für einen Volksschriftsteller auch nicht klug und weise. Ein solcher hat vom Volke ebenso viel zu lernen als es von ihm lernen soll, und es ist seine Pflicht auch ein wenig zu merken was die Stunde geschlagen hat, wenn er segensreich wirken will. Von welcher Art die Religiosität ist welche Gotthelf zu seiner Verbündeten macht, mag man am besten aus folgender Geschichte ersehen, welche er in seinem Pächter erzählt. Ein Bauer hat zur Zeit der Ernte seine ganze Jahresfrucht geschnitten auf dem Felde liegen. Es ist Sonntag und ein Gewitter im Anzug. Da macht der Bauer Anstalt die Ernte zu retten und heimzuführen ehe es zu spät ist. Eine uralte Großmutter beschwört ihn Nichts zu thun; denn Solches sei auf diesem Hofe noch nie vorgekommen, so lange er bestehe sei am Sonntag Nichts gearbeitet wor­ den. Der Mann mochte aber Etwas von dem Esel welcher in eine Grube gefallen und von der

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Jünger Aehrenrupfen gelesen haben: er läßt sich durch die Lamentationen der Alten nicht ein­ schüchtern, und bringt glücklich sein Korn unter Dach. Kaum ist aber das letzte Fuder in die Scheune gefahren, so kommt ein Blitzstrahl und verzehrt Haus und Habe, und der Bauer, ein trauriges Exempel des göttlichen Zorns, bleibt blödsinnig. Diese Geschichte schmeckt mehr nach dein Judenthum als nach dem Christenthum. Gotthelf führt die Worte Sünde und siindlich fortwährend im Munde; fühlt er wol nicht, daß es ebenfalls sündlich sein dürfte dem christli­ chen Gott solch crasse Erfindung unterzuschieben? Ebenso spielen der Teufel und seine Hölle eine große Rolle in Gotthelf’s Schriften. Folgende Stelle nimmt sich z. B. sehr trübselig aus im Munde eines refonnirten Geistlichen: Es ist schrecklich im Feuer zu erwachen, wer es erlebt hat zittert, so oft er Dessen gedenkt. Wie muß es den Sündern erst sein, wenn sie erwachen in der Hölle, Feuer ringsum und nirgend eine Thür zum Entrin­ nen, gefesselt auf ewig mit feurigen Ketten im ewigen Brand!

und die gleiche Erzählung wo diese Süßigkeit vorkommt (Harzer Hans) schließt mit der erbau­ lichen Versicherung, daß der Teufel eine Seele geholt habe. Möchte sich Gotthelf doch ein wenig an seinem berühmten und braven Vorgänger spiegeln, an Hebel, welcher ebenfalls Geistlicher war. Wie verschieden behandelt dieser sowol als Künst­ ler wie als Moralist den Teufel in seinem Karfunkel. Diese pietistische Tendenz thut den Volks­ büchern großen Eintrag; auf jeder Seite wird gepoltert und gepredigt und oft im abenteuerlich­ sten Stil. Aus allem Diesem geht nun natürlich hervor, daß Gotthelf auch gegen Volksschule und Auf­ klärung eifert. Und er thut Dies bis zum Ueberdruß. Auf jeder Seite eifert er über Lehrer, Profes­ soren, Seminardirectoren u. s. w. Besonders führt er immerfort das Wort Professor auf verächt­ liche Weise in der Feder. Wenn es nach ihm ginge, so würden heute noch sämmtliche Professoren und Doctoren aller Facultäten, ausgenommen der theologischen, beseitigt; sie sind ihm ein Dorn im Auge: und Das mit Recht; denn wenn diese abscheulichen Bücherwürmer nicht wären, so gäbe es auch keine Volkslehrcr mit ihren verhaßten Naturgeschichten, Landkarten, poptilairen Physikbüchern, astronomischen Leitfaden u. dgl. m. Man sieht, der gute Jeremias hält sich an die Quelle; er ist hierin kein gewöhnlicher Aristokrat [7], Wenn Gotthelf in Sachen der Cultur überall Opposition gegen die Zeit macht, so wird er in politischen Dingen häufig geradezu zum Wühler. Er gehört der conservativen Partei des Cantons Bern an, welche schon seit mehren Jahren gründlich in Ruhestand versetzt ist. Daher wim­ meln seine Schriften von lnvectivcn gegen die jetzigen Regenten und Alles was von ihnen aus­ geht. (...) Wenn Gotthelf ein satirisches Buch schreiben würde in welchem er alle seine Parteian­ sichten niederlegt, so würde man Nichts dawider haben; daß er aber seine Malice durch alle seine Schrif ten gleichmäßig zerstreut, auf der einen Seite das Pathos von Treu und Glauben her­ vorkehrt, und hinten herum den negativen Hohn und die parteiliche Verdrehung hervorschiebt. Das ist keine Art und schadet ihm selbst am meisten.

.I I.. Durch diese Tendenzen Gotthelf’s haben nun seine Schriften das schöne Ebenmaß verloren; die ruhige, klare Dicrion wird unterbrochen durch verbittertes, versauertes Wesen, er über­

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schriftstellen sich oft, und gefällt sich darin überflüssige Seiten zu schreiben, indem er seine eigene Manier sozusagen nachahmt und damit coquetin. Man erhält nicht ein gereinigtes Kunstwerk, durch die Weisheit und Oekonomie des geschulten Genies zusammengefügt, man erhält auch nicht das frische naive Gewächs eines Naturdichters, denn Gotthelf ist ein studirter und belesener Mann; sondern man erhält ein gemischtes literarisches Product, das sich nur durch das vortreffliehe Talent Bahn bricht welches sich darin zeigt. Von den Unebenheiten des Stils nur einige Beispiele. Während der Verf. sich bestrebt die drastische Sprache des Volks zu führen und seine Frauen im Scherze per »Unflath« tituliren läßt, und fortwährend eine höhere Erziehung und Bildung verhöhnt, gebraucht er selbst um psychologische Zustände zu bezeichnen Bilder vom Brechen der Lichtstrahlen auf verschiede­ nen Körpern, von elektrischen Schlägen u. dgl. Wie kann er von dem Volke das er haben will das Verständniß solcher eleganten Metaphern verlangen? Er beschreibt ferner sehr gut renommistische Schlemmer, aufgedunsene Hasenfüße: Johannes hatte eine von den brüllhaften Naturen welche die ganze Welt voll himmeldonnem, daß man glauben sollte in ihnen sei die Macht aller wahren und falschen Gottheiten, von Saturn bis auf Hegel, weiche bekanntlich darin große Aehnlichkeit haben, daß sie ihre eigenen Kinder auffressen, concentrin. Betrachtet man diese Naturen in der Nähe, so sind sie zumeist ohne alle innere Kraft und Macht, ihr ganzes Vermögen geht eben in ihrer Brüllhaftigkeit auf. Man sieht zuweilen Menschen in Kaffeehäusern bei Spiel und Cham­ pagner die bedeutendsten Rollen spielen, daß man meinen sollte sie wohnten in Palästen, schliefen auf Schwanenfedem unter seidenen Decken, und es sind die ärmsten Schlucker von der Welt, wohnen zur Miethe, oder wohnen auch gar nicht, und wenn sie Kinder haben, so haben diese oft gar Nichts um die Nase zu wischen, als was sie auf die Welt gebracht. Hört man sie, so glaubt man Gott habe einmal statt Frösche, wie er zuweilen thut, Helden regnen lassen, hageldick, die halbe Welt voll; prüft man sie, so sind es lauter Windbüchsen, bläst man Nichts hinten rein, kömmt Nichts vornen raus, sind ohnmächtige Wesen, unterthan jeglichem Winde der über sie hinfährt, haben aber große Fähigkeit den Wind zu fassen, große Fähigkeit ihr verfluchtes Ding wieder von sich zu geben; wäre aber kein Wind, so wären sie auch Nichts. Es sind moderne Naturen, oder etwas vulgair gesagt, die Schweinsblasen des Zeitgeistes oder jedes andern Geistes der sein Maul an ihr Röhrchen wagt. Derlei Naturen stolziren zu Tausenden in der Welt herum, vom Him­ mel geregnete Frösche, brüllen die Welt voll, daß man in Versuchung geräth sich zu ducken, als wäre eine Heerde von 10000 Büffeln im Anzug.

Hier liegt nun die Nachlässigkeit des »Stils«, sage ich absichtlich, darin, daß er dergleichen Kerle dem Jahrhundert in den Schuh schiebt; hätte er ein wenig nachdenken mögen, so würde er sich ohne Zweifel an Falstaff erinnert und noch weiterhinauf bis in die Bibel genug solche Bursche gefunden haben, wie z. B. den wackern Goliath, welche just nicht moderne Naturen sind [8]. Gotthelf's Stil mit seinem kecken Gepolter ist selbst ein solcher Schreckteufel, welcher Einem bange machen könnte, wenn man ihm nicht auf den Leib ginge. In Uli der Knecht handelt der Verf., nachdem er von Arbeit und Mühe gesprochen hat, von den Freuden welche allerdings auch ein Dienstbote haben müsse als Erholung nach der Arbeit, und er verweist sie - wieder auf die Arbeit! Darin nämlich müsse ein rechter Dienstbote seine Erholung finden, daß er sich am Gedeihen und Floriren der Angelegenheiten seines Meisters freue, und daß er sein Vergnügen an einem wohlbestellten Acker, an einem gutverpflegten schö­ nen Stück Vieh finde. Wenn man Dies näher besieht, so heißt es Nichts weiter als man müsse eben gern und freudig arbeiten, und für die Erholung von der Arbeit, welche er versprach, ist nicht gesorgt. Ich bin überzeugt, daß Bitzius auch noch andere Erholungen braucht als daß er

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etwa seine Predigt wieder liest, wenn er aus der Kirche kommt, oder daß er sich, nachdem er den ganzen Tag geschrieben hat, durch die Lecture seiner eigenen Schriften erfrischt. Und doch hätte der Verf. nur einige Seiten weiter einen prächtigen Ausweg gefunden. Er beschreibt dort ein gymnastisches Spiel der jungen Bauernbursche, und sagt selbst, es sei eins der schönsten nationalen Spiele, welche an Sonntagen hin und wieder aufgeführt werden. Auch stammt es aus der belobten alten Zeit, und hat in dieser Beziehung also seinen gültigen Stammbrief. Wenn irgendwie eine ehrbare Erholung aufzutreiben gewesen, so war es hier. Was thut aber Jeremias? Er läßt seinen Uli von dem Besuche dieses Volksfestes Schaden und Verdruß nehmen, und räth hierdurch seinen jungen Lesern ernstlich ab dergleichen Ergötzlichkeiten mitzumachen [9]. Es wäre die Aufgabe des Dichters gewesen allfällige eingeschlichene Roheiten und Misbräuche im poetischen Spiegelbild abzuschaffen und dem Volk eine gereinigte und veredelte Freude wie­ derzugeben, da es sich einmal darum handelt in der gemeinen Wirklichkeit eine schönere Welt wiederherzustellen durch die Schrift. Gotthelf’s Scheu vor den Volksspielen mag es auch erklä­ ren, warum man in seinen sonst so ausführlichen Erzählungen nirgend eine Spur vom Volks­ liede findet. Auerbach hat dies Element reichlich ausgebeutet, und die leichten schwäbischen Liedlein klingen lustig durch Wald und Flur; auf der einsamen Feldhöhe sind sie der Ausdruck für Wohl und Weh. Gotthelf hätte uns mit wahren Cabinetsstücken aufwarten können; denn im Bernervolk sind uralte Lieder mit den prächtigsten Mollmelodien gang und gäbe, Lieder welche die Zierde des Wunderhorn und von Uhland’s Sammlung sind, zum Theil auch noch nicht einmal darin stehen. In diesem Punkt ist aber das tausendjährige Volk dem conservativen Literaten von heute wahrscheinlich zu modern und zu weltlich.

1 Keller unterscheidet hier nicht, wie Auerbach, zwischen »Literatur aus dem Volk«, die für die Gebildeten gedacht ist und zu der die meisten Dorfgeschichten zu rechnen sind, und »Literatur für das Volk«. Die Kritik hielt Auerbachs Unterscheidung für tatsachengerecht. 2 Lienhard und Gertrud. Ein Buch für das Volk, 4 Bde., 1781-87. - Die zweite, ganz umgearb. dreibän­ dige Fassung erschien unter dem Namen des Verfassers 1790-92. 3 Seit den vierziger Jahren, z. T. schon früher, gibt es die organisierte Produktion und/oder Verbreitung von Volksschriften, aber auch von gehobener Unterhaltungsliteratur durch Volksschriftenvereine, Dorf­ bibliotheken, Gewerbsbibliotheken, Lesehallen u. ä. 4 Anspielung auf folgende Publikationen: Johann Joseph Görres: Die teutschen Volksbücher. Nähere

Würdigung der schönen Historien-, Wetter- und Arzneybüchlein, welche theils innerer Werth, theils Zufall Jahrhunderte hindurch bis auf unsere Zeit erhalten hat, 1807; J. J. Görres (Hg.): Altteutsche Volks- und Meisterlieder aus den Handschriften der Heidelberger Bibliothek, 1817. 5 Zu diesem Gesellschaftsmodell u. Literaturprogramm vgl. Auerbach, Dok. 51, S. 148. In seinem letzten Roman Martin Salander gibt Keller die Vorstellung preis, »Aufklärung« und berufsständischer Konser­ vatismus seien vereinbar. 6 Leopold Robert (1794—1835), französischer Genremaler, der das italienische Volksleben idealisierte. 7 Das Schimpfwort »Aristokrat« wird hier auf den konservativen Liberalismus ausgedehnt. 8 In einem Punkt mißversteht Keller die Absicht von Gotthelfs Stilgebung. Durch die groteske und burleske Stilisierung drückt Gotthelf gerade das aus, was Keller bei ihm vermißt: das Bewußtsein, daß die Erschei­ nungen des modernen Materialismus und Egoismus in eine Reihe gehören mit den milites gloriosi der Literaturgeschichte. Gotthelf greift bewußt auf alte Formen der Satire zurück. 9 Kellers Rezension, als Programm bedeutend, muß als Kritik auch in diesem Punkt korrigiert werden. Bei aller Verquickung von altliberaler Politik und protestantischer Pfarrherrlichkeit (Verklärung des

Der Liberalismus und die Ästhetik des Volkstümlichen

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»Standes« der Armut) war Gotthelf andererseits frei von jener klanbürgerlich-demokratischen Utopie eines harmonischen Volkskötpers, welche Keller gehegt und erst spät aufgegeben hat (s. o. Anm. 5). Ans dieser Utopie erklärt sich Keilers Unterstellung, Gotthelf gönne dem »Volk« aus pfäffeuher Berechnung keine Lebensfreude. An der beanstandeten Stelle zeigt Gotthelf, wie die reichen Banemsölme ihre Macht und ihren Bildungsvorsprung benützen, um strafrechtliche Konsequenzen ihrer Ausschweifungen dem Knecht anfzubürden. Uli kommt als Knecht, nicht als Kind des »Volkes« zu Schaden. Vgj. Gotthelfs Ein­ treten für die im modernen liberalen Rechtsstaat Benachteiligten, Dok. 76, S. 232.

GeseHschaftbcher

60 Julian Schmidt: Geschichte der det^uhen Literatar äst nemaeb^en J^Mnaadat, 2 Au£L,Bd. 3, Leipzig 1855, S. 341—43,345—47.— Der Ten ist eine Zusammenfassung von zwei Rezensionen: J. S[dnnidt]: Jeremus Gatthdf. (Rez. GoaML ErzäUwgas und Bilder ans dem Volksleben der Sdnveiz, Bd. L, 1850. hn Die Gremboten 9/12 (1850), S. 489—94; [Schmidt:] Deutsche Biamnue. [Sammefaez.] in: Die Gmabaten 9/22 (1850), S. 601-08.

tat Man gewöhnte cirh daran, mir Menschen umzugdm, ä» mdi ei hatten, als die Lecture der Modeyoutnale und die Fabrik von

Bestimmtheit, als die poetische Docttm. Man gLwiüune skh, die dtaodSEae, die atan tauher nur hl liederlich genialer 9k irae-enrmm'ien; hl btoteräwRerliciier r njili i i K.- 'ehiezu den Zeug hätte, beweisen die freien, groben G'if’e _nC k-satr-.- an ¿»aHew -scweisen die Krähe seines Geistes, aui die wir vorh.n erwiesen, -nc jjc xir erst m 'X ar.—en zäher



Die Novelle

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wertvollen neueren Dramen nur selten die Bühne erreichen oder nach dem ersten Versuche wie­ der davon verschwinden, sei es wegen der Unzulänglichkeit unserer deutschen Schauspieler oder weil, vielleicht im Zusammenhänge mit dem ersterwähnten Umstande, den Dichtern ein gewisses praktisches Verständnis für die Darstellbarkeit abging. So haben sich denn andere Leute der Bühne bemächtigt, und man begnügt sich dort lieber mit Sachen, welche den besten der Iffland-Kotzebue-Periode nicht einmal das Wasser reichen; aber was solcherweise der dra­ matischen Schwester entzogen wurde, ist der epischen zugute gekommen. Im übrigen geht es mit der Novellistik wie mit der Lyrik; alle meinen es zu können, und nur bei wenigen ist das Gelingen, und auch dort nur in glücklicher Stunde. [...] 1 Die (falsche) Meldung bezog sich auf Georg Ebers, Eine Frage.

Die Kontroverse Riehl - Heyse

112 Wilhelm Heinrich Riehl: Geschichten aus alter Zeit, Bd. 1, Stuttgart 1863, unpag. Widmung an Ludwig Richter. Neudruck Riehl: Geschichten und Novellen, Stuttgart 1899, o. Seitenz.

Ich habe dieses Buch Geschichten genannt; ich hätte cs ebensogut mit vornehmerem Wort Novellen nennen können. Denn wenn das Wesen der Novelle darin besteht, ein Seelengcheim-

niß in der Verknüpfung und Lösung erdichteter Thatsachen zu enthüllen, dann sind diese Geschichten Novellen. Das deutsche Wort aber saß mir besser als das italienische; einmal, weil mir die gemüthliche deutsche Art des Erzählens zunächst in der Seele klang, dann aber auch, weil es ein heilsames Mahnwort ist. Die Geschichte mahnet nämlich, daß fort und fort etwas geschehe, daß nicht die Reflexion, sondern die That den Knoten schlinge und löse, und daß die Lust am Erzählen nicht von der verführerischen Lust des Grübelns und Schilderns überwu­ chert werde. Wer aber wirklich erzählt, der sucht vor Allem die feste, reine Linie der Handlung, deutet Licht und Schatten blosan, läßt Schmuck und Beiwerk und die weite Fernsicht des Hintergrun­ des mehr errathen, als daß er sie ausspräche. Sein höchstes Ziel stehet dahin, außen grob und inwendig fein zu scyn, außen sparsam und innen reich. In diesem Urbilde begegnen sich die deutsche Geschichte und der ächte Holzschnitt. Sic aber, verehrter Freund, dem ich diese Geschichten widme, wahrend ich ihm Novellen nicht dargeboten hätte, sind der Mann, welcher die achte Art des deutschen I lolzschmttes vor Andern wiedergefunden und volksthümhch gemacht hat. Gar oft suchte ich mich beim Erzählen im rechten Maß und Tone zu halten durch einen Blick aut Ihre Holzschnittblatter. Die teste, schlichte Form allein aber würde Ihnen doch das Herz des deutschen Volkes nicht gewonnen haben, wenn nicht so inniges Gemiith, so frischer Humor und em so frommer, reiner Sinn aus

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Roman und Novelle

Ihrer Zeichnung spräche, ja die Vorzüge der Form sind Ihnen erst erwachsen aus jenen Vorzü­ gen der künstlerischen Seele. Mein Empfinden und Streben rang bei diesen Geschichten nach einem Hauche des gleichen Geistes; wäre mir die Aussprache desselben auch nur annähernd heiter und tief gelungen, so würde mir dieses bescheidene Büchlein mehr Freude machen als alle meine früheren Schriften. Denn gute Menschen zu erheben, indem wir sie erheitern, bleibt doch die erquickendste und liebenswürdigste Aufgabe des schaffenden Mannes in der Schrift sowohl wie in der Kunst.

113 Deutscher Novellenschatz, hg. v. Paul Heyse u. Hermann Kurz, Bd. 1, München (1871): Einleitung, S. V-XXIV. Hier S. XIII-XX.

[•••] Sagen wir es mit Einem Won: dem Roman wie der Novelle ist heutzutage die epische Ruhe des Stils mehr oder weniger verloren gegangen, die in den Mustern der Gattung bei den romani­ schen Völkern so großen Reiz übt und dem, was unser deutscher Großmeister der Erzählungs­ kunst geschaffen, unvergänglichen Werth verleiht. Aber wenn wir diese Thatsache mit unverhohlenem Bedauern erkennen, sind wir doch von der Meinung fern, als ob die Novelle nothwendig »umkehren« und um jeden Preis die edle Ein­ falt und classische Mäßigung zurückgewinnen müsse, die sie in ihrer Jugend besaß. Jeder Zeit­ geschmack ist eine Macht, die zwar nicht vor Recht geht, der aber ein doctrinärer Eigensinn sich nicht in den Weg stellen darf. So wenig wir von Robert Schumann’s durchgeistigt subjectiver Form und dem problematisch leidenschaftlichen Charakter seiner Kunst zu der durchsichti­ gen Objectivität Vater Haydn’s zurückkönnen, weil die Stimmungen und Strömungen unseres heutigen Lebens über den Rand dieser krystallklaren Formen hinausschwellen, eben so wenig wird es uns einfallen dürfen, mit archaistischer Willkür die Novelle zu freiwilliger Armuth, zur Beschränkung an Stoffen und Darstellungsmitteln zu verpflichten. Nil humani a me alienum puto - Alles, was eine Menschenbrust bewegt, gehört in meinen Kreis - dieser Loosung wird die Novelle mit vollster Unumschränktheit treu bleiben müssen. Haben doch auch gerade in der neueren Zeit bedeutende Talente im verschiedensten Sinne mit diesem Wahlspruch Ernst gemacht. Von dem einfachen Bericht eines merkwürdigen Ereignisses oder einer sinnreich er­ fundenen abenteuerlichen Geschichte hat sich die Novelle nach und nach zu der Form entwikkeln in welcher gerade die tiefsten und wichtigsten sittlichen Fragen zur Sprache kommen, weil in dieser bescheidenen dichterischen Gattung auch der Ausnahmsfall, das höchst individuelle und allerpersönlichste Recht im Kampf der Pflichten, seine Geltung findet. Fälle, die sich durch den Eigensinn der Umstände und Charaktere und eine durchaus nicht allgemein gültige Lösung der dramatischen Behandlung entziehen, sittliche Zartheit oder Größe, die zu ihrem Verständniß der sorgfältigsten Einzelzüge bedarf, alles Einzige und Eigenartige, selbst Grillige und bis an die Grenze des Häßlichen sich Verirrende ist von der Novelle dichterisch zu verwerthen.

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Denn es bleibt ihr von ihrem Ursprung her ein gewisses Schutzrecht für das bloß Thatsächliche, das schlechthin Erlebte, und für den oft nicht ganz reinlichen Erdenrest der Wirklichkeit kann sie vollauf entschädigen, theils durch die harmlose Lebendigkeit des Tons, indem sie Stoffe von geringerem dichterischen Gehalt auch in anspruchsloserer Form, ohne den vollen Nachdruck ihrer Kunstmittd überliefert, theils durch die unerschöpfliche Bedeutsamkeit des Stoffes selbst, da der Mensch auch in seinen Unzulänglichkeiten dem Menschen doch immer das Interessante­ ste bleibt. Thöricht wäre daher die Forderung, auch Probleme der oben bezeichneten Art, die oft nur durch die zartesten Schactirungen, reizendes Helldunkel oder eine photographische Deutlich­ keit unser Interesse gewinnen, in jener naiven Holzschnittmanier der alten Italiener oder mit den ungebrochenen Farben des großen Spaniers zu behandeln. Hier sind alle jene Mittel höchst individueller Vortragsweise nicht nur erlaubt, sondern sogar gefordert, wie sie einigen der fran­ zösischen Erzähler und in noch höherem Grade dem russischen Meister der Seelenkunde, Iwan Turgenjew, in so bewundemswerthem Maße zu Gebote stehen. Der Dichter, der uns in die geheimnißvollsten Gemüthstiefen seltener oder doch sehr entschieden ausgeprägter Indivduen blicken läßt, wird, um uns in volle Illusion zu bringen, andere Töne anschlagen müssen, als wer uns von einem geraubten und unter Zigeunern wiedergefundenen Kinde erzählt, in dessen Geschick die abenteuerliche Verwicklung und Lösung äußerer Umstände das Hauptinteresse bildet. Bei jenen höchst modernen Aufgaben ist eine dramatische Unmittelbarkeit berechtigt, eine gesteigerte Schärfe der Naturlaute, ein gewisser nervöser, herzklopfender Stil, die mit der oben gerühmten epischen Ruhe im äußersten Gegensatz stehen. [...] Wenn der Roman ein Cultur- und Gesellschaftsbild im Großen, ein Weltbild im Kleinen ent­ faltet, bei dem es auf ein gruppenweises Ineinandergreifen oder ein concentrisches Sichumschlingen verschiedener Lebenskreise recht eigentlich abgesehen ist, so hat die Novelle in einem einzigen Kreise einen einzelnen Conflict, eine sittliche oder Schicksals-Idee oder ein entschieden abgegrenztes Charakterbild darzustellen und die Beziehungen der darin handelnden Menschen zu dem großen Ganzen des Weltlebens nur in andeutender Abbreviatur durchschimmern zu lassen. Die Geschichte, nicht die Zustände, das Ereigniß, nicht die sich in ihm spiegelnde Welt­ anschauung, sind hier die Hauptsache; denn selbst der tiefste ideelle Gehalt des einzelnen Falles wird wegen seiner Einseitigkeit und Abgetrenntheit - der Isolirung des Experiments, wie die Naturforscher sagen - nur einen relativen Werth behalten, während es in der Breite des Romans möglich wird, eine Lebens- oder Gewissensfrage der Menschheit erschöpfend von allen Seiten zu beleuchten. Freilich wird es auch hier an Uebergangsformen nicht fehlen. Hat doch unser größter Erzähler in seinen Wahlvertcandtschaften ein echt novellistisches Thema mit vollem Recht zum Roman sich auswachsen lassen, indem er das bedeutende Problem mitten in ein reich gegliedertes sociales Leben hineinsetzte, obwohl vier Menschen auf einer wüsten Insel eben so gut in die Lage kommen konnten, die Gewalt dieses Naturgesetzes an sich zu erfahren. Im Allgemeinen aber halten wir auch bei der Auswahl für unsern Novellenscharz an der Regel fest, der Novelle den Vorzug zu geben, deren Grundmotiv sich am deutlichsten abrundet und - mehr oder weniger gehaltvoll - etwas Eigenartiges, Specif isches schon in der bloßen Anlage verräth. Eine starke Silhouette - um nochmals einen Ausdruck der Malersprache zu Hülfe zu

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nehmen - dürfte dem, was wir im eigentlichen Sinne Novelle nennen, nicht fehlen, ja wir glau­ ben, die Probe auf die Trefflichkeit eines novellistischen Motivs werde in den meisten Fällen darin bestehen, ob der Versuch gelingt, den Inhalt in wenige Zeilen zusammenzufassen, in der Weise, wie die alten Italiener ihren Novellen kurze Ueberschriften gaben, die dem Kundigen schon im Keim den specifischen Werth des Thema’s verrathen. Wer, der im Boccaz die Inhalts­ angabe der 9ten Novelle des 5ten Tages Iies’t: »Federigo degli Alberighi liebt, ohne Gegenliebe zu finden; in ritterlicher Werbung ver­ schwendet er all seine Habe und behält nur noch einen einzigen Falken; diesen, da die von ihm geliebte Dame zufällig sein Haus besucht und er sonst nichts hat, ihr ein Mahl zu bereiten, setzt er ihr bei Tische vor. Sie erfährt, was er gethan, ändert plötzlich ihren Sinn und belohnt seine Liebe, indem sie ihn zum Herrn ihrer Hand und ihres Vermögens macht« - wer erkennt nicht in diesen wenigen Zeilen alle Elemente einer rührenden und erfreulichen Novelle, in der das Schicksal zweier Menschen durch eine äußere Zufallswendung, die aber die Charaktere tiefer entwickelt, aufs Liebenswürdigste sich vollendet? Wer, der diese einfachen Grundzüge einmal überblickt hat, wird die kleine Fabel je wieder vergessen, zumal wenn er sie nun mit der ganzen Anmuth jenes im Ernst wie in der Schalkheit unvergleichlichen Meisters vorgetragen findet. I ___ Wir wiederholen es: eine so einfache Form wird sich nicht für jedes Thema unseres vielbrü­ chigen modernen Culturlebens finden lassen. Gleichwohl aber könnte es nicht schaden, wenn der Erzähler auch bei dem innerlichsten oder reichsten Stoff sich zuerst fragen wollte, wo »der Falke« sei, das Specifische, das diese Geschichte von tausend anderen unterscheidet. [...]

114 Paul Heyse: An Frau Toutlemonde in Berlin. In: Heyse: Moralische Novellen. Achte Sammlung. Berlin 1869. S. V-XXVIII. Hier S. XII-XXV, XXVII. [•••] Aber wenn ich Ihren Herrn Gemahl recht verstanden habe, so waren es nicht allein die Töch­ ter, mit denen ich es durch meine unsittlichen Schriften verschüttet hätte, sondern recht eigent­ lich die Mütter. Da muß ich mich wohl zu einem zweiten Bekenntniß entschließen, das mir, aus anerzogener Artigkeit, schwerer wird, als das erste: daß ich nämlich auch an die Mütter nicht denke, sobald ich zu schreiben anfange; daß ich überhaupt an gar kein Publikum denke und überlege, wie ich es belehren, spannen, ergötzen will, sondern nur daran, wie ich das, was ich im Innern angeschaut, möglichst unverfälscht aus mir herausgestalten möchte. Dieser Proceß hat so bedenkliche Schwierigkeiten, macht dem Künstler so viel ernstliche Nöthe, daß er sich seine Geburtswehen so wenig durch die Rücksicht auf späteren Tadel oder Beifall erschwe­ ren soll, wie eine Frau in Kindsnöthen daran denkt, ob der neue Mensch, dem sie das Leben gicbt, Liebe oder Haß in dieser Welt erwecken wird. »Es ist ihr Kind und bleibt ihr Kind; ihr gebt ihr ja nichts dazu.« Ich will nun nicht sagen, daß dieses Gleichniß nicht auch, wie alle Gleichnisse, ein wenig

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hinke. So ganz natürlich und creatürlich geht es bei der Geburt eines Dichtwerks nicht zu, daß nicht die freie geistige Thätigkeit, ja sogar oft eine sehr begeisterungslose Verstandesarbeit zum Gelingen mitwirken müßten. Das Beste aber thut auch hier die dunkelwaltende Natur, die Liebe, die höher ist als alle Vernunft, und ohne die eine wahre künstlerische Conception un­ möglicher ist, als eine physische. »Was man nicht liebt, kann man nicht machen,« wenigstens nicht so, daß man ihm das Gemachte nicht ansähe. Und selbst wenn es gelänge eine Zeitlang Alle zu täuschen, sich selbst würde man nicht hintergehen können. Der Beifall Ihrer ganzen lie­ ben Familie, meine verehrte Freundin, ja des ganzen Publikums könnte mich nicht über etwas beruhigen, das ich selber mißbilligen müßte. [...] am Ende kann es doch kein Mensch weiter bringen, als sein Recht geltend zu machen, zu sein, wie er ist, und es ehrlich und unumwunden aussprechen. Die sittliche Pflicht, sich in die Welt zu schicken, sich ihr anzubilden und durch Entsagung auf manchen theuren Eigenwillen die Zwecke des Allgemeinen zu fördern, diese Pflicht kann kein Vernünftiger leugnen. Aber auch sie hat ihre Grenzen, und gerade an diesen Grenzen pflegen die interessantesten dichterischen Probleme zu liegen, so daß man wohl sagen kann, die Grenzberichtigung zwischen der Pflicht gegen das Ganze und dem Recht des Indivi­ duums sei eine der schwierigsten und zugleich höchsten Aufgaben des Dichters. Das nun, was gewöhnlich »Moral« genannt wird, und dessen Recht und Verdienst anzufech­ ten mir nicht in den Sinn kommen kann, verirrt sich auf dieses Grenzgebiet nie. Es ist der Nie­ derschlag der jeweiligen Durchschnittsmeinung über alles, was den gemeinsamen Zwecken der bürgerlichen Gesellschaft dienlich und schädlich ist. Nun aber ist es der Gesellschaft, so gebil­ det, so frei, so human sie sich auch dünken mag, doch vor Allem um die Erhaltung der Gattung zu thun und somit um die Bedürfnisse der Durchschnittsmenschen, deren die weit überwiegende Mehrzahl ist. Wenn sie es denen recht macht, so kommt es ihr auf einige Compromisse mehr oder weniger, auf einige feinere oder gröbere Unbilligkeiten gegen die Rechte der Individuen nicht sonderlich an. Das demokratische Mittelmaß ist ihr Maßstab, der öffentliche Nutzen ihr höchster Zweck, und das, was diesem dient, hat sie sich gewöhnt nicht nur als das Zweckmä­ ßigste anzupreisen, sondern, weil durch die Länge des Gebrauchs bewährt, auch als ganz be­ sonders heilig darzustellen, seinen Ursprung in das Gewissen zu verlegen und so das, miß­ bräuchlich oder nicht, zur Sitte Gewordene für das Sittliche auszugeben.

[•••] Nun aber hat es im Gegensatz gegen diese demokratisch-conservative Mehrheit zu allen Zei­ ten einzelne aristokratisch-revolutionäre Naturen gegeben, die es sich herausnahmen, gerade in ihren innersten Angelegenheiten, auf dem Gebiet des Sittlichen, der Rechte und Pflichten ge­ gen ihre Nebenmenschen und sich selbst, keine höhere Instanz anzuerkennen, als ihr eignes Gewissen. Das Alter eines Brauches, Herkommens oder Gesetzes erschien ihnen noch nicht als hinlängliche Bürgschaft für ihre Wahrheit und Gültigkeit. Ja wenn sic auch ihre Zweckmäßig­ keit für die Masse nicht läugnen konnten, so fühlten sic doch, daß das Moral-Gesetz, da es nur auf den Mittelschlagberechnet war, auf sie selbst nicht paßte, da sic vielleicht um Haupteslänge über dies mittlere Maß hinausragten. Dies Alles nicht in dem Sinne, als ob es aut ein systema­ tisches Auflehnen gegen die Gesellschaft abgesehen sei. So lange kein Colhsionsfall eintrat, wurden sich diese Naturen kaum eines Unterschiedes bewußt. Sobald aber jenes Grenzgebiet

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berührt wurde, standen sie vor der Wahl, entweder sich aufzugeben, auf den innigen Einklang mit sich selbst zu verzichten und zu handeln, wie Schwächere und Geringere handeln würden, oder in offene Fehde mit der herrschenden Meinung zu gerathen und darüber zu Grunde zu gehen, wenn sie sich keine geduldete Ausnahmsstellung erkämpfen könnten. Solche Naturen sind von jeher dem Ostracismus der Gesellschaft verfallen. Aber wenn diese sie in ihrer Mitte nicht dulden konnte, so waren sie darum nicht heimathlos. Sie wurden in die Poesie verbannt. Sie werden mich nicht so mißverstehen, verehrte Frau, als wollte ich aus der Poesie einen idealen Bagno machen, der alle causes célèbres, alle pikanten Verbrecher versammelte. Die Zeit der Räuberromane, der »Geheimnisse« von Paris, London und Philadelphia ist Goalob vor­ über. Eben so wenig dürfen Sie mir die Meinung unterschieben, als ob ich nur das für poesiefä­ hig hielte, was sich außerhalb der guten Gesellschaft gestellt hat [...]. Das Bild des Friedens, der schlichten Treue, der idyllischen Beschränktheit hat so viel Recht, einen Maler zu finden, als die heroischesten Kämpfe tragischer Naturen. Das braucht Ihnen ein so warmer Verehrer Fritz Reuter’s, wie Schreiber dieses seit der Franzosentid gewesen ist, nicht erst zu versichern. Nur daß man, weil dies schlichte »Ja Ja und Nein Nein« gut und erfreulich ist, nicht glaube, was darüber ist, sei vom Uebel. Der Kreis der sinlichen Aufgaben ist mit den zehn Geboten nicht abgeschlossen; Vieles ist, was nicht geschrieben steht, wofür die Pfundwage der alltägli­ chen Moral nicht ausreicht, und wo ein Komödiant einen Pfarrer lehren könnte. Fälle dieser Art darzustellen ist von jeher die Aufgabe der Novelle gewesen, die in der un­ scheinbaren Form, in der sie zunächst bei den romanischen Völkern auftrat, sehr geeignet war, theils wirklich Geschehenes, theils Erfundenes mitzutheilen, was nur als Ausnahme gelten wollte, während für die höheren Formen der Poesie, zumal das Drama, das auf den sympathi­ schen Wiederhall der großen Menge angewiesen ist, alles Problematische, nur relativ Gültige bedenklich schien. Aber auch die künstlerisch anspruchsvollere moderne Novelle hat es sich immer herausgenommen, bedeutsame Ausnahmsfälle zu verzeichnen, um so mehr, da ja auch die große Poesie in ihren erhabensten Schöpfungen häufig den Gegensatz des Einzelnen gegen das Allgemeine betont, das den Alten als Schicksal, den Modernen als sociale Weltordnung er­ scheint. Wenn Sie sich nun aber die größten Gestalten der Tragik ansehen, so werden Sie finden, daß die Schuld, um derentwillen sie leiden und untergehen, im höheren Sinne nur ihre Unschuld ist, eine gewisse heroische Naivetät, zu meinen, daß sie mit ihrem innersten Gefühl Recht behal­ ten könnten gegen das, was nach dem Herkommen des Minelschlages Rechtens ist. So steht Antigone der Staatsräson mit ihrer ganzen sinlichen herben Einfalt gegenüber; so wird Coriolan verbannt, weil er sich nicht entschließen kann, zu den Plebejern, die er verachtet, nur so weit sich herabzulassen, wie es jeder kluge Politiker thun würde. Klugheit ist überhaupt nicht die Tugend dieser aristokratischen Naturen. Wenn sie ihren Vortheil wahrnehmen, nur ein wenig sich nach den Umständen schmiegen und biegen wollten und es nicht verschmähten, zu kleinen Mittelchen, Intriguen, Compromissen ihre Zuflucht zu nehmen, so könnte es oft noch ganz glimpflich ablaufen. [...] Verzichten nicht so viele brave Leute darauf, ihr Handeln mit ihrem Gefühl immer im Einklang zu erhalten, und trösten sich damit, daß die Welt unvollkommen

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sei, und der Einzelne, der besser sein wolle, als die Meisten, ein sonderbarer Schwärmer sein müsse, der unmöglich zu etwas kommen könne? Denn er möge doch fühlen und denken, was er nicht lassen könne; das gehe Niemand etwas an. Nur es nicht merken lassen, daß er anders sei, als Andere, nur hübsch den Schein wahren, auf den es der guten Gesellschaft vor Allem ankommt! Und sehen Sie, beste Freundin, das gerade ist es, was gewissen Naturen unmöglich ist, ob­ wohl sie einsehen, daß die Welt ihnen nichts übler nimmt, als diese Unmöglichkeit, die im besten Falle Rücksichtslosigkeit, im schlimmsten Hochmuth gescholten wird. Daß Jemand den Muth hat, lieber in seinen eigenen Augen sittlich, das heißt im Einklang mit seinem innersten Gefühl, als in denen der Gesellschaft der Sitte gemäß zu handeln, erscheint als ein Majestätsverbrechen gegen die Weltordnung, die jeder die göttliche nennt, so lange sie mit seinen Neigungen und Vorurtheilen übereinstimmt. Denn, wie gesagt, die Gesellschaft ist jeden Augenblick bereit, den Einzelnen der Gattung zu opfern. Sie übt dabei nur das Naturrecht der Selbsterhaltung, und wenn sie andrerseits auch das Naturrecht des Individuums anerkennte, so wäre es ein ehrlicher Kampf, ein reines Verhältniß von Macht zu Macht, wobei natürlich das Individuum in der Regel den Kürzern zöge. Statt dessen begnügt sich die Gesellschaft nicht damit, das, was ihr gefährlich ist, zu beseitigen und unschädlich zu machen, sondern sie bedient sich in den meisten Fällen der schlimmsten Waffe, der sittlichen Verdächtigung und Verleumdung. Und das nur, weil sie sich durch die Ausnahmsstellung des Individuums gereizt und beleidigt fühlt und den heimlichen Stachel nicht verwinden kann, daß der Gegner, wenn er auch unterliegt, doch mit einer Glorie umgeben, als Held oder Märtyrer dahingeht, während die wackersten Vertheidiger der Durchschnittsmoral im Leben und Sterben weder Tadel noch Ruhm ernten. [...] Sämmtliche Geschichten [...], die mein übelberufener siebenter Band enthält, haben mit je­ nen tragischen Problemen den aristokratischen Familienzug gemein, daß die handelnden Perso­ nen es anders machen, als unter denselben Umständen die große Mehrheit der Menschen es gemacht haben würde. Allen ist am Schein sehr wenig gelegen, wenn sie nur ihrem eigensten inneren Wesen treu bleiben können. Da ist ein Mädchen zu einem Kinde gekommen, in dummer Gutmüthigkeit ihrer unerfahrenen Jugend. Dergleichen geschieht freilich auch in den respektabeln Kreisen der guten Gesellschaft. Aber weil es der vor Allem auf die Familie als solche an­ kommt, die auf der legitimen Ehe beruht, so wird ein solcher Fehltritt sorgfältig verhüllt und lieber das Kind geopfert, lieber alle natürlichen Pflichten verletzt und eine Schuld, die oft mehr ein Unglück zu heißen verdient, durch ein Verbrechen bemäntelt, als der jungen Mutter die Anwartschaft auf eine bürgerliche Versorgung ein für allemal abgeschnitten. Wenn es dahin käme, daß ein Mädchen sich nicht entblödete, die Schuld und Buße auf sich zu nehmen und sich offen zu ihrem Kinde zu bekennen, wo bliebe da die öffentliche Moral? Und nun bekennt sich hier Eine nicht nur dazu, sondern verhehlt auch, so bitter sie auf den Vater zu sprechen ist, keinen Augenblick einen freudigen Mutterstolz, der ihr Herz so ausfiillt, daß sie alles Gerede der Welt, alle Nöthe ihrer Lage darüber vergißt, und es kaum als eine Buße empfindet, mit Ver­ zicht auf jedes neue Liebes- und Eheband nur für ihr Kind zu leben. Ja, was das schlimmste ist: ein so sittenloses Geschöpf wird nicht etwa zum abschreckenden Beispiel hingestellt und muß zur Strafe für seine Sünden elend zu Grunde gehen, sondern es findet sich ein ganz recht­

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schaffener Mann, der sich ebenfalls über den Schein hinwegsetzt und die Verlassene zu seinem ehelichen Weibe macht. Klingt das nicht fast wie eine Aufmunterung, in diesen Dingen fünf gerade sein zu lassen? Und ist die folgende Geschichte nicht ein würdiges Seitenstück zu dieser laxen Moral? Ein Ehemann, der den Bruch der Ehe nicht mit einem Pistolenschuß rächt, wie es nun einmal der löbliche Brauch der guten, vielmehr besten Gesellschaft ist *, sondern ver­ sucht, das schwer beleidigte Gesetz ehelicher Treue auf gelindere Art zu sühnen und das, wie es schien, unheilbar gestörte Verhältniß durch weise Mäßigung zu einem ganz neuen Bunde zu gestalten, der fester und gesunder ist, als vorher? Vollends nun die berüchtigten Terzinen, »den Kindern der Welt eine Thorheit und den Frommen ein Aergerniß«! Ein müßiger Mensch, der einem gefährlich lockenden Abenteuer weder aus dem Wege gehen, noch, wenn er sich dar­ auf eingelassen, es mit fröhlicher Sorglosigkeit genießen kann, wie tausend Andere, sondern wie einem bösen Zauber verfallen, ein Raub dämonischer Leidenschaften, winselt und stöhnt, daß ihm das Halbe nicht genüge, während er aus den qualvollen Halbheiten, der übersinnlich­ sinnliche Freier, der er ist, sich nicht herauswinden kann! Und als Krönung des Ganzen die Geschichte eines thörichten jungen Mädchens, das lieber mit einer Lüge am Altar sich und ih­ rem ersten Verlobten die Hoffnung auf ein Lebens- und Liebes-Glück retten, als sich, in erhabe­ ner Resignation, in einem Kloster begraben lassen will. Hier wenigstens rächt sich die Schuld schon auf Erden, d. h. im Verlauf der Geschichte selbst, und zwar im Grunde nur darum, weil die Verblendete wieder nicht so klug ist, den Schein zu wahren, obwohl sie in nächster Nähe den Beweis vor Augen hat, wie leicht dergleichen zu machen wäre. Sie brauchte ihrem Gatten nur nicht die Binde von den Augen zu reißen, ihn nur hübsch in den Wahn zu lullen, als gehöre sie ihm an, — und ihr Geliebter könnte dreist in ihrem Hause aus- und eingehen und den Cicisbeoposten versehen, statt daß sie nun die kühne Thorheit, ihrem Herzen allein zu gehorchen, mit dem Leben büßen muß. Sie sehen, verehrte Freundin, indem ich mir die ganze Größe der begangenen Sünden nur so im Umriß vorstelle, vergeht mir der Muth, irgend etwas zu ihrer Vertheidigung zu sagen. Nur dem Vorwurf möchte ich begegnen, als ob die Erzählung oder die dramatische Darstellung solcher Ausnahmsfälle der öffentlichen Sittlichkeit, ich meine, der landläufigen Moral gefähr­ lich werden könnte. Glauben Sie nur das nicht, liebe Frau Toutlemonde. Nur das uns Wahlver­ wandte kann uns verführen, und sobald Sie in meinen Sachen etwas von der koketten Frivolität, der verhüllten und doch den Schein wahrenden Lüsternheit entdecken sollten, die heutzutage auf den Brettern wie in den Büchern eine so große Rolle spielt, so sagen Sie mir ins Gesicht, daß ich am Verfall der Gesellschaft mitarbeite. Das aber, worüber Sie bisher sich entsetzt haben, wirkt eher abstoßend als anziehend auf die große Masse der bequem Dahinlebenden, die durch­ aus keine Lust und Kraft in sich spüren, für eine Ueberzeugung zu leiden, den Muth ihrer Mei­ nung zu haben und Alles an Alles zu setzen. [...] Ganz im Vertrauen, beste Frau: so bescheiden ich von dem künstlerischen Werth solcher Erzählungen denke, so sehr bilde ich mir ein, daß selbst ein simpler Novellist, wenn er auch ganz tendenziös verfährt, eine stille sittliche Mission erfüllt, daß er die Grenzen dessen, was * Obwohl auch dieses Gottesurtheil so oft für den Sünder gegen den Gerechten entscheidet, und im besten Fall nichts Gescheiteres dabei herauskommt, als eine ganz gemeine Rache.

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als moralisch gilt, leise und unmerklich hinausrücken und immerhin Einige, wenn auch nur Wenige, zur Freiheit erziehen hilft. Und so müssen Sie mich schon meine Wege weiter wandeln lassen und sich mit dem alten Worte trösten, daß es in unseres himmlischen Vaters Reich viele Provinzen giebt. Wenn wir Beide in verschiedenen wohnen sollten, was ich noch immer nicht glauben will, so können wir uns ja trotzdem von Zeit zu Zeit über die Grenzen hinüber die Hand reichen und dennoch gute Freunde bleiben.

115 W[ilhelm] H[einrich] Riehl: Novelle und Sonate. In: Riehl: Freie Vorträge. Zweite Sammlung. Stuttgart 1885. S. 441-80. Hier S. 452-56.

[...] Es wäre gut, wenn sich unsere Sonaten- und Novellenschreiber allezeit erinnerten, daß beide Kunstformen im Hause ihre eigenste Heimat gefunden haben. Der Novellist würde dann seine Stoffe nicht mit Vorliebe aus der sozialen und moralischen Krankenstube holen, wie es leider oft geschah und geschieht. Seine Novelle, die uns mit Gott und der Welt entzweit, statt uns im Innersten zu versöhnen, ist darum schon ästhetisch unecht, und nicht minder eine Novelle, die wir hinters Sofakissen verstecken müssen, wenn wir von unserer Frau oder Tochter bei der Lektüre überrascht werden. Der Novellist kann und soll auch in die Abgründe des .Men­ schenherzens steigen, es kommt nur darauf an, zu welchem Zweck und in welcher Weise, und ich möchte keine Novelle schreiben, die ich nicht meinen Kindern vorlesen könnte. [...] Ein Novellist muß vor allen Dingen zweierlei können, erfinden und erzählen. Wem nicht stets neue Erfindungen und Geschichten von selber zuströmen, wer mühsam nach Stoffen sucht, der ist kein Novellist. Schildern und ausmalen soll man in der Novelle so knapp wie möglich, man soll erzählen. Die vorherrschende Situations- und Stimmungs-Novelle ist der Anfang vom Ende der Novellistik. Lange Gespräche der handelnden Personen stören den no\ ellistischen Grund­ ton; man soll die Leute nur ausnahmsweise selber sprechen lassen, in der Regel aber bündig erzählen, was sie gedacht und gesagt haben. Durch die Dialoge werden die Novellen zu lang, und das ist ein großer Fehler. Die Novelle ist kein Drama; dramatische Novellen und drama­ tische Sonaten sind immer bedenklich. Beim Erzählen ist der Plan, der Aufbau die Hauptkunst; eine Thatsache, ein Motiv muß notwendig aus dem andern hervorgehn. Zum breiten Schildern hat der gute Erzähler gar keine Zeit. Wer eine eben erlebte spannende Geschichte frischweg berichtet, der wird sich bei Schilderungen gewiß nicht über Not aufhalten, und der Novellist soll erzählen, als berichte er eine »Neuigkeit“, die er soeben selbst erlebt habe. Die besten Novellen sind darum relativ kurz. Aber es ist schwer, eine kurze und gute Novelle zu schreiben, weit schwerer als eine ellenlange. [...]

Die unverwüstliche Jugendfnsche der italienischen und spanischen Novellen ist wesentlich bedingt durch ihren volkstümlichen schlichten Erzählerton und die aus dem Anekdoten- und

378

Roman und Novelle

Sagenschatze des Volkes, ja der Völker geschöpften Stoffe. Auch die künstlerisch so viel reicher durchgebildete und in ihren Themen so viel selbständigere moderne Novelle kann und muß sich verjüngen durch die stets erneute Berührung mit der Mutter Erde, mit der volksmäßigen schlicht erzählten Anekdote, Sage und Geschichte. Wenn mich ein heutiger Novellist fragte, welche Novellen er lesen solle, um sich zur Produk­ tion anzuregen, so würde ich ihm antworten: gar keine. Denn bei einem fertigen Kunstwerke gleicher Gattung soll man sich niemals die Inspiration für ein neues holen. Dagegen würde ich ihm dringend zur Lektüre empfehlen: Grimms Märchenbuch, Sebastian Franks Sprichwörter, Zinkgreffs Apophtegmata und ähnliche Bücher, in welchen das eiserne Inventar volkstümlicher Geschichtserfindung und Erzählerkunst der Jahrhunderte niedergelegt ist — nicht damit er das Alte nachahme, sondern um so frischer etwas gutes Neues ersinne. Begehrt der Mann aber mo­ derne Autoren, so nenne ich ihm einen norddeutschen und einen süddeutschen, die beide keine Novellen geschrieben haben und bei denen man doch die feinsten Geheimnisse des novellisti­ schen Vortrags lernen kann: Justus Möser und Johann Peter Hebel. Die erzählenden Stücke der Patriotischen Phantasien sind mit volkstümlicher Kraft ge­ schrieben und zeigen, wie man ethische und soziale Probleme meisterhaft novellistisch lösen kann, ohne eine Novelle zu beabsichtigen. Und im Schatzkästlein erprobt Hebel die seltene Kunst, aus dem alten Anekdotenschatz des Volkes neue Kabinettsstücke zu machen, indem er mit leiser Hand andeutend novellistische Züge aus den derben alten Geschichten entwickelt und sie in seine eigene stilvolle Sprache übersetzt, die er als ein Kind des Volkes mehr erlebt als er­ lernt hatte. [...]

Die Erzähltheorie

Formen der Erzählung

116 Otto Ludwig: Formen der Erzählung. In: Ludwig: Gesammelte Schriften, hg. von Erich Schmidt u. Adolf Stern, Leipzig 1891, Bd. 6: Studien II (Zur Ethik, Ästhetik und Litteratur, hg. von Stern), S. 1202-06. (Erstveröff.)

Die Formen der Erzählung selbst: a) die eigentliche Erzählung; wie man im gewöhnlichen Leben zu erzählen pflegt. Man muß voraussetzen, daß der Erzähler seinen Gegenstand entweder ganz oder teilweise selbst erlebt, oder daß er ihn aus fremder Hand hat; er referiert und muß sich wohl hüten, Dinge zu detaillieren, die er weder selbst erlebt noch von einem andern erfah­ ren haben kann, z. B. die unbelauschten letzten Augenblicke eines Menschen und dergleichen. Hat er die Geschichte selbst erlebt, so wird er entweder selbst der Held derselben sein oder doch dem Helden direkt oder indirekt zeitweilig oder stets nahe gestanden haben, gewesen sein [!]; d. h. entweder er selbst oder sein Gewährsmann oder seine Gewährsmänner. Der Erzähler wird sein Wissen um die Sache motivieren müssen. Er wird in der Regel in medias res anfangen doch kann er das früher Geschehne als Erläutrung an der Stelle, die dessen bedarf, beibringen. Dabei hat er das Gesetz der Erinnrung zu seiner Regel. Also kann er, wenn es die Assoziation der Ideen erlaubt, Abstecher machen; doch müssen diese Abstecher nicht seinem Plane fremd sein, im Gegenteile müssen sie ihm dienen als Kunstmittel, wo sie dann so unabsichtlich und natürlich erscheinen können, als sie absichtlich und gemacht sind. In der Darstellung innrer Entw icklun­ gen allmählichen Werdens, in alledem, worin der Verstand besonders mitthätig ist, hat diese Art zu erzählen den Vorteil; aber eben wregen der ihr möglichen Stetigkeit läuft sie Gefahr, den Leser durch Spannung oder Einförmigkeit zu ermüden, d. h. peinlich oder aber langweilig zu werden. In Hinsicht auf Unterhaltung ist b) die szenische Erzählung im Vorteile. Der so Erzählende erlebt die Geschichte und läßt sie den Leser mit erleben. Er braucht nicht zu motivieren, wie er dazu kommt, zu wissen, w’as er erzählt. Hier ist die Kunstmäßigkeit bemerklicher. Er hat viele Prozeduren mit dem Dramatiker gemein, er muß seinen Vorgang in Ort und Zeit sammeln, ja er arbeitet auf eigentliche theatralische Effekte hin. Bei dem Erzählen ad j ist das Medium der Mitteilung lediglich das Ohr, hier aber wird gewissermaßen durch das Ohr dem Auge mit­ geteilt; der Leser erfährt nicht abstrakt die Sache, sondern sie wird ihm vor das innre Auge ge­ stellt. Natürlich ist es, daß diese Darstellung eine mehr äußerliche sein wird als jene. Der Erzahlerbedient sich aller der mimischen Mittel, durch welche der Dramatiker seinen Vorgang sor das äußre Auge und Ohrdes Zuschauers stellt, um den Leser zu einer Art Zuschauer und Zuhö­ rer zu machen, der seine Gestalten sieht und ihre Reden hört - aber mittelst des innern Sinnes. Er bedient sich sogar der Licenzen des Dramatikers, z. B. durch die Reden der Gestalten die

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Roman und Novelle

Vorgeschichte oder Stücke derselben exponieren zu lassen, anstatt sie selbst zu exponieren. Diese Art der Erzählung setzt die Existenz des eigentlichen Dramas voraus; Leute, die davon nichts wüßten, würden sich in dieser Art der Erzählung nicht zu orientieren wissen. Diese Art der Erzählung hat vor der eigentlichen wie vor dem eigentlichen Drama, von welchen beiden sie eine Mischgattung ist, erheblich viel voraus. Sie kann einem weit verwickeltem Plane, einer weit reichern und mannigfaltigem Komposition gerecht werden und bei weit größrer Länge der Ermüdung weit leichter vorbauen, als die Erzählung unter a und als das Drama. Sie kann kühner sein als beide und hat vor dem eigentlichen Drama noch das voraus, daß der Autor keine Mittelsperson und keiner äußern Anstalten und Apparate bedarf. Er baut sich sein Theater, er malt sich seine Dekorationen, er bläst seine Blitze selbst, er ist sein eigner Theatermeister, und keine Schwierigkeit legt ihm ungefüges reales Baumaterial in den Weg, er muß kein Gewicht, keine Reibung u. s. w. von Körpern berechnen, um sie zu überwinden; er braucht keine fremden Hände zu seinem Bau; und so rasch und ungehindert er wie ein Zauberer entste­ hen und da sein läßt, was er will, so rasch weiß er es zu entfernen und anderm Platz zu machen. Neben ihm steht weder der Kontrolleur mit der Uhr noch der mit dem Maßstabe, er ist unum­ schränkter Herr über Ort und Zeit. Er schafft sich seine Schauspieler selbst, in denen nichts Selbständiges, nichts Individuelles, das der Maske und den übrigen Absichten des Dichters wi­ derspräche, er schafft sich Schauspieler, die nur sich selbst zu spielen brauchen, und dies ihr ganzes Selbst schafft er genau ebenso, wie er es braucht. Seine Publikum kommt nicht, um sich selbst zu zeigen oder für sich seine eigne Komödie außer der seinen zu spielen, noch anzusehen, kein Operngucker entführt ihm dessen Aufmerksamkeit, sein Publikum zerstreut sich nicht ge­ genseitig. [...] Die Erzählung nach a erzählt in der Regel die Dinge in derselben Reihenfolge, in der sie ge­ schehen sind, zuweilen schaltet der Erzähler etwas Frühergeschehenes ein, das Vorhergehende oder auch das Nächstkommende zu erklären. Immer aber ist es der Erzähler, der zu seiner Bequemlichkeit oder um des Verständnisses willen dergleichen thut. Der Erzähler stellt sich und sein Erzählen zugleich mit dar; er muß zugleich seine Erzählung beglaubigen. Hier ein episches Medium, mache es sich nun mehr oder weniger bemerklich. Bei b dagegen fällt dieses Medium als dargestelltes völlig weg; b erzählt nicht nach der Reihenfolge, sondern die Gesichtspunkte der Spannung des Effektes, der idealen Bedeutung (kontrastierende Parodie) bestimmen die Ordnung, b verfährt weit mehr indirekt als a; bei seinen Arrangements giebt der Erzähler nie einen Grund, warum in dieser Folge? wozu diese Szene? woher er dies weiß und dies. Das alles bis auf die letzte Frage muß der Vorgang selbst beantworten, a muß die letzte wie alle diese Fragen direkt erledigen, b braucht es nicht, denn hier erzählt die Geschichte sozusagen sich selbst, der Gegenstand konterfeit sich selbst wie eine Photographie. Bei a ist die historische Glaublichkeit, der Kredit des Erzählers ein Hauptpunkt; seine Geschichte muß überall bewiesen werden, bei b dominiert nur die ästhetische Zweckmäßigkeit. Nun existiert noch eine dritte Art c, welche aus der von a und b zusammengesetzt ist und die Vorteile beider vereinigen kann, die psychologische Entwicklung, überhaupt die stete Dar­ stellung innrer und äußrer Vorgänge, die Kausalität des Verstandes, die lyrische Innigkeit des Gemüts, auch die Gedrängtheit von a mit der detaillierten Mimik, charakteristischen Ausma­

Die Erzähltheorie

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lung der äußern Erscheinung und dem erfrischenden Springen der freien Phantasie von b. Diese Art fügt den Reiz des Problematischen zu dem des genauen Durchschauens von Personen und begebenheitlichen Zusammenhängen, sie mischt nach Absicht des Erzählers Handlung und Begebenheit, das Leben der Geistes und der Natur, das Subjektive und Objektive im Gehalt und in der Form, sie erzählt eins, das andre läßt sie den Leser miterleben, wie es dem Zwecke dient. Erfüllt der Erzähler die ihm gestellte Aufgabe, zu unterhalten, so kann er belehren, erhe­ ben, bewegen, bilden, bauen und zerstören, gute Triebe zu stärken, schlechte zu schwächen su­ chen, raten, warnen, kurz alles, was und wie er will.

Das objektive Erzählen

117 [Julian Schmidt:] Neue Romane. [Sammelbespr.] In: Die Grenzboten 13/1,1 (1854), S. 401—08. Hier S. 401—02. (Rez. Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, 4 Bde., Braunschweig 1854-55. [Dem Rezensenten lagen Bde. 1-3 vor.])

Als Vorzüge treten zwei sehr deutlich hervor. Zunächst eine feine, gebildete, zuweilen über­ raschend wahre Reflexion, ein Sprühfeuer von Einfällen, die auf individuelle Begebenheiten be­ zogen, doch überall in bleibende allgemeinmenschliche Maximen sich zu verwandeln streben; sodann eine große Macht der Phantasie in der Schilderung einzelner auf das Gemüthsleben, namentlich aber auf die Sinnlichkeit bezüglicher Scenen. In den verschiedenen Liebesverhält­ nissen, in die wir den Helden im Lauf des Romans verwickelt sehen, ergeben sich eine Reihe einzelner Gemälde, welche die poetische Empfindung und das poetische Auge des Dichters außer Zweifel stellen. Auch auch diese Vorzüge erscheinen nicht in einer ganz reinen Form. Was zunächst die Reflexion betrifft, so drängt sich der lyrische Dichter noch zu sehr vor. Ueberall sucht er die Empfindung und Betrachtung des einzelnen Moments zu fixiren und denkt nicht daran, daß diese Momente in der epischen Poesie nur dazu dienen können, die Begebenheiten und die Cha­ raktere deutlich zu machen. So werden wir gleich zu Anfang des Romans, wo der junge Held sich auf die Wanderschaft begibt, mit einer so großen Fülle geistreicher Bemerkungen des Ver­ fassers über das, was er darstellt, und des Helden über das, was er in Beziehung auf verschiedene Gegenstände denkt und empfindet, überschüttet, daß unsere Aufmerksamkeit zerstreut wird, und daß uns die Gestalten, die wir suchen, in ganz unbestimmte Ncbelgebilde zerfließen. Fs ist das vielleicht der Fehler eines jungen Dichters, der so eilig als möglich alles, wjs er über das Menschenleben Bedeutendes gedacht hat, an den Mann zu bringen strebt. Allein diese Form widerstrebt der epischen Poesie. Zuerst wollen wir über die Personen und Zustande, ui die uns die Geschichte einführen soll, klar und bestimmt orientirt sein, ehe wir zu Betrachtungen dar­ über angeregt werden. Erst muß ein Stoff vorhanden sein, ehe wir dem Dichter verstauen, daran

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Roman und Novelle

seinen Witz auszuüben. Zudem stört es unsere Unbefangenheit, in jedem einzelnen Fall sogleich an eine allgemeine Maxime erinnert zu werden, welche demselben zu Grunde liegt. Wir wollen in der Kunst der ewigen Reflexion entfliehen und in das Reich der bestimmten Erscheinung ein­ geführt werden, wenn uns auch diese Erscheinung später wieder zum Gedanken zurückführt. Die individuelle Erscheinung muß uns erst als solche gefesselt haben, ehe wir daran denken können, das anatomische Messer anzulegen, und jede Reflexion ist eine Zersetzung des Lebens. -Sodann sind die Reflexionen, so viel Interesse sie auch im einzelnen erregen, doch nicht immer aus dem bestimmten Fall hervorgegangen; man fühlt es zuweilen, daß sie von außen hineinge­ tragen werden, man merkt die Absicht und man wird verstimmt. Endlich verfällt der Dichter in den Fehler, in seinen Gedanken zu hastig dem Auffallenden und Ungewöhnlichen nachzu­ streben. Die einfache Betrachtung genügt ihm niemals. In seiner Phantasie bewegt sich neben der wirklichen immer eine symbolische Welt, auf welche sich die endliche bezieht, und daraus geht ein doppelter Fehler hervor, theils eine Verkleidung des Unbedeutenden in paradoxe Wen­ dungen, theils jene Verkettung unvermittelter Begriffe, die immer auf eine Halbwahrheit her­ auskommen. Was nun die Schilderungen betrifft, so sind sie zuweilen von einem ganz wunderbaren Zau­ ber. Der Dichter hat eine leicht bewegliche Phantasie und vertieft sich in jede neue Situation, die er erfindet, mit aller Heftigkeit eines stark reproducirenden Nervensystems. Ohne unge­ wöhnliche Striche und grelle Farben anzuwenden, weiß er vor unserer Seele schnell und sicher ein lebendiges Bild zu entfalten. Aber die Freude an diesen Bildern wird zuweilen dadurch ge­ stört, daß sie ohne Vermittelung in uns aufgehen und ebenso schnell wieder verschwinden als sie gekommen sind. Es fehlt die behagliche Ruhe der Erzählung, die allein den bleibenden Genuß vermittelt. Wir wollen im Roman von jedem Bilde den Eindruck haben, daß es ein we­ sentliches Moment in der Entwickelung der Geschichte sein wird. Aber hier begegnet es uns fast überall, daß die einzelnen Darstellungen uns als bloße Erscheinungen vorkommen, die kei­ nen Sinn mehr haben, sobald sie vorüber sind. Die Kunst, wirkliche Charaktere zu bilden, und aus ihnen mit fester, sicherer Hand die einzelnen Erscheinungen herzuleiten, hat der Dichter noch nicht gelernt. [•••]

118 [Julian Schmidt:] Neue Romane. [Sammelbespr.] In: Die Grenzboten 15/1,1 (1856), S. 401-12. Hier S. 405-09. (Rez.: W[illiam] M[akespeace] Thackeray: The Newcomes. Mémoires of a most respectable family, 4 Bde., Leipzig: Tauchnitz.) Wenn von Seiten aller Philosophen und Lehrer die sogenannte Menschenkenntniß als das fruchtbarste und dankenswertheste Studium empfohlen wird, so versteht man häufig nichts Anderes darunter, als die Kenntniß der menschlichen Schwächen. Die Menschen sind darauf angewiesen, einander zu benutzen; um darin geschickt zu sein, müssen sie die verwundbaren

Die Erzähltheorie

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Stellen ihrer Gegner kennen und als Gegner erscheinen nach diesem Lebensprincip alle übrigen Menschen. Diese Philosophie des Egoismus, die sich auch in Goethes späteren Epigrammen ausspricht, ist wol der erste Grund zu jener Virtuosität im Analysiren menschlicher Empfindun­ gen, die sich bei unsern neuesten Romanschriftstellern so auffallend zeigt. Es gibt aber noch einen zweiten, der weniger lobenswerth ist. Man findet häufig, daß die schärfsten mikroskopi­ schen Beobachter, die beim ersten Anblick einer neuen Person augenblicklich alle ihre kleinen Schattenseiten weghaben, nicht grade die kräftigsten Naturen sind; aber es gewährt ihnen ein eigenthümliches Vergnügen, durch den Anblick der Schwäche andrer sich über ihre eigne Schwäche zu trösten. [...] Ein entschlossener, seiner Kraft vertrauender Mensch gibt sich nicht viel mit mikroskopischen Studien ab, da er überzeugt ist, im entscheidende Augenblick, wenn er keine verwundbare Stelle findet, den ganzen Menschen mit einem Kolbenstreich niederzu­ strecken. Und so möchten wir es auch von dem Dichter sagen. Der wahrhaft große Dichter wird sich nicht ängstlich um kleine Züge bekümmern, weil seine Seele, wenn sie einmal in Bewegung und Schwung geräth, aus sich selbst heraus das Nöthige in hinreichender Fülle producirt. [...] Die poetische Inspiration kommt nicht von außen, sondern von innen, denn die menschliche Natur ist im Wesentlichen überall dieselbe, und die normal und in großen Zügen angelegte Seele des echten Dichters empfindet mit dem vollen Bewußtsein dieser Empfindung das Nämliche, was ein andrer Mensch in der ähnlichen Lage ohne Bewußtsein empfinden würde. Mit Gemäl­ den ist es ein ganz ähnlicher Fall. Aus einer ängstlichen, wenn auch noch so lange und eifrig fortgesetzten Beobachtung der Wirklichkeit wird niemals etwas Ganzes hervorgehen. Selbst bei denjenigen Kunstgattungen, die durch ihre Natur auf Detailmalerei angewiesen sind, z. B. beim Humor und beim Genre, muß die eigne Seele das Meiste thun. So überläßt sich z. B. Dickens in seinen glänzendsten Stellen nicht den äußern Eindrücken, sondern er folgt dem Impuls seiner trunkenen Laune, die freilich zuweilen über die Grenze des Natürlichen hinauschweift, aber fast immer poetisch wahr ist. Ein vollendeter Dichter wird sein, wer beide Talente harmonisch verbindet: wer in seiner eignen Seele große Empfindungen, Gestalten und Perspectiven vorfin­ det und der Wirklichkeit ein gesundes Auge und eine schnell fassende Aufmerksamkeit entge­ genbringt, um diesen Gestalten Fleisch und Blut zu geben.

[•••] Die mikroskopische Beobachtung ertödtet zunächst allen Idealismus, und ersetzt ihn durch eine trübe, sentimentale Stimmung, die niemals recht weiß, ob sie weinen oder lachen soll. Dem Anschein nach hat man die reine Wirklichkeit vor sich, in der That aber ist es nichts als die plastische Versinnlichung einer subjectiven Stimmung, weshalb sich der Dichter denn auch fortwährend veranlaßt sieht, mit seiner eignen Person hervorzutreten, den Leser darauf auf­ merksam zu machen, wie richtig seine Anschauung sei, den Kritiker zurechtzuweisen und über Gott und die Welt zu philosophiren. Man kann diese Darstellung auch nicht als eine Satire ge­ gen bestehende Uebelstände annehmen, denn zur Satire gehört ein fester Glaube. Die schönen und großen Momente werden nicht rein dargestellt, denn es breitet sich von vornherein der

Schatten einer Ironie darüber, die im Grunde sehr wohlfeil ist. |...] Ein altes Sprichwort sagt: Für den Bedienten gibt es keinen Helden: aber nicht weil der I leid kein Held, sondern weil der Bediente ein Bediente ist. Wir wollen nut diesem \ ergleich nichts

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Roman und Novelle

Nachtheiliges gegen Thackeray sagen. Die Verwandtschaft liegt nur in der Art der Beobach­ tung. Beim Bedienten liegt es in seiner Natur, wenn er in dem Herrn nichts weiter sieht, als wie er sich ankleidet, sich räuspert, ißt und trinkt u. s. w. Thackeray kann das Große und Gute wol sehen, aber er sieht es nicht, weil er sich mit dem Mikroskop zu nahe stellt. Seine Beobach­ tung ist nur scheinbar richtig, denn sie leidet an einem falschen Standpunkt. Er setzt sich den Körper gewissermaßen erst aus seinen einzelnen Theilen zusammen, die er mikroskopisch un­ tersucht, und wobei er zuweilen die Mittelglieder ausgelassen hat. Darum auch trotz der reichen Einzelnheiten die Familienähnlichkeit so vieler seiner Figuren, denn die Grundbestandtheile der menschlichen Natur sind überall die nämlichen, und wenn man überall auf diese zurückgeht, so hat die Zahl der Combinationen eine bestimmte Grenze. Es ist in diesen Romanen etwas von dem Materialismus unserer modernen Naturforscher. Wir wissen nicht, ob Thackeray mit Vogt, Moleschott u. s. w. bekannt ist, ob er weiß, daß der Mensch eine sich selbst heizende Locomotive ist u. s. w., aber er schafft, wie jene analysiren, und hält die Grenze seines Talents für die Grenze des wirklichen Lebens. -

119 Friedrich Spielhagen: Der Held im Roman. Mit besonderer Beziehung auf George Eliots Middlemarch. In: Spielhagen: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, Faks.-dr. nach der 1. Aufl. von 1883, Göttingen (1967), S. 65-100. Hier S. 67-70, 72-75, 77. Ich habe in dem vorhergehenden Aufsatze (das Gebiet des Romans) nachzuweisen gesucht, daß es sich überall, wo die epische Phantasie waltet, schließlich gar nicht um den Menschen handelt, wie er sich als Individuum darstellt, in dieser oder jener besonderen Situation, erfüllt von diesem oder jenem Gefühl, oder in Konflikt mit einem andern Individuum als handelndes Wesen unter dem Druck dieser oder jener Leidenschaft, sondern vielmehr um die Menschheit, um den weitesten Überblick über die menschlichen Verhältnisse, um den tiefsten Einblick in die Gesetze, welche das Menschenleben regieren, welche das Menschentreiben zu einem Kos­ mos machen. Nun giebt es zwei Wege, auf denen der Romandichter diesem Ziele - das ich mit einem Worte: die epische Totalität nennen möchte - entgegenstrebt. Der eine ist, daß er in seiner Dichtung Gestalten über Gestalten vorführt, Ereignisse auf Ereignisse, Fakta auf Fakta häuft, Handlung in Handlung schlingt. Der zweite, daß er, um die Sprünge zuzudecken, welche die konkrete Darstellung etwa läßt; um dem endlichen Faktum womöglich eine unendliche Bedeutung zu geben, und so den Leser, vielleicht auch nur sich selbst, scheinbar auf die höchste Höhe der betrachtenden Übersicht zu heben, die Reflexion zu Hülfe nimmt, die er aus den im Roman von ihm geschilderten Zustän­ den, dem Charakter der dort auftretenden Personen, vielleicht auch nur aus seiner (des Dich­ ters) individueller (von jenen Zuständen und Personen ganz abgesehener) Erfahrung hervorlei­ tet; auch wohl diese Reflexion mit dem Ausdruck seiner individuellen Empfindung begleitet.

Die Erzähltheorie

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Diese beiden Mittel sind in ihrem innersten Wesen verschieden. Das erste liegt seiner Natur nach nicht nur völlig innerhalb des Bereiches der epischen Kunst, sondern ist sogar das einzige, dessen sich der Romandichter, solange er Dichter sein will, bedie­ nen darf. Der Fehler kann also nicht in der Qualität des Mittels, sondern nur in der falschen Anwendung, nicht in dem Gebrauch, sondern in dem Mißbrauch desselben bestehen. Das zweite liegt völlig außerhalb des Bereiches der epischen Kunst; ja, ist dem Wesen dersel­ ben diametral entgegen. * Das durch und durch poetische homerische Epos macht ausschließlich von dem ersteren Gebrauch (in der Ilias allerdings mit einer Ausgiebigkeit, die manchmal zum Übermaß und des­ halb unkünstlerisch wird, ohne aber jemals unpoetisch zu sein); sonst ist mir auf dem Gebiete der Epik kein Produkt bekannt, das sich von dem zweiten gänzlich frei hielte. Allerdings mit unendlicher Verschiedenheit des Grades, von welcher man im allgemeinen nur feststellen kann, daß das epische Vermögen und die Reflexion für gewöhnlich in genauester Proportion stehen, so daß, wo das Maximum jenes, das Minimum dieser sich findet, und umge­ kehrt. Das mehr als sporadische Auftreten der Reflexion bei bedeutenden Dichtern ist deshalb ein sicheres Zeichen, daß ihre Kraft entweder nachgelassen hat, oder die vorliegende epische Aufgabe mindestens das Maß ihrer Kraft übersteigt; wo die Reflexion von vornherein wuchert, ist dagegen episches Unvermögen meistens auch von vornherein zu konstatieren. Sehr, sehr sel­ ten sind Fälle, wo ein wahrhaft bedeutender Dichter beide Mittel - das richtige und das falsche - mit derselben verhängnisvollen Energie in Anwendung bringt. Ein solcher Fall liegt nun eben in George Eliots Middlemarch vor [...]. Bevor wir indessen auf den interessanten Fall näher eingehen können, müssen wir erst einmal festzustellen versuchen, worin der legitime Gebrauch des legitimen Mittels besteht; wie weit der Dichter mit der ausschließlichen Anwendung desselben möglicherweise kommen kann; und wo die verhängnisvolle Grenze liegt, an welcher er entweder Halt machen muß, oder doch nicht * Ich kann mich nicht enthalten zur Feststellung dieses Kardinalpunktes, auf die Gefahr hin, dem Folgen­ den vorzugreifen, einen Gewährsmann zu eitleren, dessen tiefe Einsicht in das epische \X esen, wie in das aller Poesie, noch immer nicht hinreichend geschätzt wird, und auf dessen Autorität ich mich in der Folge dieser Blätter noch oft berufen werde, ja, noch viel öfter berufen würde, wenn ich dadurch den Text nicht mit Noten zu überbürden fürchtete. Es ist dies Friedrich von Schlegel, und die betreffende Stelle findet sich in seiner Geschichte der epischen Dichtkunst der Griechen (Ges. Werke. 2. Original-Ausgabe. \X icn 1846. I. 98) und lautet: »In einer Dichtart, wo alles Dargestellte nur möglich scheinen soll, wird sich natürlich vieles finden, welches durchaus ungeschickt ist, wirklich zu scheinen. Da nun jede Äußerung eigener Emp­ findung oder eigentümlicher Beziehungen des Dichters in seiner Person ihrer Natur nach gegenwärtig und wirklich scheinen muß, so begreift sich’s, warum in einem Epos... eine einzelne lyrische Betrachtung oder ein Hervortreten des Dichters eine so unangenehme Störung verursacht. Es entsteht dadurch ein iderstreit in der epischen Darstellung; die kleinste lyrische Beimischung versetzt die Hörer in die Gegenwart, und macht, daß sie auch von allen übrigen Teilen des Gedichtes den Schein der lebendigen Vi irkhchkeit erw ar­ ten, und fordern, was sie nicht leisten können. Da sich nun jede auch noch so episch behandelte und ausge­ führte persönliche Äußerung des Dichters dem Lyrischen nähert, so ist cs eine grobe \ ortrefflichkeit des Epos, wenn das Werk auch nicht eine Spur von .seinem Urheber enthält; wie cs die Alten so h.uilig nut Erstaunen und Lob von den homerischen Gesängen bemerken." - Es sollte mich freilich nicht uundern. wenn die epischen Dichterlinge nach dieser Probe auf das weitere Studium eines Schriftstellers \ erzichten, der sich so frank und frei zu Wahrheiten bekennt, welche auf sie wie der Anblick des Gorgonenhauptes wirken müssen.

3Ä6

R
awu fe? jabrbdeber für dra^atsebe faaest and Lsertnp. he. r. H. Th. Rcocser.

2

BdL 1. 1848, Sv 212;. 5

Riaccíf GouschiSz PoetaL Bresfae 3858. Bd. 1, Kap. 2. Die ribAwrischt $. der T-crter eme Form, ces Smurs-erens r_.m

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Versepik und Dramatik

Faktor der Poesie erheben? Nein! über das tiefe Niveau einer bürgerlichen Poesie als solcher ist längst entschieden in der deutschen Aesthetik. Warum wären sonst Kotzebue, Iffland und die Birchpfeiffer sprichwörtlich für die Mittelmä­ ßigkeit geworden? Freilich ist ihre Mittelmäßigkeit eine doppelte; die Mittelmäßigkeit des Genre’s und die Mittelmäßigkeit des Talentes. Hebbel hat mindestens die Größe des Talentes voraus, aber die Mittelmäßigkeit des Genre’s verbleibt der Maria Magdalena, darüber schlie­ ßen wir definirend ab. Was nun die Größe des Talentes betrifft, so gestehen wir diese unserem Dichter gerne zu, erkennen aber auch, daß sie durch einen Kunstgriff, der weniger Genie als entschlossene Dreistigkeit fordert, sehr illusorisch gehoben erscheint. Es war nemlich zu allen Zeiten Convenienz - Kleider zu tragen; ungemein originell sein, und Aufsehen erregen kann daher ein Mensch, der sie plötzlich von sich wirft. Das thut Hebbel. Er wandelt mit seiner Poe­ sie, wie Archimedes mit seinem eiipT]xa durch die Strassen - was Wunder, daß er vor allen Zeit­ genossen einzig ist! Erfassen wir namentlich Hebbel’s Weltanschauung richtig, so geht er auf einen Naturalismus aus, der die Erscheinungen der Natur als letzte Form der Offenbarung Gottes in der Welt dahin nimmt, ohne irgend ein sittliches Moment in ihnen zu finden, oder sie einem solchen unterzu­ ordnen. Sein Objekt ist die nackte moralische Thatsache, er führt die Menschheit dahin zurück, wo keine Schuld ist, weil keine Scham, wo kein Ideal herrscht, weil das unverantwortliche, von der Natur fertige Subjekt gilt. Damit aber überschreitet der Dichter die Linie der Schönheit. Was ist die Schönheit? Lange haben die A[e]sthetiker darüber gestritten, und die allgemein gü­ tige Definition nicht finden können; keck und bestimmt antworten jetzt die Modernen; Die Schönheit ist die Wahrheit. Und ist Hebbel nicht wahr? allerdings, aber auch ein mathematischer Satz ist wahr, ohne darum schön zu sein. Doch dieser Vergleich ist alt. Es versteht sich, die Wahrheit im Todten ist indifferent, aber die Wahrheit in der lebendigen, in der freien Natur, das ist die Schönheit. Also ist die That des Herzogs von Praslin [1] schön, und ein Vorwurf für ästhetische Kunst, denn moralisch wahr ist sie jedoch, weil sie wirklich ist? Man sieht, was sich dagegen einwenden läßt. Und so kommen wir dann zu der Modifikation. Schön ist die mo­ ralische Wahrheit im Kunstwerke nur dann, wenn sie im Geiste der Versöhnung auftritt. Diese Versöhnung kann eine zweifache sein: eine äußere und eine innere. Eine äußere Versöhnung ist vorhanden, wenn der Dichter nicht blos das einseitig Abscheuliche darstellt, sondern wenn er in der Gruppe seiner handelnden Karaktere neben dem Schatten das Licht, neben dem Abschreckenden das Anziehende, neben dem Häßlichen das Liebenswerthe vorführt; dadurch lösen sich die Gegensätze und Dissonanzen harmonisch auf, die Menschheit erscheint mit ihrer bösen und guten Seite zugleich, es widerfährt ihr Recht. Eine innere Versöhnung ist gegeben, wenn wir die Nothwendigkeit des tragischen Leidens erblicken, wenn wir die moralische Unmöglichkeit sehen, daß der tragische Held fürder ein Verhältniß zu sich selbst, oder den Lebendigen haben könnte, wenn die sittliche Schuld sich mit dem sittlichen Gesetze der höheren Weltordnung dadurch compensirt, daß sie sich im Bewußtsein ankündigt, und mit einem freien Akte des menschlichen Willens sich suchet. - Ueberblick ich nun im Geiste die ganze Masse der tragischen Literatur, die als echt und classisch anerkannt ist, und vor allen Shakespeare, der doch so crasse Härten bietet, so tritt mir diese Versöhnung in einer oder der andern Gestalt,

Das burgerfiche Drama

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am häufigsten in beiden zugleich entgegen und adeh das Kunstwerk. In Maria Magdalena aber

fehlt sie. Alles ist hier schwarz, grau und dmmerrsch (2), alles voll Kanten, Ecken und Disso­

nanzen, der menschlichen Natur ist in keinem Charakter ihr volles gutes Recht vriederfahren [!]. Da ist der gemeine Kanzleischreiber Leonhard ein Bube, der um so ekelhafter wird, ak seiner

Unmorafirär die Großheit fehlt, da ist die Rohheit des herzlosen Sohnes Kari, da ist ein Vater, dessen Seele eben so viele Schwielen als seine Hand hat, der bei den härtesten Schlägen des

Schicksals empörend ruhig und gelassen bleibt; das könnte an sich wohl gut sein, und das Ideal der Manneskraft zeichnen, aber im Vorbeigehen fragen wir billig, an welchen Schicksals­

schlägen kann dieses Ekenhcrz sich früher gestählt haben, wenn die einzig nahmhaften Schick-

sakschläge ihn doch erst auf der Bühne vor unsem Augen treffen? All diesen Härten und trüben Tinten gegenüber ist nun die versterbende Mutter, oder die unschuldige Fröhlichkeit des

Jugendfreundes viel zu wenig Lichtstoff, um die große Macht anders ak etwa zur traurigen Dämmerung zu gestalten, am hellsten könnte wohl Klara selbst ak Trägerin des herrlichsten

sittlichen Momentes der Liebe - in den düstem Rahmen treten, aber auch von dieser Liebe sehen wir nur das trostlose Nachstück.

So viel von der Unerqwckfichkeit der sämmdkben handelnden Karaktere [,1 vorn Mangel an äußerer Versöhnung. Die innere Versöhnung aber fehlt dadurch, daß Klara stirbt, ohne es zu

müssen. Ihr Tod ist nicht moralisch nochwendig, Klara steht tief genug, um mit ihrem befleckten Bewußtsein sich abzufinden, ihr Tod gebt nicht aus ihr heraus, er wird ihr aufgedrungen. Zwi­

schen ihrer Schuld und dem verletzten Gesetze kt ihr Tod keine Ausgleichung, denn sie stirbt nicht mit Freiheit und UebeTzeugung, sie stirbt nicht, weil die moralische Möglichkeit des

Lebens für sie zu Ende ging, im Gegentheile, sie selber möchte und würde leben weit über ihre Schuld hinaus, würde sie nicht unfreiwillig durch eine Capnce, die dürftig genug ein Werkzeug

des Weitgerichtes sein soll - gemordet. Klaras Tod ist daher keine Genugtuung, erbietet keine

höhere Versöhnung. Wenn wir nun solcher Gestalt Mans Magdalena als ein Kunstwerk im Geiste und in der Idee für verfehlt erklären müßen, so können wir demselben eine desto größere

Vollkommenheit im Formalen zusprechen. Nach dieser Seite ist wahrhaft Meisterliches gelei­ stet. Eine tiefdurchdachte Gliederung des Ganzen, eine scharisinrjge Berechnung des Effektes

in der Anlage und Folge der Semen, ein höchst taktvolles Maßhalten und Pomnren an Ort und

Stelle, eine vollendete Sprache, und ein durch und durch geistiger. Shakespeare'sch tretfender Dialog werden dieses Werk für immer zu einer der reifsten Früchte unserer Bühnen-Literatur

machen. [...]

1 Der Herzog von Choiseul-Prasiin ermordete IS-' seine Frau und tsecma Selbstmord. als der Verdacht au! ihn fiel. 2 finster.

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Versepik und Dramatik

143 [Heinrich von Treitschke:] Zeitgenössische Dichter. I. Otto Ludwig. In: Preußische Jahrbücher 4 (1859), S. 113—32. HierS. 118-20. (Veränderter NeudruckTreitschke: Historische und politische Aufsätze, Neue Folge, TI. 2, Leipzig 1870, S. 694-717.)

[...] Wir verkennen nicht, welcher ungeheure Fortschritt zu reinerer Menschlichkeit darin liegt, daß unsere Zeit in dem niederen Volksleben würdige Stoffe für die Kunst zu finden weiß, wir haben den segensreichen Einfluß der Dorfgeschichten auf unsre erzählende Dichtung willig zugestanden: dennoch scheint uns die Berechtigung des dörflichen und kleinbürgerlichen Lebens in der Tragödie eine sehr beschränkte. Worin besteht der poetische Reiz jener schlichten Lebenskreise? In der Einfachheit, der heimlichen Enge, dem traulichen Frieden eines der Natur noch nicht entfremdeten Daseins. Durch die That ward dies anerkannt von Klaus Groth [1], der von allen denen, welche heute das Volksleben dichterisch schildern, wohl den lautersten Schönheitssinn besitzt. [...] Ueberall bildet die Einfachheit, die Nachbarschaft der Natur den Mittelpunkt des poetischen Interesses. Wie anders in dieser Tragödie [Der Erbförster}! Von dem ästhetischen Reize des Wald- und Jägerlebens ist nicht die Rede; nur die Härte, die Enge der prosaischen Lebensverhältnisse tritt uns entgegen. Wo die Leidenschaft tobt, da erscheint sie in häßlichster Form: ausgehauen wird des Försters Sohn, und den ruchlosen Mordthaten muß sich die feige Waffe der Büchse als Mittel bieten. Fürwahr, das sind keine Aeußerlichkeiten. Wenn der Dichter in der ersten Bearbeitung seinen Helden aufs Gericht gehn ließ, um für den Todtschlag den Tod zu finden, wenn er später den juristischen Fehler durch einen psychologi­ schen ersetzte und diesen starren Gläubigen durch Selbstmord enden ließ: - liegt darin nicht ein bedenklicher Fingerzeig, wie wenig diese harmlosen Lebenskreise sich für die Tragödie eig­ nen? Die komische, die rührende Dichtkunst - wenn auch nicht gerade die Rührung im Iffland’schen Stile- findet in solchen einfachen Verhältnissen ihr natürliches Element. Die Tragö­ die schreitet auf geweihtem Boden, sie verlangt den Kothurn, sie fordert eine reine von der Misère alltäglichen Lebens gesäuberte Luft, sie fordert große Verhältnisse, wenn die großen Leidenschaften, welche sie entfesselt, groß erscheinen, harmonisch wirken sollen, wenn ihr Ein­ druck nicht traurig statt tragisch, niederschlagend statt erschütternd sein soll. Oder wäre es ein Zufall, daß die große Familientragödie des Lear, das psychologische Drama des Tasso in der vornehmen Welt spielen? Wir sind weit entfernt, den niedern Ständen die tragische Hoffähigkeit kurzweg abzusprechen; aber es bedarf ungewöhnlichen Glückes, wenn der Dichter einer kleinbürgerlichen Tragödie die arge Klippe umschiffen will, daß die Leidenschaften in diesem engen Raume verkümmert und gebrochen erscheinen, und daß die rächenden Mächte des bür­ gerlichen Lebens, der Gensd’arm und das »Trillerhäusle« [2] mit ihrer handgreiflichen Häß­ lichkeit den Kunstgenuß zerstören. - Noch mehr. Die Tragödie verlangt volle Zurechnung, in­ dividuelle Freiheit des Entschlusses der Handelnden, und auch darum sind die Höhen des Lebens ihr natürlicher Boden. Keine Spur davon in unsrem Trauerspiele. Dieser Held bewegt sich in einer engen Welt fester Rechts- und Ehrbegriffe, welche nicht minder starr, aber weit minder ästhetisch sind, als die Satzungen spanischer Ritterlichkeit in den Dramen Calderon’s. Seine Ehre glaubt er geschändet, wenn sein Gutsherr ihn wegen einer Meinungsdifferenz aus

Das bürgerliche Drama

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dem Dienste entläßt, sein Recht meint er verletzt, wenn jener von seinem contractlichen Rechte Gebrauch macht, sein Ansehn denkt er zu wahren, wenn er mit der Furcht statt der Liebe Weib und Kind an sich fesselt. Kein Zweifel, es giebt solche Menschen; unter ungebildeten, in der strengen Zucht herber Sitte aufgewachsenen Leuten mögen solche beschränkte Anschauungen sogar die herrschenden sein; wir gedenken dabei so mancher Geschichten aus dem thüringi­ schen Volksleben, jenes Mannes z. B., der mit den Seinen dem Hungertyphus erlag, weil er es für eine Schande hielt, der Behörde seine Dürftigkeit zu bekennen. Aber sind solche Empfin­ dungen, weil sie im Leben vorkommen, poetisch berechtigt? Ist der Hörer, der mit freieren menschlichen Ideen an das Werk herantritt, im Stande, sie nachzuempfinden oder auch nur zu begreifen? [...] 1 KlausGroth(1819-1899): Quickborn. Volksleben in plattdeutschen Gedichten dithmarscher Mundart [...], Hamburg 1853. 2 Drehbarer Käfig, in dem polizeilich Verurteilte zur Schau gestellt wurden.

Das Geschichtsdrama

144 Karl Gutzkow: Vorrede zu »Wullenweber«. In: Karl Gutzkow’s Dramatische Werke, Bd. 6, Leipzig 1848, S. V-XXIV. Hier S. XIII-XV1I.

[•••] Der wahre Feind des wirklichen Gedeihens der ächten historischen Muse ¡9t aber die Ten­ denz. Diese, aus Deutschlands unfreien Zuständen geboren, findet literargeschichtlich in ihrem Wirken sicher einst ihre ästhetische Berechtigung; aber dem historischen Drama, das sich seit zehn Jahren wieder bei uns zu rühren und zu regen begann, ist sie so wenig nützlich gewesen, daß sie eher die Gleichgültigkeit und Abspannung für dieses Genre als die Empfänglichkeit be­ förderte. Man nahm, um für die Gegenwart gewisse Sätze zu beweisen, Charaktere der Vergan­ genheit und entkleidete sie der Naivetät, mit der sie die Handlungen verrichteten, für welche man ihnen die Kleider des Bewußtseins anzog. Mit einer Absichtlichkeit, die nur durch den Drang der Umstände zu entschuldigen ist, ließ man sie in Wendungen und Ansichten sich erge­ hen, die nimmermehr in ihnen so klar und bewußt gelegen haben konnten. Die nächste Folge, da diese Helden alle dasselbe bekennen und beweisen mußten, war ihre gewaltige Ähnlichkeit. Von grausamen oder zweideutigen Charakteren, wenn sie eine politische Märtyrerschaft be­ weisen konnten, wurde das Grausame und Zweideutige weggelassen oder auf die mildeste Art motivirt; denn rnsre Schauspieler wissen sehr wohl, daß die Masse nur klatscht, wenn sie durch und durch edel sind und immer nur das Vollkommenste und Tugendhafteste bezwecken. Prutz versuchte z. B. im Karl von Bourbon [1] einen Charakter zu geben, wie er wirklich geschichtlich war, er nannte Verrath Verrath, Leichtsinn Leichtsinn; aber da kam er auf der Bühne nicht weit. Den Darstellern zu Liebe machte er aus Moritz von Sachsen einen Auszug aller edlen Eigen­ schaften, überpinselte Verrath und Treubruch, versöhnte Freund und Feind, motivirte den Ego­ ismus durch die allgemeine Vaterlandsliebe und die deutsche Freiheit, und Julius Mosen machte es mit seinem Bernhard von Weimar und Johann von Oesterreich [2] nicht besser. Sie sind alle liebenswürdig, alle vortrefflich, diese Heroen, keiner weicht von der idealen Vollkommenheit ab, in der sich unsre ersten Helden und Liebhaber vor den Lampen allein gern präsentiren mö­ gen, alle sterben mit großen Phrasen von Selbstaufopferung, für Völkerwohl und Freiheit, und das Ende vom Liede ist, daß sich von allen diesen schönen Vorwürfen des historischen Drama's keine Ausführung so erhalten wird, daß wir mit ihnen unbeschadet der vielleicht sehr anerkennenswerthen sonstigen dichterischen Intentionen wirklich fertige, metallene, ausgegossene, ge­ schichtliche Gestalten für die Poesie gewonnen haben. Zu diesen Beschönigungen wurden wir freilich durch den gedrückten politischen Zustand, dem wir uns zu entringen anfangen, so zu sagen gezwungen. Gerade der deutschen Geschichte wendet sich das vaterländisch gesinnte Gemüth des Dichters zu, man macht an ihn sogar die Forderung, gerade dies Gebiet mit seinen auferweckenden Zauberfarben zu beleben, und wel­ che Rücksichten, welche Schwierigkeiten waren und sind hier zu überwinden! Die Fürsten legen

Das Geschichtsdrama

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die Hand auf ihre Ahnen und wollen sie den Dichtern nicht preisgeben [3]. Die Stämme und Städte sogar sind gegeneinander eifersüchtig oder theilnahmlos. Die Geschichtskenntniß des Volkes ist so gering, daß man die größte Mühe hat, die Masse nur einigermaßen zu orientiren. Zu diesen äußern Schwierigkeiten kommt noch die innere des historischen Pragmatismus der deutschen Geschichte selbst. Will man aufrichtig sein, so kann man nicht verschweigen, daß sie einen beklemmenden Eindruck macht. Sie ist durchwoben mit allen Fäden des Verraths und der Gewissenlosigkeit. Der Isolirungstrieb zeigt Alles in verkürztem Maßstabe, das unter ande­ ren Umständen vielleicht Große wird winzig und lohnt die Begeisterung des Dichters nicht. Kleinliches Patricierwesen, kleinliche Fürstenwirthschaft, Rohheit und Grausamkeit, wenn einmal eine Volkserhebung stattfand, Servilität, religiöser Fanatismus, steifes Pedantenwesen, das Alles geht so bunt durch die ganze deutsche Geschichte, daß man es den Poeten nicht ver­ denken kann, wenn sie in ferne und fremde Geschichten sich vertiefen. Schon der religiöse Zwiespalt z. B. wirkt höchst entmuthigend. Die Religion ist die Achse fast der ganzen deutschen Geschichte, und wie bedenklich wird es, sich dem Unheil einer doppelten Rücksicht, einer pro­ testantischen oder katholischen Parteilichkeit auszusetzen! Dramen, die in Norddeutschland spielen, würden für Süddeutschland nicht existiren und umgekehrt. Möchte doch die Entwikkelung unsrer politischen Freiheit auch dahin gedeihen, daß wir freies Feld für die reine und aufrichtige Motivirung unsrer Geschichte gewinnen! Wir müssen auf den ersten deutschen Theatern die Fürsten in der ganzen Eitelkeit, Treulosigkeit und Heuchelei schildern dürfen, die ihnen in der deutschen Geschichte überwiegend eigen war, sonst kann es der Muse des histori­ schen Drama’s in unserm vaterländischen Chaos nicht heimisch werden.

[...] 1 Robert Prutz (1816-1872): Carl von Bourbon, Hannover 1845. s. a. Autorenbiographien. 2 Julius Mosen (1803-1867): Herzog Bernhard (1842, Dresdner Hoftheater), Don Johann von Oester­ reich (1845, Hoftheater Oldenburg). 3 s. Dok. 132 Anm. 4, S. 431.

145 Rudolf Gottschall: Ueber die historische Tragödie. In: (Westermanns) Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte 6 (1859), S. 661-69. Hier S. 665-69. [...] Der geschichtliche Stoff wird aus der Seele des Dichters und nach ihren Idealen wieder­ geboren. Der Stoff als solcher hat keine künstlerischen Hoheitsrechte - nur die Majestät des dichterischen Genius ist damit ausgestattet. Wohl sind es die großen Krisen der Weltgeschichte selbst, welche der Dichter darstellt; aber sie sind als erschütternder Kampf in die Brust seines Helden verlegt. Jedes einzelne Drama ist nicht ein losgerissenes Stück Geschichte, welches rep­ tilartig sein eigenes Leben fortführt; es hat eine centrale Einheit, einen von Hause aus selbstän­ digen Herzschlag. Und nur solche Stoffe werden gewählt, deren historischer Inhalt ein Spiegel der Gegenwart ist und das Herz der Zeitgenossen zu ergreifen vermag oder die ein allgemeines

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Versepik und Dramatik

menschliches Interesse haben. Das Pathos einer großen Seele, die ebenbürtig ist den bewegenden Geistern der Weltgeschichte, trägt und durchdringt das ganze Kunstwerk und eine schwung­ hafte Begeisterung, voll Kraft, Würde und Adel des Ausdrucks, der unsterbliche Gedanken prägt, reißt die Hörer unwiderstehlich fort und wirkt für alle Zeiten als eine geistige Macht der Nation. Das ist die ideale Behandlungsweise der historischen Tragödie durch Schiller, die wir für classisch und maßgebend halten, um so mehr, als sie in die rechte Mitte zwischen der antiken Tragödie und Shakspeare fällt, in welcher allein das dramatische Kunstwerk unserer Gegenwart und Zukunft zu suchen ist. Nicht als ob diese Mitte durch Schiller ausschließlich eingenommen würde und nur noch Raum wäre für schillernde Nachahmung! Nein, es werden andere Genien kommen, vielleicht mit noch reicherer Fülle der Charakteristik, mit noch größerer psychologischer Vertiefung, mit noch schärferem dramatischem Kunstverstand; aber auch ihre Werke werden die Mitte halten müssen zwischen dem plastischen Gepräge des griechischen Trauerspiels und dem üppigen Naturwuchs Shakspeare’scher Lebensfülle und Gedankentiefe. Wenn wir die ideale Tragödie als die höchste Form der historischen hinstellen: so kommt es zunächst darauf an, ihr Wesen zu bestimmen. Es gehört zu ihrer idealen Fassung, daß das Historische zum Politischen erhoben werde. Wir verstehen hier nicht das Politische im Sinne der Tagestendenzen und sind weit davon entfernt, Parteistichwörter und auf den augenblickli­ chen Effect berechnete Phrasen als zeigemäßes Arom der Tragödie zu billigen. Dagegen erklären wir uns gegen alles Historische, welches abgelebt und vom Weltgeiste bei Seite geworfen, ohne erwärmenden und belebenden Inhalt für die Gegenwart ist. Wenn eine Staatsaction zum Mit­ telpunkte der Tragödie gemacht wird: so muß diesem Kern des Werkes noch eine geistige Triebkraft für unser eigenes Staatsleben beiwohnen; die Conflicte müssen nicht bloß dem ge­ lehrten Verständniß, sondern dem Verständniß der ganzen Nation naheliegen; mit einem Worte, die Vergangenheit muß in irgend einer Weise ein Spiegelbild der Gegenwart sein. Das dürre Holz der Geschichte aufzulesen und zu einem dramatischen Bündel zu sammeln, ist eine undankbare Arbeit, der sich leider! so viele Autoren der Neuzeit unterziehen. Der Dichter muß auf der Höhe seiner eigenen Zeit stehen, das gehört nothwendig mit zu seinem Genius. Der glückliche Instinkt und Griff für das Bleibende und Bedeutende in der Geschichte ist seine we­ sentliche Mitgift. Die Conflicte eines Fiesco, Wallenstein, Teil werden zu allen Zeiten verstan­ den werden: unsere Gegenwart ist reich an Analogien. Ein Republicaner, der nach der Krone strebt, ein glorreicher Feldherr, der sich fürstliche Selbständigkeit erkämpfen will, ein Volks­ mann, der sich gegen den Druck der Tyrannei mannhaft zur Wehr setzt - das sind Helden, de­ nen unsere Sympathien nicht fehlen können. [...] Wenn man uns dagegen dynastische Kämpfe der Capetinger und Carolinger oder beliebige deutsche Reichsfehden dramatisirt, wenn man aus jedem General einen Helden und aus jeder Bataille ein Drama macht; wenn man sich gar Stoffe aus dem Cornelius Nepos wählt und in Zeiten von ganz verschiedener Weltanschauung, zu deren Verständniß wir ganze Bibliotheken durchstudiren müssen, die dramatische Handlung verlegt: so entsteht daraus ein Drama, welches für Gegenwart und Zukunft todtgeboren ist und nur als eine mit größerem oder geringerem Geschick dialogisiere geschichtliche Abhandlung be­ trachtet werden kann. Selbst ein Conflict, der an und für sich dramatisch ist, bleibt ohne Inter­

Das Geschtdxsdrama

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esse für uns, wem seine geschichtlichen Voraussetzungen ohne Zusammenhang mit unserem

ganzes Cuhmstandpenkte sind. So glauben wir im Recht zu sein, wenn wir vorzugsw eise die

Wahl geschichtlicher Stoffe aus der neuen Zeh seit der Reformation empfehlen [ 1 j, weil hier die Bedingungen der geschichtlichen Handlung ganz im Einklang mit unserer Denkweise, unsem Lebens * und Cukurverhaknissen sind. Es kommt ün Drama ja weniger auf die Handlung an, als auf ihre innere Modvining. Wo aber die .Motive der Handlung einer uns fremden Welt­

anschauung und Empfindungswetse entnommen werden, wie sollen wir da jene Sympathie

empfinden, welche die großen Wirkungen der Tragödie möglich macht? Ist dies nicht ein Ver­ stoß gegen die Gleichartigkeit, welche schon der große Stagirit [2j von den dramatischen Cha­ rakteren verlangt? |...]

(...) Wir verlangen vom Stile der Tragödie Einheit und Harmonie, nicht im Sinne der bloßen Conectheh des dassischen französischen Dramas. nicht einmal im Sinne der antiken plasti­

schen Strenge, selbst noch freier, beweglicher, individueller, als die Schiller'sehe Dichtweise, aber doch so, daß die Elemente des Stils nicht aus einander fallen, daß auch der freieste Humor

an die Sraration gebunden bleibt und sich nirgends in das Possenhafte und Burleske verirrt. Eben so erfordert die Würde und Getragenbeit der historischen Tragödie den Vers. In richtiger charakterstKcher Behandlung empfiehlt sich noch immer der fünffüßige Jambus für die Zwecke des Trauerspieles. Was aber die dramatische Diction betrifft; so gilt als Axiom, daß der Stil

der Dichter ist. Einseitige Vorliebe bat hierin vergebliche Recepte gemacht; denn wo das un­ wägbare und unmeßbare Wesen des Genies beginnt, da Bescheide sich der lehrhafte Ton der

Kritik zu deuten und nicht zu predigen. -Ohne Frage«, heißt es m meiner Poetik, «lassen sich die höchsten Zwecke der Tragödie eben so gut in Shakespeare’* bilderreicher Diction, wie in

der antithesenreicben Schiller’s, in Goethe's plastisch klarer, wie in Lessmg’s verstandesscharfer

Sprache, in Hebbel's paradox kühner. Gutzkow’s smnvoU verschlungener. Laube’s sinnlich fri­

die Begeisterung des Dichters die Ehcnon mit innerer, schöpferischer Nochwendigkeit hervorbringr! Dagegen ist die Gewalt des tragischen Pathos, das sich in mächtigen Feuerströmen ergießt, allen großen Dramatikern. Aeschylos und Sopho­ kles, Calderon und Shakespeare, Corneille und Schiller, eigenthumhch - eine unerläßliche Bedingung der tragischen Wirkung. Nicht Goethe’s sinnige Grazie, nicht Lessing s geistvolle Schärfe können den Mangel an dieser hinreißenden Energie des Ausdruckes ersetzen, ohne wel­ che der Dramatiker die großartige Majestät der Leidenschaft und der. Enthusiasmus, aus dem die weltgeschichtliche That bervorgeht. nur mit Aquarellfarben darzustellen vermag * V. Hierin liegt auch zugleich die Bedeutung des • Rhetorischen • tut das geschichtliche Trauerspiel. Wie viele .Anklagen hat man auf die Rhetorik im Drama gehäuft, und nur vergessen.daß sie grade die größten Dramatiker Shakespeare und Schiller vorzugsweise treffen! Alles öffentliche Leben bedarf der Rhetorik - wie sollte das Drama ihrer entbehren, welches uns Bilder des ortendichen Lebens entrollt? Die Könige und Feldherren Shakespeare' *, die ihre Truppen zum Kampfe begeistern, ein Mark .Anton. der durch Casar's Leichenrede das Volk elektrisier, ein Fiesco. der die Mirverschworenen zum kühnen Unternehmer, hmreißt. ein al'.er.stein. der seine Cürassiere zum Abfälle verlockt, die Staatsmänner un Ratbe der Elisabeth - wie sollen sie denn anders wirken, als durch eine aroßamse. zu dichterischem Schu ung gesteigerte Rheto­ scher Redeweise erreichen - wenn nur

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Versepik und Dramatik

rik? Man mag das Rhetorische dem Poetischen gegenüberstellen, indem jenes äußere Zwecke verfolgt, dies selbstgenugsam seinen Zweck in sich allein trägt — die Charaktere des Drama verfolgen ja bestimmte Zwecke, aus deren Collision die Handlung hervorgeht. Innerhalb des poetischen Ganzen ist daher das Rhetorische ein nothwendiges Element der dramatischen Bewegung. Aehnlich verhält es sich mit den Sentenzen, über deren Häufung bei Schiller die Gegner dieses Dichters so reichlichen Tadel ergossen! Als wenn die attischen Tragiker, als wenn Calderon und Shakspeare nicht eben so reich, ja noch reicher an Sentenzen wären! Sentenzen sind die kleinen Gedankenmünzen, auf welche der Genius in allen Zeiten sein Bild geprägt. Der Dramatiker hat die Pflicht, uns in die geheime Werkstatt des Geistes und der Seele einzuführen, in der die That geboren wird. Grade die gedankenvolle Besinnung, die in die Tiefen des Lebens herabsteigt, unterscheidet den Meister vom Stümper. Diese Besinnung aber, diese geistvolle Bewegung des innern Lebens, wirft Sentenzen aus, wie das bewegte Meer Perlen an den Strand wirft. Sind diese Sentenzen der Situation und dem Charakter angemessen, was freilich selbst bei Shakspeare nicht immer der Fall ist, da der Tiefsinn dieses Dichters in genialen Offenbarun­ gen über Welt und Leben oft zur Unzeit zu schwelgen liebt - so sind sie tadellos. Der Dramatiker muß, wie Hegel mit Recht verlangt [4], sein Pathos expliciren, und grade die Sentenz gibt dem einzelnen Fall eine allgemeine tiefere Bedeutung und prägt sich, wenn sie ein echter Dichter schuf, mit schöner Unvergeßlichkeit in das Herz der Nation. Die Composition der geschichtli­ chen Tragödie aber muß die fortgehende Linie der Weltgeschichte zu einem Kreis mit centraler Einheit umbiegen. Wir verlangen für jedes Drama, auch für das geschichtliche, den Mittelpunkt der Idee, die, wie eine geheime Bildnerin, aus sich heraus alle Glieder des schönen Organismus schafft. Die Geschichte selbst gibt nur den Stoff, und damit ist ihr Recht erloschen. [...] Weltgeschichtlich bedeutsame Daten müssen freilich feststehen - Cäsar muß über den Rubicon gehen, Napoleon in St. Helena sterben. Auch Egmont muß hingerichtet werden, weil sich an diese geschichtliche Thatsache der Abfall der vereinigten Niederlande knüpft. Doch ob die Jungfrau von Orleans verbrannt wird oder im Kampfe stirbt - das ist gleichgiltig für die Bedeu­ tung ihres Wirkens, darauf ruht kein historischer Nachdruck. Eben so ist es gleichgiltig, ob Egmont Weib und Kinder hat oder nicht, gleichgiltig in Bezug auf sein geschichtliches Wirken, keineswegs aber in Bezug auf die Idee des Dichters. Hier war eine Abweichung von der Geschichte geboten; denn zu Goethes leichtblütigem Egmont paßt nicht Weib und Kind, nur ein frei sich hingebendes Clärchen. Je mehr die geschichtliche Tragödie in ihrer Ausführung der dramatischen Technik gerecht wird und ihre Kunstgesetze beobachtet: desto mehr sichert sie sich den Erfolg. [...] Die historische Tragödie ist die idealste Form der Poesie; ihr Schöpfer ein Genius, in welchem der Weltgeist lebendig, ihr Boden ein frisches nationales Bewußtsein! Je mehr sich dies wieder in unserm Volke regt, je energischer ein großer Sinn und die alte Kraft erwacht, wenn der Ernst der Geschichte an die Pforten dieses schönen Landes klopft: desto günstiger ist das Horoskop, welches wir dem geschichtlichen Trauerspiel stellen dürfen.

1 s. Dok. 141 Anm. 5, S. 465.

Das Geschichtsdrama

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1 Aristoteles. 3 Rudolf Gonschall: Poetik, die Dichtkunst und ihre Formen, Breslau 1858, 0, 3, 3. 4 Georg Wi&eten Friedrich Hegel (1 ? A>—1831): Ästhetik, hg. v. Friedrich Bassenge, Bd. 1, Berlin und Weimar 1955, S. 231: »Solch ein Pathos nun erfordert wesentlich eine Darste&mg und Axsmobtng. Und zwar mu8 es eine in sich seiber reiche Seele sem, welche in ihr Pathos den Reichtum ihres Inneren einlegt und nicht nur konzentriert und intensiv bleibt, sondern sich extensiv au£ert und sich zur ausgebil­ deten Gestalt erhebt-,

146 Melchior Meyr: Die Gefahr und das Heil des deutschen Dramas. In: Meyr: Drama­ tische Werke, Bd. 1, Hannover 1868, S. 1I1-XXH. Hier S. III—IV, VI-VIII, X-XV.

[...J In der Frage des Dramas kämpft man über die Form und über den Stoff, und in der letzten Zeit ist namentlich dieser ein Gegenstand leidenschaftlicher Erörterung geworden. Das dramatische Werk, auf der Bühne verkörpert, soll wirken; es soll fesseln, ergreifen, er­ schüttern, erheben - beglücken! - Welches sind nun die Stoffe, die wir zu den wirksamsten Dra­ men verarbeiten können? Das wurde die Frage! Indessen harten sich die Stimmen gemehrt, die vor allem das historische Drama fordern, und dieses wurde von einer guten Zahl Poeten mit verschiedenem Erfolge culnvirt; - die Frage stellte sich daher spezieller so: Welche Stoffe der Geschichte sind es, die wir in dramatischer Gestal­ tung unserer Nation vorführen sollen? Und hierüber vorzugsweise entbrannte der Streit. Von der einen Seite behauptete man oder setzte man voraus. daß der Dramatiker seine Stoffe nehmen könne aus allen Zeiten und Völkern. Man war der Ansicht, was einmal einen Theil der Menschheit gewaltig aufgeregt und in mächtige Kämpfe verwickelt habe, das müsse, auf der Scene wieder belebt, die Menschen immer wieder ergreifen, rühren und erheben. Von der andern Seite wurde entgegnet: gewisse Fragen seien für uns abgethan, gewisse Ziele für uns ent­ schwunden, dergestalt, daß sie uns auch im dramatischen Abbilde keinen Antheil mehr abzuge­ winnen vermöchten. Der specifische Patriotismus des alten Griechenlands und Roms, die mit­ telalterlichen Kämpfe zwischen Papszthum und Kaiserthum und ähnliche, uns nicht mehr unmittelbar verständliche Süjets würden uns heutzutage in jeder Bearbeitung kalt lassen. Nur was jetzt noch Aufgabe und jetzt noch unentschieden sei. wovon die Folgen jetzt noch lebendig wären, das könnte zu dichterischer Behandlung empfohlen werden. Also die Kämpfe der Refor­ mation, der Aufklärung, der Revolution. Die Epoche der Reformation sei das Aeußerste in der Vergangenheit, worauf der Dramatiker der Gegenwan zurückgehen könne, wenn er sich nicht an unüberwindlich dürren Stoffen umsonst abmühen wolle Die Wahrheit ist, daß es auf den Stoff zunächst überhaupt nicht ankommt. Die Gegenwan, mit ihrer einseitig realistischen Gesinnung, überschätzt consequenterweise die Geschichte, das historische Factum. Sie sieht dann etwas an sich Bedeutendes. Wesentliches. Gehen wir abet an ein solches Factum mit den Formen des Ewigen heran ;und das Drama gehört

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Versepik und Dramatik

zu diesen Formen!), dann erkennen wir, daß es nur ein Aeußerliches, Zeitliches, Nebensächli­ ches ist,-daß es im Vergleich zum wahrhaft Wesentlichen nur die Rolle eines Gewandes spielt. Wer solch ein Aeußerliches dramatisch wiedergibt, der wird uns im besten Fall - wenn er es nämlich in seinen wichtigsten Momenten und in seiner Ganzheit wiedergibt! - doch nur ein Gemälde vor Augen stellen, das wir mit Interesse betrachten. Um eines solchen Interesses willen gehen wir aber nicht ins Theater! Und ein Drama, das uns nur ein solches Interesse einflößt, wird hinsterben, denn es wird einen sogenannten succès d’estime haben! Die realistischen Aesthetiker denken und sagen: »Welche ungeheuren Kämpfe stellt uns die Geschichte vor die Seele! Mit welchen glühenden Leidenschaften ist gestritten worden auf bei­ den Seiten! Welche Umschwünge der Geschicke haben dabei stattgefunden ! Hier welche Nie­ derlagen — dort welche Triumphe! Welche Gefühle haben gelodert in den Herzen der Streiten­ den! Und endlich, welche Zwecke sind durch sie erreicht worden! Vermöchte ein Dichter alles das im dramatischen Bilde vorzuführen: die mächtigen Leidenschaften jener Epochen müßten wieder erstehen in uns und das großartige historische Leben müßte durch unsere Seele gehen!« So reden und rathen sie - und führen die Dramatiker irre! Es ist dasselbe, ob sie uns auf Perikies, Demosthenes, Philopömen [2], Brutus, Julius Cäsar, die sächsischen, fränkischen und schwäbischen Kaiser - oder auf Luther, Calvin, Hutten, Friedrich den Großen, Danton und Robespierre verweisen. Immer gibt der Dramatiker, der ih­ nen folgt, nur dramatisirte Geschichte! - und das ist nicht seines Amts - es ist zu wenig für ihn! Die Geschichte ist Wirkung: wir wollen zu ihr das wirkende Princip. Sie ist Sache: wir wollen zu ihr die Ursache - die Hauptsache ! Und diese Hauptsache wollen wir als solche in Scene treten sehen. Wir wollen den Geist wahrnehmen - den schöpferisch wollenden und handelnden Geist - und die Geschichte nur als Hülle des Geistes! Den Geist, den wir wollen, das ist der Mensch! Das innerste, mächtigste - ewige Wesen des Menschen! Der Dramatiker, der ein wirkliches Drama schaffen will, hat sein Absehen vor allem darauf zu richten, daß er uns Menschen vorführe, die mit einem bestimmten individuellen und natio­ nalen Charakter und einer bestimmten Leidenschaft auf ein bestimmtes Ziel hingehen. Er muß uns diese Menschen in Aufdeckung ihres innersten Wesens, ihrer tiefsten Richtung und Stim­ mung so klar und lebendig vor Augen stellen, daß wir, von ihnen gewonnen, zum innigsten Mitgefühl bewegt, ihre Sache zu der unsern machen im Guten und Bösen, in Leid und Freud, in Sieg und Untergang! Der Zusammenstoß der entgegengesetzten Charaktere, Leidenschaften und Ziele muß in Offenbarung der Motive begreiflich und ergreifend erfolgen; der Gang des Kampfes muß uns fesseln, der Ausgang befriedigen. Wer diese Forderungen erfüllen kann, der nehme den Stoff dazu aus der Geschichte - aus allen Zeiten und Nationen! - Der Stoff, der eine solche Erfüllung zuläßt, das ist der rechte!

Das wird nun in der Forderung, die den Dramatiker auf die neuere Geschichte verweist, die Wahrheit sein: daß der moderne historische Charakter leichter in den dramatisch ergreifenden

Das Geschichtsdrama

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Menschen zu wandeln ist! Aber Unrecht hat man auf dieser Seite, bei Charakteren früherer Jahrhunderte die Möglichkeit einer solchen Wandelung zu läugnen. Dieses Vorurtheil muß man aufgeben und sich auf den Protest gegen diejenigen Dramatiker beschränken, die schon etwas gethan zu haben glauben, wenn sie nur den specifischen Griechen, Römer etc. mit ihren bestimmten historischen Planen wieder vor uns agiren lassen. Gegen sie kann man nicht streng genug sein. Denn solche Figuren sind für uns nur culturhistorische Raritäten, die in einem Museum ihre Stelle haben, nicht aber auf der Bühne; und wir müssen sie von dieser um so ent­ schiedener wegweisen, mit je größerer Prätension sie in der Regel auftreten. Auf der Bühne wol­ len wir nicht sehen, was geschehen ist, mag es für seine Zeit noch so bedeutend gewesen sein: das Werden wollen wir sehen! Der ewige Quell der Thaten und Geschicke soll uns erscheinen, die Folgen sollen mit Nothwendigkeit aus der Ursache hervorgehen und ihr dauernder Zweck soll sich uns darstellen. Macht der Dramatiker diesen Quell, diese Nothwendigkeit und diesen Zweck zur Hauptsache, dann werden die Consequenzen - das in der Geschichte materiell Her­ vorgetretene — von selber Nebensache, die Handlung rückt in das ideale Gebiet hinauf, wo sie allgemeine, damit aber auch für uns noch lebendige Bedeutung hat: die dramatisirte Historie wird historisches Drama! [...] Der Dramatiker der Gegenwart soll die echte und rechte Weltgeschichte studiren; er soll sie gründlich studiren, wie sie ihm heute geboten wird. Aber er soll frei werden gegen dieses Mate­ rial, indem er sich von ihm aus zum Geiste - von der Geschichte zur Philosophie der Geschichte erhebt! Man erschrecke nicht vor diesem Namen! Die Philosophie der Geschichte hat kein anderes Geschäft, als zu den historischen Wirkungen die unmittelbaren und mittelbaren - die höheren Ursachen zu erforschen, sie unter sich organisch zu verbinden und uns dadurch die Entwicklung der Geschichte begreiflich zu machen. Die Philosophie der Geschichte richtet ihr Hauptaugen­ merk auf den Geist, auf den Quell der Thaten und Geschicke, auf die Ideen, wovon die histori­ schen Personen die Träger sind - kommt also dem Dramatiker direct entgegen. Sie führt nicht - wie Unkundige fürchten - in abstracte, kahle Regionen: sie erhebt vom äußerlichen und ma­ teriellen in das intensive Leben des menschlichen und göttlichen Wollens und Denkens! Sie deckt eben den erfrischenden, labenden Strom auf, mit welchem der Dramatiker sein Werk vor allem zu durchgießen hat!

[•••] Wie die Gefahr der gegenwärtigen Dramatik in der Ueberschätzung des Stoffes liegt, so liegt ihr Heil in der Würdigung des Geistes. Der Stoff ist Vielheit, der Geist Einheit. Nur wenn der Stoff dient und der Geist herrscht, kann der Stoff Organismus, d. i. Vielheit in Einheit werden -kann das historisch Besondere jenen allgemeinen Charakter erlangen, wodurch es heute noch verständlich ist und unser tiefstes menschliches Mitgefühl erregt. Das Heil also liegt in der Gewinnung eines hohem Standpunkts. Der dramatische Dichter muß das Material nicht nur kennen, sondern auch erkennen lernen in Anschauung seines Grun­ des und Zweckes — und diese Erkenntniß verschafft ihm nur der denkende Geist - die Wissen­ schaft. Aus der Höhe des Geistes, der das den Gliedern (den Geschlechtern und Völkern) Gemeinsame im Auge behält, weil er die ganze Menschheit überblickt - der die Glieder an ihrer

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Versepik und Dramatik

Stelle im Ganzen, in ihrer Bedeutung für das Ganze sieht, - aus dieser Höhe kann man in Freiheit spielen mit den Specialitäten der Zeiten und Völker. Man ist frei gegen die materielle Vollstän­ digkeit, welche der Tod der Poesie ist - frei zum richtigen Gebrauch des pars pro toto! Man kann zur Vertretung des materiellen Ganzen die rechte Auswahl treffen und von den Thaten und Geschicken einer historischen Person diejenigen in Scene setzen, auf die es ankommt, weil sie das Wesen der Person am besten charakterisiren. Man erlangt durch den begreifenden Geist nicht nur die klarste Einsicht in den Lauf der Dinge und damit den besten Grundgedanken für das Drama, sondern man wird durch ihn - den Befreier - auch der schönsten poetischen Dar­ stellung fähig: beide Bedingungen der Kunst werden uns durch ihn an die Hand gegeben! - Das dramatische Talent natürlich vorausgesetzt! Denn nur diesem kann man etwas rathen, bieten und zumuthen wollen. -

[...] 1 s. Dok. 141 Anm. 5, S. 465. 2 Griechischer Feldherr (253-183).

Die Meininger: Historismus und Drama

147 Hans Hopfen: Die Meininger in Berlin (1875). In Hopfen: Streitfragen und Erinne­ rungen, Stuttgart 1876, S. 237-67. Hier S. 242—44.

[...] Soll ich dieß Princip [1] in Kürze kennzeichnen, so sage ich, es ist die archäologische Correctheit des Beiwerkes, die wissenschaftlich beglaubigte Stylisirung des Nebensächlichen, das di­ lettantische Betonen alles dessen, was nicht nothwendig zur Kunst gehört, nicht zu der Kunst gehört, um die es sich hier handelt. Nicht die Künste des Sprechens, der Bewegung, der charak­ teristischen Menschendarstellung erfreuen sich der allersorgfältigsten Pflege; der Ruhm dieser Gesellschaft wird begründet und genährt durch ganz andere Vorzüge. Hier siehst du genau [2] nach Autorität gediegenster Kennerschaft der römischen Alterthümer das Capitol, den Palatin, das Forum (die Rostra steht, die Tempeltrümmer sogar liegen nach wissenschaftlicher Beglau­ bigung umher); die Curie des Pompejus, die Wohnung des Cäsar; Stadt und Schlachtfeld von Philippi - Alles genau wie es damals gewesen sein muß, und nicht um ein Tüpfelchen anders. Und was zwischen Lampen und Decorationen herumläuft, ist genau so bekleidet, beschuht und frisirt, wie es sich mit dem Buche in der Hand beweisen läßt. Diese senatorischen Togen wie diese kretischen Pfeile, die Harnische der Edlen wie die Mundstücke der Flötenbläser, Fahnen und Zinken, Wärmschüssel und Trinkgefäß - man soll nicht sagen, daß irgend ein Verstoß ge­ gen Weiß’ Costümkunde [3] denkbar sei. Daß nur jedem Qurriten der Knopf ordonanzmäßig sitze und kein moderner Chignon [4] sich an solch klassisches Haupt hefte! Und wie im Cäsar das alte Rom, so siehst du im Sixtus das der Renaissance. Die Engelsburg von außen, die Sixti­ nische Capelle von innen und gar das Conclave selbst mit allem geistlichen Pomp und der Fülle priesterlicher Erscheinungen! Auf den Straßen Bürger und Bauern, Räuber und Sbirren [5], Aufläufe und Processionen, in den Palästen adelige Pracht. Formen und Farben die Fülle und Alles, was du willst, nur nicht des Mimen Kunst. Seelenmaler hörte sich sonst der Schauspieler gerne nennen. Kindische Vorurtheile! Hier ist nicht der Schauspieler maßgebend, sondern der Archäolog, der Historiker, der Decorationsmaler, der Schneider, der Maschinist und der Statistenmeister. Die Bühne ist zum Guckkasten, zur Raritätenkammer, zum Museum, zum Panopticum geworden. Das ist keine Tragödie mehr, sondern ein Ausstattungsstück. Die Dichtung selber hat nicht mehr Werth als den eines gefälli­ gen Kleiderständers, an dem ein archäologischer Liebhaber seine Merkwürdigkeiten aufhängen kann. Die Wahl des Sixtus gibt hiefür genügenden Beweis. In der ganzen deutschen dramati­ schen Literatur fand man bisher nichts Wichtigeres vorzuführen, als dieses über alles Vermuthen langweilige Buchdrama, dessen Verfasser sicherlich ein gescheiter und gebildeter Mensch gewesen, der aber vom Dichter nicht mehr besaß, als die fröhliche Handhabung des fii nl t iißigen Jambus, und von der Technik des Drama’s nicht mehr verstand, als daß eine Tragödie gewöhn­ lich in fünf Akte getheilt zu werden pflegt. Indessen wo war im Schatz unserer Bibliotheken

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Versepik und Dramatik

gleich ein anderes Stück auszuklauben, in dem sich aller päpstliche Pomp, aller Glanz der Renaissance, Schweizergarden und Pfauenfächer, Weihrauchwolken und Kirchengesang, Glockengebimmel und Volksgebrüll mit solcher Behaglichkeit entfalten ließen?

[•••] 1 Gemeint ist das Prinzip der stilechten, historisierenden Inszenierung bei den Meiningern, s, a. Bd. I: Pro­ blemkreis. 2 Hopfen bezieht sich hier auf das erste Gastspiel des Meininger Hoftheaters 1874 in Berlin und auf die Aufführung von Shakespeares Julius Cäsar und Julius Mindings Papst Sixtus V. (1846, neuherausgege­ ben v. Klemens Rainer und August Becker, 1870). 3 Hermann Weiss: Costümkunde, 5 Bde., Stuttgart 1860-72. 4 Haartracht des 18. Jahrhunderts. 5 Militärisch organisierte Justiz- und Polizeidiener in Italien, vor allem im Kirchenstaat.

148 Albert Lindner: Die Meininger und ihr Kunstprincip. In: (Westermanns) Jahrbuch der lllustrirten Deutschen Monatshefte 44 (1878), S. 436—42. Hier S. 436-40.

[...] Die dramatische Dichtung hat von jeher ihre größte Wirkung nicht im Eindrücke auf die äußeren Sinne, sondern im Appell an die Imagination gesucht. Denn »Alles Theatralische ist nur symbolisch«, sagt Goethe [1] und meint damit, daß Alles, was das Theater leiste, in Decoration, Costüm, Malerei und Sprachkunst, nur andeutender Natur sei, deren Vervollstän­ digung der Fähigkeit des Zuschauers überlassen bleiben müsse. Dieses Gefühl war ein kindli­ cher lrrthum. Es ist Mehreren als bloß mir passirt, daß sie die Vorstellungen der Berliner Hof­ bühne bis dato für höchst würdig und dem Kunstzweck entsprechend gehalten haben. Seit die Meininger nun aber im Ensemble Deutschland durchziehen [2], hat sich mit einem Male her­ ausgestellt, daß unsere deutsche Bühne einmal unter der Tyrannei des Schlendrians, sodann aber auch unter der Brutalität der Ignoranz auf das Entsetzlichste gelitten hatte. Denjenigen Leuten, die eine Reform der deutschen Bühne, sei es in Privatauslassungen der Presse, sei es auf officiösem Wege, verlangen und in ihren Grundzügen proponiren, muß nach meiner Mei­ nung das Princip der Meininger fortan als das unausweichliche gelten, oder ihnen ist nicht zu helfen. Das ist keine Behauptung ins Blaue hinein. Die Meininger sind seit 6 Jahren auf der Wanderschaft und haben überall, wo sie auftraten, das bestehende System über den Haufen geworfen oder doch in der Achtung des Publikums vernichtet. [•••] Und was ist nun dieses Meininger Kunstprincip, das eine so unwiderstehliche Klinge führt; das da kommt, sieht und siegt? [...] Man nehme die Vorführung des Was ihr wollt bei den Meiningern. Jeder Moment ein stim­ mungsvolles Renaissance-Gemälde, sofort des größten Malerpinsels würdig. In jedem Momente das ganze Personal so geschult, daß jedes Glied bis auf das letzte sich mit Geberde und Spiel und Ton in die Gesammtstimmung cinfügt, wie in das Mosaikfeld eines venetiani­

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sehen Meisters der einzelne Stein, dem man Stellung und Farbe ja auch nicht nach Willkür an­ weisen kann. Dieser gesammtheitliche Eindruck läßt uns dabei fast vergessen, daß das eine Mit­ glied besser, d. h. begabter spielt als das andere. Denn die Meininger beugen diesem Gesammteindrucke das begabtere Talent und erhöhen bis zu demselben hinauf das minderbe­ gabte. Das ist, was das Personal betrifft, ihr ganzes Geheimniß; [...] Und nün - wie steht der Dichter Shakespeare zu dieser Wirkung? Müssen wir den Sanguini­ kern glauben, welche behaupten, wenn Shakespeare die Meininger sähe, würde er ausrufen: »Gerade so dacht’ ich mir’s, entwarf ich mir’s« ? Aber wozu haben wir denn die biographischen Nachrichten (so dürftig sie bei Shakespeare sind, für diesen Zweck reichen sie aus) über Shake­ speare und sein damaliges London? Wozu haben wir den die umfangreichen Correspondenzen unserer eigenen großen Dramatiker? Wo ist im Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, so oft sie über Drama und Theater discutirt haben, von etwas mehr die Rede als von der Compositionskunst und dem inneren ewigen Gesetze der Gattung? Schiller, wenn er seinen Fiesko oder Teil bei den Meiningern sähe, würde allerdings schmunzeln und sagen: »Das lass’ ich mir gefal­ len!« Aber vielleicht würde er hinzusetzen: »An solche Wirkung mit solchen ¿Mitteln hab’ ich freilich nicht gedacht - nicht denken können. Denn unsere Bühnentechnik war damals noch nicht so weit.« — Ich setze meinen Kopf zum Pfände, daß er so gedacht hätte - wer macht mir ihn streitig? Shakespeare's Bühne hatte hinten einen Vorhang, rechts und links Ausgänge, war mit Binsen bestreut - und damit gut. An den Seiten saßen die Gentlemen und der Adel auf Sche­ meln und verengten mit ihren ausgestreckten Beinen den Raum der Spieler. Sollte »Wald« an­ gegeben werden, so wurde ein grüner Busch herausgesteckt, ein Local, so stand auf einer ausge­ hängten Tafel z. B.: Lancashire. Daneben war eine grüne Fläche geklext, und nun wußte der Zuschauer Bescheid: »Scene: eine Aue in Lancashire.« Nun? Ist das eine Bühne, um einen Sommernachtstraum zu insceniren? [...] Shakespeare dichtete sein Stück und war damit fertig. Er stattete es nicht aus, weil er von Ausstattung nichts wußte. [...] Was kann er mehr thun als die Handlung geben und zu derselben die menschlich wahren Träger, die Charaktere? Was über dieser Linie liegt, ist Sache der jedesmaligen Zeit und ihrer Culturhöhe. Der Dichter giebt ein Problem - für das Theater, nicht für die Phantasie des Lesers. Die Zeit hat dieses Problem zu lösen nach dem Stand ihrer Mittel. Die Bühnenleitung, welcher das Verständniß für diesen Stand der .Mittel fehlt, gehört nicht an ihren Platz, denn sie bleibt an einer Stelle der Entwicklung stehen und hat nicht das Vermögen, die deutsche Kunst weiter zu fördern. .Man geht zur Tagesordnung über sie hinweg und überläßt sie ihrem traurigen Zwecke, ihr Dasein - wie das Dasein von moralisch gemietheten ¿Mitarbeitern - nur eben fristen zu können. Wenn man im 16. Jahrhundert bei der Auffüh­ rung des Julius Cäsar noch nicht wußte, wie das römische Forum aussah. ja auch nur, wie eine römische Sandale beschaffen war, so wissen wir es heute um so besser und haben die Pflicht - wozu Shakespeare nicht verpflichtet war -, mit Hilfe der fortgebildeten Altcrthumswissenschaft jenem Mangel des Dichters nachzuhelfen und sein problematisch hingeworfenes Kunst­ werk zum Vollausdrucke der culturhistorischen Wahrheit zu erheben. Wir haben diese Pflicht -oder wir verdienen nicht das zu haben, was theatralische Kunst für das Leben der Nationen und für ihre Bildung seit ihrem Beginn in der Weltgeschichte bedeutet hat. lind angesichts dieser

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Versepik und Dramatik

bedeutsamen Pflicht wagt es ein königliches Hoftheater, welches mit Decorationen und Costümen, die es in den vierziger Jahren hat fertigen lassen, operirt, bei jeder bedeutsamen Gelegen­ heit uns demonstrativ zu sagen, daß es ein »nationales Bildungsinstitut sei«! Man soll einmal zugeben, daß die Menschen, die im Teil als Schweizer mir erscheinen, auch den Eindruck als wirkliche Schweizer erzeugen. Aber wo bleibt die Schweiz selbst? Ist das Nebensache? Wird der Mensch nicht am besten illustrirt durch sein Land? Wird der Text des Dichters nicht erst in das volle Vcrständniß gerückt durch das Local? Ist das Drama nicht ein Zusammenklang von Handlung, Charakteren, Localitäten, Costümen u. A.? Wenn der Dichter nur die eine Hälfte gelöst hat, weil der Culturgrad seiner Zeit ein Mehr nicht erlaubte, soll es uns, den Kindern der vorgerückten Ausbildung, etwa erlassen sein, diese andere Hälfte hinzu­ zufügen; erlassen sein, aus dem angefangenen Kunstwerke ein volles zu machen, da die drama­ tische Kunst, weil sie die höchste ist, nun einmal die complicirteste ist und an alle Richtungen der Cultur appellirt? Wie beschämt uns Richard Wagner, der für seine Bastardkunst »Oper« bereits alle Vortheile der Wissenschaft [3] benutzt, und wir sollten den Muth finden, über das Meiningen’sehe Princip zu spötteln, welches einen dramatischen Text mit aller möglichen Bei­ hülfe der Wissenschaft zu einem künstlerischen Totalgebilde, zu einer Kunstwelt erhebt?

.J I.. 1 Goethe: Maximen und Reflexionen, 1053. 2 Zu den Meiningern s. Bd. 1: Problemkreis. Beginn ihrer Gastspiele: 1.5.1874, Friedrich-Wilhelmstädtisches Theater Berlin. 3 Für die Aufführung seines Ringdes Nibelungen 1876 im Bayreuther Bühnenfestspielhaus setzte Richard Wagner alle technischen Neuerungen der Bühnenmaschinerie und Neukonstruktionen ein, um eine sei­ nen Vorstellungen entsprechende Inszenierung zu erreichen.

Die Gründerzeit

Historismus und Nationalismus

Kriegsmanifeste

149 Friedrich] P[echt]t: Der Krieg und die deutsche Kunst. In: (Augsburger) Allgemeine Zeitung, Jg. 1870, Beilage, 11. Nov., S. 4989-90.

[...] Steht es nach dem im Vorigen mitgetheilten noch dahin wie weit speciell die Münchener Kunst in den Stand gesetzt werden wird den welterschütternden Ereignissen des ruhmvollen Jahrs 1870 und der ihnen unfehlbar entspringenden endlichen Bildung der Deutschen zu einer wirklichen Nation gerecht zu werden, so müssen wir doch der gesammtdeutschen das Verdienst vindiciren ihr Nahen nicht nur schon lange voraus angezeigt, sondern es auch in hohem Grade befördert zu haben. Niemand wird es heute mehr zu läugnen wagen daß gerade die Dichter, Musiker und Maler in Gemeinschaft mit den vielverspotteten Schulmeistern und Philosophen dieses Deutschland, das man gestorben und begraben wähnte, zuerst wieder zu neuem Leben auferweckt, es recht eigentlich wieder erfunden haben, und daß die tapfern Soldaten die ihm Platz verschafften in der Welt, und alles vor sich niederwarfen was sich ihnen entgegensetzte, bloß der mächtige Arm des großen Körpers waren den jene zuerst wieder beseelt hatten. Sind wir also zweifellos die einzige Nation deren Helden nicht denkbar sind ohne die Arbeit der Den­ ker und Künstler, so giengen allerdings Dichtung und Tonkunst den bildenden Künsten in die­ sem herrlichen Bestreben voraus, bekanntlich sogar so weit daß man gar oft an ihrer Wirklich­ keit zweifelte; oder wer hätte sich nicht bisweilen über ihr Singen und Toasten geärgert, während so lange die Umsetzung dieser melodischen Theorien in die That ausblieb? Aber nicht nur unmittelbar durch ihre eifrige Pflege des von einer trostlosen Staatskunst überall verpönten und verfolgten nationalen Gedankens hat unsere Kunst neben der Wissen­ schaft sich ein unermeßliches Verdienst erworben; nicht nur indem sie ihn mit dem Glanz einer schönen Form, mit dem verführerischen Reiz des Ideals umgab, Hoffnung und Erinnerung unsers Volkes gleich innig mit ihm verknüpfte - nein, sie hat noch ein anderes vielleicht nicht ge­ nug gewürdigtes Verdienst um sein endliches Inslebentreten. Sie hat uns nämlich vor allem die Gesundheit und Frische der Empfindung, jenen hohen Ernst und jene Fähigkeit der Begeiste­ rung erhalten, deren plötzliches Herausbrechen beim Beginn des großen nationalen Entschei­ dungskampfes uns alle selber überrascht und mit stolzer Freude erfüllt hat. Dieses Verdienst kommt aber ganz besonders den bildenden Künsten zu, die in den letzten Jahren vielleicht noch ein wahrerer Spiegel des nationalen Lebens, treuere Bewahrer seiner Ideale gewesen sind als die Literatur. [...] Wollen wir nun weiter wissen wie die jetzige heroische Periode unsers nationalen Lebens etwa auf den Charakter unserer Kunst einwirken möchte, so untersuchen wir zunächst nur wie sie auf den unsers Volkes, dessen Organ die Kunst ja bloß ist, theils bereits gewirkt hat, theils

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noch wirken dürfte. Wer wird wohl bestreiten daß diese ebenso erschütternde als erhebende Wirkung bis jetzt eine höchst wohlthätige gewesen, daß sie wie ein Gewitter unsere nationale Atmosphäre aufs glücklichste gereinigt, all unsere Pulse höher schlagen gemacht habe? Es wird wohl nur sehr wenige Menschen in Deutschland geben die heute nicht viel besser, d. h. aufopfernder, selbstlo­ ser, idealer und großsinniger, stolzer und frömmer zugleich wären als sie vor vier Monaten ge­ wesen; wenige die nicht ein gutes Theil ihres Egoismus und Eigensinns, ihrer Kleinlichkeit und ihrer Rechthaberei, ihres Neides und Bruderhasses unterwegs eingebüßt oder fahren gelassen hätten; niemand, absolut niemand, dessen Gesichtskreis nicht erweitert, dessen ideale Interes­ sen nicht unendlich erhöht und gestärkt worden wären durch das Ungeheure an dem er han­ delnd oder leidend theilzunehmen gezwungen war. Wer von uns wäre nicht erstaunt gestanden vor der Fülle von Thatkraft, todesverachtendem Muth, schlichtem Pflichtgefühl, Vaterlands­ liebe und brüderlicher Gesinnung, vor der Fülle edler Nächstenliebe und wohlthuender Wärme des Gemüths, weiche diese kaum noch so zänkisch kleinliche und verbissen erscheinende Nation entwickelte? Mußte man nicht sagen daß die Wogen der Begeisterung, der Bürgertugend jeder Art sich unendlich rascher verbreiteten als es je das ansteckende Gift des Lasters ver­ mochte? Und an allen diesen Wohlthaten, an dieser frischerwachten Größe des Sinnes nahmen die untersten Classen der bürgerlichen Gesellschaft ganz ebenso theil als die höchsten, ja emp­ fanden ihre reinigende Wirkung noch mehr, da sie ein neues großes ideales Interesse erhielten, welches ihrem Gedankenkreis bisher noch ziemlich femgestanden war, während es jetzt ihr ge­ drücktes Leben durch seinen hohen Glanz erleuchtet. Die neue Erweiterung der treuen Stammesanhänglichkeit zur edlen Vaterlandsliebe in diesen Ständen ist sicherlich nicht der geringste Gewinn der großen Zeit für uns. Wird auch manches von dem jetzt Errungenen wieder verloren gehen, so dürfte doch das erhöhte Selbstvertrauen, die edle Freude an der Größe des Vaterlands, die durch das wohlver­ diente Glück hervorgerufene Unternehmungslust, jenes Bewußtsein der Zusammengehörigkeit welches zur strengen Disciplin, zur Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze führt, vor al­ lem aber die stolze Kühnheit und jene Erweiterung des Sinnes bleiben welche ungeheure Erfolge der Gesammtheit allemal den einzelnen Gliedern derselben mehr oder weniger zu verleihen pflegen.

Zweifelt irgend jemand daran daß sich das alles auch in unserer Kunst ausprägen müsse und werde; daß auch sie an Unabhängigkeit vom Ausland, an Selbständigkeit, Kühnheit und Größe, an jener ihr so oft noch mangelnden Disciplin gewinnen werde, die das Kleine dem Großen unterzuordnen versteht; daß sie einen guten Theil des ihr noch anklebenden kleinlichen und grillenhaften oder schwächlichen und sentimentalen Wesens, des bis zur Caricatur ausgebilde­ ten Individualismus verlieren, kurz den Styl, die bewußte Wurde und Haltung gewinnen werde die ihr jetzt noch ab und zu fehlen; daß sie endlich sich vielfach mit einem neuen Inhalt erfüllen, den alten vertiefen, die Reize der Erscheinung einer Welt der sie jetzt als so viel geachteteres Glied angehört, mit neuer Lust durchforschen werde? Nachdem das Erhabenste wie das Ent­ setzlichste seinen lodernden Schein in die Werkstätten unserer Künstler geworfen, alle Hohen und Abgründe des Daseins in ihren sonst so ruhigen Gesichtskreis getreten, kann dieß eine an-

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dere Wirkung auf sie ausüben als eine solche, ähnlich jener welche die Revolution einst auf die französische Kunst gehabt und sie erst dadurch zu der ungeheuren Wirksamkeit gebracht hat welche sie in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in der ganzen Welt unstreitig besaß? Vor allem aber, sollte die größere Freude an uns selber und an unserem Platz unter den Völkern, welche auch die Widerstrebendsten unter uns wohl gewonnen - sollte sie sich nicht in der Kunst abspiegeln? War uns bis jetzt, wie den Juden, fast nur die Familie oder das intime Leben rheuer, das Verhältniß zur Natur, zu Gott, so werden uns das öffentliche Leben, der Verkehr, die Kämpfe und Conflicte unserer Nation mit anderen weit mehr als bisher interessiren, da sie hoffentlich sehr viel erquicklicher werden. Das Stoffgebiet unserer Kunst also wird sich erweitern, während die Form sich veredelt. Eine fernere Eigenthümlichkeit ist der wesentlich demokratische Charakter der ganzen Bewegung, wie er sich auch sofort in der Kunst durch die ungeheure Ausdehnung des Illustra­ tionswesens ausprägte, durch welches sie unsere Krieger auf Schritt und Tritt zu begleiten im Stand ist, und auf den Antheil der Zurückgebliebenen für dieselben einen unendlich günstigen Einfluß ausübt, eine Fülle von Material für die Zukunft aufhäuft. Erst bei einer Sichtung dessel­ ben werden sich dann die einzelnen Figuren, je nach ihrer Bedeutung, aus dem Gewühl loslösen. Jetzt ist dieß noch kaum angefangen. Wie überlegen auch die Talente unserer Führer sich gezeigt haben, mit wie viel Vertrauen, Achtung und Liebe das ganze deutsche Volk auch zu ihnen auf­ blickt, außer an dem alten Heldenkönig an der Spitze und etwa dem dämonischen Bismarck oder dem geheimnißvollen Moltke hat sich die mythenbildende poetische Kraft des Volksgeistes noch an keinem versucht. Dafür haben wir zu viel Eisenbahnen und Telegraphen, die keinen Mythen Raum lassen. Als der wirkliche tragische Held erscheint einstweilen das ganze Volk selber, schon darum weil es jetzt seit Jahrhunderten zum erstenmal als eine wirkliche lebendige Persönlichkeit auf­ trat, weil es unzweifelhaft die Einigung gegen die widerstrebendsten Elemente durchsetzte, sich mit ungeahnter Kraft und Tüchtigkeit auf einmal wie ein Mann erhob, und den stolzen Feind Schlag auf Schlag niederschmetterte. Diese wunderbare Umwandlung der Nation der stillen Denker in eine der kühnen That, die in der modernen Geschichte noch nie dagewesene Erscheinung eines ganzen Volkes in Waffen mit ihren ungeheuren Erfolgen, sie haben einen poetischen Reiz in den tausendfachen Arten wie das alles sich im Einzelnen ausprägte, der jetzt noch den aller hervorragenden Persönlichkei­ ten weit übertrifft, und der sicherlich unserer Kunst das deutsche Volksleben noch weit mehr zum unerschöpflichen Inhalt geben wird als je vorher. Ja schon jetzt ist ein großer Theil unserer Künstler mit Ausbeutung dieser neuen Stoffe aufs eifrigste beschäftigt. Nachdem die Kunst die naive Seite des Volkslebens bisher vorzugsweise betont, wird sie nun auch die so imponirende pathetische glücklicher behandeln als seither meistens geschehen. Aber gerade bei diesem Versuch wird sie von selbst dazu gelangen für die vielerlei Spielarten heroischen Wesens unter uns in den Führern des gegenwärtigen Deutschlands die ausgeprägte­ sten Repräsentanten zu finden, denn Führer wird man niemals umsonst und bloß durch den Zufall der Geburt.

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Oder arjgui ans neben dem greisen Heidenfürsten, Am» e iw men Bismarck mit seiner nervi­ gen Beredsamkeit, dem verhängnißartig schwetgsamen Mohke, mehr auch noch der derbe Steinmetz [1J, der kühne v. d. Tarnt [2], der jugendlich heldenhafte preußische Kronprinz mit

seiner Umgebung von Dichtern und Malern [3], oder der enthusiasttschje] junge König von Bayern, dieser letzte Romantiker im Purpur [4], endlich der unerschütterlich patriotische Groß­ herzog von Baden [5] und a. m_, nicht eben so viele Typen deutschen Wesens, welche die Kunst bald zn einer neuen Tafelrunde umznbilden schwerlich verfehlen wird? [...] 1 Kad Stenanetz (1796—18/7), preußischer Gcneralfridmarsciiall, 1870 Kommandant der 1. Armee. 2 LtKiw^Freiierr von undzuderTann-Rathsamhaiisen (1815—1881), bayer. GeneralderInfanterie, 1870 kommandierender General des 1. Armeekorps, Garnison Mönchen 3 Dey lag schloß sich auf Wunsch des Kronprinzen dessen Hanpcrpiamrr an und begleitete es über Wörth und Sedan bis Reims (Sept. 1870). Der Historienmaler Anton von Werner (1843—1915), der Schlachten­ maler Georg Bleibtreu (1828-1892) und der Illustrator Paul Thumann (1834—1908) machten den Feld­ zug im Hauptquartier des Kronprinzen mir. 4 König Ludwig □. von Bayern (1864—1886). 5 Friedrich L, Großherzog von Rarlm (1852—1907), Schwiegersohn Kaiser Wilhelms L, Vorkämpfer der nationalen Einigung unter preußischer Führung, liberaler Politiker.

150 Berthold Auerbach: Wieder unser. gart 1871, S. 38-43.

Gedenkblätter zur Geschichte dieser Tage, Stutt­

Wenn wir bis heute Ang in Auge mit unserem Volke im tönenden Worte uns zu verständigen

suchten, welche Namen und gemeinsame Thatsachen konnten wir anrufen, mit der Zuversicht, in jedem Hörer einen Anklang zu erwecken?

Wie unsere Sprache sich seit Jahrhunderten in geschriebenem Worte fortbildete, so waren

wir als Gesammtheit auch vorherrschend ein literarisches Volk. Bei der Jahrhundert-Feier

Schillers zeigte sich's offenbar. Wir haben keinen zweiten Namen, keinen in Thaten glänzenden Heiden, der der Gesammt­

heit des Volkes in Nord und Süd und in allen Coniessionen gleich vertraut, gleiche Empfindung

und Vorstellung erweckte. Wir müssen sogar bekennen: von den Millionen, die den Namen Napoleons kennen und ihn durch Abbilder sofort bei seiner Nennung vor Augen haben, kennt

nicht ein Zehntel Namen und Gestalt Blüchers.

Wir waren bis heute vornehmlich eine literarische Volksgemeinschaft.

Wohl ist es erhaben und einzig in der Geschichte, daß ein Volk seine ideale Einheit erkennt

und hegt vor seiner realen Einheit und fast als Ersatz derselben. Nicht in einer Zeit erhebenden Volksbewußtseins entstand unsere klassische Dichtung, sie war vielmehr ein Vergessen des Gesammtlebens. ein Aufschwung in die Region des reinen

Ideals.

schufen die Typen unseres Lebens und die reinen welt­ klassischen Alterthum und vom Eindringen in das Naturle­

Die Dichter unserer Heroen-Periode

wirkenden Ideale, angehaucht vom

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Die Gründerzeit

ben, aus der Idee des allgemeinen Menschlichen. Der vereinsamte Kosmopolit, der ideale Pri­ vatmensch kam zum Ausdruck. Unsere höchste Dichtung entstand zur Zeit, da wir ein staatloses Volk waren. Das freie Individuum waltete in dem schaffenden und gestaltete sich in dem empfangenden Geiste. Bei alledem mußte man schmerzlich fühlen, daß uns die bindende allgemeine Empfindung und der reale Boden der Geschichte fehlte, auf welchem das Ideal sich aufbaut, im schaffenden Dichter wie im nachempfindenden Volke. Man kann vielleicht sagen, unsere Dichterheroen bildeten die Schönheit und hohe Empfin­ dung in das Volk hinein, und jetzt mag die Zeit gekommen sein, sie aus dem Volke heraus zu bilden. Edlen Seelen vorzufühlen, Ist wünschenswertester Beruf!

heißt es in Goethe’s Vermächtniß. Nachfühlen wird der Beruf des kommenden Dichters sein, der die Fülle des nunmehr neu erstehenden deutschen Lebens künstlerisch bewältigen soll. Der Genius wird dabei immerdar über das allgemeine Mittelmaß hinausragen, denn zu der Concentration der allgemeinen Empfindung, die sich in ihm bildet, tritt die eigenartige Indivi­ dualität hinzu. Der Conflict zwischen individueller Empfindung und dem allgemeinen Bewußtsein trat in der klassischen Zeit minder hervor; erst in der nachfolgenden Periode hatte er sich herausgebil­ det. Die edelsten Kräfte verzehrten sich in ihm. Nun beginnt eine neue Epoche. Heute - nach lange schwerer Zeit voll Schmerz über die Zerklüftung und Sehnsucht nach Einheit - hat sich die Gesammtheit des deutschen Volkes zusammengeschlossen. Mitempfin­ dend betheiligt sind die Deutschösterreicher und weiter hinaus die über den ganzen Erdkreis zerstreuten Deutschen. Was heute geschieht und in nächster Zeit, bildet, in Thatsachen und Personen, eine uner­ schöpfliche Quelle gemeinsamer Empfindung und Erinnerung. Von jetzt an gibt es - nach einer Pause von fast drei Jahrhunderten - wiederum eine deutsche Geschichte für alle Deutsche aller Lande und aller Confessionen. Wenn nach dieser Zeit ein Redner zu seinem Volke spricht, kann er, Namen und Thaten auf­ rufend, sicher sein, bestimmte gemeinsame Vorstellung und Empfindung zu erwecken. Die Vereinigung der von den gemeinsamen deutschen Heeren erkämpften politischen Macht mit der von Dichtern und Weltweisen errungenen Geistesmacht: der feste Staat und das freie Individuum - das sind die beiden Seiten von Deutschlands Substanz. Wir waren ein einig Volk im Wissen, wir sind ein einig Volk in Waffen geworden. Nicht eine einseitige Alleinherrschaft, sondern beide Mächte müssen vereint festgehalten und gepflegt werden. Wie diese neue reale Welt sich in einer Dichterseele zur idealen ausgestaltet - wer kann das ahnen?

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Die Gegenwart, vielleicht auch die nächste Zukunft, gestattet noch keine künstlerische Per­ spective. Nur das fühlen wir: der Kreis dichterischen Schaffens ist nicht geschlossen, der Bogen spannt sich weiter und strebt zur Abrundung, indem zum Individuellen, Kosmopolitischen und rein Idealistischen sich das national und realistisch Nothwendige anschließt. Der schaffende Künstler empfängt aus dem allgemeinen Bewußtsein und gibt dasselbe indi­ viduell wieder. Man dürfte wohl von der neuen deutschen Geschichte - die mit der Geistescultur begann - sagen: Im Anfang war das Wort. Jetzt hat sich die That hinzugesellt.

Der historische Roman in der Nationalpädagogik

151 Wilhelm Jensen: Willibald Alexis und die »preußische« Dichtung unserer Zeit. In: (Augsburger) Allgemeine Zeitung, Jg. 1866, Beilage, 4.-8. Sept., S. 4061-62, 4077-79, 4093-94, 4114, 4125-26. Hier S. 4061-62.

[...] Es wird die Aufgabe des ganzen preußischen Volks seyn die früher sinnlose, im Moment aber durch das Unglück menschlich gerechtfertigte Abneigung Süddeutschlands gegen den deut­ schen Norden [1] durch Thaten des Friedens zu überwinden. Es wird eine Versöhnung herbei­ führen müssen, indem es den Beweis liefert daß es nur die Wohlfahrt des Ganzen im Auge hatte, als es seinen Gliedern blutige Wunden schlug. Durch die Ordnung und Gesetzmäßigkeit (?) die es im eigenen Hause herstellt [2], vermag es sein Recht auf Erweiterung der engen Schranken, in denen es bisher gelebt, darzuthun. Dann, wenn es den Erwartungen entspricht die es geweckt, wenn es zeigt daß es stark genug war für sich selbst die Forderungen der Besten zu erringen, darf es nach dem Worte Posa’s [3] erklären: daß es seine Pflicht gewesen die deutsche Welt zu unterwerfen. [...] Dem Einzelnen aber bleibt nichts anderes als mit schwacher Hand eine Brücke über die trau­ rige Kluft zu schlagen welche die Gegenwart, zwischen denen die sich die Nächsten seyn sollten, ausdehnt. Den Erfolg des Kriegs im Werke des Friedens zu sichern, erfreulichem Endziel entge­ gen zu führen, ist die Aufgabe des Einzelnen wie die der Völker. Im Schooße der Familie ist der Streit geführt worden, und in ihm muß die Versöhnung erfolgen. Sein Anlaß war daß viele Mitglieder des großen Hauses sich nicht geschätzt, wie sie es gethan hätten wenn sie sich früh­ zeitig näher gerückt wären. Fremde Zungen hatten Mißtrauen ausgesäet zwischen den Gliedern seines Stammes; aus unwahren Gehässigkeiten wuchs die Abneigung, erweiterte der Verdacht die Entfremdung. Lassen wir für einen Abend die Vergangenheit ruhen. Ein gewaltiger Schick­ salsschlag hat das zerspaltene Geschlecht trauernd uni den heimathlichcn Herd versammelt. Düster und schweigsam sitzen die meisten und blicken nicht auf - wer da etwas zu erzählen

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wüßte, daß sie Zeit gewännen sich ins Gesicht zu sehen und die verwandten Züge zu erkennen? Wer, ohne den traurigen Zwist der sie getrennt zu berühren, von demjenigen welchem viele die größte Schuld beimessen ein menschlich-freundliches Bild entwürfe, das dazu diente die­ selbe Natur in ihm zu offenbaren die in den andern lebt und denkt und handelt, das unvermerkt den Groll entwaffnete, das heimlich die Herzen zu einander zöge? Und wenn dann ein anderer und wieder einer das Wort nähme und über diesen und jenen herzlich redete, daß auch die frü­ heren Feinde seiner »schonend sich erfreuten« - wäre das nicht der beste Weg auf dem die trot­ zig abgewiesenen Hände sich finden könnten? Und siehe da, der erste Erzähler, der nothwendigste, der den Beginn machen müßte, er braucht nicht gerufen, gesucht zu werden. Er sitzt un^er uns, zwischen seinen Landsleuten, die schon oft auf sein mildes Wort gelauscht und an seinen Lippen erwartungsvoll gehangen. Aber von vielen, die weiter entfernt stehen, ist er unbeachtet geblieben, von manchen kaum gekannt. Und doch besitzt die Gegenwart vielleicht keinen der treffender zu reden wüßte, der magischer die befeindeten Pole unserer Zeit aneinander zu ziehen und eine Versöhnung unserer eingebil­ deten Gegensätze zu bewirken vermöchte, als ein Dichter der so specifisch dem Preußenthum angehört wie kein anderer vor und neben ihm, der, in Süddeutschland so gut wie gar nicht und selbst in vielen Bezirken des Nordens weit unter seinem Verdienst geschätzt, sich die Lebensauf­ gabe gestellt Beginn, Entwicklung und Fortgang seines engeren Vaterlands und Volkes durch die Kunst der Dichtung wiederzugeben und zu verklären, und der diese Aufgabe in einer Weise gelöst hat, daß ihm schon von der Mitwelt der Ehrenname des größten Meisters dieser Art, der eines märkischen Walter Scott, zuerkannt worden. Dieser Dichter ist Hr. G. W. Häring, mei­ stens nur unter seinem Autorpseudonym, Wilibald Alexis, bekannt. Wenn ein Dichter, oder irgendein Mann der Gegenwart, es vermag die Abneigung auszutil­ gen welche sich des deutschen Südens gegen den Norden, gegen Preußen, und vor allem gegen dasjenige was man sich gewöhnt hat als den Kern und Typus dieses Volks anzusehen, gegen die Mark Brandenburg mit ihrer Hauptstadt, bemächtigt hat, so ist es Wilibald Alexis. Ein ho­ her, der stolzeste Dichterlohn ist ihm gefallen: daß seine Werke ein Bindemittel für die zerrissene Vergangenheit des großen deutschen Volks zu bilden vermögen; daß sie ein mächtiger Hebel seyn können die Uneinigkeit zu beschwichtigen, verfeindete Gemüther zu nähern, eine bessere Zukunft zu fördern; daß er den Triumph errungen daß derjenige der es ehrlich mit dem deut­ schen Volke meint, und eine gemüthliche Ausgleichung zwischen dem Norden und Süden für das wichtigste Erforderniß der nächsten Jahre hält, dem durch Haß erkrankten Körper keine heilsamere und dabei wohlschmeckendere Arznei zu verordnen im Stand ist als den unbefange­ nen Genuß der vaterländischen Romane von Wilibald Alexis. Es ist die Absicht der nachfolgenden Zeilen dazu beizutragen daß auch in weiteren Kreisen Süddeutschlands die Aufmerksamkeit auf poetische Schöpfungen gelenkt werde welche, mehr denn die meisten andern der Neuzeit, geeignet sind aus trüber Gegenwart das Gemüth in das innere ernst heitere Leben der Dichtung zu flüchten, das wechselnde Tage und Geschicke der Menschen darstellt, von schwächlichem Verzagen fern hält, zu männlicher Ausdauer und Auf­ raffung spornt, und das gleiche Herzblut offenbart das in den Adern aller deutschen Stämme klopft, und zu Gedanken und Thaten emporhebt.

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[•••]

1 Die süddeutschen Staaten waren 1866 mit Österreich verbündet gewesen und von Preußen geschlagen worden. 2 Der Verfassungskonflikt zwischen den Liberalen und der Regierung wurde durch die Annahme der Idemnitätsvorlage (3. Sept. 1866) beendet. 3 Schiller: Don Carlos, III, 10. Marquis Posa zu Philipp dem Zweiten: »Wenn nun der Mensch, sich selbst zurückgegeben, / Zu seines Werts Gefühl erwacht - der Freiheit / Erhabne, stolze Tugenden gedeihen - / Dann, Sire, wenn Sie zum glücklichsten der Welt / Ihr eignes Königreich gemacht - dann ist / Es Ihre Pflicht, die Welt zu unterwerfen.«

152 Franz Hirsch: Geschichte und nationale Erziehung. In: Der Salon 2 (1882), S. 1455-61. Hier S. 1458-60.

[... Man jammert jetzt allgemein über die Rohheit und Pietätlosigkeit der Arbeiterbevölkerung, die einen Hödel [1] gebären konnte. Man sinnt auf Mittel, die Erziehung der Volksjugend zur Ehrfurcht gegen Staat und Monarch zu leiten. Nun wohl! Es giebt kein besseres Mittel, um Ach­ tung vordem deutschen Reich und seinem Kaiser zu erziehen, als wenn man ihr die Glanzzeit der kaiserlichen Ottonen, die Hohenstaufen, dann die lange kaiserlose, die schreckliche Zeit - so nenne ich die Zeit von der Mitte des zwölften Jahrhunderts bis zum 18. Januar 1871, in der es zwar Kaiser dem Namen nach, aber ohne die Machtsphäre der Ottonen und Hohenstau­ fen gab — vorführt und ihr aus der Gegenwart zeigt, daß der jahrhundertelange Traum von deutscher Macht und Einheit nun endlich Wahrheit geworden ist, wenn auch noch nicht alle Blütenträume reiften. So könnte man den bekannten Reim [2]: variiren in

Gegen Socialdemokraten Helfen nur Soldaten

Gegen vaterlandslose Socialdemokraten Hilft die Geschichte deutscher Thaten.

Wie aber ist die Nationalerziehung, die Anleitung des deutschen Volkes zur historischen Auffassung alles staatlichen Wesens zu bewerkstelligen? [...]

Die populärste und tiefeingreifenste Förderung des geschichtlichen Verständnisses ist jedoch die des historischen Romans, wenn derselbe nicht willkürlich phantastisch zusammengefabelt ist, sondern Thatsachen in poetischer Form aber treu historisch schildert. Der historische Roman ist von größter Wichtigkeit für die kulturgeschichtliche Volksbildung. Er will und soll, wie Heinrich Kurz [3] treffend sagt, nicht Geschichte im gewöhnlichen Sinne lehren, sondern das Wesen und den Charakter irgend einer Zeit zur Anschauung bringen, ein erschöpfendes Kulturgemälde derselben geben; er will und soll die Ueberlicfcrung ergänzen, wo diese nicht ausreicht. Der historische Roman soll kein Sklave der Geschichte sein, sondern an ihrer Hand ein freies Kunstwerk werden. Die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte kommt nämlich

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nur in großen Zügen und Resultaten auf uns herab; selbst der größte Historiker kann ihren inneren, ihren menschlichen Zusammenhang nicht darstellen, weil er an die Ueberlieferung ge­ fesselt ist, er vermag nicht, die Seeienlagen der Personen, die verborgenen Motive ihrer Hand­ lungen, selbst oft nicht ihre Gestalt, ihre Sitten, ihre geistige Bildung u. s. w. zu schildern. Dies ist aber gerade die eben so schöne als schwierige Aufgabe des Dichters, dem sich als einem rück­ wärts schauenden Propheten die geheimnißvollen Beziehungen des äußeren und inneren Lebens offenbaren, welche dem Geschichtsschreiber verborgen bleiben. Um diesen Einfluß des histori­ schen Romans auf das geschichtliche Verständniß zu fördern, gehe ich noch einen Schritt wei­ ter. Ich möchte gern die Sache praktisch anfassen und so versuche ich in Nachfolgendem eine Anleitung zu geben, in welcher für das historische Verständniß ersprießlichen chronologischen Reihenfolge die besten historischen Romane, welche die deutsche Geschichte und Kulturge­ schichte behandeln, zu lesen sind. Ich habe aus der Fülle der historischen Romane nur diejenigen herausgegriffen, welche in Form und Inhalt wahrhaft klassische Muster ihrer Gattung genannt werden können und so bitte ich alle Leser, die auf diesem anziehendsten aller Wege zum Ziel historischer Stimmung und Auffassung der Entwickelung unseres nationalen Lebens gelangen wollen, alle oder einige der nachfolgenden Romane in nachfolgender Reihenfolge zu lesen: Ingo von.............................................................................................................................................. Gustav Freytag. Ingraban .............................................................................................................................................. Gustav Freytag. Ekkehard.............................................................................................................................................. J. V. v. Scheffel. Das Nest der Zaunkönige............................................................................................................... Gustav Freytag. Die Brüder vom deutschen Hause................................................................................................... Gustav Freytag. Der falsche Waldemar..................................................................................................................... Wilibald Alexis. Der Jude.............................................................................................................................................. Karl Spindler. Der Roland von Berlin..................................................................................................................... Wilibald Alexis. Luther in Rom.................................................................................................................................. Levin Schücking. Marcus König.................................................................................................................................. Gustav Freytag. Der Prophet........................................................................................................................................ Theodor Mügge. Die Hosen des Herrn von Bredow ................................................................................ Wilibald Alexis. Unseres Herrgotts Kanzlei................................................................................ Wilhelm Raabe (Jakob Corvinus.) Der Rittmeister von Alt-Rosen................................................................................................... Gustav Freytag. Dorothea.............................................................................................................................................. Wilibald Alexis. Der Freikorporal bei Markgraf Albrecht................................................................................ Gustav Freytag. Cabanis.............................................................................................................................................. Wilibald Alexis. Die Klubbisten in Mainz............................................................................................................... Heinrich König. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht................................................................................................... Wilibald Alexis. Isegrimm.............................................................................................................................................. Wilibald Alexis. König Jeromes Karneval............................................................................................................... Heinrich König. Aus einer kleinen Stadt..................................................................................................................... Gustav Freytag. Der Kongreß von Verona............................................................................................................... Julius Mosen.

1 Der Leipziger Klempnergesell Max Hödel verübte am 11. Mai 1878 ein Attentat auf Wilhelm 1. Die Sozialdemokraten wurden für das Attentat fälschlich verantwortlich gemacht. 2 Weiterbildung des geflügelten Wortes »Gegen Demokraten / Helfen nur Soldaten« (Schluß von Wilhelm von Merckels Gedicht Die fünfte Zunft, 1848). 3 Wörtlich nach Heinrich Kurz: Geschichte der neuesten deutschen Literatur von 18.30 bis auf die Gegen­ wart, Leipzig 1872, S. 654 (= Kurz: Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 4).

Der archaisierende Roman

153 Berthold Auerbach: Bemerkungen zu Gustav Freytags >Ingo und Ingraban-, In: (Augsburger) Allgemeine Zeitung, Jg. 1873, Beilage, 11.-12. Jan., S. 165-67, 181-82. Hier S. 166-67. [...] Freytag gibt ein frei erfundenes Heldengedicht aus der dunkeln Urzeit. Es fragt sich: Steht einem modernen Dichter, steht überhaupt einem einzelnen Dichtergeist die mythenbildende Kraft zu? Ist diese nicht ausschließlich Function einer Gesammtheit, eines dichtenden Volksgei­ stes, der nicht nur Menschenalter weit überragend, sondern auch an sich größer ist als jeder Einzelgeist? Ein Volksgeist ist nicht eine collective Anzahl von Individualitäten, er ist der Zusammen­ schluß einer neuen Individualität mit eigenen Gesetzen und Bedingungen. Der Wald, der doch nur aus Bäumen besteht, ist als Wald eine eigene Organisation; er ist Quellenhüter und Quellenerzeuger, Bildner klimatischen Bestandes. Das sind Kräfte und Wirkungen die dem ein­ zelnen Bestandtheil, dem Baume, nicht zukommen. Was die collective Kraft des Volksgeistes geschaffen, kann der Einzelne bilden und formen, so die Sage, so die Sprache. Darum hat auch der Dichter überkommene Bräuche, Lieder, Beschwörungsformeln und dergleichen, wie sie die Wissenschaft zerstreut gefunden, zu einer einheitlichen Production zusammengefaßt, und er hat das künstlerisch so vollzogen daß man nirgends die eingelegte Arbeit wahrnimmt. [...]

Treten wir ein in die Dichtung selbst! Held Ingo beschreitet die Gränze am Verhau, begegnet der Tochter des Häuptlings, Fürst Answald, die mit den Mägden die »Arbeit des Kellers» (S. 11, die S. 18 einfacher als -festgeschlagene Butter und kümmelgewürzter Käse« bezeichnet ist) nach dem Herrenhofe holt. Der Fremdling, der »erlauchte Held aus Göttergeschlecht,« und die Tochter des Häuptlings fühlen sich zu einander hingezogen. Ingo kommt an den Herrenhof. »Er und der Häuptling blickten einander einen Augenblick forschend an, und beiden gefiel was sie sahen.« Das ist kurz und knapp geschildert. Ingo wird der Fürstin vorgestellt, dem Landgenossen wird ein Fest gerüstet; sie kommen, sie schmausen und berathen, Kampfspiele werden angeordnet. Theodulf reizt Ingo, und dieser thut den Königssprung über sechs Pferde. Der Sänger Volkhart singt beim Gelage von der Alemannenschlacht, er singt den Ruhm Ingo’s, und dieser wird als Held begrüßt. Wir staunen wenn wir diese ersten Scenen lesen. Ist das nicht der Weg Vater Homers, genau vorgezeichnet im Buch VII und VIII der Odyssee? Dort die Begegnung mit Xausikaa, dort der höhnende Euryalos, hier der höhnende Theodulf, dort der Sänger Demodokos. hier der Sänger Volkhart, dort Discuswerfen, hier der Königssprung.

Es ist ein naiver Freimuth mit welchem unser Dichter diesen Vorgang übertragt, und er ver­

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steht mit farbiger Anschaulichkeit uns innerhalb der gegebenen Linien ein ganz anderes Leben zu schildern. Die Exposition in der die Einführung des Helden gegeben wird, ist äußerst ergiebig. Ein Fremder tritt in neue Landschaft und Menschengemeinschaft. Er lernt häusliches Leben, Feld­ arbeit, bürgerliche Verfassung und Charakter der neuen Menschen kennen; die Berathung der Volkshäupter, die Zechgelage, Kampfspiele lassen uns das Neue mit dem Fremdling selber ken­ nen lernen. Wir werden zu seinen Genossen, und die Art wie er sich umthut, der Eindruck den er auf Männer und Frauen macht, bringt den Helden immer lebhafter in unsere Theilnehmung. [...] Ein erstes Kennzeichen des rein Menschlichen, wodurch dasselbe vom bloßen Naturleben abgehoben wird, erscheint alsbald in bestimmter Fassung, es ist der erste ethische Zug, der auch zugleich die Schranken der Stammesabgeschlossenheit überschreitet: es ist die Gastfreund­ schaft. Sie zeigt sich hier sofort in ihrer bindenden deutschen Besonderheit als Blutbruderschaft oder, wie sie schon im Worte sich erhöht, als Wahlbruderschaft. Der Landlose und Heimathlose wird in die verschiedensten Beziehungen gebracht. Die Mannichfaltigkeit des Lebens breitet sich vor uns aus und in ihr die persönliche Machtfülle des Hel­ den und seiner unerschöpflichen Hülfsquellen. Er lagert bei den freien Bauern, bei Bero und seinem Geschlechte, weilt im Schlosse bei König Bisino und seiner Gattin, und weiß sich mit Aufgebot gefestigten Heldenmuths und klugem Erfassen des Augenblicks aus der Bedrängniß zu retten. Er gewinnt das Weib seiner Liebe, gründet mit ihr und den Genossen eine neue Siedelung, wird vom heranziehenden Feind überwältigt, der Sohn aber wird gerettet. Die Charaktere und Verhältnisse sind noch so elementarisch, es ist erst noch so viel Beginn sich aus dem Chaos zu bilden daß die Kunst da nur, wie man sagt, die Figuren mit der Axt zuhauen kann; der Meißel und die feineren Werkzeuge sind kaum anzulegen, und das Empfin­ dungsleben ist noch von so dürftiger Scala, daß die Interjection und der Naturlaut vorherrschen, die der Dichter nur mit großer Behutsamkeit (und diese ist nicht immer innegehalten) articuliren und in ihre Empfindungsreihen auflösen und auslegen kann. Das ist es wohl was der Dichter damit meint, wenn er sagt [1]: seine »wilden Männer wenden dem modernen Enkel nur ein gewisses Maß von menschlichem Empfinden zu.« Sehen wir nochmals auf Homer zurück, so mag beiläufig bemerkt werden daß der moderne Dichteres nicht wagen durfte Held Ingo wie Odysseus weinen zu lassen, während der Sänger seinen Ruhm verkündet. Sentimental! würde es da von allen Seiten tönen, und welcher Dichter möchte sich heute den zur Ketzerei gemachten Ruf der Sentimentalität zuziehen? Es ergeben sich aber noch zwei hervorstechende Besonderheiten. Der griechische Dichter stellt seine Personen in unmittelbare Beziehung zu den Göttern, hel­ fend, hindernd. Athene erscheint dem Odysseus in allerlei Wandlungen, sie gibt ihm Gedanken und Empfindungen. Schiller schreibt an seinen Freund Körner [2] bei Darlegung seines Planes zu der Epopöe Friedericiade, daß er sich einen eigenen mythologischen Apparat bilden wolle, um so den doppelten Boden für die epische Darstellung des Lebens zu gewinnen. Es ist wohl anzunehmen daß durch

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diesen Vorsatz und die Voraussetzung daß ohne solchen Apparat sich das Epos nicht ausgestal­ ten lasse, die Ausführung verhindert wurde. Uns modernen Menschen bleibt nichts als psycho­ logische Begründung, die auch in den gegenwirkenden Organisationen erkannt und herausge­ stellt werden muß. Die moderne Dichtung ist in ihrer Weise auf die physiologische, naturforschende Basis gestellt. Das hat auch Freytag innehalten müssen, und wenn auch sein Held als vom Götterge­ schlechte bezeichnet wird, ist er doch auf sich allein gestellt. Der moderne Dichter mußte Typen schaffen und ihnen doch persönliche Physiognomie geben. Der Schauplatz auf dem sich die Figuren bewegen ist wild und unwegsam, und dabei von künstlichen Verhauen und dergleichen durchzogen. Die Zustände sind primitive (der Lebensin­ halt ist Kampf, Jagd und Ackerbau), und dabei sind die Motive der dichterisch verwertheten Handlungen durchaus nicht primitiv, vielmehr sehr verwickelter und verschlungener Natur. Es hat seine großen Schwierigkeiten die Vandalen und die Thüringe folgerichtig handeln zu lassen, noch schwerer aber ist es die Denknothwendigkeit in ihnen zu verfolgen und sie dergemäß sprechen zu lassen. Indem Homer dagegen seine Gestalten zeitweise nur als Organ der Götter darstellt, kann er ihnen höheren Ausdruck, weisheitsvolle Ueberschau aus dem Gegen­ wärtigen ins Allgemeine und eine Vertiefung geben die über das Aichmaß dessen hinausreicht was wir naturgemäß gelten lassen müssen. Ein Zweites ist daß die Genossen des Helden bei unserm modernen Dichter nicht bloß als Masse auftreten, sondern persönliche Physiognomie gewinnen. Das ist die moderne, wenn man es so bezeichnen will, demokratische Fassung des Lebens und seines Abbildes in der Dichtkunst. Hier ist das Gefolge nicht mehr bloßes Requisit, oder besten Falls eine Volksfigur die komische Kehrseite des Helden. Die untergeordneten Menschen leben ihr persönliches in entsprechender Geltung stehendes Leben. Hierin unterscheidet sich auch der Dichter von den Zeiten der Romantik, während er ein von der romantischen Schule Geheischtes vollzieht. Wir sind moderne Menschen mit realistischer Fassung des Lebens und der Kunst; aber in den tieferen Gründen der Seele tönt noch ein Waldhornklang und blüht noch eine blaue Blume der Romantik. Das ahnungsvoll Träumerische, das Schweben und Schwingen über der Alltags­ welt, der Glanz und Glast an den Dingen, den eben nur das Künstlerauge sieht, das alles sind dauernde Elemente der Poesie; nur der Grad ihres Einsatzes und ihrer Wirkung wird je nach Eigenart des Dichters und seines Werkes verschieden sein. In diesem Werk ist das Romantische aufgenommen, versetzt mit modernen, historischen, politischen und realistischen Fassungen. Die ganze Zeit Schlegel-Tieck-Novalis sehnte sich nach solchem Producte; aber sie konnte es nicht fassen und formen. Es bedurfte eines Durchgangs durch die Schule der Germanisten, jenes freudigen und ergiebigen Erkennens und Sammelns des Volkthümlichen [!] in Vergangenheit und Gegenwart; es bedurfte des Durchgangs durch das politische Leben von 1830-1871; es bedurfte vor allem der nicht bloß künstlichen und aus historischem Wissen erregten, sondern der einfach natürlich gesunden Freude an unserem Nationalleben; es verlangte den sichern Frohmuth, das heitere Selbstgefühl unserer 1 age, um die freie Stimmung für ein solches Werk im Dichter wie im Volke zu schaffen.

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Es kommt oft vor daß wir einer Freundschaft, einer nahen Beziehung zu einem größeren Kreis uns erfreuend innehalten und uns besinnen: wie ist denn das geworden? wie hat es begonnen, wie sich entwickelt? Im Glücksgefühle der Gegenwart lebt man noch einmal die ganze Vergan­ genheit durch. Aehnlich mochte die Stimmung des Dichters sein, der, die Gegenwart des Vater­ lands empfindend, ihren historischen Gründen nachgeht und dieselben lebendig erneuert. Es ist nicht eine Beschränkung, sondern eine Vertiefung des Lebens und des aus solcher Ver­ tiefung quillcnden Schaffens, wenn die Objecte künstlerischer Gestaltung nicht mehr absolut willkürliche sein können, sondern wenn eben jedes Volkthum seinen eigenen Inhalt ausprägen muß, der dann als solcher zum Besitzthum der Menschheit wird. Ich habe auf diesen Punkt schon anderweit hingewiesen, und will hier nur andeuten daß, im Gegensatz zur sogenannten Weltliteratur, der Nationalitätsbegriff sich auch hier geltend macht. [•■•] 1 Widmung des Romans. 2 Schiller an Körner, 10. 3. 1789.

154 Paul Lindau: Gustav Freytags neuester Roman. >Ingo und Ingraban *. In: Die Gegen­ wart 2 (1872), S. 344—47,372-74. Hier S. 345—47. (Neudruck Lindau: Gesammelte Aufsätze, Berlin 1875, S. 29—44.) [...] Der gedrängte Bericht ist weit davon entfernt den eigenartigen Charakter der Freytag’schen Dichtung wiederzugeben. Dieser ist nicht in der Erfindung der Geschichte, sondern in der Dar­ stellung zu suchen. In der Schilderung, im Colorit ist auch Ingo in seiner Weise wiederum ein großes Kunstwerk; aber allerdings darf man bezweifeln, ob die Weise jedermann zusagen wird. Freytag hat sich bemüht, die unvordenklichen Zeiten, so wie er sie sich vorstellt - und seine Vorstellung ist sicher auf ernste Studien begründet - getreulich wiederzuzeichnen; und es ist ihm durchaus gelungen, ein fremdartiges Bild herzustellen, das in der Einfachheit seiner Composition, in der Strenge der Linien, im abgeblaßten Colorit und in der Naivetät der Motive al­ lerdings an die graue Vorzeit gemahnt. Nirgends stört ein Anachronismus die Täuschung; man möchte manche Seiten auf Pergament mit den Schnörkeln der Mönchsschrift wiedergegeben sehen. Liest man das Buch in der rechten Stimmung, mit der rechten Weihe, so wird es hohen Genuß gewähren; bringt man aber diese weihevolle Stimmung der alten Geschichte nicht entge­ gen, so wird sie unerbittlich zum Spott und Hohn herausfordern. Bewunderung oder Verspot­ tung - das ist das Loos, welches diesem Werke beschieden ist, ein Mittelding gibt es nicht. In der That die Motive, welche die Freytag’schen Helden leiten, sind entweder als ehrwürdige zu bezeichnen oder als läppische; und die Reden, welche seine Thüringe und Vandalen führen, wird man entweder rührend und in ihrer Einfachheit erhaben oder lächerlich, kindlich oder

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kindisch finden. Es gehört das echte Vertrauen des Poeten zu seinem Volke dazu, um unserer Zeit ein warmes, lebendiges Interesse dafür zuzumuthen, ob ein kühner Held über fünf oder sechs Pferde springen kann, um unserer Zeit begreiflich machen zu wollen, daß es eine entsetzli­ che Schmach für die Vandalen ist, wenn sie das Korn mahlen müssen - eine Arbeit, die im Jahre 357 »bekanntlich« nur unfreie Weiber verrichteten. Frivole Menschen werden nicht begreifen, daß sich ein ernster Conflict über die Frage entspinnen kann, ob jemand Binsen tragen soll oder nicht; es wird ihnen seltsam erscheinen, daß es keineswegs gleichgültig, sondern von weitesttragender Bedeutung ist ob jemand oben oder unten an der Bank sitzt. Alle diese und tausend an­ dere Dinge, die unserm modernen Bewußtsein recht fern liegen, erregen bei Freytag die lebhaf­ testen Affecte des Gemüthes, rufen Jauchzen hervor oder machen die Zornesader auf der Stirn schwellen. Es ist so patriarchalisch und simpel zugleich, daß man - um ein Freytag’sches Lieb­ lingswort zu wählen - ein ernsthafter Mann sein muß, um es nicht komisch zu finden. Und ebenso verhält es sich mit den weisen, seltsamen Reden der Freytag’schen Helden. Man denke sich folgende Situation: Die Tochter vom Hause gewinnt Interesse für den Gast ihres Vaters und entschließt sich endlich, ihn anzureden und ihm einige artige Worte zu sagen. Bei Freytag macht sie dies so: »Irmgard achtere seitdem auf den Fremden und als sie ihn abseit von den Anderen am Zaun des Hofes lehnen sah, ging sie allein bei ihm vorüber, hielt wie zufällig an und sprach: »Auf dem Hollunderbaum über deinem Haupt wohnt ein kleiner Grauvogel, der Nachtsänger. Die Mädchen beschwören jeden Abend das Wiesel und den Kauz, damit sie ihm nicht das Nest zerstoßen. Singt er dir, so höre ihm gütig zu, daß er sich deines wohlmeinenden Sinnes freue. Sie sagen, er mahnt im Sange Jeden an das, was ihm lieb ist.« «

Das ist keineswegs lächerlich, sondern sogar sehr schön; aber heutzutage macht man das so ganz anders, und mancher Leser hat nun einmal die unangenehme Gewohnheit, sich beständig in die geschilderte Situation zu versetzen und sich zu fragen, was würdest du thun, wenn ein junges Mädchen in dieser Weise ein erstes Gespräch begönne. - Auch das anmuthige Schäkern der Verliebten nimmt sich, wie es der Verfasser beabsichtigt hat, in diesem vierten Jahrhundert gar seltsam aus. Wolf und Frida lieben und necken sich, und zwar in folgender Weise: »Glück hattest du, Wolf, im Schlafe,« spottete sie, »an dem Grenzdorn ist, da du ruhtest, ein fremder Vogel hängen geblieben. Wie war dein Schlummer, Wächter, auf dornigem Lager?« »Die Eule ließ mich nicht schlafen, sie stöhnte über Frida, die bei Nacht am Zaune steht und rüttelt, um zu erfahren, von wannen ihr ein Hausherr kommen wird.« »Ich aber sah einen Stieglitz auf dürrem Strauch, der sammelte alte Distelwolle zu einem Ehebett für den reichen Wolf.« »Und ich weiß eine Stolze,« versetzte Wolf zornig, »welche die Veilchen zertrat, die sie suchen sollte, und dabei in die Nesseln fiel.« »In die Nesseln deines Ackers nicht, du dummer Wolf,« versetzte Frida zornig. »Ich kenne eine, der ich den Ball nicht zuwerfe beim nächsten Reigen,« antwortete Wolf. »Wenn der Wolf tanzt, fliegen die Gänse auf den Baum und lachen,« spottete Frida. »Winde dir ein Kränzlein aus Haferstroh, Jungfer Gans,« rief Wolf vom Pferde zurück und trabte ab­ wärts mit dem Fremden, der sich zartfühlend auf die Länge eines Speerwurfes von diesem Wcchselgespräch entfernt hatte. »Er ist ein unartiger Knabe,« klagte Frida der Herrin.

Wie man sieht wird Zorn und Spott durch diese Wechselrede hervorgerufen - im vierten Jahrhundert - und der beleidigte Liebhaber droht mit einer schweren Strafe: er wird ihr den Ball nicht zuwerfen.

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Sobald man also mit den Empfindungen des Modernen diese ehrwürdige Einfachheit be­ trachtet, so ist die unfreiwillige Komik, die Selbstparodirung da; aber das soll man nicht, und wer nicht im Stande ist, die Geschichte Ingos mit Andacht und Sammlung zu vernehmen, wer bei den Bärenfellen der Vandalen an unsere Uniformen und bei Irmgards keuscher Liebe an ein Patchouli duftendes Billetchen denkt, der lasse Freytags Roman ungelesen. Das Buch ist eben nicht für jedermann geschrieben; auch um sich mit der Darstellung, mit der höchst ungewöhnlichen Sprache, um sich mit den völlig abgelegenen Redewendungen zu befreunden, bedarf es einer besonderen Anlage. Wird diese Form hier nur als Kunstmittel ge­ braucht, um dem Bilde den eigenthümlichen Stempel der Zeit aufzudrücken, will sie uns durch ihre Ungewöhnlichkeit unsere gewöhnlichen Anschauungen nehmen, so wollen wir sie gelten lassen, wollen sie sogar bewundern als eine verdienstvolle und glückliche sprachliche Studie, die wir etwa als Seitenstück neben Regis’ Uebersetzung des Rabelais [1] stellen könnten. Aber entschiedene Verwahrung würden wir dagegen einlegen müssen, wenn diese Darstellung auch dann angewandt würde, wenn nicht ganz absonderliche Stoffe vorhanden sind. Ein moderner Roman im Stile des Ingo wäre geradezu unverdaulich; wir hoffen zuversichtlich, daß je mehr sich der Roman unsern Zeiten nähert, desto mehr auch die gequälten und gekünstelten Sätze schwinden, die im Ingo ihre Berechtigung haben. Es wäre entsetzlich, wenn dieser Stil Nachah­ mer fände. Fast kein Satz ist so, wie er naturgemäß sein sollte; die Wortstellung ist so unge­ wöhnlich wie nur möglich, die den Hauptwörtern beigefügten Prädicate sind oft mühevoll, ge­ ziert und unbescheiden, der ehrliche Artikel wird ohne allen Grund ausgestoßen u. s. w. Da lesen wir von einem »ungefügen« oder »argen« Mann, von einem »ruchbaren« Krieger, da ist man »hartmuthig, kaltsinnig, warmherzig«, da erleidet man »hartes Fegen von deinen Federn«, da »kränkt man sich einsam«, da wird man »scheusälig vor allem Volk«, da ist sogar auf Seite 14 »eine Jacke so reisemüde«, während »der Waldgänger« so »wegemüde« ist, da begegnet man auf jeder zehnten Seite einem neuen »Gesell«, dem »Heerdgesell«, dem »Gutgesell«, dem »Blutgesell«, dem »Spielgesell«, dem »Kampfgesell«, dem »Schwurgesell«, dem »Schwertgesell«, dem »Eidgesell«, dem »Nachtgesell« etc. Wo bleibt der Artikel, der bestimmte oder der unbestimmte, frage ich, wenn ich Sätze wie die folgenden lese: »hungernden Mann im Walde mag ich nicht schauen«, (Seite 6) »auch tapfern Mann verläßt das Glück«, (Seite 76) »wähle mir, Vater, die Blutgenossen für verwegene That«, (Seite 210) »er sprang durch schwarze Nacht dem Thale zu« (Seite 212) u. s. w. Für die einfachsten Dinge sucht und findet Freytag die künstlichsten Umschreibungen; an­ statt zu sagen »sie befahl ihm zu gehen«, schreibt er »sie winkte ihm Entfernung«, für Gewitter sagt er »Strahl und Donnerton«, wenn die Vandalen Rinder stehlen, so sagt er »Ueble Helden­ arbeit ist solcher Nachtwandel eines Katers, der mausen geht« (Seite 219). Wenn eine Biene Irmgards Kind stechen will, so hält Irmgard folgende längere auffällige Rede:

»Weiche abwärts, Honigträgerin,« scheuchte Irmgard, »und thue dem kleinen Helden kein Leid, er weiß ja noch nicht, daß du eine Waffe unter dem Pelzrock birgst. Fliege zu deinen Gespielen und sei fleißig den süßen Seim zu kochen, damit mein Held im Winter an deiner Arbeit seine Freude habe. Denn ein junger Burgherr ist er und wir heben für ihn den Zehnten von allem Guten, das im wilden Walde gedeiht.«

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Die Königin beginnt einen Monolog wie folgt: »Gisela heiße ich, vergosek bin ich im frem­ den I and zu freudlosem Lager dem gemeinen Mann «

In diesem letzten Gtat bemerkt man schon eine der merkwürdigsten Eigenthümlkhkeiten der von Freytag gewählten Form. Die Prosa ist rhythmisch und metrisch: es ist eigentlich gar

keine Prosa, es sind Verse, welche nicht den Muth ihrer Meinung haben, Verse, die zwar ohne

Strophenabsatz wie schlichte Prosa gedruckt sind, die indessen, wenn man sie scandirt und ih­ nen auch durch den Druck die für poetische Erzeugnisse gebräuchliche Form gibt, sich in nichts

von den freien, ungereimten Versen, wie ste z. B. Goethe den bösen Geist in der Kirchenscene [2] sprechen läßt — »Wie anders, Gretchen, war dir’s etc.« - unterscheiden. Machen wir den Versuch und übertragen wir hier einige Stellen der Freytag’sehen Prosa wörtlich, und man wird

sehen, daß aus dieser Prosa, wenn wir ihr nur die Versform geben, an welche sich das Auge gewöhnt hat, alsbald die schönsten und strengst gebauten Verse werden.

Seite 53: Den Kühnen zu schlagen, Das heilige Zeichen Der Römer zu retten. Warf Mann und Roß sich Wie toll in den Strom.

Doch abwärts trieb Im wirbelnden Strome Der rothe Drache, Der siegreiche Held Noch einmal sah ich Den Arm ihn beben Und schütteln das Banner, Darm sah ich ihn nimmer

Seite 60: Die Flamme schlug hoch aui. Mißfarbiger Qualm Erfüllte den Raum, Sie stürzte hinaus Und riß mich in s Freie. Dann band sie die Häupter Mit biegsamer Weide, Knüpfte die Knoten, Raunte das Lied, Und bot mir den Bund In lederner Tasche, Damit kh ihn heimlich Vor Jedem bewahre.

► Es schützt vor dem Wasser. Nicht wahrr's vor dem Feuer. • So wies sie mich nordw ans Mit Reiscsegen.

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Wie man sieht hat Freytag hier sogar die rein poetische Form des Stabreims mehrfach ange­ wandt: »die Römer zu retten«, »band sie« und »biegsam«, »knüpfte die Knoten«, und »bot mir den Bund«.

Wenn das keine Verse sind, dann weiß ich es nicht. Sind es aber Verse, dann verlange ich auch die ehrliche gebräuchliche Form dafür; denn es ist kaum zu beschreiben, wie sehr es irritirt und die Nerven abspannt, wenn man bei der Lectüre des Werkes, welches sich als Prosaschrift darstellt, auf diese metrischen Stellen stößt, die in Ingo sehr zahlreich sind, wenn man dann unwillkürlich anfängt zu scandiren, nach dem Rhythmus herumtastet, ihn für diesen Satz auch findet, bei einem folgenden im Stich gelassen wird, um bei dem, der sich daran anschließt, durch scharf markirten Tonfall wiederum zum Scandiren geradezu gezwungen zu werden. - Mir ha­ ben offen gestanden diese Abweichungen von dem natürlich Gegebenen, die, wie ich sehr wohl einsehe, berechtigte Eigenthümlichkeiten sind, den Genuß an der Lectüre häufig gemindert, bisweilen sogar verleidet; ich habe, um individuell zu sprechen, eine unüberwindliche Abnei­ gung gegen die hochgeschraubte Vornehmheit in der Sprache; möglich, daß dieselbe im Freytag’schen Roman am rechten Platze sein mag, aber sie nistet sich auch da ein, wohin sie gar nicht gehört: in modernen Zeitschriften, und dort ist sie einfach unausstehliches Pathos. Diesel­ ben Worte, die Freytag mit Vorliebe gebraucht — künden, fügen, sorgen ob, jauchzen, reihen etc. etc. - ferner die ungebräuchlichen, über die man nur mit Hilfe des Grimm’schen Wörterbu­ ches genaue Rechenschaft abgeben kann, dieselbe launische Weglassung des Artikels, welche den schlichtesten Satz sofort zum Parvenü macht, findet man auch häufig in den publicistischen Aufsätzen allermodernsten Schlages. Es wäre gewiß zu bedauern, wenn diese Stilistik um sich griffe; unsere ehrliche Sprache würde dadurch weder an Klarheit noch an Wahrheit gewinnen. Auch bei Freytag, dem einsichtigen, hochgebildeten und ernsten Schriftsteller, findet man schon bisweilen Umschreibungen und sprachliche Schönthuereien, die lebhaft an die Unarten der Precieusen im Hotel Rambouillet [3] erinnern. Die oben citirten Worte der Irmgard an die Biene würden sich in einem Romane der Madame de Scudéry [3] vielleicht gar nicht übel ausnehmen.

[•••] 1 Francois Rabelais: Gargantua und Pantagruel, übers, v. Gottlob Regis, Bd. 1.2., Leipzig 1832-1841. 2 Faust. Erster Teil, Dom. 3 Précieuses, eine Gruppe gebildeter Damen der Pariser Aristokratie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhun­ derts, besonders im Salon der Marquise de Rambouillet. Veredelung der Sprache bis zur Affektation. Madeleine de Scudéry (1607-1701) gehört mit ihren Romanen der späten Preziosität an.

Das germanische Nationalepos

155 Wilhelm Jordan: Epische Briefe, Frankfurt/M. 1876, S. 26-32.

[...] Der Dichter des Epos kann nur selbst ein Knospenauge sein an dem Blüthenschafte, den der Baum seines Volkes, vergleichbar jener gefabelten hundertjährigen Aloe, nach langen Epochen treibt, wann das Weltenjahr dieses Volkes wieder einmal in seinen Frühling eintritt. Auf diesem Schafte entfaltet sich zu Blüthen nichts Anderes, als der Saft und Stoff, den die uralten Wurzeln seit Jahrtausenden emporsaugen. Auch sind es nothwendig Blüthen von gleicher Form und Fär­ bung, wie sie nach dem eingeborenen Gesetze des Baumes schon einmal geprangt haben in einem längst vergangenen Frühlinge. [•••]

Und welches sind die Bedingungen des Aufblühens dieser Tausendjahrblume? Erstlich, wie gesagt, muß das Volk ein episches Volk sein; das heißt, es muß sich befinden im erblichen Besitze uralter Sagen. Dieser Besitz darf nicht aufgehört' haben, ein lebendiger zu sein. Es genügt nicht, daß solche Sage in Schriften und Büchern vorhanden geblieben. Sie muß sich auch von Geschlecht zu Geschlecht in mündlicher Ueberlieferung und Fortbildung erhalten haben, wie das bei Uns geschehen ist. Denn zu keiner Zeit, selbst nicht in der trostlosen Epoche nach dem dreißigjährigen Kriege, als wir, auf ein Viertel der vorigen Kopfzahl zusammenge­ schmolzen, aus dem reichsten das ärmste Volk Europas geworden, dem politischen und natio­ nalen Tode schon unrettbar verfallen schienen, - zu keiner Zeit hatten wir ganz aufgehört, von Sigfrid dem Drachentödter und Krimhild, von Ditrich dem Berner und von Hildebrant zu singen und sagen. [...] Ja, die Durchforschung unserer Localsagen und Gebräuche hat den Beweis ge­ liefert, daß es selbst von der so reichen altgermanischen Göttersage kaum irgend einen Zug gibt, der nicht noch heut irgendwo in der Erinnerung lebendig wäre. Ferner muß das Volk beständig auch Haupterlebnisse seiner weiteren Geschichte und natio­ nale Hoffnungen verschmolzen haben mit den Gestalten, Bildern und Mären seines Sagen­ schatzes, wie das für das unsrige ebenfalls zutrifft. Ich erinnere beispielsweise an den Baum auf dem Walserfelde [1], in dem sich die Vorstellung von der Weltesche und deren alte Metamor­ phose, die vom haustragenden Kinderbaum der Wölsunge [2], erneuert hat; an die Sage der nun verwirklichten Reichshoffnung vom Kyffhäuser und Barbarossa [3], der nichts anderes ist als eine Metamorphose des rothbärtigen Donnergottes, der im Berge schläft und wartet, daß ihn Wodan durch seine Raben rufen lasse zur Erneuerung der Götterherrhchkeit; endlich an die uralte Göttersage vom Apfelschützen, welche dem Schweizervolkc den mythischen Rahmen darbot, die Heldengeschichte seiner Freiheitskämpfe zu verbildlichen zur Heldensage vom Teil, dieser Lieblingsgestalt der deutschen Poesie, die in uns allen wieder zu Fleisch und Blut werden

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und so die Rückverwandlung der Sage in Geschichte antreten sollte; da man mir schwerlich widersprechen wird, wenn ich behaupte, daß vom besten Theil unserer neuesten Geschichte uns nicht Weniges zugereift ist aus der Gedankensaat des Schillerschen Meisterwerkes. Denn wie gern ich auch den Dankspruch Victor Scheffel’s [4] unterschreibe: Ein gutes Blatt Geschichte Ist besser als tausend Gedichte,

nicht minder wahr ist der meinige: Daß wahrhaft Großes nur geschieht, Wo vorgespielt ein großes Lied.

Zweitens nämlich kann das Epos nur erblühen, wenn die Nation sich befindet in einem Hauptknotenpunkte ihrer Entfaltung zur führenden Weltmacht. Das Hoffnungslicht, welches die Heldenschatten der Vergangenheit bestrahlen muß, wenn sie wieder zu lebendigen Gestal­ ten werden sollen, kann der Poet nur hernehmen vom Morgenrothe eines neuen Heldenalters, und Gedeihen verleiht zu dauerndem Leben Dem Heldengesang nur die Sonne des Sieges [5].

Drittens aber ist auch die Epoche solchen Machtaufschwunges eines epischen Volkes nur in einem Falle vollkommen und fertig ausgerüstet, um die vom einzelnen Poeten zum Kunstepos zu gestaltende Kernsage zum echten Nationalepos werden zu lassen: wenn sich gleichzeitig mit den staatlichen Siegen auch der Sieg einer neuen und höheren Gestalt der Religion über eine alte unzureichend gewordene im Bewußtsein des Volkes zu vollziehen im Begriffe ist. [...] 1 Der dürre Birnbaum auf dem Walserfelde beim Untersberg in der Nähe von Salzburg ist der bekannteste deutsche Schlachtenbaum. Die Sage läßt die letzte Schlacht am Ende der Zeiten an ihm stattfinden. Der alte Walserbaum stand bis 1871. Ein neu gepflanzter Baum diente der Pflege der Tradition. 2 Die Mythologie knüpft die Entstehung der Menschen und Kinder an Bäume (Kinderbaum). Die Weisun­ gen sind das nordische Geschlecht, dem Siegfried angehört. Aus dem Bericht der Völsungasaga ergibt sich, daß in alter Zeit das Haus um einen lebenden Baum gebaut wurde (vgl. Wagners Walküre, das Hundingshaus). 3 Die mit der Romantik wiederbelebte Kyffhäusersage läßt Kaiser Friedrich Barbarossa (Rotbart) bergent­ rückt im magischen Schlaf der Wiederherstellung des Reiches entgegenharren. Die Reichshoffnung schien 1871 erfüllt (Wiederkunft Kaiser Rotbarts als Kaiser Weißbart, d. i. Wilhelm I.). J. führt die Berg­ entrückung Barbarossas auf den Mythos von der Welterneuerung in der Edda zurück. 4 Telegramm Scheffels an Bismarck als Dank für den Glückwunsch zum 50. Geburtstag 1876. 5 Jordan: Nibelunge. Erstes Lied: Sigfridsage, TI. 1, Frankfurt/M. 1867, Vorgesang.

\56 Wilhelm Jordan: Das Kunstgesetz Homers und die Rhapsodik, Frankfurt/M. 1869, S. 22-25.

Geht mir doch hier mit dem Glauben! Meinet ihr, man habe zu Homers Zeiten ernstlich ge­ glaubt, was ihr glauben heißt, an den einäugigen Menschenfresser Polyphem? Gerade so ernst-

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PosöniichkEit zu tmMndai, an deren handgrerfbdicr Existenz zn znufcla znietn bei Senfe der Veidammmß vertraten wink — dessen smd nv soutische Wüstenvolker fähig gewesen,

wfljgen imd fortwährenden Fieberkangtf gegen den Krankbewsstoff, Wed sie fühkm, emweder Die J'«°rhn Volker haben mit den riefqm Schauern der Verehrung und AmfaAr ein Ewigts,

UungiiwMlirhes lebendig empfanden, ein Woflni und Wirken, aus dm die Weh quelle, em

Görthches, das in der Natur nach Entfaltung strebe, cm HeSges, das im MenschengacMecht walte als dessen Znrhr und Sirre um seine schönste Gestalt zn gewumm. Sie haben von dem Insungrn versucht und sehr wohl gewiße, daß keine derseBien

verachtende Sklaven ihrer eigenen Mm«aöAJ Ar- geworden. Sie bewahrten sich stets cm Gefühl der Oberherrhchkeir und cm Recht. mit ihren Gebilden frei

zn sparten, mn sich zn rergnugen, zn erbauen, zn erartren. Prometheus vergißt cs niemals, daß Fr Awa ■■mI FKnti amp-riwih- an die Gnmr und sic wieder zurück nehmen Fann nm sie zn stür­ zen, wie er schon zwcwnal duen Sturz erlebt- Die weissagende Wala der Edda schabet mehr

minder souverän nut dun Awn- denn sie weiß ihren Ursprungs ahnt ihren Utnergang und schbcßt dne erhabenen Ruiwmprüche gar oft mit der Frage: wisset dir was das bedeutet? Sie

weiß guura, auch diese Riesengestalten seien doch nur Ffieroghpben für Gedanken des größe­ ren Menvrhrn Die arrw-hm Rehgiooeii waren keine Bußübung für die Sunde, geboren zn sein, sondern

F« «■■■«■! m^drr Süße dre Lebens zu genießen, und Ehrengebot. sem bimts Leid zu ertragen

mit mannhafrem Stolz. Sie waren mehr Zerknirschung und feige, bis zur Wtegevorgedehnre

Todesangst, emgeunpfi von der Herrschsucht zünftiger Priester: sondern freie Kunst welche Grurr mmh hi in danach Menschen zn züchten. Und diese Knust, der zu dienen die heilige Aufgabe zumal des Epos ist. diese Kunst wird im­

mer wieder fahjg der Ausübung und verständlich, wann unser Geschlecht seine Entwurzeln wieder einmal befreit har von ihrer gewaltsamen Unterbindung.

1 Gnaw: KänfreHmiru-.-fi— Der risse xns ser Jre2 Ebd. De Useher m saae Fn.

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Die Gründerzeit

157 Ferdinand Kürnberger: Der Rhapsode Jordan. In: Der Salon 6 (1870), S. 470-90. Hier S. 479—80, 488—89. (Neudruck Kürnberger: Gesammelte Werke, hg. v. Otto Erich Deutsch, Bd. 2: Literarische Herzenssachen, neue Ausg. München u. Leipzig 1911, S. 66-S5.)

[•••] Und doch giebt es in dieser Zeit, die es so herrlich weit gebracht - Zukunfts-Musiker [1] und Vergangenheits-Dichter! Das heißt, lebendige Proteste gegen die Zeit! Menschen, welche der Zeit den Rücken kehren und links und rechts eine andere Zeit erkiesen! Menschen, welche in Wort und That, welche in ihrer ganzen Lebenspraxis den Gedanken verkörpern: Du magst Alles haben, mein liebes neunzehntes Jahrhundert, nur dichterischen Geist und künstlerische Form hast Du nicht. Und der Eine flüchtet in die Zukunft, der Andere in die Vergangenheit. Aber seltsam! Just in der Art, wie diese Flüchtlinge flüchten, bewähren sie sich als die allerechtesten Kinder der Zeit. Wer flieht wird schon zufrieden sein, wenn er den Gegenstand seines Widerwillens aus den Augen verliert: gleichviel auf welchen Wegen und Stegen. Nicht so der Zukunfts-Musiker und Vergangenheits-Dichter. Diese Hochgemuthen behaupten kühn: unser Weg ist der rechte, es ist die eigentliche Straße und eine Etappenstraße und Chaussee erster Ordnung. Wir sind der Länge und Breite nach im Besitz einer Via triumphalis und ihr andern mögt euch seitwärts in die Büsche schlagen. Ihre ganze Geistes-Physiognomie drückt diese anspruchsvolle Zuversicht aus. Keine Spur je­ ner erhabenen Leidenszüge, welche den bedeutenderen Charakterköpfen der WeltschmerzPeriode einen so ergreifenden Ausdruck verleihen! Da flieht kein verendender Hirsch ins Dun­ kel des Dickichts; da verhüllt kein sterbender Cäsar die blutigen Todeswunden; ganz das Gegentheil! Sie fordern von der Zeit, welche sie verneinen, die Bejahung aller ihrer Zwecke; sie sind unendlich thätig, regsam und rührig, sich den Tisch der Zeit zu decken, an dem es ihnen ausnehmend wohl schmeckt. Sie haben gute Zähne, einen guten Appetit und eine enorm gute Verdauung. Jene Selbst-Gier, jener Ich-Hunger, jener Durst nach Glück und Genuß, jener nüchternste Gegensatz zur Weltschmerz- und Weltflucht-Romantik, welcher so modern, so specifisch »modern« ist: die Zukunfts- und Vergangenheits-Apostel tragen diesen Stempel der Zeit mit dem großen Staatssiegel an der Stirn ihrer Thaten. Daher nimmt ihnen die Zeit ihre Worte auch gar nicht übel; sie hält sich an ihre Werke. Du Zukunfts-Musiker [2] verdammst die Melodie, Mozarts und Beethovens Purpurmantel, als barock verkünstelten Plunder und der Naturmensch Deiner Zukunft, Deines zweiten goldenen Zeitalters, wird in erhabener Kunst­ nacktheit nur noch die einzelne Silbe »sanglich beklangen«; aber dieser schneidende Wider­ spruch zu mir macht Dir nicht den mindesten Schmerz, sondern ist blos ein effectvolles Motiv für die Trompeten und Heerpauken der Sensation: komm in meine Arme, getreuer Sohn Deiner Zeit! Du Vergangenheits-Dichter [3] verurtheilst als »geile Unzucht« den Endreim in welchem Deutschland seit Gottfried von Straßburg, bis auf Goethe und Uhland sein schönstes und edel­ stes Dichtergut niedergelegt hat, und erlauschest mit einem Ohre, das wir Alle nicht mehr ha­ ben, aus dem Rachen fern heulender Eddas-Wölfe die süßen Klänge des Stabreims; aber dieser

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schneidende Widerspruch zu mir schneidet Dich nicht im Geringsten, ich sehe kein Blut, keine Thräne, keinen Schmerz, wohl aber gasstrahlende Säle und »ein dankbares Publicum.« Wir verstehen uns, theurer Sohn, komm an mein Herz! Und so läßt sich die Zeit verneinen, - mit dem größten Erfolg vor dem Zeitgenossen! Der Vergangenheits-Dichter Wilhelm Jordan, sieht keinen Grund, warum er nicht Deutsch­ lands Homer sein sollte. Die Deutschen hatten vor vierzehnhundert Jahren einen reichen epi­ schen Sagenschatz; den hat vor sieben hundert Jahren der Dichter der Nibelungen mißverstan­ den und verpfuscht (wie Jordan meint); nach weitern sieben hundert Jahren kommt nun Jordan selbst, versteht ihn besser und dichtet ihn besser. Das ist das Princip seines Standpunctes und die einfache Formel desselben.

Um wie viel glücklicher fiel das Loos der griechischen Heldensage! Auch auf die Griechen wirkte die Fremde, auch sie wanderten, eroberten, colonisirten; aber wohin ihr Fuß trat, nir­ gend fanden sie höhere Zustände als ihre eigenen. Die Deutschen kamen als Barbaren zu Classi kern, die Griechen als Classiker zu Barbaren; jene lernten, diese lehrten. Ein Unterschied, der ein Gegensatz ist! Und als dem griechischen Nationalepos nun der holde Schöpferruf: werde! erscholl, da gab es in der ganzen Welt nichts, was diesen Werdeproceß störte und überholte. Sogar bei den Griechen selbst nichts. All’ ihre Fortschritte assimilirten sich in schönen Bildun­ gen und Umbildungen ruhig, stätig, organisch - abenteuerliche Matrosenlügen zu einer Odys­ see: pretentiöse Junkergeschichten zu einer Iliade! Das naivste Fabuliren ging in schönen, menschlichen Maßen auf und die Maße waren fähig Alles zu fassen was der Nation an erhabe­ nen Idealen zureifte und zuwuchs. Ja, als der Bruch endlich eintrat (wozu es gar nicht des Christenthums brauchte), als die Philosophen über Elemente, Atome, Seele und Aether zu lehren anfingen, wie Homer sich nichts träumen ließ, da hatten sie nur die besseren Begriffe; er aber behielt die besseren Gestalten. Was ließ sich machen? Dieser kindliche Heldengott Zeus war doch sehr dauerhaft gearbeitet; er hielt sich ungemein fest und sicher in seinem Sattel! Die Got­ tesleugner aller Schulen empfanden einen geheimen Nationalstolz über diesen Gott; der schöne majestätische Herr machte ihnen Allen eine Freude, - wie sie Donar nie einem Karolinger oder Hohenstaufen gemacht! Die Meere lagen schon längst im Lichte der Wissenschaft da; aber kein Licht verscheuchte die homerischen Sirenen von ihren Klippen. Die Cäsaren thronten längst über drei Welttheilen; aber in den erhabensten Augenblicken und bei den stolzesten Schritten ihres Lebens citirten sie die homerische Weisheit von Königen, welche nichts als Rinder und Rosse beherrschten. Dieser Homer war der Hausgeist in der Hütte und im Palast. Das Alterthum hat zwölf Jahrhunderte gesehen, in denen vielleicht kein Tag verging, wo vom Specereihändler in Palmyra bis zum Steuereinnehmer in Londinum bei den verschiedensten Anlässen des menschlichen Lebens nicht Vater Homer citirt worden wäre. Anwachsend von seiner Quelle, schwoll er zum Strom, der alle Culturen der Erde umflutete; die deutsche Heldensage versiechte im eigenen Lande, ähnlich einem krainerischen Bächlein, das in den Bodenhöhlen der Karstformation verschwindet, zu Tage tritt und wieder verschwindet. Karl der Große ‘T

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-der Nibelungendichter - Jordan - sie alle sind Fragmentisten und spinnen nicht einen laufen­ den Faden, sondern experimentiren, von Zeit zu Zeit einen morschen und abgerissenen wieder anzuknüpfen. Wie tendenziös und forcirt unter diesen Umständen das Gerede [5] ist, daß die deutsche Hel­ densage an Kraft, Zartheit, Tiefsinn, Höhe des Tons, Fülle der Verhältnisse, kurz an allen menschlichen und göttlichen Schönheiten der griechischen nicht nur nicht nachstehe, sondern womöglich noch vortrete! Wie pharisäisch, mit unserem Patriotismus unsere Aesthetik zu be­ stechen! Sagt uns statt’ all dieser schillernden Worte nur ein einziges, wenn ihr könnt, — sie sei leben geblieben! Zeigt uns die Bücher, die Gedichte, die Zeitungen, welche bewiesen, daß die Vorstellungen der deutschen Heldensage in unsern täglichen Sprachgebrauch übergegangen wären. Wir sagen: Elysium, Paradies, Eldorado, Eden; aber nicht: Asgard oder Walhalla; wir sagen: eine Amazone, aber nicht eine Brunhilde; wir sagen: eine herkulische Kraft aber nicht, eine Siegfriedische Kraft etc. etc. Nicht Eine sprichwörtliche Redeweise wüßten wir, worin sich ein Bild unsrer Mythenzeit der Volksphantasie eingeprägt hätte. Das Volk hat biblische, die Gebildeten schulclassische, Niemand hat Bilder der deutschen Vorzeit. Vindicirt den letzteren nun ästhetische Rechte so viel ihr wollt, was kann das helfen? Rechte müssen ausgeübt werden, um nicht verloren zu gehen. Homer hat sein Recht fortwährend ausgeübt. Jedes seiner Worte war ein Samenkorn, das aufging, zur tausendjährigen Eiche. Nicht mehr als acht Zeilen enthal­ ten in der Iliade das Charakterbild des Thersites, aber für ewig ist Thersites ein sprichwörtlicher Typus geblieben. Der ganze Homer war nichts als ein einziges großes Sprichwort des Alterthums. Um im staatsrechtlichen Curiositätenstyl Oesterreichs zu sprechen, so ist Homer wie Deäk [6] - der Mann der Rechts-Continuität; Jordan aber, - wie Palacky und Rieger [7], — der Poet der »vernewerten Landesordnung.« [••.] 1 Richard Wagner. Der ironische Ausdruck Zukunftsmusik hat sich im Anschluß an Wagners Schrift Das Kunstwerk der Zukunft (1850) in den fünfziger Jahren herausgebildet. Wagner adoptierte das Spottwon mit der Schrift Zukunftsmusik (1861). 2 Wagners theoretisches Hauptwerk Oper und Drama (1851) kritisien die Gegenwartsoper und umreißt das Programm des Gesamtkunstwerks: Die Wirkung der Oper seit Rossini beruhe auf der von jedem

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Zusammenhang mit den dichterischen Textworten abgelösten Melodie ihrer Arien. Das Gesamtkunst­ werk soll dagegen die in der Textunterlage bezeichnete Empfindung durch den musikalischen Ausdruck getreu wiedergeben. Wilhelm Jordan: Der epische Vers der Germanen und sein Stabreim, Frankfurt/M. 1868. »Ich kann nicht anders, als in der Importation des Reimes einen Theil des nationalen Unglücks erblicken an dem wir ein Jahrtausend zu tragen gehabt.« (S. 42) Karl der Große ließ die germanischen Heldenlieder aufzeichnen. Jordan: Der epische Vers der Germanen, S. 63. Franz Deik (1803-1876), gemäßigter ungarischer Staatsmann, Verteidiger der Verfassung und der Rechte Ungarns im Ausgleich mit Österreich. Frantisek Palacky (1798-1876) und Franz Ladislaus Rieger (1818-1903), Schwiegersohn Palackys. Sie erstrebten als Führer der alttschechischen Partei die Wiederherstellung der Selbständigkeit der Wenzels­ krone.

Die triviale Versepik

158 Fritz Koegel: Frauen- und Goldschnitt-Literatur. In: Die Grenzboten 43/4 (1884), S. 466-70. Hier S. 467-70. [...] Nun verdanken zwar unsre Poeten den Frauen manches Gute, das sie den Männern nie hätten verdanken können. Warum sollten sie es ihnen nicht danken, da doch Goethe, der Schutzheilige der modernen Dichtung, ihnen mehr verdankt, als Wolfgang Menzel [ 1 ] und andre Urgermanen billigen konnten? Von den Frauen kommt das zarte Empfinden, die rücksichtsvolle Anmut des Tones, die Zierlichkeit der kleinen Formen, die heute gefallen. Von ihnen kommt die seelische Kleinmalerei in der Weise Jean Pauls, der seinerzeit der Abgott aller Frauen war. Aber die ge­ fühlsselige Empfindsamkeit, der allzu zarte Backfischton, die überzierlich verschnörkelte Formkünstelei geht mit jenen Vorzügen Hand in Hand, und aus der psychologischen Klein­ kunst erwächst eine schwindsüchtige Literatur, die keinen frischen Luftzug vertragen kann. Den weiblichen Dichtern im bessern Sinne reihen sich die Miniatur- und Modepoeten an, eine zierliche Zwergenzunft, die sich im Salon beim liebkosenden Weihräuchern ihrer Freundinnen bisweilen sehr groß vorkommen. Der thatenlos weiche Ekkehard [2] mit seinem burschikosen Maskenhumor und der allzublonde Trompeter [2], diese beiden Herzenslieblinge der literatur­ schwärmenden Frauen, sind doch schon zu weich, zu mädchenhaft, um als weibliche Dichtun­ gen im guten Sinne gelten zu können. Sie verdanken ihren Ruhm und ihre hundert Auflagen allein unsern Frauen und Mädchen und stehen mit ihrem achtunggebietenden Alter als die Urtypen und Vorbilder der ganzen langen, langen Reihe von zierlich ersonnenen und kunstreich vergoldeten Dichtwerkchen da, die das Entzücken unsrer Frauen bilden. Da kommen nachein­ ander alle die kleinen hübschen Bändchen, die von ästhetischen Gesellschaftszirkeln oder gar aus Studentenzimmerchen aufflattern, Wein- und Liebesmärchen wie der Waldmeister [3], ro­ mantisch-lyrische Historien mit Blaublumensentimentalität, wie Otto der Schütz [4], »amaranthene« Liederchen [5], Putlitzische Waldplaudereien [6], derbere Wolffiaden in verstutztem Volkston [7], stille Klostergeschichten in altdeutschem Sprachgewande wie Irmela [8] und hin­ ter ihnen drein der ganze Schwarm blauäugiger Herzenslyrik. Wer nennt die poetischen Titel aller der lyrischen Sammlungen und ihrer Herausgeberinnen, wer die Namen der altdeutschen Erzählungen frei nach Freytag und Scheffel mit ihren überdeutschen Jungfrauen und den weib­ lichen Heldenjünglingen? Das alles sind Büchelchen zierlich im Innern wie in ihrer Erscheinung, von mäßigem Umfange und niedlich gebunden, die sich am wohlsten fühlen in »Jung Mägde­ leins Hand,« in hübschen Mahagonigestellen und in reizender Gruppirung auf Nipptischen verstreut. Diese minnigen Sachen sind zierlich abgerundet, ohne Ecken und Spitzen, spielen in sanft gedämpften Farben wie die heutigen Moden, die frische, ungebrochene, leuchtende Far­ ben als aufdringlich grell verschreien; es klingt ein weicher Mollton auch in die waldfrohhchen

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Weisen hinein. Es wird nicht hell gejubelt, aber auch nicht verzweifelnd gewehklagt; die Minia­ turpoeten halten sich in bescheidenem Mittelmaße. Nichts hartes und grelles klingt da hinein, unlöslich scharfe Konflikte, die zum Kampf und Untergang führen, sind verbannt, mit aller bänglichen Spannung, die bei mancherlei Trennungs- und Herzensschmerzen die Leserinnen erfaßt, ists so ernstlich nicht gemeint, von vornherein ist alles versöhnlich angelegt, die Aussicht auf einen guten Ausgang verliert sich nicht in den schlimmsten Lagen, und wenn die Leserinnen wirklich einmal verzweifeln zu müssen fürchten, so weiß der hilfreiche Dichter sicher eine uner­ wartete Lösung: Werner und Margareta [9] müssen sich kriegen, und sollte der Papst selbst die Ehe stiften müssen. Ganz unheilvoll wirkt der weibliche Einfluß auf die Novellistik, die in Zeitungen und Büchern überreichlich fließt. Drei Viertel davon und mehr ist verschwommenes Zeug, schwächliche Kost für einen verweichlichten Leserkreis. Uralte, einfache Gegenstände werden ohne eignen Stil, ohne lebensvolle Charakterzeichnung, ohne scharfe Beobachtung nach alten Mustern in einer langweilig matten Darstellung mit gefühlvoll blumenreicher Sprache ausge­ sponnen. Selbständig fühlende Leute mit etwas literarischer Bildung kommen über den Anfang dieser Geschichten nicht hinaus, aber unzähligen gelten diese blassen Schablonenerzählungen für wirkliche Kunstwerke. Doch auch wir andern, soviel wir der heutigen Literatur ein Interesse zuwenden, urteilen weiblicher, als wir wollen und wissen. Wir stammen alle aus der Schule der Frauen und sind gewöhnt, wie sie, literarische Erzeugnisse anzusehen. Wir wäre es sonst mög­ lich, daß Männer moderne Miniaturpoeten so maßlos überschätzen könnten? Wie hätten ägyp­ tische Romane von Backfischbildungshöhe [ 10] trotz ihres kraftlos glatten Stils, trotz ihrer red­ seligen Menschenpuppen, trotz ihrer ermüdend breiten Schilderungssucht ein Jahrzehnt lang fast widerspruchslos gerühmt werden können? Wenn wir nicht allesamt etwas verweiblicht wären, wie könnten wir unsern Frauen und Mädchen geduldig jahraus, jahrein zu Weihnachten und wann sonst diese Büchelchen schenken? [...] Die Dichter und ihr Anhang, Verleger und Buchhändler, stehen sich nicht schlecht bei dieser weiblichen Schutzherrlichkeit. Die Frauen sind nachsichtigere und dankbarere Leserinnen als die Männer; sie erziehen nicht nur ihre Poeten, sie verziehen sie auch. Vor allem aber kaufen sie und verschenken, das heißt, man kauft, um ihnen zu schenken. Der Gelehrte, der Geschäfts­ mann muß allerlei Werke, die er zum Handwerk notwendig braucht, so teuer bezahlen, daß er gar kein Geld übrig hat, für sich selbst belletristische Sachen zu kaufen, wie ein häßliches Wort die schöne Literatur mißächtlich bezeichnet. Für sich kauft er keine Gedichte, keine Romane, die er aus Leihbibliotheken so bequem haben kann, aber für »sie« ists etwas andres. So sorgen die Frauen, daß wenigstens einmal im Jahre, vor Weihnachen, die Schaufenster unsrer Buchläden in buntem Flore prangen. Da erscheinen in goldverzierten Kalikobänden mit schö­ nen Titelbildchen die neuesten Romane der allbeliebten Dichter, die »auf keinem Weihnachts­ tische fehlen sollten.« Da liegen in grünen, roten, braunen und veilchenfarbenen Einbänden alle die alten episch-lyrischen »Sänge,« alle die Anthologien, da prangen in buntem Leder mit fuß­ langen Goldbuchstaben riesengroße Prachtwerke. Da gleichen im Dezember die Spalten und Beilagen der Zeitschriften und Zeitungen ellenlangen Bücherkatalogen, die mit prahlerischer Aufdringlichkeit ihre eigne Vortrefflichkeit preisen. Die Buchhändler sind den Frauen wirklich

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zu großem Danke verpflichtet. Wie hätten sie je daran denken können, kleine Dichterwerkchen in Großfolio erscheinen zu lassen, wenn nicht Frauen dawären, die sich diese ihre Lieblingsbü­ chelchen mit mächtigen Bildern verziert, verschwenderisch prächtig gedruckt, als Riesenbände schenken lassen! Ginge es nach der Ausstattung und der Buchgestalt, unsre Frauendichter wä­ ren die reichsten, größten Dichter der Weltliteratur. Einem Gedichte, das Julius Wolff gesungen und Paul Thumann illustrirt hat [11], wie könnte dem ein Frauenherz widerstehen! Dem Manne liegt am äußeren Gewände nicht so viel, wenn es nur dauerhaft und geschmackvoll ist, es dünkt ihn widersinnig, daß der Einband des Buches mehr wert sein soll als der Inhalt. Er weiß oft aus Erfahrung, wie betrübend es ist, wenn das bei Menschen vorkommt. Die Frauen haben es ihn gelehrt. 1 Der germanophile und christlich-konservative Kritiker Wolfgang Menzel (1798-1873): Die deutsche Literatur, TI. 3,2. Aufl. Stuttgart 1836, S. 343/4: »Man kann ihn [Goethe] mit nichts besser verglei­ chen, als mit einer unabhängigen, reichen, launenhaften, putzsüchtigen, koketten, empfindsamen und zugleich sinnlichen, in tausend Kleinigkeiten verliebten, an tausend Kleinigkeiten sich stoßenden, höchst anspruchsvollen und bequemen Dame.« Goethe habe darin seinem Publikum, »Weibern und weibischen Männern« (S. 327), entsprochen. 2 Scheffel: Ekkehard (1855, 200. Aufl. 1903/04). Der Trompeter von Säckingen. Ein Sang vom Ober­ rhein (1854, 100. Aufl. 1882, 300. Aufl. 1914). 3 Otto Roquette (1824—1896): Waldmeisters Brautfahrt. Ein Rhein-, Wein- und Wandermärchen (1851, 100. Aufl. 1924). 4 Gottfried Kinkel (1815-1882): Otto der Schütz. Eine rheinische Geschichte in zwölf Abenteuern (1846, 88. Aufl. 1915). 5' Oscar von Redwitz (1823-1891): Amaranth (1849, 44. Aufl. 1904) mit zahlreichen Liedeinlagen. 6 GustavzuPutlitz(1821-1890): Was sich der Wald erzählt. Ein Märchenstrauß (1850,50. Aufl. 1900). 7 Die historisierenden Trivialepen von Julius Wolff (1834—1910) seit 1874. 8 Heinrich Steinhausen (1836-1917): Irmela (1881, 44. Aufl. 1928). 9 Scheffel: Der Trompeter von Säckingen, St. 16. 10 Die ägyptischen Romane von Georg Ebers (1837-1898) seit 1864. 11 Paul Thumann (1834—1908), einer der beliebtesten Illustratoren des letzten Viertels des 19. Jahrhun­ derts. Wolff: Der Rattenfänger von Hameln, illustr. v. Paul Thumann, Berlin 1883.

159 E. Last Literatur-Institut. Nachtrags-Verzeichniß, Wien 1890. Empfehlenswerthe Lectüre für erwachsene Mädchen a) Deutsche Lectüre, S. XI/XI1. IV. Poetische Werke:

Scheffel, Der Trompeter von Säkkingen. - Roquette, Waldmeister’s Brautfahrt. - Tcgiier, Die Fritjofsage. - Wolff, Der Rattenfänger von Hameln, Der wilde Jäger. - Kinkel, Otto der Schütz. - Weber, Dreizehnlinden. - Baumbach, Zlatorog, Frau Holde. - Longfellow, Die goldene

Legende. - Schack, Lothar. - Stieler, Wanderzeit. - Hartmann v. d. Aue, Der arme Heinrich.

- Herder, Der Cid. - Hopfen, der Pinsel Mings.

Das Institut von Last (eröffnet 1847) war eine der größten Leihbibliotheken und em bedeutender Kultur­ faktor Wiens. Das Kaiserhaus, führende Dichter (Grillparzer, Ebner-Eschenbach, Rosegger, l erdin.md von Saar, Kar] Kraus) und Wissenschaftler zählten zu ihren Kunden. Die Lektürevorschl.ige zählen die l’ublikumslieblinge auf.

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160 Em[il] K[uh]: Der König von Sion. (Rez. Robert Hamerling: Der König von Sion. Epische Dichtung in zehn Gesängen, Hamburg 1869.) In: Die Presse (Wien), Jg. 1869,17.—18. März, Feuilleton. Hier 18. März. (Neudruck Kuh: Kritische und litera­ turhistorische Aufsätze, hg. v. Alfred Schaer, Wien 1910, S. 141-72.) »Mit Füttern behängt, war es dennoch armselig; von tausend wohlriechenden Düften durchzogen, war dennoch die Luft darinnen widerlich. Abenteuerlicher Prunk überall neben unaufgeräumtem Schutt.« Spindler: König von Zion [1].

Robert Hamerling hat die geistige Epidemie zu Münster gut, stellenweise sehr lebhaft ge­ schildert. Leider aber birst dieses wunderliche »Epos« eben nur in Schilderungen auseinander, wie dies nach der Wahl des Stoffes füglich nicht anders sein konnte. Auch im Ahasver in Rom [2] waren die Beschreibungen, namentlich jene der verzerrten Wollust des neronischen Roms das Beste. Doch hatte dieser Ahasver nicht die Prätension, als hohes Epos gelten zu wollen, während der König von Sion den Zuschnitt und die Geberden des großen Epos sich angemaßt hat. Der König von Sion will scheinen, was er nicht ist; und ein Epos ist er nicht. Das Gedicht löst sich in lauter Scenen und Tableaux auf und umsonst suchen wir die sammelnde Kraft, wel­ che es wenigstens zum Ansätze einer gegliederten Handlung gebracht hätte. Was verlangen wir vom Epos? Sinnliche Fülle, gedrungene Leiber, den Umriß einer einfachen Handlung und eine gesättigte Anschauung der Welt. Was gibt uns der König von Sion? Einen decorativen Hintergrund, phantastische Figuren, verworrene Seelenzustände, ein Gewühl von Beschreibungen und statt einer menschlich einfachen Fabel eine romantische Klostergeschichte, wie sie auch einem Van der Velde, einem Tromlitz, einem Mützelburg [3] zur Verfügung steht. Und diese Beschreibungen trägt der Dichter weitschweifig vor, diese verworrenen Seelenzu­ stände schildert er in »Gesängen«, diese romantische Klostergeschichte kleidet er in Hexameter. Aber dies Alles macht den König von Sion noch immer nicht zu einem Epos. Um das Epos ist es ein eigenes Ding. Die Freiheit der Entfaltung, welche es den Schilderungen einräumt, die abschweifenden Nebenhandlungen, welche es nicht sowol gestattet als begehrt, läßt es sich theuer bezahlen; bezahlen mit einer schlichten fruchtbaren Fabel, in sich geschlosse­ nen Charakteren und unendlichen Spiegelungen. Alles im Epos muß Gegenstand für die Sinne sein und gleichwol den Reiz, der am Stoffe hängt, gegen den Zauber der Form vertauscht haben. Diese Vertauschung wird durch die hohe Antheillosigkeit herbeigeführt, welche den epischen Dichter auszeichnet. Die zeitliche Ferne, in die das Epos für ihn und uns gerückt ist, entschuldigt sozusagen die umständliche Ausbreitung des Wichtigen, wie des Kleinen und Kleinsten, das Vervielfältigen und sich Verselbständigen der Motive, welche den stolzen und behaglichen Gang der Haupthandlung kräftigen, indem sie ihn aufhalten. Niemand hat das dem Epos Wesentliche und Eigenthümliche, wie es sich als äußerer Eindruck offenbart, deutlicher ange­ geben, als Schiller [4] in den nachstehenden Worten: Die dramatische Handlung bewegt sich vor mir, um die epische bewege ich mich selbst und sie scheint gleichsam stille zu stehen. Daher

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die Wiederkehr typischer Zeichen und Wendungen, welche die Gelassenheit und Einfalt des Epos stetig vor Aug’ und Seele bringen: »Als die dämmernde Eos mit Rosenfingern emporstieg« oder »gingen sie aus, zu ruhen, zu eigener Wohnung ein Jeder«, heißt es wiederkehrend in der Odyssee. [...] Diese Zeichen und Wendungen veranschaulichen uns das jeweilige schöne Zurücksinken der arbeitenden und aufgestörten Dichtung in den tiefen Frieden der epischen Form. Gewiß wird kein Einsichtiger Robert Hamerling vorwerfen, daß er dieselben nicht ge­ braucht habe; aber ebenso gewiß wird der empfindende Leser zugestehen, daß man nach der ganzen Führung eines epischen Vortrages fühlen müßte, Aehnliches hätte gesagt werden kön­ nen. Freilich, wie war die Schilderung eines Deliriums, die Behandlung eines unablässig zittern­ den und zuckenden Stoffes mit der ruhig und behaglich strömenden Darstellung des Epos ver­ einbar! Wie konnte die Sorge um einen Fieberkranken zur Siesta der Erzählung auffordern!?

[•■•]

Skizziren wir die Klostergeschichte, welche diesem » Epos « zum Grunde liegt, und betrachten wir die Figuren, welche als die wichtigsten darin auftreten. Dabei wird der Leser die merkwür­ dige Erfahrung machen, daß Robert Hamerling nicht [ejinmal aus dem ursprünglichen Boden des Münster’schen Aufruhrs seine Gestalten herausgearbeitet, sondern daß er höchst unglück­ lich idealisirt, verhimmelt und verteufelt hat, was ihm die Chronik reichte. Robert Hamerling hat in den betreffenden Berichten [5] von einer jungen Westfriesländerin, Hilla Feycken, gelesen, welche nach Münster gekommen war, um ihrer »Seelen Seligkeit« bei dem Worte Gottes zu suchen. Seit ihr einmal die Prediger erzählt haben, wie Judith durch die Ermordung des Holofernes Bethulia von der Belagerung befreite, ließ ihr der Gedanke keine Ruhe mehr, als eine zweite Judith die heilige Stadt durch den Tod des Bischofs zu retten. Sie eröffnete sich Jan von Leyden und Knipperdollinck, welche sie in ihrem Vorhaben bestärkten. Die Schatzkammer ward ihr aufgethan, sie schmückte sich und ging in das Lager des Bischofs in Telgte, um diesen mit einem vergifteten Hemde, das sie mitgenommen, ums Leben zu brin­ gen. Aber der Anschlag der westfälischen Judith mißglückte, sie wurde ergriffen, gefoltert und dann enthauptet. Diesen Vorgang [...] hat Robert Hamerling sentimental abenteuerlich zube­ reitet. Seine Hilla ist eine schöne Nonne, welche einst von jenem Bischöfe, mit Uhland [6] zu sprechen, um »ihr Schlößlein« betrogen worden war, und welche in einem Kloster der Buße und Kasteiung lebt. Jan von Leyden findet an einem der Münster’schen Sturmtage, auf einsamer Streifung die bleiche Nonne in dem verlassenen Kloster, entbrennt in Liebe zu ihr, entlockt ihren aufgescheuchten Sinnen ein flüchtiges Entgegenkommen, empfängt ein Röschen zur Erinne­ rung an die Schäferstunde, scheidet auf ihr Bitten von der Angebeteten und harrt schmachtend des zugesagten Wiedersehens. Aber das erwartete Glück stellt sich nicht ein. Hilla macht sich eines Tages in das Lager des Bischofs auf, Willens, ihn zu ermorden. Nun spielt sich eine Holofernes-Scene ekelhafter Lüsternheit ab. Der von Wein trunkene Bischof sinkt in seinem Zelte aufs Ruhebett hin. Doch Hilla entwickelt vordem schlafenden Wüstling die raffinirtesten Emp­ findungen, wie sie Wally der Zweiflerin [7] anstünden, Empfindungen, welche zuletzt nur aus ihrer Neigung zum Bischof die eigentliche Nahrung ziehen.

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»... Was büß' ich sie nicht, die Schuld, daß ein Weib ich War, wie die anderen Weiber, die unter dem ewigen Fluche Ihres Geschlechtes vergehen: dem Fluch, zu frühe zu lieben Oder zu spät...«

Und die spitzfindige Betrachtung endet damit, daß Hilla sich selbst den Dolch in die Brust stößt. Diese Klostergeschichte, lang ausgesponnen, nimmt die Mitte des »Epos« ein. Die Liebe zu Hilla beherrscht Jan von Leyden wie einen Minnesänger; das Röschen trägt er stets am Busen, die Wichtigkeit, welche das Röschen für ihn hat, ist sogar seiner nächsten Umgebung bekannt, mit dem Röschen geht er auch aus der Welt. Den Gegensatz zu Hilla bildet Divara, das Weib Mathysson’s. Divara hat noch weniger mit der Ueberlieferung gemein als Hilla. Nach der Chronik [8] war sie eine etwas feiste, blonde Frau, mit leuchtenden Augen, milchblütigen Wangen, eine holländische Schönheit, wie sie Rubens zu malen liebte. Robert Hamerling hat die muntere Brauerstochter aus Hartem in eine dunkle Egyptierin verwandelt, in ein zauberkundiges, mit vampyrartiger Gier auf Sinnenbeute lauerndes Geschöpf. Wer Achim v. Arnim’s Isabella von Egypten [9] kennt, dem wird Hamerling’s Divara als ein sehr mattes Nachbild vorkommen. Und wer in den Münster’schen Aufruhr hineinsieht, der wird nicht begreifen, wie ein Dichter es nöthig finden kann, die dort wuchernde Phantastik noch zu überbieten, die Sumpfpflanzen, welche die rothe Erde getrieben hat, noch durch exotische zu vermehren. Das Phantastische läuft immer Gefahr, abstract zu werden, da schon sein Ursprung auf Verstandes-Combinationen beruht. In Divara wird auch wirklich das trockene Princip des Sinnlichen und die grelle Absichtlichkeit des Zweckes der Gestalt auf’s Unangenehmste fühlbar. Divara umkreist den jugendlichen Schwärmer vom ersten Augenblick ihres Begegnens an bis zum Momente seines Todes mit der Wuth der Nymphomanie. Sie will ihn von der Höhe des Ideals herunterziehen, damit er dann in ihren Schooß falle. Sie ist die geschäftige Leiterin aller schnöden Umtriebe in Münster, der unterirdisch wühlende böse Geist, welcher die reinen Sinnbilder der Wiedertäufer zu zerstören trachtet. Wie sie dies mit ihrer Cohorte von »Söhnen des wandernden Stammes« anstellt, ist in ein Geheimniß gehüllt, ebenso wie die ganze Herkunft Divara’s in jenes opernhafte Mysterium, welches in Robert dem Teufel [10] dem Mutterwitz des nachdenklichen Zuschauers eine so harte Nuß zu knacken gibt. Noch mißlicher als um diese Reflexe aus der laterna magica unseres »Epos« steht es um den Titelhelden. Sind die westfälische Judith und die muntere Holländerin in süßlich romantische und phantastisch diabolische Wesen umgeschaffen, so ist Jan von Leyden unter den Händen des Dichters ein engbrüstiger Heiliger geworden. Schon in der Chronik nimmt er sich unsinnlich genug aus, aber wie dünn, schmächtig, ja durchsichtig nun erst im König von Sion. Der halbe Genußmensch ist ein ganzer Seraph geworden. Ihn erfüllt eine gegenstandslose ewige Sehn­ sucht, unaufhörlich spricht er vom »Großen« und »Hohen«, nach Art gewisser Lyriker, welche vom »leuchtenden Gedanken«, von den »Weltgedanken«, vom »Gedanken« schlechtweg zu fabeln pflegen. Dieser unzuverlässigste und confuseste aller Schwärmer hat in dem Gedichte Robert Hamerling’s alles Mark und Fleisch eingebüßt. Er wird durch das »Epos« gleichsam getragen wie eine Krone in einer Sänfte und er bleibt auch unveränderlich wie der goldene Reif.

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[...] Wie er seine Liebesfesseln trägt, weiß der Leser bereits. Auf eine Nacht nur wird er der geschlechtlichen Gefräßigkeit Divara’s unterthan, aber er reinigt sich gleich darauf in einer Mondscheinscene mit gothisch kirchlicher Staffage. Er läßt es geschehen, daß Divara seine Königin wird, aber dem Weibe bleibt er ferne. Er schließt sich, dem allgemeinen Wunsche Israels folgend, äußerlich dem Grundsätze der Polygamie an, jedoch er nippt nicht einmal von dem schäumenden Genußkelch. Vollständig geistlich geworden, erinnert er nicht eben an eine epische Gestalt alter oder neuer Dichtung, wol [!] aber an Plotin, den Neuplatoniker, welcher sich so sehr schämte, einen Körper zu haben, daß er sich nicht malen lassen wollte, um nicht seine Schande zu verewigen [11]. Resignirt geht dieser Jan von Leyden der Entscheidungs­ schlacht entgegen, unter dem Schutze der romantischen Vorsehung entrinnt er dem Verderben einer Pulver-Explosion, findet sich in dem Walde, wo er vor seinem Eintritte in Münster ge­ schwärmt hat, an der Seite Divara’s wieder, tödtet die Verführerin und sodann sich selbst. Und das sollte ein Epos sein! Wenn zum mindesten eine reiche innere Entwicklung des Hel­ den da wäre, ein Seelenkampf, der gerade in diesem complicirten Schwärmer dichterisch aufzu­ blättern war. Aber nicht einmal ein Charakterbild ist auf dem Wege des Mißbrauchs der Form zu Stande gekommen. Dem schwächlichen unklaren Drange nach dem Ideal entspricht in die­ sem Lyriker eine armselige Resignation. Nun ist aber das Anrecht, von gescheiterten Idealen sprechen zu dürfen, nicht so wohlfeil zu erringen, wie dieser Jan von Leyden wähnt. Dieses Anrecht kostet mehr: es kostet vor Allem den vollen, den ungeschmälerten Einsatz einer tiefen und großen Natur. Was in diesem Schwärmer unterlegen ist, das ist die Unfähigkeit allein. [...] Die Hast und Eile des Gedichts, in Verbindung mit den fieberhaften Vorgängen erzeugen im Leser Unruhe und Bangigkeit, welche um so peinlicher empfunden werden, als die technische Vortragsweise zugleich mit Behaglichkeit und Ausführlichkeit schön thut. Nicht selten flimmert und flirrt es Einem vor den Augen, als ob man knapp über Lampenlicht hinwegsähe. Nirgends ein Ruhepunkt, auf den der betäubte Sinn sich stützen könnte, nirgends eine Gestalt, in welcher der gesunde Menschenverstand uns die Gewähr gäbe, daß noch Erdenkinder vorhanden sind, deren Geist nicht in die Brüche gegangen ist. Dagegen ein Gewimmel von Beschreibungen, wel­ che Zechgelage, Volksaufläufe zum Gegenstände haben, Bücher-Auto-da-fe’s, Kampfvorberei­ tungen, Einzüge, Processionen und Orgien; eine vollständige Monotonie des Wirrwarrs. [...]

Werke, Bd. 51-53: Der König von Zion. Romantisches Gemälde aus dem sechszehn­ ten Jahrhundert (1837), Stuttgart 1840. TI. 3, Der König in seinem neuen Tempel, Kap. 25, S. 146

1 C[arl] Spindler:

vom Gesellschaftszimmer im Palast der Königinnen. 2 Hamerling: Ahasverus in Rom. Eine Dichtung in sechs Gesängen, Hamburg 1865. Ein Prachtepos aus dem Rom Neros in reimlosen fünffüßigen Jamben. 3 Carl Franz van der Velde (1779-1824), August von Witzleben (Ps. A. von Tromlitz, 1773-1839) ver­ faßten vielgelesene historische Romane in der Nachfolge Scotts. Adolf Mützelburg (1831-1882) schrieb nach 1850 populäre historische Leihbibliotheksromane. 4 Schiller an Goethe, 26. 12. 1797. 5 Geschichte der Wiedertäufer zu Münster in Westphalen. Aus einer lateinischen Handschrift des Her­ mann von Kerssenbroick übersetzt, 2. Aufl. Münster 1881 (1. Aufl. 1771), S. 529-34. 6 Uhland: Graf Eberstein. 7 Karl Gutzkow: Wally, die Zweiflerin (1835), jungdeutscher Reflexionsroman über Probleme der Reli­

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gion. K. spielt auf die Verbindung von Reflexion und Erotik an. Wally endet ihr Leben auf gleiche Weise wie Hilla. Geschichte der Wiedertäufer, S. 560 über Divara von Harietn, »die eine Frau von mittelmäßiger Größe war, ziemlich dick, von rothen mit weiß vermischten Wangen, dabei hellfunkelnde Augen und einen heidenmäßigen und ernsthaften Gang hatte . * Achim von Arnims Erzählung Isabella von Aegypten, Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe (1812). Isabella, die Tochter des letzten Zigeunerfürsten, nähert sich mit Hilfe von Zauberwerk Erzherzog Karl und verführt ihn. Giacomo Meyerbeer (1791-1864): Robert le diable (Uraufführung 1831). Nach dem Bericht des Plotin-Schülers Porphyrios (vita Plotini 1^5), der die einzige Quelle für Plotins Leben darstellt und zwischen 301 und 305 verfaßt wurde.

161 Julius Hart: Julius Wolff und die »moderne« Minnepoesie, Berlin [1887] (Litterarische Volkshefte Nr. 3), S. 43—47. [...] Er mag sich selber dessen ganz unbewußt sein, aber instinktiv sucht er die innere Hohlheit und Leere durch äußeren Aufputz zu verdecken. Den Schein giebt er für die Wirklichkeit. Die Menschen, die er zu schaffen vermag, sind im Grunde außerordentlich triviale, platte und flache Alltagsmenschen, deren Denken und Empfinden nicht über den engsten Gesichtskreis hinaus­ geht. Der gewöhnliche Durchschnittsleser jedoch liebt das Außergewöhnliche, Seltsame, Mär­ chenhafte und er würde die flachen individualitätslosen Menschen jener Kunst außerordentlich langweilig finden, träten sie nicht mit einem romantischen Schein auf, welcher den ungebildeten Geschmack nur zu leicht täuscht. Die trivialsten Helden und Heldinnen unserer Leihbibliothe­ kenromane und der Julius Wolff’schen Poesie, die nichts denken und nichts empfinden, als das Bedürfnis nach einer guten ehelichen Versorgung, nehmen da plötzlich einen Heiligenschein an, fühlen sich mit allen Tugenden und Vorzügen so ausgerüstet, und wir bekommen so viel von ihren wunderbarsten Eigenschaften an Leib und Seele zu hören, daß wir die verstocktesten Sünder sein müßten, wenn wir uns nicht - vor allem unsere Damen jedoch - in diese Engelsge­ bilde sofort verliebten. Die deutsche Kritik hat für diese Unwahrheit ein edles Wort gefunden; sie nennt’s Idealismus! einen dummen einfältigen Alltagstropf wie einen zweiten Newton, einen Goethe an Geist, und wie einen Engel an Tugend hinstellen heißt idealisieren, und dieses Ideali­ smen ist das Grundlegende aller Kunst, - nach der Meinung der deutschen Kritik. Wer einen Dummkopf einen Dummkopf und eine Hure - eine Hure nennt ist ein brutaler unmoralischer Realist oder Naturalist, d. h. überhaupt kein Dichter, den Dichten heißt zunächst das Schöne darstellen und wie die sonstigen Ungereimtheiten lauten. 100 Mark dem Ästhetiker und Kriti­ ker, der mir nachweist, daß das Wort »Kunst ist Darstellung des Schönen« Sinn und Berechti­ gung hat! Es giebt jedoch auch eine Renommage des Lasters. Und wie in dieser Poesie der Unwahrheit und Verlogenheit die harmlosesten Menschen zu Engeln gemacht werden, so müssen sie sich gelegentlich eine Teufelsmaske gefallen lassen. Liebt doch das Publikum auch die Abällinos [1],

tbsiorisnus und blaoocul Ismus

die fliegenden Holländer

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[2], die dämonischen Helden mit dem verruchten und doch so edlen

Herzen, fan Rattenfänger und Tannhäuser [3] lernten wir ein Paar von diesen guten braven

Spießbürgern keimen, die so unglücklich verloren in ihrem romantischen Sünderkostüm stekken und gar nicht wissen, warum man sie denn eigentlich zuletzt zum Tode verurteilt oder doch zur tragischen Entsagung. Das fahrende Volk, wie es Julius Wolff und die übrigen Dichter des Vagantermims zu zeichnen lieben, hat genaueste Ähnlichkeit mit den Zigeunern Preciosas Í4]. Die Poeten malen da einen Idealzustand ins Blaue hinein, schildern eitel Herrlichkeit und Freude, eitel Lustigkeit, daß man wahrhaft bereut, nicht ein Mitglied des mittelalterlichen Stra­ ßengesindels zu sein; aber sie zeichnen es himmelblau, weil sie es nicht gelernt haben, der Wahr­ heit ins Auge zu schauen. Denn, daß Menschen, die von der Gesellschaft halb ausgestoßen sind, und bei ihr für Parias gelten, die kein Haus und keinen Heerd haben, keine Heimat und keine Zuflucht, ¡eden Augenblick dem Hunger ins Gesicht sehen, das Gefängnis und brutale Strafen zu erwarten haben, .. daß solche Menschen nicht so biedere, fröhliche Gesellen sind, wie es Julius Wolff glauben macht, muß die einfache Menschenkenntnis sagen. Das fahrende Volk des Mittelalters ist nichts weniger als ein salonfähiges Geschlecht. Wie ein echter fahrender Poet singt, das kann man bei François Villon nachlesen: aber diese Gedichte wildesten Realismus, derbster und rohester Sinnlichkeit, lüsterner Ausgelassenheit und wieder der herbsten Ver­ zweiflung, der bittersten Seelenkämpfe, des riefstbohrenden Schmerzes sind alles, nur nicht Damenlektüre. Sie sind eben wirklich auf der Landstraße zwischen Galgen und Gefängnis im Kreise von verkommenen Studenten, Schauspielern und Dieben und Straßendimen geschrie­ ben, während Julius Wolff Lieder eines Fahrenden hinter dem Ofen schreibt, als braver Staats­ bürger seine Steuern bezahlt und die Landstraße nur vom Sonntagsnachmittagsausfluge und vom Wagen her kennt. Das wäre noch das Wenigste! Aber er versteht es nicht im Geringsten, das Seelenleben eines umherziehenden, mit Not und Entbehrung aller Art kämpfenden Men­ schen auch von der ernsten Seite charakteristisch zu erfassen, er denkt nicht, daß ein rein dem Sinnengenuß hingegebenes Leben auf die Dauer manches Güt erzeugt.

So läuft zuletzt alles auf bunte Dekorationen. Kostüme. Effekthascherei und Spielerei, kurz auf leeres Operngepränge hinaus: statt der Wirklichkeit der Schein, statt der Welt die Buhne, statt Menschen - Opernsänger. Dem entspricht die Form, das aus dem Dramatischen ms Epi­ sche übersetzte Libretto, dessen Schwergewicht in den Anen liegt. Bei Julius Wolff singt eben Jeder, und man kann die Stimmen ganz genau verteilen. Heldenrenor. lyrischer Tenor. Bariton. Baß, Sopran. Alt u. s. w. Es ist eine Kunst, die nicht das Leben beobachtet, sondern aus Buchern und zwar aus schlechten Büchern lernt, die nicht in der Wirklichkeit, sondern im Theater ihre Studien machte und trunken vom Lampenlicht und Koulissenstaub dahintaumelt *

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Julius Wolff ist ein Tvpus. Es verlohnte nicht der Muhe ihn anzugreiien. auch hat es tur mich nichts Anziehendes, ein Pamphlet gegen eine Person zu schreiben. Aber Pflicht ist es. gegen eine ganze Litteratumchtung vorzugehen, weiche heute die herrschende in Deutschland ist. zum Verderben unseres geistigen Lebens. Man muß 'A :derspruch erheben gegen eine Dichtung des Archaismus, der Nachahmung, welche ganz äußerlich Cie Genien der \ ergangenhe’t oder de-' Auslandes zu kopiren sucht. Von den Dichtem der \:be!ungen und des Pjrznal. son einem

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Goethe, sollen wir lernen, wie sie es gemacht, nicht zusehen, was sie gemacht und dieses »was« noch einmal aufbrühen. Ja, das Volkslied kann ein Muster uns sein. Aber nehmt doch nicht die Welt des Volksliedes, laßt doch die Ritter, Schäfer und Hirten fahren: was wir von dem Volkslied lernen können, ist Tiefe der Empfindung, Wahrheit der Leidenschaft, glücklichster Humor. Erfaßt den Geist unserer Zeit, wie jene den Geist ihrer Zeit erfaßt haben; wie ein Wolf­ ram von Eschenbach nicht noch einmal eine Aeneide, eine Odyssee geschrieben, so sollt Ihr nicht noch einmal einen Parzival dichten. Sucht den Parzival unserer Zeit auf, aber nicht den Parzival des Mittelalters. Dann könnt Ihr der Wolfram von Eschenbach unserer Zeit werden, sonst aber nur ein öder Nachtreter. Seid modern! Man muß Widerspruch erheben gegen eine Frauen- und Backfischpoesie, welche die Kunst der Prüderie und einem verzärtelten Geschmack ausliefert, eine verlogene phantastisch ausge­ putzte Welt erbaut, in welcher der dümmste Alltagsmensch sich wie ein Christus an Tugenden, wie ein Plato an Tiefsinn geberden darf. Eine Poesie, die sich eine moralische nennt, aber in ihrer süßlichen Ausmalung, in ihrer Schönfärberei aller Laster, in ihrer Gefühlsduselei geradezu die Lüsternheit und die Gemeinheit erweckt. Man sagt, die Kunst habe die Pflicht, das Leben zu idealisiren. Sie nennen es Idealismus, wenn sie die Poesie außerhalb der Gesetze der Natur stellen und Menschen zeichnen, die aller Psychologie Hohn sprechen, wenn sie die Welt mit allerhand Engeln, statt Wesen von Fleisch und Blut bevölkern; die Kunst hat nach ihnen den Zweck, die Welt zu »verschönern«: nein sie hat den Zweck, zu gestalten, zu schöpfen, Men­ schen zu bilden. Daß es das Zeichen des großen Künstlers und das Wesentlichste des poetischen Schaffens ist, logisch richtige Charaktere zu zeichnen und eine logisch sich entwickelnde Hand­ lung vorzuführen, hat ihnen schon Lessing gesagt, - freilich, wer ist Lessing?! Jene Poesie der Verlogenheit und der Unwahrheit, welche sich heute die idealistische nennt, hat mit dem wah­ ren Idealismus ebenso viel zu thun, wie die französische Pseudoklassik mit der Klassik der Hel­ lenen. Und die Zeit ist nicht mehr fern, wo man den Idealismus unserer herrschenden Litteratur allgemein als Pseudo-Idealismus erkannt und verlacht hat, wo man ihn ebenso in die Ecke stellt, wie man nach Lessing die Pseudoklassik in die Ecke schob. 1 Heinrich Zschokke (1771-1848): Abällino der große Bandit (Roman 1794, Trauerspiel 1795). Sprich­ wörtliche Räubergestalt. 2 Wagner: Der fliegende Holländer (Uraufführung 1843). 3 Wolff: Der Rattenfänger von Hameln. Eine Aventiure (1875); Tannhäuser. Ein Minnesang (1880). 4 Carl Maria von Weber (1786-1826): Preziosa (1820), beliebtes Singspiel, Text von Pius Alexander Wolff. Exotisches Kolorit mit Zigeunern.

Weltanschauliche Positionen

Der Spätidealismus und das Reich

162 Moriz Carriere: Die sittliche Weltordnung in den Zeichen und Aufgaben unserer Zeit. Rede gehalten am 3. September 1870 in einer Volksversammlung zu München, Mün­ chen 1870, S. 3—4.

Es gibt eine sittliche Weltordnung! Diese Überzeugung der Vernunft auch zu erfahren im thatsächlichen Erlebniß ist etwas Großes und Erhebendes für den Einzelnen, ist das Herrlichste im Geschicke eines Volkes. Es ist der Gott in der Geschichte, dessen Walten wir gespürt haben im Gewissen und Gemüth unserer ganzen Nation, als sie urplötzlich alle Sonderinteressen und allen Parteihader vergaß um das Vaterland zu retten, als sie alles Irdische gering achtete um das ideale Gut der Freiheit und der Ehre zu behaupten, als sie das Herzblut ihrer besten Söhne daransetzte, damit sie die freventlich bestrittene Befugniß verfechte sich nach eigenem Willen zu einigen, nach eigenem Ermessen das Reich zu gestalten. Nur ganz verlotterte Seelen mochten von diesem begeisternden Hauch unberührt bleiben. Die aber dem sittlichen Geist sich zum Dienst stellten, sie sind vom Sieg gekrönt, das Recht ist in Kraft und die Kraft ist im Recht. Wie war es doch vor wenig Wochen um die Mitte Juli? Da drohte der geistliche und weltliche Despotismus in Rom und Paris, der Papst Pius IX. und der Kaiser Napoleon III. mit ihren Söld­ nern dem Germanenthum die Unterdrückung des selbständigen Denkens, des wissenschaftli­ chen Forschens, des vernunftgemäßen Glaubens, des religiösen Friedens durch das Joch der Satzung, durch die angemaßte Unfehlbarkeit eines sterblichen Menschen, der fortan der allei­ nige Verwalter der Wahrheit sein wollte [1]; da drohte die Zerreißung des Vaterlandes, der Raub der Grenzländer, die Beugung unter die Machtsprüche fremder Willkür, die Vernichtung dessen, was wir in langer, ernster Arbeit vollbracht, um endlich ein gemeinsames deutsches Vaterland, einen Bundesstaat für alle Stämme und Glieder unseres Volkes zu erhalten. Und heute sind die französischen Truppen, dieser alleinige Schirm für die weltliche Macht des Papstes, diese alleinige Hemmung für den staatlichen Zusammenschluß von ganz Italien, hinweggerufen zu den schwankenden Stützen des Thrones an der Seine, und Pius IX., der die Ansprüche seiner mittelalterlichen Vorgänger, Könige einzusetzen, Reiche zu verschenken, die Völker des Gehorsams zu entbinden, für unantastbare Glaubenssätze verkünden läßt, und seine Flüche darauf setzt, so einer anders dächte, so einer Duldung forderte für andere christliche Religionsgenossenschaften, dieser Papst steht hilfsbedürftig da, und wartet der Stunde, die ihn der wirklichen Herrschaft entkleidet [2], der Stunde, die seine geistige Gewalt brechen wird, wenn sie anders nicht bereits aufgelöst ist durch die Gleichgiltigkeit der gebildeten Welt, die schlimmer scheint als heftiger Widerspruch. Und heute ist Elsaß und Lothringen durch unser Schwert wieder erobert, und der ganze Schwindelbau der Lüge und der Tyrannei bricht und

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wankt in allen Fugen, und es verstummt das Gelüste uns in die Ordnung unserer inneren Ange­ legenheiten von außen dreinzureden. Wenn wir uns selbst nicht fehlen, werden wir auch poli­ tisch die Macht und Freiheit erlangen, die dem deutschen Wesen gebührt, die es in Kunst und Wissenschaft errungen hat; dem Nationalgefühl, das unsere Dichter und Denker wach gerufen, wird im nationalen Staat die rechte Form zu Theil werden. Und blicken wir zurück: dort der frivole Übermuth, die trotzige Ueberhebung, und hier die ruhige Fassung, bereit auch Schweres zu ertragen, ernst im Gedanken an die Opfer des Kampfes, und sehen wir nun wie über die an Wahnsinn streifende Selbstverblendung der selbstbewußte, maßvolle, gottergebene, be­ scheidene Sinn die Palme davonträgt; sehen wir wie zwischen der Stunde, in welcher ich diese Rede überdacht, und der, in welcher ich sie halte, Napoleon der Gefangene des deutschen Oberfeldherrn geworden [3],-wer wagt da von Zufall zu reden, wer erkennt da nicht die sittli­ chen Mächte, die todesfreudig sich erhoben und sich ein neues Leben gewonnen haben? Das ist ein Gottesgericht! Dieser Sieg des Guten, das ist die Bewährung und der thatsächliche Beweis der sittlichen Wcltordnung. [...] 1 Das Vatikanische Konzil brachte zwei Lehrentscheidungen: Die Konstitution Pastor aeternus (Verkün­ digung 18. Juli, Kriegserklärung Frankreichs 19. Juli) verkündete die Infallibilität, die Konstitution De fide catholica grenzte die katholische Lehre vom Rationalismus, Pantheismus und Materialismus ab. 2 Als nach dem Ausbruch des Krieges die französischen Truppen Rom verließen, besetzte das Königreich Italien Rom (20. 9. 1870) und löste den Kirchenstaat auf. 3 Die Schlacht bei Sedan (1. 10. 1870) machte Napoleon III. zum Kriegsgefangenen.

163 M[oritz] Carriere: Pessimismus und Idealismus in der Kunst. (Rez. Johannes Scherr: Novellenbuch, 3 Bde., Leipzig 1873.) In: (Augsburger) Allgemeine Zeitung, Jg. 1874, Beilage, 15. Jan., S. 209-10. |...] Scherrs Pessimismus [ 1 ] ist allerdings von Blasirtheit weit entfernt; er betont die Schäden und Schwächen des Erdenlebens um sie zu geißeln, um zur Überwindung derselben aufzustacheln; aber wenn er das Ziel nicht in einem Sieg des Guten und in der Ewigkeit des Geistes sieht, son­ dern in einem recht jämmerlichen »Krach«, der aller menschlichen Erbärmlichkeit ein Ende machen und alles ideale Streben ins Nichts begraben werde, so sehe ich nicht ab was denn der doch vergebliche Kampf gegen Elend und Gemeinheit soll. Ich freue mich der Waffengeriossenschaft Schcrrs unter der Fahne des Idealismus; aber dieser wäre ja nur eine Illusion wenn die Realisirung des Idealen nicht das Ziel aller Dinge wäre. Die gegenwärtige Welt ist nicht wie sie sein soll, da geb’ ich Scherr natürlich Recht; aber sie ist auch nur eine Stufe der Entwicklung; wir stehen noch in den Anfängen; weil der Mensch Geist, zur Freiheit berufen ist, kann er nicht von Haus aus vollendet sein, sondern muß er seine Bestimmung durch Selbstbestimmung errei­ chen, sein Wesen durch eigene That verwirklichen; Bildung und Freiheit können nicht ge­

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schenkt werden, sie wollen erworben sein. Der Begriff der Freiheit bedingte die Möglichkeit der Verirrung und des Verderbnisses der Lebenstriebe, und daß solche eingetreten, daß gar vie­ les dadurch schlecht und unsere Bahn der Entwicklung ein Schmerzensweg geworden, wer könnte es läugnen? Und wenn er ins Nichts führte, wenn wir bloße Sinnenwesen wären, dann wäre allerdings das Nichtsein dein Dasein mit seinen Leiden, Sorgen und Illusionen vorzuzie­ hen. Sind wir aber Geisteswesen, ist die Seele nicht bloß eine Function des Gehirns, sondern hat sie eigene Realität als organisirende Kraft und als das einheitliche Lebensprincip, das im Gefühl und Bewußtsein sich selber im Unterschied von der Außenwelt und als das Bleibende im Wechsel des Stoffes wie der Empfindungen und Vorstellungen erfaßt - ist Selbstbestimmung, ist die Unterscheidung von Bös und Gut, von Recht und Unrecht, keine Illusion, sondern die darauf begründete Organisation der Gesellschaft berechtigt, ist die sittliche Weltordnung eine Wahrheit - dann nehmen wir die Form des gegenwärtigen Daseins als zweckmäßig hin, denn der Kampf, die Noth wecken und stählen die Kraft, die harte rauhe Wirklichkeit weist uns auf uns selbst zurück, die Entbehrung und der Verlust der sinnlichen vergänglichen Güter läßt uns das Unvergängliche suchen, das Heil nicht im Aeußerlichen, sondern im Innern, in der Ruhe, dem Frieden der Seele, in der Gesinnung und in der Erkenntniß der Wahrheit finden. Und so können wir den Pessimismus überwinden. Heckel [2] hat in diesen Blättern verlangt daß man den ethischen Materialismus vom wissen­ schaftlichen Materialismus unterscheide; Schert macht dagegen geltend daß die vornehme Welt wie die Petroleurs [3] die Consequenzen des Materialismus ziehen, der ihnen als das wissen­ schaftlich Begründete gepredigt werde; Genußsucht und Wüstheit sind die Folge. Täusche man sich doch nicht! Wie kann man von Ethik, von Pflicht und Tugend, von Freiheit und Zurech­ nung reden, wenn wir nichts sind als ein Haufwerk von blinden Stoffen die dem Naturmecha­ nismus folgen? Alsdann geschieht ja was geschehen muß, und unser Thun und Denken ist nichts als das Ergebniß des Stoffwechsels und der Schwingungen unserer Gehirnfibern. Gerade weil wir die innere Erfahrung von unserer Selbstbestimmung, von gewollten und nicht gewollten Handlungen haben, weil uns die Unterscheidung von Recht und Unrecht eine Thatsache, das Gewissen selber gewiß ist, darum genügt uns der Materialismus nicht, wissenschaftlich nicht, um das Leben zu erklären; darum bekennen wir uns zu einem Realismus der sowohl dem Naturmechanismus und der Materie als der sittlichen Weltordnung und dem Geiste Rechnung trägt. Die Philosophie hält auch keineswegs Siesta in einem otio cum dignitate [...], sondern sie arbeitet rüstig; aber das Publicum kümmert sich wenig darum, und meint der Philosophie entrathen zu können. So wird die Volksseele vom Ultramontanismus gefesselt und verdummt, von Feuillctonschwätzern und andern Papagaien der Materialisten vergiftet. Die Lage ist ernst. Ohne einen ethischen Theismus, einen philosophischen Idealismus wird der Conflict mit dem Papstthum [41 nicht geschlichtet, der Friede im Volksbewußtsein nicht gewonnen, die Zukunft Deutschlands nicht gesichert werden. Dicß wird erst dann geschehen wenn Christenthum und Bildung nicht mehr für feindselige Gegensätze gelten, sondern im Einklang stehen.

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Die Gründerzeit

Und nun zu unserem ästhetischen Problem! Genügt in der Kunst die Abspiegelung der Reali­ tät, des Weltlaufes, oder verlangen wir in und über der Darstellung des Seienden auch die Offenbarung des Seinsollenden? Das erstere ist Sache des Realismus, das zweite des Idealismus oder lieber des Idealrealismus. Die menschliche Seele ist eine Idealistin von Haus aus, darum erquickt sich das Kindergemüth am Märchen, es spielt mit der Realität der Dinge, es webt in einem Zauberreiche des Wunders, das Aeußere, Wahrscheinliche gilt ihm wenig, aber alles gilt ihm die innere Wahrheit: daß das Gute siege, daß die verfolgte Unschuld gereuet, das Böse ver­ tilgt, die verborgene Tugend und Schönheit ans Licht gebracht und gekrönt werde. Der männ­ lich reife Sinn will statt des Wunders die Bewahrung der Naturgesetze, die psychologische Motivirung und den Boden der Weltwirklichkeit; aber er wendet sich dennoch unbefriedigt ab wenn in der Dichtung das Edle unterliegt, das Gemeine triumphirt, die Niederträchtigkeit ihre Zwecke mit Macht und List erreicht; und vergebens wird sich der realistische Poet darauf beru­ fen: das sei doch so der Lauf der Welt, so sei es wirklich geschehen. Nun dann haben wir genug und übergenug an seiner Wirklichkeit, die ja so beschaffen ist daß sie unsere beste Kraft zur Bekämpfung herausfordert. Shakespeare hat in zeitweiliger Verbitterung und Verdüsterung seines Gemüths auch einmal diesem Weltlauf das Feld gelassen - in Troilus und Cressida er hat auch einmal dem Pessimismus das Wort gelassen - im Timon — aber er hat sich - im Sturm - wieder darüber erhoben und eine liebende Vorsehung verherrlicht, die alles wohl macht, der Sturm reinigt die Atmosphäre, er verschlägt das Lebensschiff, damit wir uns selber finden und zu unserm Heil kommen. So furchtbar im Lear das Böse seine Macht entfaltet, so qualvoll die Zweifel Hamlets über den Räthseln des Geschickes brüten, das Gericht und die Versöhnung bleiben nicht aus. Wir verlangen nach Licht und Recht, und es wird uns bei der Kunst nur wohl wenn sie uns nicht im Dunkel und Chaos läßt, sondern uns Klarheit und Frieden bringt. Auch das ist eine Thatsache, und darum verlangt die Aesrhetik nicht bloß die Abspiege­ lung des Seienden, sondern in und über derselben auch die Darstellung des Seinsollenden; eine ideale Welt, die uns neben den Bitterkeiten der Realität die Süßigkeiten des Schönen kosten läßt, dessen Bedeutung ja darin besteht daß es uns die Harmonie des Lebens, den Einklang von Geist und Natur, zur sinnlichen erfahrungsmäßigen Gewißheit macht, daß es uns im Einzelnen bereits eine Lebensvollendung zeigt, die uns für eine solche auch im Ganzen bürgt. Wer mag ein Musikstück hören das in Dissonanzen endet, oder wo vor dem erwarteten Schlußaccord eine Saite zerreißt?

1 Johannes Scherr: Deutsche Kultur- und Sittengeschichte, 7. Aufl. Leipzig 1879, Einleitung: Land und Leute. Sch. bekennt sich zum Pessimismus, »d. h., zu der Überzeugung, daß dereinst ein Tag kommen muß und wird, wo die Tragikomödie des Menschendaseins »wie ein leeres Schaugepränge erblaßt- und die todte Erde nur noch als Planet-Gespenst im unendlichen Raume kreis't, ohne daß zuvor die große Räthselfrage nach dem Warum? und Wozu? des menschlichen Trauerlustspiels beantwortet worden wäre.« (S. 12/13) Sch. vertritt einen -sittlich-pessimistischen« Standpunkt, »denn der Pessimismus ist ganz wesentlich Gefühl und Leidenschaft, heißer Wunsch und Wille, das Elend des Daseins zu mildern und die Schäden der Gesellschaft zu bessern- (S. 13). Eine materialistische Weltanschauung -würde die Gesellschaft schließlich wieder in die Bestialität zurückwerfen, aus welcher sie sich mittels einer harten Kulturarbeit von Jahrtausenden allmälig emporgerungen hat« (S. 12).

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2 Eras Hkfcri (1834—1919), Bahnbrecher des Darwmnmns n Demddand; Vcrbremmg des Marenahs■mk and Moobbb dmth popidare Vortrage md Wcrkr (btaMcfc Sdñffm&gescíichte 1868, 12. Arf. 1920). 3 At^dñn^ da Pariser Kommne 18/1, «fie öflendidK Gebäude mñ Bumlrin in Brand urrfcwi 4 »f-fc-fc—ab 1871,Höhqankr 1873/74.

164 Adolf Friedrich von Schack: Nächte des Orients, Stuttgart 1874, S. 256-62. [Had­ schi-Ah, der uralte Weise, der die Geschichte der Menschheit begleitet hat, verkündet die Geschichtsphilosophie des Werkes.] [...] Ans Lavafeldem, lang erstarrt,

Den Bergesschxhten und den Bodenspalten. Stieg eine nie grahup Urweit wieder

Ans Tageslicht; und Riesenglieder

Eriosch’na ThiergEschledna, Schreckgestalten. Die eines grausen Traums Geburten schienen.

Sah man gehena in Ruinen Von hmgesunkenen Aeonen, Und fand in Eina Schicht mit ihnen Dai Menschen, den die Religionen Gestempelt zu des Gestern Sohn.

Tief in da alten Urnacht schon Hat er gelebt, in Höhlenschhicht verborgen. Und lang vor da Geschichte grau'ndem Morgen

In wildem Kampf gestritten und gerungen.

Bis er sich auf da Schöpfung Thron geschwungen.

So von dem alten Räthsei fiel

Da Schleier, den Jahrtausende gewoben : Er kommt von unten, aba ringt nach oben Zn höha'm, immer böba'm Ziel. Und herrlicba, als hätten in die Wiege Sie güfge Götta ihm gelegt. Wird ihn die Palme schmücken, wenn zum Siege Zuletzt die eigne Kraft ihn trägt. Wohl langsam war sem Gang: doch ais Em Tag Zählt ein Jahrtausend in der Weltgeschichte;

Wohl daK er m dem Ringen ort eriag.

Dais er mit Tritten, schwank und ungewiK Wenn a emporgeklotnmen schon zum Nochmals rücksank m Finsternis:

Lichte.

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DieGr^Anm

Allein das Eine bahr fest dem Herz:

Er schreitet mäEg sonnenwärt . * Und immer reiner wird der Qnefl

Des Göttlichen ihm, immer klarer fließen,

Wenn neue Himmel sich Am hdi

Mit den Jahrhunderten erschließen.

[...]

O Freund! und nicht um Jene darfst du klagen,

Die in dem Ringen untersanken, Denn glorreich sie, da in des Ruhmes Hallen

Unsterblich ihre Namen srhaHrn; Für ihrer Thaten jede ihnen danken

Wird noch die spätste Zeit, wie allen Jenen, Die unter Leiden, unter Thränen

Der MmccWwir hohes Gut gemehrt.

Der Nachwelt ist, was sie ersucht, erfahren, Ein theures Eibe, das von Jahren Zu Jahren sie bewacht und mehrt;

Mit ihres Denkens Fracht genährt Spricht sie in klaren Worten ans Was Jene schüchtern nur gestammelt,

Und jeder Schatz, den sie gesammelt.

Wird unvergänglich durch die Zeiten Sie auf dem Erdengang begleitm. Nicht ein Gedanke ist, in stiller Stunde Gedacht von der Begeisterung,

Der nicht von Herz zu Herz, von Mund zu Munde Fortwandelte, unsterblich jung.

Der Kindertraum der ersten Mythen, Der Dichtung wunderbare Blütben, Der Weisheit Lehren und des Forschens Funde

In frühster Vorzeit je gethan. Die Scherblicke, von Propheten Geworfen in den Weltenplan, All das bleibt ein Besitz den späten Urenkeln noch, die es beim Sterben Dem kommenden Geschlecht vererben.

Auch dir ging nichts davon verloren, Und dem Geschicke mußt du dankbar sein,

Wdtansdunliche Positionen

Daß du in dieser Zeit geboren; Denn jene Güter all sind dein, Die die Jahrtausende gehäuft. In Indien an des heil’gen Stroms Gestaden Kannst du den Geist im Thau der Frühe baden, Der von der Veden [1] Blättern träuft, In Hellas’ Marmorblüthenflor Dir den entzückten Sinn berauschen Und Aeschylus’ Oceanidenchor [2] Und Phädons Seherwort [3] belauschen. Dir immer offen stehn - betritt sie nur! Des Mittelalters Münsterhallen, Und fort und fort für dich erschallen, Noch läßt sein Lied der Troubadour. Doch vor den Frühem wie bist du beglückt! Indeß dir noch in Bildern, in Gesängen Die alten Zeiten leben, ihrem engen Wekkreis wie weit nicht siehst du dich entrückt! Von Lande hin zu Lande sieh! Regt sich und wogt und schwillt ein mächt’ges Leben Und alle Erdenkräfte streben Nach Einem Ziel in schöner Harmonie. Dahin durch alle Oceane, Nicht Wirbel scheuend noch Korallenriffe, Ziehn auf der hochbeschäumten Flut die Schiffe, Und ächzend an die Küsten ziehn die Krahne Die Waaren, die sie fernher brachten. Bald, glaub mir, in der Sage Dunkel birgt Die Kunde sich, daß einst in blut’gen Schlachten Mit Menschen Menschen sich gewürgt; Denn über Berg und Kluft mit weh’nden Fahnen Von Nation zu Nation Rollen bei Tag und Nacht auf ehr'nen Bahnen Dahin die Friedensheroldwagen schon. Die allgeheimen Kräfte der Natur, Die düstem, denen zitternd nur Der Mensch zu nahen sonst vermocht, Hat er in seinen Bann gejocht; Er zieht vom Himmel mit gebundnen Flügeln Den Blitz herab und läßt an seinen Zügeln In ferne Länder ihn. in ferne Städte

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Die Gründerzeit

Als Boten gleiten längs der Eisendrähte; Und, während auf der Forschung Adlerschwinge Ihn Wissensdrang durch alle Räume reißt, Enthüllt die Wesenheit der Dinge Sich immer klarer seinem Geist — Und doch, des Einen ward ich inne: Noch steht die Welt erst im Beginne Und in der frühsten Dämmrung dessen, Was einst sie werden wird; so unermessen Wie das Geschlecht, dem heut die Sonne tagt, Die ersten Höhlenwohner überragt, Wird ein zukünft’ges Menschenalter Das Heute überflügeln — wie ein Traum Im Morgenschlafe, wie ein mattgelalker Kindischer Laut, werth sein zu achten kaum, Wird ihm das hehrste seiner Geisteswerke Erscheinen; thöricht, frevelhaft Was es beginnt und sinnt und schafft. Denn in des Mannes voller Stärke Stehn wird der Mensch; wie er sich selbst erkennt, Lebt er im Einklang mit dem Weltgesetze; Natur und Geist sind ihm nicht mehr getrennt, Und aufgeschlossen liegen ihre Schätze Vor seinem Blick; kein Element Des weiten Alls ist, dem er nicht geböte Und eine heil’ge Morgenröthe Hat Haß und Neid und alle dunkeln Triebe Der Sterblichkeit in ihm verzehrt, So daß er auf der Erde schon verklärt Ein Himmelsleben führt, in dem die Liebe Die Völker mit allmächt’gem Band umschlingt. Das ist das Ziel, nach welchem Alles ringt; Doch eine Spanne Zeit, um mitzustreben, Nur ward dem Einzelnen gegeben, Denn in der Menschheit ist sein wahres Leben, Und, wie die Welle in den Ocean, Sinkt er in sie zurück. Drum wirke du, So lang vor dir die Erdenbahn Erschlossen ist; doch, wenn dein Tagewerk gethan, Froh schließe deine Augen zu Und juble, daß die Schranken fallen,

Weltanschauliche Positionen

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Die dich getrennt vom großen Sein! In ihm, befreit vom trügerischen Schein, Der deinen Blick umwob, als Eins mit Allen Erkennen wirst du dich, die sind und waren; Und, wie von je du in den Wesenschaaren Gewaltet, eh du trugst dein Staubeskieid, So darf dich keine Sorge quälen, Dir werde je die Zukunft fehlen Dein ist die ganze Ewigkeit.

Das Werk setzt mit der Flucht aus Europa und aus der Gegenwart, mit dem Zweifel am Fortschritt der Geschichte ein. Der Erzähler sehnt sich nach vergangenen Jahrhunderten. Der weise Alte Hadschi-Ali er­ füllt den Wunsch und versetzt ihn traumhaft in fünf vergangene Epochen. Obwohl diese Epochen, die als Höhepunkte der Menschheit gelten, ihre schreckliche Kehrseite offenbaren (Paradieszeit: Kannibalismus; goldenes Zeitalter: Menschenopfer; klassisches Griechenland: Sklaventum; Mittelalter: Judenpogrome; Renaissance: Ketzerverbrennung), siegt der Glaube an den Fortschritt der Geschichte. Das Europa der Gegenwan wird dank seiner wissenschaftlichen und zivilisatorischen Errungenschaften als Gipfel der bis­ herigen Geschichte gefeien. Der kulturelle Eklektizismus macht die Kunstschöpfungen aller Zeiten verfüg­ bar. Das Werk schließt mit der Errichtung des deutschen Reiches von 1871, die den Helden ins Vaterland zurückkehren läßt.

1 Sammlung religiöser Literatur der Inder. 2 Aischylos: Der gefesselte Prometheus. 3 Platon: Phaidon. Eschatologischer Schlußmythos des Sokrates.

165 Gustav Wacht: Emile Zola und die Commune in der Literatur. In: Dte Literatur 1/1 (1880), S. 113-16. Hier S. 113-14, 116.

[...] Wir stehen in der Literaturgeschichte vor einem unerhörten Ereigniß, das anscheinend plötz­ lich hereinbrach, —. das sich trotzdem schon längst innerlich vorbereitete, wir müssen, um es in seiner Entstehung zu beleuchten, in seiner ganzen Bedeutung zu würdigen, uns auf den inter­ nationalen Standpunkt stellen. Mit der im April 1879 in Paris erstmals erschienenen Reime réa­ liste [1] hat sich die längst vorbereitete Literatur-Commune der Welt als Thatsache vorgestellt: »Krieg dem Idealismus! Krieg gegen alle Diejenigen, welche den lendenlahmen Pegasus und den rotzkranken Gaul des literarischen Stalles noch reiten«. [...] der Begründer und der Mittel­ punkt der naturalistischen Schule, der neue literarische Messias war und ist Emile Zola. Man könnte ihn auch als den Sumpf bezeichnen, aus dem die anderen miasmatisch hervorstiegen. [...] Den großartig idealistischen Zug, der die Werke Victor Hugo's adelt, die innerlich morali­ sche Tendenz Sue’s, die feine Psychologie Balzacs, und den Rest poetischer Gerechtigkeit, den

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Die Gründerzeit

Daudet durch Einflechtung wenigstens einiger lichter Gestalten in schwarz nächtige Bilder be­ tätigt, alle diese Dinge warf Zola nun weg, wie vermoderte Gewänder, er stieg hinab in die Cloaken und wühlte mit bloßen Händen in dem boue de Paris, er wälzte sich darin wie in seinem ureigensten Elemente, er beschrieb mit der nackten Gemeinheit auch noch deren Geruch auf das lebendigste. Bevor wir zu diesem die naturalistische Schule inaugurirenden Werke [L’Assommoir] übergehen, muß noch anderer vorbereitender Momente gedacht Werden, näm­ lich der politisch-sozialen Zustände, denn die Literatur war zu allen Zeiten mehr oder weniger deren Spiegel. Das hirnlose Gebahren der römischen Priester, die Reaktion unter Pius IX. [2], der ein kirchliches Mittelalter wiederherzustellen versuchte, und der hieraus folgende Zusam­ menbruch der römischen Weltherrschaft haben nicht nur die Kirche der Macht beraubt, son­ dern einer ebenso bedauerlichen Glaubenslosigkeit, ja einer Verhöhnung des Glaubens an alles und jedes Höhere Platz gemacht. Der in Frankreich durch die früheren Revolutionen längst bekannte Communismus wurde durch die Gründung der Internationale (London 1862 und 1864) in seinen Ideen über ganz Europa verbreitet und durch die Commune von Paris 1870 Fleisch und Blut. Das politisch-so­ ciale Programm der Pariser Communards ist geistig analog mit jenem literarischen der Revue réaliste, es sind dieselben politischen, gesellschaftlichen und sittlichen Principten nur auf ein anderes Gebiet übertragen. Auch ein wesentliches Moment sind die korrupten Zustände der großen Städte, wo neben dem tollsten Luxus bei absoluter Arbeitslosigkeit die fürchterlichste Noth bei härtester Arbeit einhergeht, wo arme, verkommene, elende Massen die wenigen Rei­ chen mit Neid verfolgen und die häufig unerlaubten Mittel zur Erlangung des Reichthums der schärfsten Kritik unterwerfen. Die Darwinistische Richtung der Naturwissenschaft, welche die Zwecklosigkeit des menschlichen Daseins auch in populären Vorträgen ausposaunt und nur den Kampf ums Dasein als Lebensziel und Weisheit aufstellt, die pessimistische Richtung der philosophischen Wissenschaft, welche in der Unzufriedenheit mit dem menschlichen Loose gipfelt, diese in weiteste Kreise gedrungenen und in Empfindung übergegangenen Ideen trugen wahrlich nicht dazu bei, den Idealismus zu erhalten. Wir haben alle möglichen Gebiete durch­ wandert, wir fanden allerwärts dieselben Züge, dieselben Bestrebungen des Nihilismus, - wie sollte die Literatur davon frei bleiben!

[•••] Wird das opus [L’Assommoir] auch in Deutschland mit einem Evoe begrüßt werden? Ist auch bei uns die Skepsis, die Zersetzung, der Lebensekel so weit gediehen, um einer solchen Produktion Thür und Thor zu öffnen? Werden sich auch in Deutschland Verfechter des Naturalismus finden, die, wie Francesco de Sanctis in einem Vortrage in Neapel [3] gethan hat, Goethe als einen Vorläufer Zolas bezeichnen? Wir wollen es nicht fürchten, denn es wären die Symptome des völligen geistigen Niedergangs, des Beginns einer schrecklichen Culturfäulniß, oder die Merkmale, die jeder furchtbaren Umwälzung unmittelbar vorangehen, die Orgien der Verzweiflung. Soviel steht fest, wenn es dieser Richtung gelänge, das Ideal aus dem Tempel der Menschen­ seele herauszuschleudern und das Götzenbild des Nihilismus darin aufzurichten, wenn auch in der Kunst und der Literatur dem Menschenherzen und dem Menschengeist die Gemeinheit

PoööoneD

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und die Niedertracht als Vorbild aiiigrsicllt würden an Stelle der Hoheit, des Sedenadeis und der Grüße,—dann würde sich das Ungeheure vollziehen, dann müßte da« Weltgericht die ver­

kommenen Gesdilechter zersdnnenem «md die bhimnchenden Leichen den Rod™ düngen, ans dem ein gesundes, ein neues Leben erblühen wird. Wir wollen dieses Schlimmste nicht befürchten, jenen bterarischen Communards aber, die mit der Fahne des Wahnsinns, der Trunksucht, der Prostitution in der Hand uns vertineren wollen, sei Kampf erklärt, Kampf bis zum Äußersten! Es ist eine gebieterische Pflicht aller

Derer, die noch an das Mcuschenthum glauben, sich znsammenzuschaaren und jenen mit Keu­

len auf den Leib zu rücken. Es gilt das Einzige zu retten, was den Menschen von der Bestie unter­ scheidet, es gilt das höchste, das heiligste Gut, das Schöne, das Gute, das Ideal! 1 La rmu rodste, Pans 5. ApnJ-21. Juni 1879. 2 Das Vankantsche Kanzü (1869/70) verschärfte die zwisrivn rr-tairu-F«—ywerse '¿rc 1-S xhr-jcrer. Gruroer -re Mcrx'cr rcr xerxLSsarsre m Itataa sis eiret- cetcTer. Tier i'zsjKcrzer. «..jr.-ic. S? irrerjder. l-< re-, der C-re-tr« [ecer Tneb. dai er tEüZier toc Xe-jerr: wuecet irirz

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Die Gründerzeit

nen, in deren Anblick Homer lustvoll versunken, als achter Hellene, vor uns steht - wohin deu­ tet diese naive Barbarei des griechischen Staates, woher nimmt er seine Entschuldigung vor dem Richterstuhle der ewigen Gerechtigkeit? Stolz und ruhig tritt der Staat vor ihn hin: und an der Hand führt er das herrlich blühende Weib, die griechische Gesellschaft. Für diese Helena führte er jene Kriege - welcher graubärtige Richter dürfte hier verurtheilen? Bei diesem geheimnisvollen Zusammenhang, den wir hier zwischen Staat und Kunst, politi­ scher Gier und künstlerischer Zeugung, Schlachtfeld und Kunstwerk ahnen, verstehen wir, wie gesagt, unter Staat nur die eiserne Klammer, die den Gesellschaftsprozeß erzwingt: während ohne Staat, im natürlichen bellum omnium contra omnes, die Gesellschaft überhaupt nicht in größerem Maaße und über das Bereich der Familie hinaus Wurzel schlagen kann. Jetzt, nach der allgemein eingetretenen Staatenbildung, concentrirt sich jener Trieb des bellum omnium contra omnes von Zeit zu Zeit zum schrecklichen Kriegsgewölk der Völker und entladet sich gleichsam in seltneren, aber um so stärkeren Schlägen und Wetterstrahlen. In den Zwischen­ pausen aber ist der Gesellschaft doch Zeit gelassen, unter der nach innen gewendeten zusam­ mengedrängten Wirkung jenes bellum, allerorts zu keimen und zu grünen, um, sobald es einige wärmere Tage giebt, die leuchtenden Blüthen des Genius hervorsprießen zu lassen. [...] So sei es denn ausgesprochen, daß der Krieg für den Staat eine ebensolche Nothwendigkeit ist, wie der Sklave für die Gesellschaft: und wer möchte sich diesen Erkenntnissen entziehn können, wenn er sich ehrlich nach den Gründen der unerreichten griechischen Kunstvollendung fragt? Wer den Krieg und seine uniformirte Möglichkeit, den Soldatenstand, in Bezug auf das bisher geschilderte Wesen des Staates betrachtet, muß zu der Einsicht kommen, daß durch den Krieg und im Soldatenstande uns ein Abbild, oder gar vielleicht das Urbild des Staates vor Augen ge­ stellt wird. Hier sehen wir, als allgemeinste Wirkung der Kriegstendenz, eine sofortige Schei­ dung und Zertheilung der chaotischen Masse in militärische Kasten, aus denen sich pyramiden­ förmig, auf einer allerbreitesten sklavenartigen untersten Schicht, der Bau der »kriegerischen Gesellschaft« erhebt. Der unbewußte Zweck der ganzen Bewegung zwingt jeden Einzelnen un­ ter sein Joch und erzeugt auch bei heterogenen Naturen eine gleichsam chemische Verwandlung ihrer Eigenschaften, bis sie mit jenem Zwecke in Affinität gebracht sind. In den höheren Kasten spürt man schon etwas mehr, um was es sich, bei diesem innerlichen Prozesse, im Grunde han­ delt, nämlich um die Erzeugung des militärischen Genius - den wir als den ursprünglichen Staa­ tengründer kennen gelernt haben. An manchen Staaten z. B. an der Lykurgischen Verfassung Sparta’s kann man deutlich den Abdruck jener Grundidee des Staates, der Erzeugung des mili­ tärischen Genius, wahrnehmen. Denken wir uns jetzt den militärischen Urstaat in lebhaftester Regsamkeit, in seiner eigentlichen »Arbeit« und führen wir uns die ganze Technik des Krieges vor Augen, so können wir uns nicht entbrechen, unsere überallher eingesognen Begriffe von der »Würde des Menschen« und der »Würde der Arbeit« durch die Frage zu corrigiren, ob denn auch zu der Arbeit, die die Vernichtung von »würdevollen« Menschen zum Zwecke hat, ob auch zu dem Menschen, der mit jener »würdevollen Arbeit« betraut ist, der Begriff von Würde stimmt, oder ob nicht, in dieser kriegerischen Aufgabe des Staates, jene Begriffe, als unter ein­ ander widerspruchsvolle, sich gegenseitig aufheben. Ich dächte, der kriegerische Mensch wäre

Aristokratismus (Heroentum, Kultur und Klassenherrschaft)

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ein Mittel des militärischen Genius und seine Arbeit wiederum nur ein Mittel desselben Genius; und nicht ihm, als absolutem Menschen und Nichtgenius, sondern ihm als Mittel des Genius -der auch seine Vernichtung als Mittel des kriegerischen Kunstwerks belieben kann, - komme ein Grad von Würde zu, jener Würde nämlich, zum Mittel des Genius gewürdigt zu sein. Was aber hier an einem einzelnen Beispiel gezeigt ist, gilt im allgemeinsten Sinne: jeder Mensch, mit seiner gesammten Thätigkeit, hat nur soviel Würde, als er, bewußt oder unbewußt, Werkzeug des Genius ist; woraus sofort die ethische Consequenz zu erschließen ist, daß der »Mensch an sich«, der absolute Mensch, weder Würde, noch Rechte, noch Pflichten besitzt: nur als völlig determinirtes, unbewußten Zwecken dienendes Wesen kann der Mensch seine Existenz ent­ schuldigen. Der vollkommne Staat Plato’s ist nach diesen Betrachtungen gewiß noch etwas Größeres als selbst die Warmblütigen unter seinen Verehrern glauben, gar nicht zu reden von der lächelnden Überlegenheitsmiene, mit der unsre »historisch« Gebildeten eine solche Frucht des Alterthums abzulehnen wissen. Das eigentliche Ziel des Staates, die olympische Existenz und immer erneute Zeugung und Vorbereitung des Genius, dem gegenüber alles Andere nur Werkzeuge, Hülfsmittel und Ermöglichungen sind, ist hier durch eine dichterische Intuition gefunden und mit Derb­ heit hingemalt. [...] Daß er in seinem vollkommnen Staate nicht den Genius in seinem allgemei­ nen Begriff an die Spitze stellte, sondern nur den Genius der Weisheit und des Wissens, daß er die genialen Künstler aber überhaupt aus seinem Staate ausschloß, das war eine starre Conse­ quenz des sokratischen Urtheils über die Kunst, das Plato, im Kampfe gegen sich selbst, zu dem seinigen gemacht hatte. Diese mehr äußerliche und beinahe zufällige Lücke darf uns nicht hin­ dern, in der Gesammtconception des platonischen Staates die wunderbar große Hieroglyphe einer tiefsinnigen und ewig zu deutenden Geheimlehre vom Zusammenhang zwischen Staat und Genius zu erkennen: was wir von dieser Geheimschrift zu errathen meinten, haben wir in dieser Vorrede gesagt.

179 Heinrich von Treitschke: Der Sozialismus und seine Gönner [1]. In: Preußische Jahr­ bücher 34 (1874), S. 67-110, 248-301. Hier S. 82-84, 90-91, 92-94. (Neudruck Treitschke: 'Lehn Jahre deutscher Kämpfe, TI. 2, 3. Aufl. Berlin 1897, S. 112-222.)

[...] Die Millionen müssen ackern und schmieden und hobeln, damit einige Tausende for­ schen, malen und regieren können. Umsonst versucht der Socialismus durch leeres Wuthgeschrei diese herbe Erkenntniß aus der Welt zu schaffen; der Beweis ihrer Wahrheit liegt schon in der Thatsache, daß die Menschheit lange Jahrtausende brauchte, bis der Beruf des Staats­ mannes, des Künstlers, des Gelehrten nur entstehen konnte. Keine Verbesserung der Technik kann dies Verhältniß jemals aufheben. Die Erleichterung der Production entlastet allerdings den Menschen von vielen mechanischen Arbeiten und stellt den Arbeiter freier. Das Seherwort des

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Die Gründerzeit

Aristoteles [2]: »wenn die Weberschiffchen von selber gehen, brauchen wir keine Sclaven mehr« ist längst in Erfüllung gegangen; und wer die Dienerschaaren Ostindiens neben das be­ scheidene Häuflein der europäischen Dienstboten stellt, darf sich froh gestehen, um wie viel besser wir die Kraft des Menschen zu benutzen, seinen Werth zu schätzen wissen. Gleichwohl ist die Kopfzahl der sogenannten arbeitenden Klassen im Laufe der Geschichte verhältnißmäßig nicht wesentlich gesunken; in der Blüthezeit Athens konnte bereits ein ebenso großer, vielleicht ein noch größerer Bruchtheil der Bevölkerung den idealen Zwecken des Staates, der Kunst und Wissenschaft und einer edlen Muße leben, wie im heutigen Berlin. Denn jeder große Erfolg der wirthschaftlichen Arbeit erweckt neue materielle Bedürfnisse in unendlicher Folge. [...] Man denke noch so hoch von der möglichen Vervollkommnung des Maschinenwesens, es wird doch ewig dabei bleiben, daß Millionen mit Schmutz und Unrath, mit häßlicher und eintöniger Arbeit sich befassen müssen. Keine Cultur ohne Dienstboten, das folgt nothwendig aus dem Gesetze der Arbeitstheilung. Die Maschine kann in der Regel nur Massenbedürfnisse befriedigen, sie wird darum niemals die niederen persönlichen Dienstleistungen verdrängen. Die bürgerliche Gesellschaft eines reifen Volkes ist immer eine Aristokratie, auch unter de­ mokratischer Staatsverfassung. Oder, um ein sehr verhaßtes aber wahres Wort trocken auszu­ sprechen - die Klassenherrschaft, richtiger: die Klassenordnung, ergiebt sich ebenso nothwen­ dig aus der Natur der Gesellschaft, wie der Gegensatz von Regierenden und Regierten aus der Natur des Staates. Die Socialdemokratie bekennt schon durch ihren Namen, daß sie den Unsinn will. [...] Jede sociale Revolution kann die bestehende Aristokratie zu maßvollem Gebrauche ihrer Macht zwingen oder eine neue Aristokratie auf den Platz der alten erheben. Auch die schrankenlose Concurrenz bewirkt nur, daß der Einzelne auf der Stufenleiter der Gesellschaft schneller auf- und niedersteigt, doch sie bricht diese Leiter nicht ab. Der einzelne Nordamerika­ ner wird wohl binnen weniger Jahre erst Barbier, dann Staatsmann, dann Flickschneider und endlich Bankdirektor. Aber auch in dieser jungen Welt der socialen Wandelungen gilt unabän­ derlich das Gesetz: nur einer Minderzahl ist beschieden, die idealen Güter der Cultur ganz zu genießen; die große Mehrheit schafft im Schweiße ihres Angesichts.

Liegt aber ein starker Abstand der Bildung im Wesen jeder entwickelten Gesellschaft, dann ist es auch ein Irrthum, »Muße«, für den Arbeiter zu fordern, damit er sich wissenschaftlich unterrichte. Ich rede nicht von dem Schlagwort der Socialisten: »die Cultur der Nationen be­ mißt sich nach der Kürze ihres Arbeitstages«. Diese Tollheit führt offenbar zu dem Schlüsse, daß die höchste Gesittung nur aus der vollkommenen Faulheit erblühe. Ich rede von den be­ scheideneren Weissagungen, welche heute von allen Kathedern widerhallen: die erleichterte Production werde den Arbeiter dereinst in den Stand setzen, durch vier- bis sechsstündiges Schaffen seinen Antheil an der täglichen Gesammtarbeit der Gesellschaft abzutragen. Mit Ver­ laub, das wird sie nicht und sie soll es nicht. Die schwere Arbeitslast der Gegenwart entspringt nicht der Habgier der Unternehmer, sondern den gesteigerten Bedürfnissen der Gesellschaft, die auch in Zukunft steigen werden, wie ich oben nachwies. Nachhaltiger Ernst der Arbeit

Aristokratismus (Heroentum, Kultur und Klassenherrschaft)

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bleibt die erste wirthschaftliche Tugend der Völker; der gewöhnliche Mensch aber leistet nichts Rechtes, wenn er nicht seine beste Kraft an seinen Beruf setzt. Der Arbeiter hat ein gutes Recht eine solche Verkürzung des Arbeitstages zu fordern, daß er gesund bleiben, an Weib und Kin­ dern sich menschlich erfreuen kann und zuweilen noch einige Zeit behält um an dem geistigen Leben seiner Epoche, an den öffentlichen Interessen seines Volkes theilzunehmen und einen derben sinnlichen Genuß sich zu erlauben — denn nichts ist thörichter als dort puritanische Ent­ haltsamkeit zu predigen wo das ganze Dasein von gesunder sinnlicher Kraft erfüllt ist. Aber wirkliche Muße gereicht Jedem zum Verderben, der die Sprache der Musen nicht versteht. Ein Arbeiterstand, der durch die Anstrengung weniger Stunden mit seinen socialen Pflichten sich abzufinden vermöchte, fällt dem Laster und giftiger Wühlerei anheim; er kann Gott sei Dank auf die Dauer gar nicht bestehen in dem raschen Leben dieses Jahrhunderts, dessen rastlos wachsenden Anforderungen der Staatsmann, der Soldat, der Gelehrte bei verlängerter Arbeits­ zeit kaum zu genügen vermag. Ist diese durch die Bedürftigkeit der Menschen bedingte aristokratische Gliederung der Gesellschaft wirklich grausam und ungerecht? Doch nur für den am Einzelnen haftenden Blick, welcher den großen Zusammenhang der socialen Erscheinungen nicht übersieht. Es ist so leicht aus dem hochgehenden Gewoge moderner Großstädte einzelne grelle Contraste herauszugrei­ fen, die jedes menschliche Gefühl empören: dort auf den Tribünen des Rennplatzes drängt sich lachend die geputzte Menge, drunten wird ein edles Rennpferd durch eine Flasche Wein ge­ stärkt, und einige Schritte davon bettelt eine arme Frau um Brod für ihre hungernden Kinder. Wer sagte sich nicht bei solchem Anblick, wie wenig Grund wir noch haben durchgebildeter Gesittung uns zu rühmen ? Es sind Eindrücke, ebenso verletzend für den sittlichen Sinn, wie erwa der Anblick einer socialistischen Zeitung, die im Leitartikel wider das haarsträubende Elend der Arbeiter donnert und im Inseratentheile dieselben Arbeiter zu einem Dutzend fröhlicher Gelage einladet. Wer aber die erste Wallung des Gefühls überwindet, sagt sich sofort: die mo­ derne Gesellschaft darf nur deßhalb hoffen den Zustand der niederen Klassen zu heben, das Elend der Armen zu bekämpfen, weil sie auch Stände umschließt, denen die verfeinerten Genüsse des Luxus erreichbar sind. Oft und bis zum Ueberdruß hat man nachgewiesen, daß ohne die Anhäufung großer Reichthümer weder die Großindustrie noch die Blüthe der Kunst gedeihen kann. Wir sagen mehr. In jedem Culturvolke leben geborene Virtuosen des Genusses, große Talente von höchster Reizbarkeit, welche ihre Kraft nur in der Luft verfeinerten sinnli­ chen Daseins entfalten können. Männer wie Wilhelm Humboldt, Friedrich Gentz, Heinrich Heine lassen sich nicht denken ohne die Genüsse des Wohllebens. Solche Naturen haben ein Recht sich den Boden zu erobern, der ihrer Begabung zusagt - nur daß auch für sie das Gesetz der Scham und der Mäßigung gilt, das Gentz und Heine leider mit Füßen traten. Die Persönlich­ keit eines gereiften großen Volkes kommt nicht zur allseitigen Durchbildung ohne starke sociale

Gegensätze.

Wer die aristokratische Gliederung der Gesellschaft als eine Nothwendigkcit erkennt, giebt darum mitnichten zu, daß die Ausbeutung des Schwachen durch den Starken in ihr vorherrsche.

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Was auch gefrevelt ward von oben wie von unten in dem kampferfüllten Werdegange der Gesellschaft, die Regel war immer nicht die Ausbeutung, sondern das wechselseitige Geben und Empfangen. Und hier enthüllt sich der wundervolle Zusammenhang zwischen den Höhen und Tiefen des Volkslebens - eine Gedankenreihe, die selbst den Spötter zur Andacht zwingt. Wenn der kleine Mann mit dem Hammer und dem Spaten sein Brod erwarb die Jahrhunderte hin­ durch, wer ermöglichte ihm denn dies Schaffen? Allein die höheren Stände. Sie gaben der Arbeit der blinden Körperkräfte Zweck und Inhalt, sie lieferten ihr die Stoffe, die sie bewältigte; sie schufen durch ihre Gesetze Frieden und Ordnung auch für den geringen Mann; sie führten die Heere, deren Siegen das Volk die Sicherheit seiner Arbeit und die Kraft seines Selbstgefühles dankt; sie weckten den Quell der Ideen, der in tausendfach verschlungenem feinem Rinnsal bis in die Tiefen des Volksthums befruchtend dringt. Bleibt es unmöglich, alle Menschen unmittel­ bar zu dem Genüsse der höchsten Güter der Cultur heranzuziehen, so ist doch nicht minder gewiß, daß auch der Arme mittelbar seinen reichen Antheil empfängt an dem idealen Schaffen seines Volks. Jeder Meißelschlag, den die Hand des Künstlers, den Marmor beseelend, führt, jede noch so entlegene Forschung auf dem Gebiete der vergleichenden Sprachkunde kommt den Massen des Volkes zu gute. In einzelnen handgreiflichen Fällen wird dieser Zusammenhang zwischen den steilen Höhen des Gedankens und den breiten Niederungen der Gesellschaft selbst der groben Sinnlichkeit erkennbar. Wie vielen hundert Arbeitern hat Schiller Brod gegeben durch den Druck und Vertrieb seiner Schriften; und wer murrt heute noch in München [3] wider die fremden Eindringlinge, welche der Kunstsinn König Ludwigs einst in das bestürzte Ländle rief? Jene Künstler, die man Diener fürstlicher Verschwendung schalt, haben längst neue blü­ hende Gerbszweig an der Isar eingeführt, den wirthschaftlichen Zustand der bairischen Hauptstadt gehoben. Der Schatten Kants focht gepanzert mitten unter den tapferen märkischen Bauernburschen, welche bei Großbeeren und Dennewitz [4] sich die Freiheit von Hof und Heerd eroberten und nie eine Zeile von dem Philosophen gelesen hatten; ohne den kategori­ schen Imperativ blieb Preußen geknechtet. In dieser wunderbaren Gemeinschaft der Arbeit findet jede redliche Kraft ihren Platz und ihre Ehre. Wie die Dichter heute den makedonischen Krieger preisen, der bei Arbela [5] auf den Schild sank, ein bescheidenes und doch ein edles Werkzeug des welterobernden und welt­ verwandelnden Helden, so hat auch der Fabrikarbeiter von heute seine historische Stellung als ein Kämpfer in den friedlichen Eroberungszügen dieses arbeitsfrohen Jahrhunderts. An der Frage, wer in dem großen Arbeitstausche der Gesellschaft mehr empfangen oder mehr gegeben, wird jeder Scharfsinn zu Schanden. [...] Wenn irgendwer ein Recht hat zu klagen, daß die Gesellschaft ihn ausbeute, so ist es sicherlich der Genius. Er giebt immer mehr als er empfängt; doch er klagt nicht, er lebt, des königlichen Gebens froh, er läßt die spendenden Hände nimmer sinken und scheidet versöhnt wie König Friedrich: oui, finissons sans trouble et mourons sans regrets en laissant l’univers comblé de nos bienfaits! Wie läppisch erscheinen neben solcher Gesinnung der wirklichen Wohithäter der Mensch­ heit die grimmigen Klagen des Socialismus, die hinter dem bauschigen Gewände philanthropi­ scher Phrasen doch nur den Neid kleiner Seelen verbergen! Da faselt Louis Blanc [6] von dem

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Paradiese der Zukunft, wo die legitime Herrschaft des Genius sich zeigen wird in der Größe der Dienste, die er der Gesellschaft leistet, nicht mehr, wie heute, in der Größe der Abgaben, die er der Gesellschaft auferlegt. Als ob wir dazu erst der gelobten Organisation der Arbeit be­ dürften! Als ob dieser gesegnete Zustand nicht schon längst bestände! Oder glaubt man etwa, Goethe, der vielbeneidete Lieblingssohn des Glücks, hätte von der Gesellschaft auch nur den zehnten Theil dessen, was er an uns gethan, zurückempfangen?

[•••] 1 Die Gönner sind die Kathedersozialisten, die den Verein für Sozialpolitik (1872) gebildet hatten. Sie tra­ ten für einen Eingriff des Staates in die Wirtschaft und das Sozialleben ein, um die Klassengegensätze zu mildern. 2 Aristoteles: Politik, Buch 1, Kap. 1. 3 König Ludwig I., s. Dok. 2, S. 5. München wurde das Zentrum des deutschen Kunsthandwerks (Errich­ tung der Werkstätte für Wohnungseinrichtungen von Lorenz Gedon 1874). Die Schloßbauten Ludwigs II. (Schloß Neuschwanstein ab 1869, Schloß Linderhof ab 1870) haben die wirtschaftliche Blüte beför­ dert. 4 Schlachten gegen Napoleon I. 1813. 5 Sieg Alexanders d. Gr. über Darius 331 v. Chr. 6 Louis Blanc (1811-1882): Organisation du travail (1839), TI. 2: De la propriété littéraire. Sinnverfäl­ schung. B. wandte sich gegen die freie Marktwirtschaft auf dem Gebiete der Literatur und forderte eine Bezahlung nach dem Maß des gesellschaftlichen Nutzens.

180 Eduard von Hartmann: Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins. Prolegomena zu jeder künftigen Ethik, Berlin 1879, S. 394—96, 634-35.

[•••] An der Freiheitsidee fanden wir noch in doppelter Hinsicht eine allgemeine Wahrheit: einer­ seits in der fortschreitenden Befreiung des Menschen von der Gewalt der Natur (allerdings auf Kosten der extensiven und intensiven Steigerung seiner Unfreiheit gegenüber der Gesellschaft) und andrerseits in dem mit der Steigerung der Intelligenz zunehmenden Bewusstsein von der Nothwendigkeit der socialen Unfreiheit und ihres Wachsthums mit der Cultur. Nach diesen beiden Seiten ist in der Gleichheitsidee keine analoge Wahrheit zu finden; ihre einzige Wahrheit besteht darin, dass Ungleichheiten, die in früheren Geschichtsperioden vernünftig und culturdienlich waren, mit der Zeit aber unvernünftig und culturhemmend geworden sind, beseitigt werden müssen, um anderen Formen der Ungleichheit Platz zu machen. Denn darüber darf man sich auch in Betreff der Gleichheit keine Illusionen machen, daß die eine Form der Ungleichheit nur zerstört wird, um einer andern Platz zu machen, und daß der Process der Geschichte von der grösstmöglichen Gleichheit des Urzustandes der Menschheit Schritt vor Schritt zu immer reicheren und mannichfaltigeren Formen der Ungleichheit und zu immer tiefer greifenden Ver­ schiedenheiten innerhalb einer Staatsgesellschaft fortschreitet. Auch das Ideal der Gleichheit liegt nicht vor, sondern hinter uns, nämlich in der Affenmenschheit, oder mit andern Worten

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die Verwirklichung der Forderung der allgemeinen Gleichheit ergäbe wiederum den Urzustand, d. h. die allgemeine Bestialität. Alle Individuen dadurch gleichzumachen, dass man sie auf den höchsterreichten Gipfel der Cultur erhebt, wird um so unmöglicher, je höher dieser Gipfel selbst aufsteigt; die allgemeine Nivellirung kann nur durch Herunterreissen des Hohen, Grossen und Edlen (das bekanntlich selten ist) in das breite Niveau der Gemeinheit erreicht werden. Dieses letztere Niveau selbst aber hat sich nur gehoben, indem es von den voranstrebenden Höhen ein wenig nachgezogen wurde, und würde nach Abtragung dieser Gipfel schleunigst in die reine Thierheit wieder versinken. Keinem, der die organische Entwickelungstheorie studirt hat, kann es zweifelhaft sein, dass alle Entwickelung, aller Fortschritt zu höheren Formen, alle Steigerung der Organisation nur durch Differenzirung der Glieder des Organismus bewirkt wird, d. h. durch Herausbildung von Unterschieden in vorher gleichartigen Theilen und Steigerung der Unterschiede in den bereits verschiedenen. Je gleichartiger die Theile, auf desto tieferer Stufe steht ein Organismus, je mannichf altiger und verschiedener die Theile, auf desto höherer steht er. Die rückschreitende Meta­ morphose oder der Verfall vollzieht sich durch Vereinfachung und Verähnlichung der Theile, die fortschreitende Entwickelung durch extensive und intensive Steigerung der Ungleichheit. Dieses Gesetz aller Entwickelung gilt auch für den social-politischen Organismus. Je höher der­ selbe sich ausbildet, desto reicher wird er an differenzirten Gliedern, desto vielseitiger werden seine Verrichtungen und die Anpassung seiner Glieder an dieselben, desto mehr und desto grös­ sere Unterschiede bilden sich unter denselben heraus, und desto unselbständiger werden die Theile gegen einander, d. h. desto mehr wird ihre Freiheit von einander beschränkt, weil sie de­ sto accurater und exacter mit ihren Verrichtungen in einander greifen müssen, um den Gang der ganzen Maschine in Ordnung zu erhalten. So erkennt man allein schon aus dem Begriffe der organischen Entwickelung des politisch-socialen Lebens, daß Ungleichheit und Unfreiheit Hand in Hand mit einander zunehmen müssen, so lange der Process sich in aufsteigender Rich­ tung bewegt. [...] [...] Alle Cultur hat, so lange es eine Geschichte giebt, auf Minoritäten geruht, und wird, so lange die Geschichte dauern wird, auf Minoritäten ruhen, die nach dem organischen Entwickelungs­ gesetz der Differenzirung sogar immer kleinere Bruchtheile der Volksmasse werden müssen. Nur indem die Cultur der begünstigten Minderheit wächst, ist die treibende Kraft gegeben, wel­ che auch dem Cuiturzustand der Masse heben kann, welcher aus sich selbst heraus einer Steige­ rung unfähig ist. Wohl wird auf diese Weise auch das Culturniveau der Massen beständig geho­ ben, aber doch langsamer als das Culturniveau der begünstigten Minoritäten sich hebt, so dass der Abstand beider von einander mit steigender Cultur sich beständig vergrössert, während eine Verminderung desselben das untrüglichste Symptom des Sinkens der Gesammtcultur ist. Die begünstigten Minderheiten aufheben, heisst also, den Träger und die Triebkraft der Cultur ver­ nichten, und die Masse, von der Quelle ihrer Cultur losgelöst, auf den Consum der ihr früher aus dieser Quelle zugeflossenen Cultur anweisen, d. h. sie der Barbarei überliefern. Es ist, um zu diesem Ende zu kommen, nicht einmal die Aufhebung des Eigenthums erforder-

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lieh; schon die Aufhebung des Erbrechtes würde dazu genügen. Denn es ist eine bekannte Erscheinung, dass ein Parvenü oder self-made-man nur aus Eitelkeit und ohne Geschmack und Verständniss Mäcenatenthum zu treiben und Bildungsinteressen nur zu erheucheln pflegt, dass seine Kinder sogar meist einem lüderlichen Genussleben niederer Art zuneigen, und dass erst die dritte Generation, welche an die Art der Erwerbung ihrer Erbgüter nicht mehr denkt, son­ dern sich ihrer als eines angestammten, gesicherten Besitzes erfreut, einen angemessenen Theil ihres Wohlstandes aus innerem Interesse auch der Förderung höherer Geistescultur zufliessen lässt. Hört die befestigte Aristokratie des Grundbesitzes, das Patricierthum soliden Handelsreichthums und die Quasi-Erblichkeit eines ebenso sittlich tüchtigen als geistig gebildeten Beamtenstandes auf, tritt an deren Stelle lediglich die gierige Aemterjagd eines socialdemokra­ tischen Demagogenstaates, so würde die Zulassung einer solchen nicht-erblichen Amtsaristo­ kratie für die Erhaltung der Cultur nicht den geringsten Gewinn bringen, wohl aber auf Kosten des aufgeopferten Principes des Maximalwohles und der Gütergleichheit einer Corruption von solcher Rohheit, Gemeinheit und Unsittlichkeit Thür und Thor öffnen, dass gegen sie alle Unglaublichkeiten türkischer Paschawirthschaft, russischer Beamtenbestechlichkeit und ame­ rikanischen Aemterschwindels zusammengenommen nur ein matter Vorspuk wären.

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181 Richard Wagner: Religion und Kunst. In: Bayreuther Blätter 3 (1880), S. 269-300. Hier S. 269-70, 287-93, 295-97. (Neudruck Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen, hg. v. Wolfgang Golther, Bd. 10, Berlin usw. o. J., S. 211—53.)

Man könnte sagen, daß da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es Vorbehalten sei den Kern der Religion zu retten, indem sie die mythischen Symbole, welche die erstere im eigentli­ chen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werthe nach erfaßt, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen. Wäh­ rend dem Priester Alles daran liegt die religiösen Allegorieen für thatsächliche Wahrheiten an­ gesehen zu wissen, kommt es dagegen dem Künstler hierauf ganz und gar nicht an, da er offen und frei sein Werk als seine Erfindung ausgiebt. Die Religion lebt aber nur noch künstlich, wann sie zu immer weiteren Ausbau ihrer dogmatischen Symbole sich genöthigt findet, und somit das Eine, Wahre und Göttliche in ihr durch wachsende Anhäufung von, dem Glauben empfoh­ lenen, Unglaublichkeiten verdeckt. Im Gefühle hiervon suchte sie daher von je die Mithilfe der Kunst, welche so lange zu ihrer eigenen höheren Entfaltung unfähig blieb, als sie jene vorgebli­ che reale Wahrhaftigkeit des Symboles durch Hervorbringung fetischartiger Götzenbilder für die sinnliche Anbetung vorführen sollte, dagegen nun die Kunst erst dann ihre wahre Aufgabe erfüllte, als sie durch ideale Darstellung des allegorischen Bildes zur Erfassung des inneren Ker­ nes desselben, der unaussprechlich göttlichen Wahrheit, hinleitete. [...] Die Annahme einer Entartung des menschlichen Geschlechtes dürfte, so sehr sie derjenigen eines stäten Fortschrittes zuwider erscheint, ernstlich erwogen, dennoch die einzige sein, welche uns einer begründeten Hoffnung zuführen könnte. Die sogenannte pessimistische Welt-Ansicht müßte uns hierbei nur unter der Voraussetzung als berechtigt erscheinen, daß sie sich auf die Beurtheilung des geschichtlichen Menschen begründe; sie würde jedoch bedeutend modifizirt werden müssen, wenn der vorgeschichtliche Mensch uns so weit bekannt würde, daß wir aus seiner richtig wahrgenommenen Natur-Anlage auf eine später eingetretene Entartung schließen könnten, welche nicht unbedingt in jener Natur-Anlage begründet lag. Dürfen wir nämlich die Annahme bestätigt finden, daß die Entartung durch übermächtige äußere Einflüsse verursacht worden sei, gegen welche sich der, solchen Einflüssen gegenüber noch unerfahrene, vorge­ schichtliche Mensch nicht zu wehren vermochte, so müßte uns die bisher bekannt gewordene Geschichte des menschlichen Geschlechtes als die leidenvolle Periode der Ausbildung seines Bewußtseins für die Anwendung der auf diesem Wege erworbenen Kenntnisse zur Abwehr jener verderblichen Einflüsse gelten können. So unbestimmt, und oft in kürzester Zeit sich widersprechend, auch die Ergebnisse unserer wissenschaftlichen Forschung sich herausstellen und häufig uns mehr beirren als aufklären, scheint doch eine Annahme unserer Geologen als unwidersprechlich sich zu behaupten, näm-

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lieh diese, daß das zuletzt dem Schooße der animalischen Bevölkerung der Erde entwachsene menschliche Geschlecht, welchem wir noch jetzt angehören, wenigstens zu einem großen Theile, eine gewaltsame Umgestaltung der Oberfläche unseres Planeten erlebt hat. Hiervon überzeugend spricht zu uns ein sorgfältiger Überblick der Gestalt unserer Erdkugel: dieser zeigt uns, daß in irgend einer Epoche ihrer letzten Ausbildung große Theile der verbundenen Festlän­ der versanken, andere empor stiegen, während unermeßliche Wasserfluthen vom Südpole her endlich nur an den, gleich Eisbrechern gegen sie sich vorstreckenden, spitzen Ausläufern der sich behauptenden Festländer der nördlichen Halbkugel, sich stauten und verliefen, nachdem sie alles Überlebende in furchtbarer Flucht vor sich hergetrieben hatten. Die Zeugnisse für die Richtigkeit einer solchen Flucht des animalischen Lebens aus den Tropenkreisen bis in die rau­ hesten nordischen Zonen, wie sie unsere Geologen in Folge von Ausgrabungen, z. B. von Elephanten-Skeletten in Sibirien, liefern, sind allbekannt. Wichtig für unsere Untersuchung ist es dagegen, sich eine Vorstellung von den Veränderungen zu verschaffen, welche durch solche ge­ waltsame Dislokationen der Erdbewohner bei den, bisher im Mutterschooße ihrer Urgeburts­ länder groß gezogenen, thierischen und menschlichen Geschlechtern nothwendig eingetreten sein müssen. Sehr gewiß muß das Hervortreten ungeheurer Wüsten, wie der afrikanischen Sa­ hara, die Anwohner der vorherigen, von üppigen Uferländern umgebenen Binnenseen in eine Hungersnoth geworfen haben, von deren Schrecklichkeit wir uns einen Begriff machen können, wenn uns von den wüthenden Leiden Schiffbrüchiger berichtet wird, durch welche vollkommen zivilisirte Bürger unserer heutigen Staaten zum Menschenfraasse hingetrieben wurden. In den feuchten Ufer-Umgebungen der Canadischen Seen leben jetzt noch den Panthern und Tigern verwandte thierische Geschlechter als Fruchtesser, während an jenen Wüstenrändern der ge­ schichtliche Tiger und Löwe zum blutgierigsten reißenden Thiere sich ausbildete. [...] Es sind demnach ganz abnorme Fälle anzunehmen, durch welche, z. B. bei den, nordasiatischen Step­ pen zugetriebenen malayischen Stämmen, der Hunger auch den Blutdurst erzeugte, von wel­ chem die Geschichte uns lehrt, daß er nie zu stillen ist und dem Menschen zwar nicht Muth, aber das Rasen zerstörender Wuth eingiebt. Man kann es nicht anders erfinden, als daß, wie das reißende Thier sich zum König der Wälder aufwarf, nicht minder das menschliche Raub­ thier sich zum Beherrscher der friedlichen Welt gemacht hat: ein Erfolg der vorangehenden

Erd-Revolutionen, der den vorgeschichtlichen Menschen ebenso überrascht hat, wie er auf jene unvorbereitet war. Wie nun aber auclrdas Raubthier nicht gedeiht, sehen wir auch den herr­ schenden Raubmenschen verkommen. In der Folge naturwidriger Nahrung siecht er in Krank­ heiten, welche nur an ihm sich zeigen, dahin und erreicht nie mehr weder sein natürliches Lebensalter noch einen sanften Tod, sondern wird von, nur ihm bekannten Leiden und Nöthen, leiblicher wie seelischer Art, durch ein nichtiges Leben zu einem stäts erschreckenden Abbruch desselben dahin gequält.”') *) Der Verfasser verweist hier ausdrücklich auf das Buch: Thalysia, oder das Heil der Menschheit, von A. Gleizes, aus dem Französischen vortrefflich übersetzt und bearbeitet von Robert Springer. (Berlin 1S73. Verlagvon Otto Janke). Ohne genaue Kenntnissnahtne von den in diesem Buch niedergelegten Ergebnissen sorgfältigster Forschungen [...] dürfte es schwer werden, für die hieraus geschöpften und mit dem vorlie­ genden Versuche angedeuteten Folgerungen auf die Möglichkeit einer Regeneration des menschlichen Geschlechtes, bei dem Leser eine zustimmende Aufmerksamkeit zu gewinnen.

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Wenn wir anfänglich den Erfolgen dieses menschlichen Raubthieres, wie sie uns die Weltge­ schichte aufweist, im weitesten Ueberblicke nachgingen, so möge es uns nun dienlich erschei­ nen, wiederum näher auf die diesen Erfolgen entgegen wirkenden Versuche zur Wiederauffin­ dung des verlorenen Paradieses einzugehen, denen wir im Verlaufe der Geschichte mit anschcinlich immer zunehmender Ohnmacht, und endlich fast unzuverspürender Wirkung, be­ gegnen. Unter den zuletzt gemeinten Versuchen treffen wir in unserer Zeit die Vereine der sogenann­ ten Vegetarianer [1 ] an: gerade aus diesen, welche den Kernpunkt der Regenerationsfrage des menschlichen Geschlechtes unmittelbar in das Auge gefaßt zu haben scheinen, vernimmt man von einzelnen vorzüglichen Mitgliedern die Klage darüber, daß ihre Genossen die Enthaltung von Fleischnahrung zumeist nur aus persönlichen diätetischen Rücksichten ausüben, keines­ wegs aber damit den großen regeneratorischen Gedanken verbinden, auf welchen es, wollten die Vereine Macht gewinnen, einzig anzukommen hätte. Ihnen zunächst stehen, mit bereits einiger Maassen ausgedehnterer praktischer Wirksamkeit, die Vereine zum Schutze der Thiere [1]: von diesen, welche ebenfalls nur durch Vorhaltung von Zwecken der Nützlichkeit die Theilnahme des Volkes für sich zu gewinnen suchen, dürften wahrhaft ersprießliche Erfolge wohl erst dann zu erwarten sein, wenn sie das Mitleid mit den Thieren bis zu einer verständnißvollen Durchdringung der tieferen Tendenz des Vegetarianismus ausbildeten; wonach dann eine, auf solche gegenseitige Durchdringung begründete, Verbindung beider Vereine eine be­ reits nicht zu unterschätzende Macht bilden dürfte. Nicht minder würde eine von den genann­ ten beiden Vereinen geleitete und ausgeführte Veredelung der bisher einzig an den Tag getrete­ nen Tendenz der sogenannten Mäßigkeits-Vereine zu wichtigen Erfolgen führen können. Die Pest der Trunksucht, welche sich über alle Leibeigenen unserer modernen Kriegszivilisation als letzte Vertilgerin aufgeworfen hat, liefert dem Staate durch Steuererträge aller Art Zuflüsse, welchen dieser zu entsagen noch nirgends Neigung gezeigt hat; wogegen die wider sie gerichte­ ten Vereine nur den praktischen Zweck wohlfeilerer Assekuranz für Seeschiffe, ihre Ladungen und sonstige, der Bewachung durch nüchterne Diener zu übergebende Etablissements im Sinne haben. [...] Die Fürsorge religiöser Belehrung ist hiergegen neuester Zeit wirklich versuchsweise den großen Arbeiter-Vereinigungen zugewendet worden, deren Berechtigung wohlwollenden Freunden der Humanität nicht unbeachtet bleiben durfte, deren wirkliche oder vermeintliche Uebergriffe in die Gebiete der zu Recht bestehenden Staatsgesellschaft den Hütern derselben aber durchaus ungestattbar erscheinen mußten. [...] Dennoch könnte man, und dieß zwar aus starken inneren Gründen, selbst den heutigen Sozialismus als sehr beachtenswerth von Seiten unserer staatlichen Gesellschaft ansehen, sobald er mit den drei zuvor in Betracht genommenen Verbindungen der Vegetarianer, der Thierschützer und der Mäßigkeitspfleger, in eine wahr­ haftige und innige Vereinigung träte. Stünde von den, durch unsere Zivilisation nur auf kor­ rekte Geltendmachung des berechnendsten Egoismus angewiesenen Menschen zu erwarten, daß die zuletzt in das Auge gefaßte Vereinigung, mit vollkommenem Verständniß der Tendenz jeder der genannten, in ihrem Unzusammenhange machtlosen Verbindungen, unter ihnen einen vollen Bestand gewinnen könnte, so wäre auch die Hoffnung des Wiedergewinnes einer wahr­

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haften Religion nicht minder berechtigt. Was bisher den Begründern aller jener Vereinigungen nur aus Berechnungen der Klugheit aufgegangen zu sein schien, fußt, ihnen selbst zum Theil wohl unbewußt, auf einer Wurzel, welche wir ohne Scheu die eines religiösen Bewußtsein’s nennen wollen: selbst dem Grollen des Arbeiter’s, der alles Nützliche schafft um davon selber den verhältnißmäßig geringsten Nutzen zu ziehen, liegt eine Erkenntniß der tiefen Unsittlichkeit unserer Zivilisation zum Grunde, welcher von den Verfechtern der letzteren nur mit, in Wahr­ heit lächerlichen Sophismen entgegnet werden kann; denn gesetzt, der leicht zu führende Beweis dafür, daß Reichthum an sich nicht glücklich macht, könnte vollkommen zutreffend geliefert werden, so würde doch nur dem Herzlosesten ein Widerspruch dagegen ankommen dürfen, daß Armuth elend macht. [.. J

Führen wir uns hiermit ein Phantasie-Bild vor, welches uns verwirklicht zu denken durch keine vernünftige Annahme, außer der des absoluten Pessimismus, uns verwehrt dünken darf, so kann es vielleicht als nicht minder ersprießlich gelten, auf die weitergehende Wirksamkeit des gedachten Vereines zu schliessen, da wir hierbei von der einen, alle Regeneration bestim­ menden Grundlage einer religiösen Überzeugung davon ausgehen, daß die Entartung des menschlichen Geschlechtes durch seinen Abfall von seiner natürlichen Nahrung bewirkt wor­ den sei. Die durch besonnene Nachforschung [2] zu erlangende Kenntniß davon, daß nur ein Theil - man nimmt an nur ein Dritttheil - des menschlichen Geschlechtes in diesen Abfall ver­ strickt worden ist, dürfte uns an dem Beispiel des unleugbaren physischen Gedeihen’s der grö­ ßeren Hälfte desselben, welche bei der natürlichen Nahrung verblieben ist, sehr füglich über die Wege belehren, die wir zum Zwecke der Regeneration der entarteten, obwohl herrschenden Hälfte einzuschlagen hätten. Ist die Annahme, daß in nordischen Klimaten die Fleisch-Nahrung unerläßlich sei, begründet, was hielte uns davon ab, eine vernunftgemäß angeleitete VölkerWanderung in solche Länder unseres Erdballes auszuführen, welche, wie dieß von der einzigen Südamerikanischen Halbinsel behauptet worden ist, vermöge ihrer überwuchernden Produkti­ vität die heutige Bevölkerung aller Welttheile zu ernähren im Stande sind ? Die an Fruchtbarkeit überreichen Länder Süd-Afrika’s überlassen unsere Staatslenker der Politik des englischen Handels-Interesses, während sie mit den kräftigsten ihrer Unterthanen, sobald sie vor dem dro­ henden Hunger-Tode fliehen, nichts anderes anzufangen wissen, als sie, im besten Falle unge­ hindert, jedenfalls aber ungeleitet und der Ausbeutung für fremde Rechnung übergeben, davon ziehen zu lassen. Da dieses nun so steht, würden die von uns gedachten Vereine, zur Durchfüh­ rung ihrer Tendenzen, ihre Sorgsamkeit und Thätigkeit, vielleicht nicht ohne Glück, der Aus­ wanderung [3] zuzuwenden haben, daß bald diese, wie behauptet wird, der Fleisch-Nahrung durchaus bedürftigen nordischen Länder den Sauhetzern und Wildjägern, ohne alle weiter be­ lästigende und nach Brot verlangende untere Bevölkerung, zur alleinigen Verfügung zurückge­ lassen blieben, wo diese dann als Vertilger der auf den verödeten Landstrichen etwa überhand nehmenden reißenden Thiere sich recht gut ausnehmen würden. Uns aber dürfte daraus kein moralischer Nachtheil erwachsen, daß wir, etwa nach Christus’ Worten: gebet dem Kaiser was des Kaiser’s, und Gott was Gottes ist, den Jägern ihre Jagdreviere lassen, unsere Äcker aber

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für uns bauen: die von unserem Schweiße gemästeten, schnappenden und schmatzenden Geld­ säcke unserer Zivilisation aber, möchten sie ihr Zetergeschrei erheben, würden wir etwa wie die Schweine auf den Rücken legen, welche dann durch den überraschenden Anblick des Him­ mels, den sie nie gesehen, sofort zu staunendem Schweigen gebracht werden.

Bei der gewiß nicht verzagten Ausmalung des uns vorschwebenden Phantasie-Bildes eines Regenerations-Versuches des menschlichen Geschlechtes, haben wir für jetzt aller der Einwen­ dungen nicht zu achten, welche uns von den Freunden unserer Zivilisation gemacht werden könnten. Nach dieser Seite hin beruht unsere Annahme ergebnißvollster Möglichkeiten auf den durch redliche wissenschaftliche Forschungen gewonnenen Erkenntnissen, deren klare Einsicht uns durch die aufopfernde Thätigkeit edler Menschen — unter denen wir zuvor eines der Vor­ trefflichsten gedachten - erleichtert worden ist. Während wir hierauf alle jene denkbaren Ein­ sprüche verweisen, haben wir uns selbst sehr gründlich nur noch in der einen Voraussetzung zu bestärken, daß nämlich aller echte Antrieb, und alle vollständig ermöglichende Kraft zur Ausführung der großen Regeneration nur aus dem tiefen Boden einer wahrhaften Religion er­ wachsen könne. Nachdem unsere übersichtliche Darstellung uns stark beleuchtenden Andeu­ tungen in diesem Betreff bereits wiederholt nahe geführt hat, müssen wir uns jetzt diesem Hauptstücke unserer Untersuchung vorzüglich zuwenden, da wir von ihm aus auch erst den, vorsätzlich uns zunächst bestimmenden, Ausblick auf die Kunst mit der verlangten Sicherheit zu richten vermögen werden. [...] Und würde ein gegen jeden Rückfall in die Unterthänigkeit unter die Gewalt des blind wüthenden Willen’s uns bewahrende Religion erst neu zu stiften sein? Feierten wir denn nicht schon in unserem täglichen Mahle den Erlöser? Bedürften wir des ungeheuren allegorischen Ausschmuckes, mit welchen bisher noch alle Religionen, und namentlich auch die so tiefsinnige brahmanische, bis zur Fratzenhaftigkeit entstellt wurden? Haben doch wir das Leben nach sei­ ner Wirklichkeit in unserer Geschichte vor uns, die jede Lehre durch ein wahrhaftiges Beispiel uns bezeichnet. Verstehen wir sie recht, diese Geschichte, und zwar im Geiste und in der Wahr­ heit, nicht nach dem Worte und der Lüge unserer Universitätshistoriker, welche nur Aktionen kennen, dem weitesten Eroberer ihr Lied singen, von dem Leiden der Menschheit aber nichts wissen wollen. Erkennen wir, mit dem Erlöser im Herzen, daß nicht ihre Handlungen, sondern ihre Leiden die Menschen der Vergangenheit uns nahe bringen und unseres Gedenken’s würdig machen, daß nur dem unterliegenden, nicht dem siegenden Helden unsere Theilnahme zuge­ hört. Möge der uns aus einer Regeneration des menschlichen Geschlechtes hervorgehende Zustand, durch die Kraft eines beruhigten Gewissen’s, sich noch so friedsam gestalten, stäts und immer wird uns in der umgebenden Natur, in der Gewaltsamkeit der Ur-Elemente, in den unabänderlich unter und neben uns sich geltend machenden niedereren Willens-Manifestatio­ nen in Meer und Wüste, ja in dem Insekte, dem Wurme, den wir unachtsam zertreten, die unge­ heure Tragik dieses Welten-Daseins zur Empfindung kommen, und täglich werden wir den Blick auf den Erlöser am Kreuze als letzte erhabene Zuflucht zu richten haben.

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Wohl uns, wenn wir uns dann den Sinn für den Vermittler des zerschmetternd Erhabenen mit dem Bewußtsein eines reinen Lebenstriebes offen erhalten dürfen, und durch den künstleri­ schen Dichter der Welt-Tragik uns in eine versöhnende Empfindung dieses Menschen-Lebens beruhigend hinüber leiten lassen können. Dieser dichterische Priester, der einzige der nie log, war in den wichtigsten Perioden ihrer schrecklichen Verirrungen der Menschheit als vermit­ telnder Freund stäts zugesellt: er wird uns auch in jenes wiedergeborene Leben hinüberbeglei­ ten, um uns in idealer Wahrheit jenes Gleichniß alles Vergänglichen vorzuführen, wenn die reale Lüge des Historikers längst unter dem Aktenstaube unserer Zivilisation begragen liegt. Eben jener allegorischen Zuthaten, durch welche der edelste Kern der Religion bisher so weit entstellt wurde, daß, da die geforderte reale Glaubhaftigkeit derselben endlich geleugnet werden mußte, dieser Kern selbst angenagt werden konnte, jenes theatralischen Gaukelwerkes, durch das wir noch heute das so leicht zu täuschende phantasievolle arme Volk, namentlich südlicher Länder, von wahrer Religiosität ab zu frivolem Spiele mit dem Göttlichen angeleitet sehen, - dieser so übel bewährten Beihülfen zur Aufrechterhaltung religiöser Kulte, werden wir nicht mehr be­ dürfen. Wir zeigten zuerst, wie nur das größte Genie der Kunst durch Umbildung in das Ideale den ursprünglichen erhabenen Sinn auch jener Allegorieen uns retten konnte; wie jedoch die­ selbe Kunst, von der Erfüllung dieser idealen Aufgabe gleichsam gesättigt, den realen Erschei­ nungen des Lebens sich zuwendend, eben von der tiefen Schlechtigkeit dieser Realität zu ihrem eigenen Verfalle hingezogen wurde. Nun aber haben wir eine neue Realität vor uns, ein, mit tiefem religiösen Bewußtsein von dem Grunde seines Verfalles aus diesem sich aufrichtendes und neu sich artendes Geschlecht, mit dem wahrhaftigen Buche einer wahrhaftigen Geschichte zur Hand, aus dem es jetzt ohne Selbst-Belügung seine Belehrung über sich schöpft. Was einst den entartenden Athenern ihre großen Tragiker in erhaben gestalteten Beispielen vorführten, ohne über den rasend um sich greifenden Verfall ihres Volkes Macht zu gewinnen; was Shake­ speare einer in eitler Täuschung sich für die Wiedergeburt der Künste und des freien Geistes haltenden, in herzloser Verblendung einem unempfundenen Schönen nachstrebenden Welt, zur bitteren Enttäuschung über ihren wahren, durchaus nichtigen Werth, als einer Welt der Gewalt und des Schrecken’s, im Spiegel seiner wunderbaren dramatischen Improvisationen vorhielt, ohne von seiner Zeit auch nur beachtet zu werden, - diese Werke der Leidenden sollen uns nun geleiten und angehören, während die Thaten der Handelnden der Geschichte nur durch jene uns noch vorhanden sein werden. So dürfte die Zeit der Erlösung der großen Kassandra der Welt-Geschichte erschienen sein, der Erlösung von dem Fluche, für ihre Weissagungen keinen Glauben zu finden. Zu uns werden alle diese dichterischen Weisen geredet haben, und zu uns werden sie von Neuem sprechen. [...]

1 Die Vegetarier waren seit 1867 in Deutschland organisiert. Wagner berief sich auf Schopenhauer und Jean-Antoine Gleizes (1773-1843). Nach Gleizes Hauptwerk Thalysieou Systeme physique et intellectuel de la nature (1821, dt. 1872) hieß der Vegetarianismus auch Thalysianismus. Führende Vegetarier gehörten zu den Sympathisanten Bayreuths. So der Theologe Eduard Baltzer, der Gründer des ersten Vegetariervereins, Robert Springer, der Übersetzer von Gleizes, Max Engelmann, der Schriftleiter des Vegetarischen Centralblatts (1885 f.), Otto Rabe, der Mitherausgeber der Vegetarischen Rundschau

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(1883 ff.) (Winfried Schüler: Der Bayreuther Kreis, Münster 1971, S. 146). Von Rabe erschien 1882 als Beilage zu den Bayreuther Blättern die Schrift Die Tierschutzfrage im Lichte der vegetarischen Welt­ anschauung. Der Titel macht die enge Verknüpfung des Vegetarianismus mit dem Tierschutz deutlich. W. trat 1879 dem Tierschutzverein bei. Er nahm mit dem Offenen Schreiben an Herrn Emst von Weber, Verfasser der Schrift >Die Folterkammern der Wissenschaft' (1879) an der Anti-Vivisektionsbewegung teil. Zum Zusammenhang s. Carl Friedrich] Glasenapp: Das Leben Richard Wagners, Bd. 6, Leipzig 1911, Kap. 7. Die Enthüllungen über die Vivisektion bedeuteten »das Durchschauertwerden von einer tiefen inneren Erschütterung, der nichts Ähnliches verglichen werden kann: es wären denn die endlich abgetanen Schrecknisse der unter kirchlichem Schutze vollzogenen Inquisition oder der grauenvollen Hexenprozesse des 17. Jahrhunderts« (S. 251). Die Liebe zu den Tieren sollte den Anknüpfungspunkt für eine Mitleidsreligion abgeben. »An das Mitleid mit den Tieren wäre eine Religion anzuknüpfen« (Wagner, Juli 1879, S. 240). 2 Gleizes: Thalysia oder das Heil der Menschheit, Berlin 1873, TI. 2, Kap. 3 zählt die Länder auf, wo die Pflanzendiät in Ehren gehalten wurde. Die Länder, welche bei der ursprünglichen Nahrung verblie­ ben, werden mit einem Garten, die Länder des Abfalls mit einer Wüste verglichen (S. 218). 3 Bernhard Försters koloniales Unternehmen in Paraguay suchte Wagners Gedanken in die Praxis umzu­ setzen (Förster: Parsifal-Nachklänge, Leipzig 1883). W. beobachtete das Unternehmen mit Skepsis.

182 Richard Wagner: >Was nützt diese Erkenntniß?< Ein Nachtrag zu: Religion und Kunst. In: Bayreuther Blätter 3 (1880), S. 333—41. Hier S. 336—40. (Neudruck Wag­ ner: Gesammelte Schriften und Dichtungen, hg. v. Wolfgang Golther, Bd. 10, Berlin usw. o. J., S. 253-63.) [...] Wer sich von der Verwirrung des modernen Denkens, von der Lähmung des Intellektes unse­ rer Zeit einen Begriff machen will, beachte nur die ungemeine Schwierigkeit, auf welche das richtige Verständniß des klarsten aller philosophischen Systeme, des Schopenhauer’schen, stößt. Wiederum muß uns dieß aber sehr erklärlich werden, sobald wir eben ersehen, daß mit dem vollkommenen Verständnisse dieser Philosophie eine so gründliche Umkehr unseres bisher gepflegten Urtheiles eintreten muß, wie sie ähnlich nur dem Heiden durch die Annahme des Christenthums zugemuthet war. Dennoch bleibt es bis zum Erschrecken verwunderlich, die Ergebnisse einer Philosophie, welche sich auf eine vollkommenste Ethik stützt, als hoffnungslos empfunden zu sehen; woraus denn hervorgeht, daß wir hoffnungsvoll sein wollen ohne uns einer wahren Sittlichkeit bewußt sein zu müssen. Daß auf der hiermit ausgedrückten Verderbt­ heit der Herzen Schopenhauer’s unerbittliche Verwerfung der Welt, wie diese eben als ge­ schichtlich erkennbar sich einzig uns darstellt, beruht, erschreckt nun diejenigen, welche die gerade von Schopenhauer einzig deutlich bezeichneten Wege der Umkehr des mißleiteten Wil­ lens zu erkennen sich nicht bemühen. Diese Wege, welche sehr wohl zu einer Hoffnung führen können, sind aber von unserem Philosophen, in einem mit den erhabensten Religionen überein­ stimmenden Sinne [ 1 ], klar und bestimmt gewiesen worden, und es ist nicht seine Schuld, wenn ihn die richtige Darstellung der Welt, wie sie ihm einzig vorlag, so ausschließlich beschäftigen mußte, daß er jene Wege wirklich aufzufinden und zu betreten uns selbst zu überlassen genöthigt war; denn sie lassen sich nicht wandeln als auf eignen Füßen.

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In diesem Sinne und zur Anleitung für ein selbständiges Beschreiten der Wege wahrer Hoff­ nung, kann nach dem Stande unserer jetzigen Bildung nichts anderes empfohlen werden, als die Schopenhauer’sche Philosophie in jeder Beziehung zur Grundlage aller ferneren geistigen und sittlichen Kultur zu machen; und an nichts anderem haben wir zu arbeiten, als auf jedem Gebiete des Lebens die Nothwendigkeit hiervon zur Geltung zu bringen. Dürfte dieß gelingen, so wäre der wohlthätige, wahrhaft regeneratorische Erfolg davon gar nicht zu ermessen, da wir denn andrerseits ersehen, zu welcher geistigen und sittlichen Unfähigkeit uns der Mangel einer richtigen, Alles durchdringenden Grunderkenntniß vom Wesen der Welt erniedrigt hat. [...]

[...] Woran geht unsere ganze Zivilisation zu Grunde als an dem Mangel der Liebe? Das jugendliche Gemüth, dem sich mit wachsender Deutlichkeit die heutige Welt enthüllt, wie kann es sie lieben, da ihm Vorsicht und Mißtrauen in der Berührung mit ihr einzig empfohlen zu wer­ den nöthig erscheint? Gewiß dürfte es nur den einen Weg zu seiner richtigen Anleitung geben, auf welchem ihm nämlich die Lieblosigkeit der Welt als ihr Leiden verständlich würde: das ihm hierdurch erweckte Mitleiden würde dann soviel heißen, als den Ursachen jenes Leidens der Welt, sonach dem Begehren der Leidenschaften, erkenntnißvoll sich zu entziehen, um das Lei­ den des Anderen selbst mindern und ablenken zu können. Wie aber dem natürlichen Menschen die hiezu nöthige Erkenntniß erwecken, da das zunächst unverständlichste ihm der Neben­ mensch selbst ist? Unmöglich kann hier durch Gebote eine Erkenntniß herbeigeführt werden, die dem natürlichen Menschen nur durch eine richtige Anleitung zum Verständnisse der natür­ lichen Herkunft alles Lebenden erweckt werden kann. — Hier vermag, unseres Erachtens, am sichersten, ja fast einzig, eine weise Benutzung der Schopenhauer’schen Philosophie zu einem Verständnisse anzuleiten, deren Ergebniß, allen früheren philosophischen Systemen zur Beschämung, die Anerkennung einer moralischen Bedeutung der Welt ist, wie sie, als Krone aller Erkenntniß, aus Schopenhauer’s Ethik praktisch zu verwerthen wäre. Nur die dem Mitlei­ den entkeimte und im Mitleiden bis zur vollen Brechung des Eigenwillens sich bethätigende Liebe, ist die erlösende christliche Liebe, in welcher Glaube und Hoffnung ganz von selbst ein­ geschlossen sind, - der Glaube als untrüglich sicheres und durch das göttlichste Vorbild bestä­ tigtes Bewußtsein von jener moralischen Bedeutung der Welt, die Hoffnung als das beseligende Wissen der Unmöglichkeit einer Täuschung dieses Bewußtseins. Von woher aber könnten wir eine klarere Zurechtweisung für das von der Täuschung des realen Anscheines der Welt beängstigte Gemüth gewinnen, als durch unseren Philosophen, des­ sen Verständnisse wir nur noch die Möglichkeit, es dem natürlichen Verstände des unwissen­ schaftlichen Menschen innig faßlich zuzuführen, entnehmen müßten? In solchem Sinne möge es versucht werden, der unvergleichlichen Abhandlung Transcendente Spectdation über die scheinbare Absichtlichkeit in dem Schicksale des Einzelnen [2] eine volksverständliche Abfas­ sung ihres Inhaltes abzugewinnen, wie sicher wäre dann die, schon ihrer Milsverständlichkeit wegen so gern im Gebrauch gepflegte, »ewige Vorsehung« nach ihrem wahren Sinne gerecht­ fertigt, wogegen der in ihrem Ausdrucke enthaltene Widersinn den Verzweifelnden zu plattem

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Atheismus treibt? Den durch den Uebermuth unserer Physiker und Chemiker Geängstigten, welche sich endlich für schwachköpfig halten zu müssen glauben, wenn sie den Erklärungen der Welt aus Kraft und Stoff [3] sich zu fügen scheuen, ihnen wäre nicht minder eine große Wohlthat aus den Zurechtweisungen unseres Philosophen zuzuführen, sobald wir hieraus ih­ nen zeigten, was es mit jenen »Atomen« und »Molekülen« für eine stümperhafte Bewandtniß habe. Welchen unsäglichen Gewinn würden wir aber den einerseits von den Drohungen der Kirche Erschreckten, andererseits den durch unsere Physiker zur Verzweiflung Gebrachten zu­ führen, wenn wir dem erhabenen Gebäude von »Liebe, Glaube und Hoffnung« eine deutliche Erkcnntniß der, durch die unserer Wahrnehmung einzig zu Grunde liegenden Gesetze des Rau­ mes und der Zeit bedingten Idealität der Welt einfügen könnten, durch welche dann alle die Fragen des beängstigten Gcmüthcs nach einem »Wo« und »Wann« der »anderen Welt« als nur durch ein seliges Lächeln beantwortbar erkannt werden müßten? Denn, gibt es auf diese, so grenzenlos wichtig dünkenden Fragen eine Antwort, so hat sie unser Philosoph, mit unüber­ trefflicher Präzision und Schönheit, mit diesem, gewissermaaßen nur der Definition der Ideali­ tät von Zeit und Raum beigegebenen, Ausspruche ertheilt: »Friede, Ruhe und Glückseligkeit wohnt allein da, wo es kein Wo und kein Wann giebt.« [4] Nun verlangt es aber das Volk, dem wir leider so jammervoll ferne stehen, nach einer sinnlich realen Vorstellung der göttlichen Ewigkeit im affirmativen Sinne, wie sie ihm selbst von der

Theologie nur im negativen Sinne der »Außerzeitlichkeit« gegeben werden kann. Auch die Religion konnte dieses Verlangen nur durch allegorische Mythen und Bilder beruhigen, daraus dann die Kirche ihr dogmatisches Gebäude aufführte, dessen Zusammenbruch uns nun offen­ kundig ward. Wie dessen zerbröckelnde Bausteine zur Grundlage einer der antiken Welt noch unbekannten Kunst wurden, bemühete ich mich in meinem vorangehenden Aufsatze über Reli­ gion und Kunst zu zeigen; von welcher Bedeutung aber wiederum diese Kunst, durch ihre volle Befreiung von unsittlichen Ansprüchen an sie, auf dem Boden einer neuen moralischen Welt­ ordnung, namentlich auch für das »Volk« werden könnte, hätten wir mit strengem Ernste zu erwägen. Hierbei würde wiederum unser Philosoph zu einem unermeßlich ergebnißreichen Ausblicke in das Gebiet der Möglichkeiten uns hingeleiten, wenn wir den Gehalt folgender, wunderbar tiefsinnigen Bemerkung desselben völlig zu erschöpfen uns bemüheten: »das voll­ kommene Genügen, der wahre wünschenswerthe Zustand stellen sich uns immer nur im Bilde dar, im Kunstwerk, im Gedicht, in der Musik. Freilich könnte man hieraus die Zuversicht schöpfen, daß sie doch irgendwo vorhanden sein müssen.« [5] Was hier, durch Einfügung in ein streng philosophisches System, als nur mit fast skeptischem Lächeln aussprechbar erschei­ nen durfte, könnte uns sehr wohl zu einem Ausgangspunkte innig ernster Folgerungen werden. Das vollendete Gleichniß des edelsten Kunstwerkes dürfte durch seine entrückende Wirkung auf das Gemiith sehr deutlich uns das Urbild auffinden lassen, dessen »Irgendwo« nothwendig nur in unsrem, zeit- und raumlos von Liebe, Glauben und Hoffnung erfüllten Inneren sich of­ fenbaren müßte. Nicht aber kann der höchsten Kunst die Kraft zu solcher Offenbarung erwachsen, wenn sie der Grundlage des religiösen Symboles einer vollkommensten sittlichen Weltordnung entbehrt, durch welches sie dein Volke erst wahrhaft verständlich zu werden vermag: der Lebensübung

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selbst das Gleichniß des Göttlichen entnehmend, vermag erst das Kunstwerk dieses dem Leben, wiederum zu reinster Befriedigung und Erlösung über das Leben hinaus, zuzuführen.

[...] 1 Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Ergänzung zum vierten Buch, Kap. 47: Zur Ethik beruft sich auf den Brahmanismus, den Buddhaismus und das Christentum. Breite Quellennachweise sollen verwandte Axiome belegen. 2 Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, Bd. 1: Transcendente Spekulation über die anscheinende

Absichtlichkeit im Schicksal des Einzelnen. 3 Ludwig Büchner (1824—1899): Kraft und Stoff (1855), Hauptwerk des Materialismus. 4 Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, Bd. 2, $ 30 Anm. Im Anschluß an den Beweis der Idealität des Raumes nach Kant. 5 Ebd. § 205 Anm. Mit Auslassung.

183 Hans von Wolzogen: Lichtblicke aus der Zeitgenossenschaft. 2. Von der Sperlings­ gasse bis zum Krähenfelde. In: Bayreuther Blätter 4 (1881), S. 357-64. Hier S. 358-59, 361-64. [...] W. Raabe hat manches Böse erkannt und viel Ärgerliches erfahren; er ist oft bitter, aber niemals boshaft geworden. Er hat nicht rechts und links auf das Büchergetriebe, sondern stäts geradezu und tief in das Herz der deutschen Volksseele geblickt. Was er uns zu erzählen weiss, das ist deutsch, nicht nur in dem äusserlichen Sinne einer ausschliesslichen Behandlung deut­ scher Stoffe, deutschen Lebens und Wesens, sondern vielmehr aus den gesunden Wurzeln der Natur des Erzählers selbst. Mit der zweifellosen Echtheit seines untrennbaren menschlichen und künstlerischen Charakters stellt er dem Besonnenen und Nachdenkenden einen vorzüglich liebenswürdigen und rührenden Typus des Deutschen dar zu einer dessen recht bedürftigen Zeit. In den Spiegel der Echtheit und Wahrheit aber soll man mit Andacht und Eifer schauen: man wird stäts etwas Gutes und Rechtes daraus lernen. Mehr und eigenthümlicheres Licht pflegt aus solchem Spiegel auf manche auch gewichtige Dinge zurück zu strahlen, als von vielen blendenden Kronleuchtern höchst belesener und geistreicher Wissenschaft. Die jungen Damen heutiger Gesellschaft, welche für Ebers schwärmen, wenn er sie in den Kulturkampf der Mumien [1] einweiht, werden allerdings dem prunklosen Dichter des »Pessimismus«, wie es heisst, wenig Geschmack abgewinnen. Und doch wäre diess zu wünschen, weil es für ihr Herz sprechen würde, an welches die durchaus von Herzen gehende Dichtung Raabe’s so zart er­ greifend sich wendet. Wer sich noch derart ergreifen lässt, der wird auch jenen seinen harmlos offen sich darbietenden schriftstellerischen »Schwächen«, dem interessanten Stoffe für den Litteraturkritiker, die von der Sprache des Herzens bald erweckte Liebe nicht entziehen. Sind doch diese Schwächen demselben Herzen entsprungen; und mehr als das: gerade sie geben lebendiges Zeugniss für des Dichters eigenartige Bedeutung. Ja, in ihrer unbedingten, ehrlichen Echtheit können sie uns typisch sein für die leidende Lage des reinen deutschen Gemüthes in einer ihm und seiner Art entfremdeten Welt [...]

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[...] Um so mehr verdient dieses Beispiel unsere Beachtung, weil die deutsche Begabung hier einmal nicht verdorben und verbildet erscheint, sondern sich selber treu blieb und deshalb im deutschen Volke »zu nichts kommen« konnte. Wer in dieser Weise zu nichts kommt, der muss »zu uns« kommen. Giebt uns seine Stellung in der Mitwelt, zwischen den Zäunen ihrer Ziergär­ ten, einen vielsagenden Beitrag zur Charakteristik der Zeit, so erkennen wir in seiner Eigenart einen versprengten Theil jener theueren Kraft, welche wir hier zu sammeln und zu stärken be­ müht sind. Wir wollen dem Deutschen, das wir im Kunstwerke verehren und pflegen, die Mög­ lichkeiten einer eigenen, menschlich-edelen Kultur andeuten. Wir wagen diese Deutungen, so­ weit die treuen Hoffnungen eines künstlerischen Idealismus um den heimischen Hügel in die Welt hinaus kreisen mögen. Müssen wir dabei so Manches hart verneinen, was draussen in Stolz und Würden steht, so dürfen wir uns hinwiederum erfreuen, wenn wir zu einem Leben, das auf seine Weise still bedeutend sich »im Winkel« regt, aus unserem Winkel her auch ein Bayreuthisch Ja und Amen sagen können.

Es ist vornehmlich die - von W. Jensen [2] einmal so genannte - »Trilogie des Pessimismus«, nämlich die drei Romane Der Hungerpastor, Abu Telfan und Der Schüdderump, worin der Dichter uns fortschreitend aus der Enge deutschen Lebens in die Tiefe menschlichen Leidens und Elends mit vernichtender Ehrlichkeit hineinführt. Jene tragische Weltanschauung also hat er in diesen drei Werken zu meisterlich vollendetem Ausdrucke gebracht. [...] Dass dem Lebenslaufe des ehrlichen, armen, zarten deutschen Knaben Hans Unwirrsch, dem sich das Paradies des Daseins endlich in der bescheidensten Hungerpfarre am öden Ostseestrande eröff­ net, die Schicksale des hochbegabten Judenjungen Moses Freudenstein - alias »Dr. Theophile Stein« - eingeflochten sind, das giebt dem einfachen Bilde des Hungerpastor’s überdiess etwas geradezu Typisches. Zudem ist der Begriff des Hungers dem Dichter zu einem bedeutsamen Symbole geworden, womit er sich einer ihm eigenthümlichen Tendenz zugewandt zeigt, welche sowohl in der originellen Erfindung des Stoffes von Abu Telfan als auch in dem Titel des Schüd­ derump und seiner symbolischen Durchführung durch das ganze Buch gesteigert wieder er­ scheint. Und auch dort begegnen uns neben solcher Symbolik noch andere typische Züge. Abu Telfan und Schüdderump schildern beide überaus traurige Heimkehren, an denen sich die schrecklichen Unmöglichkeiten im menschlichen Schicksale ungemein drastisch dokumentie­ ren ; dieselbe Form findet sich - wie eine moderne Art von Nostoi [3] - auch in mehren Novellen des Autors. [...] R. Gottschall [4] hat den Schüdderump schwerlich gelesen, wenn er behaupten kann: er sei der Versuch einer »Poesie der Siechenhäuser« und der Schüdderump selbst das »hölzerne Symbol für das Loos der Armuth und Krankheit«. Es ist aber das Siechenhaus Welt und der Schüdderump Schicksal, wovon uns der Dichter in seiner so ganz einfachen Geschichte auf dem Gute der wackeren Frau von Lauen die unvergesslichen Beispiele in den Nebel der heimathlichen Harzberge gemalt hat. Seinen Schüdderump hatte der Dichter mit schwerem Herzen umgeschüttet, und mit ihm al­ les Schöne und Liebe dem grausamen Loose des Unterganges in der ewigen Verworrenheit der menschlichen Schicksale geopfert. Das war geschehen im Siegesjahre 1870. — Was aber nun?

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- Die deutsche Kritik wusste ganz genau anzugeben, wohin der Autor, nachdem er das furcht­ bar ernste Buch geschlossen hatte, fürderhin fröhlich nach ihrem Wohlgefallen zu wandeln habe. Da war ja das junge deutsche Reich, und nationalliberale Begeisterung flammte ringsum von allen Höhen des Parnasses. Hatte er selbst doch einst, ein schwärmerischer »Wolkenjäger«, den schönen Höhenruf in der patriotischen Erzählung Nach dem grossen Kriege seinen Brüdern zugerufen [5]: Die Berge sind den Göttern heilig; - hebe das Haupt und blicke auf aus der dumpfigen Luft, aus den schweren Nebeln, welche über der Gegenwart hängen, auf zu den drei deutschen Gipfeln, welche alle Alpen überragen, auf zum alten Brocken, auf welchem deutscher Geist dem bildlosen Wodan opferte, auf welchem deutscher Geist den Faust im ewigen Streben nach der Lösung der Räthsel der Menschheit führt; - blicke auf zur Wartburg, wo das alte Geistesrüstzeug, die »gute Wehr und Waffen« unseres Volkes, neu geschmie­ det wurde; - blicke auf zum Kyffhäuser, in welchem die große Zukunft der Stunde harrt, in welcher die Raben nicht mehr fliegen werden, die Stunde, wo »ein Volk geboren wird«. - Welch’ eine andere Nation kann solche Bergesgipfel aufweisen?

Jetzt erwiderte man ihm den Ruf in etwas jüdelndem Tone, der durch die Blätter neuester Litteraturgeschichten lispelte: »Juble mit uns, begabter Poet der Siechenhäuser, verlasse die langweiligen Gräber von Krodebeck und hebe die Flügel im frischen Westwinde der Geschichte zum neuen, jauchzenden, produktiven Fluge nach jenen Gipfeln im Orient deutscher Lande, wo nationale Meisterschaft die Johannisfeuer ihres Patriotismus abbrennt!« - Man rief ihm, aber er kam nicht. Er sah nicht mehr nach den leuchtenden Höhen. Er sah den Storch im Dräumlingssumpfe stehen und erzählte von den Drillingen der Frau Rektorin Fischart und dem Schillerfeste zu Paddenau [6]. Da verdachte man ihm es schwer, dass er noch immer das Deutsche in den »Winkeln« suche, derweilen es doch so stattlich und staatlich auf allen Strassen daherging. Wir aber wissen, wie dieses junge deutsche Reich, das seinen Dichter so kräftig be­ flügeln sollte, noch heute nach zehn unerfreulichen Jahren sein verscherztes Heil dorther zu erhoffen hat, wo in den Ecken und Tiefen des Volkslebens die wirklich deutschen Herzen schla­ gen und sich nach der Befreiung von der Herrschaft eines fremden Geistes zu sehnen beginnen, der unser öffentliches Leben bereits völlig gepachtet zu haben schien. Aus dem deutschen Win­ kel - das hat unser Meister uns gelehrt - daher quoll noch stäts die echte deutsche Kraft. Der deutsche Dichter wird schwerlich jemals aus den Triumpfen liberaler Parlamente seine Stoffe und Freuden schöpfen können. [...]

[...] Mag man doch immerhin meinen, es sei dieses eine Poesie des deutschen Philisterthums! Nur verwechsele man nicht ein Wesen, welches das Singen verlernt hat, mit dem Poeten, der es noch zu besingen weiss. »Deutsches Philisterthum« — so nennen wir nach dem weitesten Sinne des Wortes jenen Theil unseres grossen Volkes, welcher einst, im Gegensätze zu den stol­ zen Geschlechtern kriegerisch über die Gränzen hinausdringenden und neue Staaten und Wel­ ten schaffenden Heroenthumes, im Vaterlande ursprünglich sitzen geblieben war. Dieser sich nunmehr ausschliesslich als deutsch bezeichnende Theil hat sich auch fernerhin stäts in einem seltsamen zähen Widerspruche gefühlt zu jedem, dem alten Heroismus irgend verwandten Geiste, der oftmals in seiner Mitte aufgestanden erschien. Es ward ihm allezeit schwer seinen

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»grossen Männern« freimüthige Heeresfolge zu leisten, welche ihm sein ureigenes Wesen als Quelle neuer Kraft und Freiheit zu deuten wussten. Das blieb in seinem Dräumling sitzen, und da liess es sich von der Weisheit klappernder Wanderstörche neuerdings eine gar schmeichel­ hafte Deutung seiner Zukunft einreden. Wie in politischer Hinsicht das deutsche Philisterthum zu neuen Thaten erst »aufgemuntert« werden musste durch das stramme Preussenthum, so soll das moderne fixe »Judenthum« dazu berufen sein, ihm gleicherweise auf geistigem Gebiete ein frisches Mitthun im internationalen Wettkampfe erst zu ermöglichen. Das glauben Jene; wir aber wissen: die wahren grossen Aufmunterer [7] sind uns längst gegeben, aus eigenem Fleisch und Blut, von deutschen Müttern in’s deutsche Land geboren, die uns auf diesem höchsten Gebiete der Poesie und Kunst, der Weisheit und Frömmigkeit, über die Enge des Daseins hero­ isch weiterführen sollen. Kann aber nicht alle Poesie und Kunst, Weisheit und Frömmigkeit in jenem grossen Sinne heroisch sein: so wünschen wir uns doch auch unsere gute, heimisch-echte, ernst oder heiter-sinnige Poesie des eigenen Philisterthumes, diese rührende Stimme der leiden­ den Wahrhaftigkeit, von der fremdartigen Aufmunterung rein bewahrt, welche sie schon ganz zu zerfressen droht. Wir wollen jeden der Unserigen mit Freuden begrüssen, der sich und seine Leidenserkenntnisse inmitten des grossen Bildungsstrudels aus eigener Kraft davon rein zu er­ halten weiss. Achten seiner die »Philister« im Sumpfe selber nicht, so kann doch nur ein Solcher uns auch noch inmitten des Philisterthumes das Deutsche, im Sumpfe die Quelle, aufweisen, wie es in ihm selber lebt, und indem es in ihm lebt, uns über die hehren Hallen der Helden hinaus der Möglichkeit seiner Existenz uns versichert. [...] 1 Georg Ebers Roman Uarda (1877) schildert den Machtstreit zwischen Königtum und Priestertum, was eine Bezugnahme auf den gleichzeitigen Kulturkampf nahelegte. Die Schwestern (1880), ein anderer ägyptischer Roman, enthält Äußerungen moderner Kritik am Priestertum und der Religion. 2 Jensen, s. Dok. 171, S. 540. 3 Altgriechisches Epos von den Rückfahrten der Helden von Troja. 4 Rudolf von Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 4, 5. Aufl. Breslau 1881, S. 393. 5 Raabe: Sämtliche Werke (Braunschweiger Ausg.), Bd. 4, Freiburg usw. 1956. Nach dem großen Kriege (1861), Elfter Brief, S. 127. Historischer Roman der Freiheitskriege. Höhepunkt politischer Aktivität Raabes; Beitritt zum Nationalverein (1860), der ein liberales Kleindeutschland unter preußischer Füh­ rung erstrebte. 6 Raabe: Der Dräumling (1872), worauf sich die Anspielungen des Satzes beziehen. 7 Wagner.

184 [Otto Glagau?:] Die Juden im Roman. In: Der Kulturkämpfer 5 (1882), S. 408-17. Hier S. 11-14.

Unseres Wissens sind Gustav Freytag, dem Gothaischen Hofrath, Antisemitische Tendenzen noch nicht vorgeworfen worden; er ist der eigentliche Dichter der Bourgeoisie, er liebt es, dem Adel und den Lieutenants Seitenhiebe zu versetzen; aber wenige Bücher enthalten eine so

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scharfe Verurtheilung der Juden wie sein Roman Soll und Haben. Der eigentliche Held dessel­ ben ist bekanntlich der junge Anton Wohlfart, dessen Lebensgang vom armen Lehrling bis zum Theilhaber an der großen Handelsfirma die Laufbahn des soliden Kaufmanns zur Anschauung bringt. Daneben läuft die Geschichte von Anton’s Schulkameraden, des Veitel Itzig aus Ostrau (Ostrowo), jener Stadt, »bis nach Polen hinein berühmt durch ihr Gymnasium und süße Pfef­ ferkuchen«. Diese beiden Lebensläufe heben sich gegeneinander ab, wie Tag und Nacht; einem Deutschen Ehrenmann stellt der Dichter den Jüdischen Wucherer gegenüber, der Poesie der Arbeit den Dämon schmutziger Geldgier, die zum Verbrechen führt. Aus Ostrau, wo er schon in der Schule »Schreibfedern mauste«, kommt Itzig mit Anton an demselben Tage nach Breslau, wie jener in der Hoffnung, in der großen Stadt sein Glück zu machen. Dort wird er in der ersten Nacht von dem schrecklichen Traum gequält, daß er Geld verschenke, während Anton von einem liebreizenden jungen Mädchen träumt. Itzig’s Augen sind von »ungewöhnlicher Frech­ heit«; aber gerade das mit bewog Herrn Hirsch Ehrenthal, den Burschen in seinen Dienst zu nehmen. Dieser durchsucht am nächsten Morgen, beim Reinigen der Kleider seiner Herrschaft, sofort die Taschen des jungen Ehrenthal, ob vielleicht ein Geldstück darin vergessen sei. Mit jedem Geschäftsgänge für den Principal weiß er ein Geschäftchen auf eigene Rechnung zu ver­ binden; er beginnt mit dem Schachern alter Kleider, Hüte und Uhren, die schäbigsten Klei­ dungsstücke trägt er selbst; dabei hungert und darbt er auf jede Weise, und nach einem Jahre hat sein Kapital von sechs Dukaten sich bereits um das Dreißigfache vermehrt. Bald ist der ab­ gefeimte Wucherer und Gauner fertig; einen seiner Kunden beschwindelt er um eine Erbschaft von 8000 Thalern, seinem Principal Hirsch Ehrenthal wächst er vollständig über den Kopf, endlich fällt sogar Baron von Rothsattel, sowie dessen Sohn, ein leichtsinniger Officier, in seine Hände, worauf er mit teuflischer Bosheit hingearbeitet hat; »er sitzt drin, wie er drin sitzen muß!« ruft er triumphirend. Zum Diebe und schließlich auch zum Mörder geworden, nimmt er ein furchtbares Ende. - In Hirsch Ehrenthal stellt der Dichter einen nicht minder abstoßenden Typus aus der Jüdischen Geschäftswelt dar. Es ist der böse Geist des Barons; Ehrenthal drängt sich beständig an ihn, verleitet ihn zu Geldgeschäften, betrügt ihn und stürzt ihn ins Unglück. Aus dem demüthigen Agenten wird allmählich ein anspruchsvoller und endlich ein unbarmher­ ziger Gläubiger; sowie er den Baron in Noth sieht, kündigt er ihm die geliehenen zehntausend Thaler-ein äußerst charakteristischer Zug! Ehrenthal’s Häuslichkeit wird trotz alles Prunkes als plebejisch und schmutzig geschildert. Ferner spielen in dem Roman noch eine Rolle der Gastwirth Löbel Pinkus, ein durchtriebener Gauner, in dessen Hause alle Existenzen, die das Licht scheuen, ein Versteck finden, sowie Herr Löwenberg und andere Hebräer, die alle sich an den Baron drängen, als derselbe in Schulden gerathen ist, und last - not least, Schmeie Tinkeles, ein Prachtexemplar der schmutzigen, zudringlichen und verschmitzten Polnischen Juden­ schaft. Dieser theils verbrecherischen, theils mindestens sehr zweideutigen Jüdischen Gesell­ schaft hat der Dichter nur Einen sympathischen Vertreter der Race entgegenzusetzen: Ehrenthal’s Sohn Bernhard, einen schwindsüchtigen Philologen, den das Treiben seines Vaters mit Abscheu erfüllt, und der den Alten vergeblich zur Umkehr zu bewegen sucht.

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Wilhelm Raabe - oder Jacob Corvinus, wie er sich auf seinen ersten Büchern nannte — bietet eins der wenigen Beispiele, daß die Deutsche Begabung einmal nicht verdorben und verbildet ist, sondern sich selber treu blieb und deshalb im Deutschen Volke »zu nichts kommen« konnte. Die dem jungen Deutschen Reiche folgende nationalliberale Begeisterung hat ihn gänzlich un­ berührt gelassen; »man rief ihm, aber er kam nicht«. Seine lärmende Zeit, jene Welt, die nach seinem eigenen Worte »schriller wird mit jedem Tag«, bot ihm nichts dar, was ihm, als einem wahrheitsliebenden Deutschen Poeten ernstlich gefallen konnte, er schöpfte seine Stoffe und Freuden nicht aus den Triumphen liberaler Deutscher Parlamente, sondern dem fremden Geiste abgewandt, der unser öffentliches Leben schon völlig gepachtet zu haben schien, sucht er die Deutschen Herzen in den Winkeln und Ecken unseres Volkslebens, woher das Reich sein Heil immer noch zu erhoffen hat. So stellt er dem Besonnenen und Nachdenkenden einen vorzüglich liebenswürdigen und rührenden Typus des Deutschen dar zu einer dessen recht bedürftigen Zeit. Diejenigen freilich, welche für den Semiten Georg Ebers schwärmen, werden dem prunk­ losen Dichter wenig Geschmack abgewinnen; und doch wäre dies zu wünschen, weil es für ihr Herz sprechen würde, an welches die durchaus von Herzen gehende Dichtung Raabe’s so er­ greifend sich wendet. - Diese Sätze entnehmen wir mit geringen Veränderungen einem Artikel von Hans von Wolzogen in den Bayreuther Blättern (December 1881) [1]. Unter den drei be­ deutendsten Romanen Raabe’s, die man auch eine »Trilogie des Pessimismus« [2] genannt hat, beschäftigt uns hier Der Hungerpastor. Er enthält die Lebensgeschichte des ehrlichen, armen, zarten Deutschen Knaben Hans Unwirrsch aus der Kröppelstraße, dem sich das Paradies des Daseins endlich in einer Hungerpfarre am öden Ostseestrande eröffnet. Auch Hans Unwirrsch findet einen Jüdischen Freund, Moses Freudenstein, den Sohn des reichen Trödlers Samuel Freudenstein und der Salome, genannt »das Blümchen«. Die beiden Jünglinge zeigen in ihrer Entwickelung den totalen Gegensatz zwischen Germanischem und Semitischem Charakter, zwischen Gemüth und Egoismus, sie sind typische Gestalten, und erinnern an Anton Wohlfart und Veitel Itzig; aber Raabe erfaßt den Gegensatz tiefer und stellt sich die schwierigere Aufgabe, ihn im geistigen Leben darzustellen, in den grundverschiedenen Weltanschauungen der beiden Helden. Die Freunde ziehen mit einander zur Universität; Hans unerfahren und in sich versun­ ken, das stille Heimatsgefühl und den Trieb in die Fremde: den Hunger nach Wissen, den Durst nach Liebe noch ungeschieden in sich tragend - ein Zustand, den die alte Sprache sehr bezeich­ nend durch das einzige Wort »tumb» ausdrückte; Moses ohne Gefühl für die Seinen, zu denen er nie zurückkehrt, ein altkluger hämischer Spötter über Natur, Poesie und jedes Ideal. Moses meint, er lasse sich so leicht nicht imponiren, und bei dem Wort »Waldeinsamkeit« werde ihm übel zu Muth. Als Student baut er sich das System seiner Logik zurecht, und gelangt zu absoluter »Vorurtheilslosigkeit«. Über seine Stellung zum Deutschen Vaterlande spricht er sich zu dem armen Studiosus der Theologie einmal folgendermaßen aus: »Ich habe das Recht, nur da ein Deutscher zu sein, wo es mir beliebt, und das Recht, diese Ehre in jedem mir beliebigen Augen­ blick aufzugeben. Wir Juden sind doch die wahren Kosmopoliten, die Weltbürger von Gottes Gnaden; wir können ruhig stehen, während Ihr Euch abhetzt, quält und ängstet. Die Erfolge, welche Ihr gewinnt, erringt Ihr für uns mit, Eure Niederlagen brauchen uns nicht zu kümmern. Wir sind Passagiere auf Eurem Schiff; aber wenn die Barke scheitert, so ertrinkt nur Ihr: - wir

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haben unsere Schwimmgürtel und schaukeln lustig und wohlbehalten unter den Trümmern. Wir sind viel besser situirt, als Ihr Alle, wie Ihr Euch nennen mögt: Deutsche, Franzosen, Eng­ länder, und Heine [3] bleibt trotz seines weißen Katechumenen-Gewandes ein echter Jude.« - Im letzten Halbjahr seiner Universitäts-Zeit schreibt Moses eine Doctor-Dissertation über »Die Materie als Moment des Göttlichen«, giebt nach der Promotion zum ersten Mal in seinem Leben eine Flasche Wein zum Besten, und - fährt nach Paris, »um das Schwimmen zu lernen«. Hans bleibt bewegt vor der Thür des Posthauses zurück, Moses aber hat die Existenz des Jugendgenossen noch vor dem ersten Pferdewechsel vergessen. Nach mehreren Jahren kehrt er zurück als Journalist unter der Firma »Dr. Theophile Stein«; er trifft mit Hans wieder zusam­ men, der die ganze Herzlosigkeit und den bösen Geist des Israeliten allmählich durchschaut und seinen ehemaligen Freund hassen lernt. »Theophile« aber verführt zuerst eine arme Fran­ zösische Putzmacherin, dann entführt er Fräulein Kleophea, die Tochter des Geheimrath Götz, um so dem Vater Geld abzudringen, und lebt in Paris als politischer Spion. Als das verhoffte Geld ausbleibt, wirft er die Maske ab und mißhandelt seine Frau; sie entflieht ihm und stirbt im Pfarrhause des einsamen Stranddorfes Grunzenow, wo auf der Kanzel der Hungerpastor Hans Unwirrsch steht, »während das Meer in seine Worte rauscht«. Moses Freudenstein erhält im Jahre 1852 für seine Spionendienste den Titel »Geheimer Hofrath«, aber er ist »verachtet von Denen, welche ihn gebrauchten, verachtet von Denen, gegen die er gebraucht wurde, bür­ gerlich todt im furchtbarsten Sinne des Worts«. [...] 1 s. Dok. 183, S. 577. 2 s. Dok. 171, S. 540. 3 Heine trat 1825 zum Christentum über.

Literarisches Leben

Schriftsteller und Gesellschaft

Aspekte der Emanzipation des Schriftstellers

Auflösung der Ständegesellschaft

185 Hermann Hauff: Gedanken über die moderne schöne Literatur. In: Deutsche Viertel­ jahrsschrift 3/11 (1840), S. 244-286. Hier S. 264-273,275-277,279,281-285. [...]- Privilegien, Kasten, Corporationen, so vieles, was die geistigen und materiellen Strö­ mungen, Wissenschaft, Industrie, Verkehr, Handel, Ackerbau hemmte, sind bereits vom Boden weggeschafft oder mit dem Waldhammer des Jahrhunderts zum Hieb gestempelt; Tausende,

sonst fruges consumere nati [1], sind zu Arbeit und Erwerb, Millionen an die Scholle und das Bedürfnis Gefesselter zum hohem sinnlichen und geistigen Genüsse berufen; alle Wissenschaf­ ten und Gewerbe durchdringen einander und machen sich wechselseitig flüssig; durch die im­ mer weiter gehende Theilung der Arbeit in der Wissenschaft wie im Gewerb nimmt das Begrei­ fen, das Vermögen und die Produktion in rasch steigenden Proportionen zu; Alles, was das Leben äußerlich erleichtert und schmückt, die Bequemlichkeit und der Luxus dringen, je wohl­ feiler sie durch Concurrenz werden, zu immer tiefem Schichten der Gesellschaft; der Anblick der Menschenwelt wird nach Tracht, Sitten und Manieren immer gleichförmiger, und wenn sich auch die eigentliche Geistesbildung nicht in gleichem Verhältnisse verbreitet, so werden doch von unten herauf derjenigen mehr und mehr, welche auch hierin Niemanden etwas vorge­ ben mögen, weil mit Allem auch das Wissen unendlich zugänglicher geworden ist und eine ge­ wisse Auszugsbildung mittelst des Encyclopädismus so mühelos erworben wird. So freundlich dieses Gemälde scheint, so düster ist seine Schattenseite. Die frühere Gesell­ schaft war durch eine ganze Gliederung geachteter Autoritäten, von der Gottes bis zu der des Zunftmeisters, in zahlreichen Sphären auseinander gehalten, die nur an den Grenzen in einan­ der Übergriffen. Geist und Gemüth der Individuen wurden überwiegend vom Centrum des Kreises, dem sie angehörten, angezogen; jeder war dem, was seines Amtes und Berufes war, ganz hingegeben; er repräsentirte und producirte auch in der Regel, sey es in der Wissenschaft oder im Gewerbe, ein Ganzes, und er war in seiner Beschränkung und auf seiner Stufe in der Hierarchie, welche Stufe sich für ihn von selbst verstand, ein ganzer Mensch. Nach seiner Qua­ lität kam ihm ein ausgeschiedener Antheil an der öffentlichen Ehre, an der Zeitbildung, eine bestimmte Lebensweise und äußere Haltung zu. Wie die Geistes- und Körperkraft, so verzehrte sich in diesen geschlossenen Gebieten größtentheils auch der Ehrgeiz, die Eigensucht und Hab­ sucht. Dieses Netz historischer Dämme ist durch die Ereignisse der letzten fünfzig Jahre an zahlreichen Stellen durchstochen worden, die abgesperrten Becken der Gesellschaft haben sich

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brausend in einander gestürzt, die Fluth schlägt schütternd über die noch stehenden Deiche, und bedroht selbst den höchsten und mächtigsten, an den sich alle andern anlehnen, den reli­ giösen Glauben. Durch die Auflösung so vieler Autoritäten sind unendlich Viele zum meisten, wenn befähigt, auch berechtigt; die Meisten fühlen sich, gerade umgekehrt, wie früher, vor Allem nur als Glieder des großen Ganzen, und ihrer Eitelkeit, das Ganze auch zu begreifen, ist nirgends eine Schranke gesetzt. Durch die theils gesetzliche, theils faktische Auflösung der socialen Verfassung, in der Menschen und Stände einander streng unter- und übergeordnet wa­ ren, ist auch die Standesehre hier bereits ein leerer Begriff geworden, dort auf dem Wege, es zu werden, und so konnte sich fortan die Qualität der Menschen fast nur nach dem materiellen Besitz bestimmen: das Geld wurde das große Schwungrad des Ungeheuern Getriebes, in dem gegenwärtig alle geistigen und materiellen Kräfte wetteifernd in einander greifen, und im Verhältniß mit der Entfeßlung aller Triebe und der Steigerung aller Produktion erscheinen auch jene bösen Leidenschaften der Eigensucht, des Golddurstes, die Rücksichtslosigkeit in der Wahl der Mittel entfesselt und in’s Kolossale gesteigert. Durch diese historische Krisis ist nun, wie man weiß, die ganze Literatur in allen ihren Gebie­ ten außerordentlich befruchtet und ungeheuer geschwellt, in der einen Richtung tiefer, in der andern breiter und durch Popularisirung seichter geworden. [...] Mit der Sprengung des allgemeinen Zunftverbands hat auch die Literatur den Anstrich des Zunftmäßigen und Esoterischen, den sie früher hatte, fast ganz abgestreift. Vor sechzig Jahren war der Kreis derer, welche ex professo den holden Pieriden [2] opferten, zehn- und zwanzigmal kleiner, als gegenwärtig. Damals, wo alle geistigen Gebiete weit mehr als jetzt gesondert waren, suchte sich auch der Poet und Schriftsteller eine gewisse specielle Bildung zu geben. In einer ruhigeren und abgelebteren Zeit war sein Gemüth noch nicht von so verschiedenartigen Schwingungen bewegt; seine innere Welt war eine beschränktere, aber in dieser Beschränkung kräftigere und reichere; er war mehr mit seinem Ich allein und so trug auch das, was er hervor­ brachte, einen subjectiveren Stempel. [...] Heutzutage, seit dem wunderbaren Aufschwung in allen Wissenschaften, fließt in alle Köpfe, welche auch nur einigermaßen von der Strömung der Zeit ergriffen werden, aus allen Strichen der geistigen Windrose eine Masse von Ideen und Thatsachen. Dadurch haben sich im Indivi­ duum die Pole der Kraft verwechselt: es ist reicher an aufgedrungenem Inhalt, aber innerlich unselbstständiger und, schon intellectuell, zerrissener geworden. [...] [...] Die Sprache ist jetzt ein weit vielseitigeres Instrument mit unendlich mehr Tasten, Regi­ stern und Pedalen, und doch keineswegs schwerer, sondern ungleich leichter zu spielen. Sol) es mit Virtuosität gehandhabt werden, so bedarf es freilich auch jetzt eines Meisters, und wohl eines großem; aber es ist so organisirt, daß immer noch für rohere Ohren eine leidliche Musik herauskommt, wenn der Stümper darauf herumhämmert. Früher fiel ein junger Mann, der Verse machte und schriftstellerte, in seiner Umgebung als ein ungewöhnliches Wesen auf. Heutzutage ist fast die Ausnahme zur Regel geworden. Man geht unter das junge Deutschland, wie man sonst unter die Soldaten ging, wenn man nichts Gescheiteres zu thun weiß oder von andern Laufbahnen zurückgcwiescn worden ist, und wem seine Amtsfeder in den Subsistenzmitteln eine Lücke läßt, der führt in verlorenen Stunden die

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Musenfeder spazieren, und wie der Appetit im Essen, so kommen im Schreiben die Gedanken. Es gibt heute in Deutschland kein Beamten- und Lehrercollegium, kein Comptoir eines Groß­ händlers oder Buchhändlers, keinen Regimentsstab, keine Adelscorporation, keine Schulbank, vor Allem keine Judengasse, die nicht fortwährend zum irregulären Milizheer der schönen Lite­ ratur ihre Rekruten lieferten, wo nicht wenigstens Einer mit einer Buchhandlung oder Redak­ tion in Briefwechsel stände, scy es als Lieferant von lyrischen Ergüssen, oder von Lesefrüchten, Gedankenspänen und anderm Dutzendkram, sey es als Novellist, Humorist, Genre-, Land­ schafts-, Vieh- und Porträtmaler; sey es als eigentlicher Kritiker oder nur als Correspondent, der die Kunstausstellung, Concert, Oper, Schauspiel und das Intendanzelend bespricht; sey es endlich, und meistens, als barbarischer Übersetzer und Sprachschänder nach der Elle: ein die Sonne der Poesie verfinsterndes Heuschreckenheer, das Tag für Tag hundert Ballen weißes Papier besprenkelt. Die tausend modernen Ideen sind im Gehirn des Belletristen wie ein Zettel aufgezogen, durch den er oft mit halbem Bewußtseyn und auf Gerathewohl sein Schiff wirft; durch den reichen Inhalt der Zeit, und selbst wieder durch die ungeheure Ausdehnung der Lite­ ratur ist ihm auf’s mannigfaltigste vorgearbeitet, und während er selbst etwas zu machen glaubt, rafft er borgend und stehlend von allen Seiten mit größter Unbefangenheit das Fremde zusammen. Aus diesen Umständen erklärt sich nicht nur die ungeheure Menge der schöngeistigen Pro­ dukte aller Art, sondern auch die charakteristische Gleichförmigkeit derselben, zwei Momente, welche auf dem Gebiet geistiger Produktion an sich schon Geringhaltigkeit involviren. Es er­ klärt sich daraus aber auch die Scheintiefe so vieler Hervorbringungen, so wie die Ansprüche der Verfasser auf hohe, umfassende Bildung. Das eben erwähnte Verhältniß der Individuen zum geistigen Inhalt der Zeit mußte nothwendig darauf hinwirken, daß ihrer immer mehrere von Allem wenigstens etwas wissen und mit dem zusammengerafften Auszug aus der Bildung des Tages diese Bildung ganz repräsentieren wollen. Dieß ist die Quelle, und zugleich wieder die Wirkung jenes Encyclopädismus, der schon jetzt in Literatur und Pädagogik so weit eingedrungen, jenes Universalismus, der den nach dem Geistesschema einer andern Welt entworfenen Universitäten den Untergang droht. Seit so Viele über Alles mitsprechen, weil sie von Allem einen Hieb haben, versteht es sich von selbst, daß der Schriftsteller über Alles schreibt, ohne irgend etwas recht gelernt zu haben. Scribimus indocti doctique poemata passim. — Es ist sehr bezeichnend, daß zugleich mit dem Trieb nach encyclopädischem Vielwissen die Humanitätsstudien ihr früheres entschiedenes Uebergewicht in der hohem Erziehung mehr und mehr verloren haben. Wie man von der formell und materiell bildenden Kraft dieser Studien denken mag, so viel ist gewiß, seit der Erziehung so vieler Gebil­ deten die classische Grundlage entzogen worden, hat sich der eitle Wissensdünkel und die süffi­ sante Unbefangenheit in der Reproduction des im Kopf Zusammengeworfenen in’s Unendliche gesteigert, und dieß bringt in der schönen Literatur, im Verein mit der wesentlichen Schwäche der Produktion und der herrschenden kritischen Richtung, täglich Erscheinungen hervor, die den oberflächlichen, leicht zu ängstigenden Beobachter eine völlige Zersetzung der alten Gei­ steskultur fürchten lassen könnten.

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Ist nun aber diese Schändung unserer Bildung etwas Anderes, als die schlimme, die schwache Seite einer großen Zeitentwicklung? Die gute, die schöne Seite des herrschenden Encyclopädismus fände ihren wahren Ausdruck in einer im besten Sinne populären Poesie und Literatur. Daß die heutige Literatur diese Seite so gar nicht zu fassen vermag, dieß zeugt eben wieder für ihre tiefe Schwäche. Man muß aber anerkennen, daß die ganze Stimmung der stürmisch von unten nach oben drängenden Gesellschaft der ächten Popularisirung der Poesie und der schönen Literatur überhaupt mächtig entgegenwirkt; und so sehen wir denn, daß dieselbe Belletristik, welche die politische und sociale Hebamme der Zeit spielt, sich der Gesellschaft als maitre des plaisirs und als conseiller des graces anbietet. Die Gesellschaft gleicht sich mehr und mehr aus, democratisirt sich; die Ansprüche der ho­ hem Stände auf das Privilegium der Bildung, des Genusses, der politischen Herrschaft, des Ton­ angebens in der äußern Sitte werden immer mehr herabgestimmt, die Ansprüche der niedern Stände stimmen sich hinauf. Aber diese doppelte Bewegung geht keineswegs einem in der Mitte liegenden Punkt entgegen; nicht etwa dem Ideal des schlichten Bürgers sollen die Hohen und die Niedern gleichmäßig genähert werden. Nichts weniger; die meisten Stände dringen unauf­ haltsam über den Schwerpunkt der Gesellschaft hinauf der höchsten Vornehmheit und Raffine­ rie zu, und das Ideal der modernen socialen Welt ist der Gentleman und die Lady. Zugleich mit dem mächtigen Aufschwung der Industrie ist auch dieser Trieb aus der Auflösung fast aller hergebrachten Standesgliederung entsprungen; er wirkt seinerseits kräftig auf Beflügelung des Gewerbfleißes zurück, ist aber auch die Hauptursache dessen, was man als die schlimmste Wunde der Zeit betrachten muß, der gewissenlosen Eigensucht und Habsucht, der Vergötte­ rung des Geldes und der nobilisirenden Kraft desselben. Die Gesellschaft wird auf’s Sonderbarste immer aristokratischer, je mehr sie sich demokratisirt, und es ist, als wollte sich der frühere tiefe Widerspruch zwischen der alten und neuen, d. h. der europäischen und der nordamerikanischen Welt in einer gemeinschaftlichen Constitution ausgleichen, in der ein allgemeiner Götze, das Geld, regiert und gouvernirt und fast lauter feine und vornehme Unterthanen hat. [...] Es zeigt sich offenbar, daß mit der Gesellschaft auch die schöne Literatur zugleich demokra­ tischer und aristokratischer geworden ist. Es gibt keine, oder fast keine dem Geburtsadel ent­ sprechenden genialen Autoritäten, keine Subordination der Talente mehr; wie alle Bürger unter dem Gesetz, so stehen alle Schreibenden als Gleiche unter dem Zeitgeist; wie aber in der Gesell­ schaft Alles elegant und vornehm seyn will, so sind alle Schriftsteller als solche geistreich, und als Menschen elegant und vornehm noch dazu. Namentlich in dem bei weitem umfangreichsten Gebiete, im Erzählungsfache im weitesten Sinn und in der unterhaltenden Journalistik, ist zwi­ schen den Schriftstellern, welche sich mit ihren Produkten vorzugsweise an die Gebildetsten, und denen, welche sich an die Menge wenden, bei weitem nicht mehr der große formelle Unter­ schied wie früher. Sie schreiben Alle so ziemlich in derselben Sprache über dieselben Dinge so, daß am Ende häufig so gut wie über nichts geschrieben ist; und man kann nur so viel sagen: bei den verschiedenen Sorten aller dieser Modernen entspricht der Geist nach Qualität, Grazie, Geschmack und verständiger Anlage ungefähr der Toilette der Gesellschaftskreise, die sic als Leser vorzugsweise im Auge haben. — Der beste Beweis, daß wir bei dieser ganzen Darstellung

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weder die Producentcn noch die Konsumenten verleumden, liegt für uns darin, daß sich, unseres Wissens, nirgends ein Blatt gebildet, oder, was auf Eins hinausläuft, gehalten hat, das die Lese­ sucht der mittlern und niedern Stände mit Verstand und Liebe zu Befriedigung ihrer wahren geistigen Bedürfnisse zu nützen und bei ihnen dem utile durch das dulce [3] Eingang zu ver­ schaffen wüßte. Aber allerdings müßte das Uebel, über das wir klagen, die allgemeine krank­ hafte Gier nach den Genüssen und Eindrücken des high life, alle Versuche der Art im Keime ersticken. [...] Wie die Sachen stehen, dünken sich nun aber sehr viele Kreise der Gesellschaft geradezu auf der ästhetischen Höhe des Jahrhunderts, wenn sie sich bei ihrer belletristischen Leserei von denselben vornehmen Dingen unterhalten lassen wie die höchsten Kreise. So macht es sich ganz natürlich, daß namentlich in die Unterhaltungsblätter für den großen Haufen all der fashionable Plunder eindringt, der überhaupt die hohle Form unserer heutigen Literatur großentheils ausstopft. Der Unternehmer oder Redakteur eines solchen Blattes verspricht im Prospektus das Ersprießlichste »für Geist und Herz« seiner Leser; er bespricht aber, wie er es vermag und wie es ihnen gütlich thut, Maskenball, Oper, Ballet, Schauspiel, Concert, Kunstausstellung, die ma­ tinée dansante im Schloß, den fabelhaften Succeß der Rahel [4], den durch die Eisler [5] erregten Furore, das neue Kleid der Königin Victoria, die literarischen Katzbalgereien und Prostitutio­ nen, kurz alles Moderne, Alles, was man sich im magischen Zwielicht des Salons als Gesprächs­ stoff vorstellt. Er entlehnt nachdruckend den hohem Journalen Novellen, Genremalerei, Humor und Modekram aller Art, und da greift er immer das Materiellste und Unsauberste her­ aus, die verzerrtesten, am greulichsten kolorirten Bilder [...] [...] In selbst verfertigten Artikeln macht der Volksbelletrist seinem Publikum all die Kunst­ stücke vor, welche für Hauptelemente moderner Ästhetik gelten: das Unerwartete, Abgerissene, Herumschweifende des Styls, die Keckheit der Bilder und Gegenstätze, die tiefsinnigen Zweifel an der Vernünftigkeit alles Bestehenden, das freche Brandmarken von Personen blos um des Spasses willen, vor Allem aber das Umstülpen und Bioslegen der eigenen Brust, wobei er bald einen Faust oder Manfred [6], bald einen Don Juan oder Lovelace [7], bald einen Tasso oder Werther, immer aber einen aufdringlichen Gecken herausblicken läßt. Kurz, der Afterbelletrist, der zur geistreichen Unterhaltung von Schreibern und Ladendienern, von Putzmamsells und Wittwen niederer Beamten alles im Himmel und auf Erden unverschämt lorgnettirt, und am Ende doch nur mit sich selbst liebäugelt, ist nichts als die gehudelte, etwas inkorrekte Ausgabe des Schöngeists, der das Privilegium hat, auf dem Nervensystem von Gräfinnen, Professoren­ weibern und müßigen Lebemännern zu spielen. [...] In aller Kunst wird meist nur gemacht, in einem ganz andern Sinn, als in welchem Poesie etymologisch auch ein Machen bedeutet. Es ist ein kritisches, absichtlich zusammenlesendes, industrielles Machen bei kühlem Blute, und es zeigt sich nun auch, daß Literatur und Kunst, ergriffen vom gewaltigen Wetteifer der Gewerbe, viele Merkmale der herrschenden Industrie angenommen, ja auf vielen Punkten einen innigen Bund mit ihr geschlossen haben. Tausenderlei Fabrikate zu Bedürfniß und Ueberfluß sind heutzutage kunstreicher, handli­ cher, leichter, zierlicher, aber auch innerlich unsolider, vergänglicher geworden, weil im ra­ scheren Leben der Gegenwart, beim ewigen Schwanken des Geschmacks und der Mode, fast

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nichts auf langem Dienst berechnet ist. Dabei spielt die weitverbreitete Kunst, um geringe Preise ins Auge fallende Nachahmungen des Kostbaren, Soliden herzustellen, in Allem, besonders in Weberei und Bijouterie, eine sehr große Rolle. Ganz ebenso sind die schöngeistigen Produkte im Maaß, als ihre Masse sich geschwellt, flüchtiger, ungründlicher, gehudelter, und doch dabei anspruchsvoller und häufig auch äußerlich glänzender geworden. Es gibt in der Literatur Gegenstücke genug zum buntgedruckten Baumwollenshawl, der das mühsame, kostbare Wol­ lengewebe nachahmt und, von ferne angesehen, dafür gelten kann. Wie mancher Lyriker, der nach Uhlands oder Byrons Dessins arbeitet, wie mancher poetische Weber und Färber in der Gattung, zu der Heines Reisebilder das Muster gegeben, erzeugt zum Staat für die Afterästhe­ tik, der die ächten Stoffe nicht zugänglich sind, dergleichen buntscheckige Surrogate, und ist im Grund selbst ein solches! Auch in der Literatur ist es dem großen Haufen der Producenten nur um augenblicklichen Effekt und augenblicklichen Gewinn zu thun, und sie sind vor Allem darauf aus, recht wohlfeil zu produciren. Die schweren, schönen Stoffe unserer Großmütter, welche sich auf Kinder und Kindeskinder vererbten, waren mühsame Erzeugnisse eines einfa­ chen Webstuhls und umständlicher manueller Kunst; wollte man noch jetzt dergleichen her­ stellen, so könnte oder wollte es kein Mensch bezahlen. Ebenso spinnt jetzt der Schriftsteller selten ein Werk langsam, mit Bedacht und ästhetischem Gewissen aus sich heraus, mit dem Anspruch, wo nicht für alle Zeiten, doch für ein Paar Geschlechter seines Volks zu arbeiten; dergleichen macht Niemand mehr, denn Niemand bezahlts. Auch hier ist die Losung, in mög­ lichst kurzer Zeit und mit möglichst geringem Aufwand möglichst viel und möglichst in die Augen Fallendes hervorzubringen. Die Alleswisserei gibt dabei die Maschine ab; die Ideenasso­ ciationen laufen von selbst hin und her wie die Stifte am Bildweberstuhl, und der Arbeiter braucht nur die abgerissenen Fäden zusammenzuknüpfen. [...] Mancher stellt mit seinem Kopf für sich allein eine ganze Fabrik hervor. Sein Atelier liefen untereinander Lyrik, Dramen, Romane, Novellen, Genre, Kritik, alle Sorten von literarischer kurzer und langer Waare, Alles nach den neuesten Rococomustern hergestellt, elegant appretirt, sauber satinirt oder gefirnißt. Wie lang die Leute am Kram haben — was kümmert’s ihn? Die Hauptsache ist, daß sie kaufen, und dazu muß seine ganze Anstrengung dahin gerichtet seyn, daß er im Kreise seiner Kunden in der Mode bleibt oder darein kommt, was beides seine bedeutenden Schwierigkeiten hat; und gelingt es nicht, so wird der Galanteriehändler geistes­ bankerott. Hine illae lacrymae [8]! Daher zum Theil wieder der Weltschmerz, für den wir im Lauf dieser Bemerkungen schon mehr als eine Quelle gefunden haben, die keineswegs aus der granitischen Tiefe der Brust, sondern aus dem Moor der Selbstsucht und Eitelkeit entsprungen. - Andernseits sind aber in die Belletristik auch die großen Prinzipe der heutigen Industrie, die Theilung der Arbeit und die Association, eingedrungen. Und Manufakturen und Fabriken, Unterhaltungsblätter und kritische Institute haben sich ja so ziemlich in gleichem Maafse ver­

mehrt. [...] In alle dem, und noch in so Vielem, assimilirt sich die Literatur auffallend der heutigen Indu­ strie, und so ist jene im Schriftsteller und Buchhändler auch weit speculativer geworden als frü­ her.—Ein Buch wird jetzt nach Stoff, Farbe und Schnitt bestellt, gerade wie ein Rock, und durch

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den Puff vertrieben, wie jedes Fabrikat. Ein Kapitalist, oder wer eine wohlhabende Erbin heim­ führt, weiß nicht, ob er in vier Wochen einer Spinnerei oder einem literarischen Comptoir vor­ stehen wird, und der junge Mann, der in der Lyrik fallirt hat, eröffnet als Publizist eine neue Boutike. [...] Eine der häßlichsten Finnen im Antlitz unserer Belletristik, das so Manches entstellt, ist die weit verbreitete Mode, die Persönlichkeit des Schriftstellers und Künstlers als kritisches Moment herbeizuziehen und schonungslos preiszugeben. [...] Diese Sucht, die Persönlichkeit bald schmeichlerisch, bald fratzenhaft zu porträtiren, immer aber zu prostituiren, hat in den letzten zehn Jahren unglaublich um sich gegriffen. Ein großer Theil der Prosa ist zu einem mit eleganten Puppen bevölkerten Salon geworden, worin Alles auf vermeintlich vornehmes Geschwätz und die sociale Klatscherei hinausläuft; dem ganz entsprechend dreht sich die Kritik in den sogenannten Feuilletons und Korrespondenzen von hundert Zeitschriften um Schönthuerei und Persiflage, um heuchlerische Complimente und giftige Verläumdung. Es ist jam­ mervoll anzusehen, wie die Journalistik über das Befinden, das Thun und Lassen, die häuslichen Freuden und Sorgen, die Sitten und Unsitten, die Tugenden und Schwächen von Poeten, Schrift­ stellern, Schauspielern, Sängern, Tänzern, Musikern beiderlei Geschlechts und aller Sorten Tag für Tag ihre fashionabeln Bulletins ausgibt. [...] Das Ueberwiegen der kritischen Richtung, das Haschen nach Effekt als einem Surrogat für die Erfindung, die Auflösung des Analogon von Zunft, wodurch sich früher die Schriftsteller immer noch eine gewisse Standesehre und Standeswürde bewahrten, das Einreißen von Sitten und Kniffen, wie sie der entfesselten Industrie eigen sind, namentlich das Ehr- und Creditabschneiden im unmittelbaren Gewerbsinteresse - Alles dieß sind Momente, die innerhalb der literarischen Entwicklung selbst dazu ineinander gewirkt haben. Im Grunde aber ist die Litera­ tur an diesem moralischen Gebrechen nur insofern Schuld, als sie, wie immer, der Ausdruck der Gesellschaft ist, und nur durch die Fatalität der Zeit nicht der poetische Ausdruck derselben seyn kann. Nach unserer Ansicht liegt die wahre Quelle des Phänomens darin, daß durch die Umgestaltung der Gesellschaft die Stellung der Persönlichkeit überhaupt eine andere geworden ist als früher. [...] Die gegenwärtige eigenthümliche Schwäche aller höhern Kunst ist nach der bisher entwikkelten Ansicht ein kulturhistorisches Moment. Mit der Literatur verhält es sich wie mit der Gesellschaft selbst, welche sie fassen möchte und nicht fassen kann. In der gesellschaftlichen Gährung und Verwirrung sind für das aufmerksame Auge bereits gleichsam die Winkel der neuen Bildungen und Richtungen angedeutet; gerade so erkennt der Billige und Partheilose in der Literatur, außer einem allgemeinen formellen Fortschritt, die Rudimente einer neuen poeti­ schen Conception, einer neuen Charakteristik, einer neuen Erfindung. Ist einmal die Gesell­ schaft fertig, so wird es auf einmal auch die Poesie seyn. Die gegenwärtige allgemeine rastlose Bewegung wird über kurz oder lang zum Stillstand kommen, der Gesichtskreis der Menschheit wird sich im Großen wieder fixiren und der centrifúgale Gedanke, vielleicht erst spät, aber ge­ wiß wieder eine geschlossene Bahn um eine Sonne des Gemüths beschreiben. Erst dann wird auch wieder der wahre Fruchtboden für Poesie und Kunst vorhanden seyn, und dann mag Alles,

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was gegenwärtig, und vielleicht noch lange in allen Künsten mit Absicht und großem Lärm her­ vorgebracht und wieder umgerissen wird, als Skizze und Studium erscheinen. [...] 1 2 3 4

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Geboren zum Verzehr der Feldfrüchte (Horaz: Epist. 1, 2, 27). Beiname der Musen. Nach Horaz: Ars poetica 343: das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden. Elisa Rachel (1820-1858), debütierte 1838, vor allem als klassische Tragödin berühmte französische Schauspielerin. Fanny (1810—1878) und Therese Eisler (1808—1884). Beide Schwestern wurden auf ihren Tanztour­ neen durch Europa gefeiert. Tragisch-romantischer Held des gleichnamigen »dramatischen Gedichts« von Byron (1817, dt. 1828). Gewissenloser Verführer in Samuel Richardsons (1689-1761) bürgerlich-empfindsamen Briefroman: Clarissa; or the history of a young lady (1748, dt. 1748 ff.). Daher jene Tränen! (Terenz: Andria 1/1).

186 Wilhelm Heinrich Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft. Stuttgart 1851, Buch 2, Kap. II, 2, Die Proletarier der Geistesarbeit, S. 299-302, 319-322.

Die Proletarier der Geistesarbeit sind in Deutschland die eigentliche ecclesia militans [ 1 ] des vierten Standes. Sie bilden die große Heersäule der Gesellschaftsschicht, welche offen und selbstbewußt mit der bisher überlieferten socialen Gliederung gebrochen hat. Die Beweise lie­ gen jetzt genugsam vor, daß der proletarische deutsche Handarbeiter im Großen und Ganzen noch keineswegs zum hellen Bewußtseyn seiner socialen Stellung gekommen ist. Das Geistes­ proletariat dagegen weiß und fühlt sich als vierten Stand, es stellt die Idee der Ausgleichung der alten Gesellschaftsordnung in der Praxis wie in der Theorie dar. Ich fasse auch diese Gruppe des vierten Standes in ihrer ganzen Consequenz und weitesten Ausdehnung. Beamtenproletariat, Schulmeisterproletariat, perennirende sächsische Predigt­ amtscandidaten, verhungernde akademische Privatdocenten, Literaten, Journalisten, Künstler aller Art, von den reisenden Virtuosen bis zu den wandernden Comödianten und den Drehor­ gelleuten und Bänkelsängern abwärts. Ueberschlägt man in Gedanken diese Legion der deut­ schen Geistesproletarier, dann muß man wohl zu dem Resultate kommen, daß in keinem Lande Europa’s die in Rede stehende Gruppe des vierten Standes zahlreicher und mannichfaltiger ver­ treten sey als bei uns. Es liefert dieß den Beweis, daß der Umsatz des materiellen und namentlich industriellen Capitals der Nation unverhältnißmäßig zurücktritt neben dem Groß- und Klein­ handel, Schacher und Wucher, der mit dem geistigen Pfunde getrieben wird. Deutschland er­ zeugt mehr geistiges Product als es brauchen und bezahlen kann. Eine solche Ucberproduction, die nicht bloß vorübergehend ist, sondern andauernd, ja stets im Wachsen begriffen, zeugt von einem krankhaften Zustande der gesammten Nationalarbcit, von einer widernatürlichen Vertheilung der Arbeitskräfte. Das Geistesproletariat ist eine weit schärfere Satire auf den Natio­ nalwohlstand als alles Fabrikarbeiter- und Bauernelend. Wir stehen hier vor einem Zirkel. Die geistige Production schießt ins Kraut, weil ihr der materielle Erwerb nicht hinreichend breite

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und tiefe Wurzel bietet, und diese Wurzel kann wiederum nicht zur rechten Entfaltung kom­ men, weil jeder Ueberschuß von Kraft aufwärts in das endlose Blätterwerk treibt. Hier liegt das eigentlich Gefährliche von Deutschlands socialen Zuständen. Wie der vierte Stand in an­ dern Ländern durch den plötzlichen und übergewaltigen Aufschwung der Industrie erzeugt wurde, so ist er in Deutschland wesentlich das Ergebniß übergewaltiger geistiger Erhebung. Wir sahen oben, daß auch der deutsche Bürgerstand seinen überwiegenden Einfluß in der modernen Gesellschaft den zwei großen Thatsachen der geistigen Erhebung durch die Reformation und die classische Periode der neueren Nationalliteratur verdankt, während erst in jüngster Zeit die Industrie ihre Entscheidung zu Gunsten des Bürgerthums in die Wagschale zu werfen beginnt. Das Ueberwuchern des Geistesproletariates ist die Kehrseite jener Erscheinung im Bürgerthum. Wir sehen hier recht klar, wie jene Krisen des Bürgerthums eine Schicht des vierten Standes als nothwendiges Product zugleich mit erzeugten, wir erblicken die zwiefache sociale Rückwirkung eines und desselben geistigen Aufschwunges der Nation, dort die positive, hier die negative. Andere Völker brauchen uns aber nicht zu beneiden um das Uebergewicht des Geistesprole­ tariates über die Proletarier der materiellen Arbeit. Denn der Mensch wird viel leichter überstudirt als er sich mit seinen Händen krank arbeitet, und gerade das Geistesproletariat erzeugt die bösartigeren Krankheitsstoffe. Der Widerstreit des Erwerbs mit dem Bedürfnisse, der eingebil­ deten gesellschaftlichen Stellung mit der wirklichen ist bei dieser Gruppe des vierten Standes am unversöhnlichsten. Die Proletarier der Geistesarbeit haben existirt seit man überhaupt des Geistes Weben und Schaffen als Arbeit zu betrachten und auf den Markt zu bringen begann, und gar viele Männer, deren Bildsäulen die Geschichte in dem Pantheon des nationalen Ruhmes aufgestellt, waren nichts anderes als solche Proletarier. Aber in dem Maße, als die ganze nationale Existenz Deutschlands mehr und mehr zu einer bloß literarischen zusammenschrumpfte, mußten die Proletarier der Geistesarbeit eine immer höhere Meinung von ihrer Bedeutsamkeit bekommen, und immer schneidender den Widerspruch empfinden, worin ihre materielle Stellung hierzu stand. Weil das Zeitalter die Intelligenz auf den Thron gehoben, glaubten die großen und klei­ nen Leute, welche aus der Intelligenz Profession machten, daß sie selbst nun auch wenigstens auf Sammetpolstern sitzen müßten. Was von socialen Bewegungen im Sinne des vierten Standes in neuester Zeit in Deutschland vorgekommen ist, das ist von den Proletariern der Geistesarbeit ausgegangen oder angeregt worden. Es ist eine furchtbare Ironie auf unsere Staatseinrichtun­ gen, wenn man erwägt, wie im Jahre 1848 Subalternbeamte - also die speciellsten Pflegekinder des Staates - in Masse für die Zerstörung der historischen Gesellschaft agitirten, während Bür­ ger und Bauern und Taglöhner sich ruhig verhielten; und man könnte kein beißenderes Epi­ gramm auf unsere öffentliche Erziehung schreiben, als wenn man die Durchschnittsziffer der verdorbenen Literaten ermittelte, welche alljährlich durch unsere gelehrten Staatsschulen zum Kriege gegen die Gesellschaft eingeschult werden.

[•••] Das deutsche Literatenthum war in seinen Anfängen das Resultat einer socialen Krankheit. Die Ueberschätzung der geistigen Arbeit, die Mißachtung der gewerblichen hatte sich seit dem Ausgange des achtzehnten Jahrhunderts - von wo die alte kernfeste Tüchtigkeit des Gewerbs­

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mannes allerdings in dem Maße zu wanken begann, als der gelehrt-literarische Aufschwung der Gebildeten seinem Höhepunkte zustrebte — wie ein zehrendes Fieber der ganzen Generation bemeistert. Das ist die Kehrseite der geistigen Erhebung des deutschen Bürgerthums. Von oben und unten ward diese krankhafte Einseitigkeit unterstützt, in der wir selber wohl zum größten Theile noch in unserer Jugend befangen waren. Der büreaukratische Staat ignorirte möglichst die selbständigen Mächte der Industrie und des Handels, weil seinem Princip gemäß die Gelehr­ ten- und Beamtenwelt den politischen und socialen Ausschlag geben sollte. In der ganzen langen Restaurationszeit seit den Befreiungskriegen waren die jeweiligen Helden des Tags Beamte (nicht Staatsmänner), Literaten, Virtuosen und Sängerinnen. Wie in den Tagen der Kreuzzüge alles zum Schwerte griff, und wer kein Schwert gewinnen konnte, wenigstens zum Stecken, wie damals Kinder selbst sich zu einem Kreuzesheere zusammenthaten und die Weiber sich in die Reihen der Kämpfer mischten, so stürmte jetzt alles zum wissenschaftlichen Studium; die Wei­ ber strickten und spannen Bücher, und Kinder spielten mit der Geige und mit der Literatur und wurden künstlerische und wissenschaftliche Celebritäten. Die Donquixoterie der literarischen Ehrsucht ist einer der bedeutsamsten socialen Charakterzüge der neuesten Zeit. Der Hand­ werksmann, welcher vordem seinen größten Stolz darein gesetzt hatte, daß Kinder und Kindes­ kinder in seinem eigenen Gewerbe fortarbeiteten, glaubte jetzt seinem Sohne keinen besseren Freibrief durch’s Leben mitgeben zu können, als indem er ihn studiren ließ. Arme Wittwen hun­ gerten und bettelten, um nur ihre Kinder studiren zu lassen, sie weinten vor Freude, wenn sie dieselben für das also gewonnene Schmerzensgeld dem Privilegium - des Beamtenproletariats entgegenführen konnten. Es war als ob der einzige menschenwürdige Beruf nur aus dem Besitz der fadenscheinigen Weisheit irgend einer Brodwissenschaft - oder auch einer brodlosen quellen könne, als ob andererseits der nur ein halber Mensch sey, der nicht acht Jahre lang sei­ nen Bröder und Buttmann [2] gelernt, um ihn im neunten wieder zu vergessen. Eines der naturnothwendigen Producte dieser krankhaften Zeitstimmung war das vorzeitige Entstehen des deutschen Literatenthums. Bei tausend Unberufenen war der Ehrgeiz zum aus­ schließlichen Motiv der Geistesarbeit geworden, und dieser Ehrgeiz konnte in der Tagesschrift­ stellerei ein rasch und mühelos errungenes, wenn auch noch so geringfügiges Genügen finden. Wer ernten wollte, ohne gesäet zu haben, wurde Literat. Wie das Literatenthum selber eine anticipirte Erscheinung war, so steckte es auch wiederum meistentheils sein Ziel dahin, das Idol des Zeitalters, den Ruhm der Geistesgröße zu anticipiren. Und der halbfertige Student z. B. anticipirte seinerseits als Literat sogar noch einen Beruf, eine Existenz, die ihm von Rechtswegen erstnach weiterer jahrelanger saurer Arbeit zugestanden hätte. Der gefährliche Vorsatz, durchs Lehren lernen zu wollen, schuf zahllose und halbreife Literatenexistenzen. Darum haben die guten Mispeln und die schlechten Literaten das Gemeinsame, daß beide schon zu faulen begin­ nen wo sie eben erst halb reif sind. So erschien der Literat schon vorweg in wissenschaftlicher Beziehung als ein widerspruchvolles Zwittergeschöpf, wie er das dann auch in socialem Betracht werden sollte; die Spannkraft zu einem ernsten Studium, zu einem tüchtigen, prakti­ schen Wirken ging rasch verloren, während es doch gerade sein eigenster Berul hätte seyn müs­ sen, das ernste Studium in die Münze des praktischen Lebens umzusetzen. Der Bauer würde von einem solchen halben Manne sagen, er sey für den Wagen zu kurz und für den Karren zu

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lang.

Der Ehrgeiz als alleiniges Motiv der Geistesarbeit erzeugt aber auch jenen anticipirten Sybaritismus [3] im bürgerlichen Leben, der einen großen Theil unserer Tagesschriftsteller kennzeichnet. Die Prahlerei mit vornehmem Wesen, mit glänzender Hauseinrichtung, mit goldnen Ketten und Champagner haben sie den französischen Schriftstellern glücklich abgeguckt, da sie ihnen doch den Erwerb der hohen überrheinischen Honorare noch nicht haben abgucken können. Und wo diese Vornehmthuerei nicht in natura ausgeführt werden kann, da sucht sie sich wenigstens überall in der Schreibart vorzudrängen. Es läßt sich kaum eine größere Selbst­ ironie denken, als wie sie in jenem hochgebornen Styl steckt, der namentlich in den Zeiten des jungen Deutschlands bei deutschen Feuilletonisten und Belletristen Mode war. Prüft man diese Schreibart, die möglichst mit Salonsausdrücken um sich wirft, die Anschauungen der vorneh­ men Welt als die natürlichen, angestammten des Autors affectirt, und die verzwickte, ver­ schnürte Redeweise der sogenannten »feinen Gesellschaft« als etwas neues, geniales und fri­ sches in unser Schriftthum wieder eingeschmuggelt hat, dann sollte man meinen, unsere Literaten seyen allesammt auf Parquetböden großgewachsen, und müßten stolpern, wenn sie einen Fuß auf die grob gehobelten Dielen in eines Bürgers oder Bauern Stube setzten. Und doch ist der Verfasser in der Regel wohl ein ganz armer Schelm gewesen, dem es sauer genug gewor­ den ist, die lebenswarmen Anschauungen, die derben naturwüchsigen Ausdrücke der Gesellschaftsschicht, in welcher er aufwuchs, wieder abzustudiren und die fremden vornehmen Phra­ sen dafür einzutauschen. Das ist eben der Fluch der ganzen modernen Schriftstellerei, daß sie - im Geiste des vierten Standes - die Gesellschaftsschicht zu verläugnen sucht, in welcher sie von Alters her ihre Wurzeln getrieben hat. Vom literaturgeschichtlichen Standpunkt hat man diesen Gedanken schon längst dahin formulirt, daß unsere neuere Nationalliteratur ausschließlich eine Literatur der Gebildeten, nicht des ganzen Volkes geworden sey. Es gilt aber auch, die Wahrheit dieses Satzes vom socialen Standpunkte aus anzuerkennen. Früher war es die Gelehrtenaristokratie, welche sich wissen­ schaftlich und gesellschaftlich von ihrem natürlichen Boden, dem Bürgerthum, abzulösen suchte, jetzt ist es das Gelehrtenproletariat. [...] [...] Die Versöhnung des Schriftthums mit dem Volksthum kann keineswegs auf literari­ schem Wege (etwa durch die jetzt wieder in Mode kommende Koketterie mit volksthümlichen Redewendungen) gestiftet werden, sondern nur auf socialem. Wenn sich der gelehrte Aristokrat oder Proletarier erst wieder einmal in aufrichtiger Hingabe an das Leben des Bürgerthums er­ frischt und gekräftigt hat, dann wird sich auch seine Schreibart verjüngen und kräftigen. [...] 1 ironisch: die kämpfende, streitende Kirche. 2 Christian G. Bröder (1745-1819) und Philipp Buttmann (eig. Boudemont, 1764-1829), bedeutende Altphilologen. Broders lateinische und Buttmanns griechische Schulgrammatiken und Elementarbücher wurden jahrzehntelang an den Gymnasien verwendet. 3 luxuriöses Wohlleben.

Revolutionäre OrgamsatioitseKturürfe

187 Wolfgang Müller (von Königswinter]: Düsseldorf 1848, S. 17-24.

Vergangenheit und Zukunft der Kunst,

[...] Für die deutschen Künstler ist aber grade der Tag angebrochen, sich zusammen zu schaaren und für ihre und der Kunst Interessen in die Schranken zu treten. Darum ergehn an euch, ihr Schriftsteller, ihr Bildner aller Art und ihr Musiker, folgende Vorschläge. Im ganzen Vaterland hat man das neu errungene freie Vereinigungsrecht dazu benutzt, in allen Lebensschichten zusammen zu kommen und sich in kleinem und großem Kreisen über Zustände der Vergangenheit und Verbesserungen für die Zukunft aufzuklären. Vielfach hat dies schon zu vortrefflichen Ergebnissen geführt. So ballen sich Schneeflocken zu Lawinen. Wer denkt hier nicht der Volksversammlungen, aus denen zu seiner Zeh das Vorparlament hervor ging? Die Versammlung der Gewerbtrerbenden, die jetzt in Frankfurt sitzt, ist aus derselben Tendenz entsprungen. Ähnlich regt es sich in allen Ständen. Die Lehrer, die Ärzte, die Geistli­ chen berarhen ihre Angelegenheiten miteinander. Freilich haben auch die Künstler hier und dort schon Schritte gethan, um die Würde der Kunst zu wahren, aber diese Bestrebungen sind zu sehr von lokalem Charakter gewesen, sie haben bei ihren Reformvorschlägen nicht über den Kreis ihrer Städte und Landschaften hinausgesehen. Offenbar aber ist damit ein großer Fehler geschehen, denn die deutsche Kunst darf nicht provinziell bleiben, sie muß das ganze Vaterland im Auge haben. Sollen deshalb wirksame Anstalten getroffen werden, so muß man auch im Interesse der Kunst einen großen Congreß halten. Und so geht meine Ansicht darauf hinaus, daß alle durch landschaftliche oder sonstige Bezie­ hungen zusammengehörige Kreise sich vereinigen und sich entschließen, diejenigen .Männer, denen sie ein besonderes Vertrauen schenken, zu einem vorbereitenden Kunsttag zu senden, der den Zweck hat, die künftige Gestaltung der Angelegenheiten der Literatur, der bildenden Kunst und der .Musik in Berathung zu ziehen. Wie viele .Männer in solchen Bezirken zu wählen sind und wie die Wahl vor sich gebe, das möge man den V ereinen, die nach entstan­ den größer oder kleiner sind, selbst überlassen. Die Gewählten vereinigen sich an einem naher festzusetzenden Tage in Frankfurt, weil dort doch einmal das Leben der Gegenwart am leben­ digsten rauscht, und befassen sich in parlamentarischen Zusammenkuniten mit der Losung ih­ rer Probleme. Zu diesem Zwecke möge schon Jeder im Voraus über die große Autgabe nach­ denken und sich im Voraus seine Plane zurechtlegen. Ich weiß recht gut. daß der Einzrine in dieser Beziehung nur mangelhafte Vorschläge machen kann, denn nur aus den Gedanken und dem Willen .Aller können ersprießliche Resultate entstehen. Es ist hier wie mit der vielbespro­ chenen socialen Frage. Sie läßt sich nicht von oben herunter reglementiren, sie muß von unten herauf organtsirt werden. Nichts desto weniger will ich mir erlauben, einen Plan vorzulegen.

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der übrigens nichts weiter sein soll als eine individuelle Ansicht, die gewiß in einer Versammlung der besten und einsichtsvollsten Männern unsers Volkes bedeutende Umgestaltungen erleiden wird. Ich stelle hier den Grundsatz an die Spitze, daß der Staat die Kunst ebensowohl, wie Handel und Gewerbe, in seinen Schutz nehmen muß, denn wie Handel und Gewerbe sein materielles, so hebt die Kunst sein ideelles Wohl. Sie stärkt und kräftigt ihn geistig, und so hat er denn auch die Pflicht, ihr eine besondere Beachtung zu widmen, er muß ihr die reichlichsten Mittel an die Hand geben und ihr eine besondere Behörde, also ein Kunstministerium gründen, alle diejenigen Geschäfte übernimmt, die zur Hebung der Künste und ihrer Jünger erforderlich sind/) Wohlverstanden hat es indeß nichts mit der Aufstellung von Grundsätzen zu thun, indem der alte Fehler, Kunstrichtungen mit Gewalt zu schützen und zu protegiren, aufhören muß, damit in einer Angelegenheit, die gleichsam nur durch die Anschauung Aller geregelt werden kann, auch alle Betheiligten gehört werden. Da indeß in Angelegenheiten der Kunst nicht alle Künstler gehört werden können, so wird diesem Kunstministerium eine Versammlung von Schriftstellern, bildenden Künstlern und Musikern mit leitenden Beschlüssen zur Seite, oder gewisser Maaßen verstehen, die unter dem Namen Deutscher Kunsthof als Lenker der Kunstangelegenheiten an der Spitze stehen und aus der Wahl aller Künstler in bestimmten Fächern, die den Meistergrad erreicht haben, hervorgehen. Der ganze Kunsthof be­ steht aus fünfzehn Schriftstellern, aus fünfzehn bildenden Künstlern, von denen fünf Maler, fünf Bildhauer und fünf Architekten sind, und aus zehn Musikern. Kommen Angelegenheiten der einzelnen Fächer zur Berathung und zum Beschluß, so berathen die Fachgenossen für sich, gilt es die Interessen der Kunst im Allgemeinen zu vertreten, so tritt der ganze Kunsthof zusam­ men. Zu den Geschäften des Kunsthofes gehört zunächst, daß er eine große Kunstschule bildet. Es entsteht auf diese Weise gleichsam eine Akademie, welche sich nicht selbst nach dem absolu­ ten Bourbonensystem [1], selbst ergänzt, sondern stets frisch aus dem Volke hervorwächst und deshalb auch immer neues Vertrauen hervorruft. Freilich soll diese Schule nicht den Zweck ha­ ben, elementarisch zu wirken, sondern im Großen und Ganzen durch Beispiele und Verkündi­ gung von Ansichten ihre Wichtigkeit geltend zu machen. Vorlesungen und Unterhaltungen im großen Styl über die Literaturen aller Völker, Vorzeigen und Erklärung von Kunstmustem mit historischen Bemerkungen, musikalische Aufführungen von Meisterwerken aller Zeiten wer­ den einen würdigen Zweig der Beschäftigung abgeben. Ferner hat der Kunsthof als Jury die Prüfungen der Werke jeder Gattung vorzunehmen. Hierbei haben die Schriftsteller die Erzeug­ nisse der Poesie in jeder Beziehung, die Maler die Gemälde, die Bildhauer die Bildwerke, die Architekten die Pläne für Bauten und die Musiker die Compositionen vorzunehmen, und wenn sie das Werk als neu und künstlerisch erachten, dem betreffenden Künstler das Meisterrecht zu ertheilen. Das Meisterrecht aber soll zur Folge haben, daß Jeder, der es besitzt, Mitglied der *) Natürlich könnte dies auch ein Direktorium im Ministerium des Innern sein.

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großen Kunstinnung sei, von der ich später reden werde. Auch soll dem Kunsthofe das Recht zustehen, bei Besetzung von Stellen, dem Ministerium diejenigen Meister zu bezeichnen, welche zur Übernahme am geeignetsten erscheinen. Aus den Literaten werden, um ein Beispiel anzu­ führen, die Leiter der Bühnen und die Dramaturgen so wie die Lehrer der Literatur erwählt. Wer sich ferner unter ihnen für irgend einen andern Zweig eignet und sich neben der Kunst noch mit andern Angelegenheiten des Staates befassen will, der findet durch den Kunsthof die Vermittlung, um eine Stelle zu erhalten, die ihn hinreichend, aber nicht übermäßig, beschäftigt. Die Leistungen der bildenden Kunst sind schon an und für sich gebundener. Der Kunsthof be­ sorgt auch hier wieder die Besetzung von Stellen an Kunstschulen. Außerdem aber hat er die Entscheidung über die Ausführung von öffentlichen Gebäuden und Kunstwerken. Er bezeich­ net die Entwürfe, welche in Betreff von Kirchen und Staatsbauten ausgeführt werden, nachdem für diese Gegenstände eine allgemeine Concurrenz stattgefunden hat, und er wählt die Gemälde und statuarischen Bildwerke aus, welche für Galerien und Museen bestimmt werden. In der Musik bestimmt der Kunsthof die Leiter der Orchester und Opern. Damit aber auch dieser Areopag der Kunst nicht zu sehr in eine bestimmte Richtung verfällt, so findet alle drei Jahre eine neue Wahl statt. Auf diese Weise kann ein heilsamer Wechsel ins Leben treten, der nur dazu dienen wird, daß stets der Geist der Zeit sein Recht behält. So werden die Alten jung blei­ ben und die Jungen nicht alt werden. Die Wahl des Kunsthofes geht von der ganzen Kunstinnung aus. Diese wird gebildet durch alle Künstler, welche als Schriftsteller, Bildner oder Musiker das Meisterrecht erhalten haben. Sie kommen nämlich alle drei Jahre in irgend einer großen Stadt Deutschlands zusammen und wählen ihren Kunsthof oder wenn sie verhindert sind, bei der Wahl zu erscheinen, so können sie ihre Wahlzettel mit ihrer Namensunterschrift zum großen Scrutinium einsenden, bei dem relative Stimmenmehrheit entscheiden mag. Diese Zusammenkunft soll indeß noch andre Zwecke haben. Sie trägt den Namen Kunsttag und dient als Versammlung aller Künstler, gleichsam als Parlament für die Angelegenheiten der Kunst. Nur die Meister haben Stimmrecht, sonst sind die Sitzungen öffentlich. Neue Vorschläge kommen hier zur Berathung, Zwistigkeiten werden hier geschlichtet. Die Beschlüsse der ganzen Kunstinnung sind maaßgebend. Der Kunsttag findet jährlich statt und zwar abwechselnd in allen großem Städten des Vaterlandes. Vorläufig sind dazu vorgeschlagen: Frankfurt, Dresden, Berlin, Stuttgart, Hamburg, Wien, München, Königsberg, Köln und Breslau. Die Zahl dersel­ ben kann aber vergrößert werden, sobald ein lebendiges Bedürfniß eintritt. Zugleich aber gibt diese Zusammenkunft Gelegenheit zu großartigen Volksfesten, die, wenn sie recht verstanden und ausgeführt werden, für Deutschland werden müssen, was die olympi­ schen und corinthischen Spiele für Hellas waren. Vor allen Dingen sind es hierbei die Erzeug­ nisse der Gegenwart, welche zur Aufführung kommen. In der Poesie ist es vorzugsweise das Theater, was besondere Achtung verdient. Die besten dramatischen Werke werden dargcstellt und zwar von den besten mimischen Künstlern, für welche auf ähnliche Weise eine neue Schule gebildet wird. Die Vorlesung der epischen und lyrischen Gedichte, die der Kunsthof zu diesem

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Zwecke ausgewählt hat, kann ebenfalls nach Zeit und Umständen stattfinden. Um die bildende Kunst zu fördern, werden große Ausstellungen von Gemälden, Statuen und architektonischen Plänen veranstaltet, einestheils um den Kunstsinn im Volke anzuregen, andermheils, um den Künstlern Gelegenheit zur Anerkennung zu verschaffen. Endlich findet auch die Musik ihre Vertretung durch Aufführungen von Opern, Symphonieen und anderer Musikstücken, die ebenfalls von der Jury als besondere Auszeichnung dazu bestimmt worden sind. Es kommt aber hier nicht allein darauf an, den verschiedenen Kunstgenossen zu einem äußern Ruhm zu verhelfen, so lockend und angenehm derselbe auch sein mag; es handelt sich zugleich darum, ihnen auch ein sicheres Loos zu gründen, damit endlich einmal jene Armuth und Verkümmerung aufhöre, welche leider zu oft den besten Talenten einen Hemmschuh an­ legt. Dieses geschieht aber einestheils dadurch, daß man den Künstlern, je nach dem Erfolge ihrer Arbeiten und nach ihren innern Neigungen bestimmte Stellen in allen Zweigen der Kunst, der Wissenschaft und des Staatshaushaltes vermittelt, welche ihnen ein hinreichendes Einkom­ men sichern und zugleich Zeit genug übrig lassen, um sie nicht der künstlerischen Wirksamkeit zu entziehen. Anderntheils aber kommen hierzu Kunstpreise und Kunstbelohnungen, die nicht sowohl in großen Summen, die einmal für allemal ertheilt werden, sondern in kleinern jährli­ chen Einkünften bestehen, Welche sich mit jedem neuen Werke, dem der Kunsthof die Vortreff­ lichkeit zugesteht, steigern und somit dem Künstler eine fortwährend wachsende Rente gewäh­ ren. In dieser letzteren Beziehung steht das Urtheil über die Größe und Belohnung allein dem Kunsthofe zu, der nach der großem oder geringem Auszeichnung eines Gedichtes, einer bildne­ rischen Arbeit oder eines Musikstückes den großen oder geringem Preis bestimmt, während ihm das Recht zusteht, das Mittelmäßige und Unbedeutende entschieden zurückzuweisen. Fin­ den indeß hierbei offenbare Ungerechtigkeiten statt, so können diese auf dem Kunsttage zur Sprache und öffentlichen Verhandlung gebracht werden. Unter die Kunstbelohnungen gehören auch die Stipendien zu Reisen in fremde Länder, für deren Studium der eine oder andere Künst­ ler besondere Zuneigung beweist, zumal wenn er sich dort den Stoff für neue Werke zu holen gedenkt. Es frägt sich nun noch, wie die Mittel zu beschaffen sind, um die Existenz der Künstler zu sichern. Zunächst müssen ihre Werke sie selbst beschaffen. Diejenigen nämlich, welche sich das Lob der Vortrefflichkeit errungen haben, werden durch den Kunsthof für die Oeffentlichkeit bestimmt. Zu diesem Zwecke sind großartige Anstalten zu errichten, deren Kosten zunächst die Nation trägt. Alle guten Bücher werden hier in herrlicher Ausstattung gedruckt, die werth­ vollen Gemälde werden in Kupferstich oder Lithographien veröffentlicht, die Statuen werden in Gyps wiedergegeben, die bessern architektonischen Werke kommen zum Abdruck und die musikalischen Compositionen werden hier verlegt, um sie in das größere Publikum zu bringen. Was auf diese Weise gleichsam durch die ganze Nation anerkannt worden ist, das wird auch der wohlhabende und gebildete Privatmann in seinen Besitz bringen. Am häuslichen Heerde wird dadurch der Geschmack für die Künste lebendiger geweckt werden und an die Stelle des Ungeschmackes, der leider zu häufig ist, wird der Sinn für wahrhafte Schönheit und für klassi­ sches Maaß treten. Wo jetzt die sinnenkitzelnden Werke fieberhafter Aufregung ihren Platz ein­ nehmen, da muß in der Zukunft ein edles reines Erzeugniß des schaffenden Menschengeistes

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vorhanden sein. An Mitteln wird es auf diese Weise schwerlich fehlen, denn man weiß recht wohl, daß der Buch- und Kunsthandel, der doch vom Schweiße der Künstler existirt, vollkom­ men besteht und sogar überreiches Einkommen hat. Sollte aber selbst ein Deficit eintreten, so ist es die Pflicht der Nation, den fehlenden Bedarf zu dekretiren. Ein Volk, das nur Sinn für Handel und Gewerbe, Kasernen, Festungen und Gefangenhäuser hat, gehört noch nicht der Civilisation an, denn mit diesen Anstalten ist auch Rußland gesegnet. An den freien Schöpfun­ gen des freien Geistes erkennt man die wahre Bildung. Da aber in ihnen, wie ich später ausfüh­ ren werde, der Schwerpunkt freier Völker liegt, so wird auch Deutschland sich nicht scheuen, einige Millionen für Kunst und Künstler zu opfern.

[•..] 1 Die Akademien des Institut de France zu Paris, darunter die Academie française waren berechtigt, ihre neuen Mitglieder ohne jegliche Einflußnahme von anderer Seite auszuwählen.

Mäzenatentum oder Selbsthilfe

188 [Franz Dingelstedt]: Die deutsche Schillerstiftung [1], I. Vergangenheit. II. Zukunft. In: (Augsburger) Allgemeine Zeitung, Jg. 1865, 9. Januar u. Beil., 15. Januar, S. 129-130, 237-239. Hier S. 237-239.

[...] Wir haben Schiller-Jubiläum und Schiller-Lotterie als providentielle Glückssterne be­ zeichnet, unter welchen die Schiller-Stiftung ins Leben getreten. Mit gleichem Recht dürfen wir sie, die Stiftung, ein providentielles Glück für den Schriftstellerstand nennen. Lassen Sie uns diesen, ohne allzuweit auszuholen, hier einmal im Zusammenhang mit den neuesten Wendungen und Wandlungen des Schriftenthums betrachten. In Deutschland ist es noch nicht gar lange her daß er, der Schriftstellerstand, als solcher Sitz und Stimme in der Gesellschaft eingenommen. Kaum ein Menschenalter mag verflossen seyn seit der ehrliche Hit­ zig seine wohlgemeinte Warnungsstimme gegen »die Schriftstellerei als Lebensberuf- erhoben [2]. Bis dahin, sowohl im goldenen classischen Alter als unter dem silbernen Mondenschein der Romantik, galt die Regel daß die bürgerliche Existenz des Schriftstellers einen anderweitigen Beruf als den Diensten der Musen zur Unterlage haben müsse, ein Katheder, ein Secretariat, oft auch eine der freien Dichtkunst arg widersprechende Stelle, wie Weisse’s 3! Steuer-Einneh­ merei. Nur in ganz vereinzelten Fällen geschah es, daß sich da oder dort ein excentrischer Cha­ rakter, ein Stürmer und Dränger, so zu sagen aus der Pistole schoß, mit ledern bürgerlichen Beruf brach und als »Genie« lebte, so gut oder so schlecht es eben gieng. Erst der ehernen Neu­ zeit blieb es Vorbehalten jene Regel aufzuheben und diese Ausnahme zur Regel zu machen: das Schriftstellergeschlecht welches aus der Kadmussaat der beiden Revolutionen 1S Ü) und 1848

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erwachsen, hat das Verdienst einen neuen Stand, den Literatenstand, geschaffen zu haben. Ein zweifelhaftes Verdienst, wird man kopfschüttelnd sagen; wir glauben, alles Ernstes, das Gegentheil. Zur vollen und selbständigen Ausbildung jeder Nationalliteratur bedarf es eines aner­ kannten, emancipirten Literatenstands, unter welchen Wehen er auch aus dem kreißenden Schooß der Gesellschaft sich losgerungen haben mag, wie langsam er immer zur Volljährigkeit und Mündigkeit, zur Gleichberechtigung mit andern Ständen heranreifen kann. »Morgens zur Kanzlei mit Acten, Abends auf den Helikon,« [4] das geht nicht mehr, wie schon Platen emp­ funden; die Dichtkunst verlangt, gleich jeder Kunst, einen ganzen Mann, dem sie, wie die ka­ tholische Kirche den Ihrigen, das Cölibat auferlegen sollte, die Freiheit von Haus und Hof, von Amt und Würden. Zur selben Zeit in welcher der Schriftstellerstand in Deutschland sich constituirte, vollzog sich im Schriftenthum und in dessen äußerlicher Erscheinung, im Buchhandel, eine gleich cha­ rakteristische Wandlung. Die Stürme welche Staat und Gesellschaft umstürzten, warfen auch die Tagesliteratur über den Haufen; in die exclusive Atmosphäre der Belletristik, die über der Restaurationszeit mit ihren schöngeistigen Blättern und Almanachen, ihren vornehmen und vornehmthuenden Hofbühnen erstickend liegt, drangen neue stoffliche Elemente, und eine all­ gemeine Bewegung aller Geister, aller Kräfte, zunächst und zumeist dem öffentlichen Leben zu­ gewendet. Die erste, natürliche, nothwendige Folge dieser Bewegung in der Tagesliteratur war eine auflösende; der Fluth in der Politik entsprach Ebbe in der Belletristik, der Fluth in Blättern eine Bücher-Ebbe. Gegenwärtig hat sich dieser Zustand bereits so festgesetzt und so weit ausge­ bildet, daß die schöngeistige Literatur in ganz hervorragenden Erscheinungen bei der Politik zur Miethe wohnt, im Erdgeschoß der großen Tagsblätter, die sich über Nacht und aller Orten vermehren, und daß ein unternehmender Verleger im Jahr 1865 eine Roman-Zeitung [5], an­ scheinend mit Glück, herausgeben kann, während, vor 20 Jahren etwa, die an sich vortreffliche Roman-Bibliothek eines andern gleich tüchtigen und bemittelten Buchhändlers keine bleibende Stätte zu finden vermochte [6]. Man unterschätze diese und ähnliche Erscheinungen nicht; sie haben, als Symptome eines culturhistorischen Processes der sich unter unsern Augen vollzieht, hohe Bedeutung. Bald wird es, trotz der äußerlichen Vermehrung literarischer Production und Consumtion, dahin gekommen seyn daß das deutsche Publicum nur noch liest wie es lebt: per Eisenbahn und Telegraphen, hastig, wechselnd, unstät - in großen Massen, aber in kleinen Bis­ sen, die im Flug genossen, im Flug verdaut werden - von der Hand in den Mund, von heut auf morgen, alle Gerichte ragoütartig in einander gemengt, abgenagte wissenschaftliche Kno­ chen in einer populären Sauce, politische Brocken, schöngeistig angemacht, Poesie politisch ge­ würzt, jede Schüssel mit Asa foetida [7] oder Knoblauch aus der Höllenküche der Partei ver­ setzt, für wenig Geld so viel Waare wie möglich, zur Ersparung jeder eigenen Denkthätigkeit des bequemen Lesers mit Illustrationen für kleine und große Kinder zurecht gemacht; eine »ge­ meinnützige« Tagesliteratur in Blättern und Flugschriften, die keine andere Quelle und keinen andern Zweck hat als die Speculation, in welcher alle Tendenzen der Neuzeit auf- und Zusam­ mengehen. Der Leser wendet sich mit Widerwillen ab von einem Bild das er ähnlich finden muß, nicht obgleich, sondern weil es eine Caricatur. »Ouöev itpog Aiövuoov,« [8] ruft er uns zu; »wie

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kommen diese Gemeinsätze in einen Artikel über die Schillerstiftung?« Wir werden den Zusammenhang alsbald gewahr werden, wenn wir unsere Betrachtung noch um einen Schritt weiter, auf einen politischen Standpunkt geführt haben, der ebenfalls in unsern Gesichtskreis fällt. Die deutschen Staatskünstler haben durch ihre Eroberungen, politische wie moralische, seit einem Menschenalter so überaus glücklich und glänzend operirt, daß dem Gebiet deutscher Cultur und Literatur eine Provinz, eine Colonie nach der andern verloren gegangen ist. Man frage in unsern großen Verlagshandlungen einmal nach wie sich ihr auswärtiger Absatz von heute zu demjenigen vor dreißig, vierzig Jahren verhält. Damals gehörten der skandinavische Norden, Rußland, Polen, Ungarn, Böhmen, die Donaufürstenthümer, wenn nicht ausschließ­ lich, so doch vorwiegend dem deutschen Geist; unsere Sprache, unsere Literatur war maßge­ bend in jenen weiten und reichen Landstrichen. Jetzt aber? Nicht der Slave, Pole, Tscheche al­ lein, nein, auch der germanische Stammverwandte, Däne, Schwede, Britte, sind aus unsern Geistesvasallen Gegner geworden; sie bauen auf dem neuentdeckten Grund des Nationalitätsprincips, mit Mitteln die sie uns abborgen, zum großen Theil gewaltsam ihre eigenen Literatu­ ren an und auf: ein tschechisches Conversationslexikon verschlingt das deutsche, eine ungari­ sche Akademie macht offene Propaganda gegen das Deutschthum, in allen Winkeln erheben sich auf den Trümmern deutscher Schauspielhäuser fremde Nationaltheater, sogar ein ruthenisches darunter! Wie weit das Machtgebiet deutscher Sprache im täglichen Handel und Wandel bereits zusammengeschmolzen ist, beweist z. B. eine Wanderung durch eine echtdeutsche Stadt, die Wiege unserer ältesten Hochschule, Prag; vor dreißig Jahren wagten sich an dortigen Stra­ ßenecken und Ladenschildern tschechische Lettern und Worte nur vor den Schenken und Ver­ kaufslocalen unterster Gattung schüchtern an das Licht; jetzt dominiren sie überall, und das Deutsche wird nur noch als dienstbare Uebersetzung nachgeschleppt. Man erachte dergleichen Erscheinungen nicht als Kleinigkeiten; sie bedeuten und prophezeien mehr als es auf den ersten Wink scheinen mag. Deutsche Sprache und Literatur verlieren von Tag zu Tag an Terrain zu geschweigen von dem ungeheuren Vorsprung den auf der andern Seite der französische, der englische Autor vor dem deutschen hat, in der Sprache allein, und durch internationale Verträge zur Sicherung geistigen Eigenthums [9], welche jenem Vortheile jeder Art zuführen ohne reelle

Gegenseitigkeit für diesen. Was folgt daraus? Immer und überall, »hic et ubique,« das eine und dasselbe: daß eine deutsche Literatur und ein deutscher Schriftstellerstand im rechten höchsten Sinn nur bestehen können auf dem Grund eines nationalen Gesammtlebens, gesicherter Rechtsverhältnisse im Innern, gesicherter Machtverhältnisse nach außen. Ferner, daß so wenig heute wie vor fünfzig Jahren der Schriftstellerstand als solcher in Deutschland einen festen und fruchtbaren Boden unter sich hat, daß im Gegentheil — in dem Verhältniß wie sich der Zugang zur schönen Litera­ tur durch die Feuilletons erleichtert hat — die Schwierigkeiten einer dauernden, verbürgten bür­ gerlichen Existenz für den Schriftsteller gewachsen sind. In England, in Frankreich ernährt die Feder ihren Mann, sie gewährt ihm und den Seinigen nicht nur des Leibes Nothdurft, sondern den Ueberfluß: in Deutschland muß der producirende Schriftsteller von einer zXrbeit zur andern seine und der Seinigen Existenz verdienen, wobei der Verdienst das Verdienst keineswegs zu decken pflegt, und die Sorge um die Zukunft den täglichen Kampf mit der Gegenwart noch

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erschwert. Speculanten in Literatur, Zeitungsunternchmer können heutigen Tags auch bei uns zu Land reiche Leute werden, an der Börse spielen, Stadt- und Landhäuser kaufen, in eigener Equipage fahren; der Producent aber, der Dichter, der Literat, und wär * er der beste und höch­ ste, vermag von seiner Geistesarbeit nicht einmal so sicher zu leben wie der geringste Taglöhner es thut von der seiner Hände. Man replicire uns nicht: »weil es eben an Besten und Höchsten fehlt;« wir dupliciren mit dem Fingerzeig auf Schiller und Goethe, die einem Victor Hugo und Charles Dickens in ihrem unsterblichen Theil so himmelhoch überlegen sind wie sie in ihrem sterblichen ihnen nachgestanden. Man beruhige uns auch nicht durch die Verweisung auf Bun­ destagsgesetze und internationale Verträge zum Schutz des geistigen Eigcnthums, auf Stipen­ dien für Literaten in Wien, Dramenpreisc in Berlin, Dichterpensionen in München [10]; das sind vereinzelte, wenn auch sehr löbliche und dankenswerthe Maßregeln, unnachhaltige Pallia­ tive in den meisten Fällen, in manchen bedenkliche Reizmittel. Was nützt z. B. dem deutschen Theaterdichter die Sicherheit daß sein Stück in Paris und London nicht gegeben werden darf, solange reichdotirte Hofbühnen seines eigenen Vaterlands ihm (wenn sie es aufführen) einen »Ehrensold« dafür zuwerfen den sie einer fahrenden Sängerin oder Tänzerin anzubieten sich wohl hüten würden, während die kleinen Wanderbühnen nach wie vor vom Manuscriptendiebstahl leben, und privilegirtc Theatcragenturen von den kärglichen Honoraren den Rahm in Wucherhaften Provisionsgebühren abschöpfen? Nein, für so allgemeine Mißstände bedarf es eines gleich allgemeinen Correctivs. Und dieß war - handgreiflich, providenticll, wie wir sagten - gegeben in der Schillerstiftung. Eine gütige Fee legte dem neugeborenen Literatenstand eine halbe Million in die Wiege, als Pathcngeschenk von demjenigen der in seinem eigenen Erdenwallen das Martyrthum eines Schriftstellerstandes ohne Schiller-Stiftung bedeutungsvoll präfigurirte [111. Was that aber, was thut bis zur Stunde die Literatur, die Presse, der Schriftstellerstand für dieses sein freies Eigenthum, für den Hort seiner Zukunft? Wir wollenes ihnen vorhalten, sine ira et Studio, wo möglich. Diejenigen unter uns welche der Schiller-Stiftung nicht zu bedürfen glaubten, giengen ihr von ihrem Beginn an behutsam aus dem Weg: die einen, weil sie demokratische Elemente in ihr witterten, die andern weil sic mit dem Proletariat, mit dem Elend der Literatur nicht in Berührung kommen wollten. Auf der entgegengesetzten Seite kämpften die sogenannten Demokraten gegen angebliche ari­ stokratische Tendenzen in der Stiftung, gegen die Windmühle der »Akademie.« Hochgelahrtc Herren [12], geschlagen mit jener Stockblindheit die den deutschen Professor, in allem was nicht dicht unter seinem Katheder liegt, kennzeichnet, schleuderten einen »grimmigen« Bann­ fluch auf die junge Anstalt. Die wenigen, in der That nur Ausnahmen, die sich mit der Sache überhaupt befaßten und befassen, faßten sie, nach urdeutscher Art, nicht als Sache auf, sondern als persönliche oder örtliche Angelegenheit; aufs Haar so wie man in der Paulskirche um Grundrechte und Centralgcwalt raufte, indessen schon allen der Grund und die Gewalt unter den Hülsen wich, aus den Händen schwand, accurat so rauft man sich seit fünf Jahren in der Schiller-Stiftung um das Lotterie-Erträgniß, um Satzungen, Geschäftsordnung, Vorort und Vcrwaltungsrath.... »Es ist eine alte Geschichte, Doch bleibt sie ewig neu.

Und wo sie just passiret, Da ruft man die Polizei.«

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Sie wird sich - weder ungehört noch ungestraft! - rufen lassen. Was gestern in Dresden geschehen ist [14], kann beim ersten besten Anlaß, um nicht zu sagen Vorwand, morgen an­ derswo, übermorgen überall sich wiederholen. Die väterliche Hand des Staats legt sich, kraft der ihm zustehenden Oberaufsichtsrechte oder absonderlicher Vorbehalte, an das Heft der Stif­ tung, das jetzt schon an den meisten Orten nicht von Schriftstellern, sondern von Staats- und Communalbeamten, Aerzten, Advocaten, Buchhändlern und Bankiers etc. geführt wird, und in Jahr und Tag ist die Schiller-Stiftung - wenn auch nicht ihrem eigentlichen Zweck, das will und kann endlich niemand - so doch ihrer freien Selbstverwaltung und Selbstbestimmung ent­ zogen. Um solch ein schmähliches Ende einer glorreichen Errungenschaft, ein so offenkundigs Armuthszeugniß dem deutschen Schriftstellerstand zu ersparen: was hat er dafür zu thun, was hätte er von Anfang thun sollen? Wir raffen, zum Schluß eilend, unsere Antwort auf diese Zukunftsfragen der deutschen Schiller-Stiftung in folgende einzelne Sätze zusammen: 1) Wie der achtzehnte October [15] im Kalender als »Tag aller Deutschen« steht, so werde der zehnte November [16] der Tag aller Schriftsteller, unser Belle-Alliance [17] und Leipzig zu gleicher Zeit. Veranstaltet an diesem Tag festliche Versammlungen und Sammlungen, Con­ certé, Vorlesungen und Schauspiele für die Schiller-Stiftung. Redet - (ihr redet ja so gern, und zuweilen so gut) redet vom Katheder, von der Tribüne, von der Bühne herab zum Volk über die Bedeutung des Tags, der seine schönste Feier gebar, und ihm, wenn durch kein besseres Motiv, durch Gewohnheit allmählich so gut wie der Geburtstag eines Landesherrn oder Kir­ chenpatrons ein Festtag werden kann zu nationaler Erhebung und Sammlung. Nennt nicht, wie ihr pflegt, einen derartigen Vorschlag »unpraktisch;« wir widerlegen euch durch die Praxis. Wien führt ihn seit fünf Jahren mit bestem Erfolg durch; Kaiser Franz Joseph steuert alljährlich am 10. Nov. einen namhaften Beitrag zur Schiller-Stiftung, wie denn überhaupt die Wiener Zweigstiftung [18] fortwährend ihre Ehrenaufgabe als solche in echt nationalem Sinn und großartigem Corporationsgeist aufgefaßt und behandelt hat. 2) Vermehret die Zahl der Zweig-Stiftungen. Schämt euch, wo möglich, daß nach fünfjähri­ gem Bestand der Stamm nur 22 Schößlinge getrieben, deren er hundert haben könnte und sollte; unter diesen 22 einige so durchaus lebensunfähig, daß sie der Gesammtheit mehr kosten als eintragen. Wo in deutschen Landen eine Universität »blüht,« oder eine namhafte Buhne, oder eine tüchtige Zeitung, da sollte auch eine Zweig-Schiller-Stiftung begründet werden. Spruch­ wörtlich reiche Länder, Hannover, Mecklenburg, Pommern, Holstein, und dergleichen Städte, wie Bremen im Norden, im Süden Augsburg, haben bis zur Stunde nicht eine einzige ZweigStiftung (mit Ausnahme Nienburgs) aufzuweisen. 3) Wer ein Recht hat sich Schriftsteller zu nennen, der fühle und erfülle auch die Pflicht etwas für die Schiller-Stiftung zu thun, sey es mit der Feder oder aus dem Beutel. Sammelt euch um ihre Fahne, eingedenk der unumstößlichen Wahrheit daß alle Lebenslautc deutscher Schritt­ steiler (sofern sie kein Amt besitzen oder kein eigenes Vermögen) am Ziel in die Schiller-Stiftung münden. Sie ist für euch, für eure Wittwcn und Waisen die nächste, natürlichste Lebensversicherungsanstalt, die obendrein ohne Einzahlungen zahlt. Lür euern Stand, den jungen, unmün­ digen, von vielen Seiten noch mit vorurtheilsvollen und mißtrauischen .Augen angesehenen

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Schriftstellerstand, gibt sie das einzige, aber auch ein festes und dauerndes Band ab das ihn Zu­ sammenhalt. Sie kann unser Paris und London werden, ein genügender Ersatz für den mangeln­ den örtlichen Mittelpunkt literarischen Lebens und Strebens. 4) Innerhalb der Schillerstiftung zieht die verschiedenen Kreise schriftstellerischer Vereine, jeden für sich, aber alle mit dem ihrigen concentrisch. Ihr habt in ihr den festen Punkt gefunden wo ihr den mächtigen Hebel der Association einsetzen könnt. Ein Verein zur Hebung der Büh­ nenzustände z. B., wie der Shakespeare-Verein [19] in Dresden werden will, würde seine leben­ dige Gliederung, seine natürlichen Agenten gewissermaßen fertig und vorhanden finden, wenn er an die Schillerstiftung angeknüpft hätte. Sobald sie einen allgemeinen deutschen Schriftstel­ ler-Verein darstellt, bietet sie Raum und Kräfte, Stoff und Mittel für alle Aeußerungen und Richtungen des literarischen Lebens in Deutschland. Ihr könnt einen neuen Musen-Almanach aus ihr bauen, zur Züchtung eures lyrischen Nachwuchses, ein kritisches Organ, frei von den Interessen großer Verleger und kleiner Coterien, einen Verein dramatischer Dichter, der euch von den Theater-Agenturen emancipirt. Alles ohne Bruch an den Satzungen: sie gebieten den verdienstvollen Schriftsteller, namentlich in Fällen äußerer Noth, zu unterstützen; aber sie ver­ bieten nicht wiederum in geeigneten Fällen Gegendienste von ihm zu verlangen, und gewiß, mancher unserer Legatäre und Pensionäre würde leichteren Herzens nehmen, wenn er zurück­ geben dürfte, sey es eine bestimmte Leistung für die Stiftung, eine Betheiligung an ihrer Verwal­ tung, oder ein literarisches Gegengeschenk für die Zwecke, die Unternehmungen der Stiftung. 5) Wer aus der Schillerstiftung empfangen hat, der verschwinde nicht, besten Falls mit einem höflichen »Vergelt’s Gott« an den Verwaltungsrath, hinter der nächsten Straßenecke. Er gebe der Wahrheit die Ehre und zeuge für die Heilsamkeit, die Nothwendigkeit der Stiftung. Bis jetzt hört das Publicum nur das Zetergeschrei der Abgewiesenen, die sich in jedem einzelnen Fall doppelt gekränkt fühlen müssen, in ihrer literarischen Ehre wie in ihrem materiellen Interesse. Kein Wunder daß sie dieses vermeintliche Unrecht an der Stiftung und ihren Organen strafen und Vorurtheile, Zank und Hader aller Art erregen, die von den Betheiligten, weil sie Partei sind oder scheinen, nicht völlig beseitigt werden können. Hier, vermittelnd und aufklärend, für die Stiftung einzutreten ist Sache derjenigen welche an sich selbst ihre Segnungen erfahren ha­ ben. 6) Erweitert und benützt den Verband der Schillerstiftung zu persönlichen Zusammenkünf­ ten deutscher Schriftsteller. Wie manche vorgefaßte Meinung, wie manche Antipathie, wie manche Differenz sind geschwunden durch eine Begegnung Aug’ in Auge, Mann gegen Mann, aber offen und ehrlich! Das gleiche würde in der Schillerstiftung der Fall seyn, betrachtete die deutsche Schriftstellerwelt ihre Verhandlungen nicht immer aus der Ferne, durch die theilweise recht grob gefärbten Gläser der Referate in Tagesblättern. Kommt selbst, zu sehen und zu hören wo um eure nächsten Interessen berathen und gestritten wird. Laßt die Generalversammlungen der Stiftung zu Reichstagen der deutschen Schriftsteller-Republik werden, mögen sie auch wie polnische mitunter sich gebärden und gebahren. Wir brechen ab, so manches auch noch zu sagen und zu wünschen bliebe. Werden doch schon diese flüchtigen Umrisse einer zukünftigen Entwicklung unserer theuersten nationalen Stiftung dem Realisten zu ideal, dem Idealisten zu realistisch, dem Aristokraten demokratisch, und um-

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gekehrt, erscheinen. Sey es drum. Wir geben sie, aus bester Ueberzeugung nicht allein, sondern auch aus praktischer Erfahrung, und werden, soviel an uns liegt, nicht ermüden in der persön­ lich so undankbaren wie sachlich lohnenden Arbeit für ein Werk das uns, trotz seiner getrübten Gegenwart, eine lichte und freie Zukunft zu haben scheint. 1 s. Einf. 2 Julius E. Hitzig (1780-1849), Jurist, enger Freund und Nachlaßverwalter E. T. A. Hoffmanns. 1838 kam in der Berliner Vereinsbuchhandlung seine Broschüre heraus: Ueber belletristische Scbriftstellerei

als Lebensberuf. Ein Wort der Warnung für Jung und Alt.

3 Christian Felix Weiße (1726-1804). Anakreontischer Lyriker, Dramatiker, vor allem Jugendschrift­ steller (Der Kinderfreund). Ab 1761 Sinekure als Kreissteuereinnehmer zu Leipzig. 4 Zitat aus Platens (1796-1835) satirischem Lustspiel: Die verhängnisvolle Gabel (1826). Die Stelle ge­ gen Ende des 1. Aktes lautet im Kontext: »Wollt ihr etwas Großes leisten, setzet euer Leben dran!/Keiner gehe, wenn er einen Lorbeer tragen will davon/Morgens zur Kanzlei mit Acten, Abends auf den Helikon./Dem ergibt die Kunst sich völlig, der sich völlig ihr ergibt,/Der die Freiheit heißer, als er Not und Hunger fürchtet, liebt.« 5 s. Einf. und Dok. 200, S. 639—41. 6 Wohl Irrtum des Verfassers. Gemeint ist die knapp 12 Jahre zuvor begründete Deutsche Bibliothek des Frankfurter Verlegers Meidinger (s. Einf.). 7 Teufelsdreck, übelriechendes und widerlich schmeckendes pflanzliches Heilmittel. 8 Altgriechischer Ausruf, etwa: »(Ich begreife das) durchaus nicht, beim Dionysos!« 9 Bis zur Berner Konvention von 1886 bestanden internationale Urheberrechtsverträge nur mit einzelnen deutschen Staaten, nicht mit dem Dt. Bund bzw. Reich. Diese waren jedoch auf Gegenseitigkeit abge­ schlossen und boten deutschen Autoren denselben Schutz wie englischen und französischen. Der Ver­ fasser spielt wohl auf die Schutzlosigkeit geistigen Eigentums deutscher Schriftsteller in den Nach­ drucksländern Holland und Belgien an, vielleicht auch auf die unbedeutende Rolle der deutschen Literatur auf dem Weltbuchmarkt, vor allem bei Übersetzungen. 10 Wiener Literatenstipendien konnten nicht ermittelt werden, in Berlin wurde 1859 von Prinz Wilhelm, dem späteren Kaiser, ein Schillerpreis für Dramen gestiftet, König Maximilian II. gewährte in München Pensionen an die von ihm an den Hof gezogenen Mitglieder des »Münchner Dichterkreises«. 11 Nach der endgültigen Konstituierung der Schiller-Stiftung 1859 wurde auf Betreiben eines sächsischen Majors Serre eine großangelegte Schiller-National-Lotterie durchgeführt, die einen Reinertrag von 451248 Thalern erbrachte, wovon allerdings nur 300 000 an die Schillerstiftung gingen, der Rest an die mit ihr organisatorisch und personell verflochtene Tiedge-Stiftung. 12 Anspielung auf einen Angriff Jacob Grimms in seiner 1859 gehaltenen Rede auf Schüler (Berlin 1860, S. 37 f.). 13 Nach Heines 1822 erstmals gedrucktem Gedicht: Ein Jüngling liebt’ ein Mädchen. Zeilen 3 und 4 ver­ ändert. 14 Auf stiftungsinterne Zwistigkeiten hin hatte die sächsische Regierung 1864 den Dresdener und Leipzi­ ger Zweigstiftungen verboten, ihre Gelder dem neuen Vorort Weimar zur Verfügung zu stellen. 15 Die »Völkerschlacht bei Leipzig« vom 16. bis 19. Oktober 1813 brachte den entscheidenden Sieg gegen Napoleon. 16 Schillers Geburtstag (1759). 17 Name eines Gasthauses bei Waterloo, wo am 18. Juni 1815 mit der Niederlage Napoleons gegen Blü­ cher und Wellington die Herrschaft der 100 Tage endgültig beendet wurde. 18 Die Wiener Zweigstiftung der Schiller-Stiftung zählte zu den finanziell bestausgestatteten. Der Beitrag des österreichischen Kaisers betrug 500 fl. jährlich. 19 Überdiesen Verein konnte nichts Genaueres ermittelt werden. Er dürfte ein lockerer Zusammenschluls von Bühnenautoren gewesen sein, der vor allem für eine Regelung der I antiernenirage und engeren Kontakt mit den Theatern eintrat - vielleicht ging aus ihm 1871 die Deutsche Genossenschaft drama­ tischer Autoren und Componisten hervor.

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189 [Gustav Freytag]: Fürst und Künstler. [1] In: Die Grenzboten 25/1, 1 (1866), S. 34-36. Hier S. 35-36. [...] Es hat in Deutschland eine Zeit gegeben, wo die Gunst der Mächtigen dem Künstler unent­ behrlich war. Sie vorzugsweise gaben ihm durch ihre Aufträge die Möglichkeit zu gedeihn, sie waren seinem äußern Leben Schutz und Schirm, in ihren Kreisen waren vorzugsweise die Cha­ raktere und Stimmungen, die sichere und selbstbewußte Auffassung des Lebens zu finden, die der Künstler für seine Kunst nicht missen kann. Diese Zeit ist nicht mehr. Nur für den Maler, Bildhauer und Architekten dauert sie noch in gewissem Sinne. Die Kunst der Gegenwart wird von der ganzen Nation getragen, wenn dem Künstler gelingt, ihren Herzschlag in seinen Kunst­ werken wiederzugeben, bedarf auch sein äußeres Leben keiner anderen Stütze. Unsere Fürsten aber sind ebenfalls tief von den realen Interessen der Zeit umfangen, sie sind Geschäftsmänner geworden wie wir andern auch, ihr hoher Beruf fordert so vielfachen Aufwand ihrer Theilnahme, daß ihnen die Kunst, grade wenn sie ihrem Berufe Genüge thun, nur Schmuck und Unterhaltung weniger Stunden werden kann. Wenn sie sich auch mit Kunstinteressen umgeben, so thun sie dies doch in der Regel nur mit flüchtigem Antheil oder aus dem Bestreben, Bedeuten­ des zum Schmuck ihres Lebens an sich zu fesseln. Eine wirkliche, warme und herzliche Freude an dem Werdenden in der Kunst ist bei den Regenten größerer Staaten nur selten und wird dem Lauf der Dinge nach noch seltner werden. Sie selbst müssen zufrieden sein, sich einigermaßen die reichen Resultate der schöpferischen Volkskraft zugänglich zu machen, und vermögen nicht mehr als Kunstkenner und Kunstrichter den Vorrang vor andern Sterblichen zu behaupten. Ja sogar als Auftraggeber sind sie nicht mehr nach allen Richtungen die vermögendsten Förderer der Kunst. Viele der deutschen Landesherren sind reich unter uns angesiedelt, aber sie schalten nicht mehr unbeschränkt mit dem Staatssäckel, und der Bedarf ihrer gewohnten fürstlichen Existenz, die Ansprüche, welche an ihre Privatchatouille gemacht werden, sind ebenfalls in ra­ scher Steigerung begriffen. Schon geben wohlhabende Communen und reiche Privatleute den meisten Künsten reichlichere Beschäftigung, als unsere Fürsten zu geben vermögen. Für das persönliche Selbstgefühl des Künstlers sind diese modernen Förderer weit bequemer, für seine Kunst lassen sie allerdings auch noch zu wünschen übrig. Unsere Hoftheater z. B. sind im Gan­ zen immer noch besser, als die Stadttheater. Wenn der Künstler aber Diener eines Fürsten wird, als Beamter des Staats oder des Hofes, so wird er dem Ehrgeiz entsagen, Vertrauter zu werden oder ein Geschäftsmann seines Herrn, der sich auch um Anderes kümmert als um seine Kunst. An dem gewählten Lebensberuf festhal­ ten und bescheiden nichts Anderes treiben, das ist Pflicht in unsrer unsicher vorwärtsringenden Zeit, wo dem Künstler die Lehrzeit nicht kurz zugemessen ist, die Meisterschaft schwer erwor­ ben wird. Auch von dem Künstler gilt, daß er zu einer Specialität seines Faches werden muß, um in der Kunst das Höchste zu leisten. Es ist nur wenigen vergönnt, sowohl Landschafter als Historienmaler, Operncomponist und Meister der Concertmusik zu werden. Und geht man der Sache auf den Grund, so gehört der Künstler doch in die Kreise der

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menschlichen Gesellschaft, in denen er vorzugsweise die Vorbilder für seine Kunstgebilde, so wie das wärmste Verständniß für seine Werke findet. Billige Schätzung kann nicht zugeben, daß zur Zeit unsere Fürstenhöfe vorzugsweise solche Stätten sind. Wie fein und stilvoll ausge­ bildet dort die Formen des Verkehrs, wie edel gehalten der Ausdruck einer menschlichen Emp­ findung dort sein möge - und diese Vorzüge haben nicht wenige unserer Höfe bewahrt - un­ gleich reicher, frischer, unbefangener und charakteristischer äußert sich jetzt die Lebenskraft des Volkes in den mitteln Schichten der Gesellschaft, welche gleich weit entfernt von der Isolirung der Höhe und dem beschränkten Blick der Tiefe Bewahrer und Verbesserer unsrer Bildung, unsres Wohlstands, unsrer Sitte sind. Den Historienmaler wird doch wahrscheinlich der Ver­ kehr mit Solchen am besten fördern, deren Freude an unsrer historischen Entwicklung vorzugs­ weise innig ist, den Musiker der Verkehr mit den Gemüthvollsten aus der großen Schaar gebil­ deter Hörer; sogar der tragische Held und Tyrannenspieler wird in dem vorsichtig gehaltenen Wesen unsrer großen Herren nicht mehr ganz das Ideal seiner Helden erkennen, und ebensowe­ nig der Bildhauer, welcher den Ehrgeiz hätte, nur Reiterstatuen zu modelliren, d. h. die heiden­ mäßigen Gebilde, welche unsre erlauchten Herren immer noch für ein Hausprivilegium fürstli­ chen Blutes halten. Der Künstler hat thatsächlich aufgehört Client der Vornehmen zu sein, er ist der Schützling eines großen Volkes geworden, und er soll sich doch hüten, diese unabhängige Stellung aufzu­ geben. 1 Geschrieben aus Anlaß der Trennung Richard Wagners von seinem königlichen Mäzen Ludwig II. von Bayern.

Die Entfremdung zwischen Autor und Publikum

190 Robert Prutz: Literatur und Literaturgeschichte in ihren Beziehungen zur Gegenwart. In: Deutsches Museum 8/II (1858), S. 868—883, 897-913, 936-946. Hier S. 871-876. [Neudruck Prutz: Die deutsche Literatur der Gegenwart 1848 bis 1858. Bd. 1 Leipzig 1859, S. 11-17],

[...] Für die Literatur lag darin [1], wie es schien, ein außerordentlicher Triumph. Nun hatte sich ja erfüllt, was sie solange theils warnend, theils frohlockend vorausgesagt, nun war ja eingetrof­ fen, wovon sie solange gesprochen, bald offen, bald versteckt, ja was, in den inannichfachsten Modulationen, seit mehr als einem halben Menschenalter den eigentlichen Grundton der Lite­ ratur gebildet und wofür sie selbst soviel Angriffe und Verfolgungen, soviel Zurücksetzungen und Knechtungen erduldet hatte. Unsere Dichter hatten nicht gelogen, sie waren nicht von

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Traumbildern umnebelt gewesen, die heißen Köpfe, die aus der Stille der Nacht emporgefahren waren, nach den nahen Sturmglocken zu horchen, der Glaube, den sie so stolz verkündet, hatte sie nicht getäuscht, die Freiheit, an der ihr Herz so hoffnungsvoll gehangen, war kein Phantom - da wandelte sie ja hin, leibhaftig vor allem Volk, und selbst das Blut, das ihr Gewand benetzte, wie stand es ihr in den Augen unserer jungen Dichter so schön! Aber nicht blos die Literatur selbst, auch die Literaturgeschichte konnte mit einer gewissen Befriedigung auf den Weg, den sie bis dahin gegangen war, zurückblicken. Freilich fiel die Gewaltsamkeit der Ereignisse ihrem friedlichen wissenschaftlichen Sinne einigermaßen unbe­ quem: gewöhnt an stetige, organische Entwickelungen, würde sie es ohne Zweifel lieber gese­ hen haben, wäre dieser Uebergang minder stürmisch, dies Hereinbrechen einer neuen Zeit min­ der tumultuarisch und plötzlich gewesen. Und auch darüber konnte sie sich nicht täuschen, daß ein guter Theil der Popularität und des Einflusses, dessen sie bis dahin genossen, unter den gewaltigen Erschütterungen dieser Zeit verloren gehen mußte. Wer hatte jetzt, wo ein Ereigniß das andere drängte, noch Zeit, wer noch Lust, noch Fähigkeit, sich um Bücher und Schriftsteller zu kümmern? Was galten in diesem Augenblick, da die Schwerter klirrten und ein allgemeiner sehnsüchtiger Ruf nach großen Män­ nern, Männern der That und des Handelns durch die Welt ging - was galten jetzt noch die Dich­ ter, die Künstler? Die Literaturgeschichte befand sich in der Lage eines Erziehers, der jahrelang sein ganzes Sinnen und Trachten darauf verwendet hat, seinen Zögling groß zu ziehen und für das Leben reif zu machen, und siehe da, da er es nun ist, so wendet er dem Erzieher den Rücken und läßt ihn einsam zurück.... Es kam dazu, daß offenbar die Literatur selbst ebenfalls einer Krisis entgegenging. Sie war sogar schon mitten darin; man sprach schon mit Geringschätzung von Kunst und Wissenschaft, man erklärte schon, nachdem man sich solange lediglich an Büchern genährt hatte, ein neuer Brand von Alexandria [2] sei gar so übel nicht und nachdem unsere Dichter und Schriftsteller solange das große Wort geführt, so werde es nun ganz in der Ordnung sein, wenn sie jetzt auf einige Zeit verstummten. Amerika, das Land (wie man damals noch glaubte) der Freiheit als solches, hat auch keine Singvögel, und so wird ja auch ein Volk, das übrigens nur hat was es bedarf, der Poeten und Schöngeister wol einige Zeit entbehren können.... Das waren schlechte Aussichten, wenigstens für Gelehrte und Dichter. Aber immerhin, man fand sich darein um des großen Zweckes willen, den man dadurch zu fördern glaubte. Literatur und Literaturgeschichte hatten, so schien es, für den Augenblick ihre Mission vollendet; seit Jahren waren sie sozusagen über sich selbst hinausgegangen, seit Jahren hatten sie die Nation immer und immer wieder darauf hingewiesen, daß Kunst und Wissenschaft allein nicht hinrei­ chend, ein Volk groß und glücklich zu machen, ja daß Kunst und Wissenschaft selbst ihre Blüte auf die Dauer nicht behaupten können, wenn sie nicht in dem Boden eines thätigen, selbstbe­ wußten Volkslebens wurzeln, nicht der Himmel der Freiheit auf sie herniederstrahlt. Dieser Himmel hatte sich jetzt entwölkt. Die deutsche Nation, bis dahin der Spott unter den Völkern Europas, war plötzlich erwacht und hatte eine Thatkraft entwickelt und eine Kühnheit bewiesen, welche aller Berechnungen spottete. Mußte die Literatur denn nun auch für einige Zeit verstummen, mußten Kunst und Wissenschaft zurücktreten, was schadete es, da ja das

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neue politische Leben, das sich bei uns zu entwickeln im Begriffe stand, die neue großartige Geschichte, der wir entgegengingen, nothwendig auch Poesie und Wissenschaft einen neuen großartigem Inhalt verleihen, ihr neue Kraft, neues Leben einhauchen mußten? Und angesichts dieser Zukunft, die nun ja schon gar nicht mehr ausbleiben konnte, wer von unsern Dichtern, unsern Schriftstellern hätte so eitel, so engherzig sein mögen, der Dunkelheit zu grollen, in die er einstweilen zurücktreten mußte, und hätte den Lorber, mit dem er sich schon zu schmücken gedachte, nicht mit Frohlocken niedergelegt auf den Altar des Vaterlandes?... Nun, wir wissen jetzt und wissen zur Genüge, was aus diesen und ähnlichen Hoffnungen geworden ist und in welchen bittern Wermuth die geträumten Lorbern unserer Zukunft sich verwandelt haben. Wessen die Schuld, daß es so und nicht anders gekommen, dies zu erörtern, wäre theils überflüssig, indem darüber unter allen Urtheilsfähigen überhaupt keine Meinungs­ verschiedenheit besteht, theils würde diese Erörterung wenigstens nicht für diese Stelle passen. Wir überlassen es also dem Leser, sich die Lücke, die wir hier absichtlich lassen, nach seinem besten Wissen zu ergänzen, und wenden uns zu unserm eigentlichen Thema zurück, nämlich zur Literatur und ihrer Geschichte und den Einwirkungen, welche das Jahr Achtundvierzig mitsammt dem großen Rückschlag, der demselben folgte, auf beide ausgeübt hat. Der Anblick ist niederschlagend genug. So viele Hoffnungen damals auch gescheitert und so viele Träume sich als nichtig erwiesen - gründlicher als die Niederlage, welche die Hoffnun­ gen der Literatur damals erlitten, dürfte doch kein zweiter von den zahlreichen Schiffbrüchen gewesen sein, welche die Jahre acht- und neunundvierzig bezeichnen. Nicht davon reden wir jetzt, daß von dem neuen frischen Leben, welches die Literatur sich als nächste und unmittel­ barste Folge jener Ereignisse versprochen hatte, sich auch so gar nichts zeigen wollte. [...] [...] An dieser Stelle beschäftigt uns zunächst nur die Frage, welche Stellung die Literatur infolge jener großen und allgemeinen Enttäuschung fortan in der öffentlichen Meinung ein­ nahm und wie namentlich der Literarhistoriker über die Literatur der Zeitgenossen und ihre Leistungen urtheilte. Die Antwort ist leicht gegeben. Wie schon einmal im Laufe der dreißiger Jahre, so mußte die Literatur auch jetzt wieder den Prügeljungen abgeben für alles, was die Nation verschuldet: mit dem allerdings sehr wesentlichen Unterschiede, daß man damals doch nur gewisse einzelne Richtungen, gewisse bestimmte Epochen unserer Literatur für schuldig erklärt hatte, während man jetzt nicht übel Lust bezeigte, unsere gesammte Literatur in Bausch und Bogen für eine Verirrung—ja was sage ich? eine Verirrung? für einen Landesverrath, für den eigentlichen Gift­ becher zu erklären, der die gesunden Säfte unsers Volks verdorben und es zu großen und glück­ lichen Thaten unfähig gemacht hatte. So viele Jahre hatten wir auf die Vortrefflichkeit unserer Literatur gepocht und uns großgethan mit unsern Dichtern und Schriftstellern, und was hatten sie uns nun genützt? Hatte die classische Vergangenheit unserer Literatur den politischen Bedürfnissen der Gegenwart den mindesten Vorschub geleistet? Hatte die Nation der Dichter und Denker, wie wir uns solange mit Stolz genannt, sich jetzt wirklich auch als eine Nation derThat bewiesen? Ganz im Gegentheil: der rasche und plötzliche Aufschwung jenes verhängnißvollen März war nur gleichsam ein poetischer Rausch gewesen, eine jener phantastischen Anwandelungen, wie Poeten und Künstler denselben ausgesetzt sind, und nachdem der Rausch

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nun verflogen, o Himmel, wie niederschlagend, wie beschämend war jetzt der Katzenjammer! Würde dies aber geschehen sein, würden Ereignisse, die so glorreich begonnen, ein so klägli­ ches Ende genommen haben, wenn die Nation nicht durch den allzu langen und allzu aus­ schließlichen Umgang mit ihren Dichtern und Künstlern verweichlicht und der wahren männli­ chen Kraft beraubt worden wäre? Oder hätten wenigstens die Dichter selbst dem Volke eine gesundere und kräftigere Nahrung dargeboten; wären wenigstens die Stoffe, welche sie behan­ delt, von anderm, männlicherm Schlage gewesen! Allein bei diesen ewigen Lenz- und Liebesge­ dichten, bei diesem ganzen schönseligen Idealismus, der unsere gesammte Literatur durchdringt und der gerade da am allergrößesten und allereinseitigsten ist, wo wir bisher, in beklagenswerther Verblendung, den eigentlichen Ruhm und die Größe unserer Literatur zu erblicken meinten - was konnte da freilich herauskommen? Unsere Dichter, auch die sogenannten classischen nicht ausgeschlossen, ja sogar sie am wenigsten, haben immer nur in Phantasien gelebt, sie sind immer nur einem Traumbild von Schönheit nachgelaufen, das ihren persönlichen Neigungen und Bedürfnissen schmeichelte, für die Nation und ihre geschichtliche Aufgabe aber vollkom­ men unfruchtbar und also verderblich war. Unsere Dichter haben sich immer nur mit sich selbst und ihren eigenen, innerlichen Zuständen beschäftigt, sie waren Egoisten durch die Bank, wohlmeinende, liebenswürdige Egoisten, die selbst keine Ahnung davon hatten, welchem Göt­ zen sie eigentlich dienten - aber dennoch Egoisten. Statt sich unter das Volk zu mischen und seine Leiden und Freuden kennen zu lernen, um dieselben sodann in ihren Dichtungen abzu­ spiegeln und solchergestalt dem Volk ein Bildniß seiner selbst aufzurichten, haben sie sich im­ mer nur in die kleinen Leiden und Freuden ihres eigenen Ich eingesponnen; statt sich in die Tie­ fen des Volkslebens zu versenken und hier den Stoff zu einer neuen selbständigen nationalen Form zu finden, sind sie immer nur bei den Fremden in die Schule gegangen, bald bei den Fran­ zosen, bald bei den Engländern, bald bei den Griechen - und gerade dies griechische Schön­ heitsideal, als das allerentlegenste, allerfremdeste für unsere Zeit und ihre Bedingungen, hat den allermeisten Schaden angerichtet. Hinweg denn mit der thörichten Tradition, als ob wir jemals eine große classische Literatur besessen hätten! Ja hinweg mit der Literatur überhaupt! Hat die Literatur uns die politische Einheit gebracht, deren wir so dringend bedürfen? Unsere Dichter und Schriftsteller, mit all ih­ rem Wohllaut, all ihrem Tiefsinn, haben sie uns Staatsmänner, haben sie uns Politiker erzogen und gebildet, wie die Noth dieser Zeiten sie erheischt? Oder verdanken wir nicht vielmehr ge­ rade ihnen und ihrem falschen Idealismus diese parlamentarischen Schönredner, diese Träumer und Idealisten, die uns das Schiff der deutschen Freiheit und Einheit so glücklich auf den Sand gefahren haben? Auch haben wir jetzt in der That anderes und Dringenderes zu thun, als Bücher zu lesen und Verse mitanzuhören. Wir müssen Geschichte studiren und Nationalökonomie, um uns für die praktischen Fragen vorzubereiten, die das Schicksal über lang oder kurz noch einmal an uns stellen wird; wir müssen Actienvereine gründen und Fabriken anlegen und Dampfmaschinen bauen, um unsere Industrie auf die Beine zu bringen und dem nationalen Wohlstand aufzuhel­ fen. Denn nur reiche Völker - wobei man nach England schielte - verstehen frei zu sein, und bevor wir nicht gleich England über eine wohlhabende Gentry zu gebieten haben, die im Paria-

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ment sitzen kann auch ohne Diäten, eher werden alle Constitutionen und alle Parlamente der Welt uns nichts nützen. Also noch einmal: hinweg mit der Literatur! hinweg mit den Poeten, den volksverderberischen! Oder wenn ihr die Tinte einmal mit Gewalt nicht halten könnt, nun gut, so verschont uns wenigstens mit euern idealistischen Traumbildern und beschreibt uns, wenn ihr durchaus schreiben müßt, die Wirklichkeit der Dinge und zwar in ihrer allerwirklichsten Gestalt; zeigt uns den Bauer, wie er seinen Mist fährt, den Schuster, wie er seinen Pechdraht zieht, den Kauf­ mann, wie er seinen Kaffee und Zucker abwägt [3] - ihr schwankt? ihr zaudert? ihr rümpft wol gar die Nase und meint, Mistfahren und Pechdrahtziehen seien zwar recht nützliche und ehrbare Beschäftigungen, aber doch nicht im mindesten poetisch? Ah ertappt, Verräther! So gehört ihr auch noch der alten volksverderberischen Schule der Idealisten an und seid nicht werth, für das aufgeklärte praktische Geschlecht aus der Mitte des 19. Jahrhunderts die Feder zu führen!...

[•••] 1 In den Ereignissen des Revolutionsjahres 1848. 2 Die beiden bedeutendsten Bibliotheken der Antike, Museion und Serapeion zu Alexandria gingen mehr­ mals in Flammen auf: 47 v. Chr. das Museion bei der Belagerung Alexandrias durch Caesar, 398 das Serapeion auf Befehl des Patriarchen Theophilos und 624 endgültig bei der Eroberung der Stadt durch die Araber. 3 s. Dok. 38, S. 111-12.

191 Friedrich Spielhagen: Produktion, Kritik und Publikum. In-. (Westermanns) Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte 54 (1883), S. 246—66. Hier S. 255—60. [...]

Aber wenn auch dergleichen vereinzelte Silberblicke einem oder dem anderen Zweige der Kunst unserer eisernen Tage noch immer blinken mögen — die goldene Zeit des Urverhältnisses, jenes Verhältnisses, in welchem der Künstler seinem Publikum direkt gegenüberstand, direkt Wohl oder Wehe aus dessen Händen empfing, wie er denn bereits Anregung und Stoff und ott genug auch Methode und Technik seiner Kunst von ihm empfangen — die goldene Zeit ist ein für allemal vorüber. Muß vorüber sein in einer Periode menschlicher Verhältnisse, wo in den zu Millionen angewachsenen Völkern es ein Publikum in dem bisherigen Sinne für den Künstler nicht mehr geben kann; wo er im besten Falle nur einem minimalen Teil desselben jemals Ange­ sicht zu Angesicht gegenüberzustehen kommt, ihm in vielen Fällen - z. B. dem h rischen, dem epischen Dichter - diese Gunst niemals freiwillig, und wenn er sie sich zweifelnd und zögernd erbittet, zweifelnd und zögernd gewährt wird; der frühere Zustand einer durch alle Schichten der Bevölkerung hindurchgehenden, nicht gleichen, aber doch bis zu einem gewissen Grade gleichmäßigen Kultur einer unendlichen Klimax Platz gemacht hat, an welcher alle Stufe n s on der tiefsten sittlichen und intellektuellen Roheit bis zur höchsten Geistes- und Herzensbildung

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nicht von einzelnen Individuen, sondern wiederum von breiten Massen und Schichten vertreten werden, die sich untereinander nicht mehr verstehen. Und fallen doch diese Bildungsschichten nicht etwa zusammen mit den Gesellschaftsklassen und bürgerlichen Berufen, so daß, wie in den Kasten alter Völker, die Gesellschaftsklasse, der bürgerliche Beruf in sich selbst wenigstens ein geschlossenes Ganze darstellte mit annähernd denselben geistigen und moralischen Quali­ täten und Bedürfnissen; und der Künstler, der sich an diese Klasse, an diesen Beruf wendete, sicher wäre, von allen betreffenden Mitgliedern verstanden und gewürdigt zu werden. Keines­ wegs! Jene einigermaßen gleichmäßigen Bildungsschichten rekrutieren sich wiederum aus den verschiedensten Ständen, Gesellschaftsklassen und Berufen. Oder wer wüßte es nicht, daß so mancher Hochgestellte nicht bloß an gesundem Menschenverstand und sittlicher Reinheit, sondern auch an allgemeiner humaner Bildung von dem strebsamen intelligenten Manne aus dem Volke übertreffen wird! wie manche vornehme Dame vor der schlichten Bürgersfrau, wollte oder könnte sie sich mit derselben nach diesen Hinsichten vergleichen, die Augen nieder­ schlagen müßte! So, bei dieser Durchsetzung der horizontal gelagerten Standesschichten von den in entgegengesetzter Richtung streichenden Bildungsschichten, kann es geschehen, daß ein und dasselbe Werk in allen Ständen, vom Palast bis zur Hütte, begeisterte Verehrer und ebenso enragierte Gegner findet. Dieses schon hinreichend bedenkliche Durcheinander wird nun noch ins völlig Unberechenbare und Unentwirrbare vermehrt durch die vielartigen, oft ge­ gensätzlichen Anschauungen und Bedürfnisse der Städte und des platten Landes; wiederum der Bewohner der großen Centren der Bildung und des Handels und Wandels und derer der Provin­ zialstädte und -Städtchen. Weiter durch die genetisch und historisch bedingte Eigenart der Pro­ vinzen und Landschaften in Nord und Süd, in Ost und West. Weiter und noch einschneidender durch die Verschiedenheit der Konfessionen mit ihren Rück- und Einwirkungen auf Geist, Herz und Phantasie der Bekenner, wozu man noch die Konfessions- und Glaubenslosigkeit breiter Massen rechnen muß, die man beklagen mag, aber nicht wegleugnen kann, wiederum mit den obligaten Wirkungen auf Welt- und Lebensanschauung der Betreffenden. Endlich und schlimmstens durch die Differenz der politischen, sich einander mit Mißtrauen und Haß be­ trachtenden, in Wort und Schrift unablässig befehdenden, der gegeneinander zum Kampf gerü­ steten, zum Kampf bis aufs Messer entschlossenen socialen Parteien. Und nun, armer Musiker, Maler, Bildner, Dichter, finde in dieser bunt durcheinander ge­ würfelten Masse ein Publikum, wie du es doch bedarfst: ein geschlossenes Publikum, das dir voll herzlichen Verlangens nach deiner Kunst, mit intimem Verständnis für deine Kunst entge­ genkommt! Du verzweifelst daran; und doch habe ich für das dunkle Bild noch ein paar tiefste Schatten nachzutragen. Ich meine die Rapidität, mit welcher in unserer Zeit der politischen Umwälzun­ gen, der sich Schlag auf Schlag folgenden Entdeckungen und Erfindungen auf dem Gebiete der exakten Wissenschaften die ökonomischen Verhältnisse und gesellschaftlichen Gepflogenhei­ ten sich verändern und wandeln; und mit denselben die Anschauungen, die Denk- und Gefühls­ weise, der ästhetische Geschmack der rastlosen Menschen, so daß schon das nächste Geschlecht in allen diesen Hinsichten von dem vorhergegangenen durch eine Kluft getrennt ist, wie sie frü­ her nur Jahrhunderte schufen. Ich meine den kosmopolitischen Zug, der durch die moderne

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Menschheit geht und der, wie er allen Schranken feindlich ist, der Beschränkung und Umfrie­ dung nicht günstig sein kann, in welcher doch die Kunst einzig gedeiht, die Kunst, die - und wenn sie wie die Musik von Haus aus eine Weltsprache wäre - doch, um alles, was sie in sich trägt, und gerade ihr Bestes und Heiligstes, sagen zu können, in der Muttersprache ihrer volks­ tümlichen Empfindung reden muß; doch in dem Vaterlande, in dem Vaterhause die tiefen Wur­ zeln ihrer Kraft und Originalität hat. Und nun zuletzt der schwerste Schatten: der Materialismus und Sensualismus einer Mensch­ heit, die in dem harten, oft verzweifelten Kampfe um das Dasein - ein in Sammet und Seide prunkendes hier, um das nackte dort - keine Zeit und Stimmung und Verständnis für die Kunst hat, deren Gebilde, wie sie aus einer im hohen Sinne des Wortes heiteren Seele geboren sein müssen, so auch nur von einem gleichgestimmten, mindestens doch stimmungsfähigen Gemüte genossen werden können. Einer Menschheit, die entweder ein- für allemal auf einen Genuß ver­ zichtet, der ihr kein Bedürfnis mehr ist, ja wohl gar der rücksichtslosen Befriedigung ihrer wirk­ lichen oder vermeintlichen Bedürfnisse sich feindlich erweist oder von demselben nur eines sei­ ner Momente für sich beansprucht: den Reiz der Unterhaltung, der aber für sie keiner wäre, außer im Stadium des Überreizes, des excitement. Zu diesen Todfeinden der Kunst: den Blasier­ ten, rechnen Sie die vielköpfigen Scharen der Lauen und Halben, welche in ihrer Erziehung die Tradition überkommen haben, daß es um die Kunst eine schöne Sache sei, nur daß sie leider niemals Zeit hatten, dieselbe zu pflegen. Und sich nun mit einer platonischen Hochachtung aus der Ferne begnügen, ja zuweilen der schönen Sache auch kleine Opfer bringen in dem Besuch einer Ausstellung, die ihnen gründliche Langeweile macht, in dem Ankauf eines Romans, den sie selbst niemals lesen, zu Weihnachten für die heranwachsende Jugend. Rechne man dazu die halben und ganzen Pharisäer, denen an der Stelle des warmen Herzens und der Begeisterung für die Kunst lauwarme Gönnerhaftigkeit und eiskalte Eitelkeit sitzen, und die sich ohne wahres Empfinden und Urteil, wie sie sind, aufs Nachempfinden, Nachschwätzen und Nachbeten le­ gen; von den ehrlichen Leuten, die aus ihrer Kunstblindheit und -Taubheit gar kein Hehl ma­ chen, ganz zu schweigen. Und dieses grau in schwarz gemalte Bild des Publikums entspräche der Wirklichkeit? Das Publikum unserer Tage wäre wirklich nur »ein wüster Garten, der auf in Samen schießt, gänz­ lich erfüllt von verworfenem Unkraut?« [1]

Man müßte in der That ein hoffnungsloser Pessimist sein, wollte man das behaupten, und nicht vielmehr anerkennen, wie allerorten in allen Ständen und Berufsklassen für die Kunst für irgend eine Kunst - begeisterte Menschen zu finden sind, die mit ihrer Begeisterung ein schönes Verständnis verbinden. Ja, man mag sich angemutet fühlen durch die Versicherung ge­ wisser Enthusiasten, daß in unserer Zeit zahlreiche Menschen in allen Ständen leben, die, durch die allgemeine Zweifelsucht der Epoche, durch die verblüffenden Resultate der exakten \X issenschaften in ihrem Glauben geschädigt, die Erhebungen und Tröstungen, welche ihnen vor­ dem die Religion gewährte, in Zukunft einzig von der Kunst erhoffen; dals die Zahl dieser Men­ schen in beständigem Wachsen sei, mithin die Kunst für die kommenden Geschlechter eine Mission von unermeßlicher Tragweite zu erfüllen habe - ich sage: man kann sich durch eine derartige Versicherung angemutet fühlen, ohne derselben in Anbetracht des mehr als zweitel­

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haften Erfolges von D. Fr. Strauß’ Neuer Glaube [2] eine andere als hypothetische Bedeutung beizumessen. Aber fragt man hier, geht wirklich alles Dunkel in dem Verhältnis zwischen Produktion und Publikum nur von dem letzteren aus? und ist die Produktion die helle Sonne, gegen deren Strah­ len sich jenes nur eigensinnig und stumpfsinnig verschließt? Oder aber ist die Kunst unserer Tage von der Parnassushöhe, auf der sie jezuweilen ihr ätherisches Leben lebte, herabgestiegen in die prosaischen Niederungen und hat da banausische Gewohnheiten angenommen, die ihre himmlische Abkunft schänden und derenwegen man ihr die geschlossene Gefolgschaft versagt, die man ihr vormals begeistert gewährte? [...] Und da meine ich denn allerdings, wie ketzerisch es klingen mag: es war nicht bloß die ab­ nehmende Kraft des Dichters, was uns den zweiten Teil des Faust so weit hinter dem ersten, Wilhelm Meisters Wanderjahre so weit hinter den Lehrjahren zurückstehen läßt. Ich meine allerdings, es hätte die poetische Kraft, anstatt, wie sie es naturgemäß that, abzunehmen, sich noch steigern müssen, um uns Faust zu zeigen: nicht mehr in seinem Studierzimmer oder in Gretchens Stübchen, sondern als den Mann der That, der in Lebensfluten mit Stürmen sich her­ umschlägt und in des Schiffbruchs Knirschen nicht verzagt; Wilhelm Meister, nicht im Grafen­ schloß oder in Philinens Gemach oder den Boudoirs vornehm verblaßter schöner Seelen, son­ dern wie er seinen hochsinnigen Idealismus im Kampfe mit der hartnäckigen Derbheit, der platten Alltäglichkeit, der hohnlachenden Gemeinheit des ewig gestrigen, realen Lebens be­ währt. Es gereicht Göthe zum ewigen Ruhm, daß er, der immer strebend sich Bemühende, diese Aufgaben sich in seiner Weise gestellt und, wenn man will, auch in seiner Weise gelöst hat. Aber diese Weise, wie sie unnachahmlich ist, dürfte, wäre sie es nicht, doch nicht nachgeahmt werden von uns, die wir nur scheinbar vor denselben, in Wirklichkeit aber mittlerweile viel schwieriger, weil viel komplizierter gewordenen Aufgaben stehen und bei dem Versuch ihrer Lösung in un­ serer Weise vorgehen müssen. Und ist es zu verwundern, ist es nicht vielmehr das natürlichste Ding von der Welt, wenn wir Modernen, für die an Stelle einer sicheren Tradition, auf der sich ruhig weiter bauen ließe, die verwirrende Kunde und Kenntnis aller Kunst getreten ist, die je getrieben wurde, aller Kunstformen, die je im Schwange waren; - wenn wir, genötigt und verdammt, alles zu prüfen, in mühevollem, die Elasticität der Phantasie abspannenden, die Unbefangenheit des Geistes trübenden, die Frische der Empfindung schädigenden Studium zu Eklektikern werden? Ist es uns nicht zu hohem Verdienste anzurechnen, wenn wir in der Qual der Wahl uns noch die Augen offen genug halten, um das Gute, vielleicht auch einmal das Beste zu wählen, für uns zu behalten, das heißt in unserem Sinne zu verwerten? Ist es zu verwundern, daß dabei unzählige leichtere und schwerere Mißgriffe vorkommen? Nicht aller Ehre und alles Lobes wert, wenn doch so mancher in der nachgeahmten Form seine Eigenart zur Geltung bringt? und der höch­ sten, wenn einer und der andere die wagende Kühnheit und die gewaltige Energie hat, sich für diese seine Eigenart auch eine eigenartige Form zu schaffen? Fehlt es denn an solchen kühnen Kraftmenschen so ganz? In dem Gebiete der Musik wird wenigstens einer [3] als solcher ge­

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nannt und anerkannt, selbst von seinen grimmigsten Gegnern. Auf dem der Malerei, der Bild­ nerei, trotzdem wir keinen einzelnen, die Zustimmung oder den Widerspruch so mächtig wach­ rufenden Namen nennen können, zählen wir doch eine ganze Reihe origineller, formfroher Talente, auf die auch eine Periode der höchsten Blüte der Kunst stolz gewesen sein würde. Vor so manchem Prachtbau unserer Hauptstädte würde eine Bramante, ein Palladio [4] anerken­ nend den Hut ziehen; ein Michel Angelo, ein Leonardo da Vinci den Gesellen, der das gemacht, zum Meister sprechen. Und wenn wir wirklich in der Poesie, wie man sagt, auf eine für uns beschämende Weise hinter unseren Altvordern zurückstehen — aber in eigener Angelegenheit zu reden, ist mißlich; die oratio wird, beim besten Willen bescheiden zu sprechen, allzu leicht zu einer pro domo. Überdies ist es hier gewiß nicht meine Aufgabe, der modernen Kunst und Poesie ein Loblied zu singen, vielmehr den ihr anhaftenden Mängeln oder ihr doch innewoh­ nenden specifischen Eigenschaften nachzuspüren, welche es dem Publikum schwer machen, sich mit ihr zu befreunden und in jenes herzliche Verhältnis zu treten, welches bestehen muß, sollen Künstler und Dichter fröhlich schaffen, soll das Publikum das Geschaffene behaglich ge­ nießen. Und da dürfen wir in weiterer Erwägung dieser Mängel nicht vergessen: die Schäden der Zeit, die wir bereits in dem Charakter und der geistigen Physiognomie des Publikums konstatierten: jene Unstätheit, Rastlosigkeit, jene hier grob materielle, den geistigen Genüssen unzugängliche, dort durch das Übermaß eben dieser Genüsse abgestumpfte, skeptisch-frivole, pessimistisch angehauchte und verdüsterte Denk- und Gefühlsweise - diese ganze schwere Not der Zeit, sie lastet nicht minder auf dem Künstler. Ja lastet schwerer, weit schwerer auf ihm, der doch ein Kind seiner Zeit ist; nur etwas ist, wenn er es ist; und es doch nicht nur sein darf; das Höchste nur erreichen kann, wenn er vermocht hat, sich über seine Zeit zu erheben, das heißt von jenen Schäden zu befreien. Man kann mit dem radikalsten Skepticismus, dem schwärzesten Pessimis­ mus ein sehr erfolgreicher Kaufmann, Fabrikant, Ingenieur, Feldherr, Politiker, Gelehrter, Phi­ losoph, oder besten Falls nur ein sehr einseitiger Künstler sein: ein Wiertz [5] wohl, aber kein Albrecht Dürer, geschweige denn ein Raphael; ein Zola wohl, aber kein Hans Sachs oder gar ein Göthe-kann die Welt nicht sehen, wie sie die großen Künstler und Dichter allezeit gesehen haben und sehen müssen: in ihrem »festen Leben und Männlichkeit, ihrer inneren Kraft und Ständigkeit.« So ist denn der Kampf ums Dasein für den Künstler außer mit jenen Schwierigkeiten, die ihm der unvermeidliche Eklekticismus schafft, ganz wesentlich einer mit eben den Tendenzen, welchen unser Jahrhundert, wie sehr es gemütlich darunter leiden mag, doch zum nicht gerin­ gen Teil seine großen Erfolge auf dem Gebiete des materiellen Lebens, ja selbst in der rein intel­ lektuellen Sphäre verdankt.

[•••] Nun mag ja die Notlage der Kunst, wie ich sie hier geschildert, einem und dem anderen nicht so drohend erscheinen; der Nachweis ist aber doch wohl für alle geführt, und darauf kam es an: einem so gearteten Publikum gegenüber hat die Produktion einen schweren Stand, wie es umgekehrt dem Publikum ebensowenig leicht werden kann, zu einer so beschaffenen Kunst die richtige Stellung zu gewinnen. Das auf gegenseitiger Neigung, Verständnisinnigkeit gegründete

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geschwisterliche Verhältnis früherer glücklicherer Zeiten zwischen beiden hat sich gelöst; statt dessen gähnt zwischen ihnen eine tiefe Kluft, die gewiß nicht unpassierbar ist und oft genug passiert wird, aber aus der doch nur allzuviele häßliche Wolken der Ungewißheit, Unsicherheit, der Mißverständnisse, der Verdrossenheit, des Zweifels und der Verzweiflung steigen, die Blicke hinüber und herüber trübend, die Verbindung hinüber und herüber erschwerend. [•••] 1 Zitat aus Shakespeares Hamlet 1/2. 2 Der alte und der neue Glaube, ein Bekenntnis, 1872 erschienenes Alterswerk des Theologen und Religi­ onskritikers David F. Strauß (1808-1874), das zahlreiche Auflagen erlebte und seine endgültige Absage ans Christentum unter materialistisch-positivistischen Vorzeichen enthält. 3 Richard Wagner (1813-1883). 4 Donato Bramante (1444—1541) und Andrea Palladio (1518-1580) waren Italiens bedeutendste Bau­ meister der Renaissance. 5 Antoine J. Wirtz (1806-1865), belgischer Maler, der großformatige Bilder mit oft grausigen Sujets be­ vorzugte.

Literatur als Ware in der Gründerzeit

192 [Wilhelm Jordan:] Briefwechsel zwischen der Frau Commerzienräthin S. in Berlin und dem Dichter W. Jordan in Frankfurt. In: Archiv für Buchhändler 1 (1868), S. 248-49.

- Geehrter Herr Doctor! Da ich gestern in der Soirée bei Sr. Excellenz das Vergnügen hatte, Ihre Bekanntschaft zu machen, darf ich es wohl wagen, Sie um eine kleine Gefälligkeit zu bitten. Wir beabsichtigen in unserm ästhetischen Kränzchen, das nächsten Samstag bei mir stattfin­ det, Ihr Lustspiel Die Liebesleugner [1] mit vertheilten Rollen zu lesen. Meiner Cousine, der Gemahlin des Banquiers Lastgold, hat Herr Dr. der ihr literarische Stunden gibt, sein Recensionsexemplar zur Verfügung gestellt und ich habe mir ein zweites aus der Winkelhof’schen Leihbibliothek kommen lassen. Da jedoch in mehreren Scenen mehr als zwei Perso­ nen auftreten, so hätten wir gern noch ein drittes und wo möglich viertes Exemplar. Sie, als Verfasser, verfügen gewiß über beliebig viele. So bitte ich Sie hiermit freundlichst, mir einige davon auf ein paar Tage leihen zu wollen. Indem ich mich zugleich beehre, Sie zu meinen Samstags-Abenden auf die Dauer Ihrer Anwe­ senheit in unserer Stadt ein für alle mal einzuladen, bin ich etc. Ihre Agnes S.

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Antwort. Eine Reihe von Soireen, geehrte Frau Commerzienräthin, hat mir Gelegenheit gegeben, den feinen Geschmack und Sinn für Harmonie zu bewundern, den Sie beweisen in Ihrer jedesmal funkelnden Toilette. Diesem Ihrem Talent muß ich die Lösung der Aufgabe überlassen: in gewiß gleich gewähltem und reichem Anzug um die schwer silberne Theemaschine zu sitzen und, aus vergoldeten Tassen trinkend, sich gleichwohl behaglich und in Ihren ästhetischen Neigungen unbeleidigt zu fühlen, indem Sie die geistige Kost zu sich nehmen aus Gefäßen von minder sau­ berer Beschaffenheit. Ich vermuthe, daß Sie Teller mit Sprüngen oder mit den Spuren der Mahl­ zeit eines Andern auf Ihrer Tafel nicht dulden würden. Wenn Ihnen gleichwohl die Rothstiftkreuze und Abdruckzeichen in einem zerlesenen Recensionsexemplar minder störend sind, oder wenn die nämlichen zarten Hände, die wenigstens drei Paar neue Glacehandschuhe ä 1 Thlr. wöchentlich verbrauchen, nicht zurückzucken vor der Berührung der Bücher aus der Winkelhof’schen Leihbibliothek, obgleich deren Deckel glasirt zu sein pflegen mit dem Fettglanz einer Metzgerschulter, - so ist Das Ihre Sache, und ich muß mich begnügen mit einiger Verwunde­ rung über diese bemerkenswerthe Umpanzerung Ihres Feinsinnes mit einer dem Ekel undurch­ dringlichen Hornhaut. Nicht versäumen aber darf ich diesen Anlaß, Ihnen Ihre Bitte in einer Beleuchtung zu zeigen, die ohne Zweifel Ihnen selbst sehr unerwartet sein wird. Sie und Ihre Gesellschaft wünschen mein Lustspiel zu lesen. Dieser Wunsch, Frau Commer­ zienräthin, ist ein Erzeugniß meines Capitals und meiner Arbeit. Um ihn erregen zu können, bedurfte ich meines Erbtheils von Vater und Mutter, des poetischen Talents, der Sprachge­ wandtheit, der Uebung im Versemachen und einer Summe von Kenntnissen und Fertigkeiten, die weder umsonst, noch ohne vieljährige Anstrengung zu erwerben sind. Mit diesem Betriebscapital hab’ ich dann wochenlang am Schreibtisch sitzen, hierauf die Darstellung meines Stükkes betreiben, die Proben leiten, die Rollen mit den Schauspielern einstudiren müssen. Das Stück hat Beifall gefunden und dadurch das Publikum begierig gemacht, es auch zu lesen. So hat es neben seinem Bühnenwerth auch einen Buchwerth erlangt. Die Nachfrage des Publikums, von der die Ihrige einen Theil ausmacht, ist fällig gewordene Rente meines Capitals, ist realisirbarer Verkaufswerth der vonmirproducirten Waare. Diese Rente nun hab’ ich für eine gewisse Zeit, von dieser Waare einen gewissen Vorrath an Herrn Sauerländer in Frankfurt verkauft.

Es ist also ein irrthümlicher Ausdruck, wenn sie mich ersuchen, Ihnen das Stück zu leihen. Was Sie mir wiedergeben, das wäre nur die Schaale einer gegessenen Auster; nämlich bedruck­ tes Papier, das die Eigenschaft verloren hätte, anderthalb Gulden aus Ihrer Kasse in diejenige meines Herrn Verlegers führen zu können. Dem Letzteren sind Sie durch das Faktum Ihrer Leselust den Ladenpreis schuldig geworden, zwar nicht nach dem Handelsgesetz, wohl aber nach einem höheren, das auf Ihrer gesellschaftlichen Stufe mindestens eben so bindend sein sollte: nach dem Gesetzes des Anstandes. Es gibt Leute, denen es Niemand übel nimmt, wenn sie dem Aufsteigen eines Luftballons oder einer Kunstreitergesellschaft von außerhalb der Planken gratis zuschaueii, andere, lur die der dritte oder zweite, andere endlich, für die nur der erste Platz schicklich ist. So gibt es denn auch große Klassen, die sich mit Büchern gegenseitig aushelfen oder in die I eihbibliothek schik-

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ken müssen. Aber steilen Sie sich Ihren Gemahl, den Herrn Commerzienrath, vor, die schwere Goldkette seines Chronometers zur Schau tragend auf der mit feinstem Piqué und Buckskin bekleideten Vorwölbung seiner wohlgenährten Gestalt, und dennoch, umgeben von zerlumpter Straßenjugend, vom Ast eines Baumes aus seine Schaulust am Pferderennen befriedigend. Sie und Hunderte Ihres Standes verschmähen es nicht, eine ähnliche Situation einzunehmen gegenüber dem am wenigsten beschützten, unbewachbarsten Eigenthum, dem des Schriftstel­ lers, - offenbar ahnungslos und weil sie noch niemals überlegt haben, worin dies Eigenthum bestehe. Sie sowohl als ihr Herr Gemahl sind ja warme Bewunderer Englands und englischer Sitten. Wohlan denn, seien Sie englisch auch in Ihrem Verhalten zur Literatur. In England hat Niemand Anspruch auf den Namen eines Gentleman, der nicht eine Bibliothek besitzt im Verhältniß zu seinem Vermögen. Eine Flucht von zwölf Zimmern und Sälen zu bewohnen, wie Sie, 6 Pferde und drei Bedienten zu halten, wie Sie, und dennoch geliehene Bücher, wohl gar aus der Leihbi­ bliothek zu lesen, das würde in England für höchst unanständig gelten. Trotz alledem aber, verehrteste Frau Commerzienräthin, bin ich gern bereit, Ihnen etliche Exemplare des gewünschten Lustspiels zu leihen, wenn Sie mir eine genau entsprechende Gegengefälligkeit leisten wollen. Man versichert, daß Sie Ihrem Herrn Gemahl als Mitgift einen stattlichen Folioband in Maroquin zugebracht haben, dessen Inhalt sehr schätzenswerth sei, wenn auch zum Lesen nicht besonders unterhaltend; denn er bestehe aus lauter Staatsschuldscheinen. Ich bitte Sie, mir den­ selben nur auf einige Stunden zu leihen. Sie sollen ihn pünktlich nach Ablauf dieser Frist wieder­ erhalten; denn ich will weiter nichts, als die Zinscoupons für mich herausschneiden. Ihr Jordan. I »Lyrisches Lustspiel«, 1855 bei Sauerländer in Frankfurt erschienen.

193 Manuscripten-Vermittelung. In: Der literarische Verkehr. Organ für die Interessen der deutschen Schriftstellenvelt3/l—3 (1872), S. 1-6, 9-10. Hier S. 2, 4—6, 9-10. (...] No. 5. Skizzen und Conturen aus dem Dichter- und Künstlerleben. Stofflich höchst interessant, lebhaft in der Schilderung, pikant in der Schreibweise. Der ca. 15 Bogen starke Band enthält II verschiedene Skizzen. Durch besondere Verbindungen des Autors zu einem bedeutenden illustrirten Journal wird das Werk in der Absatzfähigkeit wesentlich unterstützt. Das Honorar ist mässig. [...] No. 7. Ein Roman, der sich durch wahre Characterschilderungen, spannende und abwech­ selnde Situationen auszeichnet. Der Roman ist dem Leben entnommen und eignet sich beson­ ders für die Colportage. Das Element des Schauerlichen wie Geheimnissvollen ist vertreten. Umfang 3 Bände mit ca. 50 Bogen. Honorar mässig.

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No. 10. Eine epische Dichtung. Von Capacitäten, die das Mscpt. in Händen hatten, ist das Werk als ein entschieden bedeutendes bezeichnet worden. 2 Bände zu 220 Seiten, im Druck ca. eben­ soviel ergebend. No. 11. Ein religiös-politischer Roman aus dem Westphälischen. Das Werk bezieht sich auf den gegenwärtigen Kampf zwischen Staat und Ultramontanismus. Der Roman ist spannend und lebhaft geschrieben, er wird nicht allein in katholischen Kreisen, wie bei den mit der Zeit fortschreitenden, freisinnigen Angehörigen dieser Kirche gern gelesen werden, sondern als ein Bild der Zeit, pfäffische Ränke aufdeckend, und über den Missbrauch von klösterlichen Institu­ ten herziehend, hat er ein weiteres Interesse. Die durchdachte Arbeit verdient gerade in jetziger Zeit ein erhöhtes Interresse Umfang ca. 73/4 Bogen. No. 18. Epische Novellen und Sittenbilder. Das Werk ist von einer edlen, poetischen Feder ge­ schrieben und zählt zu den höchsten Schöpfungen der Neuzeit. Umfang ca. 14 Bogen. No. 19. Eine in Versen geschriebene Erzählung. Das Werk, sorgsam gearbeitet, ist leicht und lebendig und besonders Frauen ansprechend geschrieben. Es würde sich namentlich zu Illustra­ tionen eignen und so ein sicher gangbares Weihnachtsbuch abgeben. [•••] No. 22. Ein Roman. Der Autor zählt zu unsern renormirtesten Schriftstellern. Die häufige schriftstellerische Thätigkeit in dem Hallberger’schen Journalen, wodurch der Name beim Lesepublicum immer wieder aufgefrischt wird, sichert dem Werk einen guten Absatz. Umfang 3 Bände ca. 40 Bogen.

[•••] No. 44. Für ein Feuilleton: eine Novelle von einer Dame, welche uns von ersten Schriftstellern als ganz eminentes Talent geschildert wird. Fliessender Stil, glatte, elegante Form, lebhafte Schilderung sind die Eigenschaften des Manuscripts. No. 45. Das Evangelium der Liebe. In fliessenden Versen geschrieben. Vom freiesten Stand­ punkte religiöser Anschauung gearbeitet, athmet das Werk Liebe zu Gott und Natur. Autor ist Philologe. Die Widmung hat Ober-Consistorialrath Schwarz in Gotha angenommen.

[•••] No. 48. Pilgerlieder. Von einem streng religiösen Manne (Kirchenrath) gesammelt, drehen sich die Lieder um Tod, Unsterblichkeit und Wiedersehen. Das Mscpt. wird etwa 1000 Druckseiten abgeben. No. 49. Ein treffliches, freidenkerisch durcharbeitetes religiöses Werk. Dasselbe enthält reli­ giöse Strahlen aus deutschen Dichtern. Die Eintheilung ist eine höchst sinnreiche. Das Werk wird jedem religiösen Verlage zur Zierde gereichen, es ist einige 20 Bogen stark und eignet sich zum Confirmations- und Weihnachtsgeschenk wie wenige buchhändlerische Erscheinungen. [...] Nr. 90. Eine geschichtliche Novelle eines Autors ersten Ranges. Dieselbe ist ca. l'-\ Bogen stark und in den fünfziger Jahren in einem Kalender erschienen. Sie dürfte sich tur einen wiederholten Abdruck in einem Kalender oder einem Feuilleton trefflich eignen.

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No. 104. Eine sehr interessante kleine Abhandlung eines beliebten Novellisten. Das Manuscript bringt eine wenig bekannte Episode aus dem Leben Kants und ist für das Feuilleton einer politi­ schen Zeitung oder für ein illustrirtes Journal, auch für einen Kalender recht verwerthbar. [...] No. 119. Ein kleines Weihnachtsbild. Ueber 1 Bogen. Für illustrirte und Frauen-Journale geeig­ net. No. 120. Ein mit französischem Esprit geschriebenes Characterbild. 3/4 - 1 Bogen für den Wie­ derabdruck. No. 123. Ein etwa ’/2 Bogen starkes Feuilleton einer beliebten Schriftstellerin. Ganz besonders für Damen-Journale geeignet. Zum ersten Abdruck. No. 124. Ein zweibändiger Roman einer Schriftstellerin von Ruf. Derselbe zeichnet sich durch hübsche, leichte Schreibweise und besonders dadurch aus, dass er jungen Damen eine unge­ fährliche Lectüre gewährt. No. 125. Erinnerungen aus dem Studentenleben. 12 Bogen. Ein für Haus- oder Reisebibliothe­ ken treffliches Manuscript. No. 126. Eine Erzählung aus dem jüngsten Kriege. 5’/2 Bogen. Für den Wiederabdruck. Sehr billig. [...] No. 129. Eine etwa l’/4 Bogen lange vaterländische Geschichte eines namentlich auf diesem Gebiete berühmten Verfassers. Aus einem Kalender der fünfziger Jahre. Für den Wiederab­ druck in Kalendern, Feuilletons etc.

[•••] No. 132. Eine Erzählung aus dem Fabrikleben. Von einer mit den Verhältnissen sehr vertrauten Verfasserin, daher die Erzählung wahrheitsgetreu und lebendig erzählt ist. Ca. 6 Bog. Honorar mässig. Für den Wiederabdruck. [...] No. 164. Eineca. 2 Bg. starke Erzählung fürs Feuilleton. Von einem Schriftsteller ersten Ranges warm empfohlen. No. 165. Eine ca. 1 Bg. starke Erzählung. Von einer bekannten Persönlichkeit warm empfohlen. Für den ersten Abdruck. No. 168. Eine ca. 15 Bg. starkes Manuscript, dessen Autor eine sehr hochgestellte Person ist. Für den zweiten Abdruck. No. 169. Eine 7 */ 2 Bg. starke Erzählung einer sehr beliebten Schriftstellerin. Für eine Zeitung.

[...] No. 174. Ein ca. 10 Seiten langes Manuscript, das, humoristisch behandelt, für einen Dorfka­ lender oder sonstige dem kleineren Publicum bestimmte Lectüre passend wäre. No. 176. Eine ca. 6 Seiten lange Anekdote, deren Verfasserin rasch beliebt geworden ist, und die die Mache im höchsten Grade forthat. [...] No. 207. Ein ganz hübsches Werkchen in Art der Jobsiade [2].

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[•■•] No. 209. Ein dreibändiger, ganz brillanter Roman, der von bedeutenden Persönlichkeiten als etwas selten schönes warm empfohlen wird. Der Stoff steht, wie wenige auf der Tagesordnung. No. 210. Eine illustrirte Jugendschrift. No. 211. Ein Manuscript auf Pandekten-Papier, behandelt die Sklaverei bei den Römern. No. 213. Die Schilderung eines Berliner Vergnügungsortes. No. 214. Ein ca. 20 Bogen starker Colportage-Roman. Zunächst für ein Feuilleton.

[•••] 1 s. Einf. 2 Karl Arnold Kortüm (1754-1824): Leben, Meynungen und Thaten von Hieronymus Jobs dem Candidaten [...], Münster 1784. Oft aufgelegtes, derbkomisches Epos.

194 Oswald Zimmermann: [Brief an den Herausgeber] In: Deutsche Dichterhalle 1880/1, S. 44. Folgende Zeilen, um deren Aufnahme in den »Offenen Sprechsaal« ich Sie ersuchen möchte, sind zur richtigen Würdigung eines literarischen Unternehmens bestimmt, welches die Verlags­ buchhandlung von Julius Ruppel in Berlin plant. »In eleganter Ausstattung« soll ein »Album deutscher Poesien« erscheinen, wie die Ankün­ digungbesagt. Was lässt sich dagegen weiter sagen? Man braut »ein Ragout aus allen Stücken«, wie es das heutige Publikum schmackhaft findet. Freilich stutzt man bei der Bemerkung, dass die Aufnahme der Dichtungen, nach erfolgter Prüfung durch den Herausgeber, »vollständig kostenfrei« geschieht. Die folgenden Zeilen der Ankündigung erläutern diese dunklen Worte. Wer die geistige Beschränktheit deutscher Dichterlinge und den »feinen Geschäftssinn man­ ches Verlegers« näher kennt, wird sofort wissen, dass das Unternehmen auf ein Sammelsurium unreifer Verslein hinausläuft. Ich kann mich daher mit dem Beweis der »vollständigen Kosten­ freiheit« begnügen. Der Glückliche, dessen »Gedichte für aufnahmefähig befunden werden«, muss pro 8tel-Seite des Raumes, den seine Verse einnehmen, 3 Pflichtexemplare ä 2 M dem Verleger abnehmen. Die Aufnahme eines jeden Gedichtes wird also durchschnittlich mit mindestens 6 M bezahlt. Allerdings vollständig kostenfrei! Die Hälfte des Subscriptionsbetrages muss baar vorausbe­ zahlt werden. Ob die Einsendung und die Größe des Betrages von Einfluss auf die Prüfung der Einsendung sein mag? Wer kann das wissen! Weiter. Auch »biographische Notizen« über die »Dichter und Dichterinnen« werden beige­ fügt. Wer pro Borgiszeile 30 Pf zahlen will, hat das kostbare Vergnügen, gedruckt zu sehen, dass er zu X. an dem und dem Datum das Licht der Welt erblickt (die er durch seine Verse zur Hölle für Vernünftige zu machen eifrig bemüht ist), dass er - Respekt vor ihm! - ein »Dichter« sei etc. Versichern Herausgeber und Verleger aber noch allen Einsendern die strengste Diskretion,

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so ist es klar, dass sic sich des dubiösen Charakters ihres Unternehmens völlig bewusst sind.

[...] Giebt es etwa noch Jemanden, der zweifelte, ob Toren sich finden würden, welche den Druck ihrer Verse mit 6 oder noch mehr Mark bezahlen möchten? Kaum! Jeder weiß: das edle Weib Poesia zur öffentlichen Dirne zu machen, sind Tausende und Abertausende deutscher Dichter­ linge bereit. Dass aber ein Unternehmen, wie das oben erwähnte, nicht das erste in seiner Art, nur eine verbesserte Auflage ähnlicher Sammelwerke ist, dass zur selben Zeit neben manchen Zeitschrif­ ten mit »classischen« Namen, wie Olymp [1], Musarion, Musenhain etc., die Zufluchtsstätten des Unbedeutenden ohnehin sind, Der Dilettant [2] in München alle von den Redaktionen und Verlegern zurückgewiesenen Aufsätze gegen Bezahlung, wie man sagt, drucken will - das giebt zu denken! Die Gründe für alle diese Schäden der Gegenwart? Meist klingende, materielle!

[...] 1 Der Olymp: Fortsetzung des Neuen Deutschen Dichterheims mit dem Untertitel: Aesthetische Zeitung. Organ für Dichtkunst, Kritik undSatyre. Nur 1880 erschienen, dann vereinigt mit dem Deutschen Dich­ terheim.

2 Musarion, Musenhain und Dilettant konnten bibliographisch bei Kayser, Kirchner, Diesch etc. nicht ermittelt werden.

195 Correspondenz mit unseren Einsendern und Mitarbeitern. In: Deutsches Dichterheim 2 (1882), S. 39-40. Hier S. 40.

[...] H. G. Die beiden Gedichte viel zu sentimental! Zur Lectüre der Novelle sind wir noch nicht gelangt. Herrn J.. K. in K. - n. Keineswegs! Welche Beweggründe insinuiren Sie uns? Wir bemerken wiederholt, daß lediglich Werth oder Unwerth der Einsendungen über deren Aufnahme oder Ablehnung entscheidet. Das gekürzte Gedicht acceptiren wir jetzt. Herrn W. J. in W -n. Ihre Ode »Aurora« wird erscheinen. Herrn J. St. in P-s. Gern acceptirt, aber weshalb neuerdings immer nur so kleine Sachen?! Freundl. Gruß! Herrn J. B. in L - n. Wir bedauern, Ihre Offerte aus mehrfachen Gründen von der Hand weisen zu müssen. Herrn L. L. in O - ch. Frühling ohne Sonnenschein und Der gefesselte Loki sollen, letzteres entsprechend gekürzt, zum Abdruck gelangen. Ihre meisten Gedichte leiden an zu großer Breite. Herrn H. J. S. in R. - d. An trauter Stätte ist leider nicht aufnahmefähig. Studiren Sie fleißig die schönen, das Motiv der Mutter- und Kindesliebe behandelnden Gedichte von Albert Träger [1], Friedrich Rückert, Julius Sturm [2] u. A.

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Herrn J. D. in F - t. Sie irren! Es lag keineswegs mehr in unserer Macht, Ihrem Wunsche Rechnung zu tragen. Ueberdies war das bewußte Gedicht bereits gedruckt, als wir Ihr Schreiben erhielten. Herrn P. B. in Str-g. i. E. Das Lied eines fahrenden Gesellen [3] soll Aufnahme finden, wenn Sie sich entschließen können, dasselbe wesentlich zu kürzen. Ihrem Lustspiele wünschen wir besten Erfolg! Herrn K. K. in B — n. Lassen Sie sehen! Wenn unseren Anforderungen genügend, werden wir jene Gedichte gern acceptiren. Honorar bedauern wir jedoch nicht gewähren zu können. Herrn J. B. in B - n. Die gewählten Motive sind recht gute, aber dafür ist die poetische Ein­ kleidung der Gedanken diesmal eine sehr mangelhafte! Wenden Sie sich mit mehr Sorgfalt der Pflege des poetischen Ausdruckes zu! Herrn F. D. in U -n. Wir verstehen Sie nicht ganz; Sie bestellen unser Blatt ab, weil Sie glau­ ben, daß die Mitarbeiterschaft der hervorragendsten Dichter an demselben die Veröffentli­ chung Ihrer Producte unmöglich mache. Unseres Erachtens ist dies gar kein Grund, das Abon­ nement aufzugeben. Die Lectüre unserer Zeitschrift giebt Ihnen ja gerade die beste Gelegenheit, Ihren Geschmack an guten Vorbildern zu läutern und dadurch selbst zur Production aufnah­ mefähiger Leistungen zu gelangen. Auf den Ehrgeiz talentloser Poetaster, die unser Blatt nur aus dem Grunde halten, um sich durch Druckerschwärze verewigt zu sehen, ist unser Unterneh­ men freilich nicht begründet. Talent und eifriges Streben nach Vervollkommnung müssen eben Hand in Hand gehen. Wir haben Ihnen ja s. Z. Muth zu weiteren Einsendungen gemacht. Herrn O. W. in D - dt. Wir haben Ihr Schreiben nebst Einlage von 26 Gedichten verschieden­ ster Gattung, über welche Sie ausführliche briefliche Begutachtung wünschen, erhalten, müssen Sie aber dringend ersuchen, in Zukunft minder freigebig zu sein und insbesondere strengere Selbstkritik üben zu wollen. Es liegt auf der Hand, daß es uns effektiv unmöglich ist, derartige Stöße von Beiträgen mittelmäßiger Qualität einer gewissenhaften Durchsicht zu unterziehen.. Sie sollten uns eine solche zeitraubende Arbeit gar nicht zumuthen und sich lieber mit der Ein­ sendung von 3 bis 4 guten Gedichten begnügen. Wir werden uns dann nicht genötigt sehen, Ihre Sendung - wie diesmal - einfach ad acta legen zu müssen. Auch uns ist Zeit Geld. 1 1830-1912, Jurist und Reichstagsabgeordneter, veröffentlichte vor allem Lyrik (Gedichte 1858, zahl­ reiche Neuauflagen). 2 1816-1896, Hauslehrer und Pfarrer, Lyriker. Bevorzugte religiöse und patriotische Themen. 3 Wohl in Anlehnung an Rudolf Baumbachs (1840-1905) Lieder eines fahrenden Gesellen (1878) und Neue Lieder eines fahrenden Gesellen (1880).

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Buchbesitz und nationale Gesinnung

196 [Gustav Freytag]: Luxus und Schönheit im modernen Leben. Die Anlage von Hausbi­ bliotheken. In: Die Grenzboten 11/2 (1852), S. 102-09. (Neudruck Freytag: Ver­ mischte Aufsätze, hg. v. Ernst Elster, Bd. 1, S. 469-79) Jeder wohlhabende Privatmann, der diesen Artikel sieht, möge gütig annehmen, daß der Artikel recht speciell gegen ihn geschrieben ist, und daß ganz speciell gerade auf ihn die Vor­ würfe gehen, welche den wohlhabenden Gebildeten von Hamburg bis Meran, von Köln bis Posen auch einmal gemacht werden müssen. Während die letzten zwanzig Jahre in der Einrich­ tung des menschlichen Behagens bei uns große Veränderungen zum Bessern hervorgebracht ha­ ben, und während die schönen Künste überall thätig waren, ihre Gebilde und Erfindungen an das Leben der Einzelnen zu hängen, so ist doch in dieser ganzen Zeit das Verhältniß des Privat­ manns zu der Literatur seiner Nation gar nicht besser geworden, als es zu der Väter Zeit war, eher noch schlechter, und wer bei uns über die Einrichtung von Privatbibliotheken schreiben will, sieht sich genöthigt, seine Abhandlung mit einer unehrerbietigen Strafrede gegen die Ver­ mögenden und Behaglichen im Lande anzufangen. Ja, der Sinn für Comfort und schönen Genuß ist allgemeiner geworden. Wenn der Hausherr seine Freunde einladet, so kommt es ihm nicht mehr allein darauf an, recht schweres Silbergeräth und sechs verschiedene Arten von Trinkgläsern zu zeigen, sondern er hat die Einsicht ge­ wonnen, daß die Formen seines Tisch- und Hausgeräthes zierlich und schön sein müssen, um zu gefallen; und wenn die deutsche Hausfrau sich für eine Gesellschaft schmückt, so beschäftigt sie nicht mehr zumeist die Schwere und der hohe Preis der Stoffe, in welche sie sonst ihren Kör­ per einnähen ließ, sondern die zweckmäßige, den Gesetzen der Schönheit entsprechende Zusammenstellung der Farben und Formen bei ihrer Toilette. Es ist recht hübsch, daß unsre reichen Leute verstehen, gut zu essen und gute Weine von schlechten zu unterscheiden, daß unsre Frauen bereits Ansprüche an die Form eines Ballstraußes und die Farben eines Sophaüberzuges machen; wenn aber dieselben feinen Leute, welche ihren servirenden Bedienten Gla­ cehandschuhe über die musculösen Hände ziehen, so oft diese vor anderen Menschen präsentiren, sich nicht scheuen, so bald sie allein sind, die beschmuzten Bände einer vielgelesenen Leihbibliothek in die eigene weiche Hand zu nehmen, so ist das nicht schön. Allerdings ist noch schlimmer, daß sehr viele reiche und elegante Leute überhaupt gar nicht das Bedürfniß fühlen, ihre einsamen Stunden durch Lecture zu verschönern, und sich die beste Gesellschaft zu ver­ schaffen, in welche eingeführt zu sein der Reiche stolz sein sollte, die Gesellschaft aller bedeu­ tenden und geistvollen Menschen, welche seit einigen kleinen Jahrtausenden gelebt und ge­ schrieben haben. Wir Deutsche nennen uns gern eine literarisch gebildete Nation, wir sind stolz

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darauf, daß bei uns durchschnittlich mehr Menschen lesen und schreiben können, als bei unsren Nachbarn; wir sind stolz darauf, daß unsre Wissenschaft und unsre künstlerische Literatur bei fremden Völkern angesehen ist und in der Fortbildung des Menschengeschlechts eine Haupt­ rolle spielt; aber die Methode, nach welcher wir alte und neue Bücher zu genießen pflegen, ist noch so kleinlich, roh und spießbürgerlich, daß es eine wahre Schande ist. Allerdings werden in Deutschland viele Bücher gekauft, solche Bücher, welche nöthig sind, um daraus zu lernen, populaire Werke der einzelnen Fachwissenschaften und Lehrbücher aller Art; aber der Ver­ brauch von solchen Werken, welche mehr der Schönheit, als dem unmittelbaren praktischen Nutzen dienen, ist leider noch sehr unsicher, und der Sinn für Lecture gerade bei den Genießen­ den noch sehr wenig ausgebildet. Derselbe Mann, welcher ohne das geringste Bedenken ein Dutzend Thaler für einige Flaschen Champagner oder ein Austernfrühstück hinwirft, und der im Stande ist, dies öfter zu thun, ohne seine Verhältnisse zu derangiren, wird sich sehr hüten, ein gutes oder interessantes Buch zu kaufen, er wird die Gelegenheit abwarten, es zu leihen, vielleicht gar von dem Buchhändler selbst, denn er wird es für eine unerhörte Verschwendung halten, neben seinen starken Ausgabeposten für Delicatessen oder Sport-Freuden auch noch eine Bücherrechung am Ende des Jahres zu bezahlen. Und dieselbe Dame, welche für eine Ball­ toilette zehn Louisd’or ihres Taschengeldes auszugeben pflegt, würde vielleicht sehr entrüstet sein, wenn man ihr zumuthete, Macaulay’s Geschichtswerk [1] oder Burmeister’s geologische Briefe [2] für ihren Büchertisch zu kaufen und von ihrem Taschengelde zu bezahlen. — Doch in der That, einmal im Jahre, zur Weihnachtszeit, wo die Herren in Verlegenheit sind, was sie den Frauen und Kindern schenken sollen, werden hübsch aussehende, stark vergoldete Bücher fast von allen reichen Herren eingekauft und zum Geschenk gemacht. Diese haben dann die Bestimmung, ein Jahr lang auf dem Toilettentisch zu liegen. Die laufenden literarischen Bedürf­ nisse der übrigen Zeit befriedigen die Leihinstitute. Dieses knickerige Verhalten sehr vieler wohlhabender Privatleute hat auf die gesammte deutsche Literatur großen Einfluß ausgeübt, und viel dazu beigetragen, die Schriftsteller sowol, als den Buchhandel zu drücken, ja zuweilen zu corrumpiren und auf Abwege zu führen; ferner aber hat es einen eigenthümlichen Industriezweig zu großer Ausdehnung gebracht, die Leihin­ stitute für Bücher, Zeitschriften u.s.w. Der große Nutzen dieser Leihanstalten soll hier nicht verkannt werden, aber ihre Stellung zum deutschen Bücherverkauf ist eine sehr gefährliche ge­ worden. Für Werke, welche nicht dem praktischen Nutzen oder der Wissenschaft unmittelbar dienen, z. B. für belletristische Werke, Reisebeschreibungen, so wie für periodische Zeitschrif­ ten, sind dergleichen Institute in Deutschland die Hauptabnehmer, oft die alleinigen Käufer. Wer ein Buch dieser Art verlegt, oder eine periodische Zeitschrift herausgiebt, muß vor Allem diesen Instituten zu gefallen suchen. In ihnen aber gefällt zunächst, was dem Geschmack der großen Masse am meisten entspricht, häufig das Mittelmäßige, oft das Gemeine, und so kommt es, daß bei uns von Schriftstellern und Verlegern häufig so Schlechtes, Wüstes und Abge­ schmacktes producirt werden kann, daß einem Gebildeten davor grauen kann. Auf der artdern Seite aber werden viele solche Erzeugnisse weiche auf den Beifall kleinerer Kreise von Gebilde­ ten berechnet sind z. B. lyrische Gedichte, Schauspiele, manche Arten populairer, wissenschaft­ licher Werke, Reisebeschreibungen, Kupferwerke, in ihrer Wirkung aufgehalten und ihre Ver­

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fasser entmuthigt, weil die Verleger bei jedem solchen Buche gezwungen sind, zu fragen: Wie wird es unsrem Hauptkäufer, dem Publicum der Leihbibliotheken, gefallen? Jedes andere Buch aber, welches nicht in den Kreis der Leihbibliothekschriften gehört, auch nicht einer bestimm­ ten Fachwissenschaft angehört, hat unter solchen Umständen in Deutschland gar kein be­ stimmtes Publicum, und es ist fast Sache des Zufalls und des Glücks, wenn es sich einbürgert und dem Verleger Früchte trägt. Und doch giebt es viele wichtige, im besten Sinne des Wortes populaire Unternehmungen, durch welche die Literatur wesentlich gefördert wird, und welche nur möglich sind bei stattlicher Betheiligung von Privatleuten. Dahin gehören besonders alle Kupferwerke, welche bedeutende Auslagen und Risico von Seiten des Verlegers erfordern. Fast alle solche Unternehmungen kränkeln in Deutschland, weil ihnen die nöthige Unterstützung fehlt. Wer Geld hat, muß auch die Verpflichtung fühlen, etwas für die Literatur seines Volkes zu thun. Es ist gar nicht nöthig, daß er ein leidenschaftliches Interesse an all den guten Werken hat, welche er bezahlt, er soll sie bezahlen, damit solche Unternehmungen rentiren und das Ganze den Vortheil davon habe. Freilich wird es besser sein, wenn sein Geist ein lebhaftes Inter­ esse an allem Schönen und Großen, was in der Literatur zu Tage kommt, nehmen kann. Da das aber nicht immer möglich ist, sehr oft beim besten Willen und guter Bildung nicht möglich ist, so soll er wenigstens eine Pflicht gegen seine Zeit erfüllen, indem er Anderen die Möglichkeit offen erhält, solche Interessen zu verfolgen. Das ist eine Anstandspflicht des reichen Mannes. Und deshalb sollte jeder Wohlhabende eine kleine feste Summe seines jährlichen Etats für Gründung und Erhaltung einer Hausbibliothek bestimmen, und er sollte ferner nicht seinen und seiner Familie Verkehr mit den bedeutenden Schriftstellern aller Zeiten in einen entlegenen, staubigen Winkel seines Hauses verweisen, sondern je nach seinen Verhältnissen einen großem oder kleinern Raum mit entsprechender Decoration auswählen, welcher als das Bibliothekzim­ mer jedem Familienmitgliede offen steht und den Gästen einen erwünschten Ort der Sammlung, interessanter Unterhaltung und Belehrung darbietet. Eine solche Hausbibliothek ist gegenwär­ tig nur in den wenigsten wohlhabenden Familien Deutschlands zu finden, und in sehr wenigen ist die etwa vorhandene zweckmäßig und anständig aufgestellt. Auf vielen Schlössern unsrer großen Gutsbesitzer sind zwar alte Büchersammlungen vorhanden, häufig aus der Zeit ihrer Großväter, welche mit dem französischen Firniß auch den Respect vor den französischen Schriftstellern des 17. und 18. Jahrhunderts erhalten hatten. Aber diese Büchersammlungen sind in der Regel eine Beute der Spinnen und Bücherwürmer, im besten Falle sind sie dürftig und schmucklos aufgestellt, und die Summe, welche für ihre Completirung verwandt wird, ist so gering, und der Mangel an Unheil bei Auswahl neuer Bücher so groß, daß sie auf den Frem­ den, welcher sich zu ihnen verirrt, oft einen unheimlichen Eindruck machen. Und doch ist ge­ rade auf dem Lande, bei der großem Isolirung des Lebens, eine zweckmäßige Auswahl nützli­ cher und interessanter Bücher die nothwendige Bedingung des Behagens für eine gebildete Menschenseele. Aber auch der reiche Fabrikherr, der große Kaufmann sollten die Verpflichtung fühlen, durch eine solche Anlage ihr Familienleben zu verschönern. Und wenn dem Hausherrn seine angestrengte Thätigkeit nur selten verstauet, sich selbst daran zu erbauen, so möge er be­ denken, daß er seiner Familie kein besseres und dauernderes Vergnügen machen kann, als diese

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Anlage. Der Zustand der Bibliothek in einer Familie ist unter allen Umständen der erste Grad­ messer für die geistige Bildung und das innere Leben ihrer Angehörigen, und ein fremder Gast, welcher hereinkommt, hat nur nöthig, sich nach den vorhandenen Büchern zu erkundigen, um ein Urtheil über die Cultur des Hauses zu gewinnen. Ein solches Urtheil wird natürlich weder zuverlässig, noch in allen Fällen gerecht ausfallen, aber es ist eine von den Handhaben, durch welche der Gebildete sich schnell zu orientiren vermag, und die Damen vom Hause thäten sehr wohl daran, ihren Gästen und Freundinnen statt der altfränkisch und prätentiös im Glas­ schrank aufgestellten Porzellantassen und anderer mäßig gemalter Nippese gefällig geordnete und stattlich gebundene Bücher auszustellen. Die größte Uncultur zeigt sich auch in dieser Beziehung bei der Klasse von Geschäftsmännern, welche hier unter dem Collectivnamen Commerzienrath Hirsch oder Levi zusammengefaßt werden können. Ihr Herren verlangt, weil ihr viel Geld habt, daß die Vornehmen des Staates, der Wissenschaft und Kunst mit euch verkehren sollen, aber in vielen eurer Häuser würde man außer einem alten beschmuzten Talmud eures Vaters und etwa einem Handelslexikon wenig finden, was einen Beweis gäbe, daß ihr die besten und edelsten Interessen eurer Mitbürger zu theilen versteht. Schreiber dieses weiß wohl, daß mehrere Häuser in Wien, Berlin u.s.w. eine glänzende Ausnahme von dieser traurigen Regel machen; es sind eben nur Ausnahmen. Jeder Wohlhabende hat die Pflicht, in seinem Etat eine feste Summe für eine Hausbibliothek auszuwerfen. Er soll aber auch darauf sehen, diese Summe zweckmäßig zu verwenden; er soll nicht nach hübschen Einbänden und anderen Zufällen kaufen, welche ihm ein gefälliger Buch­ händler nahe legt, sondern er soll unter allen Umständen sich einen gewissen Plan machen und zu erfahren suchen, was von guten und interessanten Büchern im Laufe des Jahres erscheint. Wenn ihm das Letztere die Freunde des Hauses nicht sagen können, so mag er sich selbst die Mühe geben, sich darum zu bekümmern. Dazu sind die literarischen Zeitschriften vorhanden; es wird nützlich sein, wenn er sich eine solche periodische Schrift selbst hält. [...] Wer eine Bibliothek anlegt, sorge auch für einen einfachen und geschmackvollen Einband seiner Bücher. Erst in den letzten Jahren sind in Deutschland geschmackvolle Einbände allge­ meiner geworden, noch jetzt ist es aber nöthig, dem Buchbinder auf die Finger zu sehen; kein unnützes Ueberladen mit goldnen Zierrathen, aber eine genaue Angabe des Titels auf der Rück­ seite in deutlichen Lettern, die Bücher bei kleinen Bibliotheken möglichst gleichförmig einge­ bunden, bei großen vielleicht je nach Schränken und Fächern verschieden gekleidet. Immer ein genaues Verzeichniß der vorhandenen Bücher, bei größeren Sammlungen die einzelnen Bände mit laufenden Nummern und der Nummer des Schrankes bezeichnet. Bei kleineren Bibliothe­ ken sei ein Mitglied der Familie der Bibliothekar; gern wird eine der Damen des Hauses diesen Posten übernehmen, und die Ordnung und Sauberkeit unter den Büchern mütterlich zu erhalten wissen. Aber die Bibliothek verlangt auch eine zweckmäßige Aufstellung. Und hier ist der Ort, wo die Deutschen sich die Engländer einmal ohne Rücksicht zum Muster nehmen sollten. In Eng­ land ist das Bibliothekzimmer ein unentbehrlicher Theil des Familiencomforts, eine Bibliothek halten, ist für jeden Gentleman nothwendig. Die literarische Bildung der Engländer ist oft ein­ seitiger, als die unsere, aber ein gewisses Interesse für Literatur ist viel allgemeiner verbreitet, als

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bei uns. Lord und Gentleman auf dem Lande, Kaufmann und Fabrikherr in der Stadt, halten ihre periodischen Literaturblätter und arrangiren nach diesen ihre Bibliotheken; weder im normannischen Schloß, noch in der niedlichen Cottage, noch im geräumigen Hause der Stadt fehlt das Bibliothekzimmer. Es ist der privilegirte Raum des Hauses, zu bestimmten Tages­ zeiten hat Jeder dort Zutritt, und es wird Alles aufgeboten, diesen Raum zu schmücken und angenehm zu machen. Die beste Lage, die weichsten Sessel, allerlei Kunstgegenstände als Zier­ rath werden dort hineingesetzt. Freilich ist zuweilen mehr Ostentation, als wirkliches Interesse bei dieser landesüblichen Anlage; aber sie ist doch immer das Zeichen eines bessern und edlem Strebens, als die unwohnliche Putzzimmer unsrer Hausfrauen mit ihren Silber- und Glas­ schränken und dem kleinen Tisch unsrer Soireeabende auf welchem einige alte Kupferwerke in abgegriffenen Leinwandbänden liegen, z. B. das malerische und romantische Deutschland [3], und ähnliche Sammlungen, welche sehr achtungswerth, aber durchaus nicht neu und nicht unbekannt sind. [...] Allerdings werden wir in Deutschland nur selten unsre Bücherräume so reich auszustatten im Stande sein, aber auf dem Lande wie in der Stadt können wir in viel bescheideneren Verhält­ nissen auf passende und anmuthigere Weise ein Zimmer als Bibliothek einrichten. Ein heller Raum, wo möglich mit der Aussicht ins Grüne, an den Wänden solide Schränke für die Bücher, ein besonderer mit Schubfächern für Charten und Kupferwerke, wo diese in Mappen liegen können; in der Mitte ein eleganter Arbeitstisch mit bequemen Sesseln zum Zurücklegen des Rückens, in den Ecken der Stube Nischen mit Statuen oder Vasen, wenn nicht von Marmor, doch von Zinkguß oder bescheidener Terracotta, an dem freien Wandraum einige historische Portraits. - das ist eine Einrichtung, welche dem Einzelnen auch ohne großen Reichthum mög­ lich wird und welche hier und da zu veranlassen der lebhafte Wunsch dieses Artikels ist.

History of England from theAccessionofJames II. (5 Bde.,London: Longman 1849-61), unvollendetes Hauptwerk des Historikers Thomas Babington Macaulay (1800-1859). In England ein außerordentli­ cher Verkaufserfolg, deutsche Übersetzungen u. a. durch F. Bülau (5 Bde, 1849-61), H. Paret (11 Bde., 1850-61), W. Beseler/Th. Stromberg (12 Bde., 1852-61). 2 Gemeint sind wohl die Geologischen Bilder zur Geschichte der Erde und ihrer Bewohner (2 Bde.), die der Naturforscher und Reiseschriftsteller Hermann Burmeister (1807-1892) 1853 veröffentlichte. 3 Beliebtes Ansichtenwerk mit zahlreichen Stahlstichen, das im Leipziger Verlag G. Wigand in 11 Bänden zwischen 1830 und 1850 herauskam. 1

197 Adolf Zeising: Deutsche Originalromane [Sammelrez.J In: Blätter für literarische Unterhaltung 1854/1, S. 285-92. Hier S. 285-87. Das Unternehmen der Deutschen Bibliothek[l] hat in doppelter Rücksicht auf die lebhafte­ ste Theilnahme und allseitige Unterstützung und Förderung Anspruch, ein mal von Seiten seiner allgemeinen Tendenz, das andere mal von Seiten seiner bisjetzt zur Ausführung gekommenen Leistungen. Die Tendenz desselben geht dahin, den deutschen Roman dem traurigen, ja jam­

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mervollen Zustande zu entreißen, in dem er bisher mitten unter der alle vaterländischen Erzeugnisse überwuchernden und erstickenden Vegetation der Uebersetzungen dahinsiechte und trotz aller Anstrengungen und Leistungen bedeutender und hochbefähigter Geister nicht dazu gelangen konnte, über wenige enge Kreise hinaus Anerkennung und Verbreitung zu fin­ den, geschweige denn ein wirkliches National- und Volkseigenthum zu werden. Während die französischen und englischen, dänischen und schwedischen Romane nicht nur in jeder auch noch so winzigen Leihbibliothek, oft zu fünf, sechs und mehr Exemplaren, sondern auch in nicht wenigen Privatsammlungen gefunden werden, muß man nach einem deutschen Roman, wenn er nicht dem gewöhnlichsten Lesefutter angehört oder durch irgend einen zufälligen Umstand in Mode gekommen ist, in der Regel lange, lange suchen, ehe man ihn irgendwo an­ trifft, ja man muß, wenn man nach ihm fragt, nicht selten erleben, daß Personen, denen die Romanlectüre Lebensunterhalt oder Lebensbedürfniß ist, kaum von seinem Namen, seiner Existenz wissen oder gar verächtlich über ihn die Achseln zucken, als ob ein deutscher Roman an eine Berücksichtigung von vornherein gar nicht denken dürfe. [...] Wenn also [...] gegenwärtig im deutschen Volk jener Widerspruch zwischen dem produ-

cirenden und concipirenden Theil in gewissem Grade besteht, so muß sich nothwendig einer von beiden der ursprünglich-deutschen Richtung entfremdet haben. Dies kann aber nur vom concipirenden Theil angenommen werden, denn soweit wir auch die Literatur und Poesie zu­ rückverfolgen, lassen sich gerade diejenigen Seiten des deutschen Romans, gegen die jetzt das deutsche Publikum lau geworden ist, als ursprünglich- und echtdeutsche erkennen; auch wird Niemand leugnen können, daß sie mit dem ganzen übrigen Wesen und Charakter des Deut­ schen im engsten und nothwendigsten Zusammenhänge stehen, woher es sich auch erklären läßt, daß die deutschen Dichter, trotzdem daß sie gewiß auf alle Weise sich bemüht haben, dem herrschend gewordenen Geschmack entgegenzukommen, niemals damit zustande gekommen sind, weil eben Niemand etwas aus sich herauszaubern kann, was nicht von Natur in ihm liegt. Nicht also die Dichter, sondern die Leser haben sich von dem ursprünglichen und natürlichen Zustande entfernt, und es muß daher, wenn dieses naturwidrige Verhältniß beseitigt werden soll, nothwendig darauf hingearbeitet werden, daß das deutsche Volk wieder den deutschen Dichtern zugeführt werde. Dies kann aber nur dadurch geschehen, daß man auf jede mögliche Weise diejenigen innern und äußern Ursachen wegzuräumen sucht, welche nach und nach die Entfremdung des Publicums vom deutschen Roman herbeigeführt haben. [...] Die Uebersetzungen sind für einen Spottpreis zu haben; für die deutschen Romane hin­ gegen müssen enorm hohe Preise gezahlt werden — das sind die beiden Rücksichten, die bei der großen Masse des Publicums und der Leihbibliothekare über Kaufen oder Nichtkaufen ent­ scheiden, mag die deutsche Literatur dabei bestehen oder zugrunde gehen. Wenn der deutsche Leihbibliothekar gewöhnlichen Schlags einen englischen oder französischen Roman beinahe für ebenso viel Groschen haben kann, als er für den deutschen Thaler bezahlen muß, kauft er zunächst den ersten und den andern nicht eher, als bis ihn eine gewisse Nothwendigkeit dazu drängt. Diese tritt aber im Durchschnitt nur sehr selten ein; denn einmal ist die Masse der Uebersetzungen so groß, daß er mit ihnen ziemlich das Bedürfniß aller seiner Kunden befriedi­ gen kann; sodann hat sich die Mehrzahl der Leser schon seit einer langen Reihe von Jahren

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daran gewöhnt, vorzugsweise mit ausländischen Romanen abgefüttert zu werden, und läßt da­ her nach etwas Anderm kaum einen Wunsch laut werden; wenn aber ja einmal ein deutscher Roman gefordert wird, so pflegt der Leihbibliothekar mit der Klage zu antworten, daß ja nach einem solchen fast gar keine Nachfrage sei, daß also derselbe wol nicht viel werth sein müsse; und hiermit lassen sich dann nicht wenige der Leser, die überhaupt in der Wahl ihrer Lectüre nur selten von einem selbständigen Urtheil geleitet werden, abfertigen. Noch schlimmer wirkt der hohe Preis der deutschen Romane auf den Absatz derselben für Privatbibliotheken. Unter den Motiven, die überhaupt zum Ankauf von Romanen Anlaß geben, sind jedenfalls drei die vorherrschenden. Der Eine kauft, was gerade zu kaufen Mode ist; ein Anderer, was ihm beim Lesen lieb geworden; ein Dritter, was ihm für ein Billiges die meisten Bände in den Bücher­ schrank liefert. Welche Aussicht also hat der deutsche Roman an die Reihe zu kommen, da seine hohen Preise nicht nur mit dem letzten Motive in Widerspruch stehen, sondern auch die Entste­ hung der beiden ersten verhindern? So ist es gekommen, daß man in einer Masse von Privatbi­ bliotheken die sämmtlichen Werke von Walter Scott, Cooper, Bulwer, Marryat [2] u. A. findet, wo man die Novellen und Romane von Tieck, W. Alexis, Steffens [3], Seatsfield [!], Koenig [4], Schefcr [5], Gutzkow u. A. vielleicht vergeblich suchen würde. [...] [...] Der Roman ist jetzt von allen Dichtungsgattungen, ja man kann fast sagen, von allen Literaturerzeugnissen, diejenige Form, die nach allen Seiten und Richtungen hin die weiteste Verbreitung findet und durch welche die Strömung der Ideen am ungezwungensten und sicher­ sten vermittelt wird. Es ist daher von sehr großer Bedeutung, ob das Volk'vorzugsweise fremde oder vaterländische Romane liest, denn die unausbleibliche Folge ist, daß es mit jenen nach und nach auch fremde Ideen und Lebensanschauungen einsaugt und auf diese Weise immer mehr und mehr dem deutschen Sinn und Wesen entfremdet wird, während es in diesen eine heilsame Nahrung und Kräftigung seiner innersten Natur und nationalen Eigenthümlichkeit erhält. Man denke nur an den Einfluß, den die Romane von George Sand, Paul de Kock [6], Eugen Sue, Alexandre Dumas u. A. auf das deutsche Volk ausgeübt haben, und man wird nicht leugnen können, daß die Wirkung eine wesentlich andere gewesen sein würde, wenn es statt deren die Romane von Heinrich Koenig, Wilibald Alexis, Levin Schücking u. A. gelesen hätte. Die Entdeutschung des Publikums hat aber nothwendig auch die Entdeutschung der Schriftsteller zur Folge. Zwar die eigentlich Befähigten und Berufenen werden dieser Entartung so leicht nicht verfallen, weil der kräftigere Genius stets tiefer und fester im vaterländischen Grund und Boden wurzelt; aber alle jene secundären, untergeordneten Talente, die Faiseurs und Fabrikschriftstel­ ler, welche nicht aus innerm Drange, sondern des Gelderwerbs wegen schreiben und nur Das zu Markte bringen, was gekauft wird, werden immer mehr im fremdländischen Sinn und Geiste arbeiten und so den der Nationalität verderblichen Einfluß noch vergrößern, dergestalt, daß das entartete deutsche Volk zuletzt gar keine urkräftigen Genies von deutschem Wesen mehr zu erzeugen vermag. Es hängt also das Gedeihen des deutschen Romans auf das innigste mit dem Gedeihen der deutschen Nationalität überhaupt zusammen. Wem also hieran, sowie an der Ehre des deutschen Namens gelegen ist, dem muß auch das Gelingen eines Unternehmens wie das hier in Rede stehende am Herzen liegen, und es muß ihm als ein Ehrenpunkt erscheinen, zu seinem Gedeihen mitzuwirken; denn es würde in der That ein Schimpf und eine Schande

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für die deutsche Nation sein, wenn auch nach Hinwegräumung der äußern Misverhältnisse nur das fremdländische Product Glück, das vaterländische aber Fiasco machte, und man könnte daraus alles Ernstes den Schluß ziehen, daß es mit dem Selbstgefühl und der Lebensfähigkeit der deutschen Nation zur Neige gehe. 1 s. Einf. 2 Frederick Marryat (1792-1848), englischer Schriftsteller, verfaßte v. a. Seeromane, die fast alle ins Deutsche übersetzt wurden, und Kinderbücher. 3 Heinrich Steffens (1773-1845), norwegischer, in Deutschland lebender romantischer Philosoph, Natur­ forscher, Novellist. Sein bedeutendstes Werk ist die Autobiographie Was ich erlebte (1840—44,10 Bde.). 4 Heinrich Joseph König (1790-1869), schrieb zahlreiche historische Romane und Novellen. 5 Leopold Schefer (1789-1862), neben prosaischen Schriften insbesondere durch erbauliche Versdidaktik bekannt (Laienbrevier, 1834-35). 6 (1794-1871), Dramatiker und Romancier, dessen Schriften zum Grundbestand französischer und deut­ scher Leihbibliotheken gehörten. Wegen manchmal etwas freier Passagen als schlüpfrig und pikant ab­ qualifiziert.

Leihbibliotheken und Romankonsum

198 Verfügung des königl. preuss. Ministeriums des Innern über die Beaufsichtigung der Leihbibliotheken. In: Allgemeine Press-Zeitung 3/35 (1842), Sp. 329-32. Wenn die Allgemeinheit unsers Volksunterrichts bereits gründliche Elementarkenntnisse durch alle Volksklassen verbreitete, so hat zugleich die auf möglichste Anregung der Denk­ kräfte hinzielende Richtung desselben die Wirkung gehabt, daß jene Kenntniß keine todte, me­ chanische blieb, sondern zum lebendigen Impulse des Volksgeistes nach Weiterbildung ward. Namentlich äußert sich dieß rege Streben nach geistiger Fortentwickelung in der durch alle Stände verbreiteten Neigung zum Lesen; die Lectüre ist unläugbar zum Volksbedürfnisse ge­ worden. So erfreulich dieser lebhafte Bildungstrieb in einem Staate sein muß, dessen Kraft vor Allem auf geistigen Hebeln beruht, so dringend nothwendig erscheint es, diesen Trieb durch sorgfältige Ueberwachung und Leitung vor Abwegen zu bewahren, da derselbe, in der Wahl der Mittel seiner Befriedigung sich selbst überlassen, in demselben Maaße zur Ausartung führen kann, wie er, auf das Gute und Nützliche gelenkt, auf geistige Entwickelung und sittliche Ver­ edelung entschieden einwirken muß. - Vor Allem sind es die Leihbibliotheken, aus denen das größere Publicum sein Lesebedürfniß befriedigt. Der Einfluß dieser Anstalten auf den Volks­ geist, in einem Lande, in welchem selbst der Landmann seine Mußestunden mit Lesen auszufül­ len beginnt, ist kaum zu berechnen und übersteigt an Umfang wie an nachhaltiger Wirkung den des Buchhandels und der Tagespresse. Nur sehr selten werden Bücher von den untern Volksklassen gekauft, Tagesblätter gehen flüchtig durch die Hände, die Bücher der Leihbiblio­

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theken sind dagegen bei der Geringfügigkeit der Ausgabe Allen, auch den Aermeren zugänglich; sie können mit Muße gelesen werden und müssen, sei ihr Inhalt welcher er wolle, um so ent­ schiedener auf Meinung und Gesinnung einwirken, je weniger der Halbgebildete im Stande ist, den Inhalt durch ein selbstständiges Urtheil zu beherrschen. Die bisher zur Ueberwachung des Leihbibliothekwesens und zur Verhütung des schädlichen Einflusses schlechter Lectüre genom­ menen Maaßregeln, welche sich wesentlich auf eine polizeiliche Controle der Kataloge, auf die Prüfung der persönlichen Qualifikation der Leihbibliotheken-Inhaber und auf das Verbot des Bücherverleihens an Gymnasiasten beschränken, haben sich in ihrer Striaen Durchführung schwierig und unzureichend gezeigt. Der verschiedene Bildungsstand desjenigen Publicums, welches seine Lectüre aus dem Buchhandel entnimmt, und des bei weiterem größeren Leser­ kreises, welcher auf die Benutzung der Leihbibliotheken angewiesen ist, erheischt eine strengere Controle der in den Leihbibliotheken, als der im Buchhandel ausgegebenen Bücher, weshalb nicht allein verbotene, sondern alle Schriften, deren Inhalt dem Halbgebildeten schädlich wer­ den kann, in den Leihbibliotheken nicht zugelassen werden sollen.

[•••] Mit jedem Jahre steigert sich, in Folge der rasch fortschreitenden Gesammtbildung, das geistige Bedürfniß der Nation und der Einfluß der Leihbibliotheken, aus denen dasselbe vor­ zugsweise seine Befriedigung sucht. Die Wichtigkeit des Gegenstandes erheischt deshalb die ernsteste Beachtung und macht allgemein dem Zwecke entsprechendere Maaßnahmen drin­ gend nothwendig. Ich glaube daher diese Angelegenheit der Erwägung des Königlichen OberPräsidiums besonders empfehlen zu müssen, wenn ich Dasselbe um gutachtliche Aeußerung darüber ergebenst ersuche: wie eine durchgreifendere Controle des Leihbibliothekwesens zu bewirken sein möchte. Schwerlich dürfte die hier zur Erwägung gestellte Frage durch eine nur geschärftere Handhabung der bisherigen Verordnungen genügend zu erledigen sein. Polizeili­ che Maaßregeln scheinen zur Lösung derselben überhaupt nicht auszureichen, und es wäre da­ her zu erwägen, ob es nicht rathsam erscheine, den Gemeinsinn für diese Angelegenheit zu interessiren und die Bildung von Privatvereinen zu begünstigen, welche es sich zur Aufgabe stellten, die obrigkeitliche Controle der Leihbibliotheken zu unterstützen und durch Errichtung von Vereins-Bibliotheken, wie schon an mehreren Orten geschehen ist, einen durchgreifenden Erfolg zu sichern. Die Einwirkung der Polizei, welche ihrer Natur nach nur eine negative den schädlichen Einfluß schlechter Leaure durch Ausscheidung und Beschlagnahme verderblicher Bücher möglichst abwehrende sein kann, würde in solcher Unterstützung durch Privatvereine erst ihre positive Ergänzung finden. Soll nämlich die erwachte Neigung des Volkes zu fortge­ setzter geistiger Entwickelung und das vorhandene Lesebedürfniß zu einem wahrhaften Hebel des Fortschrittes der Sittlichkeit und Loyalität dienen, so darf auch die nützliche Seite des Leih­ bibliothekwesens und einer zweckmäßig gesichtete, wohlfeil gebotenen Volkslectüre nicht ver­ kannt, und es muß neben dem Verbote der schlechten Bücher zugleich dahin gewirkt werden, die guten in Umlauf zu setzen und zur möglichst ausgebreiteten Geltung zu bringen. Leihbiblio­ theken, bei deren Anlage nicht sowohl die Zahl, als vielmehr der Inhalt der Bücher, nach der umsichtigen Entscheidung eines von praaischem und patriotischem Sinne geleiteten VereinsAusschusses, in Betracht gezogen und gute Leaüre in einer großen Zahl von Exemplaren gehal-

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ten würde, müßten vom entscheidendsten Einflüsse auf Sittlichkeit, auf Erweckung und Erhal­ tung eines gesunden Volkssinnes sein. Bei der unverkennbaren Empfänglichkeit der Gegenwart für die Förderung gemeinnütziger Zwecke auf dem Wege der Association, bedürfte es vielleicht nur eines geringen Anstoßes, um derartige Vereine ins Leben zu rufen, und es ist kaum zu be­ zweifeln, daß es denselben mit der Zeit gelingen würde, das größere Publicum für den Gebrauch der Vereinsbibliotheken zu interessiren. In Folge des Einflusses solcher Anstalten und der von ihnen gebotenen besseren und gewählteren Geistesnahning, würde der Geschmack des größe­ ren Publicums mehr und mehr geläutert, die Cataloge allmälig von schlechten Büchern gesäu­ bert und namentlich die große Zahl seichter und gesinnungsloser Schriftsteller discreditirt und zum Schweigen genöthigt werden, welche aus der Vielschreiberei ein Gewerbe machen und eine Fülle verderblicher, mindestens zeittödtender Lecture in die Welt senden, weil sie eines Hono­ rars für ihre Machwerke bei dem gegenwärtig durch die Leihbibliotheken gesicherten Absätze derselben, gewiß sein können. -

199 Albert Last: Ueber Romane und Romanverleger. Winke für den Verleger. In: Journal für Oesterreich’s Leihbibliotheken 1/14—16 (1864), S. 116-17, 123-25, 132-34. Hier S. 123-25.

Ein charakteristisches Zeichen unserer Zeit ist das fortwährende Haschen nach dem Neuen; es verbreitet sich dieser Hang des Menschen in von Jahr zu Jahr zunehmender Weise auch auf dem Felde der Literatur. Unsere deutschen Klassiker haben wohl Viele in ihrer Privatbibliothek, auch fehlen dieselben in keiner auch nur halbwegs guten Leihbibliothek, doch weder der Besit­ zer dieser Bücher nimmt jemals davon eines zur Hand, noch werden dieselben in der Leihbiblio­ thek begehrt. Alle fragen nur nach dem Neuen, - ein Buch, das einige Jahre alt ist, will schon Niemand mehr lesen, und gar ein Buch, welches man vor einigen Jahren gelesen hat, noch ein­ mal zu lesen, wie es in früheren Jahren wohl der Fall war, das fällt jetzt Niemandem mehr ein. Der Romane, welche sich einer jahrelangen lebhaften Ncchfrage zu erfreuen haben, gibt es jetzt sehr wenige. Die Produktion ist daher auch in unserer Zeit, gegen früher, eine ungemein erhöhte und ist Eines durch das Andere veranlaßt. Verleger, welche sich früher mit Belletristik befaßten, waren gegen jetzt sehr wenige; ob dieselben aber damals bessere Geschäfte gemacht haben, als die heute vergrößerte Menge der Verleger, möchten wir nicht behaupten. Im Allgemeinen ist aber der Verlag von Belletristik bei uns kein besonders lukrativer Geschäftszweig, ja es schließt der­ selbe vielfache Gefahren in sich, und niemals, oder nur in den höchst seltensten Fällen kann der Verlegerden Erfolg oder den Gewinn eines neuen Unternehmens im Voraus auch nur annä­ hernd bestimmen. Wir sehen denn auch oftmals Firmen sich mit der größtmöglichsten Thätigkeit auf den belle­

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tristischen Verlag werfen; wir sehen dieselben in rascher Folge oft eine Reihe ganz guter Werke bringen, nach wenigen Jahren jedoch hören sie entweder plötzlich damit auf, oder sie beschrän­ ken ihr Unternehmen auf ein Minimum des früheren; und sehen wir uns bei unsern größten Verlegern um, so werden wir bei wenigen besondere Zufriedenheit mit ihren Geschäftserfoigen finden. Wollte man nun hieraus auf eine Ueberproduktion schließen, so glauben wir, daß man dabei fehlginge, denn das Bedürfniß ist da, und keinesfalls glauben wir annehmen zu dürfen, daß die Produktion im Ganzen eine beschränktere werden könnte, im Gegentheil, mit der fortschrei­ tenden Entwickelung des deutschen Nationalcharakters entwickelt sich auch unsere Literatur und das Bedürfniß darnach, welches daher eher eine vermehrte Produktion herbeiführen wird. Worin also, muß man sich fragen, liegt der Grund, daß der Romanverleger einen so schweren, gefahrvollen Stand hat? [...] [...] Die frühere einfachere, ruhigere Gebahrung des Verlegers ist verschwunden, die Speku­ lation treibt bald hier, bald dahin, bald richtet der Verleger seine Spekulation dem Publikum, bald den Leihbibliotheken zu; sieht er sich hier getäuscht, so wendet er sich nächstens dem an­ deren Wege zu, um denselben bald eben so wenig lukrativ zu finden. Dabei hat aber doch unsere Romanliteratur einen bedeutenden Werth erhalten, und gewinnt täglich an Einfluß und Bedeu­ tung. Wie läßt sich das also nun erklären? Wir befinden uns in einer Zeit des Ueberganges. Die alten Verhältnisse des Publikums zum Buchhändler und Leihbibliothekar bestehen nicht mehr; daß sich Jemand einen Roman kauft, um ihn zu lesen, begreift man heute kaum; belletristische Hausbibliotheken gründet Niemand mehr, und die früher gegründeten wandern dem Antiquar zu. - Bei uns in Oesterreich kaufte das Publikum bisher noch am meisten, der Adel, der reichere Bürger frequentirte keine Leihbi­ bliothek, er fand es seinem Stande nicht für anpassend, ein Buch zu lesen, welches in alle Hände kam, und die Spuren davon trug. Heute aber hat sich das sehr geändert; die Leihbibliotheken sind besser geworden, der Umschwung der politischen Verhältnisse, die Theuerung und die verringerten Einkünfte des Adels, haben auch diesen dem Leihbibliothekar als Kunden zugeführt, und mehr und mehr ist der Romanverleger auf die Leihbibliotheken als fast alleinige Abnehmer seiner Erzeugnisse an­ gewiesen. Nun wäre das ganz gut, und sollte der Verleger dabei am besten fahren, weil er bei seinem Unternehmen viel sicherer zu Werke gehen könnte; allein hier zeigt sich nun ein anderer Uebelstand, auf den wir schon in einem früheren Artikel hingewiesen haben. Es ist die Erbschaft früherer Zeiten, früherer Verhältnisse, welche wir uns aus falschen Rücksichten bisher nicht entschließen konnten, über Bord zu werfen. Es ist die zu billig gestellte Lesegebühr in den mei­ sten Leihbibliotheken, die es nicht ermöglichte, die theurer gewordenen Bücher anzuschaffen. Jeder Leihbibliothekar schreckt vor dem Gedanken einer Erhöhung der Abonnementspreise zurück, hält dieselbe für unmöglich, und doch wäre in unserem Geschäfte eine Preiserhöhung der Lesegebühr vollkommen gerechtfertigt. Wenn man bedenkt, daß sich die Preise aller Lebensbedürfnisse in den letzten 20 Jahren nicht nur verdoppelt, ja manche verdreifacht haben, daß namentlich der Zins für das Geschäftslokal unendlich gestiegen ist, die Steuer sich verdop­ pelt hat, der Lohn theurer geworden ist, so wäre es nur zu sehr gerechtfertigt, daß auch der

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Leihbibliothekar seine Preise, wie es jeder Geschäftsmann und Handwerker für seine Waare gethan, ebenfalls erhöhte; er wäre dazu um so mehr berechtigt, als bei den ungemein gesteiger­ ten Ansprüchen des Publikums die Bücher theurer kommen, und die Ausgaben sich daher sehr erhöht haben. Trotz alledem aber bleibt der Leihbibliothekar bei den alten Preisen, die aus einer Zeit stammen, wo, wie wir gezeigt, seine Ausgaben sehr geringe, seirje Leser ganz andere waren, und Ansprüche, welche jetzt an den Geschäftsmann gestellt werdep, gar nicht vorhanden wa­ ren. Dazu kommt noch, daß der sich neu etablirende Leichbiblio'thekar in Unkenntniß der Ver­ hältnisse, der Konkurrenz wegen, die Preise wo möglich noch niedriger stellen zu müssen glaubt, als sie bisher waren. Die Folge dieser Verhältnisse ist nun der jetzige Zustand und der schwierige Stand des Romanverlegers. Er weiß nicht mehr, auf wen er rechnen soll, auf das Publikum, das ihn mehr und mehr verläßt, oder auf den Leihbibliothekar, der in dem Maße, als das Erstere der Fall ist, sich ihm zuwenden sollte, es aber nicht kann. Hieraus entstehen nun die verschiedenen Experimente, welche wir von den Verlegern ma­ chen sehen. Wiederholt versuchen sie das Publikum zu gewinnen. Da man sieht, daß selbst der Wohlhabendere 4 bis 6 Thaler auf einmal nicht mehr für den Roman ausgeben will, so wendet sich der Verleger den ärmeren Klassen zu, und bietet ihnen mittelst Kolportage den Roman in Heften zu 2 bis 3 Ngr. oder 10 bis 15 Kreuzer. Das ist bisher Manchem gelungen, und hat ihn zum reichen Manne gemacht; das Beispiel aber hat nun so Viele dazu aufgefordert, daß das klägliche Ende dieser Art der Spekulation nahe bevorsteht. Die Mittel des geringen Mannes rei­ chen nicht mehr aus, um Alles zu absorbiren, was ihm geboten wird; der Reiz der Neuheit des Unternehmens ist dahin, der Ueberdruß daran ist im Entstehen. Wieder und wieder wird und muß der Verleger sich also dem Leihbibliothekar als seinem natürlichsten Abnehmer zuwenden, und werden und müssen diese unsicheren schwankenden Zustände sich klären; denn das Bedürfniß nach Lektüre ist beim Volke in raschem Zunehmen, namentlich bei uns in Oesterreich, wo wir in dieser Beziehung den deutschen Staaten unverhältnißmäßig zurückgeblieben waren. Der Leihbibliothekar ist darauf angewiesen, den Wünschen des Publikums mehr und mehr Rechnung zu tragen, die sich mehrende Konkurrenz wird ihn zwingen, auf Mittel und Wege zu sinnen, sein Geschäft zu verbessern, und schließlich wird die Zeit kommen, wo der Verleger auf sichern Gewinn beim Absatz seiner Waare an die Leihbiblio­ theken rechnen können wird, und wo er sagen können wird: kauft das Publikum von dem Roman ein- oder zweihundert Exemplare, so ist das gut, aber zur Sicherung des Unternehmens ist dasselbe nicht mehr erforderlich. So ist es bereits in England, dort rechnet der Verleger allein auf den Absatz an Leihbibliotheken; die von Mudie in London bezieht aber auch von Werken beliebter Autoren zwei- bis dreitausend Exemplare, wie wir aus eigener Anschauung wissen, was bei dem hohen Preise von 3 Pfund 6 Shillingen für den dreibändigen englischen Roman gewiß ein staunenswerthes Faktum ist. Esergiebtsich also hieraus, daß der Verleger bei seinem Unternehmen vor Allen sein Augen­ merk auf die Leihbibliotheken zu richten hat, er muß suchen in Ausstattung der Bücher, in Bestimmung des Formates, in der Wahl der Schrift, des Papiers, in der Eintheilung der Bände­ zahl die Wünsche des Leihbibliothekars zu berücksichtigen. Wohl sind diese Wünsche bei Letz­

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Literarisches Leben

teren oftmals sich ganz entgegen, doch werden sic bei größeren Geschäften stets übereinstim­ mend sein. Bevor wir nun auf diesen Theil näher eingehen, können wir nicht umhin, das geschäftliche Gebahren eines unserer ersten Verleger im Interesse der Sache eingehend zu besprechen. Herr Otto Janke in Berlin, der sich uns Leihbibliothekaren gegenüber, nicht zu leugnende Verdienste erworben hat, ist unserer, und wie wir uns zu überzeugen mehrfache Gelegenheit hatten, auch vieler Anderer Meinung nach, mit seiner Speculation auf für ihn gefährliche Abwege gerathen. Die oben besprochenen Verhältnisse mögen auch ihn dazu bestimmt haben, es noch einmal mit dem Publikum zu versuchen, um zu sehen, ob es nicht durch Spottpreise, wie er sie bei seiner Romanzeitung gestellt hat, noch zu ködern ist. Diese Romanzeitung, von welcher der zweite Band oder das zweite Quartal jetzt vollendet vorliegt, bring in sechzig zwei­ spaltig bedruckten Druckbogen in Quartformat vier vollständige deutsche Original-Romane, zu dem unglaublich billigen Preise, von 1 Thaler pro Band, oder Quartal. Hiergegen könnten wir allerdings nichts einwenden, denn Jeder kann sein Geld auf die Straße werfen wie er Lust hat, aber was nun weiter folgt, das geht uns sehr an, und darüber haben wir ein ernstes Wort zu reden. Nachdem also ein solcher Band in die Hände des Publikums gelängt ist, und die darin enthal­ tene Romane dem nach Neuigkeiten haschenden Publikum bereits nichts Neues mehr sind, bringt Herr Janke dieselben Romane in Separatausgaben, die für uns Leihbibliothekare berech­ net sind. Für uns aber kosten diese Romane nicht wie für das Publikum zusammen 1 Thaler, sondern wie er selbst im zweiten Bande zusammenstellt und ankündigt 12 */ 2 Thaler. Hier fragt es sich nun, kann Herr^anl^e diese Sachen in erster Auflage dem Publikum für 1 Thaler geben, was wir sehrbezweifbl.n friüssen, wie kann er dann von uns verlangen, daß wir ihm für dasselbe nur in anderer Form J272 Thaler zahlen sollen? Um so mehr, als der Satz der ersten Auflage auch größtentheils fürV|ie zweite Auflage, blos umgebrochen, wieder verwendet wird, ihm also dafür nur die Kosten