Raum-Zeiten im Umbruch: Erzählen und Zeigen im Sevilla der Frühen Neuzeit [1. Aufl.] 9783839417591

Im Sevilla um 1600, das sich als »Tor zur Neuen Welt« zu einem wissenschaftlichen, kommerziellen und kulturellen Zentrum

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Raum-Zeiten im Umbruch: Erzählen und Zeigen im Sevilla der Frühen Neuzeit [1. Aufl.]
 9783839417591

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einleitung
1. Raum, Zeit und Erzählung in der Frühen Neuzeit
1.1 Raum-Zeiten im Spannungsfeld zwischen Realität und Fiktion
1.1.1 Geschichtsschreibung und Dichtung
1.1.2 Subjektivitätsverdacht und Fiktionalitätsbewusstsein
1.1.3 Geschichtsschreibung und Erzählung
1.2 Raum-Zeit und Erzählung
1.2.1 Das Erzählen zwischen Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition
1.2.2 Die dreifache Zeit der Erzählung
1.3 Die untrennbare Verbindung von Raum und Zeit
1.3.1 Erzählen und Zeigen: Raum-Zeiten jenseits des Laokoon-Paradigmas
1.3.2 Raum-zeitliche Konfigurationen
1.3.3 Raum-Zeit und Textstruktur
2. Raum-Zeiten in Geschichtsschreibung und Publizistik
2.1 Zeit und Raum der Stadtchronik
2.1.1 Genealogie, translatio und Exemplarität
2.1.2 Chronologisches und topographisches Schreiben
2.1.3 Die Stadtchroniken Sevillas: Verräumlichung von Zeit und Verzeitlichung von Raum
2.2 Die relaciones de fiesta und die Raum-Zeit der Verwunderung
2.2.1 Die relaciones de fiesta in ihrem medialen Umfeld
2.2.2 Die Raum-Zeit der Verwunderung
2.2.3 Die überzeitliche Dimension der Verwunderung
3. Raum-Zeiten der Wissenschaft
3.1 Zeit und Raum der fingierten Mündlichkeit: Der philosophische Dialog
3.1.1 Der Dialog: Wissenschaftlicher und historiographischer Diskurs im Gewand der Fiktion
3.1.2 Die Raum-Zeit des Dialogs
3.1.3 Diálogo de los médicos: Der städtische Raum als argumentatives Übungsfeld
3.1.4 Traslación de la imagen de Nuestra Señora de los Reyes: Die empirische Raum-Zeit im Dienste der allegorischen
3.2 Zwischen Tradition und Fortschritt: Die Historia medicinal von Nicolás Monardes und die frühneuzeitliche Sammlungspraxis
3.2.1 Sammlung und Text
3.2.2 Raum-Zeiten der frühneuzeitlichen Sammlung
3.2.3 Die Historia medicinal als textuelle Sammlung
4. Raum-Zeiten der comedia urbana
4.1 Der Chronotopos der comedia urbana
4.1.1 Sevilla als dramatischer Chronotopos
4.1.2 Die Handlungsstruktur der comedia urbana
4.2 Raum-Zeiten zwischen Restitution und Ereignis
4.2.1 Raum-Zeit der Restitution: El amante agradecido
4.2.2 Ansätze einer linearen Zeit in La Estrella de Sevilla
4.2.3 Zeitlicher Wandel in El Arenal de Sevilla
5. Fazit und Ausblick
5.1 Fazit: Pluralisierung von Raum-Zeiten in der Frühen Neuzeit
5.2 Ausblick: Zur Raum-Zeit der novela picaresca
Literatur
Primärliteratur (vor 1700)
Sekundärliteratur (nach 1700)

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Miriam Lay Brander Raum-Zeiten im Umbruch

Miriam Lay Brander (Dr. phil.) lehrt Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Kultur des spanischen Siglo de Oro, der französischsprachige Aphorismus sowie Raum- und Zeittheorie.

Miriam Lay Brander

Raum-Zeiten im Umbruch Erzählen und Zeigen im Sevilla der Frühen Neuzeit

Gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz »Kulturelle Grundlagen von Integration«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Simone Warta, Miriam Lay Brander Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1759-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7 Einleitung | 9 1. Raum, Zeit und Erzählung in der Frühen Neuzeit | 23 1.1

Raum-Zeiten im Spannungsfeld zwischen Realität und Fiktion | 23 1.1.1 Geschichtsschreibung und Dichtung | 25 1.1.2 Subjektivitätsverdacht und Fiktionalitätsbewusstsein | 27 1.1.3 Geschichtsschreibung und Erzählung 35 1.2 Raum-Zeit und Erzählung | 47 1.2.1 Das Erzählen zwischen Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition | 47 1.2.2 Die dreifache Zeit der Erzählung | 51 1.3 Die untrennbare Verbindung von Raum und Zeit | 62 1.3.1 Erzählen und Zeigen: Raum-Zeiten jenseits des Laokoon-Paradigmas | 62 1.3.2 Raum-zeitliche Konfigurationen | 66 1.3.3 Raum-Zeit und Textstruktur | 77

2. Raum-Zeiten in Geschichtsschreibung und Publizistik | 81 2.1 Zeit und Raum der Stadtchronik | 81 2.1.1 Genealogie, translatio und Exemplarität | 82 2.1.2 Chronologisches und topographisches Schreiben | 87 2.1.3 Die Stadtchroniken Sevillas: Verräumlichung von Zeit und Verzeitlichung von Raum | 90 2.2 Die relaciones de fiesta und die Raum-Zeit der Verwunderung | 104 2.2.1 Die relaciones de fiesta in ihrem medialen Umfeld | 107 2.2.2 Die Raum-Zeit der Verwunderung | 114 2.2.3 Die überzeitliche Dimension der Verwunderung | 131

3. Raum-Zeiten der Wissenschaft | 139 3.1 Zeit und Raum der fingierten Mündlichkeit: Der philosophische Dialog | 139 3.1.1 Der Dialog: Wissenschaftlicher und historiographischer Diskurs im Gewand der Fiktion | 139 3.1.2 Die Raum-Zeit des Dialogs | 144 3.1.3 Diálogo de los médicos: Der städtische Raum als argumentatives Übungsfeld | 156 3.1.4 Traslación de la imagen de Nuestra Señora de los Reyes: Die empirische Raum-Zeit im Dienste der allegorischen | 161 3.2 Zwischen Tradition und Fortschritt: Die Historia medicinal von Nicolás Monardes und die frühneuzeitliche Sammlungspraxis | 167 3.2.1 Sammlung und Text | 170 3.2.2 Raum-Zeiten der frühneuzeitlichen Sammlung | 177 3.2.3 Die Historia medicinal als textuelle Sammlung | 188

4. Raum-Zeiten der comedia urbana | 203 4.1 Der Chronotopos der comedia urbana | 203 4.1.1 Sevilla als dramatischer Chronotopos | 205 4.1.2 Die Handlungsstruktur der comedia urbana | 215 4.2 Raum-Zeiten zwischen Restitution und Ereignis | 223 4.2.1 Raum-Zeit der Restitution: El amante agradecido | 223 4.2.2 Ansätze einer linearen Zeit in La Estrella de Sevilla | 232 4.2.3 Zeitlicher Wandel in El Arenal de Sevilla | 243

5. Fazit und Ausblick | 255 5.1 Fazit: Pluralisierung von Raum-Zeiten in der Frühen Neuzeit | 255 5.2 Ausblick: Zur Raum-Zeit der novela picaresca | 258

Literatur | 267 Primärliteratur (vor 1700) | 267 Sekundärliteratur (nach 1700) | 271

Danksagung

Meine Zeit steht in deinen Händen. – Psalm 31,16 –

Dass ich die vorliegende Studie zu Raum- und Zeitkonzepten in der Frühen Neuzeit verfassen konnte, betrachte ich als Privileg und als Gnade Gottes. Zahlreiche Menschen haben in unterschiedlicher Art und Weise zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen, wofür ich ihnen an dieser Stelle von ganzem Herzen danken möchte. Mein besonderer Dank gilt Ulrike Sprenger, die in mir das Interesse am Sevilla der Frühen Neuzeit geweckt, mich zu dieser Arbeit ermutigt und ihre Entstehung in vielerlei Hinsicht auf höchst konstruktive Art und Weise begleitet hat. Von Herzen danken möchte ich außerdem Jörg Dünne für seine sorgfältige Lektüre einzelner Kapitelentwürfe und die äußerst hilfreichen Anmerkungen. Unter den zahlreichen Gesprächspartnern, die mir beiseite standen, sei vor allem meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Doktorandenkolleg »Zeitkulturen« gedankt. Der Austausch mit ihnen hat meinen Blick weit über das eigene Fach hinaus auf interdisziplinäre Ansätze hin geöffnet und die Arbeit in vielerlei Hinsicht bereichert. Eine große Hilfe war Simone Warta durch ihre aufmerksame und genaue Korrektur des Manuskripts. Danken möchte ich auch dem Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz für die finanzielle Förderung, die Bereitstellung einer hilfreichen Infrastruktur und für die Finanzierung eines Forschungsaufenthaltes in Sevilla und Madrid sowie für den Druckkostenzuschuss zu dieser Veröffentlichung.

Einleitung

Raum und Zeit haben sich in den letzten Jahrzehnten zu Schlüsselkategorien der kulturwissenschaftlichen Forschung entwickelt. Der sogenannte Spatial Turn1, wie ein zunehmendes Interesse am Aspekt der Räumlichkeit im Hinblick auf Praktiken der sozialen und kulturgeschichtlichen Konstitution, wohl etwas euphorisch, bezeichnet wird, hat nahezu jede Disziplin durchdrungen, und macht sich nicht zuletzt in der Literaturwissenschaft, wo die Raumgestaltung seit jeher zu den zentralen Komponenten fiktionaler Wirklichkeitsdarstellung gehört, durch eine Zunahme raumbezogener Fragestellungen bemerkbar. Auch die Zeit, die – wie der Raum – seit der Antike Gegenstand philosophischer Reflexion ist, erlebt in jüngster Zeit eine Neupositionierung in den Literatur- und Kulturwissenschaften. Wo sich etwa die Literaturwissenschaft unter Rückgriff auf das Instrumentarium, das Gérard Genette in Discours du récit (1972)2 entwickelt hat, lange Zeit für textimmanente Zeitstrukturen interessierte, fragt eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft nun nach dem Zusammenhang, in dem die zeitliche Organisation literarischer Texte zu gesellschaftlichen Zeitkonzeptionen steht.3 Gemeinsam ist einem Großteil kultur- und literaturwissenschaftlicher Ansätze, die sich mit Zeit und Raum beschäftigen, dass sie die beiden Größen getrennt voneinander in den Blick nehmen. Nur wenige von ihnen tragen der Tatsache Rechnung, dass Raum und Zeit als voneinander unabhängige Kategorien nicht denkbar sind. So schien man in der transdisziplinären Debatte um die räumliche Wende bis vor kurzem anzunehmen, dass eine Hinwendung zum Raum notgedrungen mit einer Abwendung vom Faktor ›Zeit‹ »als Erklärungsmuster kultureller Erfahrung und als 1 | Der Begriff des Spatial Turn schließt hier stellvertretend auch den Topographical und den Topological Turn mit ein. Zu einer Differenzierung der drei Paradigmen siehe Günzel (2008). 2 | Genette (1972). 3 | Vgl. Nünning & Sommer (2002). Einen Überblick über kulturwissenschaftliche Fragestellungen der geschichtswissenschaftlichen Zeitforschung gibt Rüsen (2004).

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Paradigma der westlichen Theoriebildung«4 einhergehen müsse. Diese Tendenz geht vermutlich auf den Namensgeber des Spatial Turn, den USamerikanischen Stadtplaner Edward Soja zurück, der in seiner einflussreichen Studie Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory (1989)5 die einseitige Fokussierung des Faktors ›Zeit‹ innerhalb der kulturwissenschaftlichen Forschung kritisiert und dafür plädiert hat, diesem Ungleichgewicht mit einer stärkeren Akzentuierung der Kategorie ›Raum‹ zu begegnen. Die von Soja vorgeschlagene Umorientierung hat anscheinend zu einer umgekehrten Disbalance geführt, das heißt zu einer einseitigen Fokussierung des Raumes und damit einhergehend zu einer Ausblendung der Zeit. Hierzu mag auch die Proklamierung eines anbrechenden »Zeitalters des Raums« durch Michel Foucault beigetragen haben, der gemeinsam mit Henri Lefebvre als »kanonischer[r] […] Vordenker der räumlichen Wende«6 gilt. In seinem 1967 vor einer Gruppe von Architekten7 gehaltenen Vortrag Des espaces autres8, auf den sich auch Soja ausführlich bezieht,9 weist Foucault darauf hin, dass die Obsession des 19. Jahrhunderts die Zeit gewesen sei, während die gegenwärtige Epoche eine solche des Raumes sei: »L’époque actuelle serait peut-être plutôt l’époque de l’espace. Nous sommes à l’époque du simultané, nous sommes à l’époque de la juxtaposition, à l’époque du proche et du lointain, du côté à côté, du dispersé.«10 Foucault setzt ›Zeit‹ mit Geschichte, mit Diachronie gleich und ›Raum‹ mit Synchronie. Demnach sieht er eine Überschneidung von Zeit und Raum allein in einer Geschichte des Raumes, die er im weiteren Verlauf seines Vortrages kurz skizziert. Die Relevanz der Zeit für den Raum besteht für Foucault also darin, dass sich mithilfe ihrer diachronen Dimension verschiedene synchrone Stadien des Raumes gegenüberstellen lassen, wodurch eine historische Entwicklung von Raumkonzeptionen nachvollziehbar wird. Die umgekehrte Frage – welche Bedeutung der Raum für die Zeit habe – stellt Foucault nicht: Welche Raumkonzeptionen stehen hinter Themen der Entwicklung und des Stillstandes, der Krise und des Zyklus’, der Anhäufung von Vergangenheit etc. – Themen, die Foucault als zeitliche Erklärungsmuster qualifiziert? Auch die gegenwärtige sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung hat derartige Fragen bis vor kurzem kaum gestellt.11 Raum und Zeit werden offenbar als komplementäre Größen betrachtet, von denen es entweder 4 | Hallet & Neumann (2009b), 15. 5 | Soja (1998). 6 | Frank et al. (2008), 9. 7 | Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. 8 | Foucault (1994). 9 | Vgl. Soja (1998), vor allem 10-11 u. 16-21. 10 | Foucault (1994), 752. 11 | Das noch genauer in Augenschein zu nehmende Modell des Chronotopos’ von Michail Bachtin hat sich in der aktuellen Debatte um die räumliche Wen-

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die eine oder die andere als Erklärungsparadigma heranzuziehen gilt. Dabei spielt die Zeit auch in den theoretischen Raumkonzepten, die im Zuge des Spatial Turn einen Aufschwung erlebten, eine Rolle. So ist etwa der künstlerische Raum nach Jurij M. Lotman nicht ohne die zeitliche Dimension denkbar. Das wichtigste topologische Merkmal des künstlerischen Raumes ist nach Lotmans Theorie, deren bekannteste Formulierung er in Die Struktur literarischer Texte12 gibt, eine grundsätzlich unüberschreitbare Grenze. Nun ist bei Lotman das Andere dieser Unüberschreitbarkeit, die Möglichkeit einer Bewegung, welche die betreffende Grenze zu überschreiten sucht, bereits mitgedacht. Unter dieser Prämisse erweitert Karl Nikolaus Renner13 in seinem strukturalistischen Ansatz das literarische Raummodell Lotmans um die Dimension der Zeit, indem er den literarischen Text in unterschiedliche Zeiteinheiten unterteilt, die Auskunft über Anfangs- und Ausgangspunkt einer Veränderung geben. Mit diesem Vorgehen lassen sich das Vorher und das Nachher einer geglückten Grenzüberschreitung als zwei unterschiedlich semantisierte Abschnitte fassen, wohingegen eine nicht gelungene Grenzüberschreitung eine Restitution und damit eine zyklische Bewegung in der Zeit beschreibt.14 Der Raum der Semiosphäre erhält so eine zeitliche Dimension.15 Lotman selbst formuliert den raum-zeitlichen Aspekt seines kultursemiotischen Modells an anderer Stelle, wenn auch nur flüchtig: »[T]he life of culture, also demands a special space-time structure, for culture organizes itself in the form of a special space-time and cannot exist without it.«16 Dass die Bewegung, und somit die zeitliche Dimension, ein zentrales Moment gerade der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Raum ist, davon zeugt nicht zuletzt der kürzlich erschienene Sammelband Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn17, der die Interdependenz von Raum und Bewegung als eine der Prämissen sowohl literaturwissenschaftlicher als auch sozialund kulturwissenschaftlicher Raumkonzepte zugrunde legt,18 und in dem einzelne Beiträge zu einem Weiterdenken in Richtung eines spatio-temporal turn einladen.19 Doch bereits Soja betonte, dass die Neuorientierung in Form einer ›Verräumlichung‹ des Denkens nicht in eine Umkehr des Verhältnisses zwischen Raum und Zeit münden dürfe; vielmehr gelte es, beide Faktoren in ihrer konstitutiven Abhängigkeit voneinander zu erfasde bisher noch nicht als Referenzpunkt etablieren können. Vgl. Frank & Mahlke (2008), 229. 12 | Lotman (1972). 13 | Renner (1983). 14 | Vgl. dazu ausführlicher Kap. 1.3.3. 15 | Vgl. dazu auch Titzmann (1992) sowie Frank (2009). 16 | Lotman (1990), 133. 17 | Hallet & Neumann (2009a). 18 | Vgl. Ebd., 20-21. 19 | Explizit geschieht dies bei Frank (2009), 75.

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sen.20 In einem 2006 gehaltenen Vortrag expliziert Soja, dass man der Privilegierung des Historischen, das man seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Begriffen von Dynamik und Dialektik verband, im Gegensatz zum statisch und undialektisch gedachten Raum, mit einer strategischen Bevorzugung der räumlichen Dimension begegnen müsse. Dies stellt für ihn allerdings nur eine vorübergehende Lösung dar. Ziel müsse es sein, diejenige Ausgewogenheit zwischen räumlichem und zeitlichem Denken zu erreichen, die bei Kant noch gegeben war, ein »theoretische[s] Gleichgewicht zwischen Zeit und Raum«.21 Es ist allerdings fraglich, wie angesichts einer wenn auch nur vorübergehenden Über-Akzentuierung des Raumes die von Soja ursprünglich postulierte Interdependenz von Raum und Zeit sichtbar werden kann. Selbst wenn man den Raum als eine sich in der Zeit konstituierende »bewegte Anordnung von Körpern«22 begreift, so wird dies der Tatsache nur unvollständig gerecht, dass Raum und Zeit in ständiger Wechselseitigkeit aufeinander verweisen. Diesen Befund wieder ernst zu nehmen ist Ziel dieser Studie. Dabei soll es weder allein darum gehen, die zeitliche Dimension des Raumes mit Praktiken im Raum in Form von Bewegungen und Handlungen individueller oder kollektiver Akteure zu verrechnen,23 noch darum, Konfigurationen des Raumes mithilfe der Zeitdimension in einer diachronen Perspektive zu erfassen und so die Historizität des Raumes zu betonen.24 Vielmehr wird davon ausgegangen, dass bestimmte Vorstellungen vom und Umgangsweisen mit dem Raum stets Auswirkungen auf die Art und Weise haben, sich die Zeit vorzustellen und dass umgekehrt Zeitkonzeptionen eng mit räumlichen Semantiken verbunden sind. Vorstellungen von der Welt können daher nicht entweder als räumlich oder als zeitlich betrachtet werden, sondern müssen stets auf beide Kategorien in deren konstitutiven Interdependenz hin befragt werden: Weltbilder sind RaumZeiten. In diesem Zusammenhang nimmt das Konzept des Chronotopos von Michail Bachtin, das durch die Hinwendung zu Fragen der Räumlichkeit erneut in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt ist,25 eine zentrale Stellung ein. Der Chronotopos bezeichnet »den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeitund-Raum-Beziehungen«.26 Dieser literarisch-künstlerische (»innere«) Chronotopos ist nach Bachtin das Ergebnis der Aneignung eines realen (»äußeren«) Chronotopos, das heißt, der realen historischen Zeit und des realen historischen Raumes. Folglich stehen für Bachtin weniger die rea20 | Vgl. Soja (1998), 11 u.a. 21 | Soja (2008), 244-246, hier 246. 22 | Löw (2001), 132. 23 | Vgl. Hallet & Neumann (2009b), 20. 24 | Vgl. ebd., 21. 25 | Vgl. unter anderem Frank (2009). 26 | Bachtin (1989), 7.

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len, das heißt die kulturhistorischen Zeit-Raum-Beziehungen im Vordergrund, sondern vielmehr die Art und Weise, wie diese in der Literatur angeeignet werden: Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. 27

Der für diese Studie zentrale Begriff der Raum-Zeit ist eng an die bachtinsche Metapher des Chronotopos angelehnt. Er verweist auf den untrennbaren Zusammenhang zwischen Raum und Zeit: Die Art und Weise, wie Zeit gedacht wird, konkretisiert sich in bestimmten Konzeptionen des Raumes und umgekehrt zeugt der Umgang mit dem Raum von bestimmten Zeitvorstellungen. Daher ist der Raum nicht um seiner selbst willen zu untersuchen, sondern vor allem deshalb, weil er Aufschluss über herrschende Zeitknzeptionen gibt. Anders als bei Bachtin wird der Begriff der Raum-Zeit hier jedoch nicht in erster Linie als »Form-Inhalt-Kategorie der Literatur«28 verstanden, in der sich lebensweltliche Raum-Zeit-Vorstellungen widerspiegeln, sondern vielmehr als Episteme, als Ordnungsstruktur des Wissens, die sich in sämtlichen kulturellen Bereichen manifestiert. Das duale Konzept eines real-historischen und eines künstlerisch-literarischen Chronotopos wird erweitert zu einer dreifachen, hermeneutischen Raum-Zeit-Relation: Der literarische Text konfiguriert eine in der Lebenswelt präfigurierte Raum-Zeit, welche die lebensweltliche Raum-Zeit im Akt der Lektüre wieder refiguriert.29 Demnach sind die raum-zeitlichen Merkmale in der Literatur nicht nur wie bei Bachtin Ergebnisse einer Aneignung kulturhistorischer Gegebenheiten,30 vielmehr wirken sie in die historische Realität zurück. Lebenswelt und literarische Konfiguration stehen in einem zirkulären Verhältnis zueinander: Lebensweltliche Raum- und Zeitkonzeptionen bilden kein »historisches Apriori«31 , das sich in der Literatur widerspiegelt, sondern werden zugleich durch literarische Zeit-RaumKonfigurationen geformt. Ein solches Verständnis von Zeitlichkeit und Räumlichkeit kann dabei helfen, weder in eine konstruktivistische noch 27 | Ebd., 8. 28 | Bachtin (1989), 7. 29 | Das hier nur sehr knapp skizzierte, an Ricœurs Mimesis-Theorie angelehnte Modell einer dreifachen Raum-Zeit wird in Kap. 1.2.2 ausführlicher erläutert. 30 | Vgl. Bachtin (1989), 7. 31 | Der Begriff ist Michel Foucault entlehnt, der ihn erstmals in Foucault (1966) verwendet. Zur historischen Apriorizität des realen Chronotopos’ vgl. auch Frank & Mahlke (2008), 210-211.

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in eine deterministische32 Position zu verfallen. Raum und Zeit werden hier als imaginäre Größen33 betrachtet, das heißt als Kategorien, die weder apriorisch in einem physisch-geographischen Raum bzw. einer physikalischen Zeit aufgehen, noch reine Produkte sozialer oder kultureller Praktiken sind. Raum- und Zeitkonzeptionen sind sowohl determinierend als auch determiniert; sie sind ihrer (literarischen) Konfiguration sowohl vor- als auch nachgängig. Der so erweiterte Chronotopos-Ansatz macht es notwendig, nicht nur genuin literarische, das heißt, fiktionale Texte in die Untersuchung mit einzubeziehen, sondern auch historiographische und wissenschaftliche Werke sowie Gebrauchstexte. Dabei gilt es herauszustellen, dass die Grenzen zwischen diesen unterschiedlichen Textformen in der Frühen Neuzeit noch fließend sind, und so die fiktionale Konfiguration von Zeit und Raum von einer nicht-fiktionalen nicht immer klar zu unterscheiden ist. Die vorliegende Studie hat es sich zur Aufgabe gemacht, frühneuzeitliche Umbrüche sowohl im Hinblick auf räumliche als auch auf zeitliche Merkmale hin zu untersuchen. Sie zeigt am Beispiel des frühneuzeitlichen Sevilla, inwieweit veränderte Raumkonzeptionen einem neuen und vertieften Verständnis von Zeit Vorschub leisten können und wie umgekehrt der Raum durch veränderte Zeitvorstellungen neu dimensioniert wird. Dabei wird die These vertreten, dass in der Frühen Neuzeit eine epistemische Verschiebung stattfindet von einem statisch-allegorischen zu einem dynamisch-konkreten Raum, und, in enger Verschränkung mit dieser Entwicklung, von einer zyklisch-entsemantisierten zu einer linear-semantisierten Zeit. Dieser Übergang vollzieht sich keineswegs abrupt, was in der Frühen Neuzeit zu einer eigentümlichen Koexistenz unterschiedlicher, teilweise widersprüchlicher Raum-Zeiten führt. Daher soll hier keine Geschichte kultureller Transformationen erzählt werden, sondern davon, wie das Neue Einzug in das Alte hält und wie zugleich das Alte im Neuen fortbesteht. Ziel dieser Studie ist es, die Pluralisierung von Raum-Zeiten an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit in ihrer historischen Spezifität zu erfassen. Mithilfe eines synchronen Querschnitts, der einen Zeitraum von ca. 1550 bis 1665 umfasst,34 soll anhand 32 | Gerade in Deutschland ist der Raum im Zuge einer geodeterministischen Propaganda der Nationalsozialisten, die Persönlichkeits- und Gesellschaftsstrukturen auf räumliche Gegebenheiten zurückführten, in Verruf geraten. 33 | Der imaginäre Charakter von Raum und Zeit wird im Anschluss an Cornelius Castoriadis noch zu erläutern sein. 34 | Das gewählte Zeitfenster orientiert sich weniger an (literatur-)geschichtlichen Periodisierungen, denn diese bergen die Gefahr, dass Übergangsphänomene aus dem Blick geraten. Es kann und soll nicht von einem einheitlichen ›Zeitgeist‹ ausgegangen werden, der sich in sämtlichen Lebensäußerungen einer Epoche artikuliert. Vielmehr sollen anhand eines synchronen Querschnitts Kontinuitäten und Brüche aufgezeigt werden, die teilweise über das hinausreichen, was nach gängiger geschichtswissenschaftlicher Auffassung als ›Frühe Neuzeit‹

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historiographischer, wissenschaftlicher und fiktionaler Texte untersucht werden, welche Modelle im frühneuzeitlichen Spanien zur Verfügung stehen, um Zeit und Raum zu modellieren. Dabei wird von besonderem Interesse sein, in welchen raum-zeitlichen Konstellationen sich die typisch frühneuzeitliche Spannung zwischen einem alten und einem neuen Weltbild konkretisiert. Verschiedene semiotische, literaturtheoretische und gender-orientierte Arbeiten haben den epistemischen Umbruch in der Frühen Neuzeit im Anschluss an Michel Foucault35 unter dem Gesichtspunkt einer Verabschiedung der Analogie gefasst. Solche Ansätze greifen aus der Sicht der gewählten Fragestellung jedoch zu kurz, da auch sie, bewusst oder unbewusst, frühneuzeitliche Umbrüche einseitig mithilfe einer räumlichen Heuristik betrachten. Im genannten Aufsatz Des espaces autres übersetzt Foucault den epistemischen Umbruch, den er in Les mots et les choses als Übergang von einer Ordnung der Ähnlichkeit zu einer Ordnung der Differenz beschreibt, in groben Zügen in eine Diskursgeschichte des Raumes, nach der dem Ordnungsparadigma der Analogie ein hierarchisch geordneter »espace de localisation« entspricht, der seit Galileo Galilei, gleichsam in die Fläche geklappt, zu einer horizontalen étendue wird.36 Nicht nur aufgrund der Ausblendung des Zeitaspekts, sondern auch wegen der scharfen und periodisch strittigen Zäsuren, die der foucaultsche diskursarchäologische Ansatz setzt, scheint er kaum ausreichend, um die Pluralität koexistierender Raum- und Zeitkonzepte der Frühen Neuzeit in einem ausgewählten Umfeld zu erfassen. Daher soll hier die raumzeitliche Dynamik der sich auflösenden analogischen Episteme im Mittelpunkt stehen, wodurch Übergangsstadien sichtbar werden. Mithilfe einer solchen Heuristik wird sich zeigen lassen, dass in der Frühen Neuzeit eine exemplarische Verräumlichung von Zeit, allmählich einer Verzeitlichung des Raumes weicht, ohne dass die alte Raum-Zeit vollkommen aufgegeben wird. *** Um der Fragestellung nach raum-zeitlichen Konkretisierungen der frühneuzeitlichen Umbruchssituation nachzugehen, eignet sich das Sevilla des 16. und 17. Jahrhunderts in besonderem Maße. An wohl kaum einem bezeichnet wird: der Periodenrahmen von 1500-1800. Dennoch beziehe ich mich mit dem Begriff der Frühen Neuzeit im Groben auf das 16. und 17. Jahrhundert als derjenigen kulturellen Blütezeit in Spanien, die in der Literaturwissenschaft unter dem Begriff Siglo(s) de Oro gefasst worden ist. Vgl. zum Problem historischer Periodisierung generell und in der Frühen Neuzeit Osterhammel (2009), 84-102. 35 | Foucault (1966). 36 | Vgl. Foucault (1994), 753. Zum Zusammenhang zwischen Foucaults archäologischer Studie Les mots et les choses und seiner Diskursgeschichte des Raumes in Des espaces autres vgl. Dünne (in Vorbereitung), 20-21.

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anderen europäischen Ort gehen die Statik einer alten und die Dynamik einer neuen Weltordnung eine so intensive Synthese ein wie in der andalusischen Metropole im Südwesten Kastiliens. Als »puerto y puerta de las Indias«37 war Sevilla das Tor, durch das eine neue und unbekannte Welt Eingang nach Europa fand. Seit die Katholischen Könige Sevilla 1503 zum Sitz der Casa de la Contratación erklärt hatten, vereinte die Stadt sämtliche Kontrollmechanismen, die den Handel mit der Neuen Welt regelten.38 Alle Waren, die aus den Indias nach Kastilien gelangten und umgekehrt, mussten das Nadelöhr am Guadalquivir passieren. Doch nicht nur für die Kontrolle des Handels war die Casa de la Contratación zuständig. Bereits ab 1509 führten ihre Beamten Listen, in die sie Herkunft, Beruf, Lebenslauf und andere Daten der in die Neue Welt reisenden Passagiere eintrugen. Dies ermöglichte eine strenge Selektion und Kontrolle, die verhinderte, dass Personengruppen in die Neue Welt gelangten, welche die Reinheit des Glaubens in den neuen Gebieten hätten gefährden können: Juden, Mauren, Ketzern und später auch Konvertierten, Zigeunern und Homosexuellen blieb die Ausreise verwehrt.39 Weitere Aufgaben der Casa de la Contratación bestanden in der Ausrüstung und Organisation der Flotten, dem Depot von königlichem und privatem Vermögen sowie der zivilen Rechtsprechung. Darüber hinaus war die Casa das Zentrum nautischer Forschung und Lehre: Wegen ihres Lehrstuhls für Schifffahrt und Kosmographie gilt sie als erste moderne Schule für Schifffahrt in Europa, die beträchtliche wissenschaftliche Erfolge im Bereich der Kosmographie, Kartographie, Geographie und der Nautik zu verzeichnen hatte.40 Demnach war Sevilla nicht zuletzt der Ort in Europa, an dem sich neue Techniken der Vermessung und Darstellung von Raum entwickelten. Die Entdeckung des amerikanischen Kontinents führte nicht nur zu neuen Kenntnissen über die Beschaffenheit der Erdoberfläche, sondern warf im Spannungsfeld machtpolitischer, wissenschaftlicher und praktischer Interessen die Frage auf, wie denn der geographische Raum darzustellen sei. Die Berührungspunkte Sevillas mit Amerika beschränkten sich nicht auf die Casa de la Contratación und die Hafenzone, sondern waren in der gesamten Stadt gegenwärtig. Tagsüber verwandelte sich die Plaza de San Francisco, das administrative Zentrum Sevillas, in eine einzige Handelszone. Auf den Tischen der Händler fand man allerlei ›Wunderwerke‹ aus der Neuen Welt, wie Edelsteine, Perlen, Korallenzweige, Brokate und Parfums.41 Die Entdeckung und systematische Erschließung des neuen Kontinents ging von Anfang an mit einem Interesse am Exotischen ein37 | Vega Carpio, Lope Félix de (1973 [1604]): El peregrino en su patria. Hg. von Juan B. Avalle-Arce, Madrid: Castalia, 353. 38 | Vgl. María Serrera (2003). 39 | Vgl. ebd., 57. 40 | Vgl. María Serrera (2003). 41 | Vgl. Eslava Galán (1993), 34-35.

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her. Bei der Rückkehr von ihrer ersten Reise brachte die Karavelle von Kolumbus als Ansichtsexemplare nicht nur fünf ›Wilde‹, sondern auch nie zuvor gesehene Vögel und Samen von in Europa bisher unbekannten Pflanzen mit.42 Von diesem Moment an entwickelte sich das Sammeln exotischer Pflanzen und Tiere zur regelrechten Obsession, wodurch die Neue Welt auch in den privaten Raum Einzug hielt. Im Laufe des 16. Jahrhunderts entstanden in Sevilla eine Reihe privater botanischer Gärten und Kuriositätenkabinette, die neben fremden Objekten aller Art zunehmend auch Bücher ausstellten. Sevilla kann somit als Entstehungsort des europäischen Museums betrachtet werden,43 wobei die Kuriositätensammlungen die Begegnung des Eigenen mit dem Fremden mikrokosmisch widerspiegelten. Eng verbunden mit der Konfrontation von ›eigen‹ und ›fremd‹ spielte im Sevilla des 16. und 17. Jahrhunderts die Opposition von Altem und Neuem eine bedeutende Rolle. Parallel zur Auseinandersetzung mit einer ›neuen‹ Welt erlebte die Stadt demographische und städtebauliche Transformationen. Nicht nur als Umschlagplatz von Waren und Passagieren war Sevilla ein Ort des Übergangs, sondern auch in seinen materiellen und sozialen Strukturen. Um 1525 begann die noch mittelalterliche Stadt im Zuge einer Umstrukturierung des Stadtbildes nach italienischem Vorbild neue Formen anzunehmen.44 Der neu erworbene Reichtum mündete in ein regelrechtes Baufieber: Es entstanden Privatpaläste und neue Fassaden sowie Klöster, die mithilfe der großzügigen Unterstützung neureicher Kommerzieller gebaut werden konnten. Die Straßen wurden ausgeweitet, um eine höhere Sonneneinstrahlung zu erzielen, und neue Parks, wie etwa die Alameda de Hércules, die in frühneuzeitlichen literarischen Texten immer wieder als Schauplatz dient,45 wurden angelegt. Der Import von Edelmetallen zog Händler verschiedener Länder an, die an den kommerziellen Errungenschaften, welche die Entdeckung der Neuen Welt begleiteten, teilhaben wollten. Der Zustrom von Fremden aus der ganzen Welt, einschließlich derjenigen ethnischen Minderheiten, die durch den Sklavenhandel nach Sevilla gelangten, ließ die Stadt zu einem

42 | Vgl. ebd., 27. 43 | Vgl. López Rodríguez (1995). 44 | Vgl. Eslava Galán (1993), 29. 45 | So z.B. in Monroy, Cristóbal de (o.J.): La Alameda de Sevilla y recato en el amor. comedia famosa, Sevilla: Francisco de Leefdael, Casa del Correo Viejo; oder in Sigüenza, Francisco de (1996 [1579]): Traslación de la imagen de Nuestra Señora de los Reyes y cuerpo de San Leandro y de los cuerpos reales a la Real Capilla de la Santa Iglesia de Sevilla escrita en diálogo por Francisco de Sigüenza. Hg. von Federico García de la Concha Delgado, Sevilla: Fundación el Monte. Vgl. zu letzterem Text Kap. 3.1.4.

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kulturellen Schmelztiegel, zu einem »mapa de todas naciones«46 werden. Mit ihnen strömte eine anonyme Masse in die Metropole, in der Hoffnung, sich dort ihren Lebensunterhalt verdienen zu können.47 Zählte Sevilla in den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts noch etwa 70.000 Einwohner, so hatte sich die Einwohnerzahl bis 1590 mit 150.000 Einwohnern mehr als verdoppelt. Das explosionsartige Bevölkerungswachstum führte zu einer Erweiterung des städtischen Raumes, der über seine bisherigen Grenzen hinauswuchs. Um die hinzuströmenden Menschenmassen unterzubringen, war der Bau von Gasthäusern, Pensionen und anderen Unterkünften notwendig. Vor der Stadtmauer bildeten sich Vorstädte, die von einem Teil der städtischen Oberschicht als Wohnviertel bevorzugt wurden. Aber auch Klöster, Krankenhäuser, Gärten, Landhäuser und Bordelle säumten die Stadtmauer von außen. So entwickelten sich die Vororte im Laufe des 16. Jahrhunderts zu urbanen Zentren, zu zentralen Peripherien, deren Einwohnerzahl stetig zunahm.48 Zeichen des Übergangs und der Transformation machten sich in Sevilla noch in einem weiteren Bereich bemerkbar: Der ökonomische Dynamismus der Stadt führte zu einer, wenn auch noch begrenzten, sozialen Mobilität. Selbst wenn die Grenzen, welche die verschiedenen sozialen Klassen voneinander trennten, weiterhin nur wenig durchlässig waren, so bestand für reiche Händler doch die Möglichkeit, sich über den Kauf eines Amtes den Adelstitel zu erwerben. Der adelige Händler stellte somit ein soziales Hybrid dar, das weder eindeutig der kommerziellen noch der adligen Schicht zuzuordnen war und so den Status des Geburtsadels in Frage stellte.49 Eine weitere Gruppe, welche die soziale Hierarchie zwar nicht veränderte, sie an der Oberfläche jedoch durchlässig machte, bildete die sogenannte Unterwelt, zu der aus zeitgenössischer Sicht bestimmte Berufsgruppen wie fahrende Schauspieltruppen und Musikanten, Puppenspieler und Bettler, aber auch Soldaten und Seefahrer gehörten. Ihr Status war insofern nicht eindeutig, als sie zwar dem unteren Bereich der sozialen Hierarchie zugeordnet wurden, gleichzeitig jedoch am gesamten städtischen Leben teilnahmen und so alle Gesellschaftsschichten durchdrangen.50 Das frühneuzeitliche Sevilla war also ein Ort, an dem verschiedene Grenzen, wenn nicht gesprengt, zumindest brüchig oder unklar wurden. Dies galt zunächst für die geographische Grenze des Meeres: War das non plus ultra, das den Ausgang des Mittelmeers bei Gibraltar als unüberwindbare Schwelle markiert hatte, schon seit 1492 aufgehoben, so wurde 46 | Góngora y Argote, Luis de (1993 [1610]): »Comedia de las firmezas de Isabela«, in ders.: Teatro completo. Hg. von Laura Dolfi, Madrid: Cátedra, 59232, hier 87. 47 | Vgl. Eslava Galán (1993). 48 | Vgl. Tinoco Rubiales (1993), 43-47. 49 | Vgl. Martínez Shaw (1993), 16-18. 50 | Vgl. Perry (1980), 32.

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die Überquerung des Atlantiks im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts für immer mehr Menschen zur Realität. Der Durchlässigkeit geographischer Grenzen folgten bald die Sprengung des bisherigen, durch die Stadtmauer begrenzten städtischen Raumes und schließlich eine Destabilisierung der Grenzen, welche einzelne Gesellschaftsschichten voneinander trennten. All diese Transformationen trugen mit zu einem Bewusstsein bei, dass die gegenwärtige Zeit eine Zeit des Übergangs und des Wandels sei, was zutiefst ambivalent wahrgenommen wurde. Einerseits waren die Veränderungen begleitet von einer Euphorie, welche die neuen Errungenschaften als Zeichen des Fortschritts hervorhob, andererseits bedeutete der Verlust herkömmlicher geographischer und gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen gezwungenermaßen auch die Infragestellung eines Weltbildes, das diese Strukturen als Abbild einer ewigen Ordnung begriff. Je mehr die Lebenswelt in Bewegung geriet, desto weniger konnte sich die Vorstellung eines in sich geschlossenen, hierarchisch geordneten Kosmos halten, in dem sich jedes einzelne Glied in eine Kette von Ähnlichkeiten einfügen ließ. Hinzu kam, dass um die 30er Jahre des 17. Jahrhunderts in Spanien ein ökonomischer Verfall einsetzte, der die Erfahrung von Kontingenz verstärkte und die Zukunft als offen und bedrohlich erscheinen ließ. Der Glaube an die göttliche Bestimmung der spanischen Nation konnte fortan nur noch mithilfe einer kollektiven Verdrängung des Alltags, etwa durch aufwändige Festinszenierungen, aufrechterhalten werden.51 Doch bereits in der Phase des ökonomischen und machtpolitischen Aufstiegs galt es, potentielle Bedrohungen für die spanische Kirche und Nation in Schach zu halten, und auch in dieser Hinsicht kann Sevilla als Vorreiterstadt betrachtet werden. Im Jahr 1840 wurde in Sevilla das Santo Oficio de la Inquisición eingerichtet, das zunächst die Aufgabe hatte, die sogenannten conversos zu kontrollieren. Zur Mitte des 16. Jahrhunderts war die Inquisition vor allem damit beschäftigt, protestantische Ketzereien und falsche Bekehrungen, später auch Mitglieder von Sekten zu verfolgen.52 Doch auch mit weniger restriktiven Mitteln wurde der katholische Glaube in Sevilla verteidigt. Die andalusische Metropole war eine der Städte, die sich am vehementesten gegen den Einfluss der reformatorischen Strömung einsetzte, vor allem, was die Marienverehrung und die damit verbundene Verteidigung des Dogmas der unbefleckten Empfängnis anbelangte. Somit war Sevilla ein Ort, an dem zugleich Neues kultiviert und Altes bewahrt, an dem Wandel vorangetrieben und unterdrückt wurde. Kaum irgendwo anders traten Erfahrung und offizielle Ordnung so sehr auseinander und an kaum einen anderen Ort wurden die Anzeichen einer neuen Raum-Zeit stärker mit dem Aufrechterhalten einer alten konfrontiert. Die Verarbeitung dieser Kollision rief neue intellektuelle Netzwerke auf den 51 | Vgl. Gumbrecht (1990), 350-388. 52 | Vgl. Perry (1980),4-5.

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Plan, die sich in verschiedener Art und Weise mit dem räumlichen und zeitlichen Wandel auseinandersetzten. Sie vereinten Historiographen, Kosmographen, Naturforscher, Ärzte und Dichter, wobei eine Person häufig mehreren dieser Tätigkeiten nachging: Geschichtsschreiber und Kosmographen, die Naturobjekte sammelten waren ebenso gewöhnlich wie Dichter, die zugleich historiographisch tätig waren. Angesichts dieser Vernetzung von Personen und Institutionen scheint es unmöglich, die Pluralität raum-zeitlicher Konstellationen allein anhand eines bestimmten Mediums, geschweige denn anhand einer einzigen Textform analysieren zu wollen. Der Querschnitt, den diese Studie vornimmt, ist daher breit angelegt. Er öffnet sich auf genreübergreifende und intermediale Fragestellungen, mit deren Hilfe Zusammenhänge etwa zwischen Historiographie und fiktionaler Literatur oder zwischen Text und Sammlung aufgezeigt werden können. Ein solcher Ansatz bedarf weiterer Präzisierungen in der methodischen Herangehensweise an die Texte. Im ersten Teil dieser Studie soll daher zunächst das theoretische Fundament eines Raum-Zeit-Modells gelegt werden, das unterschiedliche Formen der frühneuzeitlichen Textproduktion in ihrem Zusammenhang mit der lebensweltlichen Realität fassen kann. In einem ersten Schritt wird das Spannungsfeld von Realität und Fiktion umrissen, in dem frühneuzeitliche Texte stehen: Sowohl Dichtung als auch Historiographie sehen sich in der Frühen Neuzeit gezwungen, ihr Verhältnis zur Realität neu zu definieren und auf je eigene Art und Weise Evidenz zu erzeugen. Anschließend wird das Verhältnis von lebensweltlicher und literarischer bzw. medialer Raum-Zeit, von innerem und äußerem Chronotopos näher bestimmt und, in einem letzten Schritt, das Zusammenspiel von Raum und Zeit als heuristischen Kategorien. In einem zweiten Teil wird die historische Spannung in der Organisation von Raum-Zeiten anhand der lokalen Geschichtsschreibung und Publizistik in Sevilla präzisiert. Der thematisch überwiegend diachron organisierten Chronik, die große Zeiträume abdeckt, werden die eher synchron orientierten Festbeschreibungen, die den gegenwärtigen Augenblick fokussieren, gegenübergestellt. Der dritte Teil ist der Analyse kultureller Praktiken in der Wissenschaft gewidmet, die sich, wie auch Chronik und Festbeschreibung, in das entwickelte Modell einer frühneuzeitlichen Raum-Zeit eingliedern, innerhalb deren Rahmen jedoch eigene Chronotopoi entwickeln und diese unterschiedlich funktionalisieren: Philosophischer Dialog und botanische Abhandlung verwenden je eigene Techniken des Erzählens und Zeigens, deren Gemeinsamkeit mit den anderen Textsorten in einem typisch frühneuzeitlichen Streben nach Evidenzerzeugung besteht. Im vierten Teil schließlich geht es um Konfigurationen von Raum und Zeit im Theater. Anhand einer Analyse ausgewählter comedias urbanas der Schule Lope de Vegas wird der Frage nachgegangen, inwieweit entpragmatisierte fiktionale Texte überkommene Raum-Zeiten, die von

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offizieller Seite noch als gültig hochgehalten werden, unterstützen oder aber kritisch in den Blick nehmen. Dies gilt auch für den Schelmenroman Lazarillo de Tormes, der in einem knappen Ausblick paradigmatisch für diejenigen Texte in den Blick genommen wird, die aus dem Untersuchungsfeld ›Sevilla‹ herausfallen.

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1. Raum, Zeit und Erzählung in der Frühen Neuzeit

1.1 R AUM -Z EITEN IM S PANNUNGSFELD Z WISCHEN R E ALITÄT UND F IK TION Die Produktion und Rezeption literarischer Chronotopoi steht in der Frühen Neuzeit in einem historisch spezifischen Spannungsverhältnis. In dem Maße wie der abbildhaft verstandene antike Mimesisbegriff in der Dichtung durch den Begriff des Wahrscheinlichen abgelöst wird, müssen sowohl Dichtung als auch Historiograpahie ihr Verhältnis zur Realität neu bestimmen und sich gegen einen Subjektivitätsverdacht behaupten: Während an den fiktionalen Text die Forderung gestellt wird, sich so weit wie möglich einer idealisierten Realität, dem Wahrscheinlichen, anzunähern, muss der historiographische Text seine Nicht-Fiktionalität nachweisen. Dieser Evidenzpflicht kommen, so wird zu zeigen sein, sowohl fiktionale als auch historiographische Literatur durch die markierte Präsenz eines Erzählers nach. Dieser tritt auf als Garant für die Kontingenzbewältigung angesichts von Umbrüchen im Raum-Zeit-Gefüge. Das vorliegende Kapitel sucht das Spannungsfeld, in dem raum-zeitliche Konfigurationen der Frühen Neuzeit stehen, aufzuzeigen, indem es das Verhältnis von Historiographie und Dichtung sowie dasjenige von fiktionalem und faktualem Erzählen näher bestimmt. *** Im zweiten Teil des Don Quijote (DQ II, 36-45) findet ein vom Erzähler als ridículo bezeichnetes Gespräch zwischen dem Junker, seinem Knappen und einem Gelehrten aus Salamanca statt. Don Quijote bezweifelt, dass seine Taten, wie Sancho Panza sagt, in einer Historie niedergeschrieben worden seien, denn schließlich sei ja auf seinem Schwert noch nicht einmal das Blut der Feinde, die er getötet hatte, getrocknet. Wahrscheinlich, so vermutet der Junker, müsse es sich um einen Zauber handeln, durch den der Bericht seiner glorreichen Ritterschaft dem Druck übergeben

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worden war. Als der Baccalaureus Sansón Carrasco ihn schließlich von der Existenz der besagten Historie überzeugen kann, stellt sich für Don Quijote die Frage, in welchem Verhältnis diese zum tatsächlichen Geschehen stehe. Er befürchtet, dass der Autor maurischer Abstammung, was nichts Wahres erwarten ließe, seinen Taten Unwahres beigemischt habe, kommt aber zu dem Schluss, »daß es keine menschliche Historie in der Welt geben könne, die nicht ihre Unebenheiten habe.«1 Sansón hält es für wünschenswert, dass die Geschichtsschreibung auf anstößige Details verzichte, Sancho Panza hingegen sieht die Wahrheit der Historie gerade darin, dass sie Unschönes nicht verschweige. Der Baccalaureaus löst die Kontroverse schließlich mithilfe der aristotelischen Formel von der poetischen und der historischen Wahrheit auf: [U]no es escribir como poeta y otro como historiador: el poeta puede contar o cantar las cosas, no como fueron, sino como debían ser; y el historiador las ha de escribir, no como debían ser, sino como fueron, sin añadir ni quitar a la verdad cosa alguna. (DQ II, 40)

Die von Cervantes aufgezeichnete Unterredung spielt auf zwei typisch frühneuzeitliche Phänomene an. Erstens ist in der Passage die Schwierigkeit angedeutet, Geschichtsschreibung und Dichtung voneinander abzugrenzen, vor allem zugunsten der Geschichtsschreibung. Don Quijote ist weniger um einen Missbrauch der Dichtung für die Historie besorgt als vielmehr um die Kontamination der Geschichtsschreibung durch die Dichtung. Daran wird erstens das frühneuzeitliche Bestreben deutlich, die Geschichtsschreibung als eigenständige – faktuale – Gattung in Abgrenzung zur Dichtung zu etablieren. Zweitens thematisiert Cervantes hier den Verdacht der Subjektivität, unter dem die frühneuzeitliche Geschichtsschreibung steht. Als Don Quijote von der historiographischen Aufzeichnung seiner Taten hört, befürchtet er sogleich, dass diese Darstellung nicht einer objektiven Wahrheit entsprechen könnte. Diese Befürchtung ist an die Person des Verfassers geknüpft, der womöglich seinen lügenhaften Charakter in dem Bericht auslebt. Der Verdacht der Lüge verbindet sich mit einem Misstrauen gegenüber dem Autor, der möglicherweise eine subjektive Willkür walten lässt, anstatt sich an eine objektive Wahrheit zu halten. Dieser Subjektivitätsverdacht, unter den die Historie der Frühen Neuzeit gerät, gründet in dem Bewusstsein, dass hinter dem historiographischen Text ein Individuum steht, dessen Persönlichkeit in den Inhalt mit einfließen und diesen korrumpieren könnte. Cervantes wirft somit die Frage nach der Autorität und dem Status des Autors auf. Die folgenden beiden Unterkapitel gehen diesen beiden Phänomenen, der Frage nach dem Ort von Historiographie und Dichtung im frühneu1 | Cervantes Saavedra, Miguel de (1984): Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha. Zweiter Teil. Übers. von Ludwig Tieck, Berlin: Rütten & Loening, 27. Im Folgenden abgekürzt mit DQ.

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zeitlichen Gattungsgefüge und dem Subjektivitätsverdacht, unter den die Geschichtsschreibung gerät, nach. In einem weiteren Schritt wird auf dieser Grundlage ein Erzählbegriff erarbeitet, welcher den vielfältigen Überschneidungen von fiktionalem und faktualem Erzählen in religiösen, historiographischen, naturwissenschaftlichen und literarischen Texten der Frühen Neuzeit gerecht werden kann.

1.1.1

Geschichtsschreibung und Dichtung

Mit dem soeben skizzierten Gespräch zwischen Don Quijote und seinen Begleitern knüpft Cervantes an eine seinerzeit aktuelle Diskussion um das Verhältnis von Geschichtsschreibung und Dichtung an. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hatte sich die Historie noch nicht als eigenständige Gattung, geschweige denn als Wissenschaft konstituiert. Die Problematik um die Unterscheidung von Historiographie und Dichtung wurde im Altertum lediglich gestreift und war dem Früh- und Hochmittelalter im Grunde fremd. Demgegenüber gewann sie im Spätmittelalter und in der Renaissance an Brisanz. In Spanien wurde sie vor allem ausgelöst durch die aristotelische Antithese vom Wahren und Wahrscheinlichen, das heißt von der aktuellen Wahrheit der Geschichte und der potentiellen Wahrheit der Dichtung, die über die italienische Theorie Eingang in die spanische Poetik fand.2 Die frühneuzeitliche Geschichtsschreibung knüpfte an die Praxis des Mittelalters an, indem sie historia im Sinne von story hervorbrachte.3 Die Geschichte war Teil der Literatur, ohne jedoch eine eigene Gattung zu bilden. Sie durchdrang das gesamte Gattungsspektrum,4 wurde jedoch überwiegend dem erzählenden Genus in Abgrenzung zum dramatischen zugeordnet.5 Die historia umfasste sinnlich in Natur und Lebenswelt gewonnenes Einzelwissen und bildete gewissermaßen eine unwissenschaftliche Vorstufe der ›richtigen‹ Wissenschaften. Dies schmälerte ihren Wert jedoch keineswegs, da Erkenntnis durchaus auch außerhalb der Wissenschaft gewonnen werden konnte. Weisheit, Klugheit und Gelehrsamkeit, die ihren Ort in der Literatur hatten, waren sogar bevorzugte Gebiete intellektueller, einschließlich historiographischer, Tätigkeit.6 Schon allein deshalb, weil vom Dichter Gelehrsamkeit und umgekehrt vom Geschichtsschreiber dichterisches Können gefordert wurde, waren dichterisch-historiographische Interferenzen häufig. Der Historiograph Ortiz de Zúñiga etwa stellt in seinem mehrbändigen Werk Anales

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Vgl. Heitmann (1970), 266. Vgl. Völkel (2006), 115-116. Vgl. ebd., 199. Vgl. Heitmann (1970), 252. Vgl. Völkel (2006), 198.

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de Sevilla7 einen Katalog von Schriftstellern (»escritores«) zusammen, die sowohl Autoren fiktionaler, als auch philosophischer, theologischer und historiographischer Literatur umfasst (OZ IV, 169-186). Dass diese Unterscheidungen für ihn zumindest vordergründig keine Rolle spielen, zeigt sich darin, dass die Autoren nicht nach der Gattung ihrer Werke, sondern alphabetisch angeordnet sind. Doch nicht nur auf auktorialer Ebene wurde die Unterscheidung von Dichtung und Geschichtsschreibung vernachlässigt, sondern auch innerhalb der Werke selbst. Der sevillanische Autor Argote de Molina lässt in sein historiographisches Monumentalwerk Nobleza del Andaluzia (1588)8 nach alter Tradition Textfragmente aus den mittelalterlichen romanceros einfließen und ergänzt so die aus archäologischen und historiographischen Quellen kompilierten Informationen durch poetische Elemente.9 Damit weist sich Argote de Molina als nach humanistischem Ideal gelehrter und literarisch bewanderter Autor aus. Neben seinem historiographischen Schaffen war Argote de Molina auch als Literat tätig, wobei sein historiographisches Schreiben in sein literarisches mit einfloss. Er gab 1575 eine Edition des berühmten Conde Lucanor heraus, der er neben der Biographie des Autors Juan Manuel auch sein eigenes genealogisches Werk Principio y succession de la real casa de los Manueles beifügte.10 Historiographie und Dichtung sind hier auf eine Art und Weise miteinander verschränkt, welche die beiden Gattungen zwar klar trennt, sie jedoch zugleich in ein Abhängigkeitsverhältnis setzt: Der fiktionale Text steht nicht für sich allein, sondern durch ihn spricht eine historische Person, die dem Leser mit all ihren biographischen Hintergründen präsentiert wird. Die historiographische Stimme stellt keine abstrakte überzeitliche Instanz dar, sondern gibt sich als historisches Subjekt zu erkennen. Da sich Geschichtsschreibung und Dichtung in der Frühen Neuzeit noch nicht als getrennte Bereiche etabliert hatten, war es für den Leser auf den ersten Blick nicht ersichtlich, ob er es mit einem historiographischen oder einem fiktionalen Text zu tun hatte. Zwischen der offensichtlich faktualen und der offensichtlich fiktionalen Erzählung lag eine Grauzone, in welcher der Leser keinen klaren Anhaltspunkt hinsichtlich der Zugehörigkeit eines Textes zum einen oder zum anderen Diskurs hatte.11 Daher musste der Text Hinweise enthalten, die eine solche Zuordnung ermöglichten. Ein historiographischer Text hatte eindeutig als solcher markiert zu sein, um sich von fiktionalen Texten abgrenzen zu können. Außerdem, 7 | Ortiz de Zúñiga, Diego (1677): Anales eclesíasticos y seculares de la muy noble y muy leal ciudad de Sevilla, Madrid: Imprenta Real. Im Folgenden abgekürzt mit OZ. 8 | Argote de Molina, Gonzalo (1975 [1588]): Nobleza del Andaluzia, Hildesheim: Olms. 9 | Vgl. Palma Chaguaceda (1949), 137. 10 | Vgl. ebd., 121-123. 11 | Vgl. Nelson (1973), 39.

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und dies soll Thema des nächsten Unterkapitels sein, musste sich die Geschichtsschreibung dem ständigen Verdacht erwehren, die Objektivität der dargestellten Fakten zu kompromittieren. Hierauf zielte die Befürchtung Don Quijotes, der dem Autor seiner Historie nicht traut und eine Verzerrung dessen befürchtet, was er für real hält. In dem Maße, wie der frühneuzeitliche Geschichtsschreiber als Individuum wahrgenommen wurde, wurde er zur Gefahr für die Objektivität der Historie.

1.1.2

Subjektivitätsverdacht und Fiktionalitätsbewusstsein

Zu dem Zeitpunkt, als die wiederentdeckten Schriften des Aristoteles ihre weiteste Verbreitung fanden, vollzog sich zugleich ein Bruch mit dem aristotelischen Mimesisbegriff. Dieser war lediglich durch das Mögliche, das Vorstellbare begrenzt. In der Renaissance wird nun das Mögliche durch die Kategorie des Wahrscheinlichen ersetzt, »welche offenbar von dem bereits Seienden abhängt, vom Tatsächlichen, das folglich mit dem Wahrhaftigen vermischt wurde.«12 Luiz Lima erklärt diese Einschränkung der Mimesis mit dem an sie fortan gestellten Anspruch, den Parametern einer Vernunft zu folgen, die in der Alltagsrealität wurzelte. Um die gewünschten moralischen Effekte erzielen zu können, musste die Poesie sich so weit wie möglich an die Realität annähern, wobei mit ›Realität‹ nicht die konkrete Alltagswelt gemeint war, sondern eine Reduktion derselben zu einer idealisierten und modellhaften Form. Dies führte zu einer Reglementierung des Imaginierens,13 da dieses sich der Alltagsroutine entgegenstellte: So verlangte Castelvetro von der Prosa, dass ihr Projekt »wahr und nicht imaginiert«14 sein müsse. Das Bedürfnis nach Kontrolle des Imaginierens gründete, so Lima, in der Angst vor einer ungebändigten Subjektivität. Ausgehend von der neoplatonischen Vorstellung einer angeborenen Idee, die nur im Innersten des Einzelnen zu finden sei und durch die Nachahmung verschiedener Modelle freigelegt werden könne, ergab sich hinsichtlich des Dichters die Gefahr einer Entgleisung des ›Ich‹ »zu einer wilden, unkontrollierbaren Entität, die unfähig wäre, Hierarchien zu respektieren und der es unmöglich wäre, ihre legitime Position zwischen den noblen und niederträchtigen Charakteren zu bestimmen.«15 Während die scholastischen Dichter das Problem einer potentiell unkontrollierbaren Subjektivität durch die pädagogische Indienstnahme des Schreibens für die Verbreitung des Glaubens lösten, rechtfertigten die Humanisten die Individualität und die daraus resultierende Subjektivität mit Verweis auf das Christentum einerseits, indem sie die Verwandtschaft 12 | Lima (1990), 42-45, hier 43. 13 | Costa Lima verwendet hier den Begriff des Imaginären, bezieht sich jedoch offenbar eher auf eine Imaginationspraxis im Sinne des Fingierens als auf das Imaginäre, wie er es an späterer Stelle in Anschluss an Lacan versteht. 14 | Zitiert nach Lima (1990), 46. 15 | Ebd., 34-35.

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von Theologie und Dichtung herausstellten, und auf die Antike andererseits, indem sie das Studium der Alten mit der Entwicklung eines persönlichen Stils verbanden. Die Subjektivität konnte sich also nur dann legitimieren, wenn sie sich auf ein Modell berief, das für die jeweilige – weltliche oder religiöse – Kontrollinstanz akzeptabel war.16 Dies wird vor allem in Bezug auf die comedia Lope de Vegas von Bedeutung sein: Unter dem Deckmantel einer Restitutionsbewegung, die dem offiziellen, christlich-orthodoxen Weltbild gerecht wird, modelliert Lope Anzeichen eines zeitlichen Wandels, welche eben dieses Weltbild in Frage stellen. In dem Maße, in dem die Subjektivität in der Dichtung einer Kontrolle unterzogen wird, gerät die frühneuzeitliche Historiographie unter einen latenten Subjektivitätsverdacht. Der Historiograph muss mit dem Vorwurf rechnen, die Tatsachen nach seinem eigenen Gutdünken – hierauf spielt die Befürchtung Don Quijotes an – oder gemäß der Gebräuche seiner Zeit wiederzugeben. Dadurch steht die Geschichtsschreibung unter zunehmendem Legitimationsdruck. Sie muss jegliche Subjektivität unterdrücken, um als Botschafterin der Wahrheit gelten zu können. Damit sind beide, sowohl der fiktionale als auch der historiographische Text, der Realität verpflichtet: Während der fiktionale Text sich so weit wie möglich dem Wahrscheinlichen, das heißt, einer idealisierten Realität, anzunähern hat, um nicht in eine ungebändigte Subjektivität auszuufern, muss der historiographische Text seine Nicht-Fiktionalität beweisen. Die Notwendigkeit, ein subjektives Imaginieren zu bändigen, setzt ein Bewusstsein um dessen Existenz voraus, welches wiederum, wie Gumbrecht gezeigt hat, in der Frühen Neuzeit emergiert. Der Medienwechsel vom Manuskript zum gedruckten Buch bringt eine neue Struktur der literarischen Kommunikationssituation hervor:17 Die Botschaft richtet sich nun an ein »diffuses Publikum von Lesern«, weshalb nicht der gemeinsame Sinnhorizont vorausgesetzt werden kann, der Vortragende und Hörer in der mündlichen Kommunikationssituation umgab. Dennoch rechnen viele Autoren in dieser Übergangsphase von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit mit Lesern, die sich den eindeutig konstituierten Sinn des Textes zu erschließen fähig sind. Wo dies nicht der Fall ist, wird der vom Text transportierte Bedeutungshorizont als verschlüsselt wahrgenommen und damit von der alltäglichen Sinnsphäre zu unterscheidender. Diese »Bipolarität zwischen einem fiktionalen und einem alltäglichen Sinnhorizont«18 war in der mittelalterlichen Kommunikationssituation nicht vorhanden. Die Welt des Textes wurde als Spielwelt begriffen, die zum Ernst des alltäglichen Handelns allenfalls in ein kompensatorisches Verhältnis gesetzt wurde, ohne dass dieses darüber hinaus reflektiert wurde. Nun aber entsteht ein Bewusstsein dafür, dass die im Text evozierte fiktionale Welt der Alltagswelt gegenübersteht, wodurch die Fiktion ihre 16 | Vgl. ebd., 35. 17 | Vgl. Gumbrecht (1990), 177. 18 | Ebd., 177.

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eigene Legitimation erhält. Dies gibt dem Autor die Freiheit, »den Raum der Fiktion aus Wissenselementen aufzubauen, denen die Leser in ihrem Alltag nicht [begegnen].«19 Das Auseinandertreten von Lebenswelt und fiktionaler Sinngestaltung ruft eine Gegenbewegung hervor, welche Fiktion und Realität in veränderter Form wieder zu vereinen sucht: Zahlreiche Handlungen fiktionaler Texte sind in konkreten historischen Räumen lokalisiert und greifen so auf ein Setting zurück, das demjenigen Raum, der den Leser in seinem Alltag umgibt, im Vergleich zu den allegorischen Räumen mittelalterlicher Texte recht nahe kommt. Dass sich das Fingieren als eigenständiges Verfahren innerhalb der frühneuzeitlichen Textproduktion herauskristallisiert, wird auch dort deutlich, wo zeitgeschichtliche Berichte Titel wie etwa »relación verdadera«, »relación muy verdadera« oder »romance verdadero«20 tragen. Die Verwendung solcher ›Realitätspostulate‹ zeigt, dass offenbar die Notwendigkeit besteht, einen Text bereits im Titel als nicht-fiktional zu markieren. Dies impliziert ein Bewusstsein um eine Grenze zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen, wie sie etwa in den mittelalterlichen Epopöen nicht gezogen wurde. Dass diese Grenze sprachlich markiert werden muss, macht wiederum deutlich, dass sie noch nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Der Leser muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass er es mit einer Darstellung von Fakten zu tun hat; der historiographische Text muss seinen Wahrheitsgehalt selbst performieren. Roland Barthes hat die performative Realitätserzeugung als allgemeines Phänomen der Historiographie in seiner Abhandlung Historie und ihr Diskurs (Le discours de l’histoire, 1967) problematisiert. Er zergliedert das historiographische Schreiben zunächst in drei Ebenen: die Ebene des Aussagens (énonciation), die der Aussage (énoncé) und die der Bedeutung (signification). Das Aussagen bedeutet die rein sprachliche Vermittlung, den Akt der Geschichtsschreibung. Auf der Ebene des Ausdrucks wird der historische Referent zu inhaltlichen Einheiten (z.B. ›Verschwörung‹) modelliert, die das historiographische Schreiben strukturieren.21 Die Ebene der Bedeutung schließlich erwächst aus der Unterscheidung zwischen bedeutungsloser und bedeutender Historie. Während Barthes zur bedeutenden Historie etwa solche Texte zählt, in denen eine direkte Lehre aus den dargestellten Fakten gezogen wird, ordnet er der bedeutungslosen 19 | Ebd., 177-178. 20 | So beispielsweise bei Beltrán de la Cueva, Juan (1626): Relacion verdadera en que se da quenta de todo el daño que causò las crecientes del rio Guadalquiuir en la ciudad de Seuilla y Triana, este año de 1626, Lima: Geronymo de Contreras. Oder: Anonym (1692): Romance verdadero, en que se dà cuenta de la mayor de las grandes fatalidades que celebra la fama, y refieren los Anales: sucedida en el Coliseo de la Ciudad de Seuilla, el dia Miercoles doze de Nouiembre de 1692, Sevilla: O. Verleger. 21 | Vgl. Barthes (1968b), 175-176.

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Historie Chronologien und Annalen zu, welche Fakten in ihrer chronologischen Abfolge aneinanderreihen, ohne Zusammenhänge zu schaffen. Die Identifikation von Chroniken und Annalen als bedeutungslose Geschichte trifft für die mittelalterliche und frühneuzeitliche Historiographie kaum zu, denn gerade die chronologische Anordnung von Fakten produziert hier einen ganz spezifischen Sinn: Indem sich die Zeit zum reinen Strukturelement reduziert, erscheint sie zwar an der Oberfläche als inhaltsleere Größe, jedoch ermöglicht gerade diese vordergründig semantische Entleerung eine Einschreibung der Fakten in ein überzeitliches, zyklisches Narrativ (vgl. Kap. 2.1.2).22 Jedes Faktum kann so in Bezug zur Ewigkeit gesetzt werden und erhält einen heilsgeschichtlichen Sinn. Dieser Sinn muss sich nicht erst aus der Darstellung von Zusammenhängen konstituieren, sondern ist bereits apriorisch vorgegeben. Der prästabilierte Sinn gerät in der Frühen Neuzeit bekanntermaßen ins Wanken. Bereits die spätmittelalterliche Zeitbeschreibung der Heilsgeschichte ist nicht nur von einer latenten Ungewissheit geprägt, sondern erweist sich auch als unzulänglich darin, die Handlungs- und Kommunikationsprozesse einer immer komplexeren Gesellschaft zu erklären. Dies muss daher aus den gesellschaftlichen Verlaufsprozessen selbst heraus geschehen.23 Mit den später noch ausführlich zu untersuchenden Textformen der topographischen Geschichtsschreibung und der relación de sucesos als vorperiodischen Ereignisberichten entstehen historiographische Schreibpraktiken, die das Faktum nicht mehr mit einer allen Zeiten parallelen Ewigkeit abgleichen, sondern es als solches in den Blick nehmen und valorisieren. Mit der von Barthes eingeführten Ebene der Bedeutung kommt eine Dynamik ins Spiel, die sich als Imaginäres bezeichnen lässt und die zu kontrollieren, so soll hier behauptet werden, die frühneuzeitliche Historiographie bemüht ist. Nach Barthes zielt der historiographische Diskurs stets darauf ab, aus den zusammengestellten Fakten »einen positiven Sinn herzustellen und die Leere der reinen Serie aufzufüllen.«24 Barthes führt an dieser Stelle den Begriff des Imginären ein, wobei er sich implizit auf Lacan bezieht. Barthes versteht demnach unter dem Imaginären die Sprache, »durch die der Aussagende eines Diskurses (eine rein linguistische Größe) das Subjekt des Aussageprozesses (eine psychologische oder ideologische Größe) ›ausfüllt‹.«25 Wenn Barthes das Subjekt des historiographischen Aussageprozesses nicht nur als psychologische, sondern 22 | Der Erzählbegriff, der dieser Studie zugrunde liegt, umschließt sowohl das Narrativ als theoretische Kategorie, die auf Erzählmuster abzielt, als auch die Narration, die den Akt des Erzählens mit einschließt. Vgl. Müller-Funk (2008), 15. Die Narration ist demnach ein Narrativ, das sich in speziellen Segmenten einer Kultur, wie Literatur und Medien, aber auch in Alltagserzählungen, konkretisiert. 23 | Vgl. Thiedeke (1997), 271. 24 | Barthes (1968b), 178-179. 25 | Ebd.,179.

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auch als ideologische Größe begreift, dann geht er damit bereits über das lacansche Konzept des Imaginären hinaus, indem er anstelle des Subjekts auch eine kollektive Größe für denkbar hält. Damit bewegt er sich in Richtung eines Begriffes des Imaginären, wie ihn Wolfgang Iser und Cornelius Castoriadis verstehen: In Anlehnung an Castoriadis plädiert Iser für eine »Globalisierung des Imaginären«, indem er das Subjekt durch die Gesellschaft ersetzt und so das Imaginäre zu einer kollektiven Größe macht.26 Es soll hier noch einen Schritt weiter gegangen werden und unter dem Imaginären nicht nur das Produkt eines Aussageprozesses, sondern zugleich des Rezeptionsprozesses verstanden werden. Denn der Prozess des Bedeutens vollzieht sich nicht nur auf der Produktions-, sondern auch auf der Rezeptionsebene. Der Autor produziert mit dem Fingieren zwar einen intendierten Sinn, der jedoch vom Leser nicht unbedingt genauso verstanden wird. Produzent und Rezipient, Autor und Leser sind gleichermaßen an der Herstellung des Sinns beteiligt, den der Text produziert. Rezeption und Imaginäres gehen also unmittelbar zusammen; der frühe Iser der Rezeptionsästhetik27 muss mit dem späten Iser des Imaginären zusammen gedacht werden. Nach Castoriadis versucht jede Gesellschaft, die sie umgebende Welt so zu deuten, dass ein sinnvolles Ganzes entsteht, eine Ordnung, in der die lebensweltliche Erfahrung aufgehen kann. Dieses Gesamtbild greift zwar auf materiell gegebene Elemente zurück, doch werden diese mithilfe von Bedeutungen geordnet, die imaginärer Art sind.28 Nach Barthes ist es Ziel des Historiographen, das Imaginäre bzw. den Akt der Bedeutung aus seiner Darstellung auszublenden, um so zu tun, als wäre die linguistische Existenz des Faktums eine genaue Kopie des Realen. Diese Tendenz eines effet de réel lässt sich entgegen der gängigen literaturwissenschaftlichen Auffassung nicht erst im 19. Jahrhundert, sondern, wie im entsprechenden Kapitel zu zeigen sein wird, bereits in den Festbeschreibungen der Frühen Neuzeit beobachten. Die sogenannten relaciones de fiesta versuchen, die literarische Darstellung des Festes als das Reale auszugeben, indem sie mit rhetorischen Mitteln einen Raum erzeugen, der sich scheinbar mit dem realen festlich geschmückten Raum deckt. Die Erzeugung eines effet de réel stellt ein Bemühen dar, das die fiktionale Literatur und die Geschichtsschreibung miteinander verbindet. Letztere treibt es jedoch, so Barthes, in ein Paradox: Durch die Ausgrenzung des Bedeutungsprozesses entsteht der Eindruck, dass das historische Faktum als Bezugsobjekt und sein Ausdruck sich decken. Der Ausdruck wird im Akt des Erzählens in ein Signifikat transformiert, das dadurch scheinbar selbst zum Realen wird. Damit ist der Akt der Geschichtsschreibung grundlegend performativ:29 Er beinhaltet implizit die Aussage eines 26 | Vgl. Iser (1991), 355-357. 27 | Vgl. Iser (1976). 28 | Vgl. Castoriadis (1975), 208. 29 | Vgl. Jaeger (2002a), 71.

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das ist geschehen und schafft so erst das Reale.30 Die Historie bezieht ihre Wahrheit damit aus ihrer Erzählstruktur selbst; diese wird zum Beweis der Realität. Von dem Moment an, an dem das Faktum sprachlich vermittelt ist, kann es nur noch tautologisch definiert werden.31 Die Geschichtsschreibung, so ließe sich zugespitzt sagen, erzeugt das Faktum, das sie darstellt, selbst. Dieses Problem scheint Cervantes im Ansatz vorwegzunehmen, wenn er ausgerechnet Don Quijote, der nicht nur selbst eine fiktive Figur ist, sondern dessen eigenes Bild von der ihn umgebenden (ebenfalls fiktiven) Realität bereits verzerrt ist, an der Wahrheit seiner Historie zweifeln lässt. Die Gefahr, der Bericht seiner Taten könnte Unwahres enthalten, ist aus einer intratextuellen Perspektive heraus ein Scheinproblem, da die Taten Don Quijotes, die den Gegenstand der Historie bilden, bereits Produkt seiner eigenen Imagination sind. Was für Don Quijote Realität ist, ist nichts anderes, als seine eigene Sichtweise der Realität. Und diese Sichtweise ist, so weiß der Leser, in hohem Maße imaginiert. Cervantes deutet hier in stark überspitzter Form dasjenige Problem der Geschichtsschreibung an, das auch in Barthes’ Ausführungen zur Historiographie mitschwingt, wenn er das Subjekt des Aussageprozesses als Produzent von Sinn betrachtet: Die Historiographie vermittelt die Realität so, wie der Geschichtsschreiber sie sieht bzw. wie sie sich ihm in den verwendeten Quellen präsentiert. Dies bringt den frühneuzeitlichen Geschichtsschreiber dazu, seine eigene Geschichtlichkeit zu verschleiern: »[U]m sich als durchsichtiger Diener der Wahrheit zu zeigen; um seinen Platz in der Hierarchie der Wissensgebiete besser abzusichern, leugnet er den Einfluß seines weltlichen Ortes; er entzeitlicht die Vernunft, weil er sich für von ihr durchdrungen hält.«32 Konkret geschieht diese Ausblendung der Historizität des Verfassers dadurch, dass der historiographische Text implizit oder explizit als real markiert wird. In zahlreichen historiographischen Texten der Frühen Neuzeit ist die Realitätsmarkierung, wie oben am Beispiel der relaciones sichtbar wurde, explizit bereits im Titel vorhanden. Hierin besteht der wesentliche Unterschied zu Barthes Beschreibung des (modernen) historiographischen Schreibens: Der Autor agiert nicht von einer impliziten Position aus, sondern tritt selbst als Garant für die Realität des Dargestellten auf. Das Phänomen einer Erzählinstanz, die sowohl in Geschichtsschreibung als auch Fiktion den Leser an der Hand nimmt und durch den Text führt, kann als Ersatz für die körperliche Anwesenheit eines Erzählers im Mittelalter betrachtet werden. Es ist der Tatsache geschuldet, dass sich 30 | Barthes spricht von einem »verfälschte[n] performative[n] Diskurs […], in dem nämlich das scheinbar Konstatierende (Deskriptive) tatsächlich nur das Bedeutete des Sprechaktes als eines Autoritätsaktes ist.« Barthes (1968b), 179-180. 31 | Vgl. ebd. 32 | Lima (1990), 29.

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die literarische (und auch politische) Kommunikation der Frühen Neuzeit in einer Übergangsphase von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit bzw. von der Anwesenheit zur Abwesenheit33, in diesem Falle des Erzählers, befindet. Im Gegensatz zum handschriftlichen Text ist auf der Druckseite die indirekte Präsenz einer Aussageinstanz nicht mehr nachvollziehbar. Der Körper des Autors wurde »aus der medialen Situation verdrängt«.34 Dieses Verschwinden schafft zwar Kontingenz, was die Deutung des Textes betrifft, verleiht ihm jedoch eine neue Form von Autorität. Während die Präsenz des Schreibers, wie sie in der Handschrift nachvollziehbar ist, den Sinn der Botschaft instabil macht, vermittelt das, was schwarz auf weiß gedruckt ist, hohe Verbindlichkeit.35 Der Autor spricht nun über den gedruckten Text wie durch eine Maske. Diese soll, ähnlich der Maske im Ritual, den Körper des Senders verbergen und so die Objektivität der Botschaft gewährleisten. Damit wird auch die Zeitlichkeit des Bezeichnungsaktes unterdrückt: Die Botschaft darf vom Empfänger nicht als Prozess betrachtet werden, sondern ihr Sinn muss als vorherbestimmt, als Absicht des Autors erscheinen. Der gedruckte Text besitzt also das Potential, die Zeitlichkeit von Sinn und damit seine Instabilität zu maskieren.36 Wenn auch auf der Ebene des Dispositivs eine endgültige Ablösung von Text und Körper stattgefunden hat, so scheint sich dieser Schritt im Denken von Autoren und Lesern noch nicht vollständig vollzogen zu haben. Hierfür spricht die gängige Praxis der frühneuzeitlichen Autoren, ihren Text einer höher stehenden Person zu widmen und diese direkt anzusprechen, genauso wie die Anrede des Lesers mit der Formel des »Estimado lector«. Anders als in den meisten Prologen fiktionaler Texte, in denen der Autor den Leser an den Text heranführt, um sich dann wieder zurückzuziehen bzw. das Wort an einen Erzähler zu übergeben, bleibt der frühneuzeitliche Historiograph auch innerhalb seiner Darstellung präsent, indem er immer wieder in der ersten Person auftritt und so von seiner Warte des Schreibers her in die Erzählung eingreift. Die Ebenen des Aussageaktes und der Aussage fließen so ineinander. Damit stellt sich eine spezifisch frühneuzeitliche Variante des von Barthes identifizierten Paradoxes ein: Das historiographische Erzählen bezieht seine Glaubwürdigkeit aus sich selbst, indem es den an der Textoberfläche anwesenden Erzähler performativ als realen Autor ausweist. Der Status des Autors wird somit ambivalent: Einerseits stellt der gedruckte Text eine Maske dar, hinter welcher der Autor seine Subjektivität verbirgt, andererseits muss die Stimme des Autors als Gewährsmann für den intendierten Sinn durch diese Maske klar zu hören sein. Die noch vage Grenzmarkierung zwischen wahrer und falscher Rede, zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion, wird schon bald zum Gegenstand 33 34 35 36

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Vgl. Schlögl (2008). Gumbrecht (1998), 91-92. Thiedeke (1997), 280. Vgl. Gumbrecht (1988).

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eines Spiels: Mit dem expliziten Verweis auf den realen Charakter eines Textes werden auch fiktive37 Ereignisse als wahr ausgewiesen. So wie der gedruckte Text dem Autor die Möglichkeit gibt, seine Subjektivität zu kaschieren, wird die explizite Wahrheitsanzeige zu einer Maske, hinter der sich fiktive Inhalte verbergen. Dies ist etwa der Fall in der von Fernando Álvarez verfassten Relacion muy verdadera en que se da cuenta de vna muger natural de Seuilla que en tiempo de doze años que ha que es casada ha parido cincuenta y dos hijos, y oy en dia esta viua. Cuentase de una señora muy principal de Irlanda, que pario trezientos y sesenta hijos en una fuente de plata. Y los bautizaron […].38 Bereits im überaus langen Titel, der die Erzählung zusammenfasst, wird der Widerspruch zwischen der Realitätsmarkierung und dem Inhalt deutlich. Das Attribut »verdadera« steht nicht nur im Widerspruch zur Unmöglichkeit, 52 Kinder zu gebären, sondern auch zur offensichtlichen Verwendung der Zahlensymbolik.39 Damit verliert das Realitätspostulat seinen Gehalt und wird zur zitierten Floskel. Die Formel, welche das Reale vom Fiktiven abgrenzen soll, verwischt letztendlich die Grenze zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen. Solche Verfahren stellen eine spielerische Überschreitung der sich erst konstituierenden Grenze zwischen fiktional und faktual dar. Die performative Konstitution von Wahrheit bleibt nicht der Historiographie vorbehalten, sondern entwickelt sich zu einem Kunstgriff des fiktionalen Schreibens. Solche Überschneidungen häufen sich vor allem in Umbruchzeiten.40 Denn ein 37 | Zur Terminologischen Unterscheidung von »fiktiven« Ereignissen, Personen und Objekten und fiktionalen Texten, die diese Ereignisse etc. konfigurieren, vgl. Rühling (1996). 38 | Das Erscheinungsdatum des Textes ist unklar und auch der Autor lässt sich nicht eindeutig identifizieren. Man kann annehmen, dass es sich um Fernando Álvarez de Toledo handelt, der das Amt eines Lizentiaten in der Audiencia de Chile bekleidete und von 1628 bis 1630 Amtmann von Colchagua war. Vgl. Amunátegui y Solar (1901)231. Noch wahrscheinlicher ist, dass es sich um den gleichnamigen in um 1550 in Sevilla geborenen Onkel und damit um den Autor des Puren Indómito selbst handelt. Dieser reiste als Soldat und Poet mit Alonso de Sotomayor in die Neue Welt und kämpfte gegen die araukanischen Indigenen in Chile. Sein Gedicht Purén Indómito, eine weniger inspirierte Fassung von Ercillas Meisterwerk »La Araucana«, schildert den Krieg, der 1598 zwischen den Arauca und den Kolonialherren ausbrach. Vgl. Bleiberg, Ihrie & Pérez (1993) 67. 39 | Die Zahl 12 hat viele allegorische Bedeutungen. Erhält sie ihre Bedeutung im Mittelalter hauptsächlich durch die Anzahl der 12 Apostel, so ist sie im Alten Testament bereits vielfach präfiguriert und erscheint auch im Zusammenhang mit nichtbiblischen Bedeutungsträgern. Die Zahl 52 verweist vermutlich auf die 52 Wochen des Jahres, möglicherweise jedoch auch auf die 52 Söhne Adams. Angesichts der Kombination, in der die beiden Zahlen hier auftreten, ist anzunehmen, dass sie auf die kalendarischen Einheiten, 12 Monate und 52 Wochen im Jahr, verweisen. Vgl. Meyer & Suntrup (1987), 620-645 u. 748-749. 40 | Vgl. Jaeger (2002a), 63.

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textuelles Spiel mit den Kategorien ›fiktional‹ und ›faktual‹ ist nur dort möglich, wo eine Trennung zwischen beiden zumindest im Ansatz stattgefunden hat. Dass frühneuzeitliche Autoren sich einem solchen Spiel hingeben, bestätigt die Annahme, dass sich spätestens zum Ende des 16. Jahrhunderts bereits ein – wenn auch noch nicht programmatisches – Fiktionalitätsbewusstsein etabliert hat, das eine spielerische Überschreitung der Grenze zwischen Fiktion und Realität erst erlaubt. Es ist davon auszugehen, dass der Autor der Relacion muy verdadera de vna muger natural de Seuilla mit der Debatte um das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung vertraut war. Zwar lässt er sich nicht eindeutig identifizieren, man kann jedoch annehmen, dass es sich entweder um den Autor des Purén Indómito, einer Imitation von Ercillas Meisterwerk La Araucana handelt, oder um dessen gleichnamigen Neffen Fernando Álvarez de Toledo, der das Amt eines Lizenziaten in der Audiencia de Chile bekleidete. In beiden Fällen muss eine Auseinandersetzung mit La Araucana stattgefunden haben, und damit mit jenem Werk, das sich dem Vorwurf stellen musste, lediglich Historiographie in Versform zu sein.41 Gleichzeitig hat es als Vorläufer der spanischen Kolonialepik diejenige Gattung wiederbelebt, in der sich im Mittelalter fiktionales und faktuales Erzählen vermischten, ohne dass dies als Grenzüberschreitung wahrgenommen wurde.

1.1.3

Geschichtsschreibung und Erzählung

Die Problematik der Abgrenzung von Geschichtsschreibung und Dichtung hat ihre Aktualität bis heute beibehalten. Dies zeigt die – wenn auch auf einer anderen Ebene42 geführte – zeitgenössische Debatte um die Abgrenzung von Historiographie und Fiktion einerseits und um den Zusammenhang der beiden Kategorien andererseits. Während man in der Frühen Neuzeit noch darum bemüht ist, die beiden Diskurse voneinander abzugrenzen, wurden die Überlegungen der letzten Jahrzehnte angestoßen durch einen Ansatz, welcher die jeweilige Spezifik von historiographischem und fiktionalem Schreiben hintan stellte und stattdessen die Gemeinsamkeiten der beiden Diskurse hervorhob. Hierfür stehen vor 41 | Vgl. Heitmann (1970), 261-262. 42 | Neben der diachronen Entwicklung des Verhältnisses von Geschichtsschreibung und fiktionaler Literatur beschäftigen sich die literatur- und kulturtheoretischen Diskussionen zum einen mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der beiden Diskurse (vgl. Cohn [1990], Doležel [1998], Jaeger [2002a] u.a.), zum anderen, im Anschluss an Danto (1985) und vor allem an verschiedene Arbeiten von Haydn White, mit der Frage nach der literarischen Dimension von Geschichtsschreibung (vgl. paradigmatisch Nünning [1999] und Rigney [1991]). Für einen Überblick vgl. Nünning (2004). Meist ist vom Verhältnis zwischen Historiographie und ›Literatur‹ die Rede, so z.B. in Jaeger (2002a), wobei in diesem Fall ›Literatur‹ in der Regel im Sinne von fiktionalen Texten verstanden wird.

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allem die Thesen des Geschichtswissenschaftlers Hayden White, die eine Flutwelle von Abhandlungen ausgelöst haben, welche sich sowohl mit den Interferenzen als auch den Unterschieden von Geschichtsschreibung und Fiktion auseinandersetzen. Auch wenn, oder vielmehr gerade weil die aktuelle Debatte auf einer anderen Ebene als die frühneuzeitliche geführt wird, erlaubt sie Einsichten, was das Verhältnis von fiktionalem und historiographischem Schreiben in der Frühen Neuzeit betrifft. Sie bietet Begrifflichkeiten, die eine konzisere Beschreibung der frühneuzeitlichen Problematik ermöglichen: So wird sich zeigen lassen, dass einige Merkmale, die von der jüngeren Narratologie als fiktionsspezifisch identifiziert worden sind, für die frühneuzeitliche Geschichtsschreibung konstitutiv sind, was wiederum Rückschlüsse auf das sich neu definierende Verhälnis von Historiographie und Dichtung erlaubt. In einem weiteren Schritt wird das bereits skizzierte Modell von Barthes um weitere Begriffe ergänzt, die einen Vergleich von Fiktion und Geschichtsschreibung unter dem Aspekt des Erzählens ermöglichen. Dabei wird deutlich werden, dass die frühneuzeitliche Geschichtsschreibung ohne die Kategorie der Erzählung nicht adäquat beschrieben werden kann, ja dass das Erzählen die Geschichtsschreibung erst ermöglicht. Trotz der Betrachtung der frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung und fiktionalen Literatur unter dem gemeinsamen Aspekt des Erzählens sollen die beiden Kategorien keineswegs gleichgesetzt werden. Auf die Problematik, das historiographische Erzählen unter den gleichen Gesichtspunkten zu betrachten wie das fiktionale Erzählen und damit den gesamten narrativen Bereich zu homogenisieren, weist etwa Dorrit Cohn hin, indem sie untersucht, inwieweit gebräuchliche Kategorien narratologischer Modelle fiktionsspezifisch sind oder nicht.43 Cohns narratologischer Ansatz geht a-historisch von einer textimmanent bestimmbaren Grenze zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen aus. Nicht nur aus einem kulturwissenschaftlichen Blickwinkel heraus, sondern auch vor dem Hintergrund, dass die Unterscheidung von fiktionalem und faktualem Erzählen in der Frühen Neuzeit zwar zunehmend Gegenstand poetologischer Überlegungen wird,44 ohne jedoch programmatisch voll ausgebildet zu sein, erscheinen solche fiktionsspezifischen narratologischen Modelle auf den ersten Blick kaum fruchtbar. Dennoch soll Cohns Argumentation an dieser Stelle herangezogen werden, um zu zeigen, dass sich Dichtung und Geschichtsschreibung in der Frühen Neuzeit gleichermaßen textimmanenter Verfahren bedienen, die aus narratologischer Sicht als fiktional eingestuft werden können. Zu diesen Verfahren gehören die Innenschau (focalisation interne), die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler sowie die Modellierung von Raum und Zeit. Diese drei Aspekte treten in der frühneuzeitlichen Historiographie in besonderem Maße her43 | Vgl. Cohn (1990), 776. 44 | Vgl. dazu paradigmatisch Nelson (1973).

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vor. Die Verwendung von Elementen, die aus einer modernen Perspektive der fiktionalen Literatur vorbehalten sind, belegt nicht nur die fehlende klare Grenzziehung zwischen Fiktionalität und Faktualität, sondern zeigt vor allem, dass Historiographie und Dichtung mit den gleichen Mitteln darin wetteifern, ihre Inhalte in der (sinnlich wahrnehmbaren) Realität zu verankern: Im Bestreben, dem Subjektivitätsverdacht entgegenzuwirken, sind sie gleichermaßen bemüht, sich gegenseitig in der Erzeugung von Evidenz zu überbieten. Begreift man den Einblick in das Innenleben der Figuren, das zwar ontologisch existiert, aus der Sicht des Historiographen jedoch nicht rekonstruiert werden kann, als Hinweis auf Fiktionalität, so fallen bestimmte frühneuzeitliche relaciones in den Bereich des fiktionalen Erzählens. Wenn beispielsweise Juan Nyon in seinem Bericht eines Putschversuches, der sich 1621 in Sevilla ereignet haben soll,45 die Gedanken des Protagonisten wiedergibt (»se dijo«), so korrumpiert er dadurch die Glaubwürdigkeit des Textes. Allerdings ist der Rekurs auf die Innenschau selten und nur dort zu finden, wo ein hoher Unterhaltungswert beabsichtigt wird. Unerlässlich hingegen ist bei der Analyse der frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung die aus heutiger Sicht fiktionsspezifische Differenz von Autor und Erzähler. Wo die Abwesenheit des Erzählers in der modernen Geschichtsschreibung Teil eines impliziten Objektivitätspostulats ist, bezieht der frühneuzeitliche Historiograph die Tätigkeit, durch die er seine Erzählung hervorbringt, in die Erzählung mit ein. Ein Erzähler in der ersten Person ist stets an der Textoberfläche präsent, um für die Zuverlässigkeit des Dargestellten zu bürgen. Er kompensiert die Abwesenheit der an der Kommunikation Beteiligten. Mit diesem vom heutigen Standpunkt aus fiktionalen Moment soll in der frühneuzeitlichen Historiographie gerade die Nicht-Fiktionalität des Dargestellten angezeigt werden. Die explizite Anwesenheit eines Erzählers im historiographischen Text ist Teil der performativen Realitätsanzeige. Die frühneuzeitliche Geschichtsschreibung imitiert also keineswegs, wie die von Cohn genannten Kriterien annehmen lassen könnten, das fiktionale Erzählen, vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Wenn in der fiktionalen Literatur ein Erzähler in der ersten Person auftritt, so ist dies eine Reaktion der Dichtung auf die Forderung, sich einer faktischen oder moralischen Realität so weit wie möglich anzunähern und die Geschichtsschreibung darin zu übertrumpfen. Die allmähliche Herausbildung der Fiktion als Welt eigenen Rechts befreit den Autor zwar mehr und mehr von dem Vorwurf, der Wahrheit 45 | Nyon, Juan (1621): Aqui se refiere breuemente y con toda breuedad vn caso muy estraño, sucedido en la Ciudad de Seuilla este presente año en que se da cuenta como vnos hombres dierõ en una locura, y frenesi estraño, que fue querer alçarse con aquella Ciudad, a hazerse Reyes y señores della, conjurando para ello a todos los mas que podian: dizese del modo que fueron descubiertos, y el justo castigo que se les dio. Compuesto por Iuan Nyon, Barcelona: Esteban Libreros.

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Gewalt anzutun oder gar zu lügen, verpflichtet ihn jedoch verstärkt zu einer Rechtfertigung seines Werks. Die Abgrenzung des fiktionalen Textes von der Historiographie setzt ihn in ein Verhältnis des Wettstreits zur Geschichtsschreibung. Das fiktionale Erzählen muss nun zeigen, dass es ebenso in der Lage ist, Wahrheit zu produzieren, wenn auch auf eine andere Art und Weise. Die Humanisten verstehen die Fiktion als rhetorisches Werkzeug, das aufgrund seiner Unterhaltsamkeit in der Lage ist, moralische, religiöse und historische Wahrheiten nachhaltig zu vermitteln. Die Fiktion kann demnach Wahrheit produzieren, die stärker vernunftgeleitet und damit realer ist als die kontingente Welt des Historiographen. Im Gegenzug ist nun auch die Historiographie dazu herausgefordert, ihren Status hinsichtlich der Produktion von Wahrheit zu verteidigen. Auch wenn einige Theoretiker ihr immer noch den Vorrang in der literarischen Konfiguration von Realität einräumen, muss auch sie sich der »advocacy of ›realism‹«46 unterwerfen, der sich die Fiktion augesetzt sieht. Allerdings besteht unter den Theoretikern der Renaissance – und dies führt auch in diesem Kapitel zu einer gewissen Unschärfe in der Verwendung der Begriffe ›Wahrheit‹ und ›Realität‹ – wenig Konsens darüber, wie das aristotelische Wahrscheinlichkeitspostulat in fiktionalen Texten konkret auszugestalten und wie der Begriff der Wahrheit zu verstehen sei. Bald bedeutet sie lediglich das Vermeiden von Absurditäten, von Verstößen gegen die Kausalität oder gegen die öffentliche Meinung, bald wird sie ausgelegt als das Beachten der Dekorum-Regel. Für manche schließen sich Wahrscheinlichkeit und historische Wahrheit gegenseitig aus. Umgekehrtes kann auch für die Historiographie gelten: Historische Wahrheit gilt nicht mehr als die einzige Wahrheit, ja das Abweichen von der historischen Wahrheit kann sogar ein höheres Maß an moralischer Wahrheit bedeuten. Außerdem legitimiert sich historische Wahrheit nicht mehr durch sich selbst, sondern kann, widerspricht sie dem vernunftgeleiteten Denken, schnell in den Bereich des Lügenhaften abgeschoben werden. Daher muss auch sie sich an Rahmenvorgaben, wie etwa die des aptum decorum, halten, die bisher nur für das fiktionale Erzählen galten. Die Annäherung an die Realität sowohl vonseiten der Fiktion als auch vonseiten der Historiographie nimmt im Einklang mit der Vieldeutigkeit des frühneuzeitlichen Wahrheitsbegriffs vielfältige Formen an, die nicht einmal innerhalb einer Gattung einheitlich sind. Wo manche frühneuzeitliche Festbeschreibungen etwa durch übermäßige Detaillierung einen konkreten Raum der Anschauung zu schaffen suchen, rücken andere überzeitliche, autoritätsgestützte Wahrheiten in den Vordergrund. Die Autoren philosophischer Dialoge situieren ihre Werke sowohl in abstraktallegorischen als auch in konkreten historischen Räumen, wobei die konkrete Kontextualisierung mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Auch das Theater greift zunehmend auf historisch lokalisierte Schauplätze zurück und der Schelmenroman konfiguriert eine soziale Realität, die mit 46 | Nelson (1973), 49-53, hier 50.

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einem allegorisch-abstrakten Raum-Zeit-Verständnis kaum noch vereinbar ist. Und nicht zuletzt in den lokalen Chroniken wird der konkrete Raum mehr und mehr zum Zeugen, indem er archäologisches Beweismaterial liefert. Sowohl Geschichtsschreibung als auch Fiktion – und dies ist ein zentrales Verfahren der Realitätserzeugung – schreiben sich in einen konkreten Raum der Anschauung ein und erzeugen so in wechselseitiger aemulatio Evidenz. Die soeben beschriebene Ausgestaltung des Raumes ist, neben der Innenschau und der Unterscheidung von Autor und Erzähler, als weiteres Unterscheidungskriterium zwischen historiographischem und fiktionalem Schreiben genannt worden. Laut Ansgar Nünning zeichnet sich die Geschichtsschreibung durch eingeschränkte narrative Vermittlungsmöglichkeiten aus:47 Der Raum diene hier lediglich als Schauplatz für die berichteten Ereignisse oder als geo-historischer Raum und dürfe keiner Semantisierung unterzogen werden. Der frühneuzeitliche historiographische Diskurs hingegen zeichnet sich, wie im Laufe dieser Studie deutlich werden wird, gerade durch eine semantische Aufladung des Raumes aus. Indem der Raum als Zeuge von historischen Ereignissen und Handlungen fungiert, erhält er nahezu den Status einer Person. Auch dies ist Teil der performativen Realitätserzeugung. Indem der Geschichtsschreiber das Imaginäre einem real vorhandenen Raum einschreibt, verweist er auf eine scheinbar objektive Größe und lenkt so den Subjektivitätsverdacht von sich ab. Umgekehrt wählt auch die fiktionale Literatur real vorhandene Schauplätze, um eine möglichst hohe Deckung mit der Realität zu erreichen. Dieser Rückgriff auf den lebensweltlichen Raum führt jedoch, wie ein Blick auf die comedia urbana von Lope de Vega zeigen wird, weniger zur Zähmung eines ungebändigten Imaginierens, sondern macht vielmehr die Differenz zwischen der Lebenswelt des Zuschauers und einem institutionell vorgegebenen Imaginären bewusst. Die Mobilität des realen städtischen Raumes weist über den statisch-allegorischen Raum der Heilsgeschichte hinaus und markiert letzteren so als überkommen. Die unterdrückte Subjektivität verschafft sich an anderer Stelle ein Ventil: In dem Maße, in dem sich die Fiktion der lebensweltlichen Realität des Rezipienten annähert, lässt die subjektive Alltagserfahrung den Kontrast zwischen Fiktion und Wirklichkeit erst hervortreten. Der lebensweltliche Raum ist dann nicht mehr ein Zeuge, der bestätigt, sondern einer, der aufdeckt. Ähnlich wie die Semantisierung des Raumes in der modernen Geschichtsschreibung eingeschränkt ist, kommt nach Nünning auch der Zeitdarstellung eine geringere Flexibilität zu. Der Gebrauch von zeitdeckendem bzw. zeitdehnendem Erzählen sowie der Rückgriff auf Auslassungen und Zeitsprünge sind nur in stark reduziertem Maße möglich. Tatsächlich ist auch der frühneuzeitliche Historiograph in der zeitlichen Anordnung des Materials an bestimmte Regeln gebunden. Das Kriterium 47 | Vgl. Nünning (1999), 376.

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der dispositio verlangt vom Historiker, seine Darstellung nach der natürlichen Abfolge (ordo naturalis) der Ereignisse zu richten, während die Rückblendetechnik (ordo artificialis) dem Dichter vorbehalten ist.48 Allerdings scheinen Zeitsprünge durch größere Auslassungen in der frühneuzeitlichen Historiographie kein Problem darzustellen. So widmet Alonso Morgado in seiner Historia de Sevilla49 , welche die Geschichte der Stadt von der Sintflut bis zu seiner Zeit darstellt, der Epoche zwischen der Eroberung der Stadt durch die Mauren bis zu deren Rückeroberung durch San Fernando III. nur ein einziges knappes Kapitel. Er begründet dies damit, dass er bei dem Versuch, eine Genealogie der in Sevilla herrschenden maurischen Könige zu erstellen, gescheitert sei: Lo que tambien pretendi averiguar, fue la sucession de los Reyes Moros, que reynaron en Sevilla. Pero lo que en esto hallè, fue todo ello vna pura confusion y barbaria, como quiera que todo discurso de su vida fue una continua guerra, a biva quien vence. Y si pretendiesse señalar aqui algunas cosas notables, que tuviessen algun buen olor a nuestra Religion por aquellos Barbaros siglos, serian como luzes, que (en la mayor obscuridad dela noche) se divisan muy remotas las vnas delas otras por diferentes Montañas, segun son tan raros, y con tanta intermision de tiempos[.] (HS 24 r°/v°)

Anhand dieser Aussage werden zwei Kriterien sichtbar, nach denen Morgado sein Material auswählt: Das erste ist eine gewisse apriorische Ordnung der Fakten selbst. Der Autor hat nicht etwa deshalb keine chronologische Reihenfolge der maurischen Könige erstellen können, weil die Überlieferung unvollständig und widersprüchlich wäre, sondern weil der Lauf der Dinge selbst kontingent und unüberschaubar sei. Das zweite Kriterium ist die Relevanz des Materials für die Verbreitung der katholischen Religion. Dieser Gesichtspunkt trifft nach Morgado auf so wenige Ereignisse zu, dass es unmöglich sei, ein zeitliches Kontinuum zwischen diesen herzustellen. Die räumliche Metapher der Lichter, die vereinzelt im Dunkel der Epoche muslimischer Fremdherrschaft aufleuchten, dient dem Autor als Veranschaulichung für die wenigen relevanten Ereignisse, die aus einer barbarischen Epoche herausragen und die er im folgenden Kapitel kurz abhandelt. Damit erlangen Zeiträume, die im Zeichen des Christentums stehen, im Text ein deutliches Übergewicht, während weite Teile der langen Epoche maurischer Herrschaft großzügig übersprungen werden. Auf diese Weise entsteht ein Zeitkontinuum, welches unliebsa-

48 | Vgl. Heitmann (1970), 253. 49 | Morgado, Alonso (1587): Historia de Sevilla; en la qual se contienen sus antiguedades, grandezas, y cosas memorables en ella acontecidas, desde su fundación hasta nuestros tiempos. Con mas el discurso de su estado en todo esso progresso de tiempo, aßi en lo Ecclesiastico, como en lo secular. Sevilla: Imprenta de Andrea Pescioni y Juan de León. Im folgenden abgekürzt durch HS.

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me Kapitel der spanischen Geschichte ausblendet.50 Nicht die Fakten stehen im Vordergrund, sondern der zu vermittelnde Sinn, in diesem Fall die Verbreitung des katholischen Glaubens in Sevilla. Die historiographische Verarbeitung des Materials orientiert sich also nicht in erster Linie am Referenten, sondern vielmehr am Signifikat. Der Versuch, die von Cohn und Nünning genannten Kriterien auf die Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit anzuwenden, hat gezeigt, dass in frühneuzeitlichen historiographischen Texten Merkmale, die aus heutiger Sicht Indizien für Fiktionalität darstellen, durchaus zulässig sind. Dies hat zweierlei zur Folge: Zum einen machen epochenbedingte Differenzen es unmöglich, ein übergreifendes erzähltheoretisches Modell, wie es etwa die strukturalistische Narratologie für fiktionale Texte liefert, eigens für das historiographische Erzählen zu erstellen. Zum anderen wird deutlich, dass die Narratologie zur Abgrenzung von historiographischem und fiktionalem Erzählen nur bedingt beitragen kann. Vielmehr legt sie Überschneidungen der beiden Kategorien offen, ohne die Spezifik der Historiographie zu berücksichtigen. Jedoch konnte gerade dadurch gezeigt werden, dass sich historiographisches und fiktionales Erzählen in der Frühen Neuzeit zur Evidenzerzeugung derselben textimmanenten Strukturen bedienen. Die Diskussion um das Problem des Verhältnisses zwischen Geschichtsschreibung und Fiktion, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten geführt worden ist, wurde besonders durch die umstrittenen Thesen Hayden Whites ausgelöst. Sein Ansatz sorgte vor allem deshalb für Aufsehen, weil er die Differenz zwischen Historiographie und Fiktion weitgehend einebnete, indem er auf die Ähnlichkeit der Verfahren des fiktionalen und des historiographischen Erzählens verwies.51 Beide stützen sich, so White, in ihrer Darstellung der Welt auf vorgenerische plot-structures oder Mythen, welche die Modalitäten literarischer Ausstattung einer bestimmten Kultur definieren.52 Hieraus ergeben sich für jedes historiographische Werk 50 | Das Ziel, die Phase muslimischer Fremdherrschaft so weit wie möglich ›ungeschehen‹ zu machen, wird auch in der Architektur der spanischen Städte verfolgt: Isabel la Católica lässt die ajimeces, doppelbögige Fenster und Tore aus der arabischen Periode, systematisch abreißen. Vgl. Mena (1970), 129-130. Die Parallele zwischen Architektur und Geschichtsschreibung, die hier zum Ausdruck kommt, hat Albert Memmi viel später in einem anderen Zusammenhang folgendermaßen beschrieben: »L’écriture est sœur de l’architecture et elle est destinée à durer plus.« Memmi (1977), 175. 51 | »But in general, there has been a reluctance to consider historical narratives as what they most manifestly are: verbal fictions, the contents of which are as much invented as found and the forms of which have more in common with their counterparts in literature than they have with those in the sciences.« White (1987), 82. Zitiert nach Nünning (1999), 363. 52 | Vgl. White (1973).

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mindestens zwei Interpretationsebenen: Auf der einen Ebene setze der Geschichtsschreiber aus der Sequenz von Ereignissen eine Geschichte zusammen (story), auf einer weiteren verleihe er dieser Geschichte den Charakter einer literarischen Gattung wie Komödie, Tragödie, Romanze, Epik oder Satire (plot). Ein einziges Ereignis enthält das Potential für mehrere stories. Um diesen formale Kohärenz und somit Sinn zu verleihen, müsse der Historiograph auf einen Fundus von Mythen zurückgreifen, die im Gedächtnis der Leser vorhanden seien. Ein Problem an Whites Theorie sieht die neuere Geschichtsschreibung darin, dass er Historiographie aus der Perspektive einer rein literaturwissenschaftlichen Poetik beleuchtet, anstatt das Spezifische der Textualität von Geschichtsschreibung herauszuarbeiten.53 Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass White die Begriffe von Erzählung und Fiktion weitgehend gleichsetzt. Von der Erkenntnis, dass Historiographen und Autoren fiktionaler Texte auf die gleichen narrativen Strukturen zurückgreifen, schließt er auf den fiktionalen Charakter von Geschichtsschreibung. Dies erweist sich jedoch als Trugschluss: Die Tatsache, dass etwas erzählt wird, bedeutet noch nicht, dass es fiktional ist. Vielmehr stellt das Erzählen – so argumentiert zumindest Arthur Danto54 – einen Grundmodus menschlicher Erfahrung dar und macht die Geschichtsschreibung dadurch erst möglich. In diesem Sinne lässt der Erzählcharakter der frühneuzeitlichen Historiographie, wie er sich in der Anwesenheit eines expliziten Erzählers manifestiert, diese nicht ins Fiktionale abrutschen, sondern performiert erst den Realitätsbezug des Textes. Die Art und Weise, wie der Historiograph die Fakten interpretiert, transportiert bzw. artikuliert ein Imaginäres, das durch die beiden Interpretationsebenen story und plot eine Struktur erhält. Dieses Imaginäre ist weder dem Realen noch dem Fiktionalen eindeutig zuzuordnen; auch spiegelt es, wie Castoriadis betont, das Reale nicht einfach wider: L’imaginaire […] n’est pas image de. Il est création incessante et essentiellement indéterminée (social et psychique) de figures/formes/images, à partir desquelles seulement il peut être question de ›quelque chose‹. Ce que nous appelons ›réalité‹ et ›rationalité‹ en sont des œuvres. 55

Das Reale bzw. das, was für real gehalten wird, ist also teilweise selbst Produkt eines Imaginären. Hierauf wird im Zusammenhang mit der Zeit als imaginärer Institution zurückzukommen sein (vgl. Kap. 1.2.2.3). Sieht man von der begrifflichen Unschärfe Whites hinsichtlich Fiktion und Erzählung ab, so erweist sich sein Schema einer story als Vernetzung von inhaltlichen Einheiten, welche die Form eines strukturierten Imaginären (plot) erhalten, als fruchtbar für die Analyse frühneuzeit53 | Vgl. Jaeger (2002a), 243. 54 | Danto (1985). 55 | Castoriadis (1975), 7-8, Hervorhebung i.O.

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licher historiographischer bzw. publizistischer Texte. Ein einschlägiges Beispiel hierfür liefern zwei wörtlich fast identische Berichte von der Überschwemmung des Guadalquivir im Jahr 1626, von denen einer in Valladolid und einer in Lima veröffentlicht wurde.56 Ihr Vergleich zeigt, dass das alleinige Weglassen bzw. Hinzufügen einzelner Teilereignisse genügt, um dem Bericht einen anderen formalen Charakter und damit einen anderen Sinn zu verleihen. Während einer der Berichte auf überschwängliches Lob verzichtet und die Überschwemmung als reines Desaster erscheinen lässt, hinterlässt der andere beim Leser einen positiven Eindruck, indem er in ein laus personae und schließlich in ein »Laus Deo«57 mündet. Bezeichnend ist, dass beide Berichte zunächst einer Steigerung des Geschehens folgen, die mit dem Spannungsaufbau einer Tragödie vergleichbar ist. Der erste Abschnitt berichtet in wortwörtlicher Übereinstimmung von starken Regenfällen, dem Anstieg des Flusses und ersten Sicherheitsvorkehrungen durch die Stadtverwaltung. Im zweiten Abschnitt wird eine stürmische Nacht beschrieben, die Unheilvolles erahnen lässt »por ser obscurisima, llouiosa, y de tanto ayre que meneaua los edificios, y hazia jugar las paredes sobre los cimientos«58 . Der Fluss tritt an ersten Stellen über die Ufer und überschwemmt die Klostergärten des Convento de la santisima Trinidad, jedoch ohne dass die Fluten in das Kloster selbst eindringen, was der Autor auf die im Kloster begrabenen Schutzheiligen Sevillas, Justa und Rufina, zurückführt. Am folgenden Tag, so wird berichtet, dringt die Flut über verschiedene Tore in die Stadt ein, die sich mehr und mehr mit Wasser füllt. Im vierten Abschnitt erreicht die Verzweiflung ihren Höhenpunkt: En este tiempo fue la mayor afliccion de los viejos, mugeres, y niños, de hombres, y muertes, y desgracias, porque se han ahogado, y parecido mas de mil personas, unos de hambre, y otros que por salir de sus casas, se ahogauan, otros que se les caia la casa encima. 59

56 | Anonym (1626), Relacion verdadera en la qual se dà cuenta de la gran destruycion que ha hecho el rio Guadalquiuir en la ciudad de Seuilla, y en Triana, y assi mismo se declara los conuentos de frayles y monjas que se anegaron, Valladolid: Imprenta de la viuda de Córdoba sowie Iuan Beltran de la Cueva (1626): Relacion verdadera, en que se da quenta de todo el daño que causò las crecientes del rio Guadalquiuir en la Ciudad de Sevilla, y Triana, este Año de 1626, Lima: Geronymo Contreras. Beide Drucke haben keine Paginierung. 57 | Beltrán de la Cueva: Relacion verdadera […] de todo el daño, o. S. 58 | Ebd. 59 | Ebd. Im folgenden Abschnitt nimmt Beltrán de la Cueva die erste Modifikation vor: Er lässt die Passage über die Plünderungen der leeren Häuser durch die für deren Evakuierung beauftragten »barqueros« und anderen »crueldades notables« aus. Außerdem verzichtet er auf denjenigen Abschnitt, der die Zerstörung zahlreicher Waren aus der Neuen Welt durch das Einstürzen von Häusern schildert.

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Im fünften Abschnitt schließlich driften die beiden Berichte auseinander. Während Beltrán de la Cueva weitere verheerende Auswirkungen der Überschwemmung schildert und diese mit einem Flehen zu Gott abschließt, berichtet der anonyme Autor vom beispiellosen Engagement des städtischen Domkapitels: »El cabildo de la santa Iglesia se ha mostrado en esta ocasion como en otras, tan piadoso como generoso y liberal.«60 Es wird berichtet, wie das cabildo eine Prozession veranstaltet, bei der die Reliquie eines ehemaligen Erzbischofs überführt wird und während deren Verlauf die Verantwortlichen nach dem Vorbild Christi den Sturm und die Wolken beschwören. Nach Aussagen erfahrener Seeleute habe sich das Wasser daraufhin »contra todo tiempo«61 zurückgezogen. Weiter schildert der Autor, wie das Domkapitel sowie weitere Geistliche sich in Booten auf den Weg machten, um Brot an die arme Bevölkerung zu verteilen. Dabei versäumt er nicht, auf einen anderen Fall, nämlich die Besetzung von Cádiz durch feindliche Truppen, hinzuweisen, in dem sich das cabildo voller »caridad y piedad«62 gezeigt habe. Der Autor nutzt die Tragik des Geschehens gezielt, um die Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft des städtischen Klerus und dessen politisches Engagement im Kampf gegen Feinde herauszustellen. Der tragische Modus des Berichtes schlägt um in einen panegyrischen Ton. Es sind also nur wenige Modifikationen notwendig, um einen Katastrophenbericht in ein Städtelob umzuwandeln und umgekehrt. Eine einzige story liefert Stoff für verschiedene plots: Zum einen für denjenigen einer karitativen Stadtbevölkerung, deren Tugendhaftigkeit durch die Grenzerfahrung der Überschwemmung erst zum Ausdruck kommt, und zum anderen für denjenigen eines Desasters, an dessen Ende der Autor nur noch auf Gottes Hilfe hoffen kann: »Dios nos tenga desu mano, y nos de lo que nos conuiene para salvación nuestra.«63 Neben dem Festlegen einer Handlungsstruktur, in den angeführten Beispielen Tragödie und laus urbis, wählt der Historiograph nach White ein Erklärungsparadigma. Ein Beispiel hierfür ist die Epiphanie des Gesetzes, eine der Tragödie entliehene Figur.64 In frühneuzeitlichen historiographischen Berichten erscheint dieses Paradigma häufig in der Form der Epiphanie des Gerichts Gottes. Im Romance verdadero, en que se dà cuenta de la mayor de las grandes fatalidades que celebra la fama65 führt der anonyme Autor den 1692 im Coliseo von Sevilla ausgebrochenen Brand 60 | Anonym: Relacion verdadera de la gran destruycion, o. S. 61 | Ebd. 62 | Ebd. 63 | Beltrán de la Cueva: Relacion verdadera […] de todo el daño, o. S. 64 | Vgl. White (1973), 303. 65 | Anonym (1692): Romance verdadero, en que se dà cuenta de la mayor de las grandes fatalidades que celebra la fama, y refieren los Anales. Sucedida en el Coliseo de la Ciudad de Seuilla el dia Miercoles doze de Nouiembre de 1692, Sevilla: O. Verleger. Der Druck hat keine Paginierung.

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auf die »hora mala« zurück, in der die Stadt der ›Teufelsmaschine‹ des Puppentheaters Eingang gewährt habe. Nahezu das ganze Volk habe sich von den bolantines, die der Teufel in seiner List anbiete und die »casi cosas impossibles« vollbrächten, verführen lassen. Damit erteilt der Bericht eine klare Lektion, die in den Kontext der frühneuzeitlichen Schauspielkritik einzuordnen ist66 und die schon die überlebenden Besucher der besagten Vorstellung gelernt haben sollen, denn diese hätten versprochen, »de no ver más bolantines«. Das Ereignis wird nicht um seiner selbst, sondern um einer klaren pädagogischen Absicht willen erzählt, indem der unglückliche Vorfall als Strafe Gottes für moralisch falsches Handeln ausgelegt wird. Der Bericht dient also nicht der reinen Dokumentation eines historischen Ereignisses, sondern vielmehr der Abhandlung eines moralischen Imaginären. Der Rückgriff auf bestimmte Handlungsmuster und Erklärungsparadigmen in den frühneuzeitlichen relaciones, so geht aus den angeführten Beispielen hervor, macht grundsätzliche Überschneidungen von historiographischem und fiktionalem Erzählen deutlich. Dennoch lassen sich in zahlreichen relaciones keine eindeutig fiktionalen Elemente ausmachen. Es treten lediglich unterschiedliche Wahrnehmungen bzw. unterschiedliche Interpretationen der Ereignisse zutage. Daher ist es auch hinsichtlich der frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung nicht gerechtfertigt, von einer narrativen Anordnung des Stoffes auf den fiktionalen Charakter des Textes zu schließen. Umgekehrt wäre es auch nicht richtig, der frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung jeglichen Umgang mit Fiktionalität abzusprechen. Vielmehr ist der Übergang zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen fließend, gerade weil sich beide ähnlicher Verfahren der Evidenzerzeugung bedienen. Das frühneuzeitliche Erzählen soll daher jenseits der Kategorien ›fiktional‹ und ›faktual‹ als kulturelle Praxis der Bedeutungssetzung verstanden werden und damit als gemeinsamer Oberbegriff von Geschichtsschreibung und Fiktion im engeren Sinn. Damit ist noch nicht abschließend geklärt, was unter dem Begriff ›Erzählen‹ zu verstehen ist. Der kulturwissenschaftliche Erzählbegriff, der das Erzählen als kulturelle Praxis der Bedeutungssetzung definiert, sagt zwar etwas über die Funktion des Erzählens aus, nicht aber über seine Beschaffenheit. Traditionelle narratologische Ansätze67 begreifen Erzählung als die kommunikative Vermittlung realen oder fiktiven Geschehens durch einen Erzähler an einen Rezipienten. Ausschlaggebend ist hierbei die explizite oder implizite Anwesenheit eines Erzählers, welcher im Falle von fiktionalen Texten einer fiktiven Welt angehört, in jedem Falle jedoch vom realen Autor zu unterscheiden ist. Die moderne Geschichtswissenschaft hingegen geht von einer Identität von Autor und Erzähler aus. Für sie liegt der Erzählcharakter eines historiographischen Textes in der temporalen Anordnung von Ereignissen. Man kann in der Geschichtswis66 | Zur frühneuzeitlichen Spielkritik vgl. Nitsch (2000), 42-65. 67 | Vgl. vor allem Genette (1972), Stanzel (1979) sowie Prince (1987).

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senschaft von einer Erzählung dann sprechen, wenn historische Fakten, Ereignisse und Situationen in einer Zeitsequenz aufeinander folgend dargestellt werden. Eine solche Folge impliziert ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis zwischen den Situationen und Ereignissen und beinhaltet somit eine Erklärung der Fakten.68 Während Erklärungen im fiktionalen Text an die Handlung gebunden bleiben, löst die moderne Geschichtsschreibung das Erklären aus dem Erzählzusammenhang heraus und verleiht ihm so einen autonomen Status. Der historischen Erklärung, charakterisiert durch Verallgemeinerungen in Form von Gesetzen, steht das einfache narrative Verstehen gegenüber, das heißt die Fähigkeit, die Strukturen einer Handlung als solche zu erkennen.69 Die frühneuzeitliche Geschichtsschreibung setzt im Gegensatz zur modernen weniger auf Erklärungen mithilfe von Gesetzmäßigkeiten, sondern vielmehr auf ein narratives Verstehen, ja der historiographische Diskurs legitimiert sich gerade über narrative Verfahren. Da in der Frühen Neuzeit noch kein spezifisch literarischer – weder in Historiographie noch Fiktion – Erzählbegriff existiert, stützt sich die vorliegende Studie auf einen Erzählbegriff, der historiographisches und fiktionales Erzählen gleichermaßen mit einschließt, ohne jedoch die beiden Kategorien gleichzusetzen.70 Dabei soll das Erzählen als primär zeitliche Technik der Bedeutungssetzung verstanden werden, in Abgrenzung zum Zeigen als primär räumlichem Verfahren. ›Primär‹ bedeutet, dass auch die syntagmatische, zeitliche Struktur der Erzählung nicht ohne räumliche, paradigmatische Elemente auskommt, genauso wie synchrone, durch Techniken des Zeigens konstituierte Räume diachrone Elemente enthalten können.

68 | Vgl. Jaeger (2002b), 237. Zur narrativen Organisation von Geschichtsschreibung generell vgl. Danto (1985). 69 | Daher reicht in der Erzähltheorie die temporale Struktur als Kriterium für Narrativität in der Regel nicht aus. Zusätzlich zu den von Danto festgelegten zwei sukzessiven Zeitpunkten, welche die Voraussetzungen für einen narrative sentence bilden, ist ein dritter Zeitpunkt notwendig, wobei der Ausgangs- und der Endzeitpunkt (zumindest) vorübergehend konstante Zustände darstellen, während im mittleren ein Ereignis stattfindet, das den ersten Zustand wesentlich transformiert Vgl. Titzmann (1992), 248-249. Ricœur sieht in der Handlung den Kern der fabelkomponierenden Tätigkeit: Die zeitlichen, syntagmatischen Elemente, also diejenigen, welche die Handlung voranbringen, haben Vorrang vor nicht-zeitlichen, paradigmatischen Elementen wie etwa Charaktere und Umstände. Aus diesem Primat der Handlung leitet Ricœur die Priorität des narrativen Verstehens gegenüber der Erklärung in der Geschichtsschreibung ab. Vgl. Ricœur (1983), 58. 70 | Durch ihren Erzählcharakter verliert die moderne Geschichtsschreibung keineswegs ihren wissenschaftlichen Status. Vielmehr verweist sie auf den narrativen Charakter des geschichtlichen Verstehens, wie er bereits von Danto betont wurde. Vgl. Ricœur (1983), 134.

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1.2 R AUM -Z EIT UND E RZ ÄHLUNG 1.2.1

Das Erzählen zwischen Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition

Als kulturelle Praxis der Bedeutungssetzung ist das Erzählen in der Frühen Neuzeit gerade im Hinblick auf die Herausbildung neuer RaumZeiten konstitutiv. Denn die Umbrüche im frühneuzeitlichen Weltbild schlagen sich im 16. und 17. Jahrhundert nicht in einer neuen Philosophie der Zeit nieder, sondern werden in vordergründig nicht-philosophischen Texten reflektiert. Es wäre daher nicht richtig, von einem Mangel an theoretischer Beschäftigung mit der Zeit auf eine fehlende Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Zeitkonzeptionen zu schließen. Vielmehr erhöht sich in der Frühen Neuzeit nicht nur der Bedarf an, sondern auch die Fähigkeit zu einer zeitlichen Selbstbeobachtung.71 Der Einsatz von gedruckter Schrift erweitert die zeitliche Tiefendimension der Gesellschaft. Die Zeitbeschreibung löst sich von den personalen Trägern zeitlichen Wissens ab, um sich in der mittelbaren Kommunikationsform der Druckseite zu etablieren. Das so in Massenmedien gespeicherte Zeitwissen lenkt das Augenmerk darauf, die eigenen gesellschaftlichen Prozesse zu beobachten und zu ordnen. Je größere Teile einer Gesellschaft nun Zugang zur Schrift haben, umso großflächiger wird diese Beobachtung. Daher muss mit der Verbreitung des Buchdrucks auch die Fähigkeit einer Gesellschaft zur zeitlichen Selbstbeobachtung steigen. Gleichzeitig ist es das Vermögen des (gedruckten) Textes, sowohl reale als auch fiktive Zeiten zu konfigurieren, die eine Gesellschaft zu einer verstärkten Beobachtung der eigenen Zeitvorstellungen zwingt.72 Wo der Rezeptionsrahmen nicht mehr vorgibt, ob es sich bei der dargestellten Welt um eine Spielwelt oder eine Alltagswelt handelt, muss sich der Leser diese Information selbst erschließen. Denn selbst wenn der Text sich als nicht-fiktional ausgibt, so haben obige Ausführungen gezeigt (vgl. Kap. 1.1.2), sagt dies noch wenig über seinen tatsächlichen faktualen Gehalt aus. Der Leser benötigt daher die Fähigkeit der Unterscheidung, ob zeitliche Strukturen in Texten fiktionsspezifisch sind oder nicht. Neben den Veränderungen im medialen Gefüge sind es gesellschaftliche Umbrüche, die eine erhöhte zeitliche Selbstreflexivität erfordern. Die Heterogenität von Kommunikations- und Handlungsmöglichkeiten als Folge einer Ausdifferenzierung der stratifizierten Gesellschaft in den Städten führt zu einer zunehmenden Fülle von Eigenzeiten.73 War das mittelalterliche Zeitbewusstsein durch agrarische, militärische und litur-

71 | Zum Begriff der zeitlichen Selbstbeobachtung vgl. Thiedeke (1997), 247-318. 72 | Vgl. ebd., 262. 73 | Vgl. Thiedeke (1997), 270-271.

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gische Zeithorizonte bestimmt,74 so dehnt sich nun der gesellschaftliche Zeithorizont aus. Die Koordinationserfordernisse in Handel und Handwerk münden in neue Zeitpraktiken, wie zum Beispiel in Sevilla einem frühen Spekulantentum, dessen Erfolg davon abhängt, wie genau der Zeitpunkt der Ankunft von Schiffen vorausgesagt werden kann. Hinzu kommt, dass die heilsgeschichtliche Zeitsemantik allein weltliches Handeln moralisch nicht mehr zu begründen vermag; dies muss fortan aus dem eigenständigen Zeitverlauf der Gesellschaft heraus geschehen. Der heilsgeschichtlichen Wiederholbarkeit einerseits und der Renaissance einer weit zurückliegenden Epoche andererseits, das heißt einer religiösen und profanen Kontinuität, stellt sich ein latenter Zweifel an Kontinuitäten entgegen. Angesichts einer solchen Pluralisierung von Zeithorizonten gewinnt die markierte Präsenz eines Erzählers, der für die Zuverlässigkeit des Dargestellten bürgt, an Bedeutung. Im Gewirr zahlreicher Umbrüche, die den Menschen dazu zwingen, sich innerhalb einer veränderten Welt neu zu positionieren, tritt er auf als vermeintlich zuverlässige Deutungsinstanz. Zugleich eröffnet die Instanz eines für die Realität bürgenden Subjekts jedoch gerade eine Pluralisierung von Deutungsmöglichkeiten. Wie am Korpus noch detailliert nachzuweisen sein wird, reichen die Funktionalisierungen des Erzählaktes von einer kaum mehr heilsgeschichtlich abgefangenen Evidenzerzeugung im Sinne eines effet de réel zu narrativ angestrengten Sinnstiftungen, welche die Evidenz in Exemplarität zu überführen suchen. Die Narrativierung bewegt sich zwischen Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition. Einerseits kann das Erzählen Einzelhandlungen und Sachverhalte in eine zeitliche Abfolge überführen und so eine Ordnung generieren, die den faktischen Verlust einer Weltordnung narrativ zu kompensieren vermag. Zugleich kann das Erzählen eingesetzt werden, um Kontingenz vorzuführen.75 Die Textanalysen dieser Studie werden zeigen, dass einzelne Narrative je unterschiedlich mit dem frühneuzeitlichen Ordnungsverlust umgehen. So sind etwa die frühneuzeitlichen Stadtchroniken darauf bedacht, das unerwünschte kulturelle Erbe einer islamisierten Stadt zu verwischen und die historischen Fakten einer jüngeren Vergangenheit in einem heilsgeschichtlichen Narrativ rückzuverankern. Etwas mehr Aufschluss über kritische Zeiterfahrungen gibt die Publizistik – man denke an die tragische Version des Überschwemmungsberichts (vgl. Kap. 1.1.3) –, wobei auch hier Mechanismen der Kontingenzbewältigung im Vordergrund stehen. Festbeschreibungen und Berichte von militärischen Erfolgen, die den größten Teil der vorperiodischen Veröffentlichungen bilden, zeugen von einer Theatralisierung der Wirklichkeit, welche die Unzulänglichkeiten der Stadt hinter einer verschwenderischen Festkultur und einem mecha74 | Vgl. Le Goff (1965), 225-229. 75 | Zur Dialektik von Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition vgl. Warning (2001).

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nischen Festzyklus zu verbergen sucht. Das historiographische Erzählen tendiert dazu, soziale Missstände zu ignorieren,76 indem es auf heilsgeschichtliche und machtpolitische Narrative abhebt. Die erzählerische Bewältigung einer ungewissen Alltagsrealität muss also an einem anderen Ort stattfinden: Der Schelmenroman etwa greift die Kontingenz von Lebenserfahrung auf, indem er sie auf einer fiktionalen Ebene verhandelt. Damit erbringt er jene ordnende Leistung, welche die offiziellen faktualen Erzählformen nicht zu erbringen bereit sind. Die novela picaresca, in der ein dezentriertes Subjekt seinen Platz in einer ihm widerständigen Welt sucht, stellt zwar inhaltlich Kontingenz aus, unterwirft diese jedoch auf einer strukturellen Ebene der zeitlichen Ordnung der Erzählung. Der Erzählakt erlaubt dem Subjekt, das Erlebte aus einer zeitlichen Distanz heraus zu ordnen und lose Erlebnisse in Beziehung zueinander zu setzen, wobei der Erzähler immer wieder seine distanzierte Position verlässt und in die Rolle des Erlebenden zurückfällt. Dieses Changieren zwischen Kontingenzerfahrung und -bewältigung ist konstitutiv für die erzählerischer Konfiguration frühneuzeitlicher Raum-Zeiten: Der Text modelliert den Ordnungverlust, indem er ihn in einem ständigen Hin und Her bald ausstellt, bald überwindet. Joachim Küpper77 hat auf verschiedene textuelle Paradigmen hingewiesen, die in der Frühen Neuzeit auf den Zustand des Ordnungsverlustes reagieren. Er unterscheidet zunächst »Texte, die das orthodox-mittelalterliche Weltbild forttradieren« von solchen, die den Epochenbruch in verschiedenen Ausprägungen strukturell reflektieren.78 Diese Texte lassen sich weiter unterscheiden: Eines der Textparadigmen bringt den Ordnungsverlust auf formaler Ebene zum Ausdruck. Teilstrukturen werden zersetzt und verlieren somit ihre Fähigkeit, auf das strukturell einheitliche Modell der Heilsgeschichte zu verweisen – als Beispiel nennt Küpper Auflösungsformen des arthurischen Romans. Eine weitere Gruppe bilden theoretische Texte, die den Zustand diskursiven Ordnungsverlustes als Spielraum nutzen, um Teildiskurse zu entwickeln, die sich nicht mehr in ein umfassendes Weltbild integrieren lassen. In diese Kategorie ließe sich die in der vorliegenden Studie untersuchte Historia medicinal79 von Nicolás Monardes einfügen, die Erkenntnisse enthält, welche nicht mehr vollständig auf tradiertes Wissen reduziert werden können. Das Erzählen in der Frühen Neuzeit, so ließe sich aus den von Küpper identifizierten Paradigmen schließen, reagiert auf die Gefährdung einer bestehenden RaumZeit, indem es diese entweder kontrafaktisch aufrecht erhält, oder sie mit neuen Raum-Zeiten variiert, die sich allerdings auf die strukturelle Ebene 76 | Vgl. Eslava Galán (1993) 77 | Küpper (1990). 78 | Ebd., 270-272, hier 270. 79 | Monardes, Nicolás (1988 [1574]a): Primera y segunda y tercera partes de la Historia medicinal de las Cosas que se traen de nuestras Indias occidentales que sirven en medicina, Sevilla: Padilla Libros. Im Folgenden abgekürzt mit HM.

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des Textes beschränken. Vor diesem Hintergrund zeigt Küpper anhand von Lope de Vegas El castigo sin venganza, dass der Diskurs der Frühen Neuzeit auf den mittelalterlichen Analogismus rekurriert, wobei er sich nicht an dessen strukturelle Vorgaben hält, sondern Spielarten schafft, die ihm wiederum erlauben, die ›feindlichen‹ Diskurswelten der Renaissance zu unterwerfen. Erzählen bzw. Zeigen wäre damit nichts anderes als ein Bewältigungsversuch des Rinascimentalen durch eine renovatio mittelalterlicher Diskurse. Dies trifft für gewisse Texte sicher zu. Doch schon bei Lope de Vega, so wird die Analyse von weniger bekannten Dramen des im untersuchten Zeitraum führenden spanischen Theaterautors zeigen, stößt das renovatio-Modell an seine Grenzen: Wo Lope sich strukturell zwar an die Vorgaben eines mittelalterlichen Analogismus hält, unterläuft er diesen durch inhaltliche Elemente. Dies soll als ein Bewusstsein dafür gedeutet werden, dass sich die erschütterte Ordnung der Analogie nur noch im Modus des ›Als-Ob‹ wiederherstellen lässt, der nicht mit der lebensweltlichen Erfahrung übereinstimmt. Zugespitzt formuliert werden die statischen mittelalterlichen Ordnungsstrukturen angesichts einer dynamischen und unbeständigen Realität zur Fiktion. Die bisherigen Überlegugen haben den literarischen Chronotopos innerhalb des frühneuzeitlichen Gattungs- und Mediengefüges situiert, ohne jedoch seinen Bezug zur Lebenswelt zu präzisieren. Bachtin weist zwar in seinem Chronotopos-Buch darauf hin, dass Chronotopoi nicht nur als »Form-Inhalt-Kategorie« der Literatur, sondern auch als Kultur80 behandelt werden können, bestimmt das Verhältnis zwischen realer historischer Raum-Zeit und literarischem Chronotopos jedoch nicht näher. Das sich nun anschließende Unterkapitel geht daher, zunächst aus einer überzeitlichen Sicht, der Frage nach, in welcher Beziehung das Erzählen zur lebensweltlichen Erfahrung des Menschen steht, das heißt, im Vokabular Bachtins, wie sich der innere Chronotopos zum äußeren Chronotops verhält. Auf diese Weise lässt sich deutlich machen, wie die Konstitution von Raum-Zeiten in Texten der Frühen Neuzeit Kontingenz einerseits widerspiegelt und zu bewältigen versucht, andererseits jedoch selbst Modelle von Welt schafft, die in die reale Lebenswelt zurückwirken.

80 | In Anlehnung an Müller-Funk wird hier ein Kulturbegriff verwendet, der sich weder auf eine informationstechnische Sichtweise, die Kultur mit Text gleichsetzt, beschränkt, noch so weit gefasst ist, dass er Begriffe wie Gesellschaft und Natur mit einschließen würde. Müller-Funk versteht Kultur mit Edward B. Tylor als »das komplexe Ganze, das Wissen, Überzeugungen, Kunst, Gesetze, Moral, Tradition und jede andere Fertigkeit und Gewohnheit einschließt, die Menschen als Mitglieder einer Gesellschaft erwerben.« Tylor (1924), 1. Zitiert nach Müller-Funk (2008), 12.

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1.2.2

Die dreifache Zeit der Erzählung

Lebenswelt und Text, innerer und äußerer Chronotopos, stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Dieses Verhältnis lässt sich mit dem von Paul Ricœur vorgeschlagenen Modell einer dreifachen Mimesis präzisieren, das er in seinem dreibändigen Werk Temps et récit entwickelt. Da Ricœur allein den zeitlichen Aspekt literarischer Konfigurationen herausarbeitet, gilt es, seinen Ansatz vor dem Hintergrund des bachtinschen Chronotopos um die Dimension des Raumes zu erweitern. Zunächst soll jedoch das ricœursche Argument vorgestellt und auf die bisherigen Überlegungen zum frühneuzeitlichen Erzählen bezogen werden. Mit seinem Konzept der Fabel, das Ricœur aus der aristotelischen Poetik ableitet, verbindet er, so kann man sagen, das oben im Anschluss an White verwendete Begriffspaar story und plot (vgl. Kap. 1.1.3). Allerdings steht für Ricœur der zeitliche Charakter der Erzählung im Vordergrund und weniger ein imaginäres Moment. Demgegenüber wird das frühneuzeitliche Erzählen hier als eine Technik verstanden, die ein Imaginäres produziert, das sie gleichsam zu unterdrücken sucht. Ricœur setzt die Korrelation zwischen Erzählung und der Zeitlichkeit menschlicher Erfahrung als eine anthropologische Konstante voraus.81 Das Erzählen stellt eine Notwendigkeit dar und macht zugleich deutlich, dass der Mensch »ein Wesen auf Zeit und in der Zeit ist, abgestellt auf den Horizont von Anfang und Ende.«82 Es setzt das Verständnis voraus, dass der Mensch in der Welt in erster Linie ein Handelnder ist. In der Erzählung kann er die Struktur seines eigenen Handelns nachvollziehen und symbolisch erfassen.83 Die Leistung des Erzählens besteht nun darin, dass es aus einer unendlichen Fülle gleichzeitiger Wahrnehmungen und Gedanken bestimmte Elemente selektiert und diese zu einer story verknüpft. Ricœur beschreibt den Prozess einer Selektion und Kombination von Elementen der Erfahrung mithilfe des aristotelischen Konzepts der Fabelkomposition (mise en intrigue). Durch die Fabel werden Ziele, Ursachen und Zufälle verzeitlicht und so in eine »action totale et complète«84 überführt. Die Fabel, das Ordnungsparadigma der Tragödie, lässt sich nach Ricœur mit gewissen Einschränkungen auf das gesamte Feld narrativer Texte ausweiten. Sie bildet die übergeordnete Handlung, die Einzelhandlungen, Charaktere und Umstände verwaltet. Dieser Totalisierungsanspruch schließt eine Konterdiskursivi-

81 | »[I]l existe entre l’activité de raconter une histoire et le caractère temporel de l’expérience humaine une correlation qui n’est pas purement accidentelle, mais présente une forme de nécessité transculturelle.« Ricœur (1983), 85. 82 | Müller-Funk (2008), 19. 83 | Vgl. ebd., 12-13. 84 | Ricœur (1983), 11.

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tät85 der (fiktionalen) Literatur keineswegs aus. So schreibt auch Ricœur fiktionalen Texten eine spezifisch literarische Form von Zeitlichkeit zu, wie sie in der Lebenswelt nicht gegeben sei.86 Das fiktionale Erzählen vermag Handlungsstrukturen zu entwerfen, die weit komplexer sind, als eine im Alltag erfahrene oder durch kulturelle Narrative vermittelte Zeitlichkeit. Damit ist es nicht nur generell in der Lage, die ›Ordnung des Diskurses‹ zu unterlaufen,87 sondern das Erzählen in der Frühen Neuzeit kann, über seine Funktion der Kontingenzbewältigung hinaus, mit Gumbrecht als Evasion aus einer erstarrten Alltagsrealität betrachtet werden, welche das Grundbedürfnis frühneuzeitlicher Subjektivität einschränkt.88 Das Erzählen – und dessen Rezeption – wird so als Taktik nutzbar, um einer restriktiven staatlichen Strategie zu begegnen.89 Trotz der Fähigkeit des literarischen Textes, zeitliche Strukturen der Lebenswelt zu suspendieren bzw. zu modifizieren, kann die Zeitlichkeit eines literarischen Textes erst vor dem Hintergrund lebensweltlicher Zeiterfahrung nachvollzogen werden. Umgekehrt fließen zeitliche Strukturen literarischer Texte sowohl in die Alltagserfahrung als auch in kulturelle Narrative mit ein. Das literarische Erzählen soll also nicht generell als konterdiskursiv bzw. als der Alltagsrealität gegenübergestellt begriffen werden. Vielmehr steht es zur Lebenswelt in einem zirkulären Verhältnis. Ricœur bestimmt dieses Verhältnis näher, indem er die Vermittlerfunktion der fabelkonstituierenden Tätigkeit im mimetischen Prozess nachweist.90 Sein Modell einer dreifachen Mimesis – Präfiguration, Konfiguration und Refiguration – macht deutlich, dass das Erzählen zeitliche Strukturen der lebensweltlichen Erfahrung nicht einfach imitiert, sondern dass die menschliche Wahrnehmung selbst durch narrative Strukturen geprägt ist. Erzählung und Erfahrung wirken wechselseitig aufeinander ein, wobei das Erzählen Zeitordnungen generieren kann, die in der Lebenswelt nicht vorkommen. Auf die drei Stufen des mimetischen Zirkels soll nun näher eingegangen werden. Das Erzählen verwaltet Geschehen, das sich in der Zeit ereignet (Mimesis I), konfiguriert die Elemente aus dem realen Bezugssystem durch zeitliche Strukturen (Mimesis II) und findet seine Sinnvollendung schließlich in der Refiguration der Lebenswelt durch den Akt der Lektüre (Mimesis III).

85 | Zum Begriff der Konterdiskursivität vgl. Warning (2009), 23-26, wo Warning das Konzept, das er an anderer Stelle in Anlehnung an Foucault entwickelt, zusammenfasst. 86 | Vgl. Ricœur (1984), 151-152. 87 | Vgl. Warning (2009), 24. 88 | Vgl. Gumbrecht (1990), 302-349. 89 | Zu den Begriffen von Strategie und Taktik vgl. Certeau (1990), 57-63. 90 | Vgl. Ricœur (1983), 87.

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1.2.2.1

Zeit der Lebenswelt

Unter Mimesis I (Präfiguration) versteht Ricœur die Referenz der Dichtung auf ein ethisches Vorwissen.91 Dieses moralische Feld lässt sich mit Iser als das in der Realität vorhandene Bezugssystem fassen, auf das der Autor im Akt des Fingierens zugreift, indem er auf eine Vielfalt von Diskursen der außertextuellen Welt – hierzu gehören Sinnsysteme, soziale Systeme, Weltbilder etc. – Bezug nimmt.92 Innerhalb dieses Bezugssystems unterscheidet Ricœur zwischen einem strukturellen, einem symbolischen und einem genuin temporalen Vorverständnis. Das Vorverständnis, das der textuellen Handlungswelt zugrunde liegt, kommt erstens in der Fähigkeit des Rezipienten zum Tragen, die Strukturen der zunächst dramatischen Handlung, ihre Träger, Motive, Ziele sowie ihre Kontingenzen und die Einwirkung äußerer Umstände, als solche zu erkennen. Die Erzählung greift auf ein solches konzeptuelles Handlungsnetz zurück, geht jedoch darüber hinaus, indem sie es durch diskursive Elemente ergänzt. Innerhalb der Erzählung lassen sich paradigmatische und syntagmatische Elemente unterscheiden. Die paradigmatischen Elemente einer Handlungssemantik (Träger, Motive, Ziele etc.) zeichnen sich durch Synchronität aus, das heißt sie sind vollkommen umkehr- und austauschbar. Hier lassen sich auch räumliche Faktoren in das zeitliche Modell integrieren, was bei Ricœur nicht explizit geschieht, für das dieser Studie zugrunde liegende Verständnis einer untrennbaren Verschränkung von Raum und Zeit jedoch notwendig ist. In seinem Bemühen, die Zeitlichkeit der Erzählung herauszustellen, vernachlässigt Ricœur, dass es dem Leser unmöglich wäre, der Fabel zu folgen, wenn er die Personen und Gegebenheiten nicht in einem räumlichen Setting lokalisieren könnte93 und dass eine Erzählung auch durch Zeitstillstände unterbrochen werden kann, in der beschreibend Räume konstituiert werden. Das diachrone Syntagma der Fabel kommt also nicht ohne die Synchronität des Raumes aus. Vielmehr stellt die zeitliche Sequenz der Fabel ein leeres Gerüst dar, das mit räumlichen Elementen gefüllt wird. Damit wird die Erzählung vorstellbar als vierdimensionales Zeit-Raum-Kontinuum – die drei Dimensionen des Raumes verbinden sich mit einer vierten, der Zeit94 –, das nicht nur die zeitliche Natur der menschlichen Erfahrung konfiguriert, sondern auch die räumliche.95 Zu dem strukturellen Vorverständnis kommt zweitens ein symbolisches hinzu. Eine Geschichte, die erzählt werden kann, ist von vorne herein, das heißt nicht nur über die Sprache, symbolisch vermittelt: Es liegen ihr kul91 | Vgl. ebd., 76-77. 92 | Vgl. Iser (1991), 24. 93 | Vgl. Ryan (2003), 335. 94 | In Einsteins Relativitätstheorie wird die Zeit als vierte Dimension des Raumes betrachtet, was Bachtin für sein Chronotopos-Konzept metaphorisch übernimmt. Vgl. Bachtin (1989), 7. 95 | Vgl. Ryan (2003), 335.

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turelle Symbole zugrunde, die ihre erste Bedeutung konstituieren, bevor sie in die Symbole von Sprache oder Schrift übertragen wird.96 Um den Sinn der Handlung zu erschließen, ist daher die Fähigkeit erforderlich, ihre symbolischen Vermittlungen aufzuschlüsseln. Schließlich beinhaltet die Ebene der Mimesis I ein temporales Vorverständnis im engeren Sinne. Die symbolischen Vermittlungen, die ein Erzählen der Handlung erst ermöglichen, tragen eine zeitliche Dimension in sich, die Ricœur mithilfe der heideggerschen Innerzeitlichkeit beschreibt. Diese zeige sich in der Sorge um die Zukunft, im Rechnen mit der Zeit, aber auch im grammatischen System mit seinen unterschiedlichen Zeiten und der Vielzahl von Zeitadverbien in den europäischen Sprachen.97 Das temporale Vorverständnis, auf das die in dieser Studie untersuchten Texte zurückgreifen, befindet sich angesichts der frühneuzeitlichen Umbruchssituation in einem Zustand der Umstrukturierung. Die zunehmende Ausdifferenzierung des sozialen Lebens in parallele, rhythmisch gegliederte Abläufe in der Frühen Neuzeit machte eine präzisere Zeiteinteilung notwendig. Im Zuge der Funktionsentwicklungen lokaler und regionaler Märkte begann die Messung der Zeit eine immer bedeutendere Rolle zu spielen. Vor allem im durch Handelsaktivitäten mit der Neuen Welt besonders geprägten Sevilla erfuhr die Ebene der lebensweltlichen Zeiterfahrung starke Verschiebungen. 1561 legte Philipp II. per Dekret fest, dass die Städte Sevilla, Cádiz und Sanlúcar de Barrameda eine Kriegs- und zwei Handelsflotten in die Neue Welt entsenden sollten. Nach einer ersten Expedition wurde der Ablauf der Transporte verfeinert, indem man genaue Daten für Abfahrten und Aufenthalte sowie Kurse festlegte.98 Verschiedene Amtsträger der Casa de la Contratación waren damit betraut, darüber zu wachen, dass alle im Handelsgeschäft notwendigen Operationen pünktlich durchgeführt wurden.99 Die Zeit entwickelte sich »zur berechnenden Handels- und Produktionszeit«.100 Dieses Rechnen mit der Zeit, wie es aus den intensivierten globalen Handelsaktivitäten entstand, bildet einen zentralen Teil des zeitlichen Vorverständnisses, auf das Lope de Vega sein Drama El Arenal de Sevilla aufbaut (vgl. Kap. 4.4). Das Stück nimmt die geschäftige Hafenzone am Guadalquivir in Augenschein. Dabei bildet das lebhafte Treiben, das An- und Ablegen von Flot96 | Ricœur beruft sich hier auf den Symbolbegriff Cassirers, der das Symbol als Medium begreift, über das sich der Mensch angesichts einer in unzählige Fragmente zerfallenden Wirklichkeit einen Bezug zur Welt verschafft. Denn diese kann nur mithilfe von Symbolen entschlüsselt werden. Daher durchdringt das Symbol alle Bereiche menschlicher Aktivität und Kultur, indem es das unmittelbar Gegebene in vermittelte kulturelle Objekte übersetzt. Vgl. Cassirer (1972) sowie auch Verene (1979), 12-13. 97 | Vgl. Ricœur (1983), 96-100. 98 | Vgl. Oliva Melgar (1993), 103. 99 | Vgl. María Serrera (2003), 50. 100 | Kaschuba (2004), 29.

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ten, das Kommen und Gehen von Reisenden, das Eintreffen von Edelmetallen und Waren aus der Neuen Welt nicht nur eine dekorative Kulisse, sondern ist konstitutiver Teil der Fabel. Die Unstetigkeit der Hafenzone steht für eine Unbeständigkeit der Welt, die sich im ebenso unsteten Lebenswandel der Figuren widerspiegelt. Deren berechnendes Verhalten, das sie stets wechselnde Identitäten annehmen lässt, wird nur nachvollziehbar angesichts der temporalen Strukturen der Lebenswelt, aus der das Stück entstanden ist. Es setzt ein Verständnis dafür voraus, dass die Wirklichkeit einem ständigen Wandel unterworfen ist, vor dem nicht einmal sorgfältiges Kalkulieren schützt. Zwar kommen die Protagonisten am Ende des Stücks glimpflich davon, doch kann die Schlussharmonie nur durch einen Kunstgriff hergestellt werden, der höchst unwahrscheinlich wirkt und der vom Autor selbst ironisch unterlaufen wird. Wo also auf struktureller Ebene Kontingenz gebannt wird, wird sie auf inhaltlicher Ebene gerade exponiert. Lope de Vega modelliert das Zeitempfinden einer in ständigem Wandel begriffenen Gesellschaft sorgfältig, indem er sowohl die paradigmatischen als auch die syntagmatischen Handlungselemente auf das Thema des Wandels hin ausrichtet. Hierauf wird im entsprechenden Kapitel noch ausführlicher einzugehen sein. Zunächst soll jedoch die soeben beispielhaft geschilderte dramatische Umsetzung zeitlicher Erfahrung zur nächsten Stufe des ricœurschen Modells überleiten.

1.2.2.2

Konfigurierte Zeit

Die Ebene der Mimesis II (Konfiguration) bezieht sich auf die Fabelkomposition (mise en intrigue) selbst, wobei Ricœur an dieser Stelle vom Paradigma der Tragödie Abstand nimmt und die fabelkomponierende Tätigkeit auf jegliches Erzählen hin öffnet.101 Die Fabel vermittelt zwischen dem Vorverständnis der Erfahrungswelt und dessen Refiguration im Akt der Rezeption. Sie hebt die zeitliche Aporie, die Augustinus im 11. Buch seiner Confessiones beschreibt,102 auf einer poetischen Ebene auf und reflektiert sie zugleich. Während Augustinus sich an der Schwierigkeit abarbeitet, eine zeitliche und eine überzeitliche Dimension der Welt miteinander in Einklang zu bringen, kombiniert die Fabel beide Dimensionen im Akt der mise en intrigue, indem sie chronologische und episodische, syntagmatische und paradigmatische, zeitliche und räumliche Elemente zu einer Einheit zusammenfasst. Die poetische Auflösung des Zeitparadoxes besteht in der Fähigkeit der Erzählung, einen Spannungsbogen zu generieren, der in eine Konklusion mündet. Von diesem Ende aus kann die Erzählung dann als eine Einheit wahrgenommen werden.103

101 | Vgl. Ricœur (1983), 101-102. 102 | Ricœur stellt die Überlegungen Ausgustinus’ zur Zeit in seinem Werk ausführlich dar, um sie als Ausgagngspunkt für seine Theorie zu Zeit und Erzählung zu nehmen. Vgl. Ricœur (1983). 103 | Vgl. ebd., 103-104.

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Diese teleologische Struktur ist nicht nur im Hinblick auf das ordnungsstiftende Potential der Erzählung relevant, sondern auch auf den Status der Erzählerfigur in der frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung. Der Erzähler, wie er in historiographischen Texten der Frühen Neuzeit auftritt, ist sich selbst stets voraus. Er spricht von einem Endpunkt her und kann dadurch als Garant für die Einheit der Erzählung auftreten. Durch seinen zeitlichen Abstand zum Geschehen kann der Erzähler Sinn stiften, da er von seiner retrospektiven Position aus die Zusammenhänge der paradigmatischen und syntaktischen Elemente des Geschehens überblickt. Durch sein Mehrwissen vermag er den Leser zuverlässig durch den Text zu führen, hin zu jener zeitlichen Einheit, die der Leser in der historischen Wirklichkeit vermisst. Deshalb ist die explizite Anwesenheit einer Erzählinstanz gerade in der frühneuzeitlichen Historiographie unerlässlich. Dies gilt auch für den fiktionalen Text, wobei der Erzähler hier nicht immer über dem Geschehen steht, geschweige denn als zuverlässig betrachtet werden kann: Der pícaro erzählt in Episoden, weil er nicht über die totalisierende zeitliche Einheit eines allwissenden Erzählers verfügt. Darüber hinaus, und dies ist der wichtigere Aspekt, fällt er aus der zeitlich distanzierten Perspektive, von der aus er das Geschehen überblicken kann, immer wieder in eine erlebende Perspektive zurück, welche die erzählten Begebenheiten in ihrer Kontingenz stehen lässt. Diese Unfähigkeit, oder möglicherweise der Unwille, kritische Zeiterfahrungen in einer temporalen Einheit aufgehen zu lassen, macht die Diskrepanz zwischen kulturellen Narrativen der Kontinuität und einer als kontingent erfahrenen Realität bewusst. Auch wenn der frühneuzeitliche Erzähler in der Ich-Form stets an der Textoberfläche präsent ist, ist er in den meisten Fällen doch körperlich abwesend bzw. im Falle eines fiktionalen Erzählers realkörperlich gar nicht existent.104 Abgesehen von einigen kollektiven Rezeptionssituationen, in denen ein gemeinsamer Sinnhorizont vorausgesetzt werden kann, ist der Leser bei der Erschließung der Aussage über die Welt, die der Text transportiert, somit auf sich allein gestellt. Ein berühmtes Beispiel des auf sich selbst gestellten Lesers liefert Don Quijote: Der sinnreiche Junker verliert sich in einer unkontrolliert subjektiven Interpretation des Gelesenen, was zu einer fehlgeleiteten Refiguration seiner Erfahrungswelt führt. Dem Akt der Rezeption kommt mit dem Übergang zu einer mittelbaren Kommunikation also eine zunehmende Bedeutung bei der Sinnbildung zu. Das Signifikat ist dem gedruckten Text nicht eindeutig eingeschrieben, sondern konstituiert sich erst in der Interaktion zwischen Text und Leser. Damit prägt sich in der Frühen Neuzeit derjenige Aspekt des Erzählens aus, der bei Ricœur den Übergang von Mimesis II zu Mimesis III darstellt: Eine 104 | Ein gedruckter Text schließt einen mündlichen Vortrag nicht kategorisch aus. So wurden etwa die vorjournalistischen relaciones de sucesos manchmal auch vorgelesen und so auch einem analphabetischen Publikum zugänglich gemacht. Vgl. Redondo (1989), 56-57.

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Erzählung entfaltet ihren vollen Sinn erst im Akt der Rezeption, in dem die konfigurierte Zeit in die Lebenswelt des Lesers zurückfließt.

1.2.2.3

Imaginäre Zeit

Auf der Ebene der Mimesis III findet eine Refiguration der Erfahrungswelt des Lesers statt, indem sich die Welt des Textes mit der Welt des Lesers überschneidet. Der Akt des Lesens begleitet die Konfiguration der Erzählung und aktualisiert ihr Potential, nachvollzogen zu werden.105 Dabei erfasst der Leser nach Ricœur nicht in erster Linie die Kommunikationsabsicht des Autors, das heißt das von ihm intendierte Signifikat, sondern vor allem die lebensweltliche Erfahrung, die der Text zur Sprache bringt. Die Dichtung entfaltet eine ihr vorgängige Welt neu;106 der mimetische Zirkel von lebensweltlicher Zeiterfahrung, deren Konfiguration und schließlich der Rezeption der konfigurierten Zeiterfahrung schließt sich. Dabei ist Ricœur die Gefahr eines »cercle vicieux«, in dem Mimesis I nichts anderes als das Resultat von Mimesis III wäre, bewusst, und er versucht, ihr durch das Modell einer Spirale zu entgehen. Demnach ist die dreifache Mimesis als Endlosschleife zu verstehen, in der die Konfiguration von Zeit zwar immer wieder dieselbe Stelle passiert, dies jedoch stets auf einer anderen Höhe.107 Insgesamt ist Ricœur weniger um die Zirkularität seines Modells besorgt, vielmehr liegt ihm daran zu zeigen, dass eine Erzählung erst im Zusammenspiel von Produktion und Rezeption zur Vollendung gelangt: »Le texte ne devient œuvre que dans l’interaction entre texte et récepteur.«108 Der Leser ist also wesentlich an der Konstitution der Aussage, die über den Text transportiert wird, beteiligt. Bei der Mimesis III spielen, so Ricœur, Schematisierung und Traditionalität als Kategorien der Interaktion zwischen Schreiben und Lesen eine wichtige Rolle: Bekannte Paradigmen strukturieren die Erwartung des Lesers und helfen ihm, die Gattung oder den Typ einer Erzählung zu erkennen.109 Die narrative Konfiguration der Welt in ihrer Zeitlichkeit nimmt unterschiedliche Formen an, die sich zu Gattungen verfestigen können. Allerdings bringt nicht jede historische Veränderung in der Zeiterfahrung automatisch neue narrative Formen hervor. Diese entstehen vielmehr aus einem Zusammenspiel von Tradition und Innovation.110 Bachtin betrachtet die in der Literatur künstlerisch erfassten Raum- und Zeitkonzeptionen als ausschlaggebend für die Genrebildung, beschreibt diese jedoch als einen komplizierten, diskontinuierlich verlaufenden und von histori105 | »Suivre une histoire, c’est l’actualiser en lecture.« Ricœur (1983), 116. 106 | »Le faire narratif re-signifie le monde dans sa dimension temporelle«. Ebd., 122. Ricœur grenzt sich hier explizit von einer romantischen Hermeneutik ab, die im Rezeptionsakt eine Rekonstruktion der Autorenabsicht sah. 107 | Vgl. ebd., 111. 108 | Ebd., 117. 109 | Vgl. ebd., 116. 110 | Vgl. ebd., 106-109.

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schen Bedingungen abhängigen Prozess.111 Dies trifft auch dann zu, wenn man den literarischen Text nicht als Produkt einer Aneignung, sondern als Scharnier zwischen einer prä- und einer refigurierten Lebenswelt begreift. Traditionen sind dafür verantwortlich, dass literarische Formen, die der jeweils aktuellen Konfiguration von Zeit und Raum nicht mehr entsprechen, als verfestigte Raum-Zeiten fortbestehen, was die literaturgeschichtliche Entwicklung außerordentlich komplex macht.112 Es erweist sich aufgrund des Zusammenspiels von Tradition und Neuerung bei der Genrebildung als problematisch, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Zeiterfahrung und Gattung zu etablieren, da die Herausbildung einer neuen Gattung von zahlreichen Faktoren abhängt, von denen die Veränderung von Zeitkonzeptionen nur einen darstellt. Dennoch soll in der vorliegenden Studie versucht werden, in der Frühen Neuzeit neu entstehende Gattungen einerseits als Produkte, andererseits als Triebfedern eines veränderten Weltbildes und damit verbundener neuer Zeitkonzeptionen zu lesen. So ist etwa die Emergenz der als Gattungsmischung zu betrachtenden relaciones de sucesos zugleich Manifestation und Antrieb einer neuen Fähigkeit zur zeitlichen Selbstbeobachtung (vgl. Kap. 2.2.1): Das immer häufigere Erscheinen politischer und religiöser Kurznachrichten lässt die Vielfalt gleichzeitigen Geschehens zutage treten und nährt dadurch die Vorstellung einer inhaltlich leeren Zeitordnung, die Zeit nicht mit Geschehen in der Zeit gleich setzt, sondern die fähig ist, die Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Handlungs- und Kommunikationsvorgänge zu umfassen. Die Verfestigung narrativer Konfigurationen von Zeit zu Gattungen bildet nur einen Aspekt, der im Akt der Refiguration zum Tragen kommt. Gattungsmerkmale konditionieren zwar die Lesererwartung, doch setzt die Mimesis III vor allem dort an, wo der Text in die Erfahrungswelt des Lesers hineinspricht. Ricœur bezeichnet den mimetischen Akt, der die Lebenswelt des Lesers mit der des Textes verbindet, als »Sprung des Imaginären« (saut de l’imaginaire)113, wobei er diesen Gedanken nicht weiter ausführt. Der Begriff des Imaginären soll vor dem Hintergrund des oben (vgl. Kap. 1.1.3) bereits Gesagten hier aber aufgegriffen werden, um den Akt der Refiguration als Überschneidung von Text und Lebenswelt näher zu bestimmen. Nicht nur die verschiedenen Bedeutungen, die der nun bereits mehrfach erwähnte Begriff des Imaginären in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Forschung trägt, machen seine Erklärung notwendig, sondern vor allem die veränderte literarische Kommunikationssituation in der Frühen Neuzeit. Wenn der Leser von nun an verstärkt in die Sinnproduktion mit einbezogen wird, so hat dies Konsequenzen für die Konstitution eines Imaginären. Dieses kann nicht mehr nur von der Produktionsseite her gedacht werden, denn es tritt in dem Moment zuta111 | Vgl. Bachtin (1989). 112 | Vgl. ebd., 8-9. 113 | Ricœur (1983), 77.

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ge, in dem die Welt des Textes sich mit der Welt des Lesers überschneidet. Dieser ist nicht nur Rezipient eines konfigurierten Imaginären, vielmehr ist er dessen Mitproduzent, indem er das Gelesene mit der ihn umgebenden Alltagsrealität abgleicht. Er baut durch die Lektüre einen Filter auf, durch den er das real Vorfindliche wahrnimmt. Castoriadis hat diesen Filter, mit dem eine Gesellschaft ihre physischen und biologischen Bedingungen bearbeitet, im Anschluss an Freud mit dem Konzept der Anlehung (étayage) gefasst. Gesellschaftliche Institutionen lehnen sich an eine primäre natürliche Schicht an, woraus das ›Andere‹ des Realen, das soziale Imaginäre erwächst. Mit dem Begriff der Anlehnung schlägt Castoriadis einen Weg jenseits einer Kausalität von Natur und Gesellschaft ein.114 Die Darstellungsformen, derer sich eine Gesellschaft bedient, sind weder vollkommen abhängig noch vollkommen unabhängig vom Realen. Auf den Akt des Lesens übertragen bedeutet dies, dass das Imaginäre sowohl die Lebenswelt des Lesers als auch deren narrative Konfiguration durchdringt. Daher ist es weder allein in der Lebenswelt noch ausschließlich auf der Ebene des Textes anzusiedeln, sondern als Bindeglied zwischen beiden zu betrachten.115 Es deckt sich weder mit dem Realen, noch mit dem Fiktiven bzw. der konfigurierten Lebenswelt. Vielmehr ist es das Produkt, das aus dem Zusammentreffen des Textes mit der Lebenswelt des Lesers entsteht: Das in der Lebenswelt vorhandene Imaginäre wird durch die narrative und mediale Konfiguration zur Anschauung gebracht. Gleichzeitig treibt die Erzählung bzw. das Medium das Imaginäre erst in die Lebenswelt hinein. Das Signifikat im barthesschen Sinne wird vom Leser nur erkannt, wenn es bereits Teil seines Wissens ist. Der Signifikant, die narrative Konfiguration, hingegen legt selbst keine im Text verborgenen Bedeutungen offen, sondern gestaltet sie vielmehr.116 Das Imaginäre konstituiert sich also aus dem Zusammenspiel von Medium und Lebenswelt, aber nur im Medium kann es konkrete Gestalt annehmen. Es ist der unverfügbare Kern des Signifikats, das Produzent und Rezipient in einem gemeinsamen Akt der Bedeutung produzieren. Im Hinblick auf die Zeit hat das Konzept der Anlehnung zur Folge, dass auch sie weder ausschließlich gegeben noch ausschließlich gemacht ist. Vielmehr stützt sich die Instituierung von Zeit auf eine natürliche Periodizität, die sie in mengenlogischen Operationen modelliert.117 Castoriadis unterscheidet zwei zeitliche Dimensionen, die in einem wechsel114 | »Dire que l’institution de la société s’étaye sur l’organisation de la première strate naturelle veut dire qu’elle ne la réproduit pas, ne la reflète pas, n’est pas déterminée par elle d’une manière quelconque ; elle y trouve une série de conditions, de points d’appui et d’incitation, de butées et d’obstacles.« Castoriadis (1975), 319. 115 | Vgl. Pfeiffer (1999), 171. 116 | Vgl. ebd., 167. 117 | Vgl, ebd., 315.

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seitigen Verhältnis zueinander stehen: eine identitätslogische (temps identitaire), die als Orientierungsprinzip fungiert, und eine genuin imaginäre, die als Alterität (altérité), das heißt als eine beständige Emergenz neuer Figuren und Formationen denkbar ist.118 Eine solche »émergence de figures autres«119 kann sich, wie alles, was dem Menschen in der sozial-historischen Welt begegnet, nur mithilfe des Symbolischen ausdrücken.120 Um aus seinem virtuellen Status herauszukommen und fassbar zu werden, ist das Imaginäre auf das Symbolische angewiesen.121 Dennoch lässt sich das Imaginäre nicht als Bild oder Narrativ klassifizieren. Reduziert auf ein radikal Imaginäres ist es eine Dynamik, die zwischen Bildern und Narrativen zirkuliert, dabei stets neue schafft und alte zerstört.122 An dieser Stelle kann der Ansatz von Castoriadis für den Zusammenhang von Zeit und Erzählung fruchtbar gemacht werden: Erzählungen verweisen als Signifikanten auf zeitliche Ordnungen und bringen so ein zeitliches Imaginäres zur Anschauung. Zugleich werden sie erst durch ein Imaginäres ermöglicht, nämlich durch das radikal Imaginäre als dem elementaren Vermögen, ein Bild hervorzurufen. Jede Erzählung ist immer selbst schon imaginären Ursprungs, auch und gerade wenn sie lediglich Fakten darzustellen beansprucht, da die Annahme dieser Fakten bereits selbst Ergebnis einer Institutionalisierung ist.123 Geht man davon aus, dass sowohl Autor bzw. Text als auch Leser an der Produktion von Sinn beteiligt sind, so öffnet sich das Imaginäre hin auf die Rezeption. Damit wird das Konzept des Imaginären, wie es Wolfgang Iser im Anschluss an Castoriadis formuliert hat, einer weit reichenden Veränderung unterzogen. Nach Iser zeichnet sich das Imaginäre dem Realen durch die Akte des Fingierens ein, indem es in Bedeutungen überführt wird.124 Diese Bedeutungen werden jedoch, so die Auffassung, die dieser Studie zugrunde liegt, durch den jeweiligen Rezipienten verändert. 118 | »Le temps identitaire n’est ›temps‹ que parce qu’il est référé au temps imaginaire qui lui confère sa signification de ›temps‹; et le temps imaginaire serait indéfinissable, irrepérable, insaisissable – ne serait rien hors le temps identitaire.« Ebd., 289, Hervorhebung i.O. Und: »Il n’y a donc pas de temps ›pur‹, séparable de ce qui se fait être par le temps en faisant être le temps. […] Le temps comme ›dimension‹ de l’imaginaire radical […] est émergence de figures autres […].« Ebd., 267, Hervorhebung i.O. 119 | Castoriadis (1975), 267, Hervorhebung i.O. 120 | Vgl. ebd., 162. 121 | Vgl. ebd., 177 u. 198. 122 | Vgl. Warning (2009), 16. 123 | Vgl. Sprenger (1997), 115-119, hier 117. 124 | Den iserschen Akten des Fingierens, Selektion und Kombination, entsprechen bei Castoriadis »die identitäts- und mengenlogischen Operationen des ›legein (unterscheiden/auswählen/aufstellen/zusammenstellen/zählen/sagen)‹ und ›teukein (zusammenstellen/zurichten/herstellen/errichten)‹«. Iser (1991), 361.

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Wo der Akt der Produktion das Reale konfiguriert, wird das Lesen zum Akt der Modellierung des Realen; das Imaginäre wäre dann die Dynamik, mit deren Hilfe das Reale auf der Seite der Rezeption zugleich wiedererkannt und modifiziert wird. Diese Dynamik kann sich desto mehr entfalten, je mehr der Rezipient symbolischer Konfigurationen auf sich allein gestellt ist. Wo kein gemeinsamer Sinnhorizont durch eine kollektive Rezeptionssituation gegeben ist, dort verselbständigt sich das Signifikat vor dem je eigenen Erfahrungshintergrund des Lesers. Und genau diese Loslösung des Imaginären aus einem durch kollektive Anwesenheit gesteuerten Rezeptionsakt vollzieht sich in der Frühen Neuzeit. Das Zusammenspiel von realer Zeit, ihrer Konfiguration und ihrer Refiguration wird also über die Kategorie des Imaginären denkbar. Begreift man die Zeit als ein Imaginäres, welches weder dem Realen noch dessen Konfiguration eindeutig zuzuordnen ist, sondern beide miteinander verbindet, so entgeht man dem Problem einer Phänomenologie der Zeit. Diesem Problem versucht auch Ricœur auszuweichen: Für ihn existiert eine Phänomenologie der Zeit als solche nicht – zumindest nicht in reiner Form – denn Zeit ist, so Ricœur, außerhalb ihrer narrativen Konfiguration nicht erfahrbar.125 Die Zeit ist dem Erzählen zugleich vor- und nachgängig; sie ist zugleich das Objekt und das Produkt der Konfiguration. Dass die Zeit nicht in einem konstruktivistischen Sinne ausschließlich Produkt der Konfiguration sein kann, ist schon allein dadurch ausgeschlossen, dass die Konfiguration von Zeit ein Prozess ist, der stets in der Zeit stattfindet. Auch wenn ein Text die Zeit konfiguriert, so bleibt er in der Zeit gefangen. Ebenso ist der Akt der Rezeption ein zeitlicher Prozess. Der Leser tritt für den Zeitraum des Lesens nicht aus der Zeit heraus, um dann wieder in eine refigurierte Zeit einzutreten. Zeitliche Konfiguration ist also immer eine Modellierung von Zeit in der Zeit. Präfiguration und Refiguration von Zeit, zeitliches Vorverständnis und dessen Revidierung im Akt der Rezeption, sind in jeder narrativen Konfiguration angelegt. Jede Erzählung setzt ein zeitliches Vorverständnis voraus, das sie konfiguriert. Dabei entstehen, ob bewusst oder unbewusst, Leerstellen, welche die Leserschaft zur Beteiligung an der Sinnproduktion auffordern. Dadurch bildet sich ein modifiziertes Zeitverständnis heraus, das heißt ein solches, das sich nicht mit dem ursprünglichen Vorverständnis deckt. Gleiches gilt für den Raum: Sowohl der lebensweltliche als auch der konfigurierte Raum werden durch eine imaginäre Dimension überlagert, welche die Schnittstelle zwischen dem Realen und dem Fiktiven darstellt. Gleichzeitig verbindet der imaginäre Raum die materielle mit der symbolischen Seite des lebensweltlichen Raumes. Er ist der Bereich der Refiguration, in dem sich die konfigurierte Zeit mit der Zeit der Lebenswelt überschneidet. Das Imaginäre ist als solches nicht greif125 | Vgl. Ricœur (1983), 125-126. Auch Castoriadis verfolgt mit der Kategorie des Imaginären das Ziel, Aporien zu vermeiden, in denen sich phänomenologische Zeitkonzepte verfangen. Vgl. dazu Warning (2009), 20.

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bar und daher nur aus der Art und Weise ersichtlich, wie ein realer Raum konfiguriert wird. Es konkretisiert sich in sogenannten Repräsentationsräumen – etwa Gebäuden Denkmälern und Kunstwerken –, die komplexe Symbolisierungen aufweisen,126 aber auch durch spezifische (textuelle) Imaginationspraktiken, die sowohl auf der Produktions- als auch auf der Rezeptionsseite liegen und deren sich sowohl das Religiöse als auch das Säkulare bedienen. Ein Beispiel solcher Repräsentationsräume im frühneuzeitlichen Sevilla bilden die sogenannten religiosas estaciones, die der Abt Alonso Sánchez Gordillo in einer der berühmtesten sevillanischen Handschriften darstellt.127 Es bietet sich an, diese rituellen Stationen als soziale Institutionen im Sinne von Castoriadis zu betrachten, denen ein Imaginäres zugrunde liegt, das sich einerseits in den Strukturen des materiellen Raumes und in ihm vollzogenen Raumpraktiken, andererseits in diese Praktiken begleitenden Narrativen manifestiert. Das Erzählen, so lässt sich im Anschluss an das modifizierte MimesisModell nach Ricœur festhalten, ist zwar primär eine Technik der Zeit, die Erfahrungen und Wahrnehmungen in einer Sequenz und damit diachron anordnet, enthält aber auch räumliche Aspekte. Umgekehrt besitzen auch primär ikonische Medien, wie noch zu erläutern sein wird, eine zeitliche Dimension. Auf diese Verschränkung von Zeit und Raum, von Erzählen und Zeigen, soll im folgenden Kapitel näher eingegangen werden Denn das Erzählen kommt in der Frühen Neuzeit genauso wenig ohne Räumlichkeit aus, wie das Zeigen ohne die Zeit. Hinter jeder Raumordnung steht eine bestimmte Vorstellung von Zeit und hinter jeder Zeitkonzeption ein bestimmtes Raumbild. Raum und Zeit bleiben in ihren verschiedenen imaginären Ausprägungen stets aufeinander bezogen.

1.3 D IE UNTRENNBARE V ERBINDUNG VON R AUM UND Z EIT 1.3.1

Erzählen und Zeigen: Raum-Zeiten jenseits des Laokoon-Paradigmas

Erzählen und Zeigen bilden einander ergänzende Kulturtechniken. Wo das Erzählen kontingente Fakten in eine vor allem zeitliche Ordnung überführt, ermöglicht das Zeigen die Verankerung von Ordnungsbeziehungen im Raum. Nach Karl Bühler geht das Zeigen im sprachlichen Gebrauch, etwa durch Zeigwörter wie hier oder dort, auf eine körperliche Geste zurück, das heißt, es bietet vor allem räumliche Orientierung, während die 126 | Vgl. Lefebvre (2006), 333. 127 | Sánchez Gordillo, Abad A. (1982 [1633]): Religiosas estaciones que frecuenta la religiosidad sevillana, Sevilla: Consejo general de Hermandades y Cofradías de la Ciudad de Sevilla. Die Handschrift wurde vom Autor selbst nie veröffentlicht, jedoch häufig als zuverlässige und unwiderlegbare Quelle zitiert.

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Zeit letztlich nur durch den Aufenthalt des zeigenden Subjekts zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort in das Zeigfeld eingeht. Das Zeigfeld spannt sich auf von den Standpunktskoordinaten Ich, Hier und Jetzt, von denen aus ein Subjekt sein Gegenüber auf einen von diesem Standort unterschiedlichen Punkt hinweist.128 Allerdings geht der in dieser Studie verwendete Begriff des Zeigens weit über die Verwendung von Zeigwörtern und den ihnen zugrunde liegenden körperlich-gestischen Bezug hinaus. Zeigen soll verstanden werden als sprachlich produzierte Räumlichkeit im weitesten Sinne. So ist etwa der semiotische Raum nach Lotman nicht an einen Sprechakt gebunden, enthält aber dennoch die Koordianten des Zeigfeldes: Eine Individualmarkierung (ein Subjekt, das im Raum eine bestimmte Position einnimmt), eine Lokalmarkierung (z.B. bedeuten die Zeigwörter hier und dort im kultursemiotischen Modell Lotmans ein Diesseits und Jenseits einer Grenze) sowie eine Zeitmarkierung, das heißt die Setzung einer bestimmten Gegenwart. Der Begriff des Zeigens als sprachlich konstituierte Räumlichkeit setzt die vor allem durch Lessings Laokoon bekannte Unterscheidung zwischen Raum- und Zeit-Künsten, die das Ikonische dem Raum und das Diskursive der Zeit zuordnet, außer Kraft. Diese Dichotomie von räumlichen und zeitlichen künstlerischen Darstellungen geht auf den Gemeinplatz einer Unterscheidung von Sprache und Bild zurück, die das Diskursive und das Ikonische, argumentatio und praesentatio, jeweils als disjunkte symbolische Ordnungen betrachtet: »Das für Bilder charakteristische Darstellungspotential wurzelt in der Simultaneität der Präsentation kraft der Mehrdimensionalität des Räumlichen. Die Sprache dagegen zehrt von der linearen Ordnung der Sukzession und der Eindimensionalität der Zeit.« 129 Das Diskursive, so die gängige Auffassung, rekurriert auf die Zeit, indem es Dinge nacheinander anordnet, das Ikonische macht sich den Raum zu Eigen, indem es Dinge gleichzeitig arrangiert. Allerdings genügt das Beispiel von Reiseerzählungen, um deutlich zumachen, dass sich das Diskursive und das Ikonische in literarischen und medialen Konfigurationen keineswegs ausschließen: Die verschiedenen Stationen der Reise durch einen Raum sind in einem zeitlichen Nacheinander angeordnet und bilden so die Fabel der Erzählung. Gleichzeitig lässt sich der zurückgelegte Weg auf einer Karte einzeichnen – häufig sind Reiseerzählungen auch Kartenskizzen beigefügt, wodurch die gleichzeitigen Beziehungen der passierten Orte zueinander im Raum sichtbar werden. Umgekehrt zeigt das Beispiel der frühneuzeitlichen Kartographie, dass auch ikonische Darstellungen in der Lage sind, zeitliche Folgen zu modellieren und dadurch zu erzählen.130 Auch im Theater lassen sich Erzählen und Zeigen kaum trennen: Der dramatischen Handlung liegt eine Fabel zugrunde, die jedoch nicht im engeren Sinne erzählt, sondern gezeigt 128 | Vgl. Bühler (1934), 79-120. 129 | Krämer (2003), 52-53. 130 | Vgl. hierzu generell Woodward (2007).

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wird. Schließlich ist auch die Fabel selbst in räumlichen Kategorien denkbar, wie das kultursemiotische Modell Jurij M. Lotmans zeigt: Es beruht auf der Annahme, dass Kulturmodelle und ihre literarische Modellierung primär ikonischer und damit räumlicher Natur sind, da sich die Welt dem Menschen vor allem visuell erschließe.131 Die Fähigkeit der Sprache, die Illusion eines Bildes hervorzubringen, ist bereits im horazschen ut pictura poesis institutionalisiert und findet ihre Umsetzung in der Ekphrasis-Tradition. Nach einer frühen Definition handelt es sich bei der Ekphrasis um eine Rede, die dem Zuhörer den dargestellten Gegenstand durch detaillierende Genauigkeit lebhaft und anschaulich vor Augen führt. Sie ist ein Verfahren der Suggestion von Augenschein,132 indem sie versucht, sich über die chronologische Zeichenfolge des Textes hinwegzusetzen und in der Vorstellung des Lesers räumliche Gleichzeitigkeit zu erzeugen. Daher ist die Beschreibung weniger narrativen Verfahren, als vielmehr zeigenden Techniken zuzuordnen.133 Sie bedient sich zwar des diachronen Mediums der Sprache, erstellt jedoch keine Fabel im Sinne Ricœurs, sondern ein Tableau, in dem die Dinge nicht in einem zeitlichen Nacheinander, sondern in einem räumlichen Nebeneinander angeordnet sind. Die Plastizität der Beschreibung schafft gerade mithilfe einer linearen Abfolge von Zeichen einen synchronen Raum der Anschauung.134 Das Erzählen darf also nicht auf das Zeitliche reduziert werden, denn auch die Sprache besitzt eine räumliche Dimension, genauso wie umgekehrt das Zeigen narrative Elemente enthalten kann. Auch die (Druck-)Schrift ist weder bloße Sprache noch bloßes Bild, vielmehr speist sie sich aus einem Zusammenspiel zwischen dem Diskursiven und dem Ikonischen.135 Damit erhält das Erzählen seine visuelle Komponente nicht nur durch die Beschreibung, sondern auch durch das mediale Dispositiv, über das es transportiert wird. Der gedruckte Text wird zu einem doppelten Raum der Anschauung: dem technischen Raum des

131 | Vgl. Lotman (1972), 312 sowie Lotman (1990), 203. 132 | Vgl. Müller (1997). 133 | Dieser Befund steht im Widerspruch zu dem, was sich in der angelsächsischen Erzähltheorie in Anschluss an Henry James als showing vs. telling etabliert hat. Dort gilt gerade die Beschreibung durch einen Erzähler als erzählende Technik, im Gegenatz zum dramatischen Dialog als zeigendem Verfahren. Während der Leser im ersten Fall auf den Erzähler hört, ermöglicht ihm der zweite Fall, die story direkt ohne eine vermittelnde Instanz zu beobachten. Ob erzählt oder gezeigt wird, hängt dann also weniger von der zeitlichen bzw. räumlichen Dimension der Sprache ab, sondern von der Präsenz bzw. Abwesenheit einer Erzählinstanz. Vgl. Lubbock (1968). 134 | Vgl. Krieger (1967). Zu einer Geschichte der Ekphrasis vgl. Krieger (1992). 135 | Vgl. Krämer (2003), 53.

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Mediums und dem semiotischen Raum der Sprache.136 Da sich die Druckschriftlichkeit in der Frühen Neuzeit herausbildet, ist ein Zusammendenken von Diskursivem und Ikonischem, von Erzählen und Zeigen, gerade im Hinblick auf frühneuzeitliche Texte notwendig. Schließlich besitzt auch die Zeit der Erzählung, wie sie oben in Anschluss an Ricœur beschrieben wurde, eine räumliche Dimension (vgl. Kap. 1.2.2.1). Die Erzählung erzählt nicht nur, sondern sie zeigt auch, genauso wie primär räumliche Konfigurationen wie etwa das Theater, erzählen. Allerdings steht im Falle der Erzählung der zeitliche Aspekt im Vordergrund. Es greifen also auch solche Ansätze zu kurz, die den literarischen Text allein auf seine räumliche Verfasstheit hin betrachten, wie es etwa in den 1960er Jahren einige Kritiker getan haben. Joseph Frank prägte die umstrittene Metapher der spatial form, nach der sich alle Fragmente eines Textes gleichzeitig im Denken des Lesers vereinen.137 Im Gegensatz zu Ricœur besteht bei Frank die Leistung des Textes nicht darin, eine zeitliche Einheit in Form einer sinnvollen Abfolge herzustellen, sondern eine räumliche Einheit in Form von Synchronität. Diese beiden Ansätze müssen sich nicht widersprechen, sondern können sich vielmehr ergänzen. Denn auch für Ricœur ist das sinnvolle Ganze der Erzählung, wie bei Frank, erst von einem Endpunkt her wahrnehmbar und damit von einer synchronen Ebene aus, auf der die Elemente der Erzählung als räumliches Nebeneinander im Gedächtnis des Lesers präsent sind. Raum und Zeit, so lässt sich aus dem bisher Gesagten schließen, greifen in medialen Darstellungen auf vielfältige Art und Weise ineinander. Um ein theoretisches Gleichgewicht zwischen Zeit und Raum zu erzielen, gilt es daher, das Laokoon-Paradigma, welches das Ikonische auf den Raum und das Diskursive auf die Zeit reduziert, zu überwinden.138 Ein Analyemodell, welches das Ikonische mit einem statischen Nebeneinander und das Diskursive mit zeitlicher Dynamik identifiziert, würde dem untersuchten Korpus nicht gerecht werden. Denn gerade in der Frühen Neuzeit, aber auch generell, sind Texte genauso in der Lage, Räume zu produzieren, wie ikonische Medien zeitliche Abfolgen darstellen können. Wie das Diskursive mithilfe indexikalischer Verweise und detaillierter Beschreibungen Räume konstituieren und dadurch zeigen kann, wird anhand der frühneuzeitlichen Festbeschreibungen noch detailliert nachzuweisen sein (vgl. Kap. 2.2). Im Folgenden soll anhand zweier Beispiele gezeigt werden, dass sich in der Frühen Neuzeit Erzählen und Zeigen, zeitliches Nacheinander und räumliches Nebeneinander, kaum trennen lassen: So bedient sich etwa die sevillanische Prozessionskultur, die auf den ersten Blick über Bewe136 | Zu den Kategorien des technischen und des semiotischen Raums vgl. Dünne (2004a). 137 | Vgl. zum Begriff der spatial form und dessen Kritik Frank (1963), Frank (1977), Rabkin (1977). 138 | Vgl. Krieger (1967).

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gung im Raum organisiert ist, sowohl zeigender als auch narrativer Verfahren, was zugleich für die frühneuzeitliche Kartographie gelten kann, die zeitliche Abfolgen räumlich anordnet. Dennoch lässt sich mithilfe eines Vergleichs raum-zeitlicher Aspekte von Prozessionskultur und Karte zeigen, dass diese beiden Medien in der Frühen Neuzeit gegenläufige Entwicklungen aufweisen: Während in der Kartographie bekanntermaßen eine zunehmende Synchronisierung des Raumes zu beobachten ist, vollzieht die frühneuzeitliche Prozessionskultur eine Diachronisierung des Raumes. Die sevillanische Religiosität erschließt sich durch Bewegung im städtischen Raum sowie durch das Erzählen von Legenden eine neue sakrale Topgraphie, wohingegen die Kartographie zunehmend auf legendäre und narrative Elemente verzichtet und diese in das Medium ›Text‹ verdrängt. Wo die Kartographie zeitliche und räumliche, synchrone und diachrone Darstellungen, allmählich voneinander zu lösen sucht, verwischen sich in der Prozessionskultur Raum und Zeit. Beide Entwicklungen kreuzen sich in Sevilla, das mit zahlreichen religiösen Institutionen und der Casa de la Contratación in Spanien sowohl ein Zentrum der Prozessionskultur als auch kartographischer Neuerungen darstellt und das sich so als privilegierten Ort der Konvergenz verschiedener frühneuzeitlicher Raum-Zeiten ausweist.

1.3.2 1.3.2.1

Raum-zeitliche Konfigurationen Organisation von Religiosität in Sevilla

Das öffentliche religiöse Leben im frühneuzeitlichen Sevilla verdichtete sich in sogenannten Stationen, die der Abt Alonso Sánchez Gordillo in einer der berühmtesten sevillanischen Handschriften Religiosas estaciones que frecuenta la religiosidad sevillana (1633)139 darstellt. Bei der estación handelt es sich um ein imaginäres Konstrukt, das sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Dimension besitzt. Die Stationen sind als topoi im eigentlichen Sinne zu betrachten, als materielle Orte, an denen liturgische Handlungen (»Procesiones y formas de ir a los templos«) stattfanden. Als Begründer der durch die römisch-katholische Kirche eingerichteten Stationen gelten Adam und seine Nachkommen, wobei die Kirche nun auf diese Institutionen zurückgreife, um den Gläubigen einen Vorgeschmack auf die himmlischen Güter zu geben (RE 29-30). Die estaciones haben also die Funktion sowohl einer postfiguratio als auch einer praefiguratio. Indem sie die alt- und neutestamentlichen Stationen postfigurieren und zugleich das Ziel des Himmelreiches präfigurieren, verleihen sie dem städtischen Raum die diachrone Dimension der Heilsgeschichte. Gleichzeitig überblenden sie den irdischen Raum mit einer ewigen, überzeitlichen Dimension. Sämtliche als estaciones ausgewiesene Orte im städtischen Raum gehen auf in der einen, ewigen estación, dem Himmelreich. Den Realstrukturen des städtischen Raumes wird in einer für das frühneuzeitliche 139 | Im Folgenden abgekürzt mit RE.

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Spanien typischen Geste ein heilsgeschichtliches Imaginäres eingeschrieben. Der Begriff der estación umfasste unterschiedliche räumliche und zeitliche Aspekte und kann daher als Chronotopos im buchstäblichen Sinne betrachtet werden. Er bezeichnete erstens den materiellen Raum als einen gekennzeichneten Ort, der von den Gläubigen kollektiv im Rahmen von Prozessionen, aber auch jederzeit individuell aufgesucht werden konnte (RE 34). Zweitens bezeichnete er die an diesem Ort vollzogenen Praktiken, das heißt den öffentlichen Akt seines Aufsuchens. Die Definition der Stationen geht auf eine dem Kriegswesen entlehnte Metapher für solche Orte zurück, die beständig von Soldaten bewacht wurden, wobei diese weder schlafen noch sich hinsetzen durften (RE 34). Im Idealfall wurden die estaciones also ununterbrochen von den Gläubigen frequentiert. Es genügte nicht, einen heiligen Ort als solchen auszuweisen, vielmehr musste seine heilsgeschichtliche Bedeutung immer aufs Neue und personal aktualisiert werden. Das Imaginäre verlangt als diffuser Gegenstand nach einem performativen Akt, der es stets neu im materiellen Raum verankert. Neben dem Aufsuchen der estaciones geschah dies durch das Erzählen ihrer Geschichte sowie der ihnen übergeordneten Heilsgeschichte. Hier spielen Gebrauchstexte wie Gordillos Traktat eine wichtige Rolle, da sie die Geschichten der einzelnen Stationen enthalten und in ein Makronarrativ einordnen.140 Die estación verwies also drittens auf das heilsgeschichtliche Geschehen, für das sie stand und dessen Geschichte dort erzählt wurde. Das Imaginäre, aus dem sich die estaciones als soziale Institutionen speisten,141 erfüllte eine identitätsstiftende Funktion. Weder das Reale noch das Rationale sind in der Lage, die Frage einer Gesellschaft nach ihrer eigenen Identität zu beantworten.142 Die estaciones religiosas in ihrer räumlichen Materialität allein konnten also keinen Sinn und somit auch keine kollektive Identität schaffen. Nur über das Signifikat, auf das die Festtage und Orte verwiesen, konnte sich die Bürgerschaft des frühneuzeitlichen Sevilla als kollektive Einheit verstehen. Erst wo der materielle Ort durch narrative Bedeutungssetzung gefüllt wird, anders gesagt: wo sich der Raum mit der Zeit verbindet, kann sich ein kollektives Gedächtnis manifestieren. Der über synchrone Beziehungen, das heißt der sich über das Zeigen konstituierende Raum, bleibt ohne die diachrone Dimension des Erzählens bedeutungslos.

140 | Vgl. dazu die These von Ulrike Sprenger, nach der die historische Spezifität der frühneuzeitlichen Prozessionskultur erst im Spiegel der sie begleitenden Gebrauchstexte und Legenden sichtbar wird. Sprenger (in Vorbereitung), 2. 141 | »Par-delà l’activité consciente d’institutionalisation, les institutions ont trouvé leur source dans l’imaginaire social. Cet imaginaire doit s’entrecroiser avec le symbolique, autrement la société n’aurait pas pu se rassembler«. Castoriadis (1975), 183, Hervorhebung i.O. 142 | Vgl. ebd., 205-206.

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Nun sind die estaciones nicht nur als im städtischen Raum ausgewiesene Orte zu denken, sondern auch als Zeitpunkte. Nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit wurde in Stationen gegliedert, und zwar in sieben Tagesabschnitte, zu denen je unterschiedliche Gebete gesprochen wurden (RE 26-48): »Todas estas horas que verdaderamente son estaciones y oraciones« (RE 47). Diese ›Zeitstationen‹ standen insofern mit dem Raum in Verbindung, als jeder Tagesabschnitt an eine andere Station des Leidensweges Christi erinnern sollte. Auch das Kirchenjahr war in Stationen gegliedert, welche die Gläubigen durch Feste und Prozessionen kollektiv durchliefen. Der geordneten Bewegung im Raum entsprach also eine ebenso geordnete Bewegung in der Zeit. Wo die räumlichen Vorgaben eine potentielle Wiederholbarkeit kollektiver Akte ermöglichten, gewährleistete ein normatives zeitliches Raster die Realisierung der zu wiederholenden Akte. Diese Realisiserung eines Imaginären kann im oben (Kap. 1.2.2.3) beschriebenen Sinne als Akt des Lesens betrachtet werden: Es konkretisiert sich dort, wo der lebensweltliche und der konfigurierte Raum, die realen Strukturen der Stadt und die ihnen eingeschriebenen Narrative, zusammentreffen. Ulrike Sprenger versteht das Abschreiten sakraler Orte als Lektüreakt, der die Bedeutung dieser Orte einerseits interpretiert, andererseits aber erst zuschreibt.143 Eine solche Lektüre des städtischen Raumes ist kollektiv und daher anwesenheitsbasiert. Hierin unterscheidet sie sich vom Lesen des gedruckten Textes bzw. der Karte, wo ein gemeinsamer, kollektive Identität stiftender Sinnhorizont, der die Leserschaft umgibt, nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Der Lektüremodus des kollektiven Abschreitens von Erinnerungsorten emergiert in der frühneuzeitlichen Stadt. Im ausgehenden 16. Jahrhundert wurde der reale städtische Raum in öffentlichen Festakten zunehmend mit Inhalten überschrieben, die ein Imaginäres artikulierten. Ephemere Architektur aus Pappmaché, Schrifttafeln, an den Fassaden angebrachte Wandbehänge mit Sinnsprüchen, Emblemata und mobile Altäre machten die Stadt zu einem lesbaren Raum, dessen sichtbare Symbole auf eine transzendente Welt verwiesen.144 Dabei sind diese ›Schriftstücke‹ nicht lediglich als Instrumente einer nachtridentinischen Indoktrination zu verstehen, sondern als Rätsel- und Entzifferungsspiele, die auf die Ansprüche eines zunehmend alphabetisierten und auf lesbare Zeichen begierigen Publikums reagierten und dieses aktiv in eine performative Sinnproduktion einbanden. Damit wird die Prozession zur »Lesebewegung«145, die den Sinn der einzelnen estaciones zugleich nachvollzog und herstellte. Diese Bewegung war in hohem Maße performativ. Trotz des gemeinsamen Sinnhorizontes, der die Anwesenden umgab, waren die Bedeutungen, welche durch die »Kodierungsmaschine« der Prozession 143 | Vgl. Sprenger (in Vorbereitung), vor allem 71-80. 144 | Vgl. zur Stadt als Schriftraum, als grafosfera, Petrucci (1986). 145 | Vgl. Sprenger (in Vorbereitung), 73-78, hier 78.

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zugleich produziert und rezipiert wurden, für den Betrachter oder Teilnehmer einer Prozession nicht unbedingt offensichtlich. Die Schriftstücke und Bilder, die durch die Prozession gelesen wurden sowie die mehr oder weniger geregelte Bewegung des Prozessionszuges, stellten letztendlich nur Einzelteile einer übergeordneten Fabel dar, die es erst noch zu konstruieren galt. Gebrauchstexte, wie die Religiosas estaciones von Gordillo, konnten eine solche Fabel vorgeben bzw. sichtbar machen. Sie gaben Aufschluss über das Imaginäre, das die Prozession antrieb und verbreiteten es zugleich. Damit erfüllten sie die doppelte Funktion, die der narrativen und medialen Konfiguration von Raum zukommt: Erstens brachten sie das dem lebensweltlichen Raum inhärente Imaginäre zur Anschauung und zweitens schrieben sie dem materiellen Raum das Imaginäre erst ein. Im Vokabular von Castoriadis gesprochen bildeten die einzelnen Texte Institutionen, die wiederum übergeordnete (zeitliche und räumliche) Institutionen sichtbar machten. Analog zum literarischen Rezeptionsakt blieben bei der Lesebewegung des Prozessionszuges, so hat Sprenger gezeigt, genügend Leerstellen offen, die nicht nur eine Entgrenzung des Signifikats erlaubten, sondern auch unvorhergesehene Abweichungen von der intendierten Fabel, etwa in Form eines Kampfes um den Vortritt zwischen zwei Prozessionsgruppen, die sich an einer Wegkreuzung begegneten. Oberflächlich führten die frühneuzeitlichen Prozessionen in Sevilla zwar den Diskurs der katholischen Reform, transzendierten diesen jedoch gleichzeitig, indem sie konkurrierende Räume und Bilder produzierten und so vielfältige Lesarten des städtischen Raumes freisetzten.146 Diese Pluralität imaginärer Substrate und Zuschreibungen, ist kein Phänomen, das sich auf die Lesebewegungen der frühneuzeitlichen Prozessionskultur beschränkt. Vielmehr kann sie als paradigmatisch betrachtet werden für den frühneuzeitlichen Akt des Lesens: Die Absenz, die der gedruckte Buchstabe mit sich brachte, schuf im Text Leerstellen, die dem Leser einen größeren Anteil an der Sinnkonstitution des Textsinns abverlangten und so das Imaginäre zu einer kaum noch kontrollierbaren Dynamik werden ließen. Die frühneuzeitlichen Prozessionen und die sie umgebenden Gebrauchstexte nehmen eine Modellierung des städtischen Raumes vor, indem sie ihm eine zeitliche Dimension verleihen. Diese Verzeitlichung des Raumes erfolgt auf zweierlei Art und Weise: Zum einen vollzieht die Prozession eine Bewegung im Raum; Stehen und Gehen, Stillstand und Fortbewegung machen in ihrem wechselseitigen Zusammenspiel die Wirkung des Prozessionszuges aus. Zum anderen wird dem städtischen Raum ein Narrativ eingeschrieben, das durch die Bewegung der Prozession erzählt und gelesen wird. Das Zeigen in Form einer synchronen Anordnung von Stationen im Raum erhält durch die performativen Akte der Prozession die Diachronie der Erzählung.

146 | Vgl. ebd., 32-138.

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1.3.2.2

Raum und Zeit der Karte

Der Diachronisierung des Raumes in der frühneuzeitlichen Prozessionskultur steht die umgekehrte Entwicklung der Modellierung von Raum durch ein anderes Medium gegenüber, nämlich eine Synchronisierung des Raumes in der Kartographie. Prozessionskultur und Kartographie weisen in der Frühen Neuzeit gegenläufige Entwicklungen auf. Wo die Prozessionen und die sie umgebenden Gebrauchstexte eine reformkatholisch motivierte Neuordnung und Festschreibung der Sakralgeographie vornehmen,147 lässt sich in der Kartographie eine zunehmende Entsakralisierung und Entmythologisierung des Raumes beobachten. Diese Tendenz ist verbunden mit einer Eliminierung des Körpers aus der Karte. So wie auf der Druckseite der körperliche Akt des Schreibens nicht mehr nachvollziehbar ist, so unterdrückt auch die moderne Karte die Operationen, die ihre Bedingung darstellen. Während die Pilgerkarten im Spätmittelalter einen hagiographischen Erinnerungsraum erschlossen, zeichnet sich mit der Weiterentwicklung kartographischer Techniken in der Frühen Neuzeit eine zunehmende Geometrisierung des Raumes ab.148 Seit dem 13. Jahrhundert hatte sich ein Wegenetz herausgebildet, das die einzelnen Pilgerorte verband und das auf Erfahrungen beruhte, die durch die Pilgerpraxis gewonnen worden waren. Der geographische Raum erschloss sich über Wege, die zwischen den einzelnen Stationen eines hagiographischen Erinnerungsraumes verliefen. Das räumliche Nebeneinander der Karte verwies also auf den performativen Akt, mit dessen Hilfe sie entstanden war. Die Bewegung des Pilgers verlieh der Karte stets eine diachrone Dimension. Die Diachronie der Karte, die mit der Entwicklung moderner kartographischer Techniken in der frühen Neuzeit keinesfalls aufgehoben ist, zeigte sich noch auf einer anderen Ebene. Bis in die Neuzeit hinein waren Karte und Erzählung eng miteinander verbunden: Oft enthielten Karten Elemente wie etwa Genealogien oder mythische Gestalten.149 Des Weiteren wurde der aus dem Mittelalter übernommene Begriff der mappa mundi sowohl für Karten als auch für geographische Beschreibungen in Textform verwendet. Häufig hatten geographische Darstellungen ein textuelles und ein graphisches Äquivalent. Es wird sogar angenommen, dass die Seefahrer der Frühen Neuzeit schriftliche Anweisungen den Seekarten vorzogen.150 Dennoch machte sich in der Frühen Neuzeit eine zunehmend technische Semiotisierung des Raumes auf Kosten einer allegorischen Semantisierung bzw. einer Narrativierung bemerkbar. Die indexikalische Funktion der Karte trat in den Vordergrund. Damit vollzog 147 | Vgl. Sprenger (in Vorbereitung), 140. 148 | Vgl. Dünne (2004c). 149 | So z.B. die um 1580 erstellte Karte von Teozacoalco, Mexiko, an der Dünne die machtpolitische Operationalisierung von Karten exemplifiziert. Vgl. Dünne (2008), 57-60. 150 | Vgl. Woodward (2007), 8.

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sich eine Wiederkehr des Raumes, wie sie im aktuellen Spatial Turn in den Kulturwissenschaften diskutiert wird, auf einer anderen Ebene:151 Die allegorischen, nicht-metrischen mappae mundi des Mittelalters wurden durch »säkulare, bemessene, projizierte, skalierte Karten« nach ptolemäischem Vorbild ersetzt.152 Die Entwicklung von einem diskontinuierlichen, aber dennoch linearen Raum, in dem einzelne Orte durch den Körper des Pilgers verbunden sind, zum planimetrischen, abstrakten Raum hat Michel de Certeau153 mit dem Begriffspaar parcours und carte beschrieben. Dieses geht zurück auf eine von Linde und Labov154 durchgeführte Studie, die bei mündlichen Ortsbeschreibungen zwei diskursive Verfahren identifizierte: zum einen eine erlebende Beschreibung, die Bewegungen im Raum nachempfindet, zum anderen eine abstrahierende Wiedergabe räumlicher Relationen, die auf einer synchronen Ordnung beruht. Diese topologische Unterscheidung überträgt Certeau auf die moderne Karte, die in totalisierender Weise ihr Vorher und Nachher, das heißt, den parcours, ausblendet und eine synchrone räumliche Ordnung, eben eine carte, darstellt.155 Die von Certeau vorgenommene Unterscheidung kann, wenn auch mit einer gewissen Einschränkung, im Hinblick auf die Gegenüberstellung von Prozession und Karte gewinnbringend eingesetzt werden. Den beiden Begriffen liegen zwei unterschiedliche Raumpraktiken zugrunde, in denen sich auf einer sehr allgemeinen Ebene auch Prozession und Karte unterscheiden: diejenigen des Gehens und des Sehens. Während die Prozession im Sinne des parcours eine Bewegung im Raum organisiert, entwirft die Karte ein synchrones Bild. Die Prozession besitzt primär performativen, die Karte primär indexikalischen Charakter. Damit nehmen Prozession und Karte eine gegenläufige Konfiguration des Raumes vor: Während die Prozession dem Raum mithilfe des rituellen parcours eine diachrone Dimension einschreibt, eliminiert die carte die Zeit aus dem dargestellten Raum. Allerdings – hierauf weist Jörg Dünne156 hin – darf die historische Entwicklung vom parcours zur carte nicht als einsinnig verstanden werden. Denn die Erstellung von Karten erfolgt aufgrund von parcours, die im realen Raum zurückgelegt wurden und umgekehrt ist die Prozession auf das 151 | Vgl. Dünne (2008). 152 | Woodward (2007), 6. 153 | Certeau (1990), 175-180. 154 | Labov & Linde (1975). 155 | Die topologische Unterscheidung von parcours und carte, die in der Kartographie topographisch realisiert ist, lässt sich auch im Hinblick auf die oben (Kap. 1.2.2.1 u. 1.3.1) beschriebene Räumlichkeit der Erzählung fruchtbar machen: Der Leser folgt zunächst dem diachronen parcours der Fabel, die sich ihm mit fortschreitender Lektüre zu einer synchronen carte erschließt, auf der sich ihm sämtliche Zusammenhänge der Erzählung gleichzeitig präsentieren. 156 | Dünne (in Vorbereitung), 150.

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Referenzsystem der Karte angewiesen. Dies wird deutlich am Beispiel der Via Crucis in Sevilla, die im 16. und 17. Jahrhundert ganzjährig von Prozessionen durchflossen war.157 Im Jahr 1520 kehrte Enríquez de Ribera, Marqués de Tarifa und Adelantado Mayor de Sevilla, von seiner Pilgerfahrt nach Jerusalem zurück und übertrug die sieben Stationen des dortigen Kreuzweges auf Sevilla. Dabei folgte er der genauen Schrittzahl des Jerusalemer Modells. Auf der Grundlage des parcours, den der Marqués in Jerusalem abschritt, entstand eine durch das Schrittmaß abstrahierte carte, die auf einen anderen Ort übertragen werden konnte. Dort bildete sie erneut die Grundlage eines parcours, der von der lokalen Bevölkerung durchlaufen wurde. Und auch mit der einmaligen Transposition des Kreuzweges durch Enríquez de Ribera verlor die carte ihre Funktion nicht: Damit der in Stationen realisierte parcours wiederholt durchschritten werden konnte, musste er als Modell stets in seiner gleichzeitigen Totalität präsent sein. Die Übertragung eines parcours kann also nur über das Medium der carte erfolgen; nur durch Zwischenschaltung einer synchronen räumlichen Ordnung kann die performative Bewegung, die ein bestimmter Körper zu einer bestimmten Zeit vollzieht, zu einem anderen Zeitpunkt bzw. durch einen anderen Körper wiederholt werden. Umgekehrt ist eine synchrone räumliche Ordnung, wie sie die Karte repräsentiert, nur unter Ausblendung der Bewegungen in der Zeit möglich, auf deren Grundlage diese Ordnung entstanden ist. Der synchrone Raum der Karte kommt genauso wenig ohne den diachronisierten Raum des parcours aus wie letzterer ohne die Synchronität der Karte. Bei der frühneuzeitlichen Karte ist die Ausblendung der Zeit, welche die carte kennzeichnet, noch nicht vollständig erreicht. Nicht nur die Verwendung des Begriffs der mappa mundi für Texte und Karten zugleich zeugt davon, dass noch keine Trennung räumlicher und zeitlicher Konfigurationstechniken stattgefunden hat, sondern auch die Verwendung des Lexems espacio (Raum): Nach Covarrubias158 bezeichnet der Begriff, dessen Wurzeln er sowohl in lateinisch spatium als auch intervallum sieht, entweder einen Ort oder einen Zeitraum. Der Raum bezieht sich somit auf ein topographisches und ein chronologisches Intervall. Demgegenüber erscheint der Begriff espacio in zeitgenössischen kosmographischen und geographischen Schriften tatsächlich im Sinne einer zwei-, manchmal sogar dreidimensionalen Ausdehnung.159 Die Definition von Covarrubias knüpft an das räumliche Denken des Mittelalters an, das den ›Raum‹, wenn er sich nicht auf die Zeit bezog, eher als Distanz zwischen Orten

157 | Vgl. Sprenger (in Vorbereitung), 32. 158 | »ESPACIO. Del nombre latino spatium, capedo, intervallum; vale lugar. Mucho espacio, poco espacio. También sinifica el intervalo del tiempo, y decimos por espacio de tiempo de tantas horas etc.« Covarrubias y Orozco, Sebastián de (1977): Tesoro de la lengua Castellana o Española, Madrid: Turner, 549. 159 | Vgl. Padrón (2004), 48-81.

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begriff.160 Diese Konzeption eines hodologischen Raumes hat das Mittelalter wiederum von der griechisch-lateinischen Antike übernommen. Das in der Antike vorherrschende Raum-Bild ist konkret, eindimensional, relational und durch Richtungsvektoren bestimmt. Es beruht auf konkreten Verbindungswegen von einem Ort (topos; locus) zu einem anderen – ein Orientierungsprinzip, das seine zeitliche Entsprechung in literarischen Formen wie der Genealogie sowie in Schöpfungs- und Ursprungserzählungen findet.161 Auch die sevillanische Prozessionskultur teilt offenbar dieses Raumverständnis: Die religiosas estaciones sind Orte, die sich sowohl im Raum als auch auf der Zeitachse lokalisieren, sie sind als Stationen im städtischen Raum und im Kirchenjahr sowohl topographische als auch Zeit-Punkte. Damit konstituieren sie ganz im Sinne von Covarrubias einen espacio, der Raum und Zeit gleichermaßen umfasst. Allein diese etymologische Tatsache spricht dafür, räumliche und zeitliche Konfigurationen in der Frühen Neuzeit nicht getrennt voneinander zu untersuchen, sondern Raum und Zeit als heuristische Einheit zu betrachten. Dennoch lösen sich in der Frühen Neuzeit zeitliche und räumliche Darstellungen allmählich voneinander. Der Raum teilt nicht mehr die Eindimensionalität der Zeit, sondern gewinnt, wie auf der skalierten Karte sichtbar wird, mindestens eine zweite Dimension. Diese neue Räumlichkeit emergiert, so die These von Ricardo Padrón162 , nirgendwo anders als im Umfeld der Casa de la Contratación. Denn dort fand ein Großteil der von der Krone organisierten Zusammenkünfte statt, bei denen sich die spanischen Kosmographen dem Unternehmen einer empirischen Erfassung der Welt widmeten. Parallel zur Eliminierung der Zeit aus der Karte wird mit der Herausbildung einer neuen Zeitordnung der Raum aus der Zeit verdrängt. Aufgrund einer zunehmenden Komplexität der Welt ist es nicht mehr möglich, alle für die jeweilige Gesellschaft relevanten Ereignisse auf einem einzigen Zeitstrahl zu lokalisieren. Es bedarf einer inhaltlich entleerten Zeit, die als koordinierende Generalisierung den Vergleich »verschieden liegender Zeitstrecken«163 ermöglicht. Das Orientierungsprinzip einer abstrakten »Weltzeit«, die es erlaubt, verschiedene Systemgeschichten aufeinander zu beziehen,164 ist vorstellbar als carte, die nicht mehr an konkrete Entitäten gebunden ist, genauso wie sich der Raum der modernen Karte vom Körper des Pilgers löst. Zeitintervalle werden zu inhaltsleeren Maßeinheiten, die nicht mehr als Verbindung eines denkwürdigen Ereignisses mit dem anderen betrachtet werden, so wie auch die räumliche

160 | Vgl. Zumthor (1993), 51. 161 | Zur Raumkonzeption der Antike vgl. Engels (1999). Zur Genealogie als zeitlicher Widerspiegelung des hodologischen Raumes siehe Kap. 2.1.1. 162 | Padrón (2004), 50-51. 163 | Luhmann (1976), 349. 164 | Vgl. Luhmann (1976).

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Distanz als abstrakte Maßeinheit nicht mehr den Zwischenraum zweier Gedächtnisorte bildet. Die kartographische Erfassung der Welt in der Frühen Neuzeit verlief keineswegs reibungslos und warf die Frage auf, wie denn der geographische Raum darzustellen sei. Damit wurde das Gemachtsein der Karte deutlich und auch sie geriet unter denjenigen Subjektivitätsverdacht, demgegenüber sich der literarische Text zu verteidigen hatte (vgl. Kap. 1.1.2). Während für die Krone machtpolitische Interessen im Vordergrund standen, verlangten die Seefahrer nach praktischen Informationen, die im Schifffahrtsbetrieb angewendet werden konnten. 1494 legten Spanien und Portugal die Grenzen ihrer Interessensgebiete im Tratado de Tordesillas fest, auf dessen Grundlage die systematische Expansion Spaniens beginnen konnte. Diese erforderte eine ebenso systematische Aufzeichnung des neuen Kontinents, die im Territorialstreit zwischen Spanien und Portugal als Evidenzquelle herangezogen werden konnte. Dabei genügte es nicht, eine Karte einmalig zu zeichnen. Der sogenannte padrón real, mit dessen Erstellung man Hernán Colón 1518 beauftragte, musste aufgrund der sich stets erweiternden geographischen Kenntnisse beständig adaptiert werden.165 An der Forderung, dass alle auf See verwendeten Karten dem Modell des padrón real folgen sollten, entzündete sich eine theoretische Auseinandersetzung um die Kriterien, nach denen der geographische Raum dargestellt werden sollte. Während die Karten zunächst den praktischen Bedürfnissen der Schifffahrt und des Handels angepasst waren, wurden nun aufgrund machtpolitischer Interessen neue Ansprüche an sie gestellt. Vor diesem Hintergrund entstand das Amt des Kosmographen, der in engerem Bezug zur Krone stand als die Seefahrer und somit die Abbildung der Welt auf die Bedürfnisse der Territorialpolitik abstimmen konnte. Die Tätigkeit des Kosmographen basierte auf systematischem Wissen im Gegensatz zum praktischen Wissen der Handwerker, deren Misstrauen er hervorrief: Wie konnte jemand, der weder die einzuzeichnenden Strecken zurückgelegt, noch die zu skizzierenden Länder gesehen hatte, ihre Lage und die Form ihrer Küsten rekonstruieren? Man war sich einig, dass die Seefahrer als Zeugen unverzichtbar waren, wenn einige Kosmographen ihren Aussagen auch misstrauten.166 Praktisches und theoretisches Wissen traten in Widerspruch zueinander.167 165 | Vgl. Martín-Merás (2003), 90-95. 166 | Vgl. zu dieser Debatte Sandman (2002). 167 | Die scheinbare Unvereinbarkeit von praktischem Erfahrungswissen und einem theoretischen Verständnis zieht sich in der Frühen Neuzeit auch durch andere Wissenschaften. Im Diálogo de los médicos steht ein praktisches, handwerkliches Erfahrungswissen einer wissenschaftlichen, systematischen Auffassung von Medizin gegenüber, wobei die beiden Positionen letztendlich als gleichwertig dargestellt werden (vgl. Kap. 3.1.3). Im Vergleich zur Medizin war das Erstellen

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Die Frage nach den zuverlässigen Informationsquellen, auf deren Grundlage die Karte erstellt werden sollte, schärfte das Bewusstsein dafür, dass Karten den realen geographischen Raum nicht verkörperten, sondern von der Realität zu unterscheidende Konfigurationen waren. Nikolaus von Kues (1401-1464) beschreibt den Kosmographen in seinem Gleichnis des vernunfthaft Erkennenden168 als einen Mann, der sich in einer Stadt mit fünf Toren befindet, welche die fünf Sinne darstellen. Er solle die fünf Tore beständig offen halten, um die empfangenen Informationen sodann zu kompilieren und auf einer Karte festzuhalten. Bezeichnend ist hier, dass die herkömmliche Technik der Kompilation nicht im Sinne eines Zitierens von Autoritäten empfohlen wird, sondern als eine Synthese dessen, was der Kosmograph selbst sinnlich wahrnimmt. Diese Loslösung vom kompilierenden Autoritätsmodell steht erstens im Zeichen einer frühneuzeitlichen Neubegründung von Autorität über die Anschauung und die Erfahrung. Zweitens impliziert sie eine Trennung zwischen der Welt, wie sie ist, und der Welt, wie der Mensch sie darstellt.169 Das Darstellungsmedium selbst rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Medien werden nicht mehr als Vermittler einer gegebenen Realität verstanden, sondern sie erschaffen selbst etwas.170 Und drittens gewinnt die Person des Kosmographen als Produzent der Karte an Bedeutung. Analog zum Wissen um eine mögliche Subjektivität des Historiographen, der sich performativ als objektiver Diener der Wahrheit ausweisen muss, wird auch der Kosmograph zunehmend als schöpferisches Subjekt wahrgenommen. Denn nach Kues verhält sich dieser zur Karte wie der Schöpfergott zur ganzen Welt. Dies wird vor allem im Hinblick auf den sevillanischen Naturforscher Nicolás Monardes von Bedeutung sein, der sich an der Unmöglichkeit abzuarbeiten scheint, seine durch Empirie gewonnene Ordnung der Dinge mit derjenigen Ordnung, die von gelehrten Autoritäten für gültig erklärt wurde, zur Deckung zu bringen. Aber auch die relaciones von Karten hauptsächlich ein Handwerk. Die Tätigkeit der Kartenhersteller – dazu gehörten Ingenieure, Drucker, Physiker, Alchemisten, Kartographen, Seefahrer, Stecher und Werkzeugmacher – stand jedoch in enger Verbindung zu der neuen Konfiguration einer Naturgeschichte im Sinne einer experimentellen Philosophie, die einen Übergang vom organischen zum mechanischen Weltbild darstellte. Vgl. Woodward (2007), 21. 168 | Kues, Nikolaus von (21982 [1464]): Kompendium. (Kurze Darstellung der philosophisch-theologischen Lehren), Hamburg: Meiner, 31-35. 169 | Vgl. Woodward (2007), 17-18. 170 | Dies kommt auch dort zum Ausdruck, wo Autoren von Festbeschreibungen die Entstehungsbedingungen ihres Textes reflektieren, indem sie anerkennen, dass sie die Fülle von Sinneseindrücken, die sich ihnen bieten, nicht in Worte fassen können. So wie die Karte auf eine indexikalische Funktion reduziert wird, die lediglich auf ein Territorium verweist, dieses aber nicht verkörpern kann, so trennt sich auch die Beschreibung von dem Gegenstand, den sie beschreibt. Vgl. dazu Kap. 2.2.

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de fiesta tragen der Unterscheidung von Darstellung und Dargestelltem Rechnung, indem sie sich einerseits explizit aus der Perspektive des Beobachters präsentieren, dieser seinen Bericht jedoch zugleich entweder mithilfe eines Realismuseffektes oder unter Rückgriff auf Allgemeinplätze als objektiv auszuweisen sucht. Die Frage um die Richtigkeit bzw. Angemessenheit der Konfiguration von Wirklichkeit hat auch Konsequenzen für die oben beschriebene allmähliche Trennung von Zeit und Raum. Die Karte erscheint als primär räumliche Technik nicht mehr geeignet, zeitliche Abläufe darzustellen. Umgekehrt scheinen auch die diskursiven Beschreibungen des geographischen Raumes zumindest für machtpolitische Zwecke nicht mehr brauchbar zu sein. Das kulturelle Phänomen einer neuen Räumlichkeit äußert sich auf der Konfigurationsebene darin, dass Raum und Zeit zunehmend an unterschiedliche Medien gebunden werden: Die Karte wird zum bevorzugten Medium der Darstellung geographischer Räume, während historiographische Inhalte zunehmend aus den Karten eliminiert und in das Medium des Textes verlagert werden. Mit der Synchronisierung des kartographischen Raumes geht eine Diachronisierung der Zeit einher: Ereignisse und Gegebenheiten sind auf der Karte nicht mehr gleichzeitig präsent, sondern werden in die Zeichenfolge des Textes und somit in die Zeitlichkeit verschoben. Die Karte entwickelt sich zu einem primären Medium des Zeigens, der Text zum primären Medium des Erzählens. Die Diachronisierung der Zeit, wie sie sich in der Geographie als Gegenstück einer Synchronisierung des Raumes herauskristallisiert, lässt sich, wie die übrigen Kapitel zeigen werden, in der Frühen Neuzeit in verschiedenen Bereichen beobachten. In der Geschichtsschreibung bereitet eine empirische Analyse des Raumes mithilfe archäologischer Methoden den Bruch mit einer statischen Ordnung vor, die sich in einer zyklischen Bewegung reproduziert und so die Möglichkeit von sich in der Zeit ablösenden Ordnungen unterdrückt. Der philosophische Dialog des 16. Jahrhunderts inszeniert den Ablauf eines gelehrten Gesprächs in einem konkreten Raum, der Wahrheitsfindung zu einem von historischen Variablen abhängigen und in der Zeit offenen Prozess werden lässt. Die frühneuzeitliche Sammlungspraxis, auf deren Grundlage Abhandlungen wie die Historia medicinal von Nicolás Monardes entstehen, ordnet ihre Ausstellungsobjekte nicht mehr allein nach den Gesetzen eines statischen, kosmologischen Raumprogramms an, sondern klassifiziert diese mehr und mehr nach biologischen Kriterien und macht so die Entstehung von Ordnungen als diachronen Prozess nachvollziehbar. In der comedia urbana der Schule Lope de Vegas schließlich wird nicht mehr ausnahmslos eine ursprüngliche Ordnung zyklisch wiederhergestellt, vielmehr treten durch eine von der Ausgangslage verschiedene Endsituation Züge einer linearen Zeit zutage. Dieses Aufbrechen einer zyklischen Wiederkehr lässt sich als Semantisierung der Zeit bezeichnen: Der unendliche Zeit-Raum, in dem sich eine bestehende Ordnung beständig reproduziert, zerfällt in Intervalle auf einem Zeitstrahl, die sich voneinander unterscheiden. Der aus der

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mittelalterlichen Scholastik übernommene abstrakt-allegorische Raum erfährt in der Frühen Neuzeit allmählich eine Dynamisierung, wodurch zugleich eine Semantisierung der Zeit eingeleitet wird. Dieser Umbruch lässt sich in den zu untersuchenden Texten weniger auf inhaltlicher als vielmehr auf formal-struktureller Ebene beobachten. Die Dynamik einer neuen, semantisierten Raum-Zeit kann auch in literarischen Sujets nicht mehr einfach restitutiv stillgestellt werden, sondern äußert sich in einem Widerstreit zwischen fingierter oder simulierter historischer Anschaulichkeit und gleichzeitig vom Text zu leistender überzeitlicher Allegorisierung. Um diese These am Korpus nachweisen zu können, bedarf es eines letzten Schrittes theoretischer Grundlegung, in dem die Struktur literarischer Texte, wie sie Lotman in räumlichen Begriffen beschrieben hat, um die Dimension der Zeit erweitert wird.

1.3.3

Raum-Zeit und Textstruktur

Die Zeit manifestiert sich im Raum, ja sie kann zugespitzt als Modus des Raumes begriffen, nicht aber auf ihre Räumlichkeit reduziert werden.171 Da die Zeit aufgrund mangelnder sinnlicher Anschaulichkeit keine eigene Ausdruckssubstanz besitzt, muss sie in nichtzeitlichen, meist räumlichen Zeichen dargestellt werden. Zahlreiche Definitionen, Vorstellungen, und Metaphern von der Zeit sind deshalb räumlicher Art, so nicht zuletzt die Vorstellung eines Früher und Später.172 Ohne den Raum ist Zeit nicht vorstellbar. Daher besitzen zeitliche Logiken stets eine räumliche Struktur. Es lohnt sich also, in Texten zunächst Umgangsweisen mit dem Raum zu untersuchen, um aus ihnen Rückschlüsse auf herrschende Zeitkonzeptionen zu ziehen. Die Logik des Raumes ist zunächst die der Gleichzeitigkeit:173 Um Orte im Raum voneinander zu unterscheiden, genügt es, dass ein Abstand zwischen ihnen besteht. Die Punkte x und y sind allein dadurch voneinander unterschieden, dass sie zwei verschiedenen Orten entsprechen, ohne dass eine weitere Unterscheidung erforderlich wäre. Diese Unterscheidungskraft ist überall dort notwendig, wo unterschiedliche Dinge koexistieren. Demnach kommt auch das Gedächtnis nicht ohne Orte aus.174 Um eine 171 | Vgl. Castoriadis (1975), 265-266. 172 | Vgl. Nöth (2000), 289. 173 | Doreen Massey spricht sich in ihrer Studie For Space vehement gegen die Gleichsetzung von Raum und Gleichzeitigkeit aus. Allerdings geht sie dabei von einem linearen Zeitkonzept aus, wie es sich in der Frühen Neuzeit erst herausbildet. Die in dieser Studie vertretene Auffassung besteht darin, dass die dynamische Raumvorstellung, für die sich Massey einsetzt, keine a-historische Konstante, sondern ein spezifisches Konzept der Neuzeit ist. Vgl. Massey (2007). 174 | »[L]a mémoire est un lieu, un topos où cette pluralité de souvenirs peut co-exister sans que l’un expulse ou détruise l’autre.« Castoriadis (1975), 266, Hervorhebung i.O.

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epistemologische Gleichsetzung von Raum und Zeit zu verhindern, unterscheidet Castoriadis zwischen der altérité als zeitlichem und der différence als räumlichem Phänomen. Im Raum existieren Dinge gleichzeitig und müssen daher durch ihren Ort unterschieden werden, während die Zeit ein Nacheinander von unterschiedlichen Dingen, eine »émergence de figures autres«175 bedeutet. Ohne das Andere, ohne das Auftreten von etwas Neuem, gibt es keine Zeit. Sich die Zeit in räumlichen Kategorien, etwa als Linie vorzustellen, bedeutet daher, die altérité mit der différence, die Zeit mit dem Raum zu vermengen.176 Die Unterscheidung von Vorher und Nachher allein bedeutet an sich noch nicht Zeit. Erst wo etwas Neues auftritt, welches das Vorher und Nachher zu semantisch unterschiedlich besetzten Zeiträumen werden lässt, kann tatsächlich von Zeit die Rede sein. Um diesen Ansatz von Castoriadis für die frühneuzeitliche Konfiguration von Zeit und Raum gewinnbringend einsetzen zu können, soll das nun bereits mehrfach erwähnte Konzept des künstlerischen Raumes und des Sujets nach Jurij M. Lotman177 herangezogen werden. Dabei wird es notwendig sein, den zeitlichen Aspekt dieses Modells, dem Lotman selbst nur wenig Aufmerksamkeit schenkt,178 herauszuarbeiten. Auf diese Weise lässt sich noch einmal mehr betonen, dass Kulturmodelle, wie sie die Literatur modelliert, weder allein zeitlich noch allein räumlich sind, sondern dass sich der Mensch die Welt sowohl visuell als auch sprachlich, sowohl zeigend als auch erzählend erschließt und dass in (literarischen) Konfigurationen der Lebenswelt stets beide Verfahren eine Rolle spielen, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung. Nach Lotman ist die Struktur literarischer Texte durch räumliche Oppositionen gekennzeichnet, welche die binäre Struktur von Kulturmodellen widerspiegeln.179 Diese komplementären Teilräume, die Begriffe nicht-räumlicher Natur wie ›gut – schlecht‹, ›eigen – fremd‹ etc. repräsentieren und so semantisch unterschiedlich besetzt sind, implizieren eine Grenze, die »zum wichtigsten topologischen Merkmal des Raumes«180 wird. Ihre Haupteigenschaft besteht nach Lotman darin, grundsätzlich unüberschreitbar zu sein. Damit sich eine Grenze als undurchlässig erweisen kann, müssen die Individuen, die sich zum Ausgangszeitpunkt in einem der beiden Teilräume befinden, in irgendeiner Form an diesen gebunden sein.181 Die Regeln, welche diese Anbindung garantieren – und hier setzt nach Renner die zeitliche Dimension der Semiosphäre an –, sind in der Zeit invariant, die Zugehörigkeit der Figuren zu einem Raum

175 | Ebd., 267, Hervorhebung i.O. 176 | Vgl. ebd. 177 | Vgl. vor allem Lotman (1972), 300-356. 178 | Vgl. dazu die Überlegungen zu Lotman in der Einleitung. 179 | Vgl. Lotman (1972), 313. 180 | Lotman (1972), 327. 181 | Vgl. Renner (1983), 28.

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ist also durch zeitlose Strukturen festgelegt.182 Nun schließt die Eigenschaft der Grenze, unüberschreitbar zu sein, die Möglichkeit einer Bewegung nicht aus, welche die betreffende Grenze zu überschreiten sucht, wobei der Versuch einer Grenzüberschreitung gelingen oder auch scheitern kann.183 Unabhängig vom Erfolg oder Misserfolg der Überschreitung bedeutet jedoch jeder Schritt eines Individuums in Richtung der Grenze eine Veränderung. Und Veränderungen finden in der Zeit statt.184 Renner schlägt daher vor, den Text in unterschiedliche Zeiteinheiten zu unterteilen, die keinesfalls gleich groß sein müssen und die Auskunft über Anfangs- und Endpunkt einer Veränderung geben. Diese Einheiten lassen sich aus den Punkten ableiten, an denen sich die Protagonisten zu verschiedenen Zeitpunkten befinden. Die übergeordnete Handlungsstruktur (Sujet) eines Textes ergibt sich aus der Summe der Veränderungen (Motive), die in ihm stattfinden, und zwar in der Reihenfolge, in der sie im Werk dargelegt sind.185 Das Motiv stellt innerhalb des Sujetaufbaus eine unzerlegbare Einheit dar, die auf Handlungen und Erfahrungen aus der Lebenswelt verweist. Ähnlich wie das sprachliche Zeichen vereint es in sich zwei Seiten, den verbalen Ausdruck und den auf die lebensweltliche Erfahrung verweisenden Inhalt.186 Daher vermittelt das Motiv als imaginäre Schnittstelle zwischen der präfigurierten Lebenswelt des Rezipienten und der verbal konfigurierten Welt des Textes. Sowohl das Motiv als auch das Sujet können ein Ereignis darstellen. Dabei ist das Ereignis zu verstehen als »bedeutsame Abweichung von der Norm«, als »ein revolutionäres Element, das sich der geltenden Klassifizierung widersetzt«.187 Lotman unterscheidet – und diese Unterscheidung erlaubt ein Anknüpfen an das von Castoriadis verwendete Begriffspaar différence und altérité – zwischen Ereignis und Metaereignis.188 Das Ereignis bezieht sich auf die Mikrostrukturen des Textes. Es tritt dann ein, wenn eine Grenze zwischen zwei semantischen Räumen überschritten wird, das System der Welt jedoch, in welches diese beiden Teilräume eingebettet sind, unverändert bleibt. Wird allerdings dieses System transformiert, so liegt ein Metaereignis vor. Anders formuliert: Stimmen Ausgangs- und Endlage des Systems überein, so bleibt es in der Zeit invariant. Unterscheidet sich hingegen die Endlage von der Ausgangslage, so hat eine Transformation in der Zeit stattgefunden. In beiden Fällen ist Zeit vergangen, jedoch wird die Zeit nur dort sichtbar, wo eine Veränderung eingetreten ist und somit nur durch ein Metaereignis. Denn in diesem Fall bedeutet das Überschreiten der Grenze nicht nur einen zeitlichen 182 | Vgl. ebd., 34. 183 | Vgl. ebd., 27. 184 | Vgl. ebd., 28. 185 | Vgl. Lotman (1972), 330. 186 | Vgl. ebd., 331. 187 | Ebd., 333 u. 334. 188 | Vgl. Titzmann (1992), 250.

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Prozess, sondern der Grenzübertritt markiert eine Zäsur, die das Geschehen in ein Vorher und Nachher teilt. Dadurch entstehen zwei Zeiträume, die unterschiedlich semantisiert sind. Während die Zeit in beiden Fällen als strukturierende Größe fungiert, wird sie im Fall des Metaereignisses zur selbst strukturierten Kategorie.189 Solange lediglich ein Ereignis stattfindet, reduziert sich die Zeit auf eine reine Abfolge von Zeitpunkten und daher auf eine räumliche différence. Erst wenn das Ereignis zu einer Transformation der in der Semiosphäre geltenden Normen führt, tritt ein Metaereignis in Form von altérité ein. Die Unterscheidung von Ereignis und Metaereignis, von einem Ereignis, das nur eine temporäre Grenzüberschreitung darstellt und einem solchen, das bleibende Spuren im Wertesystem hinterlässt, ist für Texte der Frühen Neuzeit zentral. Diese bewegen sich in Spanien zwischen einer Restitution, das heißt zwischen einem Tilgen von Ereignissen einerseits, und Strukturen, die unterschwellig auf ein Metaereignis hindeuten andererseits.190 Obwohl an eine offene Modellierung von Metaereignissen im Spanien des 16. und 17. Jahrhundert noch nicht zu denken ist, lassen fiktionale Texte, so soll anhand der comedia urbana von Lope de Vega gezeigt werden, doch erste Anzeichen von Umbrüchen im Wertesystem erkennen. Auch wenn das Ereignis auf einer makrostrukturellen Ebene gebannt und die ursprüngliche Ordnung restituiert werden kann, so deuten mikrostrukturelle Elemente ein Metaereignis an. Auch in der städtischen Lokalhistoriographie Sevillas, so wird im Anschluss deutlich werden, zeigt sich diese Tendenz zum Metaereignis weniger im Inhalt als vielmehr in der Struktur. Während die dargelegten Fakten weiterhin lediglich als Motive fungieren und damit einer prästabilierten Ordnung Rechnung tragen, gewinnt auf der strukturellen Ebene mehr und mehr ein Vorgehen die Oberhand, welches eine Transformation des zugrunde liegenden Wertesystems zwar noch nicht hervorruft, ihm jedoch den Boden bereitet. Es handelt sich um ein Verfahren, das die realgeographischen Strukturen des städtischen Raumes genauer in den Blick nimmt, anstatt von einem überzeitlichen allegorischen Raum auszugehen. Die topographische Genauigkeit, mit welcher der geographische Raum, etwa mithilfe archäologischer Methoden, untersucht wird, lässt zeitliche Kontinuitäten in den Hintergrund treten, ja sie durchbricht gezwungenermaßen die zeitliche Kontinuität und kann so einer Semantisierung der Zeit Vorschub leisten, das heißt einer Zeitkonzeption, in der zeitliche altérité nicht mehr auf räumliche différence reduziert wird, in der sich Vorher und Nachher nicht mehr aufeinander abbilden lassen, sondern voneinander zu unterscheidende Intervalle bilden

189 | Vgl. ebd., 251. 190 | Vgl. dazu Mahler (1998), der die frühneuzeitliche Bandbreite von Sujetkonstellationen am Beispiel des englischen Dramas nachweist.

2.

2.1

Raum-Zeiten in Geschichtsschreibung und Publizistik

Z EIT UND R AUM DER S TADTCHRONIK

Eine zentrale Annahme dieser Studie besteht darin, dass sich zeitliche Logiken in räumlichen Konzeptionen manifestieren. Hierauf aufbauend soll zunächst die Räumlichkeit zeitlicher Logiken idealtypisch anhand von Erzählmustern untersucht werden, die in der frühneuzeitlichen Historiographie immer wiederkehren. Die aus dem Mittelalter übernommene Genealogie und die ihr verwandte Figur der translatio sowie das ihnen zugrunde liegende Denken der Exemplarität stehen für ein Bestreben, unter Ausblendung von Brüchen, das heißt von Metaereignissen, zeitliche Kontinuitäten herzustellen. Diese Denkfiguren erhalten in der Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit Konkurrenz durch Verfahren, welche die Kontrafaktizität der Kontinuität zwar nicht offen legen, diese Kontinuität aber in den Hintergrund treten lassen. Den chronologischen, Kontinuität vermittelnden Schreibweisen soll vor diesem Hintergrund die sogenannte topographische Methode gegenübergestellt werden, die in Sevilla vor allem in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts praktiziert wird. Die Religiosas estaciones von Gordillo haben bereits ein Beispiel für eine synchrone, nach Topoi organisierte Anordnung historischen Materials gegeben, wobei sich der Abt auf religiöse Gedächtnisorte – Stationen von Prozessionswegen, Bruderschaften und imágenes – beschränkt. Demgegenüber werden nun vier bedeutende Stadtchroniken herangezogen, welche den universellen Anspruch erheben, die religiöse und säkulare Geschichte Sevillas gleichermaßen aufzuzeichnen, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung. Es handelt sich um die in einem Zeitraum von 80 Jahren erschienenen Stadtchroniken von Alonso Morgado (1587),1 Pablo Espinosa de los Monte1 | Morgado, Alonso (1587): Historia de Sevilla en la qual se contienen sus antiguedades, grandezas, y cosas memorables en ella acontecidas, desde su fundacion hasta nuestros tiempos, Sevilla: Imprenta de Andrea Pescioni y Iuan de Leon. Im Folgenden abgekürzt mit AM.

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ros (1627-1630),2 Rodrigo Caro (1634)3 und Diego Ortiz de Zúñiga (1677).4 Die lokalhistoriographischen Werke unterscheiden sich nicht nur in Umfang und Genauigkeit – hierin übertrifft Ortiz de Zúñigas Werk alle weiteren – sondern vor allem in ihrer Modellierung von Zeit und Raum durch eine je unterschiedliche Anordnung des historischen Materials. Dennoch ist ihnen eine raum-zeitliche Logik gemeinsam, nämlich diejenige der translatio mit der ihr verwandten Form der Genealogie, die zunächst auf dem Grundgedanken der Analogie basiert, in den einzelnen Chroniken aber eine je eigene Ausgestaltung erfährt.

2.1.1

Genealogie, translatio und E xemplarität

Eine im Mittelalter vorherrschende und in der Frühen Neuzeit fortgeführte Denkfigur ist die Genealogie5 bzw. die translatio, wie ein Blick in die Stadtchroniken Sevillas zeigt: Das dritte Buch der sechsteiligen Historia de Sevilla von Alonso Morgado enthält beispielsweise eine Genealogie der Könige von San Fernando bis zum aktuellen Herrscher Philipp II. Beim Heiligen Fernando handelt es sich um denjenigen König, der die Stadt 1248 aus den Händen der maurischen Besatzung befreite und damit die christliche Religion in Sevilla offiziell wieder errichtete. Die Eroberung Sevillas durch Fernando III. stellt somit einen Gründungsakt, näherhin einen Akt der Neugründung dar, der als Ausgangspunkt der Genealogie gilt und der die Eigenschaften ihrer Mitglieder bestimmt. Diese sind katholisch und setzen sich für die Verbreitung und Festigung des katholischen Glaubens ein. Damit ist a priori eine klar beschriebene Position festgelegt, die sich nicht verändert, sondern lediglich ständig von einem neuen Herrscher besetzt wird. Dessen individuelle Eigenschaften interessieren ebenso wenig wie die Besonderheiten seiner Herrschaft. Stattdessen wird dargestellt, mit welchen Handlungen er zur Verbreitung und Stabilisierung des Katholizismus beiträgt, das heißt wie er die festgesetzte Position ausfüllt. Die Genealogie in dieser aus dem Mittelalter übernommenen Form beruht auf der Weitergabe eines Objektes durch A an B, wobei das Objekt zuvor A gehörte, welches B zeitlich vorangeht. Somit ersetzen sich die Träger eines konstanten Objektes, wobei die Zeit, abgesehen von ihrer empirischen Dimension, kaum eine Rolle spielt. Die Genealogie 2 | Espinosa de los Monteros, Pablo (1627-1630): Historia, Antiguedades y grandezas, de la muy noble y muy leal Ciudad de Sevilla, Sevilla: Officina de Matias Clavijo. Im Folgenden abgekürzt mit EM. 3 | Caro, Rodrigo (1634): Antiguedades y Principado de la Ilustrísima ciudad de Sevilla, y Corografía de su Convento Jurídico o Antigua Chancillería, Sevilla: Andres Grande, Impressor de Libros. Im Folgenden abgekürzt mit RC. 4 | Ortiz de Zúñiga, Diego (1677): Anales eclesíasticos y seculares de la muy noble y muy leal ciudad de Sevilla, Madrid: Imprenta Real. Im Folgenden abgekürzt mit OZ. 5 | Vgl. zur zeitlichen Logik der Genealogie Martin (1977), 59-60.

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des Mittelalters, wie sie in den frühneuzeitlichen Stadtchroniken weiter praktiziert wird, bedeutet eine Annullierung von Zeit.6 Diese ist lediglich in einer Abfolge von Ereignissen sichtbar, die nicht von Metaereignissen durchbrochen wird. Die Genealogie unterdrückt altérité, indem sie die Zeit in einer verräumlichenden Bewegung auf die différence reduziert. Das zeitliche Ordnungsprinzip der Genealogie entspricht dem hodologischen Raumbild der Antike und des Mittelalters, das den Raum als Verbindungsnetz von Gedächtnisorten konzipierte (vgl. Kap. 1.3.2.2). Analog zu jenem bietet die Genealogie ein Orientierungsprinzip im ›Zeit-Raum‹7 in Form eines parcours, der denkwürdige Punkte auf dem Zeitstrahl miteinander verbindet. Topographische Strecke und chronologisches Intervall bilden epistemologisch gesehen Einheiten eines espacio, in dem Raum und Zeit ineinander fallen. Die Ordnungskriterien der Genealogie gelten mit gewissen Einschränkungen auch für die translatio imperii: Das Imperium wird als Objekt begriffen, das von einer herrschenden Instanz an die nächste weiter gegeben wird.8 Im Gegensatz zur Genealogie besteht hier jedoch keine Blutsverwandtschaft zwischen den Herrschern. Während die Legitimationsfigur der Genealogie die Herrschaft innerhalb eines Familienstammbaums sichern soll, garantiert die translatio Kontinuität, indem sie unterschiedliche Kulturen miteinander in die Relation der Erbfolge setzt.9 Die Reihe, die aus der translatio hervorgeht, besteht, so formuliert es Aleida Assmann, »aus unterschiedlichen Machtzentren, die nacheinander die Fackel eines einzigen universalen Kulturlichts halten; eine gleichzeitige Blüte mehrerer Kulturen ist ebenso undenkbar wie unabhängige Neuentfaltungen. Das bedeutet, daß sich jede neue Kultur als Fortsetzung und Reinkarnation der einen Kultur versteht.«10 Auch hier gibt es also kein Metaereignis, keine altérité; die einzelnen Machtzentren unterscheiden sich lediglich durch ihre unterschiedliche Lokalisierung auf der Zeitachse und gegebenenfalls im geographischen Raum. Ihre Verbindung besteht über eine apriorische Position, die durch einen Gründungsakt definiert und stets neu besetzt wird. Die zeitliche Logik von Genealogie und translatio imperii ist also primär zyklisch: Eine über bestimmte Eigenschaften festgelegte Position wird von stets neuen Personen bekleidet, die diese Position, zumindest an der Oberfläche, nicht verändern, sondern in ihrer Beschaffenheit aufzugehen scheinen. Die translatio besteht aus einem variablen und einem invariablen Element: Das invariable Element bildet das Imperium, bzw., im Falle einer translatio studii und einer translatio fidei, das tradierte Wissen und der überlieferte Glaube. Das variable Element ist das Volk, das diese Güter 6 | Vgl. ebd., 59. 7 | Vgl. Engels (1999), 408-409. 8 | Vgl. zur Figur der translatio generell Curtius (1978), 38-39. 9 | Vgl. Assmann (1999), 99-111. 10 | Ebd., 112, Hervorhebung i.O.

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übernommen hat. In bestimmten Fällen kann mit der translatio auch ein Ortswechsel verbunden sein, das heißt der Wechsel der topologischen Position im Zeit-Raum konkretisiert sich zu einem topographischen Transfer.11 Im Fall von Stadtgeschichten steht jedoch gerade der topographisch identische Ort für die Notwendigkeit einer politischen, gelehrten und religiösen Kontinuität. Die Geschichte einer Kultur beschränkt sich hier auf einen parcours in der Zeit, wobei dieser vordergründig nicht als Entwicklung, sondern als Weitergabe des immer Gleichen gedacht wird. Er bildet eine sowohl epistemisch als auch topographisch verräumlichte Ereigniskette, in der zeitliche altérité ausgeblendet ist. Die von Assmann verwendete Metapher des Lichts, das von einer Kultur an die andere bzw. von einem Herrscher an den nächsten weiter gegeben wird, findet sich bereits bei Alonso Morgado, der das Auslassen der reyes moros aus seiner Genealogie der sevillanischen Herrscher folgendermaßen begründet: Y si pretendiesse señalar aqui algunas cosas notables, que tuviessen algun buen olor a nuestra Religion por aquellos Barbaros siglos, serian como luzes, que (en la mayor obscuridad de la noche) se divisan muy remotas las unas delas otras por diferentes Montañas, segun son tan raros, y con tanta intermision de tiempos, los exemplos, que a cerca desto se hallan, conforme a los que toda via, y con la misma confusion apuntare en el capitulo siguiente. (24 r°/v°)

Angesichts der Dunkelheit, welche die Herrschaft der Mauren umgibt, sieht sich der Autor gezwungen, diese Epoche auszublenden bzw. sich auf diejenigen punktuellen Ereignisse zu beschränken, die aus der dunklen Zwischenzeit aufleuchten. Die Kette der translatio wurde unterbrochen und bedarf einer renovatio. Die Eroberung der iberischen Halbinsel durch die Mauren stellt ein Metaereignis dar, das nur durch ein weiteres, umgekehrtes Metaereignis getilgt werden kann. Diese Wiederherstellung soll mit der Rückeroberung Sevillas durch San Fernando gewährleistet werden; sie schafft eine neue Anschlussstelle, von der aus das Metaereignis zum Ereignis, altérité zu différence reduziert und die Fackel einer katholischen Stadt in die Zukunft weiter getragen werden kann. Das translatioModell erlaubt es also, dort eine Kontinuität herzustellen, wo sie faktisch nicht vorhanden ist. Es stellt einen direkten Übergang her vom christli11 | Dies hat Jörg Dünne in Bezug auf die Darstellung Cuzcos durch den Inca Garcilaso gezeigt, der mithilfe des translatio-Modells versuche, den Erinnerungsraum der Inka-Stadt bruchlos an die europäische Kultur anzuschließen. Vgl. Dünne (in Vorbereitung), 83-98. Begreift man die translatio als Machttransfer von einer Nation zur anderen, so ist damit sehr wohl ein Ortswechsel impliziert. In den frühneuzeitlichen Stadtchroniken allerdings vollzieht sich die translatio an einem einzigen Ort, der nacheinander von unterschiedlichen Volksgruppen bewohnt wird. Daher ist in diesem Fall die stets neu zu besetzende Position nicht nur als virtueller, sondern auch als realgeographischer Ort denkbar.

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chen Volk der Goten, als dessen Nachfolger sich die spanische Krone versteht,12 zur Wiedererrichtung des katholischen Glaubens durch Fernando III. Dies erscheint besonders vor dem Hintergrund einer erneuten religiösen Bedrohung notwendig: Die Kontinuität der katholischen Stadt muss vor der vom Norden hereindrängenden Reformation geschützt werden. Die translatio wird damit zum Erzählschema der Kontingenzbewältigung: Sie stellt Kontingenz nicht in Form zeitlicher Alterität aus, sondern führt Ereignisse in eine synchrone, räumliche Einheit über. Den Prinzipien der Genealogie und translatio liegt die zeitliche Logik der Exemplarität zugrunde. Morgado spricht im angeführten Zitat von den raren denkwürdigen Ereignissen, die in einer Epoche barbarischer Dunkelheit zur Stärkung der christlichen Religion beitragen, als »exemplos«. Die Exemplarität stellt an die historische Erzählung den Anspruch, durch die Bezüge, die sie im Rahmen ihrer Semiotik zwischen bestimmten Dingen herstellt, ein Gesetz auszudrücken, das ihren Referenten verwaltet.13 Das historiographische Erzählen dient dabei nicht in erster Linie dazu, bisher unbekannte Gesetzmäßigkeiten an die Oberfläche zu bringen, sondern vielmehr dazu, ein bekanntes Gesetz zu illustrieren. Dabei sind mehrere faktische Einheiten, die einander semantisch entsprechen und ein geschlossenes Ganzes bilden, dazu bestimmt, Manifestationen ein und desselben Gesetzes zu liefern. Die Exemplarität spaltet ein Ereignis in ein variables (die Fakten) und ein invariables Element (das Gesetz), und zwar so, dass die Fakten wie die Offenlegung eines immanenten Gesetzes wirken. Unter der Ordnung dieses Gesetzes kommt die Diachronie der Fakten nicht zum Tragen, das Gesetz ordnet diese synchronisch an. Durch die Aufhebung der faktischen Diachronie auf einer strukturellen Ebene spielt die Zeit als Operator keine Rolle. In diesem Fall kommt jedoch ein anderer Aspekt der Zeit zum Tragen: die Frequenz als Möglichkeit eines Ereignisses, sich in der Zeit zu wiederholen. Genau diese Möglichkeit macht die Exemplarität aus, denn ohne potentielle Wiederholbarkeit kann es auch kein Gesetz geben. Die von Martin beschriebene zeitliche Logik der Exemplarität fügt sich insofern in die bisherige Argumentation ein, als auch ihr eine zyklische Bewegung eignet, die Ereignisse in räumliche Gleichzeitigkeit überführt und lineare Entwicklungen im Sinne von Alterität ausblendet. Dieser Zeitkonzeption entspricht eine statisch-abstrakte Vorstellung des Raumes: Die zyklische bzw. spiralförmige Zeit arbeitet mit einer räumlichen Semantik in Form einer Verankerung von permanenten Ordnungsbeziehungen im Raum. Die so verstandene Raumsemantik hat ihren Ursprung in der mittelalterlichen Hermeneutik. Die Dinge werden als von Gott eingesetzte Zeichen verstanden und umgekehrt offenbart sich Gott in den Dingen. Daraus ergibt sich ein allegorisch-symbolisches Verständnis, das 12 | Zum frühneuzeitlichen Phänomen des Gotizismus vgl. ebd., 87 u. 225-226. 13 | Zu den folgenden theoretischen Ausführungen zur Zeit der Exemplarität vgl. Martin (1977), 64-65.

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Gegenstände, Orte und Räume auf heilsgeschichtliche Inhalte hin liest und umgekehrt heilsgeschichtliche Inhalte in den Raum einschreibt. Das Weltbild des Stufenkosmos, das in Spanien noch bis weit in die Frühe Neuzeit hinein vorherrschend bleibt, ist ein einschlägiges Beispiel für solch eine stabile Ordnung der Gleichzeitigkeit. In der rein humanistischen Tradition schwindet im Einklang mit der Verdrängung der scholastischen Diskussion und einem allgemeinen Bedeutungsverlust der Zeichentheorie14 die mittelalterliche Raumsemantik. Eine Ausnahme bildet hier die iberische Halbinsel, auf der sich im Zuge der katholischen Reform eine Zweitscholastik formiert, die eine »Renaissance des Zeichens« mit sich bringt und der pansemiotischen Weltsicht neuen Auftrieb gibt.15 Diese Entwicklung steht im Kontrast zu der oben beschriebenen neuen Räumlichkeit, wie sie sich im Umfeld der Casa de la Contratación herausbildet (vgl. Kap. 1.3.2.2). Wo die kosmographische Praxis in Spanien mit der Synchronisierung der Karte eine Diachronisierung der Zeit einleitet, entzeitlichen reformkatholische Texte den Raum, indem sie sich exemplarischer Modelle bedienen und so zeitliche Alterität durch eine synchrone räumliche Ordnung abfangen. Allerdings können sich diese von offizieller Seite ausgehenden, strategischen Bestrebungen, das sich dynamisierende Weltbild erneut in einer analogischen Ordnung aufgehen zu lassen – so wird vor allem die Analyse zu Lopes comedia zeigen – nicht umfassend durchsetzen. Vielmehr bilden die aus ihnen resultierenden Semantiken lediglich die Kehrseite eines faktischen Herausfallens aus der pansemiotischen Ordnung der Gleichzeitigkeit. Der Text kann Alterität zwar (noch) zu räumlicher Differenz erstarren lassen, doch weisen solche Texte teilweise selbst darauf hin, dass sich verschiedene Zeitabschnitte semantisch nur noch künstlich zur Deckung bringen lassen und kündigen so eine Semantisierung der Zeit an. Eine Semantisierung der Zeit findet dort statt, wo ein Ereignis die Zeit in zwei semantisch unterschiedlich besetzte Zeiträume teilt: Der Zeitraum vor dem Ereignis deckt sich semantisch nicht mit dem Zeitraum nach dem Ereignis,16 sondern die Zeit zerfällt in eigenständige Intervalle. 14 | Vgl. Meier-Oeser (1997), 172. 15 | Vgl. ebd., 172-175. Nicht nur im nachtridentinischen Diskurs wird die scholastische Zeichentheorie fortgeführt. Gerade im hermetisch geprägten Humanismus – man denke an das Gedächtnistheater Giulio Camillos –, der sich bewusst von der Scholastik abgrenzt, rückt der symbolische Kosmos erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Vgl. ebd, 43. Zum hermetischen Humanismus Giulio Camillos vgl. Yates (1994). Die Neubelebung der pansemiotischen Weltsicht ist auch denkbar als Diskurs-renovatio, das heißt als eine forcierte diskursive Re-Analogisierung der Frühen Neuzeit in Spanien. Vgl. Küpper (1990). Allerdings gelingt diese renovatio mittelalterlicher Diskurse, wie die Analysen dieser Studie zeigen, nur an der Oberfläche, wodurch fraglich wird, ob überhaupt von einer Re-Analogisierung die Rede sein kann. 16 | Vgl. Titzmann (1992).

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Die Zeitspirale streckt sich mehr und mehr zu einer Linie, deren Punkte sich nicht mehr aufeinander abbilden lassen. Ereignisse sind damit nicht mehr in der Lage, exemplarisch ein ewiges und apriorisches Gesetz zu illustrieren, sondern bringen Gesetzte a posteriori zum Ausdruck. Aufgabe der Geschichtsschreibung ist es daher fortan nicht mehr, vergangene oder neu eintretende Ereignisse vorhandenen Gesetzen zuzuweisen, sondern erst Gesetzmäßigkeiten aus historischem Geschehen abzuleiten. Ein solches historisches Denken kann sich im Spanien der Frühen Neuzeit, zumindest bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts, noch nicht durchsetzen. Dennoch machen sich in der lokalen Geschichtsschreibung Tendenzen bemerkbar, welche die Spirale der Gleichzeitigkeit allmählich aufzulösen beginnen. Die Synchronisierung von Karten, welche den gegenwärtigen geographischen Raum als von vergangenen Räumen zu unterscheidenden herausstellt, bildete dafür bereits ein Beispiel. Auch in der städtischen Geschichtsschreibung, so soll im nächsten Unterkapitel hergeleitet werden, macht sich eine solche Synchronisierung des Raumes bemerkbar. Der Raum verharrt nicht mehr länger in allegorischer Zeitlosigkeit, sondern wird als konkretes, historisches Substrat erkennbar.

2.1.2

Chronologisches und topographisches Schreiben

Die Reproduktion des immer gleichen Gesetzes, wie sie Genealogie, translatio und Exemplarität implizieren, erfordert eine Differenzierung mithilfe der Unterscheidung von Vorher – Nachher. Da die reine translatio weder notgedrungen mit Ortswechseln noch mit einer altérité im Sinne zeitlicher Umbrüche rechnet, ist sie formal am ehesten in der Struktur der linearen Abfolge denkbar.17 Daher bietet sich für die Konfiguration einer exemplarischen Raum-Zeit in der Historiographie eine chronologische Darstellung von Ereignissen an. In Texten, denen eine allegorische Semantik des Raumes zugrunde liegt, fungiert die Zeit als reines Strukturelement. So ordnet die mittelalterliche Chronik Ereignisse zwar nach einem Vorher – Nachher und damit nach voneinander zu unterscheidenden Zeiträumen an, doch sind diese Zeiträume nicht durch Metaereignisse getrennt und damit nicht unterschiedlich semantisiert. Vielmehr sind sie Variablen ein und desselben Gesetzes. Im Einklang mit den Strukturen der Genealogie und der translatio liegt also eine strukturelle Synchronität und damit eine Annullierung von Zeit vor: Auch wenn die Chronologie strukturell eine lineare Zeit nachzuahmen scheint, ist damit eine Semantik der Zeit noch lange nicht gewährleistet. Im Gegenteil ermöglicht gerade die Einsetzung der linearen Zeit als Strukturelement deren semantische Entleerung.18 17 | Vgl. Assmann (1999), 112. 18 | Der Begriff der Chronologie, wie er hier verwendet wird, bezieht sich ausschließlich auf eine chronologische Textstruktur, hat also noch nichts zu tun mit einer Chronologie als Wissenschaft, die sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts

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Es wird als der Verdienst des italienischen Historiographen Flavius Blondus betrachtet, sich in seinen Werken Roma instaurata (1444-1446) und Italia Ilustrata (1474) sowohl methodisch als auch inhaltlich von der mittelalterlichen Tradition der Chronik abgesetzt zu haben. In der Italia Illustrata nimmt Blondus eine topographische Anordnung des historischen Materials auf Kosten einer chronologischen Abfolge vor, indem er Historie und geographische Beschreibung verknüpft.19 Eine solche topographische Anordnung von Fakten stellt gegenüber der mittelalterlichen chronologischen Geschichtsschreibung eine Neuerung dar: Ähnlich wie in der pansemiotischen Raumlektüre geht es auch hier darum, Inhalte im Raum zu verankern,20 was jedoch, anders als in der Scholastik, nicht mehr auf einer phänomenologischen Ebene geschieht. Die Orte und Objekte im Raum besitzen keine metaphysische Verweisfunktion mehr. Da Gott nicht länger als alleiniger Urheber allen Geschehens gilt, können die Dinge auch nicht mehr allein als von ihm eingesetzte Zeichen gelesen werden. Die allegorische Lesbarkeit des Raumes geht allmählich in einem Geschichtskonzept verloren, welches historisches Geschehen primär als Auswirkung menschlichen Handelns begreift. Dennoch besteht die topographische Methode darin, unsichtbare, in diesem Fall vergangene Inhalte in einen sinnlich wahrnehmbaren Raum einzuschreiben. Die Verbindung von Raum und Geschichte verlagert sich von der transzendenten Ebene des ewigen Zeichengebers in den gedruckten Text. Der Raum ist nicht mehr an sich signifikant, sondern wird erst durch den Betrachter, den Historiographen, zum Zeichenträger. Dies wird etwa in der als Dialog verfassten Stadtbeschreibung Traslación de la imagen de nuestra Señora de los Reyes (1579)21 von Francisco de Sigüenza deutlich, wo sich die Geschichte Sevillas dem Leser über die Augen eines fiktiven Betrachters erschließt (vgl. Kap. 3.1.4). Hier spricht der Raum nicht aus sich selbst heraus, sondern bedarf der Entzifferung durch ein wahrnehmendes Subjekt. Dieses ›durchwandert‹ den geographischen Raum nicht allein mit seinem inneren Auge, sondern mit seinem ganzen Körper. In der Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit entwickelt sich ein archäologisches Interesse, das Inschriften, bauliche Überreste, Münzen und Urkunden auswertet.22 Daher kompiliert der frühneuzeitliche Historiograph, der sich der topographischen Methode bedient, nicht lediglich über herausbildet und die die Anfänge und Enden der christlich-antiken Kultur dekonstruiert. Vgl. zum wissenschaftlichen Chronologiebegriff Schmidt-Biggemann (2003), 26-28. 19 | Vgl. Clavuot (1990), 14-16. 20 | Vgl. ebd., 21. 21 | Sigüenza, Francisco de (1996 [1579]): Traslación de la imagen de Nuestra Señora de los Reyes y cuerpo de San Leandro y de los cuerpos reales a la Real Capilla de la Santa Iglesia de Sevilla escrita en diálogo por Francisco de Sigüenza. Hg. von Federico García de la Concha Delgado, Sevilla: Fundación el Monte. 22 | Vgl. Benz (2003), 675.

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andere Texte vermitteltes Wissen, sondern legt eigene Erkenntnisse dar, die er aus der sinnlichen Anschauung gewonnen hat. Der allegorische Raum der Exemplarität wird zum konkreten Raum der Anschauung. Dies führt zu einem neuen Quellenverständnis: Die Arbeit am archäologischen Substrat schafft ein »Bewußtsein für die unhintergehbare Vieldeutigkeit der Quellen und Überlieferungen«23 . Folgerichtig tragen die materiellen Funde per se keine Bedeutung in sich, sondern erhalten diese erst durch den Geschichtsschreiber. Dadurch wird der historiographische Text selbst zum Gedächtnisort. Der Raum, der bisher selbst lesbarer Text war, tritt als solcher in den Hintergrund und wird, ähnlich wie die Zeit in der Chronik, zum Strukturelement des geschriebenen Textes. Der wesentliche Unterschied zur mittelalterlichen Geschichtsschreibung besteht hier in der Funktion des Raumes, der nicht mehr als semantische Matrix, sondern als strukturierende Größe fungiert. In dem Maße, in dem der reale Raum zum Orientierungsprinzip wird, erfährt er eine allegorische Entleerung. Raum und Zeit sind als Strukturelemente in der frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung keineswegs komplementär verteilt. Ein und derselbe Text kann sich beider Elemente bedienen, wie die nachfolgenden Analysen der sevillanischen Stadtchroniken zeigen werden. Aber auch die mit einer räumlichen bzw. zeitlichen Anordnung historischen Materials verbundenen Raum- und Zeitkonzeptionen schließen sich nicht gegenseitig aus, wie es beispielsweise anhand von Sigüenzas Traslación deutlich wird: In dem als Dialog verfassten Bericht einer Reliquienüberführung schreiten zwei Männer verschiedene Orte Sevillas ab, anhand derer sie die Geschichte der Stadt erörtern. Grundlage ihrer Ausführungen bilden architektonische Überreste, Inschriften, Denkmäler und Bauwerke sowie eine Prozession, deren beteiligte Gruppen Aufschluss über die Orden und Klöster der Stadt geben. Neben dieser systematisch-archäologischen Auseinandersetzung mit der Stadtgeschichte wird jedoch eine allegorische Lesbarkeit des städtischen Raumes offenkundig: Die abgeschrittenen Orte werden über eine exemplarische Lektüre erfasst, welche die Stadt sowohl implizit als auch explizit zum Abbild des himmlischen Jerusalem stilisiert. Die Bewegung im topographischen Raum schließt eine translatio im Zeit-Raum nicht zwingend aus. Selbst eine Auseinandersetzung mit dem konkreten Raum führt nicht gezwungenermaßen zu einer Diachronisierung der Zeit. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass die translatio hier nicht als bruchlose Fortsetzung der pansemiotischen Raumsemantik gelesen werden kann. Das überlieferte Signifikat, das dem städtischen Raum eingeschrieben ist, wird mittels Lektüre durch ein Subjekt mit individuellen Deutungen angereichert. Dadurch findet zwar noch kein Metaereignis statt, doch destabilisiert die subjektive Perspektive des Beobachters die gleichmäßige zyklische Bewegung der Exemplarität. Im Folgenden soll untersucht werden, wie die Stadtchroniken Sevillas im 16. und 17. Jahrhundert chronologische und bzw. oder topographische 23 | Sprenger (in Vorbereitung), 153.

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Verfahren einsetzen und welche Konzeptionen von Zeit und Raum sie mit dem jeweiligen strukturellen Modell bedienen. Dabei wird sich ein Zusammenhang zwischen der gewählten Methode und dem Verhältnis von säkularer und kirchlicher Geschichte feststellen lassen: Dort wo es vor allem um weltliche Geschichtsschreibung geht, wird das topographische Verfahren bevorzugt, während in der Kirchengeschichtsschreibung die chronologische Methode überwiegt. Die Kirchengeschichte scheint also stärker auf die Episteme einer verräumlichten Zeit angewiesen zu sein, wohingegen die säkulare Geschichte einer Verzeitlichung des Raumes den Boden bereitet.

2.1.3

Die Stadtchroniken Sevillas: Verräumlichung von Zeit und Verzeitlichung von Raum

Ab etwa 1560 setzt sich in Sevilla ein gewaltiger lokalhistoriographischer Schub in Gang, der zahlreiche Stadtgeschichten und -beschreibungen hervorbringt.24 Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen heilsgeschichtlichen und einen humanistischen Diskurs vereinen, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Sevilla als religiöse, politische und kulturelle Metropole verherrlichen. Hierfür tragen sie Legenden, Zitate, Verzeichnisse, aber auch eigene Beobachtungen zusammen, wodurch sich Fiktum und Faktum zu einem typisch frühneuzeitlichen Erzählgefüge vermengen. Die Hochkonjunktur historiographischer Texte im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts lässt sich nicht zuletzt auf das Bestreben der katholischen Reform zurückführen, die kirchliche Sakralgeographie unter humanistischen Vorzeichen neu zu ordnen, indem sie »das Historisch-Partikulare im Göttlich-Allgemeinen verankert.«25 Dies führt zu einer beständigen wechselseitigen Überblendung von weltlicher und religiöser Geschichte. Damit wird ein letzter Versuch unternommen, altérité zu unterdrücken und naturgeschichtliche, weltlich-historische und hagiographische Fakten in ein zeitloses Ganzes einzubetten – ein Versuch, der spätestens mit dem taxonomischen Denken der Aufklärung endgültig scheitern wird,26 der aber bereits seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nur noch eingeschränkt erfolgreich ist. Die augenfälligsten Unterschiede der Stadtchroniken liegen in der zeitlichen Eingrenzung und der Anordnung des historischen Materials, das teils in chronologischer, teils in topographischer Gliederung erscheint, wobei auch Mischformen zu finden sind. Mit einer nahezu rein 24 | Vgl. ebd., 138-140. Sprenger stellt diese Produktionswelle lokalhistoriographischer Texte in den Kontext reformkatholischer Bestrebungen, die kirchliche Sakralgeographie einerseits gegenüber protestantischem Gedankengut zu verteidigen, andererseits neu festzuschreiben. 25 | Vgl. ebd., 141. 26 | Vgl. ebd., 140-143.

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chronologischen Darstellung arbeitet Pablo de Espinosa de los Monteros, dessen dreiteilige Historia, Antiguedades y grandezas, de la muy noble y muy leal Ciudad de Sevilla um 1630 entsteht. Diese fast reine Kirchengeschichte, die sich überwiegend aus Heiligenviten zusammensetzt, findet in Leben und Herrschaft des Heiligen Fernandos ihren Höhepunkt. Zwar werden auch die Epochen unter der heidnischen Herrschaft von Römern und Mauren thematisiert, doch geschieht dies fast ausschließlich unter dem Blickwinkel der Christenverfolgung und des Martyriums. Nicht die Herrscher sind hier die Protagonisten, sondern die Unterdrückten, indem sie durch ihre Treue zum christlichen Glauben und durch ihr Martyrium das Fortbestehen des Christentums gewährleisten und aus einer heilsgeschichtlichen Perspektive so zur Rettung der Stadt beitragen. Dadurch erfahren die Schandflecke der Stadtgeschichte eine Umwertung ins Positive. Metaereignisse können so getilgt und scheinbar bruchlos in eine entsemantisierte Zeitreihe eingefügt werden. Der überwiegend chronologische Aufbau des Werkes enthält nur wenige synchrone Studien, wie beispielsweise eine Rekonstruktion des städtischen Raumes unter den Römern durch archäologische Methoden. Damit handelt Espinosa de los Monteros nur am Rande ab, was die Antiguedades (1634) seines Nachfolgers Rodrigo Caro ausmacht: Dessen erklärtes Ziel ist es, das im kollektiven Gedächtnis zu bewahren, was vom alten Rom in Sevilla und Umgebung noch übrig geblieben ist.27 Hierfür schreitet er den untersuchten Raum systematisch ab, um Inschriften, Münzen und andere archäologische Funde auszuwerten. Gleich zu Beginn des Werkes fallen das ausführliche alphabetische Stichwortverzeichnis sowie das ebenso alphabetische Ortregister auf. In der Auseinandersetzung mit der Stadtgründung, die der Autor durch eine systematische Untersuchung von Inschriften zu rekonstruieren versucht hat, wird deutlich, dass Rodrigo Caro sich im Gegensatz zu Espinosa de los Monteros, der ausschließlich Material aus zweiter Hand verarbeitet, nicht mit als gültig anerkannten Meinungen zufrieden gibt. Er stützt sich nicht auf fremdes Wissen, sondern auf seine eigenen Beobachtungen: »Verà el lector en esta parte quanto importa, que los ojos registren lo que ha de escriuir la pluma.« (RC Prólogo) Rodrigo Caro möchte im Einklang mit der frühneuzeitlichen Privilegierung des Sehsinns glauben machen, dass das Auge selbst dem Historiographen diktiert, was er zu schreiben habe – »l’oeil écrit«, um es mit der kurzen Formel von Hartog zu sagen.28 Sehen und Schreiben, Beobachten und Erzählen sind hier untrennbar aneinander gekoppelt. Der topographische Raum ist kein allegorisch-abstrakter, sondern ein konkreter Raum der Anschauung. Wo die chronologische Geschichtsschreibung nur erzählt, indem sie Fakten in einer zeitlichen Sequenz anordnet, ver27 | »conservar en la […] memoria […] lo que resta de las antiguedades de Seuilla antes que del todo se desparezcan, y acaben a manos deste perderoso contrario, el tiempo, que cada dia las va gastando y consumiendo« (RC Prólogo). 28 | Hartog (1980), 275.

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mag die topographische Historiographie einen konkreten Raum zu konfigurieren und dadurch zu zeigen. Dieser Anspruch spiegelt sich auch in der Gestaltung der Druckseite wider: Der chorographische Teil des Werkes enthält Abbildungen von Münzen, mit denen Caro seine Ausführungen visualisiert.29 Die archäologisch-topographische Arbeitsweise ist mit materiellen Schwierigkeiten verbunden, die nicht nur das Auge betreffen. So betont Caro: La tercera parte contiene vna Chorographia de los lugares y jurisdicion, que Seuilla tuuo en tiempos de los Romanos. Para escriuir este tratado, confiesso ingenuamente me ha costado mucho trabajo corporal, desvelos, y atencion del animo, porque visitè personalmente los lugares de que escriuo, confiriendo en cada vno lo que los antiguos escritores, assi Griegos, como Latinos, nos dexaron escrito, aprouechandome assimismo de Inscripciones antiguas, y medallas, que con estudiosa afición he juntado. (RC Prólogo)

Neben der intellektuellen Arbeit erfordert die Erschließung der historischen Quellen auch körperliche Anstrengung. Nicht nur das Auge schreibt, sondern auch der gebrandmarkte Körper des Historiographen garantiert für die Zuverlässigkeit seines Zeugnisses.30 Je mehr die Sinne in die Produktion historiographischen Wissens involviert sind, so scheint es, umso verbindlicher wirkt dessen Darstellung. Der Körper des Autors steht hier nicht für Subjektivität (vgl. Kap. 1.1.2), sondern wird im Einklang mit einer Aufwertung der sinnlichen Wahrnehmung in den Wissenschaften zum Garanten für Objektivität. Die gründliche Arbeit an den historischen Quellen führt Caro dazu, die Allgemeingültigkeit verbreiteter Auffassungen vorsichtig in Frage zu stellen. So hält er aufgrund seiner Auswertung eine Gründung der Stadt durch die Iberer, die sich nach der Sintflut in der Gegend von Sevilla niederließen, für am wahrscheinlichsten. Als den tatsächlichen Gründer betrachtet er Hispan, einen von Tubal abstammenden König. Die gängige mythische Auffassung einer Gründung durch Herkules lässt er aufgrund ihrer Verbreitung zwar ebenfalls stehen, doch stellt er sie nicht, wie seine Zeitgenossen, in den Vordergrund (RC 5 r°/v°). Damit tritt Caro nicht in offenen Widerspruch gegenüber autoritätsbasiertem Wissen, zeigt jedoch 29 | So beispielsweise »Asseguran esta correccion las medallas deste lugar Orippo, del qual tengo un debronce como una real de a quatro. Tiene por la una parte un rostro humano, coronado con una venda, a la manera, que antiguamente lo usavan los Sacerdotes: frontero del rostro un razimo de ubas, señal de la abundancia de viñas, que alli huuo, y oy dia vemos, pues la mayor parte de la villa de Dos Hermanas, son lugares de vezinos de Sevilla. Por el reverso tiene un Toro con la Luna nueva encima, y a los pies la letra ORIPPO, como se vè aqui.« (RC 115 v°-116 r°) 30 | Vgl. Lestringant (1991), 28.

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implizit den Widerspruch zwischen fremdbestimmten, überlieferten Auffassungen und eigenen, empirischen Befunden auf. Das zyklische Deutungsschema öffnet sich hin auf eine ansatzweise kritische Auseinandersetzung mit dem historischen Material. Caros systematische Aufarbeitung der Antike in Sevilla steht im Kontext einer humanistisch geprägten Geschichtsschreibung, welche die Person des Forschers als Erkenntnissubjekt würdigt. Darüber hinaus unterscheidet sie sich von der mittelalterlichen Historiographie durch eine neue zeitliche Perspektive, die sich fortan nicht mehr auf die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit beschränkt, sondern sich hin zu einem weiter zurückliegenden Zeitraum öffnet, der in das Zentrum des intellektuellen Interesses rückt. Das Wiederaufleben der Antike bringt einen Ausbruch aus einem rein christlichen Blickfeld und somit ein neues Interesse an säkularen Angelegenheiten mit sich.31 Daher spielen kirchengeschichtliche Aspekte bei Caro, im Gegensatz zu Espinosa de los Monteros, eine untergeordnete Rolle. Dennoch versieht er seine Studie mit einer heilsgeschichtlichen Klammer, indem er am Ende bemerkt: Doy gracias a nuestro Señor, que peregrinando por tan desconocidos lugares, he llegado a esta ultima Tyle, donde tiene fin esta Corographia: y denlas por mi dignamente los espiritus bienaventurados, que le asisten en el cielo, en aquella ciudad, que no teme oscuridad, ni ruyna; porque en ella preside eternamente el Rey de los siglos, inmortal, e invisible, a quien se deve el Imperio, el honor, y la gloria, por infinitos siglos de siglos. Amen. (RC 220 v°)

Diese wahrscheinlich obligatorische Formel unterstreicht noch einmal das Unternehmen, das Historisch-Partikulare im Überzeitlich-Göttlichen aufgehen zu lassen und die humanistische Studie mit einem heilsgeschichtlichen Diskurs kompatibel zu machen. Aus den Anstrengungen, das Weltliche mit dem Religiösen zu vereinen, ergibt sich jedoch eine Spannung, welche das einsinnige, zyklische Deutungsschema bedroht: Durch die Lust am Faktum, wie sie bei Rodrigo Caro sichtbar wird, beginnt sich die Historiographie von der Hagiographie zu distanzieren und bleibt nur noch oberflächlich dem heilsgeschichtlichen Modell verpflichtet. Die archäologisch fundierte topographische Methode stellt einzelne überlieferte Deutungen in Frage, modelliert diese Zweifel jedoch noch nicht als Metaereignis. Dem überwiegend chronologisch-christlichen Ansatz Espinosa de los Monterosՙ und dem fast rein topographisch-säkularen Vorgehen Caros schließt sich ein drittes Verfahren an, das chronologische und topographische, säkulare und kirchengeschichtliche Aspekte zu etwa gleichen Teilen berücksichtigt. Eine solche Mischform zeichnet die wesentlich früher erschienene Historia de Sevilla (1587) von Alonso Morgado aus. Die sechs Bücher der Stadtgeschichte umfassen einen Zeitraum von der Sint31 | Vgl. Barnes (1963), 100.

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flut bis zur Gegenwart, wobei in jedem Buch ein je anderes Verfahren zur Darstellung der Fakten gewählt ist. Das erste Buch beinhaltet eine Chronik von der Sintflut bis zur Rückeroberung durch San Fernando, das zweite eine synchrone Beschreibung Sevillas unter dem Neubegründer des Christentums. Das dritte besteht in einer Auflistung der Könige von San Fernando bis zum gegenwärtig regierenden Philipp II., das vierte beschreibt wiederum die Strukturen der Stadt unter Philipp II. und die letzten beiden Bücher geben schließlich einen Überblick über die Orden und Klöster der Stadt.32 Chronologische und topographische Darstellungsformen, diachrone Abfolgen und synchrone Querschnitte wechseln sich bei Morgado ab. Bereits der Untertitel der Historia »con mas el discurso de su estado en todo esso progresso de tiempo, aßi en lo Ecclesiastico, como en lo secular«, vereint die diachrone Bewegung (»progresso de tiempo«) mit dem Synchronen (»estado«). In dieser Gegenüberstellung sind beide Darstellungsverfahren, das chronologische und das topographische, angedeutet. Darüber hinaus möchte Morgado explizit das Kirchliche mit dem Säkularen vereinen, wobei säkulare Angelegenheiten kirchlichen untergeordnet sind: Morgado beschreibt die Entwicklung der Religion in Sevilla von der Rückeroberung durch San Fernando bis zur Gegenwart des Schreibens als kontinuierliche Aufwärtsbewegung, was sich auch auf den säkularen Bereich, den weltweiten Ruf der Stadt und die Fruchtbarkeit ihrer Umgebung ausgewirkt habe (AM 36 v°). Auch wenn Morgado der Heilsgeschichte somit Vorrang einräumt, ist er im Einklang mit der humanistischen Geschichtsschreibung darauf bedacht, das Wunder aus 32 | Morgado scheint sich in seiner Anordnung und Gewichtung des historischen Materials an der 1535/36 handschriftlich verfassten Historia de Sevilla (15351536) von Luis de Peraza zu orientieren, der ältesten bekannten Stadtgeschichte Sevillas. Ihr Ziel ist es – ähnlich wie die Antiguedades von Rodrigo Caro – die Vormachtstellung Sevillas gegenüber anderen spanischen Städte, insbesondere Toledo, hervorzuheben. Hierfür sucht Peraza, wenn auch weniger systematisch und archäologisch als Caro, Spuren in der Vergangenheit, aber auch Beweise in der Gegenwart, wobei er sich nicht scheut, auf Mythen, Legenden und verfälschte Informationen zurückzugreifen. Bei Peraza dominiert, wie auch in den Stadtgeschichten seiner Nachfolger, ein panegyrischer Ton. In seinen Rundgang durch das zeitgenössische Sevilla schließt der Autor Kathedralen und Kirchen, Mauern, Tore und Türme, Straßen und Plätze, Häuser und Paläste, Brunnen und Gärten, Aquädukte und Mühlen ein, erwähnt jedoch weder Gebäude wie das Gefängnis noch den schlechten Zustand der Straßen. Peraza interessiert sich für die Institutionen Sevillas, die Adelsgeschlechter der Stadt, die Waren, die in die Stadt hinein- und aus ihr hinausgelangen, aber auch für Kleidung und Ernährung der Sevillaner. Den größten Raum nimmt jedoch der religiöse Aspekt ein. Neben der Iglesia mayor, der mehrere Kapitel der dritten Década gewidmet sind, führt Peraza weitere Kirchen sowie Reliquien, Klöster und Hospitäler an. Vgl. die Einleitung zu Perazas Historia von Francisco Morales Padrón, 13.

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der Historiographie zu entfernen. So hütet er sich davor, die Beständigkeit der Stadtmauer angesichts der zahlreichen Angriffe, denen Sevilla im Altertum ausgesetzt war, eschatologisch zu werten: »Si esto contenga en si algun misterio, o particular prerrogativo del Cielo, yo no quiero meterme en tal juyzio.« (AM 42 r°) An dieser Stelle wird deutlich, dass eine Interpretation historischer Ereignisse als Handeln Gottes nicht mehr selbstverständlich, ja sogar umstritten ist. Allerdings wird die heilsgeschichtliche Dimension auf eine andere Ebene verlagert. Der Autor lässt es sich nicht nehmen – ob aus eigenem Interesse oder aus Unterwürfigkeit dem königlichen Auftraggeber gegenüber –, im Rahmen einer Beschreibung der gegenwärtigen Stadtmauer, eine Legende um den Erzbischof San Isidoro zu erzählen: Der maurische König Miramalin habe versucht, die Spuren des Heiligen zu verwischen, indem er dessen Grab als Pilger- und Gebetsort unzugänglich gemacht und sämtliche von Isidor errichteten heiligen Gebäude zerstört habe, »a fin de obscurecer totalmente la memoria de aquel sagrado templo, y de su celestial fundador« (AM 43 r°). Für diese Tat habe der islamische Herrscher nicht nur göttliche Sanktionen auf sich gezogen – zahlreiche Menschen stürzten von dem Turm, den er aus einem Teil der Trümmer erbauen ließ –, sondern Gott selbst habe dafür gesorgt, dass die »sagradas piedras« des zerstörten Grabes für den Bau der Stadtmauer »desta Catholica ciudad« eingesetzt wurden und so ihre heilige Bestimmung wiedererlangten. Die Episode um San Isidoro steht für die exemplarische Raum-Zeit schlechthin und relativiert die zuvor geäußerten Zweifel am Eingreifen Gottes: Das Wiedereinsetzen der Steine des zerstörten Heiligengrabes in die Stadtmauer Sevillas verankert die gegenwärtige Stadt mithilfe einer zyklischen Bewegung in einer hagiographischen Vergangenheit. Das Erzählen der Legende erlaubt es dem Autor, unter dem Deckmantel einer hagiographischen Strategie eine Taktik zu verfolgen, die den Status von Wundern anzweifelt. Doch wie in den Vorgängerbeispielen nutzt auch hier der Autor unliebsame Elemente der Stadtgeschichte, um die heilsgeschichtliche Bedeutung Sevillas erst herauszustellen und so Zweifel an überlieferten Wahrheiten zu verbergen. Vor allem aber wird hier ein anderer Aspekt im Umgang mit dem Raum deutlich: Kollektive Erinnerungen müssen im Raum verankert sein, um fortbestehen zu können. Dies gilt sowohl für die chronologische als auch für die topographische Methode. In beiden Fällen dient der geographische Raum im Einklang mit der mittelalterlichen und zeitgenössischen Vorstellung von der Geographie als dem ›Auge der Geschichte‹ als Garant für die historische Wahrheit.33 Während der geographische Raum jedoch bei einem rein topographischen Vorgehen lediglich den Weg des Historiographen vorgibt,34 ist er aus einer eschatologischen Perspektive 33 | Vgl. Lebsanft (2002), 45. 34 | So schreibt Caro in der Einleitung seines dritten Teils, einer Chorographie der Gegend um Sevilla: »Para mayor claridad de loque en esta Chorographia pretendemos dar a la noticia de los varones doctos, y si curiosos, parece ser

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mit Inhalten aufgeladen, die jeden beliebigen Signifikanten auf das ewig gleiche Signifikat hin lesbar machen. Auch bei Caro verweisen sämtliche archäologische Funde auf ein apriorisch feststehendes Signifikat, allerdings kann dieses den Elementen im Raum nicht beliebig zugewiesen werden, sondern muss in einem mühsamen Akt der Entzifferung erst belegt werden. Im ersten Fall gilt es, eine bestehende Wahrheit erneut zu bestätigen, im zweiten Fall, eine vermutete Wahrheit erst zu finden. Damit kündigt sich bereits in der topographischen Geschichtsschreibung der Humanisten diejenige Trennung von Zeichen und Ding an, die sich nach Foucault erst im Laufe des 17. Jahrhunderts vollzieht.35 Wenn der Raum in seiner topographischen Konkretheit gelesen wird, dann gestaltet es sich zunehmend schwieriger, die in ihm enthaltenen Zeichen als Teil einer Kette von Ähnlichkeiten zu deuten. Im systematischen Abschreiten der geographischen Oberfläche kommt noch eine weitere, neue Dimension des Raumes zum Tragen, die im Zusammenhang mit der Kartographie bereits genannt wurde: Der Raum um Sevilla definiert sich nicht mehr über einen Weg, der vereinzelte Erinnerungsorte miteinander verbindet, sondern wird als kartographische Fläche vorstellbar. Frank Lestringant sieht das chorographische Unternehmen als Gegenstück zur frühneuzeitlichen Kosmographie: Während die Kosmographie natürliche Grenzen manipuliert, und so die Welt für die Zukunft operationalisierbar macht, nimmt die Chorographie die Vergangenheit in den Blick, indem sie, dem hodologischen Raumbild der Antike folgend, Raum mithilfe eines parcours erschließt.36 Dennoch, so ist dem zu entgegnen, trägt die Genauigkeit und Vollständigkeit, mit welcher Caro den geographischen Raum erschließt, dazu bei, dass dieser als netzartige Fläche, als carte vorstellbar wird. Caro lässt in seiner Chorographie kaum einen der umliegenden Orte aus, wodurch sich das im Text konstituierte Raumnetz zusehends verdichtet. Der Raum ist nicht mehr nur eine Distanz von necessario desvrivir brevemente los terminos, que tuvo el Convento Iuridico, o Chancilleria de Sevilla en tiempo de los Romanos: para lo qual serà forçoso seguir los passos de Plinio; porque en el solo lo hallamos escrito con mucho cuydado: y si bien los lugares por donde hemos de discurrir, no tienen todos el nombre antiguo, y por esta parte puede ser incierta mi conjetura, dexare desde aora librado el desempeño desta duda en cada uno de los lugares, por donde Plinio discurre, el Lector podrà alli ver las razones, que mueven mi sentir.« (RC 87 r°) 35 | Vgl. Foucault (1966), 72-77. 36 | »[L]a chorographie […] enregistre de lieu en lieu les événements passés, constituant la carte régionale en un authentique ›art de la mémoire‹, au sens de l’Antiquité classique. La carte-paysage du topographe est le réceptacle bigarré et indéfiniment morcelé des légendes et des traditions locales, enracinées dans les aspérités du relief, dissimulées dans les replis du terrain, lisibles dans la toponymie et le folklore, alors que la carte réticulaire et géométrique du cosmographe anticipe les conquêtes et ›découvertes‹ de l’âge moderne.« Lestringant (1991), 14.

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A nach B, sondern erweitert sich zur étendue, um an die in der Einleitung erwähnte Diskursgeschichte des Raumes von Foucault37 anzuknüpfen. Dadurch wird der geographische Raum epistemologisch zwar zu einer abstrakten Konfiguration, die jedoch auf einen konkreten Raum verweist: Rodrigo Caro bewegt sich nicht durch einen allegorischen Raum, in den er unveränderliche Inhalte hineinliest, sondern durch einen materiellen Raum, aus dem er noch zu erschließende Inhalte herausliest. Diese Bewegung weg vom allegorischen hin zum konkreten Raum, so ist in Bezug auf die Kartographie bereits angeklungen, bereitet den Boden für eine Semantisierung der Zeit. Denn solange das Geschichtsbewusstsein in der Zyklizität eines überzeitlichen Raumes gefangen ist, kann es sich nicht zu einem linearen Zeitkonzept entfalten. Erst wo Zeit und Raum auseinander treten, wo die Zeit enträumlicht wird, kann der Raum verzeitlicht werden. Solange Zeit auf die différence festgelegt bleibt, kann keine altérité eintreten. Denn jedes Ereignis, das das Potential eines Metaereignisses in sich trägt, wird in einer Restitutionsbewegung gebannt werden. Indem sich jedoch das geschlossene, überzeitliche Raumbild auf konkrete historische Räume hin öffnet, kann sich auch die Geschichte, auf welche diese Räume verweisen, öffnen. Dem überwiegend chronologischen Vorgehen Espinosas, der topographisch-archäologischen Arbeitsweise Caros und der von Morgado gewählten Mischform schließt sich ein viertes Verfahren an, das Ortiz de Zúñiga in seinen 1667 erstmals veröffentlichten Anales de Sevilla anwendet. Das Werk, das den Abschluss der lokalhistoriographischen Blüte in Sevilla bildet und bis ins 18. Jahrhundert hinein weiter ergänzt wurde,38 vereint in eindrücklicher Ausführlichkeit eine Vielfalt von politischen, sozialen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Informationen. Mit den Annalen wählt Ortiz de Zúñiga zwar eine chronologische Form, die er jedoch reflektiert: Elegí escribir en método de Anales, por mas apto á ir entretexiendo las noticias Seglares con las Eclesiásticas, y que unas a otras se comprueben en recíproca correspondencia, afianzando la verdad cronológica, que en datos de instrumentos y privilegios busco siempre con particular atencion: y si los Anales, en sentir de los eruditos, deben tomar principio de alguna, y comprehender larga série de años, quál mutación mas notable para Sevilla, que quando en el triunfo de San Fernando vió quitado el yugo Agareno á su heroyca cerviz, y renació á empeño de christianas excelencias, que habiendo comenzado en su resolución a esta empresa en el año de 1246 por espacio de 425 hasta el de 1671, bien se obedece el precepto de proseguirse por muchos; y tiene ademas el realce de acabar tambien con suceso notable, qual es el culto del mismo glorioso Conquistador: con que no parece que pudo tener principio mas plausible, ni remate mas venerable. (OZ Prólogo) 37 | Foucault (1994), 753. 38 | Vgl. Sprenger (in Vorbereitung), 162.

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Die Verwendung der chronologischen Methode scheint nicht mehr selbstverständlich zu sein, sonst wäre eine Begründung derselben durch den Autor überflüssig. Im folgenden Abschnitt bemerkt Zúñiga, dass nicht jeder gerne Annalen lese, da sie das Finden gezielter Informationen erschweren würden. Hier wird deutlich, dass an die Geschichtsschreibung mehr und mehr ein enzyklopädischer Anspruch gestellt wird. Nicht mehr die Verkettung von Fakten mithilfe einer translatio steht im Vordergrund, sondern das Faktum selbst. Um auch enzyklopädische Interessen zu bedienen, hat der Autor Kataloge eingefügt, z.B. eine alphabetische Liste von in Sevilla gebürtigen Dichtern (OZ IV, 169-186). Auch wenn ein solcher enzyklopädischer Anspruch die chronologische Struktur relativiert, geht Ortiz de Zúñiga von einer »verdad cronológica« aus, einer Wahrheit, die in der authentischen Abfolge von Ereignissen liegt. Diese Abfolge ermögliche eine Gegenüberstellung von säkularer und kirchlicher Geschichte, die einander ergänzen. Die chronologische Struktur steht hier also weniger für eine Kettenbildung im Sinne der translatio, sondern vielmehr für einen Objektivitätsanspruch, dem Zúñiga durch das unhintergehbare Koordinationsprinzip einer inhaltlich entleerten Weltzeit (vgl. Kap. 1.3.2.2) gerecht werden will. Gerade die Chronologie, die bisher durch semantische Entzeitlichung die Darstellung einer ständigen Bestätigung des Gleichen ermöglichte, wird hier zum Symbol für historische Genauigkeit und Kohärenz. Doch noch einen weiteren Aspekt gilt es im obigen Zitat hervorzuheben. Ortiz de Zúñiga verzichtet darauf, Brüche in der Stadtgeschichte einem entzeitlichten Kontinuum mühsam einzuverleiben, indem er mit seiner Geschichte an gerade einem solchen Bruch ansetzt: Er begreift die Rückeroberung Sevillas durch San Fernando als eine Transformation (»notable mutación«), die auf dem Zeitstrahl eine Zäsur setzt und so einen semantisch neuen Zeitabschnitt einleitet. Damit umgeht er das Metaereignis, das dieser Zäsur vorangeht: Eine heilsgeschichtliche Deutung der Islamisierung Sevillas hätte sich mit der chronologischen Objektivität nur schwer vereinbaren lassen, denn letztere hätte nach einer ausführlichen und nicht nur exemplarischen Darstellung der Epoche maurischer Herrschaft verlangt. Damit markiert das Werk Zúñigas einen Endpunkt der Übergangsphase vom chronologischen zum topographischen Schreiben, indem es eine neue Phase der Chronologie unter veränderten Vorzeichen einläutet. Die kritische Perspektive, mit welcher der Autor die chronologische Anordnung seines Materials reflektiert, stellt im Vergleich zu den bisherigen Chroniken, etwa derjenigen von Espinosa de los Monteros, eine Neuerung dar. Bemerkenswert ist außerdem die Ausführlichkeit und wissenschaftliche Genauigkeit, mit der Ortiz de Zúñiga seinen Gegenstand bearbeitet. Er verzichtet lieber auf Zeiträume, deren Überlieferung widersprüchlich

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ist, als einfach die dominante Meinung wiederzugeben.39 Seine Anales umfassen fünf Bände und enthalten eine ausführliche Liste der berücksichtigten Archive und Manuskripte. Seinen Vorgängern wirft Ortiz de Zúñiga vor, zahlreiche schriftliche Quellen vernachlässigt zu haben (OZ Prólogo). Wo bei Espinosa de los Monteros das chronologische Vorgehen den Bedürfnissen eines heilsgeschichtlichen Konzeptes folgt, sieht Ortiz de Zúñiga gerade in einer chronologischen Anordnung des Materials die Möglichkeit, Kirchengeschichte und säkulare Geschichte miteinander in Einklang zu bringen. Sein primäres Anliegen ist nicht die Illustration einer ewigen Ordnung, vielmehr ist es ihm an historischen Details gelegen und daran, die ungenauen Recherchen seiner Vorgänger zu verfeinern, um eine möglichst korrekte Darstellung der neueren Stadtgeschichte zu erzielen: »afinar la verdad, que en muchas cosas, principalmente Eclesiásticas, estaba ofendida de confusion é incertidumbre« (OZ, Prologo). Damit zeichnet sich bei Ortiz de Zúñiga das Interesse am Faktum ab, das sich auch in der archäologischen Vorgehensweise Caros bemerkbar macht:40 Historiographische Forschung richtet sich nicht mehr primär auf das unbewegliche, sondern auf das bewegliche Element von Geschichte. Weitere auffällige Unterschiede, welche die berücksichtigten Stadtgeschichten erkennen lassen, bestehen in der Art und Weise, wie vergangenes Geschehen in Bezug zur Gegenwart gesetzt wird. Dabei wird deutlich, dass die translatio als Denk- und Legitimationsfigur in der frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung unterschiedliche Formen annimmt. Die Humanisten lehnen die mittelalterliche Kontinuität zwischen christlichem und antikem Rom ab. Diese kam in den mittelalterlichen Mirabilia zum Ausdruck, die das antike Rom im christlichen Rom zugleich aufgehoben und fortgesetzt sahen.41 Im Einklang mit der humanistischen Haltung untersucht Rodrigo Caro die antiken Überreste Sevillas weniger, um die Stadt als legitime Nachfolgerin Roms zu identifizieren, sondern vielmehr, um unter Rückgriff auf die Bedeutung Sevillas als Fürstentum (principado) und Metropole (metrópolis) in der Antike die gegenwärtige und künftige Größe der Stadt herauszustellen. Umgekehrt steht die gegenwärtige Größe für die Bedeutung, welche der Stadt in der Vergangenheit zugekom39 | Zunächst habe der Autor, wie auch seine Vorgänger, alle fünf Zeitalter berücksichtigen wollen (von der Gründung bis zur Übernahme durch die Römer, deren Herrschaft, die Herrschaft der Gothen, die Zeit der Unterdrückung durch die Mauren und schließlich den Zeitraum von der glorreichen Wiederherstellung bis zur Gegenwart), habe sich jedoch dann aufgrund der zahlreichen Widersprüche, welche die ersten vier Zeitalter umgeben (»especialmente en lo Eclesiástico«), dazu entschlossen, nur das fünfte Zeitalter zu behandeln. (OZ Prólogo) 40 | Ortiz de Zúñiga weist darauf hin, dass das Vorgehen Rodrigo Caros im Gegensatz zu seinem eigenen nicht der Recherche in Archiven bedurfte, womit er einen wesentlichen Unterschied zwischen der topographischen und der chronologischen Methode hervorhebt. (OZ Prólogo) 41 | Vgl. Vinken (2001), 1.

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men sein muss.42 Gegenwart und Vergangenheit verweisen reziprok aufeinander und machen so auch die Zukunft vorhersehbar. Einen anderen Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart stellt Espinosa de los Monteros her, wenn er in seinem einzigen topographisch organisierten Kapitel den Ursprung der gegenwärtigen Kathedrale auf einen römischen Tempel zurückführt. Dieser sei von den Vandalen zerstört worden, woraufhin aus seinen Trümmern das Fundament der Kathedrale gelegt worden sei (ES 24 r°). Damit bringt er die Niederlage des Heidentums in Sevilla zum Ausdruck, konstruiert jedoch zugleich eine translatio imperii. Sevilla setzt das niedergegangene Rom fort, allerdings unter christlichen Vorzeichen. Espinosa de los Monteros nimmt die Figur der translatio zwar auf, verleiht ihr jedoch eine typisch frühneuzeitliche Prägung: Sie übersetzt nicht mehr einfach alte in neue Identität, sondern erschafft Kultur erst, indem sie Unterschiede hervorhebt.43 Ausschlaggebend ist hier also nicht die Ähnlichkeit zum alten Rom, sondern die Differenz.44 Espinosa de los Monteros verbindet mit der translatio keine reine Machtübertragung, sondern vielmehr eine Umbesetzung. Sevilla übernimmt zwar den Machtanspruch Roms, wobei diese Machtübernahme jedoch in einen umfassenderen, heilsgeschichtlichen Kontext gestellt wird. So bezieht Espinosa de los Monteros etwa die Verheißung der Nachkommenschaft Abrahams auf die zahlreichen Taten der Heiligen Sevillas (EM Prólogo) und beansprucht so für seine Stadt die Position des auserwählten Volkes Gottes. Damit tut er es den mittelalterlichen Herrschern gleich, die den Ursprung ihrer Dynastien auf die alttestamentlichen Patriarchen zurückführten. An die Stelle einer politischen Kontinuität zwischen christlicher Gegenwart und antikem Rom tritt ein eschatologisches Kontinuum. Es geht weniger um die Weitergabe einer Herrschaft als vielmehr um eine Dominanz des katholischen Glaubens, die sich durch 42 | »De modo, que con evidencia concluimos, que tener principado una ciudad entre las demas, o llamarle cabeça, no es por juridicion contenciosa, ni imperio, ni dominio, que tenga, sino porque en ella concurren mas ventajas, y excelencias que en las demas de aquella desta Provincia, en la qual es tenida por la mas principal en lo comun estimacion de todos. Vltimamente digo: Que si alguna ciudad en España tuvo alguna jurisdicion sagrada, o profana en tiempos de los Romanos sobre todas las demas, fue Sevilla, a quien todas ellas, o respetaron, como a superior, o veneraron, como a cabeça Metropolis, y Deidad de toda ella: lo qual […] lo haremos manifiesto en este discurso. […] Materia se nos ofrece tan copiosa, que aviendose de descrivir esta gran ciudad, como oy la vemos, refiriendo en particular sus magnificos edificios, fuera necessario llenar un justo volumen.« (RC 46 v°) 43 | Vgl. Vinken (2001), 3-4. 44 | Dieses Hervortreten der Differenz lässt sich mit Foucault beschreiben als eine epistemische Verschiebung, bei welcher der bis ins 16. Jahrhundert vorherrschende Ähnlichkeitsgedanke zunehmend durch eine Ordnung der Unterscheidung ersetzt wird. Vgl. Foucault (1966), 64-72.

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alle Zeiten hindurch verfolgen lässt. Selbst Rodrigo Caro möchte auf ein solches Kontinuum nicht verzichten. Auch wenn dem Autor wenig über die Religion der ersten Bewohner Sevillas bekannt ist, geht er davon aus, dass diese als Nachkommen Tubals, einem Neffen Noahs, die Vorstellung eines richtenden Schöpfergottes bereits teilten und nach dessen Gesetz lebten (RC 7 r°). Die Verankerung der Stadt in der heroischen Legende lässt er gleichwertig neben der christlichen Ursprungstheorie stehen und vereint damit das scheinbar Unvereinbare. Diese doppelte genealogische Verankerung führt zu einer Pluralisierung der translatio, die mit nahezu beliebigen Inhalten besetzbar wird. So will Rodrigo Caro nicht zuletzt das zeitgenössische humanistische Bildungsideal in der Gründung der Stadt angelegt wissen: Bien se manifiesta en las palabras de Estrabon, el fundamento sobre que cargamos nuestro edificio, pues tener fama, y ser juzgados por los mas doctos, usar de gramatica, y de poesia, tener leyes escritas en metro de tiempo de seys mil años, no podia ser sino filosofia derivada por herencia de sus primeros pobladores, bisnietos de Noe. (RC 7 r°)

Das nicht mehr eindeutig verwendbare Prinzip der translatio imperii weicht einer translatio studii, die sich weniger auf den politischen Bereich als auf eine kulturelle Blüte bezieht. Allerdings muss dieses Kontinuum in einer säkularen Zeitrechnung verankert werden: Los seys mil años se han de entender de a quatro meses, conforme a la cuenta de los Arcades, que vienen a hazer dos mil años, con que se ajusta bien la cuenta del diluvio, hasta la de Augusto Cesar, en cuyo tiempo escribió Estrabon. (RC r°/v°)

Der vage, in archaischer Zeit liegende Ursprung, wird nicht nur durch die Autorität des griechischen Geographen Strabo untermauert, sondern durch eine objektiv nachvollziehbare Zeitrechnung rekonstruiert. Der Mythos legitimiert sich nicht mehr allein über das Autoritätsprinzip, sondern muss durch eine eindeutige Verortung in einer inhaltsleeren Weltzeit beglaubigt werden. Bei Ortiz de Zúñiga scheint die translatio als Denkfigur, die einen Bogen zwischen einem Ursprung in unvordenklicher Zeit und der Gegenwart spannt, schon allein deshalb in den Hintergrund zu treten, weil seine Stadtgeschichte erst im Spätmittelalter einsetzt. Im Einklang mit gelehrten Vorgaben beginnt seine Geschichte mit einer einschneidenden Veränderung, der Wiederherstellung des Christentums in Sevilla durch Fernando III, und endet mit der Heiligsprechung des Helden. Damit liegt auch seiner Geschichte ein Gründungsakt bzw. eine Neugründung zugrunde. Seine Anales schreiben sich in den Zyklus einer translatio ein, die seine Vorgänger dokumentiert haben und die von ihm fortgeschrieben wird. Keine exemplarische Geschichtsschreibung kommt ohne ein Grün-

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dungsmoment aus: Ob die Autoren den Ursprung des frühneuzeitlichen Sevillas in der griechischen (Herkules) oder der christlichen Mythologie (Tubal) oder in einer sowohl politischen als auch religiösen Reconquista (San Fernando) ansetzen – jedes inhaltliche Element muss sich in diesem Ursprung widerspiegeln können. Dies hat ein Ausblenden oder zumindest eine Reduktion historischer Inhalte zur Folge, die mit diesem Ursprung bzw. mit der Gegenwart nicht vereinbar sind. Auch Rodrigo Caro, so objektiv seine Geschichte auch erscheinen mag, widmet dem arabischen und jüdischen Erbe Sevillas lediglich einen kleinen Abschnitt, der sich überwiegend auf das Zitieren von Inschriften und handschriftlichen Quellen beschränkt, die jedoch weitgehend unausgewertet bleiben. Die systematische Anwendung einer archäologischen bzw. einer reflektierten chronologischen Methode zeugt zwar von einer Emanzipation der Historiographie von der Heilsgeschichte, doch tritt die Geschichtsschreibung nicht in offenen Widerspruch zu jener. Insgesamt bleibt jegliches historische Wissen auf einen Ursprung rückführbar, der bereits alles künftige Geschehen in sich birgt. Die topographische Methode leitet zwar eine Linearisierung der Geschichtsschreibung ein, löst sie jedoch noch nicht von der zyklischen Heilsbewegung. Geschichtliches Verstehen bleibt weiterhin »ein nachbildender[r], änigmatische[r] Zeitablauf, der – Vergangenheit und Zukunft umgreifend – das ›Werden‹ Gottes in kontingent-zeitlicher Erstreckung nachahmt.«45 Dennoch, so lautet die hier vorgeschlagene These, stellt die allegorische Entsemantisierung des Raumes einen ersten Schritt der Verzeitlichung von Geschichte dar. Die topographische Methode liest den Raum nicht auf überzeitliche Inhalte hin, die ihm von vorne herein eingeschrieben sind; sie sucht nicht nach Signifikanten für ein bereits vorhandenes Signifikat, sondern sie macht das historische Signifikat durch einen mühsamen Akt der Entzifferung erst ausfindig. Damit leiten Stadtchroniken wie die Antiguedades von Rodrigo Caro und teilweise auch die Historia de Sevilla von Alonso Morgado eine Semantisierung von Zeit ein, die von Ortiz de Zúñiga auf eine andere Art und Weise fortgeführt wird: indem nämlich die Zeit nicht mehr als selbstverständliches Strukturelement, sondern als selbst strukturierte, von Menschen gestaltete Größe verstanden wird. Die Argumentation dieses Kapitels sei hier abschließend noch einmal zusammengefasst (vgl. Tabelle 1): Ausgangspunkt bildete die Annahme, dass sich zeitliche Logiken vornehmlich im Raum manifestieren, weshalb sie stets durch eine räumliche Struktur beschreibbar sind. So lassen sich die im Mittelalter dominanten zeitlichen Logiken der Vererbung, der translatio und der Exemplarität, welche die herkömmliche Raum-Zeit verkörpern, als Spirale beschreiben, in der jede Schleife ein ewiges Gesetz illustriert. Auf diese Weise können Metaereignisse unterdrückt, und zeitliche altérité in räumliche différence übersetzt werden. Diese Vorstel45 | Otto (1984), 192. Zitiert nach Sprenger (in Vorbereitung), 149.

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lung geht mit einer Lesbarkeit der Welt einher, die einen überzeitlichen allegorischen Raum voraussetzt. In narrativen Konfigurationen bewirkt eine solche Semantik des Raumes eine Annullierung der Zeit, die zum reinen Strukturelement degradiert. In der Frühen Neuzeit findet eine zunehmende Verzeitlichung des Raumes und, damit verbunden, eine Semantisierung der Zeit statt, das heißt der Raum tritt in seiner konkreten Materialität in Widerspruch zur zyklischen Reproduktion einer ewigen Ordnung. In der Historiographie äußert sich diese Verzeitlichung im Aufbrechen chronologischer Erzählformen. Diese werden teilweise durch topographische Erzählverfahren ersetzt, in denen der konkrete geographische Raum zum einen als Strukturelement fungiert und zum anderen als Raum der Anschauung, der in seinem Beweischarakter die Zeugenschaft von Autoritäten ablöst. Damit erhält das Zeigen eine präzise kulturhistorische Funktion: Die topographische Methode schafft, wie bei Rodrigo Caro, einen Zwischenraum, in dem sich Historie neu anordnen und dadurch dynamisieren lässt. Die Auseinandersetzung mit dem konkreten Raum schärft ein Bewusstsein für die Vieldeutigkeit von Quellen und stellt so überlieferte Wahrheiten ansatzweise in Frage. Oder aber die chronologischen Erzählmuster werden, so bei Ortiz de Zúñiga, auf eine reflektierte Art und Weise eingesetzt, welche die Zeit nicht mehr auf räumliche différence reduziert. Vielmehr löst sich hier die Zeit vom Raum und wird zu einer inhaltsleeren Größe, die verschiedene Zeitreihen integrieren kann. Die untersuchten und die im folgenden noch zu untersuchenden Texte und nicht-textuellen Medien lassen in ihrem frühneuzeitlichen Übergangscharakter beides erkennen: Eine prästabilierte Raum-Zeit, die Ordnungsrelationen allegorisch im Raum verankert, aber auch Ansätze einer neuen, modernen Raum-Zeit, die als dynamisierte Größe nicht mehr in der Lage ist, auf eine konstante Ordnung zu verweisen und die der Ereignishaftigkeit der Welt Rechnung trägt. Alte Raum-Zeit Raum statisch allegorisch Zeit zyklisch entsemantisiert Raum und Zeit Ereignis différence Exemplarität Verräumlichung von Zeit Tabelle 1: Alte und neue Raum-Zeit

Neue Raum-Zeit dynamisch konkret linear semantisiert Metaereignis altérité Einmaligkeit Verzeitlichung von Raum

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2.2

D IE RELACIONES DE FIESTA UND DIE R AUM -Z EIT DER V ERWUNDERUNG

Chronologisches und topographisches Schreiben bilden in der Frühen Neuzeit zwei unterschiedliche Verfahren der literarischen Konfiguration von Wirklichkeit: Die topographische Schreibweise zeigt, indem sie Historie vorwiegend in einem Raum der Anschauung verankert; die chronologische Schreibweise erzählt vornehmlich, indem sie historisches Geschehen in einer zeitlichen Sequenz anordnet. Zeigen und Erzählen sind dabei nicht strikt voneinander zu trennen. Denn auch die topographische Methode erzählt, indem sie eine Fabel vermittelt, die in der Bewegung der translatio realisiert ist. Umgekehrt ist die temporale Einheit, welche das chronologische Erzählen bildet, auch räumlich vorstellbar als gleichzeitige Anordnung der Fakten in Form von semantisch deckungsgleichen Zeitintervallen. So bedienen sich auch die frühneuzeitlichen Festbeschreibungen, die sogenannten relaciones de fiesta, beider Konfigurationsmodi, wobei topographisches und chronologisches Verfahren hier je unterschiedliche Funktionen erfüllen. Es geht in diesen Beschreibungen nicht darum, größere Zeiträume zu erschließen, sondern ein einziges Ereignis möglichst eindrucksvoll wiederzugeben. Der Autor einer relación de fiesta hatte eine Unmenge an Daten zu verwalten: von der Dekoration (Wandbehänge, Stoffbahnen, Blumen, Duftelemente) und den ephemeren Gebilden (Altäre, Torbögen, carros, ephemere Landschaften) über die Vielzahl an performativen Elementen (Prozessionen, Maskeraden, Predigten, Theater, Tänze, Musik) bis hin zu literarischen und poetischen Elementen (lyrische Stücke, Embleme) sowie Anekdoten und historischen Informationen aus dem Leben des gefeierten Herrschers oder Heiligen. Darüber hinaus enthielten ausführlichere relaciones Briefe, Edikte, Beschreibungen der Stadt und ihrer Umgebung sowie Zeichnungen. Angesichts dieser Fülle musste sich der Autor einer relación de fiesta entscheiden, ob er möglichst viele Elemente mit aufnehmen wollte – dies konnte sich in einem Umfang von 300 bis 500 Seiten niederschlagen – oder aber, ob er einzelne Elemente auf Kosten anderer hervorhob. Dementsprechend waren diejenigen Festbeschreibungen, die den performativen Elementen Vorrang einräumten, eher chronologisch strukturiert, während diejenigen, welche die festliche Gestaltung des Raumes in den Blick nahmen, sich topographischer Verfahren bedienten.46 Insgesamt nimmt bei den barocken Festbeschreibungen das Zeigen einen hohen Stellenwert ein. Selbst wenn eine chronologische Darstellung der meist mehrtägigen Feierlichkeiten gewählt wird, ist diese häufig von synchronen Beschreibungen durchsetzt. Um dem Leser das Geschehen so vor Augen zu führen, als wäre er selbst anwesend, bedienen sich die relaciones de fiesta einer elaborierten Beschreibungstechnik, welche einer 46 | Vgl. Ledda (1996), 230-232.

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bildlichen Darstellung recht nahe kommt. Die Dichotomie von Sprache und Bild verschmilzt hier zu einer einzigen symbolischen Ordnung in Form einer sprachlichen Raumkunst. Dagegen überwiegen in Katastrophenberichten, so hat die Analyse zweier Berichte von der Überschwemmung des Guadalquivir im Jahr 1626 exemplarisch gezeigt (vgl. Kap. 1.1.3), narrative Verfahren. Beide Berichte ließen eindeutig eine Fabel erkennen, was gerade dadurch deutlich wurde, dass sie die gleiche story mit unterschiedlichen plots versahen. Vom jeweiligen Ende der Berichte aus konnte die Überschwemmung entweder als Desaster oder als Bewährungsprobe des städtischen Cabildo gedeutet werden. Die relaciones de fiesta teilen diese teleologische Struktur nicht, sondern sind episodisch aufgebaut: Sie erscheinen eher als Aufzählungen der festlichen Bestandteile, die bis ins Unendliche fortgesetzt werden könnten, denn als Erzählungen im Sinne von in sich geschlossenen temporalen Einheiten. Zwar sind auch sie teilweise chronologisch strukturiert, doch hat die chronologische Struktur hier lediglich die Funktion, verschiedenartigste Elemente mithilfe des Ordnungsprinzips der zeitlichen Abfolge zu koordinieren.47 Damit dient der chronologische Ablauf des Festes zwar als Fabel, die paradigmatische und syntagmatische Elemente verwaltet, doch erhält diese nicht die eindeutige Struktur einer literarischen Gattung, eine plot structure im Sinne Whites. Sowohl Katastrophen als auch die barocken Festinszenierungen stellen Abweichungen von der normalen Zeiterfahrung dar. Solche Abweichungen zwingen den Menschen als ereignishafte Geschehnisse dazu, eine deutende Stellung zur Zeit einzunehmen, die er als Wandel der ihn umgebenden Welt und seiner selbst erfährt. Zunächst wird das Ereignis ungedeutet etwa als unverhoffter, plötzlicher Einbruch wahrgenommen. Nach Michel de Certeau öffnet eine solche Abwesenheit von Sinn ein »Zeitloch« (trou de temps).48 Tritt Unverhofftes ein, so springt die Zeit aus dem Rahmen bestehender Deutungsmuster heraus. Jörn Rüsen spricht in diesem Fall von »kritischen Zeiterfahrungen« im Gegensatz zur »normalen Zeiterfahrung«.49 Die kritische Zeiterfahrung erfordert eine Synchronisationsleistung, denn sie bindet für einen gewissen Augenblick die Wahrnehmung. In der überraschenden Plötzlichkeit – so formuliert es Luhmann – »ist Zeit präsent in der Form ›und jetzt?‹, ›was nun?‹ […] Die Erfahrung ist zeitlich genau abgestimmt auf die Zeit, die man braucht, um damit zu beginnen, die Welt wieder in Ordnung zu bringen.«50

47 | So erklärt Jerónimo Martínez de la Vega in seiner Relación de la fiesta de S. Tomás de Villanueva (Valencia, 1620), dass es zu Langeweile führe, die Dinge gemäß ihrer organisatorischen Pole zu erzählen, weshalb er eine Darstellungsweise »›siguiendo el curso de los días‹« vorziehe. Zitiert nach Ledda (1996), 231. 48 | Certeau (1975), 221. 49 | Rüsen (2004), 366. 50 | Luhmann (2005), 98.

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Während der Mensch von der Katastrophe überwältigt wird und ihr weitgehend machtlos ausgeliefert ist, werden die Feste in den frühneuzeitlichen Städten vom Menschen selbst inszeniert. Lediglich der Festbesucher, der nicht an der Organisation und Ausführung beteiligt ist, wird von den festlichen Sinneseindrücken, ähnlich wie von einer Naturgewalt, übermannt: Er reagiert auf die sich ihm darbietenden Szenen mit Verwunderung. Allerdings handelt es sich bei dem dadurch entstehenden ›Zeitloch‹, im Gegensatz zur Fassungslosigkeit angesichts eines Unglücks, um eine positive Kontingenz. Diese soll nicht bewältigt, sondern, im Gegenteil, auf Dauer gestellt werden. Aufgabe des Textes ist daher nicht, Kontingenz zu bannen, sondern vielmehr die Kontingenz der feierlichen Momente wiederzugeben. Es geht demnach weniger darum, aus einer Fülle von Eindrücken auszuwählen und die selektierten Elemente in einem zeitlichen Nacheinander anzuordnen. Vielmehr geht es darum, die Fülle der gleichzeitig gewonnenen Eindrücke darzustellen. Wo in der medialen Verarbeitung von Katastrophen das Bedürfnis überwiegt, kontingente Fakten in eine zeitliche Ordnung zu überführen, versuchen die Festbeschreibungen, die kontingenten Eindrücke der Feierlichkeiten räumlich und so in ihrer überwältigenden Fülle darzustellen. Die minutiösen Beschreibungen der Festdekoration zeugen vom Bemühen um einen Realismuseffekt, der an die realistischen Beschreibungen des 19. Jahrhunderts erinnert. In seinem 1986 veröffentlichten Aufsatz »L’effet de Réel« lässt Roland Barthes den Leser über die Entstehung dieses Phänomens im Unklaren. Er verfolgt seine Spuren zwar bis in die alexandrinische Neorhetorik des 11. Jahrhunderts zurück, vollzieht jedoch dann einen direkten Sprung zu Flaubert. Er hebt Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Beschreibungskunst in beiden Epochen hervor, erwähnt jedoch nicht die Etappen, welche die Ekphrasis51 bei ihrer Ausformung zur Wirklichkeitsillusion durchlaufen hat.52 Auch in seinem ein Jahr zuvor erstmals erschienenen Aufsatz »Historie und ihr Diskurs«, in dem Barthes die Wirklichkeitsillusion durch Ausblendung des Bedeutungsprozesses als zentrales Verfahren der Geschichtsschreibung identifiziert (vgl. Kap. 1.1.3), finden sich keinerlei Angaben zur Entstehung eines solchen historiographischen Diskurses.53 Das vorliegende Kapitel möchte dazu beitragen, diese Lücke zumindest ansatzweise zu schließen und zeigen, dass das Verfahren eines effet de réel, wie Barthes ihn beschreibt, (unter anderem) in den frühneuzeitlichen Festbeschreibungen emergiert: Dort wird mithilfe einer ausladenden Detailfülle der Anschein einer unendlichen Beschreibbarkeit des Beobachteten und somit eine Deckung des Ausdrucks mit dem Referenten, der Darstellung mit der Realität erweckt.

51 | Zur Ekphrasis und ihrem Raum schaffenden Potential vgl. die kurzen Ausführungen in Kap. 1.3.1. 52 | Vgl. Barthes (1968a). 53 | Vgl. Barthes (1968b).

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Die hochgradig ausdifferenzierten Verfahren der Ekphrasis schaffen einen Raum der Anschauung, der in den relaciones de fiesta als Medium der Gleichzeitigkeit dient. Die Textanalysen dieses Kapitels, die exemplarisch an ausgewählten Festbeschreibungen durchgeführt werden, sind der Frage gewidmet, wie die relaciones de fiesta die Raumkunst der Beschreibung einsetzen, um einerseits räumliche Gleichzeitigkeit zu suggerieren und um andererseits die Einmaligkeit des festlichen Ereignisses mit einer ewigen Ordnung zu verbinden. Zunächst soll das Augenmerk jedoch auf das Medium der relaciones selbst gerichtet werden, da dieses den Aufschwung der Raumkunst in der Frühen Neuzeit wesentlich bedingt. Darüber hinaus haben die relaciones als Vorreiter einer periodischen Presse Auswirkungen auf die frühneuzeitliche Zeitkonzeption, die sich zunehmend nicht mehr an Zeitpunkten, sondern an Zeiträumen orientiert.

2.2.1

Die relaciones de fiesta in ihrem medialen Umfeld

Die beschreibende Raumkunst, wie sie in den frühneuzeitlichen Festberichten angewendet wird, kann als spezifische Ausprägung einer Kulturtechnik des Zeigens betrachtet werden. Sie versucht, indem sie dem Leser das dargestellte Objekt in seiner räumlichen Mehrdimensionalität vor Augen führt, sich über die Linearität der Sprache hinwegzusetzen und das Diskursive mit dem Ikonischen zu verbinden. Der Begriff der Kulturtechnik bietet hier den entscheidenden Vorteil, dass er die technisch-medialen Bedingungen des Erzählens und Zeigens stets mit berücksichtigt. Dies wird vor allem dann relevant, wenn in einem spezifisch historischen Kommunikationsgefüge einschneidende Veränderungen stattfinden. Die Institutionalisierung des Buchdrucks führt nicht nur zu einem neuen Verständnis von Text und Lektüre, sondern bringt neue Formen des Erzählens und Zeigens hervor, die durch die erhöhte Verbreitungsgeschwindigkeit von Texten erst ermöglicht werden. Zu diesen neuen medialen Ausprägungen gehören im frühneuzeitlichen Spanien die sogenannten relaciones de sucesos. Sie entstehen zeitgleich mit den gedruckten Chroniken in der Zeit, in der die Druckerpresse, wie sie gegen Mitte des 15. Jahrhunderts durch Gutenberg perfektioniert wurde, einen europaweiten Aufschwung erlebte.54 Die relaciones können als Vorläufer einer periodischen Publizistik betrachtet werden. Bis ins 17. Jahrhundert erschienen sie sporadisch, fixiert auf bestimmte Arten von Ereignissen wie militärische Erfolge, Ereignisse in der Königsfamilie, religiöse Anlässe, Hinrichtungen und Katastrophen. Die ersten gedruckten relaciones wurden in Form von Flugblättern publiziert, die sich auf vier bis neun Seiten beschränkten. Sie kamen dem Bedürfnis eines Publikums nach, das nach immer komplexeren Themen aus

54 | Vgl. Sáiz (1996), 23.

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dem wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bereich verlangte.55 Die relaciones waren Erzeugnisse einer »prensa popular«, das heißt sie hatten ihren Ursprung in der traditionellen Literatur und im Romancero. Davon zeugen eine elaborierte Erzähl- bzw. Beschreibungstechnik, in einigen Fällen ihre Versform sowie vor allem ihr moralischer Anspruch, der sie die häufig wenig poetischen Fakten, von denen sie berichten, in fiktionalen und mythischen Archetypen wiedergeben ließ.56 Kennzeichnend ist hierbei, dass die relaciones keine eigenständige Gattung bildeten, sondern sich verschiedener Merkmale bestehender Gattungen bedienten, die sie variierten und um neue darstellerische Verfahren wie die Raumkunst erweiterten. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht weisen die relaciones typische Züge eines Schwellenmediums auf. In Sevilla setzte der Druck von relaciones gegen Ende des 16. Jahrhunderts ein und entwickelte sich, nach einigen Unregelmäßigkeiten während des ersten Jahrzehnts nach der Jahrhundertwende, zu einer Institution.57 Innerhalb dieses Zeitraums war Sevilla in Spanien das aktivste Zentrum, was die Veröffentlichung von relaciones anbelangte. Neben den vom Hof veröffentlichten Berichten erreichten Sevilla die in Italien und Flandern gedruckten relaciones, die von andalusischen Herausgebern teilweise neu aufgelegt wurden.58 In der Stadt wurden jährlich erscheinende Sammlungen sogenannter avisos publiziert, die von internationalen und nationalen Ereignissen berichteten.59 Auch im 17. Jahrhundert setzte Sevilla seine hohe publizistische Aktivität fort. Ab 1615 spezialisierten sich einige Drucker in Sevilla auf diese Kurzformen, die bei relativ geringem Kostenaufwand breiten Absatz fanden. Anlass dafür bot eine gesteigerte Nachfrage angesichts der Hochzeit des Thronfolgers Philipp mit Isabel de Borbón, die in Sevilla gefeiert wurde. Das Interesse an den königlichen Feierlichkeiten wurde begleitet durch die Ausbreitung eines internationalen Marktes, der die Wissbegierigkeit angesichts politischer und kultureller Ereignisse nutzte, um Information zu dosieren und sie in Druckserien zu 55 | Vgl. ebd., 32-33. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts lösten der Abschluss der Reconquista mit der Rückeroberung Granadas und die Entdeckung der Neuen Welt einen Schub gedruckter Nachrichten aus. Es handelte sich um kurze Berichte über den Fortgang des Krieges, die der König an die wichtigsten Städte schickte und die zum Verlesen vor den Ratsherren der Stadt und schließlich vor der gesamten Bürgerschaft bestimmt waren. Darüber hinaus wurden Berichte von der königlichen Kanzlei aus an einen ausgewählten Kreis von adligen Empfängern versandt. Die Guerra de Granada kann daher als erstes politisches Ereignis betrachtet werden, das von einem öffentlichen Medienaustausch begleitet wurde. Vgl. Cátedra (1996). Zum europäischen Kontext der Flugblätter vgl. Harms (2008). 56 | Vgl. Campo (1996), 29. 57 | Vgl. García Bernal (2006b), 73. 58 | Vgl. ebd., 70. 59 | Vgl. Sáiz (1996), 35.

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veröffentlichen, die – wenn auch noch in unregelmäßigem Rhythmus erscheinend – die Mechanik einer periodischen Publizistik antizipierten.60 Vor allem aufgrund des regen Austauschs mit der Neuen Welt waren in Sevilla immer mehr Menschen auf schnelle Information angewiesen. Als Dreh- und Angelpunkt des internationalen Handels war die Stadt ein Umschlagplatz von Nachrichten, an dem sich Informationshungrige aus ganz Spanien trafen, um Neuigkeiten zu erhaschen und auszutauschen. Im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts erschien in Sevilla wöchentlich eine Zeitung – die wohl erste periodische Zeitung in Spanien.61 Die relaciones des 17. Jahrhunderts stehen in engem Zusammenhang mit dem demographischen, politischen und ökonomischen Verfall der spanischen Nation, der um die Jahrhundertwende einsetzte.62 Die innenund außenpolitischen Schwierigkeiten mit ihren sich überstürzenden Ereignissen bildeten den Kontext, in dem die Nachfrage nach regelmäßigen Informationen zunehmend stieg. Gegen Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden die ersten gacetas, die einen steten Zugang zu den gewünschten Informationen gewährleisteten. Sie unterschieden sich von den relaciones durch ihr periodisches Erscheinen, eine Erweiterung der berücksichtigten Themen sowie durch ihr klares Ziel einer großflächigen Verbreitung von Nachrichten. Je mehr sich das Erscheinen von relaciones im Wechselspiel von Angebot und Nachfrage verdichtete, umso mehr setzte sich auch ein neues Zeitbewusstsein durch. Nicht mehr das Ereignis bestimmte das Erscheinen eines Berichtes, sondern die Forderung nach Berichterstattung schuf sich mediale Ereignisse. Wo eine punktuelle Publikation von Nachrichten den Verlauf der Zeit als diskontinuierlich erscheinen ließ, entstand mit der zunehmenden Publikationsfülle das Bewusstsein einer linearen, inhaltlich leeren Zeit. Je häufiger und regelmäßiger über Geschehen berichtet wurde, desto mehr verdichteten sich die lose im ZeitRaum gestreuten Ereignisse zu einer zeitlichen carte, die aufgrund ihrer Abstraktheit Orientierung in einem zunehmend komplexen Zeit-Raum ermöglichte (vgl. Kap. 1.3.2.2). 60 | Vgl. García Bernal (2006b), 73. 61 | Vgl. Sáiz (1996), 43. Sáiz führt als exemplarischen Titel dieser frühen Zeitung an: Avisos de Italia, Flandes, Roma, Portugal y otras partes desde 28 de julio hasta 3 de agosto, deste año de 1625. Dase cuenta de como en el Palacio de Londres dixo missa de pontificial el obispo que acompañó a la Reyna hermana del Rey de Francia, a cuyo acto asistieron y comulgaron más de 600 católicos. Lunes 28 de julio. Sevilla, por Francisco de Lyra, 1625. Erst im Laufe des 17. Jahrhunderts übernahm Madrid, das bisher erstaunlich wenige Nachrichtendrukke hervorgebracht hatte, eine protagonistische Rolle innerhalb des nationalen Informationssystems. Dies war wiederum hauptsächlich einem zugereisten Sevillaner, Almansa de Mendoza, zu verdanken, der das komplexe Leben am Hof, von dem er nach Sevilla regelmäßig Bericht erstattete, treffend zu beschreiben wusste. Vgl. Sáiz (1996), 39. 62 | Vgl. ebd., 36-37.

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Die gedruckten relaciones, die im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts erscheinen, lassen sich zunächst in Berichte von überwiegend weltlichen und überwiegend religiösen Anlässen einteilen. Erstere konzentrieren sich auf die Königsfamilie, vor allem auf Herrschereinzüge, außenpolitische Ereignisse sowie auf Katastrophen und seltsame Vorfälle. Im religiösen Bereich dominiert die Dokumentation von Selig- und Heiligsprechungen, Prozessionen, öffentlichen Hinrichtungen und Wundern. Ein beträchtlicher Anteil kommt den relaciones de fiesta zu, auf die sich das Augenmerk dieser Analyse richtet. Sie umfassen sowohl politische als auch religiöse Feierlichkeiten, wobei die öffentlichen Feste unter der Habsburgermonarchie stets beides zugleich waren.63 Bei den frühen Festbeschreibungen, die in Sevilla zirkulierten, handelt es sich um die sogenannten relaciones góticas, die von den Triumphen Karls V. in Nordafrika berichteten.64 In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war es, neben der Heirat des künftigen Philipp IV. mit Isabel de Borbón, die theologische Diskussion um das Dogma der unbefleckten Empfängnis, die in Sevilla zwischen 1616 und 1618 einen weiteren Schub gedruckter Nachrichten auslöste. Das gesteigerte Interesse an der lokalen Fest- und Prozessionskultur, die sich zur Unterstützung der umstrittenen Lehrmeinung herausgebildet hatte, führte zu einer narzisstischen Rhetorik, die sich in zahlreichen Festberichten niederschlug. Mit einem Dekret von Papst Gregor XV., das jegliche häretischen Meinungen zum Schweigen brachte, brach die theologische Diskussion 1622 zumindest an der Oberfläche ab, und mit ihr die Notwendigkeit, das Dogma durch Feierlichkeiten zu verteidigen.65 In den folgenden Jahren beschäftigten andere religiöse Angelegenheiten das Publikationswesen in Sevilla, wie etwa die Kanonisierungen des Karmeliters Andrés Corfino und des Jesuiten Ignacio de Loyola, dessen Seligsprechung 1610 bereits von einem hohen medialen Interesse begleitet worden war. Als Träger ideologischer Botschaften prägten die relaciones eine entstehende öffentliche Meinung und wurden so zu einem starken Träger kultureller Vermittlung.66 Als solches stützten sie nicht zuletzt auch die Katholische Reform, deren Propaganda sich zu einem großen Teil den festlichen Inszenierungen, vor allem aber deren nachträglicher Beschreibung und Interpretation durch die relaciones de fiesta verdankte. Die re63 | Vgl. García Bernal (2006a), 186. Jaime García Bernal nimmt in seiner ausführlichen Studie zur frühneuzeitlichen Festkultur in Spanien eine Typologisierung des Spektakels vor, wobei er königlichen und sakralen Festen besondere Aufmerksamkeit widmet. Vgl. ebd., 185-305. Die Überschneidung der religiösen mit der weltlichen Sphäre, welche das Konzil von Trient genauso aufheben wollte wie der Protestantismus, gilt als typisches Charakteristikum der mediterranen Länder, genauso wie Heiligsprechungsfeste. Vgl. Hersche (2006), 116 u. 587-600. 64 | Vgl. García Bernal (2006b), 70. 65 | Vgl. ebd., 75-81. 66 | Redondo (1989), 58.

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laciones ermöglichten einem wissbegierigen städtischen Bürgertum, das politische und religiöse Geschehen zu verfolgen und sich aktiv damit auseinanderzusetzen, und schulten dadurch eine öffentliche Meinungsbildung. Dabei konditionierten sie die zeitliche Wahrnehmung. Walter Hömberg beschreibt Massenmedien als »soziale Zeitgeber«: Sie synchronisieren individuelle Wahrnehmungen von Zeit und tragen so wesentlich zur Ausbildung einer objektiven Weltzeit bei, die sich nicht länger auf die Datierung von Ereignissen innerhalb des eigenen Systems beschränkt. Die Flugschriften der beginnenden Neuzeit zeugen in ihrem sporadischen Erscheinungsrhythmus noch von einem »occasionalen« Zeitbewusstsein, das sich weniger an Zeiträumen als an Zeitpunkten orientiert. Je kürzer und regelmäßiger die Abstände werden, in denen die gedruckten Berichte erscheinen, desto mehr macht sich die Ausrichtung an einer linearen Weltzeit bemerkbar. Das »Zeitpunkt-Medium« entwickelt sich zum »Zeitraum-Medium«.67 Damit einhergehend steigern die relaciones die Fähigkeit zur zeitlichen Selbstbeobachtung. Sie lassen die Vielfalt der gleichzeitig ablaufenden Kommunikationen und Handlungen deutlich werden und dadurch die Notwendigkeit einer inhaltlich leeren Zeitordnung, welche diese Vielfalt umfassen könnte. Die Zeit kann nicht länger mit wiederkehrendem oder punktuellem Geschehen gleichgesetzt werden, das sich in der Zeit ereignet (physikalische Bewegung, festliche, liturgische und agrarische Zyklen, historische Ereignisse), sondern muss in Form einer objektiv messbaren Weltzeit zur Verfügung stehen. In den relaciones de fiesta findet eine Einordnung punktueller Ereignisse in diese lineare Weltzeit über mehr oder weniger präzise Zeitangaben statt. Während sich einige relaciones darauf beschränken, das Jahr und allenfalls den Monat des Drucks anzugeben, werden in anderen Berichten konkrete Daten und Uhrzeiten genannt. Letzteres ist vor allem dort der Fall, wo es weniger um eine möglichst detaillierte Beschreibung des Festapparates, sondern eher um eine protokollarische Erfassung des zeitlichen Ablaufes geht. Die relaciones de fiesta bewegen sich daher zwischen zeitlicher Objektivität und der (kollektiven) Subjektivität einer Selbststilisierung durch die Auftraggeber. Neben der Funktion der relaciones als Zeitgeber, die »Zeit als Medienprozess«68 erscheinen lassen, erzeugen die gedruckten Berichte eigene »Medien-Zeiten«, das heißt eine Zeitlichkeit, die Medien aufgrund ihrer je eigenen Realität entfalten. Die Medien-Zeit der relaciones besteht in der sinnlichen Vergegenwärtigung von Vergangenem. Es gilt, die Distanz zwischen dem vergangenen Zeitpunkt des Ereignisses und der Gegenwart des Lesers zu überbrücken. Dies geschieht mithilfe ekphrastischer Mittel, die im Wesentlichen darauf abzielen, den besprochenen Zeitpunkt des Festes, den Zeitpunkt seiner Verschriftlichung und den Zeitpunkt 67 | Vgl. Hömberg (1992), 90-91. 68 | Vgl. zur hier entfalteten Trias von »Zeit als Medienprozess«, »Medien-Zeiten« und deren kulturellen Funktionen Faulstich & Steininger (2002).

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der Lektüre zusammenfallen und die chronologische Abfolge dieser Zeitpunkte in einer unendlichen Gegenwart aufgehen zu lassen. Der Leser soll den Augenblick der Verwunderung, welche den Betrachter angesichts des Erlebten übermannt und die Zeit für einen Moment stillstehen lässt, nachempfinden und so den Eindruck gewinnen, dem festlichen Ereignis selbst beizuwohnen. Auf diese spezifische Medien-Zeit der relaciones wird im Rahmen der Textanalysen noch einmal ausführlich zurückzukommen sein. Medien-Zeiten erfüllen stets eine kulturelle Funktion. Diese besteht bei den relaciones de fiesta darin, den Eindruck des festlichen Ereignisses über den tatsächlichen Festakt hinaus weiter wirken zu lassen, um so seine ideologische Wirkung zu vergrößern bzw. zu verlängern. José García Bernal hat am Beispiel des Festzyklusՙ der unbefleckten Empfängnis nachgewiesen, dass der Festakt mithilfe der relaciones auch über seinen ersten »impacto mediático«, das heißt über die Zirkulation seiner relación während einiger Jahre nach dem Ereignis hinaus, Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlässt. Es war unter den Chronisten der Zeit üblich, solche Drucke, gerade diejenigen von Festberichten, in originaler oder modifizierter Form in ihre Chroniken, Annalen, Chorographien und Klostergeschichten aufzunehmen.69 So machte sich die Generation von Historiographen, die auf die mediale Auseinandersetzung um das Dogma der unbefleckten Empfängnis folgte, daran, die zahllosen Einzelberichte um die Feierlichkeiten der Inmaculada Concepción zusammenzufassen und die Ereignisse in eine logische Reihenfolge zu bringen. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist die bereits untersuchte von Pablo Espinosa de los Monteros verfasste Historia de Sevilla. Wenn sich das Werk in Hinblick auf die historiographische Modellierung von Zeit und Raum auch als wenig innovativ erwiesen hat (vgl. Kap. 2.1.3), so leistet es doch einen beträchtlichen Beitrag zum religiös-festlichen Gedächtnis der Stadt Sevilla, ohne jedoch traditionellerweise auf die Antigüedades zu verzichten.70 Sevilla empieza a superar, así [so bewertet García Bernal das Werk] el modelo humanista que había superado en las historias de Luis de Peraza, Alonso de Morgado, y Francisco de Collado, todas ellas escritas en el siglo XVI, que la hacían digna heredera de los héroes de la antigüedad, y asume una nueva genealogía cuyos antecedentes se encuentran en la historia y en la geografía sagrada.71

Espinosa de los Monteros macht sich weniger auf die Suche nach visuellen Spuren einer weit zurück liegenden Vergangenheit im Raum, sondern verarbeitet stattdessen vorperiodische Drucke einer jüngeren Ver69 | Vgl. García Bernal (2006b), 69-70. 70 | Vgl. ebd., 81. 71 | Ebd., 82.

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gangenheit. Damit leistet er das, was die relaciones aufgrund ihrer kurzen Wirkungsdauer selbst nicht leisten können: Er lässt das festliche Ereignis in das kulturelle Gedächtnis der Stadt eingehen, indem er es in größere narrative Zusammenhänge einordnet. relaciones und Stadtchronik erfüllen also mit ihrer je spezifischen Medien-Zeit unterschiedliche Funktionen: Die Chronik erzählt, indem sie aus einer Fülle von Ereignissen einzelne Elemente selektiert und diese zu einem zeitlichen Kontinuum zusammenfügt. Die relación hingegen zeigt, indem sie die Eindrücke des Ereignisses in ihrer Gleichzeitigkeit räumlich darzustellen sucht und Kontingenz bewusst aufrechterhält. Sie erzeugt nicht narrative Linearität, sondern zeigende Mehrdimensionalität; nicht syntagmatische Kontinuität, sondern paradigmatische Kontingenz, die sich allerdings in die Zeitreihen übergeordneter Narrative einfügen lässt. Dieser Chronotopos der relación, der hier als Raum-Zeit der Verwunderung bezeichnet wird, soll nun anhand konkreter Textanalysen näher in den Blick genommen werden. Dabei konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf die ausgewählten Beschreibungen dreier Feste: der Feierlichkeiten anlässlich der Seligsprechung des Jesuiten Ignacio de Loyola 1610,72 des Einzugs Philipps IV. in Sevilla im Rahmen seines Andalusien-Feldzuges 162473 sowie der Kanonisierungsfeier für den Karmeliter und Bischof Andrés Corfino 162974 . Die Berichte sind zwischen 13 und 31 folia lang, womit sie in ihrer Länge über den verbreiteten vierseitigen Kurzberichten und zugleich unter dem bebilderten 200-seitigen Bericht liegen, den Juan de Mal Lara 1570 anlässlich des Einzugs Philipps II. in Sevilla verfasst hatte.75 Sie bedienen sich sowohl topographisch-zeigender als auch chronologisch-narrativer Verfahren, wobei die gleichzeitige Fülle dessen, was sich dem Betrachter darbietet, stets den Ausgangspunkt bildet.

72 | Luque Fajardo, Francisco de (1610): Relacion de la fiesta que se hizo en Sevilla a la beatificacion del Glorioso San Ignacio Fundador de la Compañia de Iesus. A Don Sancho Dauila y Toledo, Obispo de Jaen del Consejo de su Magestad. Etc., Sevilla: Casa de Luis Estupiñan. Im Folgenden abgekürzt mit BI. 73 | León y Arce, Francisco de (1624): La perla en el nueuo mapa mundi hispanico, al medio dia de Seuilla y costas. Iornada Real de su Magestad. Primera parte: con la pintura de los Orizontes, jamas visto. Madrid: Iuan Gonçalez. Im Folgenden abgkürzt mit PMM. 74 | Anonym (1629): Relacion de la grandiosa celebridad con octava, y solemnisima procesion, que hizo el insigne Convento de N. Señora del Carmen de Sevilla a la Canonizacion de S. Andres Corfino Confessor del mismo orden, y Obispo de Fièsoli. Sevilla: Luis Estupiñan. Im Folgenden abgekürzt mit CAC. 75 | Mal Lara, Juan de (1570): Recibimiento que hizo la muy noble y muy leal Ciudad de Seuilla, a la C. R. M. del Rey D. Philipe N. S. Va todo Figurado. Con una breue descripcion de la Ciudad y su tierra. Sevilla: Casa de Alonso Escribano.

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2.2.2

Die Raum-Zeit der Ver wunderung

Im Zuge der nachtridentinischen Bestrebungen, Spanien zu politischer und religiöser Einheit zu führen, bildet sich unter Philipp II. eine barocke Festkultur aus, deren Hauptmerkmal eine auf den Augenblick gerichtete Prachtentfaltung und prunkvolle Verausgabung ist. Die Stadt verwandelt sich bei solchen Anlässen in einen utopischen Raum, der die Miseren eines vom wirtschaftlichen Verfall bedrohten Landes vorübergehend vergessen lässt. Gerade die Vergänglichkeit der feierlichen Elemente macht das Fest zum Ereignis: Umzüge, aufwändige Kostüme, ephemere Wagenbauten und Triumphbögen, Feuerwerke und dergleichen verherrlichen das Hier und Jetzt.76 In dieser Dramatik des Ausdrucks äußert sich das Bewusstsein der zerstörerischen Wirkung der Zeit auf das Werk des Menschen, das als barockes Moment schlechthin gelten kann.77 Der Sinn für das Extreme, das Maßlose, das den Rezipienten zu erschüttern vermag, steht in Spanien im Zeichen einer »Theatralisierung der Welt«, einer kollektiven Evasion angesichts des Verfalls der spanischen Nation.78 Er antwortet auf ein Bewusstsein des historischen Wandels, der den Wunsch hervorruft, den Verlust zeitlicher Kontrolle durch die Kontrolle einer zeremoniellen Zeit zu kompensieren. Die Apotheose des gegenwärtigen Moments steht gerade im Zeichen eines Bestrebens, eine im Verfall begriffene politische und religiöse Ordnung als überzeitlich zu proklamieren.79 Somit ist die Glorifizierung von Herrschern und Heiligen durch rauschende Feste und deren nachträgliche Beschreibung in den relaciones de fiesta nichts anderes als die Kehrseite einer faktischen Dekadenz- und Kontingenzerfahrung. Diese Erfahrung von negativer Kontingenz wird aufgegriffen und in eine positive Kontingenz des Staunens verwandelt. Die Verwunderung dient als Scharnier zwischen dem erfahrenen zeitlichen Wandel und einer übernatürlichen Realität: Indem sie die Zeit für einen Augenblick still stehen lässt, verweist sie auf die Ewigkeit und ordnet dieser den gegenwärtigen Moment unter.80 Der festliche Raum des Barocks ist ein Raum der Verwunderung. Anders als etwa im Falle der archäologischen Vergangenheitsforschung Rodrigo Caros (vgl. Kap. 2.1.3) geht es hier nicht um ein wissenschaftliches, genaues Sehen, sondern um staunendes Sehen. Die barocken Festinszenierungen setzen auf die psychologische Wirkung der »suspensión«: Ihre Effekte heben die alltäglichen Reaktionen des Rezipienten kurzfris76 | Im Vergleich zum Katholizimus in den übrigen europäischen Ländern legte das südliche Europa besonders großen Wert auf solche äußeren Praktiken, die Ausdruck einer überwiegend sinnlichen und wenig wortgebundenen Frömmigkeit sind. Vgl. Hersche (2006), 116. 77 | Vgl. Maravall (1990), 427-428. 78 | Vgl. Gumbrecht (1990). 79 | Vgl. García Bernal (2006a), 35-36. 80 | Vgl. ebd., 28.

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tig auf, entweder um ein bestimmtes Gefühl auszublenden oder um anschließend eine umso heftigere Reaktion hervorzurufen. Eine Manifestation dieser Unterbrechung ist die Verwunderung. Diese bildet, anders als im 16. Jahrhundert, nicht mehr den Ausgangspunkt für Erkenntnis oder einen Zugang zum Wissen (vgl. Kap. 3.2), sondern hält vielmehr die Kräfte der Bewunderung bzw. der Kontemplation für einen Augenblick zurück, um sie sodann umso stärker hervortreten und damit wirken zu lassen.81 Was den Betrachter besonders in Staunen versetzt, ist der verschwenderische Reichtum, der in die Inszenierung der Feste fließt. Zu den großen Leidenschaften des barocken Spanien gehören Schmuck und Silber sowie prächtige Kleider. Eine Lektüre der relaciones de fiesta zeigt, dass jeder Anlass, ob politischer oder religiöser Art, Gelegenheit für die Zurschaustellung von Reichtum dienen konnte. Zwar sollte ein Verbot der Ostentation von Prunk zu deren Eingrenzung führen, doch wurde diese Regel bei bestimmten Veranstaltungen aufgehoben, was Gelegenheit zu umso ausladenderer Zurschaustellung gab.82 Den Höhepunkt und Abschluss der Kanonisierungsfeier von Andrés Corfino bildet eine feierliche Prozession, bei der verschiedene prunkvoll ausgestattete Heiligenbilder, allen voran ein Marienbildnis, durch üppig geschmückte Straßen getragen werden. Y hase de supponer que eran todos los cuerpos de los santos de la comun estatura de un hombre; porque el Letor [sic!] no dude de la capacidad, donde entraron tantas riquezas. Por lo dicho puede regular el aderezo de los demas santos, porque para pintar a cada uno en particular, no son bastãtes otras dos relaciones como esta. Solo digo que fueron un assombro de los ojos humanos, y basta saber que tendrian de importancia las joias que sacaron mas de dos millones. (CAC 12 r°/v°)

Nicht nur die Lebensgröße der Bildnisse beeindruckt, sondern vor allem ihre materielle Ausstattung. Bemerkenswert ist hier die Erwähnung des menschlichen Auges als Organ der Verwunderung (»assombro de los ojos humanos«). Die explizite Anspielung auf das körperliche Sehen ist in den relaciones de fiesta ein Gemeinplatz, der auf zweierlei verweist: einerseits auf die körperliche Anwesenheit des Betrachters, der zum Augenzeugen eines einmaligen Spektakels wird, und andererseits auf das Staunen erregende Moment der festlichen Inszenierung. Vor allem das einfache Volk soll vom Anblick des unermesslichen Reichtums beeindruckt werden: Y entre tan hermosa variedad, lo que mas descollaua, (llevãdose los ojos de todos) eran las ocho hastas de plata, de altura, de casi tres varas cada una, 81 | Vgl. Maravall (1990), 437-438. 82 | Vgl. Aguiló Alonso (1994), 297. Zur »Philosophie der Verschwendung«, vor allem im Barock des Mittelmeerraums, vgl. Hersche (2006), 528-600, hier 529.

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R AUM -Z EITEN de las quales repartidas: a trechos, en lo largo del acompañamiento, y passeo, lleuauan pendientes, otros tantos muy bizarros carteles, o certamenes de Iusta Literaria […]: causando nouedad, y admiracion, en especial a la gente comun, que ignoraua el estilo: y a los mas entendidos singular satisfacion. (BI 2 r°/v°)

Die mit Versen beschriebenen Plakate, die an silbernen Lanzen in der Prozession mitgeführt werden, stechen besonders aus dem imposanten Zug hervor. Während der gebildete Betrachter die Schriftstücke zu lesen weiß, kann der gemeine Zuschauer, der den Stil nicht identifizieren kann, nur mit Verwunderung reagieren. Und es bleibt beim Staunen. Denn aufgrund des fehlenden Urteilsvermögens kann die Verwunderung nicht im Sinne einer gelehrten curiositas zur Quelle von Erkenntnis werden. Das ›Zeitloch‹, das der außergewöhnliche Anblick im ungebildeten Betrachter auslöst, bleibt bestehen; er gewinnt den Eindruck göttlicher Zeitlosigkeit. An diesem Punkt sieht sich die Festbeschreibung vor eine entscheidende Herausforderung gestellt. Wie kann der Augenblick der Verwunderung in seiner Zeitlosigkeit schriftlich festgehalten werden? Und wie kann die Vielfalt (»hermosa variedad«) der Eindrücke im Text wiedergegeben werden, das heißt, wie kann die Gleichzeitigkeit der gewonnenen Eindrücke in die sequentielle Anordnung von Schriftzeichen übersetzt werden? Genau dieses Problem spricht der anonyme Autor des zuvor zitierten Abschnitts an, wenn er feststellt, dass die kunstvolle Ausstattung der einzelnen Heiligenbildnisse die Kapazitäten des Textes sprenge: »para pintar a cada uno en particular, no son bastãtes otras dos relaciones como esta.« (CAC 12 r°) Indem der Autor den Begriff »pintar«, der dem Ikonischen entliehen ist, auf das diskursive Verfahren der Beschreibung anwendet, benennt er zugleich dessen Funktion, nämlich mithilfe des diachronen Mediums der Sprache in der Vorstellung des Betrachters ein synchrones Bild zu erzeugen. Hierfür wäre eine sich ins Unendliche steigernde Auflistung von Details nötig, welche die Kapazität des Textes übersteigen würde. Die Unmöglichkeit, die Fülle der Einzelheiten in ihrer räumlichen Gleichzeitigkeit schriftlich darzustellen, steht im scheinbaren Widerspruch zur Funktion der relación de fiesta, die im Genehmigungsschreiben zu demselben Bericht folgendermaßen definiert wird: »para que los que presencialmente no gozaron de fiesta tan grandiosa gozen alomenos de una estampa, que tan al vivo, y con tantos primores le representa« (CAC, Aprovacion). Hier kommt zunächst eine zentrale Eigenschaft des neuen Mediums zum Ausdruck: Der geschriebene Text ist nicht mehr einem kleinen privilegierten Kreis von Lesern vorbehalten, sondern richtet sich potentiell an all diejenigen, die das Fest aus welchen Gründen auch immer nicht miterleben konnten. Die Abwesenheit des Rezipienten soll durch die möglichst lebhafte literarische Beschreibung der Feierlichkeiten kompensiert werden. Die in den relaciones de fiesta beschriebenen Feste sind Praktiken einer Vergesellschaftung unter Anwesenden, deren Grenzen in der zeitlichen

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Beschränkung liegen, die der Anwesenheit stets inhärent ist.83 In einer Gesellschaft, in der Vergesellschaftung vorwiegend über Kommunikation unter Anwesenden erfolgt, ist es daher »eine entscheidende Herausforderung, die dazu notwendige ›Präsenz des Abwesenden‹ in den Prozessen kommunikativer Sinnbildung in einer Weise herzustellen, dass sie nicht nur ein (schriftvermitteltes) kognitives Phänomen bleibt, sondern für die Sinne greifbar und als Präsenz erlebbar wird.«84 Der frühneuzeitliche Text muss somit als Distanzmedium die fehlende sinnliche Präsenz kompensieren. Es müssen Möglichkeiten der Textproduktion gefunden werden, die den Anschein einer körperlichen Anwesenheit von Produzent und Rezipient erwecken. Die Präsenz des festlichen Kommunikationsaktes für den abwesenden Leser sinnlich erlebbar zu machen ist ein zentrales Anliegen der relaciones de fiesta. Der vom Autor der oben zitierten relación verwendete Begriff »representar« meint nach einer zeitgenössischen Definition nichts anderes als das Vergegenwärtigen mithilfe von Wörtern und Bildern, die sich in der Vorstellung des Lesers konkretisieren.85 Im Idealfall ruft der Text in der Vorstellung des Rezipienten also Bilder hervor, die sich mit der Realität des dargestellten Gegenstandes decken. Dies bestätigt Francisco de León y Arce, wenn er in seinem Bericht des Feldzuges, den Philipp IV. 1624 nach Andalusien unternahm, einen impliziten Vergleich zwischen einer schlechten Darstellung und einem »retrato de un buen original mal copiado« (PMM 18 r°) anstellt. Dabei geht es ihm allerdings nicht in erster Linie um eine der sinnlichen Realität entsprechende, sondern vielmehr um eine besonders poetische Darstellungsweise. Doch erhebt auch er für seinen Text den Anspruch, das Ereignis so abzubilden, dass es visuell vorstellbar wird: »en fè de que la mayor parte del mundo pudiera venir a ver la mas minima parte desta fiesta.« (PMM 18 v°) Hinter diesen Visualisierungsbemühungen steht der Versuch, den Leser selbst zum Augenzeugen des festlichen Glanzes zu machen. Wo dessen Anwesenheit nicht gegeben ist, muss sie durch textuelle Mittel nachempfunden werden. Der Text regt die Vorstellungskraft des Lesers an, so dass diese in die Lücke zwischen Körper und Schrift tritt, die durch das Massenmedium entstanden ist.

83 | Vgl. Schlögl (2008), 166. Vergesellschaftung unter Anwesenden meint eine Auffassung von der frühneuzeitlichen Gesellschaft als einer historischen Sozialund Gesellschaftsform, die auf Anwesenheit beruht, wobei »die anwesenheitsbasierten Formen des Sozialen« durch die Veränderungen, die der Gebrauch von Schrift und Druck mit sich bringt, grundlegenden Transformationen unterliegen. Vgl. Schlögl (2008), 157. 84 | Ebd., 161. Vgl. auch Gumbrecht (2004), 99-110. 85 | So bei Covarrubias »REPRESENTAR: hacernos presente alguna cosa con palabras o figuras que se fijan en nuestra imaginación«. Covarrubias y Orozco (1977).

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Das Bemühen um visuelle Veranschaulichung hindert jedoch weder León y Arce noch andere Autoren von relaciones de fiesta daran, über eine rein sachliche Beschreibung des Beobachteten hinauszugehen. So gibt sich der Autor der Jornada Real zahlreichen Abschweifungen, wie etwa Lobreden hin; deskriptive Abschnitte vermischen sich mit poetischen und allegorischen Passagen. Dieser Überschuss ist zum einen das Ergebnis einer Selbstverwirklichung des Autors, der seine Kreativität und Genialität mehr und mehr in die relación de fiesta einbringt. Zum anderen ist er der medialen Logik der Inszenierung geschuldet. Nach K. Ludwig Pfeiffer bilden alle Kulturen einen Raum der gesteigerten Erfahrung durch Inszenierungen aus, die mithilfe von Medien realisiert werden.86 Mediale Inszenierungen verkörpern eine realitätsenthebende, intensivierte Erfahrung dessen, was sie darstellen.87 Sie bringen ein zeitlich voraus liegendes Ereignis zwar zur Erscheinung, lassen dieses aber niemals vollständig in die Inszenierung eingehen, sondern vergegenwärtigen es in Form der Doppelung. Inszenierung zielt auf die Erregung der Sinne ab. Da es hierbei nicht um Information oder unverstellte Darstellung geht, entzieht sie sich den Kategorien ›wahr‹ oder ›falsch‹ und ist vielmehr in einem Spannungsverhältnis zwischen Fiktion und Realität zu lokalisieren. Die durch Inszenierung gesteigerte Erfahrung ist mit den Kategorien der Authentizität bzw. der Artifizialität daher nicht beschreibbar; stattdessen rückt ihre ästhetische Dimension in den Vordergrund. Die relaciones de fiesta sind mediale Inszenierungen par excellence. Sie sind Augenzeugenberichte eines realen Ereignisses, das sie jedoch poetisch und rhetorisch verdichten. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Feste selbst bereits Inszenierungen sind, die auf Erfahrungssteigerung abheben. Sie modifizieren die Realität, indem sie mit Verfahren operieren, die das Dargestellte – zu denken ist hier etwa an die ephemere Architektur und Heiligenbildnisse in Lebensgröße – als real erscheinen lassen und dadurch Verwunderung hervorrufen. Es sind die technischen Möglichkeiten, die Sinne zu täuschen und so die Realität zu verdrehen, welche die Massen faszinieren.88 Denn die Trugbilder des Festapparates und der Effekt des Staunens, den sie hervorrufen, erlaubt es, die gegenseitige »›Verabredung‹ einer Entwirklichung des Alltags durch den gemeinsamen Glauben an die glorreiche Bestimmung der eigenen Nation im göttlichen Heilsplan«89 einzuhalten. Die relaciones de fiesta sind daher als Inszenierungen zweiter Ordnung zu betrachten, welche die Wirkung der Inszenierung erster Ordnung durch mediale Transposition fortzusetzen suchen. Eine protokollarische Darstellung des Festes, die nur zeitliche Abläufe dokumentiert, würde ihr Ziel verfehlen, nämlich die feierlichen Elemen86 | Vgl. Pfeiffer (1999). 87 | Vgl. zu Medien und Techniken der Inszenierung generell Karpenstein-Eßbach (2004), 204-213. 88 | Vgl. García Bernal (2006a), 133. 89 | Gumbrecht (1990), 356.

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te für den Leser sinnlich erlebbar zu machen. Hierfür gilt es, die zeitliche Distanz zwischen dem vergangenen Zeitpunkt des Ereignisses und der Gegenwart des Lesers aufzuheben. Diese Distanz spannt sich nicht nur zwischen dem Ereignis, also dem dargestellten Zeitpunkt, und dem Lektürezeitpunkt auf, sondern außerdem zwischen dem Augenblick der Textproduktion und dem Augenblick des Lesens. Aufgrund der medialen Eigenschaften der relaciones ist dieser zeitliche Abstand bereits stark reduziert: Während das Verfassen und der Druck einer Stadtgeschichte mehrere Jahre in Anspruch nahmen, konnte die relación innerhalb von Wochen, wenn nicht Tagen und daher innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraumes nach dem Ereignis veröffentlicht werden. Doch selbst diese Verkürzung kann lediglich eine Annäherung des Lesezeitpunktes an den Zeitpunkt des Ereignisses bewirken. Seine Ver-Gegenwärtigung hingegen, das heißt das Zusammenfallen von Ereignis und Darstellung, ist höchstens in der Imagination des Lesers möglich. Eine solche illusionäre demonstratio ad oculos lässt sich in Anschluss an den erweiterten Begriff des Zeigens von Bühler als »Deixis am Phantasma« beschreiben, das heißt, als ein räumlich zeigbares Vor-Augen-Stellen von Abwesendem. Der Leser vollzieht von seinem Wahrnehmungsort eine Reihe von raumzeitlichen Versetzungen, zunächst von seinem Wahrnehmungsort bzw. -zeitpunkt aus an den räumlichen und zeitlichen Standpunkt des Erzählers und von dort aus an weitere Fixpunkte des dargestellten Raumes.90 Die sich nun anschließenden Untersuchungen gehen der Frage nach, durch welche textuellen Mittel der Imitation sinnlicher Präsenz die Festbeschreibungen ein solches Zeigen am Phantasma im Sinne einer Vergegenwärtigung von Vergangenem ermöglichen. Bei den Darstellungsmitteln einer relación de fiesta handelt es sich grundsätzlich um Verfahren, die der Autor aus der literarischen Tradition seiner Zeit schöpft und die er für die Kommunikationsziele der Festbeschreibung funktionalisiert. Beschreibung, Suggestion von Augenzeugenschaft und Unsagbarkeitspostulate sind typische Instrumente einer Raumkunst, wie sie in verschiedenen literarischen Bereichen der Frühen Neuzeit praktiziert wurde. Konstitutives Verfahren der Raumkunst ist die Visualisierung. Den Kern der meisten Festbeschreibungen bildet daher die Schilderung von Dekoration und Kostümen, die dem Leser in all ihren Facetten vor Augen geführt werden. Hierfür bietet sich vor allem ein topographisches Verfahren an. Im Gegensatz zum chronologischen hat es die Vorteile, visuelle Vorstellbarkeit erzeugen und so das Zusammenspiel ephemerer und fester Elemente zum Ausdruck bringen zu können.91 Luque Fajardo macht sein Vorgehen im Bericht der Fiesta a la beatificación de San Ignacio de Loyola explizit:

90 | Vgl. Bühler (1934), 121-140. 91 | Vgl. Ledda (1996), 231.

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R AUM -Z EITEN [I]mporta ante todas cosas, suponer, como en dibuxo, la planta de los claustros, para que con facilidad: acabado de pintar, se forme concepto, y se perciba, el primor, riqueza, y disposicion de su adorno, sin confundir la traça, que fue admirable. (BI 13 r°)

Der Autor kündigt an, zunächst die architektonische Beschaffenheit der Kreuzgänge und erst danach ihre dekorative Transformation zu beschreiben. Denn die räumliche Vorstellbarkeit der Kreuzgänge bildet die Voraussetzung für eine gelungene Darstellung ihrer Dekoration. Auffällig sind hier, wie auch in anderen relaciones de fiesta, die metaphorischen Anleihen aus dem Bereich der bildenden Kunst, »dibuxo« und »pintar«. Auch Leon y Arce verwendet in seinem Bericht der Jornada Real die Metapher des Pinsels, um seine darstellende Tätigkeit zu beschreiben: Sein Werkzeug ist der »pinzel que mas realça los pensamientos sutiles« (PMM 18 r°). Doch dient die poetische Erschaffung eines Bildes bei ihm weniger der sinnlichen Veranschaulichung als vielmehr der Erkenntnis durch ein inneres Auge (»pensamientos sutiles«). Anders verhält es sich in Luque Fajardos Beschreibung der Kreuzgänge. Sein Anliegen ist es, durch seine Darstellung ein visuelles Konstrukt zu schaffen, das dem Leser in seiner räumlichen Beschaffenheit vor Augen steht. Im Einklang mit der oben zitierten Prämisse folgt eine zunächst architektonische Beschreibung des patios, die mit minutiöser Genauigkeit und sehr systematisch vorgeht: [D]e sus quatro angulos, o lienços, tienen los dos a seys, y los dos a siete arcos por vanda, sobre columnas de marmol blanco […]. El patio espacioso, alegre, claro, […] tiene dos ordenes de ventanas uniformes, y correspondientes, con sus faxas, o molduras, en la forma que veremos, aunque con una sola diferencia, que en la parte que cae al Norte, y la correspondiente, tienen el peso de los arcos bajos, sobre sus cornijas, dos valcones de hierro […] Al medio del patio està una fuente hermosisima, de losa blanca, labrada a lo moderno, que luce estremadamente. (BI 13 r°)

Der Raum des Kreuzganges wird hier weniger relational in seiner geistlichen Funktion als Ort der Meditation und des Gebets betrachtet, sondern in seiner materiellen Beschaffenheit als absoluter Raum.92 Dabei ist die architektonische Beschreibung des von Kreuzgängen umgebenen Innenhofes abstrakt gehalten. Sie zielt nicht auf ein erlebendes Sehen im Sinne eines parcours, sondern auf räumliche Vorstellbarkeit im Sinne der carte.93 Auf dieser Grundlage der räumlichen Visualisierung des Kreuzganges kann nun die Beschreibung der Dekoration erfolgen: Allein die Schilderung des Portals und des inneren Kreuzganges nimmt ein ganzes folium in Anspruch, weitere sind der Beschreibung der Altäre aus Papp92 | Zur Unterscheidung von absolutem und relationalem Raum vgl. grundlegend Harvey (2006). 93 | Zu den Begriffen parcours und carte vgl. Kap. 1.3.2.2.

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maché gewidmet, die zu Ehren des Heiligen Ignacio errichtet wurden und Szenen aus dessen Leben darstellen. Dabei bewegt sich der Autor in seiner Beschreibung vom Allgemeinen zum Besonderen. Gleich einem Künstler, der ein Bild malt, fügt er den eingangs skizzierten Umrissen des architektonischen Raumes mehr und mehr Details hinzu. Dies ist eine mögliche Vorgehensweise. Anders als Luque Fajardo geht ein anonymer Autor bei der Darstellung des geschmückten Klosters vor.94 Seine Beschreibung folgt dem Blick des Betrachters, als der er ins Hauptportal eintritt, sich von dort aus auf den Altar zu bewegt und schließlich seinen Blick hebt, um das Bildnis oberhalb des Altars zu betrachten. Sodann durchschreitet der Autor den Eingang des Pförtnerhauses, das zu den Kreuzgängen und zum Innenhof führt. Dort werden die Kreuzgänge systematisch durchmessen. Im linken und rechten Kreuzgang befinden sich je sechs Nischen; in jeder ist ein Gründer eines Ordens dargestellt, versehen mit dem jeweiligen Sternzeichen sowie mit Versen in kastilischer und lateinischer Sprache. Während Luque Fajardo die lateinischen Verse wortgetreu in seinen Bericht mit aufnimmt, übersetzt der anonyme Autor sie ins Spanische. Damit stellt er nicht nur dar, sondern macht das Gesehene einem ungebildeten Leser zugänglich. Darüber hinaus lässt er den Kreuzgang nicht wie Luque Fajardo als rein architektonisches Konstrukt stehen, sondern empfindet den meditativen Gang des Gläubigen performativ nach. Die beiden Berichte von denselben Feierlichkeiten anlässlich der Seligpreisung des Ignacio de Loyola zeugen in ihren jeweiligen Ausprägungen der Raumkunst von unterschiedlichen Ansprüchen, die sich mit dem bereits mehrfach verwendeten Begriffspaar carte und parcours benennen lassen. Die von Luque Fajardo und dem anonymen Autor gewählten Formen der Raumkunst entsprechen zwei unterschiedlichen Raumkonzeptionen, wie sie in der Frühen Neuzeit nebeneinander existieren: Dem linearen Raum der mittelalterlichen Pilgerkarten, in dem relevante Punkte durch die Bewegung des Pilgers im Raum verbunden werden, und dem abstrakten Raum der modernen Karte, in dem sich jeder Punkt auf den entsprechenden realen Raum abbilden lässt (vgl. Kap. 1.3.2.2). Beide Konzeptionen fließen in die übergeordnete Raumkunst, wie sie in den relaciones de fiesta praktiziert wird, mit ein und machen den im Text evozierten Raum zu einem Raum der Anschauung, wobei bald das erlebende, bald das abstrakte Sehen in den Vordergrund tritt. Dabei hat die Raumdarstellung mithilfe einer diskursiven carte den Vorteil, dass sie Objektivität gewährleistet, während die Schilderung mittels eines parcours das subjektive

94 | Anonym (1610): Relacion sucinta del admirable ornato que en la fiesta de la Beatificacion del Beato Padre Ignacio de Loyola, fundador de la insigne Religion de la Compañia de IESUS, le vio en el Templo, Claustros y Patio dela casa de Professos de Seuilla, desde Sabado seys de Febrero, hasta Miercoles en la noche, diez del mismo año de 1610. Seuilla: Bartolome Gomez.

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Erleben durch den Augenzeugen durchscheinen lässt, dadurch aber auch die Darstellung für den Leser lebendiger macht. Der erlebende Aspekt der Anschauung wird in den relaciones de fiesta häufig durch Anekdoten betont, die Reaktionen von Betrachtern wiedergeben. Im Bericht von der Kanonisierung Andres Corfinos bekundet der Autor, dass die Bildnisse des Heiligen Corfino sowie Johannes des Täufers und des Evangelisten Johannes belebt wirkten: »[S]ino les dio alma la mano del artifice, diosela por lo menos el engaño a la vista.« (CAC 4 r°) Oder: »Estos dos passos destos dos altares estauan con tanta propriedad y viueza, que muchos a primera vista juzgaroñ por verdad la figura.« (CAC 6 r°) Eine ältere Dame habe sich sogar vor die Statuen gesetzt, um die Messe der vermeintlich lebendigen Geistlichen zu hören, und sei erst gegangen, nachdem das dominus vobiscum auch nach längerer Zeit nicht ertönte (CAC 6 r°/v°). Eine ähnliche Wirkung habe ein weiterer Altar erzielt, der die lebensrettende Beihilfe eines Karmeliters bei einer Geburt zeigte. Das Bild habe die Schmerzen der Gebärenden so lebhaft dargestellt, dass sein Anblick vier schwangeren Betrachterinnen Angst vor der Geburt eingeflößt habe. Der Sehsinn dient in den genannten Beispielen keinem erkennenden Sehen, sondern wird dem Betrachter zur Quelle des engaño. Die Täuschung erscheint hier jedoch keinesfalls als schädlich. Sie desavouiert nicht, wie dies im Mittelalter der Fall war, das körperliche Sehen, sondern spricht vielmehr für die gelungene Darstellung der Heiligen. Damit besitzen die Skulpturen genau die Eigenschaft, die auch die relación erfüllen soll: Sowohl Bildnis als auch Text sollen im Betrachter bzw. Leser den Eindruck unmittelbarer Präsenz vermitteln. Die Affekte, welche die beschriebenen Skulpturen und Bilder beim Augenzeugen hervorrufen, sollen daher gleichermaßen durch den Text auf den Leser übergehen. Der Text übersteigt als Inszenierung zweiter Ordnung die Ebene der reinen Beschreibung und vollführt eine mise en abyme, indem er selbst zum Bild wird. Damit erlangt der Text nahezu den gleichen Stellenwert wie die von ihm dargestellte Szene. Die Lektüre wird zur Bildmeditation, die, genauso wie die beschriebenen Bilder, eine Gemütsbewegung hervorruft. Die unmittelbare Affektion durch das Bild stellt ein Modell für die Rezeption des Textes dar, wobei es eine möglicherweise diffuse Erregung durch das Bild, wie sie etwa die gefürchtete mystische Vision auslöst, zu vermeiden gilt. Die Hauptattraktion der Kanonisierungsfeier für Andrés Corfino bildet eine aus verschiedenen Materialien konstruierte Landschaft, in der Stationen aus dem Leben des Heiligen dargestellt sind. Die Inszenierung wirkt »con tan viva imitación en todo que eleuaua el espiritu a la contemplacion de los eternos descansos, como hazian con el diuino Geronymo los desiertos de Siria, y con el magno Antonio las soledades de Thebaida.« (CAC 7 v°)95 Die optische Täuschung lässt den Betrachter für einen Augen95 | Auch die Zentralperspektive wird bei der plastischen Darstellung der Pilgerlandschaft zur optischen Täuschung eingesetzt: »Alli parecía una venta puesta

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blick aus der Zeit heraustreten und vermittelt ihm ein Gefühl von Ewigkeit. An die Stelle des körperlichen Sehens tritt ein spirituelles Sehen, die Visualität wird zur Vision. Die festliche Inszenierung strebt somit nicht nur eine ästhetische, sondern darüber hinaus eine Epiphanieerfahrung96 an, ein Eintreten des ewigen verbum in die menschliche Zeit und damit ein kurzzeitiges Verschmelzen von Zeit und Ewigkeit. Eine solche affektive Erregung durch das Bild beruht auf der jesuitischen Auslegung des Bildverständnisses, wie es das Konzil von Trient festlegte, demzufolge die Seele durch visuelle Meditation in die Gegenwart Gottes versetzt werden soll. Dies kann dadurch gelingen, dass das Bild im Gegensatz zur Sprache sämtliche Informationen gleichzeitig vermittelt und sich nicht erst sukzessive in der Zeit entwickeln muss.97 Ausschlaggebend für die Wirkmacht des Bildes ist also die Gleichzeitigkeit der Zeichen, ist seine Fähigkeit zu zeigen. Will der Text eine ähnliche Wirkung wie das Bild erzeugen, so muss er sich über die Diachronizität der Sprache hinwegsetzen und die visuelle Gleichzeitigkeit des Ikonischen nachahmen. Die Techniken des Zeigens in den relaciones de fiesta sollen also nicht nur einen Raum der Anschauung schaffen, sondern – mit dessen Hilfe – einen Raum der Kontemplation. Die Synchronität des historischen Raums soll kippen zu derjenigen Abwesenheit von Zeit, die der göttlichen Ewigkeit eigen ist. Macht der Leser mithilfe der Darstellung durch den Text eine Epiphanieerfahrung, so wird er zum weiteren Glied einer exemplarischen Kette, in die sich bereits der reale Betrachter eingegliedert hat. Schon dieser ist lediglich Imitator dessen, was Corfino imitiert: Der Heilige postfiguriert eine Meditationshaltung, die schon biblische Figuren einnahmen und so göttliche Offenbarungen empfingen. Der Leser wird somit zum weiteren Exempel einer Epiphanieerfahrung, die »nicht mehr zu fassen ist und [ihren] Ort allein in einer Geschichte der Imitation besitzt, die selbst nichts anderes ist als exemplarischer Spiegel der Nachahmung.«98 Der Leser selbst wird durch die Visualisierungsleistung des Textes von einem ursprünglichen, in einer nicht datierbaren Vergangenheit liegenden Affekt erfasst, der sich ausgehend von der biblischen Heilsgeschichte über die Hagiographie bis in die Gegenwart reproduziert. Denn schließlich stellt die aufwändige Dekoration des geschmückten Vorhofes eine Synthese aus dem Alten Testament, den Evangelien, der Apokalypse und der nachbiblischen Hagiographie dar. Letztere wird somit nicht nur in die bial passage de un camino, que aunque estaua cerca dela vista de todos, era tan pequeña que prometía estar muy lexos.« (CAC fol. 8 r°) 96 | Vgl. Largier (2001), 159. 97 | Vgl. dazu ebd., 161. 98 | So die These von Largier (2001), 160 im Hinblick auf das Leiden des Flagellanten, der in den Gesten der Geißelung Spiegelbild eines ursprünglichen, nicht mehr zu fassenden Leidens wird. Meine Ausführungen gehen insofern über diejenigen Largiers hinaus, als sie den durch die Lektüre affizierten Leser selbst als Glied der exemplarischen Kette begreifen.

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blische Heilsgeschichte eingeschrieben, sondern verlangt nach weiteren Nachahmern, welche die exemplarische Kette fortsetzen. Der Vorhof des Klosters verwandelt sich in ein zeitloses Ganzes, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen. In diesem »teatro del compas« (CAC 7 v°) ist die Rolle des gracioso nach Angaben des Autors nicht erwünscht. Die Szenen dienen nicht der Belustigung, sondern sollen den Betrachter in Staunen versetzen. Nicht komische Distanz soll hervorgerufen werden, sondern ergreifende Nähe. Störungen sind dabei allerdings nicht ausgeschlossen: Für Gelächter sorgt ein aus Kork gefertigtes Schiff, das wegen seiner Instabilität bei der kleinsten Erschütterung kippt, wodurch sein mit Fischergeräten ausgestatteter Insasse bei jedem Mal ins Wasser fällt (CAC 8 r°). Dass der Autor solche Pannen in seinen Bericht mit aufnimmt, zeigt sein Bemühen, kein Detail der eindrücklichen Szene auszulassen und diese in all ihren Facetten, auch den unvorhergesehenen, zu schildern. Schließlich trägt gerade auch der Bericht von Störungen zur Lebendigkeit der Schilderung bei. Jedes Detail ist allein dadurch der Darstellung würdig, dass es realer Bestandteil des Referenten ist, unabhängig davon, ob es für die Makrobotschaft des Textes relevant ist. Damit entsteht in den relaciones de fiesta das, was Barthes als effet de réel bezeichnet hat. Grundlage einer solchen Wirklichkeitsillusion ist die Entpragmatisierung der Beschreibung. Wenn diese Details enthält, die nicht zur Struktur der Erzählung beitragen, dann wird sie zum reinen »luxe de la narration«.99 Auch das Mittelalter kannte eine sich selbst genügende Ekphrasis, deren Aufgabe es war, Orte, Zeiten und Personen zu beschreiben. Allerdings wollten die Beschreibungen des Mittelalters – Curtius hat dies im Hinblick auf Naturschilderungen gezeigt – nicht die Wirklichkeit wiedergeben.100 Vielmehr waren sie darauf bedacht, den Regeln der Gattung zu gehorchen, was häufig zur Hinzudichtung von Einzelheiten führte. Auch die Beschreibung der Neuen Welt durch die frühen Seefahrer orientierte sich weniger an der dort vorgefundenen Realität als vielmehr an literarischen Stereotypen, welche die Schilderung vorstrukturierten.101 Daher kann der heutige Leser in dem irdischen Paradies, wie es etwa Kolumbus schildert, kaum das spezifisch ›Amerikanische‹ des lateinamerikanischen Kontinents erkennen. Kolumbus beschrieb nicht das, was er sah, sondern das, was zu sehen ihm durch die literarische Tradition vorgegeben war. Real war nicht, so lässt sich zugespitzt formulieren, was man mit den Sinnen wahrnahm, sondern was von gelehrten Autoritäten für real gehalten wurde. Dieses Autoritätsdenken macht in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunehmend einer Produktion von Wissen Platz, die sich nicht mehr allein auf die Auslegung anerkannter Gelehrter, sondern zunehmend auf 99 | Barthes (1968a), 84, Hervorhebung i.O. 100 | Vgl. Curtius (1978), 191-209. 101 | Vgl. Gewecke (1992), 89-94.

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empirische Erkenntnis stützt (vgl. Kap. 3.2). Die Realität wird nicht länger so wiedergegeben, wie man sie sich vorstellt, sondern so, wie man sie mit eigenen Augen sieht. Dies hat bedeutende Konsequenzen für die literarische Konfiguration des Realen. Jedes konkrete Detail eines beschriebenen Gegenstandes wird relevant aufgrund der Tatsache, dass es real, das heißt mit den Sinnen wahrnehmbar ist. Semiotisch gesprochen besteht das konkrete Detail nicht länger aus Referent, Signifikant und Signifikat, sondern das Signifikat wird aus dem Bezeichnungsprozess eliminiert, so dass der Eindruck entsteht, der Signifikant und der Referent würden sich decken. Der zu vermittelnde Sinn tritt vorübergehend in den Hintergrund, »pour faire de la notation la pure rencontre de l’objet et de son expression.«102 In den relaciones de fiesta erlangt das konkrete Reale einen nie gekannten Stellenwert. Die minutiösen Beschreibungen zeugen von einem Interesse am Detail, das einem modernen Realismus recht nahe kommt. Die zeitliche Struktur des Berichts, der vom Verlauf des Festes erzählen soll, tritt angesichts einer exzessiven Raumkunst in den Hintergrund. Das Erzählen wird zum Aufzählen, wobei die Details räumlich angeordnet sind. Diese Lust am Detail führt allerdings zu einem Problem: Wenn das übergeordnete Narrativ ausgeblendet wird, dann entfällt jegliche Hierarchisierung der Einzelheiten. Einziges Kriterium bildet die sinnlich erfahrbare Realität des Beschriebenen. Und wo dies der Fall ist, steht die Aufzählung von Einzelheiten in der Gefahr, sich ins Unendliche zu steigern. Die Entpragmatisierung der Beschreibung im Hinblick auf das Signifikat entfesselt diese zu einem durchaus beabsichtigten »vertige de la notation«103, in dem es keinen Grund mehr gibt, die Aufzählung von Details an dieser oder jener Stelle abzubrechen. Wo die Beschreibung keinem rhetorischen Zwang unterliegt, ist jeder Anblick für den ihn beschreibenden Diskurs unerschöpflich. So muss der Berichterstatter der Kanonisierung von Andrés Corfino eingestehen, bevor er von der Schilderung der Dekoration zur Dokumentation des zeitlichen Festablaufs übergeht: »Digo en conclusion que la vista mas codiciosa perdio muchas cosas dignas de ver en este risco.« (CAC fol. 8 r°) Die Beschreibung, die allein dem Kriterium des Realen unterliegt, stößt an ihre einzige Grenze: Sie begibt sich in die Gefahr, zu ausgedehnt zu werden und den Leser dadurch zu langweilen. Giuseppina Ledda wertet solche Topoi der Unzulänglichkeit als Entschuldigung, die der Autor für eine Selektion bestimmter Elemente auf Kosten anderer vorbringt.104 Darüber hinaus sollen derartige Aussagen hier jedoch weder als reine Floskel noch als rein textökonomische Verfahren betrachtet werden, sondern primär als ein Vorgehen, das mithilfe einer Bezeugung der Begrenztheit des Textes die grenzenlose Fülle des Festes postuliert. Zugleich können sie als metaliterarische Aussagen gelesen werden: Die Dauer des Dargestellten und die Dauer des 102 | Barthes (1968a), 89. 103 | Ebd., 87. 104 | Vgl. Ledda (1996), 230.

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Darstellens, Erzählzeit und erzählte Zeit dürfen nicht zu sehr auseinanderdriften, damit die Geduld des Lesers nicht überstrapaziert wird. Tatsächlich finden in den frühneuzeitlichen Festbeschreibungen erste Reflexionen zum Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit statt, wenn auch nicht auf einer theoretischen, sondern einer normativen Ebene. Leon y Arce kritisiert in seinem Bericht der Jornada Real diejenigen Dichter, welche Ereignisse von kurzer Dauer (»cosas con tan poco tiempo«) zu stark aufbauschen, und plädiert für einen kurzen Schreibstil, der allerdings nicht zu kurz sein dürfe. Dass diese Forderung recht vage ist, zeigt das Vorgehen Leon y Arces selbst: Während er bei der Beschreibung bestimmter Elemente des Festes nicht an Details spart, so etwa bei der Schilderung der Rüstung Philipps IV. (PMM 19 v°), verzichtet er an anderen Stellen auf Details, mit der Begründung, die Zeit reiche nicht aus. Hier trifft die Überlegung Leddas, die solche Gewichtungen auf einen selektiven Eingriff des Autors zurückführt, zunächst zu. So unterbricht Leon y Arce etwa die ausführliche Beschreibung einer máscara, einem Theater der Nationen, das den König und seine Bataillon begleitet, mit den Worten: Los Turcos van en su trage, que por menudo contarlo es contar Astros al cielo. buela el tiempo, que no alcanço. (PMM 27 v°)

Das Wortspiel mit dem Begriff contar, mit der etymologischen Verwandtschaft von Erzählen und Zählen, das zunächst mit einem Unsagbarkeitstopos verrechenbar scheint, drückt eine entscheidende Problematik der relaciones de fiesta aus: Die begrenzte Erzählzeit, das heißt die gewünschte Länge bzw. Kürze des Textes, lässt eine Beschreibung der sich ins Unendliche steigernden Pracht des Festes nicht zu, was auch Luque Fajardo zu einem vorzeitigen Abbruch seiner Schilderung veranlasst: Y porque seria proceder en infinito, referir con espacio, todo lo tocante, a la magestad, grandeza, curiosidad, magnificencia liberal de gastos, de una tan solenne, regocijada, y bien recebida fiesta, con aplauso uniuersal desta ciudad insigne, supuesto, que de su primer aparte, se à hablado, tan cortamente, y como desdorando pasemos al certamen de sus resplandores, pues hasta aqui se estiende la insuficencia nuestra. (BI 26 v°)

Solche Unsagbarkeitspostulate fehlen in kaum einer relación de fiesta. Das Beklagen der Beschränktheit von Sprache und Schrift ist ein Topos, durch den der Dichter seine Demut bezeugen und dem möglichen Vorwurf der Unvollständigkeit vorbeugen will. Allerdings, so soll hier argumentiert werden, sind solche Äußerungen mehr als nur eine Floskel. Sie suggerieren, ganz im Sinne eines frühen Realismus, eine unendliche Beschreibbarkeit des dargestellten Objekts. Die potentielle Unendlichkeit der Be-

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schreibung steht für eine performative Realitätserzeugung, welche die Zuverlässigkeit der Darstellung untermauern soll. Die Bekundung von Unsagbarkeit vermittelt die Botschaft: »Das, was hier beschrieben wird, ist real.« Damit unterstützt sie die Autorität des Erzählers und dessen Augenzeugenschaft. Darüber hinaus sagt die unendliche Beschreibbarkeit noch etwas anderes aus: Wenn Sprache und Schrift nicht in der Lage sind, das Dargestellte in seiner Fülle zu erfassen, dann muss es noch spektakulärer sein, als der Text dies wiedergeben kann. Dies wird an Leon y Arces Beschreibung des Theaters der Nationen besonders deutlich. Der Autor teilt schließlich seine Absicht mit, seinen Bericht des Umzuges abzuschließen, »con que acaba lo que no tuviera fin, si por menor te contara.« (PMM fol. 28 r°) Hier entstehen zum einen der Eindruck einer potentiell endlosen Beschreibbarkeit des imposanten Zuges und zum anderen der einer Begrenztheit des Mediums. Dem angeblich sich bis in eine räumliche und zeitliche Unendlichkeit fortsetzenden Ereignis stehen die räumlichen Grenzen des geschriebenen Textes gegenüber. Der Text erscheint als Gefäß, das für den aufzunehmenden Inhalt zu klein ist. Daher muss die Erzählung das beenden, was scheinbar kein Ende nimmt. Die Fülle an Details, die sich dem Auge des Betrachters darbieten, übersteigt die Kapazität des Textes. Was Leon y Arce in einem Nebensatz unterbringt, gewinnt im Bericht von der Kanonisierung Andrés Corfinos gesteigerte Dramatik: [S]e deslumbra la vista, la pluma se acobarda, no bastan el papel, los terminos faltan: para tanta vida es muerta la escritura para machina tan gigante es enana qualquiera descripcion: pues una sola parte deste todo pide escriptor absoluto de todas partes […]. para todo lo que auia en cada uno [sc. de los altares] […] no fuera bastante tener todo el cuerpo sembrado de ojos como otro Argos. (CAC 5 r°)

Der Autor resigniert angesichts der Aufgabe, den Festapparat angemessen zu beschreiben. Es scheint ihm nicht zu gelingen, dem Leser den Gegenstand in seiner ganzen Fülle vor Augen zu führen. Die Vergegenwärtigung in der Schrift erweist sich in diesem wie in den vorhergehenden Beispielen als Paradox: Der Autor ist gezwungen, die gleichzeitigen Sinneseindrücke in eine sukzessive Abfolge zu bringen. Der Versuch, durch den Einsatz von Raumkunst Gleichzeitigkeit zu erzeugen, scheitert an der Unmöglichkeit, die räumliche Tiefe des wahrgenommenen Objektes in die lineare Form des Textes zu übersetzen.105 105 | Hinzu kommt erschwerend, dass sich die Wechselbeziehung von Gegenstand und Subjekt in den relaciones – und in historiographischen Texten allgemein – in zwei Ebenen ausdifferenziert: Der Autor korrespondiert als wahrnehmendes und deutendes Subjekt mit dem Gegenstand des ›Ereignisses‹, auf einer weiteren Ebene interagiert der Leser mit dem Objekt des Textes. In den Festbeschreibungen ist das ›Ereignis‹ somit doppelt vermittelt und durch doppelte

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Doch handelt es sich dabei nur um eine vermeintliche Schwäche, die der Autor für sein Kommunikationsziel zu nutzen versteht. Gerade die Behauptung, dass nur ein einziger Teil der Maschinerie eines absoluten Autors bedürfe, der das Objekt gleichzeitig von allen Seiten zu beschreiben vermag, macht dieses als räumliches Konstrukt vorstellbar.106 Darüber hinaus wird das Objekt durch seine potentiell unendliche Beschreibbarkeit verklärt: Dadurch, dass seine genaue Beschaffenheit opak bleibt, gewinnt es einen geheimnisvollen, der Realität enthobenen Glanz. Damit nutzt der Autor, analog zur realen Inszenierung, die Mittel der medialen: Der reale Gegenstand wird durch seine Darstellung artifiziell komprimiert und die Intensität seiner Wahrnehmung gesteigert. Dadurch kann das kompensiert werden, was im Text an sinnlicher Wahrnehmbarkeit verloren gegangen ist: Die synästhetische Erfahrung des Festes, die auf der zweidimensionalen Textseite zu visuellen Zeichen verkümmert ist, soll in der Vorstellung des Lesers in verdichteter Form neu entfaltet werden. Die Raumkunst dient in den relaciones de fiesta in ihren unterschiedlichen Ausprägungen dazu, einen abwesenden bzw. nicht mehr existenten Gegenstand ins hic et nunc des Lesers zu transportieren. Dies geschieht durch detaillierende Genauigkeit, mit deren Hilfe einerseits Augenschein, andererseits Verlebendigung suggeriert werden. Dabei soll das ›Als ob‹, »das die sprachliche Evokation des abwesenden Gegenstandes quasi sub oculos von seiner tatsächlichen physischen Präsenz trennt«,107 möglichst unbemerkt bleiben. Streng genommen überbrückt die Ekphrasis jedoch nur die Distanz zwischen dem Zeitpunkt des Geschehens und dem Zeitpunkt des Darstellens, zwischen der referenziellen Zeit und der Zeit des Ausdrucks. Sie vermag jedoch nicht, die Distanz zwischen dem Zeitpunkt des Ausdrucks und dem Zeitpunkt der Rezeption aufzuheben. Der Zeitpunkt des Ausdrucks bezieht sich auf die textinterne Kommunikation zwischen einer Erzählinstanz und einem fiktiven bzw. impliziten Leser. Davon zu unterscheiden ist die außerhalb des Textes stattfindende Kommunikation zwischen realem Autor und realem Leser. Diese beiden KomMedialität gekennzeichnet. Zur epistemischen Konstellationen von Referenz, Evidenz und Subjektivität vgl. Schlögl (2008), 169. 106 | Im Realismus wird die unendliche Beschreibbarkeit eines Objektes bzw. Raumes suggeriert, indem sie diese ansatzweise ausführt. Doch macht die Anhäufung von Details in den Romanen des Realismus das Objekt nicht in seiner räumlichen Dimension vorstellbar, sondern führt vielmehr zu Unübersichtlichkeit. Die Eigenschaften des beschriebenen Gegenstandes werden nicht in ihrer räumlichen Gleichzeitigkeit veranschaulicht. Dem wirkt hier der Vergleich des Autors mit der mythologischen Figur des Argos Panoptes entgegen, der als vieläugiger Riese die Fähigkeit besaß, alles um sich herum gleichzeitig wahrzunehmen. 107 | Müller (1997), 62. Müller verweist auf eine Neubesetzung des evidentiaBegriffs in der Frühen Neuzeit, die sich aus dem Zusammenfließen der griechischen Begriffe enargeia (»Anschaulichkeit durch detaillierende Genauigkeit«) und energeia (»Verlebendigung«) ergibt. Ebd., 62.

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munikationsprozesse spielen sich zeitlich verschoben ab. Der zeitliche Unterschied zwischen Produktion und Rezeption spielt für den heutigen Leser kaum noch eine Rolle, so sehr ist die Abwesenheitskommunikation zur Selbstverständlichkeit geworden. Der frühneuzeitliche Leser hingegen muss den Umgang mit einer abwesenheitsbasierten Situation, in welcher der Zeitpunkt des Erzählaktes und der Zeitpunkt der Rezeption auseinander treten, erst erlernen. Daher gilt es in den relaciones de fiesta, nicht nur durch ein Zusammenführen von Beobachtung und Konfiguration einen effet de réel zu erzeugen, sondern auch durch die Verknüpfung von Konfiguration und Rezeption. Dies geschieht, ähnlich wie im Dialog, durch fingierte Mündlichkeit (vgl. Kap. 2.2). Im Bericht vom Feldzug Philipps IV. macht Leon y Arce die interne Erzählsituation folgendermaßen explizit: »Por curiosidad […] prosigo en esta jornada de su magestad, boluiendo a cortar la pluma, continuando los grandiosos sucessos della en sumaria narracion.« (PMM 17 v°) Hier wird der Eindruck von Präsenz erzeugt, indem der Erzähler die Tätigkeit, durch die er seinen Diskurs hervorbringt, selbst in den Diskurs mit einbezieht. Dies hat zwei Funktionen: Zum einen soll sein explizites Erscheinen als ›Ich‹ im Text für die Zuverlässigkeit des Dargestellten bürgen, zum anderen vollzieht sich damit ein Überlappen der Zeit des Darstellens mit der Zeit des Dargestellten. Indem der textinterne Erzähler seinen Schreibprozess thematisiert, gibt er sich als der reale Beobachter des Geschehens aus. Dadurch wird die Grenze zwischen der textinternen Kommunikationssituation und der realen Kommunikation zwischen Autor und Leser verwischt. Der Zeitpunkt des Erzählens scheint mit dem Zeitpunkt der Rezeption zusammenzufallen. Darüber hinaus ist die Nachvollziehbarkeit der körperlichen Anwesenheit des Autors deshalb zentral, weil erst über den Körper Wahrnehmung zu einem synästhetischen Geschehen werden kann. Die angeführten Beispiele haben gezeigt, welche Mittel die Autoren der frühneuzeitlichen relaciones de fiesta einsetzen, um die zeitliche Distanz zwischen dem Ereignis und dessen Darstellung bzw. dessen Rezeption virtuell aufzuheben: Die Verfahren der Raumkunst, die den Leser selbst zu einem unmittelbaren Betrachter des Dargestellten werden lassen, werden ergänzt durch die Präsenz des Autors, dessen Erscheinen an der Textoberfläche eine Kommunikation unter Anwesenden suggeriert. Der Text sucht das Ereignis seiner Zeitlichkeit zu entheben, indem er die chronologisch aufeinander folgenden Zeitpunkte von Ereignis, Darstellung und Lektüre auf einer virtuellen Ebene in einem einzigen Zeitpunkt zusammenfallen lässt. Die Zeit des Referenten sowie die Zeit der Konfiguration verbinden sich mit der Gegenwart des Betrachters. Die dadurch entstehende Spannung zwischen der linearen Abfolge von Zeichen im Text und der zu erzeugenden unendlichen Gegenwart wird dahingehend gelöst, dass durch das Postulat der Unsagbarkeit von Sprache und Schrift die Fülle des Objektes im Sinne barocker Übersteigerung erst zum Ausdruck gebracht wird. Der Unsagbarkeitstopos erfüllt hier also eine doppelte Funktion: Zum einen belegt er die unendliche Beschreibbarkeit und

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daher die Augenzeugenschaft des Autors, in die auch der Leser versetzt werden soll, zum anderen steht er im Dienste einer Festlichkeit, deren Pracht sich auch in der Sprache widerspiegeln soll. Die Medien-Zeit der relaciones de fiesta besteht in einer Erzeugung von Präsenz. Durch die ReInszenierung des vergangenen festlichen Ereignisses mithilfe einer minutiösen Raumkunst zielen sie darauf ab, den vergangenen Augenblick der Verwunderung in die Gegenwart des Lesers zu versetzen. Das Problem der Spannung zwischen der linearen Abfolge von Zeitpunkten und einer unendlichen Gegenwart hat bereits Augustinus in einem anderen Kontext formuliert.108 Sie gründet in der Dichotomie von bewegtem Diesseits und unbewegtem Jenseits. Auch Augustinus kämpft mit der Unmöglichkeit, die Ewigkeit, in der alles gleichzeitig gegenwärtig ist, mit der varietas temporum in Einklang zu bringen. Der einzige Punkt, an dem dies möglich ist, bildet für ihn die mystische Erfahrung. Diese erlaubt es dem Menschen, für einen Augenblick aus seiner Zeitlichkeit aus- und in die Ewigkeit einzutreten. Im Programm der Katholischen Reform waren mystische Erfahrungen nicht vorgesehen, ja die Mystiker der Frühen Neuzeit wurden von der Inquisition als Ketzer verfolgt. In Sevilla war die Inquisition nicht zuletzt damit betraut, Mitglieder der mystischen Bewegung der Alumbrados aufzuspüren.109 Allerdings war es weniger die ekstatische Erfahrung an sich, die eine Gefahr darstellte als vielmehr die Tatsache, dass der Mystiker diese allein, das heißt ohne kirchliche Aufsicht erlebte. Ekstaseerlebnisse wurden von offizieller Seite durchaus angestrebt, dies jedoch in einem kollektiven Rahmen und damit innerhalb einer vorgegebenen Ordnung. Wenn die Inszenierung einer Pilgerlandschaft, wie sie im Kanonisierungsbericht des Andrés Corfino beschrieben wird, den Geist des Betrachters zu einer »contemplacion de los eternos descansos« (CAC 7 v°) erhebt, gleich wie sie die Heiligen Hieronymus und Antonius erfahren hatten, so handelt es sich wohl kaum um eine dysfunktionale, sondern um eine intendierte Empfindung. Diese wird durch die Illusion hervorgerufen, die Szene spiele sich unmittelbar vor den Augen des Betrachters ab. Die Erzeugung von Präsenz geschieht durch einen effet de réel, der den Konstruktcharakter der ephemeren Landschaft durch eine authentische Nachbildung ausblendet. Die Realitätsillusion ermöglicht dem Betrachter einen Austritt aus der Zeit und damit einen Eintritt in die Ewigkeit, in der die Zeit nicht in unterschiedliche Zeitpunkte zerfällt, son108 | So stellt Augustinus im 11. Buch der Confessiones, dem sogenannten ›Zeittraktat‹ etwa fest, »daß auch langhin dauernde Zeit nur durch die bewegte Folge flüchtiger Augenblicke, die allzugleich nicht Platz greifen können, zur langen Zeit wird, daß aber im Ewigen nicht irgend etwas dahingeht, vielmehr das Ganze gegenwärtig ist, während es doch keinerweise Zeit gibt, die als Ganzes gegenwärtig wäre; […] daß alles Vergangene und alles Kommende von dem, was stete Gegenwart ist, erschaffen wird und hervorbricht.« Augustinus (2007), XI. Buch, n. 13. 109 | Vgl. Perry (1980), 5.

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dern als Ganzes gegenwärtig ist. Die authentische Darstellung blendet die Diachronizität der Zeit aus, indem sie einen bestimmten Augenblick stilllegt und ihn so zu einer sich unendlich erstreckenden Gegenwart werden lässt. Zwar gibt die plastische Darstellung ebenso wie die relación einen Punkt auf einer linearen Zeitachse wieder, doch wird dieser – zunächst durch die plastische Inszenierung und dann durch deren Beschreibung im Text – auf Dauer gestellt.

2.2.3

Die überzeitliche Dimension der Ver wunderung

Im Augenblick des Staunens fallen Vergänglichkeit und Ewigkeit unmittelbar zusammen: Der staunende Betrachter wird aus der diachronen Zeit herausgerissen und in einen Zustand der (positiven) Kontingenz versetzt. Diese Phase der Kontemplation ist allerdings – ganz zum Bedauern der Festbesucher – nur von kurzer Dauer: »mostrandose todos alegres en ver esta machina, quanto apesarados de que se les acabasse tan presto.« (CAC 7 v°) Dieser Flüchtigkeit des Staunens soll die relación de fiesta entgegen wirken. Ihre Autoren sind bemüht, über das Medium Text ein Gedächtnis herzustellen, welches das vergangene Ereignis und den ebenso vergangenen Akt der Beschreibung mit der steten Gegenwart des Lesers verschmelzen lässt. Vor diesem Hintergrund kann die sinnlich nachvollziehbare Darstellung der Feierlichkeiten nicht lediglich als Kunstübung betrachtet werden. Vielmehr ist sie der medialen Logik der relación geschuldet, die das festliche Ereignis durch Re-Inszenierung mit dem Hier und Jetzt des Lesers zu verbinden sucht. Die Bemühungen, das Fest auf einer virtuellen Ebene fortdauern zu lassen, sind medialer Art. Der Festbericht verleiht der Vergangenheit auf zwei Ebenen Substanz: erstens, indem er im Gedächtnis des Lesers Bilder von dem Fest hervorruft und das vergangene Ereignis so in dessen Gegenwart holt; zweitens, indem er die Flüchtigkeit des festlichen Augenblicks im gedruckten Text materialisiert und somit Informationen speichert, die wiederum in Speichermedien von noch längerer Dauer wie etwa Stadtchroniken einfließen können. So wie das Fest einen ›Abdruck‹ im Gedächtnis des Augenzeugen hinterlassen hat, so schreibt es sich durch den gedruckten Text in das kollektive Gedächtnis der städtischen Leserschaft ein. Die Medien-Zeit der relaciones de fiesta hat also eine ästhetische und eine materielle Seite. Die Raumkunst stellt das punktuelle Ereignis ästhetisch, der Drucktext materiell auf Dauer. Der ästhetischen und materiellen Fortsetzung der Verwunderung schließt sich eine dritte, semantische Verlängerung des festlichen Geschehens an. Auch wenn die barocken Feste durch ein lustvolles Ausleben des Augenblicks gekennzeichnet sind, erschöpft sich die Bedeutung des Ereignisses nicht im Moment seines Vollzugs. Die ephemeren Gebilde und Umzüge dienen nicht nur der augenblicklichen Verwunderung, sondern verfügen über eine reichhaltige Metaphorik, mit der sie auf Inhalte verweisen, die über den Zeitraum der Feierlichkeiten hinausgehen. Die

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festliche Inszenierung ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Imaginären, das sie zugleich modelliert. Hinter dem prunkvoll geschmückten Raum, der nur für einige Tage oder Wochen existiert, verbirgt sich ein relationaler Raum, der sich auf Vergangenheit und Zukunft erstreckt. Die Feierlichkeiten sind ein Akt des Erinnerns, das heißt der Aktualisierung von Elementen eines kollektiven Gedächtnisses, das zugleich aufgerufen und geformt wird. Das Erkennen der semantischen Inhalte, auf welche die Einzelheiten des Festes verweisen, bedarf einer Kenntnis derselben. Wo diese Kenntnis nicht vorhanden ist, bleibt es bei einer Erhabenheitserfahrung110, in der die sukzessive Zeitstruktur der Sinngebung zugunsten einer Gleichzeitigkeit sinnlicher Eindrücke ausgesetzt ist. Einige relaciones de fiesta, so hat die Analyse der beiden religiösen Festbeschreibungen gezeigt, behalten diese Kontingenz bei, indem sie lediglich das sinnlich Wahrnehmbare wiedergeben und auf weitere Erklärungen verzichten. Sie eliminieren bewusst das Signifikat zugunsten eines effet de réel. Andere relaciones – wie der Bericht von Leon y Arce – streben weniger eine Wirklichkeitsillusion an als vielmehr eine Interpretation des Sicht- und Hörbaren. Dies wurde bereits in der unterschiedlichen Verwendung der Bildmetapher deutlich: Wo der Berichterstatter der Kanonisierung von Andrés Corfino auf die visuelle Vorstellbarkeit gleich einer Zeichnung (»como en dibuxo«, BI 13 r°) abzielt, möchte Leon y Arce mithilfe des feinen Pinsels der Poesie »los pensamientos sutiles« (PMM 18 r°) anregen. Damit folgt auch er der Pictura-Poesis-Tradition, die Bild und Text in ein enges Interaktionsverhältnis stellt. Die von Leon y Arce verwendete Metapher verweist auf eine Emblematik, durch die der Gefahr einer möglicherweise diffusen Deutung des Gesehenen entgegen gewirkt werden soll. Sein Text kann daher als eine ausführliche subscriptio eines Gegenstandes gelesen werden, dessen Erstsinn es in einen Zweitsinn zu überführen gilt. Während die Kanonisierungs- und Beatifizierungsberichte der bildhaften Darstellung und damit dem Erstsinn des Emblems Vorrang einräumen, legt Leon y Arce den Schwerpunkt auf die Vermittlung eines Zweitsinns.111 Diese unterschiedliche emblematische Gewichtung impliziert einen je unterschiedlichen Umgang mit dem Signifikat. Wo es die Autoren der beiden religiösen Berichte unterdrücken, verwendet Leon y Arce seinen Text, um es erst hervorzuheben. Dass er mit seiner Darstellung nicht die 110 | Der Begriff der Erhabenheitserfahrung stammt von Kant und bezeichnet eine Gemütsbewegung, die, durch die Anschauung eines Gegenstandes hervorgerufen, diesen als »schlechthin groß« (Kant (1990 [1790]), 91) erscheinen lässt und die »jeden Maßstab der Sinne übertrifft« (ebd., 94). Es handelt sich um eine Raumerfahrung, die das »Sukzessiv-Aufgefaßte[] in einen Augenblick« zusammenfasst und gleichzeitig das Unvermögen dieser »Zusammenfassung der Vielheit in die Einheit« erkennt (ebd., 104-105). 111 | Zu Beschreibung und Emblematik in der Renaissance vgl. grundlegend Krieger (1992), 93-112.

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unmittelbare Abbildung eines realen Referenten beabsichtigt, äußert sich bereits in den lyrischen und metaliterarischen Überlegungen, mit denen sein Bericht durchsetzt ist. So beklagt sich der Autor etwa über die Verachtung, die der Arbeit eines Dichters entgegengebracht wird, beruft sich jedoch auf seine »fama«, die ihn als einen ihrer höchsten Diener auserkoren und ihm das diktiert habe, was an Beschreibungen der Vorzüglichkeiten Sevillas folge (PMM 18 r°). Damit lenkt Leon y Arce die Aufmerksamkeit des Lesers weg vom Darstellungsobjekt hin zur Darstellung selbst. Der Text erscheint nicht als Entsprechung eines Realen, sondern als poetische Modellierung der Wirklichkeit. Anstatt eine schlechte Kopie des Realen zu erstellen (»retrato de un buen original mal copiado«, PMM 18 r°), zieht der Autor es vor, das Gesehene mit »edlen Gedanken« zu verknüpfen. Entgegen des Titels, mit der die betreffende Episode überschrieben ist, »Donde el Autor comiença a contar la entrada Real de su Magestad en Seuilla, con quien haze un curioso parlamento« (PMM 17 v°), wird nichts vom tatsächlichen Einzug des Königs erzählt, was den Eindruck verstärkt, es gehe hier mehr um den Autor und sein Können als um die authentische Darstellung des Ereignisses. Der Autor markiert also seinen Text als von der Realität zu unterscheidende Konfiguration, die, ähnlich wie die moderne Karte, ihre reale Entsprechung nicht mehr verkörpern, sondern lediglich auf sie verweisen kann. Als alternative Zeichensysteme zur festlichen Inszenierung bieten Texte die Möglichkeit, die Bestandteile der Feierlichkeiten in literarische Topoi zu übersetzen und so die ihnen inhärente Semantik offen zu legen bzw. ihnen eine neue Semantik im wahrsten Sinne des Wortes zuzuschreiben. Der Text kann dem ephemeren Ereignis eine überzeitliche Dimension verleihen, indem er es in den Kontext eines übergeordneten Narrativs stellt. In Leon y Arces Bericht der Jornada Real kreuzen sich mehrere solcher Narrative. Der festliche Einzug Philipps IV. wird einerseits in ein irdisches, andererseits in ein eschatologisches Kontinuum eingeordnet: Der Herrscher erscheint bald in der Linie irdischer Machthaber, bald als Wegbereiter Christi, der dessen Wiederkehr präfiguriert. Über den gegenwärtigen, festlich geschmückten Raum kann somit eine Selbststilisierung des Königs erfolgen, die diesem Raum mithilfe des gedruckten Textes vergangene und künftige Ereignisse gleichermaßen einverleibt. Der Text vermag von der Gegenwart ausgehend einen relationalen, zeitlosen Raum zu schaffen.112 Zunächst stellt Leon y Arce im Sinne einer translatio imperii einen Anschluss an die römischen Kaiser her, indem er die prächtige Rüstung Philipps IV. mit derjenigen des zweiten römischen Kaisers Tiberius (PMM 19 v°) und den Einzug des Königs in Sevilla mit dem siegreichen Einzug Pompeiusՙ in Rom vergleicht (PMM 23 v°). Der König bildet als »Fenix Española« und »valiente Español perfecto« das Bindeglied zwischen dem 112 | Zum Begriff eines relationalen Raumes im Vergleich zum absoluten Raum vgl. Harvey (2006).

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Römischen Reich und der spanischen Nation. Die nationale Verankerung des Helden wiederum lässt den Autor in ein Lob auf die spanische Nation übergehen, das diese als Nachfolgerin des römischen Weltreiches identifiziert: O España, pareces bien armada diamante el pecho, por mil pechos de diamantes, que das hasta el Indio nuevo. Eres madre natural de mil Heroes sugetos, y por lo afable y Christiano eres Reyna de mil Reynos. (PMM 19 v°)

In einem anschließenden Dialog zwischen dem Autor und der personifizierten fama bestätigt diese den Herrscher als Thronfolger seines Urgroßvaters Karl V. und vergleicht ihn mit dem »göttlichen König David«. Die Identifizierung Philipps IV. als Nachfolger des ersten von Gott eingesetzten Königs, der römischen Kaiser, und als zweiter Karl V. integriert das Ereignis in eine spiralförmige Raum-Zeit (vgl. Kap. 2.1.1). Er wird bei seinem Einzug in Sevilla nicht als Individuum gefeiert, sondern als Exempel einer prästabilierten Ordnung. Der Einzug bildet als Manifestation seiner Macht einen Punkt, der sich auf jeden weiteren Punkt in der Geschichte, sei es in Vergangenheit oder Zukunft, abbilden lässt. Dass Philipp IV. zugleich ein unbewegliches Gesetz und ein bewegliches Element in sich vereint, wird in folgender Charakterisierung des Königs deutlich: »Dauid nueuo, viejo en valor y prudencia« (PMM 23 v°). Die sprachliche Antithese verknüpft das neue, einmalige Element, die Person Philipps IV., mit der alten, unveränderlichen Ordnung der von Gott erwählten Könige. Auch die Mitglieder der königlichen Bataillone werden als Helden (»Godos Heroes«, PMM 20 v°) gefeiert, die als Sieger über Mauren und Türken die christliche Herrschaft der Westgoten neu errichteten. Scheinbar widerspruchsfrei neben dem neogotischen Gedankengut steht der Anschluss an die Gottheiten der griechischen Antike. Über die Mythologie erfolgt eine Einbindung des Ereignisses in die Stadtgeschichte: Philipp IV. wird als »nuevo Alcides Carlos« bezeichnet und damit als Erbe des Stadtgründers Herkules. Die Bezeichnung schafft einen Bogen, der sich vom Gründer Sevillas über den Gründer der Habsburgerdynastie bis zur gegenwärtigen Regierung spannt.113 Der Text kann also von dem punktuellen Ereignis des Einzugs ausgehend ein Kontinuum herstellen, das sich sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft erstreckt. Die Suggestion, dass Philipp IV. eine glor113 | In einer späteren »digressio« stimmt der Autor ein Lob an auf die »Real Sevilla insigne« als »leal Corte Romana« (PMM 22 v°): Loyal sei sie wegen ihrer hohen Adelsquote, römisch wegen ihrer Größe.

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reiche Vergangenheit fortsetze, macht auch die Zukunft berechenbar. Dabei sagt der Text weit mehr aus, als dies das Ereignis selbst zu tun vermag. Er fügt der Verwunderung, in die der Betrachter beim Anblick des feierlichen Einzuges versetzt wird, einen semantischen Mehrwert hinzu und lenkt so die Erhabenheitserfahrung in geordnete Bahnen. Damit entsteht ein wirkungsvoller Kontrast zum effet de réel, wie ihn Autoren anderer relaciones de fiesta pflegen. Der Bericht erzeugt weniger räumliche Gleichzeitigkeit, sondern vielmehr narrative Kontinuität. Das Ziel ist jedoch dasselbe: Erzeugung von Präsenz im Sinne einer unendlichen Gegenwart, die einmal ästhetisch mithilfe der Raumkunst durch das Stilllegen eines Moments und einmal semantisch durch räumliche Statik mithilfe eines zyklischen Narrativs erreicht wird. Im letzten Fall macht der Text das beschriebene Ereignis, den Einzug Philipps IV. in Sevilla, zu einem Konvergenzpunkt, in dem mehrere Kontinuitätsnarrative zusammenlaufen. Er erlaubt eine Überschneidung von Vektoren mit unterschiedlichen Ausgangspunkten: Die griechische Mythologie, die alt- und neutestamentliche Heilsgeschichte, die Lehre von der Nachfolge Roms, die Exaltation der Habsburgerdynastie, das neogotische Gedankengut, der Kampf gegen den Protestantismus – all diese teils mehr, teils weniger miteinander vereinbaren Strömungen verdichten sich im Bericht der Jornada Real. Der Text vermag die Einzelhandlungen des Festes zu sinnhaften Einheiten zu verknüpfen, die sich der Betrachter möglicherweise nicht selbst erschließen konnte. Die Tatsache, dass die Darstellung der Feierlichkeiten sich nicht mit der außertextuellen Realität deckt, sondern durch den Text eine vorteilhafte Modifizierung erfährt, verheimlicht auch Leon y Arce nicht: Disculpandome que todo es la inuencion en que pasma naturaleza, mirando que el arte le haze ventaja. Bueluo a Roma, que Seuilla Roma cifra en lo que trata mi pluma, Cesares nueuos, que en todo quiso imitarla. (PMM 28 v°)

Sicherlich ist es nicht die Absicht des Autors, seine Darstellung des Ereignisses als Fiktion zu entlarven. Dennoch macht er seine Beschreibung als von der Wirklichkeit zu unterscheidende, artifiziell komprimierte Wiedergabe des Geschehens kenntlich. Es ist die Feder des Autors, die Sevilla zu einem zweiten Rom macht und die das Reale zu einer künstlichen Konfiguration erstarren lässt. Damit tritt die Leon y Arces Beschreibung der Jornada Real in Kontrast zu den untersuchten Kanonisierungs- und Beatifizierungsberichten. Anstatt das Imaginäre zu unterdrücken, hebt Leon y Arce es vielmehr hervor. An die Stelle einer potentiell unendlichen Aufzählung von Details tritt eine scheinbar unendliche metaphorische

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Dichte. Die Einzelheiten des realen Referenten treten zugunsten einer Explosion der poetischen Selbstverwirklichung in den Hintergrund. Die relaciones de fiesta, so haben die Analysen der drei Berichte gezeigt, schwanken zwischen konkreter Anschaulichkeit und metaphorischer Opazität, zwischen der Adressierung eines körperlichen und eines geistigen Auges. Wo die einen Festbeschreibungen die Ebene des Signifikats ausblenden, verschleiern andere die Ebene des Referenten bis ins Unkenntliche: Würden die Titel der einzelnen Episoden im Bericht von Leon y Arce nicht Auskunft über das beschriebene Geschehen geben, so wäre dieses inmitten der unzähligen Abschweifungen ins Allegorische kaum zu identifizieren. Gemeinsam ist den unterschiedlichen relaciones de fiesta die Medien-Zeit der Verlängerung eines flüchtigen Ereignisses, die einmal vorwiegend ästhetisch und einmal vorwiegend semantisch erfolgt. Hieraus ergeben sich zwei Arten von Zeitlosigkeit: Das ästhetische Verfahren der Raumkunst produziert eine Gleichzeitigkeit, die den Augenblick der Verwunderung durch seine Darstellung im gedruckten Text auf Dauer stellt. Das semantisch-emblematische Verfahren hebt die Zeit nach dem Prinzip einer translatio auf (vgl. Kap. 2.1.1) und schafft so eine Überzeitlichkeit, welche den Augenblick der Verwunderung in einer ewigen Ordnung aufgehen lässt. Die frühneuzeitlichen Festbeschreibungen produzieren also unterschiedliche Chronotopoi, welche die Verwunderung und das durch sie entstehende ›Zeitloch‹ je unterschiedlich funktionalisieren. Mithilfe des Verfahrens der Raumkunst konstituiert sich ein Raum der Anschauung, in dem die Zeit durch ein kontemplatives Moment stillgelegt wird. Die Wirkung, die sich im Augenblick der Verwunderung entfaltet, soll über diesen Augenblick hinausgehen. Demgegenüber löst das allegorische Vorgehen die Kontingenz der Verwunderung auf, indem sie die Zeitlücke mit semantischen Inhalten füllt und so das einmalige Ereignis in ein überzeitliches Kontinuum stellt. Während die einen Festbeschreibungen den konkreten Raum zu einem gegebenen Zeitpunkt anschaulich machen, verbergen die anderen das konkrete räumliche Substrat zugunsten eines überzeitlichen Raumes der Exemplarität. Bezeichnend ist, dass sowohl die einen als auch die anderen Berichte ihr Vorgehen reflektieren: Während Luque Fajardo seine Absicht erklärt, den geschmückten Festraum visuell vorstellbar zu machen, betont Leon y Arce den Konfigurationsakt, der die Darstellung als mediale Inszenierung enthüllt. Anders als im Mittelalter wird die Raum-Zeit der translatio bzw. der Exemplarität hier nicht als das Reale ausgegeben, sondern als Produkt des Textes markiert. Damit entgeht Leon y Arce der Falle, in welche die frühneuzeitlichen Vertreter der Raumkunst geraten sind: Der effet de réel, der durch konkrete Anschaulichkeit erzielt wird, ist genauso eine Illusion wie die mittelalterliche Analogie. Allerdings wird er nicht als solche wahrgenommen. Lediglich die ephemeren Kunstwerke sind in der Vorstellung der Autoren Inszenierungen, ein »engaño a la vista«, nicht aber deren Darstellung im Text. Dennoch, so dürften die Ausführungen in diesem

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Kapitel gezeigt haben, ist der effet de réel keine Technik, die erst in den Romanen des 19. Jahrhunderts emergiert, sondern die bereits in den frühneuzeitlichen Festbeschreibungen Anwendung findet. Er steht dort für eine Geschichtsschreibung, die sich programmatisch von der fiktionalen Literatur zu lösen versucht, indem sie sich durch eine Unterdrückung des Imaginären als faktuales Genre zu profilieren sucht.

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3. Raum-Zeiten der Wissenschaft

3.1

Z EIT UND R AUM DER FINGIERTEN M ÜNDLICHKEIT : D ER PHILOSOPHISCHE D IALOG 1

3.1.1

Der Dialog: Wissenschaftlicher und historiographischer Diskurs im Gewand der Fiktion

In wohl keiner anderen Gattung, die in der Frühen Neuzeit einen Aufschwung erlebte, gehen Erzählen und Zeigen eine so enge Verbindung ein wie im philosophischen Dialog bzw. dem Unterredungsdialog.2 Dieser inszeniert ein Gespräch zwischen mindestens zwei Personen bzw. anthropomorphen Subjekten. Aus der Tatsache, dass dies notgedrungen in 1 | Das vorliegende Kapitel basiert auf meinem Artikel (2010) »Diskursive Stadtkonstitution im philosophischen Dialog der Frühen Neuzeit«, in Sabine Heinemann & Rembert Eufe (Hgg.): Romania urbana. Die Stadt des Mittelalters und der Renaissance und ihre Bedeutung für die romanischen Sprachen und Literaturen, München: Meidenbauer, 107-125. Die dortigen Ausführungen lesen den Dialog als Medium der Auseinandersetzung zwischen einer humanistischen und einer nachtridentinischen Strömung, die sich den im Dialog konstituierten städtischen Raum je unterschiedlich zu eigen machen. Demgegenüber wird der Dialog hier weniger als Instrument zweier konkurrierender geistiger Strömungen betrachtet, sondern vielmehr als Medium eines wissenschaftlichen und historiographischen Diskurses, der typische Züge einer frühneuzeitlichen Raum-Zeit aufweist. Dafür wird hier auf generelle Überlegungen zur diskursiven Konstitution städtischer Räume verzichtet, wie sie im genannten Artikel knapp skizziert sind. 2 | Der Unterredungsdialog unterscheidet sich vom philosophischen insofern, als er nicht allgemeine, philosophische Fragen, sondern sachliche Themen erörtert. Vgl. Hösle (2006), 54-55. Die Dialoge, die in diesem Kapitel im Zentrum des Interesses stehen, sind eher dem Unterredungsdialog zuzurechnen, da in ihnen sachliche Gegenstände wie eine Reliquientranslation, der Nutzen des Eisens oder die Medizin als Handwerk behandelt werden. Dennoch wird im Folgenden der Einfachheit halber vom philosophischen Dialog die Rede sein, der den Unterredungsdialog als Subgenre mit einschließt.

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einem räumlichen und zeitlichen Rahmen stattfindet, lässt sich ableiten, dass der Dialog eine Geschichte vermittelt, auch wenn diese als Rahmenhandlung nur eine reduzierte Dynamik aufweist und sich auf ein überwiegend sprachliches Interaktionsgeschehen beläuft.3 Der Dialog kommt also nicht ohne eine, wenn auch minimale, Handlung und somit nicht ohne das Erzählen aus. Um den räumlichen Rahmen zu schaffen, in den das dialogische Interaktionsgeschehen eingebettet ist, operiert der Dialog mit einer Technik des Zeigens, indem er mit sprachlichen Mitteln einen Raum konstituiert, der sich dem Leser durch visuelle Vorstellungskraft erschließt. Dies geschieht durch eine Lokal-, Temporal- und Personaldeixis, deren Koordinaten im Dialog der Frühen Neuzeit besonders ausgeprägt sind. Anders als in den Beschreibungen festlicher Räume handelt es sich hier um ein Zeigen im engeren Sinne: Während die Autoren der relaciones de fiesta in der Regel auf Zeigwörter wie hier oder dort verzichten und Gegenstände lediglich beschreiben, konstituiert sich der dargestellte Raum im Dialog über explizite Sprechakte, in denen durch die Verwendung von Zeigwörtern die köperliche Gestik des Zeigens noch nachvollziehbar ist.4 Die dialogische Struktur von Rede und Gegenrede ermöglicht eine Erörterung theoretischer Positionen. Dadurch, dass dies im Gespräch zwischen im Text anwesenden Figuren geschieht, entsteht ein Handlungszusammenhang, der die theoretische Auseinandersetzung im Raum performiert. Dieser Raum, der im Mittelalter noch allegorisch-abstrakt gehalten war, wird in frühneuzeitlichen Dialogen zu einem konkreten historischen Schauplatz ausgearbeitet. Dies hat zur Folge, dass Verlauf, Inhalt und Ergebnis der dialogischen Erörterung nicht mehr unabhängig sind von den äußeren Umständen, unter denen das Gespräch stattfindet, sondern vom konkreten historischen Raum bedingt werden. Damit kann Wahrheit nicht mehr als überzeitlich gedacht werden, sondern wird zu dem Ergebnis eines empfindlichen, durch Kontingenzen in Ort und Zeit beeinflussten Prozesses. Während der philosophische oder sachliche Inhalt des Dialogs einem wissenschaftlichen Diskurs zuzuordnen ist, bildet seine performative Inszenierung im Raum einen fiktionalen Zusammenhang. Selbst wenn ein Gespräch genau so stattgefunden haben könnte, wie es der Autor eines Dialogs vorgibt, so wäre es ihm doch technisch unmöglich gewesen, es Wort für Wort aufzuzeichnen. Im Prolog zur Traslación de la imagen de nuestra Señora de los Reyes, einer als Dialog verfassten Schilderung der wichtigsten Reliquienüberführung des 16. Jahrhunderts in Sevilla, wendet sich der Autor im Sinne einer Widmung an seinen Auftraggeber, den Marqués de Tarifa, und führt die Figuren des Dialogs ein. Damit verlässt er die reale Kommunikationsebene und begibt sich auf die binnen3 | Vgl. Häsner (2004), 27-28. 4 | Vgl. hierzu die kurzen Ausführungen zu Bühlers Begriff des Zeigfeldes in Kap. 1.3.1.

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pragmatische Ebene eines fiktionalen Erzählers.5 Als solcher habe er der Unterredung zweier Männer gelauscht, an deren Seite er die Prozession sowie das provisorische Grabmal, in dem die überführten Reliquien bis zu ihrer endgültigen Beisetzung in der Kathedrale niedergelegt werden sollen, betrachtet (T 65). Bei den Gesprächspartnern handelt es sich um den in Toledo ansässigen Eugenio, der von seinem sevillanischen Gastgeber Laureano herumgeführt wird. Die beiden Herren habe der Erzähler beim Hinausgehen aus der morgendlichen Messe »de nuestra Señora de Belém« (ebd.) getroffen, woraufhin er ihnen gefolgt sei.6 Indem Sigüenza den Bericht einer tatsächlich stattgefundenen Translation in Dialogform verfasst, kleidet er ihn in ein fiktionales Gewand. Die offensichtliche Nicht-Identität von Autor und Aussageinstanz, die aus der Einbettung des historiographischen Berichts in eine fiktive Rahmenhandlung hervorgeht, bestätigt noch einmal die These, dass historiographischer und fiktionaler Diskurs sich in der Frühen Neuzeit nicht gegenseitig ausschließen, sondern sich vielmehr der gleichen Mittel der Evidenzerzeugung bedienen (vgl. Kap. 1.1.3). Der Modus der Fiktion ist das entscheidende Kriterium, durch das sich der Dialog von anderen theoriebildenden und historiographischen Genres wie Traktat, Kommentar, Essay, Chronik und den relaciones de sucesos unterscheidet. Dialoge verfügen über eine für fiktionale Texte konstitutive Kommunikationsstruktur: Während in anderen Formen des theoretischen Diskurses der empirische Autor mit der voix innerhalb des Textes zusammenfällt und so auf eine einzige Kommunikationsebene reduziert bleibt, spaltet sich die Kommunikation im Dialog auf in eine textexterne und eine textinterne Ebene. Auf einer außertextuellen Ebene kommunizieren empirischer Autor und potentieller Leser miteinander, innerhalb der dargestellten Welt interagieren fiktive Figuren, wobei jede von ihnen bald die Position des Hörers, bald die des Sprechers einnimmt.7 Darüber hinaus kann es, wie im Fall der Traslación, zu einer sekundären 5 | Zur binnenpragmatischen Ebenenbildung im Dialog vgl. Häsner (2004), 27-28. 6 | Da die beiden Gesprächspartner die Prozession von einer Bibliothek aus beobachten, muss sich auch der Erzähler zum selben Zeitpunkt dort aufgehalten haben. Hier drängt sich ein Bezug zum realen Autor auf: Francisco de Sigüenza hatte als päpstlicher Notar nicht nur Zugang zum städtischen Archiv, sondern gilt auch als Chronist der Bruderschaften Sevillas, von denen sein Translationsbericht als erster Text gesammelte Informationen enthält. Vgl. García de la Concha Delgado, Federico (1996), 39. Der Gang zur Bibliothek muss somit zu seinen alltäglichen Beschäftigungen gehört haben. Auch wenn Sigüenza die beiden Gesprächspartner faktisch von Anfang bis Ende des Gesprächs hätte begleiten können, ist es höchst unwahrscheinlich, dass er dies hätte bewerkstelligen können, ohne von diesen bemerkt zu werden, was die Unterredung zu einem inszenierten Gespräch gemacht hätte. 7 | Vgl. Häsner (2004), 19-21.

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binnenpragmatischen Ebenenbildung kommen, indem sich die textinterne Kommunikation zu verschiedenen Ebenen ausdifferenziert: Die Instanz, die in der Vorrede als Verfasser des Dialogs auftritt, ist zwar mit Eigenschaften des empirischen Autors ausgestattet, aber von diesem dennoch zu unterscheiden und eher als fiktive Erzählinstanz zu behandeln.8 Dadurch wird die Wirklichkeitsillusion, die mit der Inszenierung eines als real ausgegebenen Gesprächs einhergeht, teilweise durchbrochen. Wo dies über die binnenpragmatische Ebenenbildung implizit geschieht, wird der Handlungszusammenhang in manchen Dialogen explizit als fiktiv markiert. So heißt es in einem Erzählerkommentar zum Coloquio del sol: »Los interlocutores se fingen juntar en la iglesia mayor de Sevilla«.9 Solche Illusionsdurchbrechungen, ob implizit oder explizit, wurden vom frühneuzeitlichen Leser durchaus auch als solche wahrgenommen. Klaus Hempfer betont »die Tatsache, dass die von den Dialogen in der Regel aufgebaute Wirklichkeitsillusion zeitgenössisch nicht nur als Fiktion durchschaut, sondern dichtungslogisch notwendig als solche verstanden wurde, so dass die Mündlichkeit des schriftlichen Dialogs immer schon als eine fingierte Mündlichkeit gelesen wurde, der derselbe Status zukam, wie der fingierten Mündlichkeit in ›genuin‹ poetischen Texten.«10 Allerdings, so lässt sich ergänzen, erfüllt die binnenpragmatische Fiktion in ihrer Kombination mit einem wissenschaftlichen bzw. historiographischen Diskurs eine ganz bestimmte Funktion: Die offensichtliche Illusionsdurchbrechung, die den Dialog vom genuin fiktionalen Text unterscheidet, verweist gerade auf die Bedeutsamkeit der fingierten Dialogsituation. Sie macht deutlich, dass diese erzeugt ist und stellt somit den gesamten Text unter die Vorzeichen des Irrealen. Dass Wahrheit in einem fingierten Raum der Rede präsentiert wird, macht dem Leser zum einen bewusst, dass die dargestellte Erkenntnis das Produkt einer Konfiguration ist und zum anderen, dass sie von dem dargestellten raum-zeitlichen Kontext bedingt wird. Der philosophische Dialog der Frühen Neuzeit kann damit nicht nur als paradigmatisch für ein Genre gesehen werden, in dem sich wissenschaftlicher bzw. historiographischer Diskurs und Fiktion verbinden,11 sondern auch als Gattung, die zwar dem Postulat einer Annäherung an die Realität gehorcht, diese allerdings bei gleichzeitiger fiktionaler Selbstanzeige vollzieht.

8 | Vgl. ebd., 23. 9 | Mejía, Pedro (2004 [1547]): »Coloquio del sol«, in ders.: Diálogos o Coloquios, Madrid: Cátedra, 381-410, hier 383. 10 | Hempfer (2004b), 80-81. 11 | Der Dialog soll hier mit Häsner verstanden werden als theoretischer bzw. historiographischer Diskurs im Modus der Fiktion und nicht etwa als Genre einer nichtfiktionalen Kunstprosa, wie er andernorts bezeichnet wurde. Der Dialog wird also in erster Linie als fiktionale Gattung verstanden, die in einen nicht-fiktionalen Diskurszusammenhang eindringt. Vgl. Häsner (2004), 18-19.

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Beim philosophischen Dialog handelt es sich um eine seit der Antike ununterbrochene literarische Tradition, die in entsprechenden Modifikationen auch durch das Mittelalter hindurch kontinuierlich weiter verfolgt wurde. Allerdings ist in der Renaissance, verbunden mit einer lebhaften Rezeption der Antike, ein verstärktes Interesse am Dialog, und insbesondere an dessen klassischen Modellen zu verzeichnen. Diese Konjunktur des Dialogs in der Frühen Neuzeit ist jedoch, so soll hier behauptet werden, nicht nur auf die imitatio der Antike zurückzuführen, sondern auf sein kompensatorisches Potential hinsichtlich einer Vergesellschaftung unter Anwesenden, in der sich Kommunikation mehr und mehr in die Virtualität verschiebt (vgl. Kap. 2.2.2): Der Dialog sucht die Mängel einer immer gesprächsloseren Wirklichkeit fiktional zu kompensieren, indem er nicht vorhandene körperliche Präsenz auf fiktionale Figuren projiziert. In Spanien erreicht der Renaissancedialog während der Regierungszeit Karls V. seinen Höhepunkt, was unter anderem auf den Einfluss der italienischen Literatur einerseits und der Publikation der Colloquia des Erasmus von Rotterdam, die auf der iberischen Halbinsel breiten Anklang fanden, andererseits zurückgeführt werden kann.12 In diese Epoche fallen die 1547 erschienenen Diálogos o Coloquios von Pedro Mejía, der in Sevilla humanistischen Kreisen angehörte. Als 1564 die Colloquia von Erasmus dem tridentinischen Index zum Opfer fallen, wird der Dialog – zumindest vordergründig – zum Träger nachtridentinischer Diskurse.13 Dialoge wie die hier untersuchte Traslación de la Imagen de nuestra Señora des los Reyes von Francisco de Sigüenza (1579) zielen auf eine Zurschaustellung des religiösen Reichtums der Stadt Sevilla und erfüllen somit eine ähnliche Funktion wie die religiösen Praktiken, die sie beschreiben: Als sichtbare Zeichen für die Dogmen des Katholizismus sollen sie dessen Etablierung und Verbreitung gewährleisten, in Abgrenzung zu einer als Bedrohung empfundenen reformatorischen Strömung. In Anlehnung an das ciceronianische Modell setzt der frühneuzeitliche Dialog auf eine historische Kontextualisierung der Gesprächssituation, indem er, im Gegensatz zur im Mittelalter weit verbreiteten abstrahierenden Praxis, durch die Wahl prominenter Personen und durch räumlich-zeitliche Detailangaben eine geschichtstreue Darstellung suggeriert.14 Die Ausrichtung auf die historische Realität geht häufig auf Kosten eines von philosophischen bzw. theologischen Inhalten dominierten Gesprächs. Das für den diálogo circunstancial, wie Jesús Gómez15 den kontextualisierten Dialog bezeichnet, konstitutive Einbeziehen konkreter räumlicher und zeitlicher Gegebenheiten entspricht zunächst dem Bestreben einer Erzeugung von Realität. Allerdings erschöpft sich diese Konkretisierung des Raumes, anders als in den relaciones de fiesta, nicht in einem effet 12 | Vgl. Gómez (2000a), 72-73. 13 | Vgl. ebd., 80-83. 14 | Vgl. ebd., 36. 15 | Gómez (2000a).

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de réel. Vielmehr, so wird anhand der zu untersuchenden Textbeispiele deutlich werden, bilden die konkreten raum-zeitlichen Umstände einen zentralen Teil des argumentativen Prozesses und tragen so wesentlich zur Wahrheitsfindung bei.

3.1.2 3.1.2.1

Die Raum-Zeit des Dialogs Der diálogo circunstancial und der Raum der Anschauung

Das Einbetten des gelehrten Gesprächs in einen konkreten räumlichen und zeitlichen Kontext ist ein Merkmal, das den frühneuzeitlichen Dialog vom mittelalterlichen unterscheidet. Letzterer spielt sich in einem abstrakten Raum ab, das heißt das inszenierte Gespräch könnte an jedem beliebigen Ort und zu jeder beliebigen Zeit stattfinden. Da Wahrheit als überzeitlich verstanden wird, ist auch der Erkenntnisprozess nicht an einen konkreten Raum gebunden. Die Räumlichkeit der mittelalterlichen Dialogpraxis beschränkt sich daher auf die Relation zwischen den konversierenden Figuren, die dementsprechend abstrakt gehalten sind und meist in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis zueinander stehen. Der Dialog der Frühen Neuzeit hingegen situiert seine Gespräche in realistischen Räumen, wobei der Zusammenhang zwischen Schauplatz und Inhalt des Gesprächs organisch ist: Die raum-zeitlichen Umstände werden häufig dem verhandelten Thema angepasst. So treffen sich zwei der fünf Gesprächspartner in den Coloquios del convite von Mejía zunächst ›zufällig‹ auf einer Straße in Sevilla. Sie sind unterwegs zur Kathedrale, wo sie an den Gradas, den berühmten Stufen zur Hauptkirche, halt machen. Dort tauschen sie sich über das Ausleben ihrer Frömmigkeit aus, wobei deutlich wird, dass es ihnen beim Besuch der Messe weniger auf geistliche Inhalte, sondern vielmehr auf den sozialen Aspekt ankommt: »esso [der Besuch der Messe] ya no será por devoción, sino por buscar conversación, porque allí nunca falta«.16 Der Weg zur Iglesia Mayor und deren Vortreppe, die als Sinnbild für eine Zweckentfremdung der Kathedrale schlechthin stehen kann,17 bilden den geeigneten Rahmen einer so be16 | Mejía, Pedro (2004 [1547]): »Coloquios del convite«, in ders.: Diálogos o Coloquios, Madrid: Cátedra, 283-379, hier 286. Das Zusammentreffen in einem öffentlichen Raum, das häufig den Ausgangspunkt der dialogischen Auseinandersetzung bildet, kann als Wiedereinführung eines antiken Öffentlichkeitskonzeptes, des Forums, gesehen werden. Dies wird in den Coloquios del convite bestätigt durch das klassische Thema des Gastmahls und anderer »antigüedades« (ebd. 285), die auf den Stufen der Kathedrale verhandelt werden. Hier wird die sakrale Dimension der Kathedrale zugunsten der Konstitution eines säkularen Forums zurückgewiesen. 17 | Die sogenannten Gradas, welche die Kathedrale in Sevilla umgaben, besonders entlang des Patio de los Naranjos, bildeten den Knotenpunkt der städtischen Infrastruktur. Hier wurden Geldgeschäfte abgewickelt, wurde Sklavenhan-

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schriebenen, lediglich nach außen hin praktizierten Frömmigkeit, da sie zwar zum heiligen Raum der Kathedrale in Bezug stehen, jedoch lediglich dessen Außenräume konstituieren. Im weiteren Verlauf des Dialogs treffen die beiden Männer auf drei Bekannte, darunter Don Bermudo, in dessen Haus sie sich zum Essen verabreden. Sie diskutieren darüber, ob Gastmahle zulässig sind oder nicht »y [sobre] otras antigüedades agradables«18, wonach sie auch einen geistlichen Gelehrten fragen. Im zweiten Teil der Coloquios del convite treffen sich die Gesprächspartner im Haus Don Bermudos zu besagtem Gastmahl. Sie erörtern verschiedene Themen des alltäglichen Lebens, darunter die Frage, ob es gesünder sei, von einer einzigen Speise oder von mehreren verschiedenen zu essen. Während der erste Teil des Gesprächs sich auf einen Aspekt des öffentlichen Lebens bezieht, thematisiert der zweite Teil eher private Aspekte. Dieser inhaltlichen Zäsur trägt der Schauplatzwechsel vom Zentrum des städtischen Lebens, der Iglesia Mayor und der Gradas, an einen privaten Ort Rechnung. Die Übereinstimmung von propositionalem Gehalt und Schauplatz ist ein konstitutives Merkmal des diálogo circunstancial, der sich in Spanien im Laufe des 16. Jahrhunderts herausbildet. In ihm erreichen Raum, Zeit und Figuren fast eine romanhafte oder theatralische Dimension.19 Allerdings besteht hier der Unterschied zum Roman und zum Theater darin, dass die genannten Elemente im Dienste der zu vermittelnden Ideen stehen.20 Umgekehrt aber beeinflussen die Faktoren von Ort, Zeit und Person auch den Verlauf des Gesprächs. Es wäre daher verkürzt, die Konfiguration des Schauplatzes auf die Forderung des aptum decorum zu reduzieren und sie so dem propositionalen Gehalt vollständig unterzuordnen. Dies mag für die Ebene des konfigurierten Raumes gelten, auf der die raum-zeitlichen Elemente dem Inhalt entsprechend selektiert und kombiniert sind, nicht aber für den imaginären Raum, der sich im Zusammenspiel von Text und Rezeption konstituiert. Der Leser nämlich gewinnt den Eindruck, dass die raum-zeitlichen Umstände den Verlauf des Gesprächs mitbestimmen und so an der Produktion des propositionalen Gehalts mit beteiligt sind, worauf noch ausführlich zurückzukommen sein wird. Unter den Schauplätzen lassen sich Natur- und städtische Räume sowie öffentliche und private Räume unterscheiden,21 wobei das Gespräch häufig in einem öffentlichen Raum beginnt, etwa auf einem Platz oder einer Straße, um dann in einem privaten bzw. geschlossenen Raum, etwa del betrieben, wurden die exotischsten Waren aus der ganzen Welt verkauft. Dies jedoch nur so lange, bis die Handelsgeschäfte 1598 in die eigens hierfür erbaute Casa Lonja verlagert wurden. 18 | Mejía, Pedro: »Coloquios del convite«, 285. 19 | Vgl. Gómez (1988), 14. 20 | Vgl. Gómez (2000a), 144. 21 | Vgl. zu dieser Klassifizierung Hösle (2006), 210-234.

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einem Wohnhaus, fortgesetzt zu werden. Dadurch werden Schauplätze einer antiken Gelehrtenkultur wiederbelebt, wobei sie in einigen Dialogen eine lokalhistorische Ausprägung erhalten. Die im Folgenden zu untersuchenden Texte zeichnen sich sowohl durch eine Historisierung des Schauplatzes als auch durch Bewegung im Raum aus. So ist auch die Gestaltung des Schauplatzes in der Traslación de la imagen de nuestra Señora de los Reyes gekennzeichnet durch einen Wechsel zwischen öffentlichen und privaten Aufenthaltsorten. Ausgangspunkt des Gesprächs bildet die Kirche de nuestra Señora de Belém, von wo aus der Weg Laureano und Eugenio durch verschiedene Straßen und über verschiedene Plätze vorbei in die calle de Génova führt. Dort lassen sie sich in einer Privatbibliothek nieder, wobei die Verbindung zum öffentlichen Raum durch das Fenster erhalten bleibt, durch das sie das Objekt ihrer Unterredung, die Prozession mit ihren teilnehmenden Gruppen, beobachten. Schließlich begeben sie sich wieder in den öffentlichen Raum, nämlich in den Raum der Kathedrale, wo sie das aufwändig gestaltete provisorische Grabmal und schließlich die Capilla de San Pablo bestaunen. Eine Besonderheit des Schauplatzes der Traslación liegt darin, dass er nicht nur den räumlichen Rahmen bildet, sondern zugleich Gegenstand der Unterredung ist. Eine solch unmittelbare Verbindung zwischen Schauplatz und propositionalem Gehalt ist selten. Im Diálogo en alabanzas de Valladolid22 etwa, der wie die Traslación in der Tradition des Städtelobs steht, findet das Gespräch, dessen Gehalt wesentlich in einem Lob auf Valladolid besteht, außerhalb der Stadtmauern statt. Die Figuren, ein ciudadano und ein peregrino, bewegen sich auf die Stadt zu, um mit der dortigen Ankunft ihre Unterredung zu beenden. Wo die Konfiguration der realen Stadt in der Traslación einer räumlichen Ordnung, nämlich der Anordnung der wahrgenommenen Elemente im städtischen Raum folgt, ist hier der Diskurs über die Stadt von seinem Gegenstand in gewisser Weise getrennt. Allerdings ist der Bezug zwischen der Unterredung und deren Gegenstand durch eine stetige Annäherung an Valladolid gegeben, die durch Meilenangaben, welche die noch zurücklegende Strecke bis zur Stadt präzisieren, vermittelt wird, wie z.B. »dos leguas que de aquí a [Valladolid] nos quedan«.23 Dennoch ist auch im Diálogo en alabanzas de Valladolid die Verbindung zwischen der dialogischen Handlung und dem Schauplatz nicht abstrakt. Sie besteht in einer Relation der Annäherung: Dem physischen Sich-Zubewegen der Gesprächspartner auf die Stadt entspricht eine propositionale Annäherung an die zu findende Erkenntnis, die in der Überlegenheit Valladolids über andere Städte besteht. Dieser Wettbewerbsgedanke findet sich auch in der Traslación, wobei hier weniger, wie in den Alabanzas de Valladolid, entlang eines topischen Katalogs

22 | Frías, Damasio de (1955): »Diálogo en alabanza de Valladolid«, in Narciso Alonso Cortés (Hg.): Miscelánea Vallisoletana, Bd.1, Valladolid: Miñón, 225-287 23 | Frías (1955), 241.

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von Kriterien argumentiert wird,24 sondern mithilfe eines topographischen Erfassens der Stadt. Die Erschließung des städtischen Raumes in der Traslación ist gekennzeichnet durch ein komplexes Wechselspiel von Statik und Dynamik, das sich mit Leroi-Gourhan präzisieren lässt. Dieser unterscheidet zwischen zwei Arten der Wahrnehmung der umgebenden Welt: einer dynamischen Art, die sich aus dem Durchqueren des Raumes ergibt und einer statischen, die dem Subjekt erlaubt, die es umgebenden immer weiter gezogenen Kreise strahlenförmig anzuordnen.25 In der Traslación sind diese beiden Formen der Wahrnehmung diskursiv ausgearbeitet. Bald durchschreiten die beiden Dialogpartner den städtischen Raum, bald verharren sie an einem festen Beobachterstandpunkt. Dabei wechselt nicht nur das Subjekt zwischen einem dynamischen oder statischen Zustand, sondern auch die beobachteten Objekte selbst. Während des Spazierganges bewegen sich die beobachtenden Figuren durch die Straßen fort und passieren dabei einzelne Elemente des städtischen Raumes. Der Beobachter befindet sich hier in einem mobilen, das Beobachtete in einem statischen Zustand. In dem Augenblick, in dem die Gesprächspartner ihren Platz in der Bibliothek einnehmen, um die Prozession zu beobachten, findet eine Umkehrung des Verhältnisses von Statik und Dynamik statt. Die beiden Figuren nehmen die vorbeiziehenden Elemente von einer statischen Position aus wahr, während das Beobachtete im Gegensatz zur vorherigen Konstellation mobil ist. Als Laureano und Eugenio ihren Fensterplatz verlassen haben und vor der Kathedrale stehen, verkehren sich die Relationen von Statik und Dynamik erneut: Mit dem statischen Beobachtungsgegenstand kontrastiert wieder der mobile Beobachter. Allerdings kann nur bedingt von einer Rückkehr zur ursprünglichen Perspektive die Rede sein. Eugenio und Laureano verharren jeweils lange zuerst vor der Kathedrale, dann vor dem Grabmal und schließlich vor der Capilla Real im Innern des Gebäudes. Dabei wandert ihr Blick von einem Detail zum anderen. Sowohl Beobachtetes als auch Beobachter haben also eine statische Position inne, wobei der Blickwinkel des Betrachters mobil ist. Die Wahrnehmung des städtischen Raumes erfolgt somit über drei Formen der Relation von Statik und Dynamik, die den drei inhaltlichen Teilen des Berichts entsprechen: Im ersten Teil, dem Stadtrundgang, stehen mobiler Beobachter und statisches Beobachtetes in einer räumlichen Beziehung zueinander, im zweiten Teil, der Prozession, liegt eine Umkehrung dieses Verhältnisses vor, und im dritten Teil, dem Besuch der Kathedrale, stehen sich Beobachter und Beobachtetes statisch gegenüber, wobei sich das wahrnehmende Subjekt durch einen mobilen Blickwinkel auszeichnet. Das Hin- und Herwechseln zwischen unterschiedlichen Formen des Sehens macht in besonderer Weise deutlich, wie eng die Wahrnehmung des städtischen Raumes an die Perspektive des Betrachters gebunden 24 | Zur Topik des Städtelobs vgl. Lausberg (1973), 135. 25 | Vgl. Leroi-Gourhan (1980), 402-404.

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wird. Er kann nur sehen, was sich im Bereich seines Gesichtsfeldes befindet. Diese Einschränkung wird von den Beobachtern jedoch keineswegs als Nachteil empfunden, was im folgenden Zitat, in dem Laureano seine Freude an der ›Lektüre‹ der Stadt bekundet, zum Ausdruck kommt: »[A]uiendo de yr hablando por estas calles hasta el lugar donde veremos la processión, de ningunas cosas podíamos yr tratando que fuessen de más gusto que aquéllas de quien nos diesse ocassión la vista[.]« (T 71) So wie sich Eugenio die besprochenen Inhalte durch die konkrete Anschauung auf eine lebendige Art und Weise erschließen, so werden sie durch die Handlungen und Aussagen der Dialogfiguren auch für den Leser anknüpfbar an einen visuell vorstellbaren Raum. Mittels einer fiktiven Perspektive wird dem Leser Räumlichkeit suggeriert, wobei die ›Wahrnehmung‹ des Lesers an das Gesichtsfeld der Figuren gebunden ist, deren Augen diejenigen sind, durch die der Leser sieht. Die Lektüre des diálogo circunstancial ermöglicht so einen ›Durchblick‹ über die Druckseite hinaus in einen imaginären städtischen Raum, den sich der Leser im Einklang mit den Figuren erschließt. Dies wird möglich durch einen gemeinsamen imaginären Nullpunkt des Zeigfeldes, an den sich der Leser versetzt sieht. Von diesem Punkt aus kann er sich virtuell mit den Figuren durch den über sie erschlossenen Raum bewegen und ihrem Blick folgen.26 Dadurch, dass der Leser eines diálogo circunstancial den durchschrittenen Raum, anders als in den Festbeschreibungen, nicht durch die Augen einer Erzählinstanz sieht, die sich scheinbar mit dem realen Beobachter deckt, sondern durch die Augen einer fiktiven Figur, wird ihm das Gemachtsein des Rundgangs offenbar. Ihm ist bewusst, dass die Lokaldeixis im Dialog nicht direkt auf den dargestellten Raum verweist, sondern auf dessen mediale Repräsentation in der Schrift. Die Lokaldeixis gibt nicht im Sinne eines effet de réel vor, den Referenten zu verkörpern, sondern markiert den dargestellten Raum als vom realen Raum zu unterscheidende Konfiguration. Die präsenzstiftende Wirkung der Lokaldeixis wird hier in ihrer offensichtlichen Fiktionalität also zum Zeichen für Abwesenheit. Gerade diese Art einer fiktionalen Ver-Gegenwärtigung von Abwesendem – so argumentiert Jörg Dünne im Hinblick auf die geographische Karte – ist es, die sowohl das imaginäre Reisen mit dem Finger auf der Landkarte als auch das kartographische Schreiben in der Frühen Neuzeit so beliebt machen.27 Die Popularität des diálogo circunstancial steht somit für eine frühneuzeitliche Lust an der kartographischen Imagination von Räumen, am imaginären Nachvollzug einer konfigurierten Bewegung durch einen realen Raum. Durch seine fiktionale Gestaltung im Text erfährt der reale Raum eine Irrealisierung28, was wiederum Konsequenzen für die Rezep26 | Vgl. zu einem solchen imaginären Zeigen das Kapitel bei Bühler zur »Deixis am Phantasma« (1934, 121-140) sowie die knappen Ausführungen dazu in Kap. 2.2.2. 27 | Vgl. Dünne (in Vorbereitung), 204. 28 | Zum Begriff der Irrealisierung vgl. Iser (1991), 22.

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tion hat. Im Gegensatz zum allegorischen Raum des mittelalterlichen Textes, der dem Leser einen festen, prästabilierten Ort zuweist, muss sich der Leser des frühneuzeitlichen diálogo circunstancial auf einer imaginären, sich performativ konstituierenden Karte verorten: Der in der Traslación konfigurierte Raum etwa ist dem sevillanischen Leser zwar aus seiner alltäglichen Lebenswelt bekannt und dadurch dem Text vorgängig, zugleich wird er jedoch in seiner Aneignung durch eine fiktive Instanz irrealisiert. Diese Irrealisierung des Raumes im Text wird nun übertragen auf den Leser, der sich in den konfigurierten Raum übersetzt und so den ihm zugrunde liegenden realen Raum refiguriert. Der Dialog schafft wie die relaciones de fiesta einen Raum der Anschauung in der Schrift, jedoch auf andere Art und Weise. Da er zumindest auf der binnenpragmatischen Ebene über keinen Erzähler verfügt, kann er nicht beschreiben, sondern muss mit lokaldeiktischen Mitteln arbeiten. Wenn der Autor der Traslación Laureano und Eugenio immer wieder mit der Zeigegeste »este/esta« auf die Objekte und Orte verweisen lässt, über die sie gerade sprechen, so appelliert er damit an die ›innere‹ Vorstellungsfähigkeit des Lesers. Allein durch die lokale Deixis wird die Stadt zu einem visuell vorstellbaren Raum. Hinzu kommen die anderen beiden Dimensionen der Deixis, nämlich die Personal- und die Temporaldeixis: »este sitio de la Alameda por donde agora vamos, era despoblado antes que los árboles pusiessen en ella« (T 67). Der Satz enthält gleich alle drei Dimensionen der Deixis: Er verweist lokaldeiktisch auf die Plaza de la Alameda, temporaldeiktisch auf die unmittelbare Gegenwart und, ausgehend von dieser, zugleich auf die Vergangenheit des Platzes, und schließlich signalisiert die Personaldeixis das Gehen der beiden Gesprächspartner über den Platz. Durch die Personaldeixis der ersten Person Plural werden dem Leser die imaginierten Wahrnehmungskoordinaten eines Erlebenden vorstellbar gemacht.29 Die propositionale Aussage, dass es sich bei der Plaza de la Alameda um einen ursprünglich sumpfigen Ort handelte, der sich kraft der Sanierungsarbeiten durch den Conde de Barajas in einen pittoresken Durchgang verwandelt habe, wird dem Leser lebhaft vor Augen gestellt. Dadurch wird die Wahrheit, die es zu vermitteln gilt, in diesem Fall die Vorzüge der Stadt Sevilla sowie das beispiellose Verhalten ihrer Bürger, durch eine fingierte demonstratio ad oculos gestützt. Die Visualisierung des Geschehens erfüllt hier eine erkenntnistheoretische Funktion, die in der Rhetorik verankert ist: Hat der Zuhörer etwa in der Gerichtsrede den dargelegten Fall unmittelbar vor Augen, so kann er sich leichter ein Urteil bilden. Der Leser des Dialogs, so Fenelón, ist zugleich Zuschauer und Richter:30 Er verfolgt nicht nur die Diskussion der Figuren, sondern muss sich auch selbst innerhalb der unterschiedlichen Positionen situieren, selbst wenn ein Urteil im Text, etwa in Form von 29 | Vgl. Dünne (in Vorbereitung), 262. 30 | »Este espectáculo [el diálogo] es una especie de lucha, cuyo espectador y juez es el lector.« Zitiert nach Coll y Vehí (1857), 427.

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Aussagen einer Autoritätsinstanz, bereits angelegt ist. Die imaginierte Sichtbarkeit tritt also in den Dienst der Wahrheitsfindung.31 Der konkrete Raum wird als Beweismaterial für den zu vermittelnden propositionalen Gehalt herangezogen. Dass der konkrete Raum als Zeuge eingesetzt werden kann, der die dominante Position des Dialogs stützt, zeigt die Gestaltung des Raumes im Diálogo del hierro32 des sevillanischen Arztes Nicolás Monardes in besonderer Weise. Der Apotheker Burgos33 ist auf dem Weg zur Casa de la Contratación, um sich die aus der Neuen Welt gerade angekommenen Smaragde anzusehen (DH 159). Ein gewisser Doctor – hiermit reiht sich Monardes selbst in die Dialogfiguren mit ein – ist auf demselben Weg, um einen Kranken in der Wohnung des Schatzmeisters zu besuchen. Die beiden treten durch eine Nebentür ein, finden die Schatzkammer jedoch verschlossen vor. Der Eintritt durch die Nebentür und nicht etwa durch das Hauptportal der Casa de la Contratación verweist auf Exklusivität: Die nachfolgende Unterredung ist ein Gespräch unter Experten, die allein zur Teilnahme am entsprechenden Diskurs berechtigt sind. Auch die Tatsache, dass die Tür zur Schatzkammer verschlossen ist, steht in Verbindung zum sich anschließenden Gespräch. Sie kann gelesen werden als Hinweis auf die später vom Doctor zu begründende Meinung, dass Gold, Silber und Edelsteine der Wissenschaft keine neuen Wege eröffnen, im Gegensatz zum vielfältig nutzbaren Eisen. Die zu vermittelnde These wird gestützt durch die räumlichen Gegebenheiten, die das Gespräch rahmen: In der Hoffnung, dass sich die Schatzkammer während der Visite des Arztes öffnet, wartet Burgos im Innenhof der Casa de la Contratación auf den Doctor. Als dieser zurückkommt, fragt er seinen Begleiter, was er während seiner Abwesenheit beobachtet habe. Burgos antwortet mit einer Beschreibung des lebhaften Treibens im Innenhof, das er mit einer »comedia con muchos entremeses« (DH 159) vergleicht. Dabei stellt er fest, dass die Aktanten unglücklich aussehen. Der Arzt gibt die Schuld daran dem Gold und Silber, »que quitan la quietud y reposo«. Er spricht von einem Metall, das von viel größerem Nutzen als Gold und Silber sei, die – und hier beruft er sich auf Sokrates – dem Weisen zu nichts nützten (HG 160). Die damit postulierte Überlegenheit des Eisens über die Edelmetalle bildet die These, die es im nachfolgenden, eigentlichen Diskurs zu belegen gilt. Der Übergang zu diesem Gespräch, an dem auch der Metallurgist Ortuño beteiligt sein 31 | Vgl. Müller (1997), 65-66. 32 | Monardes, Nicolás (1988 [1574]b): »Diálogo del hierro«, in ders.: Primera y segunda y tercera partes de la Historia medicinal de las Cosas que se traen de nuestras Indias occidentales que sirven en medicina, Sevilla: Padilla Libros, 157 r°- 185 v°. Im Folgenden abgekürzt mit DH. 33 | Der Apotheker Bernardino de Burgos, auf den hier wahrscheinlich Bezug genommen wird, zählte zu dem Kreis von Gelehrten, aus dem Monardes ein Teil seines Wissens über die Heilpflanzen aus Amerika bezog. (Vgl. HM 37 v°)

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wird, ist räumlich durch einen Eintritt in die Kammer realisiert, in der das Eisen aufbewahrt wird: »y pues auemos llegado a la casa do esta el metal, que es mas precioso que el Oro y Plata y Esmeraldas« (DH 160). Dieser Raum habe außerdem den Vorzug, dass es dort angenehm kühl sei, wodurch er optimale Voraussetzungen für eine ausgiebige Unterredung zwischen Gelehrten biete.34 Die kurze Analyse der Exposition des Diálogo del hierro kann noch einmal zeigen, dass ein organischer Zusammenhang besteht zwischen den räumlichen Gegebenheiten, in denen das Gespräch stattfindet und dem zu vermittelnden propositionalen Gehalt. Monardes begnügt sich nicht damit, Argumente für seine These zu liefern, sondern unterstreicht diese durch eine Gegenüberstellung von einem offenen und geschlossenen Raum, der verschlossenen Schatzkammer und der geöffneten Eisenkammer, wobei der Zutritt zu beiden Räumen, und damit auch die Autorität der Thesenbildung, einem geschlossenen Kreis von Experten vorbehalten ist. Aus diesem Befund könnte man den Schluss ziehen, dass auch der diálogo circunstancial eine präfigurierte Wahrheit vermittelt, die selbst die konkreten räumlichen und zeitlichen Umstände vereinnahmt. Dies wäre allerdings insofern problematisch, als diese Umstände selbst veränderlich sind. Auch wenn die Tür zur Schatzkammer im vorliegenden Fall verschlossen ist, so weiß der Leser, dass diese genauso gut hätte offen sein können. Die Kontingenzen des historischen Schauplatzes legen unterschiedliche Verlaufsmöglichkeiten des Gesprächs offen. Dadurch werden die raum-zeitlichen Umstände, durch die Autor seine Argumentation stützt, als konfigurierte Raum-Zeit und nicht als unveränderliche Prinzipien wahrgenommen. Der Dialog inszeniert damit einen Wahrheitsfindungsprozess, der unterschiedliche Verlaufsformen annehmen kann. Im Diálogo del hierro wird eine zu beweisende Wahrheit deduktiv über das Anführen zahlreicher exempla hergeleitet: In der Rolle des Doctor verweist Monardes auf den Nutzen (»virtud«) des Eisens in der Schifffahrt – die Neue Welt habe nur mithilfe der Kompassnadel entdeckt werden können (DH 166) –, bei der Herstellung von Uhren, die den Menschen ein geregeltes Leben ermöglichten (DH 167), und schließlich seine vielseitige Verwendbarkeit in der Medizin. Den umgekehrten, induktiven Weg geht Mejía im Diálogo de los médicos, wo sich die Erkenntnis aus einer Synthese zweier gegensätzlicher Positionen ergibt, die durch eine anwesende Autoritätsperson in einem abschließenden Urteil zusammengeführt werden. In der Traslación wird die Erkenntnis, die darin besteht, Sevilla als religiöse, politische und kulturelle Metropole zu erkennen, eher verdeckt produziert: Hinter dem vielseitigen interessierten Reisenden Eugenio verbirgt sich ein Schüler, der die Informationen seines Reiseführers und damit Lehrers Laureano 34 | Möglicherweise ist die Bezugnahme auf die Raumtemperatur, die sich zu Beginn des zweiten Dialogteils noch einmal wiederholt, als Verweis auf die später diskutierte umstrittene Frage nach der Temperatur des Eisens zu lesen.

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zwar nicht unkritisch übernimmt, jedoch auf dessen Wissen angewiesen ist. In jedem der drei Dialoge setzt der Autor eine Figur als Sprachrohr ein, wobei nur im Diálogo del hierro sofort ersichtlich ist, dass in der Rolle des Doctor der Autor und Arzt Nicolás Monardes selbst auftritt. Allerdings lassen sich auch hier die anderen teilnehmenden Figuren, vor allem der Metallurgist Ortuño, nicht auf die Funktion reduzieren, dem Doctor einen Sprechanlass zu bieten, sondern tragen als Experten aktiv zur Wahrheitsfindung bei. Und schließlich – dies betrifft allerdings nur den Diálogo del hierro und die Traslación – schafft der Dialog einen Kontrast zwischen der Performanz und der Ausstellung von Wissen: Sowohl die Bibliothek als auch die Metallkammer sind Räume, in denen Wissen in einem permanenten Raum angeordnet und auf Dauer gestellt ist. Zugleich wird gerade in diesen Räumen Wissen performativ produziert. Die beiden Texte führen somit vor, wie auf der Grundlage von überlieferter Erkenntnis in Abhängigkeit von spezifischen Gegebenheiten zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort Neues erkannt werden kann. Damit verweisen die beiden Texte auf eine typisch frühneuzeitliche Spannung zwischen einem statischen und einem dynamischen Raum des Wissens, zwischen vorgegebener und zu findender Wahrheit.

3.1.2.2

Polyperspektivität und fingierte Anwesenheit

Die dialogische Wahrheitsfindung wird nicht nur durch konkrete raumzeitliche Gegebenheiten beeinflusst, sondern auch durch das Zusammenspiel verschiedener theoretischer Positionen im Widerspiel von Rede und Gegenrede. Die Beteiligung mehrerer Figuren an der Produktion von Wahrheit ist ein zentrales Charakteristikum des frühneuzeitlichen Dialogs: Im mittelalterlichen Dialog wurde Wahrheit nicht durch ein Changieren zwischen verschiedenen Positionen gefunden, sondern durch eine Dialogfigur, dem Lehrer oder einer positiv besetzten allegorischen Figur, verkörpert. Demgegenüber tritt in den hier untersuchten Dialogen nicht eine einzige Figur als Lehrer auf, dessen Wissen von unwissenden Gesprächsteilnehmern erfragt wird, sondern Erkenntnis ergibt sich aus der Verknüpfung verschiedener Positionen, wenn diese auch unterschiedlich gewichtet sind. Diese Polyperspektivität verlangt dem Leser eine verhältnismäßig hohe Beteiligung an der Sinnbildung ab. Er muss sich den übergeordneten Sinn des Textes aus einem argumentativen »Hin und Her auf der Darstellungsebene«35 erschließen. Dies ist nur möglich, wenn ein gemeinsamer Sinnhorizont von Autor und Leser vorausgesetzt werden kann. Dieser ist jedoch durch die mittelbare Kommunikation über den Text nicht mehr garantiert. Idealerweise decken sich in Dialogen, die in einem konkreten raum-zeitlichen Kontext situiert sind, die Zugehörigkeit der textinternen Akteure zu einer sozialen Gruppe mit dem kommunika-

35 | Hempfer (2002), 19.

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tiven Kontext, in dem der Dialog rezipiert wird.36 Demnach würde sich die Traslación an einen historisch interessierten Leser richten, der eine humanistische Bildung genossen hat. Dieser wird verkörpert durch den Kulturreisenden Eugenio mit seinem vielseitigen Interesse an Geschichte, Architektur, Kunst und Religion. Im Falle des Diálogo de los médicos entspricht die Diskussionskultur der Figuren im Dialog derjenigen der humanistischen Kreise in Sevilla, denen Pedro Mejía angehörte. Die Figurenbesetzung spiegelt hier den Leserkreis wider, in dem der Text höchstwahrscheinlich zirkulierte. Dennoch ist der Leser im Augenblick der Textrezeption allein mit den Dialogfiguren, ohne dass die körperliche Präsenz des Produzenten in Form eines Erzählers ersetzt wäre. So wie die Wahrnehmung des dargestellten Raumes an das Gesichtsfeld der Figuren geknüpft ist, werden auch die jeweiligen Aussagen aus der Sicht einzelner Individuen getroffen, so dass der Leser bald durch die Augen des einen, bald durch die des anderen auf den behandelten Gegenstand blickt. Der Dialog versucht zwar, Abwesenheit durch fingierte Kommunikation unter Anwesenden zu kompensieren, überlässt jedoch gerade dadurch den Leser bei der Sinnproduktion sich selbst. Die fingierte Anwesenheit erschafft eine neue Form von Abwesenheit, nämlich die Abwesenheit eines Sinngebers, der sich erst im Laufe des Gesprächs zu erkennen gibt und der sich nicht als solcher vorstellt, sondern vom Leser ermittelt werden muss. Laut einer Beobachtung von Vittorio Hösle erlebt der philosophische Dialog gerade in Krisenzeiten Konjunktur. Während der Lehrer-SchülerDialog auch in Phasen gemäßigter historischer Ereignishaftigkeit wie etwa dem Mittelalter verwendet wurde, sind andere Dialoge »Monumente radikaler Traditionsbrüche«37. Sie führen dem Leser vor, wie mit Widerständen angesichts einer neuen Position umzugehen ist, indem sie diese Widerstände darstellen und argumentativ überwinden. Auf die Krise eines Übergangs von der unmittelbaren zur mittelbaren Kommunikation übertragen, würde dies bedeuten, dass der Dialog Kommunikation unter Anwesenden vorführt, diese jedoch zugleich, wie die Erzählerfiktion der Traslación zeigt, als fiktiv und damit als kontrafaktisch entlarvt. Der Dialog kombiniert Anwesenheit und Abwesenheit, indem er einerseits die Anwesenheitskommunikation innerhalb humanistischer Zirkel nachahmt, diese jedoch zugleich verschriftlicht und dadurch aufhebt. Damit unterläuft er die Vergesellschaftung unter Anwesenden, die zunehmend durch das Medium des gedruckten Textes verdrängt wird, und deren Verschwinden er eigentlich durch die gemeinsame Anwesenheit der Figuren zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort kompensieren will. Die präsenzstiftende Zeigegeste wird in ihrer textuellen Virtualität letztendlich zum Zeichen für Abwesenheit.

36 | Vgl. Häsner (2004), 50. 37 | Hösle (2006), 125-126.

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In der Traslación lässt sich dieser Widerspruch von Präsenz und Absenz am Motiv der Bibliothek festmachen: Als Archiv von (gedruckten) Texten ist die Bibliothek ein Ort der Absenz, an dem Wissen losgelöst von seinen Produzenten gespeichert ist. Ausgerechnet dieser Ort wird zum Setting eines Gesprächs unter Anwesenden, die sich Wissen in einem performativen Prozess erschließen: Die der literarischen Kommunikationssituation inhärente Abwesenheit wird kompensiert durch die Inszenierung eines mündlichen Gesprächs, das der anwesende Erzähler hört. Lesen und Hören, Absenz und Präsenz treten hier in ein typisch frühneuzeitliches Spannungsverhältnis.

3.1.2.3.Verzeitlichung des Theoriediskurses Die raum-zeitliche Kontextualisierung des Dialogs, seine Polyperspektivität sowie die Spannung von Absenz und Präsenz machen Wahrheitsfindung zu einem instabilen, von verschiedenen Faktoren abhängigen Prozess. Zum einen führt die Gegenüberstellung unterschiedlicher argumentativer Positionen, unabhängig davon, ob sich das im dialogischen Prozess gefundene Ergebnis auf eine dominante Position zurückführen lässt oder sich aus einer Synthese der Positionen ergibt, im frühneuzeitlichen Dialog zu einem Konkurrenzverhältnis von Meinungen und damit zu einer »Pluralisierung möglicher Wahrheiten, [die] notwendig zur Relativierung von Wahrheit selbst führt«.38 Zum anderen erfährt der theoretische Diskurs durch fingierte Mündlichkeit eine Verzeitlichung: In nicht-dialogischen theoretischen Texten wie Traktat oder Essay ist die Zeit als Dimension der Erkenntnis- und Theoriebildung in der fixen Zeichenfolge ihrer Diskurse aufgehoben und bleibt allenfalls noch als Lektürezeit ›erfahrbar‹. Demgegenüber erscheint im Dialog die Konfiguration eines polyperspektivisch erörterten Gegenstandes »als ein mehr oder weniger diskontinuierliches Geschehen in Raum und Zeit und damit als ein offener und Irritationen ausgesetzter Prozeß.«39 Der Dialog kann zwar von einer örtlichen Lokalisierung des Gesprächs absehen genauso wie vom konkreten Zeitpunkt seines Stattfindens. Was ihm jedoch unmöglich ist, ist eine Abstraktion von der Dauer des Gesprächs.40 Dadurch bleibt Wahrheitsfindung ein Vorgang, der in der Zeit abläuft und in dem nicht von vorne herein festgelegt ist, wer das letzte Wort haben wird. Es ist kein allwissender Erzähler anwesend, der vom Endpunkt des Geschehens her erzählt und daher von Anfang an für eine temporale Einheit steht. Die einzelnen Repliken besetzen voneinander zu unterscheidende Zeitintervalle, die bald auseinandertreten, bald aufeinander bezogen werden können. Der Leser ist einer Spannung zwischen unterschiedlichen Perspektiven ausgesetzt, aus denen er sich die Makroperspektive selbst erschließen muss. 38 | Hempfer (2004a), 9. 39 | Häsner (2004), 34. 40 | Vgl. Hösle (2006), 235.

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Die von Häsner diagnostizierte Verzeitlichung des theoretischen Diskurses wird, so soll hier argumentiert werden, durch die Produktion von Wahrheit innerhalb eines anschaulichen raum-zeitlichen Kontextes noch verstärkt. Die Raum-Zeit des frühneuzeitlichen Dialogs ist keine allegorisch-abstrakte, sondern eine historisch-konkrete. Historischer Raum und Wahrheitsfindung stehen in einem organischen Verhältnis zueinander, das heißt ihre Verbindung ist nicht rein technisch, sondern der Raum spielt in seiner Konkretheit eine Rolle für den propositionalen Gehalt.41 Damit findet nicht nur eine Verzeitlichung des Prozesses der Wahrheitsfindung statt, sondern auch der Wahrheit selbst. Genauso wie die Mündlichkeit unterliegt auch die Zeitlichkeit im Dialog dem Modus der Fiktion. Allerdings geht ihre Bedeutung über die Ereignishaftigkeit des intratextuellen Geschehens hinaus. So können z.B. unaufgelöste Widersprüche im Dialog als Manifestationen einer Erkenntnis- und Argumentationsdynamik gelesen werden, die sich in der Zeit und damit unter sich verändernden Bedingungen vollzieht.42 Die Veränderlichkeit von Bedingungen ist dem historischen Raum geschuldet, mit dem das Dialoggeschehen eine enge Verbindung eingeht. Wenn Burgos und der Doctor im Diálogo del hierro die Tür zur Schatzkammer verschlossen finden, so ist dies nur ein vorübergehender Zustand – die Tür könnte genauso gut auch offen sein, was die Gesprächspartner möglicherweise zu einer Unterredung über die neu eingetroffenen Smaragde verleitet hätte. Und wenn Gaspar und Bernardo im ersten Teil des Diálogo de los médicos den gewählten Weg zum Haus des Kranken durch die Baustelle eines neureichen Händlers versperrt finden, der die Fassade seines Hauses saniert, so wird deutlich, dass sie mit einer Zeitverschiebung von nur wenigen Monaten diesen Weg hätten gehen können, wodurch sich ihnen möglicherweise andere Gesprächsthemen eröffnet hätten als dasjenige über die niedrige Bauweise der sevillanischen Häuser. Es ist das Hier und Jetzt, in dem die Wechselrede stattfindet, das den propositionalen Gehalt des Dialogs als situationsabhängig kennzeichnet und ihm somit einen absoluten Wahrheitsanspruch entzieht.43 Die Gesprächsgelegenheit ist gebunden an Kontingenzen in Raum und Zeit. Inwieweit die konkreten räumlichen Umstände, die den Schauplatz des Gesprächs bilden, auf den Prozess der Wahrheitsfindung einwirken und wie umgekehrt die gewählte Methode der Wahrheitsfindung die Konfiguration des Schauplatzes bedingt, soll nun anhand von zwei Dialogen näher untersucht werden.

41 | Vgl. zur Gegenüberstellung von organischer und technisch-abstrakter Verbindung von Raum und Handlung die Ausführungen Bachtins zum Chronotopos des griechischen Abenteuerromans. Bachtin (1989), 24-28. 42 | Vgl. Häsner (2004), 34. 43 | Vgl. Hempfer (2004b), 88.

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3.1.3

Diálogo de los médicos: Der städtische Raum als argumentatives Übungsfeld

Es ist wohl kaum zufällig, dass Mejía einige seiner Diálogos o Coloquios mit der Figur des Weges einleitet,44 gilt der Weg doch seit den Vorsokratikern als ein beliebtes Bild philosophischer Reflexion.45 Im Diálogo de los médicos ist die Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Gegenstand des Dialogs, nämlich der Stellung der zeitgenössischen Medizin, in einen Gang durch die Stadt eingebettet. Die hauptsächliche Diskussion findet bei einem Krankenbesuch statt, wodurch sich bereits eine Strukturähnlichkeit zwischen konfiguriertem Raum und propositionalem Gehalt, das heißt konfigurierter Zeit, andeutet. Die Einheit von Schauplatz und thematischem Inhalt bietet die Möglichkeit, den konkreten Geschehenszusammenhang als Sprechanlass nutzbar zu machen. Tatsächlich entzündet sich die Diskussion um Nutzen und Nachteile der Medizin, die den thematischen Schwerpunkt des Textes bildet, an der Klage des Patienten Don Nuño, der sich über die unangenehmen Folgen eines mehrfachen Abführens beschwert. Das Verfahren der Entfaltung eines Disputs aus einem konkreten Anlass heraus findet im Diálogo de los médicos jedoch nicht erst im Haus des Kranken, sondern bereits an früherer Stelle Anwendung: Der Weg zum Haus Don Nuños führt die beiden Gesprächspartner durch die Straßen Sevillas, wo ein durch die Sanierungsarbeiten eines neureichen Händlers versperrter Durchgang ihre Aufmerksamkeit auf die Bauweise der sevillanischen Häuser lenkt. (Gaspar) ¡qué buena delantera ha hecho en su casa! Cierto, en grande manera se ha emendado esto en Sevilla, porque todos labran ya a la calle y, de diez años a esta parte, se han hecho más ventanas y rexas a ella que en los treinta de antes. (DM 213)

Damit bindet der Autor ein aktuelles historisches Moment in seine Dialoghandlung ein: Wie einleitend erwähnt, ist mit dem ökonomischen Aufschwung Sevillas durch den Handel mit der Neuen Welt im 16. Jahrhundert in der Stadt ein städtebauliches Wachstum verbunden, das sich im Bau und der Renovierung von Privathäusern, Palästen, Kirchen und Klöstern manifestiert. Mit dieser Exteriorisierung von privatem Vermögen, die als Ausdruck eines Renaissance self-fashioning betrachtet werden kann,46 grenzt sich eine neue Generation vom architektonischen Erbe einer isla44 | Dies ist neben dem Diálogo de los médicos in den »Coloquios del convite« der Fall. 45 | Vgl. Ritter (2007), Bd. 12, 341. 46 | Zu diesem Begriff vgl. Greenblatt (1989). Zu einem Bespiel für ein Renaissance self-fashioning in Sevilla vgl. Sprenger (in Vorbereitung), 5-8. Auch Sigüenza gibt in der Traslación ein Beispiel für die Zurschaustellung von privatem

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misierten Stadt ab: Die im Einklang mit dem muslimischen Intimismus eher nach innen gekehrten Häuser, bei denen bewusst auf äußere Zurschaustellung von Reichtum verzichtet wurde, weichen prunkvoll gestalteten und nach italienischem Vorbild verzierten Fassaden.47 Die Anspielung auf diesen historischen Tatbestand erfüllt innerhalb des Dialogs eine ganz bestimmte Funktion: Der Zwischenfall des versperrten Durchgangs, vor allem aber der Grund des Hindernisses, lenkt die Figuren auf ein Themenfeld, das es ihnen ermöglicht, die argumentativen Positionen, die sie in der späteren Auseinandersetzung einnehmen werden, zu erproben. Über das Inserieren einer Baustelle in den Dialog stellt Mejía einen thematischen Bezug zwischen Architektur und Gesundheit her und damit zwischen dem aktuellen und dem nachfolgenden eigentlichen Gesprächsthema, der Medizin. Bernardo bemängelt, dass die Häuser Sevillas im Vergleich zu denen anderer Städte so niedrig gebaut seien und dies sie nicht nur »humildes y de poca authoridad« (DM 214) erscheinen ließe, sondern auch einen schlechten Eindruck auf Besucher von außerhalb mache, deren Auge an mehrstöckige Häuser gewöhnt sei. Gaspar hingegen argumentiert, indem er auf den Zusammenhang zwischen der niederen Bauweise und den lokalen klimatischen Bedingungen hinweist, dass das Äußere (»la fermosura y ornato«, DM 214) nicht auf Kosten der Lebensqualität und der Gesundheit der Bewohner gehen dürfe. Während Bernardo vom Standpunkt der Kunst her argumentiert, bezieht Gaspar seine Argumente aus der alltäglichen Erfahrung. Kunst und Empirie stehen hier einander gegenüber, wie auch im nachfolgenden medizinischen Diskurs. Dort treffen zwei ähnlich kontroverse Positionen aufeinander: Gaspar verachtet die Medizin als Handwerk48 und die Ärzte, die sie praktizieren, mit der Begründung, dass die Menschen durch »uso y experiencia« (DM 211) geheilt würden. Sein Gesprächspartner Bernardo Reichtum, wenn er Laureano und Eugenio das Haus des Herzogs von Medina Sidonia passieren lässt. Eug.: »Y estas cassas que están delante de esta espaciosa plaça y le causan tan hermossa vista ¿cuyas son?, que yo juraría que casas tan grandes en Seuilla deben ser de algún grande de España.« Laur.: »Esta casa es del excmo. duque de Medina Sidonia, la qual, con el mayorazgo della, fundó el valerosíssimo cauallero Don Aluaro Pérez de Guzmásn el Bueno […]; y agora don Alonso Pérez de Guzmán el Bueno, onzeno señor de esta casa, décimo conde de Niebla y séptimo duque de Medinasidonia, que oy viue, las va labrando dando anchura y más lugar a la plaça y muy hermosa vista con tan sumptuosa delantera que, después de acabada hasta la otra esquina que entra en la calle de la Armas – como se tiene acordado –, será la mejor que aya en España.« (T 71-72) 47 | Vgl. Maravall (1964), 52-63. 48 | Kunst (arte) ist hier im weitesten Sinne als Begriff zu verstehen, der, analog zu lateinisch ars, sowohl Wissenschaft und Technik als auch künstlerisches Können umfasst.

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dagegen lobt als Vertreter eines rationalen Wissenschaftsverständnisses die zeitgenössische Medizin und warnt vor einer Deutung von Erfahrungen unter Ausklammern jeglicher Wissenschaft, da die Erfahrung von zahlreichen Faktoren abhinge: […] porque ya vos sabéis por quán dubdosas son tenidas las experiencias desnudas de sciencia y consideración y juizio, pues se mudan con la hedad, con la complisión, con el tiempo con el lugar y con otras mil cosas. (DM 238)

Bernardo stellt der Erfahrung, die in Zeit und Raum variiert, die überzeitliche und universale Gültigkeit einer sciencia entgegen, die in der Vernunft (»consideración y juizio«) gründe. Dass eine solche, der alten raumzeitlichen Episteme entsprechende Wahrheitsauffassung nicht mehr unumschränkt gilt, zeigt nicht nur der offensichtliche Diskussionsbedarf, sondern auch, dass diese nicht als Siegerin, zumindest nicht als alleinige, aus dem Streitgespräch hervorgehen wird. Im Einklang mit dem humanistischen Dialogmodell zeichnet sich der Diálogo de los médicos durch eine harmonische Atmosphäre aus – Höflichkeit und Freundschaftsbekundung bilden die Folie, vor der es schließlich zu einer Auflösung der Kontroverse kommen kann. Mit am Dialog beteiligt ist ein gewisser Maestro Velázquez, der von den Gesprächsteilnehmern als Autorität anerkannt ist und eine normative Instanz verkörpert, indem er, analog zum Schema der antiken Gerichtsrede,49 ein abschließendes Urteil in Bezug auf die beiden gegensätzlichen Positionen abgibt. Das Urteil fällt jedoch weder zugunsten des einen noch des anderen Standpunktes aus, vielmehr vereint es beide: »[N]o […] quedan vencedores los que llaman empéricos, ni vencidos los racionales, que siguen el arte, porque entre estos dos vandos o opiniones ay otra tercera que se deve tener.« (DM 268) Es findet also eine Synthese der beiden unterschiedlichen Meinungen statt. Die einzelnen Gesprächspartner haben etwa gleichen Anteil an der Wahrheit, nach der in weitgehendem Einvernehmen geforscht wird.50 Die Medizin kommt weder ohne überzeitliche, in der Vernunft wurzelnde Prinzipien aus, noch ohne die von konkreten Umständen abhängige Empirie. Damit die Medizin effizient sein kann, müssen sich in ihr die varietas temporum (und locorum) mit dem Unbewegten verbinden. Das zeitliche Imaginäre, das der Diálogo de los médicos refiguriert, entspricht also ganz der Doppelbödigkeit einer frühneuzeitlichen Raum-Zeit, die sich weder im StatischZyklischen, noch im Dynamisch-Linearen erschöpft. Die Episteme, die von universalen, also von räumlich und zeitlich unabhängigen Prinzipien 49 | Zum System der antiken Gerichtsrede vgl. grundlegend Lausberg (1973), 139. 50 | Der harmonische Geist, der einen Großteil der frühneuzeitlichen Dialoge beherrscht, stellt nach Gómez im Vergleich zum polemischen Charakter des mittelalterlichen, insbesondere scholastischen Dialogs eine Neuerung dar. Vgl. Gómez (2000a), 29.

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ausgeht, verbindet sich im Diálogo de los médicos mit einem verzeitlichten Wissensraum, in dem Wahrheit von konkreten Umständen abhängt. Dies führt zurück zur Verbindung zwischen historischem Raum und propositionalem Gehalt des Dialogs. Nicht nur auf inhaltlicher Ebene lassen sich Anknüpfungspunkte zwischen der im Gang durch die Stadt realisierten Raumkonfiguration und dem Prozess der Wahrheitsfindung ausmachen. Nicht allein die Art und Weise, wie die beiden Gesprächspartner über den durchschrittenen Raum sprechen, verweist auf den späteren Diskussionsverlauf, sondern auch die Art und Weise, wie sie diesen Raum handelnd erschließen. Eine Analyse des argumentativen Aufbaus des Dialogs legt über die inhaltlichen Parallelen hinaus auch strukturelle Interferenzen zwischen dem räumlichen Geschehenszusammenhang und der epistemischen Ebene offen. Der fiktive Handlungsrahmen des Diálogo de los médicos wird dadurch eröffnet, dass die beiden Nachbarn Bernardo und Gaspar ihr Haus zufällig zur selben Zeit verlassen und sich auf der Straße treffen: »No paresce sino que nos espiamos el uno al otro, según salimos a un tiempo.« (DM 211) Sie stellen fest, dass sie in ihrer Absicht, das Haus eines kranken Freundes aufzusuchen, dasselbe Ziel haben. Im Motiv der Begegnung tritt die Einheit der Raum-Zeit-Bestimmungen, wie sie Bachtin für den Roman postuliert, besonders deutlich zutage. Denn hier ist die zeitliche Prämisse (zu ein und derselben Zeit) untrennbar mit der räumlichen Bedingung (an ein und demselben Ort) verbunden. Die Begegnung ist konstitutiver Bestandteil des hellenistischen Abenteuerchronotopos und stellt damit »eines der ältesten sujetbildenden Ereignisse der Epik«51 dar. Im Diálogo de los médicos bildet die Begegnung, ähnlich wie im Abenteuerroman und der comedia (vgl. Kap. 3.1.4.) ein handlungsstiftendes Moment: Ohne die Begegnung würde der Handlungszusammenhang gar nicht erst zustande kommen. Dennoch ist bemerkenswert, dass Mejía das zufällige Zusammentreffen der Gesprächspartner mit in das Dialoggeschehen aufnimmt und das Gespräch nicht erst nach der Begegnung einsetzen lässt. Ähnlich verhält es sich im Diálogo del hierro: Auch hier kreuzen sich die Wege der fiktiven Gesprächspartner zufällig im Vorhof der Casa de la Contratación. Und schließlich bildet auch in der Traslación eine Begegnung den Ausgangspunkt des Gesprächs. Allerdings sind es hier nicht die Gesprächspartner, die einander begegnen, sondern der Erzähler trifft auf die beiden Dialogpartner. Der entscheidende Unterschied zwischen den Begegnungen in den untersuchten Dialogen und den Begegnungen im Abenteuerroman ist der, dass die Begegnung nicht in einem abstrakten, weitläufigen Raum stattfindet, der allein durch die Relation der Figuren zueinander definiert ist, sondern an konkreten Orten. Demnach kann sich die Bedeutung der Begegnung hier auch nicht auf eine handlungsstiftende Funktion beschränken, wie im Diálogo de los médicos deutlich wird.

51 | Bachtin (1989), 23.

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Die Koinzidenz von Raum und Zeit, die zum Zusammentreffen der beiden Nachbarn Gaspar und Bernardo führt, soll hier als Indiz für deren Gleichstellung in der späteren Diskussion und für die Gleichrangigkeit ihrer Beiträge zum schließlich gefundenen Ergebnis gelesen werden. Hierauf scheint bereits Gaspars Reaktion auf das zufällige Zusammentreffen hinzuweisen: Muchas vezes acontesce assí: moverse a una cosa la voluntad de dos hombres, estando en diversos lugares, y aún acordarse el uno del otro a un mismo tiempo; que paresce que se entienden los ánimos entre sí. (DM 212)

Damit ist der Verlauf der nachfolgenden Auseinandersetzung vorweggenommen: Den »diversos lugares« entsprechen die unterschiedlichen Positionen, welche die Diskussionspartner innerhalb des medizinischen Diskurses einnehmen werden. Die von Gaspar postulierte Verständigung der menschlichen Geister untereinander antizipiert die Einigung, zu der die beiden gelangen werden. Der zurückzulegende Weg, den sie gemeinsam gehen, verstärkt einerseits die Aussicht auf Einigung, und entspricht andererseits dem gedanklichen Fortschritt, den die Dialogpartner im Verlauf des Gesprächs vollziehen werden. Der städtische Raum dient im Diálogo de los médicos also nicht lediglich als Kulisse, vor der sich der philosophische Disput entfalten kann, denn diese Funktion erfüllt bereits das Wohnhaus des Patienten, aus dessen Zustand sich die Diskussion speist. Vielmehr stellt der Weg durch die Stadt hier ein Modell für den Verlauf der nachfolgenden Auseinandersetzung zur Verfügung. Der Gang durch die Stadt wird zur epistemischen Figur der Wahrheitsfindung, indem er den argumentativen Prozess des philosophischen Gesprächs vorwegnimmt und die am Gespräch beteiligten Figuren ihre wissenschaftlichen Positionen erproben lässt. Die dialogische Auseinandersetzung wird nicht nur in einem konkreten Raum verankert, sondern wird durch dessen Gegebenheiten sowie durch die Bewegungen, mit denen er erschlossen wird, wesentlich bestimmt.52 Durch das Einbeziehen konkreter historischer Umstände, wie es ein Großteil frühneuzeitlicher Autoren im diálogo circunstancial praktiziert, wird ein zentraler Aspekt des humanistischen Denkens eingelöst: Die Verankerung des philosophischen Diskurses in einem realen, historischen Raum macht die geschichtliche Bedingtheit von Wahrheit deutlich. Die Anreicherung des propositionalen Gehalts durch die persönliche Erfahrung der Gesprächspartner beinhaltet ein subjektives Moment, das den absoluten Charakter der Wahrheit relativiert. Hierin unterscheidet sich der umgebungsbedingte vom belehrenden Dialog, der zwischen den 52 | Der Weg wird hier zum Bild einer Methode. Damit greift Mejía auf die platonisch-aristotelische Grundlegung von Weg als dem Verfahren systematisch rationaler Forschung und Darstellung zurück. Vgl. Ritter (2007), Bd. 5, 1304-1305 u. Bd. 12, 341.

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Figuren ein klares Lehrer-Schüler-Verhältnis etabliert, um eine Wahrheit mit absolutem Wert zu vermitteln.53 Nicht nur die Verzeitlichung des theoretischen Diskurses, das heißt seine Koppelung an eine konkrete Zeit, macht Erkenntnis zu einem offenen, Störungen ausgesetzten Prozess, sondern auch dessen Verräumlichung, das heißt seine kontinuierliche Rückbindung an einen dynamischen, in ständiger Veränderung begriffenen Raum. Der diálogo circunstancial verbindet die alte Raum-Zeit mit der neuen: Einerseits geht er von überzeitlichen Wahrheiten aus, die es im Gespräch sukzessive zu entschlüsseln gilt und die durch Autoritäten (Maestro, Doctor) gestützt werden. Andererseits sind diese Wahrheiten nicht unumstritten, weshalb sie erst induktiv oder deduktiv hergeleitet werden müssen. Und dieser Prozess wiederum hängt von konkreten räumlichen Bedingungen ab, die ihn destabilisieren. Allerdings können im diálogo circunstancial, wie nun mit einem eingehenderen Blick auf die Traslación gezeigt werden soll, gerade auch die konkreten räumlichen Bedingungen genutzt werden, um eine prästabilierte Wahrheit zu vermitteln und um so mögliche Irritationen im zeitlichen Verlauf des Dialogs abzufangen.

3.1.4

Traslación de la imagen de Nuestra Señora de los Reyes: Die empirische Raum-Zeit im Dienste der allegorischen

Auch Sigüenza greift in der Traslación de la Imagen de nuestra Señora de los Reyes auf die Inszenierung eines Weges zurück, der in einem Gang zweier Männer durch die Straßen Sevillas realisiert ist. Und auch hier umrahmt der Weg zum zentralen Ort des Geschehens den thematischen Schwerpunkt des Dialogs. Diesen bildet die Überführung des ältesten Marienbildes der Stadt, zusammen mit den bedeutenden Reliquien des Königs Fernando III. und des Schutzheiligen San Leandro von ihrer ursprünglichen Grabstätte in die Iglesia Mayor im Rahmen einer festlichen Prozession. Als Teil einer lebendigen sevillanischen Festkultur hat die Translation in höchstem Maße ostentativen Charakter. Sie dient der Zurschaustellung des religiösen Reichtums der Stadt, aber auch dem Aufrechterhalten sozialer Ordnungen mithilfe ihrer Inszenierung.54 Durch die performativen Akte des Stehens und Gehens wird ein homogener, imaginärer Raum erzeugt, der durch kollektive Orte der sevillanischen Religiosität abgesteckt ist.55 Der abgeschrittene Raum ist zentriert um das religiöse und politische Zentrum der Stadt, Kathedrale und Ayuntamiento, wodurch die Prozession nicht nur eine Bewegung im Raum, sondern auch eine Bewegung in der Zeit vollzieht: Die Translation der imagen von einem Ort zum anderen

53 | Vgl. Gómez (2000a), 120. 54 | Vgl. Bonet Correa (1990), 5-8. 55 | Vgl. Sprenger (2002).

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verweist zugleich auf eine translatio imperii, eine Übertragung des Reiches Gottes auf die spanische Nation und damit von der Ewigkeit in die Zeit.56 Der Transport der Reliquie durch den Raum übersetzt Statik in Dynamik, Nicht-Zeitlichkeit in Zeitlichkeit. Die Reliquie befindet sich stets in einem Zustand der Nicht-Zeitlichkeit, denn sie ist lediglich die Spur einer nicht mehr vorhandenen Präsenz. Nach de Certeau vernachlässigt diese Statik eine wichtige Komponente des »in der Welt seins«, die im Akt des Gehens ausgedrückt ist.57 Die Bewegung, mit der die Reliquie durch den Raum transportiert wird, vermag die Nicht-Zeitlichkeit der Reliquie vorübergehend aufzuheben, indem sie Präsenz schafft und die Spur mit dem Hier und Jetzt verbindet. Auf diese Weise kann die Reliquie bzw. die imagen de los Reyes, die zeitliche und räumliche Kontinuität gewährt,58 ihre Wirkung in der unmittelbaren Gegenwart entfalten. Die Herausforderung eines Textes, der eine solche Aktualisierung darstellen soll, besteht darin, die Bewegung, durch die das Abwesende präsent gemacht wird, aufrecht zu erhalten und diese nicht in der Zeichenhaftigkeit der Druckschrift erstarren zu lassen. Der gedruckte Text ist nämlich selbst nichts anderes als eine statische Spur und damit eine Reliquie, ein Überrest des Ereignisses. Das Genre des Dialogs scheint dieses Problem, dem auch die relaciones de fiesta gegenüberstehen (vgl. Kap. 2.2), in angemessener Weise lösen zu können: Als performative Gattung imitiert der Dialog die Performativität der Prozession, an welcher der Leser als Zuschauer durch die Augen Laureanos und Eugenios teilnimmt. Vor diesem Hintergrund kann der Itinerar, den die beiden Betrachter auf dem Weg zu ihren ›Publikumsplätzen‹ in der Bibliothek zurücklegen, als Prozession im Kleinen betrachtet werden.59 Wo der Translationszug eine religiöse translatio vollzieht, realisieren Eugenio und Laureano auf ihrem Rundgang eine translatio imperii im weltlichen Sinne: Erste Station der Strecke bildet die Alameda de Hércules, wo zwei auf Säulen platzierte Statuen auf die mythologische Gründung der Stadt durch Herkules einerseits und auf die weltliche Gründung durch Caesar andererseits verweisen. Letztere wird noch einmal belegt durch die Ruinen von Sevilla la vieja, die für den römischen Ursprung der Stadt stehen. Laur.: Essa Ciudad es Seuilla la vieja, que ya está destruyda, y agora se veen sus reliquias casi una legua désta, junto a un pueblo que se llama Santiponce; y esse hombre más poderoso que Hércules, por quien la prophetiza dixo que auía de ser esta Ciudad fundada, fue Julio Céssar, ques el segundo fundador que tengo dicho. (T 70) 56 | Vgl. Sprenger (in Vorbereitung), 72-73. 57 | Vgl. Certeau (1990), 147-148. 58 | Vgl. Sprenger (in Vorbereitung), 166. 59 | Denkbar ist auch, den Rundgang Eugenios und Laureanos als mnemotechnisches Verfahren zu betrachten, das kollektive Gedächtnisorte einerseits aufruft, sie andererseits neu besetzt. Vgl. dazu ausführlich Lay Brander (2009).

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Von diesen Relikten der Vergangenheit aus gelangen die beiden Spaziergänger zum administrativen Zentrum Sevillas, in dem sich die gegenwärtige politische Macht der Stadt manifestiert: Über die calle del Alameda, deren ursprünglicher Name, calle del Puerco, aufgrund des zunehmenden Handels- und Verkehrsaufkommens geändert wurde, sowie über weitere Achsen ökonomischer und kommerzieller Macht, führt der Weg die beiden Beobachter zur Cárcel Real und schließlich zur plaza de San Francisco, die von den Gebäuden des Gerichtshofes, der Stadtverwaltung und des Klosters San Francisco umsäumt ist. Die Dialogpartner vollführen also durch ihre Bewegung im Raum den zeitlichen Sprung der translatio imperii: vom mythischen Ursprung über das römische Reich hin zur gegenwärtigen Metropole. Der Dialog macht diese Bewegung in Raum und Zeit auf der Darstellungsebene mit. Im Gegensatz zur topographischen Methode der Stadtchroniken, bei der der Geschichtsschreiber die Beobachtungen seiner archäologischen Streifzüge präsentiert und dem Leser so Beweise für die These einer translatio imperii liefert, kann der Leser der Traslación, repräsentiert durch Eugenio, den Itinerar des Geschichtsschreibers, verkörpert durch Laureano, selbst mitgehen. Mit dem wissbegierigen Eugenio ist somit ein Modell-Leser60 im Text anwesend, der dem realen Leser das erwünschte Rezeptionsverhalten vorspielt. Allerdings bildet die von Laureano und Eugenio vollführte ›Prozession im Kleinen‹ auch ein Gegenstück zur ›großen‹ Prozession. Sieht man von lokalen Platzkämpfen zwischen den beteiligten Gruppen ab,61 so haben im Translationszug jedes Element und jede Person ihren festen Platz und dies nicht nur in einem sichtbaren Umzug, sondern auch in einem allegorischen (Zeit-)Raum.62 In der ›kleinen‹ Prozession hingegen erschließen sich zwei Subjekte die Welt selbst: Die Raumlektüre durch Laureano und Eugenio geht zwar vordergründig in demjenigen raum60 | Zum Begriff des Modell-Lesers vgl. Eco (1987), 61-82. 61 | So beispielsweise der in Kap. 4.1.1.1 erwähnte Streit zwischen der Audiencia, dem Cabildo, den Inquisitoren und dem Ayuntamiento um die Rangordnung bei der Prozession anlässlich der Begräbnisfeierlichkeiten Philipps II. 1598 in Sevilla, der so weit ging, dass die Prozession abgesagt werden musste. Sigüenza erwähnt nichts von solchen Streitigkeiten, sondern lässt seine Figuren im Gegenteil die Ordnung loben, mit der die Prozession vor sich geht: Laur.: Y no fue menos bueno el acuerdo que no entrara ninguna [cofradía] en la Iglesia porque, aunque es tan grande, con tanto número de cofrades no se si dexarán lugar para las órdenes y para la clerezía. Eug.: Yo alabo, en verdad, la orden que se a dado y el silencio que todos lleuan, que pone deuoción a quien los mira; (T 75-76) 62 | Vgl. Foucault (1983), der im Hinblick auf La Tentation de saint Antoine (1874) von Flaubert schreibt: »Chaque élément ou chaque figure a donc sa place non seulement dans un défilé visible, mais dans l’ordre des allégories chrétiennes, dans le mouvement de la culture et du savoir, dans la chronologie inversée du monde, dans les configurations spatiales de l’univers.« (ebd. 117)

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zeitlichen Gefüge von Ähnlichkeiten auf, das auch die Translation konfiguriert, dennoch wählen sie als agierende Subjekte ihren eigenen Weg und nutzen so einen Handlungsspielraum, den die offiziell vorgegebene Ordnung der ›großen‹ Prozession nicht zulässt. Der institutionell vorgegebenen Kodierungsbewegung schließt sich eine individuelle Lektüre des städtischen Raumes an, welche diese um weitere, möglicherweise nicht vorgesehene und auch nicht kontrollierbare Deutungen ergänzt. Eugenio ist ein aufmerksamer, wenn auch kritischer Zuhörer, der als Bewohner der Konkurrenzstadt Toledo von der Überlegenheit Sevillas überzeugt werden muss. Auch wenn Sigüenza, im Einklang mit der humanistischen Dialogpraxis, auf einen freundschaftlichen Geist setzt, liegt hier, anders als im Diálogo de los médicos, zunächst ein asymmetrisches Verhältnis zwischen den Gesprächspartnern vor. Als Unkundiger erscheint Eugenio auf die von Laureano vorgeschlagene Lesart des durchschrittenen Raumes angewiesen. Durch ein einfaches Frage-Antwort-Schema, das darin besteht, dass Eugenio um Informationen zu einem bestimmten Monument bittet, die ihm Laureano jeweils bereitwillig erteilt, wird der Gesprächspartner in großen Teilen des Dialogs zum reinen Sprechanlass seines Gegenübers degradiert. Allerdings wird die disproportionale Verteilung der Repliken dadurch relativiert, dass Eugenio hier und da Kritik übt, sei es am Fehlen einer »buena plaça« (T 73) oder an der mangelnden Frömmigkeit der Stadtbewohner, die er aufgrund eines nicht fertig gestellten Kirchengebäudes zu erkennen glaubt: »Muy deuota me a parescido la imagen de esta iglesia y muy poco la gente de esta Ciudad pues, siendo tan antigua como lo da a entender su pintura, está agora por acabar la iglesia.« (T 66) Das Beklagen des Zustandes eines heiligen Objektes ist ein Motiv, das dem Pilgerbericht entstammt:63 Die Schuld am Verfall von christlichen Stätten tragen die Heiden, da sie den sakralen Orten nicht genügend Achtung entgegenbringen. Eine solche Kritik würde schwer auf der in der Translación präsentierten sevillanischen Bevölkerung lasten. Laureano begegnet dem Vorwurf, indem er Beispiele nennt, die die Frömmigkeit der Bewohner belegen sollen, woraufhin Eugenio seine Beanstandung zurücknimmt. Auch von der Überlegenheit der Kathedrale Sevillas gegenüber der toledanischen muss Eugenio erst überzeugt werden: »Alto y soberbio edificio es el de esta Iglesia, y de gran magestad, […] aunque no tan galana como la nuestra de Toledo, que discretamente la consideró nuestro cathólico emperador Carlos Quinto, quando juzgó que parecía ésta caxa de la de Toledo.« (T 108) Laureano widerlegt die von seinem Begleiter postulierte Überlegenheit der toledanischen Kathedrale, indem er, ebenfalls in Berufung auf Karl V., eine Reihe von Argumenten anführt, die für eine Bevorzugung der Kathedrale in Sevilla sprechen. Allein die Tatsache, dass sie höher gelegen sei (»para entrar por cualquier puerta de la iglesia se suba a ella por gradas«; T 108), sei ein Vorzug, der sie gegenüber der tiefer gebauten Kathedrale Toledos auszeichne (»es menester baxar otras 63 | Vgl. Jahn (1993) 71-72.

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tantas [gradas] para entrar en ella«, T 108). Ein weiteres Argument bezieht sich auf den materiellen Reichtum der Stadt und somit eine bessere Bezahlung der Handwerker: »[L]a fábrica es doblado más rica que esotra, y los maestros de las obras y canterías, por causa de los grandes salarios, muy mejores y más hábiles.« (T 108) In solchen Wortwechseln zeichnet sich ein Wettstreit zwischen den Städten Sevilla und Toledo ab, dessen performative Austragung durch das Prinzip von Rede und Gegenrede im Dialog ermöglicht wird. Dabei scheint das sokratische Prinzip des kontroversen Dialogs durch, auch wenn ein freundschaftlicher Grundton beibehalten wird. Die Traslación enthält also Ansätze von Dialektik, wenn auch eine überaus positive, zum Hyperbolischen neigende Perspektive auf die Stadt dominiert.64 Denn die von seinem Gegenüber geäußerte Kritik veranlasst Laureano dazu, die Religiosität der Stadt nicht nur zu verteidigen, sondern in all ihren Facetten zu illustrieren. Aus der den Text einleitenden Dekadenzklage entfaltet sich ein Lob auf die Tugend der Stadtbewohner, die Eugenio schließlich dazu veranlasst, seine Kritik zu revidieren: »De essa manera me desdigo de lo que antes dixe, y antes alabo la deuoción del pueblo pues, en tan poco tiempo, an hecho tanto.« (T 66) Durch die tadelnden Bemerkungen Eugenios wird das Schema eines dialektischen Umgangs mit dem Gegenstand aufgerufen, fällt jedoch sogleich einer Relativierung zum Opfer. Der humanistische Gestus der kritischen Auseinandersetzung wird anzitiert, um sodann für die Vermittlung einer eindeutigen Makroposition genutzt zu werden. Hinter den beiden Figuren steht eine einzige Instanz, die Sevilla lobt und durch das Andeuten möglicher Schwächen der Stadt jeder Kritik vorauseilend begegnet. Damit wird das Ziel verfolgt, Sevilla in einen heilsgeschichtlichen Kontext im katholischorthodoxen Sinne einzuschreiben und so dem Ruf einer Stadt entgegenzuwirken, die als »gran Babilonia de España«65 verschrien war. Genau diese Rückbindung an die Bewegung der Katholischen Reform leistet Sigüenza, wenn er existierende Klischees aufgreift, um sie zu relativieren: »no es poco loor de Ciudad que en el parescer es tan babilónica, caber dentro de ella tanta parte de Jerusalém.« (T 84) Wurde die Affinität Sevillas zum himmlischen Jerusalem im Dialog bereits mehrfach angedeutet, so erscheint sie an dieser Stelle explizit. Der vermeintlich unter den humanistischen Vorzeichen der Höflichkeit und der Dialektik geführte Dialog fällt in allegorische Deutungsmuster zurück. Der städtische Raum wird heilsgeschichtlich aufgeladen und zur Gottesstadt stilisiert. Die empirische Auseinandersetzung mit einem konkreten Raum führt nicht, wie im Diálogo de los médicos, zu einer notgedrungenen Infragestellung überzeitlicher Wahrheiten, sondern wird, im Gegenteil, gezielt zur Festigung 64 | Damit reiht sich der Dialog in die Tradition des frühneuzeitlichen Städtelobs ein. Zum laus urbis als literarischem Topos vgl. grundlegend Curtius (1978), 166. Siehe auch Lausberg (1973), 135 sowie Arnold (2000), 250. Zum Städtelob speziell in Sevilla vgl. Piñero Ramírez (1991). 65 | Góngora y Argote: »Comedia de las firmezas de Isabela«, 87.

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eines prästabilierten Narrativs genutzt. Damit einhergehend ergibt sich die Makroposition des Dialogs im Gegensatz zum Diálogo de los médicos hier auch nicht aus einer Synthese unterschiedlicher Positionen, sondern aus der Anhäufung von exempla. Das Gespräch verläuft nicht linear, das heißt entlang einer Argumentationskette, sondern folgt der zyklischen Bewegung einer immer neuen Bestätigung der zu vermittelnden einen Wahrheit, nämlich dem Herausstellen Sevillas als neuem Rom einerseits und als Abbild des Himmlischen Jerusalem andererseits. Allerdings sind in der Traslación Zweifel eines möglicherweise kritischen Lesers mit eingerechnet. Mit Eugenio wird dem Rezipienten vorgeführt, wie er mit Zweifeln an dem Beschriebenen, wie sie während der Lektüre auftauchen können, umzugehen hat. Der Text geht also von einem kritischen Leser aus, nimmt dessen Kritik jedoch textimmanent vorweg und versucht sie dadurch zu tilgen. Es treten zwar Irritationen im Wahrheitsfindungsprozess auf, diese werden aber nur vorgetäuscht, um sogleich durch die übergeordnete Position abgefangen zu werden. Die neue Raum-Zeit wird in Form der Auseinandersetzung mit einem hochgradig konkreten Raum und Störungen im zeitlichen Verlauf des Gesprächs anzitiert, um sodann von der alten Raum-Zeit in Form einer mehrfachen translatio wieder eingeholt zu werden. Trotz dieser totalisierenden Tendenz verzichtet die Traslación auf den Impetus der völligen Vereinnahmung, wie ihn Joachim Küpper für die nachtridentinische Neuscholastik diagnostiziert.66 So ist in der Aussage Eugenios, der über den Jerusalem-Charakter einer als Babylon verrufenen Stadt staunt, eine gewisse Ironie nicht zu überhören. Ob diese vom zeitgenössischen Leser wahrgenommen wird oder nicht – der allegorische Raum bleibt an den konkreten Raum Sevillas gebunden, ja er ist auf diesen angewiesen: Der Ruf der »gran Babilonia de España«, der Sevilla anlastet und von dessen Unwahrheit auch Eugenio überzeugt werden muss, kann nur mithilfe von größter historischer Genauigkeit und unter Anschauung des konkreten Raumes widerlegt werden. Sowohl im Diálogo de los médicos als auch in der Traslación wird über eine fingierte Lokal-, Temporal- und Personaldeixis, die einen Gang zweier Männer durch das Zentrum Sevillas erkennen lässt, ein Raum der Anschauung erzeugt, der den Prozess der Wahrheitsfindung unterstützt. Ausschlaggebend dabei ist die archäologische Genauigkeit, mit welcher der städtische Raum in den Blick genommen und auf den propositionalen Gehalt der Unterredung bezogen wird. Doch selbst diese Konkretisierung lässt Spielraum für eine je unterschiedliche Funktionalisierung des realen Raumes. Wo er im Diálogo de los médicos als Übungsfeld herangezogen wird, auf dem die in der späteren Diskussion einzunehmenden Positionen exemplarisch erprobt werden können, wird er in der Traslación zum Gegenstand einer Re-Allegorisierung, das heißt die konkrete Raum-Zeit 66 | Vgl. Küpper (1990).

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wird von einer abstrakt-allegorischen überblendet. Dennoch kann die Verzeitlichung des Raumes in Form einer konkreten Historizität, an die das dialogische Geschehen geknüpft ist, nicht mehr vollständig aufgehoben werden. Durch die räumlichen Gegebenheiten, die selbst der varietas temporum unterworfen sind, bleibt Wahrheitsfindung ein empfindlicher, den Irritationen der Zeit ausgesetzter Prozess, in dem sich eine überzeitliche Wahrheit nur noch mit mehr oder weniger erheblichen Einbußen behaupten kann.

3.2

Z WISCHEN TR ADITION UND F ORTSCHRIT T : D IE H ISTORIA MEDICINAL VON N ICOL ÁS M ONARDES UND DIE FRÜHNEUZEITLICHE S AMMLUNGSPR A XIS

Wurde im vorangegangenen Kapitel mit dem Dialog eine Textgattung untersucht, die über eine fingierte Lokal-, Personal- und Temporaldeixis einen Raum der Anschauung schafft, so sind die sich nun anschließenden Überlegungen einem konkreten Raum gewidmet, der nicht über das Medium des Textes konfiguriert wird, aber in enger Verbindung mit zeitgenössischen Texten steht. Es handelt sich um den Raum des Museums, das, so die These von José López Rodríguez, seine Wurzeln im frühneuzeitlichen Sevilla hat.67 Die Entdeckung Amerikas hat erhebliche Auswirkungen auf die Wissenschaften, unter denen Botanik und Kosmographie in der fortschreitenden wissenschaftlichen Erschließung der Neuen Welt um den ersten Platz wetteifern.68 Die Botanik erfährt, wie auch das Schifffahrtswesen, einen nie gekannten Aufschwung, der in der Casa de la Contratación in Sevilla einen institutionellen Rahmen findet:69 So lässt Philipp II. die Samen exotischer Pflanzen an die Casa de la Contratación schicken, um sie in speziellen Akklimatisierungsgärten anzubauen.70 Im Bereich der Natur eröffnet sich dem Sevillaner eine bisher ungekannte Flora und Fauna. Doch bevor die Tier- und Pflanzenwelt des neuen Kontinents zum Objekt wissenschaftlicher Reflexion wird, richtet sich zunächst ein allgemeines Interesse an exotischen Pflanzen und Tieren auf sie. Der sevillanische Inquisitor Andrés Gascó etwa hielt in seinem Haus amerikanische Papageien, die für einiges Aufsehen sorgten. Eine Hirschziegenantilope wohnte im Haus des Erzdiakons de Niebla, und Monardes erwartete sehnlichst ihren Tod, um herauszufinden, ob es sich um dasjenige Tier handelte, das die »piedra bezoar« produzierte (HM 135 v°-136 r°), oder um ein Gürteltier wie es im Kuriositätenkabinett des bereits erwähnten Stadtchronisten und 67 | Vgl. López Rodríguez (1995). 68 | Vgl. ebd. 69 | Zur Geschichte der Casa de la Contratación siehe María Serrera (2003) sowie zur kosmographischen Aktivität in Sevilla Martín-Merás (2003). 70 | Vgl. Morán & Checa (1985), 148.

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Literaten Argote de Molina (vgl. Kap. 1.1.1) ausgestellt wurde, oder aber um einen Leguan, wie ihn Fernández de Oviedo vergeblich lebend nach Europa zu schicken versucht hatte.71 In botanischen Gärten wurden exotische Pflanzen kultiviert,72 an denen sich der das Neue und Außergewöhnliche suchende Betrachter erfreuen konnte.73 Monardes erwähnt mehrmals das große Interesse, das die Sevillaner seltenen Arten entgegen brachten (z.B. HM 41 r°).74 Doch in der Frühen Neuzeit entstanden Gärten nicht nur als Zonen der Unterhaltung und Entspannung. Im Sevilla des 16. Jahrhunderts führten mehrere Wissenschaftler botanische Gärten und Natursammlungen zu wissenschaftlichen Zwecken. Nicolás Monardes bestellte als Kunde der Casa de la Contratación Pflanzenproben aus der Neuen Welt, die er in einem botanischen Garten bei seinem Haus in der Calle Sierpes kultivierte.75 Ob er darüber hinaus ein Kuriositätenkabinett von Naturobjekten besaß, ist umstritten.76 Allerdings ist erwiesen, dass Argote de Molina, den Monardes in seiner Historia medicinal erwähnt, ein solches pflegte.77 Eine weitere Ausstellung, die dem Sammeln und der Analyse von Naturobjekten gewidmet war, unterhielt der Kosmograph Rodrigo Zamorano. Neben einem botanischen Garten, in denen er exotische Pflanzen anbaute, sollen die Vorzimmer seines Hauses mit Muscheln und seltenen Tieren geschmückt gewesen sein. Auch der gebürtige Sevillaner und Arzt Simón de Tovar war ein Sammler von Naturobjekten und Pflanzen. Er veröffentlichte jährlich einen Katalog der Pflanzen und Arten, die sich in seinem Garten befanden und verteilte großzügig Samen von seltenen Pflanzen an die europaweite Leserschaft seiner Kataloge. Bereits diese Auflistung berühmter Besitzer von Kuriositätenkabinetten und botanischen Gärten zeigt, dass Sammlung und Gelehrsamkeit, die sich im Verfassen wissenschaftlicher und historiographischer Texte niederschlugen, Hand in Hand gingen. Die Begegnung mit dem Fremden stellte häufig den Ausgangspunkt wissenschaftlicher Auseinandersetzung dar und umgekehrt kam der Literatur, wie zu zeigen sein wird, ein performativer Anteil an der frühneuzeitlichen Sammlungspraxis zu.

71 | Vgl. ebd., 130. 72 | »De pocos años a esta parte se ha traydo [el tabaco] a España, mas para adornar Iardines, y huertos, para que con su hermosura diesse agradable vista, que por pensar que tuuiesse las marauillosas virtudes medicinales que tiene.« (HM 40 v°) 73 | Zum Renaissancegarten siehe grundlegend Weiss (1998), zu den botanischen Gärten der Frühen Neuzeit im Besonderen Fresquet Febrer (1999). 74 | Vgl. außerdem Guerra (1961), 79-82 sowie Morán & Checa (1985), 149-152. 75 | Vgl. Guerra (1961), 21-22. 76 | Vgl. ebd., 80 sowie Morán & Checa (1985), 149. 77 | Das Museum Argotes war so bekannt, dass sogar Philipp II. es während seines Aufenthaltes in Sevilla besuchte.

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Die Integration neu entdeckter Pflanzen und Tiere in den europäischen Wissenskontext ist ein langer Prozess, an dessen Anfang eine Kontingenzerfahrung steht. Die Begegnung Europas mit dem Fremden in der Neuen Welt ist durch die Figur der Verwunderung, der maravilla gekennzeichnet. Greenblatt hat die Verwunderung im Anschluss an Descartes definiert als »an instinctive recognition of difference, the sign of a heightened attention, ›a sudden surprise of the soul‹ in the face of the new.«78 Die Verwunderung versetzt den Betrachter in Staunen und verhindert so zunächst eine rationale Auseinandersetzung mit dem wahrgenommenen Phänomen. Sie stellt insofern eine kritische Zeiterfahrung dar, als ihr zunächst keine Bedeutung beigemessen wird, das heißt sie springt in ihrer Unverhofftheit aus dem zeitlichen Sinnkontinuum heraus. Diese zeitliche – und auch räumliche – Dekontextualisierug durch das Wunder geht bereits auf seine etymologischen Wurzeln zurück. Der Begriff der maravilla leitet sich von den lateinischen mirabilia ab, die in der Antike aus philosophischer Sicht eine eigene Kraft besitzen. Sie lassen sich nach Aristoteles keiner der ontologischen Kategorien, zu denen auch Zeit und Ort gehören, zuordnen, da sie fabulös besetzten Orten entstammen und sich so jeglichem philosophischen Status entziehen.79 Damit stehen sie außerhalb von Raum und Zeit. Dieses ›Zeitloch‹, das sich bei der Begegnung mit dem Fremden und Außergewöhnlichen aus der Abwesenheit von Sinn ergibt, erweist sich jedoch als äußerst produktiv. Es verlangt nach einer Synchronisierung, nach einem Abgleichen des unbekannten Phänomens mit einem bestehenden Wissenskontext. Dadurch löst es eine Revidierung kultureller Deutungsmuster aus.80 Zwar ergibt sich auch in den frühneuzeitlichen Kuriositätenkabinetten das ›Zeitloch‹, dem der staunende Betrachter festlicher Inszenierungen einige Jahrzehnte später ausgesetzt sein wird (vgl. Kap. 2.2.2). Allerdings geht es hier höchstens in einer frühen Phase darum, den Zustand der Zeitlosigkeit, den die Verwunderung bewirkt, aufrecht zu erhalten. Spätere Sammlungen von Kuriositäten zielen vielmehr auf eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem fremden Objekt und sind folglich bestrebt, das Neue, Unerwartete in einen bestehenden Zeitrahmen zu re-integrieren. Das vorliegende Kapitel untersucht am Beispiel von Natursammlungen und deren Verschriftlichung, wie im Sevilla der Frühen Neuzeit mit dem Fremden umgegangen wird. Mithilfe einer Gegenüberstellung unterschiedlicher Phasen des Sammelns lässt sich zeigen, dass die Natur bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine Verzeitlichung in dem Sinne erfährt, dass die Ordnung der Welt nicht mehr als gegeben betrachtet, sondern auf ihre Genese hin befragt wird. Naturobjekte tragen nicht mehr einer ewigen, sich selbst ständig reproduzierenden Ordnung Rechnung, sondern werden zum Ausgangspunkt für die Produktion neu78 | Greenblatt (1991), 20. 79 | Vgl. Falguières (2003), 11-12. 80 | Vgl. Rüsen (2004), 366-367.

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en Wissens. Die Störung herkömmlicher Wissensordnungen durch das Fremde bewirkt deren Revidierung: Die alte Raum-Zeit, nach der sich die Natur mithilfe von Analogien beschreiben lässt, weicht Beschreibungsmodellen, die lebende Organismen nach biologischen Kriterien klassifizieren. Diese Klassifizierung findet weniger innerhalb der Ausstellungen selbst statt – dort sind die Objekte häufig wahllos ausgelegt – sondern in schriftlichen Abhandlungen, die auf der Basis von Natursammlungen entstehen. Der Text nimmt daher innerhalb der frühneuzeitlichen Sammlungstätigkeit, die in erster Linie als Praxis der Produktion und Ausstellung von Wissen verstanden werden soll, eine zentrale Rolle ein. Vor diesem Hintergrund sollen zunächst einige generelle Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Sammlung und Text angestellt werden. Dem schließt sich eine Gegenüberstellung verschiedener Phasen der frühneuzeitlichen Sammlungspraxis an, die schließlich in ihrer gegenseitigen Ablösung, aber auch Überlagerung in der botanischen Abhandlung Historia medicinal de las cosas que se traen de nuestras Indias Occidentales von Nicolás Monardes nachgewiesen werden. Dabei wird deutlich werden, dass Texte wie die Historia medicinal bereits Ansätze einer taxonomischen Ordnung enthalten, eines »espace d’empiricité«81, den Michel Foucault dem 16. Jahrhundert noch nicht zugesteht.

3.2.1

Sammlung und Text

Es gibt zwei Arten von Quellen, die Rückschlüsse auf den Umgang mit dem Fremden im Europa der Frühen Neuzeit erlauben. Dies sind zum einen die materiellen Sammlungen von exotischen Objekten – Tiere, Kokosnüsse, Götzenbilder, Steine von unterschiedlichem Wert – wie sie in den frühneuzeitlichen Wunderkammern zu finden sind. Zum anderen sind es Texte wie Reiseberichte – einer der frühesten und bekanntesten ist das Bordbuch von Kolumbus –, Beschreibungen der Neuen Welt etwa durch die conquistadores und Geistliche, aber auch später entstehende kosmographische und naturgeschichtliche Abhandlungen zu denen die Historia medicinal von Nicolás Monardes gehört.82 Die materielle Ausstellung von exotischen Objekten auf der einen Seite und deren Darstellung in Texten auf der anderen stehen in einem engen Zusammenhang: Nach Yvette Sánchez ist jede Sammlung ein Text und jeder Text eine Sammlung.83 Zwischen ästhetischen Handlungsformen und der Praxis des Sammelns lässt sich ein mindestens dreifacher Bezug herstellen. Erstens bildet die Sammlungspraxis den Gegenstand literarischer Texte, zweitens ahmen diese die Struktur der Sammlungen nach, und drittens reflektieren und erweitern sie den Ausstellungs-

81 | Foucault (1966), 86. 82 | Vgl. Morán & Checa (1985), 132. 83 | Vgl. Sánchez (1999).

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raum.84 Umgekehrt lässt sich der Ausstellungsraum der Frühen Neuzeit als »Form der konkreten Verräumlichung literarischer Traditionen beschreiben«.85 Allerdings spiegelt sich die Struktur, die in wissenschaftlichen Texten zu finden ist, nicht automatisch in den zeitgenössischen Kuriositätenkabinetten wider. Im Falle der Historia medicinal etwa ist der Text der Sammlung voraus: Während das Kuriositätenkabinett von Argote de Molina, auf dem der Text teilweise basiert, keine erkennbare Ordnung aufweist, sind die in der Historia medicinal dargestellten Objekte nach biologischen Kriterien gegliedert. Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts lassen die frühneuzeitlichen Sammlungen eine museale Ordnung erkennen, die aus einer intensiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Ausstellungsobjekt hervorgeht.

3.2.1.1

Inszenierung von Wissen in Kuriositätenkabinett und Text

Die soeben skizzierte dreifache Beziehung zwischen Text und Sammlung kommt im Diálogo del hierro, der als Begleitdokument einer Sammlung von Metallen gelesen werden kann, zum Ausdruck, wobei hier mit dem Eisen ein einziges Ausstellungsstück besonders hervorgehoben wird. Die Analogie zwischen Text und Ausstellungsraum liegt im Diálogo del hierro schon deshalb nahe, weil gerade ein solcher Raum den Schauplatz des Gesprächs bildet. Dieses findet in einem Saal der Casa de la Contratación statt, in dem die aus der Neuen Welt eingeführten Metalle ausgestellt sind. Zudem wird in der Eingangsphase des Dialogs mit der verschlossenen Schatzkammer der Casa de la Contratación auf eine weitere Sammlung verwiesen (vgl. Kap. 3.1.2). In seiner dialogischen Form ist der Diálogo del hierro eine Sammlung von Repliken verschiedener Experten – einem Arzt, einem Apotheker und einem Metallurgisten –, aus deren Redebeiträgen sich die Gesamtdarstellung des Eisens ergibt. Ziel des Autors ist es zu zeigen, dass der Nutzen des Eisens denjenigen der Edelmetalle Gold und Silber weit übertrifft (DH 160 v°). In diesem Sinne stellt der Diálogo del hierro eine Sammlung von Argumenten für die Nützlichkeit des Eisens dar. Das Sammeln wird damit zur Voraussetzung induktiver Erkenntnis.86 Die Wahl des Dialogs als Textgattung ermöglicht hier nicht nur, den induktiven Forschungsprozess performativ vorzuführen, sondern auch, die Inszenierung von Wissen in einem Raum der Anschauung, wie ihn das Kuriositätenkabinett darstellt, im Text nachzuahmen: Der Diálogo del hierro kann daher zugleich als Anleitung gelesen werden, wie der Besuch einer Sammlung im Idealfall vonstatten gehen sollte. Er führt vor, wie ausgehend von der Betrachtung eines Objektes ein Austausch unter Gelehrten stattfindet, von dem weni-

84 | Vgl. Felfe (2006), 10. 85 | Ebd., 23. 86 | Vgl. Sánchez (1999), 10.

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ger sachkundige Anwesende, im Text repräsentiert durch den Apotheker Burgos, lernen können. Ein weiterer struktureller Aspekt, den der Text mit der frühneuzeitlichen Sammlung teilt, ist seine Eigenschaft, sich auf andere Texte zu beziehen. Dieses dialogische Verhältnis von Texten kann unterschiedliche Formen annehmen. In der Historia medicinal besteht es darin, dass Monardes nicht nur frühere, vor allem antike Texte zitiert, um vorhandenes Wissen zu erweitern und gegebenenfalls zu widerlegen, sondern dass er auch auf seinen eigenen Text Reaktionen wünscht, die seine Erkenntnisse bestätigen und ausbauen (HM 2 r°). Sammlung wie Text streben nach Erweiterung:87 So wie der Sammlung stets neue Objekte zugeführt werden, so verlangt jeder Text, nicht nur der Diálogo del hierro, nach einer Fortsetzung, einer Nachahmung, einer Antwort. Der literarische Text ist eine Sammlung, die zwar in sich geschlossen ist, jedoch vom Austausch mit anderen Texten lebt. So ist der Diálogo del hierro Teil eines Textrepertoires, das auch medial-technisch eine Einheit bildet: Monardes veröffentlicht seinen neu verfassten Diálogo del hierro zusammen mit den bereits früher entstandenen Traktaten über die piedra Bezaar und die yerba Esquerçonera, den Schnee sowie den drei teilweise schon erschienenen Teilen seiner Historia medicinal, die mit der Berücksichtigung von insgesamt fast hundert Heilmitteln den größten Teil der (Text-)Sammlung darstellt.88 Auf ähnliche Art und Weise wie die Texte sind auch die frühneuzeitlichen Sammlungen über komplexe Beziehungen miteinander verbunden. Das Sammeln und Tauschen von Objekten stellte eine bedeutende soziale Tätigkeit dar. Prinzen, Gelehrte, Händler oder Apotheker richteten sich Sammlungen durch vielschichtige Systeme des Handelns, Tauschens oder Schenkens ein. Dabei ging es sowohl um den Austausch von Wissen als auch von materiellen Gütern. Im Warenfluss innerhalb des internationalen Handels, einschließlich des Handels zwischen Europa und Amerika, taten sich besonders die Fugger hervor. Sie bauten ein Netz von Handelshäusern auf, die von autorisierten Individuen geführt wurden. Dieses Netz erstreckte sich über alle wichtigen Handelszentren des damaligen Europas. Auf der iberischen Halbinsel befand sich eine solche Handelsstelle neben Lissabon, Madrid und Zaragoza auch in Sevilla.89 Ein dialogisches Verhältnis besteht nicht nur zwischen Sammlungen bzw. Texten untereinander, sondern auch zwischen Sammlung und Text. Die frühneuzeitlichen Sammlungen vereinten häufig sowohl natürliche 87 | Sánchez (1999), 255. 88 | Vgl. López Piñero (1990), 12. 89 | Vgl. Meadow (2002), 188. Ob Nicolás Monardes, der über seine medizinische Tätigkeit hinaus in Handelsaktivitäten mit der Neuen Welt stand, kommerzielle Beziehungen mit dem Banker Jakob Fugger unterhielt, ist ungeklärt. Es ist lediglich bekannt, dass der junge Fugger sich Anfang des Jahres 1565 in Sevilla aufhielt, was einen Austausch zwischen den beiden Händlern nahe legt. Vgl. Guerra (1961), 22.

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Objekte als auch Bücher. Allerdings besaßen Text und Naturgegenstand anders als im Mittelalter nicht mehr den gleichen Status. Wo das sprachliche Zeichen im Mittelalter das, was es bezeichnete, zugleich verkörperte, wird es in der Frühen Neuzeit zum Symbol. Zeichen und Gegenstand lösen sich voneinander; die Sprache wird zum arbiträren System, das in der Lage ist, Aussagen über einen Gegenstand zu machen, die diesem nicht a priori eingeschrieben sind.90 Diese Dissoziation der Sprache von den Dingen ermöglichte eine neue Zirkulation desjenigen Wissens, das von den Sammlungen ausging. Das Objekt und dessen Beschreibung ergänzten sich zwar gegenseitig, waren jedoch nicht voneinander abhängig. Diese neue Transparenz der Sprache, durch die der Text Eigenständigkeit erlangte, wurde durch den Buchdruck zugleich bedingt und unterstützt. Indem Monardes seine Erkenntnisse in ganz Europa publizierte – seine Historia medicinal wurde in fünf Sprachen übersetzt und fast fünfzig Mal neu aufgelegt –,91 verbreitete sich das Wissen, das er aus seiner Sammeltätigkeit gewonnen hatte, weit über den konkreten Sammlungsraum hinaus. Dabei profitierte er von der Erfahrung seines Vaters Niculoso de Monardis, der als genuesischer Buchhändler im Druckgewerbe bewandert war.92 Die Historia medicinal ist das Ergebnis eines Forschungsprozesses, an dessen Anfang das Sammeln von Naturalien aus der Neuen Welt steht. Monardes greift für seine medizinischen Studien nicht nur auf seinen eigenen botanischen Garten, sondern auch auf andere zeitgenössische Sammlungen in Sevilla zurück. Unter dem Bild des Gürteltiers, das Monardes in der Historia medicinal beschreibt, heißt es: Este animal saque de otro natural, que esta en el Museo de Gonçalo de Molina: un cauallero desta ciudad, en qual ay mucha cantidad de libros de varia lection, y muchos generos de animales y aues, y otras cosas curiosas traydas assi de la India Oriental, y Occidental, y de otras partes del mundo, y gran copia de monedas y piedras antiguas, y diferencias de armas, que con gran curiosidad y con generoso ánimo ha allegado. (HM 81 r°)

Umgekehrt enthält die Sammlung Molinas ein Porträt von Nicolás Monardes (HM, Elogio). Dass der renommierte Sammler Argote de Molina und Monardes regen wissenschaftlichen Austausch pflegen, bestätigt auch die Lobrede Argotes auf Monardes, die in der Historia medicinal abgedruckt ist. Durch die Verweise des Textes auf die Sammlung bzw. der Sammlung auf den Text ergänzen diese sich gegenseitig. Der museale Raum der Sammlung wird durch den Text erweitert. Im Diálogo del hierro geht der Text insofern über die Grenzen des Ausstellungsraumes hinaus, als die 90 | Vgl. Foucault (1966), 49-59. 91 | Vgl. López Piñero (1990), 13-18. 92 | Vgl. Jiménez Castellanos y Calvo-Rubio (1988), vii.

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exponierten Objekte nicht lediglich betrachtet, sondern ausführlich beschrieben werden. Ausgehend vom Ansichtsexemplar, einem Stück Eisen, findet zunächst ein assoziativer Sprung zur Klasse der Metalle allgemein statt. Der Doctor beginnt sein Referat bei den verschiedenen Theorien über den Ursprung der Metalle und gelangt über die Gewinnung und Bearbeitung des Eisens zu dessen Beschaffenheit. An diesem Punkt kommt der Museumswächter und Metallurgist Ortuño zu Wort, welcher den Unterschied zwischen Eisen und Stahl, sowie den Gebrauch des Eisens erläutert. Der zweite Teil des Dialogs ist zunächst der Frage nach der Temperatur des Eisens gewidmet, dann seiner Aufbereitung und schließlich seinem medizinischen Nutzen. Der absolute Ausstellungsraum, wie er im Diálogo del hierro dargestellt ist, wird also zum relationalen Raum, indem er über seine räumlichen und zeitlichen Grenzen hinausweist. Das Sammlungsobjekt wird nicht nur mit dem Auge erfasst, sondern bildet den Ausgangspunkt wissenschaftlicher Erörterungen. Es soll nicht nur Verwunderung hervorrufen, sondern dient der Vermittlung von Wissen. Dieses Wissen ist wiederum in Texten festgehalten, welche die unmittelbare Anschauung ergänzen. Der Text führt hier im Einklang mit der frühneuzeitlichen Praxis des Unterredungsdialogs also vor, wie Wissen in einem Raum zugleich ausgestellt und performiert wird (vgl. Kap. 3.1.2.1). Der Literatur kommt somit ein performativer Anteil an der komplexen Praxis des frühneuzeitlichen Sammelns zu.93 Texte wie die Traslación und der Diálogo del hierro reichen weit über die Kompilation älterer Schriften, wie sie in der Frühen Neuzeit noch weit verbreitet ist, hinaus. Sie stellen als virtuelle Räume Objekte zusammen, von denen ausgehend Wissen erschlossen wird. Die Analyse von Anschauungsobjekten kann sich nicht auf die Reproduktion von bekanntem Wissen beschränken, sondern führt zu einer Produktion neuer Erkenntnis, die schriftlich festgehalten und so einem Kreis von Sammlern und Forschern zugänglich gemacht wird. Ob der ortskundige Eugenio den Gast Laureano durch Sevilla, oder der Doctor seinen Begleiter Burgos zum Aufbewahrungsort des Eisens führt, in beiden Fällen werden dem Betrachter durch die Erläuterungen eines Sachkundigen die Augen für eine Dimension geöffnet, die über das reine Betrachten hinausgeht. Der Augenblick der Verwunderung öffnet sich hin auf eine zeitliche Dimension der Dauer; durch eine erklärende Instanz wird das reine Sehen um ein Wissen erweitert, das einen längeren Zeitraum in Anspruch nimmt.94 Was sich auf der Ebene der fiktiven Gesprächssituation der Dialoge abspielt, kann nun auf die Kommunikation zwischen Text und Leser übertragen werden. So wie der Sachkundige im Dialog seinem interessierten Begleiter ausgehend von sichtbaren Gegenständen Wissen erschließt, so vermittelt der literarische Text dem Leser ein Wissen, das ihm die Deu93 | Felfe (2006), 10. 94 | Hier zeichnet sich bereits eine pädagogische Funktion der Ausstellung ab, wie sie für das moderne Museum charakteristisch sein wird.

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tung der ihn umgebenden Realität ermöglicht. Ähnlich wie die Raritätenkammer wird der literarische Text zum Schauplatz des Wissens, zu einem erweiterten musealen Raum, in dem sich das exponierte Objekt und dessen Deutung verbinden. Diese Funktion des Textes als Ausstellungsraum von Wissen verstärkt sich noch, wenn er, so im Falle der Traslación und des Diálogo del hierro, eine rundgehende Betrachtung inszeniert und so den Museumsbesuch performativ nachempfindet. Der fiktive Handlungszusammenhang des Dialogs projiziert dann den musealen Raum und dessen Erschließung in den Text. Realer und konfigurierter Ausstellungsraum verschmelzen so zu einem imaginären Raum des Wissens, in dem sich der Leser zu verorten hat.

3.2.1.2

Die Manipulation der Zeit

Eine weitere Gemeinsamkeit von Sammlung und Text schließlich, die über die Inszenierung von Wissen hinausgeht, besteht in der Verräumlichung von Zeit im Sinne einer Fixierung. Der geschriebene Text gewährleistet die Aufbewahrung von Gedanken und Ereignissen über die Zeit hinweg. Diese Eigenschaft des Textes gewinnt vor allem dann an Bedeutung, wenn flüchtige Ereignisse, wie die barocken Feste, der Gegenwartsstabilisierung dienen (vgl. Kap. 2.2). In den relaciones de fiesta wird der ostentative Charakter des Ereignisses auf den Text übertragen. Der Festbericht soll nicht nur berichten, sondern auch zeigen. Er soll nicht nur Wissen auf Dauer stellen, sondern auch Sinneseindrücke – kurz: er soll einen historischen Augenblick stilllegen. Diese Dialektik von Bewahren und Zeigen ist konstitutiv für die Sammlung: »Sammeln ist Speicherung und Vorratshaltung, Zeigen zielt auf die soziale Vergegenwärtigung von Zukunft.«95 Das Sammeln stellt Vergangenes auf Dauer, das Zeigen hebt die Relevanz des Bewahrten für die Gegenwart hervor. Diese wird durch die Inszenierung von Präsenz stabilisiert und lässt damit auch die Zukunft als stabil erscheinen. Die frühneuzeitlichen Natursammlungen vergegenwärtigen Zukunft insofern, als sie Objekte mit Hinblick auf deren zukünftigen Nutzen bewahren. In der frühneuzeitlichen Naturforschung gewann das Stilllegen von Objekten eine besondere Relevanz, da neue Methoden der Nutzung von Zeit entstanden, die auf materiellen und wissenschaftlichen Gewinn ausgerichtet waren. Im Zuge eines frühen Kapitalismus, als dessen Zentrum Sevilla betrachtet werden kann, wurden Prozeduren entwickelt, um den natürlichen Fluss der Zeit zu unterbrechen und aus Zeit Geld zu machen. Nicht nur eine Menge neuer Waren konnte erworben werden, sondern auch deren zukünftiger Wert in Form von Wertpapieren.96 Kommerzielle Artikel wurden vom Markt fern gehalten, wenn sie im Überfluss vorhanden waren, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder in Umlauf ge95 | Korff (2002a), 141. Zum Stilllegen als grundlegender Methode von Musealisierung vgl. Sturm (1990), 103-105. 96 | Vgl. Cook (2002), 224-225.

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bracht zu werden. Mit der Zeit entwickelte sich ein Markt von Naturalien, die von Händlern am Hafen aufgekauft und dann an private Sammler weiter verkauft wurden. Das Sammeln von Kuriositäten hatte sich zur regelrechten Obsession entwickelt. Dabei mussten gerade Naturprodukte vor dem Verfall bewahrt werden. Im Kampf gegen die Verwesung wurden Prozeduren zum Präparieren von Lebewesen entwickelt, die zu ihrer Zeit fast wundersam wirkten.97 Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts waren solche Eingriffe in den bisher irreversiblen Fluss der Zeit gängig geworden. Sowohl für Naturforscher als auch für Händler stellte das Sammeln und Bewahren von Dingen die Vorbereitung auf eine spätere Nachfrage dar. Dieses Bestreben, einen zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhandenen Gegenstand für potentielle spätere Rezipienten zugänglich zu machen, verbindet die Sammlung mit dem literarischen Text. Wo die relaciones de fiesta versuchen, den Augenblick der Verwunderung auf Dauer zu stellen, präparieren die frühneuzeitlichen Naturforscher und Kuriositätenhändler Objekte, um einen wissenschaftlichen bzw. materiellen Nutzen aus ihnen zu ziehen. Die Raum-Zeit der Verwunderung oszilliert zwischen dem flüchtigen Augenblick und dem Eindruck von Ewigkeit. Die RaumZeit der frühneuzeitlichen Natursammlungen hingegen, so kann vorläufig festgehalten werden, lässt das Objekt nicht in einem zeitlosen Ganzen aufgehen, sondern schafft einen Zeitraum der Dauer innerhalb der irdischen Zeit, der eine höchstmögliche Ausbeute des Objektes erlaubt. Auch der historiographische Schub, der eine Fülle von Stadtchroniken hervorbringt, kann als Manifestation des frühneuzeitlichen Sammlungseifers betrachtet werden. Gemeinsam mit den zunehmend entstehenden Privatbibliotheken sind sie Vorläufer einer vollständigeren Konservierung von Wissen durch die Einrichtung von Katalogen und Inventaren in Archiven und Bibliotheken gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Sie führen zu einem erhöhten Bewusstsein für die Dichte der Vergangenheit und den Verlauf der Geschichte in der Zeit.98 Das strategische Stilllegen von Objekten und historischen Augenblicken erhöht die Fähigkeit zur zeitlichen Selbstbeobachtung. Die Fülle an historischem Material, das die Chroniken vereinen, lassen die Vergangenheit als geschlossenen, mit konkreten Inhalten gefüllten Zeitraum erscheinen, die Konservierung von Objekten schafft Dauer in der Zukunft. Zeit wird zu einem kostbaren Gut, das sich in Geld bzw. Wissenszuwachs umwandeln lässt. Darüber hinaus beginnen sich Vergangenheit und Zukunft als voneinander zu differenzierende Zeiträume zu konfigurieren.99 Der Zeitstrahl wird durch die Zäsur des gegenwärtigen Augenblicks in zwei voneinander getrennte Einheiten geteilt. Die irdische Zeit gewinnt als konkrete Dauer gegenüber der Ewigkeit so immer mehr an Gewicht und kann einer neuen, linearen Raum-Zeit Vorschub leisten. 97 | Vgl. ebd., 229-241. 98 | Vgl. Foucault (1966), 143-144. 99 | Vgl. dazu grundlegend Koselleck (1992) sowie Hölscher (1999).

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Die neue Valorisierung der irdischen Zeit, die sich aus dem Präparieren von Naturalien ergibt, stellt nur eine Komponente der Raum-Zeit der frühneuzeitlichen Natursammlung dar. Ein weiterer zentraler Aspekt der Sammlung, der Aufschluss über sich verändernde Zeitvorstellungen gibt bzw. auf bisherige Zeitkonzeptionen einwirkt, ist die Anordnung der Objekte. Die frühneuzeitlichen Sammlungen folgen verschiedenen Raumprogrammen, denen eine je spezifische Vorstellung von Zeit eignet. Die frühen Studien- und Kunstsammlungen sind im Wesentlichen einer Hermeneutik der Ähnlichkeit und damit einem zyklischen Zeitverständnis der ewigen Wiederkehr verhaftet und entwerfen entsprechend ein kosmologisches Raummodell. Mit einem zunehmenden wissenschaftlichen Interesse, das sich nicht zuletzt in der Einrichtung von Spezialsammlungen konkretisiert, bricht die starre kosmische Ordnung jedoch auf und weicht einem bewegten Raum, der den Gesetzen einer linearen Zeit folgt.

3.2.2

Raum-Zeiten der frühneuzeitlichen Sammlung

Das Sammeln von Naturalien in der Frühen Neuzeit lässt sich – wohlgemerkt: idealtypisch – in drei Phasen gliedern: (1) eine exemplarischkosmologische Phase, (2) eine Phase der Beobachtung und Beschreibung und schließlich (3) eine Phase der Klassifizierung. Jede dieser Sammlungsphasen korreliert mit einer Phase der Textproduktion, welche sich durch ähnliche Ordnungskriterien wie die ihr entsprechende Sammlungspraxis ausweist. Diese Phasen sind chronologisch weder vollständig voneinander zu trennen, noch tritt die jeweilige Ordnung in Sammlung und Text notgedrungen zeitgleich auf. Die frühneuzeitliche Organisation von Wissens- und Objektbeständen ist durch eine Vielfalt der Ordnungen und fließende Übergänge gekennzeichnet.100 So nehmen etwa die Naturaliensammlungen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bereits eine Ordnung vorweg, wie sie in den übrigen Bereichen des Sammelns erst später nachzuweisen ist. Während sich Kunst-, Antiquitäten- und technische Sammlungen erst im Laufe des 17. Jahrhunderts als eigenständige Spezialsammlungen herausbilden, erlangen die Sammlungen von Naturalien schon früher Eigenständigkeit.101 Außerdem sind Sammlungen denkbar, welche die kosmologische Exemplarität mit einem wissenschaftlichen Anspruch im modernen Sinne zu vereinbaren suchen. Bindeglied zwischen den einzelnen Phasen und Motivation des frühneuzeitlichen Sammlungswesens bildet die curiositas. Diese verliert zu Beginn der Frühen Neuzeit nicht nur ihre negative Konnotation sündhafter Neugier, sondern gewinnt als Bestandteil des Erkenntnisprozesses eine durchaus

100 | Zur Ordnungsvielfalt etwa in frühneuzeitlichen Enzyklopädien vgl. Schneider (2006), 12-15. 101 | Vgl. Minges (1998), 108-110.

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positive Bedeutung:102 Eine mögliche Irritation der bestehenden Ordnung wird in Kauf genommen, da diese nicht mehr als überzeitlich betrachtet wird. Neues Wissen stellt daher keine Gefahr mehr dar – im Gegenteil gibt die maravilla, die sich mit herkömmlichen Deutungsmustern nicht erklären lässt, den Anstoß für eine Suche nach neuen Erklärungsmöglichkeiten, die wiederum zum erwünschten Erkenntnisgewinn führen.

3.2.2.1

E xemplarität und kosmologisches Raumprogramm

Die ersten Sammlungen, die aufgrund ihrer bewussten Zusammenstellung als solche im engeren Sinne betrachtet werden können, entstanden im 14. Jahrhundert und knüpften an die Tradition der mittelalterlichen Schatzkammern an.103 Diese standen im Besitz von geistlichen oder weltlichen Herrschern, die überwiegend Reliquien und Herrscherinsignien sammelten. Die Bedeutung der Objekte in diesen Schatzkammern beschränkte sich auf deren ideellen und materiellen Wert. Die Objekte besaßen eine repräsentative Funktion und sicherten Herrscherhaus, Domkapitel oder Kloster in erster Linie finanziell ab. Im 14. Jahrhundert entstanden aber auch erste private Sammlungen, die, losgelöst von kirchlichen oder weltlichen Institutionen, Aufschluss über Selbstverständnis und Interessen ihres Besitzers gaben. Dennoch waren diese Sammlungen noch stark von der Tradition der mittelalterlichen Schatzkammern beeinflusst. Meist wurden die Objekte dieser sogenannten Kunstkammern nach ihrem Material, dem Ort ihrer Auffindung oder nach ihrer Schönheit und Rarität angeordnet. Lediglich im nachträglichen Inventarisieren fand manchmal eine Ordnung nach Sachgruppen statt.104 Damit entspricht das Ordnungsprinzip der frühen Kunstkammern im Vokabular Foucaults eher dem Prinzip der Ähnlichkeit als dem der Taxonomie. Jedes einzelne Objekt fügt sich in die überzeitliche Ordnung eines statischen Raumes ein, dessen Gültigkeit stets neu bestätigt wird. Ein weiterer Sammlungsraum neben der Kunstkammer entstand mit der zunehmenden Bedeutung von Studienobjekten, die italienische Gelehrte in ihrem Arbeitszimmer zu ihrer Inspiration anordneten. Die sogenannte Studienkammer vereinte Werke antiker Autoren, Porträts und Münzen, die trotz der neuen subjektiven Betrachtungsweise meist den Anordnungskriterien des Mittelalters unterworfen blieben.105 In den Studien- und Kunstkammern der frühen Renaissance fließen zwei verschiedene Raumprogramme zusammen: die loci der antiken Gedächtniskunst und der Stufenkosmos, der, auf Aristoteles zurückgehend, im Mittelalter eine christliche Prägung erhalten hatte. Die frühen 102 | Vgl. Felfe (2006), 17. Erst im 18. Jahrhundert gerät die curiositas als zu affektgeladene Beziehung des erkennenden Subjekts zu seinem Beobachtungsgegenstand erneut in Verruf. 103 | Vgl. Minges (1998), 16-17. 104 | Vgl. ebd., 16-19. 105 | Vgl. ebd., 25-37.

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Sammlungen hatten einen exemplarischen Anspruch. Sie folgten einer Logik, nach der die Geschichtsschreiber der griechischen Antike Listen von denkwürdigen Gegenständen und Sachverhalten zusammenstellten.106 Diese Texte zeichneten sich dadurch aus, dass alles, was in irgendeiner Form für außergewöhnlich oder bedeutend gehalten wurde, schriftlich fixiert wurde, ohne Anwendung einer bestimmten Methode. Die so entstandenen Texte bildeten ein Korpus von exempla, die selbst keinen wissenschaftlichen Anspruch erhoben, jedoch als Argumente für die wissenschaftliche Beweisführung herangezogen werden konnten. Ein entsprechendes frühneuzeitliches Projekt, das diese Methode nachahmt, bildet in Sevilla die Silva de varia lección107 von Pedro Mejía. Sie gilt mit 90 Auflagen als beliebteste populärwissenschaftliche Enzyklopädie des modernen Spaniens.108 Die silva (lat. Wald) ist ein antiker Gattungsbegriff, der Kuriosa verschiedensten Ursprungs und verschiedenster Thematik vereint.109 Mejía selbst legt im Vorwort seiner Silva die Bedeutung dieser Metapher im Hinblick auf die Gattung seines Werkes aus: Lo que aquí escrivo, todo es tomado de muy grandes y aprovechados auctores, como el que corta planta de muy buenos árboles para su huerta o jardín. […] Escogí, assí, esta manera de escrevir por capítulos sin orden y sin perseverar en un propósito, a ymitación de grandes auctores antiguos que escrivieron libros desta manera. […] Escogí y hame parescido escrevir este libro assí, por discursos y capítulos de diversos propósitos, sin perseverar ni guardar orden en ellos; y por esto le puse por nombre Silva, porque en las bosques están las plantas y árboles sin órden ni regla.110

Den denkwürdigen Gegenständen, die in Sammlungen und Enzyklopädien zusammengetragen wurden, entsprechen auf rhetorischer Ebene die Topoi.111 Auch diese bedürfen selbst keiner Beweise, sondern stellen Fundorte dar, aus denen der Redner geeignete Gedanken für seine Beweisführung schöpfen kann.112 Die Studien- und Kunstsammlungen der Frühen Neuzeit sind vor diesem Hintergrund als materialisierte Ausformungen der rhetorischen Topoi anzusehen. Als Arsenale materieller Exempla vereinen sie heterogene Gegenstände wie Naturalien, Schmuckstücke, Schätze etc., von denen jeder einzelne das Potential eines Arguments in sich trägt.113 Die Topoi sind zunächst keiner Klassifizierung unterworfen, son106 | Vgl. Falguières (2003), 9-10. 107 | Mejía, Pedro (1989 [1550]): Silva de varia lección, Hg. von Antonio Castro, 2 Bde., Madrid: Cátedra. 108 | Vgl. Navarro Brotons (1999), 23. 109 | Vgl. Gumbrecht (1990), 309. 110 | Mejía: Silva, Prohemio, 161-162. 111 | Vgl. Falguières (2003), 12-13. 112 | Vgl. Lausberg (1973), 146, 201 u. 740. 113 | Vgl. Falguières (2003), 15

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dern werden erst im Nachhinein zur besseren Übersichtlichkeit durch die rhetorische techne114 systematisiert. Der enzyklopädische Charakter der Kunstkammern spiegelt das Verfahren der ars memorativa wider, die als Methode für die Anordnung von Objekten im musealen Raum empfohlen wurde.115 Neben dem mnemotechnischen Einfluss folgten die frühen Studienund Kunstkammern – und hierin treten sie in Gegensatz zu den Silvae – einem kosmologischen Raumprogramm.116 Indem sie eine möglichst repräsentative Auswahl der Elemente der Welt zusammenstellten, projizierten sie eine von Gott geschaffene Ordnung in den Ausstellungsraum. Dieser wurde als mikrokosmisches Modell betrachtet, das den hierarchisch geordneten Stufenkosmos abbildete. Die zugrunde liegende Raumkonzeption unterscheidet sich von der mnemotechnischen Strukturierung eines virtuellen Raumes in einem entscheidenden Punkt: Während die Topoi Phantasie-Orte darstellten, die zur Gedächtnishilfe in jeden beliebigen, auch in einen imaginierten Raum, projiziert werden konnten, spiegelte die Studien- und Kunstkammer einen als real betrachteten Kosmos wider, in dem jedes Element seinen fest zugewiesenen Platz einnahm. Während es für die rhetorischen Topoi verschiedene Einteilungsmöglichkeiten gab, stellte der Kosmos ein eindeutiges Ordnungsmodell zur Verfügung. Die Ordnung der Topoi wurde a posteriori aus einer praktischen Notwendigkeit heraus vorgenommen, der Kosmos hingegen gab als a priori existenter Raum bereits eine Ordnung vor. Die Anordnung der Objekte nach Material und geographischer Nähe in den Studien- und Kunstkammern entspricht einer Hermeneutik und Semiologie der Ähnlichkeit, nach der die Welt eine Seinskette bildet. Das erste Glied dieser Kette ist Gott, dessen Wille sich bis zum Ende der Kette, das heißt bis ins letzte Glied der Materie, erstreckt.117 Damit werden die ausgestellten Objekte zu Manifestationen des göttlichen Heilsplans, der sich in exempla verschiedenster Art beständig reproduziert. Die Studien- und Kunstkammern der ersten Phase bilden also ein statisches Modell ab, dessen einzige Bewegung in der zyklischen Wiederkehr des Gleichen besteht. Jedes neu hinzukommende Sammlungsobjekt fügt sich ein in eine apriorische Ordnung, die es erneut bestätigt. Aus diesem Grund kann eine Sammlung in gewisser Weise immer vollständig sein; Unbestimmtheiten innerhalb der Seinskette stellen kein Problem dar. Erst die Taxonomie, deren Ordnungsparadigma spätere, komplexere Sammlungen organisiert, wird an der Vervollständigung dieser Kette arbeiten.

114 | Vgl. Lausberg (1973), 26. 115 | Vgl. Felfe (2006), 20. 116 | Vgl. Minges (1998), 37-46. 117 | Vgl. Foucault (1966), 32-40.

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3.2.2.2

Beobachtung und Beschreibung

Im 16. Jahrhundert entwickelt sich in Europa im Rahmen der Entdeckerfahrten eine neue Tradition des Sammelns, welche im Zusammentragen und Ausstellen von exempla neu entdeckter Phänomene besteht.118 Die Zahl sammelbarer Dinge erhöht sich deutlich: Naturalien aus Mineralogie, Zoologie und Botanik, welche die Natur der Neuen Welt hervorbringt, sowie mathematische und astronomische Geräte ergänzen die bisherigen Sammlungen. Die Studien- und Kunstkammer wird zum Kuriositätenkabinett, zu einem Raum der Begegnung mit dem Fremden. Diese zweite Phase des Sammelns ist gekennzeichnet durch die Aktivitäten von Beobachtung und Beschreibung: Die Texte, die in dieser Phase über die Neue Welt entstehen, sind rein deskriptiv. Sie folgen einer chronologischen Ordnung, indem sie die Reihenfolge wiedergeben, in welcher der Reisende die beschriebenen Objekte entdeckt hat. Hierbei ergibt sich eine Spannung zwischen Überlieferung und frühneuzeitlicher Subjektivität: Einerseits versuchen die Reisenden, das Erlebte in Form tradierter Topoi wiederzugeben, wodurch der Leser in den frühen Reisebeschreibungen aus der Neuen Welt viele Elemente der ihm vertrauten Tradition des locus amoenus wieder erkennen konnte.119 Andererseits lassen sich, wie Sprenger am Beispiel der Viaje de Jerusalem des Marqués de Tarifa Don Fadrique Enríquez de Ribera nachgewiesen hat, nicht alle Reiseberichte in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts als bruchlose Fortsetzung mittealterlicher Traditionen lesen, sondern auch als individuelle Neuaneignungen des Raumes, die Differenzen mitverhandeln.120 Eingeleitet wird diese Phase der Textproduktion von den frühen Entdeckern wie Kolumbus und Cortés, ihren Höhepunkt findet sie in Fernández de Oviedo.121 Sowohl die Reiseberichte des Kolumbus als auch Fernández Oviedos Frühwerk bestehen in der unsystematischen Anhäufung von Beobachtungen. Das spätere Werk Oviedos hingegen weist bereits eine Ordnung der Naturalien nach biologischen Kriterien auf, was auf erste Ansätze einer systematischen Auseinandersetzung mit der amerikanischen Natur hindeutet. Diese konsistente Ordnung ist in den zeitgenössischen Kuriositätenkabinetten allerdings noch nicht vorhanden. Ähnlich wie die frühen Reiseberichte häufen sie exotische Objekte an, ohne sie nach biologischen Kriterien anzuordnen. Ein prominentes Beispiel einer solchen eklektischen Sammlung liefert das oben bereits erwähnte Kuriositätenkabinett von Gonzalo Argote de Molina in Sevilla: Die Heterogenität der Objekte, die das Kabinett Argote de Molinas vereint, lässt noch keine Systematik erkennen. Doch sowohl die Mischung aus Museum und Bibliothek als auch Monardes’ Rückgriff auf die Sammlung zur besseren Darstellung seiner wissenschaftlichen Ergebnisse zeigt die Verbindung 118 | Vgl. Grote (1994), 11. 119 | Vgl. Gewecke (1992), 91. 120 | Vgl. Sprenger (in Vorbereitung), 5-32. 121 | Vgl. López Piñero (1979), 279-283.

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zwischen Ausstellung und Wissen. Als Orte der Genese von Erkenntnis stellen die frühneuzeitlichen Kuriositätenkabinette Räume dar, von denen wissenschaftliche Impulse ausgehen.122 Im Vergleich zur frühen Renaissance hat sich damit hinsichtlich der Sammlung von Objekten ein Wandel vollzogen: Während die Objekte in den fürstlichen Studien- und Kunstkammern den Status eines Schmuckstücks hatten und Naturobjekten neben ihrem ästhetischen oft ein magischer oder mythologischer Wert zugeschrieben wurde, konzentriert sich das Interesse nun auf den kommerziellen und wissenschaftlichen Nutzen, den das Objekt erbringen kann.123 An die Stelle seiner Zeit- und Ortlosigkeit tritt der Zeit- und Geldwert seiner konkreten Dauer. Sowohl die Sammlungen als auch die Texte dieser zweiten Phase stehen nach wie vor im Zeichen der maravilla. Doch kommt dem Wunder im Sinne eines übernatürlichen Phänomens nun ein hoher Erkenntniswert zu.124 Es steht fortan in einem engen Verhältnis zur curiositas: Der Begriff des Kuriosen kann sich zunächst auf die Eigenschaft eines Gegenstandes beziehen, der besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Darüber hinaus bezeichnet er die Eigenschaft dessen, der den kuriosen und damit wundersamen Charakter an bestimmten Objekten erkennt und sein Interesse daran kultiviert – kurz: der des Staunens mächtig ist. Dem Betrachter als erkennendem Subjekt kommt damit eine wichtige Rolle zu: Er allein trägt die Verantwortung, das Fremde in die bekannte Ordnung einzufügen. Ein bedeutendes Merkmal von Kontingenzerfahrung im Zeichen der curiositas ist, dass sie keine Kapitulation angesichts des Unbekannten, Unerwarteten zulässt, sondern vielmehr das begriffliche Denken dazu anregt, »die Leistungsfähigkeit seiner Prämissen zu überprüfen und zu variieren, um sie zu korrigieren und zu adjustieren, wenn nicht sogar zu subvertieren«.125 Hier versagt weder die Feder noch bedarf es hier eines »cuerpo sembrado de ojos como otro Argos« (CAC 5 r°, vgl. Zitat in Kap. 2.2.2) angesichts des Staunen erregenden Phänomens. Zwei wissbegierige und gelehrte Augen genügen, damit der Moment der Verwunderung überwunden und zum Anstoß zu Wissenszuwachs wird. Ist die Wahrnehmung bei einer kritischen Zeiterfahrung für eine kurze Zeitspanne gebunden, so löst dies eine Reaktion aus, die zur Integration des unerwarteten Phänomens in den bestehenden Erfahrungshorizont führt. Die Verwunderung stellt einen noch unstrukturierten sinnlichen Eindruck dar. Doch indem der Betrachter angesichts des unerwarteten Phänomens zurücktritt und es mit seinem Denken zu erfassen sucht, erhält es eine begriffliche Struktur und damit seinen Platz in einem bestehenden Wissensgefüge. Das Zeit- und Ortlose erhält eine konkrete Position in Raum und Zeit. 122 | Vgl. Felfe (2006), 12. 123 | Dies formuliert auch Monardes im Hinblick auf den Anbau exotischer Pflanzen in Sevilla. Vgl. Kap. 3.2, Fn. 72. 124 | Vgl. Felfe (2006), 17 125 | Erchinger (2009), 17.

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Die epistemische Figur der Verwunderung ist im 16. Jahrhundert nicht neu. Doch trägt das Sammeln und Ausstellen von Raritäten und Kuriositäten wesentlich zu einer veränderten Konzeption des Wunderbaren bei.126 An kaum einem anderen Ort wird das Eigene stärker mit dem Fremden konfrontiert als im Museum. Das Objekt ist dem Betrachter physisch genauso nah wie es ihm psychisch fremd ist. »Aus diesem Spannungsverhältnis, das im räumlich nahen, aber mental fernen Ding seinen Grund hat, leiten sich Staunen und Neugierde her, und damit die Möglichkeit des phänomenologischen Stufenganges von der ›antreffenden Anschauung‹ über die ›innewerdende Anschauung‹ zur ›füllenden Anschauung‹.«127 Die Verwunderung bildet als antreffende Anschauung also den Ausgangspunkt, von dem aus eine mentale Aneignung des Fremden stattfinden kann. Während das Wunder bisher als etwas begriffen worden war, das den Verstand des Menschen weit überstieg und daher unantastbar war, wurde es in den frühneuzeitlichen Kuriositätenkabinetten zu einem Gegenstand der Neugier und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. In dieser zweiten Phase des Sammelns von Naturalien nimmt die Naturgeschichte als Theorie der naturalia eine zentrale Stellung ein. Diese verstand sich nicht als historische und erklärende Wissenschaft, sondern beschränkte sich auf das Sammeln und Beschreiben von Naturalien. Die Geschichte eines Lebewesens war, ganz im Sinne der Analogie, dieses Lebewesen selbst in einem Netz von semantischen Beziehungen, in denen es zur Welt stand.128 Einer Vorstellung von der geschichtlichen Entwicklung der Natur stand in dieser Zeit noch das augustinische Verständnis entgegen, Gott allein habe die Natur in sechs Tagen erschaffen, und diese reproduziere sich fortan nur noch.129 Im Diálogo del hierro zitiert Monardes im Hinblick auf den Ursprung der Metalle Augustinus: »Todo lo que hizo el señor juntamente lo hizo, y lo crio. Assi quando hizo al mundo y crio la tierra juntamente crio en las entrñas [sic!] dellas los metales.« (DH 162 r°) Die Aufgabe der Naturgeschichte bestand also nicht darin, die Entstehung von Naturphänomenen zu erklären, sondern lediglich darin, das Sichtbare zu benennen. Der Begriff der historia erfuhr im Rahmen der Naturgeschichte eine Bedeutungsverschiebung bzw. gewann diejenige Bedeutung zurück, die er in der Antike hatte: Der Naturgeschichtsschreiber erzählt ausgehend von dem, was er sieht, ohne die Dinge kausal zu verknüpfen.130 Die Naturgeschichte des 16. Jahrhunderts ist also, ähnlich wie die Chronik, eine Geschichte ohne Zeit: »Le lieu de cette histoire, c’est un rectangle intemporel, où […] les êtres se présentent les uns à côté des autres, avec leurs surfaces 126 | Vgl. López Pérez & Rey Bueno (2006), 70. 127 | Korff (2002b), 147. Der Dreischritt von der antreffenden über die innewerdende zur füllenden Anschauung stammt von Plessner (1980), 105. 128 | Vgl. Foucault (1966), 141. 129 | Die Erklärung natürlicher Phänomene hingegen war der Naturphilosophie vorbehalten. Vgl. Minges (1998), 42. 130 | Vgl. Foucault (1966), 142-44.

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visibles, selon leurs traits communs, et par là déjà virtuellement analysés, et porteurs de leur seul nom.«131 Geschichte beruhte hier epistemologisch also nicht auf diachroner Abfolge, sondern auf räumlicher Synchronität. In diesem Kontext gilt es, kurz auf den Titel der Historia medicinal einzugehen. Monardes beansprucht nicht, eine Entwicklung der Medizin als Wissenschaft darzustellen und schon gar nicht eine Entwicklung der Lebewesen, aus denen die beschriebenen Heilmittel gewonnen werden. Als Humanist stellt er sein Werk rein äußerlich bewusst in eine Tradition des Sammelns und Beschreibens, wie sie von seinen antiken Vorbildern begründet wurde. Allerdings entspricht sein Vorgehen nur noch teilweise dem verbreiteten Schema der Naturgeschichte – Name, Theorie, Gattung, Art, Eigenschaften, Verwendung, ›Litteraria‹.132 Monardes fügt seinen Ausführungen eine diachrone Dimension hinzu, indem er den Entwicklungsprozess der einzelnen Pflanzen (und Tiere) zum in Europa verwendeten Heilmittel darstellt. Damit versteht er zwar noch nicht die Natur selbst als geschichtlich, wohl aber den Umgang mit ihr. Dies wird noch genauer zu erörtern sein. Die Erweiterung seiner textuellen Sammlung von Heilmitteln um einen diachronen Aspekt ist jedoch als Indiz dafür zu sehen, dass Monardes mit seiner Historia medicinal über die Phase der reinen Beobachtung und Beschreibung hinausgeht und diese bereits Ansätze einer taxonomischen, das heißt einer vom Menschen etablierten Ordnung enthält.

3.2.2.3

Klassifizierung

Die taxonomische Ordnung der Natur entsteht, so soll hier angenommen werden, nicht unabhängig von der Erschließung des amerikanischen Kontinents. Die zunehmende Fülle von Kuriositäten, die beständig aus der Neuen Welt nach Europa gelangten, machte deren Klassifizierung nach Arten notwendig. Dabei ermöglichte erst das Zusammenbringen der Objekte in einem Raum ihre Gruppierung.133 Das unsystematische Sammeln von Objekten musste der Entstehung einer musealen Ordnung vorangehen. Auch hier bildet der parcours, der denkwürdige, unsystematisch im Raum verteilte Gegenstände miteinander verbindet, die Voraussetzung einer schematischen carte (vgl. Kap. 1.3.2.2). Im Kontext einer taxonomischen Praxis, deren Vorreiter die Botanik war, bemühte man sich spätestens seit dem frühen 17. Jahrhundert um eine differenziertere Klassifizierung der Natur. Dies erforderte ein Verständnis der Dinge, welches über deren an der Oberfläche sichtbaren Eigenschaften hinausging.134 Was sich seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts veränderte, 131 | Ebd., 143. 132 | Vgl. ebd., 142. 133 | Vgl. Falguières (2003), 16-18. 134 | Vgl. Felfe (2006), 12-13. Entgegen der Zäsur, die Felfe, wohl im Anschluss an Foucault, im 17. Jahrhundert ansetzt, wird hier die These vertreten, dass sich eine taxonomische Ordnung zumindest ansatzweise schon in Texten der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts manifestiert.

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war nicht die Vorstellung, dass die Natur selbst geschichtlich zu verstehen sei, sondern ihre Ordnung, die nicht mehr offensichtlich schien. Sie galt nicht mehr als mit der Erschaffung der Welt ein für allemal vorgegeben, sondern als Ergebnis eines ordnenden, vom Menschen mitgestalteten Prozesses. Daher fragen die Vertreter der Taxonomie stets nach dem Ursprung der Erkenntnis über einen Gegenstand. Das Objekt verweist damit von nun an auf seine Geschichte und erhält seine Bedeutung erst durch sie. Die Natur erfährt eine Verzeitlichung in dem Sinne, dass sie nicht mehr beständig eine von Gott ins Leben gerufene Ordnung reproduziert, sondern diese Ordnung bildet das Produkt eines linearen Prozesses: Anhand von empirischen Folgen lässt sich die Entstehung von Ordnungen nachweisen, deren aufeinander folgende Stadien durch ihre zeitliche Verknüpfung rekonstruiert werden können.135 Die Klassifizierung von Objekten wird durch deren Positionierung im Raum sichtbar. In die Naturalienkammern des 17. Jahrhunderts hält eine Ordnung Einzug, welche das (scheinbare) Durcheinander alter Wunderkammern zugunsten der (suggestiven) Ordnung in Form von Vitrinen, Schubladen und Regalen verdrängt.136 Die ideale Wunderkammer, wie sie Neickelius 1718 in seiner theoretischen Schrift Museographia beschreibt,137 kann als Ergebnis des taxonomischen Klassifizierungsprozesses betrachtet werden. Kernpunkt bildet die Anordnung der Objekte nach Sachgruppen, die nach López Rodríguez ein Museum von einer Sammlung unterscheidet: Las colecciones se centran entonces en todo lo ›curioso‹, tenga valor mágico o no, y empiezan a llenarse de objetos que muestran algo de inusual o extraordinario. Solamente cuando estas colecciones comiencen a clasificar los objetos con el fin […] de integrar lo desconocido dentro de lo conocido es cuando surgirá el museo, en el cual hemos de pensar siempre como una colección que plantea una tesis científica sobre la realidad.138

Die Klassifizierung von Objekten erfordert eine Analyse, die das exotische Objekt in einen bestehenden Wissenskontext eingliedert und ihm so seinen Status als Wunder entzieht. Dadurch wird das ›Zeitloch‹, das durch Mangel an kontextuellem Verstehen entstanden ist, geschlossen und mit einer wissenschaftlichen Aussage gefüllt. Die naturgeschichtlichen Texte sowie die Sammlungen, die in die Phase der Klassifizierung fallen, sind topologisch (und nicht mehr kosmologisch) strukturiert.139 Die aus- und dargestellten Objekte sind weder in 135 | Vgl. Foucault (1966), 87. 136 | Vgl. Minges (1998), 106-107. 137 | Vgl. den von Schlosser (21978), 208-211 zitierten Abschnitt aus der Museo graphia. 138 | López Rodríguez (1995), o. S. 139 | Der Unterschied von kosmologischer und topologischer Anordnung lässt sich mithilfe von Harald Weinrichs Memoria-Metaphorologie näher beschreiben

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der chronologischen Reihenfolge ihres Auffindens angeordnet, noch nach rein äußerlichen Ähnlichkeitsbeziehungen. Von nun an rücken vielmehr ihre Differenzen in den Blickpunkt: Die analogische Hierarchie wird zunehmend durch die Analyse, der Ähnlichkeitsgedanke durch den Begriff der Unterscheidung ersetzt.140 Dies macht sich auch in der schriftlichen Darstellung von Objekten bemerkbar. Das scholastische Zeichenkonzept, das davon ausging, dass die Zeichenbeziehungen durch die Dinge selbst verbürgt und Teil einer unendlichen Kette des Seins waren, verlangte nach einem fließenden Text, in dem sich ein Zeichen an das andere anschloss. Die Reduktion des Zeichens auf ein arbiträres Symbol, die das Zeichen vom Bezeichneten loslöst,141 hingegen erlaubt eine Durchbrechung dieser unendlichen Kette von Ähnlichkeiten und damit auch eine Aufspaltung des Fließtextes. Die Dinge werden in Diagrammen systematisch aufgeteilt, wodurch Gemeinsamkeiten und Unterschiede sichtbar werden.142 (Vgl. Weinrich [1976]). Die Memoria, die Wissen psychologisch zu verarbeiten hatte, stellte eine Ordnung des Lernens zur Verfügung, die der natürlichen Ordnung der Dinge folgte (vgl. Schmidt-Biggemann [1983], 29). Seit der Antike existieren Magazin- und Wachstafelmetapher als konkurrierende Denkmodelle nebeneinander. Die Magazin-Metapher, zu deren Verbreitung im Wesentlichen die Mnemotechnik beigetragen hat, steht für ein statisches System von abrufbaren Inhalten. Alternativ plädiert Platon, der die Magazinmetapher ablehnt, für das bewegliche Denkmodell der Wachstafel. Dieser werden Inhalte eingeprägt, die für eine bestimmte Zeit mit ihrem Untergrund verbunden bleiben, um sodann jedoch gelöscht und durch neue Inhalte ersetzt zu werden. Beide Denkmodelle sind räumlicher Art, wobei sich das eine durch Statik, das andere durch Bewegung auszeichnet. Ähnlich verhält es sich mit einer kosmologischen bzw. topologischen Anordnung von Elementen im Raum – und auch im Text. Während bei der kosmologischen Raumordnung die Dinge ihren fest zugewiesenen Platz innerhalb eines hierarchischen Gefüges einnehmen, können topologische Raumordnungen jederzeit neu arrangiert, die unterschiedlichen Positionen im Raum stets neu besetzt werden. 140 | Vgl. Foucault (1966), 64-72. 141 | Vgl. ebd., 72-86. 142 | Beispiele für solche diagrammatischen Darstellungen finden sich in Siegel (2006), 167-175. Es erscheint verlockend, den 1592 entstandenen Index rerum omnium naturalium des Bernhard Paludanus als Vorwegnahme einer klassifikatorischen Ordnung zu lesen. Auf 10 Doppelseiten ist in Latein der Inhalt der Sammlung in 10 Capsulae (Laden) mit fast 1.000 Receptacula (Schachteln) präsentiert. Das Verzeichnis wurde 1603 in einem Reisebericht des Herzogs Friedrich von Württemberg-Teck gedruckt, der 1592 die Paludanus-Sammlung in Enkhuizen besucht hatte. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass der Autor des Reiseberichtes selbst ein derart detailliertes Inhaltsverzeichnis der Sammlung verfasst hat. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass Paludanus seine Naturalien-Sammlung dem Herzog überlassen wollte und sie hierfür in »Laden« gepackt hatte. Für eine geschäftliche Abmachung und gegen eine wissenschaftliche Klassifizierung

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Zwar impliziert auch die Taxonomie eine Kontinuität der Dinge; diese geht jedoch nicht aus der Darstellung der Dinge selbst hervor, sondern bedarf einer Abstraktionsleistung, welche die Kontinuität, die sich hinter der diskontinuierlichen Darstellung verbirgt, rekonstruiert.143 Die klassifizierende Ordnung bedeutet das Ende des Mikrokosmos’. Die Anordnung der Objekte muss nicht mehr einer apriorischen Ordnung Rechnung tragen, sondern ist das Ergebnis eines empirischen Forschungsprozesses. Damit ist für die Klassifizierung diejenige Offenheit des Ergebnisses konstitutiv, die sich auch im philosophischen Dialog abzeichnet (vgl. Kap. 3.1.2.3). Die Naturgeschichte löst sich von der zyklischen Bewegung der Exemplarität und öffnet sich hin auf die Zukunft. Durch das Bestreben, Naturgegenstände zu klassifizieren, erhält die bisher paradigmatisch strukturierte Sammlung eine Syntax. Die Objekte werden nicht mehr nach dem Zeitpunkt ihres Auffindens ausgestellt, sondern die Dinge, die sich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt angesammelt haben, werden neu geordnet. Dieses Ordnungsprinzip wird auch in den lokalen Chroniken sichtbar, die nichts anderes als Sammlungen von Ereignissen sind. In den Chroniken des Mittelalters waren die einzelnen Episoden nicht kausal verkettet und bildeten somit keine Syntax, sondern eine Anhäufung von Paradigmen, die zyklisch eine unveränderliche Ordnung bestätigten. Das einzelne Ereignis entfaltete seine Bedeutung in seiner Beziehung zum ewigen Ganzen, und nicht in seinem Verhältnis zu den anderen Ereignissen. Die topographische Methode der humanistischen Geschichtsschreibung hingegen bedeutet eine Klassifizierung des gesammelten Materials nach geographischen Merkmalen. Die Ereignisse werden nicht mehr, wie in der Chronik, nach dem Zeitpunkt ihres Geschehens aneinandergereiht, sondern werden aus der Sicht des Sammlers neu arrangiert. Der Sammler beginnt, sein Material zu beherrschen, indem er es nach selbst gewählten Kriterien ordnet. Dies ist der zunehmenden Fülle des Materials, sowohl der Sammlungsobjekte als auch der historischen Ereignisse, geschuldet, geht aber zugleich auf ein neues Selbstbewusstsein des Sammlers bzw. des Autors zurück. Dieser unterwirft sich nicht mehr dem Diktat einer exemplarischen Raum-Zeit, sondern schafft seine eigene räumliche und zeitliche Ordnung. Damit übernimmt er eine Funktion, die bisher dem unbewegten Beweger vorbehalten war. Die Semantisierung des Raumes ist hier nicht mehr durch die der Objekte spricht auch der handgeschriebene Katalog, den Paludanus Jahre später (1617-1618) für eine wahrscheinlich neue Sammlung selbst verfasste. Die Systematik dieses späteren Verzeichnisses steht in keinem Verhältnis zu derjenigen des früheren Berichtes. Vgl. Schepelern (1981). Das tabellarische Verzeichnis mit dem vollständigen Titel Index rerum omnium naturalium, a Bernhardo Paludano, medicinae doctore, et civitatis enckhusenis Physico experientissimo, collectarum findet sich abgedruckt in Cellius, Erhard (1603): Warhaffte Beschreibung Zweyer Raisen, Tübingen: Cellische Truckerey. 143 | Vgl. Foucault (1966), 87.

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Gesetze eines unveränderlichen Kosmos vorgeschrieben, sondern erfolgt durch ein Subjekt, das sich von der curiositas und der Vernunft leiten lässt. Die Pluralisierung von Raumsemantiken in der Frühen Neuzeit lässt sich daher auch und gerade in einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Praxis des Sammelns beobachten. Auch dort macht sich eine Semantisierung der Zeit bemerkbar. Denn die exemplarisch verstandene und dadurch auf räumliche différence144 reduzierte Episteme der Naturgeschichte öffnet sich hin auf ein Denken der altérité, das Ordnungen als einander ablösende figures autres begreift.

3.2.3

Die Historia medicinal als textuelle Sammlung

Am Beispiel des Arztes und Botanikers Nicolás Monardes (~1508-1588) lässt sich exemplarisch zeigen, wie der Naturforscher im frühneuzeitlichen Sevilla neue Phänomene in einen bestehenden Wissenskontext integriert und zu einer Ordnung der Dinge gelangt, die durch die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Episteme gekennzeichnet ist und sich so an der Schwelle von der alten zu einer neuen Raum-Zeit positioniert. Nicolás Monardes kann in mehrfacher Hinsicht als Sammler betrachtet werden. Zum einen sammelte er, wie bereits erwähnt, Pflanzenproben aus der Neuen Welt, die er in seinem eigenen botanischen Garten anbaute. Zum anderen sammelte er Informationen über die Wirkung von Pflanzen. In Gesprächen mit Seefahrern, Hafenarbeitern, Soldaten und Reisenden, die laufend mit Berichten über Auto-Therapien in Sevilla eintrafen, erfuhr Monardes von der Existenz und Anwendung von Heilmitteln in Amerika. In seiner Historia medicinal sind zahlreiche solcher Gespräche aufgeführt. Und schließlich war er ein Sammler von Erfahrungen. In seiner langjährigen Tätigkeit als Arzt erprobte er die Heilmittel, die aus der Neuen Welt nach Europa kamen und machte sie mit dem europäischen Wissenskontext kompatibel. Monardes selbst erläutert sein Vorgehen in der Einleitung zur Historia medicinal folgendermaßen: Pude lo hazer, juntamente con la experiencia y uso dellas de quarenta años, que ha que curo en esta ciudad do me he informado de los que de aquellas partes las han traydo con mucho cuydado, y las he experimentado en muchas y diuersas personas, con toda diligencia, y miramiento possible, con felicissimos succesos. (HM 2 v°)

144 | Der in Anlehnung an Castoriadis verwendete Begriff der différence ist nicht zu verwechseln mit der foucaultschen Differenz. Denn Castoriadis meint ein Ordnungsprinzip, das in der Zeit verlaufende Prozesse semantisch gleichordnet (vgl. Castoriadis [1975], 266-267 sowie die Überlegungen in Kap. 1.3.3) und sie so auf räumliche Gleichzeitigkeit reduziert. Foucault hingegen versteht Differenz als Gegenstück zur analogischen Episteme, das die Dinge nicht auf ihre Ähnlichkeiten, sondern auf ihre Unterschiede hin befragt. Vgl. Foucault (1966), 64-72.

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In seinem Hauptwerk Historia medicinal de las cosas que se traen de nuestras Indias occidentales que sirven en medicina (1565-1574) führt Monardes die verschiedenen Sammlungen – von Pflanzen, von Informationen und von Erfahrungen – zusammen. Aus dieser Synthese ergibt sich ein Wissensfortschritt, der, von einer rein sinnlichen Wahrnehmung des materiellen Objektes ausgehend über die Geschichte dieses Objektes bis schließlich zu dessen empirischer Erprobung, eine Klassifikation des Objektes innerhalb des europäischen Wissenskontextes ermöglicht. Die Art und Weise, wie Monardes sein Wissen über die in der Historia medicinal ausgestellten Gegenstände, organisiert, gibt, ähnlich wie die frühneuzeitlichen Sammlungen, Aufschluss über die Weltordnung(en), die er seiner Darstellung zugrunde legt. Die Historia medicinal gliedert sich in drei Teile, die Monardes zunächst unabhängig voneinander veröffentlichte. Sie entsprechen jeweils verschiedenen Perioden, in denen die amerikanischen Heilmittel in Europa bekannt wurden, wobei Monardes auch in die späteren Teile frühe Entdeckungen mit einschließt bzw. Ergänzungen zum ersten Teil vornimmt. Auch wenn die einzelnen Kapitel der Historia medicinal keinem starren Schema folgen, so lassen sich im Aufbau vor allem in den Kapiteln des ersten Teils doch gewisse Regelmäßigkeiten erkennen. Die Darstellung eines Heilmittels beginnt stets mit dessen geographischer Lokalisierung. In der Regel beschränkt diese sich auf eine vage Ortsangabe (Nueva España, Antillas, Tierra Firme, Perú, Florida) und in wenigen Fällen auf den allgemeinen Herkunftsort der Indias.145 Lediglich das Kapitel zur MechoacanWurzel, welches das Herzstück des ersten Teils bildet (HM 25 r°), enthält einen ausführlichen geographischen Exkurs (HM 28 v°-29 r°).146 145 | Vgl. dazu die schematische Darstellung von López Piñero (1990), 19. 146 | Geographische Beschreibungen stehen seit der Antike in unmittelbarer Nähe zur Historiographie. Alle von der Geschichtsschreibung behandelten Gegenstände sind notwendigerweise sowohl zeit- als auch raumgebunden. Da gerade die Veränderung der kulturellen Zustände der Erdräume Gegenstand der Geschichtsschreibung ist, ergibt sich für sie die Notwendigkeit, die geographischen Gegebenheiten der Schauplätze historischen Geschehens in den Blick zu nehmen. Diesem Anspruch kam die Geschichtsschreibung von der Antike bis ins 19. Jahrhundert durch den geographischen Exkurs nach. Erst die Herausbildung der Geographie als eigenständige Wissenschaft führte zu einer Auslagerung des geographischen Diskurses aus der Historiographie. Die Koppelung von Geschichtsschreibung und Geographie gilt auch für die kosmographische Erfahrungswissenschaft der Frühen Neuzeit als methodenkonstitutiv. Der geographische Exkurs, wie ihn die Kosmographie und die Naturgeschichtsschreibung übernehmen, hat seinen Ursprung bei den antiken Autoren. Deren Exkursschema sieht Informationen zu Gestalt und Klima des Landes, zur Etymologie geographischer Namen, zu seinen Bewohnern sowie zu seinen Besonderheiten vor. Monardes berücksichtigt in seiner Darstellung der Michoacán-Wurzel all diese Elemente, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und übernimmt damit das vorgegebene Muster.

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Der Herkunft eines Objektes folgt in der Regel eine kurze Beschreibung, die meist mit Informationen zur ursprünglichen Verwendung des Heilmittels kombiniert ist. Ein Großteil der Kapitel enthält einen mit der Randbemerkung »Historia« gekennzeichneten Abschnitt, der entweder von der ersten Begegnung mit dem Heilmittel berichtet, oder von einem Fall, in dem ein Patient durch das Mittel geheilt wurde. Es handelt sich um anekdotische Erzählungen, welche die Statik der Darstellung durchbrechen und dem Text eine diachrone Dimension verleihen. Sie führen in den meisten Fällen auf den Moment zurück, in dem die europäische Welt erstmals mit dem noch unbekannten Heilmittel konfrontiert wurde. Im Falle des Harzes Copal gestaltete sich diese Konfrontation folgendermaßen: »Y quãdo los primeros Españoles fueron a aquellas partes, los salian a recebir los sacerdotes, con vnos brasericos chicos, quemando en ellos este Copal, dandoles humo a narizes.« (HM 2 v°-3 r°) In ihrer anekdotischen Struktur geben solche Abschnitte die Einzigartigkeit des Kontingenten wieder.147 Damit stehen sie ganz im Zeichen der maravilla. Sie setzen an dem Punkt an, an dem das betreffende Produkt sich noch außerhalb des Wissenshorizontes des europäischen Betrachters befindet. Dass Monardes solche vorwissenschaftlichen Momente in seine Abhandlung mit aufnimmt, bestätigt den hohen Stellenwert, den die Verwunderung im Erkenntnisprozess besitzt: Aus phänomenologischer Sicht stellt sie den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Erkenntnisbildung dar, aus einer methodischen Perspektive dient sie als Tatsachen- bzw. Augenzeugenbericht, der die Theorie untermauern soll. Damit greift Monardes auf das rhetorische Mittel der narratio als Stütze seiner Argumentation zurück. Das Kontingente erfährt eine Funktionalisierung. So wie die maravilla im Erkenntnisprozess ihre ganz bestimmte Funktion als Katalysator von Erkenntnis erfüllt, hat auch die Anekdote innerhalb des Textes ihren fest zugewiesenen Platz als epistemologisches und rhetorisches Werkzeug. Greenblatt zufolge sind Anekdoten Minimalerzählungen, welche die Ereignishaftigkeit von Erfahrungen wiedergeben. Gleichzeitig verweisen sie auf eine übergeordnete Erzählung. Denn die Dokumentation einer einmaligen Erfahrung oder Beobachtung ist nicht erstrebenswert, wenn der Text von Nutzen sein soll. Anekdoten sind daher zu verstehen als zunächst zusammenhangslose Orte eines erzählerischen parcours, die sich aus der Distanz jedoch auf einer übergeordneten carte verorten lassen. Sie sind Teil eines Darstellungsverfahrens, das zwischen der undifferenzierten Aufeinanderfolge lokaler Momente und einer übergeordneten Strategie vermittelt.148 Monardes macht sich dieses Verfahren zunutze, indem er die Anekdote gezielt als Argument innerhalb einer umfassenden

Vgl. zum geographischen Exkurs generell Witzel (1952) sowie Neuber (2000), 182-183. 147 | Zur Anekdote als Kategorie der Darstellung vgl. Greenblatt (1991), 2-3. 148 | Vgl. ebd.

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Argumentationsstrategie einsetzt, welche den medizinischen Nutzen der aufgeführten Naturalien zu beweisen sucht. In einigen Fällen wird die Anekdote durch einen Vergleich des Heilmittels mit Bekanntem ersetzt, etwa mit Pflanzen, die man bereits aus dem Orient kannte. Doch auch bestimmte Arten der Zubereitung von Heilmitteln durch die ›Indios’will Monardes von der griechisch-klassischen Tradition her bereits kennen. Obwohl auf der Hand liegt, dass die ›Indios‹ die Schriften des Dioscorides nicht gekannt haben können, stellen sie das aceite de la higuera del infierno seiner Beurteilung nach so her, wie es von Dioscorides beschrieben wurde (HM 6 r°/v°).149 In solchen Fällen stellt die erste Begegnung mit dem fremden Gegenstand keine Erfahrung von Kontingenz dar, sondern vielmehr das Wiedererkennen eines bekannten Phänomens in einem veränderten Kontext. In diesem Fall gilt es, dieses Phänomen lediglich räumlich, nicht aber zeitlich zu re-kontextualisieren: Was bereits Teil der europäischen Tradition ist, muss nur noch auf den neuen räumlichen Kontext Amerika übertragen werden. Die weiteren Schritte der Darstellung eines Heilmittels folgen keiner anderen Absicht als seiner raum-zeitlichen Einordnung. Nach den Angaben zu geographischer Herkunft und erster Begegnung mit dem Mittel schildert Monardes seinen aktuellen Gebrauch, der bereits das Ergebnis einer Eingliederung in den europäischen Kontext zeigt. An dieser Stelle setzen Monardes’ eigene Forschungsergebnisse an. In ausführlicheren Abschnitten beschreibt er die Wirkung des Heilmittels und gegebenenfalls die Art der Verabreichung. Den Abschluss eines Kapitels bilden meist Angaben zur complexion des Produktes. Dabei handelt es sich um eine typisch galenische Kategorie. Sie bezieht sich auf die Temperatur bzw. das Temperament der jeweiligen Substanz, von denen sich seine Wirkungen auf den menschlichen Organismus ableiten lassen.150 Damit ist der Integrationsprozess der ursprünglich fremden Pflanze in die europäische Medizin abgeschlossen; das ›Zeitloch‹, das sich aus dem Fehlen kontextuellen Verstehens ergeben hatte, ist ausgefüllt. Die einzelnen Kapitel der Historia medicinal zeichnen diesen Vorgang nach und machen nachvollziehbar, wie das Wunder zu einem wissenschaftlich erschlossenen Gegenstand wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Wunderbare vollständig eliminiert wird. Monardes schreibt einigen Heilmitteln wundersame Wirkungen zu. Ausdrücke wie »marauilloso efecto«, (HM 8 v° u. 9 r°), und »hazer efectos que parecen cosas de milagro« (HM 12 r°) ziehen sich durch das ganze Werk. Darüber hinaus scheut sich Monardes nicht, einen unvollendeten bzw. noch nicht begonnenen Forschungsprozess darzustellen.151 Es geht ihm in seiner Historia medicinal also nicht allein da149 | »Hazen este Azeyte los Indios, como lo enseña a hazer Dioscorides en el libro I. Capit. 30.« (HM 5 v°) 150 | Vgl. López Piñero (1990), 20. 151 | Im Hinblick auf den medizinischen Einsatz von Haieiern gesteht Monardes ein: »Esto es cosa entre los Indios muy aueriguada, y sabida: y ansi mismo por los Españoles, que en aquellas partes abitan: y los que vienen a estas, lo aueriguan,

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rum, Forschungsergebnisse zu präsentieren, sondern den Forschungsprozess selbst abzubilden. Dass dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist, unterstreicht der immer wiederkehrende Topos der Zeit als Entdecker aller Dinge. Ähnlich wie im diálogo circunstancial ist Wahrheitsfindung hier ein offener, Irritationen ausgesetzter Vorgang, dessen Unabgeschlossenheit im Widerspruch steht zu einem in sich geschlossenen kosmischen Raum und einer in sich geschlossenen Heilszeit. Nicht mehr Gott allein bestimmt den Zeitpunkt, an dem Verborgenes ans Licht kommt, sondern das neugierige Subjekt kann diesen Zeitpunkt durch seinen eigenen Einsatz beeinflussen. Die Entdeckung neuer Heilmittel im Zuge der Eroberung der Neuen Welt führt zu einem Fortschrittsdenken und bringt einerseits den Gedanken der göttlichen Vorherbestimmung von Zeitpunkten, andererseits das Autoritätskonzept ins Wanken. Durch die Erschließung von Wissensfeldern, welche die Antike nicht kennen konnte, macht sich ein Überlegenheitsgefühl gegenüber den Alten bemerkbar. An die Stelle einer Bindung an einen vorgegebenen Wissenskanon tritt sowohl theoretisch als auch praktisch das Erfahren, Entdecken und Erfinden: Bei Monardes sind empirische Begriffe wie »ver«, »uso«, »experiencia« bzw. »experimentar« und »investigar« (z.B. HM 6 v° u. 31 r°/v°) zentral, wenn es darum geht, die Wirkung der bekannt gewordenen Heilmittel zu beschreiben. »Fortschritt ist das Ergebnis eines Fortschreitens. Fortschreiten ist eine Tätigkeit und damit ein sich in der Zeit vollziehender Vorgang.«152 Während der moderne Fortschrittsgedanke das Vorwärtsschreiten auf einem linearen Zeitpfeil impliziert, war der Fortschritt bis ins Spätmittelalter in einer zyklischen Bewegung gefangen. In der Antike hatte sich Fortschritt auf ein sittliches Fortschreiten des einzelnen Menschen innerhalb seiner Lebenszeit bezogen. Damit blieb Fortschritt auf den sich wiederholenden Kreislauf individuellen Lebens zwischen Geburt und Tod beschränkt. Demgegenüber kam im Zuge der Auseinandersetzung mit den Mythen um den Ursprung der Künste der Gedanke auf, dass Gott den Sterblichen nicht alles Verborgene enthülle und dass diese suchend im Fortgang der Zeit das Bessere fänden. Für Aristoteles bildete Fortschritt einen wesentlichen Bestandteil der Künste, weil jeder das ihnen Fehlende ergänzen und hinzufügen könne, so dass in den Künsten die Zeit zum »Erfinder oder guten Mitarbeiter […]«153 werde. Die Aspekte, die im modernen Gedanken des universalen Fortschritts zusammenfließen werden, sind in Antike und Mittelalter bereits angelegt. Dennoch bleiben Fortschritt und Geschichte in der Antike eingebettet in das sie umfassende Gesetz einer geregelten Weltordnung. Die alte Lehre eines zyklischen Prozesses von Werden und Vergehen bleibt gültig. Augustinus entwickelt aus dem Gedanken einer y afirman ser asi. Yo lo he gustado, y parece cosa insipida. Nola he prouado: ni aplicado hasta agora: con el tiempo se hara, y daremos razon della.« (HM 82 v°) 152 | Vgl. Petersen (2006), 240. Die sich nun anschließenden Überlegungen zum Fortschritt stützen sich auf Ritter (1972), Bd.2, 1032-1059. 153 | Ebd., Bd.2, 1033.

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einmaligen Wiederkunft Christi zwar die Vorstellung einer linear verlaufenden Weltzeit von der Schöpfung bis zur Parusie, doch begreift er das Vorwärtsbewegen der Menschheit in der Zeit nicht als Fortschritt, sondern vielmehr als Fortbestehen bis zu ihrem festgelegten Ende. Auch in der Scholastik bleibt Fortschritt im Wesentlichen ein Fortschreiten auf Gott zu. Dennoch machen sich auch hier bereits Ansätze eines modernen Fortschrittsdenkens bemerkbar. Thomas von Aquin vertritt unter aristotelischem Einfluss die Auffassung, dass in den von Menschen gegründeten Wissenschaften ein Mangel an Erkenntnis herrsche, der von nachfolgenden Generationen ausgeglichen werden solle. Der menschliche Geist sei allmählich dahin fortgeschritten, den Ursprung der Dinge zu suchen. Im 13. Jahrhundert gerät durch die Ergebnisse, die Mathematik, Erfahrung und Experiment mithilfe der Methode entdeckenden Erkennens erzielen, der durch Tradition vermittelte Stand des Wissens unter Druck. Die Wissenschaft erhält die Bestimmung, begünstigt durch den Fortgang der Zeit, das hinzuzufügen, was die Früheren nicht zu finden vermochten und das zu verbessern, was sie gefunden hatten. Auch wenn die Grundlagen des modernen Fortschrittsdenkens also bereits in Antike und Mittelalter zu finden sind, bleibt das Vorwärtsschreiten insgesamt dennoch gebunden an den Zyklus von Werden und Vergehen bzw. im Mittelalter an den einer exemplarischen Heilsordnung. Mit den zahlreichen Erfindungen und Entdeckungen der Frühen Neuzeit hingegen erreicht die Gegenwart eine Position, die sich nicht aus der philosophischen Tradition herleiten lässt und deren Autorität damit in Frage stellt. Monardes tritt zwar nicht direkt in Opposition zu den antiken Autoritäten, doch enthält sein Werk im Vergleich zu anderen medizinischen Abhandlungen seiner Zeit auffällig wenige Zitate antiker und mittelalterlicher Autoren.154 Monardes hatte seine medizinische Ausbildung an der Universidad de Alcalá absolviert, die den Ruf einer typisch humanistischen Einrichtung inne hatte und deren medizinische Fakultät sich zur bedeutendsten des spanischen Reiches entwickelt hatte. Der dort vorherrschende humanistische Galenismus stützte sich auf die griechisch-lateinische Tradition, insbesondere auf die kommentierte Übersetzung des Traktats von Dioscorides.155 Damit war Monardes wissenschaftlich in einer Strömung groß geworden, die sich einerseits vom arabisierten Galenismus des Mittelalters, andererseits von einer zeitgenössischen materiellempirischen Praxis abgrenzte. Der galenisch-humanistische Einfluss ist in der Historia medicinal nicht zu übersehen. Er wird vor allem dort offensichtlich, wo Monardes die neu entdeckten und erforschten Heilmittel mithilfe von begrifflichen Kategorien der galenischen Medizin beschreibt. Doch auch wenn Monardes versucht, die neuen Verfahren und Produkte mit den antiken Klassikern in Einklang zu bringen – dies zeigt das oben angeführte Beispiel, in dem Monardes in der Medizin der ›Indios‹ eine 154 | Vgl. López Piñero (1990), 21-22. 155 | Vgl. ebd., 5-8.

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Methode von Dioscorides wieder zu erkennen glaubt –, so gelingt es ihm nicht mehr vollständig, die Autorität der antiken Autoren kontrafaktisch aufrecht zu erhalten. Obwohl sich Monardes hier und da auf antike Autoren stützt, gesteht er mehrfach ein, dass die neu gefundenen Heilpflanzen sowie die Erkenntnisse über sie das Wissensgefüge der Antike sprengen (z.B. HM 79 v°). Der sevillanische Verleger einer wiederholten Auflage der Historia medicinal spitzt die Andeutungen von Monardes folgendermaßen zu: »Aunque a los antiguos se debe mucho por lo que nos dexaron […] hemos visto en nuestros siglos cosas que ni los antiguos conocieron ni ha habido hasta nuestros tiempos quien haya escrito dellas.«156 Damit hat sich der Text derjenigen Herausforderung gestellt, der auch die archäologische Historiographie begegnet, nämlich nicht lediglich vorhandene Schriften zu kompilieren, sondern selbst einen direkten, anschauenden Bezug zum dargestellten Objekt herzustellen. Dadurch werden vorhandene Zeichenbeziehungen nicht einfach aktualisiert, sondern erst im Text generiert. Zwar bekennt sich Monardes nicht offen zur empirischen Strömung seiner Zeit, erlangt aber durch seine Experimente Wissen, das weit über den Horizont der Antike und damit über das rein theoretisch Erschließbare hinausgeht. In der Darstellung der sogenannten sangre de dragón, einem Saft, der aus einem Baum gewonnen wird, dessen Frucht im Innern an einen Drachen erinnert, beklagt sich Monardes über die Unsinnigkeiten (desatinos), welche die antiguos über dieses Heilmittel geäußert haben, aber auch über diejenigen Modernos, welche die Ansichten der Alten ungeprüft übernehmen: Esto dizen los antiguos, y muchos mas desatinos, que seria largo escreuir. Los Modernos, siguiendo esta misma ignorancia, como lo suelen hazer, en las cosas que estan dubdosas, porque su officio es no dezir nada de nueuo, sino es, en lo claro, y manifiesto, que en lo dubdoso y dificil: assi se lo dexan como lo hallan. Todos ellos desuarian, como hizieron los antiguos. Pero el tiempo, que es descubridor de todas las cosas, nos ha descubierto, y enseñado, que sea sangre de Drago. (HM 79 v°) 156 | Monardes Nicolás (1580): »El impresor al benévolo lector«, in ders.: Primera y segunda y tercera partes de la Historia medicinal de las Cosas que se traen de nuestras Indias occidentales que sirven en medicina, Sevilla: En casa de Fernando Díaz, o. S. Gleichzeitig nutzt Monardes das neue medizinische Wissen, um sich vom verhassten arabisierten Galenismus mittelalterlichen Ursprungs zu distanzieren: »Por do considero, quantos arboles y plantas ay en las Indias nuestras, que tienen muy grandes virtudes medicinales, pues en la leña para la chimenea, se gastan arboles olorosos Aromaticos, de cuya corteza hechos poluos, se podrian hazer muy grandes efectos, confortando el coraçon y el estomago, y miembros principales, sin buscar la Especeria de Maluco, y las Medicinas de Arabia, y las de Persia. Pues en los cãpos incultos, y en las montañas expontaneamente nos las dan nuestras Indias.« (HM 39 v°)

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Monardes schlägt sich also weder auf die Seite der Antiguos, noch auf die der Modernos, sondern beruft sich auf die eigene Erfahrung in Form einer Empirie, die, unterstützt durch den Fortgang der Zeit, Verborgenes ans Licht bringt.157 Doch er betont nicht nur die entdeckende Kraft der Zeit, sondern auch ihr zerstörerisches Potential.158 Damit relativiert er den Wissensfortschritt, den er und seine Zeitgenossen im Vergleich zu den Alten vollzogen haben, leicht: Que si el tiempo nos ha quitado la verdadera Myrra, y el verdadero Balsamo, y otras medicinas que los antiguos tuuieron, que en nuestros tiempos no ay memoria dellas, las quales con el tiempo se han perdido. El mismo en lugar dellas, nos ha descubierto y dado tantas y tan varias cosas, como auemos dicho, que nuestras Indias Occidentales nos embian. (HM 36 v°)

Doch obwohl Monardes den Verlust von Wissen aus der Antike bedauert, überwiegt bei ihm insgesamt ein Fortschrittsoptimismus, der im Bewusstsein gründet, dass der neue Kontinent noch mehr Heilmittel bereithält, die durch empirische Methoden erfasst werden könnten: »Y desta manera ay otras muchas cosas en nuestras Indias Occidentales, que tienen grandes virtudes, y grandes secretos medicinales, de los quales se sabra cada dia mas, y se iran descubriendo, para que nos aprouechemos dellas.« (HM 72l) Monardes skizziert hier eine Zukunft, die in der fortlaufenden Entdeckung neuer Heilmittel und deren Nutzen für die Menschheit besteht. In diesem Fortschrittsprozess schreibt er sich selbst und damit dem erkennenden Subjekt eine zentrale Rolle zu: [E]llos [nuestros Españoles] nos han traydo nueuas medicinas, y nueuos remedios con que se curan y sanan muchas enfermedades […]: de que no pequeña vtilidad, y no menos prouecho se consigue a los de nuestros tiempos, y tambien a los que despues de nos vinieren, de lo qual sere el primero, para que los demas añadan con este principio, lo que mas supieren, y por experiencia mas hallaren. (HM 2 r°/v°)

157 | Bereits Aristoteles betrachtete es als sinnlos, bei den Auffassungen der Alten zu bleiben oder sie lediglich wieder herzustellen. Vgl. Ritter (1972), 1033. Die frühneuzeitliche Auseinandersetzung um den Status von altem und neuem Wissen gipfelt gegen Ende des 17. Jahrhunderts in der Querelle des anciens et modernes. Auch hier spielt der aristotelische Gedanke von der Zeit als Erfinderin und Mitarbeiterin eine wichtige Rolle. »Es gibt nichts, was nicht die Zeit vollendet«, heißt es bei Perrault, der als Wortführer der Modernen in der Querelle die Unterlegenheit der Alten nachzuweisen sucht. Perrault, Charles (1688-1697): Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences, Bd. IV, Paris : Jean Baptiste Coignard, 285. Zitiert nach Ritter (1972), 1037-1038. 158 | Auch dies ist ein beliebter Topos der Renaissance: »El tiempo, devorador y consumidor de todas las cosas« (DQ I, 64).

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Monardes versteht sich als Begründer eines neuen Forschungsparadigmas, das aus seiner Auseinandersetzung mit der Botanik der Neuen Welt hervorgegangen ist. Damit eröffnet er einen Zeitraum, der, von seiner Gegenwart ausgehend, nicht mehr in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft gerichtet ist. Diese wird hier nicht nur stabilisiert, sondern als Aufwärtsbewegung inszeniert. Monardes setzt nicht mehr auf eine Reproduktion von altem Wissen, sondern auf eine Produktion neuer Erkenntnis, die ihm das privilegierte Umfeld, das er in Sevilla genießt, ermöglicht: »Y como en esta ciudad de Seuilla, que es puerto y escala de todas las Indias occidentales, sepamos dellas, mas que en otra parte de toda España, por venir todas las cosas primero a ella, do con mejor relacion y con mayor experiencia se saben.« (HM 2 v°) Fortschritt bedeutet – im Gegensatz zu Prozessen der Evolution in der Natur – ein bewusstes Handeln mit dem Ziel, die Selbstverwirklichungsmöglichkeiten des Menschen zu verbessern und die dazu notwendigen Voraussetzungen bereitzustellen. Der Fortschritt bedeutet eine Emanzipation des Menschen von den Einschränkungen, die ihm von der Natur auferlegt sind.159 Im Einklang mit dieser modernen Aussage betrachtet Monardes den Menschen selbst als für den Fortschritt verantwortlich: La falta es nuestra, que no las inuestigamos, ni buscamos, ni hazemos la diligencia que conuiene, para aprouecharnos de sus marauillosos efectos. Lo qual espero que el tiempo que es descubridor de todas las cosas, y la diligencia y experiencia nos las demostraran, con mucho prouecho nuestro. (HM 39 r°)

Monardes schreibt der Erfahrung einen hohen Erkenntniswert zu. Damit wendet er sich gegen eine rein rationale Forschung, wie sie seinerzeit verbreitet war. Er nimmt Stellung zum Konflikt zwischen einer rationalen, in der Theorie gründenden und einer empirischen Wissenschaftskonzeption, wie sie Pedro Mejía im Diálogo de los médicos vorgeführt hat (vgl. Kap. 3.1.3). Die Synthese der beiden Strömungen als einander ergänzende Denkweisen mit ihrem je eigenen Wert, für die Mejía plädiert, scheint auch Monardes zu vollziehen: Es gelingt ihm, seine klassische, theoriegeleitete Ausbildung mit experimenteller Forschung und dadurch racionalismo und empirismo miteinander zu verbinden. Der wesentliche Unterschied zwischen der rationalen und der empirischen Strömung der Frühen Neuzeit besteht in einer je verschiedenen Auffassung von Erfahrung. Der rationale Erfahrungsbegriff geht auf die Antike zurück: Für Platon und Aristoteles macht sich die Erfahrung in der Wissenschaft insofern geltend, als sie zu einer Vertrautheit mit der Lösung von Problemen führen kann. Allerdings generiert die Erfahrung selbst keine neue Erkenntnis im Sinne von induktiver Schlussfolgerung. Wissenschaftliches Argumentieren besteht für Aristoteles vielmehr in einer Deduktion aus als wahr vorausgesetzten Prämissen. Der platonisch159 | Vgl. Petersen (2006), 258-263.

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aristotelische Erfahrungsbegriff bleibt in der Frühen Neuzeit selbst über den Niedergang der aristotelischen Naturwissenschaft hinaus weitgehend gültig.160 Dennoch werden bereits im 13. Jahrhundert Stimmen laut, die eine gezielte experimentelle Forschung fordern. Später verlangt Newton, dass die durch Deduktion gewonnenen Folgerungen empirisch zu überprüfen seien,161 und Erneuerungsbewegungen wie der Atomismus, der Kopernikanismus und der Paracelsismus vollziehen schließlich einen radikalen Bruch mit dem traditionellen Erfahrungsschema.162 Der antike Atomismus, der in der Frühen Neuzeit eine neue Blüte erlebt, unterscheidet zwischen verborgenen Mechanismen und beobachtbaren Abläufen in der Natur.163 Auch die von Monardes geradezu ubiquitär getroffene Aussage, dass die Zeit alle bisher verborgenen Dinge ans Licht bringen werde, geht von dieser Vorstellung aus. Von der platonisch-aristotelischen Tradition abweichend werden die unveränderlichen Strukturen in die Natur selbst verlegt. Diese wird zwar noch als unveränderlich verstanden, nicht aber die Ordnungen des Wissens, mit deren Hilfe sie beschrieben wird. Daher können die in ihr verborgenen Mechanismen nicht mehr allein durch überlieferte Methoden erfasst werden, sondern bedürfen einer empirischen Analyse. Allerdings enthält die Formel von der Zeit als Entdeckerin, wie sie Monardes im obigen Zitat verwendet, einen Widerspruch hinsichtlich der Konzeption von Erfahrung: Einerseits ist es die Erfahrung im Sinne einer menschengeleiteten Empirie (»diligencia y experiencia«), die alle Dinge ans Licht bringen soll, andererseits verweist Monardes mit der Verwendung des antiken Topos von der Zeit als Entdeckerin auf den klassischen, rationalen Erfahrungsbegriff. Dieser Widerspruch zeugt von dem Bemühen, neue Erkenntnisse unter dem Deckmantel einer traditionellen Rhetorik zu präsentieren und es so in bestehende Wissensordnungen einzufügen, verdeutlicht aber auch das Scheitern solcher Bestrebungen. Der Zyklus von vorhandenem Wissen, das immer neu bestätigt wird, ist durchbrochen und wird sukzessive durch eine lineare Folge von neuen Entdeckungen ersetzt. Ausgangspunkt bilden nicht mehr bekannte Gesetze, vielmehr müssen die Gesetze und Mechanismen, welche die Natur bestimmen, erst empirisch erforscht werden. Damit ist die Möglichkeit gegeben, empirisches Wissen stets durch neue Befunde zu widerlegen. Experimentell hergeleitete Gesetze sind daher nicht unveränderlich, sondern können jederzeit revidiert werden. Die kosmologische Statik wird von einer topologischen Dynamik abgelöst. Auch der Fortschrittsgedanke widerspricht der Vorstellung eines Kosmos’ als fertigem Werk Gottes.164 Er setzt der Vorstellung einer Wieder160 | Vgl. Detel (1988), 938-942. 161 | Vgl. ebd., 943-944. 162 | Vgl. López Piñero (1979), 164. 163 | Vgl. Detel (1988), 944. 164 | Vgl. Petersen (2006), 240.

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holung des immer Gleichen ein Ende, da er von der linearen Entwicklung eines Unvollkommenen zu einem Status höherer Vollkommenheit ausgeht. Will der Mensch sich selbst aus den Zwängen des Kosmos’ lösen, so muss er mental aus seinem Zusammenspiel mit der Umwelt heraustreten, seine Situation objektivieren und die Fülle der Sinneseindrücke analysieren. Dadurch ordnet er die Dinge so, dass sie zu Begriffen werden. Der Mensch verlässt seine Position als reiner Beobachter und beginnt selbst auf die Welt einzuwirken. Dies bedeutet einen Paradigmenwechsel für das wissenschaftliche Denken und Handeln. Die Welt der Erscheinungen wird nicht mehr auf immer umfassendere Einheiten einer Seinskette zurückgeführt, sondern in Teile zerlegt165 – ein Gedanke, der im 16. Jahrhundert aus religiöser Sicht noch ein Problem darstellt. Die Naturforscher der Frühen Neuzeit, unter ihnen Monardes, lösen dieses Problem dahingehend, dass sie den Fortschritt nicht als Eingriff in die Natur beschreiben, sondern als einen Prozess fortschreitender Entdeckung dessen, was Gott geschaffen hat, den Menschen jedoch bisher verborgen geblieben war. Der Fortschritt schafft somit nichts Neues, sondern bringt lediglich Neues ans Licht. Damit bewegt sich das Fortschrittsdenken, zumindest an der Oberfläche, immer noch im Kreislauf des prästabilierten Kosmos’. Die Wissenschaft folgt weiter der Bestimmung, die sie bereits im 13. Jahrhundert erhalten hatte, nämlich, »zu künftiger Vermehrung der Einsicht und zu deren Anwendung in instrumentellem Erfinden fortzuschreiten«166, ohne jedoch in offenen Widerspruch zum herrschenden Weltbild zu treten.167 Monardes geht nicht so weit, das Weltmodell des antiken und mittelalterlichen Stufenkosmos’ anzuzweifeln – zumindest lassen seine Schriften keine derartigen Zweifel erkennen. Doch erscheint es angesichts des neuen Wissens, das aus seinen empirischen Forschungen hervorgegangen ist und das er von künftigen Forschungen erwartet, unmöglich, die exemplarische Episteme einer beständigen Wiederkehr des Gleichen aufrecht zu erhalten. Dies scheitert vor allem daran, dass die Produktion von Wissen nicht nur den Bedingungen eines konkreten historischen Raumes unterworfen ist, sondern auch der individuellen biographischen Zeit eines Subjekts, das sich in diesem Raum bewegt und verortet. Monardes teilt die Wissenschaftsgeschichte in zwei unterschiedlich semantisierte Zeiträume ein, einer autoritätsbasierten Vergangenheit und einer fortschrittsorientierten Zukunft. Damit verzeitlicht er den wis165 | Vgl. ebd., 264. 166 | Ritter (1972), 1036 sowie 254. 167 | Erst im 17. und 18. Jahrhundert setzt sich das Prinzip des universalen Fortschritts durch. Allerdings wird diese Wende bereits im vorangehenden Jahrhundert eingeleitet. Giordano Bruno (1548-1600) etwa sieht die Sphären des Himmels durch den aufsteigenden Geist der neuen Entdeckungen, vor allem derjenigen der Neuen Welt, zerstört. Vgl. Bruno, Giordano (1969 [1584]): Das Aschermittwochsmahl, Frankfurt: Insel, 72 u. 74.

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senschaftlichen Prozess und fügt dem Begriff der Historia, mit dem er sein Werk betitelt, eine neue Dimension hinzu. Die Bedeutungseinheit der Historia erfährt im 16. Jahrhundert eine Pluralisierung. Erstens bezieht sie sich traditionell auf eine Gelehrsamkeit, die in der Rezeption und Neuinterpretation der antiken Klassiker besteht. Diese Bedeutung behält sie in der Historia medicinal teilweise bei. Zweitens bezeichnet der Begriff ein Vorgehen, das die frühneuzeitliche Naturgeschichtsschreibung in Anlehnung an die Antike kennzeichnet: Der Geschichtsschreiber berichtet ausgehend von dem, was er sieht und zeigt so das Netz von synchronen Bezügen auf, in das ein Gegenstand eingebettet ist. Drittens fungiert die Historia im Sinne einer narratio als Tatsachenbericht, der einerseits die wissenschaftliche Argumentation stützen soll, sich aber zugleich als Ausgangspunkt des Forschungsprozesses erweist. Schließlich verweist sie viertens auf den wissenschaftlichen Fortschritt als diachronen Prozess. Damit löst sich die Naturgeschichtsschreibung allmählich von einer rein synchronen Darstellung ihres Gegenstandes und nimmt Züge einer Geschichtsschreibung an, die transformatorische Prozesse in der Zeit mit einbezieht. Mit dem Postulat eines neuen Forschungsparadigmas wird eine Zäsur markiert, welche den wissenschaftlichen Umgang mit der Natur in ein Vorher und Nachher teilt und so ein semantisch neues Zeitintervall errichtet. Auch wenn Monardes diese Zäsur nicht konsequent setzt, so leitet er mit der Historia medicinal doch ein Metaereignis ein, das heißt eine Transformation der bestehenden Weltordnung (vgl. Kap. 1.3.3). Sein Text modelliert in mehrerlei Hinsicht ein Ereignis im Sinne einer Grenzüberschreitung, die das traditionelle Bild von der Natur jedoch noch nicht transformiert: von einer autoritätsbasierten Gelehrsamkeit zu unabhängiger, auf Erfahrung beruhender Forschung, von einem rationalen zu einem empirischen Wissenschaftsverständnis. Obwohl Monardes dadurch keinen radikalen Bruch mit den traditionellen Schemen vollzieht, verändert er doch einzelne Teilsysteme und bereitet so eine Umwälzung des ganzen Weltsystems vor, wie sie sich spätestens im 18. Jahrhundert vollständig durchsetzt. Es ist die Häufung von Ereignissen im Laufe der Frühen Neuzeit, die schließlich zu einem umfassenden Umbruch von der alten zur neuen Raum-Zeit führt. In welchem Verhältnis steht nun die Historia medicinal zur im ersten Teil dieses Kapitels skizzierten Sammlungspraxis? Die botanische Abhandlung vereint in sich alle drei Phasen des frühneuzeitlichen Sammelns – Exemplarität und Kosmologie, Beobachtung und Beschreibung sowie Klassifizierung. Erstens wird in der Rekurrenz auf antike Autoritäten und Begrifflichkeiten ein Bemühen sichtbar, das neu erworbene Wissen konform zu überlieferten Umgangsformen mit der Natur zu präsentieren. So wie die Inhaber der frühen Studien- und Kunstkammern die Objekte ihrer Sammlung nach einem kosmologischen Raumprogramm anordnen, so organisiert Monardes sein Wissen nach den Kategorien einer traditionel-

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len Naturgeschichtsschreibung, die sich auf einer rein synchronen Ebene und damit innerhalb einer statischen Räumlichkeit bewegt. Zweitens sind auch die Verfahren der Beobachtung und Beschreibung für Monardes unerlässlich: Dem Gesamtwerk der Historia medicinal geht das eklektische Sammeln voraus, das sowohl die Kuriositätenkabinette als auch die frühen Beschreibungen der amerikanischen Natur kennzeichnete. Diese hatten die Gegenstände in der chronologischen Folge ihres Auffindens dargestellt. In ihrer Gesamtheit betrachtet gibt auch die Historia medicinal eine chronologische Ordnung wieder. Wie bereits erwähnt, entsprechen die drei Teile jeweils denjenigen Perioden, in denen die amerikanischen Heilmittel in Europa bekannt wurden. Die einzelnen, in sich geschlossenen Teile weisen jedoch, drittens, Anzeichen einer topologischen Ordnung auf, wenn diese auch nicht konsequent eingehalten wird. In vielen Fällen fehlt noch das botanische Wissen, das eine differenziertere Klassifizierung erlauben würde.168 Ein gewisser Eklektismus lässt sich angesichts des noch geringen Entwicklungsstandes von Botanik und Zoologie nicht vermeiden, wobei Monardes dennoch bemüht ist, eine taxonomische Ordnung zu erstellen. Hierauf weist nicht zuletzt die Art und Weise hin, wie er Marginalien einsetzt. Die Marginalie ist eine leserzentrierte Praxis. Sie gliedert den Fließtext in spezifische loci und lenkt so das Augenmerk des Lesers auf bestimmte Aspekte.169 Im Hinblick auf den Gebrauch der Marginalie lassen sich eine funktionale und eine klassifikatorische Topik unterscheiden.170 Während die funktionale Topik semantische Elemente des Fließtextes durch reine Wiederholung hervorhebt, gibt die klassifikatorische Topik Kategorien an, in die sich der Inhalt eines Abschnittes einordnen lässt. Monardes verwendet beide Verfahren, wobei ein klassifikatorisches Vorgehen überwiegt. Zu den Kategorien, die immer wiederkehren, zählen der Tatsachenbericht (historia), die Verwendung des Heilmittels (uso), seine Wirkung (virtudes) und seine Konstitution (complexion). Die Historia medicinal enthält damit bereits Anzeichen einer musealen Ordnung, wie sie im Laufe des 17. Jahrhunderts entsteht. Sie steht für den Übergang von einem chronologisch zu einem topologisch strukturierten Wissen. Somit wird Monardes zum Wegbereiter einer klassifizierenden Naturforschung, wie sie sich erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts endgültig durchsetzen wird. Die Historia medicinal spiegelt die Pluralität von Raum-Zeiten wider, welche die frühneuzeitliche Sammlungspraxis kennzeichnet. Ausschlag168 | So teilt Monardes beispielsweise die Heilmittel des ersten Teils ein in Harze, Abführmittel, Hölzer und mineralische Produkte ein. Medikamente wie guayaco, china und zarzaparrilla sowie der Balsam aus Peru können keiner dieser Kategorien zugeordnet werden, noch eine eigene Kategorie bilden. Zur Gliederung der drei Teile der Historia medicinal vgl. López Piñero (1990), 23. 169 | Vgl. Neuber (2000), 177-178. 170 | Vgl. ebd., 186-187.

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gebend ist jedoch, dass sie bereits ansatzweise diejenige taxonomische Ordnung antizipiert, die sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch nicht durchgesetzt hat. Damit bereitet die Historia medicinal den Weg für eine »science générale de l’ordre«171, die empirische Folgen erkennen lässt und so zu einer neuen Sensibilität für die Zeit führt. Indem sie Objekte in ihrer räumlichen Gleichzeitigkeit anordnet, durchbricht sie die zyklische Kette des Seins und dynamisiert deren statische Ordnung. So wie die topographische Anordnung von Geschichte deren Neustrukturierung erlaubt, konfiguriert die klassifizierte Ausstellung von Objekten einen Zwischenraum, in dem sich altes Wissen revidieren und neues integrieren lässt. Das frühneuzeitliche Naturalienkabinett wird zu einem Raum des Fortschritts, in dem Wissen durch das wechselseitige Zusammenspiel von Objekten und Texten nicht nur exponiert, sondern auch beständig produziert wird.

171 | Foucault (1966), 87.

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4. Raum-Zeiten der comedia urbana

4.1

D ER C HRONOTOPOS DER COMEDIA URBANA

Im Theater verbinden sich Erzählen und Zeigen bei einer spezifischen medialen Gewichtung: Im Gegensatz zum Prosatext, der Raum sowie Bewegungen im Raum nur in sprachlicher Schematisierung darstellen kann, steht dem Theater ein konkreter Raum der Anschauung zur Verfügung, der zwischen der Lebenswelt des Zuschauers und der fiktionalen Raum-Zeit der dramatischen Welt vermittelt.1 Es handelt sich, wie auch im musealen Raum der Wunderkammer und dem performativ erzeugten, fiktionalen Raum des Dialogs, um einen Anschauungsraum, in dem nicht in erster Linie erzählt, sondern gezeigt wird. Doch kommt auch das Theater nicht ohne narrative Verfahren aus. Damit sind weniger Episierungstechniken wie Botenberichte, kommentierende Nebentexte und dergleichen gemeint,2 sondern die Zeitlichkeit der Fabel im ricœurschen Sinne, die paradigmatische und syntagmatische Elemente zu einer in der Zeit verlaufenden Handlung verbindet. Im Gegensatz zum Raum des frühneuzeitlichen Kuriositätenkabinetts, der allenfalls Bewegungen des Betrachters, nicht aber solche der ausgestellten Objekte zulässt, ist der Raum der Bühne kein ausschließlich statischer Raum der Anschauung, sondern ein Handlungsraum. Im vorliegenden Kapitel soll untersucht werden, wie das frühneuzeitliche Theater mit dem Verlust statischer Ordnungsrelationen umgeht. Mithilfe einer raum- und zeitbasierten Analyse ausgewählter comedias urbanas von Lope de Vega lässt sich zeigen, dass das frühneuzeitliche Theater in Spanien den Epochenbruch konfiguriert, indem es zwar vordergründig 1 | Die Abwesenheit eines konkreten Raumes erlaubt der Erzählliteratur einen wesentlich freieren Umgang mit der Zeit. Während die erzählte Zeit im narrativen Text nur in szenischen Sequenzen konkret ist, kann der dramatische Text – eine Ausnahme bildet das epische Theater – gar nicht aus der Dauer der konkreten Zeit ausbrechen. Zu Zeit und Raum im Drama generell vgl. Pfister (1997), 327-381. 2 | Vgl. zu einer Typologie epischer Kommunikationsstrukturen im Drama ebd., 106-121.

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das christlich-orthodoxe Weltbild kontrafaktisch aufrecht erhält, unterschwellig jedoch auf eine instabile, dem ständigen Wandel unterworfene Wirklichkeit verweist. Dies geschieht durch eine Gegenläufigkeit von Makro- und Mikrostruktur: Makrostrukturell vollzieht Lope de Vega die Bewegung der Exemplarität, indem er ein Restitutionssujet modelliert. Zugleich lenkt er jedoch durch mikrostrukturelle Elemente das Augenmerk auf die Krise der Exemplarität, indem er die Wiederherstellung einer ursprünglichen Ordnung als fiktiv entlarvt. Damit deutet er insofern ein Metaereignis an, als Ausgangs- und Endlage der Handlung nicht mehr vollständig zur Deckung kommen; Vorher und Nachher sind semantisch nicht mehr aufeinander abbildbar, was auf eine Semantisierung der Zeit hinweist. Die comedia urbana steht in einer Theatertradition, die in der als Dialog verfassten Tragikomödie La Celestina gründet.3 Diese fließt in die sogenannte Mantel- und Degenkomödie, deren zentrale Handlungsmuster – Ehren- und Liebeshandel, Verwechslungsszenen und Betrügereien – die comedia urbana teilt. Neben ihrer für die hier gewählte Fragestellung zentralen Eigenschaft, die Figuren in einem städtischen Raum auftreten zu lassen, weist die comedia urbana die Besonderheit auf, dass ihre Protagonisten in der Regel nicht-adeliger Herkunft sind. Generell sind in Lope de Vegas comedias die Figuren nicht mehr nach überzeitlichen Regeln konzipiert, sondern werden zu historischen Charakteren, die den veränderten Bedingungen der frühneuzeitlichen Gesellschaft in Spanien Rechnung tragen. Damit löst sich die comedia eindeutig von der aristotelisch-klassischen Programmatik und wird zu einem eigenen, charakteristisch spanischen Genre. Im Einklang mit der Historisierung der Figuren ist auch der Schauplatz, analog zum Schauplatz vieler Unterredungsdialoge (vgl. Kap. 3.1.2), ein historisch lokalisierter Raum, im Falle der comedia urbana die frühneuzeitliche Stadt. Diese Historisierung des Raumes führt, wie in diesem Kapitel zu zeigen sein wird, zu einer spezifisch frühneuzeitlichen Raum-Zeit, die sich gerade in Sevilla herausbildet: Der ausgeweitete und dynamisierte Raum einer sozial und geographisch zunehmend mobilen Stadt tritt in Widerspruch zum allegorischen Raum eines prästabilierten Welttheaters.4 Zu diesem Auseinandertreten von lebensweltlicher und fiktionaler Raum-Zeit tragen nicht zuletzt theaterhistorische Aspekte bei. Die Institutionalisierung des Theaters, das sich zum selbstorganisierenden sozialen Subsystem5 herausbildet, und die damit verbundene Isolierung von 3 | Vgl. Gómez (2000b), 25. 4 | Die Metapher des Welttheaters wird hier im Sinne von Curtius verwendet als Ausdrucksform für einen theozentrischen Kosmos, der die Bühne eines irdischen Spiels bildet, mit Fortuna als Regisseur und dem Himmel als Zuschauer. Vgl. zur Welttheatermetapher generell Curtius (1978), 148-154 und in der comedia Nitsch (2000), 69ff. 5 | Als ›Subsysteme‹ bezeichnet Luhmann solche Systeme, die unabhängig voneinander bestehen, sich selbst erhalten, gleichrangig und nicht wie in der hierar-

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Spielzeit und Theaterort bilden die Rahmenbedingungen der Dramentexte, in denen sich Sevilla als spezifisch frühneuzeitlicher Chronotopos artikuliert.6 Durch die zeitliche und räumliche Entkoppelung des Theaters von kirchlichen und politischen Anlässen wird der Betrachter nicht mehr zufällig zum Theaterbesucher. Der Gang ins Theater geschieht bewusst und willentlich mit dem Ziel, sich zur Unterhaltung einer fiktionalen Welt auszusetzen. Dieses Bewusstsein einer Differenz zwischen der Lebenswelt des Zuschauers und der Welt des fiktiven Geschehens macht das Theater zu einem Raum, in dem sich der Bezug zwischen Fiktion und Wirklichkeit darstellen lässt.7 Der fiktionale Chronotopos greift Strukturen der lebensweltlichen Raum-Zeit auf, die der frühneuzeitliche Zuschauer einerseits wieder erkennt, deren Fiktionalisierung jedoch in Kontrast zu seiner Alltagsrealität tritt.

4.1.1

Sevilla als dramatischer Chronotopos

Jedes der hier untersuchten Stücke macht das frühneuzeitliche und damit das zeitgenössische Sevilla als seinen Schauplatz kenntlich, mit Ausnahme von La Estrella de Sevilla8, das im spätmittelalterlichen Sevilla spielt. In El amante Agradecido9 verschlägt es die beiden Hauptfiguren, Juan und Lucinda, beides Kinder eines padre indiano, nach einer ersten zufälligen Begegnung in Zaragoza unabhängig voneinander nach Sevilla. Dort ist Lucinda in ein zwielichtiges Milieu geraten, aus dem Juan sie zu befreien sucht, wobei ihm der in seiner sevillanischen Familie streng befolgte Ehrenkodex im Wege steht. Die Handlung von La Estrella de Sevilla, deren Schauplatz das Sevilla des 14. Jahrhunderts bildet, ist zentriert um das Personendreieck der schönen Estrella, deren Bruder Busto Tabera sowie Sancho, dem Freund Bustos und Verlobten Estrellas. Die innige Dreierbeziehung wird gestört, als der König, der vorübergehend in Sevilla weilt, Sancho dazu zwingt, seinen Freund Busto zu ermorden, da dieser ihn dabei ertappt hat, wie er nachts in die Kammer seiner Schwester Estrella einzudringen versuchte. Als es darum geht, den Schuldigen an dem Mord auszumachen, kann zwar auch Bustos eisernes Schweigen den König nicht zu einem Geständnis bringen, doch muss dieser die moralische chisch gegliederten Gesellschaft nach dem Corpus-Modell strukturiert sind, mit der Politik als steuerndem Kopf. Vgl. Luhmann (1990), 415-427. 6 | Die historische Situation des Theaters im Sevilla des 16. und 17. Jahrhunderts ist detailliert erforscht. Vgl. vor allem die Studien von Sentaurens (1991, 1995) sowie allgemein zur Institutionalisierung des Theaters Allen (1997), Díez Borque (1986) und Fothergill-Payne (1983). 7 | Vgl. Biet (2005), 54. 8 | Claramonte, Andrés de (1991 [~ 1617]): La Estrella de Sevilla, Madrid: Cátedra. Im Folgenden abgekürzt mit ES. 9 | Vega Carpio, Lope Félix de (1994 [1602]): »El amante agradecido«, in ders.: Comedias, Bd. 8, Madrid: Turner, 3-105. Im Folgenden abgekürzt mit AA.

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Stärke der sevillanischen Bevölkerung anerkennen. Die Handlung von El Arenal de Sevilla10 schließlich spielt in der pulsierenden Hafenzone Sevillas, wo sich die beiden Hauptfiguren Laura und Lope begegnen. Auch ihre Vereinigung wird gestört bzw. verzögert, nämlich durch das unerwartete Auftauchen Lucindas, Lopes früherer Geliebten, die ihn durch allerlei Listen zurückgewinnen will. Im Folgenden soll die lebensweltliche Raum-Zeit, wie sie die gewählten Stücke konfigurieren, etwas näher beschrieben und dabei in vier Aspekte aufgegliedert werden: die physische und temporale Struktur des städtischen Raumes, seine gesellschaftlichen Strukturen und die in ihm geltenden Werte.

4.1.1.1

Physische Strukturen

Die Modellierung des Schauplatzes Sevilla, wie sie in den vorgestellten Stücken erfolgt, bedeutet zunächst eine Bezugnahme auf die physischen Strukturen der Stadt. Dazu gehören Verkehrsnetze und Knotenpunkte, öffentliche Plätze sowie Gebäude und Monumente. Diese rein physischen Eigenschaften stehen nicht für sich selbst, sondern verweisen auf ein Imaginäres, wie an der folgenden Szene aus El amante agradecido deutlich wird. Zu Beginn des Stücks erfährt der Zuschauer, dass Don Juan, der sich derzeit noch in Zaragoza befindet, auf dem Weg von Genua nach Sevilla ist, um das Erbe seines verstorbenen Vaters einzulösen. In einem Städtelob beschreibt sein Diener Guzmanillo Sevilla als ideale Stadt, welche die Physiognomie anderer Städte, ja sogar anderer Welten in sich vereine: Y si a ver te persuades ciudades, vete a Sevilla, que en ella, por maravilla, verás todas las ciudades. Y aun otro mundo está en ella, y esto no es cuento ni engaño, que dos veces en un año se entran las Indias por ella. ¿Qué Salamanca ni Corte como aquel famoso río? Ver la galera, el navío del mar del sur o del norte. Ver aquella variedad, que es importante decilla, porque el río de Sevilla tiene otra tanta ciudad. (AA 7)

10 | Vega Carpio, Lope Félix de (1958 [1603]): »El Arenal de Sevilla«, in ders.: Obras escogidas, Bd. 1, Madrid: Aguilar, 1381-1413. Im Folgenden abgekürzt mit AS.

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Sevilla erscheint hier in emblematischer Überformung als Prototyp einer Stadt, in der sich die göttliche Ordnung widerspiegelt. Allerdings gründet dieser Ähnlichkeitsbezug nicht mehr in einem rein allegorischen Schema, denn an die Stelle einer vorgegebenen mittelalterlichen Seinsordnung ist die empirische Bezugsdimension einer politisch-historischen Welt getreten.11 Nur auf den ersten Blick scheint es dadurch, dass Sevilla sich aufgrund des Handels mit Amerika eine neue Welt einverleibt habe, gelungen zu sein, den neuen, fremden geographischen Raum in die alte kosmische Ordnung einzugliedern. Doch gerade der Einzug der Indias in Sevilla hat zu einer Dynamisierung des städtischen Raumes geführt, welche mit dem allegorisch-emblematischen Raum nicht mehr zu fassen ist. Die Stadt spiegelt nicht mehr nur die eine, andere Welt wider, sondern steht in einer semiotischen Beziehungsvielfalt, welche »das immer schon vorentschiedene hierarchische Regulationsprinzip der mittelalterlichen Allegorese suspendiert«12 . Das Einbeziehen eines konkreten historischen Raumes in den Text führt dazu, dass dieser nicht mehr auf eine garantierte Seinsordnung verweisen kann. Der Übergang zum zweiten Akt, der mit einem Ortswechsel von Zaragoza nach Sevilla einhergeht, erfolgt in Form eines erneuten Städtelobs auf Sevilla, das diesmal die architektonischen Besonderheiten der Stadt, allen voran die Giralda, in den Blick nimmt (AA 35). Des Weiteren findet während eines geselligen Zusammentreffens im Haus Don Juans ein Gespräch über das Grabmal Philipps II. statt (AA 52-57). Die ungewöhnlich detaillierte Beschreibung des Monuments hat für die Fabel, zumindest auf den ersten Blick, keine Bedeutung, führt jedoch erneut eine Überschneidung zwischen der dargestellten Welt und der physischen Lebenswelt des Lesers herbei. Lope de Vega nimmt hier Bezug auf ein realhistorisches Ereignis: 1598 entfacht sich ein heftiger Streit zwischen der Audiencia, dem Cabildo, den Inquisitoren und dem Ayuntamiento um die Rangordnung bei der Prozession und weiterer Zeremonien anlässlich der Beerdigung Philipps II. Das Volk begegnet den öffentlichen Auseinandersetzungen sowohl mit Erstaunen als auch mit Spott. Schließlich werden die Feierlichkeiten suspendiert, die Ehrungen des verstorbenen Königs von sevillanischer Seite beschränken sich auf ein aufwändig gestaltetes Grabmal.13 Wie im obigen Lob auf Sevilla als kosmopolitischer Metropole ruft Lope auch hier höchst ambivalente Symbole auf: Die Giralda steht als Glockenturm der Kathedrale zwar für die Dominanz des Christentums in Sevilla schlechthin, verweist jedoch als ehemaliges Minarett zugleich auf das muslimische Erbe der Stadt. Und auch das ephemere Grabmal Philipps II., in dem sich politische Macht allegorisch verdichtet, deutet letztendlich auf die Auseinandersetzung zwischen geistlichen und weltlichen Kräften um eine offenbar nicht mehr selbstverständliche Ordnung hin. 11 | Vgl. dazu generell Iser (1991), 83. 12 | Ebd. 13 | Vgl. Eslava Galán (1993), 41.

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4.1.1.2

Zeitliche Strukturen

Neben den physischen Strukturen des städtischen Raumes, und in Verbindung mit diesen, spielen für die Handlung der comedia urbana auch die temporalen Rhythmen des städtischen Lebens eine Rolle. Der Alltag des frühneuzeitlichen Sevillas scheint völlig durch den Takt der ankommenden und ablegenden Flotten aus der Neuen Welt (»dos veces en un año«, AA 7) bestimmt zu sein. Auch dass die Hauptfigur im Amante agradecido Sohn eines padre indiano ist, geht auf den Austausch zwischen Sevilla und der Neuen Welt zurück. Ein Gespräch zwischen zwei Herren über die Ankunft der Flotte, die das Erbe Don Juans aus Peru bringt, zeugt zudem von einem frühen Spekulantentum, wie es sich aus den Handelsaktivitäten mit Amerika entwickelte:14 L ISEO […] S IRENO FABIO S IRENO

FABIO […] C ELIO FABIO C ELIO

FABIO C ELIO FABIO

Hanle venido más de cien mil pesos. Dadle la nueva, y perderá mil sesos. De tal suerte los santos importuna. Si se tarda la flota cuatro días, anega el mar las esperanzas mías. Un real por otro andaba ya tomando. Ya daba con mi crédito en el suelo. ¿Qué os vienen? dos mil cueros. Esperando estaba a mi padre algún consuelo; y en la Contratación, lista y amigos, apenas hay memoria ni testigos. Dicen que traen cochinilla a Decio en grande cantidad. Mil cosas trata con gran ventura. Ha tresdoblado el precio. Oíd qué hermoso chirrión de plata. (AA 93)

Gewinn und Verlust hingen davon ab, wie genau man den Ankunftstag der Flotte vorhersagen konnte. Das Rechnen mit der Zeit, das nach Heidegger einen wesentlichen Bestandteil der menschlichen Innerzeitlichkeit bildet, gewinnt durch den Aufschwung des Handels im 16. Jahrhundert eine neue Tragweite und hält auch in die comedia Einzug. Die Identifikationsmöglichkeit des Zuschauers, in welcher Form auch immer dieser am Warenaustausch mit der Neuen Welt beteiligt ist, wird durch den andalusischen Akzent der beteiligten Figuren noch verstärkt. 14 | Vgl. zum Spekulantentum als Form einer strategischen Nutzung von Zeit die Überlegungen in Kap. 3.2.1.2.

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Die Spekulationsszene, die abgesehen von der Ankündigung der Ankunft der Flotte auf den ersten Blick genauso wenig zur Handlung beizutragen scheint wie die Beschreibung des Grabmals Philipps II., kann aus der Gesamtperspektive des Stückes auf die ambivalente Rolle des Reichtums hindeuten, welche die ökonomische Situation des lebensweltlichen Spanien und seiner Vizekönigreiche um 1600 kennzeichnet. Wird der Reichtum Sevillas im Städtelob Guzmanillos zu Beginn des Stücks gepriesen, so steht er an dieser Stelle im Zeichen einer theologisch und moralisch nicht mehr vertretbaren Geldgier. Das Gespräch der Spekulanten über die Ankunft der Flotte birgt so ein zwiespältiges Moment in sich: Einerseits kündigt es eine Wiederherstellung von Ordnung in Form eines glücklichen Endes an, denn mit der Flotte trifft auch die Erbschaft ein, die für Juans sozialen Status bürgt. Andererseits verweisen die Terminwarengeschäfte der Spekulanten auf eine Destabilisierung von Ordnung durch unkontrollierbare Dynamiken, die aus Taktiken persönlicher Bereicherung aufkeimen. Noch deutlicher als im Amante agradecido ist der Bezug auf die realhistorischen Bedingungen des frühneuzeitlichen Sevillas in El Arenal de Sevilla. Ein Fremder (for.), der sich im Arenal aufhält und das bunte Treiben beobachtet, kann seinem Staunen nicht genug Ausdruck verleihen: F OR . A LVAR . F OR . A LVAR .

F OR .

O RT.

¿Esto hay en el Arenal? ¡Oh, gran máquina Sevilla! ¿Esto sólo os maravilla? Es a babilonia igual. Pues aguardad una flota, y veréis toda esta Arena de carros de plata llena, que imaginarlo alborota. […] de su hermoso Arenal sólo se precia Sevilla, que es otava maravilla y una plaza universal. […] Esta es una puerta indiana, que pare tantos millones, puerto de varias naciones, puerto para todos llana. Toda España, Italia y Francia vive por este Arenal: porque es plaza general de todo trato y ganancia. (AS 1387)

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Lope de Vega nutzt den gesamten ersten Akt des Stücks, um dem Zuschauer den geschäftigen und turbulenten Alltag im Hafen von Sevilla in bemerkenswerter Konkretion vor Augen zu führen. Darüber hinaus lässt er im Arenal de Sevilla in fast realchronologischer Genauigkeit historische Ereignisse in die dramatische Handlung einfließen, die sich kurz vor der Entstehung des Stücks zugetragen haben.15 All dies erlaubt es dem Zuschauer, das dargestellte Sevilla als Entsprechung derjenigen Stadt zu identifizieren, die seinen Lebensraum darstellt und zeitliche Strukturen seines eigenen Alltags zu erkennen. Die Referenz auf Gegenstände, Ereignisse und Strukturen, die dem Zuschauer aus seiner lebensweltlichen Realität bekannt sind, macht die Bezugsfelder des fiktiven Geschehens als die in der Umwelt des Rezipienten gegebenen Systeme kenntlich.16 Das Theater wird zu einem »Ort der Rede in der Stadt und über die Stadt«,17 und zwar einer Stadt, in der lebensweltliche Erfahrung und allegorische Modellierung in ständigen Widerspruch zueinander treten. An genau diesem Auseinanderklaffen von realer Raumerfahrung und konfigurierter Raumordnung, so werden die Analysen der einzelnen Texte zeigen, arbeitet sich die comedia urbana ab.

4.1.1.3

Soziale Strukturen

Ein weiterer Bestandteil des städtischen Umfeldes, das der fiktionalen Welt der comedia zugrunde liegt, sind neben den physischen und temporalen Strukturen gesellschaftliche Bedingungen, die sich, ganz im Sinne Lotmans, mithilfe von räumlichen Modellen beschreiben lassen. Eine für die comedia wesentliche Struktur ist die Dichotomie von arm und reich bzw. von adelig und nicht-adelig. Sie ist in Bezug auf die Konzeption der Gesellschaft eine räumliche Metapher,18 denn sie beruht epistemologisch auf einer vertikalen Unterscheidung von oben und unten bzw. auf einem horizontalen Modell von zwei Polen. Solche Formen sozialer Differenzierung gründen in einer bestimmten Form des Gedächtnisses, nämlich dem rhetorischen Gedächtnis. So wie im rhetorischen Apparat das Gedächtnis einen geordneten, begrenzten Raum darstellt, in dem die einzelnen Topoi hierarchisch geordnet sind, so bildet auch die Stadt einen geschlossenen, durch soziale Schichten strukturierten Innenraum, in dem der Adel an der Spitze der Hierarchie steht.19 In der Frühen Neuzeit werden die Grenzen, durch welche die einzelnen gesellschaftlichen 15 | Vgl. Dale (1940). 16 | Vgl. Iser (1991), 25. Damit ist keine Deckung der fiktionalen Welt des Textes mit der lebensweltlichen Realität des Zuschauers beansprucht. Denn der fiktionale Text »ist keine Widerspiegelung gegebener Realität, sondern deren Vollendung in einem jeweils bestimmten Sinne.« Iser (1975), 312. 17 | Biet (2005), 59. 18 | Vgl. Ossowski (1956). 19 | Zum rhetorischen Gedächtnis als Gedächtnisform der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft vgl. Esposito (2002), 98-161.

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Schichten voneinander getrennt sind, zunehmend durchlässig. Die Differenzierung der Gesellschaft verschiebt sich von einer vertikalen Hierarchie allmählich in eine funktionale Horizontalität. Diese Verlagerung äußert sich in einem neuen Verständnis des gesellschaftlichen Raumes, der immer mehr in seiner konkreten Verfasstheit und weniger in seinem allegorischen Charakter als Modell einer göttlichen Ordnung begriffen wird. Dies kommt nicht zuletzt in der Modellierung von Gesellschaft und deren räumlicher Projektionen in der comedia urbana zum Ausdruck: Wo El amante agradecido und La Estrella de Sevilla noch mit klar abgegrenzten oppositionellen Teilräumen operieren, lösen sich in El Arenal de Sevilla räumliche Dichotomien auf. Das rhetorische Gedächtnis weicht einem kulturellen Gedächtnis, das, im Einklang mit einer zunehmend funktionalen Gesellschaftsdifferenzierung, auf räumliche Dichotomien wie ›innen‹ − ›außen‹ oder ›oben‹ − ›unten‹ verzichtet und stattdessen den historischen Raum in seiner Konkretheit erfasst. Im Amante agradecido stellt die Dichotomie von arm und reich, die sich in sowohl vertikal als auch horizontal arrangierten oppositionellen Teilräumen niederschlägt, eine zentrale Achse dar, um die sich das Geschehen konstituiert. Auf dem Weg von Genua nach Sevilla, wo Don Juan das Erbe seines neureichen Vaters entgegen nehmen will, macht er Halt in Zaragoza. Dort verliebt er sich in Lucinda, deren in Lima weilender, ebenfalls neureicher Vater ihr ein stattliches Erbe in Aussicht gestellt hat. Lucinda erwidert die Liebe Juans und hilft ihm, nachdem ihm durch einen Diebstahl Geld abhanden kommt, finanziell aus. Als Juan einen Rivalen im Duell tödlich verletzt, muss er Zaragoza unverhofft verlassen. Lucindas Onkel Claridano, unter dessen Obhut sie steht, beschließt, seine Nichte in Sevilla unterzubringen, um zu verhindern, dass angesichts ihrer zahlreichen Verehrer weiterer Schaden entsteht. Als Juan und Lucinda unabhängig voneinander in Sevilla ankommen, weiß keiner vom anderen, dass dieser sich in derselben Stadt aufhält. Durch ein Missverständnis ist Lucinda in das Haus der Kupplerin Belisa geraten, was sie in ein gesellschaftlich ungünstiges Licht rückt. Dieser Umstand hindert Juans Familie daran, Lucinda als potentielle Ehefrau für ihren Sohn anzuerkennen. Auch Juan zweifelt an der Ehrlichkeit Lucindas. Durch eine List, zu der ihn sein Diener Guzmanillo verleitet, kann er sich jedoch schließlich der Integrität und des tatsächlichen Reichtums seiner Geliebten vergewissern. Umgekehrt ist auch Lucindas Onkel Claridano der Auffassung, dass Juans Vermögen der Mitgift, die Lucinda mit in die Ehe brächte, nicht gerecht würde. Erst als der soziale Status der beiden Liebenden bewiesen ist, kann es zu einer Heirat kommen. Die Verwirrungen, die sich im Amante agradecido um den sozialen Status der Protagonisten ergeben, werden erst durch einen Blick auf die sozialen Strukturen des frühneuzeitlichen Spaniens, insbesondere Sevillas nachvollziehbar. Bis zum Beginn der Neuzeit war Reichtum untrennbar an den Status des Geburtsadels gebunden. Die gesellschaftliche Spaltung zwischen arm und reich entsprach derjenigen zwischen adelig und nicht-

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adelig: Wer adelig war, war auch automatisch reich.20 Durch demographische, ökonomische, technische, politische und kulturelle Faktoren erfuhr dieses Verhältnis jedoch eine Umstrukturierung. In den Städten entstand ein aufstrebendes Bürgertum, das sich Reichtum durch Handel erwirtschaftete. Die Möglichkeiten, die sich aus dem Güterverkehr mit der Neuen Welt ergaben, spielten hierbei, vor allem in Sevilla, eine zentrale Rolle. Gleichzeitig führte der Niedergang des mittelalterlichen Feudalismus zu einer zunehmenden Verarmung des Landadels. Reichtum war nicht mehr von Landbesitz abhängig, sondern von der Teilnahme an kommerziellen Aktivitäten und deren Erfolg. Hinzu kam, dass der Adelstitel käuflich wurde, aber auch durch die Übernahme von Ämtern erworben werden konnte. Diese und weitere Faktoren trugen dazu bei, dass sich das Verhältnis von Adel und Reichtum umkehrte. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts galt nicht mehr: Wer adelig ist, ist reich, sondern: Wer reich ist, ist adelig. Die Dichotomie von arm und reich setzte sich gegenüber anderen Oppositionen durch, wie etwa derjenigen zwischen solchen, die herrschten und solchen, die gehorchten oder zwischen solchen, für die gearbeitet wurde und solchen, die arbeiteten. Die Polarisierung der Gesellschaft bestand also fort, doch löste sich der Reichtum vom Adel innerhalb der sozialen Organisation. An dieser Verschiebung lässt sich beobachten, was in der Systemtheorie als Übergang von einer stratifikatorischen Struktur zu einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft bezeichnet wird. Teilsysteme der Gesellschaft waren nun nicht mehr nur nach Schichten geordnet, sondern unterschieden sich voneinander durch ihre je spezifische Funktion und erlangten so eine gewisse Autonomie. Die Ökonomie bildete eines dieser Teilsysteme, genauso wie der Adelsstatus, der nun nicht mehr allein an die soziale Herkunft gebunden war. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft konstituiert den historischen Hintergrund, vor dem die Handlung des Amante agradecido zu verstehen ist. Sowohl Juans als auch Lucindas Eltern sind Neureiche, deren Vermögen, und damit ihr sozialer Status, auf eine Verselbständigung der Wirtschaft zurückgehen. Wie zahlreiche Amtsadelige der Frühen Neuzeit verdanken auch sie ihren Status der Etablierung und dem Ausbau eines Verwaltungssystems in der Neuen Welt. Dennoch scheren sich die beiden Liebenden wenig um das Vermögen des anderen, obwohl es letztendlich der soziale Status ihrer Familien ist, der ihre Heirat ermöglicht. Als Lucinda Juan ihre Liebe gesteht, weiß sie noch nicht, dass sie es mit einem wohlhabenden Erben zu tun hat, denn Juan und sein Diener Guzmanillo haben sich ihr gegenüber als mittellose Dichter ausgegeben (AA 10). 21 Als Juan ihr beim ersten Treffen vom Tod seines Vaters erzählt und sie ihn 20 | Vgl. zu den nun folgenden Ausführungen über die Verschiebungen in der frühneuezitlichen Gesellschaftsstruktur Maravall (1972). 21 | Der mittellose Liebende gilt als beliebtes (autobiographisches) Motiv der comedias von Lope. Er wird auf Lopes unglückliche Liebe für Elena Osorio zurückgeführt, die mit der Verurteilung und Verbannung des Dramaturgen endet

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daraufhin nach seinem Erbe fragt, verneint er dessen Existenz (AA 8). Lucinda bietet ihm infolgedessen an, ihm finanziell unter die Arme zu greifen (AA 9); und als Juan schließlich im Gasthaus bestohlen wird, lässt sie ihm einen Umschlag mit einer Geldsumme und Schmuck zukommen, zusammen mit der Warnung, dass man ihn wegen Mordes verfolge (AA 32-33). Doch auch Juan zeigt sich angesichts Lucindas Vermögen gleichgültig. Während Guzmanillo das finanzielle Anerbieten Lucindas liebend gern annehmen würde, worin er dem Typus des geldgierigen gracioso entspricht, lehnt Juan das Angebot ab. Darin unterscheidet er sich von seinen Rivalen, die Lucinda nur ihres Erbes wegen heiraten wollen. Lucinda fasst die Haltung Juans am Ende in ihrer zentralen Aussage, welcher das Stück seinen Titel El amante agradecido verdankt, folgendermaßen zusammen: Todo eso y más es debido a un agradecido amor; pobre me quiso don Juan, pobre me h onró y me buscó. (AA 104)

Worauf Juan in ähnlicher Bescheidenheit erwidert: La riqueza que hallé yo estas manos me la dan. (Ebd.)

Gerade in ihrer Genügsamkeit hinsichtlich materieller Güter erweisen Juan und Lucinda ihren Adel. Denn Gleichgültigkeit gegenüber Geld galt von der ritterlichen Tradition her als adelige Tugend. Der neue Adel übernimmt somit nicht nur den Reichtum des alten Adels, sondern auch dessen Werte. Damit ist der Bogen zum vierten Punkt des lebensweltlichen Vorverständnisses, dem zugrunde liegenden Wertesystem, geschlagen. Doch soll vorab schon einmal darauf hingewiesen werden, dass die frühneuzeitlichen Verschiebungen in den gesellschaftlichen Strukturen Einfluss nehmen auf die Art und Weise, wie Lope de Vega den Raum der Handlung in seinen comedias urbanas modelliert. Diese historische Spezifität des Chronotopos, welcher die Schauplätze Lopes durchdringt, situiert sein Theater jenseits des Allegorischen, dem Joachim Küpper die spanische comedia zurechnet.22

4.1.1.4

Wertesystem

Ein Verständnis der gesellschaftlichen Strukturen, die einer dramatischen Fabel zugrunde liegen, ist notwendig, um die Einwirkung äußerer Umstände auf die Handlung nachvollziehen zu können. Diese Strukturen sind, wie soeben skizziert, als räumliche Modelle vorstellbar. Nun sind an aufgrund der Klage, Lope würde mit seinen Pamphleten (»libelos«) dem Ruf der Familie schaden. Vgl. Gómez (2000b), 161-165. 22 | Vgl. Küpper (1990).

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soziale Strukturen bestimmte Werte gekoppelt. Zentrales Wertesystem, das die Handlung der comedia bestimmt, ist die Ehre.23 Diese erscheint in der spanischen Gesellschaft des 16. und 17. Jahrhunderts im Einklang mit den kulturellen Projektionen von arm und reich als »polarisierendes Zeichen«.24 Dem stratifikatorischen Gesellschaftsmodell entspricht nach Gustavo Correa eine sogenannte honra vertical. Sie beruhte auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht und wurde daher durch Geburt, besondere Verdienste oder hohe offizielle Ämter erworben. Nach der auf Aristoteles und Horaz zurückgehenden frühneuzeitlichen Ständeklausel war der Ehrbegriff untrennbar mit dem Stand des Adels verbunden. Adelige Figuren verhielten sich ehrenhaft, während den nichtadeligen Figuren niederträchtiges Verhalten zugeschrieben wurde. Dem vertikalen Ehrkonzept steht die honra horizontal gegenüber. Sie betraf die Beziehungen innerhalb einer Gesellschaftsschicht, die gemeinsamen Wertvorstellungen und Richtlinien, aus denen sich ein sozialer Zusammenhalt konstituierte. Mit der in der Frühen Neuzeit aufkommenden sozialen Mobilität verschob sich nicht nur das Verhältnis von Adel und Reichtum, sondern auch dasjenige von Adel und Ehre. Als ehrenhaft galt nicht mehr, wer adelig war, sondern wer sich ehrenhaft verhielt. Ehrenhaftes Verhalten zeigte sich beim Mann in Stolz, Zivilcourage und Verantwortlichkeit für die Familie, bei der Frau in Keuschheit und einem moralisch einwandfreien Lebenswandel.25 Die ehrenhafte Darstellung von Lucinda und Juan im Amante agradecido zeigt, dass mit der Umverteilung von Geld in der frühneuzeitlichen Gesellschaft und der damit verbundenen Verlagerung des Adelsstatus auch Verschiebungen im Ehrenkodex stattfinden. Nun könnte man einwenden, dass Lucinda und Juan durch das Vermögen ihrer Eltern den Adelstitel erworben haben und ihre Ehre damit allein von ihrem Status herrühre. Allerdings gesteht Lope de Vega – und dies wäre für Aristoteles undenkbar gewesen – auch den Protagonisten seiner Bauernkomödien ehrenhaftes Verhalten zu.26 Die horizontale Komponente der Ehre gewinnt also zunehmend an Bedeutung. Ehre ist nicht mehr von einer bestimmten sozialen Position abhängig, sondern bedeutet vielmehr, seinen Platz in der Gesellschaft zu kennen und ihn vorbildlich auszufüllen. 23 | Eine Übersicht über den Ehrbegriff im 16. und 17. Jahrhundert gibt Castro (1916). 24 | Vgl. Correa (1958), 99. 25 | Vgl. ebd., 102-103. 26 | Die Protagonisten der Bauern-comedia Fuenta Ovejuna etwa erweisen sich als ehrenhaft, indem sie die Ehrverletzungen durch den Comendador de Calatrava nicht dulden und für die Wiederherstellung ihrer Ehre sogar zu einem Mord an dem Tyrannen bereit sind. Als ein Abgesandter der katholischen Könige den Schuldigen zu identifizieren sucht, antworten die Dorfbewohner selbst unter der Folter einmütig mit dem berühmten Ausspruch »Fuente Ovejuna lo hizo« und zeigen damit Standhaftigkeit und gegenseitige Loyalität.

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Die Ehre bildet zwar nicht den einzigen Wertbegriff, auf den die frühneuzeitliche comedia zurückgreift, stellt jedoch ihren ausschlaggebenden Handlungsmotor dar. Genauso bildet die Polarisierung von arm und reich in ihrer spezifisch frühneuzeitlichen Ausformung nur eine mögliche soziale Struktur, auf welche die comedia zurückgreift. Ebenso wenig darf vernachlässigt werden, dass die Komödie die gesellschaftliche Realität nicht wiedergibt, sondern sich vielmehr ausgewählter Elemente der realen Lebenswelt bedient, die sie für ihre literarischen und gattungsspezifischen Zwecke modifiziert.27 Dennoch werden die Beispiele der Ehre und des Geldes an dieser Stelle ausreichen, um zu zeigen, dass die Kenntnis der sozialen Strukturen und der kulturellen Symbole, die der dramatischen Handlung zugrunde liegen, eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis des Stückes bilden. Je mehr der Zuschauer die Werte und Strukturen, auf die ein Stück aufbaut, als die in seiner Umwelt gegebenen identifizieren kann, desto besser kann er dem Geschehen auf der Bühne folgen und desto eher wird die Refiguration der Lebenswelt gelingen. Die präfigurierte Zeit der Lebenswelt in ihrer raumpraktischen Ausformung bildet den Schlüssel zum Verständnis der fiktionalen Welt und damit zur Ausbildung eines Imaginären, das der Lebenswelt bereits innewohnt und in diese zurückfließt.

4.1.2

Die Handlungsstruktur der comedia urbana

Die Konfiguration von Zeit und Raum nimmt in der dramatischen Handlung eine spezifisch literarische Form von Zeitlichkeit bzw. Räumlichkeit an, die in der Lebenswelt nicht gegeben ist, jedoch auf die Strukturen lebensweltlicher Erfahrung zurückgreift. Gerade durch ihren Unterschied zur Lebenswelt macht die dramatische Raum-Zeit die (temporalen) Strukturen des lebensweltlichen Raumes bewusst. Indem sie die lebensweltliche Zeit deformiert bzw. kondensiert, bringt sie zentrale Strukturen derselben erst zum Vorschein. Die comedia urbana greift räumliche und zeitliche Strukturen der zeitgenössischen Lebenswelt auf und kombiniert sie den Erfordernissen der Fabel entsprechend. Zu den zentralen Strukturen, welche die comedia aus der lebensweltlichen Erfahrung übernimmt, gehört die räumliche Dichotomie. Man kann sogar sagen, dass die Untergliederung der fiktionalen Welt in Teilräume, die nach Lotman Kulturmodelle »mit keineswegs räumlichem Inhalt«28 projizieren, erst die dramatische Handlung der comedia ermöglicht. Denn diese besteht im Wesentlichen in einem ungewollten Übertritt von einem Teilraum in den anderen, den es wieder rückgängig zu machen gilt. Allerdings gelingt die Wiederherstellung des Ausgangszustandes und damit das Rückgängigmachen des Grenzübertritts, wie die späteren Textbeispiele deutlich machen werden, in der comedia urbana nur bedingt. 27 | Vgl. Díez Borque (1976). 28 | Lotman (1972), 313.

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In der lotmanschen Kultursemiotik ist der Raum des Textes durch eine relativ undurchlässige Grenze in zwei sich nicht überschneidende Abschnitte geteilt, wobei einzelne Individuen durch relativ zeitlose Strukturen an den einen oder anderen Raum gebunden sind (vgl. Kap. 1.3.3). Die Handlung der comedia kommt nun dadurch zustande, dass diese Strukturen verzeitlicht werden, das heißt dass sie gefährdet oder gar einer Veränderung unterzogen werden. Diese Bewegungen hin zur Grenze wurden als Motive bezeichnet, deren Summe das Sujet des Textes bildet. Sie weisen, wie Lotman anhand eines Vergleichs mit dem sprachlichen Zeichen verdeutlicht, stets über den Text hinaus in die Lebenswelt und besitzen dadurch eine vermittelnde Funktion. Ein zentrales Motiv der spanischen comedia ist die Thematik des desengaño und das ihm vorausgehende Ereignis des engaño. Der engaño verweist auf eine illusorische Welt, in welcher nicht mehr jede Person einen klar zugewiesenen Platz besizt, sondern sich durch das Einnehmen einer Rolle in eine andere Position begeben kann, wobei Wirklichkeit und Rolle nicht mehr klar voneinander zu unterscheiden sind. Dadurch wird die Stabilität eines beständigen Raumes der Analogie gefährdet. Um diesen Ordnungsverlust zu kompensieren, ruft das Motiv des engaño stets die Gegenbewegung eines desengaño hervor. Täuschung und Erkennen einer Täuschung bilden wichtige handlungskonstituierende Momente der comedia. So ist der unglückliche Umstand, dass Lucinda ins Haus einer Kupplerin gerät, zugleich das Ergebnis und der Ursprung eines engaño. Denn nur durch Täuschung konnte es geschehen, dass ihr fürsorglicher Onkel Belisas Haus für eine ehrbare Unterkunft hielt, und Lucindas Aufenthalt in diesem Haus täuscht über ihre tatsächliche soziale Stellung hinweg. Diese Täuschung muss aufgeklärt werden, damit es zur Heirat zwischen den Liebenden kommen kann. Doch nicht nur die Familie Juans muss von Lucindas Integrität überzeugt werden, sondern auch Juan selbst. Hier vollzieht sich der desengaño wiederum mithilfe eines engaño, der diesmal gegen Lucinda gerichtet ist. Indem sie auf Guzmanillos Verkleidungslist nicht hereinfällt und ihre Ehre nicht für die ihr dargebotenen Schätze verkauft, beweist sie ihre wahre Identität. Damit scheint die durch Täuschung verloren gegangene Ordnung vordergründig wieder hergestellt. Die Mantel- und Degenkomödie, der sich auch die comedia urbana zuordnen lässt, kommt im Wesentlichen mit einer Makrostruktur aus, die sich als Restitutionssujet bezeichnen lässt.29 Dieser Handlungsbogen der Wiederherstellung beinhaltet ein Ereignis, das in der Regel jedoch nicht zum Metaereignis wird.30 In einer bestehenden Ordnung tritt eine Störung ein, welche die Normen und Werte dieser Ordnung verletzt. Diese Irritation verlangt nach Handlungen, welche die ursprüngliche Ordnung restituieren. Der Verstoß gegen die Norm besteht meist in einer Ehrver29 | Vgl. Mahler (1998). 30 | Zur Differenzierung von Ereignis und Metaereignis vgl. die Ausführungen in Kap. 1.3.3.

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letzung, überwiegend im sexuellen Bereich, und die Wiederherstellung findet gewöhnlich durch eine Heirat, gegebenenfalls durch eine Mehrfachheirat statt.31 Dieses Sujet der Restitution, das eine zyklische Bewegung in der Zeit beschreibt, kann sich in der comedia aufgrund einer zunehmenden Linearisierung der Raum-Zeit nicht mehr uneingeschränkt halten. Die sich später anschließende Textanalyse wird zeigen, dass die Wiederherstellung einer ursprünglichen Ordnung nicht mehr in allen Fällen bzw. nur unter erheblichen Einbußen gelingt. Denn die Restitution verlangt nach einem statischen Raum, der in seiner Unveränderlichkeit zyklische Exemplarität ermöglicht. Wo dramatisches Geschehen jedoch an einen konkreten, historischen Raum gebunden ist, kann es sich dessen unberechenbarer Dynamik nicht mehr entziehen. Auf den ersten Blick entspricht die Sujetstruktur der Mantel- und Degenkomödie derjenigen des griechischen oder sophistischen Romans, den Bachtin als »abenteuerlichen Prüfungsroman«32 bezeichnet. Diese Übereinstimmung, die angesichts der gattungstypologischen Unterschiedlichkeit zwischen comedia und Roman als problematisch erscheinen könnte, ist nicht zufällig. In seinem 1604 erschienenen Roman El peregrino en su patria verleiht Lope dem hellenistischen Abenteuerroman, den sich die spanische Literatur bereits im 16. Jahrhundert anverwandelt hatte, eine eigene Note,33 die auch das Abenteuersujet in der comedia urbana prägt:34 Er situiert die Handlung im Spanien einer meist unmittelbaren Gegenwart und unterwirft den Chronotopos der Abenteuerzeit bzw. des Abenteuerraums damit einer weit reichenden Veränderung. Die »technische, abstrakte Verbindung von Raum und Zeit«,35 die den hellenistischen Abenteuerchronotopos kennzeichnet, weicht einer konkreten Verbindung von historischem Raum und historischer Zeit. Initiierendes Moment des Abenteuerchronotoposk ist die unerwartete Begegnung zwischen einem Jüngling und einem Mädchen von außergewöhnlicher Schönheit im heiratsfähigen Alter, die sich sogleich ineinander verlieben. Bevor sie sich jedoch im Ehebund vereinen können, gilt es, verschiedene Hindernisse zu überwinden. Während diese retardierenden Momente im griechischen Roman häufig abenteuerlicher Art sind – Entführung der Braut, Schiffbruch, Piratenüberfall etc. –, sind die Hinder31 | Vgl. Gómez (2000b), 65-86. 32 | Bachtin (1989), 10. 33 | Vgl. Dünne (in Vorbereitung), 267-268. 34 | Der Vergleich von Theater- und Romansujet bietet sich auch deshalb an, weil Lopes novellistische Tätigkeit in enger Verbindung zu seiner Tätigkeit als Theaterautor stand: Im Zuge der Reise, die er in El peregrino darstellt, finden zahlreiche Theateraufführungen statt, die teilweise auf Lopes Stücken basieren. Es wurde ihm sogar vorgeworfen, er habe den Peregrino, der sich um die Hochzeit des jungen Philipps III. mit Margarete von Österreich 1599 dreht, nur als Vorwand geschrieben, um seine eigenen Stücke abzudrucken. Vgl. ebd., 268. 35 | Bachtin (1989), 26, Hervorhebung i.O.

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nisse, die sich den Helden der comedia in den Weg stellen, eher gesellschaftlich bedingt: fehlendes Einverständnis der Eltern, häufig aufgrund des (vermeintlichen) sozialen Unterschiedes zwischen den Liebenden, Eifersucht, Zweifel an der Ehrbarkeit der Frau, falsche Beschuldigungen etc. Durch Erkennungsmomente oder Verkleidungsspiele, bei denen die betreffenden Personen auf die Probe gestellt werden, können die Hindernisse schließlich überwunden werden und es kommt zur glücklichen Vereinigung des Paares im Ehebund. In der Regel machen die Figuren keine charakterliche Entwicklung durch, es ändert sich lediglich ihr Zivilstatus. Zwei biographische Zeitpunkte, das erste Zusammentreffen der Liebenden und ihre Heirat am Ende, werden nahtlos miteinander verbunden, als ob dazwischen nichts geschehen wäre. Die Kluft, die sich zwischen diesen beiden Zeitpunkten auftut und in der sich die Handlung des Stücks entfaltet, ist aus der biographischen Zeit ausgeblendet, da sie nichts am Leben der Helden ändert: Es findet weder ein Prozess des Kennenlernens noch des individuellen Reifens statt. Allerdings unterscheidet sich die Zeit der comedia von der Abenteuerzeit des griechischen Romans in einem entscheidenden Punkt, der bereits im Hinblick auf den Chronotopos des Unterredungsdialogs beobachtet wurde (vgl. Kap. 3.1.2): Während sich die Abenteuerzeit außerhalb einer historischen Zeit abspielt,36 ermöglicht die Bindung der Handlung an einen konkreten raum-zeitlichen Kontext in der comedia eine historische Lokalisierung des Geschehens. Es ist nicht gleichgültig, wo sich die Handlung abspielt, da die Räume jeweils semantisch besetzt sind. Dass Lucinda im Amante Agradecido nach Sevilla versetzt wird und nicht etwa in eine andere Stadt, dient dem Sujet der Ehrrestitution. Sevilla ist als »Babilonia«, wie Lope selbst die Stadt im obigen Zitat aus El Arenal de Sevilla durch den forastero bezeichnen lässt (AS 1387), der bevorzugte Ort, an dem eine ehrbare Frau in ein zweifelhaftes Milieu geraten kann, aus dem sie sodann wieder befreit werden muss. Und an keinem anderen Ort als in Sevilla, nämlich in der Casa de la Contratación, liegt das Vermögen, das sich Lucindas Vater in der Neuen Welt erwirtschaftet hat, und das schließlich ihren gesellschaftlichen Stand garantiert und so die Heirat mit Juan ermöglicht. Die historische Bedeutung Sevillas als Umschlagplatz der Waren aus der Neuen Welt ist also eng mit der Handlungsstruktur des Stückes verknüpft. Die Verbindung zwischen Raum und Geschehen ist damit, ähnlich wie im Unterredungsdialog, organisch und keineswegs abstrakt. Dennoch entwirft die comedia eine ›Abenteuerzeit‹, die sich nicht in historische, biographische und alltagsbezogene Zeitreihen einordnen lässt. Die einzelnen Elemente dieser Abenteuerzeit sind Motive, die auf die lebensweltliche Zeiterfahrung verweisen, in ihrer fiktionsspezifischen Verknüpfung in der Lebenswelt jedoch nicht vorkommen. Zu diesen Motiven gehören Mikrostrukturen, bei denen es für die Protagonisten darum geht, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, jemand zuvorzukommen, länger als vorgesehen an einem 36 | Vgl. ebd., 15.

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bestimmten Ort zu verweilen, durch kontingente Umstände an einen Ort zu gelangen etc. So versucht etwa Busto Tabera in La Estrella de Sevilla, die Hochzeit seiner Schwester mit ihrem Verlobten Sancho vorzuverlegen, um dem ebenfalls an Estrella interessierten König zuvorzukommen. Doch kurz vor der Vermählung – Estrella legt bereits ihren Brautschmuck an – ermordet der Bräutigam seinen zukünftigen Schwager Busto; die Hochzeit zögert sich ins Ungewisse hinaus, was weitere Verstrickungen der Handlung ermöglicht. Im griechischen Roman lassen sich die Momente der Abenteuerzeit durch Weissagungen, Auspizien, Vorahnungen und dergleichen ermitteln.37 Dies trifft auch auf La Estrella de Sevilla zu. Estrella schmückt sich für ihre Hochzeit und bekundet ihre Vorfreude, als ihr Spiegel zu Boden fällt und zerbricht, was Estrella als unheilvolles Vorzeichen deutet (ES 231). Der Zuschauer weiß das Vorzeichen zu deuten, denn er hat die sich nahezu zeitgleich vollziehende Mordszene bereits gesehen. Die Logik der Abenteuerzeit »besteht in einer zufälligen Kongruenz, das heißt in einer zufälligen Gleichzeitigkeit, und in einer zufälligen Inkongruenz, das heißt in einer zufälligen Ungleichzeitigkeit.«38 Ohne diese zeitlichen Kongruenzen und Inkongruenzen kann auch in der comedia keine Handlung zustande kommen. Sie bilden die Grundlage derjenigen Ereignisse, die auf der mikrostrukturellen Ebene stattfinden, und damit für die Prozesse in der Zeit, aus denen sich die übergeordnete Handlung konstituiert. Neu ist, dass auch diese Motive nicht mehr unabhängig von einem historischen Raum und einer historischen Zeit eingesetzt werden können. Der konkrete historische Raum, den Lope als Schauplatz für die dramatische Handlung wählt, schränkt den Abenteuerchronotopos in seiner abstrakten Räumlichkeit erheblich ein. Ein weiterer zentraler Aspekt, in dem sich der Chronotopos der comedia urbana von dem des Abenteuerromans unterscheidet, ist ihre lineare Struktur, wohingegen die Fabel des Abenteuerchronotoposk in Episoden zerfällt. Die Prüfungen, welche die Liebenden bis zu ihrer Vereinigung zu bestehen haben, könnten in einer Endlosschleife beliebig fortgesetzt werden. Dementsprechend sind sie auch in ihrer chronologischen Abfolge austauschbar. Demgegenüber zeichnet sich die comedia urbana durch eine hochgradig kausale Verkettung aus. Wie die einzelnen Momente der comedia im Raum nicht vertauscht werden können, so sind sie auch zeitlich nicht umkehrbar. So muss etwa das Duell zwischen den beiden Verehrern von Lucinda im Amante agradecido der Versetzung Lucindas nach Sevilla zeitlich vorangehen, da erst dieses Duell ihren Onkel Claridano dazu veranlasst, Lucinda aus der Stadt und somit von ihren Freiern zu entfernen. Genauso muss in La Estrella de Sevilla das Gesuch Don Gonzalos um das Amt des Generals an der frontera de Archidona vor der Szene stattfinden, in der der König Busto Tabera dieses Amt überträgt. Nur so kann deutlich werden, wie wenig nahe liegend diese Absicht des Königs 37 | Vgl. ebd., 20. 38 | Ebd., 16, Hervorhebung i.O.

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aus objektiven Gründen ist und dass sie auf irrationalen Motiven, nämlich der Liebe des Königs zu Estrella, beruhen muss. Die Zeit der spanischen comedia zwischen der Ausgangssituation und deren Restitution ist demnach keine zyklische, sondern eine lineare. Sie ist das Ergebnis einer strikten mise en intrigue und gründet in der logischen Verknüpfung der einzelnen Handlungselemente. Der Chronotopos der comedia lässt sich also wie folgt beschreiben: (1) Das Geschehen der comedia verläuft in der Zeit, das heißt entlang einer linearen Zeitreihe, deren Elemente nicht vertauscht werden können. (2) Die Verbindung zwischen Zeit und Raum ist organisch. Die Elemente des zeitlichen Geschehens sind an bestimmte Räume geknüpft, die wiederum das Geschehen beeinflussen. Dadurch sind sie im Raum nicht austauschbar. In diesen Punkten unterscheidet sich der Chronotopos der comedia nueva nicht nur vom Abenteuersujet, sondern auch grundlegend von demjenigen der comedia vieja, deren Kleingattungen (farsa, entremés, paso) sich durch eine weniger elaborierte Handlung und damit verbunden durch einen stärker episodischen Charakter auszeichnen.39 Es lässt sich also im Übergang von der comedia vieja zur comedia nueva, deren prominentester Vertreter Lope ist, erstens eine Verzeitlichung der dramatischen Handlung beobachten und zweitens, damit zusammenhängend, eine Verzeitlichung des fiktionalen Raumes im Sinne einer Historisierung. Der abstrakte Behälterraum der comedia vieja, in dem Figuren beliebig aufund abtreten können, wird zu einem relativen, dynamischen Raum, der durch menschliches Handeln geformt wird.40 Mit der Handlungsfreiheit des Menschen, die es ihm erlaubt, Raum zu gestalten, ist ein weiterer Punkt angesprochen, der die comedia nueva gegenüber dem herkömmlichen Abenteuersujet auszeichnet. Die jeweilige Modellierung von Raum und Zeit spiegelt ein je bestimmtes Menschenbild wider. Der Held des griechischen Romans ist passiv, ist »jemand, mit dem etwas geschieht«.41 Er selbst besitzt keinerlei Möglichkeit zur Initiative. Daher sind seine Handlungen überwiegend erzwungene Bewegungen im Raum (Flucht, Verfolgung, Suche). Im Gegensatz hierzu besitzen die Figuren der comedia innerhalb eines begrenzten Raumes Handlungsfreiheit. Diese Grenzen sind durch gesellschaftliche Normen und Codes abgesteckt. Dennoch können die Protagonisten, um zu ihrem vorgegebenen Ziel zu gelangen, selbst handelnd die Initiative ergreifen. Damit sind sie nicht dem Prinzip der Vorhersehung unterworfen, das die Tragödie kennzeichnet. Die tragische Weltsicht der Antike, die im Jansenismus ihre Fortsetzung findet, ist nicht mit dem Gedankengut der Katholischen Reform vereinbar.42 Denn diese vertritt einen Ansatz, nach dem 39 | Zum Übergang von der comedia vieja zur comedia nueva vgl. Müller (1990). 40 | Zur Unterscheidung von absolutem Behälterraumund relativem Raum vgl. grundlegend Löw (2001). 41 | Bachtin (1989), 31, Hervorhebung i.O. 42 | Vgl. Müller (1990), 142.

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sich der Mensch die Gnade Gottes durch eigenes Bemühen verdienen kann. Darüber hinaus trägt der Einfluss von Kasuistik und Probabilismus zu einer Ausweitung der menschlichen Willensfreiheit in noch nie gekanntem Maße bei. In diesen Strömungen hat sich das menschliche Handeln nicht mehr nach einer allgemeingültigen und objektiven Wahrheit zu richten, sondern nach den Gewissensgründen des Individuums.43 Die Handlungen der Figuren in der comedia nueva sind demnach zunehmend selbst bestimmt. Ihre Charakterisierung findet nicht mehr vornehmlich über (Ver-)Kleidung statt, die sie als einen bestimmten charakterlichen Typus kenntlich macht (der Geizige, der lüsterne Greis etc.), sondern erfolgt durch ihre Handlungen. Im Großen und Ganzen ist der Charakter einer Figur allerdings auch in der comedia nueva von vorne herein festgelegt, da er eng an den gesellschaftlichen Stand geknüpft ist. Aufgrund von Angaben zum sozialen Status kann der Zuschauer typisierte Figuren wie die dama, den galán oder den gracioso meist leicht identifizieren. Die Schönheit der dama zeugt in der Regel von deren Charakterstärke. Die Handlung besteht also eher darin, dass sich eine Figur in ihrem Charakter bewährt und weniger, dass sie diesen entwickelt. Damit sich der Charakter einer Figur entfalten kann, muss sie eine Reihe von symbolischen Bewegungen vollführen, die sie schließlich zu einem Helden oder einem Verlierer machen.44 Diese Tendenz der comedia zur Typisierung hindert Lope jedoch nicht generell daran, ambivalente Figuren zu schaffen, die weder als Gewinner, noch als Verlierer von der Bühne gehen. Ein Beispiel, auf das noch zurückzukommen sein wird, findet sich etwa in El Arenal de Sevilla, wo die listige Lucinda ihren Charakter durch ein Rollenspiel zwar gefährlich aufs Spiel setzt, ihr Ziel aber trotzdem nicht erreicht, am Ende allerdings durch Heirat, wenn auch mit einem Mann zweiter Wahl, belohnt wird. Die Verzeitlichung des fiktionalen Raumes und die damit verbundene Handlungsfreiheit des Menschen verändern das zyklische, auf einem exemplarischen Weltbild beruhende Textbildungsprinzip der Restitution. Zwar kann es sich in einem Großteil der spanischen comedias noch halten, doch stellt sich auch hier die bereits erwähnte Pluralisierung des Ähnlichkeitsprinzips ein: In La Estrella de Sevilla etwa steht die Restitutionsökonomie, wie auch in anderen Königsdramen von Lope und Calderón, nicht mehr nur für ein allegorisches Modell, sondern für die Notwendigkeit der Wiederherstellung einer gegenwärtig gefährdeten politischen Ordnung und damit für die Legitimation eines weltlichen Ordnungsmodells. Die zyklische, reproduzierende Bewegung der dramatischen Handlung kann so nicht mehr auf die Statik eines allegorischen Raumes verweisen, sondern es bilden sich »semantische Verschattungen«45 , die in Konkurrenz zu einer eindeutigen theologischen Seinsordnung treten. 43 | Vgl. ebd., 151-152. 44 | Vgl. Fletcher (2007), 42. 45 | Iser (1991), 81.

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Die diagnostizierte Verzeitlichung des fiktionalen Raumes in der comedia steht im Kontext einer »Arbeit am Sujet«, wie sie Andreas Mahler für das englische Drama nachgewiesen hat.46 Der mit dem Beginn der Neuzeit entstehende Konflikt zwischen »offiziellem Weltbild und inoffizieller Welterfahrung«47 wird, so Mahler, vornehmlich im Theater ausgetragen. Es entstehen Sujets, welche die Ereignishaftigkeit frühneuzeitlicher Wirklichkeit, nämlich den Verlust einer göttlich verbürgten vertikalen Ordnung, erkennen, durchspielen und zu bewältigen suchen. Sujettexte wirken nach Mahler in Schwellenepochen in zwei Richtungen: entweder assimilierend in Hinblick auf die Kohärenz des alten Weltbildes oder akkomodierend in Richtung einer neuen, noch ungewissen Kohärenz. In Zwischenzeiten wie der Frühen Neuzeit ist Assimilation bereits nicht mehr, Akkomodation noch nicht möglich. Daher weisen frühneuzeitliche Texte, die ein Sujet modellieren, eine gewisse Sinnoffenheit auf, das heißt sie sind weder als vollständige Verkörperung der dominanten Werte einer Gesellschaft, noch als deren Subversion zu verstehen.48 Dieser Befund ist in Spanien vor allem für Texte aus dem Umfeld von Sevilla von Bedeutung, wo die Spannung zwischen Fremdem und Eigenem, zwischen Altem und Neuem in besonderem Maße spürbar ist. Die Handelsaktivitäten mit der Neuen Welt unterwerfen den städtischen Raum derart umfassenden Veränderungen, dass sein Abbildcharakter hinsichtlich eines statischen Stufenkosmosk kaum noch plausibel erscheint. Dadurch gerät die Analogie als Erklärungsparadigma in eine kritische Situation. Das Weltmodell, wie es in Spanien trotz der Erkenntnisse Kopernikusՙ offiziell weiter hoch gehalten wird, basiert auf der topologischen Opposition von oben und unten. Dieser entspricht die semantische Dichotomie von gut und böse bzw. die topographische Opposition von Himmel und Hölle. Doch ähnlich wie die vertikale gesellschaftliche Achse durch eine erhöhte soziale Mobilität, die den konservativen Vorstellungen von einer gottgewollten Gesellschaftsordnung zuwider läuft, an Stabilität verliert, so gerät durch die Errungenschaften der neuen Wissenschaft auch die Vorstellung eines hierarchisch strukturierten Kosmosՙ ins Wanken. Die comedia urbana kennt mindestens zwei Paradigmen, mit denen sie auf die Diskrepanz zwischen offiziellem Weltbild und eigentlicher Wirklichkeitserfahrung reagiert: Das erste besteht darin, die gefährdete offizielle (politische oder theologische) Ordnung zu beschwören, indem sie kontrafaktisch wiederhergestellt wird. Das zweite spiegelt die Ereignishaftigkeit der Wirklichkeit wider, indem es, zumindest ansatzweise, ein Metaereignis konstituiert, das eine Transformation der Ordnung ankündigt.

46 | Mahler (1998). 47 | Ebd., 2-3. 48 | Vgl. Mahler (1998), 4.

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Lope de Vegas comedia ist überwiegend durch die erste Konstellation gekennzeichnet. Sie führt die Gefährdung einer bestehenden Ordnung vor, um diese dann wieder zu restaurieren und damit zu bestätigen. Dabei erlaubt ihr gerade eine »inversión de valores«49, die offiziellen Ideale und Werte der sie umgebenden Gesellschaft herauszustellen.50 Allerdings gelingt auch in dieser Konstellation keine vollständige Assimilation mehr, da die Präzisierung der lebensweltlichen Realität den sich vollziehenden Wertewandel offenbar macht. Darüber hinaus lassen sich auch in der comedia unterschiedlich starke Ansätze von Sujetbildungen finden, welche die gestörte Ordnung nicht mehr vollständig wiederherstellen können und sich in Richtung einer Akkomodation bewegen. Die verschiedenen Sujetkonstellationen des frühneuzeitlichen Theaters sollen nun exemplarisch anhand von drei comedias urbanas untersucht werden. Dabei wird das Augenmerk darauf liegen, inwieweit die Dynamik des lebensweltlichen Raumes fiktional gebannt wird bzw. inwieweit sie einer Semantisierung der Zeit Vorschub leistet. Während El amante agradecido ein typisches Restitutionsschema aufweist, in dem sämtliche Grenzüberschreitungen rückgängig gemacht werden können, gelingt es in La Estrella de Sevilla nicht, die ursprüngliche Ordnung vollständig wiederherzustellen. Endzeitpunkt und Anfangszeitpunkt sind nicht aufeinander abbildbar, was auf eine Semantisierung der Zeit hindeutet. Im Falle von El Arenal de Sevilla findet an der strukturellen Oberfläche zwar eine Restitution im traditionellen Sinne statt, die jedoch durch das Stück selbst als Illusion entlarvt wird. Die Situierung der Handlung im konkreten historischen Raum der bewegten Hafenzone in Sevilla macht ein Aufgehen der Handlung in einer statischen Weltordnung unmöglich.

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4.2.1

Raum-Zeit der Restitution: El amante agradecido

Die übergeordnete Handlungsstruktur von El amante agradecido folgt der Bewegung eines typischen Sujets der Assimilation. Die ursprüngliche Ordnung wird nicht nur ohne Verluste restituiert, sondern durch die Heirat von Juan und Lucinda sogar gewissermaßen erhöht. Die zentrale Grundopposition des Stückes besteht im Gegensatz von honra und deshonra. Eng daran geknüpft ist die Opposition von arm und reich bzw. von adelig und nicht-adelig. Diese Werteskala entspricht einer vertikalen 49 | Varey (1987). 50 | Gracián bringt die Funktion einer Verkehrung der Werte folgendermaßen auf den Punkt: »Las cosas del mundo todas se han de mirar al revés para verlas al derecho.« Gracián, Baltasar (1985 [1651]): El Criticón. Hg. von Antonio Prieto, Barcelona: Planeta, 98.

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Ordnungsvorstellung, bei welcher der soziale Status der Figuren im Vordergrund steht. Im ersten Akt werden die Figuren auf dieser Skala nach unten versetzt. Bereits zu Beginn des Stückes steht die Ehre Lucindas in Gefahr, da mehrere Verehrer ihr wegen ihres Erbes nachstellen (AA 14, 30). Daher ist es nicht verwunderlich, dass ihr Onkel Claridano, der anstelle des verstorbenen Vaters das Fürsorgerecht für Lucinda übernommen hat, darauf bedacht ist, sie möglichst schnell zu verheiraten. Juan und Guzmanillo ziehen beim ersten Treffen mit Lucinda, bei dem sie Juan um ein Stelldichein bittet, sogar in Betracht, dass sie eine Prostituierte ist. Noch mehr wird ihre honra in Mitleidenschaft gezogen, als ihretwegen ein Mann ums Leben kommt (AA 30). Ihr legitimer Verlobter Clenardo hat einen seiner Rivalen Doristeo in einem Duell tödlich verletzt. An dieser Stelle gerät auch Juans Ehre in Gefahr: Im Sterben ordnet Doristeo an, man solle die Schuld nicht auf Clenardo, sondern auf den Fremden schieben (AA 26). Außerdem setzt sich Juan, indem der sich als mittellos ausgibt, Lucinda gegenüber selbst sozial herab. Diese Aussage, die nur vorübergehend wahr ist, wird dadurch verstärkt, dass Juan in seiner Unterkunft bestohlen wird und damit für die restliche Zeit seines Aufenthaltes in Zaragoza jeglichen sozialen Rückhalt verliert. Als Lucinda im Haus einer Kupplerin unterkommt, ist die Grenze zur deshonra rein äußerlich gesehen endgültig überschritten. Um Lucinda heiraten zu können, muss Juan selbst in die sevillanische Unterwelt hinabsteigen und sie aus dem zwielichtigen Milieu befreien. Dies stellt aus der Sicht von Juans Familie, die um die wahre Identität Lucindas nicht weiß, einen Abstieg auf der Skala arm – reich bzw. honra – deshonra dar. Als Lucinda Juan anfleht, sie aus dem Haus der Kupplerin herauszuholen, bittet er sie um Geduld, da seine Verwandtschaft darum bemüht sei, ihn an eine sozial höher gestellte Frau zu verheiraten. Er selbst ist jedoch lediglich an Lucindas Ehre, nicht aber an ihrem Geld interessiert. Damit wird die Opposition von honra und Reichtum auf der einen Seite und von deshonra und Armut auf der anderen Seite, um einen weiteren Gegensatz gebrochen, nämlich um denjenigen zwischen eigennütziger, auf Geld bedachter und uneigennütziger Liebe.51 Die Grenzüberschreitung, die Don Juan durch seine Liebe zu Lucinda in Kauf nimmt, entpuppt sich schließlich als nur vermeintliche und wird durch die Bekanntgabe des Betrags, der für Lucindas Mitgift in der Casa de la Contratación hinterlegt ist, rückgängig gemacht. Der Gegensatz von honra und deshonra bzw. arm und reich schlägt sich in einer konkreten räumlichen Opposition nieder. Das gesellschaftliche ›Unten‹ konkretisiert sich im Haus der Kupplerin Belisa, während sich im Haus von Juans Onkel Don Pedro das ›Oben‹ verorten lässt. Beim jeweiligen Übertritt vom einen in den anderen Raum handelt es sich nur um scheinbare Grenzüberschreitungen. Lucinda betritt den Raum des 51 | Zum Ideal der uneigennützigen Liebe in der comedia vgl. Díez Borque (1976), 72-74.

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Unehrbaren unfreiwillig: Ihr Onkel Claridano, der die Grenze nicht als solche wahrnimmt, glaubt, seine Nichte in einer »casa honrada« untergebracht zu haben (AA 40-42). Doch die Beschreibung des Lebens in diesem Haus durch die Hausherrin Belisa entlarvt diesen Eindruck sogleich als falsch. B ELISA : […] Porque esta tierra es amable, y del poder escapáis de aqueste viejo, y quedáis con gente noble y tratable. Aquí no os apretarán a que no habléis si queréis; no hay aquí entréis ni no entréis, si es pariente o si es galán. Es casa, aunque muy honrada, libre y no con ceremonias. Vendrán aquí las Antonias, gente de gusto y que agrada; vendrá Belisia que es bella, canta bien y habla mejor. Hácese poca labor, porque no se come della. No hay noche que esté acostada esta muchacha a las tres, yo, con mis cincuenta y tres, también ando desvelada. Músicas, cuantas queráis; barco y río, cada tarde; alameda… Haréis alarde de cuanto bueno queráis. Indianos como picones, bobos, vienen a la red. Aquí, junto a la Merced, tienen dos cien mil doblones. Hay perla como este puño, diamante como una nuez, bálsamo, en un almirez no cabe a cualquier rasguño; ámbar que cuatro ballenas no arrojan más en un mes; tejos que de tres en tres nos tiran a estas almenas. De los caballeros mozos no diga nada, aunque el miedo me obliga a lo que no puedo,

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R AUM -Z EITEN por sus fieros y destrozos. Pandorgas y pataratas, matracas y cantaletas, porque son los más poetas y andan las musas baratas. Anteanoche una pandorga Julia a una vecina dio, que presumo que se oyó desde esta ciudad a Astorga, de donde soy natural, que yo no he nacido aquí, que a fe que vine ¡ay de mí!, como rosa en el rosal. Aún catorce no tenía, mal pecado que pasó conmigo en que me vi yo, ¿quién no me amaba y me servía? Era gordilla, fresquilla, aguda, amable, hechicera. En fin, pasé mi carrera con mi pretal y mi silla. Y quédame esta muchacha de un traidor que se me fue a las Indias. (AA 42-44)

Belisa scheint einen anderen Ehrbegriff als Lucinda zu haben, wenn sie ihr Haus als »casa honrada« bezeichnet. Dass es sich um keinen Raum handeln kann, der Lucindas sozialem Stand angemessen ist, wird einerseits durch die Beschreibung der Personen, die in diesem Haus ein- und ausgehen, deutlich, und andererseits durch die Bezüge, die Belisa zwischen ihrem Haus und weiteren Räumen herstellt. Der Teilraum der deshonra, dessen Zentrum Belisas Haus bildet, ist gekennzeichnet durch seinen heterotopen Charakter, seine Ortlosigkeit. Heterotopien zeichnen sich nach Foucault durch ein System der Öffnung und Abschließung voraus, das sie isoliert und zugleich zugänglich macht.52 Wenn auch von vier Wänden umschlossen, so steht Belisas Haus doch jedermann offen (»no hay aquí entréis ni no entréis,/si es pariente o si es galán.«). Die Personen, die das Haus betreten (»gente de gusto y que agrada«, »Indianos«, »picones«, 52 | Heterotopien sind realisierte Utopien, »des sortes de lieux, qui sont hors de tous les lieux, bien que pourtant ils soient effectivement localisables.« Im Unterschied zu nicht realisierten Utopien repräsentieren sie zugleich reale Orte und verkehren sie in ihr Gegenteil. Sie besitzen die Fähigkeit, mehrere reale Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort zusammenzubringen. Damit wird das Theater zur Heterotopie schlechthin. Foucault (1994), 755-756 sowie zum Theater 758.

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»bobos«, »poetas«), gehören als Kleinkünstler und Ausländer zweifelhaften sozialen Gruppen an.53 Allein die Tatsache, dass sie ihren Tätigkeiten bei Dunkelheit nachgehen, macht sie verdächtig (»No hay noche que esté acostada/esta muchacha a las tres,/yo, con mis cincuenta y tres,/ también ando desvelada.«).54 Die Kleinkünstler sind Teil einer Unterwelt, deren Identität sich von der dominanten, oligarchischen Kultur der Stadt abhebt.55 Die Unterwelt zeichnete sich, wie einleitend erwähnt, aus damaliger Sicht, dadurch aus, dass ihre Mitglieder keinen festen Platz in der Gesellschaft besaßen. Sie war eine Parallelgesellschaft, die alle Gesellschaftsschichten durchdrang und am städtischen Leben teilnahm.56 Dies zeigt sich im vorliegenden Stück darin, dass auch Don Juan und seine Freunde das Haus Belisas aufsuchen, um sich mit den dort lebenden Damen zu vergnügen. Das Verhältnis zwischen dem gesellschaftlichen Oben und Unten ist ein dynamisches, die beiden Teilräume durchdringen sich gegenseitig, solange die Beziehungen zwischen ihren Vertretern keinen offiziellen Status, etwa durch Heirat, erlangen. Die soziale Ortlosigkeit der Unterwelt ist in der Biographie Belisas verkörpert (»pasé mi carrera con mi pretal y mi silla«), deren Tochter Julia das Produkt ihres unsteten Lebenswandels ist. Eine ähnliche Unstetigkeit charakterisiert die Orte, die mit Belisas Haus in Verbindung stehen (»barco y río«, »alameda«). Mit »barco y río« ist auf den Hafen Sevillas verwiesen, einen Ort des Handelns, Tauschens, Feilschens, an dem zwei Welten aufeinander treffen, und der jeglicher Übersichtlichkeit entbehrt. Das Schiff ist als geschlossener Raum ohne festen Ort der Inbegriff des Heterotopen.57 Lucinda reagiert entsetzt auf die Schilderung, die Belisa von ihrem neuen Umfeld gibt: ¡Ah, tío engañado y loco! Pero todo importa poco donde hay pensamiento honesto. Para que pueda decir una mujer que es honrada así se ha de ver cercada, pero no se ha de rendir. (AA 44) 53 | Vgl. dazu Perry (1980), 19-27. 54 | La noche la hizo Dios así, negra y fea, porque flaquezas no vea. (AA 61) 55 | Vgl. Perry (1980), 12. 56 | Vgl. ebd., 32. 57 | Das Schiff als beweglicher, relativer Raum im absoluten Bezugsraum des Ozeans ist eine immer wieder kehrende philosophische Figur, die sich bei Aristoteles, Descartes, Newton, Husserl und Foucault findet. Vgl. Günzel (2006), 24-25 sowie Foucault (1994), 762.

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Es entsteht folglich eine Diskrepanz zwischen dem Teilraum, der mit dem Attribut der deshonra versehen ist, und der Präsenz einer Figur, die diesem Raum nicht angehört. Diese Diskrepanz wird im Verhalten Lucindas deutlich, das im Widerspruch zu dem sie umgebenden Raum steht. Als Juans Freunde, die bei Belisa ein- und ausgehen und die von der Schönheit der Fremden aus Zaragoza begeistert sind, Lucinda auf eine Kutschfahrt an den Fluss mitnehmen wollen, reagiert sie mit Widerwillen. Selbst Belisa fällt die Zurückhaltung Lucindas im Umgang mit Männern gegenüber der Leichtfertigkeit ihrer Tochter Julia positiv auf (AA 59-61). Von den Vertretern des oligarchischen Teilraumes, das heißt von Juans Familie, wird die Diskrepanz zwischen Lucindas Verhalten und ihrem Aufenthaltsort nicht wahrgenommen. Lucinda wird mit dem Haus, in dem sie sich befindet, automatisch identifiziert. Die Grenze zwischen dem Raum der deshonra und dem der honra scheint nach oben hin undurchlässig zu sein und verhindert, wie Juan Guzmanillo gegenüber bezeugt, die Vereinigung der Liebenden: Has de saber que sin que el mundo me rinda de aquesto intento, Lucinda es y ha de ser mi mujer. Solo una dificultad al honor se le ha ofrecido, de la casa en que ha vivido, viviendo en esta ciudad. (AA 75)

Um endgültige Gewissheit bezüglich Lucindas Integrität zu bekommen, plant Juan mit der Hilfe Guzmanillos einen vermeintlichen Übertritt in den Teilraum der deshonra. Als reicher indiano verkleidet und begleitet von Juan in der Gestalt eines Dieners, bietet Guzmán Lucinda allerlei Geschenke, wohlgemerkt aus der Neuen Welt, an, jedoch kann nichts davon Lucinda zum Sprechen bringen. Als Guzmán vor ihr auf die Knie fällt, sie ihn aber barsch zurückweist, erkennt Juan ihre Integrität und gibt sich zu erkennen. Diese Szene ist nicht nur aufgrund der Verkleidung der Figuren karnevalesk, sondern auch durch den Rollentausch von Herr und Diener. Sie bildet den ersten Schritt zur Wiederherstellung von Lucindas Ehre. Ausgerechnet in dem Moment, in dem das gesellschaftliche Oben und Unten durch den Rollenwechsel spielerisch vertauscht wird, werden die vertikalen Verhältnisse zugleich wieder zurecht gerückt und Lucinda, zumindest aus der Perspektive Juans, an ihren eigentlichen Platz zurück versetzt. Indem Juan Lucinda aus dem Haus der Kupplerin heraus in das Haus seines Onkels holt, bringt er sie in dem ihrer Person entsprechenden Raum, das heißt in ihre alte gesellschaftliche Position zurück. Dies bringt ihre Ehre jedoch erneut in Gefahr, da der gesellschaftliche Code verbietet, dass ein unverheiratetes Paar unter einem Dach wohnt. Don

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Pedro kann Lucinda, da sie in Sevilla fremd ist, nicht als seiner Gesellschaftsschicht zugehörig erkennen und verweist sie des Hauses: P EDRO L UC

P EDRO

L UC

¿Esto se sufre en una casa honrada? ¿Esto ha de hacer Don Juan? Con menos furia, que soy mejor que vos, y si os respeto, es por la sangre que tenéis de un hombre que es mi marido, y lo será. ¿Marido? Mujer, ¿qué dices? ¿Mi sobrino tiene mujer de calidad como la tuya? ¿Trájole, acaso desta negra Italia, tan negra para todos sus parientes? Vete von Dios; […] […] enviadme acompañada de algún hombre, que soy mujer de bien y forastera. (AA 95-96)

Mit diesem retardierenden Moment wird noch einmal verhindert, dass Lucinda den ihr zustehenden Platz im Teilraum der honra einnimmt. Zudem wird mit dem Gegensatz von einheimisch und fremd eine weitere, horizontale Opposition eingeführt, die sich durch das gesamte Stück zieht: der Gegensatz von ›innen‹ und ›außen‹. Wer von außen in einen Innenraum eindringt, gilt dort zunächst als zweifelhaft, da er sich aufgrund seines fehlenden sozialen Kontextes nicht eindeutig lokalisieren lässt. Mit dieser Dichotomie greift Lope die Konfrontation zwischen einheimisch und fremd auf, die im Sevilla seiner Zeit besondere Brisanz gewinnt und die in den musealen Sammlungen der Stadt zugleich ausgestellt und bewältigt wird. Lucinda ist in Sevilla eine Fremde, der jegliche soziale Anbindung an die städtische Oligarchie fehlt. Ihr Status einer »doncella« (AA 101) muss erst bewiesen werden, da er aufgrund ihres fehlenden familiären Rufes nicht ersichtlich ist. In Zaragoza hingegen ist das Verhältnis von innen und außen umgekehrt: Dort wird Lucinda dafür gerügt, dass sie mit einem Fremden, nämlich mit Juan, spricht. Claridano schickt seine Nichte Lucinda unter anderem deshalb von Zaragoza nach Sevilla, weil er ihre Ehre im Innenraum bedroht sieht. Als Außenraum wählt er Sevilla, damit Lucinda auf die Ankunft der Flotte warten kann, mit der auch ihr Vater nach Sevilla kommen soll. Der realhistorische Umstand eines zu neuer geographischer Mobilität führenden Handels mit der Neuen Welt motiviert die Fokusverschiebungen innerhalb des Stücks, was die Opposition ›innen‹ – ›außen‹ betrifft. Die Ankunft der Flotte weist im Amante agradecido auf ein glückliches Ende hin. Kurz nachdem Lucinda Juan ihre Ehrbarkeit bewiesen hat, trifft nun auch ihr Vater ein. Dass Don Pedro Lucinda kurz darauf des Hauses verweist, stellt eine Verzögerung dar. Der Aufenthalt im Haus ihres Geliebten wird nicht nur von Don Pedro, sondern auch von ihrem On-

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kel Claridano als illegitime Grenzüberschreitung empfunden. Während Don Pedro die Ehre seiner Familie beschmutzt sieht, begreift Claridano den Ortswechsel als Abstieg aus einer »casa honrada« in das Haus eines Mörders, dessen Vermögen dazu in keinem Verhältnis zu Lucindas Mitgift stehe. Die Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung kann erst zustande kommen, als die beiden ›Erziehungsberechtigten‹ vom sozialen Status der jeweils anderen Partie überzeugt worden sind. Indessen hat Lucinda, die sich nun weder in dem einen noch in dem anderen Teilraum befindet, in der Kirche (»a la Magdalena«, AA 96) Unterschlupf gefunden. Die Kirche stellt in der comedia einen Fluchtraum dar, der von der Spaltung in ›oben‹ – ›unten‹ bzw. ›innen‹ – ›außen‹ unberührt bleibt: Hier können sich Liebende unterschiedlicher sozialer Schichten treffen, und hierhin flüchtet sich Lucinda, als sie von Don Pedro des Hauses verwiesen wird. Die Rückkehr in Belisas Haus hätte einen erneuten Abstieg auf der gesellschaftlichen Skala bedeutet. Die Kirche hingegen bietet einen neutralen Raum, in dem Lucinda bleiben kann, bis ihre Ehre wieder hergestellt ist. Somit bildet sie einen Ort des Aufschubs, einen Ort, an dem die Zeit vorübergehend angehalten wird. Mit der Aufhebung der Raumsemantiken geht eine Aufhebung der Zeit einher. Die Kirche erscheint somit als a-historischer Raum, in dem die organische Verbindung eines historischen Raumes mit einer historischen Zeit nicht greift. Vielmehr verkörpert sie den abstrakt-allegorischen Raum, der frei ist von den Gesetzen der linearen Zeit. Daher eignet sich der Aufenthalt Lucindas in diesem Raum vorzüglich, um eine Wende der Handlung vorzubereiten, die durch die Heirat von Lucinda und Juan sämtliche Bewegungen über eine Grenze hinweg bannen wird. Die Ausgangsthese dieser Analyse war, dass El amante agradecido ein typisches Restitutionssujet beschreibt, das sich in groben Zügen folgendermaßen umreißen lässt: Zugehörigkeit einer Figur zu einem ehrbaren Umfeld, Verlust der Ehre durch Abstieg in ein zweifelhaftes Milieu, Wiederherstellung der Ehre durch Rettung aus diesem Milieu bzw. durch Rückversetzung in den Raum der Ehre – dies ist die Geschichte Lucindas. Dabei ist Lucinda selbst nicht in der Lage, sich aus dem Raum der deshonra zu befreien. Es braucht einen Helden, der in die Unterwelt herabsteigt, um die Gefangene zu befreien. Dieses Motiv ist nicht nur aus der griechischen Mythologie bekannt, sondern erinnert noch mehr an die Rettungstat Christi. Auch wenn die Thematik des Amante agradecido eine rein weltliche ist, schreibt sich das Stück durch seine Handlungsstruktur in den orthodox-christlichen Kontext ein. Damit gelingt es Lope, die verzeitlichte fiktionale Welt einem heilsgeschichtlichen Narrativ zu unterwerfen. Die historische Linearität der konfigurierten Lebenswelt wird fiktional zu zyklischer Exemplarität geformt. Aus dieser fiktionalen Bewältigung zeitlicher Dynamik ergibt sich eine Spannung zwischen lebensweltlicher Kontingenz und konfigurierter Ordnung, die unter anderem im Gesellschaftsbild, welches das Stück modelliert, zum Tragen kommt. El amante agradecido arbeitet sich an einem

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traditionellen Ehrenkodex ab, trägt aber dennoch einer neuen, sich herausbildenden Gesellschaftsordnung Rechnung. Die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft in arm und reich und die damit verbundenen Verschiebungen im Adelskonzept bilden den sozialen Kontext, dem die Figuren des Stücks entstammen. Bei Juan und Lucinda handelt es sich um die Nachkommen eines neuen Adels, der in der Neuen Welt zu Reichtum und Ansehen gelangt ist. Dieser gesellschaftliche Umstand wird jedoch nicht als ereignishaft modelliert, sondern vielmehr als Hintergrund genutzt, vor dem sich die Handlung entwickeln kann. Damit spiegelt El amante agradecido die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wider. Das mittelalterliche Konzept der honra wird mit einem neuen Gesellschaftsmodell kombiniert. Gleichzeitig wird die spanische Monarchie und damit ein moderner Absolutismus hoch gehalten, wovon die ausführliche Beschreibung des Grabmals Philipps II. zeugt. Allerdings werden die Diskrepanzen, die sich aus alter und neuer Gesellschaftsordnung ergeben, nicht offen reflektiert. Lope de Vega greift lediglich Fragestellungen seiner Zeit auf, um für den Zuschauer Identifikationsmöglichkeiten zu schaffen und so ein möglichst breites Publikum anzusprechen. Diese Fragestellungen bleiben jedoch, so geht es zumindest aus dem untersuchten Stück hervor, den Erfordernissen eines dramatischen Musters, nämlich der Restitution, unterstellt. Gesellschaftliche Spannungen werden vorgeführt, um sodann kontrafaktisch gelöst zu werden. Die ursprüngliche Ordnung wird nach einer vorübergehenden »inversión de valores« fiktional wieder hergestellt. So fungiert das Thema der Ehre lediglich als handlungsstiftendes Moment. Eine Transformation der gesellschaftlichen, auf dem Konzept der honra beruhenden Ordnung findet nicht statt. Das Metaereignis wird fiktional gebannt. Dadurch decken sich die beiden Zeiträume vor und nach der Handlung semantisch; die Zeit erfährt keine Semantisierung. Dies bedeutet, dass auch keine Umschichtung der Raumsemantiken stattfindet. Am Ende des Stücks befindet sich jede Figur wieder in demjenigen Teilraum, dem sie ursprünglich angehörte. Allerdings kann die Fiktionalität einer solchen statischen Raum-Zeit angesichts deren Verortung in einem konkreten historischen Raum kaum verborgen bleiben. Die vorübergehende Destabilisierung räumlicher Semantiken – Lucinda brachte durch ihr ehrbares Verhalten die im Haus Belisas geltende Unordnung ins Wanken, genauso wie sie aus der Sicht Don Pedros die Ordnung in dessen Haus zu gefährden schien – sind eng an den historischen Raum des frühneuzeitlichen Sevilla gebunden. Was Lucinda zum größten Verhängnis wird, ist die Unterwelt der Hafenstadt, in die sie versehentlich gerät. Auch wenn das Haus Belisas ein fiktionales Konstrukt ist, so geht es doch zurück auf eine spezifisch historische Situation, dass nämlich die demographischen Veränderungen aufgrund des Handels mit der Neuen Welt allerlei neue Unterhaltungsformen hervorbrachte, darunter die Tätigkeiten, die im Umfeld der Kupplerin praktiziert werden.

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Die Diskrepanz zwischen der Dyamik des lebensweltlichem Chronotopos und der konfigurierten statischen Ordnung lässt sich auch an der ambivalenten Rolle des Reichtums ablesen: Geld und Waren aus der Neuen Welt werden nicht nur, wie aus der oben zitierten Spekulationsszene hervorgeht, zu eigennütziger Bereicherung eingesetzt, sondern verführen zudem zur Prostitution und gefährden so letztendlich die Ehre Lucindas. Zugleich wird dieser Ehrverlust ausgerechnet mithilfe von Geld aus der Neuen Welt, nämlich mittels einer in der Casa de la Contratación hinterlegten Erbschaft wiederhergestellt. Diese Ambivalenz des Reichtums, welcher der ökonomischen Situation des lebensweltlichen Spanien um 1600 eigen ist, kann als Verweis darauf gelesen werden, dass auch in einem Stück mit restitutivem Sujet die Schwierigkeiten einer Wiederherstellung von Ordnung nicht vollständig unterdrückt werden können. Trotz solcher mikrostruktureller Spannungen gelingt es im Amante agradecido auf der makrostrukturellen Ebene, die verkehrten Semantiken wieder ins Gleichgewicht zu bringen, sobald der Fremdkörper aus dem Innenraum eliminiert ist. Dies ist in der comedia Lope de Vegas in den meisten Fällen, aber nicht immer so. Das vorübergehende Eindringen einer Figur in einen Innenraum kann auch in der Makrostruktur Spuren hinterlassen, die eine vollständige Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung verhindern. Nicht immer kann der verzeitlichte lebensweltliche Raum zu einem allegorischen Raum der Exemplarität konfiguriert werden, ohne dass dies Konsequenzen für die Handlung hätte. Dies wird nun am Beispiel von La Estrella de Sevilla zu zeigen sein.

4.2.2

Ansätze einer linearen Zeit in La Estrella de Sevilla

Die Autorschaft von La Estrella de Sevilla ist umstritten, was vor allem auf eine metrische Analyse des Werkes zurückgeht.58 Tatsächlich hebt sich jedoch auch die Handlungsstruktur des Stückes vom Kanon Lope de Vegas ab. Im Vergleich zu seinen anderen Dramen ist die strikte Erfüllung des Ehrenkodex’ durch die Figuren mit so hohen Einbußen verbunden, dass eine Wiederherstellung der Ordnung nur bedingt möglich ist. Eberhard Müller-Bochat bewertet das Stück folgendermaßen: Der Stern von Sevilla gehört zu den düstersten, aber auch zu den konsequentesten und ausgewogensten Trauerspielen der großen spanischen Theaterepoche. Das Problem der Ehre ist mit einer solchen Strenge gestellt und wird so unbarmherzig auf die Spitze getrieben, daß sich die Frage stellt, ob es sich hier noch um

58 | Vgl. zu dieser Diskussion Cantalapiedra Erostarbe (1993). Im Einklang mit der verwendeten Edition von Alfredo Rodríguez López-Vázquez gehe ich von Andrés de Claramonte als Autor aus, wobei dieser der Schule Lope de Vegas zugerechnet wird. Vgl. dazu auch die Einleitung des Herausgebers (ES 49-70).

4. R AUM -Z EITEN DER COMEDIA URBANA eine Apotheose der absoluten Unterwerfung unter den Ehrenkodex handelt oder ob nicht vielmehr dessen moralischer Wert in Frage gestellt werden soll.59

Ausgehend von dieser generellen These einer Infragestellung des traditionellen Ehrenkodex‹ wird zu untersuchen sein, ob in La Estrella de Sevilla nicht auch das herkömmliche Restitutionssujet in Frage gestellt wird, das heißt ob hier der Verlust der alten, exemplarischen Raum-Zeit nicht bewusst reflektiert wird. Das Stück konfiguriert einen zeitgenössischen Streit zwischen der Stadt Sevilla und Kastilien und es ist nicht auszuschließen, dass dieser in der Lebenswelt schwelende Konflikt auch auf der Konfigurationsebene nicht zur Auflösung kommt: Nach Dámaris Otero-Torres speist sich La Estrella de Sevilla aus einer Polemik, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hinsichtlich der Recht sprechenden Autorität zwischen Sevilla und Kastilien herrschte.60 Damit verkörpere das Stück einen nationalistischen Diskurs, dem es an philosophisch-intellektuellem Unterbau fehle und der deshalb über die Literatur geführt werde. Geht man hiervon aus, dann postfiguriert die comedia im Fall von La Estrella de Sevilla nicht nur ein mittelalterlich-allegorisches Modell, sondern modelliert auch die Notwendigkeit der Wiederherstellung einer nichttheologisch-politischen Gesellschaftsordnung. Damit wird die comedia zum Ort, an dem sich ein politisches Imaginäres entfaltet.61 Dies geschieht mithilfe der Verlagerung des Konfliktes in das Sevilla des 14. Jahrhunderts, in dem die Handlung des Stückes lokalisiert ist. Die reale Stadt wird hier also weniger durch einen allegorischen Raum überblendet, als vielmehr durch einen vergangenen historischen Raum, unter dessen Deckmantel ein Konflikt konfiguriert wird, der in der aktuellen Lebenswelt höchste Brisanz besitzt. Der König, der seinen Regierungssitz nach Sevilla verlegt hat, verliebt sich in Estrella Tabera, die ihren Namen aufgrund ihrer außerordentlichen Schönheit trägt. Da Estrella bereits Don Sancho Ortiz de las Roelas, dem Freund ihres Bruders Busto Tabera zur Ehe versprochen ist, versucht der König, die Gunst des Ratsherren Busto zu gewinnen, der anstelle des verstorbenen Vaters die Verantwortung für Estrella trägt. Doch Busto durchschaut die Bestechungsstrategie des Königs nicht nur, sondern ertappt ihn zudem, als er eines Nachts mit Hilfe der Dienerin Natilde in die Schlafkammer Estrellas eindringt. Um seine gefährdete Ehre zu wahren, sieht der König keine andere Möglichkeit, als Busto aus der Welt zu schaffen. Diese Aufgabe überträgt er ausgerechnet Sancho, dem zukünftigen Schwager und Freund des gekränkten Familienoberhauptes. Hin und her gerissen zwischen seiner Freundschaft zu Busto und seiner Loyalität zum König, führt Sancho den Mord schließlich aus. Er wird in den Kerker geworfen, während das städtische Cabildo von ihm zu erfahren sucht, wer ihn zu der grausamen Tat angestiftet hat. Doch Sancho verharrt in eiser59 | Müller-Bochat (1999), o. S. 60 | Vgl. Otero-Torres (1997). 61 | Vgl. ebd., 45.

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nem Schweigen, selbst dann, als der König selbst ihn zu einer Aussage drängt. Erst als das Cabildo das Todesurteil über Sancho gesprochen hat, gesteht der König seine Verantwortung für die Tat ein und erreicht damit die Freisprechung Sanchos. Zwar ist dadurch die Ehre Sanchos wieder hergestellt, aber der Tod des Bruders und Freundes liegt wie ein Schatten über der Liebe zwischen Sancho und Estrella, die sich letztlich nicht vermählen. Das Motiv, das in der Mantel- und Degenkomödie für die Restitution eines Ehrverlustes steht, bleibt aus. Wie El amante agradecido arbeitet auch dieses Stück mit der Opposition von honra und deshonra, die im Begriffspaar ›schuldig‹ – ›unschuldig‹ konkretisiert ist. Sancho übertritt durch den Mord an Busto die Grenze von der Unschuld zur Schuld. Dem Teilraum der Schuld entspricht das Gefängnis in Triana, in dem Sancho auf sein Todesurteil wartet. Der Stadtteil Triana, welcher den Castillo de San Jorge, das Gefängnis der Inquisition beherbergte, befindet sich von Sevilla aus gesehen auf der anderen Seite des Guadalquivir.62 Damit ist der Teilraum der Schuld vom Teilraum der Unschuld realgeographisch abgetrennt. Wo im Amante agradecido die räumlichen Träger der semantischen Oppositionen (das Haus der Kupplerin Belisa und das Haus Don Pedros) keine erkennbare Entsprechung im realen städtischen Raum hatten, sind die semantischen Teilräume in La Estrella de Sevilla an konkrete Örtlichkeiten geknüpft. Diese historische Konkretisierung des fiktionalen Raumes weist bereits darauf hin, dass eine Überblendung des Raumes der Lebenswelt durch einen allegorischen Raum und damit eine zyklische Bewegung der Handlung problematisch werden könnte. Sancho stellt im Teilraum der Schuld, dem Gefängnis, einen Fremdkörper dar, da er lediglich seine Pflicht dem Monarchen gegenüber erfüllt hat. Seine in Mitleidenschaft gezogene Unschuld verlangt nach einer Restitution, auch wenn sich Sancho nach dem Tod sehnt: Mal, amigo, lo habéis hecho, porque el verdadero honor consiste ya en no tenerlo. ¿A mí me buscáis allá, y ha mil siglos que estoy muerto? (ES 262)

62 | Über diejenigen, die sich in Sevilla strafbar machten, sagte eine Redewendung: »le harán passar la puente« (Mejía: Coloquios del convite, 344), was die Gefängnisstrafe metaphorisch mit einem unfreiwilligen Übertritt des Guadalquivir und somit einem Ausschluss aus dem städtischen Innenraum verbindet. Zwar wird das Gefängnis in La Estrella de Sevilla nicht eindeutig mit dem Castillo de San Jorge identifiziert, doch spricht hierfür der Sachverhalt, dass der Bürgermeister von Triana, in dessen Begleitung Estrella in der Zelle Sanchos erscheint, dem Gefängnis vorsteht.

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Sancho glaubt sich bereits tot. Das »allá« verweist auf den Raum der Unschuld und des Lebens, dem Sancho seiner eigenen Aussage nach nicht mehr angehört. Demgegenüber steht das Hier und Jetzt seiner Gefängniszelle als Vorzimmer des Todes. Dennoch besteht Sancho auf seine Ehre, die er gerade durch ihren Verlust bestätigt sieht. Bei der Überprüfung der Schuld Sanchos handelt es sich zunächst um einen rein weltlichen Prozess, der jedoch auf eine religiöse Ebene ausgeweitet wird. So werfen die beiden alcaldes mayores von Sevilla, Farfán de Ribera und Don Pedro de Guzmán, dem Angeklagten vor: FARFÁN

P EDRO

Al Cabildo de Sevilla habéis ofendido y puesto a su rigor vuestra vida y en su furor vuestro cuello. (Vase) Matasteis a un Regidor sin culpa, al Cielo ofendiendo. (ES 254)

Die alcaldes legen den Mord an einem unschuldigen Ratsherrn als Beleidigung des Himmels aus. Dadurch wird der historische Raum, die gesellschaftlichen Strukturen Sevillas, allegorisch überblendet. Sancho greift die Verbindung der weltlichen mit der religiösen Dimension seiner Tat sofort auf, indem er spielt, er befinde sich in der Hölle: Consiento que me castiguen los hombres y que me confunda el Cielo Y ya, Clarindo, comienza, ¿no oyes un confuso estruendo? Braman los aires, armados de relámpagos y truenos. Uno baja sobre mí como culebra, esparciendo círculos de fuego aprisa. (ES 255)

Sancho setzt das Gefängnis, den Raum der Schuld, mit dem Ort der Verdammnis gleich. Im Folgenden treibt er mit seinem Diener Clarindo, der sich auf das Spiel einlässt (»Quiero seguirle el humor«) das Höllenspiel jedoch so weit, dass der Sarkasmus, mit dem Sancho seine Situation bewertet, offensichtlich wird. Die Analogisierung des weltlichen Gerichtsprozesses mit dem göttlichen Strafgericht bzw. des konkreten Gefängnisraumes mit dem allegorischen Raum der Hölle wird durch dieses Spiel im Spiel ins Ironische verkehrt und dadurch die exemplarische Raum-Zeit in Frage gestellt. Sancho befindet sich in einem Dilemma: Schweigt er, so hält er das Wort, das er dem König gegeben hat, die Schuld bleibt jedoch an ihm haften. Verrät er den König, so beweist er zwar dadurch seine Unschuld am Mord Bustos, macht sich jedoch wegen Illoyalität erneut schuldig:

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R AUM -Z EITEN Si lo hago, no haré, señor, lo que debo. Decidle a su Alteza, amigo, que cumplo lo que prometo; y si él es Don Sancho el Bravo, yo ese mismo nombre tengo. […] Yo maté a Busto Tabera, y aunque aquí librarme puedo, no quiero, por entender que alguna palabra ofendo. Rey soy en cumplir la mía […] Esto a su Alteza decid, y decidle que es mi intento que conozca que en Sevilla también ser reyes sabemos. (ES 252-253)

Sancho verfolgt mit seinem eisernen Schweigen eine Taktik: Er möchte den König von der moralischen Stärke der sevillanischen Bevölkerung überzeugen. Der Ausspruch »en Sevilla ser reyes sabemos« kann als implizite Stellungnahme innerhalb des zeitgenössischen Autonomiekonflikts um die Rechtsprechung Sevillas gelesen werden: Was die kastilische Krone für sich beansprucht, nämlich die rechtsprechende Gewalt in den Städten, dazu ist die Stadt Sevilla selbst in der Lage, was die Figuren in La Estrella de Sevilla durch ihr vorbildhaftes moralisches Verhalten beweisen. Wo die alcaldes den Konflikt also auf eine religiöse Ebene heben wollen, verkehrt Sancho diese Analogisierung nicht nur ins Ironische, sondern holt sie auf eine politische Ebene zurück.63 Allegorische und historische Raum-Zeit treten in einen Wettkampf, wobei die historische gegenüber der allegorischen an Vorsprung gewinnt: Nicht der allegorische Raum bildet an dieser Stelle das Superstrat, sondern die politische Situation des realhistorischen Raumes tritt vor die theologische Seinsordnung. Die Botschaft einer moralischen Überlegenheit der sevillanischen Bürgerschaft wird über eine Dramatik transportiert, welche die reale 63 | Sancho und Clarindo spielen, in Anlehnung an die antike Heldenschau in Dantes Göttlicher Komödie, dass sie in der Hölle auf Homer, Virgil, Horaz, Lukan und Ovid treffen. Diese sitzen in Dantes Hölle im Limbus, dem Bereich der unschuldig schuldig Gewordenen, dem sich auch Sancho zuordnen ließe. Wahrscheinlich spielt Claramonte hier auf eine Verteufelung der Antike durch das Christentum an, wobei die Ironisierung dieser Verteufelung die antiken Dichter würdigt und so einmal mehr die Aufwertung des irdischen Lebens gegenüber dem jenseitigen bewirkt, auf das die alcaldes sich berufen. Vgl. Dante Alighieri (41993 [1472]): Die Göttliche Komödie. Italienisch und Deutsch, übers. von Hermann Gmelin, Stuttgart: Klett-Cotta, 53.

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räumliche Dichotomie ›Sevilla‹ – ›Kastilien‹ in den künstlerischen Raum mit seinen semantischen Oppositionen von honra und deshonra übersetzt. Wie im Amante agradecido kann sich auch hier das Individuum, das ungerechterweise in das Feld der deshonra geraten ist, nicht daraus befreien, ohne dadurch erneut in Unehre zu fallen. Sancho ist auf eine Befreiung von außen angewiesen. Und auch in La Estrella de Sevilla findet sich eine Christusfigur, die selbst in das Reich des Todes hinabsteigt, um den Schuldigen vor der Verdammnis zu retten: Estrella selbst. Sie hat den König darum gebeten, ihr Recht zu verschaffen, indem er den Schuldigen in ihre Hände gibt. Der König willigt ein in der Annahme, dass Estrella den Tod Sanchos fordern wird (»con su misma mano ha de matalle«, ES 246). Gleichzeitig beschließt er jedoch, sich für eine Befreiung Sanchos einzusetzen (ES 242-246). Während Sancho und Clarindo noch in ihr Höllenspiel versunken sind, erscheint Estrella verhüllt in der Zelle, in Begleitung des Bürgermeisters von Triana, der ihr den Gefangenen überlässt. Als Estrella Sancho und Clarindo auffordert, mit ihr zu kommen, fürchtet Clarindo, dass es sich nur um einen vorübergehenden Austritt aus dem Raum des Todes handelt, an dessen Ende die Hinrichtung steht: ¡Por Dios que andamos muy buenos! Desde el infierno a Sevilla, y de Sevilla al infierno. (ES 266)

Doch Estrella führt Sancho hinaus aufs freie Feld, um ihn dort in die Freiheit zu entlassen. Dieser zögert und will wissen, wer seine Wohltäterin sei. Als sich diese ihm schließlich enthüllt, beschließt er dennoch zu sterben, um den Tod seines Freundes zu rächen. Estrella versucht, ihn davon abzuhalten; als er nicht nachgibt, kündigt auch sie an, sich das Leben zu nehmen (ES 266-271). Die Parallelisierung der Befreiung Sanchos durch Estrella mit der Erlösungstat Christi ist unverkennbar. Die menschliche Liebe, die sich in der Geste Estrellas zeigt, wird sprachlich mit der Liebe Gottes, die den Tod überwindet, in Verbindung gebracht: S ANCH

E STR

[…] En libertad, de esta suerte me entrego a la muerte fiera, porque si preso estuviera, ¿qué hacía en pedir la muerte? Mi amor es más firme y fuerte, y así la vida te doy. (ES 268)

Die semantische Besetzung der Teilräume von Unschuld und Schuld orientiert sich in La Estrella de Sevilla an der orthodox-christlichen Vorstellung von Himmel und Hölle, wobei die Hölle, anders als etwa im auto sacramental, lediglich als Spiel im Spiel inszeniert ist und dadurch ihren

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Schrecken verliert. Indem Estrella im übertragenen Sinne selbst in die Hölle hinabsteigt, den Mörder ihres Bruders befreit und ihm vergibt, postfiguriert sie das christliche Heilsschema, das jedoch durch seine vorherige Ironisierung durch das Spiel Sanchos und Clarindos bereits in Mitleidenschaft gezogen worden ist. Würde man von dieser Ironisierung absehen und wäre das Stück an dieser Stelle zu Ende, so könnte man La Estrella de Sevilla als mit dem orthodoxen Weltbild konformes Stück betrachten. Nun vermag jedoch die Erlösungstat Estrellas allein die ursprüngliche Ordnung nicht wieder herzustellen. Denn dies kann erst geschehen, wenn der Schuldige identifiziert ist und damit jeglicher engaño aus der Welt geschafft ist. Sancho weigert sich, sich von Estrella retten zu lassen, da für ihn der Mord an seinem Freund gesühnt werden muss. Indem der König sich als Verantwortlicher für die Tat zu erkennen gibt, wendet er die Schuld von Sancho ab und stellt dadurch dessen Ehre wieder her: R EY

S ANCH

Sevilla matadme a mí, que fui causa de esta muerte. Yo mandé matarle y aquesto basta para su descargo. Sólo ese descargo aguardaba mi honor […] (ES 285)

Allerdings bleibt der Mord dadurch ungerächt: Der König geht straflos aus, das Todesurteil und damit die Sühne der Schuld laufen ins Leere. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass der Mord an Busto seine Spuren hinterlässt. Die übliche Heirat am Ende, die in der comedia für die Überführung sämtlicher Unordnung in geordnete Bahnen steht, bleibt aus. R EY S ANCH E STER

S ANCH

E STR

S ANCH

Ya ¿qué falta? La conformidad. Pues esa jamás podremos hallarla viviendo juntos. Lo mismo digo yo, y por esta causa de la palabra te absuelvo. Yo te absuelvo la palabra, que ver siempre al homicida de mi hermano en mesa y cama me ha de dar pena. Y a mí estar siempre con la hermana del que maté injustamente queriéndole como al alma. (ES 287-288)

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Auch die Vermittlungsversuche des Königs können Estrella und Sancho nicht von ihrem Entschluss abbringen, getrennte Wege zu gehen. Die Restitutionsbemühungen des Königs haben daher nur teilweise Erfolg. Der Monarch erscheint – und dies ist übrigens auch in den Königsdramen von Calderón häufig der Fall – in seiner Position als Garant der Ordnung eingeschränkt. Es kann also vorläufig festgehalten werden, dass La Estrella de Sevilla ansatzweise ein Metaereignis modelliert. Das zentrale Ereignis des Stückes, der Mord an Busto, führt zu einem Ordnungsverlust, der nicht vollständig kompensiert werden kann. Das Sujet von La Estrella de Sevilla enthält Ansätze eines Transformationsprozesses. Damit kündigt sich in der comedia ein lineares Zeitverständnis an: Das Theater folgt nicht mehr der zyklischen Reproduktion einer Ordnung, sondern rechnet die Transformation bestehender Ordnungen mit ein. Dadurch trägt es dazu bei, »die lange schon geahnte Diskrepanz zwischen mittelalterlichem Weltbild und frühneuzeitlicher Welterfahrung«64 bewusst zu machen. Diese Diskrepanz äußert sich nicht nur im Umgang mit der Opposition von Schuld und Unschuld, sondern in einer weiteren, genuin räumlichen Dichotomie: derjenigen von Innen und Außen. Indem der König seinen Regierungssitz nach Sevilla verlagert, dringt er in den Innenraum einer städtischen Oligarchie ein, die durch eine weitgehende politische Unabhängigkeit gekennzeichnet ist. Dem städtischen Cabildo, im Stück vertreten durch die alcaldes mayores Don Pedro de Guzmán und Farfán de Ribera, kommt die Kompetenz der Rechtsprechung zu. So sehr sich der König auch bemüht, Sancho zu befreien, so kann er sich doch nicht über die lokale Justiz hinwegsetzen und seinen Vasallen begnadigen. Seine Macht ist durch ein System städtischer Rechtsprechung begrenzt. Die lokalen Besonderheiten des mittelalterlichen Sevillas, die in La Estrella de Sevilla aufgegriffen werden, sind eingebettet in eine semi-feudale politische Ordnung, welche die Willkür des Monarchen zähmt und die Autonomie des lokalen Adels verteidigt.65 Diese Autonomie ist durch die Präsenz des Königs in Sevilla gefährdet. Die Stadt im mittelalterlichen Spanien stellte eine relativ autonome politische Einheit dar, die von bestimmten Privilegien profitierte: Freistellung von herrschaftlichen Tributen, eigene Verwaltung und Rechtsprechung sowie die selbständige Organisation der lokalen Miliz. Diese relative Unabhängigkeit scheint die Basis der Beziehungen zwischen den Angehörigen des niederen Adels, vertreten durch Sancho, Busto und Estrella, zu sein.66 Der städtische Innenraum, in dem sie sich bewegen, ist gekennzeichnet durch gegenseitige Freundschaft und Solidarität. Demgegenüber steht der kastilische Außenraum, vertreten durch den König, der sich durch Korruption ausweist: Der König

64 | Mahler (1998), 23. 65 | Vgl. Otero-Torres (1997), 46. 66 | Vgl. ebd., 47.

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glaubt, sich das Objekt seiner Begierde kaufen zu können, indem er Estrellas Bruder hohe Ämter anbietet. Angesichts des zeitgenössischen politischen Konflikts zwischen Sevilla und Kastilien besitzen die Werte, welche Außen- und Innenraum in La Estrella de Sevilla kennzeichnen, in der Lebenswelt des Zuschauers Aktualität und ermöglichen ihm eine Identifikation mit dem Geschehen, das er idealerweise auf die eigene Gegenwart überträgt. Das Verlegen der Handlung in eine andere Epoche kann als Taktik betrachtet werden, mit der die comedia einer herrschenden Strategie begegnet:67 Die Projektion einer Handlung aus der Gegenwart in einen anderen zeitlichen Kontext macht den Bezug zur aktuellen Wirklichkeit undurchsichtig und eignet sich daher als Taktik, mit deren Hilfe eine mögliche Zensur umgangen werden kann. Die zeitliche Verschiebung ermöglicht eine kritische Analyse der Gegenwart.68 Hier ist das Imaginäre als Brücke zwischen dem realen Raum der Lebenswelt und dem fiktionalen Raum der dramatischen Handlung unerlässlich. Nur der Zuschauer, der den fiktiven Konflikt im Sevilla des 14. Jahrhunderts mit der sich in seinem realen Umfeld abspielenden Polemik in Verbindung zu bringen weiß, kann die durch das Stück vermittelte Aussage über die Welt vollständig erfassen.69 Das radikale Imaginäre als die Fähigkeit, ein Bild hervorzurufen, erhält hier einen konkreten politischen Ort. Otero-Torres sieht in überzeitlichen Werten wie Freundschaft und Loyalität das Bindeglied zwischen der Vergangenheit der Handlung und der Gegenwart der Lebenswelt.70 Dies mag teilweise zutreffen; in diesem Fall würde ein moralischer Raum an die Stelle der überzeitlich-analogischen Seinsordnung treten. Doch kann dieser moralische Raum kaum als zeitlos betrachtet werden: Der Autor von La Estrella de Sevilla schafft keinen Raum der différence, in dem Vergangenheit und Gegenwart unter Ausblendung von altérité beliebig aufeinander bezogen werden könnten, sondern einen verzeitlichten Raum, der die Werte der Gegenwart modelliert und lediglich auf einer imaginären Zeitachse zurück versetzt wurde. Das Sevilla des 14. Jahrhunderts, wie es im Stück konfiguriert wird, lässt sich zwar auf das gegenwärtige Sevilla übertragen, doch besteht das Bindeglied hier in einem politischen Konflikt und nicht in einem überzeitlichen Gesetz. Die Beharrlichkeit Bustos, der sich angesichts der ihm erwiesenen Ehre hinter einer trotzigen Bescheidenheit verschanzt, lässt den König zu kühneren Taten schreiten. Indem er sich mit Natildes Hilfe Zugang zu Estrellas Schlafkammer verschafft, dringt er in die Privatsphäre seiner Vasallen und damit noch tiefer in den Innenraum der sevillanischen Bürgerschaft ein. Das Handeln des Königs wird in dem Moment als gesetzwid67 | Zu Strategie und Taktik in der comedia vgl. Nitsch (2000), 109. 68 | Vgl. Bauer-Funke (2007), 50. 69 | Zu den unterschiedlichen Zuschauergruppen im Barock und deren unterschiedlichem Auffassungsvermögen vgl. grundlegend Neumeister (1978). 70 | Vgl. Otero-Torres (1997), 46-48.

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rige Grenzüberschreitung entlarvt, als Busto sich ihm in den Weg stellt. Ein weiterer illegitimer Eingriff in den lokalen Innenraum stellt die Freilassung Natildes durch den König dar. Dieser Übertritt wird sanktioniert: Busto erhängt die Dienerin vor dem Königspalast mitsamt dem Freibrief in der Hand. Durch seine unrechtmäßigen Grenzüberschreitungen setzt der König seine Würde gefährlich aufs Spiel. Als Busto den Eindringling erwischt, droht er ihn zu töten, bis dieser sich als König zu erkennen gibt. Busto gibt vor, ihm nicht zu glauben und wirft dem vermeintlich Unbekannten vor, den König zu lästern. ¿El Rey había de estar sus vasallos ofendiendo? […] Pasa, cualquiera que seas, y otra vez al Rey no infames, ni el Rey, villano, te llames cuando hazes hazañas feas. Mira que el Rey, mi Señor, del Africa horror y espanto, es cristianísimo y santo, y ofendes tanto valor. (ES 190-191)

Durch seine schändliche Tat verunglimpflicht sich der König selbst. Doch wird die Unwürde seines Handelns durch das Idealbild, das Busto dem Eindringling entgegenhält, noch verstärkt. Indem Busto vortäuscht, den König zu verteidigen, kann er schonungslose Kritik üben. In einer späteren Unterredung, in welcher der König sich der Loyalität Sanchos vergewissern will, lässt er sich von diesem sagen, wie er ihn sehe. Sancho beschreibt den Monarchen als Ebenbild Gottes, um kurz darauf den Mordauftrag entgegen zu nehmen. Die ironische Verkehrung des Gottesgnadentums findet an dieser Stelle ihren Höhepunkt. Der König erscheint hier nicht als von Gott eingesetzter Garant der Ordnung, sondern als Unruhestifter. Durch sein Dekret zerstört er die Einheit, welche Sancho, Busto und Estrella verbindet und wird so zum Feind des Volkes. Indem Sancho Busto aus Loyalität dem König gegenüber ermordet, tritt er aus dem freundschaftlichen Zirkel der Bürger Sevillas heraus. Estrella versucht nun mit ihrer selbstlosen Geste nicht nur, Sancho in seine ursprüngliche Position der Unschuld zurückzubringen, sondern auch, ihn in den freundschaftlichen Innenraum zu re-integrieren. Doch auch dies gelingt nicht vollständig, denn der Freundschaftsbruch verhindert die abschließende Vereinigung der Liebenden. La Estrella de Sevilla kann damit auch insofern als experimentelles Stück betrachtet werden, als das Gottesgnadentum und die mit ihm verbundenen unbegrenzten Rechte des Königs in Frage gestellt werden. Das neben dem Mord zweite dominante Ereignis, das Eindringen des Königs in das Haus Bustos, lanciert eine Restitutionshandlung, die nur teilwei-

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se ihr Ziel erreicht. Der König kann die Konsequenzen seines unmoralischen Verhaltens nicht annullieren. Mit der gescheiterten Verführung Estrellas hat in Sevilla ein Kampf um das moralische Überleben begonnen, in dem die Bürger der Stadt schließlich den Sieg davon tragen.71 So muss der König selbst die moralische Überlegenheit Sevillas und damit seine Niederlage eingestehen: R EY P EDRO

Toda esta gente me espanta. Tiene esta gente Sevilla. (ES 289)

Der König geht in seiner Ehre geschädigt aus dem moralischen Kampf hervor. Dies hat jedoch keine Auswirkungen auf das politische System. Die Bürger Sevillas verpflichten sich am Ende des Stücks erneut zur Treue dem König gegenüber. Trotz des ungewöhnlichen Endes, bei dem die Liebenden getrennte Wege gehen, kann sich La Estrella de Sevilla der zentripetalen Kraft, welche die Abweichungen von den herrschenden Normen in geordnete Bahnen zurückführt, nicht entziehen.72 Dennoch zeichnet sich in der ironischen Infragestellung des christlichen Heilsschemas einerseits und dem des Gottesgnadentums andererseits ein sowohl religiöser als auch politischer Ordnungsverlust ab, der die zyklische Zeit destabilisiert. Das Sujet von La Estrella de Sevilla stellt sich überwiegend als »Sujet problematisierter Ereignisbannung«73 dar, denn die mühsamen Versuche, das textinterne Ereignis zu tilgen, bringen eine kaum mehr zu verbergende Divergenz zum offiziell geltenden Weltmodell zum Ausdruck. Dass derartige experimentelle Sujets im Theater der Schule Lope de Vegas nur vereinzelt auftreten, zeigt, dass dieses insgesamt noch dem traditionellen Restitutionssujet verhaftet ist. Damit erweist sich das frühneuzeitliche Theater in Spanien als Ort, an dem ein überkommenes Weltbild kontrafaktisch aufrechterhalten wird, indem Ordnungsstörungen zwar vorgeführt, jedoch sodann in einer zyklischen Bewegung in das herkömmliche Weltmodell rückgeführt werden. Allerdings kann diese Kontrafaktizität kaum noch verborgen bleiben. Der konkrete historische Raum, der den Rahmen der Handlungen bildet, fungiert als Raum der Anschauung, der in seinem direkten Bezug zur Lebenswelt jegliche Allegorisierung unglaubwürdig macht. Je mehr sich der fiktionale Raum mit dem sich dynamisierenden Raum der Lebenswelt deckt, desto unwahrscheinlicher wird die zyklische Bewegung der Restitution. Anders gesagt: Je mehr sich der konfigurierte Raum dem realen Raum annähert, desto mehr gerät die abstrakt-allegorische Raum-Zeit selbst in das Feld des Fiktiven. Dies wird besonders im nächsten unter die Lupe zu nehmenden Stück, El Arenal de Sevilla, deutlich, in dem die fiktive Handlung sich an einem ganz alltäglichen Schauplatz, nämlich der Hafenzone 71 | Vgl. ebd., 55. 72 | Vgl. ebd., 63. 73 | Mahler (1998), 28.

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in Sevilla, abspielt. Auch hier kann zwar auf makrostruktureller Ebene eine Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung stattfinden, doch wird diese auf komische Art und Weise als instabil und künstlich entlarvt.

4.2.3

Zeitlicher Wandel in El Arenal de Sevilla

In El Arenal de Sevilla gewinnt der historische Schauplatz eine Tragweite von ungewöhnlichem Ausmaß. Nicht nur, dass Lope de Vega den gesamten ersten Akt dafür verwendet, dem Zuschauer das bunte Treiben in der Hafenzone in all seinen Facetten vor Augen zu führen. Denn zum einen bestimmt das Arenal als Ort des Wandels und der Unbeständigkeit schlechthin die dramatische Handlung entscheidend mit. Zum anderen spiegelt es in seiner unberechenbaren Wechselhaftigkeit den außertextuellen Verlust einer göttlich verbürgten Ordnung wider und wird schließlich, auf einer meta-textuellen Ebene, zu einer Metapher für das Theater selbst, die wiederum auf die Scheinhaftigkeit der Realität rückverweist. Bereits der Titel, der nichts anderes als den Schauplatz benennt, ruft beim damaligen sevillanischen Theaterbesucher eine Reihe von Konnotationen hervor. Das Arenal, bekannt als »la gran playa del Guadalquivir«74 , befand sich zwischen dem linken Flussufer und der Stadtmauer. Zusammen mit Triana war es das am meisten vom Handel mit Amerika beeinflusste Viertel. Es war einer der lebendigsten und malerischsten Stadtteile, in dem sich die unterschiedlichsten Menschen zusammenfanden, vom Händler über den Edelmann mit seinem Diener bis hin zum Galeerensträfling, müßigen Soldaten, Zigeuner und Neugierigen, der das Verladen der Waren beobachtete. Diese Figuren kommen in ihrer ganzen Bandbreite in Lopes Arenal de Sevilla vor. Schon allein die Figurenkonstellation macht das Stück einzigartig: In der Regel findet die Unterwelt in der comedia nur eingeschränkt Eingang und fern von der Welt des Adels, mit der sie selten in Kontakt tritt.75 Im Arenal de Sevilla hingegen vermischen sich die verschiedenen Gesellschaftsschichten. Die adelige Lucinda unterscheidet sich in ihrem listigen Verhalten kaum von den Dieben, die einen nichts ahnenden Fremden betrügen und ihr Rollenspiel als Zigeunerin bringt sie in eine hybride Position zwischen wahrer und falscher Identität. Damit ist das Arenal, ähnlich wie das Haus Belisas im Amante agradecido, eine Heterotopie, ein Ort des Übergangs und der Ortlosigkeit. Wo tagsüber ökonomische Geschäfte die Hafenzone bestimmen, sind es nachts Vergnügungen und kriminelle Machenschaften: Bei Nacht war das Arenal ein wenig sicherer Ort, was jedoch weder Verliebte daran hinderte, sich dort zu treffen, noch Wohlhabende, in einer lauen Sommernacht dort Entspannung zu suchen.76 Insgesamt war der Hafen von flüchtigen Begegnungen beherrscht. Das Arenal war eine Arbeitszone, deren Rhythmus 74 | Tinoco Rubiales (1993), 49. 75 | Vgl. Gómez (2000b), 192. 76 | Vgl. Alfonso Mola (1993), 75.

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vom An- und Ablegen der Handelsschiffe festgelegt wurde und in der zahlreiche Arbeiter beschäftigt waren. Allein die Kontrolle der eintreffenden und zu verschiffenden Waren erforderte an die 250 Beamte, ohne die Angestellten der Casa de la Contratación mitzuzählen.77 Auch war das Arenal Ausgangs- und Endstation für Schiffsreisende. Daher war das Leben im Arenal wesentlich von Zeitplänen bestimmt, wie sie der Schiffsverkehr vorgab. Es ist darum nicht verwunderlich, dass Lope in seinem Stück mit konkreten Zeitangaben operiert: Ein stattlicher Herr verabredet sich mit einer Mulattin auf zwei Uhr (AS 1385), ein Diener ist verärgert, weil eine Dienerin ihn eine Stunde lang an der Puerta Real hat warten lassen (AS 1384), und ein Korporal drängt zwei maurische Galeerensträflinge angesichts des sich nähernden Ablegezeitpunktes zur Eile (AS 1388). Somit ist hier nicht nur der Schauplatz historisch konkretisiert, sondern auch die fiktionale Zeit. Diese raum-zeitliche Konkretion des Settings spielt für das Sujet von El Arenal de Sevilla eine bedeutende Rolle: Die einer kontingenten Alltagswelt so nahe Raum-Zeit ist nur für den Preis der Unwahrscheinlichkeit in die Raum-Zeit der Restitution überführbar. Das Moment, das die Handlung in Gang setzt, beruht, ganz im Einklang mit der Unbeständigkeit des Schauplatzes, auf einer flüchtigen Begegnung. Im Arenal fällt der Sevillanerin Doña Laura eines Tages Don Lope auf, der sich gerade auf seine Abfahrt nach Lima vorbereitet. Er ist auf der Flucht vor einem Rivalen, an den er seine Geliebte Lucinda verloren, und den er in einem Duell verletzt hat. Die Flotte, die ihn in Sicherheit bringen soll, wird in zwei bis drei Tagen ablegen. Doch vor der Abfahrt wird Lope überfallen und ausgeraubt, wodurch sich seine Abreise auf unbestimmte Zeit hinauszögert. Laura, die sich selbst die Schuld für den Vorfall zuschreibt, da Lope auf sie gewartet habe, nimmt den Verletzten in ihr Haus auf, um ihn gesund zu pflegen. Die Annäherungen zwischen Lope und Laura werden vom Kapitän Fajardo mit Missgunst beobachtet. Denn auch dieser hat ein Auge auf Laura geworfen und beschließt, ihretwegen den Sommer in Sevilla zu verbringen anstatt sich den Galeeren anzuschließen. Inzwischen ist Lopes frühere Geliebte Lucinda als Zigeunerin verkleidet nach Sevilla gekommen, um ihren Geliebten zu suchen. Obwohl die Kapitäne ihr wenig Hoffnung machen, dass sie Lope im Gewimmel des Arenal finden wird, schickt sie sich an, Fajardos Hand zu lesen, um möglicherweise etwas über den Gesuchten zu erfahren. Fajardo ist überrascht, als Lucinda Lopes Namen erwähnt. Ein Dieb nutzt die Gelegenheit, um Fajardo unbemerkt zu bestehlen. Als dieser nach seinem Geld greift, um die Zigeunerin zu bezahlen, ist es verschwunden. Er schließt daraus, dass Lucinda mit dem Dieb unter einer Decke steckt und droht damit, sie auszuziehen und den Gerichtsvollzieher zu holen. Lucinda sieht sich genötigt, ihre wahre Identität preiszugeben und legt den Grund ihrer Verkleidung dar. Fajardo berichtet ihr daraufhin, dass Lope sich seit Monaten 77 | Vgl. ebd., 69-70.

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im Haus einer vermeintlichen Cousine befinde und schlägt Lucinda vor, ihn in ihrer Verkleidung als Zigeunerin dort aufzusuchen. Doch bevor Lucinda den Rat befolgen kann, nähern sich Laura und ihre Tante Urbana dem Hafen. Lucinda bittet sie um ein Almosen und liest Laura aus der Hand. Diese ist entsetzt darüber, dass die Zigeunerin ihre Umstände bis ins Detail kennt und lädt sie auf den Rat ihrer Tante hin ein, mit ihr nach Hause zu kommen. Dort soll Lucinda auch Lope die Hand lesen, der seine frühere Geliebte wieder erkennt. Als Lucinda länger als Zigeunerin im Haus Lauras weilt, stellt er sie zur Rede für ihr Verhalten und entsagt ihr seine Liebe. Durch eine List bringt Lucinda Lope jedoch dazu, sich ebenfalls als Zigeuner zu verkleiden und als ihr Gemahl aufzutreten. Laura ist empört und verweist Lope des Hauses. Unterdessen ist Lopes früherer Nebenbuhler Alberto nach Sevilla und mit der Hilfe der Kapitäne in Lauras Haus gekommen, um mit Lope abzurechnen. Als er in dem vermeintlichen Zigeuner Lope erkennt, zieht er sein Schwert. In diesem Moment durchschaut Laura die List Lucindas, und es kommt zu einem glücklichen Ausgang mit einer Mehrfachheirat. Im Einklang mit dem Chronotopos der comedia ist die Handlung von El Arenal de Sevilla bestimmt durch zufällige Zusammentreffen, unvorhergesehenes Verweilen an einem Ort (Lope in Sevilla) sowie durch Umstände, die aufgrund ihrer Gleichzeitigkeit miteinander in Verbindung gebracht werden (Handlesen durch Lucinda und gleichzeitiger Diebstahl). Doch kommt ein weiterer zeitlicher Aspekt hinzu, der eine zentrale Rolle spielt und in dem sich das Stück klar vom Abenteuerchronotopos abhebt: Es handelt sich um die Eigenschaft eines ständigen Wandels, dem die Welt des Arenal unterworfen ist. Dadurch wird der fiktive Schauplatz, fern von allegorischer Statik, zu einem bewegten und daher verzeitlichten Raum. Es wird im Stück vermehrt Bezug genommen auf den Sand des Arenals, der für unendliche Anzahl, Unbeständigkeit und das Verstreichen von Zeit steht.78 Der Hafen repräsentiert eine trügerische Welt, einen privilegierten Ort des engaño. Dies wird bereits in den ersten Szenen deutlich. Zwei Galeerensträflinge verkaufen einem Fremden angeblich wertvolle Strumpfware. Dieser gibt ihnen noch ein Almosen dazu, um schließlich zu bemerken, dass er nur Lumpen erworben hat (AS 13851386). Die Soldaten, welche die Galeerensträflinge hätten bewachen sollen, sind auf dem Schiff mit Karten spielen beschäftigt. Das Kartenspiel galt in der Frühen Neuzeit als zweifelhafte, von Täuschung behaftete Tätigkeit. Wie Luque Fajardo in seinem dialogischen Traktat Fiel desengaño contra la ociosidad de los juegos darlegt, verliere der Kartenspieler nicht nur die Gewalt über sein Vermögen, sondern auch die Kontrolle über die Zeit.79 Im Unterschied zu kalendarisch festgelegten Spielen wie den Olympischen verleite das Kartenspiel als »juego de modo permanente«80 78 | Vgl. Weston (1971), 212. 79 | Vgl. Nitsch (2000), 54. 80 | Ebd.

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dazu, jedes natürliche oder kulturelle Zeitmaß zu missachten: Der Spieler vergesse sowohl die Jahreszeiten als auch den kirchlichen Festkalender, da ihm beim Spielen die Jahre zu Tagen und die Tage zu Augenblicken würden. Das Arenal erweist sich somit als Ort nicht nur einer fehlenden Raum-, sondern auch einer fehlenden Zeitkontrolle, die in Widerspruch tritt zu einer für die damaligen Verhältnisse recht präzisen zeitlichen Taktung von Abfahrts- und Ankunftszeiten. Kleinkriminalität aufgrund von Unzuverlässigkeit oder fehlender Autorität der zuständigen Aufseher scheint im Arenal an der Tagesordnung zu sein, denn als zwei maurische Galeerensträflinge sich auf den Weg machen, um Wasser zu holen, erwidern sie auf die Mahnung des Kapitäns, nicht zu stehlen: »Al porta hurtamos cetuna,/aunque romper corpo e brazos.« (AS 1387). Ein anderer Dieb stürzt sich auf der Flucht vor dem Gerichtsvollzieher in den Fluss. So wie dem Schauplatz des Stückes haftet auch seinen zentralen Figuren der engaño an. Entweder fallen sie einer Täuschung zum Opfer oder sie sind selbst Initiatoren einer Täuschung. Lucinda ist zweifellos diejenige Figur, welche den engaño am meisten verkörpert. Indem sie sich als Zigeunerin verkleidet und ausgibt, täuscht sie nicht nur ihre Umwelt, sondern spielt die Rolle einer Expertin der Täuschung schlechthin. Darüber hinaus stiftet sie andere Figuren, Lope und Toledo, ebenfalls zu Täuschungsmanövern an. Zwischen ihrem wahren Sein und ihrer Erscheinung entsteht ein Widerspruch, auf den im Stück beständig Bezug genommen wird.81 Neben der Täuschung ist auch die Veränderlichkeit der Welt eine Form des Wandels. Die Auffassung, dass das einzige Beständige an der Zeit der Wandel sei, ist ein beliebter barocker Topos,82 der für die Handlung von El Arenal de Sevilla eine entscheidende Rolle spielt. Den Ausgangspunkt, auf den die Verwicklungen des Stücks zurückgehen, bildet ein politisches Ereignis, nämlich die Verlegung des Königshofes nach Valladolid durch Philipp III:83 L UC

Mudó el Tercero Filipo su corte, casa y criados a Valladolid, y fué mudar también necesario, de allí, la Chancillería, con quien también se mudaron mi ventura y muchos pleitos, de que me resultan tantos. (AS 1397)

81 | Vgl. Weston (1971), 216-218. 82 | So formuliert Cervantes etwa im Don Quijote: »Más fuerza tiene el tiempo para deshacer y mudar las cosas que las humanas voluntades« (DQ I, 526). 83 | Vgl. Weston (1971), 218-219.

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Die Klage Lucindas über die Umsiedelung des Hofes nach Madrid, die ihrem Schicksal eine unerwünschte Wendung gegeben hat, könnte von Lope selbst stammen, da der Umzug des Hofes für den Autor bedeutende Veränderungen mit sich brachte. Bereits nach der Hochzeit Philipps III., die Lope de Vega noch als Autor begleitet hatte, der sich selbst im Zentrum der Gesellschaft sah, war er an den Rand der höfischen Gesellschaft geraten. Dass der Hof seinen Sitz 1601 von Madrid nach Valladolid verlagerte, machte Lope, der in Madrid zurückblieb, endgültig zum höfischen Außenseiter. Kurz nach der Verlegung des Hofes erschien in Sevilla (!) ein Volksbuch mit vier Balladen, in denen Lope die Umsiedelung beklagt. Und noch ein weiteres Dokument verweist auf das Dilemma, in welches Lope durch die Verlegung des Hofes geriet: 1602 legt Lope La Dragontea als Tercera parte de las Rimas erneut auf und widmet sie dem Sevillaner Juan de Arguijo, in dem er offenbar einen neuen Patron gefunden hat. Kritiker haben immer wieder den persönlichen Charakter der Sammlung betont, in der Lope de Vega seine Liebesaffäre mit Micaela de Luján verarbeite, für die er den Namen ›Lucinda‹ verwende. Elisabeth Wright fügt dem hinzu, dass das Beklagen der Abwesenheit der geliebten Lucinda zugleich gelesen werden kann als die Trauer um die Abwesenheit des Königs, die Lope dazu veranlasst, sich in Juan de Arguijo einen neuen Schutzherrn zu suchen.84 Der Name ›Lucinda‹ stünde demnach für die Abwesenheit einer geliebten Person bzw. eines vertrauten Umfeldes. Wenn Lope in El Arenal de Sevilla die Figur Lucinda als diejenige auftreten lässt, die ihrem abwesenden Verlobten Don Lope nachreist, und deren unglückliches Schicksal mit der Verlegung des Hofes seinen Lauf nimmt, so verkehrt er die Rollen der Lebenswelt: Nicht er, im Stück verkörpert durch Don Lope, trauert um die Abwesenheit der Geliebten bzw. des Königs, sondern umgekehrt ist Lucinda diejenige, die unter der Abwesenheit des Geliebten einerseits und unter der Verlegung des Hofes andererseits leidet. Das Geschehen von El Arenal de Sevilla wird also mit dem Umzug des Hofes durch ein Ereignis lanciert, das auch in der lebensweltlichen Realität des Autors einen unerwünschten Wandel darstellte. Dass Sevilla der Ort ist, an dem die Dinge auf fiktionaler Ebene wieder ins Lot kommen, kann ein Hinweis darauf sein, dass Lope in Sevilla neue Förderer und damit ein neues Standbein für sein künstlerisches Schaffen gefunden hat. Auch sein folgender Roman, El peregrino en su patria, den Lope im literarischen ›Exil‹ schreibt, erscheint in Sevilla, wo Lope ihn einem wohlhabenden Aristokraten, dem Marqués de Priego widmete, der nie am Hof gelebt hatte. Mit der Bezugnahme auf ein realhistorisches Ereignis weist El Arenal de Sevilla über sich hinaus auf eine Lebenswelt, die sich in ständiger Veränderung befindet. Es illustriert in eindrücklicher Weise die frühneuzeitliche Lebensauffassung, welche die Dinge in stetem, möglicherweise zu 84 | Vgl. Wright (2001), 67-74.

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schnellem Wandel wahrnimmt.85 Dieser Wandel steht in immer stärkerem Gegensatz zur Vorstellung von Ewigkeit: Die Spannung zwischen einer Bewegung der Zeit und einem unbewegten Beweger erreicht ein nie gekanntes Ausmaß. El Arenal de Sevilla spiegelt die historische Realität des damaligen Sevillas wider, das sich als Tor zur Neuen Welt auf verschiedenen Ebenen im Übergang befindet:86 Städtebauliche, ökonomische, demographische, soziale, mediale und wissenschaftliche Umbrüche sowie die beständige Begegnung mit dem Fremden bedingen und verstärken das barocke Lebensgefühl eines sich zunehmend beschleunigenden Wandels. Dieses Lebensgefühl konkretisiert sich im Schauplatz des Stückes, der das Schicksal der Figuren wesentlich bestimmt. So beklagt sich Lope: Sembrando en tu Arenal mis esperanzas, ¡oh Sevilla!, ¿qué fruto será el mío, que ni del llanto bastará el rocío, ni del ligero tiempo las mudanzas? (AS 1392)

Auch wenn hier ein Bezug zur Sanduhr nicht explizit formuliert wird, so ist er aufgrund der von Lope formulierten Konnotation von Sand und Zeit doch anzunehmen. Die Sanduhr spielte in der Seefahrt der Frühen Neuzeit eine wichtige Rolle: Über Jahrhunderte war sie – neben der Beobachtung von Sonne und Mond – das einzige Mittel nautischer Zeitmessung, bevor sie von höchst genauen Chronometern abgelöst wurde.87 Im Barock erlebte sie eine Konjunktur als Todessymbol. Die von Lope de Vega im Arenal modellierte Spannung zwischen einer fehlenden Kontrolle über die Zeit und einer Berechnung von Zeit legt nahe, den Sand hier als Symbol zu lesen, das zugleich für ein unaufhaltsames Ablaufen der Zeit und für eine messbare, berechenbare Zeit steht, verkörpert durch die Sanduhr als Allegorie der Vergänglichkeit einerseits und als Schifffahrtsinstrument andererseits. Für die Interpretation, dass Lope sein Schicksal entgegen seiner Klage zu berechnen sucht, spricht auch die sprachliche und inhaltliche Nähe zur oben zitierten Spekulationsszene aus El amante agradecido: »Si se tarda la flota cuatro días, anega el mar las esperanzas mías.« (AA 93). Wo sich die »esperanzas« des Spekulanten Sireno auf einen möglichen finanziellen Gewinn konzentrieren, sind die Hoffnungen Lopes auf einen Liebeserfolg gerichtet. Dabei ist Lope nicht, wie er in der zitierten Passage beklagt, einem von Unbeständigkeit geprägten Raum hilflos ausgeliefert, sondern wird Schritte unternehmen, um sein noch nicht endgültiges Schicksal mitzubestimmen.

85 | Vgl. Fletcher (2007), 22. 86 | Vgl. Weston (1971), 211 sowie zu Manifestationen dieses Übergangs die Einleitung meiner Studie. 87 | Vgl. Jünger (1954), 143-144.

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Dennoch kommt dem Schauplatz in dieser Passage eine hohe Beteiligung an der Schicksalsmodellierung der Figuren zu. Lope de Vega konfiguriert im Arenal de Sevilla eine Welt, die vollständig von der varietas temporum bestimmt ist: Die sich in der Zeit überstürzenden Ereignisse erscheinen kaum noch an ein unbewegliches Gesetz rückbindbar. Analog zu dieser Dynamisierung der Zeit lässt auch die Semantisierung des Schauplatzes keine stabilen räumlichen Oppositionen mehr erkennen. Die vertikale Teilung in honra und deshonra, in welcher die topologische Basisopposition des christlich-orthodoxen Weltbildes realisiert ist, spielt in diesem Stück keine Rolle. Es gibt hier keinen Raum, der frei von Betrug und Täuschung ist. Nicht einmal Lauras Haus, das neben dem Hafen den zweiten Schauplatz des Stückes bildet, bietet den Figuren Schutz vor den Tücken des engaño, denn auch dorthin gelangt Lucinda mit ihrer Täuschungslist. Auch die Opposition von innen und außen greift nicht. Die Welt außerhalb von Sevilla ist genauso vom Wandel betroffen – dies zeigt die Verlegung des Hofes – wie der Innenraum Sevilla selbst. Indem das Arenal zur Neuen Welt hin offen ist, kann die Stadt von vornherein nicht mehr als geschlossener Raum betrachtet werden. Das Eigene und das Fremde, das Lokale und das Globale verbinden sich zu einem einzigen unbegrenzten, unergründlichen Raum, der sich in ständiger Bewegung befindet. Die Abwesenheit räumlicher Dichotomien verweist auf eine neue Form des Gedächtnisses, die das rhetorische Gedächtnis ablöst. Der lebensweltliche Raum, wie er im Arenal de Sevilla konfiguriert wird, erschließt sich nicht mehr über räumliche Oppositionen von ›innen‹ – ›außen‹ oder ›oben‹ – ›unten‹. Das rhetorische, über räumliche Dichotomien organisierte Gedächtnis beginnt durch die Entstehung eines geographischen Raumkontinuums und durch eine erhöhte soziale Mobilität zu bröckeln. Die Welt räumlich klar lokalisierbarer Gegenstände wird durch die virtuelle Welt von Texten ersetzt, was sich nicht zuletzt in der zunehmenden Einrichtung und Systematisierung von Bibliotheken äußert. Der allmähliche Übergang vom Raum als Text hin zum gedruckten Text wurde schon in Hinblick auf die topographische Methode der Geschichtsschreibung festgestellt, in der Inhalte nicht mehr unveränderlich in einem allegorischabstrakten Raum verankert sind, sondern sich erst aus der Analyse eines empirischen Raumes erschließen. Nicht mehr der Raum selbst war hier Text, sondern er bildete das archäologische Substrat, das seine Bedeutung erst im geschriebenen Text erhält. Elena Esposito bezeichnet diese dynamische Form des Gedächtnisses als Kultur.88 Während das rhetorische Gedächtnis dazu tendiere, »die Ordnung der Kommunikation auf die vermeintliche Ordnung der Welt zurückzuführen«,89 bestehe die Ordnung von Kultur als Gedächtnis auf dynamischen Verbindungen zwischen Inhalten. El Arenal de Sevilla gibt Ansätze dieser Dynamik wieder, indem es 88 | Vgl. Esposito (2002), 183-197. 89 | Ebd., 98.

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von festen räumlichen Bedeutungszuschreibungen absieht und die Bewegtheit selbst zum Merkmal eines umfassenden Raumes macht. Nicht einmal mehr der Sitz des Königs lässt sich klar verorten, was im Stück sämtliche Kontingenzen auslöst. Nun verweist El Arenal de Sevilla dennoch auf eine absolute Ordnung, wenn diese sich im dargestellten Raum auch nicht widerspiegelt. Am Ende des Stückes werden die durch Täuschung und Wandel entstandenen Wirren in eine Ordnung überführt, die über den illusorischen Charakter der Welt zu triumphieren scheint. Die Verflechtungen um wahre und falsche Identitäten lösen sich zugunsten eines harmonischen Ausgangs auf: Lope heiratet Laura und rechtfertigt damit nachträglich seinen illegitimen Aufenthalt in ihrem Haus, Alberto vermählt sich mit Lucinda und im Schatten der Hauptfiguren dürfen sich auch Toledo, der Diener Lopes, und Lauras Tante Urbana das Eheversprechen geben.90 Diese Harmonie erscheint jedoch abrupt und instabil. Sie entspricht nicht dem Kriterium der Wahrscheinlichkeit, sondern ist das Ergebnis einer dramatischen Notwendigkeit. Dies bestätigt die implizite Metareflexion, die der Autor Fajardo in den Mund legt. Fajardo geht als einziger leer aus, was er auf eine Frage Castellanos hin folgendermaßen kommentiert: C AST FAJ

Señor Fajardo, ¿qué os parece del suceso? Que de todo estoy contento, y de suerte que ¡por Dios!, que, a ser posible, yo y vos tratáramos casamiento. (AS 1413)

Mit der Replik Fajardos nimmt Lope de Vega die in der comedia übliche Mehrfachheirat ironisch in den Blick. Dadurch entlarvt er ausgerechnet dasjenige Ereignis als künstlich, das die Wiederherstellung der Ordnung garantieren soll. Das taktische Spiel des Theaters, wie es von Lucinda vorgeführt wurde, und die strategischen Vorgaben kommen nur scheinbar auf einen Nenner:91 Die spielinternen Verkleidungen werden zwar abgelegt und sämtliche Verwirrungen aufgelöst, aber die Schlussharmonie vermag die gestörte Weltordnung nicht wiederherzustellen. Das ordnungswidrige Spiel wird nur unter Vorbehalt aufgehoben. Damit gerät das Restitutionssujet in eine prekäre Situation. Die Diskrepanz zwischen einer künstlich wiederhergestellten Ordnung und der lebensweltlichen Realität wird unverkennbar offen gelegt. Darüber hinaus wird mit der 90 | Schon die Tatsache, dass sich Lucindas Tante Urbana mit einem Diener und daher mit einem Mann vermählt, der ihrem Stand nicht entspricht, steht im Widerspruch zum Kriterium der Wahrscheinlichkeit. Allerdings kann es sich hier auch um eine poetische Unachtsamkeit handeln, deren Ausmaß der zeitgenössische Zuschauer nicht wahrnimmt. 91 | Vgl. Nitsch (2000), 116.

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ironischen Replik Fajardos das literarische ›Als-Ob‹ auf einer Metaebene reflektiert und so die Welt des Stückes als eine fiktive, von der Realität zu unterscheidende identifiziert. Damit kann El Arenal de Sevilla als Metapher für das Theater selbst gelesen werden. Das Drama ist die Kunst des Wandels par excellence. Denn keine Kunst ruft stärker ins Bewusstsein, dass menschliche Existenz einem ständigen Wandel unterworfen ist.92 So wie die Figuren in El Arenal de Sevilla sich als solche ausgeben, die sie nicht sind, so exemplifiziert das Theater eine Scheinwelt, eine Welt, in der A so tut als ob er B wäre und C ihm dabei zuschaut.93 Das Spiel im Spiel bewirkt eine Pluralisierung des Rollenspiels und verdoppelt so das ›Als-Ob‹. Die Figur tritt zugleich als Autor in Szene; sie bleibt nicht allein Konstrukt des Dramaturgen, sondern schafft sich selbst eine neue Rolle.94 Im Arenal de Sevilla bedient sich Lucinda dieses Tricks, um ihr Ziel zu erreichen. Ihr Spiel erweist sich jedoch als gefährlich: Je länger sie ihre Rolle beibehält, desto mehr verinnerlicht sie die damit verbundenen Verhaltensformen und droht, ihre wahre Identität zu verlieren.95 Mit ihrer Verstellung stiftet sie zudem Verwirrung im Leben der anderen Figuren. Dies wird sanktioniert: Auch wenn Lucinda nicht völlig leer ausgeht, erreicht sie ihr Ziel nicht, sondern muss am Ende mit ihrem Liebhaber zweiter Wahl vorlieb nehmen. Ihr Rollenspiel und das damit verbundene Risiko eines Identitätsverlustes waren umsonst. Ob Lope de Vega damit Bezug auf eine zu seiner Zeit verbreitete Schauspielkritik nimmt, muss offen bleiben.96 Es wird jedoch deutlich, dass er in El Arenal de Sevilla den Scheincharakter des Theaters selbst reflektiert. Mit der Hafenzone Sevillas bringt Lope einen lebensweltlichen Raum auf die Bühne, der selbst als Theaterraum erscheint, in dem die Figuren sowohl Urheber als auch Opfer des engaño werden. Mit dieser doppelten Theatralisierung des Raumes macht er nicht nur den ›Als-Ob-Charakter‹ der Welt auf der Bühne bewusst, sondern auch den steten Wandel, dem die Lebenswelt unterworfen ist. Nicht nur das Theater, hervorgehoben durch Lucindas Spiel im Spiel, wird im Arenal de Sevilla unter das Vorzeichen des Illusorischen gestellt, sondern auch die Wirklichkeit selbst: Das Arenal ist mit einem Theaterraum vergleichbar, der Bühne und Publikum vereint. So wie das frühneuzeitliche Theater von einem Auf- und Abtreten der Figuren lebt, so besteht auch die Faszination des Arenals in seinem Durchgangscharakter. Die Menschen, die sich in der Hafenzone aufhalten, sind bald Akteure, 92 | Vgl. Fletcher (2007), 49. 93 | »The theatrical situation, reduced to a minimum, is that A impersonates B while C looks on.« Bentley (1964), 150. 94 | Vgl. Nitsch (2000), 94-96. 95 | Vgl. Weston (1971). 96 | Zur Spielkritik in der Frühen Neuzeit und besonders in Spanien siehe Nitsch (2000).

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bald Zuschauer, wobei jeder beide Rollen einnehmen kann: Jeder kann beobachten und ist zugleich Beobachtungsobjekt. Dadurch wird die Welt selbst zum Theater und das Arenal zum Paradigma einer theatralisierten Welt. Die bereits mittelalterliche Welttheatermetapher zeigt sich hier in einer typisch frühneuzeitlichen Ausprägung: nicht als Metapher der Ordnung, sondern des Wandels. Der Gedanke von der Theatralität der Welt verweist nicht mehr auf einen geordneten Kosmos, sondern auf eine sich in ständigem Wandel befindende Realität. Das frühneuzeitliche Theater stellt damit ein Rezeptionsmodell für die Wirklichkeit zur Verfügung. Die Ereignishaftigkeit der Wirklichkeit wird vorgeführt, um sodann kontrafaktisch in die traditionelle Ordnung zu münden, die sich jedoch unterschwellig als Schein erweist. In El Arenal de Sevilla erschafft Lope de Vega eine Welt, welche die Realität zugleich nachahmt und als Schein entlarvt. Mimesis und Realität durchdringen sich in einem wechselseitigen Verhältnis, indem sie ihre Scheinhaftigkeit reziprok herausstellen. Dies wird auch deutlich in der Verschränkung eines realhistorischen Ereignisses mit der fiktiven Handlung am Ende des Stücks: L OPE FAJ

¡Gran tiniebla! Es que entra el conde de Niebla, haciendo a Sevilla salva. L OPE Vamos juntos a la orilla a ver el gran general, dando fin en su Arenal a El Arenal de Sevilla. (AS 1413, Unterstreichung M.L.B., Kursivierung im Original)

Der Signifikant »Arenal« taucht in dieser Passage zweimal auf, bezieht sich aber jeweils auf ein anderes Signifikat. Einmal trägt er den Zusatz »su«: Dieses Possessivpronomen verweist auf den Conde de Nieblas, der im Jahr 1603 zum General der spanischen Galeeren wurde und dessen feierlicher Einzug im Arenal von Sevilla erwartet wird. Es handelt sich um ein realhistorisches Ereignis, das sich, so wird vermutet, im gleichen Jahr ereignete, in dem Lope das Stück verfasste.97 Folglich ist hier auch das Arenal als realer, in der Lebenswelt verankerter Ort gemeint. Dieser wird jedoch sogleich wieder auf die fiktionale Ebene zurückprojiziert: Beim zweiten Mal bezeichnet der Ausdruck »Arenal« den fiktiven Schauplatz der Handlung. Dieser wird kurz als in der Lebenswelt gegebener gekennzeichnet, um sogleich wieder als Ausdruck zu erscheinen, der die fiktive Handlung subsumiert. Ein realhistorisches Ereignis soll dieser Handlung ein Ende setzen, wodurch das künstlich wirkende Ende der fiktiven Handlung mit der lebensweltlichen Realität konfrontiert wird. Auf diese Weise tritt der Kontrast zwischen der theatralischen Fiktion und der Lebenswelt 97 | Vgl. Dale (1940).

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deutlich hervor. Das Oszillieren zwischen Fiktion und Wirklichkeit dient hier nicht etwa dazu, die Grenze zwischen diesen beiden Ebenen zu verwischen, sondern ruft sie vielmehr ins Bewusstsein. Auch das Spiel im Spiel trägt zu dieser Bewusstmachung bei: Der Zuschauer wird Zeuge eines fiktiven engaño, der das Theater als noch viel größere Illusion entlarvt. Das hier sprachlich artikulierte Imaginäre, das es dem Zuschauer erlaubt, einen Bezug zwischen konfiguriertem und lebensweltlichem Raum herzustellen, wird durch materielle Inszenierungstechniken noch unterstützt: Das historische Ereignis des siegreichen Einzuges des Conde de Niebla ist in der Kulisse durch die mit Blumen geschmückten Schiffsbüge angedeutet (AS 1384). Damit wird das Signifikat nicht nur über das diachrone Bühnengeschehen, sondern auch über den synchronen Bühnenraum transportiert. Lebensweltliche und konfigurierte Raum-Zeit sind zu einem einzigen Chronotopos verschränkt, der sich dem Zuschauer in der Anschauung des konkreten Bühnenraumes erschließt. Die Koppelung des fiktiven Schauplatzes mit dem lebensweltlichen Raum des Zuschauers erlaubt diesem zum einen, Fiktion und Wirklichkeit voneinander zu unterscheiden und zum anderen, Strukturen, die der fiktiven Handlung zugrunde liegen, als in seiner Lebenswelt gegebene zu erkennen und diese zu refigurieren. Die Welten, die im Theaterraum zusammenkommen, decken sich in ihrem illusorischen Charakter, den sie in wechselseitigem Zusammenspiel ins Gedächtnis rufen. In El Arenal de Sevilla verbindet das Bewusstsein des Wandels die verschiedenen raumzeitlichen Ebenen miteinander. Das Imaginäre, das sich dabei artikuliert, ist jenes der Verzeitlichung. Weder die Lebenswelt noch das Theater erscheinen als statischer Raum mit permanenten Ordnungsbeziehungen. Das Theater wird zum Ort von Diskontinuitätserfahrung, zum Ort, an dem die neue Raum-Zeit zugleich modelliert und ins Bewusstsein gerufen wird.

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5. Fazit und Ausblick

5.1

F A ZIT : P LUR ALISIERUNG VON R AUM -Z EITEN IN DER F RÜHEN N EUZEIT

Am Beispiel von Sevilla als privilegiertem Ort frühneuzeitlicher Alteritäts- und Diskontinuitätserfahrung konnte gezeigt werden, dass sich im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit Konzeptionen von Raum und Zeit weniger bruchartig ablösen, sondern sich zu einer Pluralität koexistierender, teilweise widersprüchlicher Raum-Zeiten auffächern. Bevorzugtes Medium dieser Ausdifferenzierung ist der gedruckte Text, der im Zentrum frühneuzeitlicher medialer Transformationen steht und so den Übergang von einer alten zur neuen Raum-Zeit nicht nur erzählend und zeigend konfiguriert, sondern auch in technischer und kulturpragmatischer Hinsicht neue Chronotopoi schafft. So ruft etwa die Spannung zwischen Absenz und Präsenz, die der Kommunikation über den gedruckten Text eigen ist, sowohl in Geschichtsschreibung als auch in fiktionaler Literatur neue Formen einer performativen Erzeugung von Evidenz hervor. Dazu gehören zum einen die Konstitution anschaulicher Räume, zum anderen die Inszenierung von Kommunikation unter Anwesenden, die im Dialog durch die Ausblendung einer Erzählinstanz, im narrativen Text hingegen in der gespaltenen textinternen Pragmatik durch die Präsenz eines Ich-Erzählers realisiert ist. Dabei muss der narrative Text zugleich die Zeitlichkeit des Erzählaktes unterdrücken, um den zu vermittelnden Sinn nicht zu destabilisieren. Weitere beispielhaft behandelte Medien, die Raum und Zeit konfigurieren, sind die geographische Karte, die Natursammlung und das Theater, die sowohl in technisch-medialer als auch in inhaltlich-struktureller Hinsicht in enger Verbindung zu textuellen Praktiken stehen. Die Gemeinsamkeit dieser Medien mit dem geschriebenen Text hinsichtlich der Konfiguration von Zeit und Raum besteht darin, dass die Art und Weise, wie sie die beiden Größen instituieren, ein Imaginäres bildet, das sich in der Kommunikation von Produzent und Rezipient über das Medium konstituiert und das angesichts einer Pluralisierung von Sinnhorizonten,

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die sich aus der Individualisierung der Rezeptionssituation ergibt, kaum noch zu kontrollieren ist. Mithilfe einer Analyse von historiographischen, publizistischen, wissenschaftlichen, fiktionalen und Gebrauchstexten auf der Basis einer raum-zeitlichen Heuristik wurde das frühneuzeitliche Bemühen sichtbar, umbruchartige Veränderungen mit der offiziell noch gültigen Vorstellung einer analogisch geordneten Welt in Einklang zu bringen, zugleich aber auch die Schwierigkeiten einer solchen Restitution angesichts der Ereignishaftigkeit einer sich zunehmend dynamisierenden Gegenwart. Daher bewegen sich frühneuzeitliche Medien notgedrungen zwischen der Bewältigung und der Exposition von Kontingenz. Wo etwa frühneuzeitliche Festbeschreibungen eine positive Kontingenz der Verwunderung bewusst inszenieren und aufrecht erhalten, stellt die Begegnung mit dem Neuen und Außergewöhnlichen in den Natursammlungen und ihren Begleittexten eine Herausforderung an die wissenschaftliche Deutungsarbeit dar und wird zum Ausgangspunkt einer Revidierung bisheriger Wissensordnungen. Im Dialog wiederum werden Kontingenzen in Raum und Zeit sowohl exemplarisch vereinnahmt als auch genutzt, um den Wahrheitsfindungsprozess selbst als kontingent zu markieren und so überzeitliche Wahrheiten in Frage zu stellen. Die Revidierung von bisher als überzeitlich verstandenen Wissensordnungen und Wahrheiten ist Teil einer Semantisierung der Zeit, das heißt einer epistemischen Strukturierung der Zeit durch umbruchartige Zäsuren, wie sie in der Frühen Neuzeit auf verschiedenen Ebenen eingeleitet wird. Dabei spielt der in ständigem Wandel begriffene historische Raum eine bedeutende Rolle: Je mehr sich die Literatur an die Alltagsrealität annähert, indem sie konkrete Räume modelliert, desto unglaubwürdiger wird das analoge Deutungsschema, das Transformationen von Ordnungen in der Zeit ausschließt. Die Dynamik der Lebenswelt entlarvt die zyklisch-allegorische Episteme als überkommen. Eine weitere Manifestation der zeitlichen Semantisierung ist die epistemische Trennung von Raum und Zeit, wie sie sich etwa in der Synchronisierung von geographischen Karten durch das Eliminieren diachroner Elemente zeigt, aber auch in der Enträumlichung von Zeit durch die allmähliche Entwicklung eines inhaltlich leeren zeitlichen Ordnungsprinzips. Ferner wird eine Semantisierung von Zeit in der lokalen Historiographie vorbereitet, wo mithilfe einer topographischen Methode der gegenwärtige Raum in seiner historischen Konkretion systematisch erschlossen wird. Zwar wird hier das räumliche Substrat mithilfe eines translatio-Modells weiterhin implizit oder explizit in überzeitliche Narrative eingeschrieben, doch entstehen dadurch Spannungen, da sich der gegenwärtige, konkrete Raum nicht immer bruchlos in eine Kette von Ähnlichkeiten einfügen lässt. In wissenschaftlichen Texten wie der Historia medicinal bereiten Ansätze einer taxonomischen Ordnung eine Transformation des Wissenssystems vor, die sich in einem erklärten Fortschrittsoptimismus bereits bemerkbar macht. Schließlich lassen sich An-

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zeichen einer Semantisierung von Zeit in der comedia beobachten, wo der Rückgriff auf konkrete historische Räume die zyklische Geste des herkömmlichen Restitutionssujets destabilisiert und die reale Lebenswelt als einem beschleunigten Wandel unterworfene markiert. Trotz der zunehmenden Infragestellung der allegorischen Raum-Zeit wird deren zyklische Bewegung, die in der ständigen Neubestätigung einer prästabilierten Ordnung besteht, häufig nicht offensichtlich gestört. Dafür bilden sich in solchen Fällen aber semantische Verschattungen, welche die garantierte Seinsordnung durch neuzeitlich-politische, heidnisch-antike oder individuelle Ordnungsmodelle doppeln. In denjenigen Festbeschreibungen etwa, die ausgehend vom gegenwärtigen Raum einen überzeitlichen Raum aufspannen, aber auch in den untersuchten Stadtchroniken, laufen säkulare Genealogie, antike Mythologie, Neogotismus und Hagiographie als Bewegungen der Wiederkehr parallel zum exemplarischen Zyklus der Heilsgeschichte. In Dialogen wie der Traslación wird diese semantische Vervielfältigung durch ein frühneuzeitliches Subjekt performativ vollzogen: Es ist die individuelle Lesart des städtischen Raumes, welche die heilsgeschichtliche translatio mit säkularen Inhalten verbindet und so auf eine unkontrollierbare Subjektivierung der exemplarischen Raumlektüre verweist. Die comedia urbana schließlich postfiguriert mit ihrer noch überwiegend restitutiven Struktur nicht mehr ausschließlich eine allegorische Raum-Zeit, sondern verhandelt eine Destabilisierung politischer Ordnung, die sie, wenn auch mit Einbußen, fiktional wieder herstellt. Die Verabschiedung der alten Raum-Zeit ist im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts also weder vollzogen, noch gelingt es, diese kontrafaktisch aufrecht zu erhalten. Insgesamt bewegen sich frühneuzeitliche Raum- und Zeitvorstellungen, so haben die Analysen verdeutlicht, im Spannungsfeld von religiösen und säkularen Ordnungsbegriffen, von Konzeptionen der antiken Gelehrtenkultur, einer mittelalterlich-orthodoxen Seinsordnung und neuzeitlich-politischen Ordnungsmodellen, von allegorischer Statik und historischer Dynamik, von Tradition und wissenschaftlichem Fortschritt, von Kontingenzerleben und Kontingenzbewältigung, von lebensweltlicher Erfahrung und medialer Konfiguration. Die vorliegende Studie hatte es sich unter anderem zum Ziel gesetzt, von der Literaturwissenschaft bisher kaum oder gar nicht beachtete Texte zu erschließen, um Erkenntnisse von der literarischen Konfiguration von Zeit und Raum in der Frühen Neuzeit zu gewinnen, die möglichst frei von den Einschränkungen einer nachträglichen Kanonisierung sind. Demgegenüber soll nun in Form eines Ausblicks die Perspektive auf die kanonische Literatur hin geöffnet werden, um den entwickelten Ansatz auch dort auf seine Tragfähigkeit hin zu überprüfen. Mit dem anonym

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verfassten Schelmenroman La vida de Lazarillo de Tormes (1554)1 , auf den diese Studie in Ansätzen mehrfach Bezug genommen hat, wird der Blick abschließend über Sevilla hinaus hin zu einem Stadttext gelenkt, der aus heutiger Sicht als paradigmatisch für die erzählerische Modellierung von Zeit und Raum in der Frühen Neuzeit gilt.

5.2 A USBLICK : Z UR R AUM -Z EIT DER NOVELA PICARESCA Im Schelmenroman ist die Bewegung in Raum und Zeit zugleich thematischer Inhalt und strukturelles Prinzip.2 Der Fortbewegung des pícaro im Raum entspricht ein Prozess des individuellen Reifens, womit der im Raum zurückgelegte Weg ein Modell für den Lebensweg darstellt. Typisches Beispiel für diese raum-zeitliche Verquickung ist das Initiationserlebnis, das den Eintritt des pícaro in eine erbarmungslose Welt markiert: Es verkörpert nicht nur eine Station auf dem Weg des Helden – im Falle von Lazarillo den (unfreiwilligen) Auszug aus seiner Heimat und zugleich den Eintritt in eine ihm unbekannte Welt (»Salimos de Salamanca, y, llegando, a la puente, está a la entrada della un animal de piedra,…« LT 18) – sondern teilt zugleich die Biographie des Helden in ein Vorher und Nachher und semantisiert so dessen individuelle Zeit. So muss Lázaro erkennen, nachdem der Blinde seinen Kopf mit voller Wucht gegen den Stier aus Stein geschlagen hat, in dem, so seine Behauptung, ein mächtiges Geräusch zu hören sei: »Parescióme que en aquel instante desperté de la simpleza en que, como niño, dormido estaba.« (LT 20) Das Überqueren der Brücke, an der sich die Episode abspielt, steht sinnbildlich für den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein. Die Brücke als der materielle Ort, an dem das Initiationserlebnis stattfindet, ist also zugleich der Ort einer Zäsur auf dem biographischen Zeitstrahl. Raum und Zeit, geographischer Weg und biographischer Lebenslauf, sind hier untrennbar miteinander verwoben. Ein weiteres Merkmal des Schelmenromans, das eine enge Verknüpfung von Raum und Zeit impliziert, ist die Lokalisierung des Geschehens in einem konkreten historischen Kontext. Lázaros Biographie spannt sich auf zwischen drei historischen Eckpunkten, nämlich dem der Schlacht von Gelves im Jahr 15103, in der sein Vater gefallen ist (LT 18), dem Bettelverbot, das aufgrund einer schlechten Weizenernte um 1545 in Toledo erlassen wurde (LT 108) und schließlich dem Einzug Karls V. in Toledo, 1 | Anonym (2006 [1554]): Lazarillo de Tormes. Klein Lazarus von Tormes, Stuttgart: Reclam. Im Folgenden abgekürzt mit LT. 2 | Vgl. dazu die sehr ausführliche Studie von Cordie (2001), hier 20. 3 | Für die Datierung der Handlung des Lazarillo kommen zwei Schlachten von Gelves in Betracht, eine von 1510 und eine von 1520, wobei die erstere aufgrund einer vergleichsweise schwereren Niederlage stärker im kollektiven Gedächtnis verankert war. (Vgl. LT 18-19, Fußnote)

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der dort 1525 bzw. 1538-15394 seine Ständeversammlung abhielt (LT 160). Während die ersten beiden Daten eng mit dem Werdegang Lazarillos verzahnt sind – der Tod des Vaters stürzt die Familie in existentielle Schwierigkeiten, die Lazarillos Mutter dazu veranlassen, ihren Sohn als Blindenjunge auf den Weg zu schicken, und die Vertreibung der Bettler aus der Stadt flößt Lázaro dermaßen Angst ein, dass er lieber hungert, als weiter zu betteln – steht das letzte nur in einem indirekten Zusammenhang mit den fortunas y adversidades des Helden: Im historischen Höhepunkt der Stadt Toledo spiegelt sich der biographische Höhepunkt Lázaros wider: »Pues en este tiempo estaba en mi prosperidad y en la cumbre de toda buena fortuna.« (LT 160) Es stellt sich die Frage, warum der anonyme Autor des Lazarillo historische Ereignisse in seinen Roman einflicht, wo die Handlung doch auch ohne sie auskäme: Lázaros Vater hätte auf beliebige Art und Weise ums Leben kommen können und der Einzug Karls V. in Toledo steht in keinem direkten Bezug zu Lázaros Biographie, die mit diesem historischen Eckpunkt noch nicht einmal beendet ist. Genauso wenig ist die Handlung des Romans auf reale Orte angewiesen; der Schelm könnte seinen Lebensweg ebenso gut in einem technisch-abstrakten Raum, wie er für den Abenteuerchronotopos charakteristisch ist (vgl. Kap. 4.1.2), zurücklegen. Im Einklang mit der zu Beginn dieser Studie entwickelten These erfüllen diese historiographischen Angaben die Funktion einer performativen Konstitution von Realität, mit der fiktionale und historiographische Texte in der Frühen Neuzeit gleichermaßen auf eine Kontrolle von Subjektivität reagieren und mit der sie um die Erzeugung von Evidenz wetteifern (vgl. Kap. 1.1.3). Dies führt dazu, dass sich das fiktionale Schreiben die performative Konstitution von Realität, die bisher dem historiographischen Schreiben vorbehalten war, als Kunstgriff aneignet. Das daraus hervorgehende Spiel mit den Kategorien von fiktional und faktual ist typisch für den Schelmenroman. Die Erzählung des pícaro gibt sich oberflächlich als faktualer Lebensbericht aus, dies allerdings bei gleichzeitiger fiktionaler Selbstanzeige: Der volkstümliche Gestus, der den Lazarillo kennzeichnet, stellt ihn hinsichtlich seines faktualen Gehalts auf eine Stufe mit den fiktionalen Kleingattungen einer folkloristischen Erzähltradition. Damit ahmt der Schelmenroman die Performanz von Realität einerseits nach, verkehrt sie jedoch zugleich ins Ironische. Die performative Erzeugung von Realität äußert sich – neben der Verankerung der Handlung in einem konkreten raum-zeitlichen Kontext und dem autobiographischen Gestus – in den Legitimationsbemühungen, mit denen Lázaro seinen Lebensbericht zu rechtfertigen sucht: »Y pues Vuestra Merced escribe se le escriba y relate el caso muy por extenso, parescióme no tomalle por el medio, sino del principio, porque se tenga entera noticia de mi persona;« (LT 6-8) Als Ehemann, der seine Gattin mit 4 | Wie im Falle der Seeschlacht von Gelves (vgl. vorherige Fußnote) kommen auch für die Ständeversammlung zwei Daten in Frage. (Vgl. LT 160-161, Fußnote)

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dem Erzpriester von Sant Salvador teilt, legt der Erzähler einem hohen kirchlichen Würdenträger gegenüber,5 dem der Fall zu Ohren gekommen ist und der ihn schriftlich um eine Erklärung gebeten hat, Rechenschaft ab. Die jüngere Lazarillo-Forschung führt solche Formeln der Legitimation, angestoßen durch die These von Roberto González Echevarría,6 auf ein gesetzlich stark reglementiertes Schreiben im Spanien des 16. Jahrhunderts zurück. Demnach bediene sich der literarische Diskurs, von der Geschichtsschreibung des Inka Garcilaso bis zum Schelmenroman, einer notariellen Rhetorik, die ihren Ursprung in der Entwicklung und Expansion des spanischen Staates habe. Die novela picaresca imitiere die rhetorischen Konventionen der ausführlichen, biographischen Leistungs- und Verdienstberichte (relaciones de méritos y servicios), welche diejenigen zu verfassen hatten, die eine Ausreisegenehmigung in die Neue Welt beantragten und hierfür ihre limpieza de sangre nachweisen mussten. Denkbar wäre auch, mit Siegert7 zu mutmaßen, dass der Lazarillo de Tormes auf die streng reglementierten diskursiven Praktiken der Inquisition als narrative Verfahren zurückgreift. In beiden Fällen wird das pikareske Schreiben, genauso wie die Schreibpraktiken der spanischen Kolonialverwaltung und des Santo Oficio de la Inquisición, zu einem Akt der Legitimation. Solche Ansätze haben sicher ihre Berechtigung, doch kann der Schelmenroman nicht allein auf seine legitimatorischen Aspekte reduziert werden, zumal sich die intradiegetische Ebene im Lazarillo aus einer Fülle von Schwank- und anderen volkstümlichen Erzählungen satirischen und parodistischen Charakters speist.8 Daher soll hier vielmehr gefragt werden, auf welche größeren narrativen Strategien der Roman zurückgreift und in welchem Zusammenhang diese zu seinem Inhalt stehen. Die Lebensgeschichte des Schelms wird mithilfe einer Rückblendetechnik chronologisch erzählt. Sie ist episodisch, wobei die einzelnen Episoden durch die Bewegung des Rads der Fortuna miteinander verknüpft sind:9 Mit dem Tod seines Vaters beginnt für Lázaro eine Abwärtsbewegung, 5 | Dass es sich bei der Autorität, die Lázaro mit »Vuestra Merced« anspricht, um einen hohen Würdenträger handeln muss, geht aus dem letzten Kapitel hervor, wo der Erzähler bemerkt, dass sein Herr und Nebenbuhler, der Erzbischof, »servidor y amigo de Vuestra Merced« (»euer Gnaden Diener und Freund«, LT 156/157) sei. 6 | González Echevarría (1990), 43-92. 7 | Siegert (2006), 93-98. 8 | Vgl. dazu Bachtin (1989), 87-95. 9 | Der Erzähler stellt den Bezug zwischen seinem Lebensbericht und der Willkür des Schicksals, verkörpert durch Fortuna, im Prolog explizit her, wobei er die Möglichkeit betont, den vermeintlich unaufhaltsamen Lauf des Schicksals durch List und Tücke zu beeinflussen: »Y pues Vuestra Merced escribe se le escriba y relate el caso muy por extenso, parescióme no tomalle por el medio, sino del principio, […] porque consideren los que heredaron nobles estados cuán poco se les debe, pues Fortuna fue con ellos parcial, y cuánto más hicieron los que, siéndoles contraria, con fuerza y maña salieron a buen puerto.« (LT 6-8)

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die ihn in existentiell zunehmend miserablere Dienstverhältnisse treibt. Den Tiefpunkt bildet seine Dienstzeit bei einem mittellosen escudero, der schließlich seinen letzten Besitz, nämlich sein Haus, verliert und dadurch gezwungen ist, sich von seinem Diener zu trennen. Von dort aus bewegt sich das Rad des Schicksals allmählich aufwärts, bis hin zu der zweifelhaften Ménage-à-trois, die der Erzähler als »Gipfel allen Glückes« (LT 161) bezeichnet. Dass sich das Rad von dort aus, wenn es nicht an diesem Punkt stehen bleibt, höchstens wieder abwärts bewegen kann, liegt auf der Hand. Das Sujet des Lazarillo ist zwar keines der Restitution – aus Lázaros Sicht stellt die Endsituation seines Berichts einen gesellschaftlichen Aufstieg und damit eine Grenzüberschreitung dar – doch hat aus der Perspektive des Lesers nur scheinbar ein Metaereignis stattgefunden. Der Leser, der die von Lázaro hinsichtlich seiner Ehe selbst geäußerten Zweifel (LT 158-160) ernst nimmt, vermutet, dass auch sein Dienstverhältnis mit dem Erzbischof nur eine instabile, vorübergehende Station auf dem Lebensweg eines pícaros ist, der auch ein solcher bleiben wird. Lázaro steigt nur scheinbar in die höheren Kreise der Gesellschaft auf und kann diesen Status nur aufrechterhalten, indem er sich selbst betrügt und den Gerüchten, die in der Stadt über das Verhältnis seiner Frau zum Erzbischof kursieren, keinen Glauben schenkt. Eine Überwindung der hierarchischen Strukturen und damit eine Semantisierung der Zeit im Sinne einer Transformation des Systems (vgl. Kap. 1.3.3) bleibt aus. Die Lebensgeschichte Lazarillos vollzieht sich also in Form einer zyklischen Bewegung, die auf den ersten Blick im Einklang mit dem mittelalterlichen Fortuna-Prinzip steht. Sie entspricht damit einer ähnlichen allegorischen Semantik des Raumes, wie sie auch für die mittelalterliche Geschichtsschreibung ausschlaggebend ist. Hierfür wird, ebenfalls in Übereinstimmung mit der allegorischen Semantik, die chronologische, episodische Struktur gewählt (vgl. Kap. 2.1.2). Dennoch ist der Chronotopos des Schelmenromans nicht mit der alten, allegorisch-statischen Raum-Zeit vereinbar. Zwar besitzt er eine zyklische Struktur, doch verweist diese weniger auf ein unveränderliches Gesetz, das es immer neu zu bestätigen gilt, sondern vielmehr auf einen irdischen Kreislauf des Werdens und Vergehens, des Auf- und Abstiegs. Was fehlt, ist das unbewegliche Element, auf das jedes bewegliche Element abgebildet werden könnte. Die Spiralförmigkeit der Handlung birgt so die Gefahr einer potentiellen Unabschließbarkeit, die weder einem geschlossenen Kosmos noch einer ebenso begrenzten irdischen Zeit entspricht. Der Fokus des Lazarillo liegt auf der varietas temporum, auf einer Unbeständigkeit der Zeit in einer trügerischen Welt. Der Schelmenroman nimmt diese Scheinhaftigkeit der Welt auf komische, ja parodisierende Art und Weise in den Blick. Damit schreibt er sich ein in eine volkstümliche Lachkultur, die Bachtin als Gegenkultur bezeichnet hat.10 Kern dieser Gegenkultur ist die karnevaleske Erfahrung, 10 | Bachtin (1987).

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deren groteske Motive (Werden und Vergehen, Metamorphose, Transformation) einen zyklischen Zeitbegriff des biologischen Lebens beinhalten. Allerdings verharren die grotesken Motive in der Frühen Neuzeit nicht auf dieser Stufe: Der Sinn für die Zeit und ihre Phasenwechsel erweitert und vertieft sich und umgreift nach und nach sozial-historische Phänomene. Das Zyklische wird überwunden, es entsteht ein Gefühl für die historische Zeit. Nun werden groteske Motive mit ihrer Verbindung zu Zeitenwenden und mit ihrer ganzen Ambivalenz zum wichtigsten Mittel, dessen sich die Renaissance als künstlerisch-ideologischer Ausdruck ihrer neuen Aufmerksamkeit für Geschichte und historische Umbrüche bedient.11

Das Groteske kann also als Scharnier zwischen einem zyklischen und einem linearen Geschichtsverständnis, zwischen der neuen und der alten Raum-Zeit verstanden werden. Insofern erhält die Betonung des Materiell-Leiblichen im Lazarillo12 eine kulturhistorische Funktion: Als Motiv des Übergangs spiegeln die Transformationsprozesse des Körpers das Bewusstsein für einen Umbruch wider, das auf eine erhöhte Fähigkeit zur zeitlichen Selbstbeobachtung verweist. Der Schelmenroman geht mit dem Problem der Unmöglichkeit um, irdische Zeit und überirdische Zeitlosigkeit in Deckung zu bringen, indem er den Fokus auf das Diesseits legt und sich lediglich mit ironischen Kommentaren auf das Jenseits bezieht.13 Die novela picaresca stellt den Versuch der Alltagsbewältigung durch ein dezentriertes Ich dar. Diese Bewältigung frühneuzeitlicher Kontingenz erfolgt nicht nach den Regeln einer offiziellen Raum-Zeit, die diskontinuierliches Geschehen mit einer exemplarischen Kontinuität abzugleichen sucht, vielmehr macht der Schelmenroman frühneuzeitliche Kontingenz erst bewusst. Dies geschieht sowohl auf einer inhaltlichen als auch auf einer strukturellen Ebene. Das Handeln des Schelms steht im Zeichen zufälliger Gelegenheiten, die er wahrzunehmen hat, um die Macht des Schicksals zu überlisten (LT 8). Der Schelm ist ein Taktiker im Sinne de Certeaus: Wo die Strategie von einem festen Ort aus über die Zeit dominiert, bildet die Taktik das Andere, das Ausgeschlossene, das sich durch Ortlosigkeit auszeichnet und damit abhängig ist von den unvorhergesehe11 | Bachtin (1987), 75. 12 | Den Höhepunkt des Grotesken bildet die Episode, in welcher der Blinde Lázaro die Nase in den Mund steckt, um herauszufinden, ob dieser seine Schlackwurst verspeist hat, an deren Stelle er eine Rübe vorgefunden hat. Lázaro muss daraufhin erbrechen, so »dass Tat und Gefräßigkeit sich offenbarten und dem Besitzer das Seine zurückerstattet wurde.« (LT 41) 13 | So z.B. wenn Lazarillo die Verbannung seines Vaters infolge einer Straftat als »Verfolgung um der Gerechtigkeit willen deutet« und ihn in Gottes ewiger Herrlichkeit wähnt, »nennt das Evangelium diese doch selig.« (LT 13)

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nen Bewegungen der Zeit.14 Der pícaro überlebt mithilfe einer Taktik, die, ähnlich wie die Gesprächsgelegenheit im Dialog (vgl. Kap. 3.1), gebunden ist an Kontingenzen in Raum und Zeit. Die daraus resultierende Wahrnehmung von Gelegenheiten ist nicht an überzeitliche Gesetze geknüpft, sondern hängt einzig und allein von seiner Fähigkeit ab, lokale Umstände für sich nutzbar zu machen.15 Dies bedeutet, dass der Schelm bisweilen gegen die herrschenden Normen der Gesellschaft verstößt und somit zur Gefahr für diese wird. Zugleich entlarvt er durch sein eigenes asoziales Handeln die Verhaltensformen derer, welche die offiziellen Regeln verkörpern: Die Unerbittlichkeit, mit welcher der Geistliche Lázaro im zweiten Kapitel darben lässt und mit der er auf Lázaros verzweifelte Versuche, sich Nahrung zu beschaffen, reagiert, widerspricht nicht nur jeglichem Gebot von Nächstenliebe, sondern steht auch vollkommen in Kontrast zu der Völlerei, die er selbst betreibt. Lázaros Gelegenheitshandeln, das ihn von einem Herrn zum andern gelangen und dessen Tugend (Frömmigkeit des Geistlichen, Ehrgefühl des escudero etc.) als Heuchelei entlarven lässt, zeigt also, dass die Prinzipien, nach denen die offizielle Gesellschaft handelt, sich nur vordergründig mit einer exemplarischen Ordnung decken, letztendlich jedoch demjenigen materiell-leiblichen Lebensprinzip entsprechen, dem zu folgen auch er gezwungen ist. Auch auf struktureller Ebene spiegelt sich die Dialektik von Kontingenzbewältigung und Ausstellen von Kontingenz (vgl. Kap. 1.2.1) wider. Der Status des Erzählers wechselt zwischen verschiedenen Zeitebenen, zwischen einer zeitlich distanzierten Position, von der aus er das Geschehen gleich einem Historiographen ordnen kann und einer erlebenden Position, die mit dem Geschehen zusammenfällt und es als Kontingenzerfahrung wiedergibt. Dieses Oszillieren zwischen einem distanzierten und einem erlebenden Blickwinkel, zwischen carte und parcours, stellt eine weitere Schnittstelle von Zeit und Raum dar: Der Zeitebene des erlebenden Ichs entspricht die Raumpraxis des Gehens, der Ebene des aus der Retrospektive erzählenden Ichs diejenige des Sehens. Das erlebende Ich bewegt sich durch einen linearen Raum, in dem die für die Biographie des Schelms relevanten Punkte durch seinen Körper verbunden sind. Das sehende Ich hingegen blickt auf seinen Lebensweg gleich einer Karte, auf der die durchlaufenen Stationen eingezeichnet und dadurch objektivierbar gemacht sind.16 Damit kann der Schelmenroman seinen Gegenstand zugleich erzählen und zeigen: Die erzählende Bewegung des parcours führt die Dinge in dem zeitlichen Nacheinander auf, in dem sie sich ereignet haben, wohingegen sie mithilfe des distanzierten Rückblicks wie auf einer Karte gleichzeitig präsent sind. Ansgar Cordie führt diese doppelte Bewegung, durch die sich der Raum des Schelmenromans erschließt, auf die Unterscheidung zwischen 14 | Vgl. Certeau (1990), 60-61. 15 | Vgl. Cordie (2001), 130. 16 | Vgl. Cordie (2001), 20-25.

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einer Einzelheiten beschreibenden Chorographie und einer Gesamtheiten abbildenden Geographie zurück. Demnach spannt sich der erzählte Raum im Schelmenroman auf zwischen dem geographischen Überblick des erzählenden Ichs und dem begrenzten, chorographischen Horizont des erlebenden Ichs. Diese Interpretation erweist sich zwar insofern als fruchtbar, als sie die Erzählbewegung des Schelmenromans als Entsprechung der gesellschaftlichen Realität einer verstärkten geographischen und sozialen Mobilität in der Frühen Neuzeit plausibel macht, greift jedoch insofern zu kurz, als sie den Zusammenhang nicht berücksichtigt, in dem die doppelte Raumbewegung des Schelmenromans mit einer doppelten zeitlichen Perspektive steht: der erzählenden zeitlichen Distanz, die den Lebensweg des Schelmen objektivierbar macht einerseits und der erlebenden zeitlichen Nähe, welche die erzählten Umstände in ihrer Kontingenz wiedergibt, andererseits. Auch diese doppelte Zeitlichkeit steht in enger Verbindung zu einem historischen Phänomen: So wie der Raum der modernen Karte eine Objektivierung erfährt, so wird auch die Zeit mehr und mehr zu einer inhaltsleeren Größe, die nicht mehr an Geschehen, das sich in ihr ereignet, gebunden ist. Die erlebende Perspektive, in die der Erzähler immer wieder zurückfällt, verweist auf das ›Zeitloch‹, in das sich der frühneuzeitliche Mensch angesichts neuer und unbekannter Phänomene beständig neu hinein gesogen sieht, und das seine Deutungskompetenz für einen Augenblick bindet (vgl. Kap. 2.2). Die Fähigkeit des Erzählers hingegen, sich von seiner Biographie zu distanzieren und diese rückblickend zu analysieren, steht für eine erhöhte Fähigkeit zur zeitlichen Selbstbeobachtung und damit für eine Kompetenz im Umgang mit Alterität. So wie der frühneuzeitliche Sammler durch systematische Analyse die Verwunderung, die das exotische Objekt auslöst, in Wissen überführt, so führt Lázaro eine Analyse seines bisherigen Lebens durch, die einem empirischen Erlangen von Erkenntnis dient. Der Lebensbericht Lázaros steht im Dienste der Wahrheitsfindung: Es geht um die Aufklärung eines caso, über den »Vuestra Merced«, urteilen soll. Damit es zu einem objektiven Urteil kommen kann, muss der Fall in all seinen Details (»muy por extenso«, LT 6) geschildert werden. Allerdings kommt es zu keiner Auflösung des Falls; das Urteil des Adressaten bleibt, im Gegensatz zu demjenigen des maestro im Diálogo de los médicos (vgl. Kap. 3.1.3), aus. Es wird zwar gleichermaßen eine Autoritätsperson adressiert, doch kommt diese nicht zu Wort. Denn das letzte Wort behält der Zeuge, dessen Zuverlässigkeit zudem höchst fragwürdig ist. Das Ausbleiben des Richterspruchs, das die implizit anwesende Autoritätsinstanz zu einem stummen Gegenüber verkümmern lässt, macht Wahrheitsfindung hier zu einem offenen, den Irritationen der Zeit ausgesetzten Prozess, und dies in größerem Maße als im philosophischen Dialog, wo eine Autoritätsinstanz noch in Wort und Tat präsent ist. Der Sammler Lázaro stellt eine eigene, subjektive Ordnung der Episoden seines Lebens her, eine Ordnung, die nur vordergründig einer offiziellen Raum-Zeit folgt.

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Erzählen und Zeigen verselbständigen sich zu einer unberechenbaren Dynamik, welche die alte Raum-Zeit zugleich zitiert und unterläuft. *** Nach dieser kurzen Öffnung über das gewählte Untersuchungsfeld hinaus gilt es abschließend die Frage nach den Grenzen des Raum-ZeitModells zu stellen. Die raum- und zeitbasierte Heuristik hat sich für eine Untersuchung des Epochenbruchs vom Mittelalter zur Moderne insofern als fruchtbar erwiesen, als sie einen synchronen Querschnitt erlaubte, der epistemische Übergangskonstellationen sichtbar machen konnte. Daraus ergeben sich jedoch zwei Fragen: erstens, ob die raum-zeitliche Perspektive nicht zentrale Elemente dieses Übergangs, die nicht-räumlicher und bzw. oder nicht-zeitlicher Art sind, außen vor lässt; und zweitens, ob die gewählte Raum-Zeit-Methode auch für Phasen eines stetischen Geschichtsverlaufs fern von größeren Umbrüchen tragfähig ist. Die erste Frage lässt sich folgendermaßen beantworten: Sicher gibt es, wie Bachtin am Ende seines Chronotopos-Essays einräumt, sowohl im künstlerischen als auch abstrakten Denken Sinnbildungen, die »keinen räumlichen und zeitlichen Bestimmungen unterliegen.«17 Allerdings muss der Mensch, sobald er über diese Sinnbildungen kommunizieren will, wieder auf diskursive oder ikonische Darstellungsverfahren des Erzählens und Zeigens zurückgreifen und damit auf zeitliche und räumliche Ausdrucksformen. Und diese Ausdrucksformen strukturieren wiederum die Erfahrung vor, so dass ein Denken außerhalb von zeitlichen und räumlichen Kategorien selbst auf höchst abstrakter Ebene nicht möglich ist. Daher sind Ordnungen des Wissens immer raum-zeitlich und ihre Veränderung bringt notgedrungen auch eine Verschiebung räumlicher und zeitlicher Merkmale mit sich. Damit ist auch die zweite Frage schon weitgehend beantwortet: Wenn Denken und Darstellung nicht ohne zeitliche und räumliche Strukturen auskommen, dann lassen sich, so ist zu vermuten, auch epistemische Ordnungen in Zeiten gemäßigter historischer Ereignishaftigkeit mithilfe dieser Kategorien fassen.

17 | Bachtin (1989), 208.

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Literatur

P RIMÄRLITER ATUR (VOR 1700) Übersicht über die zur Kurzzitation ver wendeten Siglen AA AM

AS BI CAC

DH DM DQ (I-II) EM HM ES HS LT OZ (I-V) PMM

Lope de Vega: El amante agradecido Alonso Morgado: Historia de Sevilla en la qual se contienen sus antiguedades, grandezas, y cosas memorables en ella acontecidas, desde su fundacion hasta nuestros tiempos Lope de Vega: El Arenal de Sevilla Francisco de Luque Fajardo: Relacion de la fiesta que se hizo en Sevilla a la beatificacion del Glorioso San Ignacio Anonym: Relacion de la grandiosa celebridad […] que hizo el insigne Convento de N. Señora del Carmen de Sevilla a la Canonizacion de S. Andres Corfino Nicolás Monardes: Diálogo del hierro Pedro Mejía: Diálogo de los médicos Miguel de Cervantes: Don Quijote (erster und zweiter Teil) Pablo Espinosa de los Monteros: Historia, Antiguedades y grandezas, de la muy noble y muy leal Ciudad de Sevilla Nicolás Monardes: Historia medicinal de las cosas que se traen de nuestras Indias Occidentales, que sirven en medicina Lope de Vega: La Estrella de Sevilla Alonso Morgado: Historia de Sevilla Anonym: Lazarillo de Tormes Diego Ortiz de Zúñiga: Anales eclesíasticos y seculares de la muy noble y muy leal ciudad de Sevilla, Band I-V Francisco de León y Arce: La perla en el nueuo mapa mundi hispanico, al medio dia de Seuilla y costas. Iornada Real de su Magestad. Primera parte: con la pintura de los Orizontes, jamas visto

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RC

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