Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen: Die Privatisierung existenzieller Infrastrukturen [1 ed.] 9783428538904, 9783428138906

Der Staat privatisiert Universitätskrankenhäuser, Häfen, Bus- und Bahnlinien, Schwimmbäder, Kraftwerke, Straßen, Abfallb

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Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen: Die Privatisierung existenzieller Infrastrukturen [1 ed.]
 9783428538904, 9783428138906

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 69

Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen Die Privatisierung existenzieller Infrastrukturen Herausgegeben von Martin Hochhuth

Duncker & Humblot · Berlin

Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 69

Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen Die Privatisierung existenzieller Infrastrukturen

Herausgegeben von

Martin Hochhuth

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-13890-6 (Print) ISBN 978-3-428-53890-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-83890-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Die Tagung als Glück Eine der Möglichkeiten des Glückes, die die Menschen haben, ist die wissenschaftliche Tagung. Ich hatte seit mehr als zehn Jahren gegen die Verwechslung gesprochen und angeschrieben, die das Freiheitsdenken trübt: Die Verwechslung der Freiheit des Menschen mit der „Freiheit“ eines Werkzeuges: die Verwechslung der Freiheit mit der ungezügelten Eigendynamik des Abstraktums Geld. Ein Vortrag in Berlin 20011, veröffentlicht 2002, kritisierte besonders die Selbstpreisgabe des demokratischen Staates und warnte vor der Verselbständigung der Finanzmärkte.2 Da der Rückzug des Staates sich aber fortsetzt, da ideologische Leidenschaft ungebrochen weiterhofft, Privatisierungen existenzieller Infrastrukturen brächten Freiheit und Wohlstand, war es Zeit für eine Bilanz. Am 29. und 30. Oktober 2010 versammelten sich im „Haus zur Lieben Hand“, dem lichten, kleinen Palais der Universität Freiburg, neben dem Bankier und Politiker Heinrich Haasis und mir anderthalb Dutzend hochkarätiger Wissenschaftler aus Jurisprudenz, Ökonomie und Philosophie. Wenn ich von Glück spreche, dann deswegen, weil tatsächlich genau die Fachleute anreisten, und teilweise von weit her, die ich hören wollte. Und sie sprachen genau über 1  Gutes Resümee dieses und anderer Vorträge in: Die Nachricht vom Tod des Staates war stark übertrieben, (Tagungsbericht zum Jahrestreffen des „Jungen Forums Rechtsphilosophie“ an der Freien Universität Berlin) von Alexandra Kemmerer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8.5.2001, S. 54. 2  Martin Hochhuth, Staatsräson – Geldräson – Menschenräson – Die Selbstpreisgabe des Staates, besonders im Völkerrecht, und wem sie nützt, in: Gralf-Peter Calliess / Matthias Mahlmann (Hrsg.), Der Staat der Zukunft, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 83, Stuttgart 2002, S. 85–107.

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Die Tagung als Glück

die Fragen, die mir – und glücklicherweise ihnen – auf den Nägeln brannten. Das ist der Lohn des Organisators. Leider schrieben nicht alle Professoren, die kamen, auch an diesem Büchlein mit. Aber ich danke ihnen für ihr scharfes Zuhören und Debattieren: Alexander Hollerbach, Ursula Köbl, Gertrude Lübbe-Wolff, Michael Wolff, Christian Bickenbach. Die Sträuße, die Karl Meessen immer wieder anfing – nicht erst nach dem Vortrag von Rolf Stürner, aber dort am kampfeslustigsten – sind nur ein Beispiel – das heftigste – für die vielen unvergesslichen Bereicherungen durch Widerspruch. Jene beiden Glückstage wurden, wie dieses Bändchen, nur möglich, weil drei Institutionen freundlich, großzügig und unbürokratisch schenkten: die Wissenschaftsförderung der Sparkassen-Finanzgruppe e. V. (Berlin) mit dem Präsidenten des DSGV Heinrich Haasis, der Sparkassenverband BadenWürttemberg (Stuttgart) mit seinem Präsidenten Peter Schneider sowie die Sparkasse Freiburg-Nördlicher Breisgau mit ihrem Vorstandsvorsitzenden Marcel Thimm. Ich danke diesen drei juristischen Personen und den engagierten Menschen dahinter. Außer den genannten obersten Chefs sind das insbesondere Frau Dr. Petra Sauter (Stuttgart) sowie die Herren Werner Haas und Albert Schultis (Freiburg), Dr. Hans-Ulrich Eßlinger und Christian Achilles (Berlin) sowie Klaus Krummrich und Marco Zieger in Bonn. Ebenso notwendig war das Zupacken am Ort: Dietrich Murswiek trug nicht nur vor3, sondern setzte fußballmannschaftsstark seinen Lehrstuhl ein: Frau Susanne Nagel und Frau Andrea Bührer, Thomas Schlegel, Sophie Binder, Robert Klotz, Birte Schöler, Nils Wegner, Christian Schmitz und Franziska Schramm; für den Tagungsband noch Eva Fischer und Michael Hahn. Ebenfalls halfen Steffen Tanneberger, Sabine Wolter, und, ganz maßgeblich, Volker Herbolsheimer. Freiburg im Breisgau, April 2012

Martin Hochhuth

3  Dietrich Murswiek, Die Bankenkrise als Demokratieproblem, unten, S. 203 ff.

Inhalt Der Umbau mehr oder weniger existentieller Infrastrukturen, insbesondere der sozialen Sicherung, als Demokratieproblem Von Siegfried Broß, Karlsruhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   9 Verstaatlichung oder Privatisierung sozialer Risiken und Sicherungen? Von Eberhard Eichenhofer, Jena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  21 Privatisierung der inneren Sicherheit? Von Thomas Würtenberger und Steffen Tanneberger, Freiburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  47 Gesetzgebungsoutsourcing – Zur Erstellung von Gesetz­ entwürfen insbes. durch Rechtsanwälte Von Michael Kloepfer, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  65 Zur Arbeitsteilung zwischen Markt und Staat bei der Bereitstellung von Eisenbahninfrastrukturen Von Günter Knieps, Freiburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  77 Verschiedene Arten demokratischer Steuerung am Beispiel der deutschen Straßen- und Eisenbahninfrastruktur Von Michael Fehling, Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  93 Eisenbahnwesen als Daseinsvorsorge Von Michael Ronellenfitsch, Tübingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Staat und Markt als interdependente Systeme Von Christoph Ohler, Jena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Staatsfinanzen und Finanzmarktrisiken Von Hanno Kube, Mainz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

8 Inhalt Die Bankenkrise als Demokratieproblem Von Dietrich Murswiek, Freiburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Öffentlich-rechtlich gebundenes und regional ‚geerdetes‘ Kreditwesen als Stabilitätsbeitrag, insb. die Sparkassen in der Bankenkrise Von Heinrich Haasis, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Die Marktideologie nach der Finanzkrise Von Rolf Stürner, Freiburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Der Staat, die Gesellschaft und der Einzelne in China Von Katrin Blasek, Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Verteidigung der Demokratie gegen ein irregeleitetes ­Finanzwesen Von Martin Hochhuth, Freiburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Der Umbau mehr oder weniger existentieller Infrastrukturen, insbesondere der sozialen Sicherung, als Demokratieproblem Von Siegfried Broß, Karlsruhe* 1

I. Vorbemerkung 1. Das mir vorgegebene Thema gibt mir die nicht unwillkommene Gelegenheit, am Ende meiner aktiven Richtertätigkeit in verschiedenen Gerichtsbarkeiten der Bundesrepublik Deutschland und des Freistaats Bayern frühere Arbeiten zu diesem Themenkreis vor dem erreichten aktuellen Zustand erneut zu reflektieren. 2. Der Umbau von staatlichen Infrastrukturen dergestalt, dass für die rechtsstaatliche und demokratische Funktionsfähigkeit und Funktionstüchtigkeit wichtige Infrastrukturbereiche aus der staatlichen Obhut entlassen und einer weitgehend beliebigen privaten Disposition überantwortet werden, führt zu vielerlei Problemen, denen sich die Verantwortlichen in Politik und Gesetzgebung auf der nationalen wie auch der europäischen Ebene nicht stellen. Abgesehen davon, dass sich die Sachgerechtheit, staatliche Monopole durch private oder gleichwirkende Strukturen zu ersetzen, nicht aufdrängt, ist trotz des Platzens der New Economy 2000, der verheerenden Immobilienkrise in den Vereinigten Staaten 2008 bis hin zu der *  Dr. Dr. h. c., Universitas Islam Indonesia – UII – Yogyakarta; Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D.; Honorarprofessor an der Universität Freiburg im Breisgau; Ehrenvorsitzender der Deutschen Sektion der Internationalen Juristen-Kommission e. V. und der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe.

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katastrophalen Finanzmarktkrise 2009 bisher – soweit ersichtlich – noch nicht ins allgemeine Bewusstsein gedrungen, dass diese Politik intransparente, nicht demokratisch legitimierte und für den Rechts- und Sozialstaat gefährliche Strukturen geschaffen hat. Zugleich wurde das Tor weit geöffnet, dass ­ undurchsichtige Finanzmärkte und noch undurchsichtigere ­ ­Finanzakteure weltweit mit Unterstützung von Rating-Agenturen und Analysten in die Lage versetzt werden, die Staatenwelt zu manipulieren. Es fehlt die Einsicht, dass – nicht gerade fernliegend – Maßnahmen rückgängig gemacht werden müssen, die erst solche die Stabilität der gesamten Staatengemeinschaft gefährdenden Strukturen ermöglicht haben. 3.  Wie weit dieser Niedergang der rechtsstaatlichen Demokratie innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft inzwischen fortgeschritten ist, macht nicht nur das Agieren von Rating-Agenturen im Zusammenhang mit der Finanzmarktkrise deutlich. Schon im Herbst 2005 hätte man hier spätestens hellhörig werden müssen, dass man solchen demokratisch nicht legitimierten und auch sich einer wirksamen Kontrolle entziehenden und bar jeder Verantwortung auftretenden Rating-Agenturen wirksam begegnen muss, dergestalt, dass man ihnen ihr „Spielfeld“ entzieht. Als ich am 20. September 2005 in Hannover auf Einladung von Ver.di einen Vortrag zu dem Thema Privatisierung öffentlicher Aufgaben gehalten habe, wurde die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland nur wenige Tage später mit dem Forderungskatalog einer Rating-Agentur konfrontiert: Wenn sie die aufgelisteten Punkte nicht erfülle, werde die Bundesrepublik Deutschland abgestuft. Wer regiert Deutschland und wer bestimmt die Richtlinien der Politik? Anders formuliert: wenn sich der Staat fortwährend der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dadurch entzieht, dass er substantielle Teile von sich privatisiert und mehr oder weniger ungebunden durch private Dritte erfüllen lässt, dann stellt er sich letztlich selbst in Frage, vor allem seine Macht zur Selbstdefinition, wie sie dem demokratischen Rechtsstaat eigen ist. Letztlich wird der Staat erpressbar.



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Konsequent zu Ende gedacht bedeutet ein solcher Forderungskatalog, dass etwa die Güte der Kranken- und Altersversorgung, etwa die Haftbedingungen bei Privatisierung von Strafvollzug oder Teilen davon und dergleichen mehr in der Zukunft nicht vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber gestaltet werden kann, sondern von Rating-Agenturen und Analysten. Sie bekommen Einfluss über die nun in den ursprünglich öffentlichen Bereichen tätigen Wirtschaftsunternehmen wegen deren Kreditwürdigkeit und der ihnen zugebilligten Kreditkonditionen. 4. Nicht von ungefähr kommt eine Studie der Weltbank vom Herbst 2006 zu der Schlussfolgerung, dass 26 Staaten weltweit – gegenüber „nur“ 17 Staaten zehn Jahre davor – vor dem Zusammenbruch stehen. Offenbar ist allerhand weltweit in der Wirtschaftspolitik von IWF, Weltbank, WTO, aber auch der europäischen Integration schief gelaufen, und das hängt unmittelbar mit der Privatisierung zentraler staatlicher Infrastrukturbereiche zusammen. Das kann ich aufgrund persönlicher Anschauung in zahlreichen Ländern unmittelbar bestätigen, weil dort eine belastbare Demokratie ebenso wenig wie ein Rechtsstaat entwickelt werden kann, weil es an der sozialstaatlichen Grundlage fehlt. Die Gesellschaften sind gespalten, der Versuch einer social equity von unten nach oben ist wegen des krassen Wettbewerbs mit Ausbeutung der natürlichen Lebensgrundlagen und des Transfers der Gewinne ins Ausland von vornherein zum Scheitern verurteilt, es fehlt an den Möglichkeiten, die Kinder und Jugendlichen an eine solide Bildung heranzuführen, die es erlauben würde, die überkommenen, verkrusteten gesellschaftlichen Strukturen zu überwinden in Richtung rechts- und sozialstaatliche Demokratie. Die Sozialstaatskomponente, die für eine rechtsstaatliche Demokratie unabdingbare Komplementärstruktur ist, wird viel zu wenig beachtet und in Europa zunehmend missachtet. 5. Die Zusammenhänge und das vitale Beziehungsgeflecht zwischen Demokratie-, Sozialstaats- und Rechtsstaatsprinzip in der Wirklichkeit kann man nicht nur in den von mir zuvor –

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wohlweislich ohne Namensnennung – erwähnten Staaten, sondern auch in vielen Staaten der europäischen Integration und zunehmend in Deutschland ablesen. So berichtet die Süddeutsche Zeitung in Nr. 190 vom 20. August 2009 auf Seite 1 von Erkenntnissen des Statistischen Bundesamts, sicherlich einer unverdächtigen Institution: Immer weniger Bürger können hiernach von ihrer Arbeit leben. In den vergangenen zehn Jahren stieg die Zahl der Beschäftigten ohne regulären Vollzeitvertrag um 2,5 Millionen. Die Ursache liegt nach den Feststellungen darin, dass viele Beschäftigte in 400-Euro-Jobs, als Leih­ arbeiter oder mit befristeten Verträgen tätig sind. Danach sank in den vergangenen zehn Jahren die Quote der – nach der einschlägigen Terminologie – Normalbeschäftigten von 72,6 % auf nur noch 66 %. Die Zahl der untypisch Beschäftigten ist in den vergangenen zehn Jahren um 2,5 Millionen auf 7,7 Millionen gestiegen. Die atypisch Beschäftigten wurden nur noch mit durchschnittlich 12 Euro pro Stunde entlohnt. Fast die Hälfte aller Menschen ohne normalen Arbeitsvertrag bleibt unterhalb der Niedriglohngrenze von 9,85 Euro. Normal ist nach dieser Terminologie ein Arbeitsverhältnis, das voll sozialversicherungspflichtig, mit mindestens der Hälfte der üblichen vollen Wochenarbeitszeit und einem unbefristeten Arbeitsvertrag ausgeübt wird, sonach natürlich auch voll zum Lohn- und Einkommensteueraufkommen beiträgt. Schließlich gilt jeder vierte geringfügig Beschäftigte als armutsgefährdet (eine Untersuchung von TNS Infratest, Berlin, bestätigt aktuell diese Trends, SZ Nr. 242, 19. Oktober 2010, S. 19; das im Übrigen auch zur Diskussion über den Mangel an Facharbeitern). Der Staat hat durch seine unüberlegten Privatisierungsmaßnahmen – unüberlegt deshalb, weil es an einer Gesamtstrategie und der Folgenabschätzung gefehlt hat – in ganz erheblichem Maße zur Vernichtung von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen, vermutlich von etwa 1,2 Millionen normalen Arbeitsverhältnissen in den Infrastrukturbereichen beigetragen. Diese eignen sich nicht für Wettbewerb, weil sie der Substanz eines demokratischen, rechtsstaatlichen und sozialstaatlichen Gemeinwesens zuzurechnen sind.



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6.  Die Globalisierung kann nicht als Alibi oder gar Rechtfertigung für diese Maßnahmen bemüht werden. Im Gegenteil wurde die Globalisierung in diesen Bereichen erst durch die Privatisierung innerhalb der europäischen Integration eröffnet und befördert. Das gilt für Strom, Wasser, Abwasser, Müll, Infrastruktur wie Bahn und Post und dergleichen mehr. So schafft man eine Spielwiese für ausländische Investoren und Staatsfonds, die so die Außenpolitik bei diesen Voraussetzungen legitim ganz anders gestalten können, als es sonst der Fall wäre. II. Einzelheiten 1. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bestimmt in Art. 20 Abs. 1 zentral für das gesamte Staatswesen, dass die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat ist. Demokratie- und Sozialstaatsprinzip stehen gleichgewichtig und gleichverpflichtend nebeneinander und erfreuen sich einer Absicherung gegen eine verfassungsgemäße Änderung, also Zwei-Drittel-Mehrheit gemäß Art. 79 Abs. 3 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat es sich von Anbeginn seiner Rechtsprechungstätigkeit angelegen sein lassen, das Sozialstaatsprinzip zu erhellen und aufzuklären. Allerdings ist hier manches bei den politischen Akteuren und nichtstaatlichen, gleichwohl aber überaus einflussreichen, Institutionen und Organisationen in Vergessenheit geraten. 2.  Für den Bereich der Daseinsvorsorge im Besonderen, zu dem auch die Sozialsicherungssysteme zu rechnen sind, hat das Bundesverfassungsgericht die Menschenwürde unmittelbar in den Mittelpunkt seiner Betrachtung gestellt. So hat es in BVerfGE 66, 248 (258) befunden, dass etwa die Energieversorgung zum Bereich der Daseinsvorsorge gehört. Sie sei eine Leistung, derer der Bürger zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unumgänglich bedürfe. Schon in einer früheren Entscheidung (BVerfGE 38, 258 [270 f.]) hat das Bundesverfassungsgericht auf diesen für den Staat, und damit auch für den Sozialstaat, wichtigen Aspekt hingewiesen, dass die

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öffentliche Hand in wachsendem Umfang im Bereich der Daseinsvorsorge Aufgaben übernimmt, die unmittelbar oder mittelbar der persönlichen Lebensbewältigung des einzelnen Bürgers dienen. Hinter diesen Überlegungen steht, dass sich das Sozialstaatsprinzip mit der Würde des Menschen verbindet. Das ist das maßgebliche Menschenbild des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Auch wenn schon einige Jahrzehnte seit Erlass des KPDUrteils verstrichen sind, kann man damit nicht die zentralen Aussagen und Bindungen für die Staatsorgane der Bundes­ republik Deutschland „wegwischen“. In einer maßgeblichen Passage wird dort ausgeführt, dass das Gesamtwohl nicht von vornherein gleichgesetzt wird mit den Interessen oder Wünschen einer bestimmten Klasse. Annähernd gleichmäßige Förderung des Wohles aller Bürger und annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten wird grundsätzlich erstrebt. Es besteht das Ideal der – und das verdient allergrößte Aufmerksamkeit – „sozialen Demokratie in den Formen des Rechtsstaates“. Die staatliche Ordnung der freiheitlichen Demokratie müsse demgemäß systematisch auf die Aufgabe der Anpassung und Verbesserung und des sozialen Kompromisses angelegt sein. Sie müsse vor allem Missbräuche der Macht hemmen (BVerfGE 5, 85 [198]). In einer späteren Entscheidung (BVerfGE 45, 376 [387]) hat das Bundesverfassungsgericht schließlich hinsichtlich des Sozialstaatsprinzips noch darauf hingewiesen, dass es staatliche Vor- und Fürsorge für Einzelne oder für Gruppen der Gesellschaft verlange, die aufgrund persönlicher Lebensumstände oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert seien. Für den Staat besteht nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Pflicht, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen (BVerfGE 59, 231 [263]; siehe auch BVerfGE 82, 60 [80]; 22, 180). Der privaten Überantwortung sind Grenzen gesetzt; denn die staat­liche Gemeinschaft muss solchen Personengruppen jedenfalls die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein sichern und sich darüber hinaus bemühen, sie – soweit



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möglich – in die Gesellschaft einzugliedern, ihre angemessene Betreuung zu fördern sowie die notwendigen Pflegeeinrichtungen zu schaffen (BVerfGE 44, 353 [375]; 40, 121 [133]; siehe auch BVerfGE 28, 324 [348]; 43, 13). 3. Es ist erstaunlich, dass die den staatlichen Institutionen aus dem Sozialstaatsprinzip erwachsenden Verpflichtungen – wie sie das Bundesverfassungsgericht seit jeher deutlich genug formuliert hat – wenig zur Bewusstseinsbildung beitragen. Das mag auch dem Zeitgeist der letzten 20 oder 25 Jahre – ausgehend von Großbritannien unter Margret Thatcher und einer einseitigen Ideologie der europäischen Integration – geschuldet sein, vermag aber nicht zu erklären, dass mit diesen umfassenden Privatisierungsmaßnahmen selbst innerhalb des Systemwettbewerbs, wenn man diesen als eine neue Wertordnung begreifen wollte, man nicht erkennen kann oder nicht erkennen möchte, dass auch die vielfach bemühten „hervorragenden Standortbedingungen“ nicht mehr von den demokratisch legitimierten Staatsorganen gewährleistet werden können, sondern dass private Unternehmen zum Beispiel Strompreis, Beförderungsentgelte oder Mautgebühren auf privat finanzierten Autobahnen festsetzen und das möglicherweise auch noch unter dem Einfluss ausländischer Meinungsbildner. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft sind insoweit machtlos, und ihre Staatenverbindung kann auch nach weiteren Erweiterungen dem nichts entgegensetzen, sondern sich eher noch weiter schwächen, wie die Finanzmarktkrise und der Rettungsschirm nun zweifelsfrei zeigen. Die Globalisierung vermag hier keinerlei Schrecken zu verbreiten; denn ihr wird nur ein Spielfeld zum hemmungslosen Ausleben genommen. Nicht ein Arbeitsplatz ginge in Deutschland oder in einem anderen Mitgliedsstaat verloren. Das Wasser fließt hier aus den Quellen, der Straßenverkehr findet hier statt und der Strom kann – jedenfalls derzeit – noch nicht über die Ozeane transportiert werden. Vielmehr belegen die Arbeitsmarktstatistiken seit 1971 – ganz im Gegensatz zu zahlreichen offiziellen Verlautbarungen –, dass fortwährend Arbeitsplätze verloren gegangen sind und auch die viel gepriesene Vollendung

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des Binnenmarkts zum 1. Januar 1993 nicht die in Aussicht gestellten und von der Gemeinschaftsebene her verheißenen Hunderttausende von Arbeitsplätzen gebracht hat. Das Gegenteil war der Fall, beispielsweise kam es zu einer Ausdehnung der Schattenwirtschaft, und wir müssen uns erinnern, seit wann wir von Dumpinglöhnen und dergleichen mehr reden (vgl. eingangs I.5.). 4. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es den Politikern über die Jahre sehr angelegen war, die Rahmenbedingungen für eine stabile Gesellschaft und damit für einen funktionstüchtigen und sich selbst tragenden Sozialstaat zu relativieren, und sie nunmehr das Eigenengagement einfordern, dem aber die tragfähige Grundlage genommen wurde. III. Lösungsvorschlag 1. Vor dem aufgezeigten Hintergrund und bei einer nüchternen Betrachtung der bestehenden Verhältnisse, geschärft durch die fortwährenden reichlich unerfreulichen Erfahrungen seit dem Platzen der New Economy, ist es – gerade wegen der Uneinsichtigkeit der weit überwiegenden Zahl der verantwortlichen Akteure für diese Krisen, wie schon jetzt wieder die Entlohnungsdiskussion zeigt – vielleicht an der Zeit, über andere Lösungswege nachzudenken, die geeignet sind, jedenfalls einen Teil der Probleme zu lösen und ein Bollwerk gegen die Ohnmacht der Staaten gegen diese demokratisch nicht legitimierten Einflüsse zu errichten. Dafür ist folgende Lösung zu erwägen, die ich schon vor vielen Jahren vorgeschlagen habe und die nunmehr in den Teilverstaatlichungen von Bank­ instituten sogar eine gewisse Resonanz erfahren hat. Allerdings sind Politik und große Teile der Wissenschaft auch insoweit wieder auf halbem Weg stehengeblieben. 2.  Bahn, Post (im weiteren Sinne) und Straßen a)  Daseinsvorsorge in dem von mir verstandenen Sinne als eine Ausprägung des Sozialstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 1 GG und der Menschenwürde des Grundgesetzes in Art. 1



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Abs. 1 Satz 1 umfasst auch die Pflicht des Staates, ein für alle Bürgerinnen und Bürger leistungsfähiges öffentliches Verkehrs- und Nachrichtennetz zur Verfügung zu stellen und leistungsfähig zu unterhalten. Die Privatisierung von Bahn und Post geht eher zu weit. Insoweit wirkt auch die Regelung in Art. 87e Abs. 3 Satz 3 GG, wonach die Mehrheit der Anteile an den Eisenbahnunternehmen beim Bund verbleibt, nicht beruhigend. Privatisierung solcher Infrastrukturbereiche machen ein Staatswesen anfällig, unter Umständen erpressbar. Bei einer namhaften etwa ausländischen Beteiligung könnte nachhaltig auf die Volkswirtschaft eingewirkt werden, man denke nur z. B. an eine Woche Sonderurlaub für alle Bahnbediensteten, weil diese so hervorragend gearbeitet haben. Streiks von Post und Müllabfuhr haben uns schon die Vorteile der Privatisierung freundlich in Erinnerung gerufen, ebenso Warnstreiks bei der Bahn. Man sollte allerdings vor diesem Hintergrund verstärkt darüber nachdenken, ob man nicht die Bahnunternehmen, die Nachfolgeunternehmen der Deutschen Bundespost und die Bundesfernstraßen für einen zentralen Sektor der Daseinsvorsorge aktivieren könnte. Bei der Forderung nach mehr Eigenverantwortung im Alter bleiben manche Fragen offen, und sie muss deshalb mit einem Fragezeichen versehen werden. Derzeit vermag ich nicht zu erkennen, woher die Rendite für eine private Rente kommen soll. Die Aktienkurse haben zum Teil eine beispiellose Talfahrt erlebt und schon viel in die Richtung einer privaten Rente angelegtes Vermögen vernichtet. Der Immobilienmarkt, sei es für Privat-, sei es für Gewerbe- oder Industriebauten, ist ebenfalls in Teilen Not leidend. Vor allem aber ist es mit dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren, die Menschen bezüglich dieses Teils ihrer Altersversorgung dem freien Spiel der Kräfte und dem rücksichtslosen Wettbewerb der Wirtschaft mit den damit einhergehenden unwägbaren Risiken auszusetzen. Auch unter gesamtstaatlichen Überlegungen ist diese Art der privaten Rente keine ausgewogene Lösung. Zu berücksichtigen ist,

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dass, wenn die Menschen mit ihrer Privatanlage scheitern, sie gleichwohl über Sozialhilfe wiederum der Allgemeinheit und dem Staatshaushalt anheim fallen. Bei einer Gesamtbetrachtung müssen wir deshalb festhalten, dass der Volkswirtschaft zunächst viel Geld und zum Teil auf unredliche Weise entzogen, sie allerdings zeitversetzt umso stärker belastet wird. b)  Mit Privatisierung und Wettbewerb im Bereich der Daseinsvorsorge allein ist es nicht getan. Unser Staat kann sich wegen der Geltung des Sozialstaatsprinzips nicht bindungslos zurückziehen und die Menschen gleichsam ihrem Schicksal überantworten. Er muss vielmehr einen zuverlässigen und gesicherten Rahmen gestalten, innerhalb dessen er dann die Eigenverantwortung der Menschen einfordern darf. Mit Rücksicht auf die aktuellen Erfordernisse und die europäische Integration erfährt der Bereich der Daseinsvorsorge deshalb eine Erweiterung und keine Einschränkung, weil der Staat im Widerspruch zum Sozialstaatsprinzip nicht nur eine Gefährdungslage schafft, sondern schon berechtigtes Vertrauen enttäuscht und Besitzstände zerstört. 3. Vor diesem Hintergrund könnte ich mir eine Fondslösung für die private Altersversorgung neben der staatlichen Rente vorstellen. Diese wäre geeignet, Stabilität für die Altersversorgung zu vermitteln, den Staat frei von bedenklichen Einflussnahmen zu halten und zugleich für Zukunftsinvestitionen, zunehmend allerdings auch für Erhaltungsinvestitionen bei Straßen, öffentlichen Gebäuden und dergleichen, die finanzielle Grundlage zu schaffen. a) Die Bundesanteile an den Eisenbahnunternehmen müssen in ihrem Bestand gänzlich beim Bund verbleiben. Sie werden bewertet und in einen Fonds eingebracht. Von diesem Fonds werden Anteile ausgegeben, die einen bestimmten Nennbetrag ausweisen und eine auf Dauer feste Verzinsung garantieren. Mit diesen Anteilen ist es möglich, dass krisensicher und unabhängig von den Unwägbarkeiten eines Wettbewerbs eine private Rente aufgebaut werden kann. Zugleich erhält der Bund notwendige Mittel für dringende Investitionen für die Eisenbahnunternehmen; er kann zudem auf diese Wei-



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se den Arbeitsmarkt pflegen. Der Staat sichert dadurch ferner einen für sein Überleben zentralen Infrastrukturbereich. b)  Genauso sind alle noch in der Hand des Bundes befindlichen Anteile an den Nachfolgeunternehmen der Post in einen Fonds einzubringen. Sie sind ebenfalls mit einem bestimmten Nennbetrag und entsprechend den Anteilen an den Eisenbahnunternehmen mit der gleichen Verzinsung auszustatten. Mit dieser Fondslösung könnte der Bund zugleich Wiedergutmachung an diejenigen Anteilseigner leisten, die durch die risikoreiche Unternehmenspolitik der Deutschen Telekom Vermögensverluste erlitten haben und demgemäß ihre Altersversorgung gefährdet sehen. Für solche Anteilseigner wäre das Ganze ein Umtausch. c) Nachdem schon länger über eine Vorfinanzierung von Autobahnprojekten durch die Länder und über die Errichtung von Tunnels oder Teilstücken des Autobahnnetzes durch Private nachgedacht und dies zum Teil auch umgesetzt wird, könnte man daran denken, alle Bundesfernstraßen in einen solchen Fonds einzubringen und nach einer geeigneten Ausgestaltung für eine private Altersversorgung zur Verfügung zu stellen. Zudem wäre die Unabhängigkeit des Staates sichergestellt, weil sein Verkehrsnetz von Fremdeinflüssen freigehalten werden kann. d)  Solche Fondslösungen kann man sich noch in vielfältiger Weise vorstellen, so etwa für öffentliche Anlagen der Be- und Entwässerung oder der Abfallbeseitigung. Entscheidend ist, dass der staatliche Einfluss auf Einrichtungen der Daseinsvorsorge ungeschmälert erhalten bleibt. Die Sekundärbereiche, die zu Lasten der Allgemeinheit Risiken in sich bergen – z. B. Belastung der Umwelt – und zusätzliche finanzielle Mittel für eine zunehmende Überwachung oder Beseitigung von Störungen erfordern, können so verhindert werden. Das allerdings bedingt, dass einige Bereiche auch wieder in die Obhut des Staates (einschließlich der Länder und Gemeinden) zurückgeführt werden. Die Entwicklung der letzten Jahre hat insoweit gezeigt, dass Markt und Wettbewerb nichts richten, sondern im Gegenteil Gemeinwohlbelange und Menschen zu gefähr-

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den geeignet sind. Das Gemeinwesen selbst darf nicht zum Spielball ungezügelten Macht- und Gewinnstrebens werden. Auch der Schwache muss in einem Gemeinwesen noch seinen Freiraum haben. Das gebieten das Sozialstaats- und ferner das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip. Es liegt auf der Hand, dass die Fondsanteile mit verschiedenen Anlageformen konkurrieren und dieses Modell nicht zu einem Schneeballsystem mutieren darf. Die Attraktivität liegt in der staatlich garantierten Sicherheit. Es verdeutlicht die Eigen- wie die Gemeinschaftsverantwortung jedes Einzelnen und stellt fortwährend sicher, dass wegen des einzelnen Volumens stetig geeignete, rentierliche Anlageobjekte zur Verfügung stehen. Die Rendite muss im Wettbewerb der Betriebe erwirtschaftet werden, Deckungslücken muss der Staat ausgleichen. Durch Reduzierung von Renten- und Sozialhilfelasten werden Mittel frei. Bei dem Straßenfonds kann man darüber nachdenken, die Kfz-Steuer für Anteilseigner gänzlich zu streichen und eine Maut für Nichtanteilseigner entsprechend höher festzusetzen. IV. Zusammenfassung: Ausufernde Privatisierung und Wettbewerb gefährden den sozialen Frieden in der staatlichen Gemeinschaft und damit Rechtsstaat und Demokratie. Die hier vorgestellte Fondslösung ist geeignet, Fehlentwicklungen abzumildern oder rückgängig zu machen. Zugleich würde die Bundesrepublik Deutschland ihrer nach der Unabänderbarkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG obliegenden So­ zial­ staatsverpflichtung und ihrer Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde gerecht. Sie könnte ferner in die Zukunft weisend auch für alternde Menschen der nachwachsenden Generationen Zukunftsperspektiven eröffnen.

Verstaatlichung oder Privatisierung sozialer Risiken und Sicherungen? Von Eberhard Eichenhofer, Jena* 1

I. Soziale Sicherheit und Freiheit Soziale Sicherheit – und damit der Schutz des Einzelnen vor sozialen Risiken – ist ein, nein: das zentrale und kostenträchtige Betätigungsfeld des Staates der Gegenwart. Der Schutz vor sozialen Risiken geschieht durch staatliche Gesetzgebung und ist eine in mittelbarer Staatsverwaltung wahrgenommene Aufgabe öffentlich-rechtlicher Körperschaften. Soziale Sicherheit ist ein öffentliches Gut; würde sie privatisiert, würde Sicherheit vor Verarmung und den Lebensrisiken der Arbeitsgesellschaft zur Ware auf dem Markt privater Versicherungen werden. Die Verstaatlichung des Schutzes sozialer Risiken macht das Proprium sozialer Sicherheit aus. Deren Privatisierung bedeutete also deren Ende! Das Thema hat mehrere Dimensionen. Zunächst ist die Frage zu klären: Kann Freiheit gewahrt sein, wenn die so­ ziale Sicherheit auf Verstaatlichung beruht (II)? Sollte sich erweisen, dass Freiheit und soziale Sicherheit keine Gegensätze sind, sondern umgekehrt einander bedingen und aufeinander verwiesen sind, fragt sich weiter, wie sich Staat und Private bei der Gewährleistung sozialer Sicherheit ergänzen (III). Diese Thematik soll an den Beispielen der deutschen Sozialpolitik erörtert werden, die im zurückliegenden Jahrzehnt zentrale Gebiete des deutschen Sozialrechts konzeptionell weitreichend veränderten. Kann das in den Reformen *  Prof. Dr. Dr. h. c., Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehrstuhl für Sozialrecht und Bürgerliches Recht.

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Gewollte wie Gewordene als Ausprägung eines freiheitlichen Sozialstaates verstanden werden (IV)? II. Gebietet Freiheit die Preisgabe sozialer Sicherheit? Liegt es an den Antworten, welche die verbeamteten Latein- und Griechisch-Lehrer auf diese Frage seit jeher gaben und geben, dass auch die wirtschaftlichen, politischen und intellektuellen Meinungsführer in diesem Land wie andernorts postulieren, dass der Rückzug des Staates aus der sozialen Sicherheit dem Einzelnen einen Zugewinn an persönlicher Freiheit erbrächte? Es gab dazu immer wieder Versuche.1 In den 1980er Jahren in Großbritannien bei der zweiten Säule der dortigen öffentlichen Alterssicherung,2 in Chile – und diesem Staat nachfolgend in anderen Staaten Südamerikas – kam es zur Umwandlung der öffentlichen in die private Alterssicherung.3 In den 1990er Jahren beschlossen die mittelund osteuropäischen Transformationsstaaten eine Teilprivatisierung ihrer Rentenversicherung.4 US-Präsident George W. Bush jr. verfolgte während seiner Amtszeit ähnliche Pläne, scheiterte damit jedoch im Kongress.5 1  Meinhard Miegel / Stefanie Wahl, Solidarische Grundsicherung – private Vorsorge, 1999; Maximilian Wallerath, Der Sozialstaat in der Krise, JZ 2004, 949; World Bank, Averting the Old Age Crisis, 1994; Dieter Althaus / Hermann Binkert (Hg.), Solidarisches Bürgergeld, 2010. 2  Eberhard Eichenhofer, Der Thatcherismus in der Sozialpolitik: Wohlfahrtsstaatlichkeit zu marktwirtschaftlichen Bedingungen, 1999, 55 ff. 3  Evelyne Huber / Juan Bogliaccini, Latin America, in: Francis  G.  Castles / Stephan  Leibfried / Jane Lewis / Herbert Obinger / Christopher Pierson (Ed.), The Oxford Handbook of the Welfare State, 2010, p. 644. 4  Linda J. Cook, Eastern Europe and Russia, in: Castles, Anm. 3, p. 671. 5  Francis G. Castles, The English speaking Countries, in: Castles, Anm. 3, p. 630.



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In der politischen Praxis scheitern die Regierungen demokratischer Staaten aber nahezu regelmäßig bei dem Versuch eines mehr als dosierten und technisch cachierten Abbaus sozialer Sicherheit, weil solche Regierungen von den Stimmberechtigten zumeist abgelehnt, bekämpft und nicht mehr gewählt werden. Die Protagonisten des Rückzugs erklären dieses Phänomen mit dem mangelnden Mut der Politik: Sie habe kein Erkenntnis-, sondern ein Vollzugsproblem! Aber diese Erklärung ist zu glatt; sie übersieht Wichtiges. Unter den gegebenen Umständen umfassend entfalteter sozialer Sicherheit berührt der Rückzug daraus die Freiheit des Einzelnen doppelt. Er wäre zwar von Abgabepflichten befreit, aber nur um den Preis einer Verkürzung oder Beseitigung sozialer Rechte. Weil die sozialen Rechte die Freiheit der Berechtigten in prekären und existentiellen Lebenslagen sichern, erscheint der Rückzug daraus nur im Hinblick auf ihre Finanzierung als Befreiung, im Hinblick auf die soziale Berechtigung dagegen als Entrechtung. 1. Freiheit und Finanzierung der sozialen Sicherheit Die soziale Sicherheit berührt die Freiheit doppelt. Gewiss, weniger Sozialstaat heißt weniger Abgaben, Steuern und Beiträge – mehr Netto vom Brutto! Weniger Abgaben heißt zumeist weniger Bürokratie und damit weniger dadurch induzierte Fremdbestimmung. Dieser Topos ist geläufig, in Publizistik und politischer Debatte bis zum Überdruss traktiert. Er beflügelte den Wahlerfolg der seit 2009 amtierenden Bundesregierung. Die im Wahlkampf versprochenen Abgabensenkungen wurden indes nur wenigen zuteil. Inzwischen hat sich der Wind gedreht. Die Bevölkerung wird auf Abgabenerhöhungen eingestellt. Weniger Abgaben = mehr Freiheit, so klingt der cantus firmus jedes Alt- und Neoliberalismus. Er liefert die gedankliche Grundausstattung für die zeitgenössischen Debatten! Dabei ist er schon ziemlich alt, geht auf das späte 18. Jahrhun-

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dert zurück.6 Damals beflügelte er die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft und überwand die altständische, zuletzt aufgeklärt absolutistische Wohlfahrtsstaatlichkeit: Diese durchwirkte in despotischem Geist alle Lebenssphären mittels gängelnder Regeln. Die Anmutung evozierend, der Staat sei desto freiheitlicher, je mehr er sich aus der Gesellschaft heraushalte und das Feld zur Gestaltung ihr überlasse, steht dieser Ansatz in einer Tradition, welche in der Nachfolge Immanuel Kants den Sozialstaat nur als Fürsorge- oder Sozialhilfestaat kennt und anerkennt. Ins Extrem gewendet läuft sie auf die Annahme hinaus, der Staat sei der Entfaltung der Gesellschaft prinzipiell hinderlich – getreu der neoliberalen Maxime: Der Staat ist nicht die Lösung, sondern das Problem! Diese Interpretation verfehlt den auf umfassende soziale Sicherheit angelegten und ausgerichteten Staat der Gegenwart, der seine Prägung durch die am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Sozialreformen fand.7 In solchem Denken kommt der auf Sozialversicherung beruhende, in Deutschland entworfene wie entstandene und inzwischen weltweit entfaltete Wohlfahrtsstaat überhaupt nicht vor. Dieser konzentriert sich auf die Sicherung des Einzelnen vor sozialen Risiken und unterscheidet sich genau darin vom vormodernen Wohlfahrtsstaat.8 Die dagegen gerichteten Postulate werden von einer Modellvorstellung von Staatlichkeit geleitet, in der soziale Sicherheit keinen Platz hat. Die Forderung nach Rückzug des Staates aus sozialer Sicherung umschreibt eine altliberale Weltflucht, das Verlangen nach einem Staat und einer ungebändigten Gesellschaft getreu den Blaupausen der alt- und 6  Wilhelm von Humboldt, Ideen zu dem Versuch, die Grenze der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1792; später John Stuart Mill, On Liberty, 1859. 7  Peter A. Köhler  / Hans f. Zacher (Hg.), Ein Jahrhundert Sozialversicherung, 1981; dies., Beiträge zur geschichtlichen und aktuellen Situation der Sozialversicherung, 1983. 8  Eberhard Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaates in Europa, 2007, 26 ff., 50 ff.



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neoliberalen Romantiker. Eine solche Welt gab es aber nie und nirgendwo – sie ist also eine echte Utopie! Die Losung „Back to the roots!“ verkörpert deshalb eine Regression: artikuliert die Sehnsucht nach einer vorgeblich guten alten Zeit, in welcher der Staat noch nicht in die ökonomischen und sozialen Verteilungskonflikte einbezogen gewesen sei – ein Verlangen ohne historischen Ort! 2. Rückzug des Sozialstaates – pro domo geredet? Die Idee des Rückzugs des Staates aus sozialer Sicherheit ist suggestiv – vor allem bei den wirtschaftlich Aktiven mit hohem Arbeitsertrag, die sich deswegen gerne als „Leistungselite“ feiern. Sie werden in dem wohlfahrtsstaatlichen Arrangement der Gegenwart entsprechend ihrer hohen Leistungsfähigkeit namentlich im Steuerrecht stark, jedenfalls weit mehr als die geringer Verdienen­ den, zur Tragung eines Teils der Lasten des Sozialstaates herangezogen. Dies gilt allerdings weit weniger in der ökonomisch ungleich bedeutsameren sozialen Sicherheit, wo stattdessen die Mittelschicht und die unteren Einkommensgruppen deren Finanzierung tragen9. In der jedenfalls empfundenen hohen Belastung der Leistungsfähigen drückt sich indes die Sozialpflichtigkeit jeglichen wirtschaftlichen Erfolges aus. Dieser wird im Sozialstaat als zureichender Grund für die Tragung öffentlicher Lasten erachtet und im Abgabenrecht eingefordert. Dieses Prinzip rechtfertigt sich aus dem sinkenden Grenznutzen von Einkommenszuwächsen und der Wirksamkeit gesellschaftlicher Vorleistungen für wirtschaftlichen Erfolg – namentlich beträchtlichen Aufwendungen und Ausgaben für das gerade von den „Leistungsträgern“ durchlaufene öffentliche Bildungswesen, aber auch der Kultur und der gesamten Infrastruktur. Dieser Gedanke taucht zwar in der Diskussion um Studienge9  Winfried Schmähl, Ökonomische Grundlagen sozialer Sicherung, in: Ulrich Becker  /  Bernd von Maydell  /  Franz Ruland (Hg.), Sozialrechtshandbuch (SRH), 2008, 4. Aufl., § 4-61 ff., 118 ff.

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bühren regelmäßig zu deren Rechtfertigung auf, erscheint aber selten im Zusammenhang mit der Begründung progressiver Besteuerung! Dieses Abgabenrecht folgt aus der generellen Sozialpflichtigkeit von Einkommen und Vermögen, getreu der Losung „Noblesse oblige!“ Hieße weniger öffentliche Abgaben mehr Freiheit, bedeutete dies in einem von sozialstaatlichen Maximen geprägten Abgabenrecht zugleich und notwendig weniger Solidarität durch die „Leistungsträger“ und damit weniger Unterstützung für die Leistungsempfänger. Auch darin äußert sich Weltflucht, angetreten vom bourgeois, der sich nach einer Befreiung von seiner Verantwortung als citoyen sehnt. Die Forderung nach dem Rückzug des Staates aus der so­ zialen Sicherheit ist daher nicht allein oder auch nur primär staatspolitisch motiviert, sondern umschreibt ziemlich exakt die ureigene Interessenlage der vom Sozialstaat jedenfalls steuerlich überproportional in Anspruch genommenen Schicht der Wohlhabenden. Es handelt sich bei diesen Postulaten also bei Lichte besehen auch um ein Plädoyer aus sozialem und wirtschaftlichem Eigeninteresse im Gewande einer Staatstheorie – es waltet ein selten wahrgenommenes Besitzstandsdenken – freilich nicht seitens der Leistungsberechtigten, sondern seitens der Zahlungspflichtigen! 3. Von Zweck und den Bedingungen sozialer Sicherheit Die soziale Sicherheit wirkt in einer vom Selbstverständnis der „Leistungsträger“ geprägten Welt verstörend. Diesen bereitet Mühe, jene als sinnfällig wahrzunehmen. Daher rühren die Redeweisen, der Sozialstaat äußere sich in „Gedöns“ und bringe Sozial-„Klimbim“ hervor. Soziale Sicherheit konfrontiert den Betrachter mit der elementaren, indessen regelmäßig verdrängten Einsicht in die immanenten Gefährdungen und Risiken menschlicher Produktivität und Existenz.10 Sie beruht 10  Eingedenk der Risikoanfälligkeit freiheitlicher Gesellschaften vgl. Ulrich Beck, Die Risikogesellschaft, 1986.



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auf der trivialen, gerade von den Leistungsstarken aber unterschätzten Einsicht, dass nicht alle Menschen zu jeder Zeit und unter allen Umständen als Leistungsträger wirken und sich so selbst genügen können. Soziale Sicherheit konfrontiert das Recht mit der condition humaine – also der dunklen, oftmals verdrängten Seite der Leistungsgesellschaft. Die sich daraus ergebenden Folgen sind freilich alles andere als trivial. Die soziale Sicherheit sichert die Freiheit des Menschen bei Krankheit und im Alter, bei Pflegebedürftigkeit und Arbeitslosigkeit, bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, bei Behinderungen und bei Armut und schützt ihn vor sozialen Ausgrenzungen. Soziale Sicherheit schafft Rechte und verbürgt damit die Freiheit für die Geschützten.11 Diese sozialen Rechte sind außerhalb Deutschlands – in den Vereinten Nationen, im Europarat sowie in der EU – als soziale Menschenrechte12 anerkannt und sind mit gleichem Rang wie die bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte versehen. In Deutschland haben einzig die Letztgenannten den Rang von Grundrechten. Deswegen fehlt es hier an einem hinlänglichen Bewusstsein für die menschenrechtliche Tragweite sozialer Rechte. Es wäre deshalb an der Zeit darüber nachzudenken, wie lange sich die deutsche Verfassungsdoktrin ein solches Alleinstellungsmerkmal noch leisten möchte und in einer die sozialen Menschenrechte immer stärker entfaltenden internationalen Debatte noch glaubt durchhalten zu können. 11  Daphne Barak-Erez  / Aeyal M. Gross, Exploring Social Rights. Between Theory and Practice, 2007; Dietrich Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: Isensee  /  Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, 2000, 2. Aufl., § 112, 243 ff.; Christopher Pierson /Matthieu Leimgruber, Intellectual Roots, in: Castles, Anm. 3, p. 32; Hans Michael Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008; Siegfried Blaschke / Diether Döring (Hg.), Sozialpolitik und Gerechtigkeit; Wolfgang Kersting, Politische Philosophie des Sozialstaats, 2000; Hans-Jürgen Papier, Der Einfluss des Verfassungsrechts auf das Sozialrecht, in SRH, Anm. 9, § 3-1 ff. 12  Eberhard Eichenhofer, Der soziale Rechtsstaat – ein Staat so­ zialer Rechte?, in: Ulrike Haerendel (Hg.), Gerechtigkeit im Sozialstaat, Baden-Baden 2012, 139.

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Dabei erwiese sich das GG für diese Debatte durchaus als aufnahmefähig. In seiner Formel vom sozialen Rechtsstaat (Art. 20, 28 GG) gelangt der Zusammenhang von Sozialstaat und individuellen Rechten begrifflich zugespitzt und sachhaltig zum Ausdruck. Der soziale Rechtsstaat wäre danach als ein Staat zu begreifen, welcher die sozialen Rechte begründet,13 formt, respektiert, schützt, aus ihnen verpflichtet wird und sie auf ein höheres Niveau fortentwickelt. Insoweit dieser Rechtsstaat ein Sozialstaat ist, kommt er seinem Auftrag durch die Begründung sozialer Rechte nach. Insoweit er primär Rechtsstaat ist, hat er die sozialen Rechte mit den anderen gleichrangigen und gleichwertigen Menschenrechten in Einklang und zum Ausgleich zu bringen.14 Diese als Menschenrechte zu begreifenden sozialen Rechte werden durch die Einforderung der Sozialpflichtigkeit von Einkommen, Eigentum und Vermögen gewährleistet. Die Abgabenpflicht gegenüber dem Sozialstaat ist daher die Bedingung der Möglichkeit sozialer Rechte. Wer aus Gründen der „Freiheit“ den Rückzug des Staates aus der sozialen Sicherheit proklamiert, postuliert damit, wenn nicht die Beseitigung, so doch die substantielle Verkürzung sozialer Rechte. Wer die „Freiheit“ der „Leistungsträger“ so stärken möchte, kann dies nur, indem er die „Freiheit“ der Leistungsbezieher begrenzt oder gänzlich tilgt. 4. Freiheit und soziale Sicherheit Der Rückzug des Staates aus der sozialen Sicherheit, der als Konflikt der Freiheit gegenüber dem Staat orchestriert wird, entpuppt sich deswegen – näher betrachtet – als Konflikt um 13  Hans

Michael Heinig, Anm. 11, 110 ff.; Eichenhofer, Anm. 12. Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, 2000; Winfried Hirsch, Gerechtfertigte Ungleichheiten. Grundsätze sozialer Gerechtigkeit, 2002; Angelika Krebs (Hg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit, 2000; Eberhard Eichenhofer, Soziale Menschenrechte im Völker-, Europa- und deutschen Recht, 2012. 14  Wolfgang



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die wechselseitige Umgrenzung der Freiheitssphären der Menschen im Sozialstaat. Darin liegt das Problem eines mehr als symbolischen Rückzuges des Staates aus der sozialen Sicherheit: Wie sollen Vorteile und Lasten eines Sozialstaates getragen und verteilt sein? Die Erörterung dieses Themas muss nicht nur die Einnahmen-, sondern auch die Ausgabenseite sozialer Sicherheit in den Blick nehmen. Weil die Freiheitsbeschränkung der Abgabenpflichtigen die Bedingung der Möglichkeit sozialer Rechte ist, wird im So­ zialstaat die Solidarität als Rechtsprinzip15 verwirklicht. Die Solidarität ist auf den Staat angewiesen, weil er nur zur Freiheitssicherung in und für die Gesellschaft verpflichtet ist und vermöge des daraus folgenden Gewaltmonopols die Gleichheit bei Tragung von Lasten und Erzielung von Vorteilen gewährleisten kann. In einem System staatlicher Grundsicherung erwächst dem Staat daraus die Berechtigung, soziale Vorsorge einzufordern und einzulösen. Denn der Einzelne ist sich der vielfältigen Gefährdungen seiner Produktivität und Existenz nicht hinreichend bewusst – weil er sich regelmäßig übernimmt und überschätzt, sich für stärker hält, als er tatsächlich ist. Die in der sozialen Sicherheit Gestalt annehmenden Solidarbeziehungen können weder gedacht noch begriffen werden in einem gedanklichen Modell, welches das Individuum als isolierten Einzelnen dem zur Machtentfaltung befugten Staat gegenüberstellt und als diesem ausgesetzt ansieht. In diesem wiederum alt- oder neoliberalen Paradigma findet die These, der Rückzug des Sozialstaates bedeute einen Akt der Befreiung des „Menschen aus seinen abgabenrechtlichen Ketten“, eine scheinbar plausible Interpretation, mehr noch: sie wird zur Tautologie, weil sie unmittelbar aus seinen Prämissen folgt. Soziale Sicherheit ist also kein staatlicher octroi, sondern die Bedingung der Möglichkeit sozialer Rechte. Dies gilt namentlich für die soziale Sicherung, die als Eigenversorgung konzipiert und zu begreifen ist. Hier waltet Fremdbestim15  Dieter Grimm, Solidarität als Rechtsprinzip, 1973; Hans Mi­ chael Heinig, Anm. 11, 121 ff.

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mung, die aber im Interesse des Gesicherten ausgeübt wird. Er wird zur Vorsorge herangezogen, indem er an der Mitfinanzierung der Leistungen an gleichartig Gefährdete beteiligt wird und in dem Maße eigene Rechte erwirbt, wie er sich an der Lastentragung für die Daseinssicherung anderer beteiligt. Die Deutung, der Einzelne sei dem Staat ausgeliefert, wird dem Sozialstaat also nicht gerecht, weil sie wiederum die sozialen Menschenrechte verfehlt. Denn der Staat würde nicht gebraucht, wenn in ihm nur ein Mensch existierte. Robinson Crusoe muss vor keinem Staat geschützt werden, wäre dieser doch mit ihm selbst identisch: Die dem als vereinzelt gedachten Menschen so zukommende Allmacht kann auch nicht Freiheit heißen! Der in dem Ansatz angelegte Minimalismus mündet also in einen Reduktionismus. Solange die Rechte anderer nicht in den Blick geraten, handelt der Einzelne nicht im Rahmen des Rechts, sondern bewegt sich in der Natur. Ein jedem Menschenrechtsdiskurs kongeniales Modell muss daher die Tatsache inne werden und sein, dass Menschenrechte nur in einer Gesellschaft zur Rechtsfrage werden, darin mehrere Menschen miteinander in Beziehung treten. Freiheit wird erst dann und nur dann zum Thema, soweit es um das Neben- und Miteinander der Menschen geht und gefragt wird, wozu der Staat durch den Auftrag zum Schutz der Menschenrechte verpflichtet wird.16 Freiheit – verstanden als Möglichkeit, nach eigenen Maximen zu handeln – kann erst Gegenstand rechtlicher Normierung werden, wenn die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen konfligiert. Dann und nur dann ist der Staat gefordert. Er hat jedoch nicht primär darüber zu befinden, ob und wie „die Freiheit“ zu beschränken sei, sondern vielmehr durch Normsetzung die Freiheit des einen mit der Freiheit der anderen verträglich zu machen und so die Freiheiten aller in Einklang zu bringen. 16  Vgl. Art. 1 III GG, vgl. ferner die sich aus EMRK und AEMR ergebenden Pflichten; vgl. Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl., 2009, 286 ff.



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5. Der Staat als Garant aller Freiheiten aller Menschen Der Sozialstaat findet seinen Auftrag darin, die vielen anerkannten Freiheiten der vielen unterschiedlichen Individuen zu schützen: Das aber bedeutet, sie durch Kompromiss nach Maßgabe praktischer Konkordanz auszuformen, miteinander abzustimmen und auszugleichen.17 Demokratie ist das Me­ dium solchen Ausgleichs. Sie steht jedem „Durch-“Regieren entgegen. Die Stärke sozialstaatlicher und demokratischer Politik liegt in der Feinabstimmung der unterschiedlichen Interessen. Sie kann nur gelingen, wenn keine Seite die andere überfordert, weil darin jede zu ihrem Recht kommt. Das ist die Rolle des Sozialstaats im Kontext des sozial in die Pflicht genommenen Privatrechts – beispielsweise im Arbeits-, Mieter- und Verbraucherschutz. Dieser Gedanke leitet aber auch das Recht der sozialen Sicherheit, das seit jeher um einen Ausgleich zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern bemüht war und ist. Viele der fälschlich als neoliberal kritisierten Reformen in der Renten- und Arbeitsmarktpolitik des vergangenen Jahrzehnts (vgl. dazu unten III.) sind überhaupt nur aus dieser Aufgabe zu begreifen und daraus prinzipiell auch zu rechtfertigen.18 Die eingangs aufgezeigte Paradoxie, dass alle für weniger Beitrag und Steuern plädieren, zugleich aber mehr Leistungen des Sozialstaates fordern, auf keine jedenfalls freiwillig verzichten, erklärt sich aus dieser Doppelnatur sozialer Sicherheit. Sie ist Vorteil und Last zugleich, und zumeist verbindet sich beides in einer Person, die sich in ihren unterschiedlichen Lebensphasen vom Sozialstaat bald gefordert, bald gefördert sieht! 17  Peter Häberle, Anm. 16, 481 ff.; Sandra Fredman, Human Rights Transformed, 2008, p. 9 ff. 18  Bob de Mars / Danny Pieters / Paul Schoukens, „Security“ as General Principle of Social Security Law in Europe – Conclusions on Legislative Aspects, in: Ulrich Becker / Danny Pieters / Friso Ross / Paul Schoukens, Security: A General Principle of Social Security Law in Europe, 2010, p. 605, 629.

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Wer den Sozialstaat als Zwangsanstalt missversteht – wie der intellektuell Ton angebende, einkommensstarke und vermögende Main Stream –, wird den Rückzug des Staates aus der sozialen Sicherheit als Befreiung feiern. Wer dagegen um den Sozialstaat als Fundament der Freiheitssicherung für die Bedürftigen weiß und in ihm namentlich den Garanten der welt- wie europaweit anerkannten, in Deutschland aber noch ziemlich abschätzig behandelten und damit verkannten sozialen Menschenrechte erkennt, wird die Frage nach dem Rückzug des Staates aus der sozialen Sicherheit als Freiheitsverlust ansehen und deshalb die zur Debatte stehende Frage im entgegengesetzten Sinne beantworten. Sie kommt an dem cui bono? nicht vorbei. Denn im Sozialstaat der Gegenwart, der wesentlich ein sozialer Rechtsstaat ist, steht der Verteilungskonflikt zwischen den gesellschaft­ lichen Schichten nicht außerhalb des Rechts, sondern hat im Recht der sozialen Sicherheit wie im Steuerrecht zentral Gestalt angenommen. Die Ansprüche auf sozialen Schutz sind nicht nur gesetzlich normiert, sondern sind auch in den so­ zialen Menschenrechten verankert. Sie gelten in Deutschland, jedenfalls als einfaches Recht. Ferner ist auf Grund von Art. 1 II GG jedes international anerkannte Menschenrecht auch unmittelbar für das deutsche Verfassungsrecht von Bedeutung.19 Diese Art. 1 I GG nachfolgende Bestimmung lautet: „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Dazu gehören auch die sozialen Menschenrechte! Der demokratische Staat, der alle Menschenrechte aller Menschen gleichermaßen zu gewährleisten hat, kann sich deshalb nicht aus der sozialen Sicherheit zurückziehen! Denn er 19  Jef van Langendonck, Freedom and Social Security, Liber Amicorum Andrzej Marian Swiatkowski, 2009, p. 311; Anne von Aaken, Einwirkungen des Völkerrechts auf das Sozialverfassungsrecht am Beispiel der Daseinsvorsorge, in: Andreas von Arnauld  /  Andreas ­Musil (Hg.), Strukturfragen des Sozialverfassungsrechts, 2009, 47 ff.



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hat diese selbst geschaffen und damit durch sein Leistungsversprechen für viele zugleich viele Freiheiten begründet. Deren Sicherung wird nicht hinfällig, weil ihre Erfüllung mehr kostet als ursprünglich angenommen. Dies macht zwar die Anpassung nötig und gerechtfertigt; ein Rückzug des Staates aus der sozialen Sicherheit kann aber nicht im Namen der Freiheit verlangt werden. Denn soziale Sicherheit schafft Freiheiten für die einen und muss dafür die Freiheiten der anderen beschneiden. Soziale Sicherheit ist ein Freiheitsthema – für alle: für die in die Pflicht Genommenen nicht mehr als für die durch sie Berechtigten! III. Gewährleistung sozialer Sicherheit durch Staat und Private – Visionen zeitgenössischer Sozialreformen 1. Offiziöse und effektive Reformziele Reformer pflegen ihre Vorschläge stets in gutes Licht zu setzen; da ist von „Modernisierung, Verbesserung, Fortentwicklung oder Neugestaltung“ die Rede. Solche Vokabeln bekunden Veränderungsbereitschaft, den Willen, sich von Überkommenem zu lösen und das Neue zu wagen. Zu Zeiten eines verbreiteten Krisenbewusstseins um die Zukunft sozialer Sicherung finden solche offiziösen Bekundungen allemal Applaus. Die Renten-, Arbeitsmarkt- und Gesundheitsreformen des vergangenen Jahrzehnts wurden von deren Initiatoren als Beitrag zur „Modernisierung“ des Landes dargestellt. Diese Vokabel sprach an, weil die Regierung das Land „moderner“ zu machen versprochen hatte. a) Rentenreform 2000 / 2002 /  2002 von der einst So sagte sich die Rentenreform 2000  hoch gehaltenen Vorstellung los, der gesetzlichen Rentenversicherung komme auch künftig noch die Aufgabe einer Sicherung des vor Renteneintritt innegehabten Lebensstandards

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zu.20 Dieses Anliegen soll nur noch das Ergebnis aus dem Zusammenwirken von öffentlicher, betrieblicher und privater Vorsorge sein. Deshalb wurde durch die Änderung der Vorschriften zur Rentenanpassung das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung abgesenkt und im Gegenzug der Aufbau betrieblicher Altersvorsorge durch Entgeltumwandlung und die Förderung des Aufbaus einer privaten Altersvorsorge („Riester“-Rente) mittels öffentlicher Zuschüsse oder Steuervorteile angeregt. b) Arbeitsmarktreformen 2003 / 2004 Die auf Basis der Vorschläge einer von Peter Hartz geführten Regierungskommission formulierten Arbeitsmarktreformen21 veränderten das Arbeitsförderungsrecht von Grund auf. Um die Sicherung der Arbeitslosen auf eine leistungsfähige, im Wettbewerb mit Privaten stehende öffentliche Arbeitsvermittlung zu gründen, sollte die Arbeitsverwaltung – statt in der Verteilung der Arbeitslosenunterstützung – in der Vermittlung Arbeitsuchender in Arbeit ihren Auftrag finden. c) Gesundheitsreform 2004 Mit der durch das „Gesundheitsmodernisierungsgesetz“ betriebenen Reform22 sollte mittels Praxisgebühr und Zuzahlungen zu Arzneimitteln die Selbstbeteiligung der Versicherten ausgeweitet werden. Mittels Zielvereinbarungen sollte der Arzneimittelverbrauch vermindert werden. Im Vertragsarztrecht wurden neue Formen der Verknüpfung von stationärer und ambulanter Versorgung sowie vertragsärztlicher Betätigung (Medizinische Versorgungszentren) eingeführt. Dadurch 20  BT-Drs.  14 / 4230, 14 / 4636; 14 / 4640; vgl. dazu Schmähl, in: ­ ichenhofer / Rische / Schmähl (Hg.), Handbuch der gesetzlichen RenE tenversicherung, 2010, Kap. 4, Tz. 43 ff. 21  Bericht der Kommission, Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, 2002. 22  BT-Drs.  15 / 1525.



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sollten die Patienten einerseits stärker an der Finanzierung von Gesundheitsleistungen beteiligt und andererseits unnötige Mehrfachuntersuchungen – also Ineffizienz beim Mitteleinsatz – vermieden werden. 2. Beitrag der Reformen zur Bewältigung der Herausforderungen an den Sozialstaat? Nicht jede Reform war freilich als taugliche Anpassung an die das Sozialrecht im Bestand bedrohenden Herausforderungen zu betrachten. Wie steht es also mit den drei zu würdigenden Reformen in dieser Hinsicht? a) Rentenreform 2000 / 2002 Die Rentenreform 2000  /  2002 überführte die gesetzliche Rentenversicherung mittel- und langfristig aus ihrer hergebrachten Rolle als beherrschende, einzig tragende Säule in eine neue Architektur der Alterssicherung. Sie wird in der Fachwelt – sprachlich nicht ganz unbedenklich, weil Gleichheit der Säulen evozierend – als „Drei-Säulen-Modell“ umschrieben. Maßgebend wohnt der Reform die Entscheidung inne, die wirtschaftliche Sicherung des Einzelnen im Alter nicht länger allein auf die im Umlageverfahren finanzierte gesetzliche Rentenversicherung zu stützen, sondern seither auch und mit zunehmender Tendenz den Kapitalmarkt in den Dienst der Alterssicherung zu stellen. Diese Entscheidung hatte zunächst eine sozial- und wirtschaftspolitische Dimension, leitete sie doch einen auf Dauer gestellten Prozess der Absenkung des Rentenniveaus ein. Sie steigerte diesen Effekt durch Einführung des die Einbeziehung der Relation von Beschäftigten und Leistungsempfängern in die Bemessung der Rentenhöhe vorsehenden Nachhaltigkeitsfaktors. Auf diese Weise werden mit der Zunahme der Zahl der Leistungsempfänger einerseits und dem aus demographischen Gründen (Rückgang der Geburtenrate) erwarteten Rückgang der Beschäftigtenzahl andererseits die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung

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im Verhältnis zum früheren Rechtszustand substantiell sinken. Die Beschränkung der Leistungen ermöglichte die relative Absenkung der Beiträge zur Rentenversicherung – effektiv freilich lediglich die Verlangsamung ihres Anstieges.23 Die Rentenreform 2000 / 2002 gab substanzielle Antworten auf die sich aus der Alterung der Gesellschaft ergebenden Veränderungen für die künftige Alterssicherung, auch wenn dies in der öffentlichen oder wissenschaftlichen Debatte noch nicht hinlänglich angekommen ist oder angenommen wurde. Ihr kann deshalb jedenfalls nicht entgegnet werden, nur die Symptome kuriert zu haben. Ihren Anspruch, den sozialpolitischen Herausforderungen zu genügen, vermochte sie jedenfalls einzulösen. b) Arbeitsmarktreformen 2003 / 2004 Die Arbeitsmarktreformen sagten sich von einem Verständnis von Arbeitslosigkeit los, das sich in Deutschland im Zuge einer sich über Jahrzehnte hinweg von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus weiter aufbauenden Massenarbeitslosigkeit mehr und mehr zu etablieren begonnen hatte.24 Danach galt die Arbeitslosigkeit als individueller Schicksalsschlag, für dessen Folgen indessen die Gesellschaft ebenso und in prinzipiell gleicher Weise einstehen müsse wie für Krankheit, Alter, Erwerbsminderung – also solidarisch und auf Dauer. Diese Deutung wurde noch gestärkt durch die Vorstellung, die Anrechte aus der Arbeitslosenversicherung seien als ein als Eigentum geschütztes Vermögensrecht zu begreifen.25 Es sei 23  Bericht der Rürup-Kommission, 2003; Jan Böcken / Martin Butzlatt / Andreas Erbe (Hg.), Reformen im Gesundheitswesen, 2000. 24  BT-Drs. 15 / 25 (Hartz I), 15 / 26 (Hartz II), 15 / 1515 (Hartz III); 15 / 1516 (Hartz IV); Werner Eichhorn / Otto  Kaufmann / Regina Konle-Seidl (Hg.), Bringing the Jobless into Work? Experiences with activation schemes in Europe and the US, 2008. 25  Jürgen Papier, in: SRH, Anm. 9, § 3-67: BverfGE 72, 9; 74, 9, 25; 74, 203, 213; 92, 365, 405; Ulrich Becker / Simone von Hardenberg, Country Report on Germany, in: Becker et al., Security: A



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jedem Inhaber dieses Rechts tunlichst auch dessen voller Genuss zu sichern. Vor diesem Hintergrund erklären sich die Debatten, ob ein über Jahrzehnte Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zahlender Versicherter nicht länger zum Bezug des Arbeitslosengeldes berechtigt sein solle als ein jüngerer Versicherter – ganz so, als ob Risiken, für die sozialer Schutz begründet wurde, sich im Verlaufe des Lebens einmal verwirklichen müssten, weil sich sonst der Schutz für den Einzelnen doch nicht gelohnt hätte. Auch bei der Sicherung von Langzeitarbeitslosen, die ihre Versicherungsansprüche erschöpft hatten, herrschte die Vorstellung vor, Arbeitslosigkeit sei ein für den Einzelnen unabänderliches Schicksal, das ihm mit Hilfe von Sozialleistungen halbwegs oder gar möglichst erträglich gemacht werden müsse. Diese Haltung erklärte, dass die Leistung nicht bedarfs-, sondern einkommensproportional bemessen wurde. Die Arbeitsmarktreformen überwanden solche Haltungen und sagten sich von diesen Grundannahmen los.26 Genau darin lag ihre provokative Wirkung. Dabei mag dahinstehen, inwieweit die referierten Thesen als authentische Interpreta­ tion des bisherigen Rechtszustandes zu begreifen sind oder nicht. Jedenfalls setzte die Arbeitsmarktreform ihr die Annahme entgegen, Arbeitslosigkeit sei mittels geeigneter privater und öffentlicher Vermittlungsdienste, wenn nicht gänzlich, so doch vielfach zu überwinden. Die Arbeitsmarktreform trug daher die Leitidee, Arbeitslosigkeit sei nicht ein zu erleidendes Schicksal, sondern ein durch eigenes Bemühen des Arbeits­ losen und gezielte öffentliche Unterstützung überwindbares zeitweiliges Missgeschick. Die Leistungen sollten deshalb darauf ausgerichtet sein und werden, einen als vorübergehend zu verstehenden Zustand zu überstehen, sich darin aber keinesGeneral Principle of Social Security Law in Europe, Anm. 18, p. 97, 107 et sequ. 26  Andrea Beate Mueller, Der steinige Weg der Agenda 2010 – eine Zwischenbilanz, TuP 2004, 54; Georg Altmann, Aktive Arbeitsmarktpolitik, 2004; Klaus Adomeit, Die Agenda 2010 und das Arbeitsrecht, 2004.

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falls dauerhaft einzurichten. Diese Gefahr träte indessen ein, wäre die finanzielle Unterstützung zu großzügig bemessen, nähme doch diese den wirtschaftlichen Anreiz zur Aufnahme niedriger dotierter Tätigkeiten. c) Gesundheitsreform 2004 Die Hauptanliegen der Gesundheitsreform 2004 lagen in der Stärkung des Kostenbewusstseins der Versicherten bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und der Erschließung neuer Versorgungsformen, die eine bessere Kooperation von Krankenhaus und niedergelassenem Arzt oder unter niedergelassenen Ärzten ermöglichen sollen. Des Weiteren setzte die Reform auf die Kraft der Kollektivvertragsparteien, durch Gesamtvereinbarungen die Kosten zu begrenzen. Diese Ansätze lagen schon früheren Gesundheitsreformen zu Grunde, und die Reform insgesamt stand primär im Zeichen eines Motivs, das auch schon frühere Reformen des Gesundheitswesens leiteten: im Interesse der Bezahlbarkeit die Kosten zu „dämpfen“. Angesichts der dem Sozialstaat drohenden Herausforderungen sind effiziente Gesundheitssysteme sicherlich kein Schaden; aber in der Herstellung weitgehender Effizienz liegt noch keine zureichende Antwort auf die durch Alterung und medizinischen Fortschritt ausgelösten Herausforderungen. 3. Sozialreformen und sozialstaatliche Fundamentalvisionen a) Prinzipieller Gehalt der Reformen Keine Sozialreform erschöpfte sich allerdings in technischen Details. Jede Leitidee für eine Sozialreform sah sich vielmehr mit der Frage konfrontiert, wie sie sich in die verbreiteten Fundamentalvisionen über den Staat einordnen lasse. Liberale, konservative oder sozialdemokratische Grundannahmen prägen je unterschiedlich das Bild vom Wohlfahrtsstaat. Von jeder



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dieser Grundannahmen ausgehend lassen sich jeweils verschiedene Folgerungen für sozialpolitische Leitideen ziehen. Diese Unterscheidung liegt auch der Bildung politischer Parteien zu Grunde, weil der Parteienstaat wesentlich ein sozial gestaltender und damit ein Sozialstaat ist. Es wäre aber ein Missverständnis zu glauben, dass Konservative notwendig konserva­ tive, Liberale notwendig liberale und Sozialdemokraten notwendig sozialdemokratische Politik betrieben: Die Geschichte der Politik lehrt, dass häufig – vereinfacht gesagt – „rechte“ Politik von „linken“ Regierungen wie umgekehrt „linke“ ­Politik von „rechten“ Regierungen betrieben wurde. Befragt man die gängigen sozialpolitischen Fundamentalvi­sionen nach ihrem prinzipiellen sozialpolitischen Gehalt, so lassen sich drei Grundströmungen unterscheiden, die in der vergleichenden Forschung über den Wohlfahrtsstaat in der Nachfolge von Esping-Andersons27 Studie „The Three Worlds of Welfare Capitalism“ als das liberale, konservative und so­ zial­ demokratische Modell unterscheiden lassen. Das liberale Modell ist danach vornehmlich im angelsächsischen Raum, das konservative in Mitteleuropa, und der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat in Schweden und anderen nordischen Staaten verbreitet. Das Bemerkenswerte an dieser Einsicht liegt in der Verknüpfung von programmatischen Aussagen über die Sozial­ politik und der Beschreibung in einzelnen europäischen Regionen vorherrschender Muster von Wohlfahrtsstaatlichkeit. Für den Liberalen ist der Sozialstaat – wie der Staat generell – zwar notwendig, aber prinzipiell ein Übel. Er hat sich deshalb auf die „wirklich Bedürftigen“ zu konzentrieren, denen er das zum Leben Notwendige schuldet. Im Übrigen möge er sich auf die solidarisierende Wirkung verlassen, welche einer liberalen Gesellschaft aus einer staatlich möglichst unbeschränkten Individualfreiheit erwächst. Für den Konservativen ist der Staat umfassend zur Ordnung einer nach Verdienst und Rang gegliederten und untergliederten Gesellschaft berufen. Die Sozialpolitik hat in Wahrung der gesellschaft­ 27  Ders.,

The Three Worlds of Welfare Capitalism, 1990.

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lichen Rangunterschiede jedem Einzelnen den seinem gesellschaftlichen Stand gemäßen Schutz zu gewähren. Für den sozialdemokratischen Ansatz ist der demokratische Staat das Instrument, um den Mehrheitsbelangen der Gesellschaft durch staatlichen Schutz zu genügen, namentlich die gleiche Freiheit aller zu sichern und jeden zum Gebrauch der für alle gleichen Freiheiten zu befähigen. b) Neoliberale Motive Welchem dieser rivalisierenden Ideale waren die gewürdigten Reformen der vergangenen Jahre verpflichtet? Insoweit sie alle irgendwie auf Kürzungen staatlicher Leistung aus waren, hatten sie alle zunächst eine liberale Komponente, brachten „weniger Staat“. Deren Initiatoren sahen sich daher stets dem Vorwurf ausgesetzt, vom Ungeist des „Neoliberalismus“ infiziert zu sein. An diesem Vorwurf ist jedenfalls richtig, dass jedem Rückbau eines überbordenden und daran zu kollabieren drohenden Wohlfahrtsstaates jeder Versuch, Einhalt zu gebieten, auf eine Verminderung an sozialen Leistungen hinausläuft. Wenn aber jeder Versuch zur Kostenbegrenzung mit dem Attribut „neoliberal“ gekennzeichnet wäre, verlöre es seinen Aussagegehalt. Darüber hinaus wird dieses Attribut aber auch dem eigentlichen Anliegen von Liberalismus und Neoliberalismus nicht gerecht. Denn diesem war und ist vor allem der gegebene, umfassend ausgebildete Wohlfahrtsstaat schon seit jeher ein Ärgernis. Die liberale Vision zielt deshalb nicht auf eine Politik, die den Sozialstaat durch dessen Rückbau zu bewahren sucht, sondern die an deren Stelle einen auf die Sozialhilfe konzentrierten,28 letztlich vormodernen Sozialstaat setzt. „Liberal“ waren in einem gewissen Sinn auch die Arbeitsmarktreformen, muteten sie doch dem Versicherten und Arbeitslosen zu, sich auf frei werdende Stellen zu bewerben – 28  Peter J. Ferrara  / Michael Tanner, A New Deal for Social Se­ curity, Washington D. C., 1998.



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und zwar ohne Ansehen seiner früheren Berufstätigkeit. Liberal war schließlich auch das Motiv der Gesundheitsreform, mehr Eigenverantwortung von dem Versicherten einzufordern und in der Gestaltung medizinischer Leistungen durch eine weitgehende Deregulierung mehr Möglichkeiten zu öffnen. c) Neues Element – aktivierender Wohlfahrtsstaat Die genannten Reformen wären jedoch als „Abbau“ und Rückzug des Staates einseitig und unvollkommen be- und umschrieben. Näher betrachtet wird vielmehr deutlich, dass mit dem staatlichen Rückzug eine neue und vordem nicht bekannte Form der Staatsintervention29 einherging. So wurden mit der Förderung der Entgeltumwandlung durch steuer- und sozialversicherungsrechtliches Beitragsrecht sowie der Steuervergünstigungen und Subventionen beim Aufbau einer privaten Altersvorsorge neue Fördertatbestände geschaffen, welche sowohl den Staat als auch die von der Entgeltumwandlung um beitragspflichtige Einnahmen gebrachten Sozialversicherungsträger nicht unbeträchtlich belasteten. Auf diese Weise soll eine Prämie auf den richtigen Gebrauch der Freiheit – also der Begründung von im Einklang mit dem neuen Ziel der Alterssicherungspolitik liegenden Vorsorgekonzepten – vergeben werden. Statt die private und betriebliche Sicherung also dem Einzelnen als Pflicht vorzugeben, setzt der Staat auf Freiwilligkeit, verbindet jedoch das staatlich erwünschte Verhalten mit Vermögenstransaktionen. Die Verhaltenssteuerung bedient sich statt des Ordnungsrechts des Subventionsrechts. Besonders ausgeprägt ist dieses Element staatlichen Förderns auch bei der Arbeitsmarktreform entwickelt. Sie ist dem Fördern und Fordern verpflichtet, knüpft also öffentliche Hilfen an bestimmte Verhaltenserwartungen des Berechtigten (Fördern) und an den Leistungsentzug im Falle enttäuschter Verhaltenserwartungen (Fordern). Vor diesem Hintergrund 29  Nämlich zur Befähigung des Einzelnen „enabling“ oder „em­ powerment“; vgl. dazu Eberhard Eichenhofer, Anm. 7, 139 ff.

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verstehen sich die Eingliederungsvereinbarung für Arbeitsuchende und damit verknüpfte Hilfsangebote unterschiedlicher Art als ein Beitrag, um dem Berechtigten das erwünschte Verhalten durch öffentliche Hilfen zu ermöglichen. Schließlich setzte auch die Gesundheitsreform auf das In­ strument des aktivierenden Sozialstaats, indem sie namentlich den Kassen und Kassenärztlichen Vereinigungen auftrug, durch Zielvereinbarungen kostensenkend zu wirken. In solchen Gestaltungen tritt der aktivierende Wohlfahrtsstaat30 als neues Leitbild des Sozialstaates in Erscheinung: in ihm wird jedes soziale Recht mit der Erwartung verbunden, es in einem bestimmten sozial erwünschten Sinn zu gebrauchen. Im aktivierenden Sozialstaat gilt der Wahlspruch „Keine Rechte ohne Pflichten!“ – „No rights without responsibi­ lities!“ (Anthony Giddens31). Der traditionell als unbedingt und einseitig berechtigender, gegen den Träger gerichtete Anspruch wird darüber zum bedingten Anspruch. Die eingeräumten Rechte sind danach nur als Gegenleistung für ein im Interesse des Berechtigten wie der Gesellschaft liegendes Verhalten zu verstehen. Dieses Denken hat namentlich seit den 1970er Jahren in den nordischen Wohlfahrtsstaaten Eingang gefunden. Es wäre somit als Ausprägung des nordischen Wohlfahrtsstaates zu deuten und damit dem sozialdemokratischen Modell zuzuordnen. In der zeitgenössischen Sozialtheorie wird ein solcher Ansatz auch „kommunitaristisch“ genannt, denn er baut auf den Gedanken, soziale Rechte als in der Gesellschaft begründete Rechte berechtigten nicht nur, sondern verpflichteten auch im Gegenzug stets.32 Der Sozialversicherung ist dieser Gedanke 30  Bill Jordan, The New Politics of Welfare, 1998; Neil Gilbert, Welfare Justice: Restoring Social Equity, 1995. 31  Ders., Beyond Left and Right, 1994; Roland Sigg / Christiane Behrendt, Soziale Sicherheit im globalen Dorf, 2003. 32  Gráinne de Búrca / Bruno Witte, Social Rights in Europe, 2009; Malcolm Langford, Social Rights Jurisprudence, Emerging Trends in International and Comparative Law, 2008.



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nicht fremd, beruht sie doch seit Anbeginn auf der Verknüpfung von Beitragspflicht und Leistungsanspruch. Neu an den kommunitaristischen Ansätzen ist lediglich die Zuspitzung, dass der Berechtigte über die Beitragszahlung hinaus bei der aktiven Überwindung seiner Notlage eine weitere Gegenleistung zu erbringen hat. Ein konservatives Moment wohnt den untersuchten Reformen erkennbar nicht inne. Allerdings wirken diese in einem vom konservativen Ansatz insgesamt geprägten Modell von Wohlfahrtsstaatlichkeit. Namentlich die Rentenreform wird dazu beitragen, den konservativen Grundansatz der deutschen Alterssicherungspolitik zu verstärken, weil in der Überführung der Alterssicherung in ein DreiSäulen-Modell das Potenzial zu einer starken Rang- und Statusvariierung begründet liegt. Es darf insgesamt auch nicht übersehen werden, dass jedenfalls die Renten- und Arbeitsmarktreformen33 ihre ganz entscheidenden Prägungen durch die EU, namentlich die auf europäischer Ebene unternommenen Annäherungsversuche der Beschäftigungs- und Alterssicherungspolitik der Mitgliedstaaten im Rahmen der offenen Methode der Koordinierung empfangen haben. Diese hat nicht nur die Ziele, sondern auch zentrale Elemente der ergriffenen Mittel als good practices identifiziert und damit den Mitgliedstaaten zur Nachahmung anempfohlen, um nicht zu sagen: nahe gebracht. Auf Grund gemeinsam formulierter europäischer Sichtweisen und Handlungsempfehlungen und in Umsetzung EUrechtlich angestoßener Versuche werden dem aktivierenden Sozialstaat verpflichtete Maßnahmen zur Bewältigung der Krise des Sozialstaates und der dadurch ausgelösten Herausforderungen ergriffen.34 33  Altmann, Aktive Arbeitsmarktpolitik, 2004, 109  ff., Becker /  Boecken / Nußberger / Steinmeyer (Hg.), Reformen des deutschen Sozial- und Arbeitsrechts im Lichte supra- und internationaler Vorgaben, 2005. 34  Europäischer Rat, Die Entwicklung des Sozialschutzes in Langzeitperspektive, KOM(2000), 622 endg.; Europäische Kommission, Sozialpolitische Agenda, KOM(2005), 33 endg.; vgl. dazu Becker / 

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IV. Fazit Helmut Schmidt sieht in der Schaffung des modernen So­ zial­staats die größte kulturelle Errungenschaft Europas im 20. Jahrhundert.35 Er wäre als Beschränkung der Freiheit von Grund auf missverstanden, weil er den Einzelnen bei der Verwirklichung sozialer Risiken stützt und schützt und damit zum Freiheitsgebrauch befähigt. Der Sozialstaat erweist sich damit als ein Garant der Freiheit, der – indem er Solidarität einfordert – notwendig mit Freiheitsbeschränkungen einhergeht. Freiheit und soziale Sicherheit sind keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Auch in der Ausgestaltung sozialer Sicherheit waltet Freiheit. Verträge und Anreize zur Eigenvorsorge sind mit oktroyierter Vorsorge verbunden, um So­ zialhilfeabhängigkeit grundsätzlich zu vermeiden oder sie auf Notfälle zu beschränken. Mitwirkungshandlungen sind in der sozialen Sicherheit eingefordert – nicht um den Einzelnen im Stich zu lassen, sondern um so die Wirksamkeit sozialstaat­ licher Hilfe zu gewährleisten. Thesen Soziale Sicherheit berechtigt und verpflichtet, hat also einen doppelten Charakter. Sie bedeutet die Verstaat­ lichung sozialer Risiken; deren Privatisierung wäre ihr Ende. II. Der Rückzug des Staates aus der sozialen Sicherung wäre nicht nur eine Befreiung von Lasten, sondern ginge stets zugleich mit der Entrechtung sozial Berechtigter einher. III. Die Maxime: Weniger Abgaben = mehr individuelle Freiheit! ist aus dem Horizont des als isoliert gedachten Einzelnen formuliert. In ihr kommt die Gesellschaft I.

Boecken / Nußberger / Steinmeyer (Hg.), Reformen des deutschen Sozial- und Arbeitsrechts im Lichte supra- und internationaler Vorgaben, 2005. 35  Ders., in: DIE ZEIT Nr. 40 vom 25.9.2008, S. 3.



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nicht vor. Sie liefe auf das Ende von Solidarität und Staatlichkeit hinaus. IV.

Diese Maxime verfehlt den Staat der Gegenwart, verkörpert eine Regression, ist unpolitisch und geschichtsvergessen; sie bedeutet eine altliberale Weltflucht.

V.

Der Rückzug des Staates aus der sozialen Sicherung liegt im Eigeninteresse der vom Sozialstaat – jedenfalls idealiter! – überproportional in Anspruch genommenen „Leistungseliten“; dieses Interesse prägt und trägt das propagierte staatstheoretische Modell!

VI. Soziale Sicherheit steht nicht im Belieben des Staates; dieser schafft in der sozialen Sicherheit vielmehr soziale Menschenrechte; der Rückzug des Staates aus der sozialen Sicherheit mündete stets also in einen Konflikt zwischen Menschenrechten der unterschiedlich Berechtigten und Verpflichteten. VII. Solidarität – Basis sozialer Sicherheit – ist auf den Staat angewiesen; sie schafft soziale Rechte für die einen mittels Eingriffs in Vermögensrechte der anderen. Solidarität schafft rechtliche Bindungen zwischen Staat und einer Vielzahl von Einzelnen. Belastung und Nutzen treffen verschiedene Personen; beide fallen – im Lebenszyklus betrachtet – indes regelmäßig zugleich in einer Person zusammen. VIII. Alle Menschenrechte – namentlich soziale Menschenrechte – können nur in einem Modell gedacht werden, das den Staat als den Garanten der Freiheiten und Rechte aller sieht, und dem aufgetragen ist, die Freiheiten aller miteinander verträglich zu machen. IX. Der Sozialstaat findet im Ausgleich aller Menschenrechte aller Menschen seinen zentralen Gegenstand und Auftrag und nimmt diesen durch das Bemühen um praktische Konkordanz wahr. X.

Soziale Sicherheit ist fürwahr ein elementares Freiheitsthema – und zwar für alle: für die durch sie in Pflicht

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Genommenen nicht minder als auch für erst und nur durch sie Berechtigten! XI. Der deutsche Wohlfahrtsstaat wurde im Verlaufe des vergangenen Jahrzehnts tiefgreifend verändert. Diese Veränderungen sollten die Kosten des Wohlfahrtsstaates zwar senken, dies geschah aber nicht zum Zweck des Abbaus sozialer Rechte. XII. Durch die Rentenreform wurde das Drei-Säulen-Modell der Alterssicherung, durch die Arbeitsmarktreformen der aktivierende Wohlfahrtsstaat und durch die Gesundheitsreform das Potential von Effizienzreserven zu erschließen gesucht – mit entsprechenden Folgen für die Kosten im Gesundheitswesen. XIII. Eine Sozialreform im Einklang mit der Devise des Förderns und Forderns folgt nicht einem neoliberalen, sondern einem kommunitaristischen Grundansatz: Der Staat lässt den Einzelnen nicht im Stich, nimmt ihn aber in die Pflicht, um die eigene Notlage zu überwinden. XIV. Sozialreformen zielen auf neue sozialpolitische Wirklichkeiten und lösen gewollt oder ungewollt neue sozialpolitische Gefährdungen aus; sie stellen soziale Großversuche dar, die gelingen oder scheitern können.

Privatisierung der inneren Sicherheit? Von Thomas Würtenberger und Steffen Tanneberger, Freiburg* Bis Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts lag die Wahrung der inneren Sicherheit ganz selbstverständlich in der Erfüllungsverantwortung des Staates. Seitdem ist aus verschiedenen Gründen ein Perspektivenwechsel im Gange, die Privatisierungsdebatte1 hat die innere Sicherheit erreicht2. Ausgangspunkt ist dabei die Einsicht in die Knappheit staatlicher Ressourcen, theoretische Konsequenz die Modellierung neuer Staatsbilder3, praktische Folge vielfach der Rückzug des Staates aus der Erfüllung seiner Sicherheitsaufgaben. Zu den angesprochenen Modellen neuer Staatlichkeit gehören neben der Losung des „schlanken Staates“ u. a. Konzepte eines „kooperativen Staates“, der auf eine Verantwortungsteilung mit der Gesellschaft setzt. Für die innere Sicherheit erlangt dieses Modell schon alleine aufgrund der erfolgten Privatisierung der Infrastruktur einige Bedeutung: Hier ist der Staat gezwungen, in einem „Privatisierungssicherheitsfolgenrecht“ verloren gegangene Möglichkeiten direkter Einwirkung *  Prof. Dr. Thomas Würtenberger und Wissenschaftlicher Assistent Steffen Tanneberger, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 1  Vgl. W. Weiss, Privatisierung und Staatsaufgaben, 2002; M. Heintzen /A.  Voßkuhle, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), S. 220 ff., 266 ff.; C. Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, 2001; J. A. Kämmerer, Privatisierung, 2001. 2  Hierzu A. Mackeben, Grenzen der Privatisierung der Staatsaufgabe Sicherheit, 2004. 3  Hierzu A.  Voßkuhle, Der „Dienstleistungsstaat“. Über Nutzen und Gefahren von Staatsbildern, Der Staat 40 (2001), S. 495 ff.

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durch kooperative Modelle zu ersetzen. Daneben tragen auch ökonomische Theorieansätze4, ebenso wie Thesen einer neuen, individuellen Sicherheitsverantwortung5 das Ihrige zu dem beschriebenen Perspektivenwechsel bei. Im Folgenden sollen nur einige wenige Facetten der eben skizzierten Entwicklung herausgegriffen werden. I. Von der staatlichen Sicherheitsverantwortung zum privaten Sicherheitsgewerbe Werfen wir zunächst einen Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse: Das sprunghafte Anwachsen des privaten Sicherheitsgewerbes ist zum einen auf Veränderungen der objektiven Sicherheitslage – u. a. in Folge einer abnehmenden Polizeidichte6 – zurückzuführen. Hinzu treten Verschiebungen in der Wahrnehmung der Sicherheitslage durch die Bevölkerung7, wie sie etwa durch die effektorientierte mediale Berichterstattung begünstigt werden8. Sinnfälligster Ausdruck dieser Wahrnehmungsverzerrungen ist das sog. „Sicherheitsparadox“9, wie es 4  Hierzu etwa D.  Schmidtchen, Sicherheit als Wirtschaftsgut, in: R. Stober / H. Olschok (Hrsg.), Handbuch des Sicherheitsgewerberechts, 2004, S. 35 ff. (41, 44 ff., 48 ff. u. passim). Vgl. allgemein die differenzierte Kritik bei R.  Stürner, Markt und Wettbewerb über alles? – Gesellschaft und Recht im Fokus neoliberaler Marktideologie, 2007. 5  Hierzu R.  Stober, Vielfalt und Offenheit des Sicherheitsgewerbes, in: Ders. / H. Olschok (Fn. 4), S. 1 ff. (6 f.). 6  Hierzu Autorengruppe Hochschule für Polizei Baden-Württemberg, Baden-Württemberg, in: H. Groß / B. Frevel / C. Dams (Hrsg.), Handbuch der Polizeien Deutschlands, 2008, S. 46 ff. (50). 7  Vgl. weitergehend zur gesellschaftlichen Produktion von Wirklichkeit spezifisch mit Blick auf die Sicherheit H. Beste, Soziale Konstruktion von Sicherheit und Kriminalität, in: H. Jung / H. MüllerDietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug – wie lange noch?, 1994, S. 3 ff. (64 f.). 8  Hierzu C. Schewe, Das Sicherheitsgefühl und die Polizei, 2009, S. 120 ff. 9  Mit der Rede vom Sicherheitsparadox werden verschiedene, teils gegenläufige Begriffe verbunden. Neben dem sogleich im Haupt­



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in der soziologischen Forschung formuliert wurde10: Vereinfacht gesprochen soll danach das Verlangen nach Sicherheit umso mehr steigen, als diese tatsächlich gewährleistet ist. Dementsprechend kann ein etwaiger Zuwachs an objektiver Sicherheit nicht mit den überproportional steigenden Sicherheitsbedürfnissen Schritt halten, vielmehr verschärft ein Zugewinn an Sicherheit die Diskrepanz zu den Sicherheitserwartungen der Bürger. Konsequenz ist ein durch die tatsächliche Entwicklung nicht zu begründendes Anwachsen des Gefühls von Bedrohung und Unsicherheit. Wir wollen uns an dieser Stelle nicht weiter mit den Grenzen dieses Erklärungsansatzes aufhalten, der zudem mit anderen empirischen Forschungsergebnissen und Erklärungsmodellen konkurriert. Jedenfalls scheint uns dieses Modell ein mindestens im Ansatz plausibles Schlaglicht auf etwaige Diskrepanzen zwischen objektiv bestehender und subjektiv empfundener Sicherheitslage zu werfen, die ihrerseits für das sprunghafte Anwachsen des Sicherheitsgewerbes mitursächlich sein mögen. In Zeiten verbreiteten Rechtsgehorsams – wie wir sie derzeit erleben – ist die Polizei bloße Reservegewalt, die nur punktuell einzusetzen ist. Allerdings birgt dieser Zustand relativer Stabilität auch Risiken. In dem Maße, in dem Fragen der inneren Sicherheit an öffentlicher Aufmerksamkeit verlieren, geraten sie nach der Funktionslogik der Mediendemokratie aus dem Fokus des politischen Interesses11. Hinzu kommen text darzustellenden etwa ein solcher, der besagt, dass gerade das Gefühl von Sicherheit zu einer Abschwächung der Sicherheitsanstrengungen und damit zu einem Verlust an Sicherheit führe. Darauf wird zurückzukommen sein. 10  Vgl. – wenngleich schwerpunktmäßig auf die soziale Sicherheit abzielend – bereits A.  Evers / H.  Nowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit, 1987, S. 59 ff. Hierzu H. Beste (Fn. 7), S. 77 f. 11  Etwaige Widersprüche zu dem oben vorgestellten Sicherheitsparadox lassen sich möglicherweise durch eine Differenzierung nach der Art der jeweiligen Straftaten auflösen: So spricht Vieles dafür, dass gerade im Bereich der Kapital- und Gewaltdelikte – insbesondere wegen des besonderen Medieninteresses – die beschriebenen paradoxen Folgen eintreten mögen. Demgegenüber scheinen die hier

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Wandlungen in der gesellschaftlichen Bewertung der Kleinund Alltagskriminalität, vor allem aber der Ordnungswidrigkeiten. Diese (Straf-)Rechtsverstöße werden zunehmend als unumgängliches, ja zu akzeptierendes soziales Phänomen begriffen12, polizeiliches Einschreiten hiergegen nicht selten als obrigkeitsstaatlicher Anachronismus abgelehnt. Überhaupt haben „harte“ Formen staatlicher Kriminalitätsbekämpfung wenig Konjunktur: Ein auf sozial-kollektive Erklärungsansätze individuellen Fehlverhaltens fokussierter Zeitgeist gefällt sich in dem Verweis auf vorgeblich überlegene, zugleich aber kostenintensive Maßnahmen sozialer Prävention. In der Folge sieht sich die Forderung nach einer höheren Polizeidichte schnell dem Vorwurf populistischer Folgenkosmetik verpasster Ursachenprävention ausgesetzt. Damit ist das politische und gesellschaftliche Umfeld beschrieben, vor dem binnen der letzten zwei Jahrzehnte die Polizeidichte ganz erheblich gesunken ist13. Hinzu kommt eine zunehmend personalintensive Ausgestaltung der polizei­lichen Befugnisse, wie sie an erster Stelle im Bereich Daten­erhebung und ‑verarbeitung zu beobachten ist. Gleichsam gegenläufig scheint diese von Ressourcenknappheit beherrschte Idee des schlanken – zugleich aber auf so­ ziale Wirkmechanismen abzielenden – Staates zunehmend in Konflikt mit dem Sicherheitsbedürfnis weiter Bevölkerungskreise zu geraten, die auf polizeilichen Schutz vor Straftaten beschriebenen Funktionsmechanismen eher mit Blick auf die leichte und mittlere Kriminalität zu greifen. 12  Vgl. symptomatisch für die – insbesondere bei ökonomischen Sicherheitstheorien – anzutreffende Indifferenz gegenüber dem Phänomen Kriminalität D. Schmidtchen (Fn. 4 ), S. 38 f. 13  Diese personelle Ausdünnung zeitigt in erster Linie Folgen für die Abwehr der leichten und mittleren Kriminalität, währenddessen zur Bekämpfung von Terrorismus und Organisierter Kriminalität neue, i.  d.  R. informationelle Eingriffsermächtigungen geschaffen wurden, deren Einsatz teils sehr kostenintensiv ist. Möglicherweise hat die bereits oben beschriebene Diskrepanz in der medialen Konstruktion von einfacher und schwerer Kriminalität hier zu Fehlallokationen staatlicher Ressourcen im Sinne eines relativen Übergewichtes bei der Bekämpfung der OK und des Terrorismus geführt.



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bauen. Konsequenz ist, dass der Vertrauensverlust in die Effi­ zienz und Präsenz polizeilicher Gefahrenabwehr durch eine Gefahrenabwehr in privater Regie kompensiert wird (sog. „passive“14 oder „diskrete“15 Privatisierung). Je mehr sich der Staat aus der Erfüllung seiner Sicherheitsaufgabe zurückzieht, desto stärker wird das Bedürfnis nach Eigensicherung. So gesehen korreliert das Wachstum des Sicherheitsmarktes mit dem Rückzug des Staates aus einem seiner zentralen Aufgaben­ bereiche. Die Sicherheitsökonomie rekonstruiert, resp. rechtfertigt diese Entwicklung folgendermaßen: Der Staat hat nur die allgemeine Aufgabe der Gefahrenprävention. Ihm obliegt nur eine Art Grundversorgung mit dem Gut der inneren Sicherheit16. Eine optimale oder maximale Erfüllung der Sicherheitsaufgabe kann nicht gefordert und auch nicht geleistet werden. Wer individuell über die Grundversorgung hinaus nach Sicherheit nachfragt, muss sich diese auf dem „Sicherheitsmarkt“ beschaffen. Derart findet eine optimale Allokation des „Gutes“ Sicherheit statt17. Die Zahlen, die die Diskrepanz zwischen staatlicher Grundversorgung und gesellschaftlicher Nachfrage im Bereich der inneren Sicherheit widerspiegeln, sind beeindruckend. In Deutschland umfasst ein dynamisch wachsender Markt weit über 3000 private Sicherheitsunternehmen mit über 170.000 Mitarbeitern und mit einem Branchenumsatz von mittlerweile über vier Milliarden Euro18. Diese Entwicklung wird von einer rechtlichen Reglementierung begleitet19, die nicht zu14  D.  Schmidtchen

(Fn. 4), S. 44. Privatisierungsmöglichkeiten und -grenzen im Sicherheitsbereich, in: R. Stober / H. Olschok (Fn. 4), S. 165 ff. (167). 16  D.  Schmidtchen (Fn. 4), S. 49. 17  D.  Schmidtchen (Fn. 4), S. 48 f. 18  Aktuelle Zahlen finden sich auf der Homepage des Bundesverbandes der Sicherheitswirtschaft, http: /  / www.bdsw.de. 19  Vgl. etwa die entsprechenden Zuverlässigkeitsvorbehalte in § 34a Abs. 1 S. 3, Abs. 4 GewO. Hierzu G.  Brauser-Jung / M.  Lange, Das neue Bewachungsgewerbe auf dem Prüfstand, GewArch 2003, 15  J.  A.  Kämmerer,

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letzt auf eine Professionalisierung der privaten Sicherheitsdienste abzielt20. Darüber hinaus gehen Polizeifachhochschulen teilweise dazu über, mit neuen Studiengängen den Anforderungen des privaten Sicherheitsgewerbes zu entsprechen. Solche – im Grundsatz zu begrüßenden – Studiengänge sind Indiz für das Entstehen einer Funktionenteilung zwischen staatlicher Sicherheitsverantwortung und privater Sicherheitsgewährleistung. Allerdings gibt die beschriebene Privatisierung der Gefahrenabwehr auch Anlass zu kritischen Überlegungen. Die deutsche Tradition rechtsstaatlichen Sicherheitsrechts war seit jeher an Egalität orientiert: Allen Bürgern war in gleicher Weise Sicherheit zu gewährleisten. Private Sicherheitsunternehmen wurden daher nur in Ausnahmefällen für besonders sensible private Bereiche benötigt. Die Egalität in der Sicherheitsgewährleistung droht zu Lasten einer „Zweiklassen-Sicherheitsgesellschaft“ verloren zu gehen, die danach unterscheidet, ob man zur privaten Sicherheitsvorsorge bereit, vor allem finanziell in der Lage ist21. Welchen hohen Wert aber eine egalitäre Sicherheitsgewährleistung besitzt, wird angesichts von Beispielen im Ausland plastisch, wo ganze Wohnviertel zum Schutz vor Kriminalität abgeschottet werden, indes außerhalb dieser „gated communities“ eine teils extreme Kriminalität Raum greift. S. 224 ff. (229 ff.). Allgemein hierzu R.  Wackerhagen / A.  FaulstichGoebel, Zur Novellierungsdiskussion des Sicherheitsgewerberechts, in: R. Stober / H. Olschok (Fn. 4), S. 82 ff. 20  Vgl. etwa § 34a Abs. 1 S. 3 Nr. 3, S. 4 GewO (Bescheinigung über die Unterrichtung hinsichtlich der notwendigen rechtlichen Vorschriften), bzw. § 34a Abs. 1 S. 5 GewO (Sachkundeprüfung für bestimmte Tätigkeiten). Hierzu G. Brauser-Jung / M. Lange (Fn. 19), S. 225 ff. 21  Daher geradezu zynisch der Hinweis bei D.  Schmidtchen (Fn. 4), S. 51, Arme benötigten einen entsprechenden Zugang zu entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen (wohl aufgrund fehlender Vermögenswerte) „auch nicht“. Diesen Standpunkt mag man als Ausweis der Gefahren lesen, die der ökonomischen Betrachtung höchstpersönlicher Schutzgüter eignen.



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Von der beschriebenen „passiven Privatisierung“, die durch private Sicherheitsgewährleistung kompensiert wird, sind im Grundsatz neue Formen eines kooperativen Verwaltungsstaats zu unterscheiden. Hier geht es nicht um einen (schleichenden) Rückzug des Staates aus seiner Verantwortung für die innere Sicherheit, sondern um eine Effektivierung des Ressourceneinsatzes durch die Einbeziehung Privater22, wenngleich auch hier darauf zu achten sein wird, dass unter dem Zeichen dieser Novationen keine Absenkung des materiellen Sicherheits­ niveaus stattfindet. Die Kooperationsformen eines am Modell der Public-Private-Partnership angelehnten Police-Private-Partnership sind bekannt:23 Zur Optimierung innerer Sicherheit arbeitet die Polizei mit den Bürgern und Sicherheitsunternehmen sowie mit den Trägern der Sozialarbeit im Sinne einer kooperativen Sicherheitsvorsorge zusammen. Beispielhaft sind etwa gemeinsame Streifengänge, informationelle Vernetzung oder etwa die Ausübung des Hausrechts – etwa im Bereich von U-Bahnen – durch Private zu nennen24. All dies mag im lokalen Bereich zielführend sein. Zu beachten bleibt aber, dass dem Staat auch in seinem kooperativen Zusammenwirken mit Privaten eine Gewährleistungsverantwortung verbleibt, der er durch Kontrolle und Regulierung der Privaten zu entsprechen hat25. Zudem ist auch hier, wie überhaupt, auf eine Professionalisierung des Sicherheitsgewerbes zu drängen, was nach dem Gesagten sowohl durch entsprechende (gewerbe-)rechtliche Standards als auch durch die Etablierung neuer Studiengänge geschehen kann. D. Schmidtchen (Fn. 4), S. 37. Stober (Hrsg.), Police-Private-Partnership aus juristischer Sicht, DÖV 2000, 261 ff.; Ders., Private Sicherheitsdienste als Dienstleister für die öffentliche Sicherheit?, ZRP 2001, 260 ff.; T. Würtenberger / D. Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl., 2005, S. 16 ff. m. w. Nw. 24  Zu diesen Beispielen F.  Jungk, Police Private Partnership, in: R. Stober / H. Olschok (Fn. 4), S. 571 ff. 25  F. Braun, Die Finanzierung polizeilicher Aufgabenwahrnehmung im Lichte eines gewandelten Polizeiverständnisses, 2009, S. 62. 22  Hierzu 23  R.

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Allerdings hat die neue Funktionenteilung zwischen staatlicher Sicherheitsgewährleistung und privater Sicherheitserfüllung verfassungsrechtliche Grenzen zu beachten26. Insbesondere der Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG setzt der Übertragung hoheitlicher Aufgaben auf Dritte recht enge Grenzen27: Die Wahrnehmung von Hoheitsaufgaben darf als ständige Aufgabe in der Regel nur Angehörigen des Öffent­ lichen Dienstes übertragen werden. Davon abgesehen streitet das staatliche Gewaltmonopol dafür, dass die Durchsetzung der Rechtsordnung und die egalitäre Wahrung von innerem Frieden und Sicherheit im Grundsatz in der Erfüllungsverantwortung des Staates bleiben28. Modelle der Privatisierung innerer Sicherheit, wie etwa die Überwachung ganzer Innenstädte durch private Sicherheitskräfte auf Grund eines Zusammenschlusses der dort ansässigen Gewerbetreibenden, sind mit diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht zu vereinbaren29. Schließlich scheint mit Blick auf das sog. „Untermaßverbot“ – Schlagwort für den grundrechtlich radizierten Mindestschutz30 – die beschriebene Ausdünnung der Polizeidichte jedenfalls dann problematisch, wenn, sei es im Wege landesinterner Disposition, sei es aufgrund von Amtshilfe gegenüber anderen Bundesländern, Einsatzkräfte aus der Fläche abgezogen werden. So ist es bereits kaum hinterfragte Praxis, nicht nur die Bereitschaftspolizei, sondern auch die im lokalen und regionalen Bereich tätigen Polizeibeamten abzuziehen, um für Großdemonstrationen entsprechende Kräfte zu massieren. In der Folge fehlt es im lokalen und regionalen Bereich an der 26  J. A. Kämmerer, Privatisierungsmöglichkeiten und -grenzen im Sicherheitsbereich, in: R. Stober / H. Olschok (Fn. 4), S. 165 ff. 27  Hierzu T. Würtenberger / D. Heckmann (Fn. 23), S. 16 ff.; Kämmerer (Fn. 26), S. 174 ff. 28  T. Würtenberger / D. Heckmann (Fn. 23), S. 18. 29  Zu dieser Praxis vgl. Braun (Fn. 25), S. 63. Zu weiteren Fallkonstellationen vgl. Kämmerer (Fn. 26), S. 180 ff. 30  Hierzu R. Zippelius  / T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008, S. 185.



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nötigen Zahl von Polizeibeamten, um unvorhergesehenen Gefährdungslagen entgegenzutreten. Die derart enstehenden personalen Engpässe können auch nur begrenzt durch Kräfte des „freiwilligen Polizeidienstes“31 ausgeglichen werden. Dies schon deshalb, weil die freiwilligen Helfer nicht über eine Ausbildung verfügen, die jener ihrer hauptberuflichen Kollegen entspricht. Dementsprechend kann dem freiwilligen Polizeidienst nur eine Ergänzungsfunktion zukommen32. Diese konstitutive Beschränkung der Möglichkeiten des freiwilligen Polizeidienstes scheint in der Vergangenheit – gerade aufgrund der angespannten Personallage – teils übergangen worden zu sein. So etwa sah sich ein Angehöriger des freiwilligen Polizeidienstes – aufgrund einer weit reichenden Abordnung verbeamteter Polizeikräfte – mit einem Amoklauf, mithin einer Gefahrenlage konfrontiert, für deren Bewältigung er nicht ausgebildet war33. Nicht zuletzt mit Blick auf dieses Vorkommnis wurde in Baden-Württemberg die Konsequenz gezogen, den Freiwilligen Polizeidienst auslaufen zu lassen34. Allerdings scheint uns die hier zu Tage tretende Rationalität zweifelhaft, denn sie nimmt den Freiwilligen Polizeidienst für Personalengpässe der hauptamtlichen Polizeibediensteten in Haftung und verschärft diese zugleich, indem sie auf die Hilfsdienste von landesweit rund 1250 Freiwilligen verzichten zu können glaubt. Letztlich wird sich daher diese Entscheidung daran messen lassen müssen, ob es gelingt, die entstehende Lücke durch Polizeibeamte zu schließen. 31  In Baden-Württemberg der Freiwillige Polizeidienst nach dem FPolDG, in Bayern die Sicherheitswacht nach dem SWG. 32  So auch die gesetzgeberische Konzeption in § 1 Abs. 3 FPolG BW. 33  Hierzu F. Schmider, Freiwillige im Fronteinsatz – Personalmangel bei der Polizei, abrufbar unter http:  /   /  www.badische-zeitung. de / suedwest-1 / freiwillige-im-fronteinsatz-personalmangel-bei-derpolizei—36002705.html. Zu betonen ist aber, dass das Verhalten des Freiwilligen in casu – auch am Maßstab verbeamteter Polizisten – keinen Grund zur Beanstandung gab. 34  Vgl. zur politischen Auseinandersetzung in dieser Sache die Stellungnahme des Innenministeriums BW, LT- Drs. 15 / 168, S. 3 ff.

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II. Von der Erfüllungs- zur Gewährleistungsverantwortung für die innere Sicherheit als Folge der Privatisierung der Infrastruktur Ein zweiter Perspektivenwechsel ergibt sich aus der stattgehabten Privatisierung der Infrastruktur. Nachdem in den Privatisierungswellen der letzten beiden Jahrzehnte wesentliche Bereiche der Infrastruktur in die private Hand überführt worden waren, ist unter dem Eindruck terroristischer Anschläge die sicherheitspolitische Dimension der – nunmehr so apostrophierten – „kritischen Infrastrukturen“35 in den Fokus geraten. Hierzu rechnen namentlich die Kommunikations-, Versorgungs- und Verkehrsnetze, die als besonders anfällig für Großschadensereignisse, ebenso für terroristische oder kriminelle Angriffe gelten müssen. Allerdings gestaltet sich die Wahrnehmung der staatlichen Verantwortung für diese „kritischen Infrastrukturen“ eben unter den Bedingungen der erfolgten Privatisierung nicht unproblematisch. Jedenfalls stehen dem Staat vielfach Formen direkter Einwirkung, wie sie noch möglich waren, als die Infrastrukturen durch die öffentliche Hand betrieben wurden, nicht mehr zu Gebote. Dementsprechend ist die Frage aufgeworfen, ob der Rückzug des Staates auf die Gewährleistungsverantwortung im Bereich der (kritischen) Infrastrukturen zugleich einen Rückzug des Staates auf die bloße Gewährleistung innerer Sicherheit bedingt, mithin die Privatisierung der Infrastruktur eine Privatisierung der inneren Sicherheit zur Folge hat. Die Privatisierung hat zu einem Privatisierungsfolgenrecht geführt, in dem die Gewährleistungsverantwortung des Staates geregelt ist36. Im Zentrum dieses Privatisierungsfolgenrechts stehen die Bundesnetzagentur und weitere Regulierungsbe35  Zum Begriff M.  Thiele, Die Entgrenzung der Gefahrenabwehr, 2011, S. 114 ff. Kritisch M.  Kloepfer, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Schutz kritischer Infrastrukturen, 2010, S. 9 ff. (11 f.). 36  Hierzu unlängst F.  Schoch, Gewährleistungverwaltung: Stärkung der Privatrechtsgesellschaft?, NVwZ 2008, S. 241 ff.



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hörden. Neben der Verfolgung weiterer Gemeinwohlziele hat das Privatisierungsfolgenrecht auch dem Sicherheitsauftrag des Staates zu entsprechen. Insoweit mag man von einem „Privatisierungssicherheitsfolgenrecht“ sprechen. Diesem kommt die Aufgabe zu, auch im privatisierten Bereich die Sicherheit der Netze vor externen Ingerenzen, etwa Terroranschlägen oder Großschadensereignissen, zu schützen. Allerdings können sich aufgrund von Spezifika der Sachmaterie Besonderheiten gegenüber dem sonstigen Regulierungsrecht ergeben. So etwa darf sich dieses „Privatisierungssicherheitsfolgenrecht“ mindestens dort nicht mit der sonst üblichen Gewährleistungsverantwortung des Staates begnügen, wo der Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG greift. Darüber hinaus gelten auch hier die oben skizzierten verfassungsrechtlichen Grenzen für die Aufgabenübertragung auf Private: Zu nennen sind hier insbesondere die grundrechtlichen Schutzpflichten sowie vor allem auch das staatliche Gewaltmonopol. Zu klären bleibt, wie die staatliche Sicherheitsaufgabe unter den Bedingungen einer weitgehend privatisierten Infrastruktur umzusetzen ist. Der Staat mag hier Sicherheitsstandards setzen, die die privaten Infrastrukturbetreiber zur Vorsorge gegenüber Großschadensereignissen oder terroristischen bzw. kriminellen Angriffen verpflichten. Allerdings bereitet bereits die Formulierung dieser Sicherheitsstandards, mehr noch ihre Umsetzung dem Staat Schwierigkeiten, wird hier doch das bekannte Informationsproblem bzw. Informationsungleichgewicht virulent: So wissen in aller Regel nur die Netzbetreiber, wo überhaupt Sicherheitslücken bestehen mögen und mit welchen technischen und organisatorischen Maßnahmen diese zu schließen sind37. Umgekehrt werden die privaten Betreiber kaum gewillt sein, etwaige Sicherheitslücken gegenüber den Regulierungsbehörden, und – verständlicherweise – erst recht nicht der Öffentlichkeit freiwillig zu offenbaren. Dementsprechend bedarf es, wie in der KRITIS-Strategie des Bundesmi37  Zu vergleichbaren Problemen der Sachverhaltsermittlung im Umweltbereich vgl. J.‑P. Schneider, Nachvollziehende Amtsermittlung im Umweltbereich, 1991, S. 20 ff.

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nisteriums des Inneren entwickelt, einer vertrauensvollen Kooperation zwischen den staatlichen Überwachungsbehörden und den Netzbetreibern, um in kooperativem Zusammenwirken auf eine Optimierung der Netzsicherheit hinzuwirken38. Dabei sind derartige Problemlagen nicht neu: So wurde bereits früher in anderen Sachbereichen, etwa dem des Umweltschutzes diskutiert, wie die Gewerbeüberwachung in die Lage versetzt werden kann, emittierende Anlagen zu kontrollieren. Dass die Gewerbeüberwachung hier keine technische Gegenbürokratie aufbauen konnte, verstand sich von selbst. Gelöst wurde dieses Problem schlussendlich dadurch, dass die Gewerbebetriebe selbst, namentlich durch die Etablierung unabhängig gestellter Beauftragter, die Einhaltung der recht­ lichen Sicherheitsstandards zu gewährleisten hatten. Ähnliches erscheint für den Bereich der kritischen Infrastruktur erwägenswert: Die dortigen Sicherheitsabteilungen mit ihrem Sicherheitsmanagement könnten als tatsächliche Anknüpfungspunkte eines rechtlich fundierten Regimes der Selbstkontrolle dienen. Demgegenüber lässt sich durch ökonomische Steuerungsmechanismen der gebotene Sicherheitsstandard mindestens im Bereich der leitungsgebundenen Infrastruktur nicht erreichen. Dies bereits deshalb, weil die Sicherung der kritischen Infrastruktur hier in erster Linie die Sicherung der Netze zu bedeuten hat. Insoweit aber scheidet eine Konkurrenzsituation bereits aus dem Grund aus, als die Konkurrenten regelmäßig ihre Leistung durch Rückgriff auf ein und dieselbe Infrastruktur erbringen. Darüber hinaus scheint uns ganz allgemein im Bereich der kritischen Infrastrukturen der Wettbewerbsgedanke zur Verwirklichung des notwendigen Sicherheitsstandards kaum zielführend zu sein. Jedenfalls verfängt die Argumentation, Sicherheit sei auch in diesem Bereich ein zentrales Wettbewerbsargument, das auf die Verwirklichung hoher Sicher38  Zu dieser Verantwortungsteilung: M. Kloepfer (Fn. 35), S. 17; Bundesministerium des Inneren (Hrsg.), Schutz kritischer Infrastrukturen, 2009; Dass. (Hrsg.), Nationaler Plan zum Schutz kritischer Infrastrukturen, 2005.



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heitsstandards aus Eigeninitiative dränge, nach unserem Dafürhalten nicht. Sicherheitserwägungen sind jedenfalls derzeit ganz überwiegend kein relevanter Marktparameter. Vielmehr scheint uns der Markt hier in erster Linie durch die Preise bestimmt, was gerade gegenläufig dazu verführen mag, Sicherheitsinteressen aufgrund der damit verbundenen, vom Markt aber nicht honorierten Kosten hintanzustellen. Dementsprechend kann der Staat seine Sicherungsaufgabe bereits aus tatsächlichen Gründen – die Frage der rechtlichen Zulässigkeit wollen wir in diesem Zusammenhing nicht neuerdings erörtern – nicht an den Markt delegieren. Wie aber kann dann der Staat seiner Sicherungsaufgabe unter den Bedingungen einer privatisierten Infrastruktur entsprechen? Hier sei im Folgenden nur auf zwei Aspekte hingewiesen: 1. Im Bereich der Infrastruktur ist die innere Sicherheit nach den anerkannten Regeln von Wissenschaft und Technik zu gewährleisten. Dies ist in zahlreichen „Infrastrukturgesetzen“ festgelegt und betrifft die öffentlichen ebenso wie die privaten Betreiber kritischer Infrastruktur. Dieser Maßstab der technischen Gewährleistung innerer Sicherheit gewährleistet eine gewisse Dynamik: Mit dem Fortschritt der Sicherheitstechnik muss die technische Sicherung der kritischen Infrastruktur standhalten. Bei genauerer Betrachtung ergeben sich freilich recht schnell schwierige Folgefragen: Ist diese Maßstabsbildung nicht insofern wieder privatisiert, als sie sich weitgehend an Vorschlägen gesellschaft­licher Gruppierungen, etwa des Verbandes deutscher Ingenieure, orientiert? Zudem führt diese Maßstabsbildung unweigerlich zu noch wenig geklärten, vielleicht auch kaum lösbaren Fragen der Sicherheitsökonomie: Muss alle neue Technik, die der Sicherheit der kritischen Infrastruktur zu dienen vermag, soweit dies ökonomisch vertretbar ist, wirklich auch angewendet werden? So werden etwa derzeit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung Sicherheitstechniken in ihrer Entwicklung gefördert, die z. B. die Straßen- oder Eisenbahntunnel nach etwai­gen Explosionen informations- und bautechnisch in den Stand set-

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zen, die Rettungseinsätze zu optimieren39. Derartige Techniken erhöhen zwar die Sicherheitsstandards, sind aber recht kostspielig. Soweit es um geschlossene Netze geht, wie etwa im Bereich der Trinkwasserversorgung, ist damit die Frage aufgeworfen, unter welchen Voraussetzungen die jeweiligen Betreiber derartige Kosten zu tragen überhaupt in der Lage sind. Möglicherweise lassen sich derartige Anhebungen des Sicherheitsstandards nur durch die Erhöhung der Bezugsentgelte finanzieren. Damit verbindet sich die Folgefrage, ob die privaten Endverbraucher nicht zur Mitbestimmung berechtigt sein müssten. Denn was dem Einzelnen die Verbesserung innerer Sicherheit an direkten Geldleistungen wert ist, lässt sich bislang schwer abschätzen. Abgesehen von diesen Fragen der Partizipation bedarf es schwieriger Risikoanalysen, um zu klären, in welchem Umfang – häufig kostspielige – technische Innovationen risikoadäquat in die kritische Infrastruktur zu integrieren sind. Von Privatisierung der inneren Sicherheit mag man hier (nur) insofern sprechen, als das Maß an Infrastruktursicherheit von der Investitionsbereitschaft der Unternehmer und der Zahlungsbereitschaft der Bürger, auch als Steuerzahler, abhängt. 2.  Weitere Perspektiven des Staates zur Gewährleistung von Sicherheit im Bereich der kritischen Infrastrukturen ergeben sich aus dem Resilienz-Gedanken. Im Sinne der für Deutschland neuen, aber international seit langem bekannten ResilienzKonzeption40 ist die kritische Infrastruktur so anzulegen, dass – bspw. durch Redundanzen – allfällige Störungen nicht zu einem (vollständigen) Funktionsverlust führen. Zudem soll die kritische Infrastruktur auch in zeitlicher Hinsicht widerstandsfähig sein, so dass nach einer Störung das Netz sehr rasch wieder zu seiner gewöhnlichen Funktionsfähigkeit zurückfindet. 39  Vgl. hierzu Bundesministerium für Bildung und Forschung, Forschung für die zivile Sicherheit 2012 – 2017. Rahmenprogramm der Bundesregierung, 2012. 40  T.  Würtenberger, Sicherheitsarchitektur im Wandel, in: D. Kugelmann (Hrsg.), Polizei unter dem Grundgesetz, 2010, S. 73 ff.; Ders., Resilienz, in: P. Baumeister u. a. (Hrsg.), Staat, Verwaltung und Rechtsschutz. Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke, 2011, S. 563 ff.



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Möglichkeiten des Staates, den skizzierten Resilienzgedanken umzusetzen, bestehen etwa in der Raumplanung. Hier kann der Staat z. B. darauf achten, dass die Trassenführung verschiedener kritischer Infrastrukturen nicht parallel oder eng geführt wird. Darüber hinaus kann der Staat darauf dringen, dass Netze nicht zentralisiert, sondern dezentral betrieben werden, so dass der Ausfall eines Netzes von parallelen Netzen übernommen werden kann. III. Vom sorgenden Sicherheitsstaat zum auf Selbstschutz bedachten Bürger Ein letzter hier zu behandelnder Perspektivenwechsel betrifft den Wandel vom sorgenden Sicherheitsstaat zum auf Selbstschutz bedachten Bürger. Umreißen lässt sich dieser Komplex am einfachsten in Gestalt folgender Fragen: Gibt es eine Bürgerpflicht zum Selbstschutz? Kann mit Blick auf Selbstschutzobliegenheiten des Bürgers41 polizeiliche Gefahrenabwehr partiell zurückgenommen werden? Um derartige Selbstschutzobliegenheiten der Bürger zu begründen, lässt sich auf Konstruktionen und das Menschenbild des Gesellschaftsvertrages zurückgreifen: Beim Abschluss des Gesellschaftsvertrages gibt der Bürger nur jenes Maß an Freiheit auf, das erforderlich ist, um dem Staat die Gewährleistung der öffentlichen und privaten Sicherheit zu ermöglichen. Dieser Ansatz bedeutet: Soweit sich die Bürger selbst zu schützen in der Lage sind, bedarf es keines polizeilichen oder strafrechtlichen Schutzes42. 41  Hierzu C.  Gusy, Der Wandel präventiver Schutzgewährung in der staatlichen Finanzkrise, in: W. Hoffmann-Riem / E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, 1998, S. 175 ff. (182 ff.). 42  Zu den naturrechtlichen Vertragstheorien und dem Neo-Kontraktualismus in den USA: W.  Kersting, Vertrag, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag, in: O. Brunner  /  W. Conze  /  R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990, S. 901 ff. (932 ff., 934 ff.).

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Solche Selbstschutzobliegenheiten können gesetzlich und vor allem versicherungsvertraglich vorgesehen werden. Derzeit bestehen aber nur punktuelle Regelungen. Abgesehen davon können nach dem Gesagten Selbstschutzobliegenheiten selbstredend nur in Grenzen gefordert werden. Voraussetzung ist, dass die Bürger überhaupt zu derartigem Selbstschutz in der Lage sind. Eine Überdehnung dieses Gedankens wäre es freilich, wenn man, wie in den USA, jenen des staatlichen Schutzes beraubt, die ihren Selbstschutzobliegenheiten nicht genügen: Hier half die Feuerwehr in einem spektakulären Fall des Brandes eines Hauses nicht, weil der Eigentümer seinen jährlichen Feuerwehrbeitrag nicht entrichtet hatte. Solche Privatisierungen der Sicherheit kann in Deutschland ernsthaft niemand wollen, sie wären auch – fast müßig zu erwähnen – mit den staatlichen Schutzpflichten nicht zu vereinbaren. Gleichwohl können auch für den deutschen Staat Grenzen bei der Gewährleistung von Sicherheit bestehen, jenseits derer der Einzelne Selbstschutz betreiben sollte. Mit der aus anderem Zusammenhang bekannten Je-desto-Formel lässt sich die Selbstschutzobliegenheit konkretisieren: Je schwieriger dem Staat und seinen Sicherheitsbehörden der Schutz seiner Bürger vor Gefährdungen von Freiheit, Eigentum oder Gesundheit fällt, desto eher besteht eine Obliegenheit zum Selbstschutz. Praktischer Anwendungsfall ist hier in erster Linie die Internetkommunikation. Hier sind der staatlichen Gefahrenabwehr aus vielerlei Gründen Grenzen gesetzt. Wer sich in die Welt des Internet begibt, muss sich daher mit den Schutzmöglichkeiten seiner Daten und Persönlichkeitssphäre vertraut machen und diese nach seinem eigenen Sicherheitsbedürfnis zur Anwendung gelangen lassen. Derartige Selbstschutzobliegenheiten setzen freilich eine entsprechende Information der Bevölkerung voraus. Hier wiederum greift die staatliche Aufgabe, über Gefahren und Schutzmöglichkeiten im Internet aufzuklären. So etwa scheinen ganze Geschäftsmodelle im Netz geradezu darauf zu basieren, dass ihre Nutzer eben die Gefährdungen nicht überschauen, die mit der Preisgabe ihrer Daten verbunden sind.



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IV. Schlussbemerkung Tendenzen einer Privatisierung der inneren Sicherheit lassen sich nicht übersehen. Eine sich insoweit verändernde gesellschaftliche Wirklichkeit kann aber nichts an der zentralen Aufgabe des Staates ändern, für alle ein gleiches und hinreichendes Maß an innerer Sicherheit zu gewährleisten. Es muss weiterhin darauf vertraut werden können, dass der Staat von seinem Gewaltmonopol Gebrauch macht und die Rechtsordnung durchzusetzen bereit und in der Lage ist. Umgekehrt muss bewusst sein, dass Rechtsverletzungen und vor allem Störungen der inneren Sicherheit in aller Regel vom Staat unterbunden bzw. verfolgt werden. Dabei mag dort, wo es darum geht, mit gleichen Mitteln mehr zu erreichen, innerhalb der skizzierten verfassungsrechtlichen Grenzen auch eine Privatisierung zu befürworten sein. Dort aber, wo eine ökonomische Theorie innerer Sicherheit oder die Rede von Privatisierung und Police-Private-Partnership der Camouflage von Einsparungen im Sicherheitsbereich und damit einer Absenkung des Sicherheitsniveaus dient, ist dergleichen entschieden entgegenzutreten!

Gesetzgebungsoutsourcing – Zur Erstellung von Gesetzentwürfen insbes. durch Rechtsanwälte* Von Michael Kloepfer, Berlin** Die Beauftragung von Rechtsanwälten durch Regierungen mit der Erstellung von Gesetzesentwürfen führt zu einer Reihe von rechtlichen und rechtspolitischen Fragen, die im vorliegenden Beitrag behandelt werden. Ein zentrales Problem ist dabei, inwieweit Rechtsanwälte als typische Vertreter von Teilwohl­ interessen zur Vorbereitung gemeinwohlorientierter Gesetzesentwürfe geeignet sind. Im Einzelnen werden die Vor- und Nachteile einer Erstellung von Gesetzesentwürfen durch Rechtsanwälte oder andere Externe erörtert. Daran knüpft sich die Aufstellung von Maximen guter Gesetzgebung bei der Beauftragung von Rechtsanwälten mit Gesetzesentwürfen. I. Ausgangspunkt: Der „Linklaters-Fall“ Der Ausgangsfall der im Folgenden untersuchten Mitwirkung von Anwälten an der Gesetzgebung ist allgemein noch erinnerlich: Die im Herbst 2008 durch die Lehman-BrothersPleite ausgelöste weltweite Finanzmarktkrise hat ein ungewöhnlich schnelles Handeln auch des deutschen Gesetzgebers – noch während der Großen Koalition – erforderlich gemacht, das im Erlass des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes (FMStG)1 mündete, das von der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer **  Aktualisierte Fassung eines Beitrags, der bereits in der NJW 2011, 131 erschienen ist. **  Prof. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin. 1  G v. 17.10.2008, BGBl. 2008 I, 1982.

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im Auftrag des Bundesfinanzministeriums erarbeitet worden war. Als in einem zweiten Schritt die Übernahme der maroden, aber als systemrelevant eingestuften HRE folgen sollte – umgesetzt schließlich im Rettungsübernahmegesetz als Teil des Finanzmarktstabilisierungsergänzungsgesetzes (FMStErgG)2 –, hatte der damalige, seinerzeit erst kurzfristig agierende Bundeswirtschaftsminister zu Guttenberg bekanntlich die Kanzlei Linklaters mit der Erarbeitung eines entsprechenden Gesetzesentwurfs beauftragt, auch um gegenüber dem sozialdemokratisch geführten Finanzministerium (das seinerseits wiederum Freshfields beauftragt hatte) einen eigenen Entwurf präsentieren zu können. Da Linklaters – wenig instinktsicher, vom Bundeswirtschaftsministerium aber auch nicht daran gehindert – den Gesetzesentwurf mit seinem Logo versehen hatte, wurde der Vorgang publik und verursachte einen heftigen politischen Streit3 und auch eine rechtswissenschaftliche Debatte4 um diese „Gesetzgebung durch Rechtsanwälte“. Der Bundesrechnungshof hat zum Einsatz externer Berater in der Bundesverwaltung bzw. Bundesministerien ein Sonderprüfungsverfahren geführt und darüber 2009 und 2011 dem Haushaltsausschuss des Bundestages berichtet.4a Dieser Einschaltung von Rechtsanwälten 2  G.

v. 7.4.2009, BGBl. 2009 I, 725. bspw. Der Spiegel 34 / 2009, S. 68 ff. („Die Gesetzesflüste-

3  Siehe

rer“). 4  Battis, ZRP 2009, 201; Krüper, JZ 2010, 655; das Thema war auch der Gegenstand der Eröffnungsveranstaltung des „Instituts für Gesetzgebung und Verfassung e. V.“ (IGV), die am 24. September 2010 unter Leitung des Verfassers stattgefunden hat, siehe die Tagungsberichte v. Lucius, JZ 2011, 245; Bruch, LKV 2010, 502; Greve, DVBl. 2011, 30; Plinke, ZG 2011, 92; Burbat, NVwZ 2010, 1475; Leupold, ÖJZ 2010, 976. 4a  Diese Berichte sind nach Auskunft des Bundesrechnungshofes vom 11.6.2012 nicht öffentlich. (Allgemeine Hinweise des Präsidenten des Bundesrechnungshofes als Bundesbeauftragten für Wirtschaftlich­ keit in der Verwaltung zum Einsatz externer Berater in der Bundesverwaltung finden sich in Band 14 seiner Schriftenreihe, welcher aller­ dings von 2006 datiert.) – Die Anwendbarkeit des Informationsfreiheitsgesetzes auf den Bundesrechnungshof verneint dieser, wohingegen OVG Münster, Urt. v. 26.10.2011 – 8 A 2593/10, sie bejaht.

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für die Erstellung von Gesetzesentwürfen soll im Folgenden nachgegangen werden, wobei grundsätzlich weder Skandalisierungen noch Verharm­losungen angestrebt werden sollten. Eine behutsame Annäherung an das Thema empfiehlt sich schon deshalb, weil die Beauftragung von Rechtsanwälten bei der Erarbeitung von Gesetzesentwürfen in Deutschland oder im Ausland (insbes. in den USA) keine gänzlich neuartige Erscheinung darstellt. Die Mitwirkung von Rechtsanwälten bei der Gesetzesvorbereitung (bzw. Satzungsvorbereitung bzw. bei gesetzesvermeidenden Verträgen) gibt es in der Bundesrepublik Deutschland seit längerem; neu ist eher die Offenheit (oder fehlende Diskretion) bei der Gesetzesvorbereitung durch Anwälte sowie der inhaltliche Umfang, in dem – wie z. B. beim Finanzmarktstabilisierungsgesetz – eine anwaltliche Mitwirkung erfolgte. II. Einordnung in das Gesamtproblem der Mitwirkung Externer an der staatlichen Gesetzgebung Die Kritik an der anwaltlichen Mitarbeit an der Gesetzgebung muss zudem von Anfang an grundsätzlich berücksichtigen, dass es sich bei der anwaltlichen Gesetzgebungshilfe nur um einen Ausschnitt aus dem Gesamtproblem der Mitwirkung Externer an der staatlichen Gesetzgebung handelt. Gesetzesentwürfe (bzw. Entwürfe einzelner Gesetzespassagen oder -bestimmungen) werden z. B. auch von Verbänden, von der Wirtschaft oder von etwa ökologisch engagierten Instituten5 und nicht zuletzt auch von rechtswissenschaftlichen Professoren erarbeitet. (Dabei ist freilich die Erstellung grundsätz­ licher, auf weitere Diskussionen angelegter Musterentwürfe (z. B. UGB-ProfE)6 von der unmittelbaren Mitwirkung von 5  So etwa Umweltinstitute wie adelphi oder Ecologic, das insbesondere unter Bundesumweltminister Trittin zahlreiche Aufträge erhielt. 6  Kloepfer / Rehbinder / Schmidt-Aßmann / Kunig, Umweltgesetzbuch – /  90, 1990; Allgemeiner Teil, Berichte des Umweltbundesamtes 7  ­Kloepfer / Jarass / Kunig / Papier / Schmidt-Aßmann / Reh­binder / Salzwe-

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Anwälten in laufenden Gesetzgebungsverfahren – wie beim Finanzmarktstabilisierungsgesetz – zu unterscheiden.) Bei laufenden Gesetzgebungs- bzw. Rechtsverordnungsverfahren ist schließlich vor allem an die umfänglichen, bloß kommentierenden Beratungen durch Verbandsbeteiligung (z. B. Anhörung beteiligter Kreise etwa nach § 51 BImschG, Hearings etc.) zu denken, bei denen u. a. regelmäßig auch Rechtsanwälte auftreten. (Weitere Mitwirkungsformen insbesondere durch die Mitwirkung von Rechtsanwälten in Kommissionen etc. oder etwa auch in den öffentlichen Debatten von Gesetzesvorhaben seien hier beispielhaft erwähnt.) Insgesamt erscheint in einer Demokratie der Einfluss gesellschaftlicher Kreise auf die staatliche Gesetzgebung und die Teilhabe des staatlichen Gesetzgebers am Wissen und an den Erfahrungen der Gesellschaft ebenso unvermeidlich wie unverzichtbar. Staat und Gesellschaft sind in einer Demokratie gerade nicht hermetisch voneinander abgeschottet. Die Gesellschaft wirkt an der politischen Willensbildung im Gemeinwesen entscheidend mit. Allerdings war die Beauftragung von Linklaters (bzw. Freshfields) bei der Erarbeitung eines Gesetzesentwurfs für das Finanzmarktstabilisierungsgesetz gerade nicht eine Form der gesellschaftlichen Mitwirkung, sondern die – entgeltliche – Indienstnahme gesellschaftlicher Aktivitäten für Zwecke der Bundesregierung.7 Angesichts der Vielzahl „äußerer“ Einflüsse auf den Gesetzgeber soll freilich nicht verkannt werden, dass die Verfertigung von vollständigen Gesetzesentwürfen durch Rechtsanwaltskanzleien – wie beim Finanzmarktstabilisierungsgesetz – doch über die vielfältigen sonstigen beratenden Einflüsse weit hinausgeht und dadurch möglicherweise eine andere Qualität gewinnt.8 Zwar trägt jede Beratung faktisch regelmäßig ein del, Umweltgesetzbuch – Besonderer Teil, Berichte des Umweltbundesamtes 4 / 94, 1994. 7  Anders Battis, Verfahrensrechtliche Lösungen beim Gesetzgebungsoutsourcing, in: Kloepfer (Hrsg.), Gesetzgebungsoutsourcing – Gesetzgebung durch Rechtsanwälte?, 2011, S. 123 ff. 8  Siehe auch Krüper, JZ 2010, 655.

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Stück Mitentscheidung in sich,9 bei der Erstellung von Gesamtentwürfen von Gesetzen durch Rechtsanwälte ist jedoch der Distanzverlust zwischen Beratern und Beratenen offenkundig. Selbst wenn auch ein von Rechtsanwälten erarbeiteter Gesetzentwurf zunächst noch vom Minister gebilligt, danach vom Kabinett beschlossen werden und schließlich vor allem noch das verfassungsrechtlich geordnete Gesetzgebungsverfahren durchlaufen muss, ist der gestaltende Einfluss der Anwaltschaft auf den Gesetzesinhalt in den Fällen der Beauftragung mit dem Entwerfen von Gesamtgesetzentwürfen so groß, dass die politische Rationalität des Gesetzgebungsverfahrens als staatliche Gemeinwohlverwirklichung geschädigt werden oder gar verloren gehen kann. Der Anwalt wird ­materiell zum Gesetzgeber – aus Beratung wird unmittelbare Gestaltung. Die faktische Selbstpreisgabe politischer Gestaltungsmacht durch den Gesetzesinitianten und letztlich durch den Gesetzgeber selbst ist unverkennbar. III. Probleme des Gesetzgebungsoutsourcings 1. Gemeinwohlorientierung Und hier setzen nun auch schwerwiegende Probleme an.10 Gesetzgebung ist normative Gemeinwohlbestimmung und Gemeinwohlverwirklichung. Anwälte sind hingegen typischerweise professionelle Vertreter von Einzel- bzw. Partikularinteressen. Sie sind in der Regel Teilwohlvertreter, nicht Gemeinwohlvertreter. Gemeinwohl wird in ihrem professionellen Berufsbild typischerweise nur mittelbar, d. h. anti- bzw. synthetisch erzeugt, indem der von ihnen vertretene Interessenstandpunkt, das von ihnen vertretene Teilwohl, in einem Verfahren (z.  B. in einem Gesetzgebungsverfahren) auf ein entgegengesetztes Interesse bzw. auf ein anderes Teilwohl stößt. Die ein solches Verfahren beendende Entscheidung ist 9  Vgl. auch Voßkuhle, in: Isensee  / Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, 2005, § 43 Rn. 45 ff. 10  Kloepfer, Verfassungsrecht I, 2011, § 18 Rdnr. 237.

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dann häufig ein kompromisshafter Konfliktausgleich, der eine Gemeinwohlverwirklichung darstellen kann. Die Überantwortung von Gesetzesentwürfen an Rechtsanwälte als typische Teilwohlvertreter kann letztlich auch zu Akzeptanzproblemen für Gesetzesentwürfe führen, weil einem Wirtschafts- bzw. Bankenanwalt häufig unterstellt werden wird, dass er hiervon beruflich so geprägt ist, dass dies unweigerlich auch in seine Gesetzesentwürfe einfließt. Anwälte sind eben regelmäßig Vertreter von Sonderinteressen, nicht von Allgemeininteressen. Der langjährig z. B. für die Wirtschaft tätige Anwalt wird diese Prägung nur schwer ablegen können, wenn er wirtschaftsrechtliche Gesetze entwerfen soll.11 Nun mögen intelligente Anwälte durchaus in der Lage sein, bei der Mandatierung durch die Regierung für die Erarbeitung von Gesetzesentwürfen gemeinwohlorientiert zu argumentieren und zu arbeiten, insbesondere wenn sie dabei bestimmte inhaltliche Regelungsvorgaben durch die Regierung erhalten. Auch wenn Anwälte so u. U. also durchaus auch Gemeinwohl „können“, ist das doch nun unbestreitbar gerade nicht ihr tägliches Brot. Ihre Gesetzesvorlagen werden häufig – bewusst oder unbewusst – teilwohlorientiert sein, wie z. B. Gesetzesvorlagen von Verbänden oder Öko-Instituten. Insoweit sind Anwaltsentwürfe häufig strukturell Wissenschaftlerentwürfen unterlegen, weil Wissenschaftler typischerweise (natürlich aber nicht immer) gemeinwohlorientiert argumentieren. 2. Demokratische Legitimation Die weitgehende faktische Verlagerung von gesetzgeberischer Gestaltungsmacht an Rechtsanwälte führt auch zu grundsätzlichen demokratischen Problemen. Die Rechtsanwälte sind in ihrer Tätigkeit weder demokratisch legitimiert noch demokratisch kontrolliert. Die faktische Überlassung von Gestaltungsmacht an Anwälte reibt sich an der zentralen Rolle des Parlaments in der Gesetzgebung (aber auch an der 11  Ähnlich

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verfassungsrechtlich zugewiesenen Rolle der politischen Gesetzesinitianten). Die nur noch formelle Absegnung von Gesetzesentwürfen aus Anwaltskanzleien durch Regierung und Parlament ist mit dem Sinn des Gesetzgebungsverfahrens wie auch mit dem Sinn der Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur schwer zu vereinbaren. Gesetzgebung heißt nicht Abnicken. 3. Kosten Zu diesen grundsätzlichen Einwänden treten eventuell auch solche praktischer Art, wie insbesondere die Kostenfrage, auf. Braucht es neben der teuren Ministerialbürokratie tatsächlich noch der Einschaltung teurer Anwälte? Oder handelt es sich dabei um reine „Verschwendung“?12 IV. Vorteile des Gesetzgebungsoutsourcings 1. Sachverstand Gegenüber den geschilderten gewichtigen Einwänden dürfen allerdings die beachtlichen Vorteile einer Einschaltung von Rechtsanwälten in die Gesetzesvorbereitung nicht vernachlässigt werden. Die Beauftragung von Rechtsanwälten mit der Erarbeitung von Gesetzesentwürfen beruht ja nicht auf einem anwaltlichen Komplott zur Übernahme von Gesetzesgestaltungsmacht, sondern offenkundig auf praktischen Bedürfnissen, die von Staatsorganen, insbes. Ministerien, formuliert und vertreten werden. Häufig an erster Stelle steht das Argument, die Einschaltung von Rechtsanwälten verhelfe der gesetzesvorbereitenden 12  So Däke, Gesetzgebungsoutsourcing: Bereicherung oder Verschwendung?, in: Kloepfer (Hrsg.), Gesetzgebungsoutsourcing – Gesetzgebung durch Rechtsanwälte?, 2011, S. 19 ff.; dagegen Filges, Gesetzgebungsoutsourcing: Ein neues Berufsfeld?, in: Kloepfer (Hrsg.), Gesetzgebungsoutsourcing – Gesetzgebung durch Rechtsanwälte?, 2011, S. 95 ff.

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Ministerialbürokratie zu einer Expertise, die bei ihr selbst nicht oder nicht in genügendem Maße vorhanden sei. Das wirft zunächst auf die Ministerien nicht unbedingt ein gutes Licht. Wenn dort in Einzelfragen wirklich Kenntnisse fehlen, legitimiert dies die punktuelle Beratung zu Einzelvorschriften bzw. zu Einzelkomplexen in Gesetzen, in aller Regel aber nicht die Anfertigung von Gesamtentwürfen. Strukturelle Hilfen können neben Rechtsanwälten auch andere Sachverständige, Verbände, Fachinstitute und Wissenschaftler leisten. Dabei haben große Wirtschaftskanzleien allerdings häufig den gewichtigen Vorteil, dass sie durch Kombination ihrer unterschiedlich spezialisierten Mitarbeiter schnell ein schlagkräftiges und vielfältig qualifiziertes Team zusammenstellen können, was allerdings grundsätzlich auch Beratungsbüros durch „Einkauf“ von verschiedenen Sachverständigen erreichen können. 2. Kapazitätsproblematik Damit rückt das Kapazitätsproblem als eine wesentliche Triebkraft für das Gesetzgebungsoutsourcing in den Vordergrund. Dies gilt insbesondere unter zeitlichen Aspekten, wie gerade das Beispiel des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes zeigt, bei dem ein gesamter Gesetzesentwurf quasi über das Wochenende erarbeitet werden musste (bevor in der damaligen Krisenlage die Tokyoter Börse wieder öffnete). Dies kann die von den Gewohnheiten des Öffentlichen Dienstes geprägte Ministerialverwaltung in aller Regel nicht, selbst wenn natürlich im engen Umfeld der Minister – entgegen mancher Vorurteile – auch nicht selten weit über die normalen Bürozeiten hinaus gearbeitet wird. Die Anwälte gerade der Spitzenkanzleien arbeiten demgegenüber eben regelmäßig auch an Wochenenden. So ähnelt der Einsatz hochbezahlter „task forces“ von Spitzenkanzleien teilweise den „Schlüsseldiensten“ im täglichen Leben, die gegen viel Geld auch außerhalb normaler Bürozeiten in Notfällen helfen. Wer vor zugeklappten Wohnungstüren steht, fragt im Übrigen nur selten nach der sparsamsten und wirtschaftlichsten Lösung. Da zählt zu-

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erst die schnelle Hilfe. Das gilt auch für die Erstellung besonders eilbedürftiger Gesetzesvorhaben. Ein wichtiger Vorteil des Gesetzgebungsoutsourcings kommt hinzu. Der Einsatz von Rechtsanwälten (aber auch sonstiger Sachverständiger) hilft den Ministerien, personalbezogenen Belastungsspitzen etwa bei der Erarbeitung von größeren Gesetzesvorhaben zu begegnen. Es geht also in der Sache auch um den flexiblen Einsatz von Personal. Trotz der Zusatzausgaben mag dies immer noch die weitaus wirtschaftlichere Lösung gegenüber dem langfristigen Vorhalten einer großen Personalreserve in einem Ministerium (überwiegend bestehend aus Lebenszeitbeamten) sein, da solche anspruchsvollen Gesetzesvorhaben nicht ständig in einem Ministerium anfallen werden. Natürlich darf dabei das Haushaltsrecht ebenso wenig umgangen werden wie das Dienst- und Besoldungsrecht. 3. Resümee Mit der Gegenüberstellung von Vor- und Nachteilen der Einschaltung von Rechtsanwälten bei der Erarbeitung von Gesetzesentwürfen zeigt sich, dass diese Form des Gesetzgebungsoutsourcings nur differenziert gewürdigt werden kann. V. Rechtsgrenzen Rechtsgrenzen (z. B. Art. 33 Abs. 4 GG,13 Verbot der völligen Selbstentäußerung von Gesetzesgestaltungsmacht) dürfen nur in äußersten Fallkonstellationen (eben der faktisch unbegrenzten und unkontrollierten Delegation) überschritten wer13  Krüper, JZ 2010, 655 (655), wohl etwas überzeichnend; dagegen auch v. Lewinski, Berufsrecht und Haftung beim Gesetzgebungs­out­ sourcing, in: Kloepfer (Hrsg.), Gesetzgebungsoutsourcing – Gesetzgebung durch Rechtsanwälte?, 2011, S. 79 ff. und Stadler, Gesetzgebungsoutsourcing: Bereicherung oder Armutszeugnis?, in: Kloepfer (Hrsg.), Gesetzgebungsoutsourcing – Gesetzgebung durch Rechtsanwälte?, 2011, S. 15 ff.

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den, weil es bisher kaum verfassungsrechtliche Vorgaben für das „innere“ Gesetzgebungsverfahren gibt und vor allem, weil auch anwaltlich erarbeitete Gesetzesentwürfe noch durch das Kabinett beschlossen werden und das formale Gesetzgebungsverfahren durchlaufen müssen. Allerdings ist vor dem Irrtum zu warnen, das innere Gesetzgebungsverfahren sei völlig frei von verfassungsrechtlichen Anforderungen.14 Spezielle recht­ liche Grenzen kommen hinzu, z. B. haushaltsrechtlicher und vergaberechtlicher, aber auch berufsrechtlicher Art15 (Interessenkonflikte mit anderen Mandanten). Von diesen Rechtsgrenzen sind freilich nur äußerste Begrenzungen für die anwaltliche Erstellung von Gesetzesentwürfen zu erwarten. VI. Grenzen durch „Maximen guter Gesetzgebung“ Dies hindert nicht, nach Maximen guter Gesetzgebung im Hinblick auf das Outsourcing insbesondere an Rechtsanwälte16 zu suchen. Beispielhaft seien folgende hier genannt: – Die politische Priorität insbesondere des Parlaments bei der Gesetzesgestaltung ist zu wahren. Die Regierung als Gesetzesinitiantin sollte deutliche inhaltliche Vorgaben und Grenzen bei der Auftragsvergabe formulieren. Sie muss den Fremdentwurf nach seiner Erstellung intensiv prüfen und darf sich auch nicht an den Entwurf gebunden fühlen. – Die Beauftragung von Anwälten mit der Erarbeitung ganzer Gesetzesentwürfe sollte die ganz klare Ausnahme bleiben. Grundsätzlich unproblematischer sind Aufträge zur Beratung in Einzelfragen und zur Erarbeitung einzelner Vorschriften. 14  So etwa Begründungs- und Ermächtigungspflichten des Gesetzgebers; anders wohl Risse, Verfassungsrechtliche und politische Grenzen des Gesetzgebungsoutsourcing, in: Kloepfer (Hrsg.), Gesetzgebungsoutsourcing – Gesetzgebung durch Rechtsanwälte?, 2011, S. 109 ff. 15  Vgl. v. Lewinski (o. Fn. 13). 16  Vgl. Stadler (o. Fn. 13); Filges (o. Fn. 12).

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– Weiter ist ein hohes Maß an Transparenz zu fordern17, und zwar über die Beauftragung als solche wie über den Gegenstand und deren Bedingungen (einschließlich der gezahlten Honorare). Seitens der Anwälte sollte im Rahmen des berufsrechtlich Zulässigen über solche Mandatsverhältnisse aufgeklärt werden, die Interessenkollisionen befürchten lassen. –  Vielfach wird auch ein öffentliches Vergabeverfahren für entsprechende Beauftragungen von Anwälten gefordert.18 Das dürfte freilich nicht selten schon aus Zeitgründen ausgeschlossen sein. Mindestens auf Spitzenberater können solche Verfahren zudem abschreckend wirken. – Die Beauftragung sollte grundsätzlich nur an Anwälte erfolgen, die Erfahrungen in der Formulierung von Gesetzen (oder jedenfalls von Satzungen) haben. Erfahrung in der Formulierung von Verträgen reicht regelmäßig für die Erarbeitung von Gesetzen nicht aus. Die systematische Schulung von Anwälten in der Gesetzgebung – z. B. durch Fortbildungslehrgänge – wäre wünschenswert. Der – anwaltliche – Auftragnehmer sollte auch eine gewisse Gewähr für eine hinreichende Gemeinwohlwahrung besitzen. Dies schließt die Beauftragung einseitig interessengebundener Anwälte jedenfalls dann aus, wenn nicht eine außenpluralistische Vergabe mehrerer Aufträge (z. B. durch Auftragsvergabe an einen arbeitgebernahen und an einen arbeitnehmernahen Anwalt) erfolgen kann. – Trotz des Grundsatzes sparsamer und wirtschaftlicher Mittelverwaltung kann es in bestimmten Fällen einmal sinnvoll sein, mehrere Entwürfe erarbeiten zu lassen. Auf diese Weise erhält das Ministerium einen Überblick über verschiedene Lösungsmöglichkeiten und kann sich dann für die – aus seiner Sicht – beste Variante entscheiden. 17  Krüper, JZ 2010, 655 (661), der überdies noch eine Begründungspflicht für ein Gesetzgebungsoutsourcing fordert. Das ist an sich keine schlechte Idee, wird im Zweifel aber regelmäßig nur zu sehr formelhaften Begründungen führen. 18  Filges (o. Fn. 12).

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VII. Ausblick Die Beauftragung von Anwälten ist nur eine Möglichkeit unter anderen der Einbeziehung des „äußeren“ Sachverstandes in die Gesetzgebung.19 Statt Anwälten können z. B. auch Institute und Wissenschaftler damit beauftragt werden. Anwälte als typische Teilwohlvertreter eignen sich besonders für die Vorbereitung von Einzelvorschriften und Maßnahmegesetzen. Wissenschaftler mit ihrem typischen (aber natürlich auch nicht garantierten) Gemeinwohlbezug und ihren systematischen Kenntnissen eignen sich u. U. für umfassende Regelungen und Kodifikationen regelmäßig besser. Nicht zu vergessen ist schließlich, dass es neben dem Outsourcing auch eine Fülle anderer äußerer Einflüsse auf die staatliche Gesetzgebung geben kann, z. B. die Mitwirkung in Sachverständigenkommissionen, Hearings etc. Erst wenn diese Einflussmöglichkeiten nicht ausreichen, welche die politische Entscheidungsmacht des Gesetzgebers stärker respektieren, sollte an ein Gesetzgebungsoutsourcing an Dritte gedacht werden. Insoweit müssen bzw. können die Bemühungen um Gesetzgebungsoutsourcing auch als (Selbst-?)Kritik an den Zuständigkeiten und Kapazitäten der gesetzesvorbereitenden Ministerialbürokratie verstanden werden.

19  Rossi, Erscheinungsformen nichtstaatlicher Einflüsse auf die staatliche Gesetzgebung, in: Kloepfer (Hrsg.), Gesetzgebungsoutsourcing – Gesetzgebung durch Rechtsanwälte?, 2011, S. 25 ff.

Zur Arbeitsteilung zwischen Markt und Staat bei der Bereitstellung von Eisenbahninfrastrukturen Von Günter Knieps, Freiburg* I. Historische Einführung Die Frage nach der Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt ist seit der Erfindung der Eisenbahn Gegenstand heftiger Kontroversen. Sie kristallisierte sich zunächst in der grundsätzlichen Thematik heraus, ob und inwieweit wettbewerblich organisierte Märkte im Eisenbahnsektor funktionsfähig sind. Bereits das Preußische Eisenbahngesetz aus dem Jahre 1838 sah konkurrierende Anbieter von Eisenbahnverkehr auf den Schienen vor.1 Für den Erbauer einer Schienenstrecke beinhaltete dies die Verpflichtung, nach Ablauf von drei Jahren anderen Anbietern Zugang zu dieser Infrastruktur zu gewähren, sofern diese vom Handelsministerium eine Konzession erhalten hatten (§ 27). Im Gegenzug war für die Benutzung der Trassen ein „Bahngeld“ vorgesehen. Für den Fall, dass die Transportunternehmen sich nicht mit den Infrastrukturbetreibern über die Höhe des Bahngeldes einigen konnten, sollte das Handelsministerium das Bahngeld regulieren (§ 29, § 30, § 45). Dieses Gesetz war in den ersten Jahrzehnten des Aufbaus von Eisenbahnverbindungen allerdings nicht von praktischer *  Prof. Dr., Institut für Verkehrswissenschaft und Regionalpolitik, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, E-Mail: guenter.knieps@vwl. uni-freiburg.de. 1  Gesetz über die Eisenbahn-Unternehmungen vom 3. November 1838, Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, Nr. 35, S. 505–516.

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Relevanz. Bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts stand der Aufbau von konkurrierenden Schienenwegen im Vordergrund. Wettbewerb zwischen konkurrierenden Anbietern von Transportleistungen auf dem gleichen Schienenweg war in Preußen in dieser Zeit nicht zu beobachten. Mit der zunehmenden Vernetzung der Schieneninfrastrukturen und damit einhergehenden Fusionierungen und Kartellierungen verlor der Wettbewerb zwischen den Schienenwegen allerdings immer mehr an Bedeutung, und es stellte sich die spannende Frage, ob das Preußische Eisenbahngesetz jetzt nicht greifen müsste, so dass der Wettbewerb auf dem Schienennetz den verlorengegangenen Wettbewerb zwischen den Schienenwegen ersetzen könnte.2 In der intensiv geführten Debatte um die Potenziale eines Wettbewerbs auf der Schiene gab es auch grundsätzliche Skeptiker. Léon Walras, der in Lausanne die Theorie des vollkommenen Wettbewerbs mit einer großen Anzahl von Anbietern bei freiem Marktzugang entwickelt hat, plädiert in seinem Aufsatz „L’État et les Chemins de Fer“ (1875 / 1980) vehement für ein staatliches Eisenbahnmonopol. Er war der Auffassung, dass Wettbewerb auf den Schienen nicht funktionsfähig sei, sodass sich letztlich ein integriertes Eisenbahnmonopol herauskristallisieren würde: „With railways … the track constitutes a natural monopoly and the actual transportation another which is essentially linked to the first, because … an unlimited number of firms cannot have trains running on the rails. Here the fee for the track, the vehicle and its motive power, the toll and the freight fee, all go to one monopolist“.3 Ein zentrales Argument für die Verstaatlichung dieses Monopols bestand darin, dass ein privates Eisenbahnunternehmen Monopolgewinne erzielen würde.4 Die Möglichkeit einer geeigneten Netzzugangsregulierung wurde von Walras allerdings nicht näher in Betracht gezogen. 2  Fremdling / Knieps

(1993), S. 130 ff. (1875 / 1980), S.  91. 4  Walras (1875 / 1980), S.  97. 3  Walras

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Demgegenüber erkannte Emil Sax das Potenzial einer staatlichen Regulierung von Eisenbahnunternehmen: „Das Monopol liegt in der Natur der Eisenbahn, tritt daher in allen Fällen gleich ein und muss eben regulirt werden“.5 Eine konkrete Ausarbeitung des Regulierungsrahmens mit dem Ziel, Wettbewerb auf den Schienennetzen zu ermöglichen, wurde von Sax allerdings nicht geleistet. Anstelle einer geeigneten Regulierung des Zugangs zum Schienennetz, wie sie auf der Basis des Gesetzes möglich gewesen wäre, wurde 1879 das preußische Eisenbahnsystem als Ganzes, d. h. Schieneninfrastruktur und Transportleistungen, verstaatlicht. Ein zentraler Grund für diese Verstaatlichung lag darin, dass die Eisenbahn sehr profitabel war und für den preußischen Staat hohe Einnahmen generieren konnte.6 In der Folge wurde das Verstaatlichungsparadigma auch im deutschen Eisenbahnsektor lange Zeit allgemein akzeptiert. Erst im Jahre 1994 wurde vor dem Hintergrund des Untätigkeits-Urteils des Europäischen Gerichtshofs von 19857 in Deutschland die Bahnreform mit dem Ziel eingeleitet, umfassenden Wettbewerb auf den Schienennetzen zu ermöglichen. Im Dezember 1993 wurde in der Bundesrepublik Deutschland das Gesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens verabschiedet.8 Neben einer Entschuldung und einer formellen Privatisierung sowie einer Regionalisierung des Personennahverkehrs wurde insbesondere die Trennung von Schieneninfrastruktur und dem Angebot von Eisenbahnverkehr beschlossen. Insbesondere der diskriminierungsfreie Zugang für private Eisen5  Sax

(1879), S. 148. (1980), S. 30 ff. 7  Urteil des Gerichtshofes vom 22. Mai 1985 (Europäisches Parlament gegen Rat der Europäischen Gemeinschaften), Gemeinsame Verkehrspolitik-Verpflichtungen des Rates, Rechtssache 13  /  83, Sammlung der Rechtsprechung 1985, S. 1513. 8  Gesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens (Eisenbahnneuordnungsgesetz – ENeuOG), Bundesgesetzblatt 1993 Teil I, S. 2378– 2427. 6  Fremdling

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bahntransportgesellschaften zu den Schienennetzen sollte gewährleistet sein. Die Deutsche Bahn AG ist Schieneninfrastrukturbetreiber und gleichzeitig auch Anbieter von Eisenbahnverkehr; zudem hat sie das Trassenkapazitäts­management inne. Seit nunmehr zwei Jahrzehnten steht die Ausgestaltung des Zugangs zu den Schienennetzen – als Voraussetzung für umfassenden Wettbewerb auf den Schienen – im Zentrum der nationalen und europäischen Eisenbahnpolitik. II. Die Eisenbahn zwischen Wettbewerb und Regulierung Bei der Analyse der Wettbewerbspotenziale im Eisenbahnsektor und der Suche nach einer ökonomisch fundierten Regulierung des Netzzugangs ist es von grundlegender Bedeutung, zwischen den folgenden Netzebenen zu unterscheiden. Ebene 1: Eisenbahnverkehr (Verkehrsdienstleistungen) Ebene 2: Zugverkehrskontrolle (Infrastrukturmanagement) Ebene 3: Wegeinfrastrukturen (Schienenwege, Bahnhöfe) Ebene 4: Öffentliche Ressourcen, auf deren Basis SchienenB. infrastrukturen aufgebaut werden können (z.  Grund und Boden). Eisenbahnsysteme erfordern immer diese vier Ebenen, unabhängig davon, ob sie integriert oder disaggregiert organisiert werden, und ob der Staat oder private Anbieter involviert sind.9 1. Schieneninfrastrukturen als monopolistische Bottlenecks Die Bereitstellung von Eisenbahnverkehr erfordert nicht nur Züge, sondern gleichzeitig auch den Zugang zu Schieneninfrastrukturen. Zusätzlich sind Zugüberwachungssysteme 9  Knieps / Weiß

(2009), S. 144 ff.

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erforderlich, die nicht nur die Aufgabe haben, die Verkehrs­ sicherheit zu gewährleisten (Fahrdienstleitung), sondern auch für das „Real-time“-Trassenkapazitätsmanagement zuständig sind. Funktionsfähiger Wettbewerb auf den Märkten für Eisenbahnverkehr erfordert den diskriminierungsfreien Zugang zu den Schienentrassen für sämtliche aktiven und potenziellen Anbieter von Zugverkehr. Schieneninfrastrukturen erfüllen das Kriterium eines monopolistischen Bottleneck. Ein solcher monopolistischer Bottleneck lässt sich wie folgt charakterisieren:10 Zum einen muss die Einrichtung unabdingbar sein, um Kunden zu erreichen. Es gibt also keine zweite oder dritte solche Einrichtung, d. h. es ist kein aktives Substitut verfügbar. Dies ist dann der Fall, wenn aufgrund von Bündelungsvorteilen eine natürliche Monopolsituation vorliegt, so dass ein Anbieter diese Einrichtung kostengünstiger bereitstellen kann als mehrere Anbieter. Zum anderen kann die Einrichtung mit angemessenen Mitteln nicht dupliziert werden, um den aktiven Anbieter zu disziplinieren, d. h. es ist kein potenzielles Substitut verfügbar. Dies ist dann der Fall, wenn die Kosten der Einrichtung irreversibel sind. Ausgebaute Schieneninfrastrukturnetze stellen natürliche Monopole dar. Im heutigen deutschen Bahnnetz gibt es nicht mehr die Möglichkeit, dass unzufriedene Transportgesellschaften – etwa wegen zu hoher Trassenpreise – neue Netze aufbauen. Diese Schieneninfrastrukturen sind schon vorhanden und geben dem etablierten Anbieter dadurch asymmetrische Kostenvorteile. Denn für ihn sind diese Kosten irreversibel und folglich nicht mehr entscheidungsrelevant. Anders verhält es sich dagegen für einen potenziellen Marktneuling, da er vor der Entscheidung steht, ob er solche irreversiblen Investitionen in Schieneninfrastrukturen überhaupt tätigen soll. Wenn ein potenzieller Marktneuling damit droht, bei hohen Trassenpreisen selbst eine Schieneninfrastruktur aufzubauen, weiß derjenige, der bereits das Schienennetz besitzt, dass diese Drohung nicht glaubwürdig sein kann. Der potenzielle Wett10  Knieps

(2007), S. 155 ff.

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bewerber wird keine Schiene bauen, weil das nur zu Defiziten für beide Infrastrukturanbieter führen würde. Da dies allgemein bekannt ist, müssen alle Anbieter von Zugverkehr den Trassenpreis akzeptieren, auch wenn dieser sehr hoch ist. 2. Wettbewerbliches Angebot von Eisenbahnverkehr Aktiver und potenzieller Wettbewerb ist auf den Märkten für Eisenbahnverkehr funktionsfähig. Selbst ein netzförmiges Angebot von Verkehrsleistungen und damit einhergehende Größen- und Verbundvorteile implizieren bei freiem Marktzutritt der Eisenbahntransportgesellschaften keine Monopolmacht, da hohe Gewinne eines Unternehmens sofort andere Wettbewerber auf den Plan rufen. Es besteht kein Drohpotenzial, Konkurrenten am Marktzutritt zu hindern, da auf der Ebene der Transportleistungen sowohl das eingesessene Unternehmen als auch die potenziellen Wettbewerber entscheidungsrelevante Kosten in vergleichbarer Höhe haben. So spielen beispielsweise bei der Bereitstellung von Eisenbahnverkehr auf einem Schienennetz Kostenirreversibilitäten keine signifikante Rolle. Der Einsatz von Eisenbahnzügen ist nicht an bestimmte Strecken gebunden; sie sind genauso wie Flugzeuge oder Lastkraftwagen geographisch mobil. Voraussetzung für die Wirksamkeit des Wettbewerbs ist allerdings, dass jeder (aktive und potenzielle) Anbieter von Transportleistungen gleiche Zugangsbedingungen zu den Schieneninfrastrukturen erhält. Solange die eingesessenen Unternehmen bevorzugten Zugang zu knappen Infrastrukturkapazitäten besitzen, haben sie ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteile, die zu einer Vermachtung der ansonsten wettbewerbsfähigen Transportmärkte führen können. Während die Theorie der angreifbaren Märkte ausschließlich die Rolle des potenziellen Wettbewerbs mit identischen Kostenfunktionen sowohl für den aktiven Anbieter als auch für die potenziellen Wettbewerber analysiert,11 ist der wirk­ 11  Baumol

(1982); Panzar / Willig (1977).

Arbeitsteilung bei Bereitstellung von Eisenbahninfrastrukturen83

same Wettbewerb auf den Märkten für Transportleistungen durch potenziellen Wettbewerb keineswegs erschöpfend charakterisiert. Ein Marktzutritt erfolgt oftmals ohne Absicht, das etablierte Unternehmen zu duplizieren. Von Bedeutung ist aktiver Wettbewerb mittels Technologiedifferenzierung, Produktdifferenzierungen und Innovationen (Produkt- und Prozessinnovationen). Hieraus folgt unmittelbar, dass der hypothetische Referenzpunkt eines einzigen idealen Transportnetzes eines disziplinierenden Marktneulings auf den Märkten für Transportleistungen in die Irre führt. Aktiver Wettbewerb auf dichtbefahrenen Strecken führt zu einem effizienteren Transportangebot. Hierzu zählen vermehrte Anreize zur Kosteneffizienz und der Druck zu nachfragegerechten Transportleistungen. Im Personenverkehr legt der Wettbewerbsdruck offen, ob die Länge der eingesetzten Züge sowie der zeitliche Abstand zwischen den bereitgestellten Zügen der Verkehrsnachfrage entsprechen. In der Vergangenheit administrativ vorgegebene Angebotskonzepte (z.  B. der Taktfahrplan) werden dann in Frage gestellt, wenn die Kunden am Markt diese nicht durch entsprechende Verkehrsnachfrage honorieren. Regelmäßige Fahrten von (fast) leeren „Geisterzügen“ sind im Wettbewerb nicht mehr aufrechtzuerhalten. Andererseits entstehen Anreize für die Bereitstellung eines flexiblen zusätzlichen Verkehrsangebots in Spitzenzeiten. Marktzutritt durch neue Transportgesellschaften bewirkt eine erhebliche Ausdehnung des angebotenen Leistungsspektrums sowie vermehrte Wahlmöglichkeiten zwischen Preis- und Transportqualität. Hierzu zählen das Aufspüren und Ausnutzen von Marktlücken, wie beispielsweise der Aufbau eines europaweiten Expressdienstes für Güter und Personen durch die Entwicklung einer hochleistungsfähigen, computergesteuerten Logistik. Aber auch auf kürzeren Strecken sind Leistungsverbesserungen etwa durch einen dichteren Fahrplan mit optimierten Anschlüssen möglich. Neben dem aktiven Wettbewerb zwischen verschiedenen Transportgesellschaften spielt auch der Druck des potenziellen Wettbewerbs eine nicht zu unterschätzende Rolle.

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3. Technische Regulierung und Ausschreibungswettbewerb im Bereich der Zugüberwachungssysteme Das Marktmachtproblem im Eisenbahnsektor tritt nur auf der Ebene der Infrastruktur auf. Bei Zugüberwachungssystemen gibt es zwar die Notwendigkeit, die geographische Abgrenzung des Kontrollgebietes sicherzustellen, ansonsten handelt es sich aber weitgehend um Software, die man geographisch transferieren kann. Potenzieller Wettbewerb lässt sich in diesem Fall durch einen Ausschreibungs- oder Versteigerungswettbewerb um das zeitlich begrenzte Recht zur Bewirtschaftung des Bereichs der Zugüberwachungssysteme erreichen.12 Die Überwachungskompetenz muss innerhalb geographischer Grenzen institutionell eindeutig festgelegt werden und dabei für die jeweilige Zeitperiode in einer einzigen Hand verbleiben. Dies ist eine technische Regulierungsaufgabe, unabhängig davon, ob sie von einer staatlichen Instanz oder einer privaten Organisation wahrgenommen wird. Dabei stellt sich die Frage nach der „natürlichen“ Grenze eines regionalen Überwachungsgebietes einerseits und der Koordination unterschiedlicher Überwachungsgebiete andererseits. Während der Druck des Wettbewerbs durch potenzielle Anbieter von Eisenbahnverkehr auch durch selektiven, (zeitlich) sequentiellen Marktzutritt gewährleistet wird, ist im Bereich der Zugüberwachungssysteme ein Versteigerungswettbewerb für ein wohldefiniertes, geschlossenes Überwachungsgebiet funktionsfähig. 12  Aus historischer Perspektive ist es interessant hervorzuheben, dass Chadwick (1859) bereits die Bedeutung eines Ausschreibungswettbewerbs für ganze Netze im Sinne eines Wettbewerbs um den Markt erkannt hat. Eine Differenzierung zwischen Netzen mit Kostenirreversibilitäten (Schieneninfrastrukturkapazitäten) und damit einhergehendem regulatorischem Handlungsbedarf und Netzen ohne Kostenirreversibilitäten (z. B. Busverkehr) hat Chadwick jedoch nicht geleistet. Erst mehr als 100 Jahre später wurde diese Differenzierung Gegenstand der berühmten Demsetz-WilliamsonKontroverse, s. Demsetz (1968), Williamson (1976).

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Zugüberwachungssysteme besitzen ein signifikantes grenzüberschreitendes Potenzial. Wettbewerb auf den europäischen Zugverkehrsmärkten erfordert einen möglichst umfassenden Abbau der grenzüberschreitenden Barrieren. Falls die Ausschreibungen (wie bei anderen Leistungen inzwischen die Regel) europaweit erfolgen, ist zu erwarten, dass sich die im Bereich der Zugüberwachung in einem Land besonders erfolgreichen Zugüberwachungsagenturen auch in anderen Ländern im Versteigerungswettbewerb durchsetzen werden. Dies hat zur Folge, dass die in einem Land durch innovative Software erzielten Innovationsvorsprünge im Bereich der Zugüberwachung sich sukzessive auf andere Länder ausdehnen. Der Institutionenwettbewerb wird darüber hinaus sowohl zur Ausschöpfung von Kostensenkungspotenzialen führen als auch zu einem verbesserten Serviceangebot auf den Transportmärkten. Die Anbieter von Zugverkehr erhalten die Möglichkeit, Druck auf die für sie zuständige Zugüberwachungsagentur auszuüben.13 4. Regulierung des Zugangs zu den Schieneninfrastrukturen Da Schieneninfrastrukturen monopolistische BottleneckBereiche darstellen, erfordern diese eine spezifische Regulierung zur Disziplinierung der verbleibenden Marktmacht. Dabei muss insbesondere der symmetrische Zugang zu den Schieneninfrastrukturen für sämtliche aktiven und potenziellen Anbieter von Netzleistungen gewährleistet werden, damit der Wettbewerb auf allen komplementären Märkten umfassend zum Zuge kommen kann. Eine Regulierung der Zugangstarife zu monopolistischen Bottleneck-Bereichen sollte sich auf diejenigen Netzbereiche beschränken, bei denen Marktmacht tatsächlich vorliegt. Die Regulierung der Tarife für die Schieneninfrastrukturbenutzung darf folglich nicht gleichzeitig zu einer Regulierung der Tarife 13  Knieps

(2010), S. 5 ff.

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in den komplementären wettbewerblichen Bereichen führen. Die Regulierung der Netzzugangstarife sollte sich auf das Niveau der Trassenpreise beschränken (Price-Cap-Regulierung), denn dadurch wird die unternehmerische Suche nach innovativen Preisstrukturen der Trassenpreise nicht behindert.14 Diskriminierungsfreier Netzzugang setzt voraus, dass Quersubventionierungen zwischen den Märkten für Schieneninfrastrukturkapazitäten und Eisenbahnverkehr verhindert werden. Daher ist zusätzlich das Prinzip der getrennten Rechnungslegung anzuwenden. Das Diskriminierungsverbot darf jedoch nicht per se zu einem Verbot von Preisdifferenzierungen führen. Die Bedeutung von unternehmerischer Preisdifferenzierung im Bereich der Schienentrassen ergibt sich dadurch, dass auch auf viel befahrenen Strecken optimale Benutzungsgebühren noch keine volle Kostendeckung gewährleisten müssen. Ein wesentliches Merkmal bei der Bereitstellung von Schienenwegkapazitäten sind die hohen Fixkosten und die damit einhergehenden Größenvorteile (Kostendegression) bei der Leistungserstellung. Es ist bekannt, dass bei Vorliegen von Größenvorteilen die ansonsten volkswirtschaftlich erwünschten Grenzkostenpreise nicht mehr zu einer Gesamtkostendeckung führen. Größenvorteile beim Bau von Schieneninfrastrukturen führen dazu, dass optimale Zugangsgebühren die Investitionskosten der Infrastruktur nicht decken können. Es stellt sich folglich die Frage nach der Finanzierung des Defizits und damit einhergehend nach dem politisch ex ante vorgegebenen Kostendeckungsgrad. Damit die Anreize zur Erzielung der erforder14  Mit der Price-Cap-Regulierung wird angestrebt, dass die Nachfrager in der Lage sind, auch zu den heutigen Preisen die gleichen Mengen der unterschiedlichen Leistungen des betrachteten Dienstleistungskorbes einzukaufen wie in der Vorperiode, ohne dass ihnen dadurch Mehrausgaben entstehen. Als Korrekturfaktor wird RPI-X eingesetzt, wobei RPI die Veränderung des Konsumentenpreisindex und X einen zwischen Regulierer und Unternehmen auszuhandelnden Prozentsatz darstellt, der in der Folge als (realer) Prozentsatz der Produktivitätsveränderung innerhalb des regulierten Bereichs interpretiert wurde (Knieps [2007], S. 172 ff.).

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lichen Kostendeckung mittels Trassenpreiseinnahmen für den Schieneninfrastrukturbetreiber glaubwürdig sind, darf der Grad der Gesamtkostendeckung (und damit einhergehend die Höhe der öffentlichen Subventionen) nicht dem Zufall (ex post) überlassen bleiben. Das Ziel der effizienten Allokation von Trassenkapazitäten bei vorgegebener Kostendeckungsbeschränkung erfordert die Anwendung von Preisdifferen­ zierungsstrategien. Preisdifferenzierung bei der Bereitstellung unterschiedlicher Trassenqualitäten berücksichtigt notwendigerweise Unterschiede in der Belastbarkeit der Verkehre, die sich in unterschiedlichen Zahlungsbereitschaften (Preiselastizitäten der Nachfrage) nach Schieneninfrastrukturkapazitäten niederschlagen. Dies bedeutet insbesondere, dass Unterschiede bei den Trassenpreisen nicht allein auf Kostenunterschiede bei den angebotenen Trassenqualitäten zurückzuführen sind, sondern auch unterschiedliche Aufschläge zur Deckung der fixen Infrastrukturkosten beinhalten müssen. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass es nicht ein einziges optimales Tarifschema gibt, das von einer zentralen Stelle aus angestrebt werden könnte. Vielmehr ist es erforderlich, die dynamische Effizienz des Marktes bei der Suche nach innovativen Preisdifferenzierungsschemata auszuschöpfen. Für die volkswirtschaftliche Beurteilung unterschiedlicher Preisdifferenzierungsschemata müssen diese als Ganzes verglichen werden. Es ist unzulässig, aufgrund punktueller Preisvergleiche globale Aussagen über die Wohlfahrtswirkungen von Preisdifferenzierung abzuleiten. Um den Diskriminierungsvorwurf zu vermeiden, dürfen Tarifsysteme nicht selektiv angeboten werden. Vielmehr müssen sämtliche Nachfrager ein diesbezüg­ liches Angebot erhalten. Seit der Bahnreform 1994 hat es in Deutschland zunächst keine Regulierung der Netzzugangstarife gegeben. Das Bundeskartellamt beobachtete aber die Trassenpreise der Deutschen Bahn AG hinsichtlich möglicher Diskriminierungstatbestände. Im Jahre 1998 wurde von der Deutschen Bahn AG ein optionales zweiteiliges Trassenpreissystem eingeführt, bei

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dem ein Trassennachfrager die Wahlmöglichkeit erhielt, durch Erwerb einer InfraCard einen niedrigeren variablen Preis pro Zugtrasse in Anspruch zu nehmen, oder aber ohne InfraCard den höheren VarioPreis für die konkrete Leistungsinanspruchnahme zu bezahlen. Das Trassenpreissystem war einzelnen Diskriminierungsvorwürfen ausgesetzt. Diese innovative Preisstruktur wurde von der Deutschen Bahn AG bereits im Jahre 2001 wieder abgeschafft, obwohl optionale zweiteilige Tarife aus volkswirtschaftlicher Sicht grundsätzlich sehr sinnvoll sind und Diskriminierungsvorwürfe einzelfallbezogen gelöst werden können.15 Inzwischen verfügt die Bundesnetzagentur über die Kompetenz, die Trassenpreise zu regulieren. Da die Schieneninfrastruktur bei der Deutschen Bahn insgesamt nicht kostendeckend ist, stellt sich die Frage, wie man die Marktmacht auf den profitablen Strecken disziplinieren kann, ohne gleichzeitig die politisch erwünschte Finanzierung defizitärer Infrastruktur in Frage zu stellen. 5. Subventionierung defizitärer Schieneninfrastrukturen Die Frage, ob das Niveau der Trassenpreise überhöht ist, kann nicht unabhängig von der Höhe der staatlichen Zuwendungen, insbesondere aus der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung, beurteilt werden. Im Rahmen der Leistungsund Finanzierungsvereinbarung ist die Höhe der Subventionen durch die öffentliche Hand geregelt. Dabei müssen die entscheidungsrelevanten Kosten der Netzinfrastruktur durch Trasseneinnahmen einerseits und Zuwendungen der öffent­ lichen Hand andererseits gedeckt werden. Unternehmerisch konsistente Entscheidungen (bzgl. Investitionen, Produktgestaltung, Pricing etc.) erfordern eine entscheidungsrelevante Kostenermittlung. Hieraus folgt unmittelbar die Notwendigkeit, die Ermittlungsmethode der Kosten so auszugestalten, dass sie die Kosten der effizienten Leis15  Knieps

(2007), S. 91 f.

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tungsbereitstellung bestmöglich reflektiert. Der Maßstab für die Bestimmung effizienter Kosten kann nicht durch die Regulierungsbehörde ermittelt werden, sondern ist immanent innerhalb des Unternehmens zu entwickeln. Historische Istkosten sind als Prüfobjekt wenig ergiebig, weil sie auf Informationen abstellen, die für die tatsächlichen Entscheidungssituationen des Unternehmens nicht mehr relevant sein müssen. Ziel sollte es sein, mittels einer differenzierten Investitionsmodellierung (Mengengerüst) – unter Anwendung einer entscheidungsorientierten, zukunftsgerichteten (forward looking) Bewertungsmethode, die Ermittlung der User Cost of Capital sowie – über die Prozesskostenermittlung – die Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung zu bestimmen. Dabei sind die Migrationskosten von Anpassungsstrategien mit einzubeziehen sowie Potenziale der Effizienzbereinigung aufzudecken.16 Die Höhe der Subventionen muss im politischen Prozess festgelegt werden. Wenn die entscheidungsrelevanten Kosten der Schieneninfrastruktur nicht aus den Einnahmen der Trassenpreise gedeckt werden können, wird eine Subventionierung aus Steuergeldern notwendig. In einer Demokratie muss dies politisch legitimiert und im politischen Prozess festgelegt werden. Die Subventionierung von defizitären Schieneninfrastrukturen darf nicht vermischt werden mit der Bestellung von defizitärem Schienenverkehr. Der Ausschreibungswettbewerb bei der Vergabe von defizitärem Schienenverkehr ist funktionsfähig, da er nicht mit Kostenirreversibilitäten verbunden ist. Mit diesem Instrument kann folglich der effizienteste und kostengünstigste Anbieter ermittelt werden, d. h. derjenige, der die geringste Subvention benötigt. Die Regulierung eines diskriminierungsfreien Netzzugangs stellt eine Aufgabe der Regulierungsbehörde dar. Demgegenüber ist die Finanzierung von defizitären Schieneninfrastrukturen eine politische Aufgabe, die aufgrund der Gewaltentei16  Knieps

(2007), S. 13 ff.

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lung in einer Demokratie nicht in den Kompetenzbereich einer Regulierungsbehörde fallen sollte. III. Zusammenfassung und Fazit Die Frage nach der Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt ist seit der Erfindung der Eisenbahnen Gegenstand heftiger Kontroversen. Sie kristallisierte sich im 19. Jahrhundert zunächst in der grundsätzlichen Thematik heraus, ob und inwieweit wettbewerblich organisierte Märkte im Eisenbahnsektor funktionsfähig sind und inwieweit staatliche Regulierungseingriffe einer Verstaatlichung der Eisenbahnen vorzuziehen sind. Die moderne Netzökonomie beschäftigt sich mit der Frage der konkreten Ausgestaltung einer Zugangsregulierung als Voraussetzung dafür, dass die Wettbewerbspotenziale auf den Märkten für Eisenbahnverkehr möglichst umfassend ausgeschöpft werden können. Erforderlich ist eine trennscharfe Lokalisierung der monopolistischen Bottleneck-Bereiche in Kombination mit einer adäquaten Regulierung der Zugangsbedingungen. Schieneninfrastrukturen stellen solche monopolistischen Bottleneck-Bereiche dar. Diese können weder durch aktiven noch durch potenziellen Wettbewerb diszipliniert werden. Price-Cap-Regulierung sowie getrennte Rechnungslegung zu den übrigen Bereichen (Accounting Separation) sind ausreichend, um die verbleibende Marktmacht zu disziplinieren und einen diskriminierungsfreien Zugang zu den Schieneninfrastrukturen zu gewähren. In diesem Zusammenhang stellt sich auch das Problem der Finanzierung defizitärer Schieneninfrastrukturen. Ein wesentliches Merkmal bei der Bereitstellung von Schieneninfrastrukturen sind die hohen Fixkosten. Insoweit die Erlöse aus den Trassenpreisen die entscheidungsrelevanten Gesamtkosten nicht decken können, liegt ein Defizitproblem vor. Die Höhe der Subventionen muss im politischen Prozess festgelegt werden. Die Einnahmen aus staatlichen Zuwendungen und die Einnahmen aus Trassenpreisen müssen insgesamt die entschei-

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dungsrelevanten Kosten der Schieneninfrastruktur decken. Die Bestellung von defizitärem Schienenverkehr darf nicht vermischt werden mit der Bestellung von defizitären Schieneninfrastrukturen. Literaturverzeichnis Baumol, William J.: Contestable Markets: An Uprising in the Theory of Industry Structure, in: American Economic Review, 72, 1982, S. 1–15. Chadwick, Edwin: Results of Different Principles of Legislation and Administration in Europe; of Competition For the Field, as compared with Competition Within the Field, of Service, in: Journal of the Statistical Society of London, Vol. 22 / 3, 1859, S. 381–420. Demsetz, Harold: Why Regulate Utilities?, in: Journal of Law and Economics, 11, 1968, S. 55–65. Fremdling, Rainer: Freight Rates and State Budget: the Role of the National Prussian Railways 1880–1913, in: The Journal of European Economic History, Vol. 9, No. 1, Spring, 1980, S. 21–39. Fremdling, Rainer / Knieps, Günter: Competition, Regulation and Nationalization: The Prussian Railway System in the Nineteenth Century, in: The Scandinavian Economic History Review, Vol. XLI, No. 2, 1993, S. 129–154. Knieps, Günter: Netzökonomie – Grundlagen, Strategien, Wettbewerbspolitik, Gabler-Verlag, Wiesbaden, 2007. Knieps, Günter: Wettbewerb im transeuropäischen Eisenbahnverkehr, in: Zeitschrift für Verkehrswissenschaft, 81. Jg., Heft 1, 2010, S. 1–12. Knieps, Günter / Weiß, Hans-Jörg: Regulierung der Eisenbahninfrastruktur: Marktmacht, Interoperabilität und das Defizitproblem, in: Günter Knieps, Hans-Jörg Weiß (Hrsg.), Fallstudien zur Netzökonomie, Gabler-Verlag, Wiesbaden, 2009, S. 139–169. Panzar, John C. / Willig, Robert D.: Free Entry and the Sustainabil­ ity of Natural Monopoly, in: Bell Journal of Economics, 8, 1977, S. 1–22. Sax, Emil: Die Eisenbahnen, Alfred Hölder, K. K. und Universitäts-Buchhändler, Wien, 1879.

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Walras, Léon: L’État et les Chemins de Fer, in: le Nouvelliste Vaudois, Oktober 1875, revidierte Fassung in: Revue du Droit ­public et de la Science politique, mai-juin et juillet-août 1897; übersetzt von P. Holmes, The State and the Railways, in: Journal of Public Economics, 13, 1980, S. 81–100. Williamson, Oliver E.: Franchise Bidding for Natural Monopolies – In General and with Respect to CATV, in: Bell Journal of Economics, 7, 1976, S. 73–104.

Verschiedene Arten demokratischer Steuerung am Beispiel der deutschen Straßen- und Eisenbahninfrastruktur Von Michael Fehling, Hamburg* I. Einführung Staat oder regulierte Privatwirtschaft – welches System, welche Handlungslogik eignet sich besser für existenzielle Infrastrukturen und die darauf angebotenen Dienste? Hinter dieser Gegenüberstellung steht die verbreitete Vorstellung, wir hätten zwischen staatlicher Leistungserbringung (sowie Verwaltung der dafür benötigten Infrastruktur) oder dem Wettbewerb Privater bei den Diensten (gegebenenfalls sogar bei den Netzen selbst) unter staatlicher Aufsicht und Rahmengarantie zu wählen. Auch die Unterscheidung zwischen staatlicher Erfüllungs- und Gewährleistungsverantwortung fußt auf dieser kategorialen Unterscheidung zweier prinzipieller Rationalitätsvorstellungen und Steuerungsmodi. Denn die Gewährleistungsverantwortung wird meist mit einem Rückzug des Staates auf die Regulierung privater Akteure gleichgesetzt und dadurch von der Erfüllungsverantwortung im Sinne eines strikten Entweder-oder abgegrenzt.1 *  Prof. Dr. iur., LL.M. (Berkeley), Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit Rechtsvergleichung an der Bucerius Law School, Hamburg. Ich danke Wiss. Mit. Mirja Müller für fruchtbare Diskussionen und tatkräftige Unterstützung bei den Nachweisen. 1  Statt vieler Helmuth Schulze-Fielitz, Grundmodi der Aufgabenwahrnehmung, in: Wolfgang Hoffmann-Riem­  /  E­ ber­ hard SchmidtAßmann / Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, § 12 Rn. 158 ff.; Andreas Voßkuhle, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und

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Diese Alternative greift jedoch zu kurz. Marktöffnung und Wettbewerb unter europäischem Einfluss lösen, anders als vielfach konstatiert2, keineswegs automatisch einen Sog in Richtung einer Privatisierung der öffentlichen Unternehmen aus. Viele Bereiche, in denen infrastrukturbezogene Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse3 (oder in der deutschen Tradition mit teilweise anderer Akzentsetzung: Dienste der Daseinsvorsorge4) bereitgestellt werden, sind vielmehr durch ein Nebeneinander privatwirtschaftlicher und öffentlicher Anbieter gekennzeichnet. Der staatliche Einfluss äußert sich in erster Linie in externer Regulierung, die alle Anbieter gleichermaßen erfasst. Bei den eigenen Unternehmen steht dem Staat aber zusätzlich die unternehmensinterne Steuerung offen.5 Dies betrifft namentlich die Eisenbahn, staatliche Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), S. 266 (304 ff.); besonders deutlich Claudio Franzius, Gewährleistung im Recht, 2009, S. 683: „Die Gewährleistungsverantwortung des Staates ist nicht als Oberbegriff, sondern als Gegenbegriff zur Erfüllungsverantwortung zu verstehen […]“. Von einer „funktionenteilenden Daseinsvorsorge“, bei der dem Staat nur noch die Garanten- und Aufsichtsrolle zukommt, spricht Martin Bullinger, Von administrativer Daseinsvorsorge zu privatwirtschaftlicher Leistung unter staatlicher Rahmengarantie, in: Franz Ruland u. a. (Hrsg.), FS Zacher, 1998, S. 85 (87 ff.). 2  Statt vieler Jürgen Löwe, Ökonomisierung der öffentlichen Wirtschaft und die EU-Wettbewerbspolitik, in: Jens Harms  /  Christoph Reichard (Hrsg.), Die Ökonomisierung des öffentlichen Sektors: Instrumente und Trends, 2003, S. 183 (insbes. 193 ff.); Schulze-Fielitz, in: GVwR I (Fn. 1), § 12 Rn. 92, vgl. auch Rn. 123; Axel Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 90 ff.; Johannes Hellermann, Örtliche Daseinsvorsorge und gemeindliche Selbstverwaltung, 2000, S. 353 f. 3  Dazu zuletzt m. w. N. Matthias Knauff, Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon, EuR 2010, S. 725 ff. 4  Zur Akzentverschiebung statt vieler nur Franzius (Fn. 1), S. 364 ff.; Markus Krajewski, Leistungen der Daseinsvorsorge im Gemeinschaftsrecht, in: Alice Wagner / Valentin Wedl (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven zum europäischen Recht, 2007, S. 433 ff.; im Rechtsvergleich Martin Bullinger, Französischer service public und deutsche Daseinsvorsorge, JZ 2003, S. 597 (601 f.). 5  Überblick über interne Steuerung in den verschiedenen Referenzbereichen bei Michael Fehling, Instrumente und Verfahren, in: ders. / Matthias Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 20 Rn. 76 ff.



Verschiedene Arten demokratischer Steuerung95

wo der Bund über die Bundesnetzagentur und das Eisenbahnbundesamt extern regulierend tätig wird, zugleich aber seine Deutsche Bahn als (noch) Alleinaktionär steuert.6 Bei der Straßeninfrastruktur dominiert zwar weiterhin die staatliche (Bundesauftrags-)Ver­ waltung, doch treten Betreibermodelle als Form funktionaler Privatisierung7 hinzu. Dieser Dualismus wird noch deutlicher, wenn man nicht nur die Bereitstellung der Eisenbahn- und Straßeninfrastruktur, sondern auch den darauf angebotenen öffentlichen Verkehr in den Blick nimmt. Außerhalb des Verkehrssektors ist ebenfalls ein Steuerungsmix von externer Regulierung und interner Steuerung8 mit den Mitteln des Unternehmensrechts eher die Regel als die Ausnahme. Der Bankensektor ist durch das Nebeneinander privater und öffentlich-rechtlicher Geldinstitute gekennzeichnet. Selbst in der Energieversorgung besitzt der Staat, insbesondere in Gestalt der Kommunen, erhebliche Unternehmensbeteiligungen, nicht nur an Stadtwerken, sondern etwa auch an RWE als einem der vier großen Versorger. Aus diesem Befund leiten sich meine Grundthesen ab, die es im Folgenden zu untermauern gilt: Statt sich auf die Alternative Staat oder Privat zu fokussieren, sollte man in gemischten Märkten besser die Chancen einer wechselseitigen Ergänzung von externer Regulierung und unternehmensinterner Steuerung ausloten. Ein solcher intelligenter Steuerungsmix ist Von „medialer Steuerung“ spricht Stefan Storr, Der Staat als Unternehmer, 2001, S. 57 f. 6  Dazu Michael Fehling, Öffentlicher Verkehr, in: ders.  /  Ruffert (Fn. 5), § 10 Rn. 48 ff. u. 72 ff. 7  Zur Einordnung in die Privatisierungstypologie statt vieler Martin Burgi, Privatisierung, in: Josef Isensee  /  Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, 3. Aufl. 2006, § 75 Rn. 7; Schulze-Fielitz, in: GVwR I (Fn. 1), § 12 Rn.  110, jeweils m. w. N. 8  In der Systematik von Lothar Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: Wolfgang Hoffmann-Riem­  /  E­ ber­ hard Schmidt-Aßmann / Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 2, 2008, § 41 Rn. 12 u. 14 würde es sich wohl primär um einen „Mix von Steuerungsmedien“ handeln, freilich mit Überschneidungen zum „Mix der Instrumente“.

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namentlich im Eisenbahnsektor schon verfassungsrechtlich vorgezeichnet9 und im Übrigen zumindest im einfachen Recht angelegt. Das Steuerungsversagen im Finanzsektor kann als Negativbeispiel dienen, eröffnet aber zugleich Perspektiven für eine Optimierung des Zusammenspiels dieser beiden ­Steuerungsmodi. Im Folgenden möchte ich zunächst das Grundkonzept darlegen (sogleich II.), sodann die derzeitige Rechtslage in Bezug auf unser Thema skizzieren (III.) und aus einer Zusammenschau dieser beiden Kapitel Reformperspektiven ableiten (IV.), bevor ich mit einem Fazit ende (V.). II. Konzept: Kombination interner Steuerung und externer Regulierung Die staatliche Verantwortung für die Bereitstellung existenzieller Infrastrukturen wird gemeinhin und richtigerweise als Gewährleistungsverantwortung gekennzeichnet. Gewährleistet ist dabei nicht eine spezifische Art der Aufgabenerfüllung, sondern eine im Ergebnis adäquate Grundversorgung. Bei der demokratischen Legitimation haben wir gelernt, dass es nicht in erster Linie auf spezifische Legitimationsmodi, sondern auf ein adäquates Legitimationsniveau ankommt.10 Mit gleicher Berechtigung kann man hier von einem Gewährleistungsniveau sprechen.11 Dazu stehen juristisch verschiedene Steuerungsmo9  Näher

unten III. 1. a). 107, 59 (87). Mit unterschiedlicher Akzentsetzung Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Josef Isensee­ / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 23 ff.; Hans-Heinrich Trute, Die demokratische Legitimation der Verwaltung, in: GVwR I (Fn. 1), § 6 Rn. 56. 11  In der Literatur ist – soweit ersichtlich – nur der Begriff des „Leistungsniveaus“ gebräuchlich, vgl. z. B. Markus Möstl, in: Theodor Maunz / Günter Dürig u. a. (Hrsg.), GG-Kommentar, Lieferung November 2006, Art. 87e Rn. 85; Laure  Aumont / Hendrik Kaelble, Die Vergabe von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse an Private, NZBau 2006, S. 280 (283); Matthias Knauff, 10  BVerfGE



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di zur Verfügung, die sich gegebenenfalls in einem Steuerungsmix kombinieren lassen.12 Dies lehrt nicht zuletzt die neue Verwaltungsrechtswissenschaft, die sich prononciert als Steuerungswissenschaft versteht und dabei offen ist für Erkenntnisse der Nachbarwissenschaften, namentlich der Politikwissenschaft, der Soziologie und der Ökonomik.13 Dieser analytische Steuerungsansatz darf weder mit einem naiven Steuerungsoptimismus noch mit Steuerungs-Allmachtsphantasien verwechselt werden, sondern nimmt gerade auch die in Wissensdefiziten und Prinzipal-Agent-Problemen wurzelnden Steuerungshindernisse sowie die freiheitsrechtlichen Steuerungsgrenzen zur Kenntnis.14 Andererseits macht sich dieser Ansatz auch keinen prinzipiellen Steuerungspessimismus zu eigen, wie er zumindest partiell die Systemtheorie beherrscht,15 in abgeschwächter Gewährleistungsstaatlichkeit in Krisenzeiten: Der Gewährleistungsstaat in der Krise?, DÖV 2009, S. 581 (583); Anika Luch / Sönke Schulz, eDaseinsvorsorge – Neuorientierung des überkommenen (Rechts-)Begriffs „Daseinsvorsorge“ im Zuge technischer Entwicklungen?, MMR 2009, S. 19 (20). 12  Vgl. allgemein Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. 1 Rn. 35; aufgegriffen von Michael, in: GVwR II (Fn. 8), § 41 Rn. 69: „Komplexe Sozialgefüge zeichnen sich durch eine Verschränkung mehrerer Steuerungsrelationen aus“. 13  Programmatisch Voßkuhle, in: GVwR I (Fn. 1), § 1 Rn. 17 ff. u. 39; ferner statt vieler Ivo Appel, Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischem Verständnis und steuerungswissenschaft­ lichem Anspruch, VVDStRL 67 (2008), S. 226 (241 ff.). 14  Entsprechende Kritik etwa von Oliver Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismus, 1999, S. 10 ff.; Martin Schulte, Wandel der Handlungsformen der Verwaltung und der Handlungsformenlehre in der Informationsgesellschaft, in: Wolfgang Hoffmann-Riem  /  Eberhard Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000, S. 333 (344 ff.). Demgegenüber klarstellend Schmidt-Aßmann (Fn. 12), Kap. 1 Rn. 38 f.; Michael Fehling, Grenzverwischungen zwischen privatrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Stiftungen mit Beteiligung der öffentlichen Hand, in: Rainer Hüttemann u. a. (Hrsg.), Non Profit Law Yearbook 2008, 2009, S. 129 (131). 15  Zur Ausdifferenzierung von (Teil-)Systemen und deren selbstreferenzieller Autonomie grundlegend Niklas Luhmann, Soziale

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Form auch in der Governance-Perspektive anklingt (der das Steuerungssubjekt abhanden gekommen ist und die Regelungsstrukturen statt Akteure in den Vordergrund rückt)16 und im Hinblick auf die direkte Verhaltenssteuerung durch Recht auch für die Ökonomik kennzeichnend17 ist. Die Steuerungsperspektive kann hier ein Stück weit an die alte Instrumentalthese18 anknüpfen, wonach öffentliche Unternehmen nicht nur selbst einem öffentlichen Zweck dienen, sondern zugleich positive Wirkungen auf den jeweiligen Markt als Ganzes entfalten sollen. Dabei erhofft man sich nicht zuletzt eine Vorbildwirkung öffentlicher Unternehmen im Wettbewerb, etwa bei den Lohn- und Arbeitsbedingungen.19 Doch Systeme, 1984, im Hinblick auf Wirtschaft und Politik insbes. S. 625 ff.; zu den Grenzen kausaler politischer Steuerung näher ders., Die Politik der Gesellschaft, 2002, S. 105 ff., insbes. 109 f.; erweiterte Möglichkeiten einer Kontextsteuerung sieht dagegen z. B. Helmut Wilke, Supervision des Staates, 1997, S. 72 ff.; ders., Ironie des Staates, 1992, insbes. S. 316 ff. 16  Besonders deutlich Gunnar Folke Schuppert, Governance durch Wissen, in: ders. / Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Governance von und durch Wissen, 2008, S. 259 (265 ff.); Renate Mayntz, Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie?, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung, 2. Aufl. 2006, S. 11 (14 ff., insbes. 16); vorsichtige Kritik klingt an bei Wolfgang Hoffmann-Riem, Governance im Gewährleistungsstaat – Vom Nutzen der GovernancePerspektive für die Rechtswissenschaft, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung, 2. Aufl. 2006, S. 195 (198). 17  Freilich mit Unterschieden zwischen der neoklassischen Betrachtung (vgl. etwa Richard Posner, Theories of Economic Regulation, Bell Journal of Economics and Management Science 5, 1974, S. 335 ff.) und der Neuen Institutionenökonomik (z. B. Rudolf Richter / Eirik Furubotn, Neue Institutionenökonomik, 4. Aufl. 2010, S. 524 ff.; Douglass C. North, Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleitung, 1992, S. 131 f.; Gunnar Folke Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 494 ff.). 18  Zu verschiedenen Facetten und zur Kritik siehe die Beiträge in Theo Thiemeyer (Hrsg.), Instrumentalfunktion öffentlicher Unternehmen, 1990; zur Verknüpfung von Steuerung und Instrumentalthese mit freilich anderer Akzentsetzung vgl. auch Storr (Fn. 5), S. 60 ff. 19  Dies gab es unter anderen Rahmenbedingungen schon früher, vgl. Günter Püttner, Die öffentlichen Unternehmen, 2. Aufl. 1985,



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besteht umgekehrt auch das Risiko, dass die privaten Konkurrenten das Geschäftsgebaren der öffentlichen Marktteilnehmer negativ beeinflussen, z. B. in der Finanzwirtschaft durch Streben nach Gewinnmaximierung um jeden Preis sowie durch exzessive Boni.20 Einer solchen Negativentwicklung muss externe Regulierung mit allgemeinverbindlichen (Mindest-) Standards vorbeugen; unternehmensinterne Steuerung sollte bei den öffentlich-rechtlichen Marktteilnehmern über diese Mindeststandards hinaus dazu beitragen, dass diese öffent­ lichen Zwecken verpflichteten Unternehmen für die Kon­ kurrenz eine positive Vorbildfunktion erfüllen. Wenn beispielsweise die Sparkassen im Wege unternehmensinterner Steuerung zur Bereitstellung eines Girokontos für jedermann verpflichtet werden,21 könnten sich die privaten Geschäfts­ banken womöglich aus Imagegründen genötigt sehen, mitzuziehen. 1. Prinzipielle Möglichkeiten und Grenzen externer Regulierung durch staatliche oder unabhängige Aufsichtsbehörden Externe Regulierung, wie sie paradigmatisch durch die Bundesnetzagentur, das Eisenbahnbundesamt oder die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht sowie die BundesS. 57. Typischerweise wurde eine solche Wettbewerbsverhaltensfunktion öffentlicher Unternehmen allerdings im Zusammenhang mit einer sozial motivierten Niedrigpreispolitik diskutiert; dazu etwa kritisch Helmut Cox, Die öffentliche Wirtschaft in ihrer Bedeutung für die Wirtschaftspolitik, dargestellt am Beispiel der Ordnungs- und Strukturpolitik, in: Thiemeyer (Fn. 18), S. 201 (210 ff.). 20  Weil private und öffentliche Institute um die qualifiziertesten Führungskräfte konkurrieren, entsteht ein Wettbewerb um die höchsten Bonuszahlungen, vgl. den Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 19.05.2008, abrufbar unter http:  /   /  www.sueddeutsche. de / wirtschaft / managergehaelter-wer-viel-verdient-bekommt-nochmehr-1.216215. 21  Zur gegenwärtigen Rechtslage und zu Verbesserungsmöglichkeiten Mirja Müller, Das Drei-Säulen-System des Bankenmarktes als regulierungsrechtliche Steuerungsressource, 2012, S. 317 ff.

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bank ausgeübt wird,22 besitzt idealtypisch zwei besondere Vorzüge: Eine solche Regulierungsbehörde gewährleistet weitestmögliche Wettbewerbsneutralität, weil und wenn sie von den verschiedenen Anbietern am Markt unabhängig ist und eine gleichmäßige Distanz zu deren wirtschaftlichen Interessen aufweist.23 Wo der Staat selbst an Akteuren auf dem jeweiligen Markt beteiligt ist, kann die Neutralität der Regulierungsbehörde gegebenenfalls dadurch abgesichert werden, dass diese mehr oder minder weitgehend von (Einzel-)Wei­ sungen der politischen Verwaltungsspitze freigestellt wird. Die klare Trennung zwischen Spieler- und Schiedsrichterfunktion im Wettbewerb24 ermöglicht es der externen Regulierung, sich – neben der Sicherung eines chancengleichen Wettbewerbs – ganz auf die Durchsetzung der Verbraucherinteressen zu konzentrieren.25 Dazu kann auch und gerade die Gewährleistung eines gleichen Zugangs zu existenziellen infrastrukturbezogenen Dienstleistungen zu sozialverträg­ lichen Preisen gehören.

22  Im weitesten Sinne lässt sich auch regulierte Selbstregulierung (dazu statt vieler Martin Eifert, Regulierungsstrategien, in: GVwR I [Fn. 1], § 19 Rn. 52 ff.) noch als externe Regulierung einordnen – jedenfalls dann, wenn man sie von unternehmensinterner Steuerung abgrenzt. 23  Gabriele Britz, Organisation und Organisationsrecht der Regulierungsverwaltung in der öffentlichen Versorgungswirtschaft, in: Fehling  /  Ruffert (Fn. 5), § 21 Rn. 39; zuletzt zusammenfassend Johannes Masing, Unabhängige Behörden und ihr Aufgabenprofil, in: Johannes Masing  /  Gérard Marcou (Hrsg.), Unabhängige Regulierungsbehörden, 2011, S. 181 (197 ff.). 24  Günter Knieps, Neue Perspektiven für die Gemeinden als Anbieter von Verkehrs- und Versorgungsnetzen, in: ders. (Hrsg), Die zukünftige Rolle der Kommunen bei Verkehrs- und Versorgungsnetzen, 1998, S. 7 (14 f.); Jens-Peter Schneider, Der Staat als Wirtschaftssubjekt und Steuerungsakteur, DVBl 2000, S. 1250 (1260). 25  Zu diesem Regulierungsziel Claudio Franzius, Schutz der Verbraucher durch Regulierungsrecht, DVBl 2010, S. 1086 (1088); ferner Johannes Hellermann und Wolfgang Durner, Schutz der Verbraucher durch Regulierungsrecht, VVDStRL 70 (2011) S. 366 ff. bzw. S. 398 (412 ff.).



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Diesen Vorteilen steht freilich der gravierende Nachteil struktureller Informations- und Wissensdefizite26 gegenüber. In Krisensituationen reagiert externe Regulierung oft erst dann, wenn es (fast) zu spät ist; dies zeigte zuletzt die Finanzkrise. Ausgefeilte Dokumentations- und Auskunftspflichten der regulierten Unternehmen, wie sie das moderne Regulierungsregime in den Netzsektoren kennzeichnen,27 können dieses strukturelle Wissensdefizit nur abmildern, aber nicht beseitigen. Diese Probleme pflanzen sich in der Durchsetzung getroffener Regulierungsanordnungen fort. Gerade bei einer so verzweigten Infrastruktur wie derjenigen der Bahn hat die Bundesnetzagentur größte Schwierigkeiten, sich einen Überblick über die Situation in der Fläche zu verschaffen. In der Finanzaufsicht haben die Behörden die Risiken einiger Finanz­ instrumente wohl frühestens mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers realistisch einzuschätzen gelernt, und es darf sogar bezweifelt werden, ob die weiter bestehenden sowie neu entstehenden Risiken von „außen“ heute auch nur annähernd durchschaut werden.28 Schließlich gelten gerade sektorspezifisch spezialisierte Regulierungsbehörden als besonders anfällig für den Einfluss derjenigen Wirtschaftskreise, welche sie doch eigentlich in unparteilichkeitssichernder Distanz zu beaufsichtigen haben.29 26  Fehling, in: ders.  /  Ruffert (Fn. 5), § 20 Rn. 117; allgemeiner Bernd Wollenschläger, Wissensgenerierung durch Verfahren, 2009; Indra Spiecker gen. Döhmann / Peter Collin (Hrsg), Generierung und Transfer staatlichen Wissens im Verwaltungsrecht, 2008. 27  Überblick bei Fehling, in: ders. / Ruffert (Fn. 5), § 20 Rn. 120 ff. 28  Das soll keineswegs im Umkehrschluss implizieren, dass die unternehmensinterne Steuerung in der Finanzkrise bei Sparkassen und insbesondere Landesbanken besser funktioniert hätte oder nunmehr keine Defizite mehr aufweisen würde. Die interne Steuerung bietet aber insoweit womöglich strukturell bessere Chancen auf Optimierung; dazu sogleich 2. 29  Hierzu und zum Folgenden Überblick bei Michael Fehling, Verwaltung zwischen Unparteilichkeit und Gestaltungsaufgabe, 2001, S. 273 ff.; Jürgen Kühling, Sektorspezifische Regulierung in den Netzwirtschaften, 2004, S. 371 ff.; Schuppert (Fn. 17), S. 573 ff.

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Die Gefahr eines derartigen „regulatory capture“30 steigt, wenn für die Bediensteten weit lukrativere Jobs in der regulierten Industrie winken; ein solches „Drehtürproblem“31 liegt nicht zuletzt bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht nahe. Ingesamt werden freilich die klassischen Capture-Theorien heute als eher unterkomplex angesehen; der Akzent liegt stärker auf der Konkurrenz verschiedener, freilich unterschiedlich durchsetzungsstarker Interessengruppen um Einfluss auf die Regulierungsinstanzen.32 2. Prinzipielle Möglichkeiten und Grenzen (unternehmens)interner Steuerung Ist der Staat als Eigentümer in den handelnden (Unternehmens-)Organen selbst vertreten, zumindest in einem Aufsichtsrat, hat er bessere Chancen, die Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und in ihrer Tragweite zu erfassen. Unbürokratischere interne Steuerungsmöglichkeiten, und seien sie auch mediatisiert durch das Aktienrecht oder bloß informeller Art, ermöglichen idealtypisch eine effektivere und passgenauere Durchsetzung von Gemeinwohlbelangen.33 Wie nicht zuletzt die Ökonomen gezeigt haben, ist die staatliche Erfüllungsverantwortung und der damit verknüpfte 30  Grundlegend in den USA Marver H. Bernstein, Regulating Business by Independent Commissions, 1955, S. 74 ff.; Samuel Huntington, The Measures of the ICC: The Commission, the Railroads and the Public Interest, Yale Law Journal 61 (1952), S. 467 ff.; Überblick m. w. N., auch zur Kritik an dieser Theorie als zu simplifizierend: Fehling (Fn. 29), S. 273 ff.; Günter Knieps, Netzökonomie, 2007, S. 185 ff. 31  Dazu eingehend Ross Eckert, The Life Cycle of Regulatory Commissioners, Journal of Law and Economics 24 (1981), S. 113 ff. 32  Zusammenfassend Günter Knieps (Fn. 30), S. 185 m. w. N. 33  Vgl. auch Burgi, der davon spricht, dass öffentliche Unternehmen „gleichsam systemimmanent über ein Regulierungspotential verfügen“, Martin Burgi, Verwalten durch öffentliche Unternehmen im europäischen Institutionenwettbewerb, in: VerwArch 93 (2002), S. 255 (275).



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Modus der internen Unternehmenssteuerung jedoch mit zwei fundamentalen Schwächen behaftet: Erstens hat auch die interne Steuerung mit Prinzipal-Agent-Problemen34 zu kämpfen; es ist – wie die Finanzkrise bei den Landesbanken gezeigt hat – keineswegs gesichert, dass das Führungspersonal der staatseigenen Unternehmen oder die Beamten der Staatsverwaltung tatsächlich die (Gemeinwohl-)Interessen der politischen Führung oder gar des Volkes verfolgen. Der Public Choice-Ansatz35 liefert dafür den – im Ansatz überzeugenden, wenn auch wohl etwas überzeichneten – theoretischen Hintergrund. Vor allem sind die auf der Eigentümerseite verantwortlichen Politiker gerade in Zeiten akuter Haushaltsnöte oftmals36 mehr am kurzfristigen fiskalischen Erfolg „ihres“ Unternehmens interessiert als an nachhaltiger Förderung des eigentlichen öffentlichen Unternehmenszwecks; bei einer ganz auf das finanzielle Unternehmensergebnis ausgerichteten Strategie kann dann auch das Management am ehesten mit Unterstützung und Belohnung aus der Politik rechnen.37 Zweitens droht die staatliche Unternehmenssteuerung an heterogenen 34  Kurzüberblick bei Ute Sacksofsky, Anreize, in: GVwR II (Fn. 8), § 40 Rn. 45 ff.; Richter / Furubotn (Fn. 17) S. 173 ff.; auf öffentliche Unternehmen bezogen z.  B. Gunther Engelhardt, Die ­Instrumentalthese in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion – Ansätze einer institutionenökonomischen Reinterpretation, in: ­Thiemeyer (Fn. 18), S. 39; Peter Eichhorn, New Governance bei öffentlichen Unternehmen, in: Jens Harms / Christoph Reichard (Hrsg.), Die Ökonomisierung des öffentlichen Sektors: Instrumente und Trends, 2003, S. 175 (176 ff.). 35  Überblick z. B. bei Nicholas Mercuro / Steven G. Medema, Economics and the Law, 2. Aufl. 2006, S. 156 ff.; zur Kontroverse vgl. etwa James M. Buchanan / Richard A. Musgrave, Public Finance and Public Choice, 2001. 36  Jedenfalls solange die Missstände bei der Aufgabenerfüllung des öffentlichen Unternehmens noch nicht so „sichtbar“ sind, dass sie – wie zuletzt bei der Deutschen Bahn und im Zuge der Finanzkrise bei den Landesbanken – öffentliche Empörung hervorrufen und die Verantwortlichen um ihre Widerwahl fürchten müssen. 37  Für kommunale öffentliche Unternehmen ähnlich Thomas Edeling, Rollenverständnis des Managements im kommunalen Unternehmen, in: Harms / Reichard (Fn. 34), S. 235 (249).

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Zielen zu scheitern.38 So hat der Spagat zwischen recht diffusen Gemeinwohlbelangen und betriebswirtschaftlichem Effi­ zienzinteresse, wie ihn § 28 des früheren BBahnG vorschrieb, wesentlich zum Schuldenstand der damaligen Bundesbahn beigetragen.39 3. Wechselseitige Ergänzung beider Steuerungsmodi und Ausgleich der jeweiligen Nachteile in einem Steuerungsmix Blickt man auf die Defizite sowohl externer Regulierung als auch interner Steuerung, so liegt ein Mischmodell nahe, in dem der eine Steuerungsmodus die Defizite des jeweils anderen weitestmöglich aufzufangen hat.40 Der interne (gesellschaftsrechtliche) Einfluss des Staates auf seine öffentlichen Unternehmen erscheint in diesem Modell weniger als Wettbewerbsverzerrung denn als Erweiterung der Steuerungsoptionen zur Implementierung von Infrastruktur-Gemeinwohlbelan­ gen in Wettbewerbsprozesse. Womöglich sind so die unhintergehbaren Wissensdefizite, welche jeglicher externen staat­lichen Regulierung anhaften, ein Stück weit kompensierbar. Öffentliche Unternehmen können dabei bewusst als gesetz­liche Universaldienstleister mit besonderen Versorgungspflichten belegt werden. So lassen sich vermehrt die Spielräume der AltmarkTrans-Rechtsprechung41 nutzen, wonach Sonderlasten durch 38  Schneider (Fn. 24), S. 1252; Johannes Masing, Die Verfolgung öffentlicher Interessen durch Teilnahme des Staates am Wirtschaftsverkehr, EuGRZ 2004, S. 395 (402); für den Bankensektor Müller (Fn. 21), S. 226 ff. 39  Dazu rückblickend Eva Menges, Die Rechtsgrundlagen für die w.  N.; Strukturreformen der Deutschen Bahnen, 1998, S. 83 ff. m.  Fehling, in: ders. / Ruffert (Fn. 5), § 10 Rn. 50. 40  Hierzu und zum Folgenden Michael Fehling / Matthias Ruffert, Perspektiven, in: dies. (Hrsg.) (Fn. 5), § 23 Rn. 22 ff. 41  EuGH, Urteil v. 24.07.2003, Rs. C-280  / 00 („Altmark Trans“), Rn. 88 f.; dazu Jürgen Kühling / Lorenz Wachinger, Das AltmarkTrans-Urteil des EuGH – Weichenstellung für oder Bremse gegen mehr Wettbewerb im deutschen ÖPNV?, NVwZ 2003, S. 1202 ff.;



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korrespondierende Sonderrechte ausgeglichen werden können. Demgegenüber haben unabhängige (nationale) Regulierungsbehörden im Verbund mit der europäischen Kommission darüber zu wachen, dass keine wettbewerbsverzerrende Überkompensation stattfindet, dass also die interne Steuerung nicht zur Bevorzugung der staatseigenen Player missbraucht wird. Wettbewerbsstrukturen können auch in diesem Modell Innovationen fördern42 und einen in Grenzen durchaus heilsamen Effizienzdruck auch auf die staatlichen Unternehmen entfalten. Wo Versorgungsleistungen zur Wettbewerbsförderung ausgeschrieben werden, können Tarifbindungen und weitere Vorgaben externer Regulierung dafür sorgen, dass der vielgerühmte Wettbewerb als Entdeckungsverfahren nicht zu einem Wettbewerb um die schlechtesten Lohn- und Arbeitsbedingungen verkommt.43 Andererseits schafft die Möglichkeit zur In-House-Vergabe oder – mit den Worten der Verordnung über öffentliche Personenverkehrsdienste (EG) Nr. 1370 / 200744 – der Vergabe an einen internen Betreiber auch insoweit die Möglichkeit der staatlichen Eigenvornahme.45 Einfach ist die Organisation eines solchen Zusammenspiels von externer Regulierung und interner Steuerung freilich nicht. Denn es besteht das Risiko, dass in diesem SteuerungsClaudio Franzius, Auf dem Weg zu mehr Wettbewerb im ÖPNV – Zum Altmark Trans Urteil des EuGH, NJW 2003, S. 3029 ff. 42  Vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, Innovationssteuerung durch die Verwaltung: Rahmenbedingungen und Beispiele, Die Verwaltung 33 (2000), S. 155 (175). 43  Fehling, in: ders. / Ruffert (Fn. 5), § 10 Rn. 31 u. § 20 Rn. 40 ff. 44  Vom 23.10.2007, ABl. 2007 Nr. L 315 S. 1. 45  Im Überblick Fehling, in: ders. / Ruffert (Fn. 5), § 10 Rn. 40. Näher zur In-House-Vergabe im Vergaberecht Bernhard Wegener, in: Hermann Pünder / Martin Schellenberg (Hrsg.), Vergaberecht, 2011, § 99 GWB Rn. 10 ff.; Matthias Ganske, in: Olaf Reidt / Thomas Stickler / Heike Glahs (Hrsg.), Vergaberecht, Kommentar, 3. Aufl. 2011, § 99 Rn. 50 ff.; zur Vergabe an einen internen Betreiber im ÖPNV Hermann Pünder, in: Marcel Kaufmann / Thomas Lübbig / Hans-Joachim Prieß / Hermann Pünder (Hrsg.), VO (EG) 1370 / 2007, Kommentar, 2010, Art. 5 Rn. 62 ff.; Matthias Knauff, Möglichkeiten der Direktvergabe im ÖPNV (Schiene und Straße), NZBau 2012, S. 65 ff.

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mix nicht die jeweiligen Nachteile wechselseitig ausgeglichen, sondern umgekehrt gegenseitig verstärkt werden. Die entscheidende Herausforderung liegt deshalb darin, beide Steuerungsmodi intelligent zu verzahnen. Sie dürfen nicht einfach nebeneinander herlaufen. Bevor ich dies anhand von Beispielen aus dem Eisenbahn- und Straßeninfrastrukturbereich ein Stück weit zu verdeutlichen versuche, möchte ich mich aber einer rechtlichen Bestandsaufnahme zuwenden. III. Rechtslage Der skizzierte Steuerungsmix ist, wie sogleich auszuführen sein wird, bei der Eisenbahn bereits verfassungsrechtlich vorgezeichnet. Im Übrigen ist er jedenfalls durch das Grundgesetz und Unionsrecht zugelassen. Die Neutralität unserer Wirtschaftsverfassung,46 die es gegenüber einer allein auf die Abwehrfunktion der Wirtschaftsgrundrechte fixierten Sichtweise47 zu verteidigen gilt, ermöglicht vielfältige Gestaltungen. Im Unionsrecht schreibt Art. 345 AEUV die Neutralität des europäischen Regulierungsrahmens gegenüber der mitgliedsstaatlichen Eigentumsordnung fest.48 Darüber hinaus ist die 46  Grundlegend BVerfGE 4, 77 – Investitionshilfegesetz; E 50, 290 ff. – Mitbestimmung; Überblick m. w. N. bei Reimer Schmidt, Staatliche Verantwortung für die Wirtschaft, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, 3. Aufl. 2006, § 92 Rn. 24 ff., der dort freilich am Ende (Rn. 27) doch ein m. E. zu weitgehendes Regel-Ausnahmeverhältnis zugunsten des „freien Marktes“ annimmt. 47  Diese herrscht vor z. B. bei Matthias Ruffert, Zur Leistungsfähigkeit der Wirtschaftsverfassung, AöR 134 (2009), S. 197 (221 f.). 48  Für ein solches Verständnis von Art. 345 AEUV Michael Fehling, Problems of Cross Subsidisation, in: Markus Krajewski / Ulla Neergaard  /  Johann van de Gronden (Hrsg.), The Changing Legal Framework for Services of General Interest in Europe, 2009, S. 129 (130); vor dem historischen Hintergrund des Kompromisscharakters der Vorschrift zwischen den verschiedenen wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Mitgliedstaaten näher Günter Burghardt, Die Eigentumsordnung der Mitgliedstaaten und der EWG-Vertrag, 1969, S. 28 ff. Dies wird im Grundsatz auch von den europäischen Gerich-



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Wettbewerbsorientierung der Unionsverträge in einen durchaus heterogenen Zielekatalog eingebunden (vgl. insbesondere Art. 3 EU und Art. 9 AEUV), so dass sich auch der europäischen Wirtschaftsverfassung kaum mehr als ein Verbot einer abgeschotteten Planwirtschaft entnehmen lässt.49 Auf Ebene des einfachen Rechts finden sich für den Bankensektor nicht zuletzt in den Sparkassengesetzen Leitlinien für unternehmensinterne Steuerung.50 Dabei wäre freilich die Aufgabenbeschreibung zu präzisieren, es wären damit unvereinbare Finanzgeschäfte klarer auszugrenzen und es müssten Grundmechanismen unternehmensinterner Durchsetzung nebst Haftungsregelungen normiert werden. Dies kann hier nicht vertieft werden. Der Schwerpunkt liegt im Folgenden auf den Regelungen im Verkehrsbereich. 1. Eisenbahn a) Gesellschaftsrechtliche interne Steuerung Für die Bahn enthält Art. 87e Abs. 3 GG sowohl ein Gebot zur formellen Privatisierung (Form eines Wirtschaftsunternehmens) als auch eine Privatisierungsschranke: Der Bund muss die Mehrheit der Anteile am Infrastrukturunternehmen behalten. Diese Regelung macht nur Sinn, wenn die Beteiligung des ten anerkannt, die freilich betonen, dass Art. 345 AEUV die Auslegung der anderen Vertragsbestimmungen nicht beeinflusse: EuG, Urteil v. 05.08.2003, Rs. T-116  /  01 u. T-118  /  01 („P&O European Ferries [Vizcaya] u. Diputación Foral de Vizcaya“), Rn. 61; EuG, Urteil v. 06.03.2003, Rs. T-228 / 99 u. T-233 / 99 („WestLB“) Rn. 194.; siehe auch Storr (Fn. 5), S. 301 f. 49  Treffend Franzius (Fn. 1), S. 373 ff., insbes. S. 374 m. w. N. auch zur Gegenauffassung; ähnlich Michael Ronellenfitsch, Wirtschaftliche Betätigung des Staates, in: Josef Isensee  /  Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, 3. Aufl. 2006, § 98 Rn. 33; Armin Hatje, Wirtschaftsverfassung im Binnenmarkt, in: Armin von Bogdandy / Jürgen Bast (Hrsg.), Europäi­ sches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 801 (842 ff.). 50  Näher Müller (Fn. 21), S. 208 ff.

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Staates nicht auf eine bloß fiskalische Funktion reduziert, sondern als Garant der Wahrnehmung der staatlichen Gewährleistungsverantwortung für die Eisenbahninfrastruktur (Art. 87e Abs. 4 GG) verstanden wird. Die InfrastrukturPrivatisie­rungs­schranke impliziert damit nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht des Bundes, seinen gesellschaftsinternen Einfluss zur gemeinwohlorientierten Steuerung zu nutzen. Wie und in welchem Umfang dies geschieht, ist freilich nicht vorgegeben; hier bestehen wie üblich breite politische Gestaltungsspielräume.51 Für die Verkehrssparten der Eisenbahnen des Bundes fehlt eine solche Privatisierungsschranke. Daraus kann jedoch nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass der Bund sein Unternehmenseigentum insoweit nicht zu interner Steuerung nutzen dürfe. Wenn dem Staat verfassungsrechtlich weiterhin die Möglichkeit offen steht, selbst als (Allein-)Eigentümer eines Bahnunternehmens aufzutreten, so gehen damit not­ wendig auch gesellschaftsinterne Einflussmöglichkeiten einher. Manche behaupten freilich, diese aktienrechtlichen Steuerungsmöglichkeiten dürften nur zur Gewinnmaximierung im betriebswirtschaftlichen Sinne benutzt werden.52 Dagegen spricht jedoch, dass ein privater Eigentümer in seinen Absichten frei ist und durchaus auch außerökonomische Zwecke verfolgen darf, solange er sich dies ökonomisch leisten kann.53 Dies zeigt sich nicht nur an gemeinnützigen Unternehmen, sondern findet Beispiele auch im grundsätzlich gewinnorientierten Sektor; man denke nur an die Tageszeitung „Die 51  So schon Michael Fehling, Zur Bahnreform, DÖV 2002, S. 793 (796); Joachim Wieland, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 87e Rn. 14; Möstl, in: Maunz / Dürig (Fn. 11), Art. 87e Rn. 114 ff. 52  Hubertus Gersdorf, in: Hermann von Mangoldt  /  Friedrich Klein  /  Christian Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 87e Rn. 47; Menges (Fn. 39), S. 169 ff. 53  Prägnant dazu Ferdinand Kirchhof, Anhörung zu BT-Drs. 16 / 4413 „Verfassungskonformität der Bahnprivatisierung sicherstellen“, Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Wortprotokoll Nr.  16 / 40, S.  59.



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Welt“, die dem Springer-Konzern jahrelang Verluste gebracht hatte. Allerdings wird man der gesellschaftsinternen Steuerung des Bundes bei seinen Eisenbahnen in historisch-genetischer Auslegung des Art. 87e Abs. 3 GG eine äußerste Grenze setzen müssen: Um eine Situation wie bei der alten Bundesbahn zu vermeiden und der Ausrichtung als „Wirtschaftsunternehmen“ Rechnung zu tragen, dürfen die unternehmensinternen Steuerungsmöglichkeiten nicht dazu führen, dass die Bahn erneut strukturell in die Verlustzone gedrängt wird. Staatszuschüsse sollen vielmehr transparent – und damit auch den Vorgaben der Altmark-Trans-Rechtsprechung54 folgend – für die Infrastruktur allein über die Steuerungsmechanismen des Schienenwegeausbaugesetzes und für die Dienste über die noch näher zu behandelnde Vergabe gemeinwirtschaftlicher Verkehrsleistungen abgewickelt werden. Dies schließt eine Einflussnahme in den Unternehmensorganen der Bahn AG dahingehend, dass eine unternehmensinterne Quersubvention zwischen der Bedienung gewinnträchtiger und verlustbringender Strecken erfolgt, jedoch nicht aus.55 Ebenso wenig ist es dem Bund als Eigentümer verboten, bei den zu verwirklichenden BahnIn­frastrukturprojekten Prioritäten zu setzen – hier denkt man heutzutage unwillkürlich an die Frage, ob ein Großprojekt wie „Stuttgart 21“ wirklich gegenüber einem Ausbau des Netzes in der Fläche den Vorzug verdient. b) Externe Regulierung durch Bundesnetzagentur und Eisenbahnbundesamt Die externe Regulierung ist demgegenüber einfachgesetzlich im Allgemeinen Eisenbahngesetz (AEG) verankert. Neben Gefahrenabwehr geht es darin vor allem um die Etablierung 54  Nachweis

oben Fn. 41. Ganzen Fehling, in: ders.  /  Ruffert (Fn. 5), § 10 Rn. 50; Möstl, in: Maunz / Dürig (Fn. 11), Art. 87e Rn. 80 ff.; Sarah Wilkens, Wettbewerbsprinzip und Gemeinwohlorientierung bei der Erbringung von Eisenbahndienstleistungen, 2006, S. 126 ff. 55  Zum

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chancengleichen Wettbewerbs durch Netzzugangsregulierung (§§ 14 ff. AEG). Für die hier im Vordergrund stehende Frage der staatlichen Infrastrukturgewährleistung findet sich zwar eine Betriebspflicht (vgl. §§ 2 Abs. 3a, 4 Abs. 1 AEG), doch behält der Netzbetreiber die Möglichkeit, Strecken stillzulegen. Die Restriktionen für Streckenstilllegungen nach § 11 AEG bleiben schwach. Sie erreichen nicht die Direktionskraft der Universaldienstverpflichtungen, wie sie in den Bereichen Post und Telekommunikation (dort primär auf die Dienste und nicht auf die Infrastruktur bezogen) gesetzlich geregelt und bereits verfassungsrechtlich (Art. 87f Abs. 1 GG), ja sogar in EU-Richtlinien vorgezeichnet sind.56 Die Schwächen der Gewährleistungsregelungen für die Eisenbahninfrastruktur lassen sich allenfalls damit rechtfertigen – und dies bestätigt meine Grundthese –, dass die externe Regulierung bei der Bahn eben nicht alleine steht, sondern durch ergänzende Einflusskanäle interner Steuerung ergänzt werden kann und muss, um ein hinreichendes Gewährleistungsniveau sicherzustellen. Blickt man auf das Verkehrsangebot, so steht neben Beförderungs- und Tarifpflichten (§§ 10, 12 AEG) als Gewährleistungsinstrument vor allem die Ausschreibung defizitärer, sogenannter gemeinwirtschaftlicher Verkehrsleistungen nach § 15 Abs. 2 AEG i. V. m. der neuen VO (EG) Nr. 1370 / 200757 zur Verfügung. Auch auf dieser Ebene ist jedoch gesetzlich ein Nebeneinander von externer Steuerung durch Ausschreibungswettbewerb und interner Steuerung durch eigene Unternehmen angelegt. Zwar ist eine hoheitliche Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen, wie noch in § 15 Abs. 1 AEG vorgesehen, nach dieser neuen EG-VO nur noch in Not- und anderen eng umgrenzten Ausnahmefällen zulässig. 56  Zum Ganzen Michael Fehling, Grundfragen des öffentlichen Nahverkehrs auf der Schiene, in: Michael Rodi (Hrsg.), Die Zukunft des öffentlichen Personennahverkehrs, 2009, S. 139 (144 ff.); Fehling, in: ders. / Ruffert (Fn. 5), § 10 Rn. 44. 57  Zur Notwendigkeit der Anpassung des § 15 Abs. 2 AEG durch Verweis auf die neue VO 1370 / 2007 siehe Michael Fehling, in: Kaufmann u. a. (Fn. 45), Einleitung Rn. 102 f.



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Doch gibt Art. 5 Abs. 2 bzw. Abs. 6 VO (EG) Nr. 1370 / 2007 in weitem Umfang die Möglichkeit auch der Direktvergabe an interne oder bei der Eisenbahn sogar an sonstige (staatliche) Betreiber.58 Der öffentlichen Hand stehen dementsprechend zwei Optionen offen: Sie kann an ein privates Eisenbahnverkehrsunternehmen im Ausschreibungswettbewerb einen Auftrag oder eine Konzession vergeben und dann nur noch extern, nämlich über den abzuschließenden Verkehrsvertrag, regulieren. Stattdessen kann sie aber – jedenfalls bei Dienstleistungskonzessionen – auch ein eigenes kommunales Unternehmen bzw. die Deutsche Bahn AG beauftragen, wodurch die Möglichkeiten unternehmensinterner Steuerung ergänzend zur externen Steuerung über den auch dann abzuschließenden Verkehrsvertrag eröffnet werden.59 2. Straße Im Gegensatz zur Schiene steht hier weniger der Zugang konkurrierender Unternehmen zur Infrastruktur im Vordergrund; die Benutzung der Straßen durch Verkehrsteilnehmer aller Art verursacht keine nennenswerten Regulierungsprobleme. Stattdessen liegt der Fokus verstärkt auf dem Straßenbau und dessen Finanzierung; unter anderen Vorzeichen findet sich auch insoweit ein Steuerungsmix von staatlicher Leistungsverbringung und staatlich regulierter Aufgabenerfüllung durch Private. 58  Zur In-House-Vergabe bzw. der Vergabe an einen internen Betreiber Nachweise oben in Fn. 45. Die Spielräume für eine sonstige Direktvergabe werden freilich deutlich geringer, wenn keine Dienstleistungskonzession, sondern ein dem Kartellvergaberecht (§§ 97 ff. GwB i. V. m. § 4 Abs. 3 Nr. 2 VgV) unterfallender Dienstleistungsauftrag vorliegt; dazu BGH, NZ Bau 2011, 175 ff. – Abellio Rail; zu Kritik und Konsequenzen Michael Fehling, in: Georg Hermes / Dieter Sellner, Beck’scher AEG-Kommentar, 2. Aufl. (Erscheinen in Vorbereitung), § 15 Rn. 56 ff. 59  Zum Ganzen im Überblick Fehling, in: ders.  / Ruffert (Fn. 5), § 10 Rn. 39 f. m. w. N.

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Bei defizitären öffentlichen (Bus-)Verkehrsdiensten auf der Straße wird die VO (EG) Nr. 1370 / 2007 ähnliche Vergabestrukturen bringen, wie sie soeben für den ohne Staatszuschüsse meist ebenfalls nicht rentablen Schienenpersonennahverkehr beschrieben wurden.60 Zur Vermeidung von Wiederholungen wird dieser Aspekt im Folgenden ausgeblendet. a) Verwaltungsmäßige Bereitstellung als Regelfall Für die Straße fällt der textliche Befund im Vergleich zur Schiene magerer aus. Art. 90 GG geht für die Bundesstraßen und auch für die Straßen der unteren Ebenen ersichtlich von einer verwaltungsmäßigen Bewirtschaftung aus. Eine starre Schranke für funktionale Privatisierung lässt sich daraus jedoch nicht herleiten.61 Die Vorschrift betrifft nämlich die ­ Eigentümerrechte und -pflichten in der föderalen Kom­pe­tenz­ verteilung;62 wie Bund und Länder ihre Straßen „managen“, ist damit nicht vorgegeben. Historisch konnte sich der Verfassungsgeber den privaten Bau und Betrieb öffentlicher Straßen wohl nicht (mehr) vorstellen. Dies führt jedoch nicht zu einem vollständigen Privatisierungsverbot; im Zweifel ist die Verfassung als bloße Rahmenordnung zugunsten politischer Gestal60  Überblick bei Michael Fehling / Katja Niehnus, Der europäische Fahrplan für einen kontrollierten Ausschreibungswettbewerb im ÖPNV, DÖV 2008, S. 662 ff.; ein Unterschied besteht in erster Linie in den erweiterten Möglichkeiten einer Direktvergabe im Eisenbahnverkehr, dazu zuletzt Hermann Pünder, Die Vergabe von Dienstleistungsaufträgen im Eisenbahnverkehr, EuR 2010, S. 774 ff.; in vergleichender Perspektive Fehling, in: ders. / Ruffert (Fn. 5), § 10 Rn. 37 ff. 61  Robert Uerpmann-Wittzack, Verkehr, in: Isensee  /  Kirchhof (Fn. 49), § 89 Rn. 35 u. 37; Richard Bartlsperger, Das Fernstraßen­ wesen in seiner verfassungsrechtlichen Konstituierung, Staatsaufgabe und Objekt funktionaler Privatisierung, 2006, insbes. S. 240; Susanne Schmitt, Bau, Erhaltung, Betrieb und Finanzierung von Bundesfernstraßen durch Private nach dem FStPrivFinG, 1999, S. 245 ff. Verboten ist dagegen eine materielle Privatisierung, siehe Martin Ibler, in: Mangoldt u. a. (Fn. 52), Art. 90 Rn. 40. 62  Georg Hermes, in: Horst Dreier, GG-Kommentar, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 90 Rn. 7.



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tungsspielräume auszulegen.63 Daher bleibt es auch für die Straßen-Infrastruktur bei einer bloßen staatlichen Gewährleistungsverantwortung (hier unter Heranziehung des Sozialstaatsprinzips, Art. 20 Abs. 1 GG).64 Inwieweit der Staat zur Erreichung des notwendigen Versorgungs- und Gewährleistungsniveaus selbst die Erfüllungsverantwortung übernimmt oder sich privater Betreiber bedient und diese extern reguliert, ist der politischen Entscheidung überantwortet. Die Unentgeltlichkeit der Straßennutzung ist sogar beim Gemeingebrauch jedenfalls für den motorisierten Verkehr verfassungsrechtlich nicht garantiert.65 Damit bleibt auch wirtschaftlich das Tor für Betreibermodelle mit Refinanzierung durch Straßenbenutzungsgebühren offen. b) Externe Regulierung über Kooperationsverträge in Betreibermodellen Bereits seit 1994 ist im Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz ein solches Betreibermodell geregelt. Danach können der Bau, die Erhaltung, der Betrieb und die Finanzierung von Bundesfernstraßen Privaten zur Ausführung übertragen werden (§ 1 Abs. 2 FStrPrivFinG). Sie unterstehen der Aufsicht der obersten Landesstraßenbaubehörde (§  2 Abs.  1 S.  6 63  Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Methoden der Verfassungs­ interpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, NJW 1976, S. 2089 (2091); ders., Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: Norbert Achterberg / Werner Krawietz / Dieter Wyduckel (Hrsg.), Recht und Staat im sozialen Wandel – Festschrift für Hans Ulrich Scupin zum 80. Geburtstag, S. 317 (326 f.); Peter Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. 2010, S. 25. 64  Georg Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998, S. 188 ff. u. 323 ff., insbes. S. 382; Bartlsperger (Fn. 61), S. 183 ff.; missverständlich von Erfüllungsverantwortung für das Fernstraßennetz spricht Uerpmann-Wittzack, in: HStR IV (Fn. 61), § 89 Rn. 5, obwohl er die Möglichkeit funktionaler Privatisierung anerkennt (a. a. O. Rn. 8, 35 u. 37). 65  Ulrich Stahlhut, in: Kurt Kodal (Begr.), Straßenrecht, 7. Aufl. 2010, Kap. 25 Rn. 23; Uerpmann-Wittzack, in: HStR IV (Fn. 61), § 89 Rn. 16.

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FStrPrivFinG) bzw., soweit es um die Beschilderung der Straße geht, der Aufsicht der Straßenverkehrsbehörde (§ 2 Abs. 5 S. 4 FStrPrivFinG). Im Gegenzug dürfen die Privaten Mautgebühren erheben. Dieses sogenannte F-Modell wird indes kaum angewandt.66 Größere praktische Bedeutung hat das gesetzlich nicht ausdrücklich geregelte A-Modell. Dabei werden Private mit der Erweiterung bestehender Autobahnen um zusätzliche Fahrstreifen und mit dem Betrieb der erweiterten Streckenabschnitte beauftragt. Dafür erhalten sie die Ein­ nahmen des Bundes aus der auf dem Streckenabschnitt an­ fallenden LKW-Maut und gegebenenfalls eine staatliche Anschubfinanzierung.67 Staatliche Aufsichts- und Kontrollrechte müssen vertraglich geregelt werden,68 ähnlich wie bei den ­ 66  Nur der Warnowtunnel bei Rostock und der Herrentunnel in Lübeck werden nach dem F-Modell betrieben. Grund für die geringe praktische Relevanz des F-Modells ist die enge Mautgebühren­ regelung in § 3 Abs. 1. Diese geht zurück auf Art. 7 Abs. 3 der RL 1999 / 62 / EG, wonach für die Benutzung ein und desselben Straßenabschnitts für eine bestimmte Fahrzeugklasse nicht gleichzeitig streckenbezogene Mautgebühren und zeitbezogene Benutzungs­gebüh­ren erhoben werden dürfen. Nach dem FStrPrivFinG können Mautgebühren nur für die Benutzung von Brücken, Tunneln und Gebirgspässen sowie von autobahnähnlichen Bundesstraßen erhoben werden. Der Bau regulärer Autobahnen nach dem F-Modell ist somit zumindest nach geltender Gesetzeslage nicht möglich. Siehe dazu Erik Gawel, Verkehrsinfrastrukturfinanzierung nach dem Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz (FStrPriFinG) – Stand und Perspektiven (Teil 1), IR 2011, S. 4 (5) und zu den aktuellen Rahmenbedingungen nach der Novelle von 2005 Teil 2, IR 2011, S. 29 ff. Inwieweit eine Änderung des FStrPrivFinG insoweit europarechtlich zulässig wäre, um einem privaten Betreiber die Gebührenerhebung auch neben dem Toll-Collect-System zu ermöglichen, ist noch nicht geklärt. 67  Zum Ganzen Überblick bei Jan Byok / Nicola Jansen, Durchbruch für das A-Modell im Fernstraßenausbau?, NZBau 2005, S. 241 ff.; Schmitt (Fn. 61), S. 53 ff. u. 143 ff.; Tatjana Tegtbauer, in: Kodal (Fn. 65), Kap. 17 Rn. 36.1 ff.; Rudolf Steinberg, Staatliche Gewährleistungen bei privatisierten Verkehrswegeplanungen, in: Wolfgang Hoffmann-Riem / Jens-Peter Schneider (Hrsg.), Verfahrensprivatisierung im Umweltrecht, 1996, S. 116 ff.; aus verfassungsrechtlicher Perspektive Uerpmann-Wittzack, in: HStR IV (Fn. 61), § 89 Rn. 36 f. 68  Vgl. Schmitt (Fn. 61), S. 144 ff.



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Dienstleistungsaufträgen im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). IV. Konsequenzen und Reformperspektiven Was wäre nun zu tun, um die Mechanismen interner Steuerung mit denen externer Regulierung besser zu verzahnen? 1. Stärkung der externen Regulierung bei Teilprivatisierung Um ein hinreichendes Gewährleistungsniveau zu sichern, müssen bei den internen Steuerungsmöglichkeiten zu verzeichnende Einbußen, wie sie mit Teilprivatisierungen verbunden sind, durch verstärkte externe Regulierung kompensiert werden.69 Bei der Bahn bietet das Allgemeine Eisenbahngesetz nur äußerst eingeschränkten Schutz gegen einen Rückzug aus der Fläche. Selbst gegen Entschädigung kann die Streckenstill­ legung nach § 11 Abs. 2 u. 5 AEG nämlich nur aufgeschoben, aber nicht dauerhaft verhindert werden.70 Dies ist bereits derzeit misslich, verfassungsrechtlich aber noch hinnehmbar, solange der Bund als Alleineigentümer auf die Entscheidungen der Deutschen Bahn intern Einfluss nehmen kann. Käme es indes, wie es das ursprüngliche Tiefensee-Konzept vorsah, zu einer Teilprivatisierung auch der Bahninfrastruktur, so müsste als Ersatz für wegfallende oder jedenfalls eingeschränkte interne Steuerungsmöglichkeiten die externe Regulierung mit Vorsorge gegen Streckenstilllegungen erweitert werden. Es wäre 69  Michael Fehling, Das Recht der Eisenbahnregulierung, in: Jörn Lüdemann u.  a. (Hrsg.), Telekommunikation, Energie, Eisenbahn: Welche Regulierung brauchen die Netzwirtschaften, 2008, S. 118 (142 ff.). 70  Zur Auslegung im Einzelnen Georg Hermes / Peter Schütz, in: Georg Hermes / Dieter Sellner (Hrsg.), Beckscher AEG-Kommentar, 2006, § 11 Rn. 68 ff.; zum Problem der illegalen Stilllegung auf „kaltem Wege“ durch Vernachlässigung von Schienen und Serviceeinrichtungen mit der Folge mangelnder Betriebssicherheit BVerwG, DVBl 2008, S. 380 ff. m. Anm. Urs Kramer, a. a. O. S.  383  ff.

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eine Ermächtigung für die Anordnung zu schaffen, dass eine Strecke gegebenenfalls auch dauerhaft gegen Entschädigung betriebsbereit zu halten ist. Die Entschädigungsregelungen wären so zu gestalten, dass eine gewisse Quersubventionierung innerhalb des Bahnunternehmens als zumutbar eingerechnet wird.71 Bei den Verkehrsdienstleistungen bietet § 15 Abs. 2 AEG zwar schon heute die Möglichkeit, Verkehre, die sich betriebswirtschaftlich nicht mehr rentieren, im Wege des Bestellerprinzips einzukaufen.72 Ist eine Strecke indes stillgelegt und gar nicht mehr befahrbar, läuft diese Möglichkeit leer. Ein echtes Universaldienstmodell wie bei Post oder Telekommunikation (wo freilich die praktische Bewährungsprobe noch aussteht) lässt sich auf den Eisenbahnsektor nicht ohne weiteres übertragen, weil zumindest derzeit kaum ein Wettbewerber der Deutschen Bahn über einen entsprechenden MindestMarktanteil73 verfügt,74 um in einen Universaldienstfonds 71  Zum Ganzen Michael Fehling, in: Jürgen Basedow  / Hubertus Gersdorf  /  ders., Die Privatisierung der Deutschen Bahn (Streitgespräch), Bucerius Law Journal 2008, S. 95 (100 u. 105) (unter http: /  /  www.law-journal.de / fileadmin / user_upload / PDF / BLJ_Ausgabe_ 2008_02.pdf). 72  Zu den teilweise umstrittenen Auslegungsfragen Stephan Gerstner, in: Beck’scher AEG-Kommentar (Fn. 70), § 15 Rn. 33 ff.; zur notwendigen Koordinierung mit der VO (EG) 1370 / 2007 (insbes. Art. 5 Abs. 6) siehe oben Fn. 57. 73  Vgl. § 83 Abs. 1 i. V. m. § 80 TKG: 4% des Gesamtumsatzes im sachlich relevanten Bereich; vgl. auch § 16 PostG: Mehr als 500.000 EUR Umsatz im Kalenderjahr im Lizenzbereich. Diese Einschränkung des Kreises der Verpflichteten soll gewährleisten, dass eine hinreichend homogene (vergleichbar marktmächtige) Gruppe in Anspruch genommen wird, denn nur eine solche darf verfassungsrechtlich einer Sonderabgabenpflicht unterworfen werden, vgl. Matthias Cornils, in: Beck’scher TKG Kommentar, 3. Aufl. 2006, § 80 Rn. 5; Thomas v. Danwitz, in: Beck’scher PostG Kommentar, 2. Aufl. 2004, § 16 Rn. 31. 74  Im Schienenpersonenfernverkehr hat die Bahn weiterhin 99 Prozent der Marktanteile inne, einziger Wettbewerber ist derzeit das Unternehmen Veolia Verkehr GmbH (bis 2006 „Connex Verkehr GmbH“), das mit seiner Marke „InterConnex“ Fernverkehrszüge von



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einzahlen zu können. Stattdessen läge es näher, die DB AG als gänzlich marktbeherrschendes Unternehmen gleichsam als „geborenen Universaldienstleister“ gegen staatlichen finanziellen Ausgleich in die Pflicht zu nehmen, ähnlich dem Grundversorgungsmodell des EnWG.75 Bei einer Teilprivatisierung noch schwieriger zu bewältigen wären die sich weiter verschärfenden Informationsasymmetrien76 zwischen Bahnunternehmen und Aufsichtsbehörden. Eine staatliche Regulierungsbehörde kann sich nur schwer ein Bild vom tatsächlichen Funktionieren des Bahnbetriebs in der Fläche machen, verfügt nicht ohne weiteres über Informationen, wo es durch Schwächen der Infrastruktur oder ineffizienter Betriebsabläufe zu Engpässen und Verspätungen o. Ä. kommt. Hier könnte allenfalls ein effektives Kunden-Beschwer­ de­ management partiell Abhilfe schaffen. So ließen sich die Erfahrungen der Bahnkunden zur regulierungsbehördlichen Durch­setzung der gesetzlichen und vertraglichen Pflichten der Deutschen Bahn (und gegebenenfalls auch ihrer Konkurrenten) mobilisieren.77 Derzeit könnte und müsste der Bund als Leipzig über Berlin nach Rostock anbietet. Im Schienenpersonennahverkehr werden dagegen bereits zwölf Prozent der Verkehrsleistung von privaten Wettbewerbern erbracht (vgl. den Jahresbericht 2009 der Bundesnetzagentur, S. 203). Den größten Marktanteil haben hier nach der Deutschen Bahn AG die Arriva PLC, deren deutsches Geschäft im Dezember 2010 die italienische Staatsbahn „Trenitalia“ erworben hat (mit rund fünf Prozent vgl. http: /  / www.abendblatt.de / wirt schaft / article1596800 / Arriva-hat-im-Regionalverkehr-fuenf-ProzentMarktanteil.html), und die BeNEX GmbH (die ihren Marktanteil selbst auf sechs Prozent beziffert, vgl. die Presse-Information vom 21.04.2010, abrufbar unter http: /  / www.benex.de / upload / dokumente /  PI_Bilanzpressekonferenz_21042010_fin.pdf). 75  Siehe erneut Fehling, in: Basedow / Gersdorf / ders. (Fn.  71), S. 106, gegen Hubertus Gersdorf, a. a. O., S.  105; Fehling, in: ders. /  Ruffert (Fn. 5), § 10 Rn. 14 und § 20 Rn. 53. 76  Zu den Wissensdefiziten staatlicher Regulierung infolge von strukturellen Informationsasymmetrien siehe oben Fn. 26; vgl. auch schon Voßkuhle (Fn. 1), S. 308. 77  Vgl. allgemeiner Johannes Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997, S. 218 ff.

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Bahneigentümer auf ein solches effizienteres Beschwerdemanagement im DB-Konzern drängen. Bei einem Börsengang der DB AG fielen diese Einflussmöglichkeiten teilweise weg, so dass es zur Aufgabe der Regulierungsbehörden würde, ein solches Kunden-Beschwer­ desystem via Internet zu etablieren.78 Die externe Regulierung darf sich, soll sie effektiv bleiben, nicht allein von den Auskünften der regulierten Unternehmen abhängig machen. Bei privaten Betreibermodellen im Straßenbau und der Straßenbewirtschaftung muss der entsprechenden Vertragsgestaltung besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Überlegungen zur Ergänzung des Verwaltungsvertragsrechts um einen neuen Typus des Kooperationsvertrags (in einem neuen § 56a VwVfG)79 gehen in die richtige Richtung, wären aber durch eine Kautelar-Jurisprudenz zu ergänzen. Namentlich Regelungen zur Anpassung solch komplexer Langzeitverträge an sich ändernde Verhältnisse bilden eine große Herausforderung für die Vertragsgestaltung.80 Der Schutz von Betriebsund Geschäftsgeheimnissen des Betreibers rechtfertigt keine absolute Geheimhaltung des Vertragsinhaltes gegenüber dem Parlament, wie dies bei Betreibermodellen aller Art bislang üblich ist.81 Vielmehr müssen im Vertrag adäquate Kontroll78  Erste Überlegungen bei Michael Fehling, Staatliche Geschäftsmodelle und (gewalten-)übergreifende Systemlösungen im E-Gov­ ernment, in: Hermann Hill / Utz Schließky (Hrsg.), Herausforderung E-Government, 2009, S. 167 (191 f.). 79  Dazu die Gutachten von Gunnar Folke Schuppert und Jan Ziekow, veröffentlicht in Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verwaltungskooperationsrecht (Public Private Partnership), 2001, S. 124 ff.; Tonio Gas, Die gesetzliche Normierung des öffentlichprivaten Kooperationsvertrags, DV 45 (2012), S. 43 ff. 80  Andeutungen bei Fehling, in: Rodi (Fn. 56), S. 154 f.; Martin Kment, Die Einbindung Privater in die Verwirklichung von Infrastrukturprojekten, VerwArch 103 (2012), S. 63 (72, zu Musterverträgen 80 f.). 81  Die Missstände werden herausgearbeitet von Tarik Ahmia, Der geheime Ausverkauf, taz vom 15.02.2011, S. 4; vgl. verallgemeinernd Kment (Fn. 80), S. 79 f. Durch bloße Geheimhaltungsvereinbarung lässt sich im Übrigen die Eigenschaft einer Information als Betriebs-



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mechanismen vorgesehen werden, etwa durch einen seinerseits zur Geheimhaltung verpflichteten Parlamentsausschuss. Das – freilich auf einer etwas anderen Ebene angesiedelte – Beispiel von Toll Collect zeigt, wie man es nicht machen darf.82 2. Stärkung der internen Steuerung als Ausgleich für strukturelle Defizite externer Regulierung Interne Steuerung hat tendenziell mit geringeren Wissensdefiziten zu kämpfen als externe Regulierung, funktioniert aber nicht gleichsam naturwüchsig. Die Eigentümer-Steuerung muss durch entsprechende Regelungen im Gesellschaftsvertrag und  /  oder Gesetz vorstrukturiert und durch Haftungs­ regelungen abgesichert werden. Dies gilt nicht nur für das öffentliche Bankenwesen,83 sondern gleichermaßen für die Deutsche Bahn. 82

Bei privaten Unternehmen wird der Unternehmenszweck im Gesellschaftsvertrag regelmäßig bewusst sehr breit gefasst, um ein möglichst flexibles Reagieren am Markt und auf neue unvorhergesehene Herausforderungen zu ermöglichen.84 Dies passt indes nicht für öffentliche Unternehmen. Namentlich Gemeinwohlziele, die über die bloße betriebswirtschaftliche Effizienz hinausweisen, müssen entgegen traditioneller Praund Geschäftsgeheimnis nicht begründen, wenn nicht auch dessen Tatbestandsmerkmale vorliegen, vgl. OVG Münster, NVwZ 2010, S. 1044 (1045 f.). 82  Dazu Michael Fehling, Innovationsförderung durch staatliche Nachfragemacht: Potentiale des Vergaberechts, in: Martin Eifert  /  Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovationsfördernde Regulierung, 2009, S. 119 (122 f.); scharfe berechtigte Kritik an der Geheimhaltung der Verträge auch gegenüber dem Parlament bei Frank Schorkopf, Transparenz im Toll-Haus, NVwZ 2003, S. 1471 (1473 f.). 83  Andeutungen bei Fehling, in: ders. / Ruffert (Fn. 5), § 20 Rn. 79; ebenso Müller (Fn. 21), S. 254 ff. 84  Verallgemeinernd Hubertus Gersdorf, Öffentliche Unternehmen im Spannungsfeld zwischen Demokratie- und Wirtschaftlichkeitsprinzip, 2000, S. 271.

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xis85 so präzise wie möglich normiert werden86 – im Lichte der Altmark-Trans-Rechtsprechung ist dies schon aus Gründen des Beihilfenrechts angezeigt.87 Nur so lässt sich der Tendenz entgegenwirken, diese Ziele zugunsten finanziellen Gewinnstrebens zu vernachlässigen.88 Gegebenenfalls kann der Gesetzgeber auch die Unternehmensorgane zur selbstständigen weiteren Konkretisierung des öffentlichen Unternehmenszwecks verpflichten. Dabei geht es nicht zuletzt um die organisationspsychologische Prägung des Unternehmens­ managements in Richtung eines spezifischen öffentlichen Unternehmensethos,89 das sich vom Berufsverständnis der Manager im privaten Sektor spürbar unterscheiden muss. Bei den gesellschaftsinternen Einflussmöglichkeiten ist im jeweiligen Anwendungsfall zu prüfen, ob das allgemeine gesellschaftsrechtliche Instrumentarium ausreicht oder durch einen spezifischen Beherrschungsvertrag oder gar durch spe­ zialgesetzliche Regelungen ergänzt werden sollte. Gewiss müssen auch bei öffentlichen Unternehmen dem Vorstand 85  Fehlende und unklare Zielsetzungen konstatierte schon Püttner (Fn. 19), S. 52 f. 86  Das ist freilich als solches keine neue Einsicht, so schon statt vieler Gunnar Folke Schuppert, Probleme der Steuerung und Kont18), S.  141 rolle öffentlicher Unternehmen, in: Thiemeyer (Fn.  (142 ff.) m. w. N.; vgl. auch Gersdorf (Fn. 84), S. 267 ff., dabei freilich allein aus der Perspektive der Sicherung demokratischer Legitimation argumentierend und dabei eine kaum überbrückbare Differenz zum Wirtschaftlichkeitsprinzip konstatierend. 87  Aus den vielen Fällen, bei denen die Altmark-Privilegierung auch daran scheiterte, dass „die Gemeinwohlverpflichtungen des begünstigten Unternehmens [nicht] klar umschrieben worden“ waren, siehe zuletzt EuGH, Urt. v. 10.6.2010, Rs. C-140 / 09 („Fallimento Traghetti del Mediterraneo SpA in liquidazione“) insbes. Rn. 44. 88  Siehe oben II. 2. mit Fn. 37. 89  Schuppert, in: Thiemeyer (Fn. 86), S. 144 f., spricht von einer „Bewußtwerdungsfunktion“, der Präzisierung des öffentlichen Unternehmenszwecks. Empirischen Untersuchungen zufolge schwankt das Berufsbild der Manager in öffentlichen (kommunalen) Unternehmen zwischen der Betonung der Sonderrolle des Unternehmens und einer Gleichsetzung mit privaten Unternehmen, siehe Edeling, in: Harms / Reichard (Fn. 34), S. 238 ff.



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unternehmerische Spielräume verbleiben, ohne die ein flexibles Reagieren am Markt gerade in Bereichen mit zunehmendem Wettbewerbsdruck nicht möglich ist. Für die Abgrenzung kann durchaus die dem Neuen Steuerungsmodell zugrunde liegende Unterscheidung zwischen dem „Was“ und dem „Wie“ der Betätigung90 als Leitlinie dienen. Man muss sich freilich darüber im Klaren sein, dass diese Abgrenzung nicht trennscharf möglich ist. Gerade im Grenzbereich kann auch bei der internen Steuerung auf Mechanismen regulierter Selbstregulierung zurückgegriffen werden, indem den Unternehmensorganen auferlegt wird, allgemeine Vorgaben des öffentlichen Eigentümers in Unternehmenskonzepten, BusinessPlänen u. Ä. zu konkretisieren. Die Präzisierung des öffent­ lichen Unternehmenszwecks dient nicht nur der Selbstdisziplinierung der Unternehmensleitung und der Erleichterung entsprechender interner Steuerung, sondern kann auch umgekehrt das öffentliche Unternehmen vor diffusen, tagespolitisch schwankenden „Zumutungen“ aus der Politik bewahren, für die eine zu allgemein gehaltene Verpflichtung auf eine gemeinwirtschaftliche Aufgabe (wie bei der alten Bundesbahn) zum Einfallstor zu werden droht. Dabei wäre auch und gerade das Zusammenspiel mit der externen Regulierung zu überdenken und zu regeln; nicht nur widersprüchliche Impulse gilt es zu vermeiden, auch durch Rechtsunklarheiten können die Regulierungswirkungen geschwächt werden.91 Extern müssen allgemein verbindliche (Mindest-)Standards vorgegeben werden, welche im Wege interner Steuerung für die öffentlichen Unternehmen präzisiert 90  Dazu z. B. Jens-Peter Schneider, Das Neue Steuerungsmodell als Innovationsimpuls für Verwaltungsorganisation und Verwaltungsrecht, in: Eberhard Schmidt-Aßmann  /  Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997, S. 103 (125 ff.); Gerhard Banner, Von der Behörde zum Dienstleistungsunternehmen, VOP 1991, S. 6 (7). 91  Vgl. allgemein für ein Mix von Steuerungsinstrumenten oder -medien Michael, in: GVwR II (Fn. 8), § 41 Rn. 72 u. 128; teilweise übertragbar auch Michael Rodi, Instrumentenvielfalt und Instrumentenverbund im Umweltrecht, ZG 15 (2000), S. 237 f. (240).

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und gegebenenfalls verschärft werden können.92 Zur Durchsetzung kann auch eine begleitende Kontrolle durch die (Medien-)Öf­fentlichkeit beitragen. Dies setzt freilich eine höhere Transparenz als bei Privaten voraus, auch wenn dies gelegentlich Nachteile im Wettbewerb mit sich bringen mag. Auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse können sich – ja nicht ­ grundrechtsfähige – öffentliche Unternehmen nur in geringerem Umfang als ihre privaten Konkurrenten berufen93 – und schon gar nicht im Verhältnis zu den verantwortlichen Repräsentanten auf Seiten des öffentlichen Eigentümers. 92  Vgl.

bereits oben S. 99. unterscheidet das einfache Recht beim Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen nicht zwischen öffentlichen und privaten Unternehmen. In der regelmäßig notwendigen Abwägung zwischen Geheimhaltungs- und Offenbarungsinteressen verliert das Geheimhaltungsinteresse bei öffentlichen Unternehmen aber dadurch an Gewicht, dass sich diese zum Schutz ihrer Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse nicht auf Art. 12 Abs. 1 u. 14 Abs. 1 GG berufen können. Vgl. z. B. VG Hamburg, AfP 2009, 296 (300) zur Auskunftspflicht einer zu 100% von der FHH gehaltenen GmbH über Besuchszahlen der von ihr betriebenen öffentlichen Bäder in Hamburg. Diese müsse bei der Offenbarung sensibler Informationen wegen ihrer Sonderstellung gewisse Nachteile gegenüber rein privaten Betreibern hinnehmen. Inwiefern aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit zu Gunsten öffentlicher Unternehmen an die Stelle der Art. 12 Abs. 1 u. Art. 14 Abs. 1 GG andere Verfassungsprinzipien, namentlich der Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Verwaltung bzw. der der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der Öffentlichen Hand oder auch die Sicherung von Daseinsvorsorgeaufträgen oder die Garantie kommunaler Selbstverwaltung treten können, erscheint zweifelhaft, weil für die demokratische Kontrolle kontraproduktiv. In diese Richtung weist aber die Gesetzesbegründung zu § 6 IFG, wonach der Ausschluss des Informationszugangs zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen nicht nur der Berufs- und Eigentumsfreiheit, sondern „– für fiskalisches Handeln der öffentlichen Hand – haushaltsrechtlichen Grundsätzen Rechnung“ trägt, BT-Drs. 15  /  4493 S. 14. Dieses Problem wird umso virulenter, wenn man sich vor Augen führt, dass öffentliche Unternehmen im Vergleich zu privaten Konkurrenten in stärkerem Maße unmittelbar Auskunftsverpflichtete z. B. des Informationsfreiheitsgesetzes sein können, hierzu Gernot Sydow / Georg Gebhardt, Auskunftsansprüche gegenüber kommunalen Unternehmen, NVwZ 2006, S. 986 (990). 93  Zwar



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Bei der Deutschen Bahn scheint mir in all diesen Punkten erheblicher Nachholbedarf zu bestehen.94 Noch unbefriedigender stellt sich die Situation derzeit wohl bei gemischt-öffentlichen Unternehmen dar, bei denen der kumulativ theoretisch hohe Einfluss der öffentlichen Anteilseigner wegen der Vielzahl der beteiligten Gebietskörperschaften und sonstigen öffentlichen Stellen in der Praxis diffundiert.95 Dies gilt umso mehr, wenn – im Rahmen einer Holding-Struktur oder eines „normalen“ gemischtwirtschaftlichen Unternehmens – sogar private (Minderheits-)Akti­o­näre beteiligt sind. Je ungünstiger die entsprechenden Rahmenbedingungen für eine effektive interne Unternehmenssteuerung sind, desto mehr rechtlicher Absicherung und Stärkung bedürfen diese Einflusskanäle. V. Fazit Steuerung und Regulierung erfordern einen immerwährenden Lernprozess.96 Ein Idealzustand ist unerreichbar. Statt in strukturellen Steuerungspessimismus zu verfallen, sollte man an der schrittweisen Verbesserung der Steuerungsmöglichkeiten arbeiten, um ein angemessenes Infrastruktur-Gewährleistungsniveau zu sichern. Dabei greift die Alternative „Privat oder Staat“ ebenso zu kurz wie eine einseitige Festlegung auf ökonomische Rationalität oder staatlich-paternalistische Daseinsvorsorge. In vielen Bereichen dürfte eine intelligente Kombination interner Einfluss- und Steuerungsmöglichkeiten 94  Dieser Eindruck drängt sich jedenfalls auf, wenn man bei einer Anhörung im Verkehrsausschuss des Bundestags erlebt hat, wie ohnmächtig sich viele Ausschussmitglieder gegenüber dem Bahnvorstand fühlen, der doch eigentlich voll vom Bund als Bahneigentümer abhängt. 95  Dazu allgemein etwa Gerhard Himmelmann, Grenzen der Instrumentalisierung öffentlicher Unternehmen, in: Thiemeyer (Fn. 18), S. 81. 96  Vgl. Martin Eifert, Regulierte Selbstregulierung und die lernende Verwaltung, Die Verwaltung, Beiheft 4, 2001, S. 137 (138 ff.); zur „Nachsteuerung“ Claudio Franzius, Modalitäten und Wirkungsfaktoren der Steuerung durch Recht, in: GVwR I (Fn. 1), § 4 Rn. 88 ff.

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bei öffentlichen Unternehmen und externer Regulierung der Marktteilnehmer ökonomisch wie außerökonomisch die besten Ergebnisse zeitigen. Besonders dringlich ist eine solche Reorganisation auf den Finanzmärkten. Aber auch im Verkehrsbereich gibt es Nachholbedarf, zumal voraussichtlich die Privatisierungsfrage bei der Deutschen Bahn in einigen Jahren wieder in die Diskussion kommen wird. Teilprivatisierung ist – ebenso wie in anderen Bereichen Verstaatlichung – eine politisch diskutable Option; beides kann je nach politischer Einschätzung und sektorspezifischen Gegebenheiten die Sicherung eines hinreichenden Gewährleistungsniveaus erleichtern oder auch erschweren. Interne Steuerung sollte als veritable Steuerungsoption erkannt und gestärkt werden, wo der Staat über eigene Unternehmen tätig wird. Wo er aber durch (Teil-)Privatisierung entsprechenden Einfluss aufgibt, muss korrespondierend die externe Regulierung entsprechend gestärkt werden.

Eisenbahnwesen als Daseinsvorsorge Von Michael Ronellenfitsch, Tübingen* 1

I. Ausgangslage Die Thematik betrifft eine Gleichung mit zwei Unbekannten, die nur unlösbar erscheint, weil die Unbekannten fälschlich für inkompatibel gehalten werden. Gerade im Eisenbahnrecht hilft jedoch vielfach nur die Besinnung auf den Daseinsvorsorgeaspekt weiter. So zeigt ein Blick auf die Geschichte des Eisenbahnwesens, dass die Entwicklungslinie nicht orientierungslos zwischen Staats- und Privatbahnprinzip hin- und herpendelte, sondern dass beide Prinzipien, sobald die verkehrspolitische Bedeutung der Eisenbahn evident wurde, mehr oder weniger deutlich Ausgestaltungsversuche eines einheit­ lichen Daseinsvorsorgekonzepts darstellten. Dies wird noch immer verkannt, da keine Klarheit über dieses Konzept besteht. II. Daseinsvorsorgekonzept 1. Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff Das Verständnis der Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff stößt weiterhin auf Widerstand. Trotz aller Bemühungen ist es nicht gelungen, die Vorurteile gegen einen juristischen Gehalt der Daseinsvorsorge abzubauen. Dabei kann niemand übersehen, dass sich aus der Einstufung einer Aufgabe als Daseinsvorsorgeaufgabe Rechtsfolgen ergeben, von öffentlich-rechtlichen *  Prof. Dr., Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungsrecht.

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Strukturen bei der Leistungserbringung bis hin zur Anwendbarkeit des Vergaberechts. Eben dadurch fühlen sich wohl manche Zivilrechtler professionell bedroht und zum Schulterschluss mit Freiraumfanatikern der Netzwirtschaft und Wettbewerbspuristen veranlasst. Die geballte Front der Daseinsvorsorgegegner schreckt nicht einmal davor zurück, längst mumifizierte Argumentationsleichen wiederzubeleben.1 Am beliebtsten ist es, dem Begriff der Daseinsvorsorge fehlende Konturenschärfe vorzuwerfen. Die freundlicheren Kritiker sind dann immerhin bereit, die Daseinsvorsorge als soziologischen Befund zu akzeptieren. Die Anerkennung eines subsumtionsfähigen Rechtsbegriffs lehnen auch sie ab. Das alles liegt neben der Sache. „Daseinsvorsorge“ ist – völlig unabhängig davon, was Forsthoff oder sonst wer darunter verstand – schon deshalb ein Rechtsbegriff, weil der Ausdruck ausdrücklich oder dem Sinn nach in die Gesetzsprache eingegangen ist und in zahllosen Gerichtsentscheidungen rechtliche Relevanz erlangte. Dabei handelt es sich um einen rechtssatzmäßig angelegten Rechtsbegriff: An die tatbestandliche Umschreibung einer Aufgabe oder Leistung als solche der Daseinsvorsorge sind bestimmte Rechtsfolgen geknüpft, etwa dass die Leistung flächendeckend und zu erschwinglichen Preisen zu erbringen ist. Vielfach stützt auch umgekehrt die Anordnung einer bestimmten Rechtsfolge den Rückschluss auf das tatbestandliche Vorliegen von Daseinsvorsorge. Dadurch erlangt der Begriff die gebotene Konturenschärfe. Steht fest, dass Daseinsvorsorge ein vielfach verwendeter Rechtsbegriff ist, kann man sich fragen, warum das so ist. Die Antwort erfolgt im Wege einer Herleitung der Daseinsvorsorge aus den Merkmalen des Verfassungsstaats, der in Deutschland in die Form des sozialen Rechtsstaats gekleidet ist. Der deutsche soziale Rechtsstaat beruht auf einer Trennung der staatlichen 1  So wird behauptet, Forsthoff habe den Rechtsbegriff der Daseinsvorsorge entwickelt, als er noch mit den Nationalsozialisten sympathisierte. Im Gegensatz hierzu hielt man Forsthoff vor, dass ihm die Daseinsvorsorge als Vehikel diene, das verfassungsrechtliche Sozialstaatprinzip auf die Verwaltungsebene herabzuzonen.



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und privaten Bereiche. Damit eröffnet sich ein Ansatz für die Zuordnung der Daseinsvorsorge zu verschiedenen Verantwortungsbereichen. 2. Herleitung Die Selbstqualifizierung der Bundesrepublik Deutschland als sozialer Rechtsstaat, als eine Unterform des Verfassungsstaats (Art. 20, Art. 28 Abs. 1 GG) zwingt dazu, hieraus die gebotenen rechtlichen Konsequenzen zu ziehen2, sprich: Die Wesensmerkmale des Verfassungsstaats sind für Deutschland unverzichtbar und unabänderlich. Verfassungsänderungen und neue Gesetze müssen im Einklang mit den Wesensmerkmalen des Verfassungsstaats stehen. Zugegeben: Die Argumentation mit dem „Wesen“ einer Sache wirkt immer etwas gekünstelt und steht unter Ideologieverdacht. Obendrein lässt sich das Wesen der Staatlichkeit nicht für alle Zeiten verbindlich festlegen, da der Staat ein historischer, aus einer bestimmten Lage entstandener Begriff ist. Das besagt aber nicht, dass es keine typischen, rechtlich relevanten Wesensmerkmale des Staates in der aktuellen Völkergemeinschaft und speziell des Verfassungsstaats gibt. Das Vorliegen dieser Merkmale muss geklärt werden, wenn es gilt, Rechtsfolgen aus der Staatlichkeit abzuleiten. Rechtsfolgen berechtigen und verpflichten nur einen Rechtsträger. Im Verhältnis zu anderen Staaten und gegenüber den seiner Gewalt unterworfenen Personen können nur Rechtsverhältnisse mit wechsel­seitigen Rechten und Pflichten bestehen, wenn dem Staat als Rechtsträger eine eigene Rechtspersönlichkeit zukommt.3 (Stichwort: Staat als juristische Person). Die Rechtspersönlichkeit des Staates wirkt sich zunächst nach außen aus. Der Staat ist als Mitglied der Völkergemeinschaft Völkerrechtssubjekt. Da vom völkerrechtlichen 2  Zum Folgenden Ronellenfitsch, Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff, in: Blümel (Hrsg.), Ernst Forsthoff, Kolloquium, 2003, S. 53 ff. 3  Den für die Begründung von Rechten und Pflichten maßgeb­ lichen Rechtsnormen ist auch der jeweilige Träger der Staatsgewalt unterworfen, der seine Gewalt nur im Namen des Staates ausübt.

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Staatsbegriff exklusive Rechtsfolgen wie die Anerkennung als Völkerrechtssubjekt und die Zugehörigkeit zur Völkerrechtsgemeinschaft abhängen, müssen Merkmale entwickelt werden, die alle Staaten erfassen. Gemeinsamer Nenner ist die (souveräne) Herrschaft. Diese erstreckt sich auf ein umgrenztes Gebiet und auf eine begrenzte Bevölkerung. Damit sind die „drei Elemente“ Georg Jellineks4 angesprochen: Staatsgewalt, Staatsgebiet und Staatsvolk. Mit ihnen lässt sich das Wesen des Verfassungsstaats aber noch nicht erfassen. Nach innen definiert sich der Staat durch seine Zwecke. Hauptzweck des Verfassungsstaats ist die Garantie der individuellen Freiheit als Ausfluss der Menschenwürde und damit zugleich der Schutz vor exzessiver Freiheitsausübung anderer. Da Freiheiten sich gegenseitig meist im Weg stehen, sind im Interesse der Freiheit aller selbst im liberalen Rechtsstaat, Freiheitseinschränkungen Einzelner nötig. Der Verfassungsstaat geht dabei von der grundrechtlich geschützten Rechtsposition des Einzelnen aus, in die der Staat nur ausnahmsweise beschränkend eingreifen darf. Es gilt, Freiheit und Eingriffsbefugnisse zu verteilen (Verteilungsprinzip)5. Eingriffe bedürfen zu ihrer Akzeptanz der Legitimation. Staatliche Freiheitsbeschränkungen werden legitimiert, wenn sie zum Zweck der staatlichen Selbstbehauptung und zur Wahrung der kulturellen Identität ausgeübt werden, dem Ausgleich kollidierender individueller Freiheitsrechte dienen6 und namentlich den individuellen Freiheitsgebrauch aller erst ermöglichen. Bereits der liberale Rechtsstaat reduziert sich nicht auf die Eingriffsabwehr, sondern hat auch Sorge zu tragen für das faktische Substrat der Freiheitsrechte, für die Freiheitsin­ frastruktur. Die Daseinsvorsorge, als „Vorsorge zur optimalen 4  Allgemeine

Staatslehre, 3. Aufl., 1913, S. 394 ff. Verfassungslehre, 1928, S. 126 beschreibt das Verteilungsprinzip wie folgt: „die Freiheitssphäre des Einzelnen wird als etwas von dem Staat Gegebenes vorausgesetzt, und zwar ist die Freiheit des Einzelnen prinzipiell unbegrenzt, während die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Spähre prinzipiell begrenzt ist.“ 6  Vgl. Isensee, Das staatliche Gewaltmonopol als Grundlage und Grenze der Grundrechte, in: Festschrift für Horst Sendler, 1991, S. 39. 5  Schmitt,



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Freiheitsverwirklichung“7 verstanden, wird zumeist übersehen. Für Gutmenschen hat offenbar die Ableitung der Vorsorge aus dem Sozialstaatsprinzip und der Menschenwürde größere Überzeugungskraft. Fürsorge kann man aber individuell gestalten. Leistungen der Daseinsvorsorge erbringt der Staat dagegen der Allgemeinheit. Er hält dadurch die Industriegesellschaft am Leben. Unterlässt er dies, greift er ebenfalls in die Freiheit ein. Banal gesprochen: Nur derjenige Staat wird als Friedensordnung akzeptiert, der seine Hausaufgaben macht. Die Staatszwecke des sozialen Rechtsstaats werden durch notwendige Staatsaufgaben konkretisiert. Daneben gibt es (wirtschaftliche, kulturelle, soziale) Bereiche des sozialen Zusammenlebens, in denen der Staat keine eigenen Aufgaben erfüllt oder gewährleistet, deren Förderung ihm aber ein Anliegen sein darf (fakultative Staatsaufgaben). Notwendige Staatsaufgaben sind nach der jeweiligen Verfassung für den jeweiligen Staat konstitutiv. Nun wäre es anachronistisch, allein die Aufgaben als notwendige Staatsaufgaben einzuordnen, die nur durch hoheitliche Eingriffe erfüllt werden können. Bei den notwendigen Staatsaufgaben gibt es zwar einmal Aufgaben, die der Staat selbst erfüllen muss (Stichwort Polizei). Ein Gutteil der Daseinssicherung, die ebenso gut (oder besser) durch Private erfolgen kann, ist aber ebenfalls eine notwendige Staatsaufgabe. Hier ergänzen sich sozialstaatliche und rechtsstaatliche Daseinsvorsorge.8 Infrastruktureinrichtungen mögen dank privater Initiative entstehen. Zwangsweise durchsetzen könne Private solche Einrichtungen aber nicht. Ein Enteignungsrecht kommt Privaten nicht zu. Sie sind darauf angewiesen, dass der Staat in ihrem Interesse enteignet, wenn sie fremdes Eigentum mitbenutzen müssen.9 Eine Enteignung 7  Hösch, Die kommunale Wirtschaftstätigkeit. Teilnahme am wirtschaftlichen Wettbewerb oder Daseinsvorsorge, 2001, S. 41. 8  Vgl. umfassend Ronellenfitsch, Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff – Aktuelle Ent­wick­lungen im nationalen und europäischen Recht, in: Blümel (Hrsg), Ernst Forsthoff, 2003, S. 53 ff. 9  Zur privatnützigen Enteignung aus Daseinsvorsorgegründen BVerfG, Kammerbeschl. vom 18.2.1999 – 1 BvR 1367  /  88, 146 u. 147.91, NJW 1999, 2659.

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ist dann aber nur zum Wohl der Allgemeinheit zulässig.10 Wo obendrein Private generell nicht in der Lage sind, eine adäquate Infrastruktur aufzubauen und dem Markt zu öffnen, besteht eine entsprechende unmittelbare Verpflichtung oder Einstandspflicht des Staats, ähnlich wie aus sozialstaatlichen Erwägungen sich die staatliche Fürsorge darauf erstreckt, dass auch nicht marktgängige Leistungen erbracht werden.11 Ist das der Fall, kann der Staat sich auf seine Gewährleistungspflicht zurückziehen und die Erfüllung der Aufgaben dem Markt überlassen. Der Staat ist kraft Verfassungsauftrag Aufgabenträger der Daseinsvorsorge. 3. Zuordnungen und Verantwortlichkeiten Die Leistungen der Daseinvorsorge können vom Staat in allen seinen Untergliederungen (Bund, Länder, Gemeinden, sonstige mittelbare Staatsverwaltung) und von Privaten erbracht werden. Wer die Aufgabe wahrnimmt, ist letztlich irrelevant. Entscheidend ist, dass die Leistungen erbracht werden. Man muss sich dann aber über die Verantwortlichkeiten bei der Aufgabenerfüllung im Klaren sein.12 Die Erfüllungsverantwortung obliegt dem Staat, wenn nur er die Aufgabe erfüllen kann, sei es, weil er sich überwiegend auf seine Hoheitsgewalt stützen muss, sei es, weil er über ein unveräußerliches Monopol verfügt. Im Regelfall obliegt dem Staat lediglich die Aufgabenverantwortung, d. h. er hat für das Ergebnis der Aufgabenerfüllung einzustehen. Wie er dieses Ergebnis herbeiführt, bleibt ihm überlassen. Dem Leistungserbringer 10  Vgl. Schack, Enteignung „nur zum Wohl der Allgemeinheit“, BB 1961, 74 ff. (75 f.); Bullinger, Die Enteignung zugunsten Privater, Der Staat, 1962, 449 ff.; Frenzel, Das öffentliche Interesse als Voraussetzung der Enteignung, 1978, S. 75 f. 11  BVerwG vom 1.12.1998 – 5 C 29.97, BverwGE 108, 56 (63). 12  Hierzu Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, VVD­ StRL 54 (1995), 243 ff. (269).



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obliegt dann die Wahrnehmungsverantwortung. Er teilt sich mit dem Aufgabenträger die Finanzverantwortung. 4. Tatbestand und Rechtsfolge Der Rechtsbegriff der Daseinsvorsorge hat die Struktur eines Rechtssatzes. Ein Rechtssatz formuliert Tatbestand und Rechtsfolge einer Norm. Wenn ein konkreter Lebenssachverhalt die Voraussetzungen des Tatbestands erfüllt, tritt eine bestimmte Rechtsfolge ein. Der Tatbestand besteht in der Regel in der abstrakten Beschreibung eines Lebenssachverhalts. Bei der Daseinsvorsorge fallen abstrakte Beschreibung des Daseinsvorsorgegegenstandes und Begriff im Tatbestand zusammen. Der Gesetzgeber spricht dann ausdrücklich schlicht von Daseinsvorsorge. Häufiger werden aber Aufgaben als im allgemeinen Interesse liegend umschrieben. Dann handelt es sich materiell um Daseinsvorsorge. Welche Aufgaben das im Einzelnen sind, lässt sich nicht ein für allemal festlegen, weil es keinen abschließenden Katalog der öffent­ lichen Aufgaben gibt. Das Versorgungsbedürfnis der Bevölkerung ist nicht konstant, sondern richtet sich nach dem allgemeinen Lebensstandard. Das gilt für den Gegenstand der Vorsorge wie auch für die qualitativen Anforderungen an ihre Erfüllung. Wenn daher gegen den Rechtsbegriff der Daseinsvorsorge eingewandt wird, er sei zu unbestimmt, ist dem entgegenzuhalten, dass darin gerade die Stärke des Rechtsbegriffs liegt; denn auf diese Weise ist er in der Lage, mit der technischen und sozialen Entwicklung Schritt zu halten.13 Erfasst werden etwa die Bereiche der Versorgungswirtschaft (Ver- und Entsorgung), des Rundfunks („Grundversorgung“), der Telekommunikation („Universaldienste“), des Kreditwesens, ferner Bildungs-, Sozial-, Gesundheits-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen und last but not least des Verkehrswe13  Im Übrigen lassen sich die Anwendungsfelder der Daseinsvorsorge an Hand einer reichhaltigen judiziellen Kasuistik induktiv abstecken. (vgl. näher Ronellenfitsch, in: Blümel (Hrsg.), Ernst Forsthoff, S. 53 ff.).

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sens (Infrastruktur, Verkehrswirtschaft). Die Baufreiheit erfordert Erschließungsstraßen, die Verkehrsmobilität Verkehrsnetze zur Aufnahme des fließenden und ruhenden Verkehrs.14 Dass etwa der Straßenbau eine Daseinsvorsorgeaufgabe ist, erkannten nicht erst die Nationalsozialisten, die den Autobahnbau zu Unrecht als ihre Erfindung reklamierten.15 Im Zeitalter des Massentourismus gilt das auch für die Errichtung und den Betrieb von Verkehrsflughäfen16 und – freilich nur eingeschränkt – auch für die Binnenwasserstraßen. Mit der Errichtung und Unterhaltung der Verkehrsinfrastruktur ist es nicht getan. Die räumliche Beweglichkeit hat als „zirkuläre Mobilität“ grund- und menschen­ rechtliche Relevanz. Geht man davon aus, dass die freie Wahl des Verkehrsmittels eine unverzichtbare Freiheitsposition darstellt, dann muss neben der Mobilität durch das Auto auch die Mobilität derjenigen sichergestellt sein, denen die Teilhabe am Individualverkehr versagt ist oder die sie ablehnen. Jedenfalls ist der Personenfernverkehr der Eisenbahnen17, der SPNV und ÖPNV, für die Verwirklichung des Mobilitätsgrundrechts bzw. der Mobilitätsgrundrechte unverzichtbar. Daraus folgt in aller Kürze: Erhalt und Ausbau der Eisenbahninfrastruktur sind Aufgaben der Daseinsvorsorge. Mit der staatlichen Gewährleistung des Eisenbahnpersonenverkehrs, des ÖPNV und des Taxiverkehrs bestätigte der Gesetzgeber einen im Sozial- und Rechtsstaatsprinzip und der Grundrechteordnung implizit enthaltenen Verfassungsauftrag. Im Eisenbahnwesen galt vor der Bahnreform der Staatsvorbehalt in Gestalt der staatlichen Erfüllungsverantwortung. Der Staatsvorbehalt besagt, dass bestimmte Aufgaben dem Staat verbleiben müssen, weil mit ihnen die Staatlichkeit steht und fällt. Dem staatlichen Erfüllungsvorbe14  BGH, Urteil vom 16.11.1990 – V ZR 297 / 89, NJW 1991, 564: öffentlicher Parkplatz als Leistung der Daseinsvorsorge. 15  Ronellenfitsch, Straßenbau und Straßenverkehrstechnik, Heft 800 / 2001, S.  1  ff., 10. 16  OLG Frankfurt, Urteil vom 30.8.1996 – 1 HEs 196  / 96, NStZ 1997, S. 200; LG Frankfurt Urteil vom 13.5.1996 – 5 / 12 Qs 14 / 56, NStZ-RR 1996, S. 259. 17  BGH Urteil vom 21.11.1996 – V ZB 19 / 96, NJW 1997, S. 744.



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halt unterliegen Maßnahmen mit Sicherheitsfunktion und Sanktionscharakter.18 Bei der Erfüllung einer Aufgabe der Sicherheitsgewährleistung folgt aus dem staatlichen Gewaltmonopol und dem damit verbundenen Verbot privater Gewalt die notwendige Wahrnehmung als Hoheitsaufgabe. Um mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts zu sprechen:19 „Die Sicherheit des Staates als verfasste Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm gewährleistete Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet.“

Der Staatsvorbehalt schließt eine Übertragung der Wahrnehmung von Aufgaben der Gefahrenabwehr auf Private freilich nicht immer aus. Der Staatsvorbehalt ist ge­wahrt, solange der Staat Aufgabenträger bleibt. Bestimmte Aufgaben der Gefahrenabwehr erfordern jedoch eine bestimmte Art ihrer Erledigung (z. B. durch unmittelbaren Zwang). Solche Aufgaben muss der Staat durch eigene Staatsorgane erfüllen (Polizeivorbehalt). Mit der Wesentlichkeit oder politischen Brisanz der Aufgabe hat das nichts zu tun. Es besteht auch keine Handlungspflicht für das Parlament. Das Bundesverfassungsgericht stellt in diesem Zusammenhang folgerichtig nicht auf das demokratische Staatsziel des Art. 20 Abs. 2 GG ab. Selbst dem Bekenntnis zum „Ausgehen der Staatsgewalt“ vom Volk wird nur Prinzipiencharakter, also Gestaltbarkeit zugemessen. Im Beschluss vom 5. Dezember 2002 heißt es: „Darüber hinaus ergibt sich aus dem demokratischen Prinzip des Art. 20 Abs. 2 GG nicht, welche Aufgaben dem Staat als im engeren Sinne staatliche Aufgaben vorzubehalten sind. Insbesondere lässt sich Art. 20 Abs. 2 GG nicht entnehmen, dass Aufgaben im Bereich der Daseinsvorsorge oder sonstige Aufgaben allein deshalb zwingend unmittelbar vom Staat zu erledigen wären, weil sie von wesentlicher Bedeutung für das Allgemeinwohl sind.“20 18  Jellinek, Staatslehre, S. 246 ff.; Preuß, Risikovorsorge als Staatsaufgabe, in: Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben 1994, S. 523 ff. 19  Beschluss vom 1.8.1978 – 2 BvR 1013,1019,1034 / 77, BverfGE 49, 24 (56 f.) – Kontaktsperre. 20  2 BvL 5 und 6 / 98, DÖV 2003, 678 (679).

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Rechtsfolge der Daseinsvorsorge ist somit nicht der Staatsvorbehalt im engeren Sinn. Es kommt nur darauf an, dass die Leistung der Daseinsvorsorge generell erbracht wird. Von wem die Leistung erbracht wird, spielt keine Rolle. Nicht nur von wem, sondern auch wie, d. h. in welcher Rechtsform die Aufgaben der Daseinsvorsorge wahrgenommen werden, ist nachrangig. Jedoch darf der Staat die Leistungsaufgaben der Daseinsvorsorge nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Daseinsvorsorge bedeutet, dass selbst beim Handeln in Privatrechtsform öffentlich-rechtliche Grundsätze gelten. Öffentlich-rechtliche Grundsätze stehen im Gegensatz zu privatrechtlichen Grundsätzen, wobei die auf das römische Recht zurückgehende Unterscheidung nie trennscharf geglückt ist. Die für die Interpretation von § 40 VwGO hilfreichen Theorien (Subordinationstheorie, Zuordnungstheorie usw.) helfen hier nicht weiter. Kategorial hatte Ulpian Recht, wonach der Staat seine Interessen öffentlich-rechtlich verfolgt, während die Privaten, abgesondert, eben privatim, ihre eigenen Interessen mit den Mitteln des Privatrechts zu verfolgen haben.21 Das schließt nicht aus, dass der Staat sich zur Erfüllung seiner Aufgaben Privater22 oder zur eigenen Betätigung der Formen und Regelungen des Privatrechts bedient. Er bleibt dann aber an das Gemeinwohl gebunden. Umgekehrt können Private zum Schutz anderer Privater Gemeinwohlbindungen unterworfen werden. Sie handeln dann jedoch immer noch im privaten Interesse. Öffentlich-rechtlich sind die Regelungen, die den Interessen des Staates und der Allgemeinheit dienen, privatrechtlich sind die Regelungen, die das Verhalten Privater in deren eigener Interessensphäre regeln. Da vielfach eine kongruente Interessenlage besteht, sind Überschneidungen nicht ausgeschlossen. 21  D 1,1,1: „Huius studii duae sunst specificationes, publicum et privatum. Publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem: sunt enim quaedam publice utilia, quaedam privatim“. 22  Vgl. §  101 Abs. 3 Gemeindeordnung für Schleswig-Holstein i. d. F. v. 1.4.1996 (GVOBl S. 321).



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5. Wirtschaftlichkeit und Wettbewerb Nach klassisch liberalem Verständnis sind Grundrechte Abwehrrechte aus einem dem Staat vorgegebenen Urzustand. In diesem Urzustand herrschen aber die Gesetze der Natur.23 Der Stärkere setzt sich durch.24 Damit das nicht passiert, schafft der Verfassungsstaat die Voraussetzungen für ein zivilisiertes Zusammenleben, indem er die Macht über die Bürger begrenzt und kontrollierbar bündelt und sie Privaten entzieht. Das relativiert die Privatautonomie. Die Privatautonomie, verstanden als das Recht des Einzelnen, seine Lebensverhältnisse im Rahmen der Rechtsordnung durch Rechtsgeschäfte eigenverantwortlich zu gestalten,25 ist zwar tragendes Element einer freiheitlichen Verfassungsordnung. Gemeint ist aber nicht die Handlungsfreiheit im Urzustand, sondern die gleiche Entscheidungsfreiheit aller in der Zivilgesellschaft. Privatautonomie kann als Instrument gesellschaftlicher Machtausübung genutzt werden und gefährdet dann die Privatautonomie Dritter.26 Auch die grundsätzlich gewährleistete Privatautonomie darf somit nicht faktisch zur Unterwerfung der Mitbürger führen. Das Privatrecht kennt daher eine Vielzahl von Beschränkungen der Privatautonomie. Dadurch fließen auch öffentliche Interessen in das Privatrecht ein. Die dadurch bewirkten Korrekturen bei der Privatautonomie können zu einer Verlagerung der Perspektive führen, wenn der öffentliche Zweck bei der Beurteilung der einzelnen Privatrechtsgeschäfte in den Vordergrund rückt. Die Folge ist eine Entprivatisierung des Privatrechts, vor der Ulrich Hu23  Also

nicht das Naturrecht. Verankerung des Tierschutzes als Staatsziel ist das Un­ natürlichste, was man sich vorstellen kann. 25  Vgl. auch BverfGE 8, 274 (328); 10, 89 (99); 12, 341 (347); 29, 260 (267); 50, 290 (366); 60, 329 (339); 70, 115 (123); 72, 155 (170). 26  Schon für die ökonomischen Klassiker wie Adam Smith war Freiheit des Wirtschaftens nur Freiheit unter dem Gesetz. Ähnliches gilt für die Neoliberalen wie Friedrich August von Hayek („Die Verfassung der Freiheit“) und Milton Friedmann („Kapitalismus und Freiheit“). 24  Die

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ber27 schon 1969 zutreffend gewarnt hat. Mit der Abwehr der Daseinsvorsorgekonzeption handeln sich die Privatrechtler Steine für Brot ein. Mit Mitteln des Privatrechts lassen sich Interessenkonflikte Privater systemgerecht auch ohne Zugriff auf öffentliche Zwecke lösen. Die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts28 ist ein Beispiel, das durch die jüngste Rechtsprechung des EuGH bestätigt wird. Wenn öffentliche Interessen vorrangig sind, bietet die Daseinsvorsorge ein Ventil. Der Staat kann regulierend eingreifen, muss dann aber einen Ausgleich schaffen. Die Daseinsvorsorge dient unmittelbar öffentlichen Interessen und lässt für die Privatautonomie nur im Rahmen der öffentlichen Zweckbindung Raum. Zu einer Systemüberlagerung von öffentlichen und privaten Interessen kommt es im Wettbewerbsrecht. Unser Wettbewerbsrecht wird stark durch die anglo-amerikanische Rechts­ tradition geprägt, der wiederum die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht fremd ist. Auszugehen ist auch hier von der Privatautonomie. Zur Privatautonomie gehören Entscheidungsalternativen und damit Wettbewerb. ­ Wettbewerb gewährleistet erfahrungsgemäß am besten und wirtschaftlichsten die Bedürfnisbefriedigung. Menschen haben so unterschiedliche Bedürfnisse, dass die zur Erfüllung aller Wünsche benötigten Waren- und Dienstleistungen niemals in ausreichendem Maß verfügbar sein können.29 Der Wettbewerb hat sich als Ordnungsprinzip, auf dessen Grundlage 27  Das Öffentliche und das Private in der neueren Entwicklung des Privatrechts, Studium Generale 1970, 769 (783 ff.). 28  Vgl. Gounalakis, Privacy and the Media, 2000; Heldrich, Persönlichkeitsschutz und Pressefreiheit, 1998; von Hinden, Persönlichkeitsverletzungen im Internet, 1999; Kepplinger, Das Interesse der Allgemeinheit und das Eigeninteresse der Medien, ZRP 2000, 134 ff.; Prinz, Der Schutz vor Verletzungen der Privatsphäre durch Medien auf europäischer Ebene, ZRP 2000,138 ff.; Siebrecht, Der Schutz der Ehre im Zivilrecht, JuS 2001, 337 ff.; Wagner, Prominente und Normalbürger im Recht der Persönlichkeitsrechtsverletzungen, VersR 2000, 1305 ff.; Wanckel, Persönlichkeitsschutz in der Informations­ gesellschaft, 1999. 29  Klein, Konkurrenz auf dem Markt geistiger Freiheiten, 1990, S. 29 f.



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dem Mangel an begehrten Leistungen am ehesten begegnet werden kann, bewährt. Der Wettbewerb verhindert ferner den Aufbau endgültiger Machtpositionen30 und sorgt dadurch für eine einigermaßen gleichmäßige Machtverteilung in Wirtschaft und Gesellschaft. Wettbewerb funktioniert freilich nicht aus sich selbst heraus, sondern bedarf staatlicher Garantien. Dem dient das Kartellrecht. So verbietet in § 19 Abs. 1 GWB die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch ein Unternehmen. Die Missbrauchfälle umschreibt § 19 Abs. 4 GWB in bewusster Anknüpfung an die 1921 vom US Supreme Court31 entwickelte essential facility-Doktrin32. Danach wird dem Inhaber eines marktbeherrschenden Unternehmens unter bestimmten Voraussetzungen die Pflicht auferlegt, seine Einrichtung einem Wettbewerber zugänglich zu machen. § 19 Abs. 4 GWB kann mittelbar auch zur Erfüllung der Daseinsvorsorgeaufgabe dienen33. Ähnliches gilt für die Verbote nach §§ 20 ff. GWB34. Schutzobjekt der Regelungen ist aber primär der konkret betroffene Wettbewerber oder der Wettbewerb schlechthin. So wie Daseinsvorsorge im Wettbewerb möglich ist, kommt auch eine Daseinsvorsorge durch Wettbewerb in Betracht. Im Wett­ bewerb kann sich indessen nur durchsetzen, wer Gewinne erzielt. Wettbewerbsrechtlich darf daher nicht aufgegeben werden, dass gewerbliche Unternehmen perspektivisch mit Verlust arbeiten. Vielfach schließt die ausreichende Daseinsvorsorge indessen leistungsgerechte Entgelte aus. Hier muss der Staat in die Bresche springen. Keineswegs gewährleistet der Wettbewerb automatisch eine ausreichende Daseinsvorsorge. 30  Emmerich, 31  United

Kartellrecht, 9. Aufl., 2001, S. 2. States vs. Terminal Railroad Association, 224 US 383

(012). 32  „bottleneck (monopoly) theory“. 33  Vgl. LG Dortmund v. 12.7.2000 – 13 O 104  / 00, ZNER 2000, 153. Vgl. auch Jaeger, Kommunen und Wettbewerbsrecht – Erfahrungen aus der Praxis, in: Schwarze, Daseinsvorsorge, S. 165 ff. 34  Vgl. BbgOLG v. 21.6.1994 – 6 Kart 3 / 93, VersorgW 1995, 61.

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Die Säulen einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, Privatautonomie, Privateigentum und Wettbewerb, tragen nur in einer staatlichen Friedensordnung. Eine staatlichen Friedensordnung lässt sich auf Dauer nur herstellen, wenn der Staat auch Leistungen der Daseinsvorsorge gewährleistet. Die im sozialen Rechtsstaat unentbehrliche Daseinsvorsorge dient unmittelbar öffentlichen Interessen. Dass die Aufgaben der Daseinsvorsorge so wirtschaftlich wie möglich erfüllt werden sollen, versteht sich dabei von selbst. Private Tätigkeit ist ebenfalls auf Wirtschaftlichkeit angelegt. Das ist übrigens ein Nebensinn des Ausdrucks „privatwirtschaftlich“. Wettbewerb dient per se wirtschaftlichen Interessen. Regulierter Wettbewerb und Daseinsvorsorge schließen sich nicht aus, verfolgen aber verschiedene Zielrichtungen. Die Wirtschaftlichkeit bei der Daseinsvorsorge dient der Kostensenkung. Die Wirtschaftlichkeit im Wettbewerb dient der Gewinnmaximierung. Die Privatisierung staatlicher Unternehmen bei Forstbestand des Daseinsvorsorgeauftrags kann nur bedeuten, dass man annimmt, durch die Auswahl zwischen mehreren Wettbewerbern wirtschaftlichere Leistungen erlangen zu können. Man darf aber nie vergessen, dass der Wettbewerb nicht um seiner selbst willen eröffnet werden sollte. Immer gilt es abzuwägen, wie die Daseinsvorsorgeaufgabe am besten gewährleistet ist. Privatautonomie, Eigentum und Wettbewerb sind wichtige Rechtsgüter im sozialen Rechtsstaat. Sie sind aber lediglich Rechtsgüter, die mit anderen ­Gütern abzuwägen sind.35 Abwägen bedeutet, die betroffenen Rechtsgüter zu ermitteln, zu gewichten und dann unter- und gegeneinander abwägen. Das gilt auch für das Eisenbahn­ wesen.

35  Dies verkennt das bei Wettbewerbsrechtlern verbreitete Vorurteil, der größte Feind des Wettbewerbs sei der Staat, so dass die wichtigste Voraussetzung für möglichst viel Wettbewerb die Beseitigung der zahlreichen staatlichen Wettbewerbshindernisse sei; vgl. Emmerich, Kartellrecht, 9. Aufl., 2001, S. 3.



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III. Daseinsvorsorge im Eisenbahnwesen 1. Fortbestand des Daseinsvorsorgeauftrags Mit dem Schleifen der Festung der Staatsbahn in Art. 87 Abs. 1 Satz 1 GG, der Einfügung von Art. 87 e in das Grundgesetz36 und der Umsetzung des Eisenbahnneuordnungsgesetzes37 wurde nicht nur die Beendigung des Staatsbahnzeitalters gefeiert. Im ersten Überschwang der Bahnreform glaubte man vielmehr, nun sei die neue Zeit des freien, ungezügelten Wettbewerbs im Eisenbahnwesen angebrochen, Die erste voreilige Bewertung durch Fromm aus dem Jahr 1994 lautete: „Mit der mit keinerlei Einschränkungen verknüpften Aussage des Art. 87 e Abs. 3 Satz 1 GG, dass die Eisenbahnen des Bundes als Wirtschaftsunternehmen in privatrechtlicher Form geführt werden, ist aber auch kein Raum mehr für einen wie auch immer gearteten gemeinwirtschaftlichen Auftrag. Die Eisenbahnen des Bundes können nicht als Träger der Daseinsvorsorge verstanden werden – was man auch immer unter diesem Begriff verstanden haben mag.“38

Noch 2000 führte Kraft unter Berufung auf Fromm aus: „Die Bahnstrukturreform von 1993 beinhaltete nicht nur eine Organisationsprivatisierung der Deutschen Bundesbahn, die sich in der Neugründung der verschiedenen Aktiengesellschaften manifestiert. Der neue Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG, wonach Eisenbahnen des Bundes als Wirtschaftsunternehmen in privatrechtlicher Form geführt werden, lässt über diesen formellen Aspekt hinaus auch in materieller Hinsicht keinen Raum mehr für die Annahme eines umfassenden gemeinwirtschaftlichen Auftrags und ein Verständnis der Bahn als Träger der Daseinsvorsorge.“39

Dann setzte sich aber die Meinung durch, dass die Bahnreform den Daseinsvorsorgeauftrag der Eisenbahnen des Bundes und der Länder nicht beseitigt hat. Allerdings wird die recht36  Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 20.12.1993 (BGBl. I, S. 2089). 37  Gesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens (ENeuOG) vom 27.12.1992 (BGBl. I, S. 2378). 38  DVBl. 1994, 187 ff. (191). 39  Bauleitplanung auf Bahnflächen, DVBl. 2000, 1326 ff.

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liche Relevanz der Daseinsvorsorge in den Kommentierungen zu Art. 87 e GG allenfalls gestreift oder missverstanden. So hat etwa Vesting die Vorurteile gegen die Daseinsvorsorge bekräftigt, indem er die Lager der Vorsorgestaatler und der Komplettprivatisierer einander gegenüberstellte und als eigene Leistung eine Hybridlösung vorschlug. Fehling warnte dagegen vor einer Bahnchimäre. Solche Bilder sind originell, weil man sich durchaus mit dem Bild des Minotauros, halb Stier, halb Mensch,40 anfreunden kann, der die Verfassungsinterpreten in ein Labyrinth lockt. 2. Unions- und verfassungsrechtliche Vorgaben Europa ist ein Lebensraum mit kultureller Identität. Die Identität verdankt Europa dem Verkehrswesen.41 Durch den Personen- Güter- und Nachrichtenverkehr wuchs Europa auf der Grundlage einer entsprechenden Verkehrsinfrastruktur so zusammen, dass es spezifische Gemeinsamkeiten aufweist.42 Solche Gemeinsamkeiten sind unentbehrlich für den Bestand der EU als europäischem Staatenverbund43. Der Verkehr zählt zu den Wirtschaftssektoren, für die der EWG-Vertrag von Anfang an eine „gemeinsame Politik“ vorsah. Bei den Vertragsverhandlungen blieb jedoch das Verhältnis von Liberalisierung und Harmonisierung unentschieden. Auch das Kapitel „Verkehr“ des EWG-Vertrags enthielt keine klaren Direktiven. Die Liberalisierung der Verkehrsmärkte kam nicht voran. Erst das Urteil des EuGH vom 22.5.198544 zwang die Gemeinschaftsorgane zum Handeln. In der Folge ergingen gemeinschaftliche 40  Vgl. Rose, Griechische Mythologie, 1974, S. 175. Zum historischen Hintergrund des minoischen Sagenkreises Iozzo, Kunst und Geschichte Kreta, 2003, S. 3. 41  Vgl. Ronellenfitsch, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. II, 2. Aufl., 2004, § 84 Rdnr  4 ff. 42  Vgl. Ohler, Reisen im Mittelalter, 1986, S. 11 f. 43  BverfGE 89, 155. 44  EuGH – Rs 13 / 83, Parlament / Rat, Slg. 1985, 1513.



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Rechtsakte auf allen Gebieten des Verkehrs, die zum Abbau zahlreicher Marktzugangs- und Marktaustrittsschranken der nationalen Verkehrsordnungen beitrugen. Die Einheitliche ­Europäische Akte (EEA) setzte Eckdaten für den 1993 zu vollendenden Binnenmarkt, darunter auch verkehrspolitische Zielsetzungen. Der Europäische Rat und der Rat in der Zusammensetzung der Verkehrsminister beschlossen, im Zuge der Vollendung des Binnenmarktes bis 31.12.1992 einen freien Verkehrsmarkt ohne mengenmäßige Beschränkungen zu schaffen. Das betraf auch den Eisenbahnverkehr. Der europäische Eisenbahnverkehr war lange durch eine Koppelung von Infrastruktur und Trans­port­be­trieb geprägt. Hinzu kam, dass etwa die Deutsche Bahn AG, die französische Societé Nationale des Chemins de Fer oder British Railways als Monopolbetriebe unter Staatseinfluss standen. Der Entwicklung einer gemeinsamen EU-Eisen­bahnpolitik standen daher erhebliche Hindernisse entgegen. Der europäische Gedanke schlug sich zunächst nur in bilateralen Verträgen über Gleisverbindungen an den Grenzen, über die Übernahme fremder (kompatibler) Eisenbahnwaggons und über wechselseitige Weiterbeförderungspflichten an den Grenzen nieder.45 Die Gemeinschaft unternahm mehrere Anläufe, Wettbewerbsverzerrungen zu besei­ tigen,46 ehe mit der Richtlinie 91 / 440 / EWG des Rates vom 45  Vgl. Convention relative aux transports internationaux ferroviaires (COTIF) vom 9.5.1980, BGBl. II 1985, S. 930. 46  Entscheidung des Rates vom 13.5.1965 über die Harmonisierung bestimmter Vorschriften, die den Wettbewerb im Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschifffahrtsverkehr beeinflussen (62 / 271 / EWG), ABl. 1965, 88 / 1500; VO (EWG) Nr. 1191 / 69 des Rates vom 26.6.1969 über das Vorgehen der Mitgliedstaaten bei mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes verbundenen Verpflichtungen auf dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs, ABl. 1969, L 156 / 1; VO (EWG) Nr. 1107 / 70 über Beihilfen im Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr vom 4.6.1970, ABl. 1970, L 130  /  1, geändert durch VO (EWG) Nr. 3578 / 92 vom 7.12.1992, ABl. 1992, L 364 / 11; Entscheidung des Rates vom 20.5.1975 zur Sanierung der Eisenbahnunternehmen und zur Harmonisierung der Vorschriften über die finanziellen Beziehungen zwischen diesen Unternehmen und den Staaten (75 / 327 / EWG), ABl.  1975, L  152 / 3; VO (EWG) Nr.  2830 / 77

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29.7.1991 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft47 die Weichen in Richtung auf eine funktionelle Entkoppelung von Netz und Betrieb gestellt wurden.48 Die ging Vielen nicht weit genug. In ihrer Mitteilung über die Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft und die Durchführung der Richtlinie 91 / 440 / EWG vom 19.9.199549 übte die Kommission Kritik an der Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft. Hinsichtlich der Trennung von Infrastruktur und Betrieb favorisierte sie das schwedische Modell, machte es aber nicht zum zwingenden Gegenstand von Änderungsvorschlägen, sondern schlug lediglich eine Erweiterung der Zugangsrechte zur Infrastruktur, d. h. keine vollständige Liberalisierung des Eisenbahnverkehrs, vor. In ihrer Mitteilung vom 31.3.1998 an den Rat und das Europäische Parlament über die Durchführung und die Auswirkung der Richtlinie 91 / 440 / EWG50 kündigte die Kommission ein Maßnahmepaket für die Infrastruktur an (sog. Eisenbahninfrastrukturpaket), durch das die Trennung von Fahrweg und Betrieb fortentwickelt werden sollte. Das Eisenbahninfrastrukturpaket ist am 15. März 2001 in Kraft getreten. Es musste innerhalb von zwei Jahren umgesetzt werden und bestand aus drei Richtlinien: Richtlinie 2001  /  12  /  EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.2.2001 zur Änderung der Richtlinie des Rates vom 12.12.1977 über Maßnahmen zur Herstellung der Vergleichbarkeit der Rechnungsführung und der Jahresrechnung von Eisenbahnunternehmen, ABl. 1977, L 334  /  13; VO (EWG) Nr. 2183  /  78 des Rates vom 19.9.1978 zur Festlegung einheitlicher Grundsätze für die Kostenrechnung der Eisenbahnunternehmen, ABl. 1978, L 258 / 1. 47  ABl., L 237 vom 24.8.1991, S. 25. 48  Art. 6 Abs. 2 RL 91  / 440 / EWG. Vgl. allgemein Delbanco, Die Bahnstrukturreform – Europäische Vorgaben und deren Umsetzung in nationales Recht, in: Foos (Hrsg.), Eisenbahnrecht und Bahnreform, 2001, S. 19 ff.; Kämmerer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für das Eisenbahnwesen in den Mitgliedstaaten, in: Ronellenfitsch / Schweinsberg (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Eisenbahnrechts VI, 2001, S. 75 ff. 49  KOM (95) 337 endg. 50  KOM (98) 202.



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91 / 440 / EWG des Rates zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft,51 Richtlinie 2001 / 13 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.2.2001 zur Änderung der Richtlinie 95 / 18 / EG des Rates über die Erteilung von Genehmigungen an Eisenbahnunternehmen,52 Richtlinie 2001 / 14 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.2.2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahnkapazität und die Sicherheitsbescheinigung.53 Diese Richtlinien sind in Deutschland umgesetzt und werden oft als Signal für noch mehr Wettbewerb verstanden. Auch die Kommission ist aber an Primärrecht gebunden, und das ist nicht allein auf Wettbewerb fixiert. Der Ausrichtung der Europäischen Gemeinschaft auf eine wettbewerbsorientierte Marktwirtschaft stellte bereits Art. 90 EGV (jetzt Art. 86 EG) die „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ entgegen. Diese Dienst­leistungen wurden zu Unrecht als Fremdkörper im europäischen Binnenmarkt betrachtet. Seit 1993 bemühte sich insbesondere das Europäische Parlament, die Stellung der unmittelbar dem Gemeinwohl verpflichteten Unternehmen aufzuwerten. Diese Bemühungen führten zur Einfügung von Art. 16 in den Europäischen Gemeinschaftsvertrag durch den Amsterdamer Vertrag. Die Hinzufügung von Art. 16 EG ließ trotz der Formulierung „Unbeschadet der Artikel 7, 86 und 97 …“ das Verhältnis von Wettbewerb und „Diensten von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ nicht unberührt. Der Wettbewerbsgedanke wurde zwar nicht ganz verdrängt, jedoch kam den Diensten von allgemeinem Interesse besondere Bedeutung zu.54 Die „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ wurden für den deutschen Sprachraum als „Dienste der Daseinsvorsorge“ bezeichnet.55 Eine gegenständliche Be51  ABl. EG

Nr. L 75 vom 15.3.2001, S. 1. Nr. L 75, S. 26. 53  ABl. EG Nr. L 75, S. 29. 54  Zutreffend Streinz, Der Vertrag von Amsterdam, EuZW 1998, S. 137 ff. 55  Vgl. nur Geiger, EUV / EGV, 3. Aufl. 2000, Art. 16, Überschrift. 52  ABl. EG

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schreibung der Daseinsvorsorge war damit nicht verbunden. Bereits in der Mitteilung der Europäischen Kommission „Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa“ vom September 199656 war abstrakt festgelegt worden: „Leistungen der Daseinsvorsorge (oder gemeinwohlorientierte Leistungen) sind marktbezogene oder nichtmarktbezogene Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Behörden mit spezifischen Gemeinwohlverpflichtungen verknüpft werden“.

Einen inhaltlich präzisierten, eigenständigen gemeinschaftsrechtlichen Begriff der Daseinsvorsorge schlechthin enthielt die Mitteilung nicht. Aber es ist unstreitig, dass der Schienenpersonennah- und -fernverkehr darunterfällt. Die Neuformulierung der Mitteilung vom 20.9.200057 sollte nur der Aktualisierung dienen. Statt die „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ des neuen Art. 16 EG zu definieren, wurde nunmehr die Definition des in Art. 86 EG verwendeten Begriffs der „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaft­ lichen Interesse“ übernommen. Das verrät die Absicht, den Wettbewerbsgedanken bei Daseinsvorsorgeleistungen zu verstärken. Seit 1996 haben aus der Sicht der Kommission Erfahrungen in Daseinsvorsorgebereichen, die dem Wettbewerb geöffnet wurden, gezeigt, dass Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, Binnenmarkt und gemeinschaftliche Wettbewerbspolitik einander ergänzen, Daseinsvorsorgeauftrag und Gewinnmaximierung sind indessen unvereinbar. Aus Primärrecht, namentlich aus Art. 16 EG, folgt im Zweifel der Vorrang der Daseinsvorsorge. Dies klingt in der aktualisierten Mitteilung an; in Tz 13 heißt es: „Der Staat muss sich darüber hinaus fragen, wie er sicherstellen kann, dass die einer Leistung der Daseinsvorsorge zugewiesenen Aufgaben nach einem hohen Qualitätsstandard und möglichst wirtschaftlich ausgeführt werden. Dabei können verschiedene Wege beschritten werden. Bei der Entscheidung darüber, wie die Aufga56  „Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa“ (Abl. C 281 vom 26.9.1996, S. 3.) 57  KOM (2000) 580 endg.



Eisenbahnwesen als Daseinsvorsorge145 ben zu erfüllen sind, dürften insbesondere folgende Kriterien eine Rolle spielen: die technischen und wirtschaftlichen Merkmale der fraglichen Dienstleistung; die Anforderungen der Nutzer; die kulturellen und historischen Eigenheiten des betreffenden Mitgliedstaats.“

Unter diesen europäischen Prämissen wurde Art.  87 e GG 1993 in das Grundgesetz aufgenommen und bildet als Zentralnorm des neuen Eisenbahnverfassungsrechts die verfassungsrechtliche Grundlage der Bahnreform. Die Vorschrift wird gerne als bereichsspezifische Ausprägung des Sozialstaatsprinzips behandelt.58 Das ist falsch, weil verkürzt: In Art. 87 e GG fließen sämtliche Elemente des sozialen Rechtsund Bundesstaats ein. Art 87 e GG bildet ein eigenes Mikrosystem im Gesamtsystem des Grundgesetzes. Art. 87 e GG gibt die Richtung der Bahnreform vor, betrifft das BundLänder-Verhältnis und enthält implizit mehrere darüber hinausgehende materielle Aussagen. Art. 87 e GG steht nicht von ungefähr im Abschnitt VIII des Grundgesetzes, der den Vollzug von Bundesgesetzen und die Bundesverwaltung zum Gegenstand hat. Daneben gibt es weitere Vorschriften des Grundgesetzes, die das föderale Eisenbahnwesen regeln (Art. 73 Abs. 1 Nr. 6a, Art. 74 Abs. 1 Nr. 23, Art. 80 Abs. 2, Art. 106a, Art. 143a GG). Dabei handelt es sich um Mosaiksteine aus dem Gesamtbild der Eisenbahnverfassung. Systematisch folgerichtig regelt Art. 87 e GG in erster Linie Bundeskompetenzen. Anknüpfungspunkt sind die Eisenbahnen des Bundes. Diese sind nach der Legaldefinition des Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG Eisenbahnen, die ganz oder mehrheitlich im Eigentum des Bundes stehen. Dadurch wird die Kompetenzzuordnung instabil. Der Bund gibt durch Eigentumsveräußerungen seine Verwaltungskompetenz preis. Ein funktionelles Verständnis des Begriffs der Eisenbahnen des Bundes, das auf die Trennung von Nahverkehr und Fernverkehr abstellt, würde 58  Brosius-Gersdorf,

VerwArch, 2007, 328; Knauff, S. 247.

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das Verhältnis von Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz sprengen. Entfiele das Bundeseigentum durch Veräußerung, entfiele die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz, es bliebe aber bei der Verwaltungskompetenz des Bundes. Die Hoheitsaufgaben im Eisenbahnwesen (Gefahrenabwehr, Sicherheit, Polizei) unterliegen dem Staatsvorbehalt. Eine Privatisierung ist hier ausgeschlossen. Diese werden in Art. 87 e Abs. 1 und 2, sowie Abs. 5 Satz 1 zwischen Bund und Ländern verteilt. Das Daseinsvorsorgeprinzip hat auch eine bundesstaatliche Komponente. Der Begriff der Eisenbahnverkehrsverwaltung ist für die Daseinsvorsorge nach wie vor nicht ganz verschlossen. Während es den Ländern freisteht, an der Eigenerbringung von SPNV-Leistungen festzuhalten, ist der Bund auf das klassische jus supremae inspectiones beschränkt, das man ebenso modisch wie geschichtsvergessen Regulierung nennt. Implizit, über das Bund-Länder-Verhältnis hinausgehend, enthält Art. 87 e GG weitere materielle Aussagen. Die erste materielle Aussage ist die in Art. 87 e Abs. 3 Satz 1 GG, wonach die Eisenbahnen des Bundes als Wirtschaftsunternehmen in privatrechtlicher Form geführt werden. Ist mit der privatrechtlichen Form die Organisation oder die Tätigkeit gemeint? Die Formulierung in Art.  87  e Abs.  3 Satz 1 GG deutet darauf hin, dass mit der privatrechtlichen Form die Organisationsform gemeint ist. Hierfür spricht das „als“ (nicht „wie“), das „werden geführt“ sowie die eigentumsrechtliche Zuordnung. Materiell ist daraus abzuleiten, dass die Eisenbahnen des Bundes juristische Personen des privaten Rechts sein müssen. Mehr nicht. Ob sie grundrechtsfähig oder grundrechtsgebunden, d. h. ob sie Träger der Daseinsvorsorge sind, ist damit nicht gesagt. Mit „in privatrechtlicher Form“ könnte freilich auch die Tätigkeit gemeint sein. Der Bund strebte bei der Bahnreform immerhin eine umfassende Organisationsprivatisierung an. Aber die subjektive Auslegung hat bei der Verfassungsinterpretation geringes Gewicht. Außerdem wurde der Bund durch die Länder ausgebremst. Wenn die Organisationsform in Art. 87 e Abs. 3 GG den Schluss auf die Handlungsform trägt, kann sich das nur aus systematischen Erwägungen ergeben. Privatrechtliche



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Organisationsformen handeln nicht zwangsläufig privatrechtlich. Ihnen können durchaus auch Gemeinwohlverpflichtungen auferlegt werden. Sie können im Falle der Beleihung sogar öffentlich-rechtlich handeln. Im Übrigen ist die Geltung des Verwaltungsprivatrechts mit Grundrechtsbindungen nicht von vornherein ausgeschlossen. In der Gegenwart verzeichnen wir unter dem Stichwort des Regulierungsverwaltungsrechts eine Auflösung der Trennung des öffentlichen und privaten Rechts, die unsere gesamte Rechts- und Verfassungskultur aus den Angeln zu heben droht. Im Eisenbahnwesen enthält die privatrechtliche Form die Entscheidung für die Privatautonomie und die Verfolgung von Rentabilitätsinteressen der privaten Wirtschaftsunternehmen. Das Gemeinwohl ist in Art. 87 e GG in Abs. 4 verortet, wo das Wohl der Allgemeinheit ausdrücklich erwähnt wird. Ein Einfallstor für Regulierungen ist allenfalls der letzte Satz des Absatzes, der einen Regelungsauftrag für den Bundesgesetzgeber enthält. Da es um das Eigentum an den Unternehmen, nicht um das Eigentum der Unternehmen geht, kann der Substanzerhalt des Schienennetzes nicht mit der Eigentumszuordnung bezweckt sein. Nach Art. 87 Abs. 3 Satz 2 stehen die Wirtschaftsunternehmen der DB im Eigentum des Bundes, soweit die Tätigkeit des Wirtschaftsunternehmens den Bau, die Unterhaltung und das Betreiben von Schienenwegen umfasst. Das legt den Schuss nahe, dass die Wirtschaftsunternehmen nur im Eigentum des Bundes stehen, wenn sich ihre Tätigkeit auf die Schienenwege bezieht. Im Wege des Umkehrschlusses gilt dann, dass Verkehrsunternehmen nicht im Eigentum des Bundes stehen. Aber das Eigentum des Bundes ist Begriffsmerkmal der Eisenbahnen des Bundes, die nach Abs. 3 Satz 1 als Wirtschaftsunternehmen in privatrechtlicher Form zu führen sind. Also gibt es doch Eisenbahnverkehrsunternehmen des Bundes. „Die Veräußerung von Anteilen des Bundes und Unternehmen nach Satz 2 erfolgt“ gemäß Satz 4 aufgrund eines Gesetzes. Eindeutig scheint nur Art. 87 e Abs. 3 Satz 4 Halbsatz 2 GG zu sein, wonach die Mehrheit der Anteile des Netzunternehmens des Bundes beim Bund verbleiben muss. Gerade in dieser Veräußerungssperre steckt die Hauptproblematik der aktuellen Bahnreform,

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dass nämlich Abs. 3 als dynamisch, Abs. 4 als statisches Element anzusehen ist. 3. Einfaches Recht Im Infrastrukturrecht des AEG sticht die Parallele zum Wettbewerbsrecht sofort ins Auge. Die Trennung von Eisenbahninfrastrukturunternehmen und Eisenbahnverkehrsunternehmen erinnert an die Unterscheidung der verschiedenen Märkte im Wettbewerbsrecht. Die DB AG verfügt über ihre Töchter über die Infrastruktur, konkurrierenden Eisenbahnverkehrsunternehmen den Zugang zur Eisenbahnverkehrsin­ frastruktur zu erschweren. Der essential-facility-Doktrin bedarf es aber nicht, da § 14 AEG eine speziellere Regelung trifft. § 14 AEG hat auch gar nicht die Stoßrichtung, den Wettbewerb im Interesse der Marktteilnehmer zu gewährleisten. Das EBA ist keine Wettbewerbsbehörde mit der Aufgabe, wirtschaftlichen Machtmissbrauch zu ahnden. Hierzu trifft § 19 Abs. 4 GWB eine viel differenziertere Regelung. Nicht ohne Grund bleiben nach § 14 Abs. 5 Satz 2 die Aufgaben und Zuständigkeiten der Kartellbehörden nach dem GWB unberührt. Das EBA wacht vielmehr über die Funktionsfähigkeit des Verkehrswesens im Eisenbahninfrastruktur- und Eisenbahndienstleistungsbereich. Ähnlich wie das EBA Sorge zu tragen hat, dass die wesentliche Eisenbahn­infrastruktur nach Möglichkeit erhalten bleibt (§ 11 AEG), hat es dafür Sorge zu tragen, dass kontinuierlich Eisenbahnverkehrsdienstleistungen erbracht werden. Der diskriminierfreie Zugang nach § 14 AEG läuft – in traditionellen Kategorien formuliert – auf einen beschränkten Gemeingebrauch der Eisenbahnverkehrsunternehmen an der Eisenbahninfrastruktur hinaus. Damit bewegen wir uns auf dem gesicherten Boden des Verwaltungsrechts, wo das Eisenbahnwesen eigentlich hingehört.



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IV. Schlussbemerkung Die Daseinsvorsorge ist kein Relikt des Wohlfahrtstaats, sondern tragendes Element des Verfassungsstaates der Industriegesellschaft. Sie umfasst die Leistungen, die für das Funktionieren dieser Industriegesellschaft und für die Entfaltung der Grundrechte in ihr unverzichtbar sind. Im Daseinsvorsorgebereich gelten die Grundrechte unmittelbar. Welche Leistungen dies sind, bestimmt der Gesetzgeber nach Maßgabe des Grundgesetzes. Er macht dann die Daseinsvorsorge zum Rechtsbegriff. Trotz eines Bedeutungsverlustes gegenüber Pkw  /  Lkw und Flugzeug ist die Bahn für die verkehrliche Daseinsvorsorge im Verfassungsstaat der Industriegesellschaft unentbehrlich. Die Bedeutung, die der Staat diesem Verkehrsträger beimisst, zeigt sich an der Art und Weise, wie er seiner Verantwortung für das Eisenbahnwesen gerecht wird. Die Bahnreform hielt am Bekenntnis zur Daseinsvorsorge fest.

Staat und Markt als interdependente Systeme Von Christoph Ohler, Jena* I. Einleitung Eine der Leitfragen dieser Konferenz lautet, ob die Herrschaft des Staates durch eine Herrschaft des Geldes abgelöst worden ist. Die darin zum Ausdruck kommende Zuspitzung wird vor allem derjenige als berechtigt empfinden, der beide Bereiche von vornherein als Gegensätze wahrnimmt:1 die gemeinwohlorientierte, auf verbindlichen Regeln basierende ­ Sphäre des Staates einerseits, die Profitinteressen des Einzelnen dienende, allein dem Gesetz von Wettbewerb und Leistung gehorchende Sphäre des Geldes andererseits. Tatsächlich kennt die Menschheitsgeschichte seit jeher ein Nebeneinander, teilweise sogar eine innige Verschränkung von Herrschaftsund Geldordnung.2 Verfassungsrechtlich ist das über die Kategorie des Steuerstaates, der am wirtschaftlichen Ertrag teilnimmt, den seine Bürger erzielen, hinreichend abgesichert.3 Nicht weiter betont werden muss auch, dass erst der Staat *  Prof. Dr., der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffent­ liches Recht, Europarecht, Völkerrecht und Internationales Wirtschaftsrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 1  Vgl. insbesondere Kirchhof, Erwerbsstreben und Maß des Rechts, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. VII, 3. Aufl. 2010, § 169 Rn.  1 ff. 2  Paradigmatisch ist die Frage der Pharisäer an Jesus in Lukas 20, 22, ob es recht sei, dem Kaiser Steuern zu zahlen. Die Antwort lautete: „Zeigt mir einen Silbergroschen! Wessen Bild und Aufschrift hat er? Sie sprachen: Des Kaisers. Er aber sprach zu ihnen: So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ 3  Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 30 Rn. 51 ff.

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handlungs- und leistungsfähig ist, der selbst über hinreichende pekuniäre Einnahmen in Gestalt von Steuern und anderen Abgaben verfügt. Geld, die Antriebsfeder jeder arbeitsteiligen Wirtschaft, ist in funktionsfähigen Staaten ein Geschöpf der Rechtsordnung und in wesentlichen Zügen hoheitlich geprägt.4 Auch Kapital, ein Sammelbegriff, der juristisch etwa der Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 AEUV zugrunde liegt, entsteht als wirtschaftlicher Vermögenswert nur dann, wenn eine staatliche Rechtsordnung seine Schaffung und seinen rechtsgeschäftlichen Gebrauch vorsieht.5 Gleichzeitig gewährleisten erst freiheitliche Bedingungen, etwa in Gestalt von Grundrechten und Grundfreiheiten, sowie gesicherte rechtsstaatliche Verhältnisse, die ihrerseits von staatlichen Garantien abhängig sind, dass Geld und Kapital von ihren Eigentümern wirtschaftlich nutzbringend eingesetzt werden können. Bereits diese Erwägungen zeigen, dass es keinen natürlichen Gegensatz der beiden Sphären gibt, sondern dass es allein darum gehen kann, wie ihr Verhältnis zueinander austariert wird. Eine Zuspitzung liegt der eingangs getroffenen Aussage aber auch insoweit zugrunde, dass bestimmte Paradigmen sich historisch abwechseln und jeweils „absolut“ gesetzt werden. Gibt es also heute einen paradigmatischen Vorrang des Marktes bzw. des Geldes vor dem Staat, letzter verstanden als Inbegriff organisierter Herrschaft, die dem Gemeinwohl verpflichtet ist? Die These scheint insbesondere vor dem Hintergrund der Finanzkrise von 2007 bis 2009 ihre Berechtigung zu haben. Die Ereignisse, die zum Entstehen der Krise geführt haben, gelten als Indizien, die auf die Marginalisierung des 4  Siehe hierzu Ohler, Die hoheitlichen Grundlagen der Geldordnung, JZ 2008, S. 317 ff.; zu einem institutionellen Geldbegriff in Abhängigkeit von der Existenz einer Zentralbank Sáinz de Vicuña, An Institutional Theory of Money, in: Giovanoli  /  Devos (Hrsg.), International and Monetary Law, 2010, S. 517 ff.; zu den gesellschaftlichen sowie den vermittelnden Auffassungen Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010, S. 62 ff. 5  Ohler, Europäische Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit, 2002, Art. 56 EGV Rn. 34 f.



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demokratischen Staates und seine Machtlosigkeit angesichts einer globalen Wirtschaft hinweisen.6 Der folgende Betrag stellt sich dieser These aus drei Richtungen. Erstens soll erläutert werden, worin die zentralen Ursachen der Finanzkrise liegen. Zweitens soll analysiert werden, wie in Deutschland, der Europäischen Union und auf internationaler Ebene durch die G 20 auf diese Vorgänge reagiert wurde. Diese Überlegungen sollen drittens die Grundlage bilden, um Schlussfolgerungen für das aktuelle Verhältnis von Staat und Markt zu ziehen. II. Ursachen der Finanzkrise 1. Immobilienpreisblase in den USA Die Analyse der vielfältigen Ursachen, die zur Entstehung und Ausbreitung der Finanzkrise führten, ist bis heute nicht abgeschlossen. Einigkeit herrscht nicht einmal in grundsätz­ lichen Fragen der Gewichtung der Ursachen, denn je nach wirtschaftspolitischem Standpunkt des Betrachters gelten verschiedene Faktoren als mehr oder weniger relevant. Holzschnittartig ergibt sich aber das folgende Bild: Der unmittelbare Auslöser der Ereignisse ist im Laufe des Jahres 2006 zu suchen, als ein Teil des US-amerikanischen Immobilienmarktes, der sogenannte Subprime-Markt, niederging, der zuvor jahrelang geboomt hatte.7 Der Boom der Vorjahre war im Wesent­lichen 6  Vgl. Kirchhof, Erwerbsstreben und Maß des Rechts, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. VII, 3. Aufl. 2010, § 169 Rn. 15, 24; Goodhart / Lastra, Border Problems, JIEL 2010, S. 705 (714 f.). Eine bewusst staatliche Autorität neu betonende Position vertritt Höfling, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten F, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010. 7  Hellwig, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten E, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, E 12 ff.; Heun, Der Staat und die Finanzkrise, JZ 2010, S. 53 (55); Rudolph, Die internationale Finanzkrise: Ursachen, Treiber, Veränderungsbedarf und Reformansätze, ZGR 2010, S. 1 (4 ff.).

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kreditfinanziert und wurde durch Kreditnehmer getragen, die über kein weiteres Vermögen verfügten und damit die Darlehen ausschließlich über ihr Arbeitseinkommen finanzierten. Aufseiten vieler Banken unterblieben kritische Bonitätsprüfungen der Schuldner und tragfähige Wertgutachten zu den finanzierten Immobilien.8 Verschiedene Umstände begünstigten dieses, allen bankwirtschaftlichen Grundregeln widersprechende Geschäftsgebaren. Hierzu zählten vor allem konstant steigende Immobilienpreise dank eines freundlichen gesamtwirtschaft­ lichen Umfeldes und die sozialstaatlich motivierte Förderung privaten Immobilienerwerbs für jedermann ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit.9 Beide Faktoren hatten wesentlichen Einfluss auf die verbreitete Einschätzung, dass das Geschäftsmodell nur mit geringen Risiken verbunden sei. Aber auch die historisch niedrigen Kapitalmarktzinsen in den USA begünstigten die Boom-Stimmung und trugen ihren Teil bei, diesen Markt ungeordnet wachsen zu lassen. 2. Forderungsverbriefung Zu einem Perpetuum Mobile geriet dieses Modell aber erst aufgrund der seit vielen Jahren erprobten, aufsichtsrechtlich anerkannten und daher auch international eingesetzten Finanzierungstechnik der Forderungsverbriefung.10 Hierbei verkauft 8  Hellwig, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten E, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, E 13; Messerschmidt, Developments in Banking Law: 2006–2007, The subprime mortgage crisis, Review of Banking & Finance Law 27 (2008), S. 1 (4). 9  The High Level Group on Financial Supervision in the EU (De Larosière-Report) vom 25. Februar 2009, S. 7, http: /  / ec.europa.eu /  internal_market / finances / docs / de_larosiere_report_en. pdf; Ohler, International Regulation and Supervision of Financial Markets after the Crisis, in: Herrmann / Terhechte (Hrsg.), EYIEL 2010, S. 3 (6 f.). 10  Hellwig, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten E, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, E 16 ff.; Heun, Der Staat und die Finanzkrise, JZ 2010, S. 53 (55); Kumpan, Conflicts



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der Kreditgeber seine Darlehensforderung an einen Käufer, typischerweise eine allein zu diesem Zweck errichtete Gesellschaft. Diese finanziert den Kaufpreis durch die Emission eigener Wertpapiere auf der wirtschaftlichen Grundlage der angekauften Darlehen. Die Erwerber der Wertpapiere, ausschließlich große, institutionelle Kapitalmarktinvestoren, erhalten die ihnen geschuldeten Leistungen aus dem Zahlungsstrom, der von den ursprünglichen Kreditnehmern an den ursprünglichen Kreditgeber fließt. Bei einer wirtschaftlichen Gesamtbetrachtung überträgt somit der Kreditgeber sein Kreditrisiko an Kapitalmarktinvestoren und gewinnt damit neuen Spielraum für weitere Kreditvergaben.11 Diese Technik verstärkte in der Phase des wirtschaftlichen Booms in den USA die Illusion einer praktisch risikolosen Kreditvergabe. Die emittierten Wertpapiere wurden überdies von manchen Banken mehrfach „verpackt“, d. h., sie dienten als Grundlage für Verbriefungsketten, an deren Ende das Bewusstsein dafür zu fehlen schien, dass es überhaupt das zugrunde liegende Kreditrisiko in Gestalt der US-ameri­kani­schen Hausbesitzer gab.12 Die Forderungsverbriefung bildete schließlich auch die wesentliche Ursache für die weltweite Verbreitung der faulen Geschäfte. Erwerber der Wertpapiere waren durchweg große, global tätige Investoren aus der Bank- und Versicherungswirtschaft.13 Der Rest ist vergleichsweise einfach erzählt: Als of Interest in Securitisation: Adjusting Incentives, Journal of Corporate Law Studies 2009, S. 261 ff. 11  Siehe hierzu Klüwer / Rinze, Securitisation – praktische Bedeutung eines Finanzierungsmodells, BB 1998, S. 1697 ff.; Zeising, Asset Backed Securities (ABS) – Grundlagen und neuere Entwicklungen, BKR 2007, S. 311 ff. 12  Hellwig, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten E, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, E 22. 13  Ohler, International Regulation and Supervision of Financial Markets after the Crisis, in: Herrmann / Terhechte (Hrsg.), EYIEL 2010, S. 3 (9); Rudolph, Die internationale Finanzkrise: Ursachen, Treiber, Veränderungsbedarf und Reformansätze, ZGR 2010, S. 1 (4 f.).

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ab dem Jahr 2006 ein konjunktureller Abschwung in den USA zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und fallenden Preisen auf dem Immobilienmarkt führte, schwand die wirtschaftliche Grundlage für das gesamte Geschäftsmodell.14 Gleichzeitig hob die US-amerikanische Zentralbank die Geldmarktzinsen mehrfach an, was wiederum zu steigenden Kreditkosten für die Darlehensschuldner führte. Diese Entwicklungen brachten in ihrem Zusammenwirken den systematisch unterschätzten Risikogehalt der kreditfinanzierten Immobi­ liengeschäfte ans Licht,15 was sich alsbald in ersten Zahlungsausfällen der Kreditnehmer manifestierte. Im Laufe des Jahres 2007 entwickelte sich auf den Märkten für Forderungsverbriefungen, wo die Risiken wirtschaftlich lagen, zunächst Unsicherheit, im Fortgang der Immobilienkrise sogar Panik. Massenhafte Verkäufe einzelner Investoren führten zur Illiquidität dieser Wertpapiermärkte und für die Investoren, die die Papiere noch hielten, zum Zwang, Abschreibungen auf den Buchwert der Papiere vorzunehmen. Diese Eigenkapitalverluste lösten eine weit verbreitete Unsicherheit über die bilanzielle Lage der betroffenen Investoren aus,16 wohlgemerkt durchweg große Finanzinstitute, und erschütterten damit das Vertrauen in die Bonität dieser Marktteilnehmer auch auf anderen Teilmärkten des Finanzsektors. Der Zusam­ menbruch der US-amerikanischen Investmentbank Lehman ­Brothers legt hiervon ein beredtes Zeugnis ab – und bildete zugleich das Fanal für die Vertiefung der Krise. Schließlich kam im Herbst 2008 der für die tägliche Geldversorgung der Banken überaus wichtige Interbankenmarkt vollständig zum Erliegen, sodass Banken einander keine Liquidität mehr be14  Reinhart / Rogoff,

This time is different, 2009, S. 213. Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten E, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, E 24 f. 16  Rudolph, Die internationale Finanzkrise: Ursachen, Treiber, Veränderungsbedarf und Reformansätze, ZGR 2010, S. 1 (21 f.). Als Eigenkapitalkrise qualifizieren Lastra / Wood, The Crisis of 2007– 2009: Nature, Causes and Reactions, JIEL 2010, S. 531 (535) diese Ereignisse. 15  Hellwig,



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reitstellten.17 Diese Bankenkrise schlug unmittelbar auf die Realwirtschaft durch, sodass es ab Jahresende 2008 bis zum Jahresende 2009 und teilweise darüber hinaus zu einer scharfen, globalen Rezession kam. 3. Weitere strukturelle Gründe Mit der Beschreibung dieser Mechanismen ist es indes nicht getan, denn tieferliegende strukturelle Bedingungen haben das Entstehen und die Verbreitung der Krise erst ermöglicht. Hierzu ist zunächst die jahrelange Politik billigen Geldes in den USA und Japan zu rechnen,18 die ihren Teil zur Illusion praktisch kostenlosen Kredits beitrug und viele Kreditgeber und Kreditnehmer zu stark risikohaltigen Investitionen motivierte. Die Zentralbanken in beiden Staaten verfolgten dabei das aus ihrer Sicht sinnvolle Ziel, bei geringen allgemeinen Inflationsrisiken günstige Bedingungen für die Kreditvergabe und daraus entstehendes, breites Wirtschaftswachstum zu schaffen.19 Während der vergleichsweise langen Phase dieser rein auf Wirtschaftsexpansion gerichteten Geldpolitik schwand das Bewusstsein, dass in einer Marktwirtschaft finanzielle Risiken etwas kosten und dass die Risiken sich auch realisieren können. Hierfür trugen die beteiligten Zentralbanken Verantwortung, denn sie ignorierten nicht nur das Entstehen von kreditfinanzierten Vermögenspreisblasen, sondern auch 17  Siehe Kotz, Finanzmarktkrise – eine Notenbanksicht, Wirtschaftsdienst 2008, S. 291 ff.; Rudolph, Die internationale Finanzkrise: Ursachen, Treiber, Veränderungsbedarf und Reformansätze, ZGR 2010, S. 1 (22). Ferner Becker / Mock, FMStG, 2009, Einleitung Rn. 3. 18  Lastra / Wood, The Crisis of 2007–2009: Nature, Causes and Reactions, JIEL 2010, S. 531 (538). 19  Siehe Section 2a US Federal Reserve Act of 1913, 12 USC 225a: „The Board of Governors of the Federal Reserve System and the Federal Open Market Committee shall maintain long run growth of the monetary and credit aggregates commensurate with the economy’s long run potential to increase production, so as to promote effectively the goals of maximum employment, stable prices, and moderate long-term interest rates.“

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den gefährlichen psychologischen Anreizmechanismus, der von billigem Geld ausgeht.20 Den Zentralbanken ist allerdings zugute zu halten, dass die Identifizierung und Bekämpfung einer solchen Vermögenspreisblase aus Ex-ante-Sicht außerordentlich schwierig und mit zahlreichen Unsicherheiten behaftet ist.21 Zudem bezieht sich nach bisherigem, international verbreitetem Verständnis die Erhaltung von Preisstabilität allein auf die Verbraucherpreise, nicht aber auf die Preise von Vermögenswerten.22 Ein weiterer Grund für die Ausbreitung der Krise ist im Abbau von gesetzlichen Schranken für den freien Kapitalverkehr zu sehen. Die Investoren konnten international nach Anlagemöglichkeiten suchen, ohne hierbei staatlichen Hemmnissen gegenüberzustehen. Praktisch alle großen Nationen hatten in den vergangenen Jahrzehnten zum Wohle ihrer Volkswirtschaften die Kapitalverkehrskontrollen abgebaut. Das erwies sich zunächst als Segen in Form von verstärktem Wettbewerb und günstigem Kapitalangebot, gestaltete sich in der Krise aber als Fluch. Durch das Fehlen territorialer Begrenzungen für Kapitalverkehrsgeschäfte konnten sich auch die mit jedem Kapitalgeschäft zwangsläufig verbundenen Risiken international ausbreiten, als die Krise eintrat.23 Auf die Bedeutung anderer Faktoren, wie die Rolle der ­Rating-Agenturen bei der Bewertung der Forderungsverbrie20  So vor allem Reinhart / Rogoff, This time is different, 2009, S. 212 f.; a. A. Hellwig, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten E, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, E 38 f. 21  Dudley, Asset bubbles and the implications for central bank policy, BIS Review 43 / 2010, S. 1 (5 ff.), http: / / www.bis.org. 22  Gianviti, The Objectives of Central Banks, in: Giovanoli  / Devos (Hrsg.), International and Monetary Law, 2010, S. 449 (469). 23  Ohler, International Regulation and Supervision of Financial Markets after the Crisis, in: Herrmann / Terhechte (Hrsg.), EYIEL 2010, S. 3 (10 f.). Bezogen auf den Devisenhandel ebenso Sono / Kanda, In Search of Order in the World Monetary System, in: Giova­ noli / Devos (Hrsg.), International and Monetary Law, 2010, S. 506 (511 ff.).



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fungen24 und die Anreizstrukturen von Gehaltssystemen in Investmentbanken,25 soll hier nicht vertieft eingegangen werden. Beide Faktoren haben einen nachteiligen Einfluss ausgeübt, der aber gegenüber dem der anderen Krisenursachen in den Hintergrund tritt. Stattdessen soll auf einen weichen Faktor aufmerksam gemacht werden, der materiell nicht zu greifen ist, aber eine psychologisch große Rolle spielt.26 Im Vorgehen beinahe aller Beteiligten, seien es die US-amerikanischen, staatlich geförderten Immobilienfinanzer Fannie Mae und Freddie Mac, die verbriefenden Investmentbanken, die Rating-Agenturen oder die Käufer der Wertpapiere, spiegelt sich ein fast hypertroph zu nennender Machbarkeitsglauben.27 Es ist die auf den ersten Blick rationale Vorstellung, dass durch geschicktes Gestalten, kluges Berechnen und schnelles Handeln elementare Risiken wenn nicht eliminiert, so doch beherrschbar gemacht werden können. Die Irrationalität liegt aber darin, dass die ­Betrachtung sich am Ende auf einige wenige, als beherrschbar geltende Risiken konzentriert, während die Existenz anderer Risiken entweder ignoriert oder systematisch kleingerechnet wird.28 Das bewusste Ausblenden anderer Risiken kann zwar für eine bestimmte Zeit berechtigt sein und erscheint selbst rational, soweit die Bewertungen sich auf datenmäßig abgesi24  Schön / Cortez, Finanzmarktkrise als Vertrauenskrise, IRZ 2009, S. 11 ff.; Bd. I, 2010; Zimmer, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten G, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, G  20 f. 25  Zimmer, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten G, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, G 21. 26  Das Schrifttum nimmt meist Gründe wie Herdenverhalten und individuelle Gier an, siehe Lastra / Wood, The Crisis of 2007–2009: Nature, Causes and Reactions, JIEL 2010, S. 531 (543). 27  Ähnlich Reinhart / Rogoff, This time is different, 2009, S. 1, 15 ff., 203 und öfter; Hellwig, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten E, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, E 45 spricht von der „Illusion der Messbarkeit von Risiken“. 28  Vgl. Heun, Der Staat und die Finanzkrise, JZ 2010, S. 53 (56).

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cherte historische Erfahrungen stützen. Letztlich zeigen diese Modelle und das in sie gesetzte Vertrauen aber, wie reduktionistisch im Zweifelsfall die menschliche Rationalität ist. Überwiegt am Ende das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der eigenen Risikomodelle die Skepsis über die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns, dann geht auch die Bereitschaft verloren, die eigenen Grundannahmen und die daraus folgenden Risikoeinschätzungen zu hinterfragen und ggf. durchgreifend zu korrigieren.29 Dieser Geist, der nicht auf die Finanzwirtschaft begrenzt ist, sondern auch in Politik und Verwaltung anzutreffen sein kann,30 führt zur Selbstüberschätzung und im ungünstigen Fall zur Fehleinschätzung der realen Situation. Das heißt nun nicht, dass ein „vernünftiges“ wirtschaftliches Handeln nur dasjenige sei, das jegliches Risiko vermeidet. Eine solche Auffassung wäre angesichts der unabweisbaren Risiken des täglichen Lebens nicht nur unrealistisch, sie würde auch zu einer Lähmung aller wirtschaftlichen Kräfte führen und das Streben nach sozialen Verbesserungen ausschließen. III. Staatliche Reaktionen 1. Krisenmanagement Die staatlichen Reaktionen auf die Finanzkrise waren praktisch ohne Alternative. Im Hintergrund aller Überlegungen stand der Gedanke, eine Situation zu vermeiden, wie sie in der Weltwirtschaftskrise zwischen 1929 und 1932 eingetreten war.31 In der aktuellen Finanzkrise galt es, zwei Probleme zu be29  Die Grenzen der menschlichen Vernunft betont Kirchhof, Erwerbsstreben und Maß des Rechts, in: Isensee  /  Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. VII, 3. Aufl. 2010, § 169 Rn. 74. 30  Hellwig, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten E, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, E 47 nennt die Fixierung auf die Mechanik der Eigenkapitalregeln durch die staat­ liche Bankenaufsicht. 31  Siehe zu einem solchen Vergleich Ohler, Finanzkrise und Finanzmarktverfassung 1929 und heute, in: Pauly (Hrsg.), Wende­



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kämpfen. Zum einen sollte vermieden werden, dass der Stillstand des Interbankenmarktes die daran beteiligten Banken zunächst zahlungsunfähig und am Ende insolvent werden lässt. Aus diesem Grund stimmten sich alle großen Zentralbanken weltweit ab, praktisch unbegrenzt Liquidität in Form von Zentralbankgeld für Geschäftsbanken zur Verfügung zu stellen.32 Parallel hierzu wurden die Kreditbedingungen für Geschäfte mit der Zentralbank erleichtert, vor allem durch das rasche Absenken der Zinsen und die Hereinnahme von Kreditsicherheiten, die die Zentralbanken in Normalzeiten nicht als ausreichend akzeptiert hätten.33 Zum anderen mussten Lösungen für solche Banken gefunden werden, die drohten, trotz dieser Maßnahmen in die Insolvenz zu gehen, weil sie erhebliche Abschreibungen auf ihre Aktiva und laufende Verluste hinnehmen mussten. Hier sprangen in allen großen Industriestaaten die staatlichen Haushälter ein, indem sie diesen Banken frisches Eigenkapital zur Verfügung stellten.34 Der Preis war hoch, denn die Rekapitalisierung erfolgte in einzelnen Fällen, wie dem der HRE, nur mit der gleichzeitigen Drohung der Enteignung, was verfassungspolitisch ein Novum darstellte und von manchen Beobachtern als Systembruch empfunden wurde.35 Der Preis der Bankenrettung war auch in monetärer Hinsicht hoch, denn die erforderlichen Beträge konnten nur durch staatliche Verschuldung erlöst werden.36 Zu rechtfertigen ist die punkte – Beiträge zur Rechtsentwicklung der letzten 100 Jahre, 2009, S. 124 ff. 32  EZB, Jahresbericht 2008, S.  167 und 196, http:  /   /  www.ecb. int / pub / pdf / annrep / ar2008de.pdf; Deutsche Bundesbank, Monats­ bericht November 2008, S. 36; Monatsbericht Februar 2009, S. 24 f. 33  EZB, Jahresbericht 2009, S. 18. 34  Zum deutschen Finanzmarktstabilisierungsgesetz siehe statt vieler: Becker / Mock, FMStG, 2009; Jaletzke / Verannemann, FMStG, 2009. 35  Die wissenschaftliche Kritik richtete sich dagegen vor allem gegen den privilegierten squeeze-out zugunsten des Staates, siehe Böckenförde, Die getarnte Enteignung, NJW 2009, S. 2484 ff.; Gurlit, Finanzmarktstabilisierung und Eigentumsgarantie, NZG 2009, S. 601 ff. 36  Heun, Der Staat und die Finanzkrise, JZ 2010, S. 53 (60).

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kreditfinanzierte Bankenrettung durch die systemische Bedeutung dieser Banken.37 Gleichzeitig brachen in Folge der globalen Rezession die Steuereinnahmen vieler Staaten zusammen, während sie die Ausgaben erhöhten, um die Konjunktur zu stabilisieren. In diesen Vorgängen liegt übrigens die Wurzel für die Verschuldungskrise, die im ersten Halbjahr 2010 den Euroraum erschütterte.38 2. Restrukturierung systemrelevanter Institute Die von vielen Vertretern der Wissenschaft zu Recht immer wieder erhobene Forderung, auch systemisch relevante Institute einem Insolvenzverfahren zu unterwerfen,39 war im Zeitraum der Krise praktisch nicht realisierbar. Es stand mit hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass die Insolvenz solcher Institute das Weltwirtschaftsystem schlagartig in eine tiefe Rezession gerissen hätte.40 Denn um ein Vielfaches stärker als in der Weltwirtschaftskrise von 1929 sind die Finanzmärkte heute verflochten und durch zahllose Geschäfte voneinander abhängig. Löste man systemrelevante Institute im Wege einer „normalen“ Insolvenz aus diesem Geflecht komplexer und oftmals langfristiger Verbindungen, hätte das unabsehbare, negative Kettenreaktionen im Finanzsektor und schließlich auch in der Realwirtschaft zur Folge. Das ist auch der Grund, warum in Deutschland in Gestalt des Restrukturierungsgesetzes vom 37  Ohler, Bankensanierung als staatliche Aufgabe, WiVerw 2010, S. 47 ff. Zum Begriff der systemischen Relevanz Günther, Systemrelevanz von Finanzinstituten, WM 2010, S. 825 (826 f.); Mülbert, Systemrelevanz, in: FS Schneider, 2011, S. 855 ff. 38  Zu solchen Doppelkrisen siehe Aschinger, Währungs- und Finanzkrisen, 2001, S. 174 f.; Reinhart / Rogoff, This time is different, 2009, S. 231 ff. 39  Zimmer, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten G, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, G 11 ff. 40  Hopt / Fleckner / Kumpan / Steffek, Kontrollerlangung über systemrelevante Banken nach den Finanzmarktstabilisierungsgesetzen, WM 2009, S. 821 (821).



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9. Dezember 2010 intensiv an einer Lösung gearbeitet wurde,41 die künftig eine geordnete Abwicklung solcher Banken ermöglichen soll.42 Die gesetzliche Möglichkeit, ein marktwirtschaftliches Scheitern durch ein staatlich überwachtes Abwicklungsverfahren zu sanktionieren, an dessen Ende die Haftung der Anteilseigner und schließlich das „Aus“ des Unternehmens steht, ist schon aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit aller Banken zwingend geboten.43 Auch verhindert erst die reale Möglichkeit einer Insolvenz von systemrelevanten Banken die als „moral hazard“ charakterisierte Wahrnehmung auf den Märkten und selbst im Bankmanagement, das Institut sei faktisch durch staatliche Garantien vor einem Zusammenbruch geschützt.44 Schließlich schützt der Staat sich selbst, denn er verringert das „Erpressungspotential“, genauer gesagt die politischen Handlungszwänge, eine krisengefährdete Bank unter hohen Kosten retten zu müssen.45 Auf drei Wegen soll dieses Ziel erreicht werden, wobei die Verfahren danach unterscheiden, ob es sich um ein systemrelevantes Institut handelt oder 41  BGBl. I 2010, S. 1900. Zu entsprechenden Überlegungen der Europäischen Kommission siehe KOM(2009) 561 endg. 42  Hierzu Höche, Das Restrukturierungsgesetz, WM 2011, S. 49 ff.; Müller-Eising / Brandi / Sinhart / Löw, Das Banken-Restrukturierungsgesetz, BB 2011, S. 66 ff.; Riethmüller, Das Restrukturierungsgesetz im ökonomischen und internationalen Kontext, WM 2010, S. 2295 ff.; Schelo, Neue Restrukturierungsregeln für Banken, NJW 2011, S. 186 ff. Zum schweizerischen Recht Zulauf, Schweizer Bankensanie­ rungsrecht – geeignet für systemrelevante Banken?, WM 2010, S. 1525 ff. 43  Zimmer, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten G, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, G 25. 44  Siehe statt vieler Bernanke, Community banking in a period of recovery and change, Rede vom 23. März 2011 in San Francisco, S. 4 des Manuskripts, http: /  / www.bis.org / review / r110324c.pdf?frames=0; Höfling, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten F, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, F 60. 45  Hellwig, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten E, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, E 54.

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nicht, ob das Verfahren privatrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Natur ist und welche Rechte die Aufsichtsbehörde BaFin innerhalb des Verfahrens genießt. Allen Instituten steht ein privatrechtliches, an die ZPO angelehntes Sanierungsverfahren zur Verfügung, das das Unternehmen durch Anzeige bei der BaFin selbst initiieren kann.46 Das Sanierungsverfahren dient der Vorbeugung einer Insolvenz und ist nicht mit Eingriffen in Rechte von Gläubigern verbunden, sieht man davon ab, dass Forderungen der Altgläubiger gegenüber den Forderungen aus Sanierungskrediten nachrangig gestellt werden können. Verspricht das Sanierungsverfahren keine Aussicht auf Erfolg, können systemrelevante Institute freiwillig ein privatrechtliches Reorganisationsverfahren durch Antrag bei der BaFin initiieren.47 Im Rahmen dieses Verfahrens ist es möglich, die Bank zu liquidieren, Fremdkapitalansprüche in Eigenkapital umzuwandeln, Vermögen auszugliedern oder Forderungen zu kürzen bzw. zu stunden. Solche belastenden Maßnahmen bedürfen allerdings der Zustimmung der Mehrheit der Gläubiger und Anteilseigner. Für die Einordnung beider Verfahren ist bedeutsam, dass sie das zuständige OLG nur auf Antrag der BaFin eröffnet, womit dieser Behörde ein erhebliches Entschließungsermessen zukommt. Denn alternativ zu dem privatrechtlichen Reorganisationsverfahren kann die BaFin rein hoheitlich auf der Grundlage der §§ 48a ff. KWG ein Restrukturierungsverfahren für systemrelevante Banken durchführen.48 Kern dieses Verfahrens ist die Anordnung durch Verwaltungsakt, dass das Vermögen einer Bank einschließlich seiner Verbindlichkeiten im Wege der Ausgliederung ganz oder teilweise auf einen übernehmenden Rechtsträger übertragen wird. Voraussetzung für diese staatlich erzwungene Abwicklung einer Bank49 ist die Be46  §§ 2 bis 6 Kreditinstitute-Reorganisationsgesetz, BGBl. I 2010, S. 1900. 47  §§ 7 bis 23 Kreditinstitute-Reorganisationsgesetz, BGBl. I 2010, S. 1900. 48  Den Entscheidungsspielraum der BaFin betont Mülbert, Systemrelevanz, in: FS Schneider, 2011, S. 855 (868). 49  Verfassungsrechtlich liegt wohl eine bloße Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG vor, ebenso



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standsgefährdung des Instituts, die ihrerseits droht, eine Systemgefährdung auszulösen, § 48a Abs. 2 KWG. Der übernehmende Rechtsträger soll als „Brückenbank“ vor allem das systemrelevante Geschäft fortführen,50 während Zeit gewonnen wird, um die nicht mehr lebensfähigen Unternehmensteile auf die ausgliedernde Bank rückübertragen zu können.51 Letztere soll dann einem Insolvenzverfahren unterworfen werden. Begleitet werden diese gesetzlichen Neuerungen durch die Errichtung eines Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute, der aus Sonderabgaben gespeist wird.52 Der Fonds dient ausweislich § 3 RStruktFG „der Stabilisierung des Finanzmarktes durch Überwindung von Bestands- und Systemgefährdungen im Sinne des § 48b des Kreditwesengesetzes“. Zu seinen Aufgaben gehört es, das Eigenkapital einzusetzen, das für die Errichtung von Brückenbanken erforderlich ist, Garantien auszusprechen oder bestehende Institute ggf. zu rekapitalisieren. Ob indes das Volumen des Fonds überhaupt ausreicht, größere Beträge für Eigenkapitalmaßnahmen aufzubringen, dürfte nach Einschätzung der meisten Beobachter mehr als zweifelhaft sein.53 Sollte der Fonds im Ernstfall nicht ausreichen, stünde der Staat erneut in der Verantwortung. 3. Verbesserung der Präventionsregeln Nach dem Krisenmanagement begann auf Ebene der G 20 wie in der EU ein Prozess lebhafter politischer Diskussion, wie künftig solche Krisen durch bessere rechtliche Regelungen zu vermeiden sind. Erstens werden die Anforderungen an das Müller-Eising / Brandi / Sinhart / Löw, Das Banken-Restrukturierungsgesetz, BB 2011, S. 66 (68). 50  Vgl. § 48j Abs. 3 Satz 4 KWG. 51  Die Frist für die Rückübertragungsanordnung der BaFin beträgt allerdings nur vier Monate, § 48j Abs. 1 Satz 1 KWG. 52  Restrukturierungsfondsgesetz vom 9. Dezember 2010, BGBl. I, S. 1921. 53  Positiver dagegen Martini, Zur Kasse bitte …! Die Bankenabgabe als Antwort auf die Finanzkrise – Placebo, Heilmittel oder Gift?, NJW 2010, S. 2019 (2023).

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Eigenkapital von Banken (Stichwort Basel III) verschärft.54 Die Verhandlungen hierzu finden im Basler Ausschuss für Bankenaufsicht statt, der seit der Krise eng an die G 20 rückgebunden ist. Inhaltlich sollen die Anforderungen an das aufsichtsrechtliche Eigenkapital steigen, indem die Kernkapitalquote erhöht und die Bestandteile des Kernkapitals auf Stammaktien und realisierte Gewinne beschränkt werden. Erstmals soll eine Begrenzung der Bilanzsumme im Verhältnis zum Eigenkapital erfolgen, um damit den Grad der Fremdkapitalisierung eines Instituts strikt quantitativ zu begrenzen. Zudem einigte sich der Basler Ausschuss auf Regeln für das Liquiditätsmanagement von Banken.55 Ferner hat gerade die EU verschiedene Vorschläge auf den Weg gebracht, um Finanzmarktteilnehmer, die bislang unreguliert waren, künftig einer staatlichen Aufsicht zu unterwerfen. Dahinter steht die Vorstellung, dass von den sogenannten „Schattenbanken“ die gleichen Gefahren für die Stabilität des Finanzsystems ausgehen können wie von den bislang bereits intensiv beaufsichtigten Kreditinstituten, Wertpapierfirmen und Versicherungsunternehmen.56 In der Union ist vor allem geplant, die Aufsicht auf Manager von Hedgefonds und ­Private Equity Fonds zu erstrecken.57 Bereits seit dem Jahr 2009 stehen Rating-Agenturen unter hoheitlicher Aufsicht,58 da ihre Bonitätsnoten für Investitionsentscheidungen auf den von Informationsasymmetrien geprägten Finanzmärkten eine wichtige Rolle spielen. Der Vorwurf, die Rating-Agenturen 54  Das Dokument findet sich unter http: /  / www.bis.org / publ / bcbs 189.pdf. Eine Darstellung und Bewertung unternimmt Scott, Reduc­ ing Systemic Risk through the Reform of Capital Regulation, JIEL 2010, S. 763 ff. 55  Zu finden unter http: /  / www.bis.org / publ / bcbs188.pdf. 56  Goodhart / Lastra, Border Problems, JIEL 2010, S. 705 (705 ff.); Ohler, Staatliche Aufsicht über Hedgefonds und Private Equity, in: Leible / Lehmann (Hrsg.), Hedgefonds und Private Equity – Fluch oder Segen?, 2009, S. 139 (150 ff.). 57  Vorschlag für eine Richtlinie über die Verwalter alternativer Investmentfonds, KOM(2009) 207 endg. 58  VO (EG) Nr. 1060 / 2009, ABl. 2009 Nr. L 302, S. 1.



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hätten durch falsche Einschätzungen den Boden für die Finanzkrise bereitet, war das zentrale Argument, diese Informationsintermediäre einer Aufsicht zu unterwerfen.59 Zu den Reformprojekten gehört es auch, den Handel mit Kreditderivativen zwingend über sogenannte Zentrale Gegenparteien abzuwickeln, die dann einer hoheitlichen Aufsicht und bestimmten Eigenkapitalanforderungen unterliegen. Schließlich zielen Überlegungen darauf, bestimmte Geschäftstypen einzuschränken, die als rein spekulativ gelten und denen die Tendenz innewohnt, Krisen zu verstärken.60 Betroffen sind ungedeckte Credit Default Swaps und ungedeckte Leerverkäufe von Wertpapieren, zu denen die Kommission einen Gesetzgebungsvorschlag vorgelegt hat.61 Deutschland ist hier bereits mit einem eigenständigen Verbot vorgeprescht,62 dessen Wirkung aber zweifelhaft ist, da der Handel nicht im Inland stattfindet bzw. ohne Weiteres aus Deutschland heraus verlagert werden kann. Schließlich wurde Banken der Erwerb von Wertpapieren aus Forderungsverbriefungen durch die Bedingung erschwert, dass der Originator das „first loss piece“ in Gestalt eines Selbstbehalts von 5 bzw. 10 % in der eigenen Bilanz behalten muss.63 Eines der wichtigsten Reformergebnisse aus den Erfahrungen der Finanzmarktkrise bildet jedoch die Schaffung eines „Europäischen Systems der Finanzaufsicht“.64 Im Sinne eines 59  Zimmer, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten G, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, G 70; Wendt / Lampert, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, DVBl. 2010, S. 1001 (1007). 60  Vgl. Zimmer, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten G, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, G 21, 81 ff. 61  KOM(2010) 482 endg. 62  §§ 4a, 30i, 30h WpHG. 63  § 18a KWG. 64  Siehe Herdegen, Bankenaufsicht im Europäischen Verbund, 2010; Triantafyllou, Zur Verantwortung des Staates für die Geldwirt-

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Netzwerks von Verwaltungsbehörden wurden vier europäische Verwaltungsagenturen neu errichtet, die untereinander und mit den Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten organisatorisch eng verbunden sind. Zweck der neuen Behördenstruktur ist es, die Qualität und Kohärenz der nationalen Aufsichtspolitiken zu verbessern und die Beaufsichtigung grenzüberschreitend tätiger Institutsgruppen zu stärken.65 Gleichsam an der Spitze steht ein „Europäischer Ausschuss für Systemrisiken“, der die Aufgabe hat, die makroökonomischen Entwicklungen zu überwachen und ihre Bedeutung für die Finanzmärkte zu analysieren.66 Neben diesem Ausschuss wurden drei europäische Behörden für die sogenannte mikroprudentielle Aufsicht in den Bereichen Banken, Versicherungen und Wertpapierhandel geschaffen.67 Sie sind organisatorisch identisch aufgebaut und arbeiten unabhängig von Weisungen der Kommission und der Mitgliedstaaten. Völlig neu ist auch die ihnen eingeräumte Befugnis, verbindliche Beschlüsse gegenüber Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten und gegenüber den beaufsichtigten Finanzinstituten zu erlassen.

schaft, EuR 2010, S. 585 ff.; Lehmann / Manger-Nestler, Die Vorschläge zur neuen Architektur der europäischen Finanzaufsicht, EuZW 2010, S. 87 ff. 65  Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 19. Juni 2009, Rn.  20; http: /  / register. consilium.europa.eu / pdf / de / 09 / st11 / st11225re02.de09.pdf. 66  VO (EU) Nr. 1092 / 2010 über die Finanzaufsicht der Europäischen Union auf Makroebene und zur Errichtung eines Europäischen Ausschusses für Systemrisiken, ABl. 2010 Nr. L 331, S. 1. 67  VO (EU) Nr. 1093  /  2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Bankenaufsichtsbehörde), ABl. 2010 Nr. L 331, S. 12; VO (EU) Nr. 1094 / 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersvorsorge), ABl. 2010 Nr. L 331, S. 48; VO (EU) Nr. 1095 / 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde), ABl. 2010 Nr. L 331, S. 84.



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4. Zwischenbilanz Eine Bewertung der bereits erfolgten und noch zu erwartenden Reformen ist derzeit nur in Ansätzen möglich. Die meisten Reformen bewegen sich in der Denklogik des bisherigen Aufsichtsrechts, sei es, dass die Aufsicht auf bislang nicht erfasste Unternehmen erstreckt wird, sei es, dass die bestehenden Anforderungen, wie beim Eigenkapitalrecht, deutlich verschärft werden.68 Niemand kann aber heute die Frage beantworten, ob diese Regeln tatsächlich das Entstehen einer neuen Krise verhindern können.69 Realistisch ist wohl die Einschätzung, dass die Prävention verbessert wurde, wobei aber die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese Vorkehrungen – wie jegliche Prävention – in Fällen scheitern, die heute noch niemand bedenkt.70 Das hängt vor allem damit zusammen, dass das Aufsichtsrecht aus der Aufarbeitung zurückliegender Krisen entsteht und aus ihrer Bewältigung nicht nur seine Legitimation, sondern auch seine Steuerungsperspektiven bezieht. Die Probe auf die Leistungsfähigkeit der Vorschriften zur Restrukturierung systemrelevanter Banken im KWG steht dabei noch aus. Eine Praxis, aus der heraus die Tauglichkeit der neuen Instrumente überprüft werden könnte, existiert nicht. Der Praxisfall wird überdies nur dann eintreten, wenn die künftige Krise sehr groß ist und wenig Zeit zum Planen und Abwägen lässt. Dann wird es darauf ankommen, ob die Regeln robust sind und ein schnelles, durchsetzungsstarkes Handeln der Aufsichtsbehörde ermöglichen.71 Ohnehin weiß heute niemand ge68  Zur Neuregelung des § 45 KWG siehe Müller-Eising / Brandi /  Sinhart / Lorenz / Löw, Das Banken-Restrukturierungsgesetz, BB 2011, S. 66 (67). 69  Scott, Reducing Systemic Risk through the Reform of Capital Regulation, JIEL 2010, S. 763 (773 f.). 70  Ebenso Mülbert, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, JZ 2010, S. 834 (843). 71  Vgl. Schelo, Neue Restrukturierungsregeln für Banken, NJW 2011, S. 186 (190); Zulauf, Schweizer Bankensanierungsrecht – geeignet für systemrelevante Banken?, WM 2010, S. 1525 (1527).

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nau, welche sachlichen Gebote bei der Restrukturierung einer systemrelevanten Bank zu beachten sind, wenn gleichzeitig die Finanzmärkte von einer sehr schweren Krise heimgesucht werden.72 Die Restrukturierung mehrerer solcher Banken zur selben Zeit könnte jedenfalls die Leistungsfähigkeit der BaFin übersteigen.73 Schließlich ist zweifelhaft, ob bei Auslandssachverhalten, die hier immer vorliegen, die Restrukturierungsmaßnahmen nach deutschem Recht überhaupt von ausländischen Privatrechtsordnungen anerkannt werden.74 Die fehlende internationale Abstimmung von Restrukturierungsregeln dürfte daher die größte Hypothek für die Bekämpfung künftiger Krisen sein.75 Betrachtet man die organisatorischen Neuregelungen in Gestalt der europäischen Aufsichtsbehörden, sind sie ein Indiz dafür, dass der Glaube an die Überlegenheit anderer, vor wenigen Jahren lebhaft befürworteter Regulierungsmuster wie Marktdisziplin und Selbstregulierung nachhaltig erschüttert ist und der Neubetonung klassisch hoheitlicher Kontroll­ instrumente gewichen ist.76 Die rechtsstaatlich prekäre Seite der EU-Verordnungen liegt darin, dass sie nur mit Generalklauseln auskommen, die sowohl auf der Tatbestandsseite als auch auf der Rechtsfolgenseite den Behörden weitreichende 72  Vgl. Schelo, Neue Restrukturierungsregeln für Banken, NJW 2011, S. 186 (190). 73  Mülbert, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, JZ 2010, S. 834 (843). 74  Müller-Eising / Brandi / Sinhart / Löw, Das Banken-Restrukturierungsgesetz, BB 2011, S. 66 (69). 75  Vgl. Hellwig, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten E, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, E 55; Zulauf, Schweizer Bankensanierungsrecht – geeignet für systemrelevante Banken?, WM 2010, S. 1525 (1528, 1536). 76  Diese Instrumente betont z. B. Höfling, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten F, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, F 52 ff. Etwas skeptischer Heun, Der Staat und die Finanzkrise, JZ 2010, S. 53 (59).



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Spielräume gewähren. Verglichen mit den deutschen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmtheit von Befugnisnormen im Ordnungsrecht, was sich vor allem im Verhältnis von Standardbefugnissen und Generalklauseln niederschlägt,77 handelt es sich um eine völlig andere Welt der behördlichen Aufsicht. Blickt man freilich noch tiefer, stellt sich auch hier die Frage nach der realen Wirksamkeit dieses Rechts. Die Verordnungen verlangen für den Erlass eines Beschlusses, der sich an ein Institut richtet, dass zuvor unmittelbar anwendbares Unionsrecht verletzt wurde.78 Da die Masse des europäischen Aufsichtsrechts in Form von Richtlinien gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV erlassen wurde, die den Unternehmen echte Rechtspflichten auferlegen, kann das ausweislich der Rechtsprechung des EuGH nie der Fall sein.79 IV. Neugewinnung der Maßstäbe Was sagen diese Vorgänge über den Wandel des Staatsparadigmas und über die Macht der Märkte? Ausschlaggebend ist die Erkenntnis, dass man auf Dauer nicht alles zugleich haben kann, einen vitalen, handlungsfähigen, mit Autorität begabten Staat und einen international völlig offenen, wettbewerbsintensiven und leistungsfähigen Markt. Gleichzeitig lässt sich überdeutlich erkennen, dass jede regulatorische Entscheidung, sei sie auf Marktöffnung oder umgekehrt auf Beschränkung wirtschaftlicher Freiheit gerichtet, neben ihren unmittelbar gewollten Effekten mit einem Preis bezahlt wird, dessen Höhe erst auf lange Sicht beurteilt werden kann. 77  Hierzu Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schmidt-Aßmann / Schoch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, Rn.  56 ff. 78  Gemeinsamer Art. 17 Abs. 6, Art. 18 Abs. 4 und Art. 19 Abs. 4 der VOen  (EU) Nr.  1093 / 2010, Nr.  1094 / 2010 und Nr.  1095 / 2010. 79  EuGH, Rs.  80 / 86, Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 9. Aus dem Schrifttum statt vieler Ruffert, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 4. Auf. 2011, Art. 288 AEUV, Rn. 57.

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Was heißt das für das Verhältnis von Markt und Staat? Die Antwort wird in der historischen Rückschau deutlich: Als Folge der desillusionierenden Erfahrungen der Zwischenkriegszeit, vor allem aber des Zweiten Weltkriegs gewann in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts das wirtschaftspolitische Ziel die Oberhand, national80 und international Handelsschranken abzubauen.81 Die institutionell wichtigsten Ergebnisse dieser Politik bilden die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die heutige EU, und das GATT, die heutige WTO. Beide Institutionen führten primär zu einer Liberalisierung des Waren- und Dienstleistungshandels, kurioserweise aber über Jahrzehnte hinweg nicht zu einer Liberalisierung des Kapitalverkehrs. Diese trat in der EU erst im Jahre 199082 bzw. umfassend mit Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht im Jahr 1993 ein. Innerhalb der WTO existiert bis heute keine allgemeine Liberalisierungspflicht für den Kapitalverkehr, ebenso wenig wie aufgrund des IWF-Übereinkommens.83 Dass dennoch seit Anfang der 1990er Jahre weltweit nur noch geringe Kapitalverkehrskontrollen existieren, beruht, man muss es betonen, auf autonomen politischen Entscheidungen der Staaten. Der wesentliche Beweggrund lag und liegt darin, Direktinvestitionen zu ermöglichen, die als Garanten für hohe Beschäftigung und Wirtschaftswachstum gel80  Beispielhaft Huber, Öffentliches Wirtschaftsrecht, in: SchmidtAßmann  /  Schoch (Hrsg.), Besonders Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, Rn. 111: „Die Freiheit des Außenhandels ist der Grundsatz, auf dem das Außenwirtschaftsrecht Deutschlands beruht.“ 81  Statt vieler Jackson, Sovereignty, the WTO and Changing Fundamentals of International Law, 2006, S. 84 ff.; Tietje, Begriff, Geschichte und Grundlagen des Internationalen Wirtschaftssystems und Wirtschaftsrechts, in: ders. (Hrsg.), Internationales Wirtschaftsrecht, 2009, § 1 Rn. 28 ff., 82 ff. 82  Die Umsetzungsfrist für die RL 88 / 361 / EWG, die die Liberalisierung des Kapitalverkehrs bewirkte, endete nach Art. 6 RL am 1. Juli 1990. 83  Ruffert, Free Flow of Capital, in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Stand Februar 2009, Rn. 11 und 16; ders., Finanzmarktkrise und Verfassungsrecht, NJW 2009, S. 2093 (2096).



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ten.84 Auch andere Formen des freien Kapitalverkehrs dienen der Verbesserung des Kapitalangebots, führen zu mehr Wettbewerb und tendenziell sinkenden Kosten für die Kreditnehmer. Alle diese Entwicklungen waren politisch gewollt und wurden von den Staaten durch gesetzliche Vorkehrungen autonom geregelt. 1. Wandel des Staatsparadigmas In dem Moment, in dem der Staat, der stets nur Herr über ein räumlich begrenztes Territorium ist, bildlich gesprochen die Schlagbäume an seinen Grenzen abbaut, verliert er ein Stück Kontrollmöglichkeit. Die meisten Staaten haben hierauf reagiert, indem sie den internationalen Anwendungsbereich ihrer Gesetze ausgedehnt haben,85 übrigens gerade auch im Bereich der Finanzmarktaufsicht.86 Freilich lassen sich extraterritorial anwendbare Regeln nur im Inland verwaltungsmäßig vollziehen. Global tätige Unternehmen können am Maßstab des inländischen Rechts daher nur im Inland überwacht werden, nicht aber im Ausland. Ein administrativer Zugriff im Ausland kommt allein dann in Betracht, wenn internationale Amtshilfeabkommen oder ähnliche Ersatzmechanismen dieses Übergreifen ausdrücklich zulassen.87 Vor diesem Hintergrund entstand bei vielen Beobachtern der Eindruck, der territorial verankerte Staat sei auf dem Rückzug und habe seine Bedeu84  Amtenbrink, Central Bank Challenges in the Global Economy, in: Herrmann / Terhechte (Hrsg.), EYIEL 2011, S. 19 (21). 85  Grundlegend Meessen, Völkerrechtliche Grundsätze des internationalen Kartellrechts, 1975; aus jüngerer Zeit Ohler, Die Kolli­ sionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 327 ff.; Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 109 ff. 86  Ein „Klassiker“ ist die Erlaubnispflicht nach § 32 KWG; zur extraterritorialen Erstreckung BVerwGE 133, 358 (366), das es genügen lässt, wenn Teilakte der Geschäftstätigkeit im Inland stattfinden. 87  Aus der Literatur siehe Wettner, Amtshilfe im Europäischen Verwaltungsverbund, 2005; Glaser, Internationale Verwaltungsbeziehungen, 2010, S. 227 ff.; Hendricks, Internationale Informationshilfe im Steuerverfahren, 2004.

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tung relativiert.88 Ein Teil dieser Schlussfolgerungen ist zumindest ungenau. Eingetreten sind lediglich die Konsequenzen aus dem Abbau nationaler Handelsschranken, nicht aber der Rückzug des Staates an sich.89 Jederzeit wäre es zumindest juristisch möglich, die bestehenden Liberalisierungsmaßnahmen wieder aufzuheben.90 Politisch und wirtschaftlich ist das wegen der befürchteten Wohlstandsverluste freilich nicht gewollt. Was bedeutet das für das Staatsparadigma? Der Staat ist nicht nur als Akteur der internationalen Beziehungen und als Garant des Völkerrechts wie der eigenen Rechtsordnung weiter existent,91 er ist auch weiterhin handlungsfähig. Die Öffnung seiner wirtschaftlichen Grenzen hat allerdings zwei wesentliche, politische Folgen: Die Staaten stehen untereinander in lebhaftem Wettbewerb um Unternehmen, die damit verbundenen Steuereinnahmen und Arbeitsplätze.92 Nationale Rechtsordnungen haben sich zunehmend auf diesen Wettbewerb eingestellt.93 Zudem verzichtet ein nach außen offener Staat auf umfassende Eingriffsmöglichkeiten, weil die Überzeugung lautete, dass die Vorzüge der wirtschaftlichen Liberalisierung und politischen Öffnung ihre Nachteile bei weitem überwiegen.94 Will er außerhalb des eigenen, ihm zur autono88  Slaughter, A New World Order, 2004, S. 12 ff. Aus wirtschaftsrechtlicher Sicht Jackson, Sovereignty, the WTO and Changing Fundamentals of International Law, 2006, S. 57 ff. 89  Zu Recht betont Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 254 ff. die auch im internationalen Kontext mögliche Selbstbehauptung des Verfassungsstaats. 90  Meessen, Governmental Decision-Making in the World Economy, in: Herrmann / Terhechte (Hrsg.), EYIEL 2011, S. 3 (18). 91  Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln, 2001, S. 165 f. 92  Meessen, Governmental Decision-Making in the World Economy, in: Herrmann / Terhechte (Hrsg.), EYIEL 2011, S. 3 (7). 93  Vgl. Kirchhof, Erwerbsstreben und Maß des Rechts, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. VII, 3. Aufl. 2010, § 169 Rn. 68 mit kritischer Ablehnung. 94  Tietje, Begriff, Geschichte und Grundlagen des Internationalen Wirtschaftssystems und Wirtschaftsrechts, in: ders. (Hrsg.), Internationales Wirtschaftsrecht, 2009, § 1 Rn. 99.



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men Entscheidung verbliebenen Einflussbereichs handeln, ist er zwingend auf internationale Kooperation angewiesen.95 2. Markt als gesellschaftliches Phänomen der Freiheit Hat angesichts dieses Verzichts nun der Markt die Oberhand gewonnen? Auch das lässt sich verneinen, selbst wenn viele Beobachter glauben, dass der Staat lediglich eine Randerscheinung im globalen Wettbewerb auf den Märkten sei.96 Jedes marktwirtschaftliche Geschehen ist Ausdruck privater Freiheit. Der private Freiheitsgebrauch tritt nur ein, weil die staatliche Herrschaftsgewalt diesen Freiraum zulässt und die Ausübung der Freiheitsrechte respektiert – die Systementscheidung für die wettbewerbsbasierte Marktwirtschaft. Dabei kommt es auch zu unerwünschten Effekten, denn wirtschaftliches Handeln birgt notwendig Risiken, deren Verwirklichung andere Marktteilnehmer oder die Allgemeinheit belastet. Sie zu verhindern oder zumindest abzumildern bildet die Rechtfertigung für staatliches Eingreifen in die Wirtschaftsprozesse. Das Neue an der heutigen Situation liegt in der territorialen Reichweite des Freiheitsgebrauchs und in den Größenordnungen der den Geschäften innewohnenden Risiken. Noch niemals in der Geschichte der Menschheit konnte in solchem Umfang global Handel getrieben werden und wurden solche großen Vermögen bewegt wie heute. Gleichzeitig ist die Vernetzung und wechselseitige Abhängigkeit der Marktteilnehmer auf ein bislang unbekanntes Maß angewachsen. Elementare Freiheitsprinzipien wie Eigenverantwortung und Haftung für die Risiken eigenen Handelns gelten zwar in Gestalt zivilrechtlicher und strafrechtlicher Normen fort. Aufgrund der beschriebenen, globalen Vernetzung können aber Kettenreaktionen eintreten, deren Folgen für den Einzelnen praktisch 95  Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1997, S. 27 f. 96  Vgl. Meessen, Governmental Decision-Making in the World Economy, in: Herrmann / Terhechte (Hrsg.), EYIEL 2011, S. 3 (5 f.), der die These vom Verschwinden des Staates aber selbst ablehnt.

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nicht beherrschbar sind und bei der die zivilrechtliche Haftung faktisch die individuelle Leistungsfähigkeit übersteigen würde. 3. Anerkennung wechselseitiger Abhängigkeiten von Staat und Markt Tatsächlich stehen Staat und Markt heute in einem Verhältnis verzweifelter Abhängigkeit.97 Der moderne Sozialstaat bedarf einer ständig wachsenden, leistungsstarken Wirtschaft, um über die Steuereinnahmen die an ihn selbst gerichteten Ansprüche befriedigen zu können. Die Wirtschaft wiederum bedarf des Staates als Garant der internationalen Öffnung, die keineswegs statisch und zwangsläufig, sondern Folge einer gewollten staatlichen Selbstbeschränkung ist. Krisen in einem der beiden Systeme führen unmittelbar zu einer vitalen Bedrohung des Nachbarsystems. Die Verknüpfung von Bankenkrise und Verschuldungskrise im Jahr 2010 hat das eindrücklich gezeigt. Besonders dramatisch dürfte hierbei die Gefahr sein, dass der faktische Zwang zur Rettung des eigenen Bankensystems den Staat selbst in den Abgrund reißen kann. Island und möglicherweise Irland sind mahnende Beispiele solcher synchronen Katastrophen. 4. Konsequenzen Welche Konsequenzen sind hieraus zu ziehen? Unter allen Umständen muss in beiden Systemen Handlungsfähigkeit zurückgewonnen werden. Das erfordert den Abbau der derzeit nicht tragbaren Risiken und die Rückführung der Fremdfinanzierung auf ein im Verhältnis zur eigenen Leistungsfähigkeit plausibles Maß. Meine Vorschläge sind hier eher nüchterner Art. Aufseiten des Staates scheint es das wichtigste Ziel zu 97  Die Abhängigkeit des verschuldeten Staates vom Markt betont Kirchhof, Erwerbsstreben und Maß des Rechts, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. VII, 3. Aufl. 2010, § 169 Rn. 62.



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sein, den übermäßig hohen Schuldenstand und das strukturelle Defizit so rasch wie möglich zurückzuführen, bis wieder ein Zustand der langfristigen Tragfähigkeit erreicht ist.98 Die politischen Konsequenzen sind einschneidend, denn ohne echte Einsparungen staatlicher Leistungen ist dieses Ziel nicht zu erreichen. Die aktuellen Sanierungsbemühungen in Griechenland, Irland und Portugal zeigen, wie dramatisch solche Unterfangen sein können, wenn sie erst unter Krisenbedingungen stattfinden. Die in der Politik meist bevorzugte Alternative, auf Wirtschaftswachstum zu setzen und damit aus dem Schuldenstand herauszuwachsen, reicht dagegen nicht weiter als bis zum Ende des aktuellen Konjunkturzyklus. Aufseiten der Finanzmärkte muss, neben einer Verbesserung der Eigen­ kapitalsituation,99 die Langfristorientierung der Geschäftstätigkeit gestärkt und die Risikosensibilität dramatisch erhöht werden. Je kurzfristiger die Geschäftspolitik angelegt ist, desto rascher kann sie zwar Gewinne generieren, desto stärker gerät sie aber in Abhängigkeit von ständig sich drehenden Windrichtungen und beschleunigt die immer wieder beklagte Volatilität der Finanzmärkte. Ob die Anpassung der Vergütungssysteme in den Banken ausreicht,100 um ein Umsteuern zu erreichen,101 erscheint zweifelhaft, solange nicht die grundlegenden Geschäftsstrategien geändert werden. Nur scheinbar rational ist auch der Trend, die Risikoentscheidungen in großem Umfang zu automatisieren und mathematischen Model98  Siehe hierzu Möstl, Nachhaltigkeit und Haushaltsrecht, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008, S. 569 ff. sowie den Sammelband von Kahl (Hrsg.), Nachhaltige Finanzstrukturen im Bundesstaat, 2011. 99  Heun, Der Staat und die Finanzkrise, JZ 2010, S. 53 (61); diesen Aspekt betont vor allem Hellwig, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten E, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, E  49 f. 100  Siehe nunmehr § 25a Abs. 1 Satz 3 Nr. 4, Abs. 5 KWG. 101  Hellwig, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten E, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010, E 51 f. 

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len zu überlassen. Solange diese Form der Risikosteuerung nicht durch individuelle Plausibilitätsbetrachtungen ergänzt und regelmäßig auf die Stichhaltigkeit der Prämissen überprüft wird, begibt sich die unternehmerische Entscheidungsfreiheit in die Abhängigkeit routinemäßigen Denkens. Die Uniformierung der Risikomodelle dürfte überdies einer der wichtigsten Gründe für Herdenverhalten sein, das sowohl das Entstehen von Spekulationsblasen begünstigt als auch in der Krise die Panik­reaktionen verstärkt. Grundlegende Prinzipien der kaufmännischen Vorsicht lassen sich dagegen nur umsetzen, wenn praktische Erfahrung, Urteilskraft und Bereitschaft zur individuellen Risikoübernahme tatsächlich zum Tragen kommen.

Staatsfinanzen und Finanzmarktrisiken Von Hanno Kube, Mainz* 1

I. Vom Rechtsstaat zum Leistungsstaat Nach dem Bild des klassischen Liberalismus rechtfertigt sich der Staat als Garant der Freiheit seiner Bürger. Er setzt den rechtlichen Rahmen, der die Entfaltung dieser Freiheit ermöglicht und sie mit der Freiheit eines jeden anderen zum Ausgleich bringt. Der Finanzierung bedarf dieser Staat genau insoweit, als die Institutionen der Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung unterhalten werden müssen. Das Grundgesetz interpretiert das liberale Anliegen im Sinne der sozialen Rechtsstaatlichkeit, versteht Freiheit also im Grundsatz als Freiheit vom Staat, ordnet dem Staat aber zugleich eine subsidiäre, unterstützende Rolle zu, wenn es ­ dem Einzelnen an existentiellen Voraussetzungen tatsächlicher Frei­heitsentfaltung fehlt. Während das Sozialstaatsprinzip unter dem Eindruck der entbehrungsreichen Nachkriegszeit bis Ende der 1950er Jahre noch zurückhaltend interpretiert worden war, kam es seit den 1960er Jahren zu einem massiven Ausbau der sozialen Staatsleistungen. Ideelle Grundlage war die zunehmende Betonung, wenn nicht Überspannung des sozialen Moments im Konzept der sozialen Rechtsstaatlichkeit, politisch gewendet im Konzept der sozialen Marktwirtschaft. Ökonomische Grundlage war das Wirtschaftswunder, darüber hinaus allerdings auch ei*  Prof.

Dr., LL.M., Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht, Finanz- und Steuerrecht an der Johannes GutenbergUniversität, Mainz. Der Beitrag befindet sich auf dem Stand von Februar 2011.

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ne immer offensivere Verschuldungspolitik, die durch die – vom Modell der staatlichen Globalsteuerung der Wirtschaft inspirierte – Reform der Finanzverfassung 1967 / 69 noch erheblich erleichtert wurde. Das Sozialversicherungs- und Sozial­ hilfewesen expandierten über die Jahre ebenso wie staatliche Infrastrukturleistungen und direkte wie auch indirekte Subventionen. Nochmals deutlich ausgedehnt und damit strapaziert wurde der Leistungsstaat schließlich infolge der deutschen Wiedervereinigung; dies im Bestreben, die Lebensqualität in den neuen Bundesländern möglichst schnell an das entsprechende Niveau in den alten Bundesländern heranzuführen. Gleich wie formal-abwehrrechtlich der Rechtsstaat tatsächlich jemals ausgerichtet gewesen war, außer Zweifel steht, dass der Staat heute primär als Leistungsstaat wahrgenommen wird. Es ist nicht der rechtliche, Freiheit ermöglichende und abgrenzende Rahmen, den der Bürger in erster Linie vom Staat verlangt. Der – in erlernter, liebgewonnener Gewohnheit ganz selbstverständlich erhobene – Anspruch richtet sich auf staatlich gewährtes Geld. II. Abhängigkeit von den Finanzmärkten Der Staat ist zwar rechtlicher Urheber und letzter Einlösungsgarant des Geldes. Gleichwohl ist auch der Staat an die Funktionsvoraussetzungen gebunden, denen das Geld als Zahlungsinstrument unterliegt. Eine der zentralen Funktionsvoraussetzungen ist die Knappheit1. Die Ausweitung der Geldmenge ist deshalb prinzipiell keine Option, um die Finanzierung der staatlichen Leistungen zu sichern. Aufgrund dessen und auch mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen der Freiheit und der Lastengleichheit ist der Staat im Grundsatz auf die Steuerfinanzierung seiner Ausgaben verwiesen, durch die er an den Erfolgen des freiheitlichen Wirtschaftens der Bürger partizipiert2. Diese 1  Karlhans Sauernheimer, Vom Gelde, in: Jahrbuch für Wirtschaftswissenschaften, Bd. 61 (2010), S. 279 (283 f.).



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Erfolge haben viele Gründe, beruhen aber unter anderem oftmals darauf, dass die Finanzmärkte Investitionsmittel bereitstellen. So hängen auch die Steuereinnahmen des Staates – jedenfalls indirekt – von der Existenz und dem Geschäftsgebaren der Akteure auf den Finanzmärkten ab. 2

In eine direkte, unmittelbare Abhängigkeit von den Finanzmärkten gerät der Staat darüber hinaus insoweit, als die Staatsleistungen seit Jahrzehnten gerade auch durch Kreditaufnahme finanziert werden. Denn hier begibt sich der Staat auf die Ebene der formalen Gleichberechtigung, der rechtlich gefassten Austauschbeziehung mit den Geldgebern3. In der Sache übernimmt er die langfristige Bürde des zur Rückzahlung Verpflichteten. Dem Geldgeber verbleibt es, abgesehen vom – herkömmlich geringen – Ausfallrisiko, die Zinsen zu vereinnahmen. Je stärker der Geldbedarf des expandierenden Leistungsstaats anwächst, desto stärker wächst mithin auch die Abhängigkeit des Staates, zumal des sich verschuldenden Staates, von den Finanzmärkten4. Im Ausgangspunkt ist diese Abhängigkeit freilich gegenseitig. Denn der Staat setzt seinerseits die rechtlichen Rahmenbedingungen für das Wirtschaften auf den Finanzmärkten. Die Abhängigkeit der Finanzmärkte vom Staat hat allerdings klare Grenzen. Zum einen leiten sich diese aus den schon angesprochenen Funktionsvoraussetzungen des Mediums Geld her, zum anderen aus der zunehmend globalen Aufstellung der Finanzmärkte, die sich dementsprechend dem Zugriff durch staatliches, selbst europäisches 2  Josef Isensee, Steuerstaat als Staatsform in: Stödter  /  Thieme (Hrsg.), FS für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 409 ff.; Klaus Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 30 Rdnr.  69 ff. 3  Rechtsgrundlage ist in der Regel ein privatrechtlicher Vertrag; /  Dürig, Grundgesetz, Kommentar, dazu Hanno Kube, in: Maunz  Stand: Okt. 2010, Art. 115 Rdnr. 226. 4  Paul Kirchhof, Gefährdung staatlicher Souveränität durch die Finanzkrise, Vortrag bei der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung am 20.1.2011.

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Recht zu entziehen vermögen. Mit der wachsenden Angewiesenheit des Staates auf die Finanzmärkte bei zugleich begrenztem, weiter schwindendem Einfluss des staatlichen Rechts auf diese Märkte stellt sich die Abhängigkeit tatsächlich immer stärker einseitig dar. Der ausgabenintensive Staat gerät in die Rolle des Bittstellers gegenüber Kapitalgebern, die das Recht, dem sie sich unterwerfen möchten, weitgehend frei wählen können. Eine ganz neue Qualität erlangt die Abhängigkeit des Staates von den Finanzmärkten schließlich dann, wenn der Staat als Kreditnehmer einem verstärkt differenzierenden Rating durch private Rating-Agenturen unterworfen wird, die den Kreditgebern als deren Dienstleistern letztlich näher stehen als den Kreditnehmern5. Die Rating-Agenturen entwickeln Be­ urteilungskriterien, denen sich der Staat zu einem gewissen Grade unterwerfen wird, um in den Genuss günstiger Zinssätze zu kommen. Eine bestimmte Steuer- und Ausgabenpolitik mag dabei als der Bonität förderlich belohnt, eine andere Politik, die etwa den Umweltschutz oder die soziale Sicherung in den Vordergrund rückt, entsprechend bestraft werden. Dem Staat werden hier Gestaltungsräume durch demokratisch nicht legitimierte Akteure abgekauft. III. Zunehmende Finanzmarktrisiken Die große Abhängigkeit des Staates, insbesondere des sich verschuldenden Staates von den Finanzmärkten wird schließlich umso prekärer, je höher sich die Risiken auf den Finanzmärkten ausnehmen. Die modernen Geschäftspraktiken (Forderungsverbriefungen, vielfältige Formen der Swap- und Termingeschäfte, Strukturierungen in offenen und geschlossenen Fonds) haben zu oftmals nicht mehr überschaubaren Gewinnchancen und Verlustrisiken geführt, schließlich zu einer Insta5  Problematisch ist dabei auch, dass der Rating-Markt oligopolistisch strukturiert ist. Die drei großen Anbieter Standard & Poor’s, Moody’s und – bereits mit einigem Abstand – Fitch verfügen über Marktanteile von 95 %.



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bilität des von der Realwirtschaft und ihrem Ertragswert weitgehend losgelösten, aufgeblähten Systems der Finanzwirtschaft im Ganzen. Im Grade seiner Angewiesenheit auf die Finanzmärkte scheint der Staat diesen Risiken ausgeliefert zu sein. So hängen die Steuererträge vom wirtschaftlichen Erfolg der den gestiegenen Finanzmarktrisiken ausgesetzten Unternehmen ab. Noch unmittelbarer wirken sich die Finanzmarktrisiken auf die Umstände der staatlichen Kreditaufnahme aus. Denn die Kreditgeber bemessen ihre Zinsforderungen nach dem finanzwirtschaftlichen Umfeld; eine hohe Volatilität auf den Finanzmärkten mindert mithin die Planbarkeit der Zinslasten. So führt eine – vom Staat nicht zu beeinflussende – Zinssatzerhöhung von nur einem Prozent bei einer jährlichen Bruttokreditaufnahme (einschließlich der Umschuldung) allein des Bundes von gegenwärtig über 350 Mrd. Euro zu einer zusätzlichen Zinsbelastung von 3,5 Mrd. Euro pro Haushaltsjahr. Besonders sichtbar sind die Auswirkungen der Finanzmarktrisiken auf die Staatsfinanzen in den letzten Jahren schließlich dort geworden, wo der Staat – in seiner Finanznot von den Anlage- und Ertragsperspektiven auf den Finanzmärkten geblendet – selbst in riskante Unternehmungen investiert und damit Steuergelder aufs Spiel gesetzt hat. Man denke an die Finanzgeschäfte überschuldeter Kommunen oder auch an die Landesbanken, die das Investmentbanking als neues, ungewohntes Geschäftsfeld für sich entdeckt hatten. Bei all diesen Engagements befindet sich der Staat in einer strukturell ungünstigen Lage. Er agiert mit hohem Risiko, verfügt aber auf der Ausgabenseite, vor allem infolge kontinuierlich zu bedienender leistungsgesetzlicher Verpflichtungen, über vergleichsweise geringe Flexibilität. Die Verhandlungs­ position seiner Geschäftspartner ist demgegenüber komfortabel. Dies gilt umso mehr deshalb, als eine Insolvenz des Staates bislang praktisch undenkbar war, das diesbezügliche Risiko der privaten Kreditgeber also minimal blieb. Schließlich ist das Vertrauen darauf, dass der Staat im Krisenfall eingreift, um die Finanzmärkte zu stabilisieren, groß; die

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Motivation der Marktakteure, – auch zu Lasten des Staates – immer neue, riskante Geschäftsmodelle zu entwickeln, wird hierdurch noch weiter verstärkt. IV. Lösungsansätze Soll die Abhängigkeit des Staates von den Finanzmärkten und seinen Risiken wieder stärker begrenzt und damit kontrolliert werden, um die Zukunftsfähigkeit des Gemeinwesens zu sichern, bedarf es eines Vorgehens auf verschiedenen Ebenen. 1. Substantielle Finanzmarktregulierung Im Zentrum steht dabei die substantielle, auf die in der jüngsten Finanzkrise6 manifest gewordenen Finanzmarktrisiken reagierende Regulierung der Finanzmärkte7. Wenn mit Termin- und Swapgeschäften (etwa den Zinstauschgeschäften, insbesondere mit Leveraged Swap Spread) die Grenze zu Spiel und Wette berührt wird, andere Formen der Swapgeschäfte (wie die Kreditausfall-Swaps, Credit Default Swaps) je nach Einsatz den Verdacht des Gestaltungsmissbrauchs erwecken, Forderungsverbriefungen nicht selten Risiken verschleiern und Ähnliches für Fonds gilt, Vorstandsvergütungen exorbitante Höhen erreichen und der Einlagenschutz demgegenüber sehr begrenzt ist, dann stellt sich kaum noch die Frage, ob die Finanzmärkte stärker reguliert werden müssen, sondern in erster Linie die Frage, wie sie wirksam reguliert werden können, um Ertragschance und Verlustrisiko, Eigentümerfreiheit 6  Werner

Heun, Der Staat und die Finanzkrise, JZ 2010, S. 53 ff. der Literatur der jüngeren Vergangenheit Peter-Christian Müller-Graff, Finanzmarktkrise und Wirtschaftsordnungsrecht: Aufwind für den Regulierungsstaat?, EWS 2009, S. 201 ff.; Peter O. Mülbert, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, JZ 2010, S. 834 ff.; Thomas Liebscher / Nicolas Ott, Die Regulierung der Finanzmärkte – Reformbedarf und Regelungsansätze des deutschen Gesetzgebers im Überblick, NZG 2010, S. 841 ff.; Christoph Ohler, Bankensanierung als staatliche Aufgabe, WiVerw. 2010, S. 47 ff. 7  Aus



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und Verantwortung wieder deutlicher aufeinander zu beziehen8, wie es dem Bild des Liberalismus entspricht. Sowohl auf der nationalen wie auch auf der europäischen und der internationalen Ebene wird insoweit erhebliche Aktivität entfaltet. International sind die Bemühungen zu nennen, die Bilanzierungsregeln stärker zu vereinheitlichen und neue Standards zur Hinterlegung von Eigenkapital zu etablieren (Basel III), zudem die noch weitergreifenden Ansätze und Empfehlungen des von den G 20-Staaten eingesetzten Financial Stability Board und die jüngst geäußerten Vorschläge zur Etablierung eines vom IWF oder auch der WHO verwalteten Mechanismus zur Sanktionierung unkooperativer Wirtschaftspolitik. Die Europäische Union hat Fortschritte auf dem Gebiet der Finanzmarktaufsicht gemacht, indem das Europäische Finanzaufsichtssystem (European System of Financial Supervision, ESFS) gegründet worden ist, dem im Kern die Europäischen Finanzaufsichtsbehörden (European Supervisory Authorities, ESA) und der Europäische Ausschuss für Systemrisiken (European Systemic Risk Board, ESRB) angehören. Hinzu tritt eine Verschärfung der europäischen Eigenkapitalbestimmungen. Zudem wird die Einlagensicherung ausgebaut. Auch der Derivatehandel ist Gegenstand EU-rechtlicher Initiativen, ebenso sind es die Zulassungskriterien für Hedge-Fonds-Manager und die Standards, denen Rating-Agenturen zu genügen haben. Auf nationaler Ebene sind in Deutschland das Verbot ungedeckter Leerverkäufe, die neuen Rahmenvorgaben für Vergütungssysteme, die Ausführungsgesetzgebung zu den europäischen Regelungen der Rating-Agenturen, die Regulierung von Verbriefungen und das neue Sanierungs- und Insolvenzverfahren für Banken einschließlich der Bankenabgabe (Restrukturierungsgesetz) zu nennen9. 8  Siehe die Beiträge in Otto Depenheuer (Hrsg.), Eigentumsverfassung und Finanzkrise, 2009. 9  Die ebenfalls diskutierte Finanztransaktionssteuer stellt sich dagegen weniger als ein Instrument der Finanzmarktregulierung denn primär als neue Einnahmenquelle dar.

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Wenngleich all diese Ansätze zur stärkeren Einhegung der Finanzmarktrisiken Hoffnungen wecken, dies gerade auch mit Blick auf die Staatsfinanzen, so bleiben doch zumindest in zweierlei Hinsicht Bedenken. Zum einen ist das Kapital ebenso flüchtig wie ein Datensatz im Internet. Dementsprechend bedarf es bei der Finanzmarktregulierung – nicht anders als bei der Internetregulierung – soweit wie irgend möglich eines international koordinierten Vorgehens. Zum anderen erscheint die legislative und exekutive Einschätzung der Finanzmarkt­ risiken problembehaftet, zumal die Einschätzung der oft beschworenen Systemrisiken. Die kostspielige, nunmehr wieder in Frage gestellte vorläufige Rettung der Hypo Real Estate Bankenholding lässt hier, um nur Beispiele zu nennen, ebenso Zweifel aufkommen wie die Ausgestaltung und auch die Regierungsbegründung zum Restrukturierungsgesetz10, insbesondere mit Blick auf die Höhe und die konkrete Bemessung der zur Speisung des Restrukturierungsfonds erhobenen Bankenabgabe11. So ist angesichts des Abgabenvolumens sehr fraglich, ob der Fonds rechtzeitig zur Rettung angeschlagener Finanzinstitute in der Lage sein wird; schon die Abgabenrechtfertigung dem Grunde nach ist deshalb alles andere als klar12. Auch die Bemessung der Abgabe im Einzelfall verdient Kritik13. Denn es scheint, als blieben erhebliche individuelle Risikobeiträge, auf die es nach der verfassungsrechtlichen Dogmatik zur Sonderabgabe ankommen muss, um die Last zu 10  BT-Drs. 

17 / 3024. 17 / 3024, S.  115  ff. 12  Ausführlich zur Verfassungsmäßigkeit Wolfgang Schön / Alexander Hellgardt / Christine Osterloh-Konrad, Bankenabgabe und Verfassungsrecht – Teil I: Verfassungsrechtliche Zulässigkeit als Sonderabgabe –, WM 2010, S. 2145 ff.; Mario Martini, Zur Kasse bitte …! Die Bankenabgabe als Antwort auf die Finanzkrise – Placebo, Heilmittel oder Gift?, NJW 2010, S. 2019 ff.; Ekkehart Reimer / Christian Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für Sonderabgaben des Bankenund Versicherungssektors, 2011. 13  Zur Ausgestaltung im Einzelnen Wolfgang Schön / Alexander Hellgardt / Christine Osterloh-Konrad, Bankenabgabe und Verfassungsrecht – Teil II: Verfassungsmäßige Ausgestaltung –, WM 2010, S. 2193 ff. 11  BT-Drs. 



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legitimieren, außer Betracht. Die vorgesehene Bilanzanalyse konzentriert sich zu einem guten Teil auf Faktoren, die gerade nicht zwingend auf individuelle Risikobeiträge schließen lassen; risikobehaftetes Geschäftsgebaren fällt zugleich durch das Raster. So ist als Zwischenfazit festzuhalten, dass man auf nationaler, europäischer und in Grenzen auch internationaler Ebene auf einem guten Weg ist, um die Finanzmärkte wieder stärker rechtlich einzuhegen und damit auch die Risiken für die Staatsfinanzen, die sich aus ihrer Abhängigkeit von den Finanzmärkten ergeben, zu begrenzen. Gleichwohl zeigt sich, wie im Fall des Restrukturierungsgesetzes, dass die legislative Einschätzung von Finanzmarktrisiken durchaus noch näherer Betrachtung bedarf. Dies gilt umso mehr deshalb, als das Verfassungsrecht vom Gesetzgeber eine jeweils sachbereichsangemessen fundierte und auch in der Gesetzesbegründung dokumentierte Risikobeurteilung und Normwirkungsprognose verlangt. Mit Blick auf die Bankenabgabe folgt dies konkret aus den Grundrechten der Abgabeunterworfenen, vor allem aus deren Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG, ergänzend aus den grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates gegenüber der Allgemeinheit und auch aus dem Demokratieprinzip. 2. Bekämpfung der Staatsverschuldung Soweit die staatliche Abhängigkeit von den Finanzmärkten und deren Risiken gerade darauf beruht, dass der Staat in hohem Maße Kredite aufnimmt, besteht der alleinige verlässlich zielführende Ausweg darin, die Staatsverschuldung prinzipiell zu ächten. In der Sache verlangt dies, um das Übel an der Wurzel zu packen, in erster Linie eine strikte Rückführung des übermäßigen Volumens öffentlicher Leistungen und Ausgaben, das die Staatsverschuldung ab den 1960er Jahren erst hat zur Gewohnheit werden lassen. Der Staat muss sich wieder stärker auf seine Kernaufgabe konzentrieren, die darin besteht, die rechtlichen Rahmenbedingungen für das freiheitliche Wirken der gesellschaftlichen Kräfte zu setzen, ein-

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schließlich der Rahmenbedingungen für das Handeln auf den Finanzmärkten. In seinen geldwerten Leistungen muss sich der Staat demgegenüber neu zurücknehmen, sich im Grundsatz auf die Sicherung des materiellen Existenzminimums beschränken, korrespondierend und zugleich aber, dem liberalen Subsidiaritätsprinzip entsprechend, noch nachdrücklicher Räume schaffen und Strukturen unterstützen, in denen sich privates soziales Engagement entfalten kann, sei es in der Familie, sei es in der Gemeinde. Der soziale Staat im Sinne des Art. 20 Abs. 1 GG ist nicht nur der Sozialleistungsstaat; es ist gerade auch der Staat, der dafür Sorge trägt, dass sich das Soziale in der Gesellschaft entwickelt und Anerkennung findet14. Der Staat eröffnet damit ganz neue, eigenständige Freiheitsdimensionen; sowohl für den Nehmenden, der sich in zwischenmenschlichen Beziehungen angesprochen und auf­ gehoben weiß, wie auch für den Gebenden, der Freigebigkeit als Form der Freiheitsentfaltung erfährt. In all dem befähigt der Staat zu einer Freiheit und Mündigkeit, die durch das Denken in Kategorien unterhalts-, sozialleistungs- und so­ zialversicherungsrechtlicher Ansprüche und Verpflichtungen verkümmert15. Mit den im Rahmen der Föderalismusreform II – letztlich doch noch – eingeführten Regelungen in Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 Abs. 2 GG ist der verfassungsändernde Gesetzgeber einen großen, beeindruckenden Schritt in die richtige Richtung einer klaren Beschränkung der Staatsverschuldung und damit auch einer notwendigen Beschneidung der Staatsauf­ gaben gegangen. Die neuen verfassungsrechtlichen Vorgaben, die sich insbesondere der strukturellen Nettoneuverschuldung 14  BVerfGE 22, 180 (LS 1); Hans Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 28 Rdnr. 113; Moris Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993, S. 337 ff. 15  Vgl. die Beiträge in Merkur, „Die Grenzen der Wirksamkeit des Staats. Über Freiheit und Paternalismus“, Heft 736 / 737, 2010; prägnant auch der Titel von Jürgen Kaube, Will ich auch haben – Die Infantilisierung der Bürger durch den Sozialstaat, FAZ v. 28.8.2003; vgl. Martin E. P. Seligman, Erlernte Hilflosigkeit, 1979.



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klar entgegenstellen, gilt es nun in der Verfassungspraxis strikt zu befolgen. Dazu gehört, die konjunkturbedingte Modifikation der Kreditaufnahmegrenze (Art. 109 Abs. 3 Satz 2, 1. HS GG) sachgerecht zu berechnen. Dazu gehört auch, auf missbräuchliche Gestaltungen wie die Eingehung von Finanzierungsschulden im Gewand von – formal nicht durch Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 Abs. 2 GG erfassten – Verwaltungsschulden (insbesondere im Rahmen von Public Private Partnerships) zu verzichten16. Schließlich darf auch die Tatsache, dass selbständige Sondervermögen einschließlich der Sozialversicherungsträger und auch die Kommunen nicht der grundgesetzlichen Schuldenbremse unterliegen, nicht dazu veranlassen, neue Schulden auf ebendiese Rechtsträger zu verlagern17. Die durch Art. 109 Abs. 3 GG gebundenen Länder haben die bundesverfassungsrechtlichen Vorgaben ihrerseits rechtstreu umzusetzen. Dies gilt umso mehr, als gerade sie in mittelfristiger Zukunft mit erheblichen Zusatzbelastungen konfrontiert sein werden, vor allem durch Pensionsverpflichtungen. Zu nachhaltigen Lösungen führt insoweit nicht etwa die – sachfremde – Geltendmachung eines interföderalen Gleichheitsgrundsatzes gegenüber der unterschiedlichen Ausgestaltung der Schuldenbremse für Bund und Länder; ein angemessener Lastenausgleich zwischen Bund und Ländern ist vielmehr über den bundesstaatlichen Finanzausgleich herzustellen, insbesondere durch eine aufgaben- und ausgabengerechte Neujustierung der primären Umsatzsteuerverteilung zwischen Bund und Ländern (Art. 106 Abs. 3 Satz 3 und 4 GG)18. Mit Blick auf die intensive Verbundenheit im Euro-Raum sollten die anderen Euro-Mitgliedstaaten dem Beispiel Deutschlands folgen und ihrerseits verbindliche Schulden16  Mit Abgrenzungskriterien Hanno Kube, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Stand: Okt. 2010, Art. 115 Rdnr. 71. 17  Dazu Hanno Kube, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Stand: Okt. 2010, Art. 115 Rdnr. 60 f. 18  Siehe Hanno Kube, Der bundesstaatliche Finanzausgleich – Verfassungsrechtlicher Rahmen, aktuelle Ausgestaltung, Entwicklungsperspektiven, 2011, S. 41 ff.

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bremsen in ihren Verfassungen vorsehen. Nur so wird es gelingen, die Abhängigkeit der Staatshaushalte von den Finanzmärkten längerfristig auf ein erträgliches Maß zurückzuführen. Auf europäischer Ebene gilt es, den Stabilitäts- und Wachstumspakt strikter zu gestalten, um auch dadurch auf eine Reduzierung der mitgliedstaatlichen Haushaltsdefizite hinzuwirken19. Eine Verschuldung durch die Europäische Union selbst, gleich ob unmittelbar oder mittelbar, scheidet umso mehr aus. Auch die Politik der Europäischen Zentralbank bedarf insoweit der Revision; der Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB ist strikt abzulehnen. Nichts anderes gilt für den geplanten Ankauf von Staatsanleihen durch den in Entstehung begriffenen Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass das Bundesverfassungsgericht dem Beitritt Deutschlands zum Euro nach Maßgabe des Grundgesetzes nur unter bestimmten Voraussetzungen zugestimmt hatte20. Diese Voraussetzungen stehen heute in Frage. Führt man sich die Schuldenstände in Deutschland21 und in allen Industriestaaten weltweit vor Augen, wird deutlich, dass die Bekämpfung der Staatsverschuldung eine der Schlüssel­ herausforderungen unserer Gegenwart und absehbaren Zukunft ist. Überlebensfähig wird auch Deutschland nur dann sein, wenn es gelingt, die Staatsverschuldung zu begrenzen. Im Ergebnis folgt daraus nicht nur das Gebot, auf eine Net19  Christoph Ohler, Die zweite Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, ZG Bd. 25 (2010), S. 330 ff.; vgl. auch Ulrich Häde, Die europäische Währungsunion in der internationalen Finanzkrise – An den Grenzen europäischer Solidarität?, EuR 2010, S. 854 ff. 20  BVerfGE 97, 350 (368 ff.). 21  Die Gesamtverschuldung der öffentlichen Hand in Deutschland liegt bei mittlerweile 2 Billionen Euro (etwa 80% des jährlichen Bruttoinlandsprodukts), dies unter Einbeziehung der Schulden der staatlichen „Bad Banks“ (Abwicklungsanstalten), auf die riskante, wohl vollständig abzuschreibende Wertpapiere übertragen worden sind; siehe zu den Zahlen Statistisches Bundesamt, http: /  / www.desta tis.de.



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toneuverschuldung zu verzichten, sondern darüber hinaus die Maßgabe, den übermäßig hohen Schuldenberg, der nicht tragbare22 Zinslasten und damit eben auch massive Abhängigkeiten von den Risiken der Finanzmärkte verursacht, abzubauen. Art. 109 Abs. 2, 2. HS GG verlangt, zumal in der Zusammenschau mit Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 Abs. 2 GG, in der heutigen gesamtwirtschaftlichen Situation genau dies23. 3. Begrenzung staatlicher Gewährleistungsübernahmen In Reaktion auf die nach wie vor anhaltende Finanz- und Wirtschaftskrise haben sich die europäischen Staaten und gerade auch Deutschland bemüht, die Märkte durch Gewährleistungsübernahmen zu stützen. So ermächtigt das Bundeshaushaltsgesetz 2010 das Bundesministerium der Finanzen, Bürgschaften, Garantien oder sonstige Gewährleistungen bis zur Höhe von insgesamt rund 477 Mrd. Euro zu übernehmen. Hinzu treten die Gewährleistungen des Bundes im Rahmen der konjunkturbedingt aufgelegten Sonderfonds wie des Finanzmarktstabilisierungsfonds, in dessen Rahmen der Bund ermächtigt wird, Garantien für Schuldtitel und Verbindlichkeiten begünstigter Unternehmen bis zu einer Gesamthöhe von weiteren 400 Mrd. Euro einzugehen. Schließlich hat sich der Bund im Zuge der seinerseits durch Marktvorgänge erforderlich gewordenen Griechenland-Hilfe zu Gewährleistungsübernahmen in Höhe von rund 22 Mrd. Euro und im Zusammenhang mit dem intergouvernementalen Teil des Europäischen Stabilisierungsmechanismus im Umfang von zusätz­ lichen rund 211 Mrd. Euro verpflichtet. Das Gesamtvolumen 22  Die Zinssätze liegen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, seit vielen Jahren oberhalb der Wachstumsraten der Wirtschaft (Bruttoinlandsprodukt). 23  So auch Christian Waldhoff / Peter Dieterich, Die Föderalismusreform II – Instrument zur Bewältigung der staatlichen Finanzkrise oder verfassungsrechtliches Placebo?, ZG Bd. 24 (2009), S. 97 (117 f.); Hermann Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 123 Rdnr. 50.

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allein dieser Gewährleistungen von mehr als 1.000 Mrd. Euro spricht für sich, zumal dann, wenn man das erhebliche Ausfallrisiko gerade der letzteren, zugunsten anderer europäischer Mitgliedstaaten eingegangenen Garantien berücksichtigt. In Aussicht steht nunmehr noch eine massive Ausdehnung und Perpetuierung der europäischen Haftungsverpflichtungen gerade Deutschlands im Rahmen des den Europäischen Stabilisierungsmechanismus ablösenden Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Gerade auch an dieser Stelle hat sich der Staat im Bestreben, die Märkte zu stabilisieren, in eine ganz massive Abhängigkeit von Finanzmarktrisiken begeben. Soll die Zukunft der Staatsfinanzierung gesichert werden, muss man auch hier gegensteuern. Argumente liefert dabei nicht nur die Vernunft, sondern auch das Recht; sowohl das Europa- wie das Verfassungsrecht. So verstößt das Regelwerk des Europäischen Stabilisierungs125 mechanismus gegen die No-bail-out-Klausel des Art.  Abs. 1 Satz 2 AEUV24. Daran vermag auch die Zwischenschaltung einer Zweckgesellschaft, der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), nichts zu ändern. Dieser Verstoß deutet auf einen gleichzeitigen Verstoß gegen Art. 109 Abs. 2, 2. HS GG hin, weil die Verpflichtung auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht im Sinne dieser Vorschrift heute gerade auch im Lichte der – Anwendungsvorrang genießenden – europarechtlichen Vorgaben zu interpretieren ist25. Die finanzverfassungsrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes greifen jedoch noch weiter und lassen auch die zahlreichen anderen Gewährleistungsübernahmen, die der Bund in jüngerer Zeit eingegangen ist, jedenfalls in ihrer Summe, die nahezu die Hälfte des jährlichen Bruttoinlandsprodukts erreicht, als zweifelhaft erscheinen. Dies beruht auf folgender Überlegung: In einer Welt, in der Hermes-Bürgschaften kaum zu Zahlungsverpflichtungen des Bundes geführt hatten, war die Ge24  Hanno Kube / Ekkehart Reimer, Grenzen des Europäischen Stabilisierungsmechanismus, NJW 2010, S. 1911 (1912 ff.). 25  Hanno Kube / Ekkehart Reimer, Grenzen des Europäischen Stabilisierungsmechanismus, NJW 2010, S. 1911 (1914 f.).



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währleistungsübernahme weitgehend unproblematisch. Die Bürgschaft hatte den Charakter einer self-destroying prophecy: Die Übernahme der Bürgschaft sicherte die Bonität des Hauptschuldners auf dem Kreditmarkt; die Finanzierungslasten des Schuldners sanken dadurch; eine Inanspruchnahme des staatlichen Bürgen erübrigte sich. Mit den gestiegenen Finanzmarktrisiken und dem verstärkten Einstehen des Staates für die Schulden zweifelhafter Hauptschuldner hat sich die Lage aber dramatisch verändert. Gewährleistungsübernahmen in diesem Zusammenhang haben einen gänzlich anderen Charakter als die überkommenen Hermes-Bürgschaften. Zwar ist der Schuldenbremse gemäß Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 Abs. 2 GG keine ausdrückliche qualitative oder quantitative Grenze der Übernahme von Gewährleistungen zu entnehmen. Wenn jedoch abzusehen ist, dass eine Gewährleistungsübernahme mit einiger Wahrscheinlichkeit dazu führen wird, dass der Staat als Bürge in Anspruch genommen wird und deshalb seinerseits Kredite jenseits des verfassungsrechtlich zulässigen Rahmens aufnehmen muss, um die Bürgenverbindlichkeit zu erfüllen, dann kann sich aus Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 Abs. 2 GG eine Vorwirkung ergeben, die sich – mit Blick auf die konkret drohende verfassungswidrige Kreditaufnahme – schon der Gewährleistungsübernahme entgegenstellt26. Diese Vorwirkung, die Ähnlichkeiten zu der Vorwirkung von Gesetzentwürfen aufweist27, auch Ähnlichkeiten zu der durch den EuGH unter dem Gesichtspunkt des effet utile entwickelten Vorwirkung von Richtlinien28, folgt aus dem Sinn und Zweck von Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 Abs. 2 GG; dies vor allem aufgrund des Befundes, dass sich Staatsverschuldung über die Zeit entwickelt und dementsprechend rechtzeitig bekämpft werden muss. Soll die Schuldenbremse im Ergebnis 26  Hanno Kube / Ekkehart Reimer, Grenzen des Europäischen Stabilisierungsmechanismus, NJW 2010, S. 1911 (1915 f.). 27  Michael Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, 1974. 28  Dazu Vera I. Gronen, Die Vorwirkung von EG-Richtlinien, 2006; Christian Hofmann, Die Vorwirkung von Richtlinien, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2. Aufl. 2010, S. 462 ff.

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greifen, ist sie daher in der Weise zu interpretieren, dass sie schon in einer Zeit Verantwortung einfordert, in der noch Handlungsalternativen bestehen; ganz entsprechend der Rechtsfigur der actio libera in causa. Auch Gewährleistungsübernahmen erfordern somit aus verfassungsrechtlichen Gründen eine angemessene Risikobewertung, insbesondere herzuleiten aus Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 Abs. 2 GG. Die Risikobewertung bezieht sich hier auf die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme durch den Gläubiger des Hauptschuldners, auf das Volumen dieser Inanspruchnahme und auf die Konsequenzen für die zukünftige staatliche Kreditaufnahme. Die Risikobewertung vorzunehmen ist, auf Bundesebene schon wegen des Gesetzesvorbehalts nach Art. 115 Abs. 1 GG, an erster Stelle Sache des Gesetzgebers. Die Verfahren zum Erlass der jüngeren ­ bundesgesetz­ lichen Ermächtigungen zur Gewährleistungsübernahme, allen voran das Verfahren zum Erlass des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus, haben – ungeachtet oder auch gerade unter Berücksichtigung des damaligen hohen Zeitdrucks – diesbezüglich bestehende Defizite klar verdeutlicht29. Viele Abgeordnete wussten wohl kaum genauer einzuschätzen, wie hoch die Risiken waren, für deren Eingehung sie stimmten. Weitere Ansätze müssen hinzutreten, um die Gefahren einzudämmen, die sich aus den mitgliedstaatlich bereits eingegangenen Gewährleistungsübernahmen für die Staatsfinanzen ergeben. So müssen die in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Staaten, allen voran Griechenland und Portugal, eine strikte Politik der Haushaltskonsolidierung verfolgen. Hierauf muss auch im Rahmen des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts gedrängt werden. Längerfristig ist zudem sicherzustellen, dass die Kreditgläubiger an den Risiken einer Kredit29  Siehe die knapp einseitige Begründung zu dem Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus in BT-Drs. 17 / 1685, S. 4.



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vergabe an die öffentliche Hand beteiligt werden, letzten Endes durch die Ausgestaltung entsprechender Umschuldungsund Insolvenzverfahren30. Dass aufgrund dessen die Zinslasten der als finanzschwächer eingeschätzten Staaten steigen, ist eine natürliche und zu begrüßende Konsequenz des offenen Umgangs mit tatsächlich vorhandenen oder aber nicht vorhandenen Bonitäten und spricht für, nicht gegen die Einrichtung derartiger Verfahren. Perspektivisch und noch stärker zukunftsgerichtet sollte in diesem Zusammenhang ein Frühwarnsystem institutionalisiert werden, das es auf euro­päischer Ebene ermöglicht, Fehlentwicklungen in einzelnen Mitgliedstaaten rechtzeitig zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken, vergleichbar der auch erst vor kurzem entwickelten, so genannten extremen Haushaltsnotlagen zu begegnen bestimmten Regelung des Art. 109a GG im deutschen Bundesstaat. 4. Stärkere Kontrolle staatlicher Finanzmarktinvestitionen Schließlich ist auch dort anzusetzen, wo die Gefahren und Auswirkungen der Finanzmarktrisiken für den Staat besonders anschaulich geworden sind; im Bereich der staatlichen oder auch kommunalen Investitionen in zweifelhafte Geschäftsmodelle. Wenn sich die Gemeinden im Vertrauen auf Steuervergünstigungsvorschriften in den USA reihenweise auf Sale-and-Lease-back-Gestaltungen einlassen, ohne vorauszusehen, dass diese Vorschriften schlicht aufgehoben werden könnten31, wenn hunderte von Kommunen und deren Tochtergesellschaften Zinstauschgeschäfte eingehen, offenbar ohne 30  Christoph G. Paulus, Ein Regelungssystem zur Schaffung eines internationalen Insolvenzrechts für Staaten, ZG Bd. 25 (2010), S. 313 ff. 31  Björn Reinhardt, Neue kommunale Finanzierungsmodelle und ihre Bewertung durch die Obersten Kommunalaufsichtsbehörden der Bundesländer. Die aufsichtsrechtliche Würdigung des Einsatzes von Leasingkonstruktionen und des Erwerbs von Derivaten durch kommunale Gebietskörperschaften: Eine Bestandsaufnahme, LKV 2005, S. 333 ff.; Friederike Müller, Kommunalrechtliche Grenzen beim Sale-and-lease-back, 2009.

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sich über deren Risiken im Klaren zu sein32, und wenn die Landesbanken in das Investmentgeschäft einsteigen, das ihnen teilweise ganz erhebliche Verluste einbringt33, dann wird deutlich, dass auch an dieser Stelle wirksamere rechtliche Begrenzungen geboten sind, um die Finanzmarktrisiken für die Staatsfinanzen überschaubar zu halten. Einschlägige Regelungsmaterien sind mit Blick auf die Organisation und Tätigkeit der Landesbanken und Sparkassen die Landesbank- und Sparkassengesetze, die klarzustellen haben, wo die Grenzen des zulässigen Investments der öffent­ lichen Finanzdienstleister auf den Finanzmärkten liegen34. Unter welchen Voraussetzungen und in welchen Grenzen die Gemeinden Finanzmarktinvestitionen tätigen dürfen, ist vornehmlich in den Gemeindeordnungen geregelt35. Hier sind weitere Präzisierungen anzustreben, die die Gemeinden in ihrem Handeln auf der Primärebene wirksam und zu ihrem eigenen Schutz anleiten und die es ihnen ersparen, sich auf sekun32  Dazu Ingo Fritsche / Stefan Fritsche, Rechtliche Beurteilung von Swap-Geschäften zur Zinsoptimierung der Kommunen, LKV 2010, S. 201 ff. 33  Marcus Lutter, Zur Rechtmäßigkeit von internationalen Risikogeschäften durch Banken der öffentlichen Hand, BB 2009, S. 786 ff. 34  Zur aktuellen Debatte um Organisation und Aufgabenprofil der Landesbanken und Sparkassen Hans-Günter Henneke, Künftige Organisation und Funktion öffentlicher Finanzdienstleistungen – Bericht über das DLT-Professorengespräch 2010 in Göppingen, VBlBW 2010, S. 253 ff.; ders., Sparkassen- und Landesbankenstruktur nach der Finanzkrise, DVBl. 2010, S. 472 ff.; Friedrich Schoch, Künftige Organisation und Funktion öffentlicher Finanzdienstleistungen, Der Landkreis 2010, S. 207 ff.; Winfried Kluth, Organisation und Funk­ tionen öffentlicher Finanzdienstleistungen aus rechtswissenschaftlicher Perspektive, Der Landkreis 2010, S. 181 ff.; Steffen Lampert, Der öffentliche Auftrag der Landesbanken, DVBl. 2010, S. 1466 ff.; Andreas Engels, Finanzmarktkrise und Finanzverfassung – finanzverfassungsrechtliche und verwaltungskompetenzielle Fragen des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes, NWVBl. 2010, S. 293 ff. 35  Eberhard Schmidt-Aßmann / Hans-Christian Röhl, Kommunalrecht, in: Schmidt-Aßmann  /  Schoch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, 1. Kap. Rdnr. 118 ff.



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dären, zum Teil fragwürdigen Wegen um Schadloshaltung zu bemühen, sei es unter Rekurs auf formale Fehler bei den entsprechenden Verpflichtungserklärungen36, sei es unter Geltendmachung von Amtshaftungsansprüchen gegenüber der eigenen Rechtsaufsicht37. Unbeschadet dessen bedarf allerdings auch die Praxis der Kommunalaufsicht im Bereich der Finanzmarktgeschäfte der Kommunen einer sorgfältigen Revision. V. Fazit und Perspektiven 1. Vielzahl möglicher und auch gebotener Ansätze Die Analyse zeigt: Im Bereich der Staatsfinanzen ist es nicht ein Rückzug des Staates vor der Eigendynamik eines sich selbst zum Zweck werdenden Marktes, der Freiheit und Gemeinwohl gefährdet. Es ist vielmehr die zunehmende Verflechtung von Staat und Markt, namentlich die Verflechtung von Fiskus und Finanzmarkt, die den Selbststand des Staates, seine finanzielle und auch institutionelle Unabhängigkeit und damit letztlich seine Fähigkeit, Sicherheit, Freiheit und soziale Gleichheit zu gewährleisten, in Frage stellt. Dies gilt umso mehr im Angesicht der nach wie vor immensen Risiken auf den globalen Finanzmärkten. Jedenfalls in diesem Zusammenhang trifft die Beobachtung zu, dass unser Gemeinwesen durch eine „Geldraison“ und die damit verbundenen Konsequenzen herausgefordert wird38. 36  Siehe etwa § 49 GemO Rh.-Pf.; zu den Folgen von Verstößen gegen Formerfordernisse bei Verpflichtungserklärungen Eberhard Schmidt-Aßmann / Hans-Christian Röhl, Kommunalrecht, in: Schmidt-Aßmann  /  Schoch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, 1. Kap. Rdnr. 78 m. w. N. 37  Einen derartigen Anspruch im Zusammenhang mit der aufsichtlichen Genehmigung einer Public-Private-Partnership gewährt BGHZ 153, 198; anders demgegenüber BGHZ 170, 356 mit Blick auf aufsichtliche Genehmigungen nicht genehmigungsbedürftiger Geschäfte. 38  Martin Hochhuth, Staatsräson – Geldräson – Menschenräson, Die Selbstpreisgabe des Staates, besonders im Völkerrecht, und wem

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Das Recht gebietet, dass sich der Staat dieser Herausforderung stellt. So sind, erstens, die Finanzmärkte substantiell zu regulieren. Entsprechende Ansätze finden sich auf nationaler, europäischer und auch internationaler Ebene. Zweitens ist die Staatsverschuldung, die in ganz erheblichem Maße zur Abhängigkeit des Staates von den Finanzmärkten beiträgt, grundsätzlich zu ächten und zu bekämpfen. Die Verfassungsänderungen des Jahres 2009 stimmen insofern hoffnungsfroh. Es wird nun darauf ankommen, die Vorgaben in der Praxis einzuhalten und, soweit möglich, auch die anderen europäischen Mitgliedstaaten von der Notwendigkeit entsprechender Vorgaben zu überzeugen. Auf europäischer Ebene sollte der Stabilitäts- und Wachstumspakt reformiert und dabei strenger gefasst werden. Die Union selbst sollte, im Angesicht der Erfahrungen mit öffentlicher Verschuldung in den Mitgliedstaaten, auf eine unmittelbare oder auch mittelbare eigene Verschuldung verzichten. Hohe finanzielle Risiken haben in den letzten Jahren und Monaten, drittens, auch staatliche Gewährleistungsübernahmen mit sich gebracht, die eingegangen worden sind, um die Märkte und auch in Finanznot geratene Mitgliedstaaten abzustützen. Bund und Länder haben hier die europarechtlichen Maßgaben, jedenfalls in bislang geltender Fassung, ebenso wie die Vorwirkungen der grundgesetzlichen Schuldenbremse zu beachten. Mit Blick auf Länder wie Griechenland und Portugal ist auch insoweit eine Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitäts- und Wachstums­pakts, hier unter dem Gesichtspunkt wirksamer Sanktionen und auch der Installierung eines Frühwarnsystems, anzustreben, im Übrigen die Einrichtung von Umschuldungs- und Insolvenzverfahren für Staaten. Viertens sind die Regelungen zur Begrenzung von Finanzmarktinvestitionen seitens des Staates, insbesondere durch die Landesbanken und die Kommunen, zu überarbeiten und im Ergebnis zu verschärfen.

sie nützt, ARSP Beiheft Nr. 83 (2002), S. 85 ff.; auch Rolf Stürner, Markt und Wettbewerb über alles? Gesellschaft und Recht im Fokus neoliberaler Marktideologie, 2007.



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2. Sachangemessene Risikobeurteilungen Lässt man dieses Spektrum möglicher und auch gebotener Ansätze nochmals Revue passieren, so wird deutlich, dass es sich um ganz unterschiedliche Maßnahmen handelt, die auf unterschiedlichen Ebenen angreifen und auch unterschiedliche unmittelbare Zielsetzungen haben. Ähnlich sind sich die Ansätze allerdings – und auch dies hat die Analyse gezeigt – darin, dass sie sachangemessene Risikobeurteilungen voraussetzen oder auch gewährleisten müssen, die die Chancen und die Gefahren bestimmter privater oder staatlicher Finanzmarkt­ engagements bemessen und diese Chancen und Gefahren einander gegenüberstellen. Das Gebot einer sachangemessenen Risikobeurteilung ist dabei verfassungsrechtlich fundiert; dies gegenstandsbezogen in Bestimmungen wie Art. 12 Abs. 1 GG (für die Ausgestaltung der Bankenabgabe) und Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG (für die Staatsverschuldung und auch schon für die staatliche Übernahme von Gewährleistungen), gegenstandsübergreifend in den verklammernden Prinzipien der materiellen Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie, auch in den Freiheits- und Gleichheitsgehalten dieser Prinzipien über die Zeit39. Soweit der Gesetzesvorbehalt reicht, ist institutionell der Gesetzgeber aufgerufen, die Risikobewertung vorzunehmen bzw. hinreichend konkret vorzuzeichnen. Hierzu hat er leistungsfähige Risikomodelle zu entwickeln oder auch bestehende Risikomodelle aufzugreifen, die Modellauswahl im Einzelnen zu rechtfertigen und auf Grundlage der Modellannahmen folgerichtige und widerspruchsfreie Schlussfolgerungen zu ziehen40. Dies verweist auf Begriffe wie „Empiriearbeit“, „Ge39  Ausführlich zu den rechtlichen Grundlagen staatlicher Risikobeurteilungen Indra Spiecker genannt Döhmann, Staatliche Entscheidungen unter Unsicherheit, 2012; grundlegend Udo Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994. 40  Alexander Thiele, Divergierende Risikomodelle und der Gesetzgeber, ZG Bd. 25 (2010), S. 127 (141 ff.), dort mit konkreten Folgerungen für die Finanzmarktaufsicht.

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setzesfolgenanalyse“ und „gute Gesetzgebung“41. Die Frage, was der Gesetzgeber schuldet, wie viel Sorgfalt er bei der Normsetzung walten lassen muss, insbesondere mit Blick auf Schlüssigkeit und Folgerichtigkeit in Ausgestaltung42 und auch Begründung43, wird gerade in jüngerer Zeit wieder verstärkt diskutiert, zumal in Anknüpfung an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen eben diese Gesichtspunkte in Bereichen hervorgehoben worden sind, in denen dem Gesetzgeber ein erheblicher Gestaltungsraum verbleibt44. Jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang folgen die Sorgfalts- und gegebenenfalls auch Begründungspflichten aus dem Telos der genannten Verfassungsbestimmungen. Geschuldet sind danach im Kern inhaltlich zutreffende, also risikoadäquate und erst damit den verfassungsrechtlichen Schutzgütern, insbesondere von Art. 12 Abs. 1, Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 Abs. 2 GG, gerecht werdende Regelungen. Soweit die Bestimmung des Risikos schwierig bleibt, kommt dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu, die von der Modellauswahl bis zur Bewertungsentscheidung reichen 41  Helmuth Schulze-Fielitz, Wege, Umwege oder Holzwege zu besserer Gesetzgebung, JZ 2004, S. 862 ff.; Jörg Ennuschat, Wege zu besserer Gesetzgebung – sachverständige Beratung, Begründung, Folgenabschätzung und Wirkungskontrolle, DVBl. 2004, S. 986 ff.; Sigrid Emmenegger, Gesetzgebungskunst, 2006; speziell zur europäi­ schen Ebene Thomas von Danwitz, Wege zu besserer Gesetzgebung in Europa, JZ 2006, S. 1 ff. 42  Zum Gebot folgerichtiger Ausgestaltung Gerd Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff / Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 ff. 43  Zu Begründungspflichten des Gesetzgebers Christian Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: Depenheuer u. a. (Hrsg.), FS für Josef Isensee, 2007, S. 325 ff.; Timo Hebeler, Ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet, Gesetze zu begründen?, DÖV 2010, S. 754 ff.; Veith Mehde / Stefanie Hanke, ­ Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten – Die neuen Ansätze in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, ZG Bd. 25 (2010), S. 381 ff. 44  BVerfGE 122, 210 (Pendlerpauschale); BVerfGE 125, 175 (Hartz IV-Regelsätze).



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kann. Zugleich ist der Gesetzgeber dann aber umso mehr gehalten, seine Vorgehensweise und seine Näherungsversuche ra­tional zu begründen45. In genau diesem Umfang ist das Handeln des Gesetzgebers auch gerichtlich nachprüfbar; sei es bezogen auf die Risiko­ adäquanz der ausgestalteten Regelungen selbst, sei es bezogen auf die Nachvollziehbarkeit der Begründung in Bereichen, in denen die Einschätzungsprärogative greift. Entsprechendes gilt für die Exekutive. Sie hat die materiellund verfahrensrechtlichen Vorgaben des Gesetzgebers über die Risikobewertung umzusetzen und auf dieser Grundlage ihrerseits risikoadäquat zu entscheiden oder, jedenfalls, ihre Entscheidungen nachvollziehbar zu begründen. Dass gerade im Bereich der staatlichen Beurteilung von ­ inanzmarktrisiken nach wie vor Defizite zu bestehen scheiF nen, hat sich in der jüngeren und jüngsten Vergangenheit vielfach gezeigt. Nochmals zu erinnern ist insoweit an den ­ ­parlamentarischen Umgang mit dem Europäischen Stabilisierungsmechanismus, an die Regierungsbegründung zum Restrukturierungsgesetz, insbesondere zum Restrukturierungsfonds, und auch an die kommunale Praxis eines zum Teil blau­ äugigen Investments knapper Mittel in zweifelhafte Papiere. Bei allen der genannten Lösungsansätze wird es vor diesem Hintergrund entscheidend darauf ankommen, jeweils problemspezifische materielle Maßgaben und gerade auch Verfahrensvorschriften zur Beurteilung der Finanzmarktrisiken auf legislativer und sodann exekutiver Ebene zu entwickeln. Die Aufgabe ist ebenso groß wie unumgänglich, wenn Staat und Finanzmärkte in Zukunft wieder in einem Verhältnis gesunder, förderlicher Kooperation stehen sollen.

45  Christian Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: Depenheuer u. a. (Hrsg.), FS für Josef Isensee, 2007, S. 325 (342) betrachtet die Begründung als verfassungsrechtliche ­Obliegenheit mit Blick auf die Möglichkeit der „Verwirkung“ einer Einschätzungsprärogative.

Die Bankenkrise als Demokratieproblem Von Dietrich Murswiek, Freiburg* I. Bankenkrise und Rettungspakete Nachdem ab 2007 aus der riesigen Spekulationsblase am US-Immobilienmarkt die Luft entwich, gerieten immer mehr Banken wegen Kreditausfällen am Subprime-Markt in Schwierigkeiten. Großbanken wie Fannie Mae und Freddie Mac oder AIG mußten vom US-Finanzministerium und von der FED „gerettet“ werden. Als im September 2008 die US-amerikanische Investmentbank Lehman Bros. nicht von der Regierung „gerettet“ wurde und in Konkurs ging, brach auf den Finanzmärkten die Panik aus1. Die Banken stellten sich gegenseitig keine Kredite mehr zur Verfügung. Das weltweite Finanzsystem drohte zusammenzubrechen. Und wir lernten eine Vokabel, die die meisten von uns zuvor noch nie gehört hatten: die „systemische Bedeutung“ oder „systemische Relevanz“2. Es *  Prof. Dr., Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für Öffentliches Recht. 1  Eine detaillierte Chronologie zur Finanzmarktkrise bietet HansWerner Sinn, Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist, 2. Aufl. 2009, S. 323 ff., ausführliche Darstellung der Krise ebd. S. 33 ff.; vgl. außerdem z. B. Ilona Sell, Chronik der Finanzmarktkrise, FAZ v. 2.9.2009, S. 9; Werner Heun, Der Staat und die Finanzkrise, JZ 2010, S. 53 (53 f.) m. w. N. 2  Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie zur Durchführung und Qualitäts­ sicherung der laufenden Überwachung der Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute durch die Deutsche Bundesbank (AufsichtsRL) vom 28.2.2008 definiert „systemrelevante Institute“ als „Institute, deren Bestandsgefährdung aufgrund ihrer Größe, der Intensität ihrer Interbankbeziehungen und ihrer engen Verflechtung mit dem Ausland erhebliche negative Folgeeffekte bei anderen Kreditinstituten auslösen und zu einer Instabilität des Finanzsystems führen könnte“. Siehe zu

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gebe Banken, so wurden wir belehrt, die „systemische Relevanz“ hätten. Sie seien in einer solchen Weise und in einem solchen Umfang mit anderen Banken durch wechselseitige Kreditgeschäfte verflochten, daß der Zusammenbruch einer systemrelevanten Bank den Zusammenbruch vieler anderer Banken zur zwangsläufigen Folge hätte. Die Insolvenz einer solchen Bank würde andere Banken wie Dominosteine umfallen lassen. Das ganze Finanzsystem fiele wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Damit wäre dann auch der Realwirtschaft, die auf Finanzierungen seitens der Banken angewiesen ist, ihr Lebenselixier entzogen. Wenn das alles so stimmt, und es ist die ganz überwiegende Meinung, daß es so stimmt, dann hat die Bankenkrise spätestens seit ihrer Zuspitzung im September 2008 die Grundlagen der Weltwirtschaft, zumindest die ökonomischen Existenzgrundlagen all derjenigen Länder bedroht, deren Banken in die Subprime-Krise involviert waren, und das waren fast alle systemisch relevanten Großbanken in den Industriestaaten der westlichen Hemisphäre. Es stand also sehr viel auf dem Spiel, für die Wirtschaft in Deutschland wie in den USA und in vielen europäischen Ländern fast alles. Und wenn alles auf dem Spiel steht, wenn die drohende Gefahr so unermeßliche Ausmaße hatte, die alles überstiegen, dem Begriff aus der US-amerikanischen Literatur Joseph P. Hughes /  Loretta J. Mester, A Quality and Risk-Adjusted Cost Function for Banks: Evidence on the „Too-Big-To-Fail“ Doctrine, in: The Journal of Productivity Analysis, 4 / 1993, S. 293–315; George G. Kaufmann, Bank Contagion: A Review of the Theory and Evidence, in: Journal of Financial Services Research, 1994, S. 123–150; Edward Gardener / Philip Molyneux, The TBTF doctrine revisited: Core banks and the management of bank failures, in: EIB Papers, Volume 2, No. 1, 1997; Olivier De Bandt / Philipp Hartmann, Systemic Risk in Banking: A Survey, in: Charles A. E. Goodhart / Gerhard Illing (Hrsg.), Financial Crises, Contagion, and the Lender of Last Resort, Oxford 2002; William S. Silber, When Washington shut down Wallstreet, Princeton UP 2007, S. 1–7, 116–130, 123–125; Xavier Freixas / Bruno M. Parigi / Jean-Charles Rochet, Systemic Risk, Interbank Relations and Liquidity Provision by the Central Bank, in: Jean-Charles Rochet, Why Are There So Many Banking Crises?, Woodstock 2008.



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was wir an ökonomischen Gefahren seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hatten, wenn unser ganzer in Jahrzehnten erarbeiteter Wohlstand zunichte gemacht zu werden drohte, dann mußte alles, aber auch alles nur Menschenmögliche getan werden, um den Eintritt dieser Katastrophe zu verhindern. Genau das taten dann auch die Politiker. Weltweit gingen Regierungen und Parlamente daran, in aller Eile „Rettungspakete“ zu schnüren und exorbitante Finanzgarantien zur Verfügung zu stellen, um den Zusammenbruch systemisch bedeutender Banken zu verhindern. Vor allem mit staatlichen Eigenkapitalzufuhren und Bürgschaften in schwindelerregendem Umfang gelang es dann tatsächlich, die Lage zu stabilisieren und weitere Insolvenzen von Großbanken zu verhindern3. In Deutschland wurde der Entwurf des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes am 14. Oktober 2008 vorgelegt4 und bereits am 17. Oktober beschlossen, so daß es am 18. Oktober in Kraft treten konnte5. Das Gesetz schuf zur Bankenrettung einen Fonds mit einem Volumen von 480 Mrd. Euro. 80 Mrd. Euro wurden bereitgestellt, um damit den Problembanken vor allem Kredite zur Rekapitalisierung zur Verfügung zu stellen. Außerdem wurde der Fonds ermächtigt, für bis zum 31. Dezember 2009 gegebene Schuldtitel und Verbindlichkeiten der begünstigten Unternehmen Garantien bis zu einer Gesamt­ höhe von 400 Mrd. Euro auszusprechen6. 3  Eine Gesamtdarstellung der weltweiten Maßnahmen zur Bekämpfung der Finanzmarktkrise bietet der Finanzstabilitätsbericht /   /  www.bun 2009 der Deutschen Bundesbank, abrufbar unter http:  desbank.de / download / volkswirtschaft / finanzstabilitaetsberichte /  finanzstabilitaetsbericht2009.pdf (zuletzt abgerufen am 29.4.2011); einen Überblick m. w. N. bietet auch Heun (Fn. 1), S. 59 f. 4  Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes (Finanzmarktstabilisierungsgesetz – FMStG), BT-DrS. 16 / 10600. 5  Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes (Finanzmarktstabilisierungsgesetz – FMStG), BGBl. I S. 1982. 6  §§ 6 Abs. 1 S. 1, 9 Abs. 1, Abs. 4 FMStFG (Gesetz zur Errichtung eines Finanzmarktstabilisierungsfonds); vgl. ausführlich zum

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Das ist eine gigantische Summe, und ich vermute, daß der Bundestag noch nie zuvor über eine Finanzmaßnahme in einer solchen Größenordnung beschlossen hatte. Der gesamte Bundeshaushalt hat schließlich „nur“ ein Volumen von rund 300 Mrd. Euro7. Hinzu kamen 2009 und 2010 „Konjunkturpakete“ im Umfang von insgesamt über 100 Mrd. Euro8, die der Stimulierung der infolge der Bankenkrise in die Rezession gefallenen Realwirtschaft dienten. In anderen Staaten wurden ähnliche Maßnahmen ergriffen. Die USA legten Hilfsprogramme in Höhe von 1,7 Billionen US-Dollar auf9 sowie ein Konjunkturprogramm in Höhe von 677 Mrd. Dollar10. Weltweit erreichten die Maßnahmen zur Bankenrettung ein Volumen von über 4 Billionen Euro11, die Konjunkturprogramme der G 20-Staaten in den Jahren 2008– 2010 1,13 Billionen Euro12.

Inhalt des FMStG z. B. Gerald Spindler, Finanzkrise und Gesetzgeber – Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz, DStR 2008, S. 2268 ff. 7  Siehe § 1 Haushaltsgesetz 2011 vom 22.12.2010, BGBl. I, S. 2228. 8  Maßnahmenpaket der Bundesregierung vom 5.12.2008 – Konjunkturpaket I (siehe Gesetz zur Umsetzung steuerrechtlicher Regelungen des Maßnahmenpakets „Beschäftigungssicherung durch Wachs­tumsstärkung“ vom 21.12.2008, BGBl. I, S. 2896) sowie Konjunkturpaket II (siehe Gesetz zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland vom 2.3.2009, BGBl. I, S. 416). 9  Emergency Enonomic Stabilization Act (EESA) vom 3.10.2008 mit dem Troubled Asset Relief Program (TARP) als zentralem Element, später ergänzt durch die Term Asset-Backed Securities Loan Facility (TALF), vgl. Heun (Fn. 1), S. 60 m. Nachw. 10  Heun (Fn. 1), S. 60. 11  Übersicht bei Sinn (Fn. 1), S. 216. 12  Heun (Fn. 1), S. 60.



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II. Parlamentarische Entscheidungsfreiheit als Bedingung der Demokratie Warum liegt hierin ein Problem für die Demokratie? Die Banken haben mit ihrer unverantwortlichen Kreditvergabe und mit ihren Derivategeschäften im Subprime-Sektor die Gefahr einer Katastrophe für die gesamte Volkswirtschaft heraufbeschworen, aus der sie um des Gemeinwohls willen mit Einsatz von Steuergeldern gerettet werden mußten13. Dem Parlament blieb keine andere Wahl, als innerhalb von nur wenigen Tagen eine Entscheidung von finanziell außerordentlicher Tragweite zu treffen14. Wo sonst über Projekte von einigen Millionen Euro wochen- oder monatelang debattiert wird, da wurde jetzt von heute auf morgen ein riesiges Milliardenpaket verabschiedet, wie es das noch nie zuvor gegeben hatte. Das Demokratieproblem liegt in der Zwangslage, in der das Parlament sich befand. Die Situation stellte sich so dar, daß eine freie Entscheidung im Sinne der Fähigkeit, zwischen verschiedenen Alternativen zu wählen, nicht möglich war. Es kam nur die eine Entscheidung in Betracht, die dann auch getroffen wurde. Meine These ist: Demokratische Legitimation der Staatsgewalt setzt voraus, daß das Volk und seine Repräsentanten frei 13  Diese Feststellung bleibt auch dann richtig, wenn man berücksichtigt, daß manche Staaten dieses Verhalten der Banken durch verfehlte Rahmenbedingungen erleichtert und zum Teil geradezu her­ ausgefordert haben, etwa durch Deregulierung und mangelnde Kontrolle im Derivatebereich sowie – in den USA – durch eine Förderung des Eigenheimerwerbs, die starke Anreize zur Vergabe von Hypothekendarlehen gab, mit deren Rückzahlung nicht gerechnet werden konnte. 14  Siehe nur die Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Entwurf des FMStG am 15.10.2008, Plenarprotokoll Nr. 16 / 182, S. 19349 ff.; eine detaillierte Darstellung des Gesetzgebungsverfahrens bietet Thilo Brandner, Parlamentarische Gesetzgebung in Krisensituationen – zum Zustandekommen des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes, NVwZ 2009, S. 211 (212 ff.).

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entscheiden, also zwischen Alternativen wählen können. Wer gezwungen ist, eine bestimmte Entscheidung zu treffen, kann Legitimation nicht vermitteln. Die Banken haben unser politisches System in eine Lage gebracht, in der die demokratische Legitimation allenfalls situationsspezifisch noch möglich war, im Wiederholungsfall aber nicht mehr möglich sein wird. Ich möchte diese These näher erläutern. Demokratische Legitimation ist in erster Linie personale Legitimation: Politische Entscheidungen sind legitim, wenn sie auf das maßgebliche Legitimationssubjekt zurückgeführt werden können. Subjekt der demokratischen Legitimation ist das Volk. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, wie das Grundgesetz (Art. 20 Abs. 2) formuliert. Entscheidet nicht das Volk selbst, sondern wird die Entscheidung von seinen Repräsentanten im Parlament getroffen, dann setzt dies zwingend voraus, daß die Abgeordneten frei entscheiden können. Hat das Parlament nicht die Wahl zwischen verschiedenen Entscheidungsalternativen, sondern wird es gezwungen, eine ganz bestimmte Entscheidung zu treffen, dann läßt sich diese Entscheidung nicht auf das Legitimationssubjekt der Demokratie, das Volk, zurückführen, sondern dann vollzieht das Parlament den Willen desjenigen, der es zu seiner Entscheidung zwingt. Für die Regierung gilt Entsprechendes. Konsequenterweise ist Parlamentsnötigung wie auch die Nötigung anderer Verfassungsorgane ein Straftatbestand (§ 105 StGB). Der politische Streik ist in Deutschland verboten, weil durch ihn ein Druck auf die Verfassungsorgane ausgeübt wird, der deren Entscheidungsfreiheit unzulässig beeinträchtigen würde. Politischen Entscheidungen fehlt also jedenfalls dann die demokratische Legitimation, wenn sie durch Gewaltanwendung, durch Drohung mit Gewalt oder mit anderen Übeln erzwungen worden sind.



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III. Notstand als Reduktion der Entscheidungsfreiheit Nun gibt es freilich auch Zwangslagen, in die politische Entscheidungsträger hineingeraten können, ohne daß dabei von einem bestimmten Subjekt im Sinne der Nötigungstatbestände Zwang ausgeübt wird mit dem Zweck, eine bestimmte Entscheidung des Parlaments oder der Regierung zu erreichen. Man denke an Naturkatastrophen, an Terroranschläge im Ausmaß des Anschlags vom 11. September 2001 oder an einen Angriffskrieg, der gegen das eigene Land geführt wird. In solchen Notsituationen kann es ebenfalls möglich sein, daß zur Abwehr der bestehenden Gefahr oder zur Bewältigung der bereits eingetretenen Katastrophe nur der Einsatz eines ganz bestimmten Mittels sinnvollerweise in Betracht kommt und eine überhaupt nur diskutable Entscheidungsalternative nicht gegeben ist. Solche historisch kontingenten Zwangslagen gehören zur conditio humana. Sie sind unvermeidbar und können die personale Legitimation der Staatsorgane, die zur Bewältigung der Notlage tätig werden, nicht in Frage stellen. Denn in diesem Falle handeln die Staatsorgane fraglos im Interesse des Volkes; sie handeln genauso, wie fast jeder Bürger an ihrer Stelle handeln würde. Regelmäßig sind solche Entscheidungen von einem breiten parteiübergreifenden Konsens getragen. Ist aber nicht genau dies die Situation, in der sich die Politik infolge der Bankenkrise im Herbst 2008 befand? Haben wir es hier nicht auch mit einer katastrophenartigen Notlage zu tun, die niemand gewollt herbeigeführt hat, um damit Druck auf die Politiker auszuüben? Haben wir es nicht mit einer Folge komplexer Handlungsweisen staatlicher und privatwirtschaftlicher Akteure zu tun, die allesamt ganz andere Ziele verfolgten, als eine solche Notlage zu verursachen? Das wird man wohl bejahen müssen. Aber die Bankenkrise unterscheidet sich doch durch wesentliche Gesichtspunkte von Naturkatastrophen, Angriffskriegen oder vergleichbaren Ereignissen. Ein wesentlicher Aspekt ist meines Erachtens, daß sie hervorgerufen wurde durch privatwirtschaftliche Ge-

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schäfte von Rechtssubjekten, die bei diesen Geschäften an die staatlichen Rechtsordnungen gebunden sind und der Kontrolle der jeweils zuständigen Staatsgewalt unterliegen. Daraus folgt auch, daß die staatlichen Rechtsordnungen prinzipiell in der Lage sind, durch den gesetzlichen Rahmen, den sie für die wirtschaftliche Tätigkeit im allgemeinen und für Bankgeschäfte im Besonderen setzt, die Entstehung ökonomischer Risiken zu verhindern, die so groß sind, daß sie das Wirtschaftssystem im Ganzen bedrohen. Die Demokratie kann sich zwar nicht gegen historisch kontingent entstehende Zwangslagen schützen. Sie kann aber mit ihrem Rechtssystem dafür Sorge tragen, daß die Verfassungsorgane nicht durch solche Verhaltensweisen privater Rechtssubjekte in unausweichliche Entscheidungszwänge gebracht werden, die durch eine sinnvolle Gestaltung des Rechtsrahmens verhindert werden könnten. Wenn eine Rechtsordnung es zuläßt, daß der Bankensektor aus privatem Gewinnstreben Risiken erzeugt, die für die Allgemeinheit so katastrophale Folgen haben können, daß zur Abwehr dieser Folgen Regierung und Gesetzgeber gar nicht anders handeln können, als Finanzgarantien in Höhe des ganzen Staatshaushalts zur Verfügung zu stellen, dann leidet dieses System unter einem gravierenden Demokratiedefizit. Denn in diesem System kann ein Teil des privaten Sektors die Verfassungsorgane überwältigen und sozusagen in Geiselhaft nehmen15: Private Profitmaximierung wird auf Kosten des Steuerzahlers betrieben; dem Parlament, das auf das Allgemeinwohl verpflichtet ist, bleibt nichts anderes übrig, als die privaten Banken, die vor dem Bankrott stehen, mit Steuergeldern zu retten. Ich will damit nicht behaupten, daß die konkreten Beschlüsse über die Bankenrettung und den Rettungsfonds nicht demokratisch legitimiert gewesen seien. Aber sie haben einen Systemdefekt aufgedeckt. Und dieser bedarf jetzt der Reparatur. 15  Den Staat als Geisel sehen auch z. B. Martin Hellwig / Beatrice Weder di Mauro, „Ich bin systemrelevant. Holt mich hier raus!“, FAZ v. 18.3.2009, S. 12.



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IV. Verantwortlichkeit für die Erhaltung der Bedingungen politischer Entscheidungsfreiheit Zu den grundlegenden Ideen der Marktwirtschaft gehört die Kongruenz von Risiko und Haftung16. Jedes Unternehmen muß Risiken eingehen, wenn es wirtschaftlichen Erfolg haben will. Für seine Risikobereitschaft wird es mit Gewinnen belohnt, wenn es Erfolg hat. Andererseits muß es für die Schulden haften, die es zur Finanzierung seiner Geschäfte gemacht hat, bis hin zur Insolvenz. Nimmt der Staat den Unternehmen das Insolvenzrisiko ab, indem er notfalls ihre Existenz durch Bürgschaften oder Eigenkapitalzufuhr rettet, dann ist das nicht nur eine ordnungspolitisch vollkommen falsche – weil einen Anreiz zum Eingehen unverantwortlich hoher Risiken setzende – Politik, sondern dann ist das zugleich eine Politik, die der demokratischen Legitimation das Wasser abgräbt, indem sie dazu beiträgt, privat erzeugte Entscheidungszwänge für die Verfassungsorgane entstehen zu lassen. Ein Wirtschaftssystem, das es zuläßt, daß private Wirtschaftssubjekte ökonomische Risiken erzeugen, für die wegen ihrer puren Größe der Staat einstehen muß, weil ihm um des Gemeinwohls willen gar nichts anderes übrig bleibt, leidet unter einem schwerwiegenden demokratischen Strukturdefekt, weil es Privatunternehmen ein unwiderstehliches „Erpressungspotential“ in die Hand gibt, um die Verfassungsorgane zu zwingen, für das Mißlingen der eigenen Wetten einzustehen, während sprudelnde Gewinne und Millionenboni einkassiert werden, solange die Sache gut geht. So wird der Staat zum Knecht der Finanzwirtschaft gemacht. Zu den ungeschriebenen Verfassungspflichten der Verfassungsorgane gehört es, im Rahmen ihrer Kompetenzen die Funktionsfähigkeit der Verfassungsorgane zu gewährleisten und ihre Funktionsbedingungen zu garantieren. Daß Regierung und Parlament nicht dafür gesorgt haben, die rechtlichen 16  Vgl. Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 1952, S. 285.

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Rahmenbedingungen des Finanzwesens so zu gestalten, daß eine so große Krise wie die Bankenkrise von 2008 nicht entsteht und in eine Zwangssituation für Regierung und Parlament einmündet, ließ sich noch damit erklären, daß kaum jemand mit so etwas gerechnet hat17. Nach den Erfahrungen mit den Risiken, die Investmentbanken einzugehen pflegen, und nach den Erkenntnissen, die man über die „systemische Relevanz“ von Banken gewonnen hat, kann sich fortan niemand mehr auf Unkenntnis, Unwissenheit oder Unvorhersehbarkeit berufen. Der Strukturfehler, der zu Zwangslagen für Regierung und Parlament führt, ist erkannt. Ihn zu beseitigen, ist daher Pflicht der zuständigen Verfassungsorgane. Untätigkeit bedeutet hier Verletzung des Demokratieprinzips durch Unterlassen.

17  Das lag zum Teil daran, daß die Risiken großenteils durch hyperkomplexe Finanzprodukte (Derivate, insbesondere durch Collat­ eralized Debt Obligations – CDO) völlig intransparent gemacht worden waren und selbst von vielen Investmentbankern nicht erkannt wurden, vgl. etwa Sinn (Fn. 1), S. 132 ff.; Heun (Fn. 1), S. 55 f., und daß etliche Banken diese Risiken in Zweckgesellschaften ausgegliedert hatten, vgl. Sinn (Fn. 1), S. 135 f., 169 f.; Heun (Fn. 1), S. 55 f. Völlig unvorhersehbar war die Krise aber keineswegs. Einige Autoren haben vorher gewarnt, so z. B. Max Otte, Der Crash kommt, 2006. Die vom US-Kongreß eingesetzte Financial Crisis Inquiry Commission kommt zum Ergebnis, daß die Finanzkrise vermeidbar gewesen wäre, wenn man die Warnsignale nicht ignoriert hätte, Financial Crisis Inquiry Commission, United States of America (Hrsg.), Der FCIC Report. Das Wichtigste aus dem offiziellen Untersuchungsbericht der US-Untersuchungskommission zur weltweiten Finanzkrise, 2011, S. 9. Es gab Strukturmängel in der Regulierung, die nicht unbekannt waren, sondern von der Politik bewußt in Kauf genommen wurden, vgl. Sinn (Fn. 1), S. 175 ff. Die Ratingagenturen und die Finanzaufsicht haben total versagt, vgl. Sinn (Fn. 1), S. 144 ff., 151 ff. Die US-amerikanische Immobilienblase, die durch eine verfehlte staatliche Wohnungskreditpolitik aufgepumpt worden war – dazu Sinn (Fn. 1), S. 109 ff.; Heun (Fn. 1), S. 55 –, war durchaus erkennbar.



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V. Folgerungen für die Bankenkrise und Folgekrisen Ich will jetzt nicht behaupten, daß Regierung und Parlament noch gar nichts getan haben, um auf die Bankenkrise zu reagieren. Aber es ist evident, daß die bislang ergriffenen Maßnahmen bei weitem nicht ausreichen, um den Strukturfehler zu beseitigen. Das haben in diesem Jahr [2010] die Griechenland-Krise und daran anschließend die Eurokrise eindringlich bewiesen. Diesen Krisen liegt das gleiche Muster zugrunde wie der Bankenkrise von 2008. Nur vordergründig handelt es sich um Überschuldungs- und Zahlungsfähigkeitskrisen einiger überwiegend mediterraner Euro-Staaten. Soweit es um die Notwendigkeit und Alternativlosigkeit der Rettungspakete geht, die wiederum in höchster Eile vom Parlament verabschiedet werden mußten18, weil andernfalls die totale Katastrophe drohte19, geht es im Kern wieder um eine Bankenkrise. Denn 18  Der Europäische Stabilitätsmechanismus wurde von den Staatsund Regierungschefs der Euro-Staaten in einer Nacht- und Nebelaktion am 9. / 10. Mai 2010 in Brüssel beschlossen. Der Entwurf eines Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus wurde mit BT-Drs. 17 / 1685 am 11.5.2010 im Bundestag eingebracht. Die erste Lesung fand am 19.5.2011 statt. Am selben Tag wurde der Entwurf in den Ausschüssen beraten und dann im Plenum am 21.5.2011 in zweiter und dritter Lesung beraten und verabschiedet, BT-PlPr. 17 / 42, S. 4125B–4157A und 17 / 44, S. 4412C–4446A, 4443A. Der Bundesrat stimmte am selben Tag zu, BR-PlPr. 870, S. 169A–182D, und der Bundespräsident fertigte das Gesetz schon einen Tag später ohne nähere Prüfung aus und veranlaßte die Verkündung. 19  Vgl. z. B. die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 17 / 1685, S. 4; von Bundeskanzlerin Merkel zugespitzt in der Formulierung: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“, Regierungserklärung vom 19.5.2010, BT-PlPr. 17 / 42, S. 4126B – die dümmste und gefährlichste Äußerung zur Eurokrise; sie führt zur Selbstfesselung der Politik, weil sie jeden noch so hohen Einsatz von Steuergeldern aus Sicht aller, die an diese These glauben, nicht nur rechtfertigt, sondern sogar erzwingt. Währungskommissar Olli Rehn: „Wir werden den Euro verteidigen, koste es, was es wolle.“, 750 Milliarden zum Schutz des Euro, FAZ.net 10.5.2010, http: /  / www.faz.net / artikel / S31147 / bei

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die unabdingbare Notwendigkeit der Rettungspakete, wieder­ um in exorbitanter Höhe und wiederum dem Volumen nach alles übersteigend, was sonst in Haushaltsplänen beschlossen spielloser-rettungsschirm-750-milliarden-zum-schutz-des-euro-3007 2335.html (abgerufen am 17.8.2011). Typisch für die vielen dramatisierenden Stellungnahmen z. B. auch der Abgeordnete Robert Hochbaum: „Nach den parlamentarischen Beratungen, insbesondere der Anhörung, bin ich zum Schluß gekommen, daß die Zahlungsunfähigkeit Griechenlands, ein Staatsbankrott, die europäische Währungs­ union in höchste Not bringen, eine neuerliche internationale Bankenkrise auslösen und für andere ebenfalls höher verschuldete Länder weitere Schwierigkeiten bei der Refinanzierung mit möglichen weiteren Folgen bedeuten würde. Eine kaum mehr vorhersehbare und steuerbare Kettenreaktion würde ausgelöst werden.“, BT-PlPr. 17 / 41, S. 4104 (zum Griechenland-Rettungspaket). Oder Rehn a. a. O.: „Es gibt ganz klar ein systemisches Risiko und eine Bedrohung für die finanzielle Stabilität von Eurozone und EU, es handelt sich nicht nur um eine Attacke auf einzelne Länder.“ Welcher Druck auf den Politikern lastete, die am 9. / 10 Mai 2010 überrumpelt worden waren und die Brüsseler Beschlüsse nun umsetzen mußten, wird aus der Stellungnahme eines der die Regierung beratenden Experten, des Präsidenten der BaFin Jochen Sanio, deutlich: „Nach Einschätzung des FSB [Financial Stability Board, Organ zur Umsetzung der Beschlüsse innerhalb des G 20-Prozesses] war die Situation potentiell noch gefährlicher als im Oktober 2008. Das gesamte Finanzsystem sei in Gefahr gewesen. Der Vertrauensverlust in einzelnen Staaten der Eurozone war derart massiv, dass deren Zahlungsfähigkeit und damit ihre Fähigkeit, als lender of last resort zu agieren, in Zweifel gezogen wurde. Diesen Staaten war es damit praktisch unmöglich, sich auf den Märkten mit Liquidität zu versorgen. Für Staatsanleihen der betroffenen Staaten bestand de facto keine Nachfrage mehr. Das FSB sah daher am 7. Mai 2010 keine Alternative zu einer konzertierten Rettungsaktion noch vor Öffnung der asiatischen Finanzmärkte in der Nacht von Sonntag auf den Montag. Im Lichte der Aussagen des FSB sind die der BaFin vorliegenden aufsichtlichen Informationen zum deutschen Banken- und Versicherungsmarkt wie folgt zu bewerten: a)  18 abgefragte Banken (15 systemrelevante Institute, 3 Spezialinstitute) haben gegenüber Griechenland, Spanien, Portugal, Irland und Italien Forderungen in Höhe von mehreren Hundert Milliarden Euro. Davon entfallen rund 30 % auf Forderungen gegenüber den Staaten selbst.



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zu werden pflegt20, diese Notwendigkeit wurde damit begründet, daß im Falle der Insolvenz Griechenlands oder eines anderen der gefährdeten Euro-Staaten das gesamte europäische Finanzsystem zusammenbrechen würde. Und warum? Weil die Hauptgläubiger der betreffenden Staaten, der sogenannten PIIGS-Staaten, europäische Banken sind, die sich dort mit hohen zwei- oder sogar dreistelligen Milliardenbeträgen engagiert haben. Griechenland durfte nicht in Konkurs gehen, weil b) Schon bei einem gleichzeitigen Ausfall Griechenlands, Portugals und Irlands würden mindestens fünf dieser Banken ihre Mindestkapitalanforderungen nicht mehr erfüllen können. Diesen Banken müsste massiv von außen Kapital zugeführt werden, ggf. mit Steuergeldern, um extreme Auswirkungen auf die deutschen und euro­ päischen Finanzmärkte zu verhindern. c) Versicherungsunternehmen halten Forderungen in Höhe von rund 150 Milliarden Euro gegenüber den fünf genannten Staaten. Angesichts des Ausmaßes der Krise war die Währungsstabilität des Euro, mithin die gesamte Eurozone, in Gefahr. Da die deutschen In­ stitute größter ausländischer Kreditgeber für die Märkte der Euro­ zone sind […], hätte der Zusammenbruch des Euro für diese und den deutschen Staat katastrophale Auswirkungen. Ein Run auf das EUBankensystem hätte auch umgehend die deutschen Kreditinstitute umfasst. Zudem hätte dieser Run zum Ende des Euro führen können. Meine persönliche Einschätzung ist, dass es nach Beurteilung aller mir vorliegenden Daten, Hinweise und Szenarioanalysen keine Alternativen zum Euro-Rettungsschirm gab. Der enorme Vertrauensverlust der Märkte konnte nur durch eine schnelle, umfassende Lösung gestoppt werden. Die Folgen des Untätigbleibens stünden angesichts der drohenden extremen Auswirkungen insbesondere auf den deutschen Finanzmarkt und damit auch auf die deutsche Realwirtschaft in keinem Verhältnis zu den jetzt eingegangenen Verpflichtungen im Rahmen des Euro-Rettungsschirmes.“, Dienstliche Erklärung vom 28.5.2010 im Verfahren 2 BvR 1099 / 10 vor dem BVerfG. 20  Das „Griechenland-Rettungspaket“ vom Frühjahr 2010 umfaßt Kredite der Eurostaaten und des IWF in Höhe von 110 Mrd. Euro (davon 30 Mrd. IWF-Anteil); der deutsche Anteil beträgt 22,4 Mrd. Euro. Im Rahmen des Europäischen Stabilisierungsmechanismus stellen EU, Eurostaaten und IWF Finanzhilfen im Umfang von 750 Mrd. Euro bereit, davon 60 Mrd. die EU (EFSM), 440 Mrd. Euro die Eurostaaten im Rahmen einer Zweckgesellschaft (EFSF) und 250 Mrd. Euro der IWF. Deutschland muß für 123 Mrd. Euro plus weitere 20 %, also für insgesamt bis zu 147,6 Mrd. Euro bürgen.

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dies wahrscheinlich den Konkurs „systemisch relevanter“ Banken zur Folge gehabt hätte, der wiederum einen Dominoeffekt auszulösen drohte21. Die betreffenden Banken haben sich in diesem Fall ganz bewußt in unverantwortlichem Ausmaß in Staatsanleihen überschuldeter Staaten engagiert, um mit den hohen Zinsen blendende Geschäfte zu machen. Ein Risiko gab es aus ihrer Sicht nicht, weil ja die Staaten haften würden – eine „systemisch relevante“ Bank darf schließlich nicht untergehen. Man muß der staatlichen Politik vorwerfen, dieses Verhalten der Banken tatenlos mit angeschaut zu haben. Sie ist daher für die Zwangslage, in welche die Banken sie schon wieder gebracht haben, mit verantwortlich. Dem Griechenland-Rettungspaket und dem Euro-Stabilisierungsmechanismus mangelt es daher an demokratischer Legitimation. Einerseits haben die beteiligten Banken in diesem Falle die Risikoabwälzung ganz gezielt betrieben. Sie haben teilweise sogar öffentlich damit geworben, daß die Ramschanleihen sicher seien, weil die Staaten im Zweifel – gegen das Bail-out-Verbot des Europarechts22 – eine Insolvenz Griechenlands und anderer Problemstaaten verhindern würden. Sie haben somit eine nötigungsähnliche Situation bewußt herbeigeführt. Andererseits haben Bundesregierung und Bundestag die strukturelle Möglichkeit der Schaffung einer solchen Situation gekannt und trotz der diesmal leicht erkennbaren Risiken nichts zu ihrer Verhinderung unternommen. Sie sind somit dafür verantwortlich, daß das Parlament über die „Rettungspakete“ nicht frei entscheiden konnte und damit eine Grundvoraussetzung für die demokratische Legitimation der Entscheidung über diese Maßnahmen nicht gegeben war. Was bleibt aus verfassungsrechtlicher Sicht zu tun? 21  Typisch für diese Befürchtungen die dienstliche Erklärung des Präsidenten der BaFin Jochen Sanio (Fn. 19), auf die sich die Bundesregierung im Verfassungsprozeß beruft. 22  Art. 125 Abs. 1 AEUV.



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Das Problem wäre nur dann völlig beseitigt, wenn durch geeignete Rahmenbedingungen sichergestellt würde, daß Banken keine „systemische Relevanz“ mehr haben können. Wenn es Gründe geben sollte, die dagegen sprechen, Größe und Verflechtung der Banken so einschneidend zu begrenzen, dann muß jedenfalls gewährleistet werden, daß jedes noch so große Risiko, das im Bankensektor erzeugt wird, auch im Bankensektor aufgefangen werden kann, ohne daß der Staat zu Hilfe kommen muß. Hier kommen Regeln zur Risikobegrenzung einschließlich des Verbots hochkomplexer Derivate ebenso in Betracht wie Regeln über eine bessere Eigenkapitalausstattung oder die Einrichtung eines Haftungsfonds23. Aber das sind Einzelheiten, die über das hinausgehen, was ich mir für heute vorgenommen hatte: die Beleuchtung eines verfassungsrechtlichen Strukturproblems.

23  Siehe zu Reformvorschlägen des Finanzmarkts z. B. Martin F. Hellwig, Finanzkrise und Reformbedarf, NJW-Beil. 2010, S. 94 ff.; Heun (Fn. 1), S. 59 ff.; Günter Franke / Jan Pieter Krahnen, Ein staatliches Hospital für kranke Banken, in: FAZ v. 26.2.2010, S. 12.

Öffentlich-rechtlich gebundenes und regional ‚geerdetes‘ Kreditwesen als Stabilitätsbeitrag, insb. die Sparkassen in der Bankenkrise Von Heinrich Haasis, Berlin* 1

I. Sparkassen und Sparkassen-Finanzgruppe Sparkassen sind Kreditinstitute, die wettbewerbsorientiert arbeiten und sich dabei am Gemeinwohl orientieren. Sie wurden vor rund 200 Jahren mit dem Ziel gegründet, allen Menschen in ihrem jeweiligen Geschäftsgebiet sichere Anlagemöglichkeiten zur Eigenvorsorge anzubieten. Sie waren damit eines der ersten sozialen Sicherungssysteme in Deutschland. Die so eingesammelten Einlagen bündeln sie und geben sie als Kredite an Privatleute und örtliche Gewerbekunden wieder aus. Damit treiben sie die regionale Wirtschaft an und tragen so zur Steigerung des Wohlstands in allen Regionen Deutschlands bei. Die Sparkassen haben sich in ihrer Geschäftstätigkeit jeweils den Anforderungen der Zeit angepasst, aber an ihrem eigentlichen Geschäftsmodell grundsätzlich nichts geändert. Und wie zu Zeiten ihrer Gründung befinden sie sich in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft der Kommunen. Das Regionalprinzip koppelt dabei ihr Geschäftsgebiet fest mit dem Gebiet ihres kommunalen Trägers. Diese Konzentration auf eine bestimmte Region sorgt nicht nur für eine besonders gute Kundenkenntnis, *  2006–2012: Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes. Seit Mai 2012: Präsident des Weltinstitutes der Sparkassen (WIS). Ab Juli 2012: Vorsitzender des Vorstandes der Sparkassenstiftung für internationale Kooperation.

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sondern führt zu einer intensiven Marktbearbeitung und damit hohen Marktanteilen: Jede Sparkasse ist für sich Marktführer in ihrem Geschäftsgebiet. Dies ist die Basis für den nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg und die Voraussetzung für die vollumfängliche Erfüllung ihrer Gründungsaufgaben. Denn das Besondere am System der Sparkassen ist, dass sie die dafür notwendigen Mittel seit jeher selbst am Markt erwirtschaften – ohne Alimentierung durch die öffentliche Hand. Zur Steigerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit haben die Sparkassen seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Finanzgruppe aufgebaut, die heute mehr als 600 Unternehmen umfasst. Den Kern bilden die aktuell 429 rechtlich selbstständigen Sparkassen. Die anderen Unternehmen lassen sich in zwei Bereiche gliedern: Unternehmen, die im Backoffice Abwicklungsaufgaben bündeln und damit zu großen Volumina zusammenführen, einerseits. Und Spezialisten für bestimmte Produktbereiche, die die Sparkassen betriebswirtschaftlich nicht sinnvoll selbst erstellen können, aber ihren Kunden im Sinne eines Allfinanzdienstleisters anbieten wollen, andererseits. Zu ihnen gehören etwa der Fondsdienstleister DekaBank, die öffentlichen Versicherer oder die Deutsche Leasing. Mit diesem Verbund unterschiedlicher Unternehmen erreichen die Sparkassen gleich mehrere, sich bei anderen Anbietern häufig gegenseitig ausschließende Vorteile: Als regionale Unternehmen können sie nahe bei den Kunden sein. Als jeweilige regionale Marktführer führen sie kundenferne Funktionen so zusammen, dass sie Synergien und Skaleneffekte umfassend nutzen können. Und durch ihnen gehörende Spezialunternehmen versetzen sie sich in die Lage, auch Finanzdienstleistungen anbieten zu können, die ein besonderes Know-How erfordern. Mit insgesamt rund 350.000 Beschäftigten ist die Sparkassen-Finanzgruppe heute einer der größten gewerblichen Arbeitgeber in Deutschland. Rund 45 % aller in der deutschen Finanzwirtschaft arbeitenden Menschen sind in der Sparkassen-Finanzgruppe beschäftigt, davon allein etwa 250.000 bei den Sparkassen in allen Regionen Deutschlands. Kein DAXUnternehmen zahlt so viel Steuern wie die Sparkassen. In fast



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allen Regionen sind sie einer der größten Gewerbesteuerzahler. Damit bekennen wir uns ausdrücklich zu unserer Verantwortung gegenüber den Menschen und den zu finanzierenden öffentlichen Aufgaben. II. Die Soziale Marktwirtschaft – Stabilisator in der Wirtschaftskrise Die Sparkassen verstehen sich als öffentlich-rechtliche, zugleich aber wettbewerbsorientierte Unternehmen. Damit sind sie Ausdruck der sozialen Marktwirtschaft. Als Wettbewerbsordnung basiert sie auf der Gewinnorientierung und dem ­Eigennutz des Einzelnen. Sie setzt übersteigerten Gewinnmaximierungen oder gar Machtpositionen Einzelner durch So­ zialpflichtigkeit Grenzen. Dem liegt die Idee zugrunde, dass wirtschaftlicher Fortschritt den ökonomischen Nutzen des Einzelnen als Antrieb braucht, Wirtschaft aber niemals Selbstzweck werden darf, sondern sich als dienender Bestandteil einer Marktwirtschaft verstehen muss. Die gerade durchlittene Finanzkrise hat ihre Ursachen nicht zuletzt darin, dass diese Grundregeln der sozialen Marktwirtschaft nicht ausreichend beachtet worden sind. Wesentliche Teile der Finanzwirtschaft haben sich in übersteigerter Gewinnfixierung von ihrer dienenden Rolle für die Realwirtschaft entfernt und in dem Bemühen, sich besondere Wachstumsmöglichkeiten zu erschließen, erhebliche Stabilitätsrisiken für die Volkswirtschaften der meisten Industrieländer ausgelöst. Letztlich konnten weitergehende Schäden für die übrige Wirtschaft nur dadurch vermieden werden, dass die öffentliche Hand zahlreichen Finanzakteuren mit Kapitalhilfen oder zeitweisen Garantien beigesprungen ist. Damit ist deutlich geworden, dass hohe Gewinne der Finanzwirtschaft nicht zwangsläufig zur allgemeinen Wohlstandsmehrung beitragen, sondern im Gegenteil auch wegen der damit einhergehenden Risiken bereits erarbeiteten Wohlstand ganzer Volkswirtschaften gefährden können. Darauf muss in der sozialen Marktwirtschaft mit geeigneten Regulierungen reagiert werden.

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Bei der Bewältigung der Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise hat die soziale Marktwirtschaft eindrucksvoll ihre Vorteile unter Beweis gestellt. Nur unter den Bedingungen der sozialen Marktwirtschaft konnte so schnell die Umkehr eines dramatischen wirtschaftlichen Absturzes mit einem Einbruch der Wirtschaftsleistung um rund 5 % 2009 in einen stabilen und andauernden Wachstumspfad 2010 und 2011 gelingen. Vor allem drei Faktoren waren dafür ausschlaggebend: In der Krise haben sich die ausgeprägte Sozialpartnerschaft und das umfassende soziale Sicherungssystem bewährt. Mehr noch: Sie haben den Beweis dafür angetreten, dass sie die Wirtschaft nicht hemmen, sondern im Gegenteil sogar stabile Rahmenbedingungen schaffen. Nur durch das mehrmals verlängerte Kurzarbeitergeld etwa war es möglich, Entlassungen zu verhindern und damit Unternehmen ein schnelles Durchstarten mit einer ungeschmälerten Belegschaft im Aufschwung zu ermöglichen. Ein zweiter wichtiger Faktor war die besondere Wirtschaftsstruktur in Deutschland, die sich von den meisten anderen Industriestaaten durch den hohen Anteil kleiner und mittlerer Unternehmen unterscheidet. Früher zu Unrecht häufig als Wachstumshindernis wahrgenommen, haben vor allem die rund 3 Mio. familiengeführten Unternehmen – immerhin rund 95 % aller deutschen Unternehmen – eine bemerkenswerte Verantwortungsbereitschaft, Stabilität und Innovationsfähigkeit erkennen lassen. In der Krise haben nicht zuletzt Kapitalmaßnahmen der Familienunternehmer dazu geführt, dass die Eigenkapitalquoten der Unternehmen nicht wie befürchtet gesunken, sondern sogar gestiegen sind. Und im beginnenden Aufschwung waren sie schneller als viele Großkonzerne in der Lage, neue Chancen zu erkennen und in wirtschaftliches Handeln umzusetzen. Deutschland wäre durch die Wirtschaftsund Finanzkrise deutlich schwerer getroffen worden und hätte daraus deutlich langsamer herausgefunden, wären nicht die Familienunternehmen die wirtschaftliche Basis des Landes. Die besondere Wirtschaftsstruktur Deutschlands erfordert allerdings auch ein entsprechendes Finanzsystem. Auch hier



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zeigte sich: Das diversifizierte, dreigliedrige Bankensystem mit großen und kleinen, international tätigen und regional orientierten, auf Finanzmärkte und auf Kunden ausgerichteten Kreditinstituten war in Summe weniger von der Krise betroffen als Monostrukturen mit ausschließlich international tätigen und auf Kapitalmärkte ausgerichteten Instituten. Während letztere wegen sich realisierender Risiken auf den internationalen Finanzmärkten teilweise auch ihre Kreditvergabe einschränken mussten, wirkten dezentral organisierte Institute stabilisierend und konnten insbesondere die allseits befürchtete Kreditklemme verhindern. Der grundlegende Belastungstest durch die Finanz- und Wirtschaftskrise hat gezeigt: Besonders robust und stabil sind Wirtschaftsordnungen, die in sich Ausgleich ermöglichen: durch soziale Sicherungen, durch eine dezentrale Wirtschaftsstruktur und durch ein plurales Finanzsystem. Daraus gilt es, für die Zukunft Lehren zu ziehen. III. Finanzsystem: Strukturelle Stabilität und realistische Renditen Insbesondere das internationale Finanzsystem hat nach den Erfahrungen der Finanzkrise in vielfacher Hinsicht Grund, bisherige Überzeugungen und Verfahrensweisen zu überprüfen. Zu den Fehlern der vergangenen Jahre gehörte sicher eine zu starke Fixierung auf maximale Eigenkapitalrenditen, auf reine Finanzprodukte ohne realwirtschaftlichen Bezug und auf große, ausschließlich auf internationale Finanzmärkte ausgerichtete Bankstrukturen. In Kombination mit fehlender oder in den letzten zwanzig Jahren sogar schrittweise abgebauter Regulierung sind dadurch unkontrollierbare Risiken entstanden. Auf der anderen Seite zeigt sich, dass Deutschland trotz immensen Drucks der Kapitalmärkte und internationaler Institutionen gut beraten war, wesentliche Stärken seines dezen­ tralen Finanzsystems und insbesondere die öffentlich-recht­ lichen Sparkassen nicht aufzugeben. Bei einigen Meinungs-

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bildnern galt in der Vergangenheit das an der Realwirtschaft und am Gemeinwohl ausgerichtete Geschäftsmodell der Sparkassen zwar als solide, aber auch als Hindernis für eine stärkere Ausrichtung auf die Kapitalmärkte. Folgerichtig haben die Sparkassen in den letzten Jahren viele politische Kämpfe zu bestehen gehabt, sowohl mit internationalen Institutionen wie dem IWF oder der Europäischen Union als auch mit Teilen der Wissenschaft und der Politik. Nicht zuletzt Rating-Agenturen haben versucht, auf die Sparkassen Einfluss im Sinne einer stärkeren Kapitalmarkt­ orientierung zu nehmen. Noch kurz vor Ausbruch der Krise haben sie in internen Gesprächen das aus ihrer Sicht zu hohe Eigenkapital und dessen nicht ausreichend gewinnbringende Anlage sowie die hohe Liquidität der Sparkassen als Probleme diagnostiziert. Auch den Sparkassen wurde empfohlen, stärker in bestbewertete strukturierte Produkte zu investieren. Zum Glück sind die Sparkassen solchen Empfehlungen nicht gefolgt. Davor haben sie nicht zuletzt institutionelle Sicherungen geschützt. In einer dezentralen Gruppe ist jedes Haus selbst für sein Treasury verantwortlich. Damit gibt es anders als in Konzernen keine zentrale Steuerung. Das sorgt für unterschiedliche Geschäftspolitiken und Risikostreuung, vor allem verhindert es hohe Engagements in identischen und ggf. sich nachträglich als problematisch herausstellenden Finanzmarktprodukten. Natürlich wird diese Stabilität auch damit erkauft, dass die Gruppe als Ganzes keine Höchstrenditen am Markt erzielt, aber eben auch keine existenziellen Verluste. Als ein weiterer struktureller Vorteil der Sparkassen hat sich herausgestellt, dass sie ihre Geschäftspolitik nicht auf eine Höchstrendite ausgerichtet haben, angesichts ihrer kommunalen Träger auch nicht ausrichten mussten. Viele andere Unternehmen, die einem solchen, vor allem von den Kapitalmärkten ausgehenden Druck ausgesetzt waren, aber ihre Gewinne nicht unbegrenzt steigern konnten, haben zu einer eher zweifelhaften Methode der Gestaltung der Eigenkapitalrendite gegriffen. Sie kann auch dadurch gesteigert werden, indem das



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Eigenkapital vermindert wird. Damit steigt der Anteil des Ertrags in Bezug auf das Eigenkapital. Auch in der Finanzwirtschaft haben deshalb große Häuser in teilweise erheb­ lichem Umfang eigene Aktien zurückgekauft. Letztlich wurde damit Substanz vermindert, um kurzfristig gegenüber den eigenen Anteilseignern und den Kapitalmärkten mit einer hohen Eigenkapitalrendite glänzen zu können. Die Jagd nach Renditen ging so zu Lasten von Substanz und Stabilität. Diesen Weg sind die Sparkassen nicht gegangen. Sie haben fortlaufend ihre Eigenkapitalsubstanz erhöht, auch um den Preis vergleichsweise geringer Eigenkapitalrenditen. Dafür haben sie in den vergangenen Jahren manche Kritik einstecken müssen. Die Finanzkrise hat allerdings gezeigt, dass dieser Weg richtig war. Nun ist allerdings für viele der Fehlentwicklungen der letzten Jahre nicht nur allein die Finanzwirtschaft verantwortlich. Verantwortung tragen auch diejenigen, die in vielen Jahren die Deregulierung der Finanzmärkte vorangetrieben haben. Zahlreiche Industrieländer haben in der Finanzwirtschaft die Wachstumsindustrie des 21. Jahrhunderts gesehen. Während teilweise klassische Industrien vernachlässigt wurden, wurden hier möglichst wenige begrenzende Regeln zu einem – angeblich kostenlosen – Wettbewerbsvorteil. Zunehmend ergab sich ein Wettbewerb der Deregulierung, der Global Playern auf den Finanzmärkten immer größere Spielräume zur eigenständigen Gestaltung der Rahmenbedingungen gegeben hat. Durch die globale Finanzkrise ist eine wirtschafts-, gesellschafts- und wissenschaftspolitische Zäsur eingetreten. Allseits wird jetzt gesehen, dass Wachstum in der Finanzwirtschaft nicht gleichbedeutend mit Wohlstandsmehrung für alle ist. Wenn etwa in den USA im Jahr 2007 rund 40 % der Unternehmensgewinne aus dem Finanzsektor kamen, dann zeigt dies: Das war kein nachhaltiges Wachstum, sondern eine Blase. Heute hat sich somit die Einsicht durchgesetzt, dass sich breiter Wohlstand nur in der Realwirtschaft erarbeiten lässt und die Finanzwirtschaft dazu eine dienende Funktion einzunehmen hat.

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IV. Regulierung der Finanzmärkte zur Vermeidung von Krisen Nachdem die Industriestaaten, auch Deutschland, mit Steuermitteln systemrelevante Banken vor dem Zusammenbruch retten mussten, ist es gesellschafts- und wirtschaftspolitisch von hoher Relevanz, die richtigen Schlussfolgerungen aus der Krise zu ziehen. Nur so lässt sich verhindern, dass die Steuerzahler nochmals in vergleichbaren Größenordnungen der Finanzwirtschaft finanziell zur Seite stehen müssen. Drei Schlussfolgerungen sind dabei besonders wichtig: Erstens: Die Geschäftstätigkeit in der Kreditwirtschaft muss stärker auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sein. Reine Verhältniszahlen wie die zwischen Eigenkapital und Gewinn müssen an Gewicht verlieren, weil sie wenig aussagekräftig sind. In der öffentlichen Wahrnehmung sollte wieder stärker die wirtschaftliche Substanz von Unternehmen in den Vordergrund treten. Darin geht es auch um Fragen der Qualität von Produkten und ihrer Wirkung auf Gesellschaft und Umwelt. Es gibt inzwischen genügend Beispiele, dass ein inadäquates Geschäftsverhalten sehr schnell zu kaum mehr reparablen Reputationsschäden führt. Zweitens: Genauso wichtig wie die Erwirtschaftung von Gewinnen ist die Frage, wie sie eingesetzt werden, ob sie im Unternehmen bleiben oder sich die wirtschaftliche Basis eines Unternehmens vermindert, indem sie vor allem Investoren zufließen. Diese Frage gewinnt in dem Maße an Relevanz, wie Eigentümer von Unternehmen nicht langfristig orientierte Unternehmer, sondern kurzfristig interessierte Anleger sind. Unsere Gesellschaft hat allerdings ein gesellschafts- und wirtschaftpolitisches Interesse an Unternehmen, die langfristig orientiert sind und deshalb erwirtschaftete Mittel möglichst reinvestieren. Deshalb kann sich Deutschland glücklich schätzen, einen so hohen Anteil von Familienunternehmen zu haben, die häufig über Generationen nach diesen Maßstäben wirtschaften. Auch wenn die Sparkassen keine Familienunternehmen sind: Durch ihre kommunalen Träger sind sie mit



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einer ähnlichen, langfristig ausgerichteten Unternehmensphilosophie ausgestattet. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass hier besondere und dauerhafte Geschäftsverbindungen bestehen. Drittens: Wie müssen Unternehmen organisiert sein, damit sie – im Sinne der Gesellschaft – so wirtschaften und ihre Mittel verwenden? Die Lösung heißt: vor Ort überschaubare, transparente Strukturen. Sie ermöglichen eine im Sinne einer Marktwirtschaft wohlverstandene gesellschaftliche Kontrolle. Sparkassen etwa unterliegen einer direkten demokratischen Kontrolle, weil gewählte Vertreter der Bürger in den Verwaltungsräten Maßstäbe für ihre Geschäftstätigkeit aufstellen. Diese drei Schlussfolgerungen – nachhaltiges Wirtschaften, adäquate Gewinnverwendung und durchschaubare, dezentrale Strukturen – sind zentrale Antworten aus den Erfahrungen der Finanzmarktkrise. Sie finden heute in der Bevölkerung wesentlich mehr Zustimmung als noch vor ein paar Jahren. Allerdings spiegeln sie sich noch nicht ausreichend in den aktuellen Regulierungsdebatten wider, die mit dem Ziel einer dauerhaften Finanzmarktstabilisierung geführt werden. V. Jetzt die Weichen richtig stellen Regulierung im Finanzsektor muss Stabilität als oberste Zielsetzung haben. Ihr Maß sollte sich deshalb konsequent an den Risiken von Finanzakteuren oder Finanzprodukten orientieren. Dieser an sich leicht nachvollziehbare Grundsatz wird allerdings in den aktuellen Regulierungsvorhaben nicht immer ausreichend beachtet. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Solides, bilanzwirksam abgebildetes Bank- und Sparkassengeschäft ist viel leichter zu kontrollieren oder zu belasten als komplizierte Finanzmarktgeschäfte oder intransparente Strukturen auf internationalen Finanzmärkten. Noch immer steht der größte Teil der internationalen Finanzgeschäfte in keinem direkten Zusammenhang mit realen wirtschaftlichen Vorgängen. Nur rund 1 % der weltweiten Devisentransaktionen etwa geht auf den realen Austausch von

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Waren oder Dienstleistungen zurück. Hinzu kommen erheb­ liche Volumina in OTC- und Spot-Geschäften, die jenseits von Börsen oder zentralen Abwicklungsplattformen abgewickelt werden und weithin intransparent sind. Lag deren Volumen im Jahr 2007 noch bei 4,3 Mrd. US-Dollar pro Tag, lag es im Jahr 2010 bereits bei 6,8 Mrd. Das ist ein Anstieg um 60 %. Auch das ist ein Indiz dafür, wie sich die Kreditwirtschaft tatsächlich immer schneller von der Realwirtschaft abkoppelt. Eine immer weiter zunehmende Gefahr geht von möglichen Schieflagen großer und damit systemrelevanter Banken aus. Je größer die möglichen wirtschaftlichen Folgewirkungen des Scheiterns eines großen Instituts sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Steuerzahler eingreifen müssen. Wer über eine derartige implizite Staatsgarantie verfügt, kann sich künftig günstiger refinanzieren und damit schneller wachsen. Letztlich züchten wir uns damit selbst immer mehr große und damit systemgefährliche Banken heran. Nötig wäre deshalb, solche Banken zwangsweise zu verkleinern oder, da dies wohl nicht durchsetzbar sein wird, sie mit stärkeren Auflagen und Belastungen zu belegen. Die aktuellen Regulierungen setzen allerdings andere Schwerpunkte. Etwa bei der Bankenabgabe können international tätige BankKonzerne durch Verschieben von Geschäften die Regelungen unterlaufen und so ihre Beiträge verringern. Handelsgeschäfte oder der Verkauf von Krediten werden gar nicht oder nur unzureichend mit Abgaben belegt. Viel besser als eine Bankenabgabe wäre deshalb eine Finanztransaktionssteuer auf europäischer oder zumindest Euro-Ebene gewesen. Sie beträfe vor allem Handelsaktivitäten, die auf schnellen Umsatz von Finanzprodukten ausgerichtet sind, um auch geringste Wertunterschiede auszunutzen, etwa im Computerhandel in Bruchteilen von Sekunden. Darüber hinaus würde sie dazu führen, dass alle Player im Markt und ihre Geschäfte – nicht nur die Banken – erstmals auch erfasst würden. Auch die erhöhten Eigenkapitalanforderungen im Rahmen der Basel-III-Regelungen verfehlen teilweise ihr Ziel. Denn auch sie belasten vor allem das normale Bankgeschäft, reine



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Finanzmarktgeschäfte mit höheren Risiken werden dagegen kaum erfasst. Eine Nebenwirkung dieser Regelungen ist zudem, dass es Kreditinstituten wie Sparkassen und Volksbanken künftig schwerer fallen wird, langfristige Kredite an den Mittelstand und an Häuslebauer auszugeben. Dies wird eine Folge der Vorgabe sein, kurzfristiger als bisher höhere Einlagenvolumina auszahlen zu können. Damit will man sicherstellen, dass alle Anleger – gerade in Krisenzeiten – schnell an ihre Einlagen kommen. Tatsächlich wird damit aber gerade die Kurzfristkultur eingeführt, die eine der Ursachen der zurückliegenden Finanzkrise war. Eine Verringerung des Anteils langfristiger Kredite bedeutet, dass das Zinsänderungsrisiko von der Bank auf die Kreditkunden übertragen wird. Aktuell entfallen mehr als 80 % der Darlehenszusagen auf mittel- und langfristige Kredite. Das ist auch sinnvoll, denn Kreditinstitute können Zinsentwicklungen im Zweifel besser einschätzen als Privatleute und Unternehmer, die sich zuerst um ihr Geschäft kümmern müssen. Zudem werden auch in Krisenzeiten nie alle Einlagen auf einmal abgezogen. Gerade die Sparkassen verfügen durch die Vielzahl der Einlagen stets über einen ausreichend großen Bodensatz, die Wünsche der Anleger zu erfüllen. Zu den Problemen von Basel III kommt hinzu, dass es weltweit offensichtlich keine Gleichbehandlung bei dessen Anwendung gibt. Bereits jetzt ist absehbar, dass in den USA kleine, regional orientierte Institute das Basel-III-Regelwerk nicht anwenden werden. Eine solche sinnvolle Differenzierung ist in der EU aber nicht absehbar. VI. Fazit Die Sparkassen haben nicht nur einen Beitrag zur Stabilität des Finanzmarktes in Krisenzeiten geleistet. Sie stabilisieren auch heute mit ihrem kundenorientierten Geschäftsmodell den Finanzmarkt. Die Regulierungsmaßnahmen müssen so gestaltet werden, dass sie die Stabilität der Märkte fördern und nicht deren

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Stabilitätsanker beschädigen. Die Bundeskanzlerin hat beim Bankentag 2011 gesagt: „Die Spielregeln der sozialen Marktwirtschaft gelten auch für Finanzinstitute.“ Das ist genau der Punkt. Dazu muss Erfolg in der Finanzwirtschaft anders als bisher definiert werden: Erfolgreich ist der, der seine dienende Rolle der Realwirtschaft gegenüber am besten erfüllt, dabei stabile Renditen erwirtschaftet und dadurch auch im höchsten Maße krisenresistent ist. Das ist die Motivation für uns, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen: unsere dezentralen Strukturen und unsere Gemeinwohlorientierung zu bewahren und dabei Wohlstand für alle zu schaffen – wie es unsere soziale Marktwirtschaft als Ziel definiert. Dazu gehört, dezidiert alle Menschen mit einem Angebot anzusprechen und auch Geschäfte zu betreiben, die keine Höchstrendite versprechen. Denn das ist der Gründungsgedanke der Sparkassen.

Die Marktideologie nach der Finanzkrise Von Rolf Stürner, Freiburg* I. Die Grundfrage Das Thema dieser Tagung zielt letztlich auf die Frage, inwieweit in einer Gesellschaft Selbstvorsorge oder staatlich organisierte Vorsorge strukturell prägend sein soll. Der unbefangene gesunde Menschenverstand wird das Extrem meiden und die gemischte Struktur und den Ausgleich suchen. Wo das Extrem gesucht und verabsolutiert wird, entsteht eine Ideologie, die den Menschen in ein monistisches System zwingen will.1 Die kontinentale Rechtskultur ist insoweit trotz vieler Pendelschläge ins Extrem immer wieder zu Positionen des Ausgleichs zurückgekehrt. Ein typisches Rechtsinstitut der Verbindung von Freiheitlichkeit und Vorsorge ist die notarielle Beurkundung, die vorsorgende Beratung durch einen neutralen Dritten bei Vertragsschluss.2 Als in der französischen Revolution die Abschaffung des Notariats als einer obrigkeitsstaatlichen Institu­ tion bürgerlicher Bevormundung drohte, entschloss sich das Revolutionsparlament zu seiner Erhaltung in der berühmten Loi Ventôse mit folgender Begründung des Berichterstatters: „L’intérêt de la société exige …, que des hommes plus expérimentés viennent éclairer leurs concitoyens et les garantir de ces *  Prof. Dr., Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für deutsches und ausländisches Zivilprozessrecht. 1  Dazu Stürner, Markt und Wettbewerb über Alles? Gesellschaft und Recht im Fokus neoliberaler Marktideologie, 2007, insbes. S. 140 ff., 149 ff., 222 ff., 311 ff. 2  Ausführlich Murray / Stürner, The Civil Law Notary – Neutral Lawyer for the Situation. A Comparative Study on Preventative ­Justice in Modern Societies, 2010.

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erreurs funestes qui, en dispersant les fortunes particulières, attaquent d’une manière plus ou moins sensible l’ordre et la félicité public.“3 Mit diesem Satz ist bis heute gültig die Situation beschrieben, die entsteht, wenn neben liberté und égalité die fraternité – heute nüchterner die Solidarität – vergessen wird und die Gesellschaft den Einzelnen seinem selbst gewählten Schicksal ohne rahmende Unterstützung überlässt. Die Finanzkrise ist und war eine solche Situation. Niemand hat diese neoliberale Grundposition treffender formuliert als der Vorstand einer großen Privatbank. Auf die Frage, ob eine Bank redlicherweise auch Produkte verkaufen dürfe, die den anderen Teil mit hohen und letztlich nicht beherrschbaren Risiken überziehe, antwortete er: „Warum nicht, wenn sich der andere Teil informieren kann und den Kauf will“ – caveat emptor. Diese Haltung hat die Finanzkrise verursacht. Und sie ist kein Fall individueller Unredlichkeit, sondern sie war weithin akzeptierte Grundhaltung. Der frühere EU-Wettbewerbskommissar Monti wandte sich gegen das breite Rechtsberatungsmonopol von Anwälten als Ausfluss von Zunftdenken letztlich mit der Begründung, der Bürger müsse verstärkt zwischen billiger nichtanwaltlicher Rechtsberatung und teurerer anwalt­ licher Beratung nach eigenen qualitativen Kriterien wählen können, und die frühere Verfassungs- und spätere Menschenrechtsrichterin Renate Jaeger pflichtete ihm darin zumindest teilweise bei.4 Die EU-Kommission kämpft bis heute zäh und ausdauernd gegen obligatorische notarielle Beurkundung, sie will dem Bürger am liebsten überall die Wahl billigerer Privatschriftlichkeit lassen.5 Selbstsorge und Selbstverantwortung werden weithin absolut gesetzt und zum wesentlichen Basispunkt gesellschaftlicher Gestaltung. 3  Dazu Moreau, Le Notariat Français à Partir de sa Codification. Essai sur la Nature et l’Evolution de la Fonction Notariale 1788– 1980, 1984, S. 60. 4  Dazu Renate Jaeger, Künftige Stellung der Rechtsanwälte im System der Rechtspflege und in der Gesellschaft, NJW 2004, 1492, 1496. 5  Zu diesem Trend Murray / Stürner, The Civil Law Notary, S. 171 ff., 185 ff.



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II. Gründe für den Erfolg dieses Modells Dieses gesellschaftliche Modell geht davon aus, dass die Vorteilswahrnehmung durch den Einzelnen, das Streben nach selbstdefiniertem Glück, zu einem Wettbewerb führe, der sozialen, wirtschaftlichen und technischen Fortschritt am besten gewährleiste und zur optimalen Kostenallokation führe.6 Freiheitsgrenzen setzt bei diesem Modell nur die gleiche Vorteilschance aller anderen. Es entsteht die competitive society U.S.amerikanischer Prägung, in der es Aufgabe des Staates vornehmlich ist, die Freiheit zur Einzelentfaltung zu garantieren und auf die Gleichheit der Startchance, also des Marktzugangs, zu achten. Quersubventionierung ist die schädliche Ursünde und eigentlich nur im sog. Dritten Sektor privater „pro-bonoAktivität“ erlaubt, der seinerseits wieder merkantilisiert und durch Wettbewerb stimuliert wird. In diesem patenten Weltbild sind Egoismus und Gemeinsinn versöhnt, eine uralte Antinomie menschlichen Daseins wird aufgehoben, Selbstvorsorge und Selbstbehauptung haben als „effet utile“ eine Hebung des Gemeinwohls zur Folge. Der Altruismus als Eigenwert ist überwunden, in der modernen Welt des Marktes ist für eine Ethik des Verzichts kein Raum, Eigennutz sei Dank – wie dies der Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph von Weizsäcker im Rheinischen Merkur formulierte.7 Dieses Gesellschaftsmodell fasziniert, weil es so einfach ist und die westliche Zivilisation mit ihrer permanenten Wertediskussion entrümpelt. Dies erklärt die Faszination deutscher Juristen, die in den USA berühmte Business Schools besucht haben oder an den Law Schools der technokratischen Verführung von Law und Economics erlegen sind. Schlechtes Gewissen verursacht in diesem Weltbild nicht der Verlust des anderen, bei dem Güter eben ganz offensichtlich schlechter alloziiert sind. Inhaltlich gestaltete Freiheit und Selbstbescheidung ver6  Zum Folgenden ausführlicher Stürner, Markt und Wettbewerb, S. 33 ff., 81 ff., 140 ff.; ders., AcP 210 (2010), 105 ff., 117 ff., 139 ff. 7  Carl Christian von Weizsäcker, Rheinischer Merkur, Nr. 38 / 2004, S. 14; ähnlich Christoph Lütge, F.A.Z. vom 06.03.2004, Nr. 56, S. 15.

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lieren an Bedeutung. Nun gab es schon immer reiche Egoisten – neu ist ihre Vorbildfunktion und die Anbetung gerade großen Reichtums, der sich nicht an sozialer Proportionalität messen lassen muss.8 Für die Entwicklung der Weltzivilisation insgesamt gefährlich ist die Attraktivität dieser Ethik des ­Egoismus in Schwellenländern, die auf der Suche nach neuen Werten sich von überkommenen Traditionen lösen und in diesem einfachen Erklärungsschema Geborgenheit finden. Eine Ethik der Selbstbescheidung und der Balance zwischen Freiheit und Bindung ist schwerer zu vermitteln als die Ethik sich allein im Wettbewerb beschränkender Freiheit.9 III. Der Konflikt der Rechtskulturen Die angloamerikanische Rechtskultur, die gerade den Finanzmarkt dominiert hat und noch dominiert, zeigt in ihrer modernen Gestalt starke Adhäsion zur Gesellschaft der Selbstsorge.10 Sie kennt nur ein Minimum an Daseinsvorsorge in Krankheit und Alter, keine notarielle Beurkundung, kein konstitutiv wirkendes Registerwesen, keine vorsorgende Rechtspflege, wenig präventive Regulierung im Sinne einer Typisierung und Standardisierung verkehrsfähiger Güter, dafür aber sehr viel Haftung, die in der Insolvenz oder im Gefängnis endet und dabei zwar einer privatisierten Gefängnisindustrie nützt – 1 % der Amerikaner sitzen im Gefängnis – aber kaum den Geschädigten. Insolvenz ist nicht Sanktion, sondern Entschuldung und Neuanfang. Die Finanzkrise hat in diesem Land 8  Dazu symptomatisch der „World Wealth Report“ von Capgemini und Merrill Lynch, F.A.Z. vom 21.06.06, Nr. 141, S. 24 oder der Artikel „Reich und erfolgreich – von Gurus lernen“, F.A.Z. vom 03.09.06, Nr. 35, S. 47; ferner die Forbes-Milliardärsliste, Süd­kurier /  Handelsblatt vom 10.03.06, Nr. 58, S. 6 („… 452 der 793 … sind SelfMade-Milliardäre – sie haben ihr Vermögen mit eigener Arbeit geschaffen …“ sic!). 9  Dazu Stürner, AcP 210 (2010), 105 ff., 139 ff. 10  Hierzu und zum Folgenden schon Stürner, AcP 210 (2010), 105, 117 ff. m. Nw.



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möglichst wenig inhaltlicher Gestaltung von Freiheiten ihren Ausgang genommen – trotz jury trial, punitive damage awards und drohenden Gefängnisstrafen. Man sollte eigentlich meinen, dass nach dieser Krise die anderen Rechtskulturen kritischer nachzufragen beginnen. Dies ist aber kaum oder wenig der Fall, soweit die Finanzarchitektur in Frage steht. Noch immer ist es ein Güteausweis, wenn man Bankenreorganisation am U.S.-amerikanischen Modell orientiert,11 und noch immer sind Erkenntnisse des gesunden Menschenverstandes erst akzeptiert, wenn sie ein U.S.-amerikanischer Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften bestätigt, so z. B. Robert Shiller die Sinnhaftigkeit vorsorgender Rechtspflege im Grundstücksverkehr zur Verhinderung massenhafter betrügerischer Grundstücksbeleihung.12 Vor allem aber ist ein Grunddissens zwischen angloamerikanischer und kontinentaler Wirtschaftskultur wenig ins Bewusstsein der Europäer gedrungen. Die U.S.-amerikanische Gesellschaft akzeptiert die Krise als Folge freiheitlichen Wirtschaftens als das kleinere Übel, verglichen mit einer präventiven Regulierung, die Innovationen beeinträchtigen könnte. Im zyklischen Auf und Ab sieht sie nur die Ausschläge einer sich kontinuierlich nach oben bewegenden Kurve. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass auch die Finanzkrise dieses Grundgefühl bisher nicht entscheidend beeinträchtigen konnte.13

11  Das Restrukturierungsgesetz, aufgegliedert in das Kreditinstitutereorganisationsgesetz 2010 und die flankierenden Regelungen in §§ 48a ff. KWG 2010 (dazu statt vieler H.-F. Müller, KTS 2011, 1 ff.) zeigt starke Adhäsionen zum Title II des sog. Dodd-Frank Wallstreet Reform and Consumer Protection Act 2010 mit seiner „Orderly Liquidation Authority“ (dazu Spindler / Brandt / Raapke, RIW 2010, 746 ff., 751 f.). Die Wirksamkeit solcher Regulierungen ist offen – erproben scheint sie in Deutschland gegenwärtig niemand zu wollen. 12  J. Schiller, The Subprime Solution, 2008, Ch. 6, S. 130. 13  Dazu Stürner, AcP 210 (2010), 105 ff., 154 f.

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IV. Die Folgerungen aus der Finanzkrise Die Folgerungen aus der Finanzkrise müssten nach alldem in einer klaren Abkehr von einem Gestaltungsmodell liegen, das alleine auf die Kraft privatautonomer Anlageentscheidung vertraut. Dies gilt sowohl für die nationale als auch für die europäische und supranationale Ebene. Dabei sollen sowohl zuerst einige Bemerkungen zur Gestaltung einer neuen Finanzarchitektur gemacht sein als auch später einige Überlegungen zu anderen Gebieten angestellt werden, für die sich aus dem Geschehen an den Finanzmärkten Folgerungen nahe legen. 1. Die neue Finanzarchitektur a) Europäische Ebene Die Europäische Union14 plant und verwirklicht im Bereich der Finanzmärkte eine strengere Regulierung der Rating-Agenturen und eine Stärkung der Finanzaufsicht und Risikoüberwachung durch Europäisierung. Der Handel mit Derivaten als Finanzprodukten abgeleiteter Wertigkeit soll über eine Zentralstelle erfolgen, um die Risikoüberwachung zu erleichtern. Private-Equity- und Hedge-Fonds sollen ebenfalls einer Risikoaufsicht unterworfen werden. Bei Verbriefungen sollen 5 % des Risikos einer Emission bei der kreditgebenden Bank verbleiben, um die Wertigkeit der Darlehensrückzahlungsansprüche sicherzustellen. Eine Bankenabgabe soll einem Risikofonds zugute kommen. Weiter soll eine Erhöhung des Eigenkapitalniveaus das Risiko einer Schieflage mindern. Entlohnungsgrundsätze für Bankpersonal sollen falsche Anreize ausschließen. 14  Dazu den Überblick bei Heun, JZ 2010, 53  ff.; Mülbert, JZ 2010, 834 ff.; rechtsvergleichend Hopt, Comparative Corporate Governance: The State of the Art and International Regulation, American Journal of Comparative Law 59 (2011), 1 ff.; zu den Reformansätzen schon Stürner, Sind globale Märkte regulierbar?, Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, Jahresband 2009, 2010, S. 1 ff., 14 ff. und AcP 210 (2010), 150 ff.



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In diesen Schritten stecken viele billigenswerte Ansätze. Effizienz der Aufsicht und Verbesserung der Bewertung von Produkten sowie verbessertes Risikomanagement setzen allerdings voraus, dass eine verarbeitbare Informationsmenge gegeben ist und die Produkte einer hilfreichen Risikobewertung überhaupt zugänglich sind. Beides ist aber letztlich bei ehr­ licher Betrachtung nicht oder nur sehr eingeschränkt der Fall. Bei der Vielzahl von Finanzprodukten, deren Charakter sich durch eine einzige geänderte Klausel der Emissions- oder Vertragsbedingungen völlig verändern kann, ist eine Information in angemessener Zeit oft gar nicht möglich. RatingAgenturen benötigen zum Rating mangels eigener Sachkompetenz oft externe rechtliche oder betriebswirtschaftliche Gutachten, die auch der Streuung von Verantwortlichkeiten dienen. Aufsichtsbehörden ist es nicht möglich, die Vielzahl vor allem strukturierter Produkte so zu verarbeiten, dass Sicherheit über Eingriffsbedürfnisse entsteht. Selbst wenn man aber die Verarbeitbarkeit der Informationsmenge unterstellt, bleibt eine Risikobewertung vieler Produkte im Grunde genommen in objektivierbarer Form unmöglich. Wie soll man das Risiko von Staatspapieren objektiv bewerten, wie das Risiko von Ak­ tienzertifikaten aus Schwellenländern, wie das Risiko einander zugeordneter selbständiger Währungsderivate oder besser gesagt Wetten auf Währungskurse? Die interne Bewertung anhand finanzmathematischer Regeln, wie sie im Anhang zur Bankenrichtlinie beschrieben ist, ist vielen Banken gar nicht möglich. Sie ist aber auch ein Akt numerischer Scheinsicherheit, weil diese Form der Bewertung über die Wahrscheinlichkeit des Risikoeintritts wenig aussagt und eigentlich auch schon geringe Wahrscheinlichkeiten oft nicht in Kauf genommen werden dürften. Wenn der Gesetzgeber um dieser Schwierigkeiten willen die Bewertung als externe Evaluation durch Rating-Agenturen nach wie vor zulässt oder gar verlangt,15 so liegt darin ein Abschieben der Verantwortung auf Institutionen, die sich diese Übernahme von Verantwortung teuer bezahlen lassen, aber eine wirklich hilfreiche Risi15  Z. B.

§ 20 Abs. 1 Nr. 1e PfandbriefG (Stand: 01.01.2011).

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kobewertung und -kategorisierung gar nicht leisten können, weil es sie letztlich nicht gibt. So ähnelt das Gerede von „Risikomanagement“ stark dem Versuch, ein Glücksspiel in ein Geschicklichkeitsspiel zu verwandeln, das zwar Risiken etwas zu minimieren vermag, aber keinesfalls beherrscht. Wer bei Ratings oder dem Durchspielen von Stress-Szenarien schon mitgewirkt hat, wird die Nützlichkeit eines „Risiko­ managements“ kritisch sehen und oft froh sein, wenn es sich an Regeln des gesunden Menschenverstandes orientiert. Abhilfe schaffen kann hier nur eine konsequente Typisierung und Standardisierung verkehrsfähiger Finanzprodukte, welche die Informationsmenge reduziert und bestimmte risikoreiche Produkte schlicht verbietet. Oft ist ihr volkswirtschaftlicher Nutzen unerheblich. Dies gilt vor allem für selbständige Derivatprodukte, die keine dienende, Geschäfte der Realwirtschaft absichernde Funktion haben, sondern im Grunde genommen Wetten auf Aktienkurse, Devisen- oder Rohstoffwerte sind. Zur Förderung innovativer Gestaltung würde es reichen, einen kleineren Anteil eines Portfolios solchen Werten zu öffnen und sie im Übrigen schlicht und einfach zu verbieten. Gerade dies aber geschieht in Europa nur sehr eingeschränkt oder aber überhaupt nicht. b) Nationale Ebene Stattdessen liegt der Fokus der Reformen auf bisher nationaler Ebene stärker auf rechtzeitiger Bankenabwicklung und Reorganisation, wobei man die Gläubiger von Banken vor allem durch zwei Instrumente einbeziehen will: die Umwandlung von Forderungen in Eigenkapitalanteile am Institut und die Enteignung von Anteilsinhabern.16 Damit soll das Erpressungspotential gefährdeter Banken gegenüber dem Staat abgebaut werden. Wohl funktionierende Geschäftsfelder sollen isoliert und in einem raschen Verfahren durch Übertragungs16  Dazu §§ 7 ff. KreditinstitutereorganisationsG 2010, §§ 48a ff. KreditwesenG 2010.



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anordnung auf einen anderen Träger übertragen werden können. Dieses Modell löst aber die Probleme kaum, weil es eigentlich nicht die Bank selbst ist, die systemische Bedeutung hat, sondern es ist die Wertigkeit von Forderungen gegen eine Bank, der diese Funktion zukommt. Wenn z. B. Obligationen gegen eine Großbank von Lebens- oder Pensionsversicherungen oder anderen Banken im Portfolio oder Deckungsstock gehalten werden, so kann eine Einbeziehung dieser Bankgläubiger eine verhängnisvolle Kette des Werteverfalls nach wie vor auslösen, was eine Bedienung dieses Instrumentariums durch die Bankenaufsicht stark behindern kann. In den USA versucht man bekanntlich, die systemische Wirkung von Zusammenbrüchen dadurch zu verhindern, dass man – ganz grob gesagt – Einlagegeschäft mit Darlehensgeschäft und Investmentgeschäft wieder zu trennen versucht. Diese Maßnahme schafft eine Struktur, die der Dreiteilung des deutschen Bankensystems in Geschäftsbanken, Genossenschaftsbanken und Sparkassen im Ergebnis ähnelt – also einer bis vor kurzem belächelten Struktur, die auf der Abschussliste des IWF und der EU gestanden hat.17 Solche Strukturierung ist besser als nichts, wie die jüngere Geschichte des deutschen Bankensystems zeigt. Denn der öffentliche und der genossenschaft­ liche Bankensektor sind auf unterer Stufe den Versuchungen nicht oder kaum erlegen, die für die Bankenkrise ursächlich waren. Wenn man aber – wie ganz ausgeprägt in den USA und abgeschwächt in Europa – die Risiken bestimmter Finanzprodukte nicht ausschaltet, sondern nur ihre Trägerschaft anders verortet, so bleiben sie trotzdem im Verkehr, und die staatliche Gemeinschaft steht dann immer noch vor der Entscheidung, ob sie die Gläubiger diese Risiken ohne schwere soziale und wirtschaftliche Verwerfungen tragen lassen kann. An die Stelle der Insolvenzdrohung von klassischen Banken tritt dann eben die Insolvenzdrohung anderer schuldnerischer Gebilde, die nicht weniger Zerstörungspotential hinter sich stehen hat. Die U.S.-amerikanische Rechtskultur in ihrer gegenwärtigen Grundposition nimmt den Verweis der letzten 17  Dazu

Stürner, Markt und Wettbewerb, S. 15, 219 ff. m. Nw.

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Gläubiger einer Kette auf sich selbst und mögliche Haftungsansprüche gegen schlechte Berater oder untreue Finanzinvestoren in Kauf, auch wenn Massenschäden drohen. Der kontinentalen Rechtskultur entspricht diese Vorstellung zurückgenommener staatlicher Verantwortung weniger, weil der Staat stärker in vorsorgender Verantwortung steht und bei Massenschäden und Vermögens­ umschichtungen dieser Qualität vor seinem eigenen Selbstverständnis versagt hat und deshalb einspringen muss. Will er dies vermeiden, bleibt nur vorsorgende Gestaltung und strenge Typisierung der Produkte, die zu ruhigeren Märkten mit geringerer Gewinnspanne, aber auch geringerer Gefährdung und größerer Kontinuität führt. So spielt sich im Finanzmarktbereich gegenwärtig ein Kampf angloamerikanischer und kontinentaler Gesellschaftsstruktur ab, dessen Ausgang allerdings offen ist. Denn auch viele Kontinentaleuropäer huldigen oft aus fehlender Einsicht bis heute einem Modell innovativer Freiheit mit anschließender Haftung,18 ohne zu bemerken, dass Insolvenz und Haftung eigentlich nur selten die an Krisen verdienenden Investoren treffen, sondern nur ihre abhängigen willigen Vollstrecker. So bleibt zur risikomindernden Gestaltung der Finanzmärkte und ihrer Produkte keine Alternative. Aber gerade hier ist nur wenig getan. 2. Die Folgerungen für andere Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft Die Finanzkrise müsste eigentlich gezeigt haben, wie gefährlich es ist, wenn sich Staat und Gesellschaft in die Hand mächtiger Investoren begeben können. Die Insolvenz ist in der Welt großen Wirtschaftens keine Sanktion, die stärkere Verantwortlichkeit generiert, sie ist vielmehr in erster Linie ein Erpressungspotential der hinter einem Akteur stehenden Investoren gegenüber Staat und Gesellschaft. Diese Macht kann alles ­überspielen oder bestimmen, was moderne staatliche und ge18  Dazu

Stürner, AcP 210 (2010), 153 f.



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sellschaftliche Kultur ausmacht: demokratische Selbstentscheidung, soziale Sicherung, Steuersysteme, tarifvertragliche Gestaltung, Ausbildungssysteme, etc. Es ist deshalb notwendig, zur Erhaltung der Entscheidungsspielräume demokratisch legitimierter Staatsorgane bestimmte Lehren zu ziehen.19 a) Kapitalbindungsmechanismen Es ist verhängnisvoll, sich voll dem Einfluss volatilen Kapitals global agierender Investoren auszuliefern. Staat und Gesellschaft brauchen regional gebundenes Kapital. Dies bedeutet, dass jeder Region unternehmerische Einheiten verbleiben müssen, die nicht frei handelbare Güter des Kapitalmarktes sind. Solch intelligenter und sanfter Kapitalbindung dienen unternehmenstragende Stiftungen, Familienunternehmen, Arbeitnehmerbeteiligungsmodelle, aber auch staatliche Beteiligungen, die den Staat nicht zum unmittelbar agierenden Unternehmer machen, aber ihm ausreichenden Einfluss auf die Widmung von Kapital für regionale Investitionen geben. Die These von schlecht geführten Unternehmen mit Staatsbeteiligung ist das Ergebnis einer durchaus ideologiebefrachteten Weltsicht. Vielen Marktpuristen ist die Beteiligung Niedersachsens bei VW ein Sündenfall, der Aufkauf von Teilen Daimlers durch den Staatsfonds eines arabischen Oligarchenstaats aber ein marktwirtschaftlicher Erfolg. Geht es blauäugiger und naiver? Auch die Schuldzuweisung an Landesbanken vergisst die Tatsache, dass Privatbanken wie Hypo Real Es­ tate, Commerzbank, etc. insgesamt mehr Staatshilfen benötigten als die Landesbanken und dass selbst die Deutsche Bank 7 Milliarden Dollar Risikokapital des U.S.-amerikanischen Steuerzahlers an einen Großversicherer vor empfindlichen Schlingerbewegungen bewahrt haben; vergessen sind auch Gewinne der Landesbanken für öffentliche Haushalte in vergangenen Jahren. Es gibt keine staatliche Gewalt mit Einfluss ohne Zugriff auf eine ausreichende regionale Kapitalbasis. Das 19  Ausführlicher

Stürner, Markt und Wettbewerb, S. 201 ff., 222 ff.

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heißt nicht, einem plumpen Staatskapitalismus das Wort ­reden. Man braucht gemischte Strukturen. Aber es zeigt die notwendigen Grenzen der Kapitalverkehrsfreiheit in einer globalen Welt volatilen Kapitals. Die gesetzgeberischen Maßnahmen gegen unlautere feindliche Übernahmen sind begrüßenswert, aber nur eine sehr beschränkt wirksame Waffe. b) Grenzen der Privatisierung der Daseinsvorsorge Die Notwendigkeit, sich der Macht von Privatinvestoren nicht allzu sehr auszuliefern, setzt auch Privatisierungen der Daseinsvorsorge in vielen ihrer Gestaltungsformen Grenzen. Es bleibt stets die staatliche Auffangverantwortung und Auffangnotwendigkeit, die den Staat in Abhängigkeit vom Investor bringt. Eine Absicherung könnte nur in Garantien des Investors liegen, die aber eine Investition so verteuern, dass sie für Private uninteressant wird. Dies muss nicht bedeuten, dass man sich jeder Privatisierung verschließt. Wo aber – wie bei Energieversorgung und Großverkehrsunternehmungen – notgedrungen mächtige Monopole entstehen, die von Groß­ investoren finanziert werden, schafft die staatliche Gewährleistungspflicht komplizierte Doppelstrukturen fragwürdiger Effizienz und lässt den Staat gegenüber Rückzugs- und Insoldi­ tio­ venzdrohungen ohnmächtig werden. Die klassische tra­ nelle Beteiligung der öffentlichen Hand könnte hier einfacher und effizienter sein – auch wenn dies der Erkenntnis hoch spezialisierter Netzwerktheoretiker nicht entspricht. Wie etwa VW zeigt, bleibt für private Investoren auch bei solcher Gestaltung immer noch genügend Anreiz. V. Schlussbemerkung Kehren wir am Schluss zum Anfang meiner kurzen Präsentation zurück. Verabsolutierte Selbstsorge, die Egoismus zu Gemeinnützigkeit umprägen will, ist keine sinnvolle Grund­ lage gesellschaftlicher Organisation – vor dem Hintergrund abendländischer traditioneller Ethik eigentlich keine bahnbre-



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chende Erkenntnis, sondern eher eine Banalität. Trotz­dem gilt es, diese Erkenntnis gegen Teile der internationalen akademischen Zunft zu verteidigen, die der Gesellschaft Erkenntnisse ökonomischer Teilsysteme als ganzheitliches Beglückungsmodell überstülpen wollen und auch dann nicht stutzen, wenn gerade die Rechtskultur Zusammenbrüche und gesellschaft­ liche Verwerfungen produziert, die dieser Gedankenwelt sehr nahe steht. Ob die Kommission der EU diese Gedankenwelt wirklich verabschiedet hat, wie dies jetzt teilweise den Anschein hat, bleibt abzuwarten. Die Vertragswerke begünstigen eher andere Ansätze. Wie beschreibt doch der Historiker Wolfgang Reinhard in seinem Werk „Lebensformen Europas“ die EU?20 „… Ein Exekutivsystem … ohne viel demokratische oder soziale Fesseln, auf Profitmaximierung ausgerichtet …“. Die Rechtswissenschaft sollte nicht zulassen, dass er Recht behält.

20  W. Reinhard, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, 2004, S. 321.

Der Staat, die Gesellschaft und der Einzelne in China Von Katrin Blasek, Heidelberg* „Der Mensch kann nur in Gesellschaft leben. Aber eine Gesellschaft ohne (soziale) Unterschiede bedeutet Streit, Streit bedeutet öffentliche Unordnung und damit Not und Elend. Darum ist das Fehlen (sozialer) Unterschiede ein großer Schaden für die Menschheit“ (Xunzi).1 „Ich glaube in China machen 99 Prozent der Menschen Kompromisse, und ein oder vielleicht fünf Prozent können ihren eigenen Weg wählen und die Realität ignorieren. […] Als Chinese glaube ich, dass die Realität immer der Maßstab für einen selbst sein muss. Es ist nie möglich dieses System völlig zu vergessen“ (Zhang Yimou).2

I. Kollektiv vs. Individuum 1. Stabilität und Ordnung vor Freiheit des Einzelnen Nähert man sich der Frage nach dem Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Einzelnem in China, so stößt man auf eine Reihe von aus unserer Sicht befremdlichen Aussagen. So meint etwa – um nur ein Beispiel zu bringen – der höchst anerkannte und renommierte Sinologe Helwig Schmidt-Glint*  Prof. Dr. iur., Professorin für Wirtschaftsrecht, Gewerblichen Rechtsschutz und Chinesisches Recht an der SRH Hochschule Heidelberg. 1  Hermann Köster, Hsün-tzu, ins Deutsche übertragen, 1967, S. 114. 2  Berühmter chin. Regisseur. Zitiert nach Zeitmagazin Nr. 20 vom 09.05.1997, S. 10.

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zer, dass Begriffe wie „Individuum“, „Individualismus“ und „Freiheit“ keine chinesischen Begriffe seien.3 Worauf gründen sich solche Aussagen? Sie ergeben sich aus politischen und philosophischen Haltungen, die seit jeher dem großen Ganzen, also den Bedürfnissen des Staates, der gesamten Gemeinschaft und nicht denen Einzelner den Vorrang einräumten. Bis heute stehen nicht die Autonomie des Einzelnen, sondern Stabilität und Ordnung im Mittelpunkt der Politik. Der Vorrang kollektiver vor Einzelinteressen ist auch Grundzug der gegenwärtigen chinesischen Rechtskultur.4 a) Stabilität und Ordnung im alten China Zurückführen lässt sich das Denken und Regieren im Sinne des geordneten Ganzen auf die Begründer dessen, was heute als das „Reich der Mitte“ (China) angesehen wird. Qin Shi­ huang5, dessen beeindruckende, von Terrakotta-Kriegern geschützte Grabstätte heute in Xi’an jährlich von Millionen besucht wird, führte nicht nur den Titel des (gelben)6 Kaisers als Herrscher über das Ganze ein. Er einte das geschaffene Großreich auch praktisch auf vielfältige Weise (Standardisierung von Maßen, Gewichten, Wagenspuren, des Kalenders etc.). Er verpflichtete zudem auch das geistige Leben auf das große Ganze.7 An der Wahrung der existierenden sozialen und ­ politischen Ordnung hielten die nachfolgenden Dynas­ 3  Helwig Schmidt-Glintzer, Chinas Angst vor der Freiheit – Der lange Weg in die Moderne, 2009, S. 116. 4  Robert Heuser, Chinesische Rechtskultur im Wandel: Auf dem Wege vom Recht der Modernisierung zur Modernisierung des Rechts, in: Länderbericht China, 2000, S. 418. 5  Auch Ch’in Shih huang oder Tsin shih huang. 6  Die chinesische Übersetzung für Kaiser (Huangdi) enthält noch heute das Wort gelb (huang), was mit der Verlegung der Hauptstadt des Staates Qin an den Mittellauf des Gelben Flusses (Huanghe) zusammenhängt. 7  Helwig Schmidt-Glintzer, Wachstum und Zerfall des kaiser­ lichen China, in: Länderbericht China, 2000, S. 84.



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tien fest.8 Funktion der Gesetze im kaiserlichen China war dementsprechend nicht, die Beziehungen der Individuen untereinander zu regeln.9 Insbesondere während der Han-Zeit wurde die unter Kaiser Qin Shihuang begründete „chinesische Identität“ – auf die noch zurückzukommen sein wird – gefestigt, dies vor allem durch den Aufbau staatlicher Strukturen, die Formulierung von in hohem Maße differenzierten Zuständigkeiten und Verantwortungsbereichen und die Schaffung einer professionellen Verwaltung und Bürokratie.10 Sichergestellt wurde die Professionalität schon damals durch die Staatsprüfungen, deren Bestehen Angehörigen aller Schichten den Zugang zu den Ämtern und damit zu Ansehen und Privilegien ermöglichte.11 Diese Gelehrten-Beamtenschaft blieb bis in die Neuzeit prägend und trug wesentlich zur Kontinuität und Stabilität der herrschenden Dynastien und ihrer Reiche bei. Einher ging das Streben nach Ordnung und der Wahrung des großen Ganzen mit der Durchsetzung des Konfuzianismus als Staatsdoktrin, die sich im 2. Jh. v. Chr. vollzog.12 Im Mittelpunkt dieser praktischen Philosophie stand zwar immer der Mensch, aber nicht nur und nicht vorrangig als Individuum. Er wurde immer als Glied der Gesellschaft begriffen. „Wenn er die Pflege der eigenen Person anmahnt, so geschieht dies auch und besonders im Hinblick auf die Gemeinschaft.“13 8  Vgl.

hierzu die Darstellung ebd., S. 83 ff. Fn. 4, S. 416. 10  Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 117. 11  Vgl. zur Entwicklung der Beamtenprüfung Frederick W. Mote, Imperial China, 2003, S. 126–135. 12  Schmidt-Glintzer, Fn. 7, S. 85. Beachte: Der Konfuzianismus war nicht immer Staatsreligion, sondern wurde durch Buddhismus und Daoismus zeitweilig abgelöst. Dazu J.J.M. de Groot, Universismus, die Grundlage der Religion und Ethik, des Staatswesens und der Wissenschaften Chinas, 1918. Zur Rolle des Konfuzianismus heute Michael Lackner, Konfuzianismus von oben? Tradition als Legitimation politischer Herrschaft in der VR China, in: Länderbericht China, 2000, S. 425 ff. 13  Ulrich Unger, Goldene Regel und Konfuzianismus, mimeo­ graphed paper, 14.5.1994, S. 15. 9  Heuser,

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So zielt auch die „Goldene Regel“14 des Konfuzius nicht auf Selbstverwirklichung, sondern auf ein gedeihliches Zusammenleben ab: „Begegne den Menschen mit der gleichen Höflichkeit, mit der Du einen teuren Gast empfängst. Behandle sie mit der gleichen Achtung, mit der das große Opfer dargebracht wird. Was Du selbst nicht wünschst, das tue auch anderen nicht an. Dann wird es keinen Zorn gegen Dich geben – weder im Staat noch in Deiner Familie.“15

Der Mensch wurde immer als sozial in die Gemeinschaft eingebunden verstanden, weswegen Ordnungselemente wie Vielfalt und Ungleichheit, vor allem Hierarchien als notwendig anerkannt wurden. Soziale und andere Unterschiede sind also im Sinne einer funktionierenden Gesellschaft akzeptiert. So heißt es etwa, wie oben zitiert, bei Xunzi: „Der Mensch kann nur in Gesellschaft leben. Aber eine Gesellschaft ohne (soziale) Unterschiede bedeutet Streit, Streit bedeutet öffentliche Unordnung und damit Not und Elend. Darum ist das Fehlen (sozialer) Unterschiede ein großer Schaden für die Menschheit.“16

b) Stabilität und Ordnung im modernen China Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches erhöhte sich auch das Gewicht, das die Individuen in der großen Ordnung hatten, nur unmerklich. Die Gründer von Republik und Volksrepublik sahen die individuelle Entfaltung, die Freiheit des Einzelnen im „neuen China“ kritisch. Ziel der Revolution war nach Ansicht Sun Yatsens nicht die Freiheit des Einzelnen, sondern die Freiheit der Nation. Daher betrachtete er es auch als Aufgabe der Gesetzgebung, die Ideen der Revolution zu realisieren. Diese waren nicht wie in der französischen Revolution Freiheit, Gleichheit und Brüder14  Ebd. 15  Lunyu XII.1. zitiert nach Ralf Moritz, Konfuzius, Gespräche. 1988, S. 93. 16  Zitiert nach Köster, Fn. 1, S. 114.



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lichkeit, sondern Nationalität, Rechte des Volkes und Lebenshaltung des Volkes und damit auf die Gemeinschaft bezogen. „Wenn erst der Staat in der Lage ist, in Freiheit zu handeln, dann wird China ein starker Staat werden. Wenn wir das wollen, dann müssen alle von ihrer Freiheit opfern“.17

Auch unter Mao Zedong wirkte die Skepsis gegenüber den Freiheitsrechten des Einzelnen fort, und Mao selbst brachte dies in der Rede über richtige Behandlung von Widersprüchen im Volke zum Ausdruck.18 Deutlich wird der Vorrang der Kollektivinteressen auch in der Erläuterung des Haushaltsregister-Gesetzes, welches mit dem verfassungsrechtlich fixierten Freizügigkeitsrecht kollidierte. Danach handele es sich bei Freiheiten in der chinesischen Verfassung um „geleitete Freiheiten“ und nicht um anarchistische Zustände, um die Freiheit der breiten Masse des Volkes, nicht um die absolute Freiheit von Minderheiten.19 Nun wollten die Begründer des „neuen“ China den starken Staat und die funktionierende Ordnung nicht allein um deretwillen, sondern auch, um ein China zu schaffen, in dem größere individuelle Zufriedenheit, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht, herrschen sollte. Die Schaffung dieses neuen China in Harmonie und Wohlstand glaubten sowohl die Mitglieder von Sun Yatsens Guomindang (Volkspartei) als auch die Mitglieder der Kommunistischen Partei nur mit der Schlagkraft einer Einheitsfront erreichen zu können. Der Kampf unterschiedlicher Parteien war dafür nicht vorgesehen. Demokratie sollte es nur innerhalb einer von allen akzeptierten Herrschaft geben.20 Diesem Ziel, welchem sich auch Mao Zedong, der dennoch soviel Unheil über das Volk brachte, verpflichtet sah21, muss17  Zitiert nach Wolfgang Franke, Das Jahrhundert der chinesischen Revolu­tion, 1980, 182. 18  Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 119. 19  Heuser, Fn. 4, S. 417. 20  Vgl. Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 74 f. 21  Vgl. dazu 3.

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te man nach dem Beginn der Reform- und Öffnungspolitik erst recht verpflichtet bleiben. Da das Land wirtschaftlich darniederlag, initiierte Deng Xiaoping die sog. Vier Modernisierungen (Landwirtschaft, Industrie, Verteidigung, Wirtschaft und Technik). Wiederum mussten die Interessen der Einzelnen für das Gelingen des Ganzen, nämlich des Aufbaus eines modernen Industriestaates, zurückstehen. So kam der Ruf nach der 5. Modernisierung, der Ruf nach Demokratie,22 erst später auf und wurde – ebenfalls zur Wahrung der Ordnung – bekanntermaßen 1989 – blutig niedergeschlagen. Auch im heutigen Wirtschaftswunderland China wird die prinzipielle Zurücknahme des Einzelnen hinter die Interessen  /  Bedürfnisse der Gesellschaft oder – heroischer ausgedrückt – der chinesischen Nation gefordert, diesmal mit einer anderen, aber von alters her bekannten Begründung, die sich auch auf Konfuzius zurückführen lasse23 und die für die Entwicklung Chinas prägend gewesen sei. Noch heute herrscht in China die Sichtweise vor, dass Staat und Gesellschaft vereinigt werden müssten.24 Dafür fordert der amtierende Staatspräsident Hu Jintao die harmonische Gesellschaft. Damit lassen sich einerseits ganz im Sinne Konfuzius’ soziale und ­ wirtschaftliche Ungleichheiten erklären. Andererseits sieht man darin das alte Vorurteil der Herrschenden gegenüber Parteilichkeit als etwas dem Gemeinwesen Abträglichem bestätigt.25 Man verdrängt das „Faktum des Pluralismus“ im Sinne von John Rawls. 2. Chinas Einheit, das Überleben der chinesischen Rasse und Chinas Platz in der Welt Die Betonung des Ganzen vor den Rechten des Einzelnen wird noch aus zwei anderen Aspekten heraus erklärlich, näm22  Konrad

Seitz, China, 2000, S. 257 ff. Fn. 3, S. 67. 24  Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 97. 25  Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 113. 23  Schmidt-Glintzer,



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lich aus der Befürchtung, mit zuviel Individualismus Chinas Einheit aufs Spiel zu setzen26, und aus dem Bestreben, China wieder seinen alten, bedeutenden Platz in der Welt zu geben. Die chinesische Geschichte und das chinesische Denken sind von einer Jahrtausende alten Staatlichkeitsdebatte geprägt. Trotz seiner wechselvollen Geschichte, die beileibe nicht immer durch Einheit, sondern durch Eroberungsfeldzüge, Teilungen und Sezessionen geprägt war27, hat sich der Gedanke der Einheit Chinas doch bis in die jüngste Geschichte durchgesetzt.28 Während in Europa prinzipiell Polyzentralität herrschte, war China immer monozentralistisch geprägt. Zwar fehlte es an einem „natürlichen“ (geographischen) Zentrum29, was sich schon an den vielen Hauptstädten allein des 20. Jh. (Nanjing, Chongqing, Peking) zeigt. Doch war das gesamte Leben auf eine Welt mit einem Zentrum, nämlich des Kaisers, „des Himmelsohns“, ausgerichtet. Er war die personifizierte Einheit des auf ihn und die jeweilige Hauptstadt und deren Verwaltung zentrierten Reichsgebietes, welches zugleich der jeweilige chinesische Kulturraum war. Und diese Einheit hielt allen Herausforderungen durch konkurrierende Mächte stand.30 Auch sonst sind die Chinesen stolz auf ihren flächenmäßig großen Staat und verweisen zu Recht auf die bedeutenden und oft frühen kulturellen Errungenschaften Chinas. Selbst der Regierung kritisch gegenüberstehende Personen sind und bleiben doch Chinesen und damit zu Patrioten geformte31 und auch im Sinne des großen Ganzen denkende Individuen. Nach dem 26  Schmidt-Glintzer,

Fn. 3, S. 24. Vgl. auch die Ausführungen 5. a). nur die Chronologie bei Jacques Gernet, Die chinesische Welt, 1997, S. 564. 28  Schmidt-Glintzer, Fn. 7, S. 100. 29  Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 70. 30  Schmidt-Glintzer, Fn. 7, S. 100. 31  Diese Formung fängt früh in der Schule an (vgl. etwa Henrik Bork, Guten Morgen, liebe Partei, Süddeutsche Zeitung vom 25.02.2011, S. 10) und setzt sich über die Universitätsausbildung bis ins Arbeitsleben mit politischen Schulungen fort. 27  Siehe

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Motto „[l]ieber einig als frei“32 äußerte sich etwa der Astrophysiker Fang Lizhi, der als eine der Symbolfiguren der chinesischen Demokratiebewegung Ende der 1980er Jahre gilt: „Als Privatperson kann ich akzeptieren, dass die Tibeter unabhängig von China werden wollen. Als Politiker kann ich diese Entscheidung jedoch nicht akzeptieren. Die Einheit Chinas muss bewahrt werden.“33

Dieses nationale Pathos macht sich die KPCh als Garantin des Bestandes der „großen chinesischen Nation“ zunutze und begründet unter anderem damit ihr Machtmonopol.34 Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Bevölkerungsgruppen, etwa der muslimisch geprägten uigurischen Minderheit in Xinjiang oder anderer religiöser Freiheitsbewegungen, wie sie etwa die Initiatoren der Charta 08 anstreben35, würden Chinas Einheit aufs Spiel setzen. Die Erhaltung der Einheit aber sieht die KPCh als ihre Aufgabe an.36 Neben der Angst der KPCh, ihre Macht zu verlieren, tut das auch in der chinesischen Bevölkerung tief sitzende Schreckbild von Chaos und Anarchie37 („so ein großes Reich wie China, braucht eine einheitliche, starke Führung, sonst bricht es auseinander“38) sein Übriges. Man hat die nicht unberechtigte Angst, dass Veränderung zunächst mehr Chaos entstehen lässt, als dass sie neue Chancen eröffnet.39 Dabei hat 32  Frank Sieren, Lieber einig als frei, Der chinesische Weg in die politische Unabhängigkeit, Süddeutsche Zeitung, vom 2. / 3.12.1995 (Feuilleton). 33  Ebd. 34  Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 50. 35  Einer ihrer wichtigsten Vertreter, der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, verbüßt deswegen seit 2009 eine 11jährige Haftstrafe. 36  Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 24, 49 f. 37  Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 124. 38  Dieser Satz soll repräsentativ für viele Antworten von Chinesen stehen, mit denen die Verfasserin über die Möglichkeit eines Mehrparteiensystems in China diskutierte. 39  Vgl. die Ausführungen unter 5. a) sowie Petra Kolonko, Aufgeschobene Demokratie, FAZ vom 22.12.2005.



Der Staat, die Gesellschaft und der Einzelne in China253

man einerseits den verlustreichen Weg Europas der letzten 500 Jahre bis zur Reintegration40, insbesondere die zwei überaus blutigen Weltkriege, wie auch das Zerbrechen großer Staaten, etwa der Sowjetunion, vor Augen. Bezogen auf die jüngere Geschichte kam die Angst der Mehrzahl der dann führenden Politiker, die den verlustreichen Kampf gegen die Guomin­ dang und den für die Mehrzahl der Teilnehmer41 unmenschlich anstrengenden Langen Marsch überlebten42, um ihr „neues China“ hinzu. So konnte im Mai 1989 der damalige liberal eingestellte Ministerpräsident Zhao Ziyang insbesondere den Staatspräsidenten Deng Xiaoping nicht dazu bewegen, neben wirtschaftlicher Liberalisierung auch die von den Studenten geforderten politischen Freiheiten und Reformen zuzulassen. Deng Xiaoping und andere sahen den staatlichen Rahmen, den Garanten für eine erfolgreiche wirtschaftliche Liberalisierung, durch die Studentenbewegung auf dem Tiananmen gefährdet.43 Parallelität von wirtschaftlicher und politischer Liberalisierung ist noch heute für viele Spitzenpolitiker schwer vorstellbar, was die Verfolgung der Initiatoren der Charta 0844 und das radikale Vorgehen gegen die „Jasmin-Revolution“ Anfang 201145 zeigen. Mit dem Zusammenbruch des Kaiserreiches und den vielen Demütigungen, die China von ausländischer Hand durch Kriege und Kolonialismus46 zugefügt wurden, traten noch 40  Schmidt-Glintzer,

Fn. 3, S. 125. Zedong ließ sich weite Teile des Wegs in einer Sänfte tragen.  Jung Chang / Jon Haliday, Mao, 2005, S. 186. 42  Zum langen Marsch vgl. Chang / Haliday, ebd., S. 175 ff. Für einen kürzeren Überblick Schmidt-Glintzer, Das neue China, 2006, S. 58 ff. 43  Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 124. Seitz, Fn. 21, S. 259 f. 44  Zu Liu Xiaobo vgl. soeben, Fn. 35. 45  Hendrik Bork, Spaziergänge und Schläge, Süddeutsche Zeitung vom 24.02.2011, S. 7. 46  Z. B. Japanisch-Chinesische Kriege, Opiumkrieg oder der Vertrag von Nanjing, in dessen Folge China für die Briten fünf Häfen (Shanghai, Guangzhou, Fuzhou, Xiamen, Ningbo) öffnen musste und Hongkong an die Briten abgetreten wurde. Vgl. etwa Wolfgang 41  Mao

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zwei weitere Aspekte hinzu, die nur durch kollektive Anstrengungen zu bewältigen schienen. Dies war zum einen die nationale Frage nach dem Überleben der chinesischen Rasse.47 Zum anderen galt es zusammenzustehen, damit das von ausländischen Mächten unterdrückte, einst so stolze China seinen Platz als Staat in der Welt wieder zurückerhalte. Dies brachte Sun Yatsen mit den oben (S. 249) zitierten Worten zum Ausdruck: „Wenn erst der Staat in der Lage ist, in Freiheit zu handeln, dann wird China ein starker Staat werden. Wenn wir das wollen, dann müssen alle von ihrer Freiheit opfern. … Warum wollen wir die Freiheit für den Staat? Weil China von den Mächten unterdrückt wird und seinen Platz als Staat verloren hat.“48

Die Begrenzung der individuellen Freiheit wurde also über die Jahrhunderte als notwendig angesehen für die Einheit und Freiheit der Nation und nach Gründung der Volksrepublik auch für den Aufbau eines modernen Industriestaates. 3. Gelingen der Ordnung und Wohlstand fürs Volk als Herrschaftslegitimation Als weiterer Aspekt, der das Prinzip des Individualismus in China hatte zurücktreten lassen und dies auch nach heute vorherrschender Ansicht49 noch rechtfertigt, gilt die Legitimation der herrschenden Kraft. Sie wurde und wird nicht an freie Abstimmungen oder freie Wahlen geknüpft,50 sondern an das Gelingen der Ordnung, was mit mentaler wie wirtschaftlicher Zufriedenheit der Menschen gleichzusetzen war. Schon im Altertum wurde die Legitimität des Herrschers mit Blick auf die realen Verhältnisse in Frage gestellt. Die Hirn, Herausforderung China, 2005, S. 21 ff. Für einen umfassenderen Einblick, Gernet, Fn. 27, S. 445 ff. 47  Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 41. 48  Vgl. oben, S. 249, Fn. 17. 49  Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 57. 50  Dazu die Ausführungen unter 5. a).



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Legitimität der Himmelssöhne hing vom Gelingen der Ordnung und der Zufriedenheit der Menschen ab.51 Dazu Mengzi (Menzius): „Das Volk ist am wichtigsten… der Fürst ist am unwichtigsten … Wenn ein Herrscher das Mandat verwirkt und zum Übeltäter geworden ist, dann kann er auch getötet werden wie ein solcher.“52

Entscheidend war also das Mandat des Himmels, das sich manifestierte in Leistung und Verdienst. Bis in die Gegenwart wird die alte konfuzianische Vorstellung genährt, es gebe einen Weg zu allgemeinem Wohlstand.53 Dazu wiederum Mengzi: „Wenn die Lebenden ernährt werden, die Toten bestattet werden und keine Unzufriedenheit aufkommt: das ist der Anfang der Weltherrschaft.“54

Der Herrscher / die Regierung ist verantwortlich für gelungenes Leben und kann bei fehlender Leistung abgesetzt werden.55 Diese Zufriedenheit des Einzelnen wollte – im Gegensatz zu den schlimmen Auswirkungen seiner Politik – wohl auch Mao Zedong, als er im Juli 1957 sagte: „Es ist unser Ziel, eine politische Lage herbeizuführen, in der Zentralismus und Demokratie, Disziplin und Freiheit, ideologische Einigkeit und individuelle Zufriedenheit nebeneinander bestehen.“56

Und weil das Gelingen der Ordnung am Wohlergehen des Volkes gemessen wurde, war auch die kommunistische Parole 为人民服务 (wei renmin fuwu: „Dem Volke dienen“) so erfolgreich57, die noch heute vereinzelt auf Bannern oder Gegenständen in China zu sehen ist. 51  Schmidt-Glintzer,

Fn. 3, S. 15, 117 f. (V B 9) zitiert nach Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 47. 53  Schmidt-Glintzer, Fn. 7, S. 79. 54  Mengzi (I A 3) zitiert nach Richard Wilhelm, Mong Dsi. Die Lehrgespräche des Meisters Meng K’o, 1982, S. 44 f. 55  Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 95. 56  Zitiert nach Mao Papers, 1972, S. 80 f. 57  Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 17. 52  Mengzi

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4. Individualismusdenken, Menschenrechte chinesischer Prägung und Freiheitsdrang der Chinesen Kommen wir zurück auf die Aussage Fang Lizhis zum Unabhängigkeitsstreben der Tibeter. Sie steht beispielhaft für das Denken vieler Chinesen, mit denen man spricht und über politische Entwicklungen diskutiert. Aus ihr wird ersichtlich, dass ein Chinese sich in eine Privatperson, einen Menschen eben, und ein sozial-politisches Wesen, den patriotischen Chinesen, aufspaltet.58 Man fühlt sich nicht nur als Mensch, als Individuum, sondern – und das mit Stolz – auch als Chinese. Dieser „Zwiespalt zwischen Ich und Ideologie“59 lässt sich heute sicherlich auf die gezielte Formung aller Chinesen zu Patrioten60 zurückführen. Er hat seine Wurzeln aber wohl schon bei Konfuzius. Ulrich Unger schreibt dazu: „Der Konfuzianismus als praktische Philosophie hat immer den Menschen im Mittelpunkt: als Individuum und gleichzeitig als Glied der Gemeinschaft. Wenn er die Pflege der eigenen Person anmahnt, so geschieht dies auch und besonders im Hinblick auf die Gemeinschaft.“61

Dieses Selbstverständnis ist auch im Hinblick auf die Menschenwürde und Menschenrechte des Einzelnen zu berücksichtigen. Die Vorstellung angeborener Rechte oder die Idee vom Wert eines Menschen als solchem sind in der chinesischen traditionellen Kultur nicht anzutreffen. Seinen Wert erlangt nach chinesischer Vorstellung der Mensch erst in seiner gesellschaftlichen Rolle. Menschenwürde ist eine soziale Eigenschaft, die im gesellschaftlichen Leben erworben werden muss, nicht eine Wesensbestimmung des Menschen überhaupt.62 Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 83. für die chin. Literatur durch Wolfgang Bauer, Das Antlitz Chinas. Die autobiographische Selbstdarstellung in der chinesischen Literatur von ihren Anfängen bis heute, 1990, S. 752. 60  Dazu unter 2. 61  Unger, Fn. 13, S. 15. 62  Heuser, Fn. 4, S. 420. 58  Ähnlich

59  Herausgearbeitet



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Trotz der andersartigen Kultur und Geschichte Chinas wird die Universalität der Menschenrechte anerkannt, auch ausdrücklich, etwa vom Staatspräsidenten Jiang Zemin63. Zugleich wird insbesondere auf kulturelle und historische Unterschiede hingewiesen und wechselseitiger Respekt und das Zugestehen von Besonderheiten eingefordert.64 Außerdem weist man von chinesischer Seite immer wieder darauf hin, dass es neben bürgerlichen Freiheitsrechten auch wirtschaftliche und soziale Menschenrechte gebe.65 Dies lässt sich mit den Legitimationsanforderungen an chinesische Herrscher / Regierungen in Verbindung bringen.66 Unklar bleibt aber immer, wie nach alledem die Menschenrechte, die Menschenwürde oder die Freiheitssphäre chinesischer Prägung gegenüber dem Staat zu definieren sind. Was das Streben nach individueller Freiheit in China angeht, so scheint es ebenfalls wesentliche Unterschiede zur Entwicklung in anderen Regionen der Welt, etwa Europa, zu geben. So wird darauf hingewiesen, dass in China ein anderer, ein schwächerer Drang nach individueller Freiheit geherrscht habe. Dies lag zum einen an der anderen, an den wirtschaftlichen Wohlstand bzw. das Gelingen der Ordnung geknüpften Legitima­ tion von Herrschern und Regierungen.67 Die Führung wurde am Wohlergehen des Volkes gemessen und musste daher die Interessen der Bürger viel stärker im Blick haben. Es herrschte schon seit der Reichseinigung durch Kaiser Qin Shihuang, anders als in Europa, kein allmächtiger Gott durch seine Statthalter oder jemand schlicht aufgrund seiner „richtigen“ Geburt. Zum anderen bestanden bestimmte Ungerechtigkeiten nicht. Wer etwa die kaiserliche Beamtenprüfung bestand, erhielt 63  Amtszeit

1993–2003. dazu beispielhaft die Aussage des Pekinger Rechtsprofessors der Akadamie für Sozialwissenschaften Gao Hongjun, The Awakening of the Awareness of Rights, International Institute for Asian Studies Newsletter, 12 (Spring 1997), S. 29. 65  Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 62. 66  Dazu die Ausführungen unter 3. 67  Dazu die Ausführungen unter 3. 64  Vgl.

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Zugang zum Amte und damit zu Ansehen und Privilegien, ganz gleich welcher Schicht er entstammte.68 So war denn auch der Gründer der Republik China, Sun Yatsen, der Meinung, dass es schon zuviel statt zuwenig Freiheit des Einzelnen in China gebe. Anders als die Revolutionen in Europa, wo die Menschen in totaler Unfreiheit gelebt hätten, sei die Revolution in China, wo die Freiheit so extrem gewesen sei, dass das Volk, losem Sand gleich, der Kolonisierung durch die Ausländer nichts entgegensetzen konnte. Daher sei es an der Zeit, die individuelle Freiheit zugunsten der Freiheit der Nation zu begrenzen.69 Später schworen dann die Kommunisten die Menschen auf das neue China ein, welches den Sieg des Kommunismus erforderte70 und damit auch das Zurücktreten des individuellen Freiheitsdrangs. 5. Individueller Einfluss, individuelle Rechte und Freiheiten heute a) Partizipationsdefizite oder Demokratie im Wartestand Aufgrund des Absatzes 7 der Präambel der Verfassung steht China unter der Führung der KPCh. Die KPCh erhält hierdurch einen ewigen Herrschaftsanspruch. Dass diesem Anspruch die Einführung freier Wahlen und die Aufstellung unabhängiger Kandidaten widerspricht, liegt auf der Hand. So besteht denn auch der Nationale Volkskongress (NVK), das 68  Natürlich musste man es sich auch leisten können, auf diese Prüfung zu lernen. Darüber hinaus wurden die Beamtenprüfung in manchen Dynastien zeitweilig ausgesetzt. Personal für den Hof des Kaisers wurde dann auf andere Weise rekrutiert. Vgl. zur Beamtenprüfung allgemein Frederick W. Mote, Imperial China, 2003, S. 126– 135, und zur Rolle der Beamtenprüfung in den einzelnen Dynastien 79–81, 125, 156 f., 323, 490 f., 572, 601, 774 f., 861–868. 69  Zitiert nach Heuser, Fn. 4, S. 417. 70  Dazu die Ausführungen unter 1. b) und Schmidt-Glintzer, Fn. 3, S. 60.



Der Staat, die Gesellschaft und der Einzelne in China259

nur einmal jährlich, immer Anfang März für ein bis zwei Wochen tagende „Vollparlament“, nicht aus frei gewählten Abgeordneten, sondern aus ca. 3000 Delegierten.71 Dabei wird auf repräsentative Zusammensetzung (Arbeiter, Bauern, Funktionäre, Soldaten, Angehörige der Intelligenz, Frauen und Angehörige von Minderheiten) geachtet.72 Zwar existieren im NVK acht sog. demokratische Parteien, die die Organe der Einheitsfront bilden. Doch ist diese Einheitsfront der KPCh untergeordnet. Diese acht Parteien stehen zudem nicht in Konkurrenz zueinander, sondern sind von der KPCh kontrollierte Konsultativorgane. Die Führungskader der KPCh sitzen an allen wichtigen Schaltstellen der Politik.73 Bei Staats- und Gipfeltreffen wird – neben der Forderung der Beachtung der Menschenrechte – oft an die chinesische Regierung appelliert, demokratische Strukturen einzuführen. Solche Ansinnen werden meist unter Hinweis auf die nationalen Besonderheiten oder historische Bedingungen zurückgewiesen.74 Westliche Konzepte passten einfach nicht auf China. Warum eigentlich nicht? Begründet wird das gern mit dem überwältigenden wirtschaftlichen Erfolg der letzten Jahre, der für die Überlegenheit eines gelenkten Systems und für die Führung Chinas durch die KPCh spreche. Auch setze die Einführung demokratischer Strukturen ein Rechtssystem und eine bessere Allgemeinbildung voraus. Schließlich wird Demokratie oft mit Chaos und Unsicherheit gleichgesetzt, die die Einheit Chinas und den bescheidenen und prinzipiell wachsenden Wohlstand vieler Bürger gefährde.75 Prügelnde Abgeordnete oder sachfremde, persönlich werdende Debatten in Parlamenten wirken 71  Sie werden durch die Abgeordneten der niedrigeren Ebene gewählt, vgl. Art. 97 I chinVerf. 72  Sebastian Heilmann, Das politische System der Volksrepublik China, 2. Aufl. 2004, S. 137. 73  Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Volksrepublik China, Informationen zur politischen Bildung Nr. 289 / 2005, S. 25. 74  Kolonko, Fn. 39. 75  Ebd.

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da ebenso abschreckend wie Demonstrationen gegen amtierende Regierungen. In China entsteht dadurch oft der Eindruck, dass die Vielzahl von Parteien in Regierungen oder Parlamenten das zeitnahe Treffen notwendiger Entscheidungen verhindert, dass also viel geredet wird, nicht aber fürs Land gehandelt werden kann. Einem Freund, der viele Jahre in China gearbeitet hat, wurde zudem von einer chinesischen Mitarbeiterin einmal die Frage gestellt, woher man in Deutschland denn eigentlich wisse, welche Partei die richtige Ansicht vertrete? Immerhin lässt sich sagen, dass es in China auch in punkto Demokratisierung kleine Fortschritte gibt. So hat man 1987 aus Gründen der Korruptionsbekämpfung durch Rekrutierung neuer, fähiger Kräfte, der Stärkung des Vertrauens in die Partei und der Förderung der ökonomischen Entwicklung direkte und geheime Wahlen der Dorfleitungen zugelassen. Die teilweise erfolgreiche Einführung dieser Wahlen führte zur Übertragung auf den städtischen Raum, in dem inzwischen die Leitungsorgane der Nachbarschaftsviertel, die sog. Einwohnerkomitees, direkt von den Bürgern gewählt werden.76 Die Förderung solcher Basiswahlen widerspricht dem Führungsanspruch und dem Machterhaltungsbestreben der KPCh und ist nur damit zu erklären, dass die gewählten Dorfleitungen und Einwohnerkomitees nicht als parallele Machtstrukturen begriffen werden. Damit droht der KPCh, die weiterhin mittels übergeordneter und Verwaltungs- und Parteiinstanzen die Kontrolle ausübt, keine Gefahr. b) Grundrechte und subjektive Rechte Seit dem Beginn der Reform- und Öffnungspolitik ist die Rechtsentwicklung in atemberaubendem Tempo vorangeschritten. Die ausländischen Investitionen, die man für die Ankurbelung der darniederliegenden Wirtschaft brauchte, er76  Dazu

S. 24.

Thomas Heberer, Ausweitung von Basiswahlen, in: Fn. 73,



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forderten entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen, die 1978 kaum mehr vorhanden waren.77 Diese Regelungen betrafen und betreffen oft das Verhältnis der (Wirtschafts-)Bürger untereinander. In hohem Maße neu geregelt oder erheblich revidiert wurden etwa das Vertragsrecht (1999), das Recht der Kreditsicherheiten, die Rechte an geistigem Eigentum (2001, 2004, 2009), das Gesellschaftsrecht (2005) oder das Sachenrecht (2007). Für Störungen dieser Rechtsbeziehungen werden Ausgleichs- und Anspruchsmechanismen geregelt und Rechtsschutzmöglichkeiten vor staatlichen Institutionen, wie den Gerichten, erweitert. Auch aus dem Privatleben zieht sich der Staat allmählich zurück. So wurde etwa die voreheliche Zwangsuntersuchung, mit der Eheverbote aus gesundheitlichen Gründen durchgesetzt werden sollten, abgeschafft. Staatliche Einmischung in intimste Bereiche, wie etwa durch die „Ein-Kind-Politik“, verbleibt in bestimmten Bereichen. Schwerer tut man sich mit der Begründung sog. subjektiv öffentlicher Rechte, also mit Abwehrrechten des Bürgers gegen den Staat. Entsprechend dem auch heute propagierten Vorrang kollektiver Interessen vor den Interessen Einzelner ist das Grundrechtsverständnis der Verfassung der Volks­ republik China. So finden sich in der chin. Verfassung vor allem unter dem Abschnitt der „Grundrechte und Grundpflichten der Bürger“ (Art. 33 ff. chinVerf.) eine Reihe von Grund- und Freiheitsrechten, etwa Meinungs-, Presse-, Religions-, Versammlungs-, Vereinigungsfreiheit, Vermögensschutz, Gleichberechtigung etc. Doch finden all diese Rechte ihre Begrenzung in den Interessen des Staates, der Gesellschaft und des Kollektivs (Art. 51 chinVerf.). Die Bedürfnisse des Staates begrenzen und entleeren damit die Grundrechte. Definiert werden die Staats- und Kollektivinteressen durch 77  Mit Beschluss der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes vom 29.10.1949 wurde das gesamte vorrevolutionäre Recht (als konterrevolutionär) außer Kraft gesetzt. Dazu Blasek, Markenrecht in der Volksrepublik China, 2007, S. 20. Danach wurden hauptsächlich Regelungen zum Staatsaufbau erlassen. Von 1957 bis 1978 wurde kein einziges Gesetz erlassen. Dazu Bu Yuanshi, Einführung in das Recht Chinas, 2009, S. 2 f.

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die Partei- und Staatsorgane. Immerhin kann der Bürger heute gegen fast alle Verwaltungsentscheidungen vorgehen,78 Widerspruch einlegen bzw. die Verwaltung auf Staatshaftung verklagen, wenn er der Meinung ist, dass sie seine Rechte verletzt hat. Doch ist eine unabhängige Überprüfung der Entscheidung des Konflikts von Individual- und Kollektivinteressen nicht gewährleistet. Es fehlt schon an der Unabhängigkeit der Richter79 und auch an prozessualen Mechanismen mit Entscheidungsgarantie – vergleichbar unserer Verfassungsgerichtsbarkeit – für die Geltendmachung von Grundrechtsverletzungen.80 c) Zurückhaltende Anerkennung privater Rechtspositionen Wie bereits betont wurde, sind die Rechtsverhältnisse der (Wirtschafts-)Bürger untereinander zur Erreichung des Ziels der wirtschaftlichen Modernisierung in hohem Maße neu geregelt bzw. revidiert worden. Dennoch ist der Staat zurückhaltend bei der Anerkennung (rein) privater Rechtspositionen. Sie fehlen ganz oder sind schwächer ausgestaltet, als wir dies kennen. Dies soll hier nur anhand dreier Beispiele verdeutlicht werden: Mangels Gewerbefreiheit herrscht in China für die unternehmerische Tätigkeit nicht ein System der Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt, sondern eines des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt. Diese „Erlaubnis“ erschöpft sich für Inländer zwar des Öfteren in der Erfüllung von Registrierungsformalitäten. Doch ist die Tätigkeit ohne Registrierung illegal und kann mit hohen 78  Vgl.

§ 11 Verwaltungsprozessgesetz (VwPG). die Ausführungen unten, unter II. 80  § 90 Gesetzgebungsgesetz (GesGebG) gibt den Bürgern, die meinen, dass eine Rechtsvorschrift gegen die Verfassung verstößt, nur ein Vorschlagsrecht. Sie können dem Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses vorschlagen, sich mit der Sache zu befassen, um eine Änderung der Rechtsvorschrift zu erreichen. Eine Garantie, dass dieser Ausschuss sich mit der Sache befasst, gibt es aber nicht. 79  Dazu



Der Staat, die Gesellschaft und der Einzelne in China263

Geldbußen belegt werden.81 Registrierungsbehörden können daher missliebigen Kandidaten das Leben schwer machen. Heute hat – gleich wie in der ehemaligen DDR – zudem kein Chinese privates Eigentum an Grund und Boden. Es gehört weiter dem Volke bzw. bei agrarischen Flächen dem Kollektiv (Art. 10 chin.Verf.). Grund und Boden kann nur aufgrund von sog. Landnutzungsrechten genutzt werden. Eigentum oder „Vermögen“ wie es die chinesische Verfassung ausdrückt, besteht nur am Bauwerk über dem Grund. Wer eine Marke für Waren oder Dienstleistungen (Produkte) anmeldet, erlangt nicht das Recht an der Marke oder Markenrecht, wie es in Deutschland heißt, sondern ein „ausschließliches Nutzungsrecht an der Marke“. Es liegt – anders als in Deutschland – nicht in der alleinigen Hand des Markeninhabers, gegen rechtswidrige Benutzungen anderer vorzugehen. Wer in China eine Marke anmeldet, hat auch eine Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit, mithin den Verbrauchern.82 Verantwortungsloses Verhalten, etwa das Angebot qualitativ minderwertiger Produkte unter einer Marke, kann den Staat auf den Plan rufen und zum Verlust der Marke führen.83 Der Staat überlässt es also nicht allein dem Markt, mithin allein seinen Bürgern, eine Marke, unter der Produkte schlechter Qualität verkauft werden, mit ablehnendem Kaufverhalten zu sanktionieren und dadurch den Markeninhaber künftig zu besserer Qualität anzuspornen. Selbst im Wirtschaftsleben ist der Einzelne also nicht ganz privat, nicht gänzlich selbst verantwortlich für die Ausübung und Durchsetzung seiner Rechtsposition. Neben ihm steht 81  So verbietet z.  B. §  11 II Partnerschaftsunternehmensgesetz (PUG) die Vornahme von Geschäften namens der Partnerschaft ohne Gewerbeschein (der mit Registrierung erteilt wird). Bei Zuwiderhandlung gibt § 95 I PUG der Registerbehörde die Möglichkeit, empfindliche Geldstrafen (5.000 bis 50.000 RMB) zu verhängen. Ähnliche Regelungen gelten für die anderen Personengesellschaftsformen und für die Kapitalgesellschaften. 82  § 1 chinMarkenG 2001. 83  § 45 chinMarkenG 2001.

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der Staat, der mal mehr, mal weniger über die sozioökonomische Ordnung, die objektive Rechtsordnung wacht und sich in der Pflicht sieht, den Verbraucher zu schützen.84 Hier schließt sich der Kreis zwischen der oben genannten Erwartungshaltung der Bevölkerung im Hinblick auf Wohlstand und gelungenes Leben gegenüber dem Staat und dessen Einwirken in selbst – aus unserer Sicht – privateste Verhältnisse. Aufgrund dieser Erwartungshaltung an den Staat behielt dieser die Fäden auch in der Hand. Er schuf eben oft keine privaten Rechtspositionen und übertrug damit keine Verantwortung auf den Einzelnen. So fehlte vielen die Erfahrung und Übung im Umgang mit ihrem Recht, was wiederum die Einmischung des Staates – zumindest übergangsweise – rechtfertigen mag. Chinesische Rechtswissenschaftler kritisieren heute die übertriebene Betonung der Kollektivinteressen oder der Interessen von Staat oder Gesellschaft gegenüber den Einzelinte­ ressen im Recht. Diese bedingungslose Unterordnung letzterer habe die Interessen und Freiheiten der Einzelnen geopfert. Dieses kollektivistische Rechtskonzept sei unvereinbar mit den Entwicklungsgesetzen der Marktwirtschaft und demokratischer Politik. Der Staat dürfe nicht immer nur die Pflichten des Einzelnen gegenüber Familie, Gesellschaft und Staat betonen und die Rechte ignorieren. Zuweisung und Anwendung politischer Macht des Staates sei nur insoweit legal und legitim, als sie der Garantie für die Verwirklichung subjektiver Rechte – der Regelung von Rechtskonflikten, der Sanktionierung von Rechtsverletzungen und der Wahrung der Rechte – als Balance diene.85

84  Vgl. etwa § 1 chinMarkenG 2001, § 1 chinUWG 1993 sowie § 1 chinWerbeG 1994. 85  Heuser, Fn. 4, S. 420.



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II. Was sind die (Grund-)Rechte des Einzelnen wert? oder: Wenn die Partei immer Recht hat! Bereits angedeutet wurde, dass die theoretischen Rechts­ positionen des Einzelnen praktisch oft leerlaufen werden. Es fehlt an der Struktur und an den Institutionen, die bei uns die Durchsetzung der individuellen Freiheiten und Rechtspositionen vor allem gegenüber dem Staat garantieren. Statt Gewaltenteilung herrscht in Festland-China Gewaltenverschränkung. So herrscht denn auch – was das Zusammenspiel der Gewalten angeht – das Prinzip des demokratischen Zentralismus.86 Nach diesem Prinzip stehen der Nationale Volkskongress (NVK) bzw. sein Ständiger Ausschuss (StA) an der Spitze des Staates und erschaffen alle weiteren, ihm hierarchisch unterstehenden Staatsorgane (Regierung, Gerichte etc.). Diese sind ihm rechenschaftspflichtig und werden von ihm überwacht.87 Eine Trennung von „Gewalt“ erfolgt lediglich in organisatorischer (Parlament, Verwaltung, Gerichte), prinzipiell aber nicht in funktionaler oder personeller Hinsicht. Es geht also nicht um staatliche Machtbegrenzung, sondern um Machtkonzentration. So haben in China – nach unserer Ansicht – typische Legislativorgane wie der NVK und sein StA auch Exekutiv- und Rechtsprechungskompetenzen, typische Rechtsprechungsorgane, wie das Oberste Volksgericht, auch Rechtsetzungsbefugnisse und typische Exekutivorgane, wie der Staatsrat (Zentralregierung), auch Rechtsetzungs- und Rechtsprechungskompetenzen.88 Keine Gewalt besitzt einen unantastbaren Kernbereich an Befugnissen, den die andere Gewalt zu respektieren hat. Jede Gewalt greift in die Befugnisse der anderen Gewalt ein. Die mit der Idee der Gewaltenteilung intendierte gegen86  Art. 3,

57 chinVerf. 57, 67 Nr. 6, 128 chinVerf. 88  Vgl. dazu Blasek, Fn. 77, S. 70 ff. sowie Blasek, Investieren in der sozialistischen Marktwirtschaft, ZVglRWiss Heft 2, 2012 (im Erscheinen). 87  Art. 3,

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seitige Kontrolle und Begrenzung von Macht (checks and balances) findet somit nicht statt. Und inhaltlich hat die KPCh das Sagen. Obwohl der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) keine bestimmte Funktion zugewiesen ist, ja sie nicht einmal als Staatsorgan in der Verfassung genannt ist, beeinflusst sie de facto alle Bereiche des Lebens ganz entscheidend. Dies bringt schon Absatz 7 der Präambel der Verfassung dadurch deutlich zum Ausdruck, dass China unter der Führung der KPCh steht. Die KPCh erhält hierdurch einen ewigen Herrschaftsanspruch. In der Praxis wird die Führungsrolle folgendermaßen implementiert: die KPCh verfügt zum einen über eine Parallelstruktur von Parteikomitees neben der Regierung89 und nimmt über diese Komitees Einfluss auf das Tagesgeschäft. Die Parteikomitees haben in strittigen und grundsätzlichen Fragen ein Vetorecht und Weisungsbefugnis. Außerdem haben sie in strittigen Fragen das letzte Wort.90 Zum anderen wird – ähnlich wie in der ehemaligen DDR91 – sichergestellt, dass auf allen entscheidenden Positionen in Regierung, Verwaltung und Justiz Parteimitglieder sitzen.92 Nach allem ist auch eine unabhängige Justiz nicht gesichert. Anders als der deutsche Richter sitzt der chinesische nicht fest im Sattel. Er kann sich nicht in jeder Hinsicht unabhängig fühlen und dementsprechend agieren. Zwar bringt Art. 126 chinVerf. zum Ausdruck, dass Gerichte ihre Aufgaben unabhängig, in Übereinstimmung mit dem Recht und unbeeinflusst von der Exekutive und anderen Organisationen ausüben. Mit dem Beitritt zur WTO Ende 2001 hatte sich China auch verpflichtet, unparteiische und unabhängige Gerichte für Angele89  Also etwa Kreisparteikomitee neben Kreisregierung, Provinzparteikomitee neben Provinzregierung etc. 90  Heilmann, Fn. 72, S. 91 ff., vor allem die Übersicht S. 92; Bu, Fn. 77, S. 31. 91  Die Autorin wuchs in diesem untergegangenen Staat auf und ist damit Zeitzeugin. 92  Heilmann, Fn. 72, S. 92, 114.



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genheiten ausländischer Wirtschaftssubjekte zu unterhalten.93 Wegen des Prinzips des demokratischen Zentralismus ist die Richterschaft jedoch nicht Teil einer eigenständigen und ­unabhängigen dritten Gewalt. Gerichte unterstehen auf zentraler wie lokaler Ebene den Volkskongressen; sie sind den jeweiligen Volkskongressen gegenüber rechenschaftspflichtig (Art. 128 chinVerf.). Die Volksstaatsanwaltschaft führt zudem die Rechtsaufsicht über die Gerichte (Art. 129 chinVerf.). Sie hat das Recht, gegen gerichtliche Entscheidungen zu protestieren, die sog. 抗诉 (kangsu)94 zu betreiben und damit auch rechtskräftige Entscheidungen der Gerichte infrage und erneut auf den Prüfstand zu stellen.95 Die Mittel für die personelle und sachliche Ausstattung der Gerichte stellen die zuständigen Volksregierungen zur Verfügung.96 Auch über die Höhe der Richtergehälter und ihre sonstige soziale Absicherung entscheiden die zuständigen Volksregierungen. Mangels einheit­licher Standards differiert die wirtschaftliche Situation der Richter in China regional sehr stark. Nicht nur über diese finanzielle Abhängigkeit der Gerichte wird Einfluss auf die Entscheidungspraxis der Gerichte genommen.97 Richter haben – anders als in Deutschland – auch keine beamtenrechtliche Sonderstellung. Sie sind wie andere Beamte der Regierung unterstellt und damit weisungsgebunden.

93  Nr. 78, Report of the Working Party on the Accession of China, WTO-Doc. WT / ACC / CHN / 49 vom 01.10.2001, abrufbar unter www.wto.org. 94  Kann übersetzt werden als Protest, Einspruch, Beschwerde oder Widerspruch. 95  Art. 129 chinVerf. sowie § 185 Zivilprozessgesetz (ZPG); § 64 VwPG; § 208 Strafprozessgesetz (StPG). 96  Susan Finder, in: Michael J. Moser / Yu Fu (Hrsg.), Doing Business in China, Vol. 1, 2008, Sec. 1, Chapter 2.1.03[2]. 97  Ebd.

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III. Zusammenfassung und Ausblick Das Reich der Mitte war nie ein Gebiet, in dem die Inte­ ressen des Individuums im Vordergrund standen. Im Vordergrund standen immer höhere Ziele, etwa das Gelingen der Ordnung, die Einheit Chinas oder das Bestreben dieser stolzen Nation, sich wieder als führende Nation auf dem Parkett der Weltpolitik und Weltwirtschaft zu bewegen. Auf die kulturellen, philosophischen, historischen und politischen Gründe dafür wurde hingewiesen. Diese „höheren“ Ziele, insbesondere Wohlstand für die Bevölkerung, dienen auch heute der KPCh dazu, den sich selbst geschaffenen Alleinführungsanspruch zu rechtfertigen. Ein beeindruckendes Wirtschaftswachstum war zunächst geeignet, die Aufmerksamkeit weiter Teile der Bevölkerung auf gut gefüllte Schaufenster zu lenken. Nach dieser „Shopping“Phase mehreren sich seit einigen Jahren die Stimmen, die neben Wohlstand auch persönliche Freiheit möchten. Hinzu kommt, dass auch die Verlierer der Reform- und Öffnungspolitik ihren Unmut seit einigen Jahren immer deutlicher äußern. Selbstbewusste Bürger fordern mehr Gehör, mehr Partizipa­ tion und mehr individuelle Rechte. Mitsprache- und private Rechte werden zwar nach und nach eingeräumt. Wie weit insbesondere die Grundrechte chinesischer Bürger gegenüber dem Staat gehen, definiert jedoch allein die Partei über die zuständigen Staatsorgane. Mangels Gewaltenteilung und unabhängiger Institutionen hat die Partei im Konfliktfall immer das letzte Wort. Unerwünschte öffentliche Meinungsäußerungen werden radikal unterdrückt, teils mit langjährigen Gefängnisstrafen geahndet.98 Eine Verbesserung im Hinblick auf die Meinungs- und Pressefreiheit ist kaum in Sicht. Für den Sozialismus chinesischer Prägung, dessen Aufbau von der KPCh propagiert wird, sind nach Ansicht der KPCh westliche Konzepte, wie Demokratie und Gewaltenteilung, 98  Auf die elfjährige Haftstrafe Liu Xiaobos, eines der Initiatoren der Charta 08, wurde bereits oben, S. 252, in Fn. 35 hingewiesen.



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untauglich. Sie berücksichtigten nach Ansicht der KPCh nicht ausreichend die „chinesischen Besonderheiten“, den „chinesischen Weg“, den China gehen muss und der allein durch die KPCh definiert wird. Auch Chinas Jugend kann sich bestimmte westliche Konzepte für ihr Land derzeit nicht vorstellen. So ergab eine Untersuchung, dass die Mehrheit der akademischen Jugend für mehr Liberalismus (自由主义 ziyou zhuyi), für Gewaltenteilung (三权分立 sanquan fenli) allerdings nur ein Drittel, fast die Hälfte aber dagegen ist.99 Ursächlich für solche Meinungsbilder ist neben kulturellen, historischen Gründen auch das stetige Einschwören der Bevölkerung, insbesondere der Jugend, auf die Ziele und die Politik der KPCh. Dem Individuum wird in China noch immer keine ausschließlich individuelle Rolle zugebilligt. Es hat vorrangig als Teil der Gesellschaft für die Erreichung der durch die KPCh definierten Staatsziele zu funktionieren. Dem Drang der Bevölkerung nach mehr Rechten und mehr Partizipation wird immer nur so weit nachgegeben, wie es im Hinblick auf den wirtschaftlichen Fortschritt und die politische Stabilität opportun erscheint.

99  Stanley Rosen, Contemporary Chinese Youth and the State, Journal of Asian Studies, 68 (May 2009), S. 366.

Verteidigung der Demokratie gegen ein irregeleitetes Finanzwesen Von Martin Hochhuth, Freiburg*

1

I. Geschichtsphilosophie und Demokratie Die Tagung galt dem Rückzug der Öffentlichen Gewalt aus existenziellen Infrastrukturen. Profund stritten die geladenen Wissenschaftler und Praktiker über die Organisation des Transports, des Geldes, der sozialen Sicherung. Sie stritten dabei auch über jene Ober-Infrastruktur Staat. Die gigantische politische Einheit, das Grundgerüst Tausender von Einzelverwaltungen, betrachteten wir rechtlich, soziologisch, wirtschaftlich und politisch. Auch noch andere Fächer drängten herzu: So arbeiteten wir, so arbeitet dieses Bändchen mittelbar der Allgemeinen Staatslehre und der Fortentwicklung der Staats- und Geschichtsphilosophie vor. Sie müssen im 21. Jahrhundert offenbar ganz anders aussehen, als jemals zuvor seit sie wissenschaftlich betrieben wurden. Zwar finden wir vereinzelte fruchtbare Problem-Ähnlichkeiten, etwa in Großreichen des Mittelalters und der Antike, vor allem im Hellenismus. Aber die Unterschiede überwiegen doch so, dass das Ganze neu in Frage steht: Was bedeutet der hochmoderne Staat, der von der Frühen Neuzeit bis in die 1970er-, 1980er-Jahre an Dichte – und in vielen Ländern der Welt auch an Verrechtlichung – gewachsen ist; was bedeutet diese objektivierte Herrschaftsstruktur – und was bedeutet folglich ihre vielfältige Rücknahme – für den Einzelmenschen und seine Freiheit? Die Frage knüpft an unterschiedlich akzentuierte Überlegungen aus *  Prof. Dr., Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau, Institut für Öffentliches Recht.

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zweieinhalbtausend Jahren an. Wenn der Staat, der sich zurückzieht, demokratisch ist, dann droht damit auch die Preisgabe dieser – der einzig legitimen – Herrschaftsform.1 Aristoteles beobachtete als erster wissenschaftlich den Verfassungswandel und rechnete die Demokratie zu den schlechten2 Verfassungsformen, weil sie eine der drei egoistischen Herrschaften sei. Polybios, deterministisch geprägt, hielt den Wandel der Verfassungen sogar für gänzlich unausweichlich; weil spätere Generationen, die sich die Freiheit nicht selbst erkämpft hätten, auch nicht wüssten, was sie wert sei, und sie deswegen wieder einbüßten.3 Montesquieu schließlich betonte, die Tugend sei das Prinzip, ohne das keine Demokratie bestehen könne.4 (Wir besinnen uns auf diese drei zunächst überraschenden Meinungen noch einmal unten, wo es um die systemische Relevanz der Gerechtigkeit und die Selbstabschaffung der Demokratie zugunsten fehlgeleiteter Geldhäuser geht.) 1  Bei der „Selbstpreisgabe des Staates“ muss die Wissenschaft deshalb differenzieren: Die Preisgabe ist reiner Fortschritt, wo individuelle und demokratische Freiheit die alte Staatsvergottung ersetzt. Das ist die Kernidee des Grundgesetzes und zahlreicher verwandter hochmoderner freiheitlicher Systeme in allen Erdteilen. Man kann diesen Fortschritt den Wandel von der Staatsräson zur Menschenräson nennen. Aber kein Fortschritt ist es, wenn der Staat, also der Inbegriff der demokratisch gesteuerten Rechtsordnung, sich zugunsten der Eigendynamik des geldwerten Vermögens preisgibt. Die Verwechslung der Menschenräson mit Geldräson stand darum auch am Beginn dieses Forschungsprojekts. Vgl. im Einzelnen schon den Staatsräson-Geld­ räson-Menschenräson-Aufsatz von 2002, der oben im Vorwort zu diesem Band (S. 5, in Fn. 2) genauer zitiert ist. 2  Vgl. die Politeia des Aristoteles, hier zitiert nach der Übersetzung von Franz Susemihl (bearbeitet und herausgegeben von Nelli Tsouyopoulos und Ernesto Grassi, Hamburg [Rowohlt] 1965), Drittes Buch, 7. Kapitel, 1279b (S. 94). 3  Polybios von Megalopolis, Historien (Auswahl, Übersetzung, Anmerkungen usw. von Karl Friedrich Eisen, Stuttgart [Reclam]), Sechstes Buch, S. 10 ff., S. 15. 4  Montesquieu, De l’Esprit des Lois, Band 1, hrsg. v. Robert Derathé, Paris (Garnier) 1973, Buch III, Kapitel 3, „Du principe de la démocratie“ (S. 26 ff.) und öfter (in der Übersetzung von Ernst Forsthoff, Band 1, Tübingen 1951, S. 34 ff.).



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Schließlich wirkten noch drei Pessimisten auf das Programm der Tagung ein, nämlich Alexis de Tocqueville5, Oswald Spengler und Colin Crouch. Crouch spricht in seinem unterschätzten Buch zur Nach-Demokratie6 ausdrücklich vom „demokratischen Augenblick“ (dem „democratic moment“)7, wie von einem glücklichen Zwischenstand, den einige Völker der Erde für eine überschaubare Frist erreicht hatten, und den zu verspielen sie im Begriffe seien. Spengler hatte mit seinem „Untergang des Abendlandes“ mehr als 20 Jahre zuvor in der Schulbibliothek eines verschlafenen Bodenseedorfes einen politisch interessierten Gymnasiasten beunruhigt. Spengler teilt bekanntlich das geistige Leben aller Kulturen in vier Phasen ein, nämlich in das Naturschema von Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Bei Kunst und Politik hingegen sind es nur drei Epochen, welche, seiner Meinung nach, die von ihm untersuchten Kulturen allesamt schon durchlaufen haben oder künftig noch durchlaufen müssen. Auf eine „Vorzeit“ folgt die eigentliche Phase der „Kultur“ und schließlich die „Zivilisation“, in der sie nach und nach erstarren, bis schließlich eine jüngere und vitalere, neue Kultur sie beiseitedrängt, unterwirft und in der welthistorischen Führungsrolle ablöst. – Was mich seinerzeit derart empörte, so dass ich das Werk zuschlug, war Spenglers Beschreibung des ersten Zeitabschnittes innerhalb dieser Verfallsphase, eben der sogenannten „Zivilisation“. Ihn überschreibt und resümiert der Geschichtsphilosoph folgendermaßen: „Herrschaft des Geldes (der ‚Demokratie‘). Wirtschaftsmächte die politischen Formen und Gewalten durchdringend“8. 5  Zur Aktualität von Tocquevilles Prognosen vgl.: Schwächung der Demokratie durch verselbständigte Mehrebenensysteme, in: Ivo Appel, Georg Hermes, Christoph Schönberger, Öffentliches Recht ­ im offenen Staat, Berlin (Duncker & Humblot) 2011, S. 723–740. 6  Colin Crouch, Post-Democracy, Cambridge (England) und Malden (USA), Polity Press, 2004; deutsch unter dem seltsamen Titel Postdemokratie, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2008. 7  So etwa S. 26 des Originals, S. 39 der Übersetzung. 8  Vgl. die Zeittafeln zwischen S. 70 und 71 (nach dem Ende der Einleitung) in Oswald Spengler, „Der Untergang des Abendlandes,

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Der erste dieser beiden Sätze, die Gleichsetzung, brachte mich nicht nur auf: Sie war ein Stachel. In dem Buch stand neben Verquastem auch zu vieles Bedenkenswerte, um die Bemerkung einfach beiseitezulassen. Kaum anderthalb Kilometer südlich jener badischen Schulbibliothek, am anderen Ufer des Untersees, lag und liegt das Land, in dem eine streng subsidiäre und durch hervorragende Bildungsinstitutionen aufgeklärte Demokratie Oswald Spenglers verachtungsvolle Gleichsetzung zu widerlegen schien. Hier war am 5.5.1830, also schon vor der Julirevolution, die klassische Formel geprägt worden, nach der „alle Regierungen … blos aus dem Volke, durch das Volk und für das Volk da sind.“9 – Die Formel, die dreiunddreißig Jahre später Abraham Lincoln in seiner Gettysburger Grabrede wiederholte und zum Teil eines der „heiligen Texte“ der US-amerikanischen Demokratie machte.10 Bekanntlich hat zwar auch in der Schweiz „das Geld“ einen kaum überwindlichen Einfluss, aber das letzte Wort hat es bis jetzt noch nicht.11 Ausgerechnet die Schweiz mit ihrem giganUmrisse einer Morphologie der Weltgeschichte“, München (Beck) 1963. 9  Auf der Oltener Zusammenkunft der Helvetischen Gesellschaft sprach der Zürcher Oberrichter Dr. Schinz „Über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes“ und forderte, in scharfer Wendung gegen den egoistischen Kantonsgeist: „Alle Regierungen der Schweiz müssen es erkennen, daß sie blos aus dem Volke, durch das Volk und für das Volk da sind.“ Schinzens Bericht findet sich, in knappen Auszügen, bei Karl Morell, in: „Die helvetische Gesellschaft aus den Quellen dargestellt“, Winterthur 1863, S. 398. 10  Die Rede Lincolns am 19.11.1863 auf dem Gettysburger Schlachtfeld zum Gedächtnis der Kämpfer, vor allem der Gefallenen endet mit dem Aufruf zur Hingabe u. a. an das Ziel, „that government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth.“ Eine Übersetzung der gesamten Gettysburg Adress findet sich bei Ulrich Haltern: Obamas politischer Körper, BUP Berlin, 2009, S. 195 f. 11  Hier werden auf den ersten Blick viele schweizerische Intellektuelle widersprechen, die, wie etwa Jean Ziegler, ihr Land gerade in dieser Hinsicht kritisieren. Die heutige Schweiz darf jedoch nicht mit



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tischen Finanzsektor ist heute eines der Länder, die am wenigsten unter der Finanzkrise leiden. Mit ein Grund dafür könnte auch die Vorsicht und Skepsis eines Souveräns sein, der mehrfach – der Integrations-Euphorie seiner Eliten zum Trotz – auf der Wahrung von Freiheit und Unabhängigkeit bestand.12 Für eine Gesamtwiderlegung Oswald Spenglers fehlt hier der Platz.13 Aber ernstgenommen sei die Warnung jenes dem Frankreich Pompidous (1969–74), Giscards (1974–81) oder Mitterrands (1981–95), dem Schweden Palmes (1969–76 und 1982–86) oder dem Deutschland der Kanzler Brandt (1969–74) und Schmidt (1974–82) verglichen werden. Sie ist auch nicht an der Außendarstellung und Idee, sondern an der heutigen Realität des europäischen Superstaates – oder von dessen Gliedstaaten – zu messen, oder an der der USA. Nur das ist realistisch. Romantisiert man das zum Vergleich herangezogene Ausland nicht, dann ist die schweizerische Demokratie die beste der Welt, obwohl auch sie Mängel hat. 12  Vgl. die Darstellung dieses Systems bei Etienne Grisel, Initiative et référendum populaires  /  Traité de la démocratie semi-directe en droit suisse, 3. Aufl., Bern (Stämpfli) 2004. Ein weiterer Grund sind die soliden Staatsfinanzen in Bund, Kantonen und Gemeinden: Halbdirekte Demokratien verschulden sich vorsichtiger. – Dass indes auch das Verhalten der Banken selbst eine Rolle spielt, zeigt die Schieflage der UBS. 13  Vgl. zunächst schon 1925 die bedeutende Auseinandersetzung des Althistorikers Eduard Meyer, Spenglers Untergang des Abendlandes, Berlin, Verlag Karl Curtius. Er weist ihm viele Fehler nach (etwa S. 11, 14, 15, S. 16 ff.), aber lobt das Werk gleichwohl von der ersten Seite an entschieden und substantiell. Das gerade auch in Hinsichten, die die Bedrohung unserer heutigen Demokratie betreffen (siehe etwa S. 23); vgl. auch Hermann Lübbe, Alexander Demandt, Gilbert Merlio, Horst Möller, Tracy Strong und G.L. Ulmen in dem von Peter Christian Ludz herausgegebenen Band: Spengler Heute, München (Beck) 1980. Die beste Darstellung der klassischen Geschichtsphilosophie scheint noch immer Karl Löwiths in zahlreichen Sprachen und Auflagen verbreitetes Weltgeschichte und Heilsgeschehen / Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie zu sein, ursprünglich auf Englisch unter dem Titel Meaning in History  /  The theological implications of the philosophy of history geschrieben und erschienen. Zu einer in den deutschsprachigen Ländern stark rezipierten Kritik an diesem Werk vergleiche Löwiths Besprechung des Buches „Die Legitimität der Neuzeit“ von Hans

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­emokratiefeindlichen Halbsatzes. Und ernstgenommen sei d auch, und zwar erneut als Warnung, wenn er den Niedergang des aufgeklärten Abendlandes für unausweichlich erklärt. Es wäre zu leicht, die Prophetie beiseitezulächeln, weil sie mit der Analogie zu Organismen arbeitet. Was kann das Sterben oder der Tod einer Kultur bei nüchterner Betrachtung bedeuten? Spengler beschreibt es bei den schon untergegangenen. Mich beeindruckt bis heute, dass er die „Ausbildung des Cäsarismus“, den „Sieg der Gewaltpolitik … (und) zunehmend primitiven Charakter der politischen Formen“, dass er „Imperien von allmählich wieder primitiv-despotischem Charakter“14 vorhersah. Spengler hatte sein Buch im Sommer 191815 veröffentlicht, als noch in beinahe ganz Europa alteingesessene Monarchen herrschten. Bereits 1933 hatte dann in Deutschland, aber schon 1923 in Italien und sogar nahezu gleichzeitig mit dem Erscheinen von Spenglers Werk hatte in Russland mit Lenin und seiner Clique ein primitiver, moderner Despotismus die Macht ergriffen, der seinen Vorhersagen weitgehend entsprach. Für Aristoteles versteht es sich von selbst: Wissen wir, warum Verfassungen untergehen, so kennen wir damit auch die Mittel, ihren Untergang zu verhindern.16 Spenglers Warnung drängt uns zur Analyse: Die neunzig Jahre spätere Beschreibung Colin Crouchs, des Soziologen, belegt ja, dass die Demokratie zur „Herrschaft des Geldes“ verkommt.17 Aus dieBlumenberg, in: Philosophische Rundschau 15, 1968, S. 195–201, wiederabgedruckt in Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen / Zur Kritik der Geschichtsphilosophie (Band 2 der Sämtlichen Schriften, Stuttgart [Metzler] 1983), S. 452–59. 14  Ebd. (wie soeben, S. 273, Fn. 8). 15  Einzelheiten berichtet Ludz aaO. (soeben Fn. 13), S. 199; vgl. auch das Vorwort Spenglers S. IX f. im Untergang selbst, das vom Dezember 1917 datiert, aaO. (wie Fn. 8). 16  So sagt er es ausdrücklich in der Einleitung zum Achten Kapitel des Fünften Buches seiner Politeia, 1307b29. In der oben (S. 272, Fn. 2) zitierten Übersetzung von Susemihl S. 182. 17  So beschreibt Crouch ([Fn.  6] im Abschnitt Undermining government self-confidence, S. 41 ff., S. 57 f. der Übersetzung), wie



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sem Grund sprach auf der Freiburger Tagung Dietrich Murswiek ausdrücklich zur „Bankenkrise als Demokratieproblem“18. Die Vorträge von Rolf Stürner19, Heinrich Haasis20, Hanno Kube21 und Christoph Ohler22 rahmen oder illustrieren ebenfalls wesentlich u. a. diesen Problemabgrund. Das Staatsrecht und die demokratische Staatslehre müssen jene Einzelschwächen und -mängel analysieren, die gemeinsam so töten könnten, wie eine Gesamtheit von Krankheiten einen Greis töten kann. Jede für sich ist bekämpfbar. Eine dieser „Krankheiten“ scheint mir die monistische Ideologie23 zu sein, die in der Zurückdrängung des Staates prinzipiell Befreiung sieht, ohne dass seine existentiellen Funktionen ersetzt wären. Im Gegenteil: der wirklich demokratisch beherrschte Staat, in dem der aufgeklärte Bürger jede Entscheidung an sich ziehen kann24, ist der bestmögliche „die Regierung“ sich selbst „zu einer Art von institutionellem Idioten“ macht, indem sie sich wichtiger Funktionen begibt, und sie privaten Akteuren überlässt („government becomes a kind of institutional idiot“, S. 41). Sogar der aus Deutschland und den USA bekannte Aberwitz des Gesetzgebungs-Outsourcings an Anwaltskanzleien, den oben in diesem Band – aber weniger kritisch – Michael Kloepfer beschreibt (S. 65–76), kann dann folgerichtig erscheinen. 18  Dietrich Murswiek, Die Bankenkrise als Demokratieproblem, oben in diesem Band, S. 203–217. 19  Rolf Stürner, Die Marktideologie nach der Finanzkrise, oben in diesem Band, S. 231–243, darin zur Demokratieproblematik S. 238 ff., insb. 240 f. 20  Heinrich Haasis, Öffentlich-rechtlich gebundenes und regional „geerdetes“ Kreditwesen als Stabilitätsbeitrag, insb. die Sparkassen in der Bankenkrise, ebenfalls oben, S. 219–230. 21  Hanno Kube, Staatsfinanzen und Finanzmarktrisiken, oben, S. 179–201. 22  Christoph Ohler, Staat und Markt als interdependente Systeme, oben, S. 151–178. 23  Vgl. Stürners Kritik dieses modischen Weltbildchens aaO. (wie soeben Fn. 19), S. 231 ff., mit Beispielen für seine innere Widersprüchlichkeit, S. 241. 24  Das Referendum und die Initiative dürfen nur bei hohen Quoren möglich sein, damit nicht Lobbys allein durch ihre mobilisierten eigenen Anhänger Abstimmungen erzwingen können. Die Quoren

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Agent der individuellen Freiheit und auch des gesellschaft­ lichen Fortschritts. Ohne den demokratischen Staat steht der Einzelne seinen stärkeren Mitmenschen und erst recht allen Strukturen, zu denen sie sich vereinigen mögen, schutzlos gegenüber. Niemand kann sich alleine dauerhafte Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit erkämpfen. Der Staat darf darum m. E. auch nicht diejenigen Infrastrukturen privatisieren, von denen diese drei Staatszwecke abhängen.25 II. Der Staat als unromantische Technik der Freiheit 1. Ein alter Anspruch auf dem Weg zur Einlösung? Von der Unterdrückungs- zur Ermöglichungs-Institution Der moderne Staat beansprucht, Freiheit, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit zu ermöglichen. Er gewinnt dadurch eine „ungeheure Stärke und Tiefe“26, wie Hegel27 es nennt, seine müssen so hoch sein, dass sie erst erreicht werden können, wenn auch außerhalb der unmittelbaren Nutznießer eines Anliegens eine hinreichende Zahl von Staatsbürgern überzeugt ist. Gemacht werden soll ja ein allgemeines Gesetz. Misslingt diese Mobilisierung, so kann es bei der bisherigen Regelung bleiben, die die Repräsentanten – oder frühere Abstimmungen – getroffen haben. 25  Zur – teilweise parallel gelagerten – Problematik der Grenzen der Privatisierung der Daseinsvorsorge vgl. Siegfried Broß, Der Umbau mehr oder weniger existentieller Infrastrukturen, insbesondere der sozialen Sicherung, als Demokratieproblem (in diesem Band oben, S. 9–20), Eberhard Eichenhofer, Verstaatlichung oder Privatisierung sozialer Risiken und Sicherungen? (ebenfalls in diesem Band, oben, S. 21–46) und in der soeben (Fn. 19) zitierten Abhandlung von Stürner (oben, S. 231 ff.) den Abschnitt IV / 2 / b, (S. 242). Zur Privatisierung der inneren Sicherheit der Vortrag von Würtenberger, oben, S. 47–63. 26  Vgl. den § 260 von Hegels Rechtsphilosophie, der mit dem Satz beginnt: „Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ (Ausgabe Glockner, Band 7, S. 337) und dann auf S. 338 erklärt, von woher dieser erstaunliche Anspruch eingelöst werden könne: Das Subjektive werde im Objektiven, dem Staat, erhalten und vollendet. Zur genauen Konstruktion des Verhältnisses von Einzelnem, Staat und anderem sehr klar und mit zahlr. Nachweisen vgl. Kurt Seel-



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Legitimität – zumindest der Idee nach – daraus, dass er die Millionen von subjektiven Willen der Millionen von Einzelnen vereinigt und bündelt. Zwar gelingt das Zusammenleben mit unzähligen Anderen nur durch zahlreiche Beschränkungen deiner und meiner Freiheit,28 es wäre eine romantische 27

mann, Hegel und der Staat als Vertrag, in: Nachdenken über Staat und Recht, hrsg. v. M. Hochhuth, Berlin (Duncker & Humblot) 2010, S. 81 ff. Kritisch gegen Hegels Konstruktion und gerade auch gegen die Anerkennungstheorie, die Seelmann überzeugt: Gerold Prauss, Moral und Recht im Staat nach Kant und Hegel, Freiburg (Karl Alber) 2008, der Hegels Anerkennungstheorie „unhaltbar“ nennt (S. 96 ff.). 27  Das Hegelzitat wird im vorliegenden Text trotz erheblicher Distanz zu Hegels Philosophie gebraucht, um die Wirkung echter Legitimität zu veranschaulichen. Die Distanz beruht auf der freiheitsgefährdenden Grundwertung, die sich etwa im § 258 seiner Rechtsphilosophie ausdrückt, wenn Hegel (gegen die liberale Auffassung) sagt: [Der Staat] „hat aber ein ganz anderes Verhältniß zum Individuum; indem er objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist. Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen; …“ (bei Glockner S. 329). Hegels Rückfall gegenüber dem Kantschen Freiheitsdenken steckt in jenem „nur“. Gefährlich ist das darin ausgedrückte Rangverhältnis, die prinzipielle Überordnung des „objektiven“ über das lebendige, konkrete Individuum. Der Idee nach gibt es zwar keinen Konflikt, aber in praxi eben leider doch immer wieder, wie das Öffentliche Recht überall zeigt. Und in vielen dieser Konfliktfälle wirkt Hegels Idee dann als fatale Beweislastverteilung. Das Subjektive ist dem Staat oder der sonstigen Oberstruktur dann in einer Weise nach- und untergeordnet, wie es etwa dem chinesischen Denken entspricht, das Katrin Blasek, Der Staat, die Gesellschaft und der Einzelne in China (oben in diesem Band, S. 245–69) dargestellt hat. 28  Worauf insbesondere Kelsen immer wieder hingewiesen hat. Vgl. dazu schon seine früheste Demokratie-Arbeit „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ (1. Aufl. 1920), wo er S. 3 von einer „fast rätselhaften Selbsttäuschung“ spricht (hier zitiert nach dem Sammelband: Hans Kelsen, Schriften zur Verteidigung der Demokratie, herausgegeben von Matthias Jestaedt und Oliver Lepsius, Tübingen [Mohr] 2006) und seine letzte, Foundations of Democracy (1955), wo er noch einmal ausführlich darauf kommt (bei Jestaedt / Lepsius aaO., S. 248–385, S. 277 ff.). Am anschaulichsten im § 44 „Autokratie

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Unehrlichkeit, das zu leugnen. Aber auch wenn man Rous­ seaus argumentativen Kniffen und Verklärungen29 (und erst recht Hegel30) nicht gänzlich folgen will, wonach im Staat ein jeder so frei sei, wie er es „ursprünglich“, d. h. wie er es in einer ohne Staat gedachten Gesellschaft wäre, so gibt Rous­ seaus Idee den Anspruch doch richtig wieder. Der Staat ist jedoch nur Mittel zum Zweck. Er ist die große Technik, die den Einzelnen hilft, auch den Schwächsten hilft, ein Minimum an Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu erhalten und alle übrigen politisch wichtigen Fragen nach fairen und akzeptablen Kampfregeln auszufechten. Eine solche Staatsbegründung gehört zur Moderne31, auch wenn die Idee des Gesellschaftsvertrages und anderer Vereinigungen von Subjektivität und Herrschaftsstruktur uralt ist32. und Demokratie“ seiner Allgemeinen Staatslehre (1925 [hier zitiert nach dem Nachdruck von 1993, Verlag der österr. Staatsdruckerei, Wien]), wo er erneut von jener „fast rätselhaften Selbsttäuschung“ spricht (S. 322) und sodann schreibt: „Die im Grunde genommen unrettbare Freiheit des Individuums tritt allmählich in den Hintergrund, und die Freiheit des sozialen Kollektivums in den Vordergrund. […] Der Szenenwechsel ist ein solch vollständiger, dass es im Grunde genommen nicht mehr richtig ist, zumindest nicht mehr darauf ankommt, zu behaupten, der einzelne Staatsbürger sei frei.“ (S. 325 [Hervorhebung bei Kelsen.] Diese Passage aus der Allg. Staatslehre bringen auch Jestaedt / Lepsius aaO., S. 60). 29  Die Verklärung wird ständig deutlich, u. a. im 4. Buch des Gesellschaftsvertrages, Kap. 2, Des suffrages / Von den Abstimmungen: Jean-Jacques Rousseau, Du contract social ou principes du droit politique, S. 347 ff. in Œuvres complètes III, Paris (Gallimard) 1964, S. 440, deutsch von Hans Brockard, Stuttgart (Reclam) 1977, S. 116, wo Rousseau zustimmend berichtet, auf den Ketten der Galeerensklaven und über den Gefängnistoren stehe in Genua das Wort Libertas, Freiheit. Vgl. auch Buch I, Kap. 5–8, S. 359–365, deutsch S. 15–23. 30  Hegel konstruiert bekanntlich völlig anders als Rousseau (dazu insb. die Abhandlungen von Seelmann und Prauss aaO. [soeben, S. 278, Fn. 26]). 31  Vgl. dazu anschaulich Hegels Rechtsphilosophie (aaO. [Fn. 26]), § 124, S. 182. 32  Gewiss behält die Vorstellung einer verpflichtenden Legitimität der Nation – früher im Fürsten verkörpert – bis hin zum Opfer für



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Diese neue und stärkere Legitimität scheint mir, im Unterschied zu vielen Autoren aller Epochen33, stärker als verklärende Mythen und letztlich ausreichend. Sie besteht aber erst seit der Hochmoderne und auch nur dort, wo zweierlei vorliegt: Erstens die echte und faire Chancengleichheit, die zur Gerechtigkeit gehört, und zweitens, wenn das Gesamtsystem redlich und mit ständiger Selbstkritik auf die Verwirklichung der Einheit der subjektiven Freiheiten mit den demokratischen Systemzielen hinarbeitet. Die Freiheit und Chancengleichheit kann dann, wie es der Amerikanische Traum gerade durch Obamas unwahrscheinlichen Aufstieg wieder gezeigt hat, selbst zum Mythos werden; allerdings zu einem realen.34 Die Demokratie bleibt aber gleichwohl, trotz dieses ihres MythosPotentials, was auch der freiheitliche Grundrechtsstaat leider immer bleibt: ein kompliziertes technisches Problembündel. Die gewaltige Funktionseinheit dieser beiden Freiheitswerkzeuge, der Demokratie und des Rechts, muss darum die ganze die Nation – in den meisten Staaten bis heute ihre klassische Rolle. Vgl. etwa zu den USA anschaulich und tiefgründig das schon oben (Fn. 10) zitierte Buch von Ulrich Haltern: Obamas politischer Körper. Er nimmt Ernst Kantorowiczens Arbeit zu den zwei Leibern des Königs wieder auf, vgl. etwa S. 35 ff., und passim, und wendet sie auf die Erscheinung des derzeitigen Präsidenten an, der seinem Buch den Namen gab. Ich zöge es aber vor, das nur als soziologischen und psychologischen Befund hinzunehmen. Es kommt nützlich zur echten Legitimität hinzu, und es mag als Ersatz in solchen Systemen, Lagen und Epochen dienen, in denen die echte, nämlich materielle Legitimität (noch) fehlt. Die materielle Legitimität aber sollte aus der gleichen Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit aller entspringen. Vgl. zum ganzen Problemfeld Thomas Würtenberger, Die Legitimität staat­ licher Herrschaft. Eine staatsrechtlich-politische Begriffsgeschichte, Berlin (Duncker & Humblot) 1973 (zugl. Diss Freiburg i. Brsg. 1971). 33  In jüngster Zeit deutlich vor allem Ulrich Haltern aaO. Vgl. auch wiederum Würtenberger (zu beiden siehe Fn. 32). 34  Haltern (aaO. wie Fn. 10 und soeben Fn. 32) ordnet das meisterlich inszenierte Auftreten Obamas vielleicht zu recht anders ein, vgl. etwa S. 496. Dass aber ein solcher Mehrfachaußenseiter sich überhaupt um die Präsidentschaft bewerben und sogar auch noch siegen konnte, belegt, ganz nüchtern, die Wahrheit des egalitären Gerechtigkeitsversprechens, das man den Amerikanischen Traum nennt. Hier sehe ich den Kern der echten modernen politischen Legitimität.

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Zeit geölt, geflickt oder gar repariert, muss überwacht, gesteuert, gebremst oder angeschoben werden wie andere unübersichtliche und mächtige Maschinenwerke auch. 2. Ständige Selbstkritik des freiheitlichen Systems Wenn es oben relativierend hieß, „der Idee nach“ diene dieser Staat der Freiheit, dann ist das die Kritik, die keine Sekunde aussetzen darf. Beim Verzicht auf Kritik drohte der Zynismus des bloßen Funktionierens. Das aus der Freiheit der Individuen gerechtfertigte System Bundesrepublik Deutschland will sich aber keinerlei Funktionszynismus leisten35. Der Zynismus, der unvermeidlich zum politischen Geschäft zu gehören scheint, gehört nicht zum Recht. Er muss daher im staatlichen Innenverhältnis, also zwischen den Rechtsunterworfenen und der Öffentlichen Gewalt, so weit zurückgedrängt werden, wie irgend möglich. Man könnte diese prinzipielle Selbstkritik eines Systems auch auf die Formel bringen „Kant gegen Luhmann“. Das „Modell Luhmann“ stünde dabei für ein System, das unvermeidlich all das ausblenden muss, was sich ihm nicht durch eine Eingabe im richtigen „Code“ formal anpasst. Mit einem genialen Bild hat der ironische Soziologe solche Eingaben, auf welche die betreffende Gesellschaft nicht reagieren könne, als „störendes Rauschen“36 bezeichnet. Das System genügt sich selbst. Dem stünde das freiheitliche und selbstkritische „Sys35  Das normative System Bundesrepublik zeigt diesen „Willen“ zur Selbstkritik durch zahlreiche Rechtsinstitute oder Mechanismen, die einer zu scharfen Durchsetzung entgegenstehen, von der Gewaltenteilung und vergleichbaren Sicherungen über die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die qualifizierten Grundrechtsschranken, die Wesensgehaltssperre bis hin zur Verhältnismäßigkeit. Man kann wohl von einem insofern dialektischen Grundrechtsstaat sprechen, weil er Widersprüche in sich aufnimmt und unterdrückungsfrei aufzuheben strebt oder eben aushält. 36  Vgl. etwa Niklas Luhmann, „Ökologische Kommunika­ tion  /  Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?“, 3. Aufl., Opladen (Westdeutscher Verlag) 1990, S. 128.



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tem Kant“37 gegenüber. Wendet man nämlich den kritischen Idealismus des Königsberger Philosophen – trotz der vereinzelten inneren Widersprüche seines Gedankengebäudes – auf die Probleme des hochmodernen Staates an, so wird die selbstkritische Idee des „Dinges an sich“ auch für die Rechtstheorie und Staatsphilosophie fruchtbar: Das „Ding an sich“ hält in der Erkenntnislehre Kants stets die Erinnerung daran wach, dass der Erkenntnisgegenstand, also eben das jeweilige „Ding“, um dessen Erkenntnis ich mich gerade bemühe, nie mit vollständiger Gewissheit gänzlich als erkannt verbucht werden darf. Ich muss, auch wenn es in aller Regel keinerlei Rolle spielen wird (wie Kant selbst sagt38), immer skeptisch bleiben, wenn ich etwas erkannt zu haben glaube. Das heißt: Die Dinge, die der Naturwissenschaftler sieht, sind nur die „Dinge für ihn“. Sie erscheinen ihm so, wie sie ihm, angesichts seines Erkenntnisapparates, erscheinen müssen: Sie sind nicht die Dinge „an sich“. Im alltäglichen und auch im naturwissenschaftlichen Normalfall ist diese Unterscheidung zwar bedeutungslos.39 Die neuere 37  Man könnte erwägen, statt Modell oder System Kant auch Modell oder „System Wolzendorff“ zu sagen, doch geht dieser Hegelianer eben davon aus, die Widersprüche könnten endgültig aufgehoben werden, vgl. Kurt Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt  /  Zugleich ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des modernen Staatsgedankens (Neudruck 1961 der Ausgabe Breslau 1916), etwa S. 534. Dazu und zur soeben (oben in Fn. 35) dargelegten Idee des dialektischen Grundrechtsstaates vgl. im Einzelnen Relativitätstheorie des Öffentlichen Rechts, Baden-Baden (Nomos) 2000. 38  „Es ist gänzlich einerlei“, sagt Immanuel Kant, „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, welche als Wissenschaft wird auftreten können“, § 17 (in der Ausgabe v. Rudolf Malter, Stuttgart [Reclam] 1989, S. 58), und benutzt das Wort „einerlei“ an der Stelle sogar zweimal. 39  Vgl. insb. Kants ebenzitierte Prolegomena-Passage. Der Unterschied ist (im Normalfall) in der Tat so „einerlei“, d. h. bedeutungslos, dass viele Erkenntnistheoretiker ihn streichen wollen, darunter, mit Hans Albert oder den Neukantianern auch solche, die Kant sehr nahestehen. Kant besteht jedoch auf dem Unterschied und hält sein

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Physik hat jedoch gezeigt, dass die Idee des Dinges an sich, also der Unterschied zwischen der scheinbar eindeutigen menschlichen Erfahrung und den wirklichen physikalischen Sachverhalten, nicht nur aus Gründen der Schicklichkeit aufrechterhalten werden sollte. In Grenzfällen braucht man sie. Strukturell ähnlich liegt es in den Problembereichen moderner Staatlichkeit. Die klassisch-autoritäre Staats- und Gehorsamsbegründung, wie sie sich bei Thomas Hobbes findet, trägt in ihnen nicht mehr. Das demokratische, rechtsstaatliche System muss darum gegenüber seinen eigenen Setzungen und Mechanismen stets selbstkritisch bleiben. Es kann sich vor allem nicht jenen Zynismus des Funktionierens leisten, obwohl es doch schon prinzipiell der Verwirklichung der Interessen der Menschen dient. Gleichwohl muss es sich ständig selbst hinterfragen. Es muss seinen jeweiligen „vorläufigen“ Zustand, der die konkrete bisherige Verwirklichung seines Freiheits- und Gerechtigkeitszwecks ist, dann hinterfragen, wenn ihm die vorrangigen existenziellen Anliegen gegenübertreten. Das System des Grundgesetzes enthält zu diesem Zweck zahlreiche institutionalisierte Einfallstore zur Selbstkritik. Doch sie genügen nicht immer, wie die vergangenen Jahre zeigen. Die 2012 noch immer andauernde internationale Finanzwirtschafts-Krise, die zur Euro-Währungs-Krise u. a. auch deshalb wurde, weil die riesige Lobby der Banken sich für die winzige Gruppe nutznießender Geldinstitute gegen die Interessen der Realwirtschaft, gegen den Willen der Bevölkerungen, und auch gegen Recht und Vernunft durchsetzen

System dadurch selbstkritisch, bewahrt es vor der Abschottung. Sie würde für die Erkenntnis Taubheit und Blindheit bedeuten, und für die Praxis Luhmann’schen Zynismus. Zu diesen Analogien der naturwissenschaftlichen Forschung zum Rechts- und Staatsdenken die eben (Fn. 37) erwähnte „Relativitätstheorie“ sowie vor allem: Die Rechtsphilosophie als Einführung in die Philosophie überhaupt, in: Waldemar Schreckenberger (Hrsg.), „Allgemeine Grundlagen für Recht, Rechtspraxis und Verwaltung“, Speyerer Arbeitsheft Nr. 198, Speyer (Selbstverlag der Deutschen Hochschule für Verwaltung Speyer) 2009, S. 101–123.



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darf,40 scheint mir ein gutes Beispiel dafür zu sein, dass das Gesamtsystem schleunigst selbstkritisch innehalten und sich auf seine individualbezogenen Urzwecke zurückbesinnen muss: auf Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit. – Aber nicht abstrakt, also darauf, ob sie nach den theoretischen FunktionsCodes des Systems noch gegeben sind, sondern auf ihre Realität. III. Die Finanzkrise als Wieder-Privatisierung der Gerechtigkeit Die entscheidende Bedrohung des Westens schafft er selbst: durch seine mitunter zwar murrende, im Ergebnis aber vorbehaltlose Unterwerfung unter die Bedürfnisse irregeleiteter Geldinstitute, die mit der Geldnot ganzer Staaten drohen können. Diese Unterwerfung der Staaten und ihrer Volkswirtschaften schmälert die Löhne und Ersparnisse durch Inflation und gefährdet die Realwirtschaft. Zugleich führt sie die Demokratie als wirkungslos, eben als Herrschaft des Geldes vor. So delegitimiert sich das gesamte System. IV. Finanzkrisenlösungs-Vorschlag: Ein Verbot und gestufte Abgaben 1. Eine Positivliste Ich schlage zwei Maßnahmen vor: Eine Positivliste für erlaubte Finanzprodukte, d. h. ein Verbot jeder Art von Geldund Finanzproduktenhandel, die sich nicht in einem von der Regulierungsbehörde41 aufzustellenden positiven Katalog er40  Vgl. im Einzelnen dazu die (bereits soeben, in den Fn. 18 bis 25 zitierten) Darstellungen von Broß, Haasis, Eichenhofer, Ohler, Kube, Murswiek und Stürner in diesem Band. 41  Sowohl die vor und in der Finanzkrise überforderte BaFin als auch die ESMA und ähnliche EU-Strukturen müssen durch die maßgebliche – d. h. nicht bloß beratende, sondern auch letztentscheiden-

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laubter Produkte findet.42 Neue Finanzprodukte wären bei der reformierten43 Behörde anzumelden und erst nach sorgfältiger Prüfung zuzulassen. Leuchtet ihr Nutzen für die Realwirtschaft nicht ein, so bleiben sie verboten. Angesichts der erwiesenen Gefährlichkeit der entregelten Finanzmärkte wäre das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt grundrechtlich kein Problem, denn den Handel mit neuerfundenen, noch ungenehmigten Finanzprodukten schützt allein die Allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG. Der Art. 12 GG schützt nur erlaubte Betätigungen. Die liberale Grundregel, die unser Gemeinwesen zum Glück prägt, „was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt“, kehrte sich für diesen Bereich also um. Das tut sie jedoch bei vielen Gefahren des Wirtschafts- wie auch des Ordnungsrechts. Die seit Jahrhunderten gebräuch­ lichen finanziellen Geschäfte erhielten diese Genehmigung selbstverständlich, vermutlich ebenso ein Teil der erst in den letzten Jahrzehnten entwickelten Versicherungen und ähnlichen Papiere. Papiere jedoch, die es nicht auf die Positivliste schaffen, wären verboten, der Handel mit ihnen strafbar. 2. Eine Brems- und Realisierungsabgabe Jene Positivliste wäre einer von zwei Schritten zur Zähmung der Finanzmärkte. Der zweite Schritt wäre eine gestufte Abgabe auf fast jede finanzielle Transaktion. Abgabenfrei blieben nur unmittelbar an die Realwirtschaft anknüpfende Bargeschäfte oder Überweisungen, Sozialversicherung, Unterhalt, gemeinnützige Spenden sowie der Devisentausch in dem geringen für Auslandsreisen üblichen Umfang. Von jedem anderen Geld- oder Wertpapiergeschäft wäre ein Betrag abzuführen, dessen Höhe von den verschiedenen Gefahren abhinge, die es zu bannen gilt. de – Mitarbeit von Fachleuten des Netzwerkes Attac und anderer kritischer Köpfe verstärkt werden. 42  Dazu, warum Verbote unausweichlich sind, Stürners Aufsatz (oben in diesem Band), S. 238 f. 43  Vgl. den Reformvorschlag in Fn. 41.



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Diese Abgabe stiege zunächst desto höher an, je abstrakter (d. h. je weiter „entfernt“) das Geschäft von einem realwirtschaftlichen Dienst oder Gut ist. Die Steigerung der Abgabe nach Abstraktheit nähme einem Gutteil der Geschäfte, die heute die Realwirtschaft an Bedeutung verdrängt haben und bedrohen, den Reiz. Die neue Belastung muss so schwer wiegen, dass das Verhältnis von Finanzmärkten und Realmärkten sich wieder so umkehrt, dass die Geldwirtschaft der Realwirtschaft nur noch dient. Ein Beispiel: Beim Erwerb eines Wagens würde diese neue Abgabe genauso wenig erhoben, wie auf den Kauf von Brot oder die Miete eines Hotelzimmers. Würde das Auto allerdings in fremder Währung bezahlt, so schlüge der Staat indirekt – nämlich auf den Wechselkurs – eine – wenn auch geringe – Abgabe auf. Sie soll darauf hinwirken, dass der Geldwechsel wirklich nur dem Kauf realer Güter, und nicht der Spekula­tion dient. Der Geldwechsel ist ja vom realen Gut um einen Schritt weiter entfernt („abstrakter“), als die Bezahlung des Kaufgegenstandes selbst es ist. Ein Beispiel für die nächste Abstraktionsstufe wäre bei diesem Autokauf folgende Variante: Nicht nur ein Wagen werde erworben, sondern gleich 50, und es seien auch keine Normal-Pkw, sondern SonderGroßlaster für chinesische oder südamerikanische Minen. In solchen Fällen wollen sich legitimerweise Besteller wie Hersteller gegen verschiedene typische Risiken sichern: Je nachdem, in welcher Währung bezahlt werden soll, bedrohen Wechselkursschwankungen sie existenziell. Versicherungen hiergegen sind üblich. Sie, nennen wir sie Erstversicherungen, soll die Finanztransaktionsabgabe nicht abwürgen. Sie soll diese Art von Versicherungen nur – ganz geringfügig – verteuern. Noch etwas teurer aber soll sodann der nächste Aufschlag eine eventuelle Zweitversicherung machen, also eine Rückversicherung jenes ersten Versicherers, der das ursprüngliche Kursschwankungsrisiko versichert hat. Auch diese Rückversicherung mag u. U. sinnvoll sein, deswegen bleibt sie erlaubt. Aber die spekulative Findigkeit des Rückversicherers steht der Realwirtschaft, der sie dienen soll, weil es sie zu schützen und

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stärken gilt, erneut um einen Abstrak­tionsschritt ferner. Sein spekulativer Geschäftssinn schadet so wenig, wie andere Phantasieformen; nur zügelt die schrittweise gelinde erhöhte Abgabe die Umsetzung, je abgeleiteter die Finanzprodukte sind, die er erfindet. Das vorgeschlagene Abgabensystem soll auch bremsen. Insbesondere den Aktienhandel soll es verlangsamen und wiederverwirklichen, d. h. wieder an die wirtschaftliche Wirklichkeit der Unternehmen binden. Ein System von Zuschlägen sollte den Aktienhandel so erschweren, dass zweierlei aufhört, was heute die Regel ist: Es soll niemand mehr aus Hysterie verkaufen; und es sollen möglichst auch nur noch wenige deshalb verkaufen, weil andere ankündigen, sie selbst oder gar Dritte verkauften möglicherweise bald. Es sollte ein totaler Umsturz dahingehend stattfinden, dass Aktionäre tendenziell nur noch aus eigener, letztlich Realwirtschafts-bezogener Wertung handeln: Der Aktionär soll tendenziell nur noch verkaufen, weil er selbst weiß oder für wahrscheinlich hält, das Unternehmen erzeuge weniger wertvolle Dinge, als er es einst beim Aktienkauf geglaubt hatte. Die betreffenden Abgaben müssen so hoch werden, dass sich Investitionen in volkswirtschaftlich zweitrangige oder gar fruchtlose Finanzgeschäfte und Spekulationen weniger lohnen als Investitionen in Güter und Dienste der Realwirtschaft. Die Höhe der Zuschläge auf die verschiedenen Finanzgeschäfte stärkt die Chancen der Realwirtschaft: Der Neffe, der eine Dönerbude, die Immigrantentochter, die ein Solarunternehmen plant, müssen Aussicht auf Kredit haben: nicht nur durch Freundschaft, Verwandtschaft oder Wohltätigkeitsprogramme, sondern weil es sich lohnt, ihnen etwas zu leihen. Lohnen wird sich das aber erst dann, wenn die Renditen der Finanzwirtschaft so schrumpfen, dass sie prinzipiell geringer sind, als die der Realwirtschaft. Darum müssen auch die Aktien von Geldhäusern nicht nur beim An- und Verkauf ­ stärker belastet werden, sondern sie sollten auch während sie gehalten werden, höher belastet sein, als Anteile an den



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Unternehmen der Realwirtschaft.44 Das erhöht den Anreiz für das Kapital, der Realwirtschaft zuzufließen. Allerdings muss die Belastung beim Halten fühlbar geringer bleiben, als die Belastung beim An- oder Verkauf dieser Papiere.45 Damit ist grob das „Was“ des Abhilfevorschlages skizziert. Die bisher von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Finanztransaktionsabgaben waren ungeeignet, da sie u. a. gerade für besonders gefährliche Geschäfte Lücken ließen. V. Durchsetzung des Verbots und der Abgabe Die Durchsetzung fiele nicht leicht, wäre aber möglich. Sie wäre möglich, weil die beiden Maßnahmen einleuchten und weil Politik im demokratischen System durch Überzeugung stattfinden kann. 1. Differenzierung bei der Gegnerschaft Das Königreich Schweden, so liest man, sei gegen die Einführung einer Finanztransaktionsabgabe. Das trifft heute zweifellos zu, aber Schweden ist nicht gegen diese Art von Politik überhaupt. Schweden hatte die Zügelung des Finanzsektors selbst versucht und dabei allerdings erfahren, dass sie internationale Solidarität voraussetzt. Da es an ihr fehlte, wanderten die entsprechenden Geldgeschäfte zum schaden­ frohen Nachbarn Dänemark ab. Es ist also falsch, wenn die derzeitige deutsche Diskussion Schweden undifferenziert als Verweigerer bucht. Wie aber soll die Finanztransaktionsabgabe gegen den Widerstand Großbritanniens und der USA durchgesetzt werden? 44  Das folgt schon aus dem Grundsatz, dass die Abgabe wächst, je entfernter („abstrakter“) das besteuerte Geschäft von der Realwirtschaft ist. 45  Die Verlangsamung milderte die Auswirkungen von Hysterie und oberflächlichem Wirtschaftsjournalismus wieder ab, die durch die Beschleunigung sowohl der Nachrichtenübermittlung als auch der Geschäftsabwicklung zugenommen haben.

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2. Entscheidungsdynamik im Europäischen Bund Die Antwort mögen drei historische Beispiele plausibel machen: der sogenannte Luxemburger Kompromiss, das Ringen um die italienischen Stahlsubventionen, und die deutsche Wiedervereinigung. Zunächst zur Wiedervereinigung: Jeder, der 1990 Zeitung las oder wenigstens fernsah, erinnert sich an den leidenschaftlichen und mitunter verzweifelten Kampf, den vor und hinter den Kulissen zahlreiche eng mit uns befreundete, zum Teil sogar mit uns verbrüderte Staaten gegen die deutsche Einheit führten. Am offensten kämpften Italien, Frankreich und Großbritannien: Neben den Protesten Margaret Thatchers sei vor allem an François Mitterrands Rettungsflug in die sterbende DDR erinnert. Es nützte alles nichts. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl hatte erkannt, dass ihm die Wiedervereinigung die Macht erhalten würde, wenn er sie fertigbrächte. Deutschland setzte sich durch, weil zwei Bedingungen zugleich vorlagen: Sein gerechtes Anliegen leuchtete vielen Menschen aller Schichten und Milieus unmittelbar ein. Sogar entschlossene Gegner mussten einräumen, dass das von ihnen gefürchtete Projekt doch immerhin auch das eine oder andere Argument für sich anführen konnte. Der zweite Grund aber dafür, dass die Wiedervereinigung gegen alle Widerstände gelang, war schlicht, dass (die Mehrheit in) Deutschland sie wirklich wollte. Entscheidend für das Argument ist die Verknüpfung der beiden Aspekte: Der Wille eines Mitgliedstaates, verbunden mit der Überzeugung, innerhalb dieses Mitgliedstaates selbst, aber auch bei ausländischen Beobachtern oder Akteuren, dass das Anliegen zumindest gut vertretbar, wenn nicht sogar gerecht sei. Das zweite Beispiel für die Durchsetzung eines einzelnen Mitgliedstaates, der etwas „wirklich will“, ist der sogenannte Luxemburger Kompromiss, den Frankreich unter Charles de Gaulle durch seine „Politik des leeren Stuhls“ errang. Das dritte und letzte Beispiel sind die Subventionen, die geschick-



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te und in Brüssel gut vernetzte Mitgliedstaaten trotz der phasenweise pflichtmäßigen Härte der Kommission jahreoder gar jahrzehntelang nicht von ihren begünstigten Unternehmen zurückfordern, ungeachtet ihrer Rechtswidrigkeit46 und verhängter Sanktionen. Schon die Kommissions- und Gerichts-Entscheidungen selbst, deren Vollzug man später auch noch jahrelang verschleppen wird, lassen sich ja ihrerseits bereits durch vielfältige Haupt- oder Nebeneinwände verschleppen, bis, um des Friedens, um der nächsten Integrationsstufe oder auch um einer Krisenbewältigung willen, der Durchsetzungsdruck nachlässt.47 Es ließen sich weitere Beispiele dafür finden, dass Mitgliedstaaten das, wozu sie aus rein innenpolitischen Gründen fest entschlossen sind, in der EU durchsetzen, auch wenn die Mehrheit der übrigen Mitglieder dagegen ist. Da diese einseitigen Durchsetzungen aber kein 46  So etwa Italien bei seinen Stahlsubventionen: vgl., mit Vorgeschichte, das Lucchini-Urteil des EuGH vom 18.7.2007 (C-119 / 05). – Dazu die Aussagen und Abhilfepläne bereits zu Beginn der 1980er Jahre im Gespräch des EG-Kommissars Etienne Graf Davignon mit dem Spiegel zum Ausgangskonflikt um die Stahlsubventionen der europäischen Staaten (Heft 33 / 1981, S. 70 ff.). 47  Vgl. auch die im rechtlich wie wirtschaftlich vielschichtigen, letztlich aber doch eindeutigen Beihilfenstreit um France Télécom ergangenen Entscheidungen von EuG (Urt. v. 30.11.2009, T-427 / 04 und T-17 / 05 sowie vom 21.5.2010, T-425 / 04, T-444 / 04, T-450 / 04 und T-456 / 04) und EuGH (Urt. v. 18.10.2007 – C-441 / 6 [Slg. 2007, I-8887]), und letztlich dann der Kommission: Der Fall und mehrere der zu ihm bislang gefällten Entscheide illustrieren m. E. die seit Anbeginn bekannte Entschlossenheit Frankreichs, sein Unternehmen zu schützen und zu fördern. Die Kommission gab schließlich nach, indem sie bis heute nicht die Rückforderung anordnete, wozu sie an sich verpflichtet wäre, nachdem sie (gegen den Protest Frankreichs) eine rechtswidrige Beihilfe festgestellt hatte. Allerdings sollte kein falscher Eindruck entstehen: Im Grundsatz legen die Beihilferechtler der DG COMP (des Directorate General for competition) ihre Kompetenzen eher großzügig aus und lassen den Mitgliedstaaten nur wenig politischen Spielraum. Vgl. dazu mit Beispielen Ulrich Soltész, Wo endet die „Allzuständigkeit“ des Europäischen Beihilferechts? – Grenzen der beihilferechtlichen Inhaltskontrolle, EuZW 2008, 97 f. Er spricht – allerdings für ganz andere Fälle als France Télécom – von „Kompetenzanmaßung“.

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Ruhmesblatt der Gesamtinstitution EU sind, werden sie nicht besonders stark bekannt gemacht. Die angeführten Beispiele sprechen für die Möglichkeit, internationale Finanzabgaben und die Positivliste durchzusetzen, denn jene doppelte Erfolgsbedingung liegt noch ausgeprägter vor als bei der deutschen Wiedervereinigung: Die Notwendigkeit einer Finanztransaktionsabgabe wird weltweit eingesehen, auch wenn diese Einsicht noch nicht weltweit herrscht. In Großbritannien und den USA sind die derzeitigen Regierungen dagegen. Doch sogar in diesen beiden Ländern fordern starke Stimmen eine solche Abgabe, obwohl sie einer im jeweiligen Inland extrem starken Lobby – der Londoner City und der Wall Street – einen Strich durch große Teile ihrer Rechnung machen würde. In Großbritannien ist es immerhin Ed Miliband, und in den USA wird man hoffen dürfen, dass Präsident Obama nach der gewonnenen Wiederwahl möglicherweise ein offeneres Ohr für die Forderung ungezählter Demonstranten und Bankenbesetzer, des Netzwerks Attac und der weltwirtschaftlichen Vernunft haben wird. Entscheidend ist jedoch die Schlüssigkeit des Konzepts einer internationalen Finanztransaktionssteuer. Sie wird kaum je prinzipiell abgelehnt, sondern meist nur wegen der Unklarheiten über die Möglichkeit und die Einzelheiten ihrer Durchführung. Träten die beiden Staaten, in denen sie besonders starke Anwälte hat, Deutschland und Frankreich, massiv genug auf, so wäre es durchaus möglich, dass auch in zahlreichen anderen Staaten – Schweden wurde oben erwähnt – der Widerstand zusammenbräche. Das entschiedene Auftreten wäre allerdings Bedingung. Die Vertreter müssten in jenem Stil verhandeln, der für die deutsche Diplomatie – aus guten Gründen – glücklicherweise unüblich ist. Sie müssten stur – wie de Gaulle 1965 und Kohl 1990 und wie die italienische, die polnische, die griechische, die britische und zahlreiche andere europäische Regierungen in unzähligen Konflikten mit dem Ausland – ihr Ziel (das „Ob“ des Verbots und der Abgabe) erkämpfen. Sie dürften allenfalls über Art und Zeitpunkt



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(das „Wie“) wirklich verhandeln. In der Debatte müssten die Verbots- und Steuergegner, hinter aller diplomatischen Höflichkeit, Kompromisslosigkeit erkennen. Diese Entschlossenheit veränderte die öffentliche Meinung auch in den bislang gegnerischen Ländern, weil, wie gesagt und selbstverständlich, überall Menschen das prinzipielle Missverhältnis von Finanzwirtschaft und Realwirtschaft wieder in Ordnung bringen wollen. – Sobald sie es begriffen haben. 3. Der rechtliche und naturrechtliche Kern des politischen Willens Die Festigkeit des Auftretens ist strategisch notwendig und hat den erwähnten wirtschaftspolitischen Grund, die Rettung der Realwirtschaft. Sie hat aber auch noch einen moralischen Grund. Zunächst zur Strategie: Die Durchsetzung begänne mit der Verweigerung einer hinreichenden Zahl von Abgeordneten des Deutschen Bundestages – Sozialdemokraten, Christdemokraten, Liberale und „Linke“ haben sich bereits bei früheren Abstimmungen verweigert – gegen eine weitere Stützung des internationalen Finanzsystems mit deutschen Garantien und Beträgen. Das zwänge die Bundesregierung, nach außen massiver aufzutreten, als sie es bislang möchte. – Warum aber sollten Bundestagsabgeordnete sich mit solcher Festigkeit für eine wirtschaftspolitische Position stark machen, die die Mehrheit der Parteivorstände und Medien bislang ablehnt? Hier kommt nun das rechtliche und moralische Argument ins Spiel. Es beruht auf der Systemrelevanz von Gerechtigkeit, Gleichheit und Fairness. Deutschland muss die Realwirtschaft, und zwar sowohl die Leistung des produktiven Unternehmers als auch die Arbeitsentgelte, wie jeder Sozialstaat, mit empfindlichen Abgaben belasten. Wer gut verdient, hält das gut aus, auch wenn die Verschwendung ihn ärgern, ja mitunter empören mag. Wer aber weniger verdient, dem fehlen an vielen Stellen jene Summen, die die öffentliche „Governance“ seinem bescheidenen Wohlstand noch entzieht. Erst recht mäßig ist die Sicherung durch die so-

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zialen Netze. Die Unterstützung des „regulären“, d. h. des Kurz­ zeit-Arbeitslosen, ist, gemessen an dem was er – unter Umständen jahrzehntelang – in die Solidarkassen einbezahlt hat, stark herabgesetzt, aber reicht doch aus. Doch spätestens bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende, die das reguläre Arbeitslosengeld allzu rasch ablöst, zeigt sich ein moralischer „doppelter Boden“ der Steuer- und Finanzmarkt-Politik. Gewiss soll die Grundsicherung dazu drängen, dass man alle Kräfte mobilisiert, sich notfalls sogar noch mit 40, 50, 60 Jahren sozusagen „neu erfindet“, um wieder in bezahlte Arbeit zu kommen. Der Ansatz ist zwar im Prinzip und genau dann, trotz des gewaltigen Anspruchs an den Einzelnen, fair und richtig, wenn „das Ganze“ des Systems moralischen und rechtlichen Mindestbedingungen genügt48; daran aber fehlt es zunehmend. Und dieser neu wachsende Mangel der Gesamtverfassungsordnung zeigt das Kippen, das geschichtsphilosophische Umschlagen, dem das vorliegende Wissenschaftsprojekt entgegenarbeitet: Nach Jahrtausenden letztlich fehlender oder doch fragwürdigster, erst in der Neuzeit allmählich entstehender und wachsender Legitimität des Staates, die in der Hochmoderne schließlich erreicht war, gibt der Staat diese Legitimität (und damit sich selbst), durch die Verwechslung des geldwerten Vermögens mit der persönlichen menschlichen Freiheit, unversehens wieder auf. Denn die nach Jahresfrist eintretenden Beschränkungen des Arbeitssuchenden („Hartz-IV“-Empfängers), der u. U. jahrzehntelang einbezahlt hat, bleiben nur systemlogisch, wenn das Gemeinwesen auch sonst streng und sorgfältig prüft, ob geforderte Solidarität wirklich erforderlich ist. Diese Systemlogik fehlt aber offensichtlich, wenn die Geldwirtschaft, ohne 48  Der Hauptmangel ist die oft nahezu unverblümte Altersdiskriminierung, die die obigen Forderungen für viele Stellensuchende wie einen Hohn erscheinen lassen kann. Nur wenn sie ernsthaft bekämpft wird, lassen die Forderungen sich halten. Dann sind auch Sparsamkeit und ihre sorgfältige Nachprüfung an der Basis der gesellschaftlichen „Pyramide“ geboten und zumutbar. Aber eben nur solange, wie sie prinzipiell auch „oben“ herrschen.



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realistische Aussicht auf Besserung, auf Kosten der Realwirtschaft subventioniert wird, anstatt ihrerseits die Realwirtschaft zu beflügeln. Dieselbe Staatlichkeit, dasselbe öffentlich-rechtliche Gesamtsystem, kann nicht einerseits Kindergärten schließen und Krankenbehandlungen schmälern und andererseits private Bankvorstandsgehälter und kontraproduktive Spekulationsgewinne in atemberaubender Höhe aus öffentlichen Abgaben bezahlen oder garantieren.49 Soziale Gerechtigkeit ist immer gesamtgesellschaftlich, oder sie ist keine. Die Rechtsordnung verliert ihre Legitimität, wenn sie dem Klosettputzer eine spürbare Lohnsteuer und andere Abgaben abzieht, ihm dann, als Arbeitslosem, abverlangt, sich betrugsfrei mit ihren sozialen Sicherungen zu bescheiden, aber andererseits die zwei- bis dreistelligen Milliardenverluste eines wesentlich um sich selbst kreisenden Kasino-Kapitalismus auffängt.50 49

4. Rechtliches gegen pseudopolitisches Denken Die Einsicht in den Zusammenhang rechtlich säuberlich getrennter Sphären muss zu Änderungen führen, wenn das freiheitliche System überleben soll. Nicht links-anarchistische Empörung, Demonstrationen oder übertriebene Parolen bedrohen es. Schwieriger zu beobachten und gravierend ist eine andere Konsequenz jener Einsicht: Es ist der Legitimitätsverlust, der zum Loyalitätsverlust führt. Das Hinterziehen von Steuern und Abgaben, die kleine, mittlere und dann auch größere Betrügerei, sozusagen der Schwejk’sche Schleichweg: 49  Während der Schlussredaktion dieses Bandes erfährt der europafreundliche Steuer- und Abgabenzahler am selben Tag, dass das spanische Bankensystem voraussichtlich der milliardenschweren Unterstützung durch europäische Solidarität bedürfen wird (DLFNachrichten) und dass der hessische Landesrechnungshof fordert, Schulen zu schließen (Frankfurter Rundschau vom 23.5.2012). 50  Auch die Ermöglichung des Steuer- und Abgaben-Wettbewerbs „nach unten“ zehrt an der Legitimität des sozial- und steuerstaat­ lichen Gesamtsystems.

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Sie schädigen zahlreiche Volkswirtschaften in großem Ausmaß, auch die deutsche. Ich vermute, dass sie mit psychologischer Selbstverständlichkeit zunehmen, wenn das Gesamtsystem seine Legitimität dadurch gefährdet, dass es die erwähnten Missbräuche der Finanzwirtschaft nicht abstellt. Der Staat darf darum die Gerechtigkeit nicht „privatisieren“. Gleichheit und Gerechtigkeit sind, wie Freiheit51, nicht nur Naturrechtspositionen, sie sind auch positiv geltende Rechtsprinzipien52: Wie dumm wäre der Ehrliche, wenn das Rechts- und Sozialsystem insgesamt so bliebe, wie es sich in seinem Umgang mit der Finanzkrise zu zeigen scheint: Radikale Bevorzugung eines spekulativen, zudem insgesamt wirtschafts- und sozialschädlichen Wirtschaftszweiges bei Belastung und Entwertung wirtschaftlich und sozial nützlicher Tätigkeiten. – Das Gesamtsystem muss in der oben umschriebenen Weise stimmig sein oder doch wenigstens auf Stimmigkeit hindrängen, auf sie ausgerichtet sein.53 Nur dann ist Unfreiwilliges, wie etwa eine fühlbare Abgabenlast, zumutbar. Selbstverständlich darf diese Einsicht nicht zu Schleichwegen und auch zu keiner Gesamtverweigerung gegenüber dem Wirtschaftssystem führen, die auf bloße Schnorrerei oder eben auf Anarchismus hinauslaufen müsste. Sie sollte aber dazu führen, das oben geforderte Verbot und die Finanztransak­ tionsabgabe mit der Härte durchzusetzen, mit der in den er51  Vgl. dazu Gerhard Luf, Freiheit als Rechtsprinzip / Rechtsphilosophische Aufsätze, herausgegeben von Elisabeth Holzleitner und Alexander Somek, Wien (facultas) 2008, insb. die Seiten 151 ff. 52  Vgl. dazu Gerhard Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip / Über den Begriff der Gerechtigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Baden-Baden (Nomos) 1980, und Franz Reimer, Rechtsprinzipien, ein Normtyp im Grundgesetz, Berlin (Duncker & Humblot) 2001. 53  Vgl. dazu die beiden Hegelzitate zur Legitimität des Staates (oben S. 278 im Text, sowie ebd. in der Fn. 26) – die aber, wie gesagt, in seiner Epoche noch nirgends auf Erden (und bei weitem auch nicht in Hegels preußischem Staat) verwirklicht waren.



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wähnten Fällen Frankreich und Deutschland bereits aufgetreten sind, und die hier moralisch genauso angebracht und politisch genauso geboten wären wie bei der Wiedervereinigung. Dafür muss das Ziel, die Rückkehr zur Realwirtschaft, als moralisch, rechtlich und politisch geboten erkannt werden. Der Begriff des Politischen kommt von „polis“, der Stadt, die bei den alten Griechen auch Stadtstaat, das Gemeinwesen war. Politisches Denken ist bis heute solches, das vom Gemeinwesen handelt. Damit es realistisch bleibt, muss es zwar immer auch „die Kunst des Möglichen“ sein. Der Umgang jedoch, den die derzeit herrschenden Politiker mit der Finanzwirtschaft pflegen54, ist nur ein pseudopolitischer, weil kein sachliches Ziel erkennbar ist, sondern nur ein Sich-selbst-von-Situation-zu-Situation-Durchmogeln. VI. Die Legitimität des hochmodernen, d. h. demokratischen und sozialen Verfassungsstaates Der hochmoderne Staat, den das späte neunzehnte und frühe und mittlere zwanzigste Jahrhundert in drei Dutzend mittel-, west-, nord- und außereuropäischen Ländern hervorgebracht hat, besitzt eine historisch ganz unwahrscheinliche, eine erstmalige Legitimität.55 Was in der Idee der Demokratie schon immer angelegt war, was mit unterschiedlichen Kons­ 54  Tendenziell ist der Umgang mit jeder extrem starken Lobby gleich hilflos. 55  Diese Feststellung schmälert den Wert der Anläufe und Vorstufen nicht. Als solche sind, seit der Antike, unzählige Reformen, Kämpfe und Ideen zu deuten: Griechische, römische und die durch Tacitus überlieferten germanischen Freiheitsstrukturen; die Kämpfe der Gracchen, die politischen Aufstände aller Epochen, in Deutschland und der Schweiz etwa die Bauernkriege mit ihren demokratischen Forderungen, schließlich, am Ende des 18. Jahrhunderts erst die US-amerikanische und darauf die Französische Revolution mit ihren Verfassungen, Vorbereitungen der zahlreichen Revolutionen und Verfassungen des 19. Jahrhunderts.

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truktionen und unter Ausblendung und Beschönigung der Realitäten erträumt und behauptet wurde,56 das konnte57 tendenziell und könnte diese Art Gemeinwesen tatsächlich annähernd einlösen.58 Für Deutschland gilt: Seit am 9. November 1918 die – weltweit erste – sozialdemokratische Revolution siegte, um sich binnen weniger Monate ihren freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat zu schaffen, die „Weimarer Republik“, erwartet die freiheitliche Philosophie auch hier das angeblich zyklische Auf und Nieder der Verfassungen nicht mehr so gleichmütig wie in den Jahrtausenden zuvor.59 56  Vgl. dazu schon die Überlegungen oben (I und II, S. 278 ff.) und die dort (in Fn. 26) zitierte Formel Hegels vom Staat als Wirklichkeit der konkreten Freiheit. 57  Der Historiker Friedrich Meinecke nennt die revolutionäre Weimarer Verfassung mit emphatischer Betonung „diese Brücke“, über die „die Arbeiterschaft“ erstmals – anders als in der Monarchie – „zum Staate“ kommen konnte. „Die heutige Jugend weiß es kaum noch“, sagt er 1931 in seiner Verfassungsrede, „wie wir Älteren in den Jahrzehnten vor dem Kriege gelitten haben unter dem unseligen Risse, der zwischen den neuentstandenen Arbeitermassen und den alten bürgerlichen und aristokratischen Schichten klaffte. Die alte Monarchie, mit den inneren Hemmungen, die ihr eigen waren, konnte ihn nicht überbrücken.“ Vgl. S. 232 in dem Band von Poscher (s. u., Fn.  59). 58  Vgl. zu diesem Modell die bereits mehrfach zitierten anschau­ lichen Darstellungen von Eichenhofer, Stürner und Broß, mit zahlreichen Nachweisen. 59  Das ist auch damals bereits von vielen Zeitgenossen gesehen worden; die deutsche Katastrophe von 1933 bis 45 lenkt den Blick verständlicher- aber auch übertriebenerweise auf die Schwächen und die Feinde der Republik. Vgl. demgegenüber etwa die leidenschaft­ lichen Verfassungsreden Ernst Cassirers, Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte (S. 144 ff., 1930 als Rektor der Hamburger Universität gehalten) und die eben (Fn. 57) schon zitierte Friedrich Meineckes, Reichsverfassung und Weltverfassung (S. 231 ff., 1931 auf der Verfassungsfeier des Deutschen Studentenverbandes gehalten) und anderer Gelehrter, in: Ralf Poscher (Hrsg.), Der Verfassungstag, Reden deutscher Gelehrter zur Feier der Weimarer Reichsverfassung, Baden-Baden (Nomos) 1999.



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Die zugleich freiheitlichen und sozialstaatlichen Demokratien erreichten und erfüllten damit – und erfüllen teilweise noch immer – jenen „Demokratischen Augenblick“, dem Colin Crouch nachtrauert. Aber: „Die Krisis der Wirtschaft kann zur Krisis der Demokratie in der ganzen Welt werden“, wie Meinecke 1931 sagte.60 Der von Crouch diagnostizierte, von klassischen Geschichtsphilosophen vorhergesagte Verfall von Freiheit und Demokratie ist im Gang. Er droht nicht vom Wohlstandsschwund oder anderen materiellen Einbußen her,61 sondern durch den Verlust von etwas Ideellem, nämlich von fairer, gleichmäßiger Gerechtigkeit. Als Herrschaften des großen Geldes machen sich die abendländischen Demokratien durch ihre Finanzkrisen-„Bewältigung“ zu der Karikatur, die linksradikale, rechtsradikale und islamistische Verächter schon immer in ihnen sahen. Das Gegenmittel ist unbequem, ungewohnt und greifbar: Montesquieu erkannte die Tugend als für Demokratien unverzichtbar62. – Die seltenen Tugenden Mut und Gerechtigkeit könnten die Demokratie vor ihrer Preis­ gabe retten.

60  In seiner oben (Fn. 57) ausführlich zitierten, bei Poscher (soeben, Fn. 59) wiederabgedruckten Verfassungsrede von 1931, S. 234. 61  Zur Schwäche materialistischer Legitimationsideen vgl. Würtenbergers (oben, S. 280 f., Fn. 32) mehrfach zitiertes Buch zur Legitimität staatlicher Herrschaft, insb. S. 300 ff. 62  Vgl. dazu oben, S. 272, mit Fn. 4.