Das Verhältnis zwischen Rationalität und Moralität, der philosophische Humanismus, innovative Perspektiven auf Freiheit
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German Pages 310 [326] Year 2025
Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1 Die Konzepte von Vernunft, Freiheit und Verantwortung in Nida-Rümelins Position des Digitalen Humanismus
2 Über menschliche Kontrolle und Entmenschlichung
3 Digitaler Humanismus: Die unverzichtbare Rolle menschlicher Autorschaft im Zeitalter der Technologie
4 Gründe, Werte und Strukturen
5 Freiheit als die Fähigkeit, sich von Gründen leiten zu lassen? – Zu Julian Nida-Rümelins Freiheitstheorie
6 Verantwortung, alternative Handlungsmöglichkeiten und Entschuldigungen
7 Transformative Erfahrung als Quelle von Gründen
8 Was ist prohairesis? Oder: Wie ich bei der Partnerwahl zumindest nicht alles falsch mache. Von der Kunst kluge Entscheidungen integer zu treffen
9 Der Vorrang der Gründe und die Entwicklung der Argumentationstheorie
10 Sprache und Gründe. Zur humanistischen Semantik Julian Nida-Rümelins
11 Handeln aus moralischen Gründen – eine empirische Perspektive
12 Auf der Suche nach einem Kompass: Philosophieren mit Kindern als Beitrag zur humanen Bildung
13 Kooperation, Hirsche und der Wert von Institutionen
14 Warum man auf Arrows Unabhängigkeitsaxiom verzichten sollte
15 Ein Ausflug zur Zwillingserde: Das libertäre Alter Ego von Julian Nida-Rümelin
16 Zum Verständnis der Menschenrechte jenseits philosophischer Reduktionismen
17 Zur politischen Dimension des philosophischen Humanismus
18 Bemerkungen zur Immoralität von Protestwahlen
19 Stoic Cosmopolitanism
20 Das Ethos der epistemischen Rationalität und das Abgrenzungsproblem in der Wissenschaftsphilosophie
21 Kohärentistisch begründete Ethik in Medizin und Public Health: Methodische Grundlagen
22 Humanismus – Leitkultur oder Weltanschauung?
23 Mit Strategie in die Digitale Transformation – Verantwortung von Kulturinstitutionen im 21. Jahrhundert
Personen- und Sachregister
Rationalität – Freiheit – Verantwortung
Rationalität – Freiheit – Verantwortung Beiträge zur Philosophie Julian Nida-Rümelins Herausgegeben von Martin Rechenauer, Klaus Staudacher, Dorothea Winter und Niina Zuber
ISBN 978-3-11-143083-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-143323-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-143331-8 Library of Congress Control Number: 2024944671 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: francescoch / iStock / Getty Images Plus Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Diese Festschrift ehrt einen der prominentesten philosophischen Denker unserer Zeit, Prof. Dr. Dr. h. c. Julian Nida-Rümelin, anlässlich seines 70. Geburtstags. Sein umfangreiches und äußerst vielseitiges Œuvre enthält zahlreiche Werke, die den traditionellen philosophischen Diskurs erweitert und inspiriert haben und weit über die Grenzen der Philosophie hinaus in die Bereiche Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hineinwirken. So befasste sich Nida-Rümelin aus philosophischer Perspektive mit den Themen ökonomischer Praxis, Architektur, Stadtplanung, Bildung und Künstliche Intelligenz (KI). Einen weiteren Schwerpunkt seiner philosophischen Forschung bilden politische Fragestellungen, wie etwa die aktuelle Gefährdung der Demokratie, die Zukunft Europas und die internationalen Herausforderungen, denen sich die Welt, und vor allem der Globale Süden im Zusammenhang mit der Globalisierung, dem technischen Fortschritt und sozialen Verwerfungen gegenüber sieht. Insbesondere seine Auseinandersetzung mit den ethischen Implikationen von KI und dem Wandel der Universitäten hat maßgeblich dazu beigetragen, relevante gesellschaftliche Diskurse voranzutreiben. Umgekehrt ist sein langjähriges kulturpolitisches Engagement als Brückenbauer zwischen der akademischen und gesellschaftlich-politischen Sphäre fest verankert in der Philosophie; so ist Nida-Rümelin bei seinem Wirken als Kulturstaatsminister, als Kulturreferent der Landeshauptstadt München und in vielfältigen weiteren Ämtern geleitet von der Überzeugung, dass philosophisches Denken und ethische Reflexion unverzichtbare Grundlagen allen öffentlichen Lebens und politischen Gestaltens sind. Nida-Rümelins herausragende Leistungen nicht nur als philosophischer Denker, sondern auch bei der Umsetzung philosophischer Theorie in politisch-gesellschaftliche Praxis spiegeln sich auch in den zahlreichen Preisen und Ehrungen wider, die ihm zuteilwurden, darunter die Ehrendoktorwürde der Universität Triest, die Europa-Medaille der bayerischen Staatsregierung und der Bayerische Verdienstorden. Die Verleihung des Preises „Freiheit der Wissenschaft“ im Jahr 2023 unterstreicht sein unermüdliches Engagement für die Freiheit des Denkens und die Bedeutung wissenschaftlicher Integrität. Ein zentraler Gedanke, der sich praktisch durch Nida-Rümelins gesamtes philosophisches Œuvre und Engagement zieht, beruht auf der humanistischen Auffassung, dass zwischen den Konzepten Rationalität, Freiheit und Verantwortung ein enger, ja unaufgebbarer Zusammenhang besteht. Es ist daher naheliegend, in einer Festschrift für Nida-Rümelin Texte zu präsentieren, die sich im weitesten Sinn mit seinen Positionen zu diesen Konzepten auseinandersetzen. https://doi.org/10.1515/9783111433233-001
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Als Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Georg-August-Universität Göttingen, der Eberhard Karls Universität Tübingen, als Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin und als Rektor der Humanistischen Hochschule Berlin und durch seine zahlreichen Gastprofessuren im Ausland hat Nida-Rümelin Generationen von Studierenden inspiriert und geprägt. Diese Festschrift versammelt Beiträge von Weggefährten, Schülern und Kollegen Nida-Rümelins, die die Bandbreite und Tiefe seines philosophischen Schaffens reflektieren. Mit dieser Festschrift wird nicht nur einem herausragenden Philosophen gedacht, sondern auch dem Public Intellectual und Hochschullehrer: Herzlichen Glückwunsch zum 70. Geburtstag, Julian Nida-Rümelin! Die vorliegende Sammlung von Beiträgen will darüber hinaus dazu anregen, sich in die facettenreiche Welt der Philosophie Nida-Rümelins zu vertiefen. In den einzelnen Beiträgen wird von seinem ethischen Humanismus bis hin zu seiner Strukturellen Rationalität ein breites philosophisches Spektrum ausgeleuchtet. Zentrale Zielsetzung der Beiträge bleibt dabei die Frage, wie diese Ideen in unserem täglichen Leben konkretisiert werden können. Denn in Anbetracht der zunehmenden Digitalisierung unserer Welt ist es von besonderer Relevanz, Nida-Rümelins Philosophie auf die Herausforderungen und Chancen dieser neuen – digitalen – Ära anzuwenden. Den verschiedenen Beiträgen – und Theorien – gemeinsam ist der Rekurs auf die menschliche Autorschaft. In diesem Sinne ermutigt Nida-Rümelins Philosophie, nicht nur passiv im eigenen Leben zu reagieren, sondern proaktiv die Rolle des Autors seines Lebens zu übernehmen. Diese Autorschaft manifestiert sich einerseits in der Fähigkeit, Gründe zu geben und zu nehmen und andererseits in der Möglichkeit, von ihnen affiziert zu werden. Es ist dieses Zusammenspiel von Vernunft und Verantwortung, das den Kern seines ethischen Humanismus ausmacht. Die vorliegenden Beiträge bieten somit im Gesamt nicht nur einen Einblick in Nida-Rümelins vielschichtige Philosophie, sondern laden zudem auch dazu ein, darüber nachzudenken, wie diese Ideen in unseren je eigenen Kontexten Anwendung finden können. Sie öffnen den Raum für Diskurs und Reflexion über die Grundlagen unseres Handelns und die Gestaltung unserer gemeinsamen, ethisch wünschenswerten Zukunft. Die Sammlung beginnt mit einem Beitrag von Klaus Staudacher, der dort NidaRümelins Verantwortungskonzeption und ihre zentrale Bedeutung für dessen Position des Digitalen Humanismus beleuchtet. Zugleich wird in dem Text dafür argumentiert, dass auf Grundlage dieser Verantwortungskonzeption den beiden wichtigsten Herausforderungen des Digitalen Humanismus, dem „mechanistischen“ Paradigma (‚Menschen sind auch nur Maschinen‘) und dem „animistischen“ Paradigma (‚Maschinen sind (wie) Menschen‘), überzeugend begegnet werden kann. Im Anschluss daran untersucht Fiorella Battaglia, welche neuen Formen der Entmenschlichung sich durch die Interaktion von Mensch und Maschine ergeben
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können. Besonderes Augenmerk richtet sie dabei auf das Problem der (fehlenden) menschlichen Kontrolle. Niina Zuber und Dorothea Winter befassen sich mit dem gleichen Thema – der Mensch-Maschine-Interaktion – setzen ihren Fokus jedoch grundlegender, nämlich hinsichtlich der zunehmenden Allgegenwart digitaler Technologien allgemein und der Bedeutung, die menschlicher Autorschaft und Urheberschaft dabei zukommt. Anhand des Konzepts des ethischen Humanismus von Nida-Rümelin versuchen sie darzulegen, wie dieser die menschliche Autorschaft stärken kann und so eine ethische Lebensweise ermöglicht werden kann. Jörg Löschke verbindet Nida-Rümelins Konzeption Struktureller Rationalität mit der Idee, wonach intrinsische Werte selbst auf Strukturen beruhen und somit Gründe generieren. Die Ansätze erweisen sich seiner Argumentation zufolge als komplementär; allerdings hat diese Komplementarität offenbar zur Folge, dass auch Konsequentialisten einer solchen Theoriekombination zustimmen können. Dietmar von der Pfordten befasst sich in seinem Text mit Nida-Rümelins Charakterisierung von Freiheit als der Fähigkeit, sich von Gründen leiten bzw. affizieren zu lassen. Von der Pfordten geht dabei, wie Nida-Rümelin, davon aus, dass eine Person immer dann frei ist, wenn sie in ihrem Verhalten von Gründen geleitet ist (oder wie er sich ausdrückt: wenn Gründe für ihr Verhalten bestehen). Anders als Nida-Rümelin hält er es jedoch für möglich, dass ein Verhalten auch dann frei sein kann, wenn es nicht von Gründen geleitet ist. Zwar erfolge menschliches Handeln regelmäßig mit Gründen. Es gebe jedoch auch Verhaltensweisen, die bewusst und gewollt gesteuert sind, und damit Handlungscharakter aufweisen, die aber in dem Sinne grundlos seien, dass die sie vollziehenden Personen abgesehen von der zur Handlung führenden Intention keinen weiteren Grund für die Handlung anführen könnten. Mit Erasmus Mayrs Beitrag widmet sich ein weiterer Text der Verantwortungskonzeption Nida-Rümelins. Mayr hält Nida-Rümelins Position, dass wir genau für das verantwortlich sind, für das wir Gründe haben, in Hinblick auf viele Konstellationen für plausibel. Er sieht jedoch in Fällen, in denen wir anders hätten handeln können, als wir tatsächlich gehandelt haben, und in denen unser Handeln zwar nicht gerechtfertigt, aber doch entschuldigt ist, Beispiele für Verhalten, für das wir nicht verantwortlich sind, obwohl es von Gründen geleitet war. Mayr plädiert vor diesem Hintergrund dafür, die Idee der Leitbarkeit durch Gründe eher als ein ausfüllbares und ausfüllungsbedürftiges Schema für verschiedene Formen von Verantwortung zu verstehen, und noch nicht als eine vollständige Charakterisierung oder Erklärung dessen, was Verantwortung ist. Asmus Trautsch nimmt das Thema der individuellen Lebensform, basierend auf Nida-Rümelins Struktureller Rationalität auf. Sein Vorschlag besagt, dass existenzielle Entscheidungen in transformativen Erfahrungen wurzeln, die passiv er-
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lebt und dann affirmativ angenommen werden, um als Quelle von Gründen für Projekte und Lebensformen zu dienen. Timo Greger führt das Thema der Entscheidung weiter aus und untersucht am Beispiel der Partnerwahl, wie wir kluge Entscheidungen treffen können. Greger arbeitet zunächst vier Herausforderungen heraus, die die Partnerwahl zu einem besonders schwierigen Unterfangen machen. Daran anknüpfend erläutert er, inwiefern die aristotelische Konzeption der prohairesis Lösungsansätze für das Problem der Partnerwahl bietet. Abschließend argumentiert Greger für die These, dass der prohairesis-Ansatz eine Klammer darstellt zwischen Nida-Rümelins jeweiligen Konzeptionen von Struktureller Rationalität und Lebensform. Nach diesen Beiträgen, die sich auf Nida-Rümelins Strukturelle Rationalität und die genuin menschliche Fähigkeit des Gebens und Nehmens von Gründen beziehen, werden die humanistisch-ethischen Aspekte Nida-Rümelins Philosophie diskutiert. Der Beitrag von Georgios Karageorgoudis widmet sich der Rolle von Argumenten unter dem Gesichtspunkt, dass in ihnen Gründe in spezifische Beziehungen zueinander gesetzt werden. Argumente sind eine Weise, wie Individuen reflexiv zu Gründen Stellung nehmen. Der Artikel vergleicht verschiedene Theorien der Argumentation untereinander und mit der Konzeption formaler Logik. Samuel Pedziwiatr skizziert in seinem Beitrag die Humanistische Semantik und Nida-Rümelins Modifikation des Griceschen Kommunikationsmodells. Hierbei wird die Humanistische Semantik gegen Einwände verteidigt und in den Kontext der erkenntnistheoretisch kohärentistischen Theorie Struktureller Rationalität gestellt, wodurch ein Bogen zu dem ersten Teil des Sammelbandes gespannt wird. Michael von Grundherr zeigt anhand psychologischer Feldstudien zum Mobbing in Schulen, dass Schüler mit geringer moralischer Deliberationskompetenz eher zu aggressiven Gruppen neigen und moralische Normen verletzen. Diese Ergebnisse unterstützen die Annahme eines „reasons account“, den auch Nida-Rümelin vertritt. Ebenfalls mit Bezug auf junge Menschen befasst sich Martin Mettin mit der Anleitung derselben zu moralischer und intellektueller Autonomie und dem Paradoxon der Entwicklung eines „inneren Kompasses“ ohne natürliche Orientierung. Während in der traditionellen Erziehung oft äußere Ziele im Vordergrund stehen, rückt Mettins Ansatz humanistische Ideale in den Vordergrund, die auf Selbstbestimmung und ethische Entscheidungsfindung abzielen und in Kohärenz mit NidaRümelins Auffassungen stehen. Einem ganz anderen Schwerpunkt von Nida-Rümelins breitem Forschungsfeld widmen sich die darauffolgenden Beiträge zu den Dynamiken kollektiver und individueller Entscheidungsfindung und der Entscheidungstheorie. Auch bei diesen Beiträgen wird versucht, die philosophische Theorie auch auf die gesamtgesellschaftliche Relevanz hin zu prüfen: Denn in einer Zeit, in der komplexe gesell-
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schaftliche Probleme unsere Aufmerksamkeit benötigen, stellt sich die Frage nach den Mechanismen, die uns als Einzelne und als Gemeinschaften leiten, in neuer Brisanz. In diesem Sinne befasst sich Jan Gogoll in seinem Beitrag mit der Anwendung der Spieltheorie als zentrales Instrument für die Behandlung und Analyse philosophischer Fragestellungen, insbesondere im Bereich der praktischen Philosophie im Hinblick auf die Entstehung von Gesellschaftsverträgen. Martin Rechenauer untersucht ein berühmtes Resultat aus der Logik kollektiver Entscheidungen, das Theorem von Arrow. Er argumentiert, dass dieses Resultat in seiner systematischen Bedeutung überschätzt wird, weil, das zentrale Axiom der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen als alles andere als überzeugend anzusehen ist, da es wesentliche Informationen, etwa über Indifferenzklassen innerhalb der individuellen Präferenzen, ausschließt. Die darauffolgenden Beiträge beschäftigen sich mit Nida-Rümelins politischer Philosophie. Dabei werden Fragen der Gerechtigkeit, des Gemeinwohls und der demokratischen Teilhabe näher beleuchtet: Wie können Nida-Rümelins Konzept der Autorschaft und das der ethischen Verantwortung in die politische Dimension eingebettet werden, um eine gerechte und lebenswerte Gesellschaft zu gestalten? Den Einstieg macht ein Gedankenexperiment, ein Ausflug auf eine Zwillingserde mit dem libertären Alter Ego von Nida-Rümelin von Fabian Wendt. Das AlterEgo teilt dabei Nida-Rümelins philosophische Grundüberzeugungen: den Pragmatismus, den Kohärentismus, den anthropologischen Humanismus, den unaufgeregten Realismus und so weiter. Allein was die politische Philosophie angeht, steht Alter-Ego, anders als „unser“ Nida-Rümelin, fest in der klassisch-liberalen bzw. libertären Tradition von John Locke, Adam Smith, Friedrich Hayek und Robert Nozick. Der Beitrag von Elias Unger setzt sich kritisch mit Versuchen auseinander, Menschenrechte aus einem einzigen Prinzip abzuleiten oder sie im Hinblick auf eine einzige Funktion hin zu begründen. Unger teilt dabei Nida-Rümelins generelle Skepsis gegenüber Reduktionismen in der Ethik und in der Politischen Philosophie. Die Problematik derartiger Ansätze, nämlich dass sie die Vielfalt der Gründe, die für einzelne Handlungen sprechen, vernachlässigen und damit eine extreme Verkürzung unserer lebensweltlichen Begründungspraxis darstellen, sieht er dabei auch bei menschenrechtlichen Reduktionismen als gegeben an. Vor diesem Hintergrund plädiert Unger dafür, Menschenrechte als diskursiv zu ergründendes Konzept aufzufassen. Da ein diskursiver Ansatz nicht von vornherein auf eine bestimmte Sorte von Gründen festgelegt sei, lasse er eine Vielzahl an Gründen für die Geltung von Menschenrechten zu. Auf diese Weise sei auch ein Verständnis von Menschenrechten als historisch offenenes Konzept gewährleistet, das immer wieder aufs Neue kritisch überprüft und gegebenenfalls diskursiv weiterentwickelt werden muss.
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Ariane Gärtners Beitrag legt hingegen dar, warum der philosophische Humanismus im Verständnis Nida-Rümelins adäquate Antworten auf zentrale politische Problemstellungen unserer Zeit bietet, Angst vor Dystopien nehmen kann, und nicht zuletzt auf die bedeutsamste aller Fragen, nämlich die der Wehrhaftigkeit der Demokratie selbst, abzielt, um die es ohne die Urteilskraft des Einzelnen schlecht bestellt wäre. Die Urteilskraft des Einzelnen unterstützend betont John-Stewart Gordon, dass Protestwahlen als eine Form von „bad voting“ verstanden werden müssen. Er unterstützt dabei Brennans These, dass schlecht informierte Wähler nicht wählen sollten, argumentiert damit gegen die Akzeptanz von Protestwahlen als politisch legitim. Katja Vogts Beitrag argumentiert anschließend für eine Interpretation der Stoiker, die die sokratische Prämisse vertritt, dass Tugend Wissen ist: Um tugendhaft zu werden, müssen wir Wissen über die Welt erlangen. Dieses Wissen verändert, so die Stoiker, unser Selbstverständnis: Wir sind Teil eines Ganzen. Dieses Verständnis geht mit einer Haltung der Zugehörigkeit zu allen Menschen einher, sowie mit Ehrfurcht für die Welt und all ihre Bestandteile. Der Wissensbegriff führt Nikil Mukerji in seinem Beitrag in eine Erörterung zum Abgrenzungsproblem von Wissenschaft und Pseudowissenschaft. Hierzu führt Mukerji den Begriff des Ethos ein und zeigt anhand von Nida-Rümelins EthosKonzept, dass dieses den Kern jeder Wissenschaft bildet. Georg Marckmann erörtert in seinem Text methodologische Grundlagen der Anwendung eines kohärentistischen Ansatzes der Ethikbegründung auf die Bereiche Patientenversorgung und Public Health. Im Sinne einer solchen Herangehensweise und im Anschluss an entsprechende Überlegungen von Rawls und Nida-Rümelin geht Marckmann davon aus, dass angesichts ungelöster moralphilosophischer Grundlagenkontroversen die Annahme eines einzigen letztgültigen Moralprinzips oder einer allumfassenden Moraltheorie nicht überzeugend ist, und es stattdessen darum geht, die in einer Gemeinschaft bereits etablierten moralischen Überzeugungen in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen. Für das Gebiet der Medizinethik lassen sich nach Marckmann mit einem kohärentistischen Begründungsverfahren dabei die vier als Bewertungsmaßstäbe dienenden Prinzipien Wohltun, Nichtschaden, Respekt der Autonomie und Gerechtigkeit rekonstruieren, die er dann für die Themenbereiche Patientenversorgung und Public Health in einem mehrstufigen Verfahren weiter konkretisiert und spezifiziert. Ralf Schöppner untersucht in seinem Beitrag die Differenz zwischen der Idee von Humanismus als eine nichtreligiöse Weltanschauung, wie sie zahlreiche humanistische Organisationen verstehen und Humanismus als eine philosophisch begründete Leitidee, die zustimmungsfähig und verbindlich sein soll für alle Menschen, unabhängig von ihrer jeweiligen Religion oder Weltanschauung, wie
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Nida-Rümelin sie postuliert. Dabei vertritt Schöppner die These, dass die Differenz primär eine der Begründungsansprüche darstellt. Abschließend befasst sich Kathrin B. Zimmers Beitrag mit den tiefgreifenden Auswirkungen der digitalen Transformation auf den Kultursektor und bietet den Abschluss des Sammelbandes mit praktischen Einblicken in den Kultursektor und Nida-Rümelins aktive Rolle darin. apl. Prof. Dr. Martin Rechenauer Klaus Staudacher Dorothea Winter Dr. Niina Zuber
Inhalt Klaus Staudacher 1 Die Konzepte von Vernunft, Freiheit und Verantwortung in Nida-Rümelins Position des Digitalen Humanismus 1 Fiorella Battaglia 2 Über menschliche Kontrolle und Entmenschlichung
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Niina Zuber und Dorothea Winter 3 Digitaler Humanismus: Die unverzichtbare Rolle menschlicher Autorschaft im Zeitalter der Technologie 31 Jörg Löschke 4 Gründe, Werte und Strukturen
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Dietmar von der Pfordten 5 Freiheit als die Fähigkeit, sich von Gründen leiten zu lassen? – Zu 53 Julian Nida-Rümelins Freiheitstheorie Erasmus Mayr 6 Verantwortung, alternative Handlungsmöglichkeiten und Entschuldigungen 67 Asmus Trautsch 7 Transformative Erfahrung als Quelle von Gründen
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Timo Greger 8 Was ist prohairesis? Oder: Wie ich bei der Partnerwahl zumindest nicht alles falsch mache. Von der Kunst kluge Entscheidungen integer zu treffen 93 Georgios Karageorgoudis 9 Der Vorrang der Gründe und die Entwicklung der 107 Argumentationstheorie
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Inhalt
Samuel Pedziwiatr 10 Sprache und Gründe. Zur humanistischen Semantik Julian 125 Nida-Rümelins Michael von Grundherr 11 Handeln aus moralischen Gründen – eine empirische Perspektive 139 Martin Mettin 12 Auf der Suche nach einem Kompass: Philosophieren mit Kindern als 151 Beitrag zur humanen Bildung Jan Gogoll 13 Kooperation, Hirsche und der Wert von Institutionen
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Martin Rechenauer 14 Warum man auf Arrows Unabhängigkeitsaxiom verzichten sollte 179 Fabian Wendt 15 Ein Ausflug zur Zwillingserde: Das libertäre Alter Ego von Julian Nida-Rümelin 191 Elias Unger 16 Zum Verständnis der Menschenrechte jenseits philosophischer Reduktionismen 205 Ariane Gärtner 17 Zur politischen Dimension des philosophischen Humanismus John-Stewart Gordon 18 Bemerkungen zur Immoralität von Protestwahlen Katja Vogt 19 Stoic Cosmopolitanism
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Nikil Mukerji 20 Das Ethos der epistemischen Rationalität und das Abgrenzungsproblem in der Wissenschaftsphilosophie
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Georg Marckmann 21 Kohärentistisch begründete Ethik in Medizin und Public Health: 271 Methodische Grundlagen Ralf Schöppner 22 Humanismus – Leitkultur oder Weltanschauung?
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Kathrin B. Zimmer 23 Mit Strategie in die Digitale Transformation – Verantwortung von Kulturinstitutionen im 21. Jahrhundert 299 Personen- und Sachregister
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Klaus Staudacher
1 Die Konzepte von Vernunft, Freiheit und Verantwortung in Nida-Rümelins Position des Digitalen Humanismus Abstract: The concepts of reason, freedom and responsibility in Nida-Rümelin’s position of Digital Humanism. This article deals with Nida-Rümelin’s concept of responsibility and its central importance for his position of Digital Humanism. The text also argues that on the base of this concept of responsibility, which is characterized by a reason-based understanding of freedom and reason, the two most important challenges of Digital Humanism, the mechanistic paradigm („humans are machines“) and the animistic paradigm („machines are (like) humans“) can be convincingly met.
Einleitung Julian Nida-Rümelin hat in den letzten Jahren in mehreren Monografien zu zahlreichen gesellschaftlich und politisch relevanten Themen Stellung bezogen. Ein Thema, dem er dabei in Form der von ihm entwickelten Position des Digitalen Humanismus ¹ besonderes Augenmerk gewidmet hat, ist der Prozess der Digitalen Transformation mit seinen Chancen und Risiken. Diese Position ist nun aber nicht nur eine Antwort auf eine besonders aktuelle und bedeutsame gesellschaftliche Herausforderung; durch ihr schon in der Bezeichnung deutlich werdendes humanistisches Fundament ist sie vielmehr in ganz speziellem Maße verankert in der Philosophie Nida-Rümelins und seiner Konzeption von Vernunft, Freiheit und Verantwortung. ² Der folgende Beitrag will diese Verankerung näher beleuchten. Au-
1 Nach Selbstauskunft verwendet Julian Nida-Rümelin die Bezeichnung „Digitaler Humanismus“ seit 2014 und hat sie dann in Nida-Rümelin und Weidenfeld 2018, sowie in späteren Vorträgen und Publikationen systematisiert. Unterdessen wird der Begriff von vielen weiteren Personen gebraucht, die damit aber zum Teil ganz unterschiedlichen Perspektiven auf den Begriff der Digitalen Transformation zum Ausdruck bringen wollen. Im Folgenden wird es ausschließlich um Julian NidaRümelins Konzeption des Digitalen Humanismus gehen. 2 Interessanterweise ist es Nida-Rümelin selbst dabei „erst spät klar geworden, dass meine Art und Weise zu philosophieren und meine zentralen philosophischen Thesen von einer humanistischen Grundeinstellung zusammengehalten sind“ (Nida Rümelin, 2023, V). https://doi.org/10.1515/9783111433233-002
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ßerdem argumentiere ich in dem Text dafür, dass auf Grundlage dieser Verantwortungskonzeption den beiden wichtigsten Herausforderungen des Digitalen Humanismus, dem „mechanistischen“ Paradigma (‚Menschen sind auch nur Maschinen‘) und dem „animistischen“ Paradigma (‚Maschinen sind (wie) Menschen‘), überzeugend begegnet werden kann.³ Der Beitrag beginnt mit einer kurzen Darstellung der wesentlichen humanistischen Merkmale des Digitalen Humanismus.
1 Die wesentlichen humanistischen Merkmale des Digitalen Humanismus Der Prozess der Digitalen Transformation ist mit Chancen und Risiken verbunden. Wir sind diesem Prozess nicht ausgeliefert. Vielmehr ist an uns, ihn orientiert an menschlichen Bedürfnissen, inklusiv und nach demokratischen Maßstäben zu gestalten. Der Digitale Humanismus plädiert dabei für einen instrumentellen Umgang mit der Digitalisierung – was kann wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell nützlich sein, und wo lauern potenzielle Gefahren? – und versteht sich als eine Ethik für das digitale Zeitalter, die den Prozess der digitalen Transformation gemäß den Kerngedanken der humanistischen Philosophie interpretiert, begleitet und gestaltet (Nida-Rümelin und Staudacher 2023, 17–18). Was aber sind die Kerngedanken des Humanismus? Der Begriff Humanismus hat ein breites Bedeutungsspektrum mit unterschiedlichen historischen Bezügen, wie etwa dem italienischen Frühhumanismus (Petrarca), dem deutschen Humanismus im 15. und 16. Jahrhundert (Erasmus) oder dem Neuhumanismus im 19. In der Philosophie Nida-Rümelins steht dieser Begriff jedoch nicht für eine bestimmte historische Epoche und auch nicht für ein spezifisch westliches oder europäisches Kulturphänomen. Er versteht unter Humanismus vielmehr eine bestimmte Vorstellung von dem, was das Menschsein kulturübergreifend eigentlich ausmacht, verbunden mit einer Praxis, die diesem humanistischen Ideal so weit wie möglich entspricht. Im Zentrum humanistischer Philosophie und humanistischer Praxis steht dabei für ihn die Idee menschlicher Autorschaft: Menschen sind Autorinnen und Autoren ihres Lebens, sie tragen als solche Verantwortung und sind frei. Freiheit und Verantwortung sind zwei sich wechselseitig bedingende Aspekte
3 Dabei werde ich mich aus Platzgründen auf solche Argumente beschränken, die sich mehr oder weniger unmittelbar aus Nida-Rümelins Verantwortungskonzeption ergeben. Siehe für weitere Argumente Nida-Rümelin 2022.
1 Die Konzepte von Vernunft, Freiheit und Verantwortung
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menschlicher Autorschaft. Autorschaft ist wiederum an Vernunftfähigkeit gebunden. […] Diese Trias aus Vernunft, Freiheit und Verantwortung spannt ein Cluster von normativen Begriffen auf, der das humanistische Verständnis der conditio humana bestimmt und in einem langwierigen kulturellen Prozess über Jahrhunderte sowohl die lebensweltliche Moral, wie die Rechtsordnung prägt. Diese normative Begrifflichkeit gruppiert sich um das Phänomen der Affektion durch Gründe. (Nida-Rümelin 2022, 29)
Der Kerngedanke humanistischer Philosophie und Praxis, die menschliche Autorschaft, lässt sich also nach Nida-Rümelin durch die Art und Weise charakterisieren, wie wir uns gegenseitig Verantwortung zuschreiben und uns dabei als vernünftige und zumindest grundsätzlich auch freie Wesen behandeln. Um dieses Verständnis humanistischer Praxis noch besser zu verstehen, wollen wir im folgenden Abschnitt den engen Zusammenhang näher untersuchen, der in der Philosophie Nida-Rümelins zwischen den Konzepten von Vernunft, Freiheit und Verantwortung besteht.
2 Der Gründe-basierte Zusammenhang zwischen Verantwortung, Freiheit und Vernunft Der Begriff der Verantwortung ⁴ ist kein isoliert zu betrachtendes Konzept, sondern steht in enger Beziehung zu den Begriffen Freiheit und Vernunft und, damit zusammenhängend, auch zu dem Begriff der Handlung (Nida-Rümelin 2011, 19–33 und 53). Um zu klären, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um Verantwortung zuzuschreiben, sollen daher zunächst diese Begriffe näher erläutert werden. Es ist naheliegend, genau diejenigen Handlungen (aber auch die ihnen zugrunde liegenden Entscheidungen) als vernünftig bzw. rational anzusehen, für die alles in allem betrachtet gute Gründe sprechen (Nida-Rümelin 2020, 22–23 und 325); denn Sätze wie: ‚Es ist vernünftig/rational, die Handlung h zu vollziehen, aber alles in allem betrachtet sprechen gute Gründe dagegen, h zu tun‘ bzw. ‚Es ist unvernünftig/irrational, die Handlung h zu vollziehen, aber alles in allem betrachtet sprechen gute Gründe dafür, h zu tun‘, sind schon rein sprachlich gesehen überaus irritierend. Vernunft lässt sich vor diesem Hintergrund als die Fähigkeit charakte4 Die folgenden Überlegungen beziehen sich ausschließlich auf persönliche Verantwortung. Politische Verantwortung kann dagegen auch ohne persönliches Fehlverhalten zugeschrieben werden. Um eine effektive öffentliche Kontrolle zu gewährleisten, hat dabei eine Ministerin oder ein Minister in letzter Instanz für alle Entscheidungen des von ihr oder ihm geleiteten Ministeriums einzustehen. Diese Art von Verantwortlichkeit beruht dabei weitgehend auf einer Fiktion, denn angesichts der großen Anzahl von täglich innerhalb eines Ministeriums zu verzeichnenden Einzelvorgängen ist eine echte Einzelfallüberprüfung von der Ministerin praktisch gar nicht zu leisten (vgl. dazu genauer Nida-Rümelin 2011, 147–149).
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risieren, die Gründe, an denen sich unsere Handlungen, Überzeugungen und Einstellungen orientieren, angemessen zu deliberieren.⁵ Freiheit ist dann die Möglichkeit, genau den in einem solchen Abwägungsprozess für besser befundenen Gründen auch folgen zu können; wenn ich frei bin, sind es also jeweils meine durch Deliberation ermittelten Gründe, die mich leiten, so oder so zu urteilen und zu handeln (Nida-Rümelin 2020, 384–385).⁶ Aber was sind Gründe? ⁷ Liegt ein Unfallopfer schwer verletzt und ohne Hilfe am Straßenrand, dann hat man einen Grund, diesem zu helfen (z. B. durch Erste Hilfe oder indem man einen Krankenwagen ruft). Oder wenn Peter Fritz verspricht, ihm am kommenden Wochenende beim Umzug zu helfen, dann hat Peter einen Grund, dies am kommenden Wochenende auch zu tun. Es mag Umstände geben, die dagegensprechen; diese Umstände sind dann aber selbst wiederum Gründe, nämlich eben gewichtigere Gründe, wie z. B. der Grund, dass Peters Mutter am Wochenende seiner Hilfe bedarf, weil sie schwer erkrankt ist. Aber ein Versprechen
5 Die hier vertretene Gründe-basierte Vernunftkonzeption ist zu unterscheiden von einem rein instrumentellen Vernunftverständnis im Sinne von „Zweckrationalität“, demzufolge eine Handlung genau dann rational bzw. vernünftig ist, wenn sie geeignet ist, die mit der Handlung verfolgten Ziele zu erreichen. Denn es gibt zahlreiche Handlungen, die die Ziele der handelnden Personen zwar optimal verwirklichen, gegen deren Ausführung aber die besten Gründe sprechen und die wir daher als unvernünftig bezeichnen können. So wird man z. B. insbesondere die von den Nazis begangenen Verbrechen auch dann als verwerflich brandmarken wollen, wenn ihre Präferenzen durch diese Taten optimal erfüllt worden sind; auch kann kein Zweifel bestehen, dass die besten Gründe dagegen sprechen, das zu tun, was die Nazis getan haben. Der denkbare Einwand, hier würden Vernunft/Rationalität und Moral unzulässigerweise in eins gesetzt, da die Taten der Nazis zwar klarerweise moralisch falsch waren, aber im Sinne der Präferenzen der Täter eben doch möglicherweise rational, geht hier fehl. Rationale Handlungen soll man ausführen, irrationale hingegen nicht (eine Aussage wie: ‚Deine Vorgehensweise ist völlig irrational‘ ist klar als Vorwurf formuliert). Dieser Sollens-Charakter (un)vernüftiger/(ir)rationaler Handlungen spricht gegen eine Trennung zwischen Gründe-basierter Vernunft und Moral, denn eine moralisch gebotene Handlung kann zwar „zweckirrational“, aber nicht unvernünftig sein. (Vgl. gegen die Trennung von Vernunft und Moral auch Nida-Rümelin 2020, 325). 6 Durch den Zusammenhang mit dem Gründe-geleiteten Abwägungsprozess wird deutlich, dass mit Freiheit hier nicht lediglich Handlungs(vollzugs)freiheit gemeint ist. Letztere liegt bereits dann vor, wenn der Akteur nicht durch äußere Hindernisse daran gehindert wird, das zu tun, was er will, und kann auch bei klar als unfrei zu qualifizierenden Zwangshandlungen von Geisteskranken oder schwer Süchtigen gegeben sein (Merkel 2008, 11–12). 7 Aus Platzgründen beschränke ich mich im Folgenden auf praktische Gründe. Die hier vorgenommenen Charakterisierungen lassen sich jedoch auf theoretische Gründe (d. h. Gründe für theoretische Überzeugungen) übertragen (Nida-Rümelin 2020, 332–334 und 352–354).
1 Die Konzepte von Vernunft, Freiheit und Verantwortung
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gegeben zu haben ist zunächst einmal – zumindest in aller Regel – für sich genommen ein Grund, gemäß dem Versprechen zu handeln.⁸ An diesen beiden Beispielen kann man zwei wesentliche Merkmale von Gründen erkennen. Zum einen, dass Gründe normativ sind, denn wenn ein Grund für eine Handlung spricht, dann soll man diese Handlung auch ausführen, sofern nicht gewichtigere Gründe dagegen sprechen;⁹ dass Gründe normativ sind, ist dabei so zu verstehen, dass sie irreduzibel normativ sind; das bedeutet, dass man die Aussage, dass jemand einen Grund für eine Handlung hat, nicht naturalistisch, und damit nicht ohne Rückgriff auf normatives Vokabular reformulieren kann.¹⁰ Und zum anderen, dass sie objektiv sind; damit ist hier gemeint, dass die Aussage, dass etwas ein guter Grund ist, sich nicht übersetzen lässt in Aussagen über mentale Zustände. So besteht der Grund, Fritz bei dem versprochenen Umzug zu helfen, für Peter auch dann noch, wenn er dazu auf einmal keine Lust mehr hat. Und der Grund, dem Unfallopfer zu helfen, verschwindet ebenfalls nicht dadurch, dass man gerade andere Präferenzen hat, oder weil man z. B. der kruden Überzeugung ist, dass Unfallopfer verdiene keine Hilfe. Subjektive Gründe gibt es genauso wenig wie subjektive Tatsachen! (Nida-Rümelin 2020, 344–346).¹¹
8 Eine Ausnahme sind lediglich Versprechen, deren Erfüllung moralisch fragwürdig oder gar verboten ist (wie etwa das Versprechen, eine andere Person grausam umzubringen). Auch hier ist es dann aber wieder ein Grund, der gegen die Einhaltung des Versprechens spricht, nämlich genau sein moralisch fragwürdiger oder verbotener Inhalt. 9 Mit der Normativität von Gründen hängt eng ihre Inferenzialität zusammen, die es ermöglicht, von empirischen Tatsachen auf normative Tatsachen zu schließen: Die empirische Tatsache, dass ein schwer verletztes Opfer hilflos am Straßenrand liegt, spricht dafür, der Person zu helfen (normative Tatsache), weil sie sonst bleibende körperliche Schäden davontragen oder sogar sterben könnte (Inferenz). (Siehe zur Inferenzialität von Gründen genauer Nida-Rümelin 2020, 335–336). 10 Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass wir den Ausdruck „Grund“ manchmal auch im Sinne von Ursache verwenden. Zum Beispiel, wenn wir so etwas sagen wie: „Der Grund für die Explosion war eine defekte Gasleitung“. Daraus dass man Grund auch in der Bedeutung von Ursache gebrauchen kann, folgt aber natürlich nicht, dass beide Begriffe immer dieselbe Bedeutung haben. Man kann gute, akzeptable oder schlechte Gründe für eine Handlung haben, aber eben nicht gute, akzeptable oder schlechte Ursachen. 11 Das heißt nicht, dass subjektive Elemente wie Wünsche, Vorlieben oder Entscheidungen für die Beurteilung, ob etwas ein guter Grund ist, irrelevant wären. Und was für die eine Person in einer bestimmten Situation ein guter Grund ist, muss für eine andere Person, die sich in derselben Situation befindet, aber eben andere Präferenzen hat, nicht unbedingt ein guter Grund sein. Aus dem bloßen Umstand, dass eine Person etwas wünscht oder entscheidet, folgt aber nicht, dass sie einen guten Grund hat, den Wunsch oder die Entscheidung auch umzusetzen. Ob dazu ein guter Grund besteht, hängt nämlich vom Inhalt dieses Wunsches bzw. dieser Entscheidung ab, und die Beurteilung dieses Inhalts erfolgt selbst eben nicht nach subjektiven Kriterien.
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Was bedeutet dieses Gründe-basierte Vernunft- und Freiheitsverständnis nun für den Verantwortungsbegriff? Verantwortung setzt sowohl auf Handlungs- wie auf Willens- bzw. Entscheidungsebene zumindest die Freiheit voraus, die fragliche Handlung und die ihr zugrunde liegende Entscheidung auch unterlassen zu können (Nida-Rümelin 2005, 79–105).¹² Der sog. Semi-Kompatibilismus bestreitet dies und vertritt demgegenüber die These, dass Verantwortung auch ohne Freiheit – und damit ist hier gemeint auch unter der Annahme eines umfassenden Determinismus – möglich ist.¹³ Diese Position geht maßgeblich auf zwei Ende der 1960er- bzw. Anfang der 1970er-Jahre veröffentlichte Aufsätze des amerikanischen Philosophen Harry G. Frankfurt zurück (Frankfurt 1969, 829–839; Frankfurt 1971, 5–20), die die Debatte bis heute prägen. Die Frankfurt-Type-Examples, die im Anschluss an die von Frankfurt dort angeführten Szenarien entwickelt wurden, sollen zeigen, dass eine Person auch dann für ihre Entscheidung moralisch verantwortlich ist, wenn sie faktisch gar keine andere Möglichkeit hatte, als sich so zu entscheiden, wie sie sich entschieden hat. Bei diesen Gedankenexperimenten gewährleistet jeweils eine andere Person – z. B. ein Neurochirurg, der über eine spezielle Computervorrichtung die Entwicklung der Absichten der Versuchsperson, die sich in entsprechenden Bereitschaftspotenzialen niederschlagen, verfolgen und beeinflussen kann –, dass die Entscheidung nur im Sinne einer von ihr vorherfestgelegten Alternative (Tun oder Unterlassen) gefällt und umgesetzt werden kann. Entscheidet die Versuchsperson sich dann für diese Alternative, dann ist sie für diese Entscheidung verantwortlich, obwohl ihr aufgrund der Interventionsmöglichkeit der anderen Person gar keine andere Entscheidungsalternative offenstand; dass die fehlende Möglichkeit, sich anders entscheiden zu können, für die Frage nach der Verantwortlichkeit irrelevant sei, sieht man aus semi-kompatibilistischer Perspektive auch daran, dass die Versuchsperson sich im Falle der Entscheidungsfreiheit (also ohne Interventionsmöglichkeit von außen) genauso entschieden hätte. Dies zeige, dass Verantwortung weder Handlungs- noch Willensfreiheit voraussetze. Diese Argumentation übersieht jedoch, dass wir der Versuchsperson in dem hier geschilderten Szenario eben doch nur deswegen die Verantwortung zuschreiben, weil sie sich von sich aus zwischen zwei Möglichkeiten (Tun oder Unterlassen) für eine Alternative entschieden hat, sie also über Entscheidungsfreiheit verfügte. Maßgeblich für die Frage nach der Verantwortung ist offensichtlich, zu welchem Zeitpunkt der Neurochirurg
12 In Bezug auf Handlungen spricht man hier vom sog. „principle of alternat(iv)e possibilities (PAP)“: „a person is morally responsible for what she has done only if she could have done otherwise“ (so Frankfurts Charakterisierung des von ihm abgelehnten Prinzips in Frankfurt 1969, 829). 13 Der Semi-Kompatibilismus steht also für die Vereinbarkeit von Verantwortung und Determinismus. Anders als der Kompatibilismus, der die Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus vertritt, nimmt der Semi-Kompatibilismus bezüglich dieser Frage eine agnostische Haltung ein.
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eingreift: Erfolgt die Intervention erst nach der Entscheidung der Versuchsperson, dann verfügte sie über Entscheidungsfreiheit zwischen zwei Alternativen und ist genau deswegen auch verantwortlich; erfolgt sie hingegen zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die Versuchsperson noch in einem Abwägungsprozess befindet, und damit also bevor sie sich entschieden hat, dann ist sie nicht verantwortlich, denn die am Ende stehende Entscheidung wurde dann gar nicht von ihr herbeigeführt, sondern beruht auf einer Manipulation durch den Neurochirurgen (Nida-Rümelin 2005, 102– 103).¹⁴ Die Frankfurt-Type-Examples widerlegen also nicht, dass Freiheit eine Voraussetzung für Verantwortlichkeit darstellt. Aber sind denn unsere Entscheidungen und Handlungen wirklich frei? Handlungen unterscheiden sich von bloßem Verhalten in mehrerlei Hinsicht.Verliert bei einer Busfahrt die Insassin I infolge einer Vollbremsung derart das Gleichgewicht, dass sie auf die Person P fällt und diese sich dabei verletzt, beschreibt und bewertet man das anders, als wenn I sich von sich aus auf P fallen lässt und P dabei die gleiche Art von Verletzung davonträgt. Nur im zweiten Fall schreiben wir I Intentionen zu und nur hier würden wir von einer Handlung sprechen; im ersten Fall dagegen von einem unabsichtlichen, unwillkürlichen und damit gerade nicht von ihren Intentionen gesteuerten Verhalten. Handlungen weisen also offensichtlich neben einer rein raum-zeitlichen Verhaltenskomponente das Merkmal der Intentionalität auf.¹⁵ Eine weitere Eigenschaft von Handlungen besteht darin, dass sie Gründe-geleitet sind, d. h. dass die handelnde Person immer einen Grund bzw. Gründe für ihre Handlung hat.¹⁶ Handlungen werden in dieser Hinsicht konstituiert durch Gründe;
14 Vgl. zur fehlenden Überzeugungskraft einiger weiterer Varianten von Frankfurt-Type-Examples sowie außerdem zu deren strafrechtlicher Einordnung auch Merkel 2008, 96–104. 15 Dabei ist zu differenzieren zwischen der Handlung vorausgehenden und handlungsbegleitenden Intentionen. Erstere werden durch die Handlung erfüllt und bringen einen (wenn auch oft nur rudimentären) Deliberationsprozess in Form einer Entscheidung zum Abschluss (siehe dazu gleich die anschließenden Erläuterungen im Text); Letztere stehen für die Absichtlichkeit des die Handlung realisierenden Verhaltens. Daneben gibt es auch noch handlungsmotivierende Absichten, die sich auf die kausalen Folgen und die strukturelle Rolle der Handlung beziehen. (Nida-Rümelin 1993, 29–35; Nida-Rümelin 2005, 51–60). Wenn im Alltag die Begriffe Handlung und Verhalten in der Weise synonym verwendet werden, dass auch Handlungen als „Verhalten“ bezeichnet werden (z. B. in Formulierungen wie ‚Jetzt erkläre mir mal dein seltsames Verhalten von gestern Abend!‘), dann ist darunter – korrekterweise – intentionales Verhalten zu verstehen. 16 In aller Regel kann die handelnde Person den Grund auf Nachfrage auch angeben. Selbst wenn der Grund ihr aber entfallen sein sollte – z. B. aufgrund eines unfallbedingten Gedächtnisverlusts –, ändert das nichts an seinem Vorhandensein zum Zeitpunkt der Handlung.
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nicht unbedingt durch gute Gründe, aber sie erfolgen eben nie völlig grundlos. Damit eignet ihnen aber auch zwingend immer ein Element der Rationalität, zumindest in dem Sinne, dass man – anders als bei bloßem Verhalten, bei dem sich diese Frage gar nicht stellt – immer beurteilen kann, ob eine Handlung rational ist oder nicht; Handlungen sind, so könnte man sagen, „rationalitätsfähig“; denn wie wir gesehen haben, ist eine Handlung genau dann vernünftig, wenn insgesamt gute Gründe für sie, und unvernünftig, wenn insgesamt gute Gründe gegen sie sprechen. Von welchen Gründen wir uns leiten lassen, ist dabei das Ergebnis eines (manchmal auch sehr kurzen) Deliberationsprozesses, bei dem die unterschiedlichen Gründe gegeneinander abgewogen werden und der, wenn er abgeschlossen ist (und nur dann!), in eine Entscheidung mündet, die dann durch eine Handlung realisiert wird. Verkürzt lässt sich daher sagen: „Keine Handlung ohne Entscheidung“ (Nida-Rümelin 2005, 45–60)¹⁷. Die jeweilige Entscheidung ist dabei in dem Sinne notwendig frei, dass schon rein begrifflich ausgeschlossen ist, dass sie vor dem Abschluss des Abwägungsprozesses bereits feststeht, denn es gehört schlicht zum Wesen von Entscheidungen, dass es, bevor die Entscheidung getroffen wurde, tatsächlich etwas zu entscheiden gab. Eine Entscheidung, deren Inhalt schon feststeht, bevor sie getroffen wurde, ist von vornherein keine Entscheidung! (Nida-Rümelin 2005, 49–51). Es ist nun aber genau diese Fähigkeit, Gründe abzuwägen, d. h. die Fähigkeit zu Deliberation, die uns nicht nur zu rationalen Wesen, sondern auch verantwortlich macht (Nida-Rümelin 2011, 53). Letzteres wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass zwar Handlungen, nicht aber bloßes Verhalten Gegenstand eines Vorwurfs sein können. Während wir bei einem durch bloßes Verhalten verursachten Schaden keine Vorwürfe erheben und uns mit einer rein kausalen Erklärung zufriedengeben (im obigen Beispiel: ‚Aufgrund der durch Vollbremsung auf sie wirkenden Kräfte ist I auf P gefallen, was zu einer Verletzung von P geführt hat‘),
17 Mit dieser deliberativen Handlungskonzeption geht eine Ablehnung des sog. belief-desire-Modells einher, das man auch als Standardtheorie der Handlungsmotivation bezeichnen kann. Ihm zufolge motivieren uns ausschließlich Wünsche zum Handeln. Überzeugungen spielen nur rein instrumentell, d. h. hinsichtlich der Wahl des geeigneten Mittels eine Rolle, das eingesetzt werden muss, um den jeweiligen Wunsch zu erfüllen. Die Wünsche sind uns dabei vorgegeben oder allenfalls hervorgegangen aus anderen grundlegenderen Wünschen und entziehen sich daher jeder Kritik. Abgesehen von seiner rein „zweckrationalen“ Ausrichtung (vgl. dazu oben die Erläuterungen in Fn. 5) spricht gegen dieses (von D. Hume zumindest inspirierte) Modell vor allem, dass es die handlungsmotivierende Rolle normativer Überzeugungen verkennt. Insbesondere vermag das beliefdesire-Modell nicht zu erklären, warum wir manchmal unseren momentanen Neigungen zugunsten längerfristiger (aber gerade nicht in Form eines Wunsches aktualisierter) Interessen nicht folgen (vgl. zu diesem „Argument der intertemporalen Koordination“ und den weiteren hier vorgebrachten Einwänden Nida-Rümelin 2001, 32–38).
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erwarten wir bei einer Handlung, die andere schädigt oder beeinträchtigt, eine Begründung und, sofern dies möglich ist, eine Rechtfertigung, und d. h. Gründe, die diese Handlung rechtfertigen. Rechtfertigen muss und kann man sich aber nur für etwas, für das man auch verantwortlich gemacht werden kann. Es ist also der Umstand, dass Handlungen Gründe-geleitet sind, der uns für sie verantwortlich sein lässt. Das führt uns nun aber zu der allgemeineren Formulierung und zugleich der zentralen Aussage des hier vertretenen Verantwortungskonzepts, nämlich, dass wir für genau das Verantwortung tragen, für das wir Gründe haben (Nida-Rümelin 2011, 17 und 53 sowie passim). Neben Handlungen sind dies unsere theoretischen und normativen Überzeugungen, aber auch unsere emotiven Einstellungen,¹⁸ denn auch für sie können wir Gründe angeben und auch für sie müssen wir uns gegebenenfalls rechtfertigen (Nida-Rümelin 2011, 33–52). Der begriffliche Zusammenhang zwischen Verantwortung, Freiheit und Vernunft lässt sich vor diesem Hintergrund folgendermaßen wiedergeben: Weil bzw. sofern wir vernünftig sind, d. h. über die Fähigkeit zu Deliberation verfügen, sind wir, indem wir diese Fähigkeit ausüben und unser Handeln und Urteilen danach ausrichten, frei, und nur weil und nur in dem Maße, in dem wir frei sind, können wir verantwortlich sein. Aus dem Befund, dass unsere Praxis der Verantwortungszuschreibung ein bestimmtes Verständnis von Freiheit voraussetzt, folgt als solches selbstverständlich noch nicht, dass wir tatsächlich über diese Art von Freiheit verfügen. Es sei allerdings angemerkt, dass zumindest das Argument, gegen die Annahme menschlicher Freiheit spräche das auf einem allumfassenden Determinismus und einem universal geltenden Kausalprinzip basierende Weltbild der Naturwissenschaften, so nicht haltbar ist. So ist das Konzept umfassender kausaler Klärung, demzufolge alles, was geschieht, eine Ursache hat und durch einen gesetzmäßigen Ursache-Wirkung-Zusammenhang beschrieben werden kann, in der modernen Physik längst aufgegeben worden; und bereits die klassische Newton’sche Physik war aufgrund der in ihr auftretenden Singularitäten keineswegs deterministisch; erst recht gilt dies für die moderne irreduzibel probabilistische Physik und mehr noch für die mit noch weit komplexeren Systemen befassten Disziplinen Biologie und Neurophysiologie.¹⁹
18 Die Verantwortlichkeit für unsere emotiven Einstellungen mag vielleicht zunächst überraschen. Auch sie entziehen sich jedoch nicht gänzlich einer Begründungspflicht. So zeigen wir uns befremdet, wenn eine Person für die negativen Gefühle (wie z. B. Hass), die sie gegenüber einer anderen Person hegt, keine nachvollziehbaren Gründe anführen kann (Nida-Rümelin 2011, 48–52; 2020, 372–375). 19 Siehe dazu sowie zur Frage nach der Vereinbarkeit von menschlicher Freiheit und naturwissenschaftlicher Erklärbarkeit Nida-Rümelin 2005, 69–78; 2020, 402–404.
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3 Philosophische Herausforderungen des Digitalen Humanismus Das humanistischen Menschenbild wird im Prozess der Digitalisierung in philosophischer Hinsicht von zwei Seiten besonders herausgefordert: zum einen durch das digital erneuerte mechanistische Paradigma, demzufolge der Mensch nichts anderes ist als eine zwar komplexe, aber in ihrem Verhalten vollständig determinierte Maschine; und zum anderen durch das von Nida-Rümelin als „animistisch“ bezeichnete Paradigma, das „gewissermaßen den umgekehrten Weg der Interpretation“ geht: „Anstatt den menschlichen Geist (mentale Zustände) als Epiphänomen materieller Prozesse in einer physikalisch geschlossenen Welt zu interpretieren, und das Materielle mechanistisch zu beschreiben, wird nun das algorithmische System mit mentalen Eigenschaften ausgestattet, sofern es in seinem äußeren (Output‐) Verhalten demjenigen von Menschen hinreichend (d. h. verwechselbar) ähnelt“ (Nida-Rümelin 2022, 34).²⁰ Die animistische Sichtweise begegnet in einer besonders radikalen Variante des Konzepts von „Strong Artificial Intelligence“ (Starker KI), der zufolge es keinen kategorialen Unterschied zwischen Menschen und Softwaremaschinen gibt, und daher auch Softwaremaschienen über Bewußtsein sowie die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen verfügen.²¹ Aus der oben dargelegten humanistischen Perspektive ist das mechanistische Paradigma klar zurückzuweisen. Denn wenn es stimmt, dass Menschen handeln, also sich in ihrem Verhalten durch Gründe leiten lassen, und Gründe irreduzibel
20 Nida-Rümelin bezieht sich dabei auf Turing 1950, 433–460. In diesem Aufsatz beschreibt Turing ein „imitation game“ (später bekannt als „Turing Test“), bei dem eine Person Fragen an eine andere Person und eine Maschine (die sich beide in einem anderen Raum als die Fragestellerin befinden) richtet, um herauszufinden, wer von beiden die andere Person ist. Turing war damals der Überzeugung, dass es „in etwa 50 Jahren“ möglich sein werde, „to programme computers […], to make them play the imitation game so well that an average interrogator will not have more than 70 percent chance of making the right identification after five minutes of questioning. […] I believe that at the end of the century the use of words and general educated opinion will have altered so much that one will be able to speak of machines thinking without expecting to be contradicted“ (442). Abgesehen davon, dass Turings Prognose in zeitlicher Hinsicht zu optimistisch war, lässt sich in Zweifel ziehen, ob dieses Spiel überhaupt eine geeignete Methode ist, um zu klären, ob Maschinen über die Fähigkeit zu denken verfügen. Denn es stellt sich die Frage, ob der Turing-Test nicht eher ein Verfahren ist, mit dem sich das Vorliegen von menschlicher Leichtgläubigkeit als von wirklicher Künstliche Intelligenz ermitteln lässt. 21 Vgl. die Charakterisierung von Starker Ki („strong AI“) in der Stanford Encyclopedia of Philosophy: „‘Strong’ AI seeks to create artificial persons: machines that have all the mental powers we have, including phenomenal consciousness“ (Bringsjord und Govindarajulu 2022, section 8.1.).
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normativ sind, dann lässt sich menschliche Praxis nicht vollständig naturalistisch beschreiben. Aber wie verhält es sich mit dem animistischen Paradigma? Die von sog. Künstlicher Intelligenz auf dem Gebiet kognitiver Intelligenz vollbrachten Leistungen werden fraglos immer beeindruckender. Das gilt natürlich umso mehr, wenn sich die KI sogar bei komplexen Aufgaben als leistungsfähiger erweist als entsprechende menschliche Spezialisten. Insbesondere medienwirksame Erfolge wie die Siege von Deep Blue (2014) oder AlphaGO (ab 2015) gegen Schachbzw. GO-Großmeister – im Dezember 2017 noch überboten von dem Schach, Go und Shogi beherrschenden autodidaktischen Programm AlphaZero, das seinerseits die in diesen Spielen bis dato besten Programme schlug – tragen dazu bei, dass derartiger KI zuweilen eine geradezu ‚übermenschliche‘ Intelligenz attestiert und manchmal darüber hinaus sogar die mehr oder weniger bald bevorstehende Herrschaft von KI über die Menschheit vorausgesagt oder zumindest als reale Gefahr aufgefasst wird.²² Ein großes Potential für eine noch umfassendere Form der Vermenschlichung (also der Zuweisung menschlicher Eigenschaften) beim Umgang mit KI findet sich in einigen Reaktionen auf Chatassistenten wie ChatGPT, die die sprachliche Fähigkeit suggerieren, echte Unterhaltungen führen zu können. Und sogar in die so ureigen menschliche Domaine der Kunst ist KI mittlerweile vorgedrungen; so ist es zum Beispiel dem Projekt „The New Rembrandt“ gelungen, eine KI zu entwickeln, die ein Gemälde im berühmten Rembrandt-Stil herstellte, das praktisch nur mehr Spezialisten von einem echten Rembrandt van Rijn-Gemälde zu unterscheiden vermögen,²³ so dass sich die Frage erhebt, ob nicht auch KI auf dem Gebiet der Kunst kreativ sein kann. So imposant die hier aufgeführten Erfolge auch sein mögen, verkennen derartige Einschätzungen und die darauf beruhenden Zuweisungen menschlicher Eigenschaften an KI doch den limitierten Anwendungsbereich der genannten Programme. So funktioniert z. B. AlphaZero nur bei bestimmten, auf die Anzahl von zwei Akteuren beschränkten Spielen und kann im Gegensatz zu Menschen z. B. weder Auto fahren, noch unterrichten, noch eine Regierung führen, und es kann daher erst recht nicht die Weltherrschaft übernehmen (Russel 2020, 48). Und natürlich fehlt diesem Programm auch jegliche soziale und emotionale Intelligenz.
22 Vgl. insbesondere und prominent die Warnungen und Befürchtungen von Elon Musks: „There have been movies about this, you know, like Terminator [ …]. There are some scary outcomes. And we should try to make sure the outcomes are good, not bad.“ (Hern 2014); „AI is a fundamental risk to the existence of human civilisation“ (Gibbs 2017). 23 Bei diesem Projekt hatten 20 Data Scientists, Entwickler und KI 3D-Drucker-Spezialisten die KI mit 150 GB Daten gefüttert, die sie aus dem Einscannen von über 300 Rembrandt Gemälden gewonnen hatten (Winter 2023, 218–219).
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Menschliche Intelligenz ist also offensichtlich wesentlich vielfältiger, oder wie man sagen könnte „breiter aufgestellt“ als KI. Hochspezialisierte KI ist also menschlicher Intelligenz zwar in quantitativer Hinsicht einerseits überlegen, denn sie arbeitet in einem eingeschränkten Anwendungsbereich schneller und effizienter als diese, andererseits aber auch unterlegen, denn ihre Intelligenz ist wesentlich einseitiger ausgeprägt.²⁴ Darüber hinaus ist es aber auch in qualitativer Hinsicht problematisch, wenn algorithmisch arbeitenden Maschinen Intelligenz in ähnlicher Weise zugeschrieben wird wie Menschen. Eine solche Zuschreibung kann explizit, aber auch implizit erfolgen. Sie ist implizit, wenn wir bei der Beschreibung der Wirkungsweise von Algorithmen Begriffe verwenden, die eigentlich für die Darstellung spezifisch oder doch zumindest typisch menschlichen (und zumindest grundsätzlich mit Intelligenz assoziierten) Verhaltens reserviert sind; so etwa, wenn wir uns dabei eines intentionalistischen Vokabulars bedienen, d. h. wenn wir Algorithmen intentionale Zustände (propositionale Einstellungen, wie z. B. Überzeugungen, Wünsche, Absichten, Erwartungen, Hoffnungen) zuschreiben und z. B. so etwas sagen wie: „Das Spamfilter-Programm hat entschieden, dass es sich bei dieser E-Mail um Spam handelt“. Solche Formulierungen sind unproblematisch, wenn sie rein metaphorisch gemeint sind. Ohne das Bewusstsein, dass wir es hier lediglich mit einem übertragenen und bildhaften Sprachgebrauch zu tun haben, können sie allerdings dazu verleiten, Algorithmen-basierter KI vorschnell Fähigkeiten zuzusprechen, die sie zumindest heute definitiv noch nicht hat. So hat etwa das Spamfilter-Programm aus dem Beispielsatz sicher nicht „entschieden“, dass eine bestimmte E-Mail als Spam zu qualifizieren ist.Vielmehr ist bereits vorher bei der Programmierung (und möglicherweise zusätzlich durch Training) von menschlichen Akteuren entschieden worden, nach welchen Kriterien eine E-Mail dem Spamordner zugewiesen wird. Das Spamprogramm entscheidet nichts, sondern führt als Algorithmus lediglich Kriterien-geleitete Befehle aus und hat dabei, um im Bild zu bleiben, anders als eine ebenfalls Befehle erhaltende Soldatin auch nicht die ihr zumindest grundsätzlich offenstehende Möglichkeit, nach selbstgewählten Kriterien die Ausführung eines Befehls zu unterlassen.²⁵ Ganz allgemein fehlt gegenwärtiger (und auf absehbare Zeit wohl auch zukünftiger) KI – und zwar unabhängig davon, ob wir sie rein auf der Ebene der Symbolverarbeitung oder als neuronale Netze be-
24 Vgl. dazu auch Russel 2020, 48, der die Anlegung von identischen Intelligenz-Kriterien an Menschen und KI für genauso absurd erachtet wie die Teilnahme von Vierbeinern an einem Zehnkampf. So können zwar z. B. Pferde schneller laufen als Menschen, sie verfügen aber über keinerlei Fähigkeit zum Stabhochsprung oder zum Diskus Werfen. 25 Es ist daher völlig abwegig, wenn Erhardt und Mona schreiben, ein Spamfilter treffe aufgrund seiner Überzeugungen Entscheidungen (Erhardt und Mona 2016, 69).
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schreiben – die Fähigkeit, eigene, und das heißt hier selbstgesetzte (übergeordnete) Ziele zu erreichen, und damit ein Vermögen, das wir zumindest auch mit menschlicher Intelligenz in Verbindung bringen (Russel 2020, 9–10) und darüber hinaus auch mit der Zuschreibung von Verantwortung (Staudacher und Nida-Rümelin 2020, 17–19). So kann sich selbst das zu den erwähnten ‚übermenschlichen‘ Leistungen fähige Programm AlphaZero nicht von der ihm einprogrammierten übergeordneten Vorgabe ‚mache nur solche Züge, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, das Spiel zu gewinnen‘ distanzieren. Es ist lediglich (aber auch immerhin) intelligent in dem Sinne, dass es ein ihm von außen vorgegebenes Ziel extrem effizient erfüllt, aber es kann nicht selbst entscheiden, welches übergeordnete Ziel es verfolgen will. Ebenso wenig vermag es zu überzeugen, KI eine an menschliche Kreativität heranreichende schöpferische Fähigkeit zuzusprechen. Eine solche Zuschreibung verkennt nämlich den notwendigerweise (bestenfalls) epigonalen Charakter von Werken, die AI auf der Basis großer Datenmengen hergestellt hat (und es ist bezeichnend, dass Menschen für ihre kreativen Akte keine derartige Fülle an Daten benötigen!). Diese Datenmengen werden gewonnen aus den Kunstwerken der Künstlerin bzw. des Künstlers, dessen Kunst von der KI imitiert, vervollständigt oder in deren bzw. dessen Stil ein Werk von ihr produziert werden soll. Selbst für den Fall, dass sogar ausgewiesene Experten nicht mehr unterscheiden können, ob so ein Werk von der Künstlerin/dem Künstler oder der KI stammt, scheint mir hier klarerweise kein Kunstwerk vorzuliegen. Denn der Akt von kreativer Leistung (wenn man davon bei der KI überhaupt sprechen will), der das Werk hervorgebracht hat, ist bei KI nicht von der selben Qualität wie bei einer Künstlerlin/einem Künstler. Zwar haben auch große Künstler wie Rembrandt oder Beethoven ihre Kunstwerke nicht im „luftleeren“ Raum allein aus sich selbst heraus geschaffen, sondern waren beeinflusst und hatten gelernt von und anhand der bereits in ihrer Zeit vorhandenen Kunst. Sie haben aber daraus dann doch etwas spezifisch Neues geschaffen und nicht wie KI lediglich etwas in der Art und im Stil von bereits vorhandener Kunst. Dies möchte ich an folgendem Gedankenexperiment erläutern: Wenn man einer KI denselben Input an bereits vorhandenen Kunstwerken gibt, der Rembrandt oder Beethoven jeweils zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens zur Verfügung stand (im Falle Beethovens z. B. insbesondere Teile des Werkes von Haydn, Mozart, Bach und Händel), dann wird daraus etwas im Stil dieser Kunst entstehen, aber eben doch kein „Rembrandt“ oder „Beethoven“ (also z.B. keine Waldsteinsonate).
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Unter (zumindest partiell) vergleichbaren Ausgangsbedingungen erweist sich menschliche Kunst also als kreativer.²⁶ Und man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen: Auch Menschen, die selber keinen neuen, eigenen Stil erschaffen, aber z. B. im Stil von Rembrandt malen können, sind, da sie dazu, anders als eine KI, der das gleiche gelingt, keine Unmengen an Daten benötigen, kreativer als diese. Im Gegensatz zu KI vermögen sie offensichtlich den nicht einfach aus einer Ansammlung von Datendetails bestehenden „Geist“ des Stils zu erfassen, den sie imitieren wollen. Das animistische Paradigma ist aus humanistischer Perspektive damit ebenso abzulehnen wie das mechanistische. Denn auch wenn nicht auszuschließen ist, dass es irgendwann in ferner Zukunft KI-Systeme geben könnte, denen Vernunft, Freiheit und Autonomie in vergleichbarer Weise zukommt wie uns Menschen, bleibt festzuhalten, dass dies bei heutiger KI definitiv noch nicht der Fall ist. Es kann also kein Zweifel bestehen, dass heutiger KI keine Autorschaft zukommt, dass also KI nicht Autorin ihres „Lebens“ sein kann, das eben doch nur ein maschinelles Dasein ist. Denn nach dem hier vorausgesetzten Gründe-basierten Verständnis ist KI weder vernünftig noch frei und kann daher für ihr Verhalten auch nicht zu Verantwortung gezogen werden. Anders als Menschen kann KI nämlich als rein physisches System ihr Verhalten nicht an Gründen ausrichten und daher auch nicht handeln.²⁷ KI
26 Die Ausgangsbedingungen in dem Gedankenexperiment sind natürlich nur in Hinblick auf das bereits vorhandene künstlerische Material identisch. Da es sich bei Beethoven und Rembrandt um Wesen handelt, die lieben, leiden, Freude, Ärger, Schmerz usw. empfinden können, waren bei ihnen natürlich noch weitere Faktoren bei der Entstehung ihrer Kunstwerke relevant, die bei bisheriger KI keinerlei Rolle spielen. Der bloße Umstand, dass es KI-Systeme gibt, die Kunst(stile) imitieren können, sollte uns nicht dazu verleiten, ihnen Emotionen zuzusprechen, die bei Menschen üblicherweise vorhanden sind, wenn sie Kunst schaffen. Darüber hinaus fehlt der„KI-Kunst“ auch jedes intentional-kommunikative Element. KI will mit dem von ihr erzeugten Produkt weder etwas ausdrücken und noch etwas mitteilen. Siehe zu dieser intentional-kommunikativen Funktion von Kunst auch Nida-Rümelin und Weidenfeld 2023, 244–245. 27 Beckermann vertritt dagegen in Beckermann 2021, 118 die Auffassung, auch rein physische Systeme könnten aus Gründen handeln. Wenn z. B. ein autonomes Fahrzeug bremst, weil das vorausfahrende Fahrzeug vor einer Ampel anhält, sei „diese Tatsache sowohl eine Ursache als auch ein Grund für dieses Abbremsen“ (118). Sofern Beckermann Grund hier nicht ohnehin nur im Sinne von Ursache, sondern tatsächlich normativ versteht, ist dieses Beispiel jedoch nicht überzeugend. Man kann zwar sagen, dass die Techniker im normativen Sinn einen guten Grund hatten, das autonome Fahrzeug so zu programmieren und zu trainieren, dass es in der beschriebenen Situation anhält. Das bedeutet jedoch nicht, dass das autonome Fahrzeug selbst Gründe-geleitet war, als es abbremste. Denn das Verhalten einer Entität E ist nur dann selbst von einem Grund geleitet, wenn E ihr Verhalten an diesem Grund ausgerichtet und damit aus diesem Grund heraus gehandelt hat; dafür ist erforderlich, dass E sich diesen Grund im Zuge eines Abwägungsprozesses zu eigen gemacht hat.
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bewegt sich allenfalls im Paradigma instrumenteller Vernunft, wobei sie sich die zu erfüllenden übergeordneten Ziele nicht selber geben kann. Da KI auch nichts im eigentlichen Sinn entscheiden kann, kann sie auch nicht handeln.
Bibliographie Beckermann, Ansgar. 2021. Naturalismus. Entwurf eines wissenschaftlich fundierten Welt- und Menschenbilds. Paderborn: Brill mentis. Bringsjord, Selmer, und Naven Sundar Govindarajulu. 2022. „Artificial intelligence.“ In: Edward N. Zalta und Uri Nodelman (Hrsg.), The Stanford encyclopedia of philosophy (Fall edn). https://plato. stanford.edu/archives/fall2022/entries/artificial-intelligence (letzter Abruf 02. 04. 2024). Erhardt, Jonathan, und Mona Martino. 2016 „Rechtsperson Roboter – Philosophische Grundlagen für den rechtlichen Umgang mit künstlicher Intelligenz.“ In: Sabine Gless und Kurt Seelmann (Hrsg.), Intelligente Agenten und das Recht, Robotik und Recht, Band 9, 61–94. Baden-Baden: Nomos Verlag. Frankfurt, Harry G. 1969. „Alternate Possibilities and Moral Responsibility.“ Journal of Philosophy 66, 829–839. Frankfurt, Harry G. 1971. „Freedom of the Will and the Concept of a person.“ Journal of Philosophy 68, 5–20. Gibbs, Samuel. 2017. „Elon Musk: regulate AI to combat ’existential threat’ before it’s too late.“ The Guardian online, 17. 07. 2017. https://www.theguardian.com/technology/2017/jul/17/elon-muskregulation-ai-combat-existential-threat-tesla-spacex-ceo (letzter Abruf 02. 04. 2024). Hern, Alex. 2014. „Elon Musk says he invested in DeepMind over ’Terminator’“ The Guardian online, 18. 06. 2014. https://www.theguardian.com/technology/2014/jun/18/elon-musk-deepmind-ai-teslamotors (letzter Abruf 02. 04. 2024). Merkel, Reinhard. 2008. Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung. Baden-Baden: Nomos Verlag. Nida-Rümelin, Julian. 1993. Kritik des Konsequentialismus. München: Oldenburg Verlag. Nida-Rümelin, Julian. 2001. Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft. Stuttgart: Reclam. Nida-Rümelin, Julian. 2005. Über menschliche Freiheit. Stuttgart: Reclam. Nida-Rümelin, Julian. 2011. Verantwortung. Stuttgart: Reclam. Nida-Rümelin, Julian. 2018. Humanistische Reflexionen. 2. Aufl. Berlin: Suhrkamp Verlag. Nida-Rümelin, Julian. 2020. Eine Theorie Praktischer Vernunft. Berlin: De Gruyter. Nida-Rümelin, Julian. 2023. „Geleitwort.“ In: Georg Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, V-VIII. Wiesbaden: Springer Vieweg. Nida-Rümelin, Julian und Klaus Staudacher. 2020. Philosophische Überlegungen zur Verantwortung von KI. Eine Ablehnung des Konzepts der E-Person. bidt-WORKING PAPER, Open Access: https:// publikationen.badw.de/de/047053353/pdf/CC%20BY (letzter Abruf 02. 04. 2024).
Rein Physische Systeme können sich hingegen keine Gründe zu eigen machen und können daher auch nicht handeln.
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Nida-Rümelin, Julian, und Nathalie Weidenfeld. 2018. Digitaler Humanismus. Eine Ethik für das Zeitalter der künstlichen Intelligenz. München: Piper Verlag. Nida-Rümelin, Julian. 2022. „Digitaler Humanismus – philosophische Aspekte Künstlicher Intelligenz,“ In: Kuuya Chibanguza, Christian Kuß und Hans Steege (Hrsg.), Künstliche Intelligenz. Recht und Praxis automatisierter und autonomer Systeme, 29–40. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. Nida-Rümelin, Julian, und Nathalie Weidenfeld. 2023. Was kann und darf Künstliche Intelligenz? Ein Plädoyer für Digitalen Humanismus. München: Piper Verlag. Russel, Stuart. 2020. Human Compatible. AI and the Problem of Control. London: Penguin Books. Turing, Alan. 1950. „Computing machinery and intelligence.“ Mind LIX (236), 433–460. https://doi.org/ 10.1093/mind/LIX.236.433. Winter, Dorothea. 2023. „Aesthetic Aspects of Digital Humanism: An Aesthetic-Philosophical Analysis of Whether AI Can Create Art.“ In: Hannes Werthner, Carlo Ghezzi, Jeff Kramer, Julian Nida-Rümelin, Bashar Nuseibeh, Erich Prem und Allison Stanger (Hrsg.), Introduction to Digital Humanism. A Textbook, 211–224. Cham: Springer Nature. https://doi.org/10.1007/978-3-031-45304-5.
Fiorella Battaglia
2 Über menschliche Kontrolle und Entmenschlichung Abstract: On human control and dehumanization. Previous analyses of dehumanization have mostly focused on events involving multiple human individuals, such as genocides, civil wars, and violence against certain ethnic and racial groups. However, it is important to note that the emergence of new profiles of dehumanizing behavior resulting from the human-machine relationship has not yet been addressed. This chapter thoroughly examines the processes of dehumanization in settings involving non-human entities. The chapter first defines dehumanization and then proceeds to apply it to actions mediated by autonomous systems. The concept of control is crucial to this definitional characterization, especially when the constraints for meaningful human control are not met. This chapter explores the experience of dehumanization resulting from machines over humans, examines new ways in which dehumanization can occur in real-life interactive contexts, and provides a more comprehensive characterization of the concept of dehumanization.
1 Die Frage nach der menschlichen Kontrolle Die Philosophie hat sich in letzter Zeit intensiv mit dem Phänomen der Entmenschlichung auseinandergesetzt, im Einklang mit dem Fokus auf der nichtidealen Theorie. Entmenschlichung bezeichnet die Wahrnehmung von anderen als weniger als vollständig menschlich, indem man ihnen bestimmte einzigartige menschliche Eigenschaften oder ihr menschliches Wesen abspricht (Haslam 2006). Frühere Analysen zur Entmenschlichung haben sich auf Ereignisse konzentriert, an denen mehrere menschliche Individuen beteiligt waren, wie beispielsweise Völkermorde, Bürgerkriege und Gewalt gegen bestimmte ethnische, rassische Gruppen (Kronfeldner 2021) oder Frauen (Mikkola 2016). Die historischen Fälle, auf die man sich bei der Rekonstruktion der abwegigen Vorstellung von Hierarchien innerhalb der Menschheit bezieht, reichen von der präkolumbianischen Zeit bis zur Aufklärung. Zu den jüngsten Beispielen gehören die Gräueltaten des Nationalsozialismus, die extreme Diskriminierung von Flüchtlingen und Behinderten sowie die sexuelle Gewalt (Livingstone Smith 2011 und 2020). Es ist jedoch noch notwendig, neue Profile entmenschlichender Verhaltensweisen in der spezifischen Mensch-Maschine-Beziehung zu behandeln. Dieses Kapitel untersucht die Prozesse der Entmenschlichung in Beziehungen, in denen ein nicht-menschliches Wesen anwesend https://doi.org/10.1515/9783111433233-003
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ist. Nach der Einführung des Konzepts der Entmenschlichung wird es erweitert, integriert und in den Kontext von Handlungen übertragen, die durch autonome Systeme vermittelt werden. Das Konzept der Kontrolle spielt in diesen Prozessen eine Schlüsselrolle. Es ist besonders wichtig, dass die sinnvolle menschliche Kontrolle erhalten bleibt (Robbins 2023). Dieses Kapitel definiert den Begriff der Entmenschlichung und untersucht neue Wege, auf denen sie in realen interaktiven Kontexten auftreten kann. Es wird betont, dass sinnvolle menschliche Kontrolle notwendig ist, um Entmenschlichung durch autonome Systeme zu vermeiden. Kontrolle ist in erster Linie ein subjektives Problem. Unser Ziel ist es, die Kontrolle über uns selbst und den Verlauf unseres Lebens zu behalten, ohne von etwas oder jemand anderem kontrolliert zu werden (Dennett 1984, 51). Das Nachdenken über Kontrolle hat seinen Ursprung in der subjektiven Dimension und kann dann auf die politische Dimension ausgeweitet werden. In letzter Zeit sind neben den ethisch-politischen Aspekten auch technologische Aspekte hinzugekommen. Aus analytischer Sicht war der Begriff der Kontrolle im Zusammenhang mit einschränkenden Bedingungen Gegenstand der Diskussion. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Reflexion über Kontrolle immer versucht hat, Bedingungen zu identifizieren, die sie potenziell einschränken können. Kontrolle ist eine notwendige Bedingung für die Ausübung von Handlungsfähigkeit. Es ist daher wichtig, die Bedingungen zu charakterisieren, die unsere Handlungsfähigkeit einschränken können und zu Handlungsunfähigkeit führen. Die ersten, die die Rolle der Kontrolle in unserem alltäglichen Handeln theoretisch entwickelt haben, waren John Martin Fisher und Mark Ravizza, die eine unauflösliche Verbindung zwischen Kontrolle und Verantwortung herstellten (1998). Da Freiheit und Kontrolle zwei notwendige Bedingungen für die verantwortungsvolle Ausübung der eigenen Handlungen sind, folgt daraus, dass ohne Freiheit und ohne Kontrolle das Handeln nicht verantwortungsvoll sein kann. Kennzeichnend für ihre Theorie ist die Charakterisierung von Freiheit im Sinne von Kontrolle.¹ Insbesondere ist die Fähigkeit, Handlungen zu steuern, die Leitkontrolle, die notwendige und hinreichende Bedingung für moralische Verantwortung. Die Leitkontrolle (guidance control) wird wiederum durch das Eigentum an dem Mechanismus spezifiziert, der das betreffende Verhalten tatsächlich hervorbringt; dieser Mechanismus muss mit dem Handelnden auf eigene Weise verbunden sein. Zweitens muss sich dieser Mechanismus als empfänglich für die Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen erweisen (Nida-Rümelin und Battaglia 2018).
1 Siehe für eine andere Auffassung von Freiheit und Verantwortung Nida-Rümelin 2005; 2011; 2020.
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Der theoretische Vorschlag von Fischer und Ravizza wurde im Rahmen einer Debatte spezifiziert, die in erster Linie durch die Auseinandersetzung mit der metaphysischen Dimension der anstehenden Fragen gekennzeichnet war. In der Tat kann man sagen, dass insbesondere in den Argumenten der so genannten Inkompatibilisten metaphysische Fragen gegenüber denen der praktischen Philosophie, die sich bekanntlich mit der Erforschung der Bedingungen des Handelns befasst, die Oberhand gewonnen haben. Innerhalb der Handlungstheorie entwickeln sich die inkompatibilistischen Positionen. Dieses Feld ist zwischen Libertären und Deterministen aufgeteilt. In der zeitgenössischen Philosophie gibt es nur zwei international bekannte Libertäre, Robert Kane (2011) und Peter van Inwagen (2017). Van Inwagen argumentiert, dass die Tendenz zum Nicht-Determinismus und Inkompatibilismus der häufigste Ausdruck der im Alltag vorherrschenden Einstellung ist.² Im Grunde behauptet van Inwagen, dass seine Position die Eigenschaft genießt, näher an der allgemeinen Intuition zu sein. Wenn wir uns stattdessen auf das Terrain der philosophischen Diskussion begeben, kehrt sich die Situation völlig um. In philosophischen Kreisen stellen die libertären Ansichten von Robert Kane und Peter van Inwagen eine kleine Minderheit dar. Ausgehend von dieser ersten Definition der Frage befinden wir uns in einer sonderbaren Situation. Unsere alltägliche Intuition steht in krassem Gegensatz zu der Tatsache, dass die libertäre Auffassung von Freiheit die Auffassung einer kleinen Minderheit in der zeitgenössischen Philosophie darstellt. In manchen Kreisen wird die Konzeption von Kane und van Inwagen sogar als eine unzeitgemäße Vision angesehen, da sie ein metaphysisches Bekenntnis zum Dualismus impliziert, das sich nicht mit einer wissenschaftlichen Weltanschauung verträgt. Aus diesem Antagonismus zwischen gewöhnlicher Intuition und wissenschaftlicher Erkenntnis ergibt sich die Einordnung auf die inkompatibilistische Seite. Wir kommen nun zur Charakterisierung der Position der Deterministen, die glauben, dass der Determinismus wahr ist und die Freiheit zu leugnen sei. Auch sie stellen sich auf die Seite der Inkompatibilisten. Sie argumentieren folgendermaßen. Alles in der Welt läuft regelmäßig ab. Niemand kann die Naturgesetze ändern, es gibt keine Wunder, keine übernatürlichen Eingriffe, keine immateriellen Substanzen, die die physische Welt beeinflussen können. Die physikalische Welt ist kausal geschlossen, jedes Ereignis hat physikalische Ursachen, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind. Neben der Kausalität zwischen Ereignissen gibt es keine zweite Art von Kausalität. Auch wenn die Wissenschaft den Determinismus nicht beweisen kann, ist die unbestreitbare Gültigkeit des Kausalitätsprinzips eine Vor-
2 Bekanntlich argumentiert Nida-Rümelin für moralischen Realismus, siehe Dietmar von der Pfordten 2015.
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aussetzung für wissenschaftliche Forschung. Nach dieser Charakterisierung wenden sich die Deterministen der Idee des freien Willens zu. In der Debatte über den freien Willen wird festgestellt, dass eine Handlung, die von einem bestimmten Akteur ausgeführt wird, nur dann frei ist, wenn der Akteur, der sie ausführt, auch anders hätte handeln können (Keil 2007). Aus wissenschaftlicher Sicht ist es unmöglich, die Tatsache zu berücksichtigen, dass unter gleichen Umständen auch eine andere Möglichkeit bestehen könnte. Die Tatsache, dass jemand unter den gleichen Umständen, d. h. auf der Grundlage der gleichen Überlegungen, das Gegenteil von dem getan haben könnte, was er tatsächlich getan hat, widerspricht nicht nur dem Determinismus, sondern würde Handlungen und Entscheidungen unerklärlich und irrational machen. So kann man auch auf der Grundlage unterschiedlicher Überlegungen zu unvereinbaren Ergebnissen kommen. Es ist interessant, wie van Inwagen, ein Inkompatibilist, aber aus ganz anderen Gründen, darauf verzichtet, die Wahrheit oder Falschheit des Determinismus zu beweisen. Dasselbe gilt für die Existenz oder Nichtexistenz des freien Willens: Auch diese beiden Optionen sind nicht Gegenstand seiner Argumentation. Seine Argumentation zielt lediglich darauf ab, die Unvereinbarkeit zwischen Determinismus und freiem Willen aufzuzeigen.
2 Maschine und menschliche Kontrolle Ich möchte mich nun auf die Theorie von John Martin Fisher und Mark Ravizza – den Vertretern des Kompatibilismus – konzentrieren, weil sie eine sehr starke Verbindung zwischen Verantwortung und Kontrolle herstellen. In ihrer Theorie gibt es Raum für kausale Erklärungen und moralische Verantwortung. Von besonderem Interesse ist für mich das Konzept der Leitkontrolle, also der Fähigkeit, Handlungen zu steuern. Dieses Konzept erweist sich in der Tat als nützlich, wenn es um die Frage der Kontrolle geht, wenn es um autonome Systeme geht, und unterscheidet sie somit von menschlichen Akteuren. Die erste Unterscheidung, die getroffen werden muss, ist die zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Menschen und Dinge können kausal für ein Ereignis verantwortlich sein – siehe das Zerbrechen einer Vase. Nur Personen können moralisch verantwortlich sein. Was geschieht, wenn die Handlung durch ein autonomes System ausgeführt wird? Kann der Mensch dann noch Kontrolle ausüben? So dass wir moralische Verantwortung übernehmen können? Oder sollen wir denken, wie Alan Turing in einem Radiointerview sagte, dass Maschinen die Kontrolle übernehmen können?
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It seems probable that once the machine thinking method had started, it would not take long to outstrip our feeble powers. […] At some stage therefore we should have to expect the machines to take control. (Turing 1953, 475)
Diese Sichtweise ist aus einer Reihe von Gründen, die wir weiter unten erörtern werden, sicherlich nicht mit der Idee der moralischen Verantwortung vereinbar. Derzeit hat sich eine Reflexion darüber entwickelt, wie Kontrolle im Falle von Operationen durch autonome Systeme zu verstehen ist. Die Debatte wurde zunächst im Zusammenhang mit autonomen Waffen ausgelöst, und hier begann der Diskurs über eine „sinnvolle menschliche Kontrolle“ Gestalt anzunehmen und sich zu charakterisieren. In der ersten Ausprägung dieser Idee läuft die menschliche Kontrolle auf eine Humanisierung des Prozesses hinaus und wird nicht weiter spezifiziert, zumindest was den ethisch-philosophischen Aspekt betrifft: „To automate these essential aspects of human judgement in the judicial process would be to dehumanize justice, and ought to be rejected in principle „ (Asaro 2012, 701). Der Verweis auf dieses Konzept, das das Konzept der Lenkungssteuerung von Fischer und Ravizza in verschiedene Richtungen erweitert, findet sich häufig in Beiträgen, die sich mit dem Einsatz von autonomen Waffen befassen. In der Folge wurde diese Debatte auf die Debatte über autonome Autos ausgeweitet, um KISysteme im Allgemeinen einzubeziehen. Die Einbeziehung maschineller Elemente in die Realisierung der Handlung erfordert eine Spezifizierung der von Fischer und Ravizza genannten Bedingungen in Bezug auf den menschlichen Agenten. Die Mensch-Maschine-Perspektive führt nicht nur neue ethische Fragen ein, sondern wirkt sich auch auf der theoretischen Ebene aus, indem sie die neue Bedingung hinzufügt, dass die menschliche Präsenz bei der Ausführung der Handlung hinreichend bedeutsam sein muss. Andererseits müssen die Menschen durch die Teilung der Handlung mit autonomen Systemen akzeptieren, dass „viele Hände“ an der Handlung beteiligt sind und dass diese Unsicherheiten ihren Ursprung in der Tatsache haben können, dass verschiedene Menschen an der Entwicklung eines autonomen Systems beteiligt sind (van de Poel, Royakkers und Zwart 2015). Um die von Asaro befürchteten Auswirkungen entmenschlichender Handlungen zu vermeiden, müssen wir daher die Bedingungen festlegen, die verhindern, dass Maschinen die Kontrolle erlangen. Wir sprechen von jener Kontrolle, die wir ausschließlich menschlichen Akteuren zuschreiben. Während das Problem der Automatisierung und die damit verbundene Frage der „sinnvollen menschlichen Kontrolle“ vor allem eingeführt wurden, um die so genannte Verantwortungslücke zu vermeiden, ist meine Perspektive eine andere. Ich bin daran interessiert zu klären, welche besondere Art von Verbrechen und/ oder Ungerechtigkeit gegen Menschen verübt wird, wenn die Kontrolle über bestimmte Handlungen an Maschinen delegiert wird. Dieser Aspekt wurde in der Tat
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in der Forschung über „sinnvolle menschliche Kontrolle“ vernachlässigt. Seit dem römischen Recht werden alle Entitäten als Personen oder als Dinge (Subjekte oder Objekte) kategorisiert und geregelt. Genau dieser begriffliche, erkenntnistheoretische und normative Dualismus wird in Frage gestellt, wenn wir uns einem so vertrauten Phänomen zuwenden wie der Verweigerung der vollen Menschlichkeit gegenüber anderen und der damit einhergehenden Grausamkeit und dem Leiden. Man könnte argumentieren, dass der Begriff der „sinnvollen menschlichen Kontrolle“ – geprägt durch die Diskussion über Forschung und Innovation, für die autonome Waffen, autonome Autos, aber auch andere KI-Anwendungen wichtige Beispiele sind – genau ein Versuch ist, innerhalb des allgemeineren Begriffs der „Kontrolle“ zu differenzieren. Es geht darum, auf die Herausforderung, die die autonomen Systeme darstellen, zu reagieren. Ist die von diesen Systemen ausgeübte Kontrolle dieselbe wie die von menschlichen Akteuren ausgeübte Kontrolle? Lässt sich dieses Konzept so weiterentwickeln, dass es der neu entstandenen Situation gerecht wird? Kann man sich eine Konfiguration vorstellen, die dem in diesem kategorischen Dualismus definierten Fall des Unrechts entspricht? Oder sprengt die neue Möglichkeit irgendwie denselben kategorischen Dualismus? Ganz allgemein wurde festgestellt, dass, wenn man ein maschinelles System eine bestimmte Art von Handlung ausführen lässt, Schwierigkeiten auftreten, die allgemein als Entmenschlichungsprobleme bezeichnet worden sind. Ein normativ verstandener Begriff der „sinnvollen menschlichen Kontrolle“ ist in der Lage, das Auftreten dieser Umstände zu verhindern. Im Falle von autonomen Waffen betreffen diese Handlungen Entscheidungen über Leben und Tod. In Bezug auf die Dehumanisierung wurde festgestellt, dass sie in erster Näherung darauf hinausläuft, andere als Nicht-Menschen oder als Menschen in einem geringeren oder mangelhaften Sinne zu behandeln. Es wurde jedoch auch festgestellt, dass es zur besseren Ausübung der Grausamkeit der Entmenschlichung notwendig ist, sein Opfer zu vermenschlichen, um es zu demütigen (Bloom 2017). Was aber, wenn der Hauptakteur kein Mensch ist? Wie kann ein nicht-menschlicher Akteur, z. B. ein autonomes System, den Menschen entmenschlichen? Was bedeutet es, wenn man die Entmenschlichung einem maschinellen System überlässt? Während es unbestreitbar ist, dass die Handlung des Abziehens von Menschlichkeit von einer Entität vollzogen werden kann, die sie selbst besitzt, ist es möglich, dass ein solches Abziehen, die Reduktion auf etwas Nicht-Menschliches, von Entitäten vollzogen werden kann, die diese Fähigkeit nicht besitzen? Kurz gesagt, muss man ein Mensch sein, um jemandem seine Menschlichkeit zu nehmen? Offenbar nicht, aber wie lässt sich dieses einzigartige Phänomen erklären? Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Diskussion über „sinnvolle menschliche Kontrolle“ wiederum in mindestens drei verschiedene Fragen aufteilt. Der erste betrifft die technische Robustheit, die erreicht werden muss, um zu ver-
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hindern, dass das maschinelle System sich die Kontrolle anmaßt, die nur dem Menschen zustehen sollte. Die Operationalisierung dieser Bedenken besagt, dass das System in der Lage sein muss, Gründe zu verfolgen. Über die Art der Gründe – motivierend oder normativ – herrscht Uneinigkeit (Veluwenkamp 2022). Die zweite Frage lautet, inwieweit die Einführung autonomer Systeme die Leitkontrolle und die Handlungstheorie von Fischer und Ravizza radikal verändert. Die dritte Frage betrifft die notwendige Klärung des Begriffs der Entmenschlichung. Dieser Begriff, der zum Schutz des Dualismus zwischen Menschen und Dingen herangezogen wird, scheint gerade durch nicht-menschliche Entitäten in Frage gestellt zu werden. Das Ergebnis ist paradox: Einerseits wird das Menschsein auf andere Wesen ausgeweitet, andererseits werden Menschen durch nicht-menschliche Wesen auf Dinge reduziert.
3 Entmenschlichung in engem und erweitertem Sinne Die Entmenschlichung wurde von Eduard Machery zu Recht mit dem Verlust des moralischen Status in Verbindung gebracht (2021). In Kürze lassen sich zwei philosophische Traditionen ausmachen, die auf zwei unterschiedliche Kriterien für die Zuerkennung des moralischen Status zurückgreifen. Während die Tradition, die sich auf Kant beruft, auf der Autonomie besteht, konzentriert sich die utilitaristische Tradition, die sich auf Bentham beruft, auf die Fähigkeit, Schmerz und Lust zu empfinden. Schon aus dieser ersten Charakterisierung wird deutlich, dass die Zahl der moralischen Subjekte in der kantischen Perspektive eher begrenzt ist. Ausgeschlossen sind nämlich Personen, die noch nicht zur Selbstbestimmung fähig sind oder denen diese Fähigkeit aus irgendeinem Grund vorübergehend oder dauerhaft entzogen ist. Die Wesen, deren Dasein zwar nicht auf unserm Willen, sondern der Natur beruht, haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen Werth, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist). (AA IV 429)
Diese Passage ist wichtig, weil sie den Unterschied zwischen „Sachen“ und „Personen“ klar herausstellt. Ausgehend von dieser Kategorisierung können wir einen weiteren Schritt machen, die Praktiken zu charakterisieren, die diese Ontologie
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ignorieren. Die Herabstufung von Personen zu Sachen stellt somit ein Unrecht dar, das als Entmenschlichung charakterisiert werden kann. In einer anderen philosophischen Tradition – der des Utilitarismus – finden wir eine Kategorisierung, die auf anderen Überlegungen beruht. Diese Option führt zu einer viel größeren Klasse von Individuen. Zur Frage der Individuen mit moralischem Status sagte Jeremy Bentham: The day may come when the non-human part of the animal creation will acquire the rights that never could have been withheld from them except by the hand of tyranny. The French have already discovered that the blackness of the skin is no reason why a human being should be abandoned without redress to the whims of a tormentor. Perhaps it will some day be recognised that the number of legs, the hairiness of the skin, or the possession of a tail, are equally insufficient reasons for abandoning to the same fate a creature that can feel? What else could be used to draw the line? Is it the faculty of reason or the possession of language? But a full-grown horse or dog is incomparably more rational and conversable than an infant of a day, or a week, or even a month old. Even if that were not so, what difference would that make? The question is not Can they reason? or Can they talk? but Can they suffer? (Bentham 1789, 311–312)
Interpreten von Kant haben immer wieder versucht, den Rigorismus Kants zu mildern. Wie am besten aus den kritischen Analysen von Christine Korsgaard bekannt ist, schließt die Forderung nach Autonomie nicht nur Personen mit verminderter Autonomie aus, sondern auch Tiere (2018). Im Laufe der Zeit sind verschiedene Strategien hinzugekommen, um den Rigorisus der kantischen Positionen zu mildern. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass Birgit Recki die Kantische Gemeinschaft der moralischen Subjekte erweitert, hat durch die Einbeziehung der Überlegungen der dritten Kritik (2001). In jüngerer Zeit wurde versucht, die kantische Tradition mit der utilitaristischen Tradition zu verbinden. In der Überarbeitung von Machery ist dies eine Kompromisslösung. Machery führt den Ursprung des moralischen Status auf zwei Quellen zurück. Konkret nennt er sie das Handeln, das „handelnde Subjekt“, und die Erfahrung, die „Erfahrung“. Die erste Bedingung, die des moralischen Subjekts, bezieht sich auf das Handeln, also auf das, was Individuen tun. Die zweite Bedingung bezieht sich auf die Lust und den Schmerz, die ein Organismus erfahren kann. Die von Machery vorgenommene Charakterisierung des Begriffs der Entmenschlichung geht von der damit verbundenen Charakterisierung des moralischen Status aus. Darüber hinaus handelt es sich um eine Charakterisierung, die ihre Abhängigkeit von der Psychologie anerkennt und daher ihren Ursprung in einem im Naturalismus verwurzelten Ansatz bekennt.³
3 Siehe auch Mendez 2023.
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Recent work in psychology and experimental philosophy suggests that moral standing is attributed to creatures that display one of two characteristics (perhaps among others): agency and experience. An organism has agency if it can have rational plans of action; an organism has experience if it can feel plain and pleasure. Relatedly, I argue that dehumanization tends to take two different forms: denying others’ agency or denying their experience. (It can naturally involve both.) So, dehumanization displays constrained variation: It can take different forms, but its diversity is constrained by human psychology. (Machery 2021, 146)
4 Entmenschlichung in der Mensch-Maschine-Beziehung Doch kehren wir zu dem Thema zurück, mit dem sich dieser Aufsatz beschäftigt: der Notwendigkeit, den Begriff der Entmenschlichung im Hinblick auf die Beziehung zwischen Mensch und Maschine zu klären. Frühere Analysen des Begriffs der Entmenschlichung haben sich auf Bedingungen bezogen, bei denen die beiden Elemente der Zusammensetzung aus menschlichen Individuen bestanden. Die analysierten Fälle betreffen Völkermorde, Bürgerkriege und Gewalt gegen bestimmte ethnische und rassische Gruppen. Die historischen Fälle, auf die bei der Rekonstruktion der Hierarchien der Menschheit Bezug genommen wird, reichen von der präkolumbianischen Zeit bis zu den Ereignissen der Aufklärung. Die Analysen der uns am nächsten liegenden Ereignissen betreffen die abscheulichen Taten während des Nationalsozialismus, die extreme Diskriminierung von Flüchtlingen und Behinderten und schließlich die sexuelle Gewalt (Mikkola 2016). In keiner dieser Analysen erscheint die spezifische Mensch-Maschine-Beziehung als eine Beziehung, in der sich trotz signifikanter Veränderungen im Beziehungsgefüge Profile entmenschlichenden Verhaltens ausmachen lassen. Die erste Frage betrifft genau die Bedingungen, die notwendig zu sein scheinen, um den moralischen Status eines anderen Individuums zu beeinträchtigen. Diese neue Spezifikation wird zu den bereits bekannten hinzugefügt. Auf den ersten Blick scheint ein weiteres Merkmal der vorangegangenen Berichte aufzutauchen: Um jemandem die Menschenwürde zu entziehen, muss dies von einer Position aus geschehen, die dieser Kategorie eigen ist. Trotz dieser anthropologischen Voraussetzung gibt es jedoch Überlegungen zur Notwendigkeit eines Verbots tödlicher autonomer Waffen, die gerade an die Angst vor entmenschlichenden Praktiken appellieren. Leider befasst sich diese Debatte nicht mit dem komplexen Phänomen der Entmenschlichung in diesem neuen Szenario. Es wird auch nicht versucht, eine Verbindung zu früheren Versuchen herzustellen, das Wesen der Entmenschlichung zu verstehen, d. h. den Menschen seine Menschlichkeit abzusprechen und zu entziehen und ihn somit auf Sachen zu reduzieren. Welche Art von
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Argumentation müssen wir verwenden, um die Entmenschlichung in der MenschMaschine-Beziehung zu definieren? Wie sieht die Dehumanisierung aus, wenn sie mit der Einführung autonomer Systeme verbunden ist? Die Ausdehnung des Phänomens, das bisher auf die Beziehungen zwischen Menschen beschränkt war, auf die Beziehungen zwischen Mensch und Maschine erfordert sicherlich die Beantwortung dieser Fragen. Um die Entmenschlichung im menschlich-maschinellen Szenario zu umreißen, müssen wir uns auf die Frage der Kontrolle konzentrieren, insbesondere auf die Leitkontrolle, also die Fähigkeit zur Steuerung von Handlungen. Es ist klar, dass die von Maschinen ausgeübte Kontrolle weder die notwendige Bedingung für die Feststellung moralischer Verantwortung erfüllt noch die Bedingungen für eine Handlung, bei der eine „bedeutende menschliche Kontrolle“ besteht. Die Reduktion auf eine Sache erfolgt a priori, bevor der Inhalt der Handlung festgestellt wird. Eine Handlung muss nach der Theorie von Fischer und Ravizza eine bestimmte Qualität der Kontrolle aufweisen, um moralisch geprägt zu sein. Die Leitungsfähigkeit der Handlung, auf Englisch guidance control genannt, wird von Fischer und Ravizza wie folgt in seiner Eigenart treffend geschildert: „guidance control has two components: the mechanism that issues in (say) the action must be the agent’s own, and it must be suitably reasons-responsive“ (Fischer und Ravizza 1998, 243). Autonome Systeme können die Bedingung der Reaktionsfähigkeit auf Gründe erfüllen, sofern sie bereits im Design mit Mechanismen zur Auswertung der Gründe ausgestattet sind, um jede Handlung zu rechtfertigen (Santoni de Sio und van den Hoven 2018). Die zweite Bedingung – die der eigenen Handlung – wird von einem autonomen System nicht erfüllt, und daher kann das gesamte Gebäude der kompatibilistischen Theorie von Fischer und Ravizza nicht auf autonome Systeme angewendet werden. Es ist anzumerken, dass diese Theorie am besten geeignet ist, eine umfassende Darstellung zu entwickeln. Gemäß der Besonderheit kompatibilistischer Theorien ist es nämlich möglich, eine Erklärung im Sinne von Verantwortung zu geben, auch wenn die Handlung kausal wiedergegeben wird. Mit anderen Worten: Kompatibilisten behaupten, dass Individuen auch dann verantwortlich gemacht werden können, wenn ihre Handlungen kausal verstanden werden. Die zweite Bedingung für die Kontrolle des Handelns ist die Bedingung der „Eigenverantwortung“, wie man sie nennen könnte. Ihr Vorhandensein markiert den Unterschied zwischen moralisch verantwortlichen Handlungen und einem Verhalten, das immer noch von einem Mechanismus diktiert wird, obwohl er durch externalisierte Mechanismen für Gründe empfänglich ist. Es ist nur so, dass diese Einstellung zu den Gründen nicht durch die Anerkennung seitens des Handelnden unterstützt wird. Mit anderen Worten, dem Handelnden fehlt die Identifikation mit diesem Mechanismus, der daher nicht als sein eigener betrachtet werden kann. Gehen wir zu einem voll-
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ständig menschlichen Szenario über, so können wir feststellen, dass die Abwesenheit von Anerkennung mit genau identifizierbaren Situationen korrespondiert. Diese Art von Verhalten wird in Fällen von psychologischer Manipulation oder extremem Nudging beobachtet (Thaler und Sunstein 2008). Meine These ist, dass ein solches Verhalten mit dem von autonomen Systemen vergleichbar ist. Solche Systeme können also ein Verhalten aufweisen, das auf Gründe reagiert, aber sie übernehmen nicht die Verantwortung für diesen Mechanismus, der den Gründen entspricht. So wie manipulierte menschliche Agenten nicht als moralisch verantwortlich angesehen werden können, weil ihnen eine wichtige Bedingung der menschlichen Situation fehlt, so fehlt auch bei autonomen Systemen eine vollständige Übereinstimmung in Bezug auf alle Bedingungen, die notwendig sind, um die Fähigkeit zur Handlungssteuerung und folglich die Übernahme moralischer Verantwortung zu verwirklichen. Wenn wir also wollen, dass die Kontrolle über das, was im Leben bedeutsam ist, eine menschliche Kompetenz sei, dann können wir Entscheidungen über Leben und Tod nicht an autonome Systeme delegieren, die zwar in der Lage sind, sowohl bestimmte Ziele zu erreichen als auch zu bestimmen, wie sie zu erreichen sind, die aber hinsichtlich der proprietären Bedingung defizitär sind, d. h. nicht die Anforderung erfüllen, dass der Mechanismus, von dem die Handlung ausgeht, dem Agenten gehört. Wenn die Voraussetzungen für die Handlungsfähigkeit autonomer Systeme nur teilweise erfüllt sind, können wir Asaros Einsicht argumentativ untermauern und behaupten, dass die von autonomen Systemen getroffenen Entscheidungen nur in der Lage sind, Menschen als nicht-menschliche Agenten, d. h. als Menschen in einem defekten Sinne oder als etwas weniger Menschliches zu betrachten und zu behandeln und damit einen neuen Fall von Entmenschlichung zu konfigurieren. Nachdem ich den Begriff der Entmenschlichung eingeführt hatte, war es meine Absicht, ihn zu erweitern, zu integrieren und in einen Begriff der Entmenschlichung in der Sphäre der durch autonome Systeme vermittelten Handlungen zu übertragen. Bei der Aufgabe, die Entmenschlichung in der Mensch-Maschine-Beziehung zu charakterisieren, wird der ontologisch-normative dualistische Rahmen (Personen-Sachen) durch drei verschiedene moralische Praktiken spezifiziert: erstens durch die Praktiken der Verantwortungszuschreibung; zweitens durch das Fehlen einer eigenen Bedeutung in Bezug auf den durch Gründe inspirierten Mechanismus. Mit anderen Worten, es wird festgestellt, dass die Bedingung, dass der Mechanismus, aus dem die Handlung hervorgeht, dem Handelnden gehört, nicht gegeben ist. Und schließlich betrifft die dritte Spezifikation die Konsequenz in Form der Verweigerung des moralischen Status für entmenschlichte Individuen im Kontext von Handlungen, die durch autonome Systeme vermittelt werden. Die Tatsache, dass der Mechanismus, dem die Handlung entspringt, zum Handelnden gehört, ist ein Phänomen, das nur verständlich gemacht werden kann,
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wenn man auf das zurückgreift, was Fischer und Ravizza die historische Dimension des Phänomens nennen. Kurz gesagt unterscheiden die beiden Autoren zwischen historischen und nicht-historischen Phänomenen. Zu den historischen Phänomenen zählt zum Beispiel die Verantwortung. Die Idee hinter historischen Phänomenen ist, dass für sie gilt, dass die Ereignisse ihrer Geschichte ihren Charakter bestimmen. Es stimmt also, dass wir ohne die Kenntnis ihrer historischen Merkmale nicht in der Lage wären, sie vollständig zu bestimmen. Im Gegenteil, ein nichthistorisches Phänomen hängt von momentanen Eigenschaften und nicht von historischen Fakten ab. Was sind Beispiele für solche unmittelbaren Eigenschaften? Nach Fischer und Ravizza sind unmittelbare Eigenschaften „glatt“, „rund“, „hell“, „farbig“, „symmetrisch“ und „glänzend“ (Fischer und Ravizza 1998, 171). Die Übernahme von Verantwortung in der Version von Fischer und Ravizza ist ein historisches Phänomen, denn sie impliziert, dass der Akteur zuvor die Verantwortung für die Art des Mechanismus übernommen hat, der sein Verhalten tatsächlich hervorbringt. Handelt der Akteur geleitet von einem Gerät, das direkt in sein Gehirn „implantiert“ wurde, erfüllt er nicht die Eigentumsbedingung des Mechanismus, von dem die Handlung ausgeht, und kann daher nicht verantwortlich gemacht werden. Autonome Systeme sind vergleichbar mit dem Fall des Agenten, dem ein Gerät im Gehirn implantiert wurde. In seinem Verhalten lassen sich daher keine historischen Phänomene wie die Übernahme von Verantwortung für die Art des Mechanismus, der sein Verhalten hervorbringt, nachweisen. Was wir beobachten können, ist lediglich das Vorhandensein von nicht-historischen Phänomenen, von augenblicklichen Eigenschaften, für die: Second necessary condition of meaningful human control: in order for a system to be under meaningful human control, its actions/states should be traceable to a proper moral understanding on the part of one or more relevant human persons who design or interact with the system, meaning that there is at least one human agent in the design history or use context involved in designing, programming, operating and deploying the autonomous system who (a) understands or is in the position to understand the capabilities of the system and the possible effects in the world of the its use; (b) understands or is in the position to understand that others may have legitimate moral reactions toward them because of how the system affects the world and the role they occupy. (Santoni de Sio and van den Hoven 2018, 9)
Das Höchste, was ein autonomes System erreichen kann, ist eine „Externalisierung“ der Gründe für sein Verhalten. Dies gilt nicht für die andere Bedingung, die ein universelles Merkmal der Erfahrung ist, das unter keinen Umständen externalisiert werden kann, sondern per definitionem zur Erfahrung des Besitzes und der Identifikation mit diesem Begründungssystem gehört. Diese Bedingung nicht erfüllen zu können, führt zu der paradoxen Situation, dass eine Handlung einer nicht-menschlichen Entität zu einer Reduzierung einer Person auf eine Sache führen kann.
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Niina Zuber und Dorothea Winter
3 Digitaler Humanismus: Die unverzichtbare Rolle menschlicher Autorschaft im Zeitalter der Technologie Abstract: Digital humanism: The indispensable role of human authorship in the age of technology. The article delves into pressing issues related to human autonomy and authorship amid the growing ubiquity of digital technologies. It focuses on the crucial role of individuals as the authors of their own lives, even as technology increasingly shapes and directs their choices. By analyzing Julian Nida-Rümelin’s ethical humanism concept within the digital era, the chapter demonstrates methods for maintaining and encouraging human authorship and an ethical lifestyle in the face of digital transformation.
Einleitung In einer Welt, die zunehmend von digitaler Technologie durchdrungen ist, stellt sich die Frage nach der Rolle des Menschen und seiner Autonomie mit neuer Dringlichkeit. Wir treffen heute Entscheidungen über berufliche Karriere, soziale Interaktionen oder Urlaubsplanungen größtenteils mithilfe von Technologien. Diese sind zweifellos praktische Hilfsmittel zur Vereinfachung des alltäglichen Lebens, doch rücken sie grundlegende Fragen nach vernünftiger Begründungspraxis, Deliberation und menschlicher Autorschaft in den Fokus: Sind wir noch die Autoren unseres eigenen Lebens, wenn Softwaresysteme unsere Gedanken und Handlungen beeinflussen oder uns zu Entscheidungen nudgen? Verändert digitale Technologie unsere menschliche Lebenspraxis genuin? Können wir Softwaresysteme so programmieren, dass sie ethisch wünschenswert sind? Um diese Fragen zu beantworten, orientieren wir uns an Julian Nida-Rümelins Konzept des Digitalen Humanismus und untersuchen, wie es praktisch Anwendung finden kann. Dazu wird in einem ersten Schritt Humanismus unter dem Aspekt menschlicher Autorschaft dargestellt. Diese humanistische Perspektive betont die Notwendigkeit einer bewussten Auseinandersetzung mit Gründen für unsere Handlungen, die nicht nur persönliche Neigungen berücksichtigen, sondern die Überlegenheit argumentativ überzeugender Gründe aufzeigt. In einem zweiten Schritt untersuchen wir die Relation zwischen Technologie und Humanismus. Dabei werden die Herausforderungen und Chancen, die digitale https://doi.org/10.1515/9783111433233-004
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Technologien für die menschliche Autorschaft und ethische Lebensführung darstellen, abgewogen.
1 Humanismus als menschliche Autorschaft „Humanismus“ ist ein Begriff mit einer sehr langen und kontrovers interpretierten philosophiehistorischen Tradition. An diese Tradition des humanistischen Denkens und der humanistischen Praxis knüpft Nida-Rümelin (2022) an, in dem er Humanismus auf das Konzept der menschlichen Autorschaft zurückführt: Individuen sind die Autoren ihres Lebens, tragen Verantwortung für ihre Handlungen und deren Begründungen. Diese Verantwortung umfasst sowohl praktische Konsequenzen als auch die Auswahl und Bewertung von Handlungsgründen. Ein guter Grund zeichnet sich dabei dadurch aus, dass er aus der Vielzahl möglicher Gründe hervorsticht, denn „Gründe (sind) nicht in eigenen Neigungen verankert, sondern in der objektiven und normativen Ordnung der Welt.“ (Nida-Rümelin 2018a). Ist beispielsweise Diebstahl nicht mit den Zielen der Gesamtgesellschaft vereinbar, so behauptet sich der Grund des ’Respekts vor fremdem Eigentum’ gegenüber dem der ‚Eigentumsaneignung‘. Dadurch gewinnt ein Grund als überzeugend betrachtetes Argument an Einfluss. Gründe sind daher keine Konstrukte, nicht etwas, was erdacht und erst entwickelt werden muss, sondern über Gründe wird deliberiert und sie werden als tragendes Moment vernünftiger Entscheidungen anerkannt: Sie sind weder kulturelle noch sprachliche Artefakte (Nida-Rümelin 2018a). Es ist deshalb entscheidend, eine Grundhaltung auszubilden, welche die Anerkennung des überzeugenderen Arguments miteinschließt. Zentral für unsere diskursive Lebensform ist einerseits die Fähigkeit zur Deliberation, die einer geübten Urteilskraft bedarf und andererseits die Bereitschaft, seine eigenen Gründe mit Bescheidenheit zu hinterfragen, um offen für die Überlegenheit anderer Argumente zu sein (NidaRümelin 2011c). Diesen Austausch von Gründen interpretiert Nida-Rümelin realistisch: Unsere Begründungspraxis lässt keinen Zweifel daran, dass wir uns in theoretischen und praktischen Fragestellungen auf Tatsachen beziehen, wenn wir unsere Urteile und Handlungen ernst nehmen möchten. Wir sollten uns von guten Gründen leiten lassen, und das sowohl in unseren Überzeugungen als auch in unseren Handlungen. Dies impliziert, dass wir uns von Gründen affizieren lassen (können), weshalb Nida-Rümelin dieses tragende Moment in den Mittelpunkt seines ethischen Humanismus stellt: Die Freiheit, die fü r ein Leben in Selbstachtung und in Achtung gegenü ber anderen unverzichtbar ist, postuliert, dass mein Handeln und Urteilen das Ergebnis eigener Abwägung ist
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und nicht lediglich kausale Folge von Vorprägungen unterschiedlichen Typs. (Nida-Rümelin 2005, 128)
Gründe in diesem Verständnis sind nicht mit Wünschen, Neigungen, Fantasie oder Kultur gleichzusetzen. Seinen eigenen Gründen Genüge zu tun und nach ihnen zu handeln, verweist auf die Idee der Autorschaft. Der Nida-Rümelin’sche Ansatz betont dabei die Bedeutung eines Raums für praktische Überlegungen, in dem die Bewertung von individuellen Wünschen, Emotionen, Interessen, Pflichten und Rollen stattfindet. Die Entscheidungen manifestieren sich in der Ausgestaltung eines individuellen Lebensentwurfs innerhalb einer gemeinsamen Lebensform, in der die Idee der Autorschaft als zentrales Kriterium für ein erfülltes Leben gilt (Nida-Rümelin 2020). Darüber hinaus entsteht durch den Austausch von Gründen ein Gleichgewicht zwischen individuellen und kollektiven Beweggründen, der eine kohärente Lebensführung ermöglicht. Doch was bedeutet es, die humanistische Anthropologie ernstzunehmen, wenn wir über Technologien nachdenken? So hat etwa die Frankfurter Schule, um Max Horkheimer und Theodor Adorno, die Befürchtung geäußert, dass Technologien per se die Humanität untergraben und es somit keine moralisch wertvolle Technologie geben könne. Sie verweisen auf die der Technik innewohnenden Dialektik, die dem Fortschritt und der daraus erwachsenden Kontrolle des Menschen über Mensch und Natur ein ausgeprägtes destruktives Potenzial entgegensetzt. Diese dialektische Betrachtungsweise gewinnt an Bedeutung, wenn man sie auf digitale Technologien anwendet, da hieraus dem Menschen (und der Natur) neben Segnungen der Moderne auch „triumphales Unheil“ (Horkheimer und Adorno 1988, 7) zuteilwerden kann, da das „Fortschreiten der technischen Mittel […] von einem Prozeß der Entmenschlichung begleitet [ist]. Der Fortschritt droht das Ziel zunichtezumachen, das er verwirklichen soll – die Idee des Menschen.“ (Horkheimer 1991, 25). So erfolgt zuweilen beispielsweise durch KI-gesteuerte Bewerbungstools eine nicht gewollte automatisierte Diskriminierung oder autonome Waffensysteme töten versehentlich Zivilisten. Deswegen müssen wir mithilfe der humanistischen Ideale das Zeitalter der digitalen Transformation und Digitalisierung proaktiv gestalten. Nur so kann eine wünschenswerte Zukunft für Mensch und Welt geschaffen werden – und das sowohl im Digitalen als auch im Analogen. Diesem Technik-Pessimismus steht der Digitale Humanismus gewissermaßen gegenüber: Es kann Technologien geben, die den Menschen ein Mehr an Handlungsspielräumen ermöglichen, ohne dessen wesentliche Fähigkeiten einzuschränken. Im Namen des Digitalen Humanismus wird postuliert, dass die Technologie den „menschlichen Bedürfnissen entsprechen müsse“ (Zehetmaier 2023), „dem Menschen dienen solle“ oder, dass der „Einsatz neuer Technologien zum Nutzen des Menschen (und nicht umgekehrt)“ (Giesswein und Stöttinger 2023) er-
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folgen soll. Der Digitale Humanismus betrachtet weder die Bedürfnisbefriedigung noch den Nutzen als qualitative Kriterien für technologische Errungenschaften, sondern konzentriert sich auf die Gewährleistung der Autorschaft und die damit verbundene Begründungspraxis. Beispielsweise kann ein Softwareprogramm, das die Grammatik und Orthografie des Schreibenden verbessert, dessen Handlungsspielraum vergrößern, ohne dass der Schreibende dabei in seiner Autorschaft, in seiner Urteilskraft tangiert würde: Nehmen wir an, eine Person lebt in einem Land, dessen Sprache sie nicht mächtig ist. Es ist der Person daher nicht möglich, für ihre Arbeitsfähigkeiten gute Angebote zu formulieren. Die Möglichkeit, dank ChatGPT nun angemessene Gebrauchstexte formulieren lassen zu können, erweitert den Handlungsspielraum der Person, ohne ihre Autorschaft zu unterlaufen. Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass ein erfülltes Leben durch die Gestaltung nach seinen eigenen Gründen und der Ausrichtung der Überzeugungen und Handlungen nach diesen gelingt. Nur so können wir realiter Verantwortung für unser Leben übernehmen. Nur so können wir uns als autonom und frei betrachten. Freiheit manifestiert sich nicht in der Auswahl zwischen verschiedenen Optionen, sondern erfordert die zwanglose Umsetzung guter Gründe. Vernunft kann also verstanden werden als die Fähigkeit, Gründe gegeneinander abzuwägen, zu deliberieren und nach diesen zu handeln und für diese Handlung Verantwortung zu tragen (Nida-Rümelin und Staudacher 2024, 20). Vernunft bedarf daher einer Begründungspraxis, die realistisch und nicht konstruktivistisch interpretiert werden muss. Nachdem wir nun dargestellt haben, inwiefern die Praxis des Gründegebens und -nehmens, das Deliberieren, das Vernünftige abwägen menschliche Handlungen bestimmen und so Verantwortung zulassen, soll nun in einem zweiten Schritt dargelegt werden, inwiefern diese Praxis durch digitale Technologien herausgefordert wird.
2 Technik und Humanismus im Zeitalter der Digitalen Transformation Anwendung und Ausgestaltung von Informationstechnologien haben sich in jüngster Zeit in einer Weise weiterentwickelt, die einen humanen Einsatz dieser Technologien erforderlich erscheinen lässt. Nicht nur Zivilgesellschaft, Politik und Medien, sondern auch Wissenschaft und hier insbesondere einige Informatiker, reden einer humanen Einhegung der Technologie das Wort. Dabei setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte in ihren Forderungen nach einem verantwortungs-
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vollen, humanen Umgang mit Softwareprogrammen (Floridi und Cowls 2019; Morley et al. 2020). Die Brisanz dieser Forderungen ist offenkundig: Bereits heute unterstützen Softwareapplikationen den Menschen in unterschiedlichen Lebensbereichen, indem sie ein Zurechtfinden in einer immer komplexer werdenden Lebenswelt unter knappen Ressourcen erleichtern: Digitale Arbeitsprozesse, wie komplexe ERP-Systeme (Enterprise Resource Planning), erschaffen effizientere Arbeitsorganisationen, indem sie die unterschiedlichen betriebswirtschaftlichen Bereiche in Echtzeit vernetzt darstellen. Zudem ermöglicht Software beispielsweise eine automatisierte Ordnung digitaler Fotoalben oder die Entsperrung von Geräten ohne lästige PINs per Fingerabdruck oder Gesichtserkennung. Zusätzlich nehmen die Möglichkeiten der e-democracy oder civic technology zu – also jener digitalen Technik, die es ermöglicht, sich als Bürgerin direkt und unkompliziert an staatliche Institutionen zu wenden oder durch eine aktive Partizipation an der Zivilgesellschaft teilzunehmen. Und auch die vermeintlich letzte Bastion des Menschlichen – die Kreativität – wird zwischenzeitlich durch digitale Technologien herausgefordert, erzeugt generative KI Texte und Bilder, ohne dass es noch menschlicher Autoren, Mediengestalter, Designer oder Künstler im klassischen Sinne bedarf. Dieser Sachlage geschuldet, hat sich in den letzten Jahren in Politik, Forschung und Medien eher der Begriff „Digitalen Transformation“ etabliert, wenn über Digitalisierung gesprochen wird, da „Digitale Transformation“ neben der reinen Digitalisierung von bis dato analogen Prozessen auch einen Wandel in den normativen Ansprüchen zwischenmenschlicher Beziehungen umfasst (Zuber 2022). Diese zunehmende digitale Transformation erfordert vor allem eines: Daten. Die schiere Menge an Daten, die kontinuierlich durch die bewusste oder unbewusste Nutzung digitaler Technologien generiert wird, ist zweifellos jetzt schon immens – und wird noch um ein Vielfaches ansteigen. Diesem Datenberg wohnt jedoch eine Dualität inne: Einerseits ermöglicht die Datengewinnung und -speicherung eine individualisierte Bedienung vieler Softwareprogramme oder kann sogar einem Bias entgegenwirken. Andererseits führt die Datenmenge zu Intransparenz der Datengenerierung, weshalb auch von einem „unsichtbaren Charakter“ von Software gesprochen wird, der zu einer unzureichenden Begründungsstruktur hinsichtlich der Entstehung dieser Daten und ihrer Interpretation führt. Aufgrund der dauerhaften und alldurchdringenden Präsenz digitaler Technologie wird von den Nutzern eine Anpassungsfähigkeit gefordert. Daher lautet die zentrale Frage, wie von Mohr (2020, 9) treffend im Sinne eines Digitalen Humanismus formuliert, nicht mehr „Wie kann ich digitalisieren?“, sondern „Was muss ich tun, um meine Handlungsfähigkeit zu erhalten?“. Ein verbreiteter Versuch, diese Fragen positiv zu beantworten, stellt die Human-Centered-Design-Bewegung dar, die ihren Ursprung in der Informatik hat. Sie
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betont vor allem die Notwendigkeit, den Nutzer als integralen Bestandteil des Systems zu betrachten. Neben den technischen Anforderungen rückt sie nun auch die Benutzerfreundlichkeit, die sogenannte „Usability“, in den Fokus (Maguire 2001). Trotzdem entspricht allein die Berücksichtigung der Benutzer oder gar die Erweiterung auf ein Leben-zentriertes Design unter Einbeziehung aller Lebewesen und der Natur, noch keinem System, das den Leitideen eines ethischen Humanismus entspricht (Borthwick, Tomitsch und Gaughwin 2022). Ein System, das die Benutzerinteraktion optimiert, indem es beispielsweise dem Benutzer erspart, Eingaben selbständig zu tätigen (ambient technologies), kann die Autonomiefähigkeit des Benutzers untergraben, vor allem wenn das Individuum, wie bei Gesichtserkennungstechnologien, gar nicht mehr wahrnimmt, dass gerade eine Dateneingabe erfolgte. Ebenso kann ein System, das den Wert der „Nachhaltigkeit“ im Sinne einer Ressourcenschonung berücksichtigt, dennoch Freiheiten von Benutzern und anderen Lebewesen einschränken. Ein Beispiel hierfür ist ein autonomes Fahrzeug, das zwar für Katzen bremst, jedoch nicht für Igel, kleinere Säugetiere, Reptilien oder Insekten. Obwohl beide Einstellungen legitim sein mögen, müssen sie einer moralischen Prüfung unterzogen werden. Die Beispiele zeigen: Wenn wir von einem menschlichen Umgang mit Technologien sprechen, appellieren wir zumeist an Werte. Die Einhaltung dieser Werte erscheint in dem Sinne wünschenswert, dass dem Gemeinwohl, der Gemeinschaft sowie dem einzelnen Individuum kein Schaden zugefügt werden darf. Vielmehr muss die Realisierung von Produkten, Systemen und Infrastrukturen stets und ohne Ausnahme zum Wohl der Menschen eingesetzt werden, was somit zu einem zentralen Ziel der technologischen Entwicklung enthoben wird (Neugebauer 2018). Im Sinne des Humanismus ist das jedoch nicht genug. Es reicht nicht, mögliche Schäden und Einschränkungen von Individuen und Gruppen zu vermeiden.Vielmehr geht es darum, die Autorschaft der Individuen zu fördern, ihre Verantwortung zu stärken – und so ihre Fähigkeit zur Vernunft in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken. Der Einsatz digitaler Systeme in allen Lebensbereichen verändert die Beziehungen menschlicher Kooperation, z. B. in der Zusammenarbeit von Arbeitnehmer und Arbeitgeber, aber auch andere Formen menschlicher Vertrauensbeziehungen, wie z. B. familiäre oder freundschaftliche Kommunikationskulturen. Kooperation ist ein wesentliches Merkmal dieser Beziehungsgeflechte und bedeutet zuvorderst Loyalität unter den Beteiligten (Nida-Rümelin 2006) sowie deren Möglichkeit, ihre eigenen Interessen in diesem gegenseitigen Austausch gegebenenfalls auch in den Hintergrund stellen zu können. Wenn meine Freundin umzieht und ich ihr bei ihrem Umzug helfe, erscheint es merkwürdig, wenn ich im Anschluss an meine freundschaftliche Geste einen Geldbetrag erwarte. Die Austauschbeziehung, in der wir uns befinden, ist keine ökonomische Arbeitsbeziehung, sodass eine solche Erwartungshaltung unpassend erscheint. Eine Gesellschaft oder gesellschaftliche
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Teilbereiche, wie hier in unserem Beispiel die Freundschaft, basieren somit auf normativen Aspekten und Konventionen, welche vernunftbegabte Wesen anerkennen. Sie gestehen ihrem Gegenüber zu, dass sie um dieses Regelwerk wissen und sich diesem entsprechend verhalten können: „Wir verstehen das Verhalten einer Person nur insofern, als wir es einbetten können in einen intentionalen Kontext, der gerade dieses Verhalten als Ausdruck bewusster Entscheidung nachvollziehen lässt“ (Nida-Rümelin 2006, 139). Erst durch eine Einbindung in eine Struktur können wir einzelne Handlungen als beabsichtigt begreifen und sie von willkürlichem oder determiniertem Verhalten unterscheiden (Nida-Rümelin 2020). Die nicht-monetäre Unterstützung bei einem Umzug lässt sich durch Freundschaft als Handlungsraum rational nachvollziehen. Es wäre durchaus merkwürdig, wenn eine Person ohne monetäre Absichten bei einem Umzug hälfe, die sich in keinem Verhältnis zur umziehenden Person befindet. Außenstehende können diese Handlungen nicht einordnen, der Handlungsgrund bleibt ihnen verborgen. Wir können somit regelgeleitetes und strukturgebundenes Verhalten als vernünftige Handlung kennzeichnen. Vernunft ist folglich auch an Sozialität gebunden, denn ohne die Anderen gäbe es keine Möglichkeit, Handlungen begründbar zu machen. So entspringt die Normativität der Lebenswelt, dem sozialen Geflecht, das durch gegenseitige Erwartungshaltungen und durch die Erfüllung von gegenseitigen Anforderungen einen rationalen Umgang miteinander gewährleistet. Durch das Aufbrechen der unmittelbaren Erfahrungswelt wird Freiheit als Autorschaft er- und auslebbar (Nida-Rümelin 2020, VII § 4): Planvolle Handlungsabläufe innerhalb einer geteilten Welt machen dessen Kern aus. Diese individuellen Handlungsabläufe tragen Lebensformen, bestimmen Lebenspraxen und werden durch diese wiederum bestimmt. Wenn digitale Anwendungen in diese Lebenspraxen integriert werden, kann dies nicht nur zu einer Veränderung in der Ausübung von Freundschaft führen (im Sinne einer äußeren kulturellen Bedeutungsveränderung), sondern auch zu einer Verschiebung der wesentlich konstitutiven Elemente der Freundschaft – und damit der normativen Ausrichtung. Die konventionelle Vorstellung von „Freundschaft“, die Standards und Unterscheidungsmerkmale für Freundschaften im Vergleich zu anderen Formen des zwischenmenschlichen Austauschs festlegt, kann sich transformieren. Dadurch können die präskriptiven Aspekte von Freundschaft – also die Erwartungen, Regeln oder Verhaltensweisen, die im Kontext von Freundschaft als angemessen oder wünschenswert betrachtet werden – eine andere Betonung erfahren. Wenn digitale Werkzeuge beispielsweise die freundschaftliche Kommunikation so beeinflussen, dass Phänomene wie kurzfristige Absagen oder das ungeklärte Verschwinden – bekannt als Ghosting – durch den Einsatz von Technologie erleichtert und ausgeweitet werden, indem man durch minimale Anstrengung Freunde blockiert, wenn man keine Lust hat, sich mit ihnen auseinanderzusetzen,
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dann wandelt sich unser Verständnis von „Freundschaft“. An dem Freundschaftsbeispiel sieht man deutlich: Technik und Technologie sollten nicht nur als Werkzeuge, als reine Mittel-zum-Zweck betrachtet werden, sondern verstärkt als Aktivitäten innerhalb von Praktiken (Hubig 2013; Vallor 2016). Technik wird dabei oft als das Produkt menschlichen Erfindergeistes betrachtet, das darauf abzielt, Probleme zu lösen, Bedürfnisse zu erfüllen oder eben neue Handlungsräume zu schaffen. Durch deren Einsatz muss sich der Mensch jedoch in seinen Handlungen den technologischen Anforderungen anpassen: Durch diese Wechselwirkung üben dadurch gewissermaßen Maschinen normativen Druck aus (Grunwald 2018). Die beabsichtigte Verhaltensanpassung der Nutzer bezeichnet B.J. Fogg 1997 im Falle von Computern als „persuasive computing“: „Simply put, a persuasive computer is an interactive technology that changes a person’s attitudes or behaviors.“ (Fogg 1997, 225). Als ,persuasive technology‘ versteht man daher die Menge der digitalen Technik und Technologie, die psychologische Neigungen nutzt, um bestimmte Zwecke zu erzielen (de Kort et al. 2007). Tristan Harris, ein ehemaliger Mitarbeiter von Google und 2015 Mit-Begründer des Center for Humane Technology – einer Bewegung, die sich um die Belange der IT-Konsumenten bemüht und als Auslöser der Time Well Spent Movement gilt – verknüpft den Aspekt des manipulativen Designs von Technik mit den Zielen von Wirtschaftsinteressen von Unternehmen. Unternehmen würden, so Harris (2016), die Nutzer absichtlich manipulieren, ohne dass der Nutzer davon in Kenntnis gesetzt wird, ohne dass der Nutzer davon weiß, dass subtile Mechanismen eingesetzt werden, um sie als Kunden bestmöglich an ihr Produkt zu binden. Dies gelingt, indem das Design des technischen Artefakts so ausgestaltet wird, dass es den Nutzer dahingehend leitet, bspw. das Produkt häufig oder über einen längeren Zeitraum zu verwenden. Hierfür werden etwa Mechanismen wie kontinuierliche Benachrichtigungen oder LikeFunktionen in Sozialen Medien eingeführt. Doch dieser subtile Druck, den Technik aufgrund des Designs auf grundlegende Säulen gemeinsamer Verhaltensweisen ausübt, wirkt nicht nur auf die Aktivierung unterbewusster Reiz-Reaktion-Mechanismen, sondern führt auch dazu, dass Orientierungsmerkmale ihre normative Gültigkeit verlieren können. Wir stehen damit vor einer zweifachen normativen Herausforderung: Zum einen müssen wir uns an die digitale Technologie anpassen, und dieser Anpassungsdruck kann bewusst durch Design zweckentfremdet, d. h. nicht im Sinne eines Humanismus entwickelt werden, bspw. zielen Dating Plattformen verstärkt auf die Anzahl der Swipes ab und die damit verbundenen neurowissenschaftlichen Reaktionen als auf die Vermittlung von Freundschaft oder Liebe. Die Plattform wird als Zweck betrachtet, während sie als Mittel funktionieren sollte, eine Praxis der Liebe oder Freundschaft (Nida-Rümelin und Staudacher 2024).
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Wir sehen also: Zum einen transportieren wir Einstellungen durch digitale Tools und Softwaresysteme, die nicht wünschenswerte Maßstäbe perpetuieren und somit auf die Einstellung der Nutzer einwirken. Zum anderen erfordern digitale Tools eine Verhaltensanpassung der Nutzer an die Tools, weshalb sich Praxen verändern können. Doch wie können wir sicherstellen, dass der Einsatz digitaler Tools nicht den Kern des Humanismus beeinträchtigt, insbesondere die Autorschaft und den Austausch von Gründen? Dieser Frage widmet sich der folgende Abschnitt. Darin überprüfen wir die Eignung von Nida-Rümelins Digitalen Humanismus als Leitidee für das Zeitalter der digitalen Transformation. Im Zentrum des Digitalen Humanismus steht – analog zum nicht-digitalen Humanismus – nach Nida-Rümelin der Mensch als handelndes Individuum, genauer: die menschliche Autorschaft im Angesicht der digitalen Herausforderungen: Digitaler Humanismus setzt das Projekt der Stärkung menschlicher Autorschaft, seiner Verantwortlichkeit und Urteilskraft unter den Bedingungen der digitalen Transformation fort. Er befürwortet den Einsatz innovativer digitaler Technologien, um die Lebensbedingungen auf diesem Planeten auch für zukünftige Generationen möglichst human zu gestalten. (Nida-Rümelin 2022a, 6)
Softwaresysteme sind nicht nur ein weiteres Werkzeug, das der Mensch geschaffen hat, sondern ein Medium, vermittels dessen der Mensch die Welt wahrnimmt und mit dieser interagiert. So zeichnen sich vor allem digitale Artefakte dadurch aus, dass sie die Weltbezogenheit (Ihde 1990) des Menschen erweitern können oder als Tätigkeit bestimmte Praktiken modifizieren (Vallor 2016). Der Digitale Humanismus übernimmt als normatives Ideal eine Leitfunktion. Wir stehen also vor der Herausforderung, die humanistischen Werte, die die Autorschaft und unsere diskursive Gesprächskultur prägen, in die digitale Welt zu übertragen und zu respektieren. Diese zentralen Prinzipien, wie die Stärkung der Autorschaft und damit auch der Urteilskraft, die erst ein gelungenes Leben nach humanistischen Idealen ermöglichen, bedürfen einer Gesellschaftsform, die ein solches Leben fördert. Konkretisierungen sind nicht möglich, da diese Prinzipien das Denken und Handeln zu leiten vermögen, aber Urteilskraft benötigen, wie diese anzuwenden sind (Zuber et al. 2020; Zuber und Gogoll 2024). Es stellt sich die Frage, ob die Entwicklung digitaler Werkzeuge wie entscheidungsunterstützender Anwendungen oder generativer KI unsere Autorschaft direkt untergräbt. Kann beispielsweise ein Werkzeug, das Grammatik und Orthografie verbessert, als Einschränkung oder Stärkung der Autorschaft betrachtet werden? Und wie ist es mit Large Language Models, die ganze Textpassagen verfassen können? Können wir dies noch als Förderung der Autorschaft betrachten? Ebenso stellt sich die Frage im Bereich der Erfassung von medizinischen Diagnosen: In welchem Maße kann eine Maschine hier die Autorschaft und zwischenmenschliche Bezie-
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hungen gewährleisten, die wir als erfolgreich erachten? Eine Maschine kann nicht authentisch sein und operiert somit außerhalb der Grenzen menschlicher Kommunikation?
Fazit Mit diesen Fragen sind wir am Ende unseres Beitrags im Grunde wieder an unserem Ausgangspunkt der Untersuchung angelangt. Festhalten können wir jedoch, dass, um die humanistische Dimension digitaler Technologie zu verdeutlichen, es wichtig ist, die Konzepte der Autorschaft und der Begründungspraxis zu berücksichtigen. Wenn digitale Technologie die authentische Handlungsfähigkeit unterstützt und zur Entwicklung intersubjektiver sowie kollektiver Begründungspraxen beiträgt, können wir im Grunde dabei von einer Befreiungsphilosophie respektive Verantwortungsphilosophie sprechen, die von humanistischen Werten geprägt ist. Und wie wir in unserem Beitrag gezeigt haben, leistet Nida-Rümelins Digitaler Humanismus einen Vorschlag dafür, wie diese gestaltet werden können.
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Jörg Löschke
4 Gründe, Werte und Strukturen
Abstract: Reasons, values and structures. This article argues that, despite Julian Nida-Rümelin’s powerful critique of consequentialism, there are interesting similarities between Nida-Rümelin’s theory of structural rationality and consequentialist approaches. The theory of structural rationality can be interpreted in such a way that structures generate reasons. Consequentialism represents a value-based theory of practical reasons, according to which practical reasons can be traced back to value. If one combines the consequentialist idea with the attractive view that structures of complex unity are the metaphysical basis of intrinsic value, then there is a profound similarity between Nida-Rümelin’s view and consequentialist theories: both share the assumption that practical reasons can be explained by structures.
Einleitung Eines der interessantesten Elemente von Julian Nida-Rümelins Konsequentialismus-Kritik ist der Gedanke der strukturellen Rationalität. Nida-Rümelin wendet gegen den Konsequentialismus ein, dass dieser auf einer falschen Auffassung von Rationalität aufbaut. Rationales Handeln besteht nicht einfach in der Optimierung von Handlungsfolgen, wie es der Konsequentialismus annimmt (oder, genauer ausgedrückt, es handeln nicht nur diejenigen Akteure rational, deren Motivation darin besteht, den erwarteten Nutzen der Konsequenzen einer individuellen Handlung punktuell zu maximieren). Vielmehr, so die zentrale These Nida-Rümelins, kann eine Handlung auch als rational angesehen werden, weil sie in eine wünschenswerte Handlungsstruktur eingebettet ist. Ein Akteur, dessen Handlungsmotivation darin besteht, einer bestimmten Struktur von Handlungen zu entsprechen oder seinen Teil zur Realisierung einer solchen Struktur beizutragen, handelt rational, auch wenn dies bedeutet, punktuell den zu erwartenden Nutzen der Konsequenzen seiner Handlung nicht zu maximieren.¹ Ich halte Nida-Rümelins Grundidee der strukturellen Rationalität für überzeugend und werde sie hier nicht kritisieren oder verteidigen, sondern als plausible
1 Den Gedanken der strukturellen Rationalität arbeitet Nida-Rümelin in einer Serie von Publikationen aus. Siehe Nida-Rümelin (1994; 2001; 2004; 2014). Ich werde mich im Folgenden vor allem auf die 2001 erschienene Monografie stützen. https://doi.org/10.1515/9783111433233-005
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Jörg Löschke
Auffassung voraussetzen. In meinem Beitrag werde ich allerdings argumentieren, dass die Idee der strukturellen Rationalität auf einer sehr grundsätzlichen Ebene interessante Gemeinsamkeiten mit konsequentialistischen Auffassungen teilt. Eine konsequentialistische punktuelle Maximierungsstrategie lässt sich womöglich sogar als eine Unterform von struktureller Rationalität begreifen. Um dies zu zeigen, werde ich zunächst kurz auf die Idee der strukturellen Rationalität eingehen. In einem zweiten Schritt werde ich eine (unabhängig plausible) Auffassung der metaphysischen Grundlage von intrinsischem Wert vorstellen, derzufolge intrinsischer Wert auf Strukturen komplexer Einheit superveniert. Hier zeigen sich wichtige Parallelen zur Idee struktureller Rationalität. In einem dritten Schritt werde ich zeigen, dass auch der Konsequentialismus als eine Auffassung interpretiert werden kann, in der Strukturen eine zentrale Rolle spielen. Nida-Rümelins Theorie der strukturellen Rationalität und der Konsequentialismus unterscheiden sich somit nicht so tiefgreifend, wie es auf den ersten Blick scheint. In einem letzten Schritt werde ich diskutieren, worin der Unterschied zwischen Nida-Rümelins Auffassung und konsequentialistischen Ansätzen letztlich besteht.
1 Strukturelle Rationalität Wie bereits erwähnt, besteht der Grundgedanke der strukturellen Rationalität darin, dass Handeln rational sein kann, wenn es auf eine bestimmte Struktur von Handlungen zurückzuführen ist. Dies ist etwa der Fall, wenn die Motivation der Akteurin darin besteht, dass ihre Handlung einer wünschenswerten Struktur entspricht oder dass sie durch ihre Handlung zur Realisierung einer wünschenswerten Struktur beiträgt (Nida-Rümelin 2001). Was für Strukturen sind gemeint? NidaRümelin nennt verschiedene Beispiele. Ein Beispiel, das die Akteurin selbst betrifft, ist ein gegebenes Versprechen (Nida-Rümelin 2001, 57). Wer ein Versprechen gibt, der legt sich darauf fest, seinen Handlungen und Intentionen eine bestimmte Struktur zu geben, nämlich die verschiedenen Einzelhandlungen auszuführen, die nötig sind, um das Versprechen zu erfüllen. Ein Beispiel, das verschiedene Akteure betrifft, besteht in einer beliebigen Form von Kooperation (Nida-Rümelin 2001, 85– 99). Wenn mehrere Personen ein Haus bauen, dann müssen sie ebenfalls ihre verschiedenen Einzelhandlungen so aufeinander abstimmen, dass eine Struktur von Handlungen entsteht. Wichtig ist, dass eine Person, die mit der Motivation handelt, eine wünschenswerte Struktur zu realisieren, rational handelt. Es ist rational, ein Versprechen zu halten, auch dann, wenn es in einer konkreten Handlungssituation bessere Konsequenzen hätte, das Versprechen zu brechen. Ebenso handelt eine Person rational, wenn sie ihren Beitrag zum Hausbau leistet, auch wenn die Person Tritt-
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brett fahren könnte und die Früchte der Kooperation einfahren könnte, ohne ihren eigenen Beitrag leisten zu müssen. Dies steht in Widerspruch zu einer konsequentialistischen Rationalitätsauffassung, der zufolge die rationale Handlung immer diejenige ist, durch die der zu erwartende Nutzen maximiert wird. Mit anderen Worten, punktuelle Optimierung von Handlungskonsequenzen ist nicht das einzige Kriterium, um die Rationalität einer Handlung zu bestimmen. Eine Handlung kann auch dann als rational angesehen werden, wenn sie einer Struktur entspricht, die ihrerseits wünschenswert ist. Rationales Handeln, auch das betont Nida-Rümelin, ist Handeln, das von Gründen gestützt wird: eine Handlung ist rational, wenn gute Gründe für ihre Ausführung sprechen (Nida-Rümelin 1994, 140). Wenn nun also erstens gilt, dass Handeln rational ist, wenn es einer Struktur entspricht (oder zur Realisierung einer Struktur beiträgt), und wenn zweitens gilt, dass rationales Handeln dadurch gekennzeichnet ist, dass es Handeln aus Gründen ist, dann legt dies den Schluss nahe, dass die wünschenswerte Struktur, auf die das Handeln ausgerichtet ist, selbst Handlungsgründe liefert. Wenn dies wiederum gilt, dann scheint die Grundidee der strukturellen Rationalität auch auf folgende Formel gebracht werden zu können: Strukturen liefern Gründe. Und hier, so möchte ich argumentieren, zeigt sich nun eine interessante tiefliegende Gemeinsamkeit mit dem Konsequentialismus.
2 Wert als Struktur Von „dem“ Konsequentialismus zur reden ist insofern irreführend, als es „den“ Konsequentialismus nicht gibt. Innerhalb des konsequentialistischen Lagers gibt es verschiedene Varianten, die sich voneinander recht stark unterscheiden können, und was für die eine Variante gilt, muss nicht für andere Varianten gelten. Der Konsequentialismus stellt eher eine Theoriefamilie dar, deren Mitglieder stärkere und schwächere Familienähnlichkeiten aufweisen. Allerdings teilen alle Mitglieder der Familie eine grundlegende Auffassung, nämlich eine wertbasierte Auffassung praktischer Gründe. Konsequentialistische Ansätze vertreten grundsätzlich die Priorität des Guten vor dem Richtigen (Rawls 1971). Konsequentialistinnen vertreten somit grundsätzlich die Auffassung, dass Personen einen Grund für eine Handlung haben, wenn und weil die Handlung gute Konsequenzen hätte. Eine wichtige konsequentialistische Grundidee lautet daher: Werte liefern Gründe. Damit, so scheint es, scheint ein wichtiger Unterschied zwischen konsequentialistischen Auffassungen und der Idee der strukturellen Rationalität identifiziert zu sein. Die Frage ist, ob praktische Gründe auf Werte oder auf Strukturen zu-
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Jörg Löschke
rückzuführen sind. Dies, so möchte ich nun argumentieren, sind allerdings keine einander ausschließenden Optionen. Dies liegt daran, dass intrinsischer Wert selbst auf Strukturen zurückgeführt werden kann. Wert superveniert dieser Auffassung zufolge auf Strukturen, und zwar Strukturen komplexer Einheit. Die Idee ist, dass intrinsischer Wert immer dann besteht, wenn disparate Einzelelemente in ein kohärentes Ganzes gebracht werden und dadurch eine neue Entität bilden. Diese Auffassung erinnert an Moores berühmte Theorie organischer Einheiten, allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied. Moore weist darauf hin, dass eine organische Einheit Wert über den Wert hinaus realisieren, kann, den die konstitutiven Elemente der organischen Einheit addiert haben würden. Es handelt sich also um eine These darüber, wie wertvoll eine bestimmte Entität ist. Die Auffassung, dass Wert auf Strukturen komplexer Einheit superveniert, ist dagegen eine metaphysische Auffassung, die erklärt, warum eine Entität überhaupt wertvoll ist. Die These, dass intrinsischer Wert auf Strukturen komplexer Einheit superverniert, wird von verschiedenen Werttheoretikern vertreten (Brown 1967; Nozick 1981; Kelly 2014; Oddie 2014) und wurde im 20. Jahrhundert insbesondere von Robert Nozick ausbuchstabiert (Nozick 1981). Nozick führt insbesondere zwei Argumente für die Auffassung an, nämlich das Argument der explanatorischen Tiefe und das Argument der Rekursion. Das Argument der explanatorischen Tiefe besagt, dass ein Verständnis von komplexer Einheit als metaphysischer Grundlage von intrinsischem Wert in der Lage ist, die intrinsische Werthaftigkeit von vielen verschiedenen Dingen einheitlich zu erklären, die ansonsten nicht viel miteinander gemeinsam zu haben scheinen wie Kunstwerke, Freundschaften, Ökosysteme oder Erfolg in persönlichen Projekten. Diese Dinge würden die meisten wohl als intrinsisch wertvoll ansehen, aber sie scheinen zunächst nicht viel miteinander gemeinsam zu haben. Eine Gemeinsamkeit gibt es jedoch: alle diese Dinge können als komplexe Einheiten interpretiert werden. Ein Gemälde beispielsweise kombiniert viele verschiedene einzelne Pinselstriche in ein einheitliches Kunstwerk; ein Ökosystem vereint verschiedene Organismen zu einem komplexen Ganzen; in einer Freundschaft bilden zwei Personen und ihre Intentionen, Wünsche, Handlungen usw. eine komplexe Einheit. Wenn nun diese ganz verschiedenen Dinge, die alle intuitiv als intrinsisch wertvoll erscheinen, keine Gemeinsamkeit aufweisen außer derselben Struktur, nämlich der Struktur komplexer Einheit, dann legt dies nahe, dass diese Struktur auch die Grundlage von intrinsischem Wert ist. Das Argument der Rekursion besagt, dass die Auffassung von komplexer Einheit als metaphysischer Grundlage von intrinsischem Wert mit ihren eigenen theoretischen Ressourcen eine Erklärung für das unabhängig plausible Prinzip der Rekursion leisten kann. Dieses Prinzip besagt, dass angemessene Reaktionen auf
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intrinsisch wertvolle Entitäten selbst intrinsisch wertvoll sind (Hurka 2001). Es gibt also intrinsisch wertvolle Basisgüter, und es ist außerdem intrinsisch wertvoll, wenn Personen die richtige Einstellung gegenüber diesen Basisgütern haben. Auf eine Formel gebracht besagt das Rekursionsprinzip, dass es intrinsisch gut ist, das Gute zu lieben und das Schlechte zu hassen (und dass es außerdem intrinsisch schlecht ist, das Gute zu hassen und das Schlechte zu lieben). Komplexe Einheit als Grundlage von intrinsischem Wert anzunehmen, kann die Gültigkeit des Rekursionsprinzips erklären: das intrinsisch wertvolle Basisgut und die angemessenen Einstellungen der Person bilden selbst eine komplexe Einheit, und das erklärt die intrinsische Werthaftigkeit von angemessenen Wertreaktionen (Nozick 1981). Andere Auffassungen der Grundlage von intrinsischem Wert können keine vergleichbare Erklärung für das Rekursionsprinzip liefern. Eine Hedonistin müsste beispielsweise argumentieren, dass angemessene Wertreaktionen selbst hedonischen Wert haben, aber dies scheint nicht sonderlich plausibel zu sein – Mitleid ist beispielsweise ebenfalls eine angemessene Wertreaktion (hier: eine Reaktion auf einen Unwert, nämlich das Leid einer anderen Person), aber Mitleid fühlt sich nicht gut an – im Gegenteil, Mitleid kann eine starke Unlusterfahrung sein.² Diese beiden Argumente sprechen für die Auffassung, die metaphysische Grundlage von intrinsischem Wert in Strukturen komplexer Einheit zu lokalisieren. Natürlich müsste an dieser Stelle noch mehr gesagt werden, um diese Auffassung zu verteidigen. Ich kann dies an dieser Stelle nicht leisten,³ hoffe aber, aufgezeigt zu haben, dass die Auffassung zumindest eine gewisse Anfangsplausibilität besitzt. Wenn dies so ist, dann lassen sich nun wichtige Gemeinsamkeiten von Nida-Rümelins Theorie der strukturellen Rationalität und einer konsequentialistischen Auffassung erkennen.⁴
3 Strukturelle Rationalität und Konsequentialismus Die Auffassung der strukturellen Rationalität besagt, dass Strukturen Gründe generieren; die konsequentialistische Auffassung besagt, dass Wert Gründe generiert. Wenn nun intrinsischer Wert seinerseits auf der Struktur komplexer Einheit su-
2 Für das Beispiel von Mitleid als angemessener Wertreaktion vgl. Hurka 2001. 3 Ich verteidige die Auffassung gegen mögliche Einwände in Löschke 2020. 4 Es muss an dieser Stelle betont werden, dass Nida-Rümelin die Auffassung selbst nicht teilt. NidaRümelin akzeptiert eine Buck-Passing Auffassung von Wert (siehe das Nachwort in Nida-Rümelin 2001), demzufolge Wert durch Gründe für Pro-Einstellungen erklärt wird, sowie ein objektivistisches Verständnis von Handlungsgründen, wobei Personen lebensweltlich ein Verständnis guter Gründe teilen (Nida-Rümelin 2001, 80).
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perveniert, dann sind diese beiden Auffassungen auf einer grundsätzlichen Ebene sehr nahe beieinander. Auch der Konsequentialismus besagt dann nämlich letztlich, dass Gründe durch Strukturen erzeugt werden. Und gleichzeitig scheint auch die Auffassung der strukturellen Rationalität nicht so weit von einer wertbasierten Auffassung praktischer Gründe entfernt zu sein, wie dies zunächst den Anschein haben mag. Nida-Rümelin betont selbst, dass ein strukturiertes Leben besser ist als ein unstrukturiertes. So sind Freundschaften oder persönliche Projekte ohne Strukturierung von Handlungen, Intentionen usw. nicht möglich (Nida-Rümelin 2001, 83), und sie sind (zumindest für die allermeisten Personen) Dinge, die ein Leben besser machen. Auch die Theorie der strukturellen Rationalität kann also grundsätzlich offen für die Idee sein, dass die Strukturen, die Handlungsgründe erzeugen, wertvoll sind. Nun könnte man einwenden, dass es eben doch einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den beiden Auffassungen gibt: strukturelle Rationalität bedeutet, Strukturen zu realisieren (oder den eigenen Beitrag zur Realisierung von Strukturen zu leisten), während die konsequentialistische Idee ja darin, besteht, Handlungsfolgen zu optimieren. Was sind nun optimale Handlungsfolgen? Dies hängt natürlich von der konkreten Axiologie ab, und hier gibt es viele verschiedene Auffassungen innerhalb des konsequentialistischen Lagers, aber eine sehr prominent vertretene Auffassung besteht darin, den Wert von Handlungsfolgen mit Blick auf menschliches Wohlergehen zu bestimmen. Eine Handlung hat in dieser Auffassung genau dann optimale Konsequenzen, wenn sie aggregiertes menschliches Wohlergehen maximiert. Die Frage ist dann, ob menschliches Wohlergehen bzw. aggregiertes Wohlergehen eine Struktur komplexer Einheit aufweist. Wenn nicht, dann wäre dies ein wichtiger Unterschied zwischen der Theorie struktureller Rationalität und konsequentialistischen Ansätzen. Wenn es darum geht, den Wert von Handlungsfolgen zu maximieren, also einen Zustand zu realisieren, in dem es so viel Wohlergehen wie möglich gibt, dieser Zustand selbst aber keine Struktur im relevanten Sinn aufweist, vor allem keine Struktur komplexer Einheit, dann identifiziert der Konsequentialismus doch eine andere Grundlage praktischer Gründe als die Theorie der strukturellen Rationalität. Dieser Einwand übersieht jedoch einen wichtigen Punkt. Es ist wahr, dass der Wert von Handlungskonsequenzen im Konsequentialismus üblicherweise aggregativ verstanden wird. Allerdings lässt sich daraus nicht ableiten, dass Strukturen in einer konsequentialistischen Auffassung keine Rolle spielen. Vielmehr ist der bestmögliche Weltzustand, den wir einer konsequentialistischen Auffassung zufolge realisieren sollen, selbst strukturell zu interpretieren. Derek Parfit hat in seiner Diskussion des Konsequentialismus dessen Charakter als akteur-neutrale Theorie betont (Parfit 1984). Eine akteur-neutrale Theorie zeichnet sich Parfit zufolge dadurch aus, dass sie allen Akteuren dasselbe Ziel gibt;
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im Kontext des Konsequentialismus besteht dieses gemeinsame Ziel darin, den bestmöglichen Weltzustand zu realisieren, also so viel Wohlergehen wie möglich hervorzubringen, unabhängig davon, wessen Wohlergehen es ist. Im Gegensatz dazu gibt eine akteur-relative Theorie unterschiedlichen Akteuren unterschiedliche Ziele. Ein klassisches Beispiel wäre hier eine Theorie, derzufolge alle Eltern in erster Linie das Ziel verfolgen sollen, dass es ihren eigenen Kindern so gut wie möglich geht. Hier haben verschiedene Akteure unterschiedliche Ziele: während ich dafür sorgen soll, dass es meinen eigenen Kindern so gut wie möglich geht, soll eine andere Person dafür sorgen, dass es ihren Kindern so gut wie möglich geht. Ein wichtiger Unterschied zwischen akteur-neutralen Theorien und akteur-relativen Theorien betrifft die Rolle von Harmonie bzw. Konkurrenz von Einzelhandlungen. Wenn alle moralischen Akteure dasselbe Ziel haben, nämlich den bestmöglichen Weltzustand zu realisieren, dann harmonisiert dies ihre jeweiligen Einzelhandlungen. Wenn dagegen unterschiedliche Akteure unterschiedliche Ziele haben, dann bedeutet dies, dass die Moral Konkurrenz zwischen den einzelnen Akteuren zulässt (Portmore 2011). Es ist moralisch erlaubt, dass zwei Personen um dieselbe Ressource konkurrieren, wenn beide Personen diese Ressource benötigen, um beispielsweise das Leben ihrer jeweiligen Kinder zu retten. Dies hat eine überraschende Implikation. Wenn eine akteur-neutrale Theorie die Handlungen von moralischen Akteuren harmonisiert, dann bedeutet dies, dass eine akteur-neutrale Theorie die Handlungen der moralischen Akteure auf eine Weise strukturiert, wie es eine akteur-relative Theorie nicht tut. Dadurch, dass die Handlungen und Intentionen aller moralischen Akteure auf dasselbe Ziel hin ausgerichtet sind, wird also eine Struktur geschaffen, zu deren Realisierung die einzelnen Personen durch ihre je individuellen Handlungen beitragen.⁵ Überraschenderweise lässt sich dann sagen, dass zwischen einer Person, die punktuell den Wert von Handlungskonsequenzen zu optimieren versucht und einer Person, die strukturell rational handelt, womöglich kein wesentlicher Widerspruch besteht: auch die Person, die konsequentialistisch motiviert ist, ist motiviert, durch ihre Handlung einen Beitrag zur Realisierung einer wünschenswerten Struktur zu leisten, hier: dem bestmöglichen Weltzustand. Damit, so scheint es, scheint zwischen dem Konsequentialismus einerseits und der strukturellen Rationalität andererseits kein tiefer Widerspruch mehr zu bestehen. In beiden Auffassungen geht es letztlich darum, dass Personen durch ihr Handeln eine wünschenswerte Struktur realisieren oder zumindest zur Realisierung einer wünschenswerten Struktur beitragen. Beide Auffassungen lassen sich also so interpretieren, dass praktische Gründe letztlich durch Strukturen erzeugt
5 Vgl. in diesem Kontext auch die Überlegungen in Löschke 2019.
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werden. Die konsequentialistische Motivation ist nur eine Unterform einer strukturell rationalen Motivation – es geht bei der konsequentialistischen Motivation nur darum, zu der Realisierung einer bestimmten Struktur durch die eigenen Handlungen beizutragen. Die Frage ist dann, wie sich erklären lässt, dass es zwischen dem Konsequentialismus und der strukturellen Rationalität doch einen wichtigen Unterschied zu geben scheint. Eine naheliegende Antwort besteht darin, auf den akteur-neutralen Charakter des Konsequentialismus hinzuweisen. Nida-Rümelins Beispiele für strukturell rationales Handeln sind oft Handlungen mit akteur-relativem Charakter – es geht darum, dass ein Akteur ein Versprechen hält, dass er selbst gegeben hat, oder dass eine Person zugunsten ihrer eigenen Liebsten handelt. Die Frage ist jedoch, ob dies den Unterschied zwischen Konsequentialismus und struktureller Rationalität erklärt. Der Unterschied würde dann wohl darin bestehen, dass es bei der strukturellen Rationalität um Strukturen geht, die Personen in ihrem eigenen Leben realisieren: wenn ich ein Versprechen halte, das ich selbst gegeben habe, dann strukturiere ich damit meine eigenen Pläne, Handlungen und Intentionen, und gleiches gilt, wenn ich zugunsten meiner eigenen Liebsten handele. Beim Konsequentialismus geht es dagegen nicht im selben Sinne um Strukturen, die Personen in ihrem eigenen Leben realisieren – es geht ja darum, das akteur-neutral verstandene Gute zu maximieren. Diese Erklärung scheint zunächst plausibel, überzeugt aber letztlich nicht. Wenn das große gemeinsame Projekt aller moralischen Akteure, den bestmöglichen Weltzustand zu realisieren, erreicht ist, dann ist damit ja auch eine Struktur im Leben jeder einzelnen Person realisiert: jede einzelne Person lebt in der bestmöglichen Welt, und insofern ist die gemeinsam realisierte Struktur Teil von jedem einzelnen Leben. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, zu sagen, dass es sich bei den Strukturen, um die es in der Theorie der strukturellen Rationalität geht, um solche handelt, zu deren Realisierung nur eine begrenzte Anzahl an Personen beitragen. Auch die Fälle von kooperativem Handeln, die Nida-Rümelin diskutiert, sind Fälle, in denen nur eine begrenzte Anzahl von Personen kooperiert, während die Struktur, die im Konsequentialismus realisiert werden kann, prinzipiell alle Personen als Kooperationspartner umfasst. Anders als bei anderen Formen von kooperativem Handeln ist Trittbrettfahren im konsequentialistischen Projekt nicht möglich, denn sobald eine Person meint, ihren eigenen Beitrag zum Ziel nicht leisten zu müssen, wird das Ziel bereits verfehlt. Diese Lösung kann allerdings aus zwei Gründen nicht überzeugen. Erstens ist nicht ganz klar, warum die Anzahl der potentiellen Kooperationspartner eine so wichtige Rolle spielen sollte, zweitens lassen sich auch Beispiele denken, die dem Gedanken der strukturellen Rationalität entsprechen und
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die auch alle potenziellen Kooperationspartner umfassen – Kooperation zum Schutz des Klimas wäre ein mögliches Beispiel. Wenn man erklären möchte, warum es einen Unterschied zwischen der Theorie struktureller Rationalität und einer konsequentialistischen Auffassung zu geben scheint, muss man meines Erachtens auf die Rolle von Strukturen in den jeweiligen Auffassungen abzielen. Die konsequentialistische Motivation richtet sich nicht direkt darauf, Strukturen zu realisieren; sie richtet sich darauf, den bestmöglichen Weltzustand zu realisieren. Dass im Zuge dessen Handlungen harmonisiert und somit Strukturen realisiert werden, ist kein elementarer Bestandteil der konsequentialistischen Motivation, sondern ein Epiphänomen. Für eine Person, die strukturell rational handelt, ist die Realisierung von Strukturen dagegen kein bloßes Epiphänomen, sondern elementarer Bestandteil des Handlungsziels. Dies bedeutet nicht, dass die Motivation der Person de dicto darauf abzielen muss, Strukturen zu realisieren. Wer etwas tut, um sein Versprechen zu halten, dessen Motivation wird üblicherweise darin bestehen, das gegebene Versprechen zu halten und nicht darin, eine Struktur von Handlungen, Intentionen usw. zu realisieren. Aber nichtsdestotrotz ist die Realisierung dieser Strukturen weder Mittel zum Zweck, noch ist es ein bloßes Epiphänomen, sondern es ist konstitutiv für den Erfolg des Handlungsziels: ein Versprechen zu halten besteht darin, die entsprechende Struktur von Handlungen, Intentionen usw. zu realisieren. Dies ist dann der entscheidende Unterschied zu einer konsequentialistischen Motivation.
Fazit Der Gedanke der strukturellen Rationalität ist eines der wichtigsten Theoriestücke von Julian Nida-Rümelins Konsequentialismuskritik. Strukturell rational zu handeln und punktuell Handlungsfolgen zu optimieren, scheinen auf den ersten Blick zwei grundsätzlich unterschiedliche Arten der Handlungsmotivation zu sein. Ich hoffe, in meinem Beitrag gezeigt zu haben, dass bei näherem Hinsehen dieser Unterschied nicht so groß ist, wie es zunächst scheint. Konsequentialistisches Handeln lässt sich unter Umständen sogar als Sonderform von struktureller Rationalität interpretieren. Wenn man trotzdem daran festhalten möchte, dass es einen Unterschied zwischen struktureller Rationalität und Konsequentialismus gibt, dann ist dieser Unterschied in der Frage zu verorten, ob die Realisierung von Strukturen bloßes Epiphänomen des angestrebten Handlungsziels oder konstitutiv für das angestrebte Handlungsziel ist. Wenn dieser Unterschied in der Tat zentral ist, dann ist NidaRümelins Konsequentialismuskritik nach wie vor gültig: unsere lebensweltliche Praxis legt nahe, dass wir oft auf Weisen handeln, in denen wir die Realisierung von
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Jörg Löschke
Strukturen kein bloßes Epiphänomen ist, sondern zentral und konstitutiv für das ist, was wir tun und für was wir gute Gründe zu haben meinen.
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Dietmar von der Pfordten
5 Freiheit als die Fähigkeit, sich von Gründen leiten zu lassen? – Zu Julian Nida-Rümelins Freiheitstheorie
Abstract: Freedom as the ability to be guided by reasons? – On Julian Nida-Rümelin’s theory of freedom. This article begins by outlining Nida-Rümelin’s theory of free will. Then further considerations are made that allow his theory of freedom to emerge more vividly. Nida-Rümelin’s thesis that freedom means the ability to be guided by reasons is discussed and a restriction is argued for.
Einleitung Während im 20. Jahrhundert ein nicht unbeträchtlicher Teil der Philosophen die Willensfreiheit bestritt (Strawson 2010), mehren sich in den letzten Jahrzehnten auch bei eher naturwissenschaftlich gebildeten Theoretikern die Stimmen, welche sie wieder anerkennen (Esfeld 2019; Pauen und Roth 2008). Die Argumente der Mitglieder dieser Gruppe sind für die Willensfreiheitsdebatte besonders interessant, weil von ihnen regelmäßig die schärfste Kritik der Freiheit kam.¹ Oder anders formuliert: Wenn naturwissenschaftlich geprägte Theoretiker die Willensfreiheit bejahen, dann verliert die traditionell gewichtigste Skeptikergruppe an Unterstützung. Zu dieser naturwissenschaftlich gebildeten und damit besonders interessanten Gruppe von Freiheitsbefürwortern gehört auch Julian Nida-Rümelin. Im Folgenden soll zunächst seine Theorie der Willensfreiheit skizziert werden (1.). Einige Fragen und weiterführende Überlegungen schließen sich an (2.).
1 Nida-Rümelins Theorie der Willensfreiheit Man kann in Nida-Rümelins Theorie der Willensfreiheit zwei Elemente unterscheiden, ein negatives und ein positives: negativ die Verneinung einer durchgehenden kausalen oder sonstigen Bestimmung und positiv die Charakterisierung der intentionalen Verhaltenssteuerung als Fähigkeit, sich von Gründen leiten zu lassen.
1 Vgl. für einen generellen Überblick über die Debatte zur Willensfreiheit: Pink 2004; Keil 2013; Kane 2011. https://doi.org/10.1515/9783111433233-006
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1.1 Die Verneinung einer durchgehenden kausalen Bestimmung Willensfreiheit erfordert – zumindest nach einer klassischen Auffassung² – das Fehlen einer strikt-naturalistischen oder kausalen Bestimmung aller Veränderungen, also das Fehlen einer durchgängigen Determination (was man als „Determinismus“ bezeichnet). Nida-Rümelin betont zunächst, dass es keinen in der Wissenschaftstheorie unumstrittenen Begriff der Kausalität gebe (Nida-Rümelin 2005, 70–78). Die Wissenschaftstheorie habe sich vielmehr zunächst vollständig vom Kausalitätsbegriff abgewandt, da sie diesen nicht nur für inexplikabel, sondern, in der Nachfolge David Humes, auch für entbehrlich hielt.Verschiedene Modelle, etwa das Hempel-Oppenheim-Schema, hätten daher auf den Begriff der kausalen Erklärung ganz verzichtet. Der wissenschaftliche Erklärungsbegriff sei also weder an Kausalität noch an Determinismus gebunden. Die seitdem entwickelten Kausalitätstheorien knüpften zumeist unmittelbar an den Begriff der wissenschaftlichen Erklärung an und bezögen probabilistische Fälle meist von vornherein mit ein. Jedenfalls gelinge der Übergang von der kausalen Erklärung einzelner Ereignisse und Phänomene zu Verlaufsgesetzen, welche sich auf komplexere Phänomene beziehen, bereits in der klassischen Physik nicht (Nida-Rümelin 2005, 71–72). A fortiori gelte das für die moderne, irreduzibel probabilistische Physik. Und noch mehr für die Biologie und Neurophysiologie, welche es mit komplexeren Systemen zu tun haben. Streng deterministische Verlaufsgesetze seien für die moderne Wissenschaft untypisch und eher metaphysische Postulate. Eine philosophisch relevante Formulierung der Frage müsse vielmehr lauten, ob eine naturalistische Bestimmtheit mit der Freiheit menschlicher Entscheidungen vereinbar ist. Dabei bedeute „naturalistische Bestimmtheit“ die vollständige Erklärbarkeit von Ereignissen durch naturwissenschaftliche Theorien (Nida-Rümelin 2005, 73). Im Hinblick auf die Frage der Erklärbarkeit konzediert Nida-Rümelin, dass die Erklärung eines Verhaltens ohne Rekurs auf Absichten tatsächlich naturalistisch ist und damit keinen Spielraum für Freiheit lasse. Sofern ein Verhalten ohne Bezugnahme auf Intentionen erklärbar sei, würden Absichten tatsächlich keine erklä-
2 Manche neueren Autoren halten allerdings Determinismus und Willensfreiheit für vereinbar (sog. Kompatibilismus), allerdings natürlich um den Preis irgendeiner Einschränkung der durchgängigen Determination (Kane 2011, 153–155). Die durchgehende Determination muss übrigens nicht nur eine solche der Natur sein, sondern es kann sich auch um eine solche des stoischen Logos, der spinozistischen Substanz, Gottes usw. handeln. Und sie wurde in der Geschichte der Philosophie gelegentlich auch so diskutiert, etwa in der Stoa, bei Spinoza oder bei Schelling. Hier wird diese Alternative einer nicht-naturalistischen Determination unseres Willens jedoch nicht weiter erörtert.
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rende Rolle spielen. Wie kann dann aber innerhalb der naturalistisch interpretierten Welt ein Spielraum für eine freie Entscheidung expliziert werden? NidaRümelin führt das Beispiel zweier übereinandergelegter Kugeln an, wobei sich die beiden Kugelschwerpunkte und der Schwerpunkt der Erde exakt in einer Linie befänden (Nida-Rümelin 2005, 74–75). Die vom Erdmittelpunkt weiter entfernte Kugel könnte dann auf der unteren Kugel liegenbleiben oder in einem beliebigen Winkel zwischen 0° und 360° abrollen. Keines dieser Ereignisse wäre physikalisch erklärt oder verstieße gegen physikalische Gesetze. Es bestehe also ein Spielraum innerhalb der naturalistisch bestimmten Welt. Nida-Rümelin vermutet, dass die für freie Entscheidungen notwendige naturalistische Unterbestimmtheit auf Dauer, das heißt auch für eine Wissenschaft der fernen Zukunft, in ähnlicher Weise epistemisch unauffällig sei (Nida-Rümelin 2005, 74). Es gebe unendlich viele physikalische Singularitäten, bei denen eine zusätzliche Bestimmung die physikalischen Gesetze nicht verletze. Eine Bestimmung aus Freiheit wäre also epistemisch – den gegenwärtigen Stand der Physik vorausgesetzt – unbedenklich (Nida-Rümelin 2005, 75). Dies gelte im Übrigen für alle „höheren“ biologischen, neurophysiologischen oder intentionalen Ebenen gegenüber der physikalischen Beschreibungsebene. Naturalismus sei die Position, dass unsere Entscheidungen vollständig naturalistisch erklärt werden können, (theoretischer) Humanismus dagegen die Position, dass dies nicht möglich sei, unsere Entscheidungen also naturalistisch unterbestimmt seien (Nida-Rümelin 2005, 77).
1.2 Willensfreiheit als die Fähigkeit, sich von Gründen leiten zu lassen Nida-Rümelin charakterisiert die Freiheit positiv als die Fähigkeit, sich von Gründen leiten zu lassen.³ Dabei ist die Freiheit für ihn neben Verantwortlichkeit und Vernunft ein Aspekt des Phänomens des Handelns. An anderer Stelle spricht er auch vom „Faktum menschlicher Freiheit“ (Nida-Rümelin 2005, 41). Menschen, also Wesen, welche Gründen zugänglich sind, sind frei bzw. können frei handeln, wobei Nida-Rümelin die Grenze der Fähigkeit zur Leitung durch Gründe nicht zu eng ziehen will, so dass eventuell auch hoch entwickelte Säugetiere wie Menschenaffen, Delphine oder Hunde „in engen Grenzen“ einzubeziehen seien (Nida-Rümelin 2005, 34, Fn. 18). Die Freiheit bestehe nicht nur in der Möglichkeit, so oder anders zu handeln (Nida-Rümelin 2020, 378). Zu dieser bloßen Möglichkeit alternativer
3 Nida-Rümelin 2020, 378. Dort steht zwar „affizieren“, generell bevorzugt der Autor aber eher die weniger emotive Ausdrucksweise „leiten“ (siehe dazu Nida-Rümelin 2020, IX und Fußnote 11).
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Handlungen müsse vielmehr die Fähigkeit, mit Gründen zu handeln, als weitere Bestimmung hinzutreten.
2 Weiterführende Überlegungen und Fragen Diese Überlegungen sollen dadurch weitergeführt werden, dass sie zunächst in einen etwas anderen Zusammenhang gestellt werden. Daraus ergeben sich auch einige Fragen: Die Willens- oder Entscheidungsfreiheit ist sicherlich kein Ding und auch keine bloße Relation, sondern eine Eigenschaft und zwar eine Eigenschaft geistiger Wesen, also Wesen mit mentalen Zuständen. Ein Stein oder ein Planet können mangels intentionaler Prozesse (verstanden im weiten philosophischen Sinn) nicht frei sein. Das Gleiche gilt für eine Pflanze. Vielleicht wuchert mancher Strauch in unserem Garten „frei“, also nicht von einem Gärtner beschnitten und ohne Spalier. Aber das ist nur eine Redeweise, welche sich auf den Freiheitsbegriff im Allgemeinen bezieht und nicht die Entscheidungs- oder Willensfreiheit einschließt. Eine gewisse Form von Geistigkeit, also höhere mentale bzw. intentionale Prozesse, ist für die Annahme von Willensfreiheit konstitutiv. Dies ist auch die Auffassung Nida-Rümelins, wenn er Absichten im weiteren Sinn bzw. Intentionen als für nicht-naturalistische Erklärungen der Freiheit notwendig annimmt (siehe oben unter 1.). Von diesem Ausgangspunkt muss man zwei Aspekte der Freiheit unterscheiden. Zum einen nehmen wir an, dass geistige Wesen selbst frei sind. Wir sprechen etwa davon, dass Anna frei ist. Zum anderen halten wir bestimmte Veränderungen geistiger Wesen, und zwar intentional gesteuerte Verhaltensweisen, also Denken, Wollen, Entscheiden, Handeln usw. für frei.⁴ Wir glauben etwa, dass Anna ihren Beruf als Ärztin frei gewählt hat. Diese Doppelung des Freiheitsbegriffs bedarf einer Erklärung. Sie ergibt sich daraus, dass die Freiheit keine einfache körperliche Eigenschaft wie die Farbe der Augen oder die Form der Hände ist. Sie ist aber auch keine einfache geistige Eigenschaft, wie etwa das Denken oder die Bildung eines Menschen. Die Eigenschaft der Freiheit ist vielmehr die Eigenschaft einer Eigenschaft (also eine Metaeigenschaft), und zwar der Eigenschaft aller geistigen Wesen, intentional gesteuerte Verhaltensweisen auszuführen: und zwar zum einen Handlungen als nach außen wirksame Verhaltensweisen, zum anderen aber bloße intentionale Prozesse, die zwar ebenfalls handlungswirksam werden können, jedoch verschiedentlich auch ohne Handlungswirksamkeit ablaufen, z. B. Nachdenken, Wollen, steuerbare Emotionen, Entscheiden, Erinnern, Gewissensbestimmung usw.
4 Vgl. zu den Teilen der Handlung im Allgemeinen: von der Pfordten 2010, 90.
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Der Kern der Freiheitsannahme liegt darin, dass alle diese intentional gesteuerten Verhaltensweisen die Metaeigenschaft aufweisen, frei zu sein. Warum Metaeigenschaft? Weil diese intentional gesteuerten Verhaltenseigenschaften ihrerseits Eigenschaften geistiger Wesen darstellen. Wenn wir also ein geistiges Wesen als frei bezeichnen, so behaupten wir, dass es die Fähigkeit, also die Möglichkeit hat, sich frei zu verhalten. In diesem Fall handelt es sich um eine Eigenschaft des geistigen Wesens selbst, allerdings um eine solche, welche inhaltlich auf die Metaeigenschaft des freien Verhaltens bezogen ist. Die (Meta‐)Eigenschaft der Willens- bzw. Entscheidungsfreiheit mentaler Wesen sowie ihrer intentional gesteuerten Verhaltensweisen setzt von diesem Ausgangspunkt aus drei Teile bzw. Aspekte voraus, die nachfolgend untersucht sowie beschrieben werden sollen.
2.1 Spielraum in der Notwendigkeit der umfassenden, naturalistisch-externen Bestimmung In der Notwendigkeit der umfassenden, naturalistisch-externen Bestimmung der geistigen Wesen und ihrer intentional gesteuerten Verhaltensweisen muss ein partieller Spielraum, also eine Lücke bzw. Unvollständigkeit, bestehen. Wäre jedes intentional gesteuerte Verhalten von geistigen Wesen vollständig durch eine naturalistisch-externe Notwendigkeit bestimmt, so wäre Freiheit unmöglich. Nida-Rümelin beschreibt diesen Spielraum durch seine Zurückweisung des umfassenden Determinismus und seine Annahme der epistemischen Unauffälligkeit zusätzlicher intentionaler Bestimmungen. Mir erscheint diese Beschreibung überzeugend. Allerdings sollte man sich klarmachen, dass diese Lücke in der naturalistischen Notwendigkeit auch einen Spielraum für den Zufall, also eine zufällige bzw. kontingente Wirklichkeit lässt. Der Zufall, die zufällige bzw. kontingente Wirklichkeit (τύχη, casus/fors, chance/accident/coincidence/contingent reality) ist die Wirklichkeit, welcher es fehlt, notwendig zu sein, also eine Wirklichkeit ohne Notwendigkeit (p ∧ Ø□). Im obigen Beispiel Nida-Rümelins der beiden exakt aufeinander liegenden Kugeln wird man das Bleiben oder die Absturzbewegungen der weiter vom Erdmittelpunkt entfernten, also oberen Kugel als nicht notwendig, sondern zufällig beschreiben. Die Willensfreiheit setzt somit zum einen die partielle Lücke in der naturalistisch beschriebenen Notwendigkeit voraus, erfordert aber gleichzeitig den Ausschluss des Zufalls durch eine eigene intentionale Bestimmung, somit eine eigene intentional erzeugte Notwendigkeit des freien geistigen Wesens.
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2.2 Möglichkeit einer eigenen, nicht-naturalistischen und zugleich intentionalen Steuerung des eigenen Verhaltens Wenn man die Welt für naturalistisch unterbestimmt hält, also eine Lücke in der naturalistischen Bestimmung der Welt annimmt, impliziert das noch keine Füllung dieser Lücke. Man kann sich eine Welt ohne das Bestehen geistiger Wesen vorstellen, in der zwar eine Lücke in der naturalistischen Bestimmung besteht, aber ansonsten nur zufälliges Werden. Damit ist zwar schon eine abstrakte, physikalische Möglichkeit zur Lückenfüllung eröffnet. Aber es besteht noch keine konkret-individuelle, intentionale Möglichkeit der Füllung durch eine geistig erzeugte Notwendigkeit. Diese konkret-individuelle und zugleich intentionale Möglichkeit zur Lückenfüllung besteht nur, wenn es geistige Wesen gibt, welche eine solche Fähigkeit zur eigenen intentionalen Bestimmung ihres Verhaltens aufweisen – etwa ab dem Zeitpunkt, zu dem höhere Tiere und Menschen auftauchen. Das bedeutet: Erst mit der Existenz geistiger Wesen besteht die Möglichkeit einer Nutzung des Spielraums im naturalistisch interpretierten Weltgefüge. Man kann dann die Eigenschaft der Freiheit geistiger Wesen folgendermaßen fassen: Die Freiheit im weiteren Sinn, Unabhängigkeit, Ungebundenheit (ἐλευθερία i. w. S, libertas, liberty/freedom, alles im weiteren Sinn), ist die Eigenschaft eines geistigen Wesens, wonach sein mögliches oder wirkliches Verhalten nur unvollständig durch ein von seinen verhaltensbezogenen Intentionen Differentes bestimmt wird und eine eigene, intentionale Bestimmung dieses Verhaltens möglich ist, also eine entsprechende Fähigkeit zur intentionalen Bestimmung seines Verhaltens besteht. Nida-Rümelin scheint mir ohne Weiteres von diesem zweiten Element der Freiheit auszugehen, wenn er diese als Fähigkeit charakterisiert, sich von Gründen leiten zu lassen. Mit diesem zweiten Element der realen Fähigkeit, also der realen Möglichkeit, geistiger Wesen, ihr eigenes Verhalten intentional zu bestimmen, ist eine Deckung der Zuschreibung der Eigenschaft der Freiheit an geistige Wesen erreicht, wie sie oben als erste Alternative des Freiheitsbegriffs beschrieben wurde. Allerdings ist damit noch nicht die Charakterisierung der jeweiligen intentionalen Verhaltensweisen als frei gedeckt, welche den Kern des Willensfreiheitsproblems ausmacht. Man könnte sich eine Situation vorstellen, wo geistige Wesen aufgrund ihrer mentalen Grundkonstitution zwar die reale Möglichkeit zur intentionalen Bestimmung ihres Verhaltens haben, aber ein äußerer Mechanismus die Realisierung dieser intentionalen Bestimmung immer wirksam verhindert. Die Fälle, welche Frankfurt als Gegenargumente gegen die Identifizierung von Freiheit mit der Möglichkeit alternativer Handlungen anführt (Frankfurt 1969), laufen auf eine solche Weltgestaltung hinaus. Die Möglichkeit zur intentionalen Verhaltensbestimmung muss also nicht nur eine individuell-konkrete und damit reale sein,
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sondern sie darf auch nicht permanent durch weitere Notwendigkeiten, also etwa den Zwang seitens anderer an ihrer Realisierung gehindert sein.
2.3 Realität der eigenen, nicht-naturalistischen und zugleich intentionalen Bestimmung des eigenen Verhaltens. Jenseits der Fähigkeit, also der Möglichkeit geistiger Wesen zur intentionalen Bestimmung ihres Verhaltens liegt das dritte Element der Willensfreiheit in der tatsächlichen Bestimmung der Realisierung dieser Fähigkeit. Als Metaeigenschaft des intentionalen Verhaltens geistiger Wesen ist die intentionale Steuerung eines spezifischen Verhaltens nicht nur möglich, sondern sie muss tatsächlich verwirklicht werden, und zwar von dem frei agierenden geistigen Wesen selbst und nicht durch andere oder anderes. Ein konkretes Verhalten ist also nur dann frei, wenn das geistige Wesen durch die intendierte Verhaltensbestimmung das fragliche Verhalten tatsächlich – zumindest mit einer gewissen Wirksamkeit – steuert. Dies kann nur geschehen, wenn die jeweilige Intention des geistigen Wesens die Lücke in der externen, naturalistischen Notwendigkeit füllt, indem das geistige Wesen selbst dafür sorgt, dass die intentionale Verhaltenssteuerung real wird. Man muss also die Wirklichkeit und damit Wirksamkeit der eigenen Verhaltensbestimmung so verstehen und beschreiben können, dass z. B. ein einzelner Mensch seinen Arm selbst hebt, weil er dies will, und nicht so, dass die Krankengymnastin den fremden Arm der Patientin angehoben hat. Im letzteren Fall liegt auch kein Handeln der Patientin vor. Eine effektive Herbeiführung der Konsequenz, dass sich der Arm im Raum von unten nach oben bewegt, ist also nicht ausreichend. Man wird annehmen können, dass in dieser eigenen Bestimmung des Verhaltens eine intentionale Notwendigkeit der Verhaltenssteuerung liegt. Nicht erforderlich ist aber die stärkere Annahme, dass diese Verhaltensbestimmung durch die eigene Intention als kausal qualifiziert wird. Die Frage nach der kausalen Bestimmung der Handlung steht vor allen philosophischen und wissenschaftstheoretischen Problemen, welche der Kausalitätsbegriff und die Kausalrelation aufwerfen (vgl. oben). Fraglich ist, ob man jenseits dieser Verhaltensbestimmung durch die jeweilige Intention für das dritte Element der Freiheit mehr annehmen muss. Nida-Rümelin tut dies, indem er die spezifischere Leitung des fraglichen Verhaltens durch Gründe fordert. Die intentional erzeugte Notwendigkeit der Verhaltensbestimmung muss für ihn also, um frei zu sein, eine solche durch Gründe sein. Nachfolgend soll die Frage gestellt werden, ob diese Charakterisierung der Freiheit bzw. diese Forderung an die Freiheit eines Verhaltens, durch Gründe gesteuert zu sein, nicht zu eng ist. Es soll also nicht bestritten werden, dass ein Verhalten, welches durch Gründe gestützt
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ist, als frei anzusehen ist. Es soll auch nicht bezweifelt werden, dass es viele evaluative und präskriptive Rechtfertigungen gibt, welche fordern, dass wir uns mit Gründen verhalten, etwa durch die Ethik und das Recht. Und auch die anthropologische These, dass der Mensch in seinem Selbstverständnis in starkem Maße durch sein Verhalten mit Gründen geprägt ist, wird nicht in Zweifel gezogen. Aber man kann die starke Notwendigkeitsthese bezweifeln, dass der intentionale Prozess, der ein Verhalten so bestimmt, dass es die Metaeigenschaft der Freiheit aufweist, immer und in allen Fällen notwendig ein solcher des Bestehens oder „Gebens“ von Gründen sein muss.⁵
Was sind Gründe? Viel hängt bei der Beantwortung dieser Frage davon ab, was man unter Gründen versteht. Aber ganz gleich, ob man sie subjektiv oder objektiv interpretiert: jedenfalls sind sie Verknüpfungen von Gedanken bzw. – sprachlich interpretiert – Aussagen über die Verknüpfung von Gedanken. Der Gedanke „Ich habe Schmerzen“ und der Gedanke „Ich sollte einen Arzt aufsuchen“ stehen noch nicht in einem Verhältnis der Begründung zueinander. Sie müssen erst zu dem komplexen Gedanken „Ich habe Schmerzen, deshalb sollte ich einen Arzt aufsuchen.“ verbunden werden, damit der einfache Gedanke „Ich habe Schmerzen“ zu einem Grund für den anderen einfachen Gedanken „Ich sollte einen Arzt aufsuchen“ wird. Und dann hat man noch nicht einmal entschieden, ob es sich um einen guten oder einen schlechten Grund handelt. Gründe sind also weder Begriffe als Teile von Gedanken noch einfache Gedanken, sondern bestehen in der Verknüpfung von Gedanken, also in einer komplexen Verbindungsstruktur, welche der logischen Verknüpfung der Implikation in der Aussagenlogik entspricht. Dies erklärt vielleicht, warum gerade Logiker oder durch die formale Logik geprägte Theoretiker die Charakterisierung unseres Verhaltens mit Rekurs auf Gründe so überzeugend finden (Raz 1999, 15–17; Hage 1996). Nun wird man sicher nicht bestreiten können, dass die begründende Verknüpfung von Gedanken im Rahmen von theoretischen und praktischen Erklärungen eine wichtige Rolle spielt. Allerdings stellt diese Verknüpfung von Gedanken eben nur einen Teil unseres Denkprozesses dar, aber keineswegs den ganzen. 5 Die Ausdrucksweise des „Gebens“ von Gründen ist zumindest im Deutschen sehr unnatürlich. Sie subjektiviert das Verständnis von Gründen und bezeichnet sie wie ein weitergabefähiges, körperliches Objekt. Wer von Gründen als objektiv und damit unabhängig von subjektiven Erzeugungsund Weitergabeakten ausgeht, wird diese Ausdrucksweise eher vermeiden und besser von dem Haben und Mitteilen von Gründen sprechen.
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Fundamentaler als die Verbindung von Gedanken zu Gründen, sind die Begriffe, welche die Basis der einzelnen Gedanken bilden, in unserem Fall also Begriffe wie „Schmerz“, „haben“, „Arzt“, „aufsuchen“, „Sollen“. Diesen Begriffen muss zunächst und grundlegend eine Wirklichkeit entsprechen können, etwa eine bereits realisierte oder wenigstens eine noch zu realisierende Wirklichkeit. Und für die Verbindung zu Gedanken muss eine konkrete Wirklichkeit angenommen werden. So behauptet der konkrete Gedanke „Ich habe Schmerzen“ die Realität meiner Person und der Eigenschaft meiner Person, Schmerzen zu haben. Diese sehr basalen Denkoperationen des Habens von Begriffen und ihrer Verbindung zu Gedanken wird von der Verknüpfung der Gedanken durch Gründe nicht erfasst oder gar in irgendeiner Weise erzeugt. Das bedeutet, dass die Charakterisierung unseres Denkprozesses als Verstehen oder Haben von Gründen dessen Gesamtheit und Komplexität nicht hinreichend beschreibt. Man könnte allerdings einwenden, dass es gerade nicht die Gesamtheit unseres Denkprozesses in seiner vollen Komplexität ist, welche die Notwendigkeit der intentionalen Bestimmung unseres Verhaltens im einzelnen Fall ausmacht. Es ist vielmehr derjenige Teil unseres Denkprozesses, welcher das einzelne Verhalten als Ergebnis dieses Denkprozesses unmittelbar leitet. Das wären traditionell ausgedrückt der Wille und modern – von manchen angenommen – die Gründe. Allerdings stellen beide Alternativen wiederum nur mögliche Interpretationen dieses letzten Elements zur Leitung unseres Verhaltens dar. Und diese Interpretation kann man natürlich anzweifeln. Auf der sicheren Seite ist man jedenfalls, wenn man den gesamten Denkprozess als Erzeugung der freiheitsverbürgenden Verhaltensleitung ansieht, d. h. vor allem einschließlich der Begriffe und Gedanken und nicht nur der Verbindung dieser Gedanken zu Gründen. Setzt die Fähigkeit zur Freiheit die Fähigkeit zum Haben von Gründen voraus? Und setzt ein einzelnes freiheitliches Verhalten voraus, dass es durch Gründe geleitet wird? Unser mentaler Prozess kann so gestaltet sein bzw. sich so „zuspitzen“, dass wir eine eigene, verhaltensleitende Intention bilden. Dies ist eine Fähigkeit geistiger Wesen, die wir täglich für uns selbst und andere geistige Wesen als möglich annehmen und realisieren. Diese Annahme der Möglichkeit einer verhaltensleitenden Intention wird durch eine Vielzahl sozialer Fakten beglaubigt, etwa die zahllosen Vorschläge in der Ratgeberliteratur oder die Verhaltensanforderungen, welche das Recht an uns stellt. Fraglich ist, ob die engere Fähigkeit und Wirklichkeit des Verstehens und Habens von Gründen dafür wirklich ausnahmslos in allen Fällen erforderlich ist. Mir scheint das zweifelhaft zu sein. Dieser Zweifel soll durch einzelne Argumente untermauert werden:
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Fraglich ist, ob es bei geistigen Wesen nicht Formen der intentionalen Leitung gibt, welche zur Metaeigenschaft der Freiheit unseres Verhaltens führen, ohne dass ein Grund für dieses Verhalten besteht. Man denke sich folgendes Beispiel: Anna beendet ihre Tätigkeit am Schreibtisch, steht auf und macht einen Spaziergang. Alle diese drei Handlungen (oder Teile einer einzelnen Handlung) geschehen bewusst und sind intentional gesteuert. Anna würde es zurückweisen, ihre Handlung als extern determiniert, zufällig oder unfrei zu beschreiben. Auf Nachfrage bekräftigt sie vielmehr, dass sie sich frei für diese drei Handlungen entschieden hat. Auf die weitere Frage, ob sie einen Grund für ihr Spazierengehen hatte, verneint sie dies. Das Ziel, spazieren zu gehen, mag zwar der Grund für die Beendigung ihrer Schreibtischtätigkeit und ihres Aufstehens sein. Aber das Spazierengehen selbst diente keinem weiteren Ziel oder hatte einen sonstigen Grund. Sie wollte weder einkaufen, noch etwas für ihre Gesundheit tun, noch sich entspannen, noch hatte sie irgendeinen anderen Grund. Jede Nachfrage nach einem über die bloße, allerdings bewusste und gewollte Intention spazieren zu gehen, hinausgehenden Bedürfnis oder Wunsch prallt an ihr ab. Sie hat bedürfnis- und wunschlos gehandelt. Zumindest war das ihre eigene Wahrnehmung. Und wer wollte ein Bedürfnis oder einen Wunsch behaupten, wenn der Träger ihn selbst nicht erkennt? Eine solche intentional gesteuerte Verhaltensweise ohne Grund scheint weder logisch, noch metaphysisch, physikalisch, anthropologisch oder in sonstiger Hinsicht unmöglich zu sein. Und es ist kein Hindernis erkennbar, Annas Handlung des Spazierengehens genauso als frei anzusehen, wie wenn sie einen über die bloße intentionale Bestimmung hinausgehenden Grund gehabt hätte. Man könnte einwenden, dann habe sie ja willkürlich gehandelt. Aber die Qualifizierung eines Verhaltens als willkürlich muss zum einen scharf von seiner Qualifikation als zufällig unterschieden werden und zum anderen scheint sie nicht auszuschließen, dass jemand trotzdem frei gehandelt hat. Warum sollten Willkürhandlungen nicht frei sein? Das nimmt im Übrigen auch Nida-Rümelin an (Nida-Rümelin 2020, 380– 381). Und er spricht sogar von der „Willkürfreiheit“, welche die Bedingung von Autonomie sei und „Gründe generiere“. Wenn aber die Willkürfreiheit zur Entscheidung auch eine Form der Freiheit ist, dann kann die Freiheit nicht nur in der Fähigkeit oder Wirklichkeit von mit Gründen versehenen Verhaltensleitungen liegen. Will man den Gegensatz der Meinungen in der philosophischen Tradition fassen, so steht auf der einen Seite Leibniz’ These, dass jede Veränderung einen zureichenden Grund braucht (auch eine Handlung) (Leibniz 1996, § 32, 452–453; 1999, § 44, 272–273; § 196, 548–551), und auf der anderen Seite die Tradition des Existentialismus, wonach es existentielle Entscheidungen geben kann, die uns selbst als Existierende konstituieren und für die es keinen (weiteren) Grund gibt.
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Man wird Kant als Fortsetzer der Tradition Leibniz‘ ansehen müssen. Seine Freiheitskonzeption ist ein Beleg für eine notwendige Vernunftabhängigkeit der intentionalen Verhaltensleitung. Es kann kein Zweifel bestehen, dass Kant eine objektive Vernunftbestimmung unserer Handlungsintentionen annahm: „Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt Imperativ.“ (Kant 1968b, AA IV, 413). Da hiermit nicht nur der kategorische Imperativ der Moralität der Vernunftbestimmung unterstellt ist, sondern auch die hypothetischen Imperative der Geschicklichkeit und der Glückseligkeit (Kant 1968b, AA IV, 414–416), ist diese Annahme einer Vernunftbestimmung unseres Handelns bei Kant keineswegs auf den Bereich der Sittlichkeit (Ethik und Recht) beschränkt, sondern erfasst auch alle Formen instrumenteller Rationalität. Diese Annahme einer sehr weitgehenden Vernunftbestimmung unseres Handelns ist aber noch nicht gleichbedeutend mit der noch stärkeren These, dass all unser freies Verhalten notwendig vernunftbestimmt sein muss. Man erinnere sich daran, dass Kant die Freiheit zwar für die ontologische Grundlage, die ratio essendi, des moralischen Gesetzes hielt (Kant 1968a, AA V, 4). Freiheit und moralisches Gesetz wurden aber von ihm keineswegs identifiziert, sondern die Freiheit kann für ihn auch Grundlage anderen Verhaltens sein. Man wird allerdings annehmen müssen, dass dies dann das oben erwähnte, über die Moralität hinausgehende, vernunftbestimmte Verhalten, also die hypothetischen Imperative der Klugheit, das heißt der Geschicklichkeit und der Glückseligkeit sein müssen.⁶ Das Handeln aus bloßer Neigung würde Kant wohl nicht unter den Begriff der Freiheit fassen. Auf der anderen Seite stehen Existentialisten wie Kierkegaard, Sartre und Camus, bei denen sich die menschliche Freiheit gerade in einer existentiellen Grundlosigkeit des Handelns manifestiert (Kierkegaard 2023, 772–774, 783; Sartre 2004, 753–755, 799–800; Camus 1996). Mir erscheinen beide Extrempositionen zu weit zu gehen: Weder lässt es sich – wie das Beispiel von Anna zeigt – ausschließen, dass es freies Handeln ohne Gründe geben kann, noch lässt sich behaupten, dass ein solches freies Handeln ohne Gründe gegenüber einem Handeln mit Gründen in irgendeiner Weise paradigmatisch, herausgehoben oder grundlegend ist. Man könnte einwenden: Zwar kann es tatsächlich auch einige wenige intentionale Verhaltensweisen ohne Gründe geben, die wir als frei ansehen, wie das Beispiel von Anna zeigt. Aber zumindest die grundsätzliche Fähigkeit, Gründe zu 6 Vgl. Kant 1968c, 50, Fn.: „Den Begriff der Freiheit mit der Idee von Gott, als einem nothwendigen Wesen, zu vereinigen hat gar keine Schwierigkeit: weil die Freiheit nicht in der Zufälligkeit der Handlung (dass sie gar nicht durch Gründe determiniert sei, d. i. nicht im Indeterminism […] sondern in der absoluten Spontaneität besteht, welche […].“
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verstehen, zu haben und zu kommunizieren sei auch in diesen Fällen erforderlich. Aber das scheint den eingangs analysierten Freiheitsbegriff als Repräsentation einer Metaeigenschaft von Verhaltensweisen nicht ernst genug zu nehmen. Freie Wesen sind – zumindest gemäß dem allgemein akzeptierten Begriff der Freiheit – frei, weil sie sich frei verhalten können und nicht, weil sie weitere, anspruchsvollere kognitive Fähigkeiten wie diejenige des Verstehens und Habens von Gründen aufweisen. Zwei Beobachtungen sollen das hier dargestellte Begriffs- und Realitätsverständnis untermauern: (1) Man denke an spielende Kinder ab einem gewissen Alter. Viele ihrer Spiele haben keinen Grund. Sie backen etwa Kuchen aus Sand und bieten diese ihren Spielkameraden an. Fragt man sie, aus welchem Grund sie das getan haben, so können sie keine Antwort geben. Dennoch ist ihr Verhalten ohne Zweifel bewusst und intentionsgesteuert. Und wir würden es auch als frei ansehen, obwohl ein Grund im einzelnen Fall nicht erkennbar ist. Das Spielen scheint paradigmatisch für ein solches intentional bestimmtes und damit freies Handeln ohne Grund zu sein. Dies schließt natürlich nicht aus, dass einzelne Spielzüge dann den internen Regeln und Zielen des Spiels folgen und insofern intern begründet sind. Wir können etwa ohne weiteren Grund mit dem Schachspielen beginnen, also um des Schachspielens willen, aber ein bestimmter Zug, der bestimmten Regeln und Strategien folgt, ist dann durchaus – intern – begründet. (2) Wir sehen nicht nur Menschen und die von Nida-Rümelin erwähnten höheren Säugetiere, also Menschenaffen, Delphine und Hunde als frei an, sondern auch andere Tiere mit einer mentalen Ausstattung zur Verhaltenssteuerung, bei denen man aber beim besten Willen keine Fähigkeit oder Wirklichkeit des Verstehens oder Habens von Gründen annehmen kann. So lässt etwa der Wildhüter junge Vögel nach der Aufzucht frei und sie fliegen dann frei davon. Nun könnte man einwenden, der zur Erfassung dieses Verhaltens der Vögel gebrauchte Begriff der Freiheit sei nur ein solcher der Bewegungsfreiheit, nicht aber der Willensfreiheit. Aber der Begriff der Willensfreiheit ist an sich problematisch, wenn man einen von der Gesamtheit der mentalen Prozesse isolierbaren Willen annimmt. Das Einzige, was wir wirklich behaupten können, ist, dass solche mentalen Prozesse stattfinden und sich auf ein intentional gesteuertes Verhalten hin zuspitzen, welches nicht von außen vollständig bestimmt ist, sondern im Zuspitzungsprozess vom fraglichen Lebewesen mental kontrollierbar ist. Und das nehmen wir für Vögel wie für Menschenaffen und Menschen an. Insofern spricht nichts dagegen, auch bei Vögeln und anderen höheren Tieren eine intentionale Selbststeuerung ihres Verhaltens und damit eine Freiheit der Verhaltensbestimmung zu vermuten.
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Die Differenz zwischen diesen höheren Tieren und dem Menschen wird nicht durch den Freiheitsbegriff repräsentiert, sondern durch die Begriffe Verantwortung, Pflicht und Schuld. Um Verantwortung und Verpflichtungen übernehmen zu können und im Falle einer Pflichtverletzung schuldig zu sein, bedarf es höherer kognitiver Fähigkeiten, wie sie vor allem der Mensch aufweist: das Verstehen von Verantwortung und Verpflichtungen, das Einsehen von Begründungen, die Fassung von Plänen und die Projektion in die Zukunft, das Aufnehmen und Haben von Werten usw. Man kann zusammenfassen: Nida-Rümelins Freiheitskonzeption erscheint mir in fast all ihren Teilen überzeugend. Nur die Annahme, dass ausnahmslos alle intentionalen Verhaltenssteuerungen, welche wir als frei qualifizieren, mit Gründen erfolgen, scheint zu stark zu sein. Das ändert natürlich nichts daran, dass das Bestehen von Gründen für ein Verhalten seine Qualifikation als (willens‐)frei erlaubt. Und es ändert auch nichts an der Einsicht, dass menschliches Handeln regelmäßig mit Gründen erfolgt und auch – vor dem Hintergrund von Verantwortung, Verpflichtung, Rechtfertigung, Schuld, Werten usw. – mit Gründen erfolgen soll.
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Erasmus Mayr
6 Verantwortung, alternative Handlungsmöglichkeiten und Entschuldigungen Abstract: Responsibility, alternative possibilities and excuses. The topics of free will and responsibility play a central role in Julian Nida-Rümelin’s work. In this paper, I focus on one aspect of the relationship between responsibility, (possible) guidance by reasons and the availability of alternative possibilities. Distinguishing between four roles the reply ‘I could not have done otherwise’ can have in rebutting an accusation of wrongdoing, I argue that Nida-Rümelin’s preferred way of understanding responsibility in terms of (possible) guidance by reasons has difficulties in accounting for a specific category of excuses: Namely, those which are based on the fact that doing what is right would involve such great sacrifices for an agent that it cannot reasonably be demanded of her. To account for this kind of excuse, we should not only accept that ‘responsibility’ is, in crucial respects, a normative concept. In addition, understanding responsibility in terms of (possible) guidance by reasons should not be seen as already providing a complete account of the conditions for responsibility. It rather provides a general template which can be filled out in different ways, leading to various more specific forms of responsibility.
Einleitung In Julian Nida-Rümelins äußerst vielseitigem Oeuvre nimmt die Thematik Freiheit und Verantwortung eine zentrale Rolle ein. Nicht nur deshalb, weil er sich mit dieser Thematik in besonders vielen Schriften auseinandergesetzt hat, sondern auch, weil seine Auseinandersetzung mit ihr in vielen Hinsichten eine Schlüsselrolle für seine philosophischen Positionen zu anderen Fragen spielt. In meinem Beitrag werde ich lediglich auf einen Detailaspekt des von ihm oft diskutierten komplexen Verhältnisses von Freiheit, Verantwortung, Gründen und alternativen Handlungsmöglichkeiten eingehen können. Dieser Detailaspekt betrifft die Funktion einer bestimmten Art von Entschuldigung. Ausgehend davon werde ich vorschlagen, dass die von Nida-Rümelin verteidigte Grundidee, Verantwortung und Freiheit seien über Leitbarkeit durch Gründe zu verstehen, am besten in einer bestimmten Weise interpretiert bzw. weiterentwickelt werden sollte: Einerseits dahingehend, dass Verantwortung als ein in wesentlicher Hinsicht normativer Begriff verstanden werden sollte, wodurch verschiedenen, z.T. schon von Nidahttps://doi.org/10.1515/9783111433233-007
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Rümelin angesprochenen Elementen ein noch größeres Gewicht eingeräumt wird. Andererseits dahingehend, dass die Idee der Leitbarkeit durch Gründe als ein weiter ausfüllbares und ausfüllungsbedürftiges Schema für verschiedene Formen von Verantwortung zu verstehen ist und nicht schon selbst eine vollständige Charakterisierung oder Erklärung von Verantwortung darstellt.
1 Nida-Rümelin zu Freiheit, Verantwortung und Geleitetsein durch Gründe Nida-Rümelin hat wiederholt betont, dass wir nicht umhinkönnen, einander in unserem alltäglichen Denken und den unsere ‚Lebenswelt‘ mitkonstituierenden Praktiken als frei anzusehen. Denn unsere diese Lebenswelt prägende ’Sozialität’ – hier folgt Nida-Rümelin im Wesentlichen Peter Strawson – zeichnet sich entscheidend durch ein Netz charakteristischer ‚reaktiver Einstellungen‘ aus, für deren Sinnhaftigkeit wir implizit bei uns selbst und anderen Freiheit voraussetzen müssen (Nida-Rümelin 2005, 33). Die relevante Freiheit versteht Nida-Rümelin dabei im Sinne der möglichen Leitung und Ausrichtung des eigenen Handelns und Denkens durch bzw. an Gründe(n). Gleiches gilt für Verantwortung, da Verantwortung und Freiheit für Nida-Rümelin lediglich „zwei Aspekte desselben Phänomens, nämlich der Affektion durch Gründe“ sind (Nida-Rümelin 2020, 390). „Ich bin frei, wenn es mir möglich ist, den besseren Gründen (dem Ergebnis der Abwägung) zu folgen. Ich bin verantwortlich, sofern ich die Möglichkeit hatte, Gründe abzuwägen und dem Ergebnis dieser Abwägung zu folgen.“ (Nida-Rümelin 2020, 385) Der für uns unvermeidbaren positiven Annahme, dass wir „uns selbst und Andere gar nicht anders ansehen [können] denn als Wesen, die ihr Handeln an Gründen ausrichten“ (Nida-Rümelin 2005, 33), entspricht als notwendiges Korrelat die negative Annahme der Nichtdeterminiertheit unseres Denkens und Handelns durch naturwissenschaftlich vollständig fassbare Faktoren und Phänomene (NidaRümelin 2005, 35). Diese Annahme umfasst drei zentrale Elemente: (i) Die Ablehnung der Möglichkeit eines vollständigen naturalistischen Reduktionismus. (ii) Die Anerkennung einer echten Relevanz unseres Erfassens von Gründen und unserer Deliberation für unser Verhalten. (iii) Die Annahme der Existenz alternativer Möglichkeiten – wenn auch zunächst nur in einem ganz bestimmten Sinne: Nämlich alternativer Möglichkeiten, gegeben die der Entscheidung und Handlung vorangehenden natürlichen Tatsachen (Nida-Rümelin 2005, 94). Dagegen lässt Freiheit, verstanden als „naturalistische Unterbestimmtheit“ (Nida-Rümelin 2005, 95), andere Formen von Determination grundsätzlich zu (Nida-Rümelin 2019, 7): Insbesondere Determination durch zwingend für eine Option sprechende Gründe.
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Freilich ist naturalistische Unterbestimmtheit allein für Freiheit und Verantwortung nicht ausreichend – nicht einmal, was die Frage nach alternativen Möglichkeiten betrifft. Denn manchmal schließen es gerade Faktoren, die selbst plausibler Weise nicht vollständig naturalisierbar sind, aus, dass eine Person Gründe abwägen und dem Ergebnis ihrer Abwägung folgen kann. Stellen wir uns vor, Hans ist an einem Unfall beteiligt, bei dem Menschen zu Schaden gekommen sind. Hans ist über seine eigene Mitverantwortung an diesem Unfall so entsetzt, dass er zeitweise buchstäblich keinen anderen klaren Gedanken mehr fassen kann und deshalb nicht mehr in der Lage ist, den Unfallopfern zu helfen. Es wäre nur allzu natürlich, wenn er auf den Vorwurf, er habe den Opfern nicht geholfen, antworten würde: ‚Ich konnte das nicht‘, wodurch er die Unmöglichkeit, anders zu handeln, zu seiner Entschuldigung anführen würde. Falls wir glauben, dass tatsächlich eine solche Unmöglichkeit vorlag, würden wir das normalerweise¹ als hinreichend dafür ansehen, um unseren Vorwurf bzgl. des Nichthelfens zurückzuziehen. Und das, obwohl das Nichthelfen plausibler Weise nicht vollständig naturalistisch erklärbar ist: Denn das Entsetzen, das Hans am Helfen hinderte, beruhte auf dem Erfassen von Gründen, und damit auf einem mentalen Vorgang, der vermutlich weder vollständig auf neurophysiologisches Geschehen reduzierbar noch kausal epiphänomenal war. Was erfordern Freiheit und Verantwortung über bloße naturalistische Unterbestimmtheit hinaus? Eine weitere wichtige Dimension nennt Nida-Rümelin andernorts: „Überall dort, wo Gründe im Spiel sind, gibt es die Möglichkeit, durch Abwägung seine Überzeugungen zu ändern und seine Entscheidungen zu treffen“ (Nida-Rümelin 2020, 359). Verstanden werden soll diese Möglichkeit durch die mögliche Ausrichtung an besseren Gründen. „Ich bin frei, wenn es mir möglich ist, den besseren Gründen (dem Ergebnis der Abwägung von Gründen) zu folgen“ (Nida-Rümelin 2020, 385). Der Sinn von alternativen Möglichkeiten, der dadurch mit der Leitung durch Gründe verbunden wird, ist freilich plausibler Weise in zwei Hinsichten ein bloß kontrafaktischer. Zum einen gibt es, wenn ich tatsächlich den besten Gründen in meiner Entscheidung und meinem Verhalten gefolgt bin, keine noch besseren Gründe, denen ich in dieser Situation folgen konnte. Zum andern kann zwar die tatsächliche Unkenntnis oder Fehlbewertung von Gründen dazu führen, dass ich mich an ihnen de facto in einer konkreten Situation nicht ausrichten konnte. Aber dies schließt nicht per se die Verantwortung für eine daraus resultierende falsche Handlung aus; nämlich dann nicht, wenn man von mir das Einholen relevanter Informationen oder eine bessere Urteilsbildung hätte erwarten können (Nida-Rümelin 2020, 385).
1 Jedenfalls, soweit es um die Frage der direkten Verantwortung von Hans für das Nichthelfen geht.
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Viele Elemente dieses Bildes von Freiheit und Verantwortung sind zweifellos sehr attraktiv. Dennoch bleiben eine Reihe von Detailfragen zum Verhältnis von Gründe-Geleitetsein, alternativen Möglichkeiten und Verantwortung bzw. Freiheit. Auf eine davon möchte ich im Folgenden eingehen.
2 ‚Ich konnte nicht anders handeln‘ Ausgangspunkt meiner Überlegung wird die Unterscheidung verschiedener Rollen sein, die die Replik ‚Ich konnte nicht anders‘ spielen kann, wenn sie als Antwort auf einen Vorwurf wegen (der Einfachheit halber: moralischen) Fehlverhaltens vorgebracht wird. Ohne eine vollständige Taxonomie entwickeln zu wollen, möchte ich vier Rollen unterscheiden. Die erste Rolle kennen wir bereits: Denken wir an die oben geschilderte Konstellation zurück, in der Hans durch sein Entsetzen über die eigene Mitverantwortung an dem Unfall keinen anderen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Hansʼ Verantwortung für das Nichthelfen war hier schon deshalb zu verneinen, weil ihm diejenige Kontrolle fehlte, die erforderlich gewesen wäre, um sein Verhalten überhaupt als Handlung oder ihm zuzurechnende Unterlassung ansehen zu können. Auch auf Grundlage des von Nida-Rümelin vorgeschlagenen Verständnisses dieser Kontrolle über die Beeinflussbarkeit durch Gründe (Nida-Rümelin 2020, 390) ist es leicht ersichtlich, warum wir Hans eine solche Kontrolle absprechen müssen. Seine ’Benommenheit’ führte ja dazu, dass seine Vorstellungen davon, welche Gründe für und gegen das Helfen sprachen, in dem Zeitpunkt, wo er hätte helfen sollen, ganz irrelevant dafür waren, was er tatsächlich tat. Er konnte sein Verhalten deshalb nicht durch Deliberation steuern und in diesem Sinne ‚nicht anders handeln‘, als er sich tatsächlich verhielt. Dass dies der in dieser Situation für die Verneinung der Verantwortung entscheidende Sinn ist, zeigt auch folgende Überlegung: Hans wäre auch nicht dadurch verantwortlich geworden, dass es in anderem Sinne möglich gewesen wäre, dass er anders handelt. Selbst wenn sein Entsetzen auch dazu hätte führen können, dass er panisch schreiend umhergelaufen wäre, hätte das nicht bedeutet, dass er in dem für Freiheit und Verantwortung maßgeblichen Sinne ‚anders hätte handeln können‘. Zur Illustration der weiteren möglichen Rollen der Replik ‚Ich konnte nicht anders‘ möchte ich zu Fällen erheblichen psychischen Zwangs übergehen, wo Personen unter dem Eindruck massiver Drohungen handeln müssen. Ist die Drohung zu massiv, gehen wir oft davon aus, dass die Person ‚gar nicht anders kann‘, als der Drohung nachzugeben. Auch hier erkennen wir die Replik ‚ich konnte nicht anders‘ regelmäßig als Antwort an, die den Vorwurf des Fehlverhaltens entfallen lässt. Aber was genau ist in solchen Fällen mit der Replik gemeint?
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Stellen wir uns vor, Bankräuberin Paula droht der Bankangestellten Petra, sie zu erschießen, wenn sie das im Tresor gelagerte Geld nicht übergibt, und Petra händigt infolge dieser Drohung das Geld aus. Auch Petra wird natürlicherweise auf den möglichen Vorwurf ihrer Vorgesetzten, sie hätte das Geld nicht übergeben dürfen, antworten: ‚Ich konnte in dieser Situation nicht anders‘, und das wird normalerweise hinreichend sein, um den Vorwurf zu entkräften. Was kann mit dieser Replik gemeint sein? Zum einen kann damit gemeint sein, dass sich Petra in einer dermaßen heftigen psychischen Drucksituation befand, dass sie (zumindest unter den konkreten Umständen) tatsächlich ‚gar nicht anders konnte‘ als das Geld zu übergeben. Es ist umstritten, ob dies bei einer echten Handlung überhaupt möglich ist.² Aber meines Erachtens gibt es keinen überzeugenden Grund, diese Möglichkeit auszuschließen. Denn die infolge einer psychischen Drucksituation auftretende ‚Unmöglichkeit anders zu handeln‘ muss Handlungskontrolle nicht vollständig ausschließen. Dass ich ‚etwas anderes tun konnte‘ ist, wenn es um Verantwortungs- und Kontrollzuschreibung geht, immer bezogen auf eine bestimmte Handlungsbeschreibung zu verstehen. Man kann diesen Punkt auch so ausdrücken, dass man sagt, das für Verantwortung relevante ‚Andershandelnkönnen‘ setzt implizit einen Kontrast zwischen Handlungstypen und diesen entsprechenden Unterlassungen von Handlungen dieses Typs voraus: Es geht hier stets darum, ob ich X tun oder X unterlassen bzw. X nicht tun konnte. Gleiches muss, wenn man, wie Nida-Rümelin, Verantwortung an Andershandelnkönnen koppelt, auch für Verantwortung selbst gelten: Ich bin dafür verantwortlich, X getan zu haben, ist zu verstehen als: Ich bin dafür verantwortlich, X getan anstatt X unterlassen/nicht getan zu haben (wobei X wiederum als Variable für einen Handlungstyp zu verstehen ist). Es ist nun gut vorstellbar, dass es Petra psychologisch unmöglich war, das Geld nicht zu übergeben, obwohl es ihr gleichzeitig durchaus möglich war, das Geld in anderer Weise zu übergeben und bei der genauen Ausführung der Übergabe von bestimmten (weiteren) Gründen geleitet zu sein (z. B. besonders langsam vorzugehen, um ein Eintreffen der Polizei wahrscheinlich zu machen). Bzgl. den genauen Ausführungsdetails der Handlung können daher für Petra durchaus Alternativen bestanden und kann Handlungskontrolle³ vorgelegen haben.⁴ Infolgedessen können
2 Nida-Rümelin bestreitet dies, da er davon ausgeht, „dass ein Verhalten nur dann als Handlung gelten kann, wenn es Alternativen zu ihr gibt, das heißt, wenn die Person auch anders hätte handeln können“ (Nida-Rümelin 2011, 26). 3 Auch wenn man annimmt, dass diese erfordert, dass man in bestimmten Hinsichten anders hätte handeln können – ob diese Annahme letztlich zutrifft, kann ich hier offenlassen. 4 Auch nach Helen Stewards Handlungsinkompatibilismus würde dies genügen, um Petras Verhalten als Handlung zu qualifizieren (Steward 2012).
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wir sie auch unter der Annahme, dass Verantwortung für eine Handlung Andershandelnkönnen erfordert, für bestimmte Aspekte der konkreten Übergabehandlung verantwortlich machen, selbst wenn sie nicht dafür verantwortlich war, dass sie das Geld übergeben hat. Häufiger als die ‚unüberwindlicher psychischer Zwang‘-Lesart wird jedoch eine der beiden folgenden Lesarten plausibel sein. Die Antwort ‚Ich konnte nicht anders‘ kann als Rechtfertigung der Handlung fungieren: Petra streitet ihre Verantwortung dann nicht ab, sondern beansprucht, vernünftig und moralisch richtig entschieden zu haben. Dann besagt die Antwort nicht, dass die Person sensu stricto nicht anders handeln konnte, sondern dass es keine rational wählbaren Alternativen für sie gab.⁵ Die Alternative, das Geld nicht herauszugeben, war für Petra zwar wählbar, aber mit so schlechten Konsequenzen verbunden, dass sie nicht rational sinnvoll zu wählen war. Denn die eindeutig stärksten Gründe sprachen objektiv für die Herausgabe des Geldes. Ob eine derartige Rechtfertigung vorliegt, ist danach zu entscheiden, ob die Umstände, so wie die Person sie vernünftigerweise gesehen hat, tatsächlich eindeutig für die Übergabe sprachen. Zuletzt kann die Antwort auch als eine besondere Art der Entschuldigung fungieren: als eine Entschuldigung wegen zu großem persönlichen Opfer, die auf die Unzumutbarkeit der Wahl der Alternativen für die handelnde Person verweist. Auch in dieser Funktion drückt die Antwort nicht (notwendig) aus, dass es im Wortsinne keine Entscheidungsalternativen gab; noch sagt sie, wie in der letzten Variante, dass für die Handlung die besten Gründe sprachen.⁶ Vielmehr besagt sie, dass trotz der objektiv besseren Gründe gegen die Handlung die Wahl einer anderen Handlungsalternative der betroffenen Person wegen der gerade für sie damit verbundenen Opfer nicht zumutbar war und nicht fairerweise von ihr erwartet werden konnte.⁷ Es geht hier also nicht darum, dass es der Person absolut unmöglich war, ihr Verhalten im Lichte der besten Gründe zu kontrollieren, sondern darum, dass wir ihr normativ nicht zumuten konnten, ihr Verhalten so zu kontrollieren, dass sie den besten Gründen folgen konnte. Man mag diese Interpretation für die Antwort von Petra in dem geschilderten Fall vielleicht nicht für die plausibelste handeln – einfach deshalb, weil hier die objektiven Gründe klar für die Übergabe des Geldes sprachen. Aber stellen wir uns
5 So auch Wallace 1994, 146. Wallace schlägt dies, wenn ich es richtig verstehe, als generelle Deutung der Fälle vor, in denen die Drohung zu einer Entschuldigung führt; s. aber a. 1994, 145 Fn. 42. 6 Dazu s.a. Hyman 2017, 696–697. 7 Auch im Strafrecht wird der Entschuldigungsgrund des entschuldigenden Notstands (§ 35 Abs. 1 StGB) oft u. a. mit solchen Zumutbarkeitsüberlegungen begründet (vgl. z. B. Rengier 2021, 252). Die genaue Begründung von § 35 Abs. 1 StGB ist freilich umstritten (Roxin 1997, 827–829).
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vor, Petra wäre durch die Drohung, sie zu erschießen, dazu gebracht worden, durch Knopfdruck zwei unschuldige Personen zu töten. In diesem Fall hätten die objektiv stärksten Gründe gegen Petras Handlung gesprochen – gerechtfertigt wäre ihr Verhalten also nicht, und wir können annehmen, dass Petra sich dessen auch bewusst wäre. Entschuldigt wäre ihr Verhalten dennoch, weil wir von ihr nicht das Opfer des eigenen Lebens verlangen können. So ein Opfer wäre unzumutbar, und wir wissen, dass wir deshalb in so einer Drucksituation von Menschen nicht erwarten können, dass sie das objektiv Richtige tun.⁸ Interessanterweise funktioniert in der letzten Konstellation der Verantwortungsausschluss asymmetrisch hinsichtlich ‚positiven‘ und ‚negativen‘ Verhaltens, in merklichem Kontrast zu den anderen genannten Konstellationen. So wird z. B. im Falle der fehlenden Handlungskontrolle die Verantwortung sowohl für andernfalls lobenswertes wie für andernfalls tadelnswertes Verhalten ausgeschlossen. Genauso wie wir Hans keine Vorwürfe für das Unterlassen von Rettungsversuchen machen können, hätte er auch kein Lob verdient, wenn das untätige Sitzenbleiben am Rande des Geschehens das beste gewesen wäre, was er hätte tun können (weil er z. B. andernfalls die Rettungskräfte behindert hätte). Im Falle der Entschuldigung durch Verweis auf ein zu hohes individuelles Opfer wird hingegen nur die Verantwortung für den tadelnswerten Fall ausgeschlossen. Erbringt die Person das Opfer doch – opfert sich also z. B. Petra, um die anderen zwei Personen zu retten –, kann sie durchaus moralisches Lob für ihren Heroismus und ihre nicht zu erwartende Opferbereitschaft verdienen. ‚Ich konnte nicht anders‘ kann also in zumindest vier unterschiedlichen Weisen verwendet werden, um einen Vorwurf zurückzuweisen. Es kann (i) auf einen Verlust an Handlungskontrolle, (ii) auf psychologischen Zwang gerade bzgl. des Handlungstyps, dessen Realisierung vorgeworfen wird, (iii) auf eine Rechtfertigung der kritisierten Handlung, und (iv) auf eine Entschuldigung wegen Unzumutbarkeit für die handelnde Person verweisen. Nida-Rümelins Verantwortungstheorie kann, soweit ich sehe, mit den ersten drei Verwendungen gut umgehen, hat aber Schwierigkeiten mit der vierten. In Konstellation (i) ist die Verantwortung ausgeschlossen, weil Hans im relevanten Zeitpunkt nicht durch Gründe leitbar war. In Konstellation (ii) scheint mir an sich eine ähnliche Antwort auf Grundlage von Nida-Rümelins Theorie möglich – sobald wir die Präzisierung einfügen, dass sich Verantwortung und Leitbarkeit durch (bessere) Gründe immer auf die (unterlassene) Realisierung bestimmter Hand-
8 Wäre so ein Opfer immer unzumutbar? Das ist fraglich, und § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB verneint das für das deutsche Strafrecht. Aber jedenfalls in den typischen Fällen dieser Art würden wir die Zumutbarkeit verneinen.
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lungstypen beziehen. Petra war in der vorgestellten psychischen Drucksituation nicht in der Lage, das Geld nicht zu übergeben, und gerade für das Übergeben des Geldes auch nicht verantwortlich. In Konstellation (iii) werden durch die Antwort das Geleitetsein durch Gründe und die Verantwortung Petras nicht in Frage gestellt. Schwierigkeiten macht jedoch Konstellation (iv). Petra war nicht verantwortlich für die Geldübergabe, obwohl ihr Übergeben des Geldes nicht wie in den Konstellationen (i) und (ii) der Beeinflussbarkeit durch Gründe entzogen war. Vielmehr hat sich die Bankräuberin diese Beeinflussbarkeit bei Petra zunutze gemacht, um sie zur Herausgabe des Geldes zu zwingen. Denn in gewisser Weise musste Petra die durch die Drohung geschaffenen Gründe als Gründe akzeptieren und sie mit anderen Gründen abwägen, damit die Drohung funktionieren konnte. Nun bestünde die naheliegendste Reaktion, um diese Fälle in den Rahmen der Theorie Nida-Rümelins zu integrieren, darin, die Anforderungen an die Leitbarkeit durch Gründe zu erhöhen: Die Person musste nicht nur allgemein in der Lage sein, Gründe abzuwägen und nach dem Ergebnis zu handeln, sondern sie musste sich an den besten Gründen orientieren können, oder ihre Handlung in einen größeren strukturierten Kontext von Zielen, Projekten und Werten integrieren können.⁹Aber gegen derartige Auswegvorschläge gibt es erhebliche Bedenken. Sobald wir hier nicht vom Besitz allgemeiner Fähigkeiten, sondern von den Möglichkeiten der Person in der konkreten Situation sprechen, werden dadurch die Anforderungen an Verantwortung allzu schnell unplausibel hoch. Oft können wir uns nicht nach den besten Gründen richten, und sind doch verantwortlich für Fehlverhalten; wenn es z. B. auch weniger gute Gründe für die gebotene Option gibt und wir zumindest diesen folgen können. Zudem ist auch bei impulsiven und spontanen ‚Augenblicks‘Handlungen die Integration in einen größeren Kontext von Zielen und Projekten oft in keinem substantiellen Sinne gegeben oder möglich. Dennoch können wir auch für solche Handlungen verantwortlich sein. Zuletzt ist auch nicht klar, ob diese Erhöhung der Anforderungen wirklich hilft, um für alle Fälle, die unter (iv) fallen, die Verantwortung auszuschließen. Denn der Person könnte es ja in solchen Fällen sensu stricto möglich sein, den besten Gründen zu folgen. Es würde nur einen Grad von Selbstkontrolle und Heroismus erfordern, den wir von ihr nicht verlangen können.
9 Zur ersten Reaktion s.a. Nida-Rümelin 2020, 385, zur zweiten Nida-Rümelin 2011, 27–29.
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3 Wie sollen wir den Verantwortungsbegriff verstehen? Nida-Rümelins Theorie steht also zumindest in gewissem Maße in Spannung zu unserer alltäglichen Redeweise über Entschuldigungen und den Ausschluss persönlicher Vorwerfbarkeit, die den Verantwortungsausschluss manchmal auch durch Entschuldigungen wie die aufgrund Unzumutbarkeit für die handelnde Person zulässt. Eine solche Diskrepanz ist natürlich allein noch kein entscheidender Einwand gegen seinen Vorschlag – und es geht mir auch nicht um die bloß terminologische Frage, ob wir in Fällen der Art (iv) von ‚Verantwortungsausschluss‘ sprechen sollten. Dennoch wäre ein Hinnehmen dieser Diskrepanz für Nida-Rümelin mit signifikanten Nachteilen verbunden. Denn in dem Netzwerk der Strawson’schen reaktiven Einstellungen, auf das sich Nida-Rümelin zur Begründung der Unaufgebbarkeit der Freiheitsannahme beruft (Nida-Rümelin 2005, Kap. 1), ist nicht nur ein Bezug auf normative Ansprechbarkeit und Lenkbarkeit durch Gründe überhaupt, sondern auch ein Bezug auf andere Faktoren, die wir üblicherweise als Entschuldigungsgründe qualifizieren, verankert. Auch die Information, dass das richtige Handeln Petra das Opfer des eigenen Lebens abverlangt hätte, würde uns dazu bringen, Vorwürfe oder Groll ihr gegenüber aufzugeben. Diese Art der Rücknahme der ursprünglichen Reaktion gehört ebenso zu dem unaufgebbaren Rahmen, innerhalb dessen sich Verantwortungsfragen nach Strawson überhaupt erst stellen, wie die Rücknahme bei fehlender Leitbarkeit durch Gründe. Innerhalb von Strawsons eigener Theorie lässt sich die erstere Rücknahme leicht begründen: Die relevanten reaktiven Einstellungen sind für Strawson an eine bestimmte normative Erwartung geknüpft, „an expectation of, and demand for, the manifestation of a certain degree of goodwill or regard […] or at least […] the expectation of, and demand for, an absence of the manifestation of active ill will and indifferent disregard“ (Strawson 1962, 84, Hervorhebung E.M.). Das Opfer des eigenen Lebens ginge über den Grad an Wohlwollen, den wir vernünftigerweise verlangen können, hinaus. Deshalb lässt auch die Verweigerung einer mit diesem Opfer verbundenen Handlung nicht darauf schließen, dass das erforderliche Maß an Wohlwollen fehlt.¹⁰ Allerdings handelt es sich nach Strawsons Lösung in den relevanten Konstellationen nicht um Fälle, wo einer Person die tatsächlich stattgefundene Verletzung
10 In Anlehnung an Strawson argumentiert auch Wallace, dass in Fällen von ‚excuses‘ die Person ihre moralischen Pflichten letztlich nicht verletzt hat (vgl. insbes. Wallace 1994, 143–145 zu Drohungsfällen).
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eines normativen Anspruchs nicht vorgeworfen werden kann, sondern um Fälle, in denen der zugrunde liegende normative Anspruch gar nicht verletzt wurde. Es ist jedoch für die Analyse von Vorwürfen vorzugswürdig, die zwei Fragen, wie weit die Pflicht einer Person objektiv reicht, und, ob wir ihr die Verletzung einer Pflicht vorwerfen können (z. B. weil die Einhaltung der Pflicht für sie unzumutbar gewesen wäre) zu unterscheiden. Fragen danach, was wir einer Person zumuten können, spielen sicher bereits für den Umfang ihrer Pflichten eine wichtige Rolle; aber sie spielen nochmal eine eigenständige Rolle bei der Frage nach der Vorwerfbarkeit der Nichterfüllung der Pflichten.¹¹ Besonders wenn wir die Frage, ob die Person (objektiv) richtig gehandelt hat, danach entscheiden, ob sie das getan hat, wofür die besten Gründe sprachen (und das scheint mir das von Nida-Rümelin selbst bevorzugte Verständnis zu sein), scheint mir die Trennung dieser zwei Fragen unumgänglich: Denn im Falle der Entschuldigung wegen zu großem Opfer nehmen wir ja gerade nicht an, dass die besten Gründe für das Verhalten der Person sprechen; täten wir das, wäre ihr Verhalten gerechtfertigt. Die besten Gründe sprechen weiterhin für die Alternative, die wir von ihr nicht verlangen können – was wir besonders daran sehen, dass wir sie loben würden, wenn sie diese Alternative doch ergreift. Dass wir letzteres tun, zeigt, dass hier doch eine Art von normativer Erwartung an die Person im Spiel ist, wenn auch keine, die die Stringenz und Stärke eines Anspruchs an sie hätte. Um diesem Aspekt gerecht zu werden, möchte ich dafür plädieren, dass der Verantwortungsbegriff und der Freiheitsbegriff, wenn wir beide als ‚zwei Seiten einer Medaille‘ ansehen, noch stärker normativ zu interpretieren sind, als NidaRümelin dies tut. Auch Nida-Rümelin verweist wiederholt auf die Koppelung zwischen reaktiven Einstellungen und normativen Erwartungen und auf die Relevanz von Fragen der normativen Zumutbarkeit für Verantwortung besonders bzgl. des Wissenkönnens.¹² Mein erster Vorschlag läuft auf eine noch stärkere Akzentuierung dieser Elemente hinaus, in einer Weise, die dem Unterschied zwischen dem Verantwortungsbegriff und Begriffen wie Handlung und Handlungskontrolle gerecht wird. Auch letztere, so hatten wir gesehen, erklärt Nida-Rümelin über (mögliches) Geleitetsein durch Gründe und hält es für eine Handlung für erforderlich, dass es alternative Möglichkeiten gab (Nida-Rümelin 2011, 25 und 2018, 390). Dabei kann es aber für die Frage nach Handlungskontrolle bestenfalls erforderlich sein, dass die handelnde Person überhaupt (in manchen Hinsichten) anders hätte handeln können. Fragen der normativen Zumutbarkeit der Alternativen werden dabei, anders als bei der Frage nach der Verantwortung für eine Handlung, nicht be-
11 So auch im Strafrecht, vgl. z. B. § 35 Abs. 1 StGB. 12 Z. B. Nida-Rümelin 2011, 174; 2020, 401, 384 für die Frage des Wissenkönnens.
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rücksichtigt. Handlungskontrolle und Handlung sind daher nicht im selben Sinne normative Begriffe wie Verantwortung, sondern im weiteren Sinne metaphysische ‚Begriffe‘.¹³ Die Zuschreibung von Verantwortung setzt dagegen substantielle normative Wertungen voraus (und notabene: Wertungen über die Wertung des resultierenden Verhaltens als gut oder schlecht hinaus).¹⁴ Die Anerkennung dieses normativen Charakters des Verantwortungsbegriffs führt zu meinem zweiten Vorschlag. Wir unterscheiden zwischen verschiedenen Arten von Verantwortung und Bedeutungen von ‚verantwortlich‘. Ich meine damit nicht nur den bekannten Unterschied zwischen (a) der Einordnung einer Person als (allgemein) ‚verantwortlich‘ (da im Besitz der für Verantwortung relevanten Fähigkeiten), (b) der Verantwortungszuschreibung für eine ausgeführte Handlung, Handlungsfolge, Einstellung etc., und (c) der Verantwortungszuschreibung im Sinne der Zuschreibung von Pflichten.¹⁵ Auch wenn wir uns auf den zweiten Sinn von Verantwortung beschränken, unterscheiden wir z. B. moralische Verantwortung und epistemische Verantwortung. Wir können für Handlungen und wohl auch für Überzeugungen (z. B. rassistische Überzeugungen) moralisch verantwortlich sein, und wir sind zugleich für unsere Überzeugungen epistemisch verantwortlich (und zwar selbst für Überzeugungen, die moralisch irrelevant sind). Sogar in ein und demselben Kontext können diese Arten von Verantwortung auseinanderfallen. Wenn ich einen einfachen logischen Beweis nicht verstehe, weil ich ‚auf dem Schlauch‘ stehe, und deshalb irrtümlich glaube, dass aus den Prämissen gerade das falsche Ergebnis folgt, dann setzt mich das normalerweise dem Vorwurf der epistemischen Irrationalität aus. Dieser Vorwurf wird durch meine Unfähigkeit, den logischen Zusammenhang zu verstehen, nicht beantwortet. Wenn ich dadurch zu einer falschen Antwort auf die Frage, was ich moralisch gesehen tun sollte, komme und deshalb falsch handle, kann mein ‚auf dem Schlauch stehen‘ aber durchaus eine Entschuldigung für mein falsches Verhalten darstellen, soweit es um meine moralische Verantwortung geht (wenn ich mich ernsthaft und gewissenhaft bemüht habe, zum richtigen Ergebnis zu kommen). Den Grund für diese Divergenz von ‚Entschuldigungsgründen‘ im Kontext moralischer und epistemischer Verantwortung können wir angesichts des oben Gesagten leicht verstehen: Bzgl. moralischer und epistemischer Verantwortung stehen jeweils unterschiedliche normative Erwartungen im Hintergrund. Und zwar nicht nur bzgl. des Gegenstands der Verantwortung, wo es einmal darum geht,
13 Ich würde hier also für eine noch stärkere Differenzierung plädieren als Nida-Rümelin 2005, 123. 14 Diesen Punkt macht bzgl. des englischen Begriffs ‚Voluntariness’ auch Hyman 2017, 694. Eine normative Analyse des Verantwortungsbegriffs gibt auch Wallace 1994. 15 Vgl. z. B. Harts klassische Taxonomie in Hart 2008, 212.
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moralischen, und im andern Fall darum, epistemischen Gründen gerecht zu werden. Sondern auch bzgl. der Frage nach der ‚Zumutbarkeit‘. Zwar ist für beide Verantwortungsarten die Frage, ‚was man von mir erwarten konnte‘, von entscheidender Bedeutung – wobei der relevante Sinn von ‚Können‘ ein normativer ist.¹⁶ Aber die Bedingungen für dieses ‚Erwartenkönnen‘ sind bei beiden Verantwortungsarten doch wesentlich verschieden. So werden z. B. genau die Unzumutbarkeitserwägungen, die für die Verantwortung der Bankangestellten Petra eine Rolle spielten, für Fragen der epistemischen Verantwortung nicht gleichermaßen relevant werden. Was heißt das für den Vorschlag, Verantwortung als mögliches Geleitetsein durch Gründe zu verstehen? Es sprechen durchaus gute Gründe für die von NidaRümelin vertretene These, dass alle Arten von Verantwortung für Handlungen, Überzeugungen etc. etwas damit zu tun haben. Aber dennoch sind diese Arten von Verantwortung voneinander zu unterscheiden. Sie sind verschiedene Arten, die allgemeine Idee des möglichen Geleitetseins durch Gründe anhand unterschiedlicher normativer Erwägungen auszufüllen. Dementsprechend möchte ich vorschlagen, die These der notwendigen Verbindung zwischen Verantwortung und (möglicher) Gründegeleitetheit eher als weiter ausfüllungsbedürftiges Schema zu verstehen, denn als eine vollständige Erläuterung dessen, was Verantwortung ist.¹⁷
Bibliographie Hart, H.L.A. 2008. „Postscript: Responsibility and Retribution.“ In: HLA Hart, Punishment and Responsibility, 210–237. 2. Aufl. Oxford: Oxford University Press. Hyman, John. 2017. „Voluntariness and Intention.“ Jurisprudence 7 (3): 692–709. https://doi.org/10. 1080/20403313.2016.1237570. Nida-Rümelin, Julian. 2005. Über menschliche Freiheit. Stuttgart: Reclam. Nida-Rümelin, Julian. 2011. Verantwortung. Stuttgart: Reclam. Nida-Rümelin, Julian. 2019. „The Reasons Account of Free Will: A Libertarian-compatibilist Hybrid.“ Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 105 (1): 3–10. https://doi.org/10.25162/arsp-2019-0001. Nida-Rümelin, Julian. 2020. Eine Theorie praktischer Vernunft. Berlin/Boston: de Gruyter. Rengier, Rudolf. 2021. Strafrecht Allgemeiner Teil. 13. Aufl. München: Beck. Roxin, Claus. 1997. Strafrecht Allgemeiner Teil Bd. I. Grundlagen Aufbau der Verbrechenslehre. 3. Aufl. München: Beck. Steward, Helen. 2012. A Metaphysics for Freedom. Oxford: Oxford University Press. Strawson, Peter. 1962. „Freedom and Resentment.“ Abgedr. in Free Will hsg. von Gary Watson, 72–93. 2. Aufl. (2003). Oxford: Oxford University Press.
16 Nida-Rümelin thematisiert dies explizit für epistemische Aspekte moralischer Verantwortung (siehe dazu z. B. Nida-Rümelin 2020, 385). 17 Für hilfreiche Kommentare danke ich Stefan Brandt, Ufuk Özbe und Konstantin Weber.
6 Verantwortung, alternative Handlungsmöglichkeiten und Entschuldigungen
Wallace, Jay. 1994. Responsibility and the Moral Sentiments. Cambridge MA: Harvard UP.
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7 Transformative Erfahrung als Quelle von Gründen Abstract: Transformative experience as a source of reasons. Based on Julian NidaRümelin’s conception of structural rationality, this paper discusses how decisions are made in favour of personal projects and the individual forms of life which are appropriate to them. Nida-Rümelin’s embedding relations can explain the inference of reasons for specific actions and action structures as well as their integration into a life form. However, the question of how exactly existential decisions for a lifeform or for identity-constituting projects are made remains in need of clarification. Following a critical discussion of explanatory approaches, a new proposal is made according to which existential decisions are based on transformative experiences. These are characterised by a process of being moved and affected passively in which deep evaluative commitments arise. When persons affirmatively appropriate these experiences, such as religious conversion or falling in love, they recognise them as a source of (new) reasons and thus make them the basis of diachronically motivating projects and a (new) form of life.
Einleitung Die kohärentistische Theorie praktischer Vernunft von Julian Nida-Rümelin hat den Anspruch, der lebensweltlichen Vielfalt von Gründen gerecht zu werden. Dafür ist sie holistisch angelegt: Sie integriert das gesamte lebensweltliche Spektrum von Gründen, die für oder gegen Überzeugungen, für oder gegen konative und emotive Einstellungen, für oder gegen Handlungen sprechen. Diese Berücksichtigung der Vielfalt der Gründe macht sie auch realistisch. Dabei geht sie gradualistisch vor, indem sie Gründe von kleinen bis zu existentiellen Entscheidungen im inferenziellen Zusammenhang analysiert. Schließlich ist Nida-Rümelins kohärentistischer Ansatz objektiv-normativ: Alle lebensweltlich wirksamen – nicht notwendigerweise (immer) verbalisierbaren – Gründe lassen sich insofern als objektiv-normativ verstehen, als sie nicht nur subjektive Präferenzen oder Wünsche widerspiegeln, sondern von Personen abgewogen werden und in intersubjektive und prinzipiell öffentlich kritisierbare Rechtfertigungsprozesse des Gebens und Nehmens von Gründen eingehen (können). In diesem Aufsatz möchte ich, ausgehend von einer knappen Rekonstruktion der Einbettungslogik von Gründen in Nida-Rümelins Theorie (1), die Frage diskuhttps://doi.org/10.1515/9783111433233-008
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tieren, wie wir zu identitätskonstituierenden Projekten und einer individuellen Lebensform durch existentielle Entscheidungen kommen (2) und dafür eine erfahrungszentrierte Antwort vorschlagen, die ich als Ergänzung der Konzeption struktureller Rationalität verstehe (3).
1 Die Einbettungslogik von Gründen und die Wahl einer Lebensform Integrative Kraft gewinnt Nida-Rümelins Konzeption struktureller Rationalität nicht zuletzt durch ihre Beachtung der zeitlichen Dimension des menschlichen Lebens. Denn sie bietet eine Erklärung für den diachronen Zusammenhang von situativer Einzelhandlung bis zu einer das ganze Leben von freien und verantwortlichen Personen umfassenden Form. Die Elemente der Theorie struktureller Rationalität bieten damit Lösungen für das Problem von Personen, die Vielfalt der Gründe inter- und intrapersonell koordinieren zu müssen, „um ein kohärentes Leben zu ermöglichen“ (Nida-Rümelin 2001, 137). Eine zentrale Begriffsbildung liegt in der Unterscheidung von punktuellen vs. strukturellen Intentionen, Entscheidungen und Handlungen. Punktuelle, d. h. situativ individuierbare Intentionen, Entscheidungen und Handlungen unterscheiden sich begrifflich von strukturellen, die über die Zeit in entsprechenden Situationen punktuell realisiert werden (Nida-Rümelin 2001, Kap. 3 und 4; 2020, Kap. 3). Das Verhältnis von punktuellen Handlungen und Handlungsstrukturen kann man als nicht-strikte Hierarchie beschreiben. Gründen für Handlungsstrukturen kommt insofern ein Primat zu, als sie gute Gründe für Einzelhandlungen generieren. So hat, um ein beliebtes Beispiel Nida-Rümelins zu zitieren, eine Person, die die strukturelle Entscheidung trifft, zum Nicht-Raucher zu werden, in jeder Situation, die sie zum Rauchen animiert, einen guten Grund, der Handlungsweise des Rauchens nicht zu entsprechen. Eine strukturelle Handlungsstruktur bindet also atomare Intentionen von Einzelhandlungen durch eine normative Gründe-Ordnung. Nida-Rümelin verwendet für dieses Verhältnis die Metapher der „Einbettung“ einzelner Einstellungen, Überzeugungen oder Entscheidungen „in umfassendere Strukturen, die eine vernünftige Person auszeichnet“ (Nida-Rümelin 2001, 151, 125; vgl. auch 2020, 136, 158, 193, 224, 239, 274, 380). Man kann diese Einbettung als Komplexitätsreduktion verstehen, als Modell für die kohärenzsichernde Navigation durch die große ‚Welt der Gründe‘ (vgl. Nida-Rümelin und Özmen 2012). Ist eine Handlungsstruktur aus guten Gründen entschieden, ist es irrational bzw. akratisch, situativ Gründen zu folgen, die mit ihr in Konflikt stehen (Nida-Rümelin 2001, 146, 150).
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Dabei versteht die Theorie struktureller Rationalität die Hierarchie des Begründens nicht als rigide: Auch punktuelle Handlungsintentionen haben eine Rolle in der Abwägung, die für oder gegen Handlungsstrukturen sprechen und sie modifizieren können (Nida-Rümelin 2001, 132). Es handelt sich daher um eine nichtstrikte Hierarchie des Gewichts der Gründe von einzelnen bis zu existentiellen oder, dynamischer ausgedrückt, um ein stetes „Spannungsverhältnis“ (Nida-Rümelin 2001, 153), das sich dem komplexen inferenziellen Zusammenhang von Gründen in den „Einbettungsrelationen“ (Nida-Rümelin 2020, 250) verdankt und durchaus immer wieder neue Abwägungsprozesse erfordert (Nida-Rümelin 2016, 271). Wenn jedoch keine Differenzen situativ zutage treten, begründen Gründe für Handlungsstrukturen generell auch Einzelhandlungen, wie große Entscheidungen kleine begründen. Daher gibt es ein gewisses Primat des top-down-Verfahrens, das die Kohärenz der eigenen Praxis langfristig sichert.¹ Handlungsstrukturen und große Entscheidungen werden nicht nur im Lichte von (möglichen) Einzelhandlungen gewählt, sondern wiederum vor allem mit Bezug zu einer noch umfassenderen Struktur: der Form des jeweils guten individuellen Lebens, das wiederum in eine allgemeine Lebensform der Orientierung an Gründen eingebettet ist.² Die nicht-strikte „Hierarchie von Entscheidungsebenen“ läuft also „auf die Wahl einer Lebensform“ zu (Nida-Rümelin 2001, 157–158).
2 Wie treffen wir existentielle Entscheidungen? Wie aber wird diese Wahl getroffen? Um einen theoretisch und lebensweltlich unplausiblen Regress von Begründungen zu vermeiden, können nicht wieder allein Gründe für diese Wahl sprechen, etwa die sie als kohärent mit einer ‚höheren‘ Strukturebene, d. h. der Lebensform des Austauschs von Gründen überhaupt, ausweisen. Zwar kann und sollte an ethischen Prinzipien, die Kooperation und Kommunikation sichern, die Lebensformwahl geprüft werden. Die Kohärenzprüfung betrifft generell alle Gründe, d. h. auch pragmatische, die für die Beurteilung relevant sind, ob die „Einbettung einer individuellen Lebensform in eine allgemeinmenschliche Lebensform“ strukturell gelingt (Nida-Rümelin 2016, 269, vgl. 274). Die erfolgreiche Prüfung kann aber nur erklären, warum man bei einer Lebensform bleibt, nicht aber, warum man genau diese individuelle Lebensform überhaupt als 1 Siehe dagegen die Zurückweisung eines Primats in Nida-Rümelin 2016, 270. 2 Es gilt, Lebensform im Singular und Plural zu unterscheiden. Individuelle Lebensformen (NidaRümelin 2020, 6) sind kulturell vielfältig und variieren innerhalb von Gesellschaften. Sie sind jeweils eingebettet in die kollektiv geteilte – von Nida-Rümelin als humanistisch ausgewiesene – Lebensform des Gebens und Nehmens von Gründen (Nida-Rümelin 2020, 41–42; vgl. 2009, 11–12).
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die eigene angenommen hat und nicht andere. Das eigene Leben z. B. durchgehend, auch nach der Pensionierung, engagiert der Philosophie zu widmen, ist weder moralische Pflicht noch eine Kohärenzforderung, die sich aus der humanistischen Lebensform aller rationalen Personen ergibt. Wird die je eigene Lebensform stattdessen grundlos gewählt? Ein womöglich punktueller Akt der Selbsterfindung, der keinen Gründen folgt, ist nach Nida-Rümelin lebensweltlich ebenfalls unplausibel. Daher weist er die Idee des Dezisionismus zurück, die man etwa in Sartres Existentialismus findet (Nida-Rümelin 2001, 159). Meines Erachtens klären aber auch Nida-Rümelins eigenen Vorschläge nicht alle Fragen. Der erste Vorschlag versucht, große Entscheidungen im lebensweltlichen Raum der Gründe durch die (antizipatorische bottom-up-) These zu verorten, dass sie „im Hinblick auf die konkreten Lebenssituationen zu treffen [sind], die diese nach sich ziehen.“ (Nida-Rümelin 2001, 159). Scheint hier aber nicht der von Nida-Rümelin zurückgewiesene Konsequentialismus (Nida-Rümelin 1993) wieder ins Spiel zu kommen? Zwar ist es in der Tat plausibel, dass große, gar existentielle Entscheidungen auch im Hinblick auf ihre Auswirkung für das Leben und Einzelentscheidungen getroffen werden, an denen sie sich bewähren müssen (Nida-Rümelin 2001, 161). Aber es ist nicht nur so, dass viele Konsequenzen einer Lebensformwahl nicht abzusehen sind (vgl. Nida-Rümelin 2020, 183); es scheint auch der Regelfall zu sein, dass die Entscheidung für eine Lebensform nicht individuell optimiert, sondern trotz der zu erwartenden Kosten für das Entscheiden und Handeln in einzelnen Situationen getroffen wird. Kinder zu bekommen, ist dafür ein kardinales Beispiel. Lebensformen und große Entscheidungen werden auch im Bewusstsein persönlicher Risiken und der Erwartung schwieriger Lebenssituationen gewählt – und seien es nur die einer womöglich ökonomisch und institutionell unsicheren Existenz als Philosophin.³ Wenn Personen bei existentiellen oder großen Entscheidungen vor Dilemmata stehen, dass Gründe für sie inkompatibel sind oder keine einschlägigen Gründe für oder gegen eine Lebensform sprechen (Nida-Rümelin 2001, 167), kann die Wahl sich also nicht allein auf vorausgehende (z.B. künftige Handlungssituationen betreffende) Gründe berufen, mit denen die Wahl nur möglichst kohärent sein sollte. Diese Einsicht ist für ansonsten stets nach Gründen entscheidende Akteure eher beunruhigend, da die Möglichkeit im Raum steht, sich mit entsprechend gravierenden Konsequenzen falsch zu entscheiden. Es erscheint jedenfalls bedenklich,
3 Nida-Rümelin scheint das selber so zu sehen, wenn er konstatiert, dass „die Rationalitätsmaßstäbe kleiner, alltäglicher Entscheidungen“ bei großen, die die Lebensform betreffen, „nicht mehr wirksam sind“ (Nida-Rümelin 2001, 171).
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dass der einzige gute Grund für eine durch und durch an Gründen orientierte Lebensform in der Metaregel liegen könnte, sich überhaupt zu entscheiden und damit Dilemmata zwischen inkompatiblen Gründen aufzulösen (Nida-Rümelin 2001, 171; 2020, 230–233, 324–325). Der weitere Vorschlag Nida-Rümelins lautet daher, die hierarchische Einbettungslogik zu verlassen und bei existentiellen Entscheidungen seiner Intuition zu folgen (Nida-Rümelin 2001, 171). Diese These bleibt theoretisch klärungsbedürftig. Verdichten sich in einer so gewichtigen Intuition mehrere Gründe? Wenn ja, warum lassen sich diese nicht explizieren und solche Entscheidungen rationalisieren? Falls sich dagegen das in der Intuition unbewusst wirksame Wissen sprachlich nicht in den Raum von Gründen übersetzen lässt (vgl. Gigerenzer 2007), stellt sich die Frage, was eine Intuition für die Lebensformwahl an einem bestimmten Zeitpunkt als angemessen qualifiziert. Denn Intuitionen spielen andauernd eine Rolle in der Praxis, gerade auch bei punktuellen, kleinen Entscheidungen im Alltag. Was spricht für die Annahme, dass ich einer bestimmten Intuition für das Ausmaß meiner existentiellen Entscheidung vertrauen sollte? Eine Entscheidung, deren Gründe in einer Intuition dem Bewusstsein selbst nicht wirklich zugänglich sind, scheint eine unbefriedigende Stifterin für eine von Gründen durchgehend affizierbare und auch gegenüber der Fülle täglicher Intuitionen hinreichend robuste Lebensform zu sein. Mit einer existentiellen Entscheidung für eine Lebensform ändert sich mehr oder weniger die Lebensbahn (das Flussbett in Wittgensteins Sinn).⁴ Denn eine Entscheidung für eine je eigene Lebensform verschiebt Wertmaßstäbe und lässt neue entstehen (Nida-Rümelin 2001, 170; 2020, 231): „Große Entscheidungen verändern unsere Art, uns zu verhalten, unsere Bewertungen und Erwartungen, und im Extremfall der existenziellen Entscheidungen ändern sie die gesamte Form unseres Lebens“, sodass es zu einer „Neu-Formierung der eigenen personalen Identität“ kommt (Nida-Rümelin 2020, 323, 325). Dass neue Gründe handlungsleitend werden, lässt sich dann als Ausdruck der veränderten personalen Identität und der Vorstellung des guten Lebens verstehen, die wiederum Ausdruck einer tiefgreifenden Wertung ist (Nida-Rümelin 2020, 367, vgl. 2002, 214). Monika Betzler hat als eine zentrale Form solch einer neuen „Quelle praktischer Gründe“ für eine veränderte eigene Identität „persönliche Projekte“ angeführt (Betzler 2012, 39)⁵ – ein Begriff, der aus Bernard Williams‘ Kritik am Utilitarismus stammt (Williams 1973; vgl. Nida-Rümelin 1993, 89–90; 2020, 301). Ein
4 Siehe zur Metapher von Fluss und Flussbett eines Sprachspiels Wittgenstein 1984, 140 (§§96-99). 5 Vgl. Betzler 2013 und das bei Oxford University Press noch erscheinende Buch mit demselben Titel.
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persönliches Projekt begründet nach Betzler Normen für einzelne Handlungstypen, die zur Verfolgung des Projekts beitragen. Damit diese Normen aber über lange Zeit handlungsleitend sind, muss die Person ihr Projekt mit einer affektiven Wertbindung verfolgen, in der sich „die praktische oder normative Identität der Person“ ausdrückt (Betzler 2012, 46). In persönlichen Projekten sieht Betzler eine eigenständige Kategorie praktischer Vernunft, insofern es sich bei ihnen um eine „irreduzible Quelle praktischer Gründe“ (Betzler 2012, 56) handelt, die den normativen Vorrang des Projekts vor andern für das Individuum begründet.⁶ Die identitätskonstituierende Kraft von persönlichen Projekten im Sinne von Williams und Betzler spricht dafür, die Entscheidung für sie zugleich als große oder existentielle Entscheidung für die konstitutiven Elemente einer Lebensform zu verstehen. Wer sich z. B. für Kinder entscheidet und ihr Gedeihen im Heranwachsen nach Art eines existentiell wichtigen persönlichen Projekts behandelt, wählt zugleich eine Lebensform, durch die die Person den normativen Ansprüchen und emotionalen Wertbindungen als Mutter oder Vater nachkommen kann. Projekte sind daher auch für Nida-Rümelin „oft wesentlicher Bestandteil der Lebensform“ (Nida-Rümelin 2020, 66). Man kann von einer Konvergenz von Projekt-bezogener Identitätskonstitution und Lebensformwahl durch die Gründe, die durch solch eine Entscheidung generiert werden, ausgehen. Diese müssen sich nach und aufgrund der Entscheidung im Laufe der persönlichen Projekte bzw. der durch sie konstituierten Lebensform bewähren, d. h. auch im Licht anderer guter (moralischer, prudentieller) Gründe. Das ist der Kohärenzanspruch, den persönliche Projekte und ihre Lebensform erfüllen müssen, damit sie nicht mit ihren lebensweltlichen Kontexten dauernd konfligieren. Es ist dabei nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern liegt durchaus in den normativen Ansprüchen der persönlichen Projekte begründet, dass sie nicht nur mit Regeln der Klugheit, sondern auch mit Pflichten einer universellen Moral kohärent sind. Nida-Rümelin führt als Beispiel an, dass es nicht nur Personen-relative (bzw. Projekt-gebundene), sondern ebenso normativ-allgemeine Gründe für die Parteilichkeit gibt, sich in besonderer Weise um seine eigenen Kinder zu kümmern, weil wir dadurch kooperativ das allgemeine Gut des Gedeihens von Kindern, die persönlicher Bindung bedürfen, zu realisieren helfen (Nida-Rümelin 2012, 239–240). Wenn wir aber Gründe zur Bewährung und lebensweltlichen Rechtfertigung von großen bzw. existentiellen Entscheidungen für persönliche Projekte bzw. die sie ermöglichenden Formen unseres Lebens angeben können, heißt es noch nicht, dass 6 Betzler zeigt, dass sich persönliche Projekte weder auf Wünsche noch Pläne oder Ideale reduzieren lassen (Betzler 2012, 57–67). Kern ihres Arguments ist, dass die normative Kraft persönlicher Projekte an ihren emotional motivierenden, nicht-instrumentellen Wert gebunden ist, der ihnen identitätskonstituierenden Charakter verleiht.
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wir auch aus diesen Gründen die Projekte oder Lebensform wählen. Das wird am Kinderbeispiel deutlich: Wenn ich auf Kinder verzichte, verzichte ich auch auf die Lebensform, innerhalb der es überhaupt objektiv-normativ geboten sein kann, sich um die eigenen Kinder zu kümmern und somit kooperativ das Gedeihen von Kindern überhaupt zu befördern. Es gibt im Fall dieser existentiellen Entscheidung schlicht keine eigenen Kinder, die die normative Signatur dieser Lebensform ermöglichten. Wie Nida-Rümelin davon ausgeht, dass existentielle Entscheidungen für die Form des Lebens Gründe stiften, betont Betzler, dass persönliche Projekte über ihre normative, evaluative und identitätskonstituierende Funktionen Gründe generieren, „sobald“ solch ein Projekt verfolgt wird (Betzler 2012, 41, 46, 47, 49, 50). Wie aber kommen wir überhaupt zu Projekten und Lebensformen? Was steht am Beginn existentieller Entscheidungen, wenn externe Gründe, Dezisionismus und Intuition als Antwort nicht (gänzlich) überzeugen?
3 Transformative Erfahrungen und ihre Aneignung Meine These lautet: Es sind transformative Erfahrungen, aufgrund der wir solche Entscheidungen überhaupt sinnvoll treffen können. Diese affektiv tiefgreifenden Erfahrungen erzeugen die anti-fragile Wertbindungen, die für persönliche Projekte und ihnen gemäße Lebensformen konstitutiv sind. Sie sind in der Lage, unser Leben buchstäblich grundlegend zu verwandeln, indem sie Gründe für existentielle Projekte bzw. eine ganze Lebensform generieren. Erfahrungen überhaupt – auch die empirischen der sinnlichen Wahrnehmung – sind nicht nach Art einer auf präexistenten Gründen beruhenden Entscheidung oder Handlung zu verstehen, sondern setzen das Selbst in eine zunächst passive Rolle: Wir werden in einer Erfahrung körperlich-sinnlich, emotional und intellektuell von etwas affiziert. Erst daraufhin kann der Prozess der rationalen Prüfung der aus ihr generierten Gründe im Lichte anderer Gründe beginnen. Die Form des Auf-Gründe-Bezogen-Seins, die Affektion durch Gründe, die man nicht erfindet, sondern die einem in der Welt der Gründe begegnen, setzt in tiefgreifenden Erfahrungen an etwas Konkretem – den Gegenständen der Erfahrung – materiell neu ein. Dieses Konkrete affiziert die Person so, dass es – eine Person, eine Gemeinschaft, ein Sachverhalt, ein Musikwerk z. B. – sich gleichsam als die Quelle von Gründen für die Person setzt. Solch transformative Erfahrungen des Affiziertwerdens erzeugen Maßstäbe für das Abwägen von Gründen, die dieser Erfahrung gerecht werden sollten. Trans-
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formativ heißt: Das Subjekt wird durch die Erfahrung des Eröffnens der Quelle in einem nicht-trivialen Sinne anders. Bildlich ließe sich an Wittgenstein angelehnt sagen, dass das Wasser der Lebensform mit dieser Erfahrung anders zu fließen und das Flussbett umzuformen beginnt. Wie eine Quelle an einem bestimmten Ort entspringt und den Anfang eines dort noch nicht absehbaren Prozesses, des Flussverlaufs, gründet – ohne dass man aktivisch nach dieser Quelle gräbt, sie fließt vielmehr von selbst an die Oberfläche –, so erschließt eine transformative Erfahrung auch neue Gründe für das künftige Leben der Person. Sie stiftet gleichsam das Wasser, das das Flussbett verändern wird, und setzt damit neue Kriterien für Kohärenzprüfung in Bewegung. Diese transformativen Erfahrungen kann man, da in ihnen tiefe persönliche Projekte als Konstituenten der je eigenen Lebensform gründen, existentiell nennen (Trautsch 2020, 559). Sie lassen das Leben in einem anderen Licht erscheinen. Einflussreiche Beispiele gibt es dafür aus dem religiös-spirituellen Bereich. So erkennt Moses in einem brennenden Dornbusch Gottes Präsenz und Auftrag und befreit danach das jüdische Volk aus Ägypten (Ex 3,1–4,17). Saulus erkennt in einem unerwarteten Bekehrungserlebnis auf dem Weg nach Damaskus die Wahrheit Jesu, lässt sich taufen und ändert seine Lebensform radikal vom Christenverfolger zum christlichen Missionar, ein Lebensformwechsel, der Beobachter„fassungslos“ macht (Apg 9, 3–29). Buddha erfährt unter einer Pappelfeige am Fluss Nerañjarā das vollkommene Erwachen und wirkt fortan Jahrzehnte lang als Lehrer. Diese nicht selbst aktiv bewirkten Erfahrungen des Erleuchtens, Erwachens, Ruf-Erhaltens sind punktuell wie eine plötzliche Erkenntnis, die Unwissen in Wissen wandelt. Christoph Menke hat an Beispielen wie dem des Exodus die ästhetische Faszination als eine Gestalt der Befreiung beschrieben, die nicht schon Freiheit voraussetzt, wie etwa die These der Entstehung der Freiheit in Europa durch den griechischen Freiheitskampf gegen die drohende Herrschaft durch die Perser (Menke 2022). Nach Menke entsteht eine Befreiung nicht allein von äußerer, sondern auch von internalisierter Herrschaft, die die Form von in einer Lebensform kondensierten Gewohnheiten hat, nicht durch eine bewusste Aktivität, ein Können wie das Urteilen oder das von Gründen geleitete Handeln, sondern durch eine Erfahrung, die initial passiv ist: „die Freiheit der Spontaneität widerfährt uns“ (Menke 2022, 100). Befreiung wird also gerade nicht als Entscheidung, d. h. als souveräne Operation im Raum der Gründe, gedacht, sondern „als Erleiden der Wirkung des Wirklichen“ (Menke 2022, 134). Der Plötzlichkeit als Kategorie der Zeitlichkeit entspricht die Erscheinung des Unerwarteten, nicht durch Gründe Antizipierbaren. Gerade weil wir„die Befreiung nicht begründen“ können (Menke 2022, 141), kann sie in eine bislang begründete Lebensform intervenieren, Gewohnheiten und damit bislang akzeptierte Gründe für Handlungsweisen außer Kraft setzen und neue
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Gründe generieren, mit denen im Radikalfall „ein neues Leben beginnen muss“ (Menke 2022, 143). Was Menke als Erfahrung der Befreiung beschreibt, ist funktional der existentiellen Entscheidung analog, die nach Nida-Rümelin eine Wertung für eine Lebensform stiftet (Nida-Rümelin 2020, 367). Passive Erfahrung und aktive Entscheidung sind scheinen im Widerspruch zu stehen, können aber als dialektischer Prozess vermittelt gedacht werden. Hingabe an die Erfahrung und ihre bewusstkritische Aneignung vollziehen sich in der Zeit. Dieser Prozess von passivem Affiziertwerden und seiner aktiven Fruchtbarmachung kann den Beginn und die Konstanz persönlicher Projekte und individueller Lebensformen konstituieren (Trautsch 2020, 511). Menke beschreibt den Prozess als Affirmation einer Befreiungserfahrung, in der etwas zunächst Fremdes, Neues von außen kommt und das Subjekt ästhetisch ergreift. Wenn es danach diese Erfahrung bewusst bejaht, kann es den Anfang neu denken, das Fremde zum Eigenen und zugleich zum Beginn einer neuen Lebensweise machen: „Die Entscheidung macht aus dem Erleiden einer Wirkung von außen ein Tun, das vom Selbst ausgeht. […] Der freie Akt des Ich will bejaht das Erleiden“ (Menke 2022, 180–181). Die Erfahrung wird „nur befreiend […], indem sie bejaht wird. Die Befreiung ist nicht da, sondern muss gewollt und gedacht (und dadurch gemacht) werden.“ (Menke 2022, 189). Diesen Wechsel von Passivität in Aktivität, vom Zufallenden einer unbewusstaffektiv-sinnlichen Erfahrung in die Annahme durch eine bewusst-emotional-kognitiven Entscheidung macht die transformative Dimension aus. Das vermag der typische Anfang der Liebe zu exemplifizieren. Zum Prozess des Verliebens, von dem eine Person bestimmt wird und aus dem sie neue konative, emotive und epistemische Einstellungen (zur geliebten Person und der geteilten Welt) gewinnt, entschließt sie sich nicht. Dieser Erfahrung geht kein Deliberationsprozess voraus, dessen Abschluss, der einem Urteil über die besten Gründe entspräche, die Erfahrung nach Art einer Handlung initiierte und im Prozess steuernd begleitete. Im Englischen oder Französischen wird diese Passivität etwa mit dem Bild des Fallens – engl. to fall into love, franz. tomber amoureux(‐se) – ausgedrückt. Wir beurteilen nicht erst eine Person als liebenswert und lieben sie dann aufgrund des Werturteils.⁷ Vielmehr wird durch diese Erfahrung des Gebunden- bzw. Getroffenwerdens eine Wertbindung erzeugt und eine existentielle Quelle von Gründen mit objektivnormativer Geltung aufgeschlossen. Liebe kann maßgeblich für einen Shift in der 7 Vgl. Frankfurt 2005, 43: „Wir lieben die Dinge nicht zwangsläufig deshalb, weil wir ihren Wert erkennen und uns von ihnen fesseln lassen. Vielmehr gewinnt das, was wir lieben, notwendig an Wert für uns, weil wir es lieben.“ Liebe ist daher für Frankfurt wie Projekte für Williams und Betzler eine „Quelle von Gründen“, die „nicht notwendigerweise im Wert des geliebten Wesens gründet, dieses Wesen aber in jedem Fall für den Liebenden wertvoll macht“ (42, 45).
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eigenen Lebensform werden, wenn sie als Quelle von Gründen in bewusster Affirmation des Werts der Liebe und der geliebten Person affirmiert wird. Der von der Psychologie für Beziehungen als nötig ausgewiesene Wechsel vom (passiv-aufgeregten) Verliebtsein ins (aktiv-nachhaltige) Lieben ist ein Beispiel für das Verhältnis von transformativer Erfahrung und ihrer Aneignung durch existentielle Entscheidungen. Erst wenn ich mir die Erfahrung durch eine (in der Wiederholung mehrfach zu bekräftigende) Entscheidung zu eigen mache, die sich durch das SichRichten nach Gründen, die Ausdruck der Liebe sind, kontinuierlich zu bewähren hat, habe ich die Lebensform der Liebe zu einer anderen Person gewählt. Die Praxis, die im Rückgriff auf die Erfahrung der Quelle von Gründen gerecht zu werden versucht, macht diese fortgesetzt zu einem Grund für die Lebensform, d. h. zu einem Grund für weitere Gründe.⁸ Alain Badiou hat diese Aneignung als Fixierung eines Zufalls durch Handlungen wie die der Liebeserklärung beschrieben: Die Kontingenz der den Personen zugefallenen Erfahrung des Verliebens wird zum „Anfang einer Wahrheitskonstruktion“, man könnte sagen: einer neuen Lebensform zu zweit, sodass die Erfahrung „rückwirkend überhaupt nicht mehr als kontingent und zufällig erscheint, sondern praktisch als eine Notwendigkeit“ (Badiou 2011, 42). In der Aneignung der Erfahrung durch einen sie affirmierenden expressiven Akt, der impliziert, dass ich ihrer Kraft vertraue, besteht die Verknüpfung ihres passiven und kontingenten Moments in etwas Aktives und eine von Gründen bestimmte Entscheidung für eine Lebensform: „Ich werde aus dem, was ein Zufall war, etwas anderes machen. Ich werde daraus eine Dauer, eine Hartnäckigkeit, eine Verpflichtung, eine Treue machen.“ (Badiou 2011, 43). Aus transformativen Erfahrungen, die tiefe evaluative Bindungen und somit neue Quellen von Gründen erschließen – und also buchstäblich grund-legende Erfahrungen sind –, entstehen persönliche Projekte und Lebensformen, für die Gründe in Handlungsstrukturen kristallisiert und situativ für Intentionen in Anschlag gebracht werden. So lassen sich solche Erfahrungen in die Lebenswelt integrieren und durch Praxis bestätigen, in der ihr Wert weitere Bindungskraft erhält und die Person Erfüllung erfährt.⁹
8 Ich würde also Monika Betzlers Distinktion durch eine prozessphänomenologische Analyse widersprechen, „dass persönliche Projekte zwar Gründe generieren, selbst aber keine Gründe sind. Sie sind lediglich eine Quelle von Gründen.“ (Betzler 2012, 67). Als Quelle von Gründen wird die Erfahrung, mit der ein persönliches Projekt beginnt, durch fortgesetzte Aneignung und Implementierung der Gründe in die Lebensform ex post selbst zum ersten, sozusagen elementaren Grund. 9 Ob der hier skizzierte Begriff der Erfahrung eine Ergänzung von Nida-Rümelins Theorie struktureller Rationalität oder eher eine Explikation der Rolle von Intuitionen darstellt (Nida-Rümelin 2001, 171), sei dem Urteil des Jubilars überlassen.
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Ein Einwand könnte lauten: Es scheint lebensweltlich nicht so zu sein, dass persönliche Projekte und Lebensformen immer durch eine plötzlich eintretende Erfahrung anfangen. Der Anfang mag sich sogar unbedeutend anfühlen, vielleicht kann er gar nicht als bestimmte, temporal markierbare Erfahrung zu identifizieren sein. Mitunter kennt man die Relevanz der Erfahrung erst, wenn sie sich bereits als Anfang einer grundlegenden Veränderung erwiesen hat. Dafür spricht Betzlers Beobachtung, dass persönliche Projekte ihre normativen Kraft über die Zeit von selbst intensivieren (Betzler 2012, 55), und Nida-Rümelins Diagnose, dass sich in Bildungsprozessen eine vernünftige Lebensform „allmählich“ herausbildet (NidaRümelin 2016, 242). Der Prozess erscheint viel wichtiger als sein Beginn, der nicht notwendigerweise nach Art plötzlicher Einsichten, Epiphanien oder affektiver und ästhetischer Faszination zu begreifen ist. Ich glaube, dass in dieser zutreffenden Beobachtung kein Einwand gegen die Rolle grundlegender Erfahrungen liegt, nur gegen die Einengung auf abrupte Erfahrungen. Transformative Erfahrungen können sich über längere Zeit entfalten und erst allmählich eine sinnhafte Evidenz für die Person erzeugen, sodass sie sie immer mehr als Quelle von Gründen ernst- und annimmt. Doch auch im Fall einer langsam sich konturierenden Lebensform gilt das entscheidende Moment des Bestimmtwerdens durch die Erfahrung: Existentielle Entscheidungen beziehen sich auf Erfahrungen, dass etwas einen bewegt und einem sehr wichtig wird; erst mit Bezug zu diesem Erleben können sie als affirmierende Aneignung der Erfahrung getroffen werden. Aus diesem Grund ist es auch so schwer, eine existentielle Wertbindung und Lebensform aufzugeben, wenn sie sich nicht mehr in der Lebenswelt aufrechterhalten lässt und Gründe gegen ihre Kontinuität sprechen, die sich bspw. auf neue Sachverhalte wie den Tod einer geliebten Person oder die rechtliche Blockade eines Projekts beziehen (Betzler 2012, 59–60). Transformative Erfahrungen sind demnach graduell variabel. Sie können eine punktuelle Zäsur wie eine kontinuierliche Zone zwischen Lebensformen und denen sie prägenden Handlungsstrukturen bilden. Als solche konstituieren sie (mehr oder weniger scharfe) Diskontinuitäten im Lebenslauf, Abbrüche und neue Anfänge zugleich. Daher müsste wohl auch die eindeutige Auszeichnung der Kohärenz und Stabilität von Lebensformen als besonders rational und autonom (Nida-Rümelin 2016, 242; 2001, 65) eine Differenzierung erhalten. Teils radikale Verschiebungen der Lebensform und ihrer Handlungsstrukturen aufgrund existentieller Entscheidungen sind mit einem rationalen Leben durchaus vereinbar. Denn das lebensweltliche Streben nach Kohärenz bedarf eines Anfangens, das nicht allein aus der Kohärenz zu dem Vorher des Anfangs bestimmt zu werden vermag. Daher können sich nicht nur partielle oder langsame (Nida-Rümelin 2011, 76), sondern auch rasche Veränderungen aufgrund transformativer, existentieller Erfahrungen (retrospektiv) als
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vernünftig erweisen, weil sie z. B. auf einen ggf. ex ante nicht identifizierbaren Veränderungsbedarf reagierten und eine nun belastbare Wertbindung und ihre verlässliche Praxis konstituieren. Im Rückblick mag der Wechsel einer Lebensform erst in seiner Tiefendimension verstanden und entsprechend als Diskontinuität innerhalb einer insgesamt trotz unterschiedlicher Rollenerwartungen zusammenhängenden Lebensgeschichte erzählt werden. Ich schlage vor, diese transformativen, existentiellen Erfahrungen als irreduzible Kategorie praktischer Vernunft zu verstehen, die sich als Ergänzung in Julian Nida-Rümelins Theorie struktureller Rationalität integrieren ließe. Denn auch die Bewertung und Bewährung eines erfahrungsbasierten Anfangs von persönlichen Projekten und eigenen Lebensformen kann nur im Austausch von inferenziell vernetzen Gründen in der geteilten Lebenswelt gelingen.
Bibliographie Badiou, Alain. 2011. Lob der Liebe. Ein Gespräch mit Nicolas Truong. Wien: Passagen. Betzler, Monika. 2012. „Persönliche Projekte als diachrone Orientierungsprinzipien.“ In: Dieter Sturma (Hrsg.). Vernunft und Freiheit: Zur praktischen Philosophie von Julian Nida-Rümelin, 39–70. Berlin/Boston: De Gruyter. Betzler, Monika. 2013. „The Normative Significance of Personal Projects.“ In: Michael Kühler und Nadja Jelinek (Hrsg.), Autonomy and the Self, 101–126. Berlin/New York: Springer. Frankfurt, Harry G. 2005. Gründe der Liebe. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Gigerenzer, Gerd. 2007. Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. München: Bertelsmann. Menke, Christoph. 2022. Theorie der Befreiung. Berlin: Suhrkamp. Nida-Rümelin, Julian. 1993. Kritik des Konsequentialismus. München: Oldenbourg. Nida-Rümelin, Julian. 2001. Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft. Stuttgart: Reclam. Nida-Rümelin, Julian. 2002. Ethische Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Nida-Rümelin, Julian. 2005. Über menschliche Freiheit. Stuttgart: Reclam. Nida-Rümelin, Julian. 2009. Philosophie und Lebensform. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Nida-Rümelin, Julian. 2011. Verantwortung. Reclam: Stuttgart. Nida-Rümelin, Julian. 2012. „Erwiderung auf Monika Betzler.“ In: Dieter Sturma (Hrsg.), Vernunft und Freiheit: Zur praktischen Philosophie von Julian Nida-Rümelin, 289–295. Berlin/Boston: De Gruyter. Nida-Rümelin, Julian. 2016. Humanistische Reflexionen. Berlin: Suhrkamp. Nida-Rümelin, Julian. 2020. Eine Theorie praktischer Vernunft. Berlin/Boston: De Gruyter. Nida Rümelin, Julian, und Elif Özmen. 2012. Welt der Gründe. Hamburg: Meiner. Trautsch, Asmus. 2020. Der Umschlag von allem in nichts. Theorie tragischer Erfahrung. Berlin/Boston: De Gruyter. Williams, Bernard. 1973. „A Critique of Utilitarianism“ In: Bernard Williams und J.C.C. Smart (Hrsg.), Utilitarianism For and Against, 75–150. Cambridge: Cambridge University Press. Wittgenstein, Ludwig. 1984. Über Gewißheit (Werkausgabe, Bd. 8). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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8 Was ist prohairesis? Oder: Wie ich bei der Partnerwahl zumindest nicht alles falsch mache. Von der Kunst kluge Entscheidungen integer zu treffen Abstract: What is prohairesis? Or: How I at least don’t do everything wrong when choosing a partner. The art of making smart decisions with integrity. In the following article, I turn to the question of how we humans become capable of making wise decisions with integrity and reflection. I discuss this question using the most existential decision we have to make: choosing a mate. In a first step, I explicate four central challenges that make choosing a partner an overwhelmingly difficult endeavor. In the second step, I explain the Aristotelian conception of prohairesis, which provides some answers to the question of partner choice. In a final step, I discuss the knowledge gained against the background of Nida-Rümelin’s theory of action and show connections to his conception of structural rationality and the form of life and expose the thesis that prohairesis is to be understood as a functional bracket between these two concepts.
Einleitung – oder: Warum es so schwer ist, kluge Entscheidungen zu treffen Der Mensch als zoon echon logon, also als vernunft- und sprachbegabtes Lebewesen, leidet unter einer essentiellen Bürde, welche uns von der tierischen Existenz kategorial unterscheidet: Unsere alltäglichen Zwecke und Ziele des Lebens sind nicht vorherbestimmt und lassen sich nicht ausschließlich einem biologischen Plan folgend erklären. Die einzige Gewissheit, die uns die Natur auferlegt hat, ist, dass wir leben und eines Tages sterben müssen – wir sind in die Welt geworfen worden, ohne dass uns je jemand dazu befragt hätte. Was diese profane Erkenntnis aber zu einer Bürde macht, ist nicht die Feststellung, dass wir leben, sondern dass wir leben müssen. Diese, vom Schicksal der menschlichen Existenz auferlegte Bürde, verlangt von uns, dass wir uns für eine wie auch immer geartete Lebensform entscheiden müssen, dass wir alltäglich und in Bezug auf unser ganzes Leben damit konfrontiert sind, Entscheidungen treffen zu müssen, wie wir leben wollen. Da der Mensch als zoon physei politikon aber auch dazu bestimmt ist unter und mit Menschen zu leben, sind diese Entscheidungen nicht lediglich rein instrumenteller Natur, sondern https://doi.org/10.1515/9783111433233-009
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eudemisch, d. h. die Entscheidungen, mit wem wir uns umgeben, mit welchen Personen wir befreundet sind oder wen wir als Lebenspartner wählen, sind existentiell für unser eigenes Glück. Die Entscheidung, mit wem ich mein Leben teilen möchte und mit wem nicht, ist im Kern eine, die ich täglich aufs Neue treffen oder zumindest aktualisieren muss, damit ich mich in meinem eigenen Leben auch lebendig fühle. Um unser eigenes Glück nicht zu gefährden, sind unsere Entscheidungen also nicht lediglich instrumentell optimierend, sondern üblicherweise verlangen wir von uns selbst qualitativ deutlich mehr: Sie sollen uns nicht nur nützen, sondern sie sollen auch reflektiert, klug, integer, reif und selbstbestimmt sein. Wenn wir also in bestimmten Handlungssituationen Entscheidungen treffen, dann erheben wir an uns selbst nicht nur den Anspruch, dass diese erfolgreich sein sollen, d. h. unseren Wunsch realisieren, sondern darüber hinaus sollen diese auch bestimmte moralische Kriterien erfüllen. Ergibt sich demgegenüber durch äußere Zufälle ein für uns wünschenswertes Ergebnis, so interpretieren wir das zunächst zwar positiv, aber eben nicht als besonders klug oder tugendhaft, denn unser Anteil an der erfolgreichen Realisierung dieses wünschenswerten Ergebnisses war zumindest nicht intentional kausal. Ganz im Gegenteil: Wenn das Glück zur Tür hereinkommt, dann ist das nicht unser Verdienst, sondern das anderer oder des Zufalls. Auf Dauer ein für uns wenig zufriedenstellender Umstand. In solchen Fällen fühlen wir uns eher ohnmächtig, abhängig und nicht selbstbestimmt in Bezug auf unser eigenes Schicksal. Wenn unser Leben weitestgehend durch äußere glückliche oder unglückliche Zustände bestimmt wird, dann empfinden wir kein Glück, sondern Angst. Um dieser potenziellen Ohnmacht zu entgehen, verwenden wir Menschen zahlreiche Strategien, um Handlungen nicht nur erfolgreich zu realisieren, sondern dies auch in einer besonders klugen Art und Weise zu tun. Wir entwerfen strategische Pläne, von wenigen Minuten, bis zu mehreren Jahren, wir wägen ab, sammeln akribisch Informationen, stellen Pro- und Contra-Listen auf, versuchen mittels Berechnungen und Simulationen die Welt zu beherrschen oder wir folgen einfach unserem Bauchgefühl – egal, wie sicher dieses uns in der Vergangenheit zum Erfolg verholfen hat. Dennoch stellen wir des Öfteren fest: Wir können uns noch so akribisch, reflektiert und wohlinformiert vorbereiten, sei es auf ein Bewerbungsgespräch, auf ein Rendezvous oder eine besonders schwierige Sitzung eines Gremiums etc., der Erfolg ist deswegen keinesfalls garantiert. Vielmehr erdrückt uns oftmals die Kontingenz der Handlungssituation, denn es ist nicht nur der Fall, dass wir selbst vielfältige Handlungsoptionen haben, sondern die Personen gegenüber ebenso. Dieses Phänomen, von Niklas Luhmann als „doppelte Kontingenz“ bezeichnet (Luhmann 1984, 152), durchzieht unsere alltägliche Handlungsstruktur in einem umfassenden Sinne: Strategische Pläne, feste deterministische Handlungs-
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gesetze scheitern meist an der Kontingenz, die die Welt durchzieht. Damit wir in solchen Situationen klug entscheiden, bedarf es offenkundig eines umfangreicheren Reflexions-Prozesses, welcher auf die gesamte Charakterstruktur der Person abzielt. Um klug entscheiden zu können, muss ich mich nicht nur kennen, sondern darüber hinaus muss ich auch erst noch eine Person werden. Das bedeutet, ich muss einen festen, integren Charakter entfalten, wodurch ich zielsicher die richtige Entscheidung treffe. Im folgenden Beitrag möchte ich mich dieser Schwierigkeit annähern und explizieren, welche Bedingungen bzw. Herausforderungen nötig sind, um Entscheidungen klug, integer und unser Glück realisierend zu treffen. Hierzu werde ich erstens das Problem anhand der wohl schwierigsten, aber drängendsten Entscheidung explizieren, nämlich der Partnerwahl. Zweitens werde ich die für diese Frage so zentrale Stellung der prohairesis, innerhalb der aristotelischen Handlungstheorie erläutern. Schließlich werde ich drittens eine Interpretation entfalten, welche die Konzeption der prohairesis als funktionale Klammer zwischen der Idee der strukturellen Rationalität und der Lebensform innerhalb Julian Nida-Rümelins Handlungstheorie darstellt.
1 „Drum prüfe, wer sich ewig bindet“ – die Partnerwahl als existenziell-eudemische Entscheidung „Ist er der Eine?“, „Ist sie die Liebe meines Lebens?“ Keine Frage des menschlichen Daseins ist wohl von mehr Zweifeln, Selbst- und Fremdkritik, von Idealisierung und Reue, von Angst und Sorgen, aber auch von Leidenschaft und Glück geprägt, als die der Wahl des richtigen Partners. Wählen wir richtig, kann der Partner an unserer Seite eine Quelle von dauerhaftem Glück, von Lebendigkeit und Wohlergehen sein. Wählen wir falsch, so kann das kurze Glück schnell zur existenziellen Herausforderung werden. Oder wie Friedrich Schiller im Lied von der Glocke schreibt: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, / ob sich das Herz zum Herzen findet! / Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang.“ (Schiller 2001, 30). Da die Partnerwahl im eigentlichen Sinne aber keine ausschließliche Gefühlssache, sondern eine Wahl ist, d. h. eine WillensEntscheidung, so können wir auch immer Gründe für unsere Wahl oder für die Auflösung einer Partnerschaft finden und explizieren. Um diese, für unser Glück so existenzielle, Entscheidung zu begründen, gibt es de facto nichts, was wir nicht heranziehen würden, um die einmal getroffene Entscheidung ex post zu rationalisieren – sei es, warum gerade dieser eine Partner genau der eine und niemand anders oder, im Falle einer Auflösung, warum er genau nicht der eine war. Praktisch
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gibt es nichts, was wir nicht heranziehen würden, um die einmal getroffene Entscheidung als die genau richtige zu rationalisieren. Um den eigenen Partner, und damit die Rationalität unserer Entscheidung, vor der Bedeutungslosigkeit gegenüber all den anderen Milliarden Menschen zu schützen, ist die Frage nach der Objektivität bzw. Richtigkeit unserer getroffenen Entscheidung nur ein sehr nachgelagertes Bedürfnis. In Bezug auf die Partnerwahl scheint uns die Wahrheit eine so unerträgliche Bedrohung zu sein, dass wir lieber alle psychischen Kräfte aufbringen, um uns vor ihr zu schützen. Ferner ist die Partnerwahl aber nicht nur eine Entscheidung, denn wenn dem so wäre, könnten wir uns prinzipiell für oder gegen jeden denkbaren Partner entscheiden. Neben dem willentlichen Akt, der Entscheidung jemanden lieben zu wollen, ist Liebe aber auch eine hochgradig emotionale und individuelle Sache. Die rationale Entscheidung, jemanden lieben zu wollen, begründet noch lange nicht, dass ich ihn oder sie auch tatsächlich lieben kann. Wir Menschen sind in dieser Frage dann doch hochgradig idiosynkratisch – verlieben können wir uns schnell, aber lieben erfordert dann doch mehr als eine spontane Anziehung. Diese Spannung zwischen einerseits eine Entscheidung treffen zu müssen und andererseits das Gefühl nie ganz loswerden zu können, ob die getroffene Entscheidung denn wirklich die richtige war, führt zu dem scheinbar unstillbaren Drang, dass uns nichts so sehr beschäftigt, wie mehr über das Wesen der Liebe wissen zu wollen. Über nichts wurde in der Geschichte der Menschheit so viel nachgedacht wie über die Liebe – und über nichts wurde so viel Unsinn verbreitet wie zu diesem Thema. Trotz unseres vielen Nachdenkens und Wissens, bleibt am Ende aber immer: Alles Wissen darüber, wie ich denn nun den richtigen Partner auswähle – sei es nun wissenschaftlich fundiert oder lebensweltlich tradiert – ändert nichts an dem Umstand, dass ich in der Situation des Entscheiden-Müssens nie vollständig alle vorher etablierten Kriterien (z. B. sogenannte „Red- „und Greenflags“) prüfen und vor allem auch in eine zielgerichtete Entscheidung überführen kann. Wir können in der Situation der Entscheidung niemals die gesamte charakterliche Struktur des Menschen durchleuchten, sie messen oder analysieren, denn jede praktische Entscheidung, alle Gründe, die wir fähig sind zu explizieren, sind am Ende immer unterbestimmt. Eine praktische Entscheidung lässt sich nie vollständig naturalistisch bestimmen. Warum uns die Partnerwahl emotional und psychisch gleichzeitig so fordert und doch so zentral ist, lässt sich an wenigstens vier Herausforderungen skizzieren. Die erste Herausforderung lässt sich als eine diachrone Problematik beschreiben: Soziologisch betrachtet wissen wir zwar sehr genau, was die jeweiligen Strategien der Geschlechter bei der Partnerwahl sind. Männer wählen nach „Jugendlichkeit und Attraktivität“ und Frauen nach einem „höheren sozioökonomischen Status und Bildungsniveau“. Diese einfachen Strategien scheitern aber an einer doppelten
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diachronen Struktur. Zum üblichen Zeitpunkt der Wahl eines Lebenspartners (um 30) haben Männer meist noch keinen Status und Frauen sind nicht mehr jugendlich. Oder auf andere Art formuliert: Eine zwanzigjährige junge Frau hat im Regelfall wenig Interesse daran, einen zwanzig Jahre älteren, mit Status versehenen, Mann zu heiraten – zumindest ist Liebe dann nicht die entscheidende Motivation. Die Folge daraus ist, dass die Partnerwahl in liberalen Gesellschaften immer eine höchst ambivalente Angelegenheit ist und wir immer damit konfrontiert sind, ob diese Entscheidung denn nun wirklich die richtige ist oder ob auf eine „bessere Option“ zu warten nicht die zielführendere wäre (Illouz 2019, 172–186). Der schlichte Umstand, dass die Partnerwahl keine punktuelle Entscheidung sein kann, wie etwa die für den Kauf eines Autos, sondern eine, die sich auf ein ganzes Leben oder zumindest auf einen hinreichend langen Lebensabschnitt bezieht, erfordert also ein hohes Maß an Prospektion. Versucht man diese soziologisch messbaren Strategien sozialpsychologisch zu unterfüttern, so zeigt sich ein weit bestimmteres Bild – insbesondere im Vergleich der Geschlechter: Während Frauen nach „Ressourcen-Potential“, „sozialem Status“, „höherem Alter“, „Ambition und Fleiß“, „Zuverlässigkeit und Stabilität“, „Intelligenz“, „Kompatibilität“, „Größe, Stärke, Körperform“, „Gesundheit, Symmetrie und Maskulinität“, „liebevoll, freundlich und verbindlich seiend“ suchen, sind für Männer hauptsächlich „Jugendlichkeit“, „physische Attraktivität“ und „body shape“ zentral (Buss 2003, 31–112). Diese nähere Bestimmung der Präferenzen führt zur zweiten Herausforderung bei der Partnerwahl, der des Konflikts zwischen idealer Wunschvorstellung und realistischer Option: All diese Qualitäten eint eines: Sie sind normalverteilt und je mehr dieser Qualitäten ein potenzieller Partner akkumuliert, desto knapper wird das Gut – und ein sehr knappes Gut hat einen ausgesprochen hohen Preis. Oder anders formuliert: Je reichhaltiger der Tisch gedeckt ist, desto weniger Menschen können an diesem Platz nehmen. Es ist zwar grundsätzlich gut, explizite und hohe Ansprüche zu haben, im Akt des Entscheidens muss ich aber realistisch einschätzen können, ob ich über ebenso viele knappe Güter verfüge, wie der potenzielle Partner vor mir. Der zwanglose Zwang, sich auf Augenhöhe zu verpartnern erschwert eine Entscheidung emotional merklich. Eine dritte Herausforderung, die uns eine kluge und richtige Partnerwahl erschwert, lässt sich mittels der psychoanalytisch begründeten Schule der Objektbeziehungstheorie erklären: Die meisten unserer Bindungsmuster liegen in vergangenen Bindungserfahrungen begründet, insbesondere der zu den Eltern. Diese dort erlernten Wünsche, Gefühle, Erwartungen oder Ängste sind uns aber meist nicht gewahr, sondern sind unbewusst oder verdrängt. Treffen wir nun einen Menschen, mit dem wir eine enge Bindung eingehen wollen, so reaktivieren und übertragen wir diese Muster auf die neue Bindung – und zwar in doppelter Art und Weise. Zum einen idealisieren wir die vergangene Bindung und zum anderen entwerten wir sie
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(Kernberg 1992). Der Mann, welcher mein Ehemann sein soll, soll in gewisser Weise genau so sein wie mein Vater und in einer anderen Weise explizit das völlige Gegenteil. Je gesünder die Bindung zum Vater bzw. der Mutter war und je weiter ich mich selbst in meiner persönlichen Reife entwickelt habe, desto zielsicherer treffe ich in der Dialektik zwischen Entwertung und Idealisierung richtig. Dies bedeutet nicht nur, dass uns eine lange Geschichte an Bindungserfahrungen geprägt hat, sondern auch, da diese Muster meistens unbewusst sind, dass die Wahl des richtigen Partners eine ziemlich opake Angelegenheit ist. Eine vierte Herausforderung führt zu der normativen Frage, wie ich denn einen Partner auswählen sollte. Lässt man die geschlechter-psychologische Frage der Komplementarität außen vor, so kann man die wesentlichen Erkenntnisse der Wissenschaften mit der aristotelischen These der Gleichheit im Charakter und der nötigen charakterlichen Reife zusammenfassen (EN VIII 8). Je ähnlicher die Partner sich in Charakter, Wertvorstellungen oder Lebensplan sind, desto stabiler und glücklicher wird die Beziehung sein. Während diese Feststellung der Partnerwahl eine versichernde Orientierung geben kann, so gestaltet sich das zweite Kriterium eher als Herausforderung. Gerade in liberalen Gesellschaften halten sich alle Menschen im Regelfall für einigermaßen oder sogar besonders reif – aber das Gegenteil ist der Fall. Dies mag zum einen an einem individualistisch manifestierten Narzissmus liegen oder zum anderen am schlichten Fehlen einer großen Zahl an tatsächlich reifen Menschen. In jedem Fall wird dies aber eine Herausforderung für die Partnerwahl werden. Wenn es tatsächlich einen Menschen geben würde, der mir in Charakter, Wertvorstellungen oder Lebenszielen so sehr gleicht, also der potenziell „perfekte Partner“ wäre, und mir das Schicksal es sogar noch ermöglicht, dass ich diesem einen Menschen begegne, so bedarf es sowohl bei mir als auch bei ihm einer sehr hohen charakterlichen Reife, um die richtige Entscheidung überhaupt treffen zu können. Die meisten Menschen werden diese charakterliche Reife aber nie erreichen und auch wenn sie sie erreichen, sind sie in einem Alter, in welchem sich die Wahl eines Lebenspartners üblicherweise nicht mehr stellt, da sie bereits getroffen ist. Noch viel unwahrscheinlicher als seinen Kugelmenschen zu finden, ist es ihn auch als solchen zu erkennen. Zusammenfassend lässt sich also sagen: Die Gründe, warum eine bestimmte Person der perfekte Partner ist oder nicht, lassen sich mit noch so viel Wissen, Strategie oder Berechnung niemals hinreichend bestimmen. Des Weiteren ist die zu treffende Entscheidung enorm von erlernten Bindungsmustern geprägt, welche uns selbst meist nicht gewahr sind und uns oft mehr im Wege stehen als nützen. Letztlich sind wir in den meisten Fällen gar nicht in der Lage, diese Entscheidung zielsicher und mit Gewissheit zu treffen, da wir zu dem Zeitpunkt, an welchem sie relevant wird, schlicht und einfach nicht reif genug sind. Dieser Umstand scheint mit der Grund zu sein, warum wir gerade in dieser Frage zu so viel Rationalisie-
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rungen, Idealisierungen und doch zu so viel Zweifeln und Selbst-Konflikten neigen. In Bezug auf die Partnerwahl sind Zynismus und Nihilismus letztlich aber keine brauchbaren Strategien. Das Schicksal der menschlichen Existenz zwingt uns dazu, sofern wir glücklich sein wollen, uns für einen Partner entscheiden zu müssen. Um die eingangs aufgeworfene Frage, wie wir denn nun kluge Entscheidungen integer treffen können, zu beantworten, müssen wir uns der ganz besonderen Art einer solchen Entscheidung zuwenden. Die Partnerwahl ist nämlich weder eine rein kognitive, durch Wissen bestimmte, Entscheidung noch ist sie reine Gefühlssache: Die Wahl eines Partners ist eine prohairesis (EN VIII 7, 1157b30). Bevor wir uns im nächsten Schritt der genauen Analyse der prohairesis zuwenden, möchte ich den Leser aber nicht in der Tristesse zurücklassen, dass de facto jede Partnerwahl letztlich immer irgendwie falsch ist bzw. der gewählte Partner nie der perfekte Partner sein wird. Betrachten wir den Umstand, dass Liebe nicht nur eine Entscheidung, sondern vor allem auch eine Tätigkeit des ausschließlichen Gebens ist, so wird die Imperfektion des gewählten Partners schnell viel erträglicher. Liebe als Kunst ist tätige Fürsorge für die Entfaltung des Geliebten, indem ich auf seine geäußerten und auch verborgenen Bedürfnisse aktiv, d. h. tätig antworte, seine individuelle Integrität achte und mich stets darum bemühe, ihn besser zu erkennen (Fromm 2019, 37). Liebe als Kunst verlangt von uns also, den anderen so zu sehen, wie er ist und ihm aktiv dabei zu helfen, so zu werden, wie er sein möchte. Wenn wir einen Partner wählen oder ihn gar„erziehen“ möchten, weil er genau so sein soll, wie ich ihn haben will, dann ist das zwar eine Möglichkeit sich zu verpartnern – nur ist das dann keine Liebe, sondern Narzissmus. Angesichts dessen, dass nur eine marginale Minderheit der Menschen die Kunst der Liebe in Perfektion beherrschen dürften und somit sie selbst gar nicht in der Lage sind, ein perfekter Partner für irgendjemand sein zu können, scheint es mir sehr viel klüger zu sein, sowohl die eigene Unzulänglichkeit als auch die des Partners anzuerkennen und sich der viel zentraleren Entscheidung zu stellen: Der eigentliche Gehalt dieser prohairesis ist demnach nicht, ob der andere der perfekte Partner für mich ist, sondern ob ich der perfekte Partner für ihn sein will.
2 Prohairesis – die Willenswahl des reifen Menschen im aristotelischen Kontext Will man den aristotelischen Begriff der prohairesis systematisch für das hier explizierte Problem der Partnerwahl fruchtbar machen, so hilft es, die gängige Definition der prohairesis als einer freiwilligen Vorzugswahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten (Rapp 2010, 121) durch vier Relationen näher zu bestimmen. Die erste
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Relation der prohairesis lässt sich als eine teleologische beschreiben. Aristoteles grenzt die prohairesis einerseits vom bloßen Begehren (epithymia) und andererseits von einer Meinung (doxa) ab (EN III 4, 1111b10). Wenn wir eine Entscheidung treffen, so ist dies kein bloßes Begehren, denn hierbei findet keine Entscheidung statt, beim bloßen Begehren – oder hier zum besseren Verständnis als „rein sinnliches, tierisches Streben“ bezeichnet – spielt der Wille keine Rolle. Ob wir ein bestimmtes Gericht nun eklig oder nicht finden, darauf hat unser Wille keinen Einfluss. Andererseits ist die prohairesis aber auch keine Meinung oder Wissen, denn ob wir einen bestimmten intellektuellen Sachverhalt als wahr oder falsch beurteilen ist gänzlich unabhängig von unserem Begehren. Ob wir die Urknalltheorie für wahr oder falsch halten, steht in keinem Zusammenhang mit unserem Begehren. Eine prohairesis hat aber immer etwas mit unserem strebenden und unserem vernünftigen Vermögen zu tun, denn sie soll zwar nicht wahr, aber dennoch richtig sein (Rapp 2010, 121). Die prohairesis lässt sich also näher als eine willentliche Entscheidung in Einklang mit unseren Bedürfnissen beschreiben. Um den teleologischen Charakter der prohairesis näher zu bestimmen, ist die Abgrenzung zum Wunsch oder Wollen (boulêsis) entscheidend. Sowohl prohairesis als auch boulêsis betreffen zwar denselben Gegenstand, nämlich das, was wir uns für unser Leben wünschen und anstreben. Während sich aber die boulêsis auf das Ziel richtet, soll die prohaireis uns den Weg zu eben diesem Ziel durch praktische Entscheidungen weisen (EN III 5,1112b11–1113a2). Doch was ist das Ziel, auf das sich unsere Wünsche und unsere Entscheidungen richten? Das teleologische Ziel, auf das sich sowohl prohairesis als auch boulêsis richten, ist das eu zen, unsere eigene Vorstellung von einem wünschenswerten Leben. Das eu zen ist an dieser Stelle aber nicht als ein irgendwann erreichbarer Zustand zu interpretieren, sondern als eine normative Orientierung, die die gesamte Praxis unseres Lebens durchzieht. In Bezug auf die Partnerwahl lässt sich der Gedanke der prohairesis also wie folgt anwenden: Damit ich die richtige Entscheidung für oder gegen einen Partner treffen kann, ist es zunächst zentral, dass ich mir – so differenziert und bestimmt, wie möglich – meiner Wünsche bewusst werde, dass ich mir selbst klar werde, was für mich ein gutes und wünschenswertes Leben ist. In einem zweiten Schritt sollte jede einzelne prohairesis meines Alltags auf dieses Ziel ausgerichtet sein. Jede noch so kleine, auch unbewusste Entscheidung, sollte dem Erreichen dieses Ziels dienen. Das teleologische Moment der prohairesis lässt sich also definitorisch so beschreiben: Eine prohairesis ist eine strebende Entscheidung, welche uns die Realisierung unserer Wünsche und Lebensziele ermöglichen soll. Die zweite Relation, welche ich als die qualitative Relation bezeichnen möchte, entspringt dem Aspekt der Freiwilligkeit. Eine prohairesis führt uns nicht automatisch oder deterministisch zu unseren Wünschen, sondern sie soll uns helfen, unsere Wünsche durch die Realisierung von guten bzw. richtigen Handlungen zu
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verwirklichen. Damit uns dies gelingt, müssen wir gute und kluge Entscheidungen treffen. Eine prohairesis kann also sowohl gut wie auch schlecht sein. Damit die prohairesis qualitativ gut wird, bedarf es einer Voraussetzung, die Aristoteles euboulia, die Wohlberatenheit, nennt. Damit wir im Moment der Entscheidung auch gute und kluge Entscheidungen treffen können, bedarf es einer vorangegangenen Beratschlagung, einer bouleusis. Um den zentralen Gehalt der euboulia, der Wohlberatenheit, als eine Charaktereigenschaft klarzumachen, muss man diese Vorstellung klar von dem abgrenzen, was man lebensweltlich als „reflektieren“ oder „abwägen“ bezeichnet. Indem Aristoteles sehr klar darstellt, dass Wohlberatenheit eine Charaktereigenschaft des reifen Menschen und weder Wissen noch Meinung ist (EN VI 10), weist er auf zwei Dinge hin: Erstens muss ich, um eine gute prohairesis treffen zu können, zeitlich vorher sehr lange reflektieren, und zwar nicht in Bezug auf eine konkrete Handlungssituation, sondern in einem generellen und abstrakten Sinne. Die Reflexion bezieht sich darauf, wie ich meine Wünsche generell erreiche und nicht, was ich in einer konkreten Handlungssituation tun sollte (Wolf 2007, 130). Zweitens folgt aus der Erläuterung, dass die Wohlberatenheit ein Habitus ist, dass der reife Mensch in der konkreten Entscheidungssituation an sich gar nicht mehr reflektieren muss. Wer wohlberaten ist, trifft in der konkreten Handlungssituation die richtige Entscheidung und muss eben nicht mehr reflektieren, was zu tun ist. Er trifft sie aus einem festen Habitus heraus. Dieses „Nicht-Mehr-Abwägen-Müssen“ darf aber nicht so verstanden werden, dass diese Entscheidung unbegründet oder gar irrational getroffen worden wäre. Vielmehr kann der Wohlberatene ex post sehr gut Gründe für oder wider eine Entscheidung liefern – aber in der konkreten Entscheidungssituation muss er sich selbst diese Gründe nicht mehr geben. Wendet man dieses Kriterium wiederum auf die Partnerwahl an, so lässt sich sagen, dass derjenige, der wohlberaten ist, über einen festen und reifen Charakter verfügt, seine Lebensziele klar vor Augen hat und im Moment der Entscheidung zielsicher das Richtige tun wird. Mittels dieser Bestimmung lassen sich auch zwei lebensweltliche Ratschläge bei der Partnerwahl zurückweisen: Wer charakterlich reif ist, der muss zum einen in der konkreten Situation nicht alle „Für- und WiderArgumente“ abwägen und zum anderen lässt er es auch nicht „einfach mal auf sich zukommen“. Der wohlberatene Mensch tut das Richtige. Des Weiteren wird der Wohlberatene auch keine „optimierende Dating-Strategie“ anwenden. Sich im Dating „zu verbessern“ ist für den Wohlberatenen eine völlig falsche Strategie. Die prohairesis wie auch die eubolia beziehen sich auf das Gute. Eine Optimierung im Bereich des Falschen bzw. nicht Wünschenswerten wäre keine Eigenschaft des reifen Menschen. Eine kleine Dummheit wird gegenüber der großen Dummheit nicht zum Guten. Der wohlberatene, reife Mensch trifft keine Entscheidungen, die seinem eu zen im Weg stehen. Ausgehend hiervon lässt sich die prohairesis als eine
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Entscheidung, welche auf einem wohlberatenen, reifen und gefestigten Charakter gründet beschreiben. Die dritte und vierte Relation ergeben sich zwar schon aus dem Bisherigen, sind aber für die systematische und lebensnahe Darstellung der prohairesis relevant, weswegen ich sie deutlich explizit machen will. Die erste Relation bezieht sich auf den sowohl temporalen als auch optionalen Charakter der prohairesis. Ausgehend von der Interpretation des Präfixes -pro deutet Christof Rapp die prohairesis als eine optionale Vorzugswahl zwischen den Optionen A ! B (Rapp 2010, 125), während Ursula Wolf dies ablehnt und das Präfix -pro temporal, also A ! "A deutet, sodass die Wahl einer Option dem vorherigen Reflexionsprozess entspringt (Wolf 2007, 126). Betrachtet man beide Argumente genauer, so hat Ursula Wolf durchaus recht, dass eine rein optionale Deutung, welche die zentrale Stellung der bouleusis negieren würde, unplausibel wäre. Dennoch erscheint es mir lediglich eine Frage der logischen Präzision zu sein, um den Widerspruch aufzulösen, denn sicherlich wurde auch Aristoteles selbst mehrfach mit Situationen konfrontiert, in welchen er sich tatsächlich zwischen einer Option A und B entscheiden musste. Versucht man hingegen den temporalen Aspekt der zeitlich vorgelagerten Reflexion auch auf eine Vorzugswahl zwischen zwei Optionen anzuwenden, so lassen sich die Interpretationen von Rapp und Wolf integrieren. Nach meiner Deutung besteht die Wahl demnach nicht zwischen A und B, sondern zwischen A !"A und zwischen B !"B , wir vollziehen also eine „doppelte prohairesis“. In Bezug auf die Partnerwahl lässt sich das an einem Beispiel illustrieren: Wenn wir plötzlich die Option haben, dass wir entweder Dieter oder Jürgen daten könnten und wir zu einem einigermaßen reifen Charakter gelangt sind, so haben wir üblicherweise je eigene Gründe, warum wir Jürgen oder Dieter daten oder nicht daten sollten. Der Bezugspunkt unserer prohairesis ist immer unser Habitus und nicht die vorliegenden Optionen. Die vierte und letzte Relation bezieht sich auf die praktische Dimension: Eine prohairesis geht von einem (guten) Habitus aus. Um einen reifen und guten Charakter entfalten zu können, müssen wir – anders als bei den Verstandestugenden, wo Erfahrung und Zeit die entscheidenden Momente sind – uns an das richtige Handeln gewöhnen. Dies bedeutet, dass das richtige Handeln zwar nur durch Handeln erlernt wird, damit wir aber gute Dispositionen ausprägen, benötigen wir nicht Erfahrung, sondern Gewöhnung an das richtige Handeln (EN, II 1). Diese Gewöhnung geht bei Aristoteles zwar selbstständig vom einzelnen Individuum aus, wird aber zentral durch moralische Normen, d. h. Gesetze, Konventionen, Ratschläge, Erziehung etc. angeleitet (EN X 9–10). Dies bedeutet nicht, dass man keine Fehler machen darf, denn Aristoteles sagt explizit, dass es schwer ist, den richtigen Weg zu finden und man deswegen ab und an in das Übermaß oder den Mangel gehen muss, dies aber ausschließlich zu dem Zweck, „um die Mitte und das Rechte leichter zu treffen“ (EN II 9, 1109b25).
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Dies bedeutet, dass wir in unserem alltäglichen Handeln stets das Richtige vor Augen haben müssen und nur für den Fall, dass wir uns nicht sicher sind, was konkret der Weg hin zum Richtigen ist, Fehler sogar sinnvoll sind. Wenn wir aber wissen, dass dies ein Fehler wäre und wider besseres Wissen trotzdem so handeln, dann sind wir schlicht willens- bzw. charakterschwach (akrasia) und machen keine Fehler, sondern begehen Dummheiten (EN VI, 1). Diese sehr feine Distinktion zeigt ihre besondere Relevanz darin, was sehr viele Menschen als „Erfahrungen, die ich machen musste“ oder „was mich stark und reif werden hat lassen“ bezeichnen. Wenn jemand bspw. den Wunsch nach einer dauerhaften, monogamen Lebenspartnerschaft hat und den Weg zu diesem Ziel so beschreitet, dass er sich permanent dem Erstbesten an den Hals wirft, seine Beziehungen im Fünfjahrestakt wechselt, Vakanzzeiten mit „zwanglosem Sex“ verbringt und sich am Ende fragt, warum er mit fünfzig schon dreimal geschieden ist, dann trifft das genau diese feine Distinktion. Wer so handelt, sollte wissen, dass das nicht der Weg ist, um seine Wünsche zu realisieren. Wenn man nicht zu einem gehörigen Maß zu Verdrängungen und Rationalisierung fähig ist, dann macht derjenige keine Fehler, er begeht Dummheiten; wer so handelt, sammelt auch keine Erfahrungen, sondern akkumuliert Scheitern. Wer so handelt, wird nicht stark und reif, sondern bleibt charakterlich unreif, emotional ein Kind und sabotiert sein eigenes Glück intensiver als es die äußeren Umstände (z. B. der nicht vorhandene Traumpartner) je könnten.
3 Prohaireis, Strukturelle Rationalität und Lebensform. Elemente eines gelungenen Lebens Versucht man das aristotelische Konzept der prohairesis analytisch aufzugreifen, so kann man eine prohairesis wie folgt beschreiben: Eine prohairesis ist eine auf unser Handeln bezogene Entscheidung, die unsere Bedürfnisse und Ziele in Bezug auf unseren gesamten Lebensplan verwirklichen soll. Eine prohairesis ist eine freie Entscheidung, die wir regulativ begründen können, dies im konkreten Entscheidungsfall aber nicht müssen, da sie dispositionell konstituiert und Ausdruck unseres reflektierten Habitus ist. Folglich wird eine prohairesis dadurch klug, rational oder wohlüberlegt, wenn sie Ausdruck unseres reifen und integren Charakters ist und sich nicht als eine punktuell optimierende Entscheidung ausdrückt. Betrachtet man diese aristotelische Handlungstheorie, so wendet sie sich, wie Julian Nida-Rümelin treffend schreibt, gegen zwei zeitgenössisch dominante Paradigmen: Einerseits weist sie das behavioristische Paradigma, welche alle Handlungen schnell in die Nähe bloßer Verhaltensdispositionen und Sozialisierungen
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ohne eigene Gründe rückt, zurück. Andererseits zeigt sie, dass wir Menschen fähig sind, Entscheidungen zu treffen, welche nicht nur als punktuelle Nutzen-Optimierung zu verstehen sind, sondern der Realisierung längerfristiger Lebensziele dienen (Nida-Rümelin 2020, 169–171). Über diese philosophiegeschichtliche Übereinstimmung hinaus, möchte ich abschließend aber noch eine Interpretation von zwei zentralen Begriffen der Handlungstheorie Nida-Rümelins vornehmen und zu zeigen versuchen, dass sie zentrale Elemente der aristotelischen Handlungstheorie integriert und systematisch für eine analytische Betrachtung fruchtbar macht. Dies betrifft zum einen Nida-Rümelins Konzept der strukturellen Rationalität und zum anderen die Idee der Lebensform. Wenn Nida-Rümelin das Konzept der strukturellen Rationalität so darstellt, dass die Rationalität einer Person von der Fähigkeit abhängt, ihre Handlungen bzw. ihre propositionalen Einstellungen in Strukturen einzubetten, dies sowohl temporal (Nida-Rümelin 2001, 120), in Bezug auf die gesamte Struktur ihres konativen System (Nida-Rümelin 2001, 125) als auch ein umfassendes Maß an Kohärenz zwischen den einzelnen Einstellungen erfordert (Nida-Rümelin 2001, 129), so drücken diese Darstellungen den zentralen Gedanken Aristoteles‘ aus: Der reife Mensch hat sein Ziel, das eu zen, klar im Auge und richtet seine Entscheidungen (prohairesis) wie auch seine Handlungen (eupraxia) strukturell und integer auf die Realisierung seines gewählten Zieles aus. Ebenso wie Aristoteles beschreibt Nida-Rümelin den dispositionellen Charakter der eigenen Entscheidungen, was aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass zwar die Entscheidungen dispositionell konstituiert sind, es aber meine eigenen Gründe sind, die diese Einstellungen konstituieren (Nida-Rümelin 2020, 169). Dieser von Nida-Rümelin als Gründe- Geben und Gründe-Nehmen bezeichnete Prozess der Reflexion lässt sich auf die von Aristoteles skizzierte Notwendigkeit der bouleusis, des mit sich selbst und anderen Beratens, übertragen. Die explizite Betonung der Kohärenzforderung Nida-Rümelins, was meiner Interpretation nach ein zentrales Merkmal von strukturell rationalen Personen ist, reichert die aristotelische Handlungstheorie insofern an, als sie einer modernen Interpretation zugänglich wird. Um sozusagen mit Aristoteles und Nida-Rümelin gleichzeitig zu sprechen: Indem wir strukturell rational handeln, können wir unsere eigenen Entscheidungen regulativ als rational explizieren. Indem wir wohlberaten, kohärent zu unseren eigenen Lebenszielen handeln, agieren wir aus einem festen, reifen und reflektierten Charakter heraus. Strukturelle Rationalität ist somit essentiell, um eine integre Person auszubilden und eine unserem eigenen Glück zuträgliche Lebenspraxis zu verfolgen. Interpretieren wir Nida-Rümelins Idee der Lebensform, welche individuelle, aber auch kollektive Facetten aufweist (Nida-Rümelin 2020, 6 / 86), als das aristotelische eu zen, so lässt sich die Lebensform als eine prospektive Imagination unserer eigenen Wünsche und Ziele verstehen, welche durch eine strukturell rationale Handlungsweise stetig aktualisiert wird. In diesem Bild lässt
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sich die prohairesis als funktionale Klammer zwischen einer strukturell rationalen Person und der Aktualisierung ihrer Lebensform explizieren. Wie treffe ich denn nun kluge, integre und reife Entscheidungen? Indem ich mich strukturell rational zu meinen eigenen, durch meine Gründe konstituierten, kohärenten Einstellungen verhalte und meine Handlungen in größere Strukturen einbette – und mich nicht wie eine punktuell optimierende Monade verhalte, welche für jede kleine Lust ihr großes Glück gefährdet.
Bibliographie Aristoteles. 1985. Nikomachische Ethik. Hamburg: Meiner. Buss, David M. 2003. The Evolution of Desire. New York: Basic Books. Fromm, Erich. 2019. Die Kunst des Liebens. Berlin: Ullstein. Illouz, Eva. 2019. Warum Liebe weh tut. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kernberg, Otto F. 1992. Objektbeziehungen und Praxis der Psychoanalyse. Stuttgart: Klett-Cotta. Luhmann, Niklas. 1984. Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Nida-Rümelin, Julian. 2020. Eine Theorie praktischer Vernunft. Berlin: de Gruyter. Nida-Rümelin, Julian. 2001. Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft. Stuttgart: Reclam. Rapp, Christof. 2010. „Freiwilligkeit, Entscheidung und Verantwortlichkeit (III 1–7)“ In Aristoteles. Nikomachische Ethik, edited by Otfried Höffe. Berlin: Akademie Verlag. Schiller, Friedrich. 2001. Gedichte. Stuttgart: Reclam. Wolf, Ursula. 2007. Aristoteles‘ „Nikomachische Ethik“. Darmstadt: WBG.
Georgios Karageorgoudis
9 Der Vorrang der Gründe und die Entwicklung der Argumentationstheorie
Abstract: The primacy of reasons and the development of argumentation theory. The consideration of structures constituted by reasons has allowed new insights into philosophical problems. It has brought the concept of reason to the centre of philosophical analysis and strengthened its significance for the concept of man, both in the conditions of a naturalistic description of the world and in contrast to such a description. One of the most prominent structures of the Life-World and of scientific practice in which reasons are involved is the argument. However, the theory of argumentation, like formal logic before it, considers reasonsonly in terms of their function as premises in arguments. This article examines various theories of argumentation and some directions of the formal-logical treatment of reasons with regard to interpretations of the meaning of reasons that go beyond their understanding as premises.Among the many approaches to an extended understanding C. Perelman’s and J. Dewey’s theories in particular contain considerations that allow for the inclusion of an important aspect: This is revealed by talking about reasons and concerns the reflexive capacity of cognitive-practical subjects with which they take a stand on reasons.
Einleitung Die Berücksichtigung von Strukturen, die durch Gründe konstituiert werden, hat neue Einsichten in philosophische Probleme ermöglicht. Sie hat den Begriff des Grundes in den Mittelpunkt philosophischer Analysen gerückt und seine Bedeutung für das Menschenbild sowohl unter den Bedingungen einer naturalistischen Weltbeschreibung als auch in Gegenüberstellung zu einer solchen gestärkt. Eine der prominentesten Strukturen der Lebenswelt und der wissenschaftlichen Praxis, in der Gründe involviert sind, ist das Argument. Allerdings nimmt die Argumentationslehre, ebenso wie bisher die formale Logik, Gründe ganz überwiegend nur in Bezug auf ihre Funktion als Prämissen in Argumenten zur Kenntnis. Der Beitrag untersucht verschiedene Theorien der Argumentation und formallogischen Behandlung von Gründen im Hinblick auf Interpretationen der Bedeutung der Gründe, die über deren Verständnis als Prämissen hinausgehen. Unter den vielen Ansätzen zu einem erweiterten Verständnis enthalten insbesondere die Theorien von C. Perelman und J. Dewey Überlegungen, die die Aufnahme eines wichtigen https://doi.org/10.1515/9783111433233-010
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Aspekts ermöglichen: Dieser wird durch das Reden von Gründen offengelegt und betrifft die reflexive Fähigkeit kognitiv-praktischer Subjekte, mit denen diese zu den Gründen Stellung nehmen.
1 Die Fähigkeit des Menschen, auf Gründe für Handlungen oder Überzeugungen zu reagieren, solche Gründe zu erkennen und sie abzuwägen, steht seit geraumer Zeit im Fokus der praktischen Philosophie (Parfit 2017; Bagnoli 2018; auch bzgl. emotiver Einstellungen: Nida-Rümelin 2020, 372–373). Dazu korrespondiert auch die Fähigkeit, durch Gründe Urteile zu fällen, Erkenntnisse zu gewinnen oder Entscheidungen zu treffen, m.a.W. solche Abwägungsprozesse abzuschließen. Der Begriff des Grundes ist schwer definierbar, vielleicht sogar undefinierbar. Gründe werden als Entitäten betrachtet, die für etwas sprechen, und damit durch ihre Funktion bei der Erklärung oder Rechtfertigung von Handlungen oder Überzeugungen zumindest partiell charakterisiert (Nida-Rümelin 2020, 88; Scanlon 2014). Bereits dieser Gesichtspunkt ermöglicht es, Gründe als Ausgangspunkte einer lebensweltlichen Praxis anzusehen und daher den Begriff des Grundes für einen oder für den Grundbegriff der praktischen Philosophie zu halten. Der Vorrang der Gründe zeigt sich deutlich auch an anderen Punkten, z. B. wenn dieser Begriff bemüht wird, um theoretische Erklärungen zu erreichen, die bisher auf anderem Wege geleistet wurden, z. B. zur Beantwortung der Frage, was Rechtsnormen sind (Raz 1999, 58; Hage 1997, 11, 67); oder ‒ eine Verallgemeinerung dieser Fragestellung ‒, wenn die Funktion des positiven Rechts darin erblickt wird, Gründe einer bestimmten Art zu liefern (dazu Bongiovanni 2018, 30). Weitere theoretische Leistungen des Begriffs der Gründe kommen zustande, wenn innerhalb seines Anwendungsbereichs differenziert wird: Während nach einer traditionellen Auffassung Wünsche Gründe sind, wobei „Grund“ immer noch in einem anspruchsfreien Sinne verwendet werden kann, erhält der Begriff erhebliches theoretisches Gewicht, wenn die These vertreten wird, Wünsche seien im Allgemeinen keine Gründe. Bekanntlich umreißen die Probleme der moralischen Motivation eines der wichtigsten Felder, in dem die Debatte um den Vorrang von Gründen wiederaufgegriffen wurde (Nagel 1970, 30–32). Die Zentralität von Gründen zeigt sich bei der Rechtfertigung von Handlungen auch in anderer Weise: Während in einer regelbasierten Moral eine meistens kleine Anzahl allgemeiner Regeln zur Anwendung kommt, taucht bei einer von Gründen ausgehenden Betrachtung abrupt eine Unmenge von Entitäten mit propositionalähnlicher Struktur auf. Diese Entitäten ‒ die Gründe ‒ kommen gleichsam individualisierten Regeln in einer regel- oder prinzipienbasierten Moral zu den allge-
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meinen Regeln hinzu und sind in einer partikularistischen oder kasuistischen erst recht vorhanden. Ihre Analyse ermöglicht sogar die Interpretation von allgemeinen Regeln oder Prinzipien als eine Sonderkategorie unter ihnen, als Sonderkategorie von Gründen. Das Anführen und Verhandeln von Gründen gilt zudem als gesellschaftliche Praxis oder auch als anthropologische Konstante (vgl.: „Wir sind diejenigen Tiere, die Gründe sowohl verstehen als auch auf sie reagieren können […]“ Parfit 2017, 138). Diese anthropologische Dimension wird auch durch die Bedeutungsrelation zwischen „Reason“ (Vernunft) und „reasons“ im Plural sowie zu „reason“ im Singular aber im generischen Sinne lexikalisch nahegelegt.¹ Die Zentralität des Phänomens lässt die Annahme fragwürdig erscheinen, das Reden von Gründen stelle ausnahmslos einen bloßen „metasprachlichen Aufstieg“ in Zusammenhang mit Sätzen der Gestalt „p, weil q“ dar.
2 Eine besondere Erscheinungsform der Praxis des Anführens von Gründen findet sich in den Tätigkeiten des gesellschaftlichen Lebens, die durch den Austausch von Argumenten geprägt sind (vgl. Hannken-Illjes 2018, 20: „Argumentation ist die Bearbeitung einer Streitfrage durch das Geben und Nehmen von Gründen“). Dieser Austausch ist auch der Geburtsort und ein zentrales Anwendungsgebiet der Logik.² Die Annäherung an das Phänomen der Gründe aus der Sicht der Theorie und Praxis des Arguments hat Vorteile und Nachteile: Zu den Vorteilen gehört zweifellos, dass einige Felder und Situationen des Argumentierens besonders leicht und konkret zu identifizieren sind. Das gilt z. B. für den Streit um das Recht in einem Gerichtsprozess oder um das Richtige in einer Ethikkommission oder für wissenschaftliche Diskurse und Debatten in Einzelwissenschaften, die in Fachzeitschriften oder in der akademischen Öffentlichkeit ausgetragen werden. Diese Felder sind leichter identifizierbar und konkreter als eine allgemeine Praxis des Gebens von Gründen. Allerdings könnte ein Streitpunkt genau an diesem Punkt liegen, ob nämlich der Begriff des Grundes zuerst lokal, in Bezug auf einzelne Felder, oder global und einheitlich erörtert werden soll. Aber auch die Antwort auf die Frage,
1 Vgl. den Titel von Toulmin (1950). Die Bedeutung des griechischen „λόγος“, „lógos“ umfasst die von „Vernunft“ und „Grund“, aber auch die von „Argument“ und „Rede“, wie auch von „Proportion“ und „Erklärung“ (Liddell-Scott 1996, 1055–1059). 2 Vgl. Aristoteles 1997, 101 a 26–27 über den Nutzen der Auseinandersetzung mit der Topik, bekanntlich dem älteren Teil des Organon, für Übungen, Unterredungen und philosophische Erkenntnisse.
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was ein Argument ist, gestaltet sich allgemein etwas einfacher als die Antwort auf die Frage, was ein Grund ist. Auf der anderen Seite liegen die Unterschiede zwischen Gründen und Argumenten auf der Hand: Argumente bedürfen immer ‒ auch wenn sie nicht kommuniziert werden ‒ einer „stillen“ („covert“) sprachlichen Formulierung und einer logischen Struktur und sie erscheinen in dieser Hinsicht reichhaltiger als Gründe. Gründe haben wiederum ein Entfaltungspotential, während strukturierte Argumente in dieser Hinsicht statisch wirken und ein mögliches aber erstarrtes Resultat von möglicherweise nur vermeintlichen Gründen darstellen.³ Wir können Gründe haben, ohne sie als Argumente zu artikulieren, während Argumente immer einen Grund für eine Handlung oder eine Überzeugung repräsentieren, auch wenn dieser Grund objektiv nicht besteht. Es gibt aber keine einfachen Transformationen, anhand derer Sätze, in denen das Wort „Argument“ in dem hier interessierenden Sinne vorkommt, in bedeutungsgleiche Sätze übersetzt werden können, die das Wort „Grund“ enthalten, insbesondere wäre eine Übersetzung dieses Wortes immer und ausschließlich durch „Prämisse“ inadäquat. Wovon wir freilich ausgehen können, ist, dass ein Grund für eine Handlung oder für eine Überzeugung in einem Argument für diese Handlung oder Überzeugung auftreten kann. In Abhängigkeit vom Verständnis von „Argument“ können dann Gründe für die Konklusion eines Arguments als bestimmte Komponenten von Argumenten oder von ihrer Bedeutung aufgefasst werden.
3 Ähnlich stark wie das Interesse der praktischen Philosophie an Gründen und deren systematischer Konzeption ist gegenwärtig auch das Interesse an der Theorie und Praxis des Arguments. Was die Praxis betrifft, speist sich dieses Interesse auch aus dem aktuellen Bedürfnis nach Verfestigung kritischer Kompetenzen unter den Bedingungen der Informationsflut. Insbesondere im Rahmen der Philosophie und ihrer Didaktik umfasst die Argumentationsanalyse zudem die Interpretation von Texten (exemplarisch Betz 2020, Fisher 2004) und sollte auch das korrekte Definieren als Mittel und Resultat einbeziehen. Andererseits berührt die Theorie der
3 Daher erscheint die These, dass nur argumentierende Philosophie gute Philosophie sei, etwas übertrieben. Gute Philosophie muss gute Gründe präsentieren. Die argumentative Rekonstruktion ist hauptsächlich eine Angelegenheit für das universitäre Studium und für die Vermittlung der Philosophie. Das gilt um so mehr als man das (streitbare) methodologische Postulat umsetzen würde, dass Argumente stets als Deduktionen zu rekonstruieren seien (vertreten z. B. von Betz 2020, 29; 2010, 57).
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Argumentation einige für die philosophische Theorie der Gründe wesentliche Punkte. Diese Aspekte sollen nun im Folgenden zuerst erörtert werden.
4 Sowohl die Praxis als auch die Theorie der Argumentation reichen bis in die Ursprünge der Logik des Aristoteles zurück. Einerseits ist eine der Hauptaufgabe der Lehren der Topik die Vorbereitung auf die Übungen im Argumentieren; andererseits findet sich in diesem Werk der Kern einer Reihe logischer Einsichten des Aristoteles, von denen einige in späteren Werken weiterentwickelt werden, andere aber nicht. Dialektisches Argumentieren, wovon die Topik handelt, ist Argumentieren aus allgemein akzeptierten Prämissen; oder aus solchen, die die meisten oder die Angesehensten akzeptieren. Diese allgemein akzeptierten Prämissen oder „ἔνδοξα“ („éndoxa“) sind die Prämissen dialektischer Argumente.⁴ Ein wesentlicher Punkt ist der dialogische Charakter, der dem Vorgehen der dialektischen Argumentation zugrundeliegt. Auch wenn Gründe unabhängig von Äußerungssituationen bestehen können, werden sie am besten durch Beschreibung solcher Situationen erfasst (Nida-Rümelin 2020, 42). Dialogische Situationen sind natürlich Äußerungssituationen. Allerdings liegt der Fokus der Dialektik auf der rationalen Überzeugung der anderen Person, wobei mit „rational“ hier„ohne Appell auf Ethos und Pathos“ gemeint ist, was ein Thema der Rhetorik wäre. Dagegen braucht die Äußerung eines Grundes gegenüber einer anderen Person keine argumentative Funktion zu erfüllen. Sie könnte auch eine rein explanatorische oder aber eine normative Funktion realisieren, die nicht auf Überzeugungsänderung der Person sondern auf eine andere Änderung ihrer Überzeugungsmenge abzielt, z. B. durch Addition einer Überzeugung. Wir finden in der Topik eine erste Definition des „Syllogismós“ als „lógos“ (Aristoteles 1997, 100 a 8–10) im Sinne von „Rede“ oder aber von „Argument“ (oben Fn. 1; Wagner 2004, 45): Und zwar als „lógos“, in dem wenn etwas gesetzt wird, etwas anderes als das Gesetzte durch das Gesetzte aus Notwendigkeit geschieht oder mit diesem Gesetzten „einhergeht“.⁵
4 Wir halten hier an der traditionellen Interpretation fest, wonach endoxa die Prämissen liefern, die in die Topoi, welche Konstruktionsvorschriften (so Wagner/Rapp 2004, 29) oder Argumentformen sind, hineinfließen. Angesichts der Tatsache, dass Aristoteles an einigen Stellen (1997, 111a 25, 30; 133b, 12; 136a 36) anerkennt, dass gewisse plausible Topoi falsch sind, stellt sich die Frage, ob diese Argumentformen trotz ihres Anleitungscharakters auch als endoxa angesehen werden. 5 „Einhergeht“ als wörtliche Übersetzung von „συμβαίνει“. Was hier einhergeht, muss etwas sein, was eine ähnliche Qualität hat wie das Gesetzte, also Satz oder Proposition sein; es ist also nicht die
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Diese Definition fordert anscheinend, dass die Konklusion von den Prämissen des Arguments verschieden ist. Wenn Ziel des Arguments die rationale Überzeugung ist, dann kann das nur geschehen, wenn die Prämisse nicht wörtlich sich unter den Sätzen befindet, die der Opponent bereits akzeptiert. Dies weicht zwar von dem heutigen Verständnis des deduktiven Schlusses ab, demgemäß ein Schluss von p auf p logisch gültig ist, ist aber argumentationstheoretisch durchaus sinnvoll. Im Übrigen scheint die Formulierung „durch das Gesetzte“ auch die Hinzunahme redundanter Prämissen auszuschließen, was allerdings der Stelle in Aristoteles 1997, 157a 1 widerspräche, wonach die Aufnahme redundanter Prämisse unter dialektischem Gesichtspunkt empfohlen wird, auch wenn sie formal nicht zum Syllogismos nach 100 a 8–10 gehören. Auch wenn dem dialektischen Argument ein gültiger Schluss zugrunde liegt, stellt es eine komplexere, diesen Schluss übergreifende Struktur dar. Das dialektische Verfahren erfordert die Festlegung auf eine These, die der Proponent dialektisch zeigen soll, d. h. durch passende Fragen die Zustimmung des Gegenübers zu der These zu „erzwingen“. Die These ist expliziter Bestandteil der Struktur des Arguments und von der Konklusion des Schlusses zu unterscheiden, der dem Argument zugrundeliegt. Auf diese Weise kann ein Vorgehen als Fehlschluss identifiziert werden, in dem die Konklusion eines deduktiv gültigen und korrekten Schlusses nicht genau das aussagt, was die zu zeigende These war – und zwar auch, wenn das Gegenteil behauptet wird, dass nämlich die These mit der Konklusion identisch sei. Argumente haben insofern eine teleologische oder telische Struktur oder zumindest sind sie in eine solche Struktur notwendig eingebettet (eine originelle Analyse der Struktur von Argumenten liefert Parsons 1996). Der Vergleich zwischen der Vorstellung vom Austausch von Gründen und der Funktion der endoxa in der Dialektik des Aristoteles ergibt folgenden Punkt: Zwar spiegelt auch die Dialektik eine gesellschaftliche Praxis wider (z. B. die Praxis der „gymnasia“ in der Akademie) und möglicherweise auch die Praxis der„agora“. Aber die Topik macht auch eine Angabe darüber, woher die Inhalte der Gründe herstammen: Sie sind allgemein akzeptierte lebensweltliche Überzeugungen. Eine solche explizite Angabe lässt sich bei vielen Theorien vermissen, die den Gründen einen Vorrang einräumen (jedoch nicht bei Nida-Rümelin 2020). Einige Hinweise darauf finden sich auch in früheren Versionen der „good reasons approach“ (NidaRümelin 2020, 2), die auch in die Argumentationstheorie eingegangen sind.
Überzeugung oder der Zwang, der These zuzustimmen, obwohl auch diese Interpretation erwogen werden müsste.
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5 Für die Wende zur Argumentationstheorie seit den 60ern sind vor allem zwei Erscheinungen maßgeblich: Toulmins The Uses of Arguments und Perelman/OlbrechtsTyteca La Nouvelle Rhétorique: Traité de l’ Argumentation, 1958. Beide Werke begründen die moderne Argumentationstheorie. Sie üben auf bestimmte Disziplinen wie die Rechtsphilosophie oder die Sprachwissenschaft einen signifikanten Einfluss aus (Alexy 1983; Hilgendorf 1991; Neumann 2023; Hannken-Illjes 2018; Bermejo-Luque 2011; van Eemeren 2014) und begründen die moderne Argumentationstheorie.⁶ Die Rezeption von Toulmins Buch durch die Philosophie war allerdings sehr kritisch (exemplarisch Castaneda 1960; vgl. Toulmin 2003, viii; positiv aber Habermas 1995, 44–71). Toulmins Argumentationstheorie lässt einen Zusammenhang zu seinen Überlegungen zur Funktion der Gründe in der Ethik (Toulmin 1950) erkennen: In diesem früheren Werk unterscheidet er nach einer Kritik an intuitionistischen, emotivistischen und imperativistischen Ansätzen zwei Arten des moralischen Schlussfolgerns („moral reasoning“, Toulmin 1950, 150–160).⁷ Diese sind einerseits das Denken und Argumentieren über die Anwendung einer moralischen Praxis, wo z. B. auch Fragen des Konfliktes zwischen Pflichten auftreten können, und andererseits die Erörterung der Richtigkeit dieser Praxis. An diesen zwei Stellen kommt moralisches Argumentieren zum Einsatz. Die erste Stelle bezieht sich auf die Anwendung einer Regel und die zweite auf die Rechtfertigung dieser Regel. Welche Gründe, Prämissen oder Kriterien für die Rechtfertigung bei der zweiten Art zum Einsatz kommen, führt Toulmin nicht in Details aus. Dazu gibt es keine Liste von Prinzipien oder Regeln. Über die Anwendbarkeit einer Praxis, in der Regel R1 zur Anwendung kommt, kann möglicherweise auf der Grundlage einer anderen Praxis nach Regel R2 geurteilt werden und so bzgl. der Anwendbarkeit von R2 usw. Auf diesem Wege wird die zweite Art des moralischen Denkens umgesetzt. Das allgemeine Argumentationsschema, welches Toulmin (1958) in The Uses of Arguments vorschlägt, lässt sich nun als eine Verallgemeinerung und Verfeinerung dieses Modells auffassen. Toulmin (1958) wirft der traditionellen Syllogistik vor, dass sie unter den Prämissen (Obersatz und Untersatz) des Syllogismus, die das Prädikat
6 Theodor Viehweg, der bereits 1953 eine Arbeit über Topik und Jurisprudenz publizierte, rezipierte die topischen Ansätze von Aristoteles, Cicero und Vico und stellte sie dem axiomatischen System in der Jurisprudenz gegenüber. 7 Toulmins Unterscheidung ist nicht ähnlich zu der von Hare formulierten („two levels of moral thinking“). Auch mit der zwischen Anwendungs- und Begründungsdiskursen in der Diskurstheorie ist sie nicht identisch, aber vergleichbar.
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bzw. das Subjekt der Konklusion enthalten, drei verschiedene Sorten von Sätzen durcheinanderbringt, die er durch die Bezeichnung „data“ (später: „grounds“), „warrant“ und „backing“ unterscheidet (Toulmin 2001, 89–91, siehe Abbildung 1). Ferner übersieht die traditionelle Syllogistik nach Toulmin gewisse modale Qualifikationen der Konklusion („modals“ wie „probably“ oder „almost“) und die Möglichkeit des Vorliegens von Gründen, die die Konklusion entkräften („rebuttals“). Den Obersatz eines traditionellen Syllogismus fasst Toulmin als eine Art Inferenzregel („Warrant“, dazu Hitchcock 2017, 81–86) auf, die den Übergang von den Data, die im Untersatz angegeben sind, zu der Konklusion ermöglicht:⁸
Abb. 1: Argumentationsschema von Toulmin (1958) in The Uses of Arguments. Eigene Abbildung.
Was Toulmin unter Backing (Stützung) versteht, ist ein Satz, der die Anwendung des Warrant auf die Daten rechtfertigt. In einigen Argumenten erscheint jedoch das Backing als Obersatz.⁹ Das Argumentationsschema lässt im Hinblick auf die Funktion des Backing gewisse Spielräume, ob dieses nämlich die Anwendung des Warrant konkret auf die gegebenen Daten betrifft oder ob es das Warrant allgemein rechtfertigt. Wenn wir nun in dieses Schema die Typen der moralischen Argumentation nach Toulmin (1950) hineinlesen, dann entspricht der Pfeil zwischen Warrant und dem Data/Claim-Pfeil der ersten Form des moralischen Schlussfolgerns. Der als Regel betrachtete Obersatz rechtfertigt den Übergang von den Data zur Behauptung der Konklusion. 8 Wegen der Spielräume, die das Toulminsche Argumentationsschema bei der Interpretation der Funktion seiner Komponente offenlässt, belassen wir es im Folgenden bei den englischen Termini. 9 Vgl. die Beispiele (Toulmin 2001, 102): Petersen ist Schwede; Ein Schwede ist mit ziemlicher Sicherheit nicht katholisch ∴ Petersen ist mit ziemlicher Sicherheit nicht katholisch, und: Petersen ist Schwede; der Anteil von Katholiken unter Schweden ist minimal ∴ Petersen ist mit ziemlicher Sicherheit nicht katholisch. Im zweiten Beispiel erscheint das Backing anstelle des Warrant als Obersatz. Obwohl beide Argumente überzeugend sind, ist das zweite formallogisch nicht gültig, Toulmin 2001, 111.
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Der Backing/Warrant Pfeil entspricht (auch unter variabler Interpretation des Backing) der zweiten Form des moralischen Schlussfolgerns, mit der die Praxis der Regel gerechtfertigt wird; es hat die Bedeutung W(arrant) aufgrund von B(acking). Für dieses Argumentationsschema lässt sich auch eine weitere juridische Interpretation schildern, z. B. im Zivilrecht: Die Data entsprechen hier dem Sachverhalt oder Fallbeschreibung. Claim, die Behauptung, entspricht dem Anspruch, Warrant der Anspruchsgrundlage und Backing der Rechtfertigung dafür, dass auf den Sachverhalt im konkreten Fall die Anspruchsgrundlage anzuwenden ist („Sachverhaltsqualifikation“).¹⁰ Toulmins Argumentationsschema ist aber auch mit starken und problematischen Annahmen verbunden, z. B. mit der Vorstellung, dass die Logik sich an der Jurisprudenz zu orientieren habe, und mit einer fragwürdigen Kritik am deduktiven Schließen und dem traditionellen Syllogismus. Probleme bereiten auch die Gleichsetzung deduktiver Logik mit Syllogistik und die Extrahierung brauchbarer logischer Formen aus diesem Schema, die die Bewertung von Argumenten ermöglichen.¹¹ Die bei Aristoteles herausgearbeitete dialogische Struktur kommt hier nicht zum Vorschein. Ein weiterer Streitpunkt ist die Interpretation der Obersätze als Schlussregel gewesen. Aus den oben gegebenen Interpretationen geht hervor, dass dieses Modell eine abstraktere Rekonstruktion der Funktion der Gründe in der praktischen Deliberation leistet. Durch diese Abstraktion wird das Argumentationsmodell losgelöst von Festlegungen auf bestimmte Theorien, die Backing und Warrant liefern.
10 Ein Anspruch z. B. auf 5.000 € kann sich aus unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen ergeben: Aus Vertrag, aus mangelhafter Vertragserfüllung, aus einer gesetzlich unerlaubten Handlung, aus vorvertraglicher Pflichtverletzung, aus sonstigen gesetzlichen Schuldverhältnissen wie Geschäftsführung ohne Auftrag, usw. In allen Fällen gibt es einen Sachverhalt, der unter die Norm oder die Normen subsumiert werden soll, die die jeweilige Anspruchsgrundlage oder -grundlagen ergeben. Diese Subsumtion erfolgt durch eine Beschreibung des Sachverhaltes (Sachverhaltsqualifikation), die die für die Anwendung der Normen entscheidenden Gesichtspunkte hervorhebt. Die Sachverhaltsqualifikation erscheint wiederum beim juristischen Entscheiden als Teil des Untersatzes. Diese juridische Interpretation des Toulminschen Schemas liegt auch durch die Bedeutungen des Wortes „claim“ einerseits als Behauptung und andererseits als Anspruch im rechtlichen Sinne nahe. 11 Die Rezeption in der deutschen Rechtstheorie betonte vor allem die Aspekte der Kritik Toulmins an deduktiven Schlüssen, die sich teilweise bereits bei J. S. Mill finden, und ging, soweit ersichtlich, nicht auf die oben gezogene Parallele zur Struktur des zivilrechtlichen Anspruchsdenkens ein.
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6 Perelman und Olbrechts-Tyteca orientieren sich an der Auffassung des Aristoteles über die dialogische und dialektische Struktur der topischen Argumentation, was sich an ihrem Begriff des Auditoriums zeigt. Sie liefern kein strukturelles Schema des Arguments. Stattdessen identifizieren sie die Elemente von Argumenten. Diese sind Tatsachen, Wahrheiten, Voraussetzungen („Presumtions“) und Werte (Perelman 1969, §§15–18). Sie wenden sich genauso wie Toulmin gegen ein kartesianisches (bei Toulmin „geometrisches“) Ideal der Beweisführung. Ähnlich wie in der Topik entwickeln sie eine detaillierte Auflistung von Argumentformen („loci“), von denen sie einige als quasi-logisch, andere als auf der Struktur der Wirklichkeit beruhend beschreiben. Auf diese Weise lässt sich eine Antwort auf die Frage formulieren, warum neben der formalen Logik auch eine Argumentationstheorie erforderlich ist: Sie untersucht genau die Möglichkeiten und das Überzeugungspotential solcher außerlogischen Argumentformen. Der quasi-logische Charakter der Argumentationsregeln führt Perelman und Olbrechts-Tyteca zu der Feststellung, dass nur eine Argumentation, die logisch nicht zwingend und nicht willkürlich ist, mit der menschlichen Freiheit vereinbar ist. Wenn die Praxis der Freiheit nicht auf Gründen beruhte, wäre jede Wahl irrational (Perelman 1987, 514). Wenn andererseits die Argumentation durch logischen Zwang eine Entscheidung bestimmen würde, wäre die Entscheidung nicht frei. In dieser Argumentationstheorie ist also der Ort der Gründe genau der Bereich dieser quasilogischen Argumentationsformen.
7 Auf der Grundlage der von Perelman aber teilweise auch von Toulmin gesetzten Themen etablierten sich bis Ende des 20. Jahrhunderts die bekanntesten argumentationstheoretischen Traditionen (van Eemeran 2014) und setzten eigene Schwerpunkte. Die informale Logik (Walton 2008) in USA und Kanada angestoßen durch Blair und Johnson im Anschluss an Vorarbeiten von Scriven und Hamblin wurde als „normative Untersuchung des Arguments“ konzipiert, d. h. als „Entwicklung von Verfahren zur Interpretation, Evaluation und Konstruktion von Argumenten in der natürlichen Sprache“ (Blair 1987, 148). Sie brachte die von der formalen, traditionellen wie mathematischen Logik vernachlässigte Lehre von den Fehlschlüssen wieder in den Vordergrund. In ihrem Fokus steht ebenfalls die dialogische und im aristotelischen Sinne dialektische Struktur der argumentativen Praxis. Ein besonderer Einfluss Toulmins auf die informale Logik findet sich in der
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Verwendung des Begriffs „Field of Argument“ (Toulmin 2003, 24) und der Problematik, ob in verschiedenen Bereichen unterschiedliche Standards für die Konstruktion und Evaluation von Argumenten gelten (Blair 1987, 149–150). Die informale Logik entspricht am meisten dem, was als angewandte Logik verstanden werden kann. Die „pragma“-dialektische Schule van Eemerans sieht die Aufgabe der Argumentationstheorie in einer„normativen Pragmatik“ (van Eemeran 2004, 9–19).Viele bereits behandelte Begriffe und Strukturen lassen sich in diese Theorie einbetten. Beispielsweise erfasst der Begriff „standpoint“ die zu vertretende These und berücksichtigt ihre eventuelle Abweichung von der Konklusion. Die „pragma“-dialektische Schule ist eine allumfassende Argumentationstheorie. Unter anderem arbeitet sie Normen („rules“) der argumentativen Diskussion heraus (van Eemeran 2004, 123–157). In diesem prozeduralen Ansatz gehen die Kriterien der Evaluation von Argumenten in die sog. „intersubjektive Inferenzprozedur“ ein (van Eemeran 2004, 148–149). Diese verweist entweder auf die Gültigkeitskriterien der formalen Logik oder aber ist ein Verfahren, auf das sich die Parteien geeinigt haben müssen. In jedem Fall wird die Inferenzprozedur nicht von den Normen der Argumentation geliefert und ist in diesem Sinne exogen. Dennoch: Weder in der informalen Logik noch in der Argumentationstheorie erhält der Begriff des Grundes einen besonderen Stellenwert jenseits der Prämissen. Eine andere Entwicklung, die aber im Hinblick auf die Argumentationstheorie und ihren Zusammenhang mit dem Phänomen der Gründe erwähnt werden muss, ist die Tradition des kritischen Denkens. Sie wird auf J. Dewey zurückgeführt (Hitchcock 2022). Dewey (1910, in der Überarbeitung 1933 verwendet er vor allem „reflexives Denken“) beschreibt eine Form des Denkens, welches das mehr oder weniger automatische Denken kontrolliert. Dieses kritische oder reflektierende Denken, dessen Entwicklung nach Dewey eines der wichtigsten Ziele der Erziehung sein sollte, ist „aktive, beständige und sorgfältige Prüfung von Überzeugungen oder mutmaßlichen Erkenntnis im Lichte der Gründe, die sie stützen und der weiteren Konklusionen, zu denen sie tendieren“ (Dewey 1910, 6). Dewey gibt vor allem in (1933) auch eine nähere Analyse der Methoden des reflexiven Denkens, wobei deren Strukturierung und Terminologie sich von den heutigen Darstellungen des kritischen Denkens und der informalen Logik vielerorts unterscheidet. In erster Linie ist kritisches Denken nicht eine Methode oder Theorie, sondern eine Fähigkeit (Blair 1987, 150: „activity“, „practical virtue“). Dewey unternimmt keine formale Präzisierung seiner Überlegungen zur Natur dieses Denkens und sieht dessen Kern explizit in der beständigen Evaluation von Gründen und Folgen von Gedanken; aus heutiger Sicht geht es also um Fähigkeiten zur Änderung und „Updating“ von Überzeugungen im Lichte der Gründe, die für oder gegen sie
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sprechen, und ihrer Folgen, und zur Änderung der Gewichtung dieser Gründe.¹² Obwohl solche Effekte auch in einem dialogischen Kontext zustandekommen können, ist dieser Kontext hier nicht wesentlich.
8 Parallel zu den mehr informalen Entwicklungen in Logik und Argumentationstheorie fanden bereits formale Rekonstruktionen dialogischer Argumentationen statt, zum Teil auch im Anschluss an die Logikkalküle der Erlanger Schule und darüber hinaus (Barth 1982; Hegselmann 1985). Diese formale Annäherung wurde mit der Entwicklung der formalen Argumentationstheorie radikal ausgeweitet, die insbesondere auf Dung (1995) zurückgeht, von dem folgende Definitionen stammen. Grundstrukturen dieser Theorie sind Argumentationsrahmen. Ein Argumentationsrahmen AF ist ein geordnetes Paar aus einer Objektmenge („Argumente“) und einer zweistelligen Relation über diese Menge, „Angriff“. Ein Argument α ist „akzeptierbar“ in Bezug auf eine Menge von Argumenten S aus AF, wenn jedes Argument, durch welches α angegriffen wird, seinerseits von einem Argument aus S angegriffen wird. Eine Menge von Argumenten S ist „konfliktfrei“, wenn sie kein Argument enthält, welches ein Argument aus S angreift. Eine Argumentmenge S ist „annehmbar“, wenn alle Argumente in S in Bezug auf S akzeptierbar sind. Argumentationsrahmen lassen sich zu abstrakten dialektischen Rahmen erweitern, die neben der Angriffsrelation auch eine Stützungsrelation einführen. Mathematisch sind Argumentationsrahmen gerichtete Graphen. „Semantiken“ (Baroni 2018) für Argumentationsrahmen beantworten die Frage, welche Argumente in einem gegebenen Rahmen aufgrund der vorliegenden Angriffs- bzw. auch Stützungsrelationen gerechtfertigt sind, in dem intuitiven Sinne, dass sie nach Berücksichtigung aller Angriffsrelationen „übrig bleiben“. Ein ergiebiger Ansatz ist hier die Betrachtung von Eigenschaften konfliktfreier Mengen S und ihren möglichen Erweiterungen um Argumente aus dem Rahmen AF („extension semantics“, Baroni 2018, 165). Die formale Argumentationstheorie ist mit der dialogischen Dimension der Argumentation kompatibel: Dialogische Konstellationen sind ihre intendierten Anwendungen. Noch stärker berücksichtigt sie aber die Entkräftbarkeit oder Widerlegbarkeit (defeasibility) von Argumenten. Diese wird durch die Angriffsrelation 12 Ein Vergleich mit dem Überlegungsgleichgewicht liegt nahe, obwohl das Anforderungsprofil des kritischen oder reflexiven Denkens allgemeiner ist; zumindest im Verhältnis zu den früheren Versionen dieser Methode, in denen es um den Abgleich zwischen Prinzipien und wohlüberlegten moralischen Urteilen ging. Vgl. auch Scanlon 2014, 88.
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modelliert, während die Akzeptierbarkeit eines Argumentes die Tatsache repräsentiert, dass alle Angriffe (Widerlegungsversuche) gegen ein Argument durch Angriffe „widerlegt“ sind (zur Kritik Betz 2010, 45). Im Unterschied aber zu anderen Teilen der Argumentationstheorie, wo Prämissen mit Gründen gleichgesetzt werden, liegt hier ein holistischerer Ansatz vor: Das ganze Argument, welches ggf. ein Argument angreift oder auch stützt, kann als Grund angesehen werden. Entsprechend repräsentieren manche formale Eigenschaften konfliktfreier Mengen bestimmte Gründe, Argumente als „gerechtfertigt“ anzusehen, während die interne Struktur von Argumenten hier nicht repräsentiert wird.
9 Weitere, ebenfalls formale Möglichkeiten, Gründe im Zusammenhang mit der Struktur eines Arguments oder eines Schlusses besonders auszuzeichnen, nehmen Abstand von der dialogischen Argumentation als einem prominenten Beispiel des Austauschs von Gründen und kehren auf die formale Logik zurück: Gründe werden hier in formalen Sprachen explizit repräsentiert. Eine speziell für die Rechtslogik entwickelte Sprache mit dieser Eigenschaft ist J. Hages (1997) RBL („reason-based Logic“). Neben Prädikaten für Individuen und Individuenvariablen bzw. -konstanten enthält die Sprache der RBL auch Prädikate und Variablen für Sachverhalte; so bedeutet z. B. „Obtain(s, c)“, wo s Sachverhalt, dass s in der Konstellation c besteht, oder m.a.W., dass s eine Tatsache ist, wenn c vorliegt. Zugleich enthält RBL Sätze, die durch Sachverhalte wahr werden, für welche wiederum die RBL auch Individuenterme bereitstellt, die diese Sachverhalte bezeichnen (Hage 1997, 132).¹³ Rechtsnormen und Rechtsprinzipien sind ebenfalls komplexe Sachverhalte, die durch Funktionszeichen „⇒“ bzw. „⊃“ gebildet werden. Damit bezeichnet „s ⊃ t“, wo s, t Sachverhalte sind (z. B. s: Meinung Äußern und t: Nicht Hindern), den komplexen Sachverhalt eines Rechtsprinzips, nämlich des Prinzips der Meinungsfreiheit, und „S⊃T“ den Satz, der diese Norm ausdrückt (z. B. „wenn eine Person Meinung äußern will, darf sie vom Staat daran nicht gehindert werden“). Das einstellige Prädikat „Valid( )“ drückt aus, dass ein Prinzip gültig ist
13 Hier bedient sich Hage eines formal sehr problematischen Tricks: Er lässt nämlich Sätze, die Sachverhalte ausdrücken, und Individuenterme, die diese Sachverhalte bezeichnen, durch Großund Kleinschreibung unterscheiden: Wenn S Satz der formalen Sprache ist, der einen Sachverhalt ausdrückt, wird dieser Sachverhalt in der formalen Sprache durch den Individuenterm s bezeichnet. Das ist formal unbefriedigend, weil nicht festgelegt ist, ob das Bedeutungsverhältnis zwischen „s“ und „S“ durch intuitives „Alltagssprachwissen“ erkannt wird oder durch besondere Axiome der RBL festgelegt werden soll.
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(Hage 1997, 136–137). Gründe werden in RBL als Tatsachen und zweistellige Relationen zwischen Tatsachen repräsentiert. Sei nämlich e eine staatliche Eingriffsmaßnahme und s, t wie oben, dann bezeichnet der Funktionsausdruck „r(s⊃t, ¬e)“ die Tatsache, dass die Meinungsfreiheit ein Grund (prima facie) für das Unterlassen dieses Eingriffs ist und „R(S⊃T, ¬E)“ drückt den entsprechenden Satz aus. Dieser Satz sollte unter der Voraussetzung Valid(s⊃t) in RBL ableitbar sein. Die Abwägung zwischen Gründen erfolgt auf Grundlage einer Präferenzrelation s>u, wo s, u Sachverhalte sind, die z. B. in Prinzipien vorausgesetzt werden, z. B. eine Meinungsäußerung. Für die Anwendung von > wird extralogisches Abwägungswissen benötigt. Die Verwendung eines Geltungsprädikates, eines de facto Wahrheitsprädikates (nämlich „Obtain(..)“) und die Möglichkeit eines unbeschränkten Übergangs zwischen Prädikaten, die Sachverhalte ausdrücken, und Individuenbezeichnungen für Sachverhalte, können formale Probleme aufwerfen und insbesondere Antinomien auslösen. Diese Aspekte wurden nicht weiter herausgearbeitet, sodass die Sprache und die Logik RBL letztendlich explizite Fassungen natürlichsprachlicher Konstruktionen liefern und keine vollwertigen Formalisierungen. Trotzdem: Durch diese Präzisierung kommt die wichtige Unterscheidung zwischen der Betrachtung von Gründen als Prämissen und der Betrachtung von Gründen gewissermaßen von außen, als Strukturen (Sachverhalte) der Welt, deutlich zum Ausdruck. Eine weitere formale Beschreibung der Gründe-Relation, die den Bereich der deduktiven Logik nicht verlässt und an der Modallogik sich orientiert, liefert Artemovs und Fittings (2019, 14) Justification Logic (JL). Sprachen, dieser Logik bestehen aus einer Menge von Rechtfertigungstermen (Variablen x, y, z und Konstanten a, b, c), die für Beweise stehen und die wir unter bestimmten Voraussetzungen mit Gründen gleichsetzen können. Es gibt zwei zweistellige Operationssymbole + und • und es gilt die Festlegung, dass wenn α und β Rechtfertigungsterme sind, dann auch α+β (für„α oder β“) und α•β Rechtfertigungsterme sind. Wenn nun zu der Menge der Rechtfertigungsterme eine aussagenlogische Sprache hinzukommt, und zwar mit Satzparametern p, q, r, dem Zeichen ⊥ für das Falsum (Satzkonstante), und dem materialen Konditional →, dann lassen sich die Formeln der Rechtfertigungssprache folgendermaßen definieren: (i) Alle Satzparameter und ⊥ sind Formeln.¹⁴ (ii) Wenn A und B Formeln sind, so ist auch (A→B) Formel. (iii) Wenn t Rechtfertigungsterm und A Formel ist, so ist [t]:A Formel. Sie ist zu lesen als „t ist Beweis für A“. Logische Systeme, die auf solchen Sprachen basieren, haben mindestens folgende Axiomenschemata und Regeln (i) Alle aussagenlogischen Tautologien oder jedenfalls diejenigen Tautologien T, für die es in der
14 Anhand von ⊥ lässt sich die Negation von A durch A→⊥ ausdrücken.
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Sprache Rechtfertigungskonstanten gibt.¹⁵ (ii) Das Schema ([s]:(A→B) → ([t]:A → [s•t]: B)).¹⁶ (iii) Die Schemata ([s]:A → [s+t]:A) und ([t]:A → [s+t]:A). (iv) Modus Ponens als Schlussregel. Schema (ii) ist in dem Sinne zu verstehen, dass wenn s Beweis für ein Konditional ist und t Beweis für sein Antezedens, so ist [s•t] Beweis für sein Konsequens. Faktizitätsaxiom [s]: A→A und Konsistenzaxiom [t]:⊥→⊥ gehören nicht notwendig zu den Axiomen. Die JL kann um weitere modale und epistemische Operatoren und Axiome erweitert werden. Soweit wir das Faktizitätsaxiom nicht zu den Axiomen hinzufügen, können wir die Rechtfertigungsterme als Gründe interpretieren. Die Unterscheidung zwischen Formeln und Rechtfertigungstermen hat bis zu einem gewissen Grad einen ähnlichen Effekt wie Toulmins Differenzierung bei der Funktion und Beschaffenheit der Prämissen. Dort erscheinen einige Gründe als Schlussregeln (und andere als Data), hier als Rechtfertigungsterme. Ferner ist in dieser Logik die Bildung von Termen möglich, die Gründe für Rechtfertigungsrelationen ausdrücken, z. B. „[t]:[s]:A“ bedeutet t ist eine Rechtfertigung dafür, dass s eine Rechtfertigung für A ist, was der Unterscheidung zwischen Warrant und Backing entspricht. Dagegen kommen dialogische Aspekte in der JL nicht vor.
10 Anfangs wurde die verbreitete Auffassung von Gründen als Tatsachen zitiert. Nun sind Tatsachen für sich genommen nicht Entitäten, die für oder gegen etwas „sprechen“ können. Um von Gründen sinnvollerweise zu sprechen, müssen einerseits kognitiv-praktische Subjekte vorausgesetzt werden, die durch diese Tatsachen affiziert werden, und andererseits Beziehungen zwischen Klassen von Tatsachen erkannt oder konstruiert werden, die wir – die kognitiv-praktischen Subjekte – als logische Gesetze, Naturgesetze, Ziel-Mittel-Beziehungen, ethische Grundsätze, rechtliche Gebote oder Verbote und Ähnliches begreifen. Diese Verortung der Gründe zwischen Subjekt und objektiver Welt ist ein Gesichtspunkt, der ebenfalls
15 Rechtsfertigungskonstanten würden verwendet, wenn statt aller Tautologien ein endliches vollständiges Axiomensystem zugrundegelegt würde. 16 Artemov verwendet die Klammer [,] nur zwecks Lesbarkeit der komplexen Zeichen α•β und α+β. Hier werden sie bei allen Rechtfertigungstermen eingesetzt, um eine notationelle Ähnlichkeit mit dem Box der Modallogik herzustellen.
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für ihre relative (im Verhältnis zum Subjekt) Irreduzibilität spricht.¹⁷ Zugleich erklärt diese Verortung die Möglichkeit, dass wir zu Gründen wie auch zu anderen Tatsachen der Außenwelt Stellung nehmen können. Dieser Prozess setzt eine Reflexionsfähigkeit voraus, die von den bisherigen Ansätzen vor allem bei Perelman und Dewey angedeutet wurde. Aber auch der Artemov/Fitting-Ansatz hätte die Ressourcen, solche Prozesse zu beschreiben. Wir vermuten, dass wenn es Gründe für eine Nichtalgorithmizität der Gründe gibt (Nida-Rümelin 2020, 346), dann diese Gründe mit genau diesem Aspekt des Phänomens zusammenhängen müssen. Der Übergang von „p, weil q“ zur Rede von Gründen ist keine bloße technische Angelegenheit, sondern Ausdruck und Repräsentation dieser Fähigkeit.
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17 Scanlons (2014) „reasons fundamentalism“ geht darüber hinaus.
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Samuel Pedziwiatr
10 Sprache und Gründe. Zur humanistischen Semantik Julian Nida-Rümelins Abstract: Language and Reasons. On Julian Nida-Rümelin’s Humanist Semantics. As Julian Nida-Rümelin has shown, the possibility of linguistic communication is inextricably linked to the practice of exchanging reasons within our human form of life. This essay aims to illuminate the systematic relationship between reasons and language by critically reexamining some key considerations on the theory of meaning from Nida-Rümelin’s Œuvre. The paper begins with a general outline of the theoretical foundations of the project of Humanist Semantics, with particular attention to Nida-Rümelin’s deontological modification of the basic Gricean framework of communication. In a second step, the theory of Humanist Semantics is further differentiated from traditional intentionalist semantics and defended against various objections that have been raised against the Gricean model. In a third step, Humanist Semantics is situated within the broader context of the epistemologically coherentist theory of structural rationality.
Einleitung Zwei für die zeitgenössische analytische Sprachphilosophie grundlegende Einsichten sind, dass Sprache durch ihren besonderen Handlungscharakter geprägt ist und dass sie primär kommunikativen Zwecken dient. Erstere Einsicht zum intrinsischen Zusammenhang zwischen Handlung und Bedeutung rückt mit der Rezeption des Späten Wittgensteins und der Sprechakttheorie J.L. Austins in den Fokus.¹ Letztere Einsicht in das kommunikative Wesen sprachlicher Akte kristallisiert sich erst im Verlauf daran anschließender philosophischer und wissenschaftlicher Debatten verstärkt heraus. Es kann, wie das Privatsprachenargument Wittgensteins in den Philosophischen Untersuchungen §§243–315 zeigt, keine Sprache geben, die prinzipiell nur einem einzelnen Individuum zugänglich wäre (2017, 145–170). Doch die einstmals dominanten behavioristischen Lesweisen, denen zufolge sprachliche 1 Neu ist die Erkenntnis, dass Sprechen eine Art von Handlung darstellt, freilich nicht – sie findet sich in der Antike prominent in den platonischen Dialogen. Neuartig erscheint jedoch die dezidiert handlungstheoretisch statt metaphysisch ausgerichtete Perspektive auf das Problem der Bedeutung und die damit einhergehende analytische Methode. https://doi.org/10.1515/9783111433233-011
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Bedeutung mit Regel-Konformität oder der Gleichförmigkeit von Verhaltensweisen innerhalb einer linguistischen Gruppe gleichsetzbar sei, greifen ins Leere. Reine Regularitäten erlauben ebenso wenig wie kausale Einwirkung auf das Verhalten des Hörers eine genuine Kommunikation. Auf theoretischer Ebene gilt es, der dialogischen und diskursiven Natur der Sprache Rechenschaft zu leisten. Kommunikation fußt auf Interaktion. Während der Handlungsaspekt der Sprache auf das Meinen einer Sprecherin und damit auf das handelnde Individuum verweist, verweist der Kommunikationsaspekt auf die Rolle der Sprachgemeinschaft, Konvention, Grammatik und Kooperation. Beide Perspektiven auf Sprache stehen einander grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis gegenüber. Letztlich muss sich jede philosophische Theorie der Bedeutung daran bewähren, wie plausibel sie diese Tension einholt und auflöst. Einer der vielversprechendsten Ansätze zur Fundierung der Theorie der Bedeutung ist die intentionalistische Semantik. Im Gegensatz zu bloßem Verhalten ist Handeln durch Intentionalität gekennzeichnet. Die intentionale Semantik geht entsprechend davon aus, dass sich die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke auf die Struktur von relevanten Sprecherintentionen, respektive Meinensakten, zurückführen lässt. Eine besondere Stärke dieses Ansatzes besteht darin, dass die Identifikation relevanter Absichten der Sprecherin eine klare Antwort auf die Frage nach dem spezifischen Handlungscharakter der Sprache anbietet und einheitliche Schemata für eine große Bandbreite sprachlicher Erscheinungsformen in Aussicht stellt. Die gravierende Schwäche des traditionellen intentionalistischen Ansatzes ist, dass er dem zweiten, kommunikativen Aspekt der Sprache oftmals nicht gerecht wird. Julian Nida-Rümelin hat in seinen sprachphilosophischen Beiträgen eine Modifikation der intentionalistischen Semantik nach Paul Grice präsentiert, welche dieses Defizit behebt und die Grundlagen des umfassenden Projekts einer humanistischen Semantik legt. Als humanistisch ist der Ansatz Julian Nida-Rümelins nicht zuletzt deshalb zu bezeichnen, weil er der menschlichen Autorschaft und der irreduzibel subjektiven Perspektive der Sprecherin innerhalb der Sprachgemeinschaft den ihr gebührenden Platz zuweist, ohne dabei den kommunikativen Aspekt der Sprache aus dem Blick zu verlieren. Die Möglichkeit sprachlicher Bedeutung und Verständigung hängt untrennbar mit der Praxis des Gründegebens und -nehmens innerhalb der humanen Lebensform zusammen. Für die Sprache sind sowohl die Intentionen der Sprecherin als auch ein geteilter Raum der Gründe konstitutiv. Der vorliegende Essay vollzieht einige zentrale sprachphilosophische Gedankengänge und Argumente aus dem Werk Julian Nida-Rümelins synoptisch nach, um den systematischen Zusammenhang zwischen Gründen und Bedeutung näher zu beleuchten. Die für diese Fragestellung besonders relevanten Überlegungen werden explizit in Teil IV der Humanistischen Reflexionen (2016, 277–349) und in konden-
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sierter Form in der Theorie praktischer Vernunft (2021, 269–274) entwickelt, doch ist es gewinnbringend, diese Passagen in Verbindung mit Detailausführungen in früheren Publikationen, Vorträgen und vertiefenden Aufsätzen zu lesen. Die humanistische Semantik fügt sich kohärent in die umfassende Theorie struktureller Rationalität und einen robusten, unaufgeregten Realismus bezüglich empirischer und normativer Tatsachen ein. Eine Festschrift zur Trias „Rationalität – Freiheit – Verantwortung“ bietet daher einen thematisch besonders angemessenen Anlass und Rahmen, um die Beiträge Julian Nida-Rümelins, neben vielen anderen Bereichen wie der Ethik, Metaethik, politischen Theorie, Wissenschaftsphilosophie und Rationalitätstheorie, gerade auch auf dem Gebiet der Sprachphilosophie zu würdigen. Im Folgenden argumentiere ich in drei Schritten zugunsten des Standpunkts der humanistischen Semantik. Sektion 1 fasst knapp die Motivation und theoretischen Grundlagen der deontologischen Erweiterung des Griceschen Grundmodells der Kommunikation zusammen. In Sektion 2 grenze ich die humanistische Semantik von der traditionellen intentionalistischen Semantik ab und verteidige sie gegen einige wichtige Einwände, die gegen das zugrundliegende Gricesche Modell der Kommunikation vorgebracht worden sind. Abschnitt 3 wendet sich ausführlicher der Rolle der Kooperation und strukturellen Rationalität im kommunikativen Handeln zu und adressiert in diesem Zusammenhang die Rolle der Gründe und der humanen Lebensform für die Konstitution der Bedeutung.
1 Die deontologische Modifikation des Griceschen Grundmodells Der Ausgangspunkt der humanistischen Semantik ist zunächst die Feststellung, dass der Intentionalität ein logisches und genetisches Prius gegenüber der Sprache zukommt. Entgegen der wittgensteinschen Ansicht der Autonomie der Grammatik, ist Außersprachliches für die menschliche Verständigung konstitutiv (Nida-Rümelin 2007, 43). Motiviert wird diese These durch eine Reihe von Situationen, in denen Menschen Zeichen mit einer in der griceschen Terminologie nicht-natürlichen Bedeutung verwenden, die nicht bereits konventionell etabliert ist. Metatheoretisch besonders folgenreich und relevant sind in diesem Konnex Fälle radikaler Interpretation nach Donald Davidson. Die radikale Interpretation versucht „Äußerungen zu interpretieren, indem sie auf außersprachliche Interessen und Aktivitäten zurückgreift, nicht indem sie Relationen zwischen Sprachlichem herstellt.“ (Nida-Rümelin 2007, 46) Das ist genau die Situation, in der sich etwa ein Kind beim Spracherwerb oder eine Ethnologin in der Konfrontation mit einer
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unbekannten Sprache einer ihr völlig fremden Kultur befindet. Das Faktum radikaler Interpretation deutet, wie Nida-Rümelin hinweist, auf die fundamentale Unhintergehbarkeit des Schließens auf Intentionen für die Interpretation kommunikativer Akte. Intentionen mögen zwar linguistisch imprägniert sein, sind aber nicht vollständig linguistisch bedingt. Sie bedingen ihrerseits erst die Möglichkeit der Bedeutung und sprachlicher Handlungen. Zumindest Versatzstücke der intentionalistischen Semantik sind daher theoretisch zwingend vorauszusetzen. Ein anderes, auf Paul Grice zurückgehendes Beispiel behandelt die Theorie praktischer Vernunft zur Beschreibung der Phänomenologie sprachlicher Verständigung: Eine Person sieht, dass ein Feuer ausgebrochen ist, und möchte, in einer Situation, in der ihr keine gewöhnlichen Kommunikationsmittel zur Verfügung stehen, ihre Mitmenschen davor warnen. Vorstellbar wäre etwa, dass eine Wanderin ohne Mobiltelefon auf ein Waldfeuer in einem besonders trockenen Gebiet stößt, welches für gewöhnlich kontrolliert abbrennen würde, aber in dieser spezifischen Situation droht, rasch außer Kontrolle zu geraten. Sie entscheidet sich deshalb, mithilfe ihrer Jacke Rauchzeichen zu senden, welche die Menschen in der Umgebung auf die Gefahr aufmerksam machen sollen. Entscheidend ist dabei, dass diese erkennen müssen, dass es sich um ein absichtliches Zeichen und kein natürliches Ereignis handelt. Der Kommunikationsakt gelingt genau dann, wenn die Adressaten erkennen, dass die Rauchzeichen mit einer Intention geschickt wurden, und wenn sie erfolgreich auf die Intention des Warnens schließen (Nida-Rümelin 2021, 271). Ein ausgefeiltes Modell davon, wie das wechselseitige Erkennen der in solchen Situationen vorkommenden Intentionen durch Sprecherin und Hörerin vor sich geht, liefert das von Grice entwickelte intentionalistische Grundmodell der Sprecher-Bedeutung.² Der besondere Clou ist, dass das Erkennen der Intention der Hörerin Grice zufolge auch einen Grund dafür liefert, dass der von der Sprecherin intendierte Effekt eintritt. In erster Näherung: „‘S meinte mit x etwas’ ist in etwa äquivalent mit ‘S äußerte x mit der Absicht, eine Überzeugung mittels der Erkenntnis dieser Absicht hervorzurufen.’“ (Grice 2016a, 10)
2 Die Philosophin Jennifer M. Saul (2002, 349) schreibt, dass das ursprüngliche Ziel Grice’ vor allem darin bestünde zu analysieren, wie das, was mit einem Satz gesagt wird, aus Generalisierungen darüber abgeleitet werden könne, was Sprecherinnen in definierbaren paradigmatischen Situationen mit diesem Satz meinen. Der (psychologische) Interpretationsprozess sprachlicher Äußerungen durch die Hörerinnen stehe dabei weniger im eigentlichen Fokus. Grice betrachtet jedoch sowohl die beabsichtigte Wirkung, die eine Sprecherin mit einer konkreten Äußerung in einer bestimmten Situation verfolgt, als auch das wechselseitige Erkennen dieser Absicht durch Sprecherin und Hörer.
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Etwas formalisierter lautet das aus dem obigen Beispiel und Vorschlag ableitbare Gricesche Grundmodell: ‘S meinte etwas mit dem Äußern von x’ ist wahr gdw. für einen Hörer H gilt: S äußerte x mit der Absicht, daß (1) H eine bestimmte Reaktion r zeigt (2) H glaubt (erkennt), daß S (1) beabsichtigt (3) H (1) aufgrund seiner Erfüllung von (2) erfüllt (Grice 2016b, 20)
Wie Mary Kate McGowan (2019, 52) erläutert, spielen die kommunikativen Intentionen (2), als Intentionen höherer Ordnung, dabei für Grice eine tragende Rolle. Die Sprecherin intendiert mit, dass die Intention, einen Inhalt zu kommunizieren, von der Hörerin ihrerseits als solche erkannt wird. Das Gricesche Grundmodell ist meist vor dem Hintergrund eines desire-belief Modells der Handlung interpretiert worden, um Sprechaktsituationen als Koordinationsspiele im Sinne der rational choice Theorie zu rekonstruieren.³ Die übliche instrumentalistische Engführung, derzufolge das Erfolgskriterium der Äußerung ist, dass eine bestimmte Wirkung im Hörer erzielt werde, wird, wie Nida-Rümelin (2016, 300) hinweist, Grice’ nuancierten eigenen Ansichten zur Sache nicht ganz gerecht, und führt zum einleitend erwähnten Problem der intentionalistischen Semantik: der kommunikative Aspekt der Sprache fällt aus dem Bild. Dieses eingangs erwähnte Kernproblem intentionalistischer Semantiken tritt an dieser Stelle nicht zuletzt aufgrund der Verkürzung auf ein konsequentialistisches Rationalitätskonzept und eine unzureichende Konzeption des Handlungsbegriffs im Sinne eines desire-belief Schemas auf. Es sind nicht die Wünsche der Autorin, sondern Gründe, welche zugunsten einer Überzeugung oder Handlung sprechen, die für die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks relevant sind. „Das Ziel von Verständigung ist in der Regel nicht die Beeinflussung des Adressaten durch geeignete Signale, sondern genuine Verständigung.“ (Nida-Rümelin 2005, 37) Um diesen Punkt zu stärken, bedarf das Gricesche Grundmodell, wie NidaRümelin weiter ausführt, einer Modifikation und Ergänzung: Die Wirkung der Äußerung als Bedingung erfolgreicher Kommunikation wird in der humanistischen Semantik gegenüber der traditionellen intentionalistischen gewissermaßen zurückgenommen und es wird auf die erfolgreiche Übermittlung von Gründen und in diesem Sinne auf genuine Verständigung fokussiert. (Nida-Rümelin 2016, 280)
3 Das heißt funktional äquivalent zu strategischem Handeln (Habermas 2020, 114).
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Dieser Schritt leistet auf theoretischer Ebene dem Umstand Rechenschaft, dass es nicht die Koordination von Eigeninteressen, sondern die Kooperation zwischen Akteuren ist,⁴ die für Fälle genuiner erfolgreicher Kommunikation ausschlaggebend ist. Kommunikatives Handeln beruht wesentlich auf der menschlichen Fähigkeit, Gründe abzuwägen und sich von Gründen affizieren zu lassen (Nida-Rümelin 2005, 37). Die humanistische Semantik erweitert das Gricesche Grundmodell entsprechend deontologisch um einen humanistischen Handlungsbegriff sowie eine Liste ethischer Grundnormen der Wahrhaftigkeit, der Verlässlichkeit und des Vertrauens (Nida-Rümelin 2001, 100–118). Die Grundnorm der Verlässlichkeit, des Bemühens um einen adäquaten Realitätsbezug der eigenen Überzeugungen, etabliert dabei einen robusten Weltbezug, ohne den keine Sprache auskommt. Diesen auch auf sprachphilosophischer Ebene konsequent unaufgeregten Realismus stützen die Überlegungen zur radikalen Interpretation: Ohne die Bedingung der Verlässlichkeit könnte es Sprecher geben, die wahrhaftig und vertrauensvoll wären, die aber alle einem kollektiven Irrtum auflägen (Nida-Rümelin 2016, 293). Eine stabile, objektive Bedeutung würde unmöglich und illusorisch. Eine Sprachgemeinschaft bedarf, wie man auch sagen könnte, eines Ethos epistemischer Rationalität, um sich etablieren und stabil fortbestehen zu können. Die Grundnormen stellen daher nicht lediglich Konventionen dar, sondern sichern als grundlegende Kooperationsbedingungen die Möglichkeit der Kommunikation und objektiven Bedeutung sprachlicher Ausdrücke innerhalb einer Sprachgemeinschaft. Die Zusammenfassung all dieser Überlegungen führt zu folgendem Grundschema der Kommunikation, welches ich im Weiteren als das humanistische Grundmodell Julian Nida-Rümelins bezeichnen werde: Der Sprecher S teilt mit dem Zeichen (der Äußerung) x dem Hörer (dem Adressaten) H mit, dass p […] genau dann, wenn (1) S H mit x einen Grund für p gibt. (2) S x für einen Grund für p hält (Regel der Wahrhaftigkeit). (3) S erwartet, dass H glaubt, dass (2) (Regel des Vertrauens). (4) S erwartet, dass H wegen (1) x für einen guten Grund für p hält (Regel der Verlässlichkeit). (Nida-Rümelin 2016, 298)
4 Zum Begriff der Kooperation ist an dieser Stelle insbesondere der Vergleich mit demokratietheoretischen Überlegungen interessant (Nida-Rümelin 1999, 151–154).
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2 Humanistische Erwiderungen auf die Kritik am Griceschen Modell Dem Ansatz Paul Grice’ sind von Anfang an eine Reihe von Einwänden begegnet. In diesem Abschnitt möchte ich einige der schwerwiegenderen Gegenargumente näher betrachten, welche die Grenzen des Griceschen Grundmodells offenlegen, und kurz adressieren, wie das humanistische Grundmodell diese Probleme beantworten kann. Dies soll, obgleich kursorisch, dazu beitragen, das humanistische Grundmodell schärfer gegen die traditionelle intentionalistische Semantik abzugrenzen, und andererseits auf weiterführende Forschungsperspektiven, Anwendungsbereiche und Anknüpfungspunkte der humanistischen Semantik im Kontext aktueller und andauernder sprachphilosophischer Debatten der analytischen Philosophie hinweisen. P. F. Strawson (1964, 446–447) hat früh ein Gegenbeispiel entwickelt, das zeigt, dass die Kriterien des Griceschen Grundmodells nicht hinreichend für Kommunikationsakte sind. Eine vereinfachende Illustration des strawsonschen Gegenbeispiels liefert der mithörende Dritte Max Blacks (2016, 60). Hier unterhält sich A mit B, im Wissen, dass C mithört. A hat Gründe für die Annahme, dass C nicht weiß, dass A weiß, dass das Gespräch mit B mitgehört wird. A sagt nun zu B: „Ich würde C gerne sagen, dass p, wenn ich den Mut dazu hätte.“ In diesem Beispiel Blacks sind alle Kriterien des Griceschen Grundmodells trivialerweise erfüllt: (1) A will, dass C glaubt, dass p. (2) A will, dass C diese erste Absicht erkennt und (3) als Grund dafür ansieht zu glauben, dass tatsächlich p gilt. Solche Beispiele deuten, obgleich sie etwas artifiziell wirken mögen, nicht nur in Detailfragen auf Revisionsbedarf des ursprünglichen Grundmodells. In dieser Sorte von Gegenbeispielen geht es, wie Jürgen Habermas erläutert, darum, dass „S den erwünschten Effekt nur solange erzielen kann, wie sich die Intention, die H für die Intention von S halten soll, mit der strategischen Hinterabsicht, die S tatsächlich verfolgt, nicht deckt.“ (2020, 114) In solchen Fällen wird, nach Habermas, besonders transparent, dass das Gricesche Grundmodell nicht den Normallfall sprachlicher Verständigung rekonstruiert, sondern lediglich einen Grenzfall des Indirekt-zu-verstehen-Gebens. Es ist im Beispiel des mithörenden Dritten offensichtlich, dass A nicht zu C spricht, selbst wenn er alle Kriterien des Griceschen Grundmodells erfüllt. Mit Hinblick auf das humanistische Grundmodell ist zu sagen, dass im Beispiel des mithörenden Dritten die Übermittlung von Gründen an C offenbar indirekt folgt, und dass der Fall von der humanistischen Semantik angemessen als Grenzfall – und nicht als paradigmatisch – aufgefasst wird. Selbst, wenn A seine Gründe nicht an C richtet, haben diese ein objektives eigenes Gewicht und stehen prinzipiell allen offen, die der Sprache mächtig sind und einem Gespräch folgen. Festzuhalten ist,
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dass solche Beispiele, bei aller Unvollständigkeit des Griceschen Grundmodells, keineswegs zwingend der zugrundeliegenden These Abbruch leisten, dass das genetische und logische Prius der Intentionalität zukommt. Strawson (1964, 447) schlägt selbst bekanntlich vor, das Gricesche Grundmodell um ein viertes Kriterium zu erweitern, um solche Fälle auszuschließen und den intentionalistischen Ansatz nachzuschärfen.⁵ Max Black (2016, 77) führt solche Fälle dagegen als Evidenz gegen einen intentionalistischen Standpunkt an und argumentiert, dass Grice’ Grundmodell entweder versteckt zirkulär sei oder notgedrungen zu einem infiniten Regress der relevanten Intentionen führe. Ein derartiger Regress wird in der humanistischen Semantik jedoch in jedem Fall vermieden, da das humanistische Grundmodell grundlegend vom Austausch der relevanten Gründe und nicht von der Übertragung von komplexen (konsequentialistischen) Wirkungsabsichten des Sprechers ausgeht. Neben den Einwänden, dass die Kriterien des Griceschen Modells nicht hinreichend seien, und dass der Rekurs auf Sprecherintentionen die Gefahr eines infiniten Regresses berge, hat Max Black den stärkeren Einwand formuliert, dass die griceschen Kriterien nicht einmal notwendig für kommunikative Akte seien. Black (2016, 61–64) führt hierzu zwei Sorten von Gegenbeispielen an: Fälle wie Selbstgespräche, in denen es keinen vom Sprecher verschiedenen Hörer H gibt, auf den das Grundmodell Anwendung finden könnte. Sowie Fälle, in denen es zwar Hörer gibt, diese aber keinen weiteren vom Sprecher übermittelten Grund dafür benötigen, an einen propositionalen Inhalt zu glauben oder eine Handlung gemäß der Intention des Sprechers zu vollführen. Als Beispiel dient hier ein Rigorosumskandidat, der seinem Prüfer auf die Frage nach dem Datum der Schlacht von Hastings recht frech antwortet: „[…] Es wäre absurd, wenn ich Sie dazu bringen wollte zu glauben, was Sie bereits wissen; und folglich ist es mir, als gutem Griceianer, nicht möglich zu meinen, was ich Ihrer Erwartung nach mit meiner Antwort meinen sollte.“ (Black 2016, 63) Als Replik auf diese Fälle hat A.P. Martinich (1990, 91–93) entgegnet, dass Selbstgespräche keine genuinen Instanzen kommunikativer Handlung darstellen, und hat für die zweite Art von Beispielen argumentiert, dass sie lediglich zeigten, dass die Funktion sprachlicher Äußerungen und sprachlicher Meinensakte nicht darauf reduziert sei, „to install a belief“ (Martinich 1990, 92). Aus Perspektive der humanistischen Semantik ist die Prüfungssituation kein paradigmatischer Fall; er stellt nicht im engeren Sinne eine typische kommunikative Situation dar, und muss ableitend erklärt werden: Der Kandidat teilt nicht Inhalte mit, sondern stellt in einer kulturell und lebensweltlich etablierten Situation sein Wissen (oder das
5 Diesem Kriterium Strawsons zufolge müsse der Sprecher S die weitere Intention (4) haben, dass der Hörer H auch seine Intention (2) erkenne.
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Fehlen desselben) unter Beweis. Das widerlegt nicht die These, dass die konventionellen Bedeutungen, auf die er dabei zurückgreift, ohne die Möglichkeit subjektiver Bedeutung nicht existieren könnten. Einen weiteren, besonders interessanten Testfall stellen schließlich Malapropismen dar, also die absichtliche oder unbewusste Vertauschung eines eigentlich korrekten Worts mit einem (oftmals phonologisch ähnlichen) falschen Wort.⁶ Solche irregulären Verwendungen oder Wortappropriationen – man denke an Beispiele wie „Es gibt keinen Präsidentsfall“, „Was für eine Syphillisarbeit“, oder die französische Illustration der Wachkyrie (beziehungsweise vache qui rit, in Anspielung an die Wagnersche Walküre) – stellen nicht nur für traditionelle intentionalistische Ansätze ein grundlegendes Puzzle hinsichtlich der Analyse dar (Davidson 2006, 255; Reimer 2004). Wie Ernie Lepore und Matthew Stone (2015, 218) nahelegen, bereiten Malapropismen dem griceschen Ansatz ernsthafte Probleme, da das Gricesche Grundmodell die konventionelle Bedeutung in allen Fällen als sekundär zur (situativen) Sprecherbedeutung behandelt. Im Fall von Malapropismen scheint sich oftmals gerade umgekehrt herauszustellen, dass die Sprecherintention nicht ohne Kenntnis der konventionellen Bedeutung eines Wortes nachvollziehbar oder gar ausdrückbar ist. Welche Intention sollte als die relevante, bedeutungskonstitutive Intention angesehen werden, wenn verschiedene Interpretationen möglich sind?⁷ Unterschiedliche Antworten auf dieses Problem sind vorgeschlagen worden. Grice selbst folgend, könnte das Modell für solche Fälle durch eine engere Anbindung an die konventionelle Bedeutung sprachlicher Ausdrücke angepasst werden, was als ein starkes Zugeständnis an konventionalistische Ansätze erscheint, oder es könnte mithilfe der vom Hörer angenommenen Bedeutungsintention korrigiert werden. (Pavese und Radulescu 2023, 713) Einen alternativen Lösungsansatz schlägt Unnsteinsson (2017) vor, der Malapropismen auf Formen einer Fehlartikulation oder Fehlaussprache zu reduzieren versucht. Wie das Verhältnis zwischen konventioneller und Sprecher-Bedeutung in solchen Fällen detailliert auszubuchstabieren ist, bleibt wohl ein offenes Problem, auch für die humanistische Semantik. Ähnlich wie bereits der Fall des mithörenden Dritten handelt es sich bei Malapropismen, wie das humanistische Grundmodell im Gegensatz zum Griceschen wiedergibt, jedoch klarerweise nicht um paradigmatische Fälle der menschlichen Kommunikation. Sie stellen mit gewöhnlichen kom6 Ein eng verwandtes Problem wirft bereits Wittgenstein auf, wenn er Wortdreher betrachtet wie „Milch mir Zucker“. (2017, 224) Kann ich mit einer solchen Wortverbindung etwas meinen? 7 Das Beispiel, auf das Lepore und Stone eingehen, ist der Malapropismus „I jeopardize you to handle my duties“, womit ein Sprecher einen Hörer zu seinem Stellvertreter ernennen möchte, und gleichzeitig mitteilt, dass er ihn in eine Gefahrensituation versetzt.
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munikativen Handlungen verglichen parasitäre Fälle dar. Malapropismen illustrieren anschaulich, dass die Kommunikation zusammenbrechen kann, wenn die Grundnormen der Sprache zu stark verletzt werden, insbesondere die Norm der Verlässlichkeit. Ein Mensch der ständig nur in Malapropismen spräche, würde bald unverständlich und würde aus der gemeinsamen Sprachpraxis herausfallen. Das humanistische Modell weist an dieser Stelle jedoch eine gewisse Flexibilität auf, welche dem Einfallsreichtum und der Eigenkreativität der Wortspiele und potenziellen Idiosynkrasien der Sprecherin durchaus ihren Raum zugesteht: Für den Kommunikationsakt ist es entscheidend, ob er einen Grund vermittelt. Das Spielen mit etablierten konventionellen sprachlichen Regeln einer Sprachgemeinschaft, auf das sich ein Gesprächspartner mit einlässt, ist durchaus damit vereinbar, dass die Sprecherin sich weiterhin an die verbindlichen Kooperationsnormen der gemeinsamen Kommunikationspraxis hält. Eine Voraussetzung wird nicht zuletzt sein, ob der Kontext solcher Äußerungen ein angemessener ist – an welches Publikum etwa Wortspiele adressiert sind, oder welcher Umgang mit unklaren Äußerungen oder sprachlichen Irrtümern lebensweltlich verankert ist. Konventionelle Sprachregeln werden insofern in das Bild der humanistischen Semantik integriert, als sie Mittel zum Zweck sind, die Nachvollziehbarkeit sprachlicher Ausdrücke zu garantieren. Wortspiele unterstreichen zugleich, weshalb eine Berücksichtigung der Intention auch auf theoretischer Ebene fundamental ist: Es geht gerade darum, den Witz einer Sprachhandlung nachzuvollziehen, und den Gesprächspartner als Gegenüber angemessen zu achten und zu respektieren.
3 Gründe und Lebensform Die ersten beiden Abschnitte dieses Essays haben vor allem das konzeptuelle Erbe der griceschen intentionalistischen Semantik für die humanistische Semantik thematisiert und sich auf die Sprache aus Perspektive individueller sprachlicher Akteure fokussiert. Die kommunikativen Grundnormen, welche im ersten Abschnitt angesprochen wurden, und die Einwände gegen das Gricesche Grundmodell, welche im zweiten Abschnitt kritisch erörtert wurden, berührten bereits eine tieferliegende philosophische Frage der humanistischen Semantik, die es an dieser Stelle explizit zu adressieren gilt: Wie kann es sein, dass die subjektiven Intentionen von individuellen Sprecherinnen eine objektive Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken verbürgen? (Nida-Rümelin 2016, 279) Eine Antwort auf diese Frage ist, dass das Projekt einer humanistischen Semantik den normativen Eigengehalt der Sprache ernst nimmt und diesen realistisch interpretiert: Bedeutung ist nicht zuletzt deshalb irreduzibel normativ, da sie letztlich auf Gründen fußt, und diese ihrerseits einen irreduzibel normativen Ge-
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halt haben. Bedeutung ist nicht im Sinne eines Naturalismus auf naturwissenschaftlich zu erklärende Phänomene reduzierbar. Die verbindliche und objektive Bedeutung sprachlicher Ausdrücke gründet darin, dass die Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen lebensweltlich fest verankert ist, und dass die Gründe, über die wir uns austauschen, am natürlichsten auf eine (unaufgeregt) realistische Weise interpretiert werden (Nida-Rümelin 2018, 95). Wer Gründe für eine empirische und normative Überzeugung vorbringt, legt bereits eine realistische Interpretation dieser Überzeugungen nahe: „Die Sprecherin ist in diesen Fällen überzeugt, dass […] es also eine korrespondierende empirische oder normative Tatsache gibt, die mit dieser Überzeugung jeweils angemessen erfasst wird.“ (Nida-Rümelin 2018, 95) Anschließend an den Späten Wittgenstein lässt sich mit Nida-Rümelin festhalten, dass die Mehrzahl der geteilten prohairetischen und epistemischen Einstellungen, welche die gemeinsame Lebensform einer Sprachgemeinschaft trägt, nicht zur Disposition steht. (Nida-Rümelin 2016, 130) Eine globale Skepsis würde zu einer kompletten Erosion der Bedingungen der Möglichkeit sprachlicher Verständigung führen. Unser lebensweltliches Wissen ist dadurch charakterisiert, dass es uns im logischen Raum der Gründe (Sellars 1997, 76) zugänglich ist. Zu unserem lebensweltlichen Wissen gehört insbesondere auch das Wissen über die sprachlichen Regeln und Konventionen, auf die man sich in einer Sprachgemeinschaft geeinigt hat. Dieses kollektive Wissen, die Übereinstimmung bezüglich der Regeln, die den Gebrauch sprachlicher Ausdrücke gründegeleitet bestimmen, sichert die Objektivität der Bedeutung einzelner Sprechakte weiter ab. (Nida-Rümelin 2016, 303) Neben den kooperativen Grundnormen findet die „Konformität mit den spezifischen Sprachkonventionen, die den Einsatz der jeweiligen sprachlichen Mittel zur Verständigung erfolgreich macht“ (Nida-Rümelin 2001, 110), also auch innerhalb des Rahmens der Theorie der humanistischen Semantik angemessen Berücksichtigung. Doch ein sprachphilosophischer Konventionalismus greift entschieden zu kurz: Sprache beschränkt sich nicht auf eine durch Konventionen geregelte Koordination von Interessen, sondern ist interaktiv. Die Institution der Sprache schafft einen normativen Rahmen für eine besondere Form humaner Kooperation. Die Sprache stellt einen wichtigen Teilbereich der humanen Erfahrungswelt und der menschlichen Handlungssphäre dar: „Wenn Freiheit als eine transzendentale Bedingung im Sinne Strawsons verstanden wird, dann sind auch Rationalität und Verantwortung, d. h. die Fähigkeit, Gründe abzuwägen und entsprechend dieser Abwägung zu urteilen und zu handeln, transzendentale Bedingungen unserer lebensweltlichen Interaktionen.“ (Nida-Rümelin 2005, 38) Verständigung besitzt einen Doppelsinn: wir verständigen uns mittels Gründen, und wir verständigen uns auch über unsere Urteile und die Rationalitätskriterien, die wir beim Einsatz unserer Vernunft kritisch anwenden. Diese Praxis des Gründegebens und
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-nehmens ist nicht auf eine kommunitaristische Sprachgemeinschaft beschränkt, sie ist ein universell geteiltes Wesensmerkmal der menschlichen Lebensform, die alle Kulturen prägt und für die conditio humana grundlegend ist. Die humanistische Semantik zeigt auf, dass das kooperative Miteinander der Sprachgemeinschaft von der angemessenen Achtung und dem Respekt der Mitmenschen getragen ist, und sie verteidigt – in einer Zeit, in der diese unter anderem durch technologische Entwicklungen etwa im Bereich der Large Language Models in der Künstlichen-Intelligenz-Forschung immer stärker in Bedrängnis zu kommen droht – die Rolle humaner Autorschaft und Rationalität für menschliche Bedeutung und Sinnstiftung. Das Projekt humanistischer Semantik fügt sich kohärent in die umfassende Theorie struktureller Rationalität und praktischer Vernunft ein und liefert auf theoretischer Ebene ein eindrückliches Zeugnis dafür, weshalb wir, selbst als Philosophinnen und Philosophen, die Teilnehmerperspektive in der humanen Lebensform nie komplett verlassen können oder sollten.
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11 Handeln aus moralischen Gründen – eine empirische Perspektive Abstract: Acting for moral reasons – an empirical perspective. Referring to two psychological field studies on school bullying, I will present empirical evidence for the claim that students with comparatively low moral reasoning skills are more likely than others to conform with aggressive peers and to violate moral norms. Students with well-developed reasoning competence, on the other hand, are more likely to make autonomous judgments and to stay out of morally problematic social dynamics. There is no indication that this relation is mediated by additional motivational mechanisms, e. g. internalized self-sanctions. These empirical findings fit coherently with a reasons account of moral agency, claiming that reference to the moral reasons a rational agent has can justify and explain his or her moral actions in typical cases, or so I will argue. Methodological and normative implications are discussed.
1 Einleitung Dass rationales moralisches Urteilen zu moralisch richtigem Verhalten führt, ist lebensweltlich plausibel. Es ist auch eine Implikation von philosophischen Ansätzen, die Gründe als handlungsleitend betrachten. Einen prototypischen Vertreter dieser Theoriefamilie hat Nida-Rümelin mit seinem reasons account entwickelt (Nida-Rümelin 2019). Für die empirische Forschung war die Frage nach der Verhaltenswirksamkeit moralischer Deliberation lange schwer zugänglich. Die wohl prominenteste moralpsychologische Theorie des 20. Jahrhunderts, Kohlbergs kognitive Entwicklungstheorie moralischen Urteilens, entwickelte zwar ein differenziertes Instrumentarium zur Messung moralischer Argumentations- und Urteilskompetenz, konnte aber deren Auswirkung auf soziales Verhalten nicht überzeugend nachweisen (siehe die einflussreiche Kritik von Blasi 1980). In den 2000er Jahren schließlich zogen intensiv rezipierte Ergebnisse moralpsychologischer Laborstudien die Verhaltenswirksamkeit rationalen moralischen Urteilens in Zweifel. Sie schienen zu zeigen, dass moralisches Verhalten vor allem von emotiven Automatismen und kaum von rational reflektierten Prozessen gesteuert werde. Das private und öffentliche Abwägen moralischer Gründe sei ein weitgehend wirkungsloses
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Epiphänomen; der emotionale Hund wedle mit seinem rationalen Schwanz (Haidt 2001).¹ Im Rahmen eines interdisziplinären Projektes² haben uns mehrere Feldstudien über Mobbing in Schulklassen ermöglicht, selbst einen empirischen Einblick in die Entstehung moralisch relevanten Verhaltens zu gewinnen. Vor dem Hintergrund einer wachsenden internationalen Literatur über Mobbingdynamiken stützt unsere Forschung die Hypothese, dass Schüler:innen, die besser darin sind, moralische Argumente unparteiisch abzuwägen als ihre Mitschüler:innen, seltener Mobbingtäter:innen werden. Ich werde dafür argumentieren, dass sich diese Befunde stimmig in einen philosophischen reasons account einfügen.
2 Die handlungstheoretische Hypothese Hinter dieser Forschung steht die abstrakte handlungstheoretische Annahme, dass gute (moralische) Gründe in vielen Fällen hinreichend zur Rechtfertigung und Erklärung von Handlungen sind. Nida-Rümelin formuliert das so: „Wenn ich [als rationale Person] einen guten, auch einen moralisch guten Grund habe, etwas zu tun, dann tue ich das, außer ich leide unter Willensschwäche. Hier muss kein weiteres Motiv hinzutreten […]“ (Nida-Rümelin 2020, 88). Zwei Spezifikationen, die für unsere empirische Arbeit wichtig sind, möchte ich festhalten: (a) Natürlich kann man sich darüber täuschen, ob man einen guten Grund für etwas hat. „Eine Person kann einen guten Grund haben, etwas zu tun, ohne dass sie einsieht, dass sie diesen guten Grund hat.“ (Nida-Rümelin 2020, 4) Praktische Rationalität ist die Fähigkeit, die guten Handlungsgründe, die man hat, zuverlässig einzusehen. (b) Um sich rational zu verhalten, muss man nicht ständig bewusst deliberieren. Auch das Verhalten rationaler Personen ist oft automatisch oder gewohnheitsmäßig gesteuert. Rationale Personen können ihre Gewohnheiten aber begründen und gründebasiert revidieren. Explizite Reflexion hat ihre Rolle somit vor allem in schwierigen Ausnahmesituationen, auf die Automatismen nicht passen, und in Lernprozessen (vgl. dazu Glöckner und Betsch 2008). In diesem Sinne möchte ich im Folgenden davon sprechen, dass Gründe auch
1 Weitere Studien relativierten die ersten viel diskutierten Ergebnisse erheblich (siehe zum Beispiel Paxton, Ungar und Greene 2012). 2 Mein Dank gilt dabei insbesondere meinem interdisziplinären Habilitations-Mentorat aus Julian Nida-Rümelin (Vorsitz), Beate Sodian (Psychologie) und Stephan Sellmaier (Neurophilosophie), der schulpsychologischen Arbeitsgruppe von Mechthild Schäfer und dem Netzwerkforscher Malte Döhne (Soziologie).
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Verhalten, das im strengen Sinne kein Handeln ist, rechtfertigen und erklären können. Nimmt man zudem an, dass moralische Gründe in dem betrachteten Kontext gewichtig sind, also nicht regelmäßig von anderen guten Gründen überwogen werden, kann man erwarten, dass Personen mit einer gut ausgebildeten Fähigkeit, moralische Gründe abzuwägen, ihr Verhalten oft – aber nicht immer – an den einschlägigen moralischen Normen ausrichten. Umgekehrt werden Personen, die in dieser Hinsicht weniger kompetent sind, häufiger von moralischen Normen abweichen.
3 Mobbing als Prototyp unmoralischen Verhaltens Mobbing ist ein sozialer Prozess, der sich in einer Vielzahl von Schulklassen in sehr ähnlicher Weise entfaltet. Für die empirische Feldforschung ist das – methodologisch gesehen – günstig, denn sie kann hier ein komplexes Sozialverhalten unter stabilen und reproduzierbaren Bedingungen studieren. Mobbing ist eine Form von Aggression, bei der eine Gruppe von Mobbingtäter: innen und Mitläufer:innen ein Opfer systematisch und langfristig herabsetzt.³ Mobbing kann in direkter physischer oder verbaler Gewalt bestehen. Täter:innen können aber auch indirekte (relationale) Gewalt anwenden, zum Beispiel indem sie Opfer aus Aktivitäten ausschließen. Mobbing ist instrumentell, Täter:innen versuchen auf Kosten des Opfers an sozialem Status zu gewinnen; sie haben in den meisten Fällen kein primäres intrinsisches Interesse an der Aggression. Anders als andere Formen der Aggression wie Streit, Rangeleien oder Kräftemessen ist Mobbing keine Auseinandersetzung unter Gleichen. Wegen der Machtasymmetrie zwischen Täter:innen und Opfern haben letztere von Anfang an kaum eine Chance, sich aus eigener Kraft zu verteidigen. Sie sind auf Helfer:innen angewiesen, die aktiv eingreifen, um das Opfer zu schützen, indem sie Hilfe bei Lehrer:innen holen oder Täter:innen zur Rede stellen. Die Sozialpsychologie hat ein umfangreiches soziometrisches Instrumentarium entwickelt, um die aggressive Gruppe (Täter:innen, Unterstützer:innen, Mitläufer:innen), die passiven Zuschauer: innen und die Helfer:innen in einer Klasse zu identifizieren. Mobbing ist moralisch relevant. Menschen fügen dabei anderen Menschen körperlichen und psychischen Schaden zu, ohne dass dafür eine entschuldigende 3 Verweise auf die umfangreiche Literatur finden sich in unserem psychologischen Artikel (von Grundherr u. a. 2017).
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Bedingung, etwa eine Notwehrsituation, vorläge. Es ist gut belegt, dass Mobbingopfer langfristig unter niedrigem Selbstwertgefühl oder Einsamkeit leiden und dass es ihnen schwerfällt, Freundschaften aufrechtzuerhalten. Die erhöhte Prävalenz von Suiziden unter Mobbingopfern ist belegt. Mobbing widerspricht somit grundlegenden moralischen Normen. Es verletzt nicht nur grundlegende Rechte auf körperliche und psychische Unversehrtheit, sondern ist wegen der konstitutiven Machtasymmetrie unfair, instrumentalisiert die Opfer und missachtet ihre Würde. Im Allgemeinen sehen das nach einschlägigen Untersuchungen auch die Schüler:innen selbst so – zumindest solange man sie nicht über einen konkreten Fall befragt, indem sie selbst involviert sind. Denn gerade, wenn man in der Situation steckt, ist es ist einfach, diese verzerrt wahrzunehmen und oft verlockend, sie trotz richtiger Wahrnehmung falsch darzustellen. Dann wird Mobbing schnell zur Rauferei, die auch mal sein muss, zum Streit, bei dem Kinder lernen, sich durchzusetzen oder für ihre Rechte zu kämpfen, zu einer angemessene Sanktion für nerviges Verhalten oder gar zu Notwehr.
4 Messung moralischer Urteilskompetenz Uns hat entsprechend der oben erläuterten handlungstheoretischen Hypothese interessiert, ob Schüler:innen mit einer gut ausgebildeten Fähigkeit, moralische Gründe unparteiisch abzuwägen, (a) seltener aggressive Mobbing-Rollen einnehmen und (b) häufiger helfendes Verhalten zeigen. Dazu verwendeten wir den moralischen Urteilstest (MUT). Der MUT (Lind 2008) konfrontiert die Testpersonen mit zwei moralischen Dilemmata und führt dann moralische Argumente auf, die entweder für oder gegen ein bestimmtes Verhalten sprechen. In einem der Fälle muss etwa ein Arzt entscheiden, ob er einem schwerkranken Patienten mit einer hohen Dosis Morphium seine Schmerzen nimmt, auch wenn der Patient dadurch schneller sterben könnte. Jeweils ein Pro- und ein Contra-Argument stammen aus demselben Begründungskontext; zum Beispiel gibt es ein hedonistisches Pro- und ein hedonistisches Contra-Argument, oder ein universalistisches Pro- und ein universalistisches Contra-Argument. Diese Begründungskontexte entstammen der kohlbergschen Moralpsychologie, ohne dass deren Stufentheorie übernommen würde. Der MUT misst nun, ob eine Testperson die Argumente eher nach der Qualität des Begründungskontexts bewertet oder nach der Übereinstimmung mit dem intuitiv präferierten Ergebnis. Einen hohen Wert kann eine Person erzielen, die kohärent alle hedonistischen Argumente (also Pro- und Contra-Argumente) hoch, alle universalistischen aber niedrig bewertet. Ebenso schneidet jemand gut ab, der alle universalistischen Argumente hoch und alle hedonistischen niedrig bewertet. Damit
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operationalisiert der Test die Grundidee, dass moralische Urteilskompetenz sich darin zeigt, dass man gute Argumente unabhängig davon gelten lässt, ob sie für die eigenen Überzeugungen sprechen. Es war bereits gut belegt, dass Mobbingverhalten mit der Neigung zusammenhängt, pseudomoralische Entschuldigungen zu akzeptieren und zu verwenden. Diese Disposition hat Bandura „Moral Disengagement“ (MD) genannt (Bandura u. a. 1996). Bandura argumentiert, dass Personen, die sich moralisch falsch verhielten, die unangenehme Spannung zwischen ihren wirksamen Handlungsmotivationen und den verinnerlichten sozialen Standards minimieren wollten. Sie redeten sich (und anderen) ein, nichts Falsches getan zu haben, zum Beispiel weil das Opfer eine Demütigung provoziert habe oder verdiene, und umgingen damit (Selbst‐)Sanktionen. Wir haben MD in unseren Studien erhoben, um eine klassische Hypothese der kohlbergschen Moralpsychologie zu prüfen, nämlich dass Personen mit höherer moralischer Urteilskompetenz deswegen häufiger richtig handelten, weil MD oder ähnliche Mechanismen für sie schwieriger seien und sie somit den internalisierten Sanktionen stärker ausgesetzt seien (Kohlberg und Candee 1984; Gibbs 2014). Die Implikation, dass Angst vor automatisierter Selbstbestrafung (z. B. durch unangenehme Schuldgefühle) ein zentraler Vermittler zwischen rationalem Urteilen und richtigem Verhalten ist, stünde in Spannung zu unserer handlungstheoretischen Hypothese.⁴
5 Empirische Befunde In unserer ersten Studie (von Grundherr u. a. 2017) war es für die 10 % der Schüler: innen mit den niedrigsten MUT-Werten etwa doppelt so wahrscheinlich, eine aggressive Rolle einzunehmen (Risiko ca. 30 %) wie für die 10 % der Schüler:innen mit den höchsten MUT-Werten (Risiko ca. 16 %). Wir fanden keine signifikanten Vorhersagen für andere Rollen; insbesondere hingen hohe Werte im MUT und das Einnehmen einer helfenden Rolle trotz eines leichten Trends nicht signifikant zusammen.⁵
4 Zu Banduras allgemeinem sozio-kognitiven Modell konnten und wollten wir auf Basis unserer Daten keine Aussage treffen. 5 Warum manche Schüler:innen sich nicht nur aus aggressiven Dynamiken heraushalten, sondern aktiv helfen (also von der Bystander- in die Helfer:innen-Rolle wechseln) ist Gegenstand aktueller Forschung. Neben der Einsicht in die Richtigkeit des Helfens müssen vermutlich Faktoren wie sozialer Status, Einflussmöglichkeiten, Selbstwirksamkeitserwartungen, das Beziehungsnetzwerk,
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Unsere Daten zu Moral Disengagement (MD) bestätigten bisherige Befunde; hohe MD-Werte machten es wahrscheinlicher, eine aggressive Rolle einzunehmen. Anders als von Kohlberg angenommen, wurde die verhaltensregulierende Wirkung der vom MUT gemessenen rationalen Urteilskompetenz aber nur zu einem sehr kleinen Teil über eine Abschwächung der Disposition zu MD vermittelt. In einer weiteren Studie fanden wir mit Hilfe von Längsschnittdaten und der Modellierung von Freundschaftscliquen Belege dafür, dass moralische Urteilskompetenz den kompetentesten Schüler:innen hilft, sich von dem Einfluss aggressiver Freund:innen unabhängig zu machen, sich also eine eigene Meinung zu bilden, diese gegen den Einfluss des engen Umfelds beizubehalten und sich aus der aggressiven Dynamik der Clique herauszuhalten (Döhne, von Grundherr und Schäfer 2018). Wer also geübt darin ist, moralische Gründe abzuwägen und sich eine Meinung zu bilden, auch wenn diese von den Erwartungen des Umfelds abweicht, der oder die handelt mit geringerer Wahrscheinlichkeit moralisch falsch. Und zumindest in unseren bisherigen Daten spricht nichts dagegen, dass derart kompetente Personen dabei oft direkt aus moralischen Gründen handeln, ohne dass die Angst vor (inneren) Sanktionen als Motivator wirkt.
6 Die Befunde im philosophisch-psychologischen Dialog Auch eine philosophische Theorie, die sich als Reflexion der lebensweltlichen Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen sieht, steht, wie Nida-Rümelin betont, „in Kontinuität zu den Methoden der Natur- und Sozialwissenschaften, sie ist keine alternative Form des Denkens“ (Nida-Rümelin 2020, 18). Aber nur ein verfehlter Szientismus nehme an, dass einzelne empirische Studien eine philosophische Theorie be- oder auch widerlegen könnten. Freilich: Würden konvergente Ergebnisse eines umfassenden sozialpsychologischen Forschungsprogramms deskriptiven Implikationen oder Voraussetzungen einer philosophischen Theorie widersprechen, müsste man diese überprüfen und eventuell revidieren. Doch ein solches konvergentes Gesamtbild zeichnet sich in der Moralpsychologie aktuell nicht ab. Den philosophischen Brückenkopf für den interdisziplinären Dialog sehe ich in Nida-Rümelins Ansatz in einem gemäßigteren, aber umso produktiveren Anliegen. kognitive und affektive Empathie und auch Risikobereitschaft berücksichtig werden (siehe Jenkins und Troop-Gordon 2020).
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Die Philosophie „[sorge] sich um die Kohärenz einer, mit den wissenschaftlichen Befunden verträglichen Weltsicht“ (Nida-Rümelin 2020, 21). Hier geht es nicht um Bestätigung oder Falsifikation einer philosophischen Theorie, sondern darum, ob diese einen geeigneten begrifflichen Rahmen für die Einordnung und die kritische Diskussion empirischer Ergebnisse bereitstellt. Interdisziplinär produktiv ist das vor allem dann, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: (a) Die so ermöglichte Diskussion stellt neue Fragen an die empirische Forschung und gibt Impulse für die Weiterentwicklung empirischer Methoden. (b) Die philosophische Sicht hilft, die empirischen Ergebnisse normativ zu diskutieren und damit praktisch relevante Moraldiskurse auf kohärente Weise empirisch zu informieren.
6.1 Impulse für die empirische Forschung Es spricht viel dafür, dass ein reasons account im Sinne Nida-Rümelins kompatibel mit unseren Befunden ist und diese in seinen begrifflichen Rahmen gut einordnen kann. Wir finden den in Abschnitt 2 postulierten statistischen Zusammenhang zwischen der Fähigkeit, moralische Gründe abzuwägen, und moralischem Verhalten und können signifikant nachweisen, dass niedrige Werte im moralischen Urteilstest mit einer höheren Wahrscheinlichkeit korrelieren, moralisch problematisches Verhalten zu zeigen. Man kann also in Einklang mit den empirischen Ergebnissen sagen, dass der Verweis auf moralische Gründe einen Beitrag nicht nur zur Rechtfertigung, sondern auch zur Erklärung moralischen Handelns liefert. Stimmig kann man auch die Befunde zu Moral Disengagement einordnen. Es spricht für die Selbstverständlichkeit der lebensweltlichen Praxis des Gebens und Nehmens von moralischen Gründen, dass Personen, die sich moralisch falsch verhalten, diese Begründungspraxis nicht einfach ignorieren, sondern sich selbst und andere darüber täuschen, dass sie ihr nicht gerecht werden. Es bleiben aber auch produktive Fragen offen. Warum finden wir zum Beispiel in unseren Daten nur einen schwachen und nicht-signifikanten Zusammenhang zwischen hoher rationaler Urteilskompetenz und aktivem Helfen? Sollten wir nicht erwarten, dass das Gebot, einem Mobbingopfer zu helfen, rational einsichtig ist, und dass eine rationale Person dieser Einsicht entsprechend handelt? Oder können die sozialen Randbedingungen gute Gründe geben, die Verantwortung zu helfen bei anderen zu sehen? Macht die (belegte) Gefahr, als Helfer:in Status zu verlieren oder gar selbst Opfer zu werden, helfendes Eingreifen in vielen Fällen insgesamt betrachtet supererogatorisch oder gar irrational? Ist es vernünftig, die Pflicht zum Helfen als positive Pflicht anders zu gewichten als die negative Pflicht, sich aus dem aggressiven Verhalten herauszuhalten? Das sind Fragen, die die Philosophie mit
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bewährtem Werkzeug begrifflich sortieren kann. Damit hilft sie, empirische Ergebnisse präziser zu verstehen und neue Forschungsfragen zu stellen. Zu klären ist auch, ob der vorhandene und validierte Test, den wir aus forschungspragmatischen Gründen verwenden mussten, hinreichend genau die Fähigkeit des Abwägens moralischer Gründe im Sinne eines philosophischen reasons accounts misst. Wir haben ihn als passend bewertet, weil er prüft, ob man sich von einer ersten Urteilspräferenz lösen und Argumente nach ihrer Qualität statt nach ihrem Ergebnis bewerten kann. Der Test verwendet aber auch eine Typologisierung moralischer Argumente, die weitgehend auf Kohlbergs inzwischen historisches Forschungsprogramm und seine Rezeption philosophischer Literatur zurückgeht. Das zeigt einerseits, dass die Psychologie philosophische Begrifflichkeit immer dankbar und produktiv aufgenommen hat. Andererseits weist es darauf hin, dass die aktuelle philosophische Theorie bei der Entwicklung eines neuen Tests für rationale Urteilskompetenz gefragt ist.
6.2 Impulse für die normative Ethik Mobbing in Schulen wirft viele herausfordernde ethische Fragen auf, etwa die Fragen nach Verantwortung und Hilfspflichten in Gruppenprozessen, zu deren Beantwortung eine präzise, empirisch informierte Sicht auf das Phänomen unerlässlich ist. Hier möchte ich kurz einige spezifische normative Aspekte des Themas Deliberationskompetenz ansprechen. In Einklang mit den empirischen Ergebnissen kann man folgende (partielle) Beschreibung von Mobbingvorfällen geben. In der weiteren Gesellschaft geteilte moralische Institutionen, also geteilte Arten der Regulierung und Beurteilung von Verhalten, erodieren und werden in kleinen Subgruppen (Freundschaftscliquen) durch abweichende Praktiken ersetzt. Die Mitglieder dieser Subgruppen betrachten die eigentlich falsche instrumentelle Demütigung eines Mobbingopfers dann als richtiges, der Gruppennorm entsprechendes Verhalten, das zu Ansehen und Status führt. Wer weniger gut in der Lage ist, auf autonome Weise Gründe abzuwägen und Argumentationen zu prüfen, wird sich dieser Dynamik eher anschließen. Die Fähigkeit zur unparteiischen Deliberation ermöglicht es, diese abweichende Praxis kritisch zu sehen, und sich herauszuhalten – und damit den guten Gründen zu folgen, die man tatsächlich hat. Man kann auf Basis dieser Beschreibung vermutlich unkontrovers argumentieren, dass die Fähigkeit, auch unter herausfordernden sozialen Bedingungen autonom zu deliberieren, moralisch wünschenswert ist: Sie schützt Opfer und sie zu haben oder zu erwerben, stellt keine Zumutung dar. Interessant sind aber Folge-
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fragen, die wichtige Implikationen für eine (normative) Theorie der moralischen Bildung haben: (a) Wer ist in welchem Umfang dazu verpflichtet, diese Kompetenz zu erlernen bzw. sie anderen beizubringen? Im Fall von Mobbing in Schulen ist es eine wichtige Frage, ob und in welchem Umfang Eltern oder Bildungseinrichtungen diese Aufgabe haben. (b) Worin besteht diese Kompetenz im Detail und wie kann man sie erkennen? Dies ist eng verwoben mit der oben genannten Frage nach einem guten Testinstrument. In welcher Weise ist etwa die Kenntnis oder Anwendung ethischer Theorien oder eines Begriffsrahmens aus der Philosophie relevant oder hilfreich? (c) Wo liegen die begründbaren Grenzen des autonomen Deliberierens? Wie sollten die Akteure die richtige Balance zwischen Konformität und Kritik bestimmen? In der täglichen Praxis ist für Einzelne weder kognitiv möglich noch vernünftig, die in der Gemeinschaft übereinstimmend akzeptierten Normen vor jeder Anwendung zu hinterfragen. Ein gewisser Grad von automatisierter Konformität ist bei der Anwendung und Befolgung von Normen also pragmatisch geboten, aber man sollte nicht konformistisch problematischen Entwicklungen der Praxis folgen. Diese normativen Fragen stellen sich aus der Innensicht der moralischen Praxis. In adoleszenten Gruppen sind sie omnipräsent, weil Jugendliche eigene, von den Vorgaben der Erwachsenen unabhängige soziale Praktiken explorieren. Aber die an diesem Fall gewonnenen Einsichten können helfen, andere sozialpsychologisch verwandte Phänomene ethisch zu diskutieren, zum Beispiel politischer Populismus oder Social-Media-Filterblasen. Die empirische Sozialpsychologie kann als empirische Disziplin normative Fragen dieser Art nicht beantworten. Zudem muss sie aus methodologischen Gründen schon bei der Beschreibung des Phänomens äußerst vorsichtig sein. Sie kann ihre Ergebnisse immer nur unter Vorbehalt weiterer Studien berichten und muss Interpretationen stets als vorläufig kennzeichnen. Für eine ethische Theorie, die aus der Reflexion und Systematisierung der lebensweltlichen moralischen Praxis entsteht, ist das kein Problem. Sie ist auch ohne wissenschaftliche Fundierung komplett – wenn auch immer revidierbar – und kann empirische Befunde nach und nach integrieren. Wenn wir unsere empirischen Ergebnisse in den begrifflichen Rahmen der philosophischen Theorie einordnen, werfen sie ein Schlaglicht auf die faktischen Mechanismen, die im fraglichen Bereich eine Rolle spielen, sie helfen zu gewichten, Gefahren und Vorteile zu sehen. Befunde der Psychologie stellen zugleich eine Herausforderung an die Spezifizierung philosophischer Theorie dar. Und letztlich werden es empirische Diszi-
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plinen wie Pädagogik oder Psychologie sein, die helfen, gut begründete Maßnahmen umzusetzen und zu evaluieren (etwa ein Bildungsprogramm, das moralische Urteilskompetenz fördert). Die Beobachtung, dass eine philosophische Theorie, die Gründe als handlungsleitend ansieht, empirische Befunde zur moralischen Urteilskompetenz eingliedern kann, ist an sich interessant – spricht sie doch für die Verträglichkeit der Theorie mit aktueller Wissenschaft. Darüber hinaus bildet diese Feststellung aber die Grundlage für eine fruchtbare Folgediskussion über empirische Hypothesen und Testmethoden und über die normative Forderung nach der Bildung moralischer Urteilskompetenz.
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Martin Mettin
12 Auf der Suche nach einem Kompass: Philosophieren mit Kindern als Beitrag zur humanen Bildung Abstract: Finding a Compass: Philosophy for Children as a Contribution to Human Education. This essay explores the guidance of young minds toward moral and intellectual autonomy and the paradox of developing an ‘inner compass’ without natural orientation. It emphasizes the development of critical thinking, moral sensitivity, and creativity in children. While traditional education often prioritizes external goals, this approach favors humanistic ideals aimed at self-determination and ethical decision-making, following the philosophy of Julian Nida-Rümelin. Through dialogues and activities, children are encouraged to question, reason, and reflect on complex concepts. The process combines logical and verbal skills with artistic approaches that enrich philosophical exploration. Ultimately, the goal is to empower children to navigate life’s complexities, foster autonomy, and contribute to society—a critical aspect of a humanistic education.
Einleitung Einen Kompass suchen, das klingt nach einer misslichen Lage, handelt es sich doch um ein Navigationsinstrument, das gerade bei einer Suchaktion helfen soll, indem es räumliche Orientierung verschafft. Wer einen Kompass erst finden muss, steckt demnach in einer paradoxen Situation. Wie soll man sich orientieren können, wenn man das Mittel dazu nicht zur Hand hat? Die Suche, um die es im Folgenden gehen soll, ist natürlich diejenige nach einem metaphorischen Kompass: eine Suche nach etwas, das Menschen im philosophischen Sinne Orientierung gibt. Unsere Alltagssprache kennt hierfür das Bild vom moralischen Kompass. Damit ist die Fähigkeit eines Subjekts gemeint, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden und moralisch angemessen zu handeln. Es geht also gewissermaßen um einen inneren Wegweiser, der Einstellungen, Überzeugungen, Werturteile und ethische Prinzipien umfasst, die es einer Person ermöglichen, moralische Probleme zu reflektieren und eigenes Handeln entsprechend auszurichten und zu rechtfertigen. Darüber hinaus ist ein solcher innerer Kompass auch für andere existenzielle Belange relevant, etwa für die Frage danach, wie wir unser eigenes Leben gestalten wollen oder wie wir menschliches Miteinander verstehen. Eng damit verbunden sind Angelegenheiten der Erkenntnis, beispielshttps://doi.org/10.1515/9783111433233-013
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weise die Frage danach, was wir wissen können, aber auch, wo die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit liegen, worin sich Wissen und Glauben unterscheiden. Ein solcher innerer Kompass betrifft mit anderen Worten die großen Fragen der Philosophie, wie sie in stilprägender Weise Immanuel Kant formulierte (vgl. Kant 1978b, A 25). Auch Kant bemüht in diesen Zusammenhängen die Metapher des Kompasses, allerdings eher beiläufig. So spricht er in seiner Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohn und im Einspruch gegen schwärmerische Religiosität von einem „reinen Vernunftglauben“ als „Wegweiser oder Kompaß“, der im Grenzgebiet zwischen Theologie und Philosophie zwischen wissbaren und nur glaubbaren Gegenständen zu unterscheiden hilft (Kant 1978a, A 320). Und in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten attestiert Kant auch dem „gemeinen“, also nicht nur dem philosophisch geschulten Verstand eine „Menschenvernunft“, die in sich selbst den kategorischen Imperativ vorfindet und damit gleichsam einen „Kompasse in der Hand“ hat, um „zu unterscheiden, was gut, was böse, pflichtgemäß oder pflichtwidrig sei“ (Kant 1974, A 20–21). Welchen Stellenwert diese Metapher im Œuvre Kants hat, soll hier nicht das Thema sein. Vielmehr möchte ich einer Frage nachgehen, die bereits in der misslichen Ausgangslage anklingt: wie wir nämlich Orientierung gewinnen können, wenn wir noch gar nicht über die Mittel zur Orientierung verfügen. Gegenstand sind mithin pädagogische Probleme im Kontext menschlicher Entwicklung und Bildung. Dass im menschlichen Entwicklungsprozess, wenn es etwa um ‚Wertebildung‘ geht, kein Instrument zur räumlichen Orientierung benötigt wird, liegt auf der Hand. Paradox bleibt diese Situation gleichwohl. Denn keine seriöse Theorie würde behaupten, dass Menschen mit einer fertigen Weltorientierung geboren werden. Vielmehr gehen die meisten Ansätze davon aus, dass sich ein ‚innerer Kompass‘ erst sukzessive herausbildet, und zwar durch persönliche Erfahrungen, familiäre, soziale und kulturelle Einflüsse, religiöse oder ethische Lehren, schließlich vielleicht auch durch philosophische Prinzipien. Und natürlich sind auch zahlreiche andere Faktoren wie psychologische Aspekte oder politische Rahmenbedingungen an diesem Formungsprozess beteiligt. Gerade in dieser Gemengelage sind die pädagogischen Schwierigkeiten unübersehbar: Mit welchen Mitteln kann man den Bildungsprozess von Heranwachsenden auf eine Weise begleiten, dass sie einen verlässlichen ‚inneren Kompass‘ ausbilden, also selbst denken lernen? Oder anders gefragt: Wie gelangt man zur Orientierung, ohne sie schon zu haben? Die folgenden Überlegungen wollen sich auf einen kleinen Ausschnitt dieses schier grenzenlosen Themas beschränken. Sie gehen von einem durchaus normativen Bildungsverständnis aus, nämlich dem einer – mit Julian Nida-Rümelin gesprochen – humanen Bildung, deren Grundzüge im ersten Abschnitt skizziert werden. Sodann soll eine Phase des Bildungsprozesses in den Blick genommen
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werden, die in der Philosophie und ihrer Didaktik zumeist nicht im Mittelpunkt steht, nämlich die Kindheit und insbesondere das Grundschulalter. Entgegen der verbreiteten Annahme, dass Kinder kognitiv noch nicht zum Philosophieren in der Lage seien, lässt sich mit Blick auf die Praxis zeigen, dass es sehr wohl Sinn macht, Kinder schon früh an philosophisches Denken heranzuführen. In einem abschließenden Teil wird deutlich, dass das Philosophieren mit Kindern im Sinne einer humanen Bildung auch dazu beitragen kann, verkürzte Rationalitätskonzepte zu korrigieren, wobei sich vermeintliche Umwege als wertvolle Bereicherung erweisen.
1 Bildungsziele Aktuelle Schuldebatten erwecken nicht selten den Eindruck, dass es vor allem um externe Bildungsziele geht. Drohender oder bereits vorhandener Fachkräftemangel, eine absehbare Pensionierungswelle, schlecht auf den Arbeitsmarkt und die dort geforderten Kompetenzen ausgebildete Schulabsolventinnen und -absolventen: Bildung scheint besonders dort ein Problem, wo sie nicht den einsatzbereiten homo oeconomicus hervorbringt. Dieses Bild ist sicherlich zugespitzt, aber die Diskussionen der letzten Jahre, die besonders nach Veröffentlichung der jeweiligen PISAStudienergebnisse der OECD aufflammen, haben häufig einen solchen Tenor. Das schlechte Abschneiden des deutschen Bildungssystems wird insbesondere als Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung in Zeiten globaler Arbeitsmärkte thematisiert (vgl. ZEIT online 2023). Dass mit verpassten Bildungschancen jedoch immer auch individuelle Entwicklungsmöglichkeiten auf der Strecke bleiben, ist weniger laut zu hören. Das ist keineswegs verwunderlich, denn Bildung, ihre Ideale, Programme und Institutionen, finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern sind mit der jeweiligen Gesellschaft verwoben: „Jede Bildungsanstrengung offenbart ein Menschenbild, unabhängig davon, ob dies den Akteuren bewusst ist. […] Die politische Bildungsanstrengung offenbart eine Vorstellung dessen, welche Persönlichkeitsmerkmale sie bevorzugt, welche Fähigkeiten sie entwickeln möchte und welche Fertigkeiten sie für unverzichtbar hält.“ (Nida-Rümelin 2018, 201) Das ökonomische Menschenbild, das sich auch in der Auswahl der in den PISA-Studien untersuchten Kompetenzen zeigt – abgefragt werden primär Lesekompetenz sowie mathematische und naturwissenschaftliche Fähigkeiten, mithin Kategorien, die unmittelbar arbeitsmarktrelevant sind –, bleibt in der Regel implizit und wird kaum offen diskutiert. Bildung in einem emphatischen Sinne bedeutet jedoch weit mehr. Die humanistische Tradition etwa versteht hierunter die Entfaltung sämtlicher Potenziale,
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wobei der Bildungsprozess ein intrinsisches und zugleich höchst normatives Ziel hat. Nida-Rümelin formuliert dieses Ziel folgendermaßen: Der Kern der Autorschaft, das Selbstverständnis als entwickelte moralische Person, ist die Fähigkeit, Gründe abzuwägen und aufgrund dieser Abwägung zu handeln, also Urteilskraft und Entscheidungsstärke zu besitzen. Das unvollendete Projekt der Aufklärung besagt, die Bildung ganz auf das Ziel einer freien, autonomen Person auszurichten. Bildung soll nicht Untertanen schaffen, Bildung soll nicht das Funktionieren der Ökonomie sicherstellen, Bildung soll keinen ideologischen Zielen dienen, sondern Bildung ist der Weg zur autonomen, selbstbestimmten Existenz. Das oberste Bildungsziel ist menschliche Freiheit. (Nida-Rümelin 2018, 239)
Nimmt man dieses Bildungsziel ernst, so erscheint die nach der Veröffentlichung der letzten PISA-Ergebnisse im Dezember 2023 diskutierte Option, den Unterricht in den Fächern Deutsch, Mathematik und Naturwissenschaften auf Kosten anderer Fächer wie Kunst und Musik sowie der wertebildenden Fächer (Ethik und Religionsunterricht) auszubauen, geradezu absurd. Besonders in diesen vermeintlichen Nebenfächern können Kinder und Jugendliche ihre Persönlichkeit erkunden und entwickeln. Zugespitzt formuliert: Wenn ich nicht weiß, wer ich sein oder werden möchte, warum sollte ich dann einen inneren Antrieb dafür entwickeln, mir Kompetenzen in den Naturwissenschaften sowie Lesen, Schreiben oder Rechnen anzueignen? Bin ich hingegen persönlich motiviert, dann fällt es mir auch leichter, mit Herausforderungen und Widerständen umzugehen, die jeder Bildungsprozess mit sich bringt. Nur wenn Bildung vom Ziel der autonomen Person her gedacht wird, erfüllt sie nicht nur den Sinn, der ihrem Begriff innewohnt, sondern hat überhaupt Aussicht auf Erfolg. Darin behält auch das Rousseau’sche Bildungsverständnis seine Gültigkeit, nämlich die „normative[] Idee, wonach man den Kindern für ihre eigenständige Entwicklung Spielraum geben sollte, sie nicht abrichten, sondern sich entwickeln lassen sollte“ (Nida-Rümelin 2018, 209). Doch wie lässt sich ein solches Bildungsideal in die pädagogische Praxis umsetzen? Hier lohnt ein Blick in das Schulfach Humanistische Lebenskunde,¹ da es sich auf ein vergleichbares humanistischen Bildungsverständnis beruft, wie es Nida-Rümelin beschreibt (vgl. Nida-Rümelin 2013). Humanistische Lebenskunde wird seit 1984 in Berlin und seit 2007 auch in Brandenburg unterrichtet, aktuell nahezu ausschließlich im Grundschulbereich (erste bis sechste Klasse). Als weltanschauliches Fach ist es dem Religionsunterricht gleichgestellt, wobei es als säkulares Unterrichtsfach eine weltlich-humanistische Lebensauffassung vertritt. Nach dieser Auffassung übernehmen Menschen die alleinige Verantwortung für ihr Denken 1 Die Angaben in diesem und dem folgenden Abschnitt beziehen sich auf den Rahmenlehrplan für den Unterricht Humanistische Lebenskunde Jahrgangsstufen 1–10 (HVD 2024).
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und Handeln, ohne sich auf religiöse Instanzen berufen zu müssen. Für den weltlichen Humanismus gibt es keinen vorbestimmten Sinn des Lebens, wobei aus dieser Überzeugung geschlussfolgert wird, dass Menschen ihrem Leben selbst einen Sinn geben können. Die Auseinandersetzung mit Sinn- und Moralfragen ist daher der Dreh- und Angelpunkt des Unterrichtsfachs. Diese Fragen sollen Schülerinnen und Schüler dazu motivieren, eine eigene ethische Haltung und Reflexionsfähigkeit zu entwickeln und zugleich eine gewisse Orientierung im Leben zu gewinnen; sie sollen gewissermaßen jenen normativen Kompass finden, der für die Autorschaft im eigenen Leben unerlässlich ist. Sinn- und Moralfragen sind zweifellos philosophische Fragen: Sie zielen auf etwas anderes als die Vermittlung von Sachwissen, im Unterschied etwa zum Sachkundeunterricht in der Grundschule. Bei philosophischen Fragen gibt es kein einfach überprüfbares Richtig oder Falsch. Die philosophische Frage ‚Was ist Glück?‘ hat eine andere Qualität als beispielsweise die Frage im Deutschunterricht ‚Wie schreibt man das Wort Glück?‘. Es kommt hier stärker auf eigenes Urteilen und Begründen an, etwa auf den Aspekt, was Glück für mich bedeutet. Eine solche Sinnfrage ist in besonderer Weise mit der eigenen Person verbunden: Man ist gezwungen, eine eigene Haltung zu ihr einzunehmen oder zu entwickeln. Ebenso verhält es sich mit ethischen Aspekten, wenn etwa die Frage zur Diskussion steht, ob ich für das Glück anderer Menschen oder das Wohlergehen anderer Lebewesen verantwortlich bin. Es ist lang etablierte Praxis des Humanistischen Lebenskundeunterrichts, schon Kindern genau solche Fragen zuzumuten. Laut Rahmenlehrplan des Faches dienen Sinn- und Moralfragen der Themenerschließung und das gemeinsame Philosophieren über solche Fragen ist eine entscheidende Arbeitsweise im Unterricht. Hierin unterscheidet sich Humanistische Lebenskunde von Fächern, die primär Sachwissen oder Techniken wie das Schreiben vermitteln sollen.
2 Können Kinder philosophieren? Mit der Praxis, schon Kindern philosophische Fragen zuzutrauen, kann sich die Humanistische Lebenskunde zwar auf namhafte Befürworter des Philosophierens mit Kindern berufen. Gleichwohl ist die Frage, ob Kinder überhaupt philosophieren können, durchaus umstritten. Nicht wenige Philosophinnen und Philosophen sind der Meinung, dass Kindern die nötigen kognitiven, sprachlichen und entwicklungspsychologischen Voraussetzungen zum philosophischen Nachdenken fehlen. So argumentiert die Philosophiedidaktikerin Caroline Heinrich in der von ihr mitherausgegebenen Kritik der Kinderphilosophie, dass es „die geistige Haltung des Kindes“ sei, „sich um Wahrheit und Wirklichkeit von Welt und Denken nicht zu
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kümmern, sondern Welt durch Einbildungskraft zu erschaffen“ (Heinrich 2020, 110). Darin beruft sie sich unter anderem auf die Arbeiten Jean Piagets, die ansonsten eher als Argument für das Philosophieren mit Kindern gelesen werden. Heinrichs Haupteinwand besteht darin, dass kindliches Denken grundsätzlich anders strukturiert sei als philosophisches Denken, das gleichermaßen auf Logik und Widerspruchsgeist basiere. Im gleichen Band gibt auch Axel Honneth zu bedenken, dass Philosophie „im ernsthaften Sinne […] erst dort […] beginn[t], wo nicht einfach nur ‚große‘, unsere Existenz im Ganzen betreffende Fragen gestellt werden, sondern wo gut begründete Zweifel an unseren Antworten auf diese Fragen mit der Absicht vorgebracht werden, bessere Antworten zu liefern.“ (zitiert nach Berner-Zumpf 2020, 94) Der Kritik an der Kinderphilosophie ist sicherlich zuzugestehen, dass man kindliche Zugänge zum Philosophieren nicht überstrapazieren oder gar romantisieren sollte. Wenn gelegentlich behauptet wird, dass Kinder die besseren Philosophinnen oder Denker seien, weil ihre Gedankengänge noch nicht von den Konventionen der Erwachsenenwelt zugerichtet seien, dann ist das ein verqueres Bild. Aber Philosophieren ist etwas anderes als Philosophie. Ersteres ist eine Tätigkeit, die als eigenständiges Denken im Austausch mit anderen bezeichnet werden kann. Letzteres ist eine wissenschaftliche Disziplin mit langer Geschichte und einer höchst ausdifferenzierten Fachkultur, die man selbstverständlich im Kindesalter nicht vollständig überblicken kann. Dennoch gibt es gute Gründe, Kinder frühzeitig an eine philosophische Haltung und das eigenständige Denken im Gespräch mit anderen heranzuführen. Eindrucksvoll haben das Julian Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld in ihrem Buch Der Sokrates-Club dargestellt. Hier werden philosophische Gespräche mit Kindern zu unterschiedlichen Themen wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Glück oder Identität dokumentiert und philosophisch eingeordnet. Dabei zeigt sich nicht nur, dass Kinder „bereits sehr früh logische Regeln“ in einem basalen Sinne beherrschen, sondern auch, dass das „philosophische Gespräch mit Kindern […] die Entwicklung der Persönlichkeit fördern und zum Beispiel dazu beitragen [kann], den kindlichen Animismus“ sukzessive hinter sich zu lassen (Nida-Rümelin und Weidenfeld 2012, 11–12). Auch können solche Gespräche „dazu beitragen, den kindlichen Egoismus zu überwinden“, indem etwa mit Blick auf Gerechtigkeitsfragen „eine moralische Haltung des Respekts gegenüber anderen“ sowie „eine Praxis der Rücksichtnahme“ eingeübt wird (Nida-Rümelin und Weidenfeld 2012, 13). All dies sind philosophische Tugenden, die für sich genommen natürlich noch keine Philosophie im engeren Sinne ergeben, die aber untrennbar zur Philosophie dazu gehören. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass der universalistische Grundzug von Philosophie darin besteht, anzuerkennen, dass alle Menschen philosophische Gedanken und Erfahrungen haben können und dass es
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entsprechend wünschenswert ist, Kindern so früh wie möglich einen Weg in diese Welt zu eröffnen. Ursprünge eines solchen Philosophierens mit jungen Menschen finden sich bereits in der griechischen Antike, insbesondere in den berühmten Dialogen des Sokrates, wie sie von Platon überliefert wurden. Seine Gespräche mit der Jugend Athens zielen darauf, durch gemeinsames Nachdenken Wahrheit zu finden. Sokrates versteht seine eigene Rolle dabei dezidiert pädagogisch und bezeichnet seine Tätigkeit als ‚Hebammenkunst‘ (gr. Maieutik), wie sie durch den Theaitetos als Dialog über die Erkenntnis bekannt geworden ist: Ja, auch hierin geht es mir eben wie den Hebammen, ich gebäre nichts von Weisheit, und was mir bereits viele vorgeworfen, daß ich andere zwar fragte, selbst aber nichts über irgend etwas antwortete, weil ich nämlich nichts Kluges wüßte zu antworten, darin haben sie recht. (Platon 1990, 150a)
Selbstverständlich handelt es sich hierbei um eine rhetorische Figur. Sokrates muss über ein umfangreiches Wissen verfügen, um gemeinsam mit seinem Gesprächspartner die Kriterien von Wissen und Erkenntnis zu erarbeiten, wie es im Theaitetos beschrieben wird. Die rhetorische Figur betont hier allerdings eine sehr wesentliche Sache, die für die Praxis des Philosophierens als ‚Selberdenken‘ im Gespräch mit anderen höchst bedeutungsvoll ist. Wenn Sokrates selbst nichts hervorbringt, dann liegt das Augenmerk auf den Gesprächspartnern, die ihre eigenen Gedanken ‚zur Welt bringen‘ dürfen, indem sie geschickt darin angeleitet werden. Dadurch werden sie befähigt, eigenständig und zukünftig ohne fremde Unterstützung zu denken. Dieses pädagogische und philosophische Fragenstellen ist äußerst anspruchsvoll. Man muss gut zuhören und spontan sein, um treffende Fragen zu stellen, die das Gespräch philosophisch weiterbringen. Dies gilt grundsätzlich für Erwachsene, die mit Kindern philosophieren. Mit einer gewissen Zurückhaltung und Zurücknahme eigener vermeintlicher Gewissheiten können Erwachsene Kindern im besten Fall eine dialogische Grundhaltung vorleben. In Bezug auf den Theaitetos-Dialog bringt Nida-Rümelin dies folgendermaßen auf den Punkt: „Zu diesem Ethos“, nämlich einer verständigungsorientierten Rede, „gehört der Respekt gegenüber dem Gesprächspartner, seine Anerkennung als gleichberechtigter Partner in der Kommunikation und die Bereitschaft, Argumente zu prüfen und im Falle eines positiven Ergebnisses diese anzunehmen. […] Es zählt nur die dem Menschen eigene Erkenntnisfähigkeit, seine Rationalität“ (Nida-Rümelin 2018, 216). Diese Sache des Sokrates wurde von vielen aufgegriffen, so auch von Immanuel Kant, der ebenfalls der Meinung war, dass man Kinder früh ans Philosophieren
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heranführen sollte. In seinem eingangs bereits zitierten Aufsatz Was heißt: sich im Denken orientieren? schreibt Kant: Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung. […] Aufklärung in einzelnen Subjekten durch Erziehung zu gründen, ist also gar leicht; man muß nur früh anfangen, die jungen Köpfe zu dieser Reflexion zu gewöhnen. (Kant 1978a, A 330)
Auch Kant betont hier die Förderung des Selbstdenkens, was eine Übungssache und somit eine Form philosophischer Praxis darstellt, mit der man früh beginnen sollte. Auch wenn die ersten Schritte auf diesem Weg aus Erwachsenenperspektive klein erscheinen mögen, wäre es falsch, deren Wirkung zu unterschätzen. Die ernsthaft an ein Kind gerichtete Nachfrage, was es mit seiner Aussage meint, und die Einladung, eine Begründung für diese Aussage vorzutragen, können dazu führen, dass sich das Kind als Gesprächspartner ernstgenommen fühlt und versteht, dass man sich mit Hilfe der eigenen Vernunft verständigen kann. Sich im Austausch mit anderen als selbstdenkender Mensch zu erfahren, stiftet Orientierung. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, verwendet Kant genau in diesem Kontext die Metapher der Vernunft als Wegweiser oder Kompass, mit dem sich der Mensch orientiert. Dabei geht Kant vom Wortsinn aus: „Sich orientieren heißt, in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont teilen) die übrigen, namentlich den Aufgang zu finden.“ (Kant 1978a, A 307) Orientieren bedeutet entsprechend zunächst die Ausrichtung nach dem Sonnenstand beziehungsweise nach dem Ort des Sonnenaufgangs (= Orient). Diese Art der Ortsbestimmung gelingt für Kant „bei allen objektiven Datis am Himmel doch nur durch einen subjektiven Unterscheidungsgrund“, nämlich durch ein „Unterscheidungsvermögen durchs Gefühl für die rechte und linke Hand“ (Kant 1978a, A 308). In philosophische Terminologie übertragen zeigt sich hier die Doppeldeutigkeit von Vernunft als gleichermaßen subjektiv wie objektiv: Wenn wir Vernunft als subjektive Leistung, als Selbstdenken begreifen, verstehen wir zugleich, dass auch unser Gegenüber ein solchermaßen selbstdenkendes Wesen ist. Vernunft ist ein Kompass, weil sie individuelles ‚Instrument‘ und zugleich allgemeines Koordinatensystem ist. Wir verstehen uns als Teil der menschlichen Spezies, weil wir unser Gegenüber als genauso vernunftbegabt erfahren wie uns selbst (das ist die objektive Seite der Orientierung). Das können wir aber nur, indem wir erkennen, dass Vernunft auf die gleiche Weise zu uns gehört wie unsere Körperteile (das ist die subjektive Seite der Orientierung). Dies zu erfahren, ermöglicht Orientierung im und durch das Zusammenleben, in und durch Vernunft.² 2 Ähnlich deutet Martens diese Textstelle: „Dabei ist ‚sich im Denken orientieren‘ durchaus dop-
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3 Wege zur humanen Bildung Es sind die zuvor dargestellten Traditionslinien, auf die sich der Humanistische Lebenskundeunterricht berufen kann, wenn er Kinder mit den Mitteln gemeinsamen Philosophierens dazu ermutigen möchte, einen inneren Kompass auszubilden. Die Schülerinnen und Schüler werden darin bestärkt, selbstbestimmt zu entscheiden, welche Wege sie einschlagen wollen. Um das Bild noch einmal aufzunehmen: Der Kompass zeigt die Himmelsrichtungen an, so gewinnen wir einen Überblick. Aber navigieren und konkrete Richtungsentscheidungen treffen, das müssen wir jeweils selbst leisten. Damit wir das tun können, müssen wir auch lernen, Dinge zu hinterfragen, also reflexions- und kritikfähig werden. Der Lebenskundeunterricht operiert insofern in einem Spannungsfeld aus Selbstbestimmung und Verantwortung, aus Autorschaft und respektvollem Miteinander. In diesem Kontext lassen sich konkrete Bildungsziele für das Philosophieren ableiten: 1. Schulung der Sprachfähigkeit und Sprachförderung: Erziehung zum Selbstdenken ist immer auch eine „Erziehung zur Mündigkeit“ (Adorno 1971). Wörtlich genommen heißt das, den Gebrauch der eigenen Stimme zu erlernen. Selbstbestimmung bedeutet nämlich auch, als sprechende Person wahrgenommen zu werden. Philosophische Gespräche können Kindern, die sonst eher zurückhaltend sind, Mut machen, ihre eigene Position zu vertreten. 2. Urteilsfähigkeit und kritisches Denken: Ein weiteres Ziel besteht darin, eine ‚gesunde Skepsis‘ einzuüben sowie argumentieren und begründen zu lernen. Das bedeutet, das logische Denken und das Unterscheidungsvermögen zu schulen, auch in epistemischer Hinsicht: Wie erkenne ich, ob etwas eine bloße Behauptung oder eine bewiesene Tatsache ist? Zwischen Fakten und Fiktion, zwischen Wahrheit und Meinungen unterscheiden zu können, erweist sich mit Blick auf unsere Gegenwart, die von einigen mit Sorge bereits als post-faktisches Zeitalter beschrieben wird, als höchst relevante Fähigkeit. 3. Moralische Sensibilität: Gerade im Bereich der Ethik geht es nicht allein darum, eigenes Handeln reflektieren und begründen zu können. In moralischen Konfliktfällen ist es eine ebenso wichtige Fähigkeit, solche Konflikte überhaupt wahrzunehmen und einen humanen Umgang mit ihnen zu lernen.
peldeutig: zum einen bedeutet es, im Bereich dessen, was wir meinen oder was wir hören und gesagt bekommen, eine Gesamtperspektive (nach Kant: einen ‚Kompaß‘) zu gewinnen; zum anderen bedeutet es, diese Gesamtperspektive vernünftig, durch Selbstdenken zu gewinnen und sich insgesamt auf das eigene, freie Denken, nicht aber auf äußere Autoritäten zu verlassen, beginnend mit kleinen Schritten begrifflicher und argumentativer Differenzierungen im Blick auf die Vielfalt und Einheit von Erfahrungen und Phänomenen.“ (Martens 2013, 57–58)
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Nur weil mein Gegenüber sich in einem Konflikt anders positioniert als ich, muss diese Person noch keineswegs unmoralisch sein oder meine eigene Position die richtige. Moralische Sensibilität fördern heißt deshalb auch, anderen zuzuhören. Eine solche Schulung der Empathiefähigkeit ist angesichts gesellschaftlicher Spannungen und Konflikte ebenfalls hoch aktuell (vgl. Hochschild 2017). Staunen: Ein weiteres Ziel des Philosophierens mit Kindern ist schließlich, Neugierde, Phantasie und Kreativität zu fördern und aufrechtzuerhalten. Schon Sokrates bestimmte das Staunen als einen Anfang der Philosophie. In der Schule, die stark auf Kompetenzerwerb und prüfbare Leistungen ausgerichtet ist, stellt diese Seite der Philosophie ein wichtiges Korrektiv dar.
Wie sieht das Unterrichtsgeschehen konkret aus, mit welchen Methoden werden diese Ziele im Humanistischen Lebenskundeunterricht verfolgt? Nach meiner Beobachtung abreiten viele Lehrkräfte mit philosophischen Impulsen. Diese können Fragen beinhalten, die im Alltag der Kinder verankert sind, wie zum Beispiel ‚Was macht Freundschaft für Dich aus?‘ oder ‚Muss man immer die Wahrheit sagen?‘. Es werden aber auch visuelle Impulse wie Bildkarten und illustrierte Kinderbücher oder aber kurze Erzählungen und Geschichten verwendet. Ausgehend von solchen Impulsen entwickeln sich dann Unterrichtsgespräche, die zwanglos den Prinzipien eines sokratischen Dialogs folgen. Da Humanistische Lebenskunde vor allem im Grundschulbereich unterrichtet wird, füllen solche Gespräche selten eine ganze Schulstunde. Deshalb kombinieren die meisten Lehrkräfte Gesprächseinheiten mit anderen Methoden wie Rollenspielen zu ethisch brisanten Fragen oder mit künstlerischen Elementen, beispielsweise Bildermalen zu Themen wie Zukunftsvorstellungen oder Identität, Vielfalt und Gemeinsamkeiten. Sind solche spielerischen Zugänge wie Bildermalen, Rollenspiele und vieles mehr überhaupt noch philosophisch zu nennen? Oder ist Philosophie nicht eher ein Geschäft des Denkens und Sprechens, die Grundschule folglich doch der falsche Ort fürs Philosophieren? Die Förderung kognitiver und logischer Fähigkeiten bleibt ein wichtiges Ziel des Philosophierens mit Kindern. Allerdings können auch künstlerische Zugänge sehr philosophisch sein. In diesem Sinne hat bereits Ekkehard Martens, einer der Pioniere des Philosophierens mit Kindern im deutschen Sprachraum, verschiedene philosophische Verfahrensweisen aufgeschlüsselt, die jeweils eigene Berechtigung im Schulkontext haben. Neben den sprachlich-analytischen, auf Logik und Diskurs ausgerichteten Elementen ist nämlich auch ein phänomenologischer Zugang denkbar. Dieser rückt unsere Wahrnehmung und damit die sinnlichen Qualitäten der Welt in den Fokus. Dabei spielt der hermeneutische Ansatz, also die auslegende Deutung unserer Wahrnehmungen, eine wichtige Rolle. Die Frage, was wir wahrnehmen und wie wir das Wahrgenommene beurteilen und verstehen können, ist
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eine genuin philosophische Frage, die sich nicht zuletzt in einem frühen Entwicklungsstadium nutzbar machen lässt, wenn Kinder dabei sind, ihre eigenen Sinne zu erkunden. Darüber hinaus kennt die Philosophie auch spekulative Ansätze, die sich beispielsweise damit beschäftigen, welche wünschenswerten Vorstellungen von menschlicher Zukunft denkbar sind. Zudem ist das ganze Spektrum philosophischer Gedankenexperimente und -spiele hierfür eine große Inspirationsquelle (vgl. Martens 2012). Wie bereits erwähnt, dürfen die logischen und dialogischen Aspekte nicht vernachlässigt werden. Gleichzeitig lassen sich durch eine Stärkung des phänomenologisch-hermeneutischen und des spekulativen Verfahrens Wege des Philosophierens mit Kindern beschreiten, die auch in solchen Unterrichtsgruppen gangbar sind, in denen das Unterrichtsgespräch schwerfällt. Haptische, visuelle und auditive Methoden und Impulse bereichern nicht nur das philosophische Nachdenken, sondern ermöglichen die Gesprächsführung in manchen Gruppen überhaupt erst. Zahlreiche Bilderbücher, die implizit oder explizit philosophische Themen behandeln, bieten einen großen Fundus, um mit Kindern ins Gespräch zu kommen und sie zum Nachdenken anzuregen. Bei auditiven Materialien besteht hier allerdings Nachholbedarf (vgl. Mettin 2021). Solche künstlerischen Elemente mögen manchen als Umweg zum eigentlichen Philosophieren erscheinen – oder gar als ein Abweg, der beweist, dass die kindliche Welt und das Philosophieren unvereinbar sind (so zumindest Heinrich 2020). Mit Nida-Rümelins Konzept einer humanen Bildung lässt sich jedoch argumentieren, dass durch künstlerische Zugänge gerade das Versprechen eines bildungsprogrammatischen Humanismus eingelöst wird, der zwar „auf die Vernunftfähigkeit der Menschen“ vertraut, sich aber zugleich „vom Rationalismus darin [unterscheidet], dass er die Rationalität nicht absolut setzt“ (Nida-Rümelin 2018, 225). Ein solches Bildungsprogramm kann sich auf wichtige Vorläufer berufen: „Der Renaissance-Humanismus entdeckte als einen wesentlichen Aspekt einer Kultur der Freiheit die menschliche Empathiefähigkeit und führt die von Platon noch verachtete Poesie als Medium menschlicher Vervollkommnung ein.“ (Nida-Rümelin 2018, 234) Ohne in postmoderner Manier behaupten zu müssen, Rationalität sei untauglich, um unsere Welt zu verstehen, lässt sich von den Künsten lernen, dass gleichberechtigt neben Logik und Verstand andere, nämlich ästhetische Formen menschlichen Wissens existieren. Kunst- und Musikunterricht lehren deshalb auch etwas für das Philosophieren mit Kindern. Niemand würde von Kindern verlangen, dass sie bereits die ganze Kunst- oder Musikgeschichte kennen müssen, um über Bilder oder Musikstücke sprechen zu dürfen. Zwar erschließt sich das in solchen Werken enthaltene ästhetische Wissen vollumfänglich wohl nur nach langem Studium. Dennoch ist es Aufgabe humaner Bildung, Kindern erste Wege in diese Welt zu eröffnen. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Philosophieren mit Kindern.
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Selbstverständlich handelt es sich hierbei nicht um Philosophie im engen Sinne, gleichwohl können Kinder hier wichtige Elemente philosophischer Bildung erfahren: basale analytische und logische Fähigkeiten, moralische Urteilskraft und Sensibilität, Neugierde, Skepsis und nicht zuletzt Kreativität. Auf die Frage, wie man einen inneren Kompass ‚finden‘ kann, ohne ihn schon zu besitzen, gibt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik die Antwort, dass man nur gut werden kann, indem man Gutes tut: eine Frage der Übung also. Dass es hierbei zunächst der Anleitung durch Erziehung bedarf, spricht keineswegs dagegen, diesen Weg zu beschreiten. Im Gegenteil, bereits mit den ersten kleinen Schritten beginnt der lange Weg zur Autonomie und humane Erziehung hat nur dann einen Sinn, wenn sie sich auf dieses sukzessive Hinausführen in die Selbstbestimmung einlässt. Aristoteles formuliert dies so: „Es kommt also nicht wenig darauf an, ob man schon von Kindheit an so oder so gewöhnt wird; es hängt viel davon ab, ja sogar alles.“ (Aristoteles 2006, 1103b). Wenn Schülerinnen und Schüler nicht nur für den Arbeitsmarkt ausgebildet, sondern zu mündigen Personen gebildet werden sollen, dann wäre es fatal, im Schulunterricht nur Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften zu vermitteln. Ziel humaner Bildung ist die selbstbestimmte Person, die Nida-Rümelin (durchaus mit Anklang an Aristoteles) folgendermaßen charakterisiert: Die angemessenen Gefühle in bestimmten Situationen zu entwickeln, ist Voraussetzung für die Verständigung mit anderen, […] ist aber auch Bedingung der eigenen Freiheit. Wer seinen Augenblickneigungen ausgeliefert ist, wer sein Gefühlsleben nicht ‚unter Kontrolle‘ hat, wer in Situationen, in denen Trauer angemessen ist, Spottlust entwickelt, […] wer Angst hat zu widersprechen, wer keine Dankbarkeit, kein Verzeihen, kein Mitleid kennt, der wird kein gutes, humanes Leben führen. (Nida-Rümelin 2018, 244–245)
Philosophieren mit Kindern ist die Einübung eines solchen humanen Lebens.
Bibliographie Adorno, Theodor W. 1971. Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker, hrsg. von Gerd Kadelbach. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Aristoteles. 2006. Nikomachische Ethik, hrsg. und übers. von Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Berner-Zumpf, Daniela, und Axel Honneth. 2020. „Der Philosoph und das Kind im Ringen um Anerkennung. Acht Fragen an Axel Honneth.“ In: Caroline Heinrich, Daniela Berner-Zumpf und Michael Teichert (Hrsg.), ‚Alle Tassen fliegen hoch!‘ Eine Kritik der Kinderphilosophie, 102–126. Weinheim, Basel: Beltz.
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Heinrich, Caroline. 2020. „‚Philosophieren mit Kindern‘ – ein Angriff auf das Kind.“ In: Caroline Heinrich, Daniela Berner-Zumpf und Michael Teichert (Hrsg.), ‚Alle Tassen fliegen hoch!‘ Eine Kritik der Kinderphilosophie, 28–39. Weinheim, Basel: Beltz. Hochschild, Arlie Russel. 2017. Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten, übers. von Ulrike Bischoff. Frankfurt a. M., New York: Campus. Humanistischer Verband Deutschlands, Landesverband Berlin-Brandenburg KdöR (HVD). 2024. Rahmenlehrplan für den Unterricht Humanistische Lebenskunde Jahrgangsstufen 1–10. Berlin: HVD. Kant, Immanuel. 1974. „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.“ In: Werkausgabe Band VII, hrsg. von Wilhelm Weischedel, 7–102. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kant, Immanuel. 1978a. „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ In: Schriften zur Metaphysik und Logik 1, hrsg. von Wilhelm Weischedel, 267–383. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kant, Immanuel. 1978b. „Logik.“ In: Schriften zur Metaphysik und Logik 2, hrsg. von Wilhelm Weischedel, 417–582. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Martens, Ekkehard. 2012. Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik. Hannover: Siebert. Martens, Ekkehard. 2013. Philosophieren mit Kindern. Eine Einführung in die Philosophie. Stuttgart: Reclam. Mettin, Martin. 2021. „Aufklärung für Kinder im Radio. Walter Benjamins Hörfunksendungen als pädagogische Modelle … auch für die Gegenwart?“ In: Ralf Schöppner (Hrsg.), Herzensbildung und Urteilsfähigkeit – Elemente moderner humanistischer Bildung, 97–115. Aschaffenburg: Alibri. Nida-Rümelin, Julian, und Nathalie Weidenfeld. 2012. Der Sokrates-Club. Philosophische Gespräche mit Kindern. München: Knaus. Nida-Rümelin, Julian. 2013. Philosophie einer humanen Bildung. Hamburg: Edition Körber. Nida-Rümelin, Julian. 2018. Humanistische Reflexionen. Berlin: Suhrkamp. Platon. 1990. „Theaitetos.“ In: Platon, Werke Band 6, hrsg. von Gunther Eigler, übers. von Friedrich Schleiermacher, 1–218. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. ZEIT online. 2023. „Nach Pisa-Schock: Konsequenzen für die Schulen gefordert“, https://www.zeit.de/ news/2023-12/05/soeder-pisa-studie-ein-schlag-ins-gesicht-deutschlands (letzter Abruf 15. 03. 2024).
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13 Kooperation, Hirsche und der Wert von Institutionen Abstract: Cooperation, deer and the value of institutions. This paper delves into the application of game theory as a pivotal tool for addressing and analyzing philosophical inquiries, particularly within the realm of practical philosophy concerning the emergence of social contracts. A significant portion of the paper is dedicated to exploring whether the prisoner’s dilemma truly mirrors the structural essence of larger group interactions or societal dynamics. Therefore, the paper contrasts the prisoner’s dilemma with the stag hunt game to argue for the latter’s superior suitability in modeling social interactions that hinge on trust and mutual benefits, thereby challenging the traditional pessimism towards cooperative emergence implicit in the paradigm of the prisoner’s dilemma. Moreover, the examination extends to the ethical considerations surrounding cooperation failure, attributing such phenomena not solely to individual flaws but to the intricate decision-making frameworks and incentive structures. It draws upon Friedrich Hayek’s insights into the dichotomy between the moral microcosm of intimate communities and the impersonal macrocosm of modern society, exploring how atavistic intuitions developed for small-group interactions may falter in complex societal contexts.
Einleitung Im alltäglichen Leben sind wir typischerweise in viele Interaktionen mit anderen Menschen verwickelt. Wir koordinieren im Privaten, wer wann morgens Zugang zum Bad bekommt, wer sich um das Frühstück kümmert und viele weitere kleine und größere Dinge. Beim Bäcker bestellen wir die Ware, zahlen und gehen anschließend zufrieden unseren Geschäften nach. Im Großen und Ganzen laufen unsere alltäglichen Begegnungen im Privaten, aber auch außerhalb dessen, nach geregelten und erwartbaren Mustern ab. Auf den ersten Blick erscheint dies nicht sonderlich interessant, auf den zweiten Blick jedoch fast unglaublich und auf den dritten wieder offensichtlich. Aber der Reihe nach: Zumindest in den entwickelten Ländern während Friedenszeiten funktioniert das Zusammenleben und die Kooperation zum allgemeinen Vorteil außerordentlich gut – die oben aufgeführten Beispiele sind nur einige von tausenden menschlichen Interaktionen, auf deren Gelingen wir in unserer arbeitsteiligen Welt angewiesen sind. Wenn man nun behttps://doi.org/10.1515/9783111433233-014
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denkt (auf den zweiten Blick), dass fast allen dieser Interaktionen durchaus das Potential innewohnt, sich durch Täuschung, Schummelei oder Betrug einen persönlichen Vorteil zu verschaffen, so scheint es fast unglaublich, dass das System dennoch so gut funktioniert, wie es – empirisch – der Fall ist. Schließlich könnte der Bäcker versuchen, weniger Brötchen in die Tüte zu stecken, als bezahlt worden sind, oder der Kunde könnte wenig später zurückkommen und behaupten, es seien – entgegen der Tatsachen – zu wenige Brötchen in der Tüte und eine Entschädigung einfordern. Doch, wie Tullock (1985) treffend beschreibt: „Neither I nor the merchant worries particularly about this kind of behavior“ (Tullock 1985). Denn (auf den dritten Blick) verstehen wir, dass unsere Handlungen nicht isoliert im luftleeren Raum stattfinden, sondern vielmehr in situativen Kontexten eingebettet sind, welche wiederum in unterschiedlichen Rahmenbedingungen verortet sind. Wir sind uns – zumindest implizit – bewusst, dass wir in einer Welt leben, die von Institutionen, formellen wie informellen, dominiert ist und dies unsere Entscheidungen beeinflusst. Im weitesten Sinne also das, was Adam Smith die „discipline of continuous dealing“ (Smith 1766, 538) nennt, der Volksmund mit „Ehrlich währt am längsten“ beschreibt und im modernen Management-Sprech schlicht „Reputation“ genannt wird.
1 Spieltheorie, Kooperation und das Gefangenendilemma Zwischenmenschliche Interaktionen zu analysieren fällt unter anderem in den Bereich der Spieltheorie. Grundsätzlich geht es dabei um Kooperation und Defektion in strategischen Situationen unter rationalen Individuen. Anfänglich primär in der Disziplin der Ökonomie, insbesondere der Mikroökonomie, verankert, hat sich das durch die Spieltheorie inspirierte Denken weitläufig verbreitet. Analog zu anderen ökonomischen Konzepten hat es im Geiste eines ökonomischen Imperialismus auch entfernte Fachgebiete wie die Biologie oder die Informatik erreicht. Als formeller Beginn der Spieltheorie kann die Publikation des wegweisenden Werkes Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten (Theory of Games and Economic Behavior), verfasst von John von Morgenstern in Zusammenarbeit mit Oskar Morgenstern von 1944, gelten. Hier erkannten die Autoren die Anwendbarkeit des mathematischen Ansatzes zur Analyse ökonomischer Fragestellungen, was zu einer Art Fusion zwischen der mathematischen Theorie und ihrer wirtschaftswissenschaftlichen Anwendung führte. Überlegungen ähnlicher Art finden sich zwar avant la lettre bereits in Werken anderer Denker unter anderem bei Cournot und Stackelberg (Ökonomie) oder Hobbes, Hume und Rousseau – jedoch liegt diesen
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Überlegungen nicht der Anspruch zugrunde, eine allgemeine Theorie strategischer Interaktion zu entwickeln. Man kann in diesen Beschreibungen auch bereits eine Art informelle Spieltheorie sehen – insbesondere gilt dies für David Hume, der bereits im Treatise of Human Nature (1739) später formalisierte Ideen wie Gleichgewichtsanalysen, Informationsstände der Individuen und die Rolle und Entstehung von Konventionen treffend zu erörtern wusste. Erst ab 1950 bot allerdings das Nash-Gleichgewicht eine allgemeine und formelle Lösungsperspektive. In der Folge etablierte sich die Spieltheorie nach und nach als anerkannte Methodik in den Wirtschaftswissenschaften und gewann zunehmend an Bedeutung in den benachbarten sozialwissenschaftlichen Disziplinen. In den vergangenen Jahrzehnten haben Philosophen begonnen, Spieltheorie zur Beantwortung und Analyse philosophischer Fragestellungen zu nutzen – insbesondere in der praktischen Philosophie für die Untersuchung der Entstehung sozialer Verträge. Die Moral als Ergebnis individueller rationaler Entscheidungen ist dabei die Devise und die Spieltheorie ergo ein offensichtliches Werkzeug, denn schließlich modelliert ja gerade sie die Interaktionen rationaler Akteure. Ohne ins Detail gehen zu können, finden wir hier zwei grundlegende Ansätze. Der erste Ansatz modelliert Moral als Ergebnis einer einmaligen Wahl oder Verhandlung einer sehr großen hypothetischen Gruppe von rationalen Agenten, die als Entscheider, oft in einem modellierten Urzustand, grundlegende Regeln für das kooperative Zusammenleben erarbeiten bzw. finden oder entdecken. Diese einflussreiche Richtung ist vor allem mit den Arbeiten von John Rawls und dessen Werk A Theory of Justice von 1971 in den Vordergrund getreten. Aber auch Denker wie Harsanyi (Cardinal Welfare, Individualistic Ethics, and Interpersonal Comparisons of Utility), Buchanan (The Limits of Liberty) und Gauthier (Morals by Agreement) sind prominente Vertreter dieser Denkrichtung. Im Grunde geht es hier also um menschliche Kooperation und darum, wie diese entsteht, wie sie aufrechterhalten werden kann und wie ihre Früchte fair verteilt werden können. Die einzelnen Theorien der modernen Vertragstheorie zu beleuchten, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen – es ist an dieser Stelle auch gar nicht nötig. Denn unbestritten hat sich das Gefangenendilemma als der Prototyp eines Spiels durchgesetzt, welches das Problem der Kooperation scheinbar am deutlichsten sichtbar macht. Das Problem ist hier ganz salient die Diskrepanz zwischen den Konsequenzen eines rationalen Eigeninteresses und der allgemeinen Wohlfahrt. Das vermeintliche Paradox liegt also darin begründet, dass das rationale Eigeninteresse zu einer Situation führt, in der alle Teilnehmer als Gruppe betrachtet, schlechter dastehen, als wenn sie kooperiert hätten. In der politischen Philosophie erhebt sich das Gefangenendilemma somit als ein Manifest der kontrastierenden Interessen, das als Quintessenz menschlicher Interaktion betrachtet wird. Hier, in diesem akribisch ausbalancierten Spiel der Entscheidungen, kolli-
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dieren die Eigeninteressen mit den sozialen Wohlfahrtsanliegen auf eine Weise, die anscheinend das Interesse einer ganzen Generation von Denkern geweckt hat. Das Gefangenendilemma wird dabei – nach Binmore (2004) – als eine Art „Game of life“ konzeptualisiert, das die grundlegende Spannung zwischen individuellem Vorteil und gemeinsamem Nutzen illustriert: „A [w]hole generation of scholars swallowed the line that this trivial game embodies the essence of the problem of human cooperation“ (Binmore 2004, 63). Die meisten, die behaupten, dass das Gefangenendilemma etwas Wichtiges über die Moral veranschaulicht, scheinen überzeugt, dass sich die Grundstruktur des Spiels in Situationen widerspiegelt, mit denen größere Gruppen, vielleicht ganze Gesellschaften, konfrontiert sind. Diese letztlich empirische Frage ist dabei auch für die normative Betrachtung wichtig, da eine solch unglückliche Situation, wenn sie denn so vorläge, den Leviathan fast schon zur Notwendigkeit macht. Im folgenden Absatz wird der Frage nachgegangen, ob die verbreitetste Struktur unserer Interaktionen nicht doch eine andere, weniger kooperationsfeindliche ist, als es das Gefangenendilemma postuliert.
2 Gefangenendilemma oder Hirschjagden Die oben angedeutete Idee, dass das Gefangenendilemma ein Modell für das Problem der Kooperation unter rationalen Agenten darstellt, wird kritisch diskutiert, da das – implizit erhoffte – kooperative Ergebnis im echten Gefangenendilemma kein Nash-Gleichgewicht ist. Kritiker argumentieren, dass ein solches Problem als unlösbar angesehen werden könnte (Sugden 2004; Binmore 2006), da eine beiderseitige Kooperation keine Nash-Gleichgewichtslösung zulässt. Das einzige Nash-Gleichgewicht liegt hier (vgl. Abbildung 1) in (p,p) – also der beidseitigen Defektion. Das vermeintliche Paradox liegt nun darin begründet, dass mit beiderseitiger Kooperation (r,r) ein höherer Nutzen entsteht als im Gleichgewicht. Allerdings hat im Zustand (r,r) jeder Spieler den Anreiz einseitig abzuweichen, um an den Nutzen t zu kommen, der den optimalen Nutzen des Spiels darstellt. Die Situation der beiderseitigen Kooperation kann ergo kein Gleichgewicht darstellen. Die Hirschjagd hingegen könnte ein besseres Modell für Situationen sein, in denen eine kooperative Zusammenarbeit zwar schwierig, aber dennoch möglich ist. Schließlich ist das Gefangenendilemma „a situation in which the dice are as loaded against the emergence of cooperation as they could possibly be“ (Binmore 2006, 9). Das „Spiel der Hirschjagd“ in der Spieltheorie, auch bekannt als „Stag Hunt“, hat seinen Ursprung in einer Analogie von Jean-Jacques Rousseau. Es ist ein Konzept, das oft verwendet wird, um Kooperations- und Koordinationsprobleme in ver-
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Abb. 1: Das Gefangenendilemma in extensiver Form. Quelle: Eigene Abbildung.
schiedenen sozialen, ökonomischen und politischen Kontexten zu veranschaulichen. Rousseau beschrieb das Szenario in seinem Werk Le Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes von 1755, um die Dynamik zwischen individuellen Interessen und kollektiver Zusammenarbeit zu veranschaulichen (Rousseau, 1902). Rousseaus ursprüngliche Geschichte beschreibt die Situation zweier Jäger, die vor der Wahl stehen, entweder gemeinsam einen Hirsch (Stag) oder – jeweils allein – Kaninchen (Hares) zu jagen. Die erfolgreiche Jagd auf den Hirsch bedarf der erfolgreichen Kooperation, da ein einzelner Jäger außerstande ist, ihn auf sich gestellt zu erlegen. Die Jagd auf Kaninchen ist dagegen insofern eine sichere Option, da sie ohne Hilfe eines anderen Jägers erfolgreich sein kann. Die Jagd nach Kaninchen bietet jedoch weniger Belohnung als die (gemeinsame) Hirschjagd. Die Problematik besteht also darin, dass, wenn sich ein Jäger entscheidet, den Hirsch zu jagen, d. h. zu kooperieren, während der andere sich für das Kaninchen entscheidet, d. h. defektiert, der kooperierende Jäger schlechter dasteht. Jeder Spieler steht also vor der Wahl, entweder auf den größeren, gemeinschaftlichen Gewinn (den Hirsch) zu setzen, was Kooperation erfordert, oder sich für den kleineren, jedoch sicheren Gewinn (das Kaninchen) zu entscheiden, der unabhängig von anderen erreicht werden kann. Die höchste Belohnung wird erzielt, wenn beide Spieler kooperieren und den Hirsch jagen. Ein zentrales Element des Spiels ist die Bedeutung von Vertrauen und Kommunikation zwischen den Spielern. Die Entscheidung zur Kooperation ist risikoreicher, da sie von der erwarteten Entscheidung des anderen Spielers abhängt.
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Abb. 2: Die Hirschjagd in extensiver Form. Quelle: Eigene Abbildung.
Das Spiel der Hirschjagd illustriert das Problem der sozialen Koordination, bei dem die beste individuelle Strategie von der erwarteten Aktion des anderen abhängt. Das Spiel hat somit zwei Gleichgewichte in reinen Strategien: Erstens die Hirschjagd beider Spieler mit der Auszahlung (r,r) (Kooperation) welche mit einer höheren Auszahlung für beide verbunden ist und in der Literatur als Pay-off-dominant beschrieben wird. Dieses Gleichgewicht ist pareto-effizient und dadurch salient. Allerdings ist zweitens auch die Kaninchenjagd beider mit der Auszahlung (p,p) (Defektion) ein Nash-Gleichgewicht, da jede einseitige Abweichung zu einem Nutzen von s führt und s < p. Dieses Gleichgewicht führt zu einer sicheren, jedoch geringeren Auszahlung für die einzelnen Jäger und ist somit pareto-inferior. Oft wird dieses Gleichgewicht – nach Harsanyi und Selten (1988) – deshalb als riskdominant bezeichnet, da der Spieler, wenn er aus irgendeinem Grund annimmt, dass sein Gegenüber nicht „Hirsch“ spielt, so die höchste sichere Auszahlung erreichen kann. Das Hirschjagdspiel kann dadurch als stilisiertes Modell für viele andere interessante wirtschaftliche und politische Situationen betrachtet werden (Carlsson und Van Damme 1993). Zum Beispiel kann die Strategie „Kaninchen“ als Konsum der eigenen Produktion interpretiert werden und die gemeinsame Hirschjagd als Teilhabe an einem Markt, um durch Tausch einen Wohlstandsgewinn zu erreichen. Dabei ist die Hirschjagd umso erfolgreicher, je mehr Menschen Handel auf dem Markt betreiben – das Risiko, als einer der Wenigen den Markt aufzusuchen und mit leeren Händen nach Hause zu gehen, ist dabei das Risiko, welches durch einen Eigenkonsum nicht entstanden wäre.
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Ebenfalls kann das Spiel für die Analyse von Drückebergertum dienen: Wenn beidseitiger Einsatz als Aufwendung von Anstrengung für eine Teamproduktion steht, dann ist die eigene Anstrengung verschwendet, wenn nicht genügend andere Personen mitziehen. In Modellen für öffentliche Güter findet das Hirschjagdspiel ebenfalls Anwendung. Angenommen, Individuen müssen die Entscheidung treffen, ob sie zur Bereitstellung eines öffentlichen Gutes beitragen oder nicht. Wenn Trittbrettfahrer von der Nutzung des öffentlichen Gutes ausgeschlossen werden können, keine Rückerstattungen für Beiträge erfolgen und das öffentliche Gut nur bereitgestellt wird, wenn ausreichend viele Personen an der Entstehung teilhaben, dann lässt sich die Situation für interessante Parameterwerte durch ein Spiel darstellen, das strategisch äquivalent zu einem Hirschjagdspiel ist. Die Hirschjagd bietet im Vergleich zum Gefangenendilemma ein treffenderes Modell für das Verständnis von Kooperation für die meisten sozialen Interaktionen, insbesondere aufgrund der Betonung von Vertrauen und Sicherheit bei der Erzielung von für beide Seiten vorteilhaften Ergebnissen. Während beim Gefangenendilemma die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Kooperation so schlecht stehen wie nur irgend möglich, dass also eine Situation vorliegt „in which the dice are as loaded against the emergence of cooperation as they could possibly be“ (Binmore 2006, 9). Binmore behauptet sogar, dass wir nicht als kooperierende Spezies entstanden wären, wenn das Gefangenendilemma das vorherrschende Spiel unserer Existenz wäre. Binmore vertritt also die Auffassung, dass die Hirschjagd ein besseres Beispiel für reale soziale Dilemmata ist, bei denen der Einzelne die Vorteile der Zusammenarbeit gegen die Risiken einer Abtrünnigkeit abwägen muss. Somit wird aus dem unmöglichen Problem, dauerhaft außerhalb eines Gleichgewichtes zu agieren, wie es im Gefangenendilemma nötig wäre, das lösbare Problem einer Gleichgewichtsauswahl: Wie schaffen es Gesellschaften sich so zu koordinieren, dass sie das saliente Hirsch-Gleichgewicht wählen? Welche Art von Vertrauen und Koordination braucht es? Vor allem Skyrms (2004) hebt die evolutionäre Dynamik sozialer Verträge durch die Hirschjagd hervor und weist darauf hin, dass sie den Prozess, durch den sich Kommunikation und Vertrauen entwickeln können, um kooperative Verhaltensweisen innerhalb von Populationen zu stabilisieren, effektiv erfasst. Diese Perspektive ist entscheidend für das Verständnis, wie soziale Normen und Konventionen ohne zentrale Autorität entstehen können, wenn Individuen das empfindliche Gleichgewicht zwischen der Sicherheit einsamer Handlungen, dem risikodominanten Gleichgewicht, (Kaninchenjagd) und den höheren Belohnungen kooperativer Unternehmungen, dem pay-off-dominanten Gleichgewicht, (Hirschjagd) finden, die von gegenseitiger Beteiligung abhängen. Beide argumentieren, dass die Hirschjagd aufgrund der Struktur der bedingten Zusammenarbeit und der Bedeutung von Vertrauen, Sicherheitsmechanismen und Koordination ein überlegenes
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Modell für die Untersuchung der Komplexität sozialer Interaktionen und der Entwicklung kooperativer Strategien darstellt. Im Gegensatz zum Gefangenendilemma kann sich auch ohne institutionellen Rahmen Kooperation eigenständig einstellen – tatsächlich ist das Interessanteste an der Hirschjagd ja, dass die Kooperation paretoeffizient ist und somit eine äußerst saliente First-best-Benchmark. Somit kann die Hirschjagd erklären, warum wir oft auch ohne institutionellen Rahmen kooperieren, da viele tatsächliche Strukturen unseres Zusammenlebens auf Kooperation beruhen, die oft nur dann erfolgreich ist, wenn alle Parteien mitziehen.
3 Institutionen, Evolution und Kooperation Spieltheoretiker haben wie die meisten Menschen eine Präferenz für Kooperation gegenüber Defektion. Jedoch zeichnen sie sich in der Regel dadurch aus, dass sie nicht naiv sind, indem sie verstehen, dass einzelne Akteure in bestimmten Situationen einen Vorteil durch Defektion erlangen können. In Szenarien, die dem Gefangenendilemma ähneln, ist die Aussicht auf erfolgreiche Kooperation sehr begrenzt. Insbesondere bei wiederholten, jedoch endlichen Interaktionen tendiert die Situation in den meisten Fällen zum Nash-Gleichgewicht. Menschliche Interaktionen sind allerdings oft von der Art, dass sich die Beteiligten wieder begegnen, ohne jedoch genau zu wissen, wie häufig dies geschehen wird. In diesem Fall ist eine Lösung durch Rückwärtsinduktion nicht möglich und es gibt kein eindeutiges Gleichgewicht. Daher kann selbst in strukturellen Gefangenendilemmata eine rationale Kooperation möglich sein. Zudem sind Einmal-Spiele de facto in der Praxis selten anzutreffen, was auch ihrer theoretischen Betrachtung etwas an Schärfe nimmt. Zusätzlich finden Interaktionen nicht im luftleeren Raum statt und der Aspekt der Reputation gewinnt an Bedeutung, indem er Vertrauen ermöglicht. Der Verlust an Reputation geht schließlich in der Regel mit beträchtlichen Kosten einher, welche die potenziellen Gewinne aus Defektion oft übersteigen – insbesondere, wenn Interaktionen oft und über einen längeren Zeitraum möglich oder zumindest erwartbar sind. Selbst in Situationen, die nicht strukturellen Gefangenendilemmata entsprechen, sondern eher Charakteristika von Hirschjagden oder Koordinationsspielen aufweisen, verdeutlicht die Spieltheorie, dass Kooperation keineswegs zwangsläufig auftritt. Obwohl der potenzielle Nutzen der Kooperation oft offensichtlich ist, zeigt sich, dass der Mensch als risikoscheues Wesen häufig dazu neigt, die sichere, wenn auch pareto-inferiore Option zu wählen. Anstatt daher den Einzelnen dazu aufzufordern, insbesondere in Gefangenendilemma-Szenarien, zu kooperieren, erscheint es angemessener, den Fokus auf den übergeordneten Kontext menschlicher Inter-
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aktionen zu richten, der durch Institutionen – sowohl formelle als auch informelle – geprägt ist. Viele Ethiker führen ein Scheitern von Zusammenarbeit und Kooperation oft auf persönliche und individuelle Unzulänglichkeiten zurück und nicht auf die Komplexität und Anreize der Entscheidungsstrukturen. Bei manchen scheint das Opfer fast schon eine notwendige Bedingung für ethisches Handeln zu sein. Die schottische Aufklärung mit Denkern wie David Hume und – vor allem – Adam Smith hat die Diskrepanz zwischen individuellen Wünschen und kollektiven Ergebnissen jedoch nicht umsonst betont. Viele vermuten, dass die Notwendigkeit der Zusammenarbeit, die in einer kleinen, intimen Gemeinschaft entscheidend ist, im Laufe der Zeit unsere moralischen Instinkte beeinflusst hat (De Waal 1997; Bowles und Gintis 2011). Die Struktur der Familie und der Kleingruppe hat unsere Evolution geprägt – schließlich war diese Art des Zusammenlebens für ca. 95 % unserer Existenz als Spezies ausschlaggebend (Hill et al. 2011). Diese Gruppen sind durch starke Familienbande, Freundschaften und soziale Kontrolle geprägt. Konzepte wie die Dunbar-Zahl verdeutlichen dabei die Grenzen sozialer Face-to-Face-Kontrolle. Dunbar zufolge ist 150 die theoretische Obergrenze der Anzahl von Personen, mit denen ein Individuum soziale Kontakte pflegen kann, d. h. die ihr namentlich bekannt sind und deren Beziehung zu sich selbst sie kennen (Dunbar 1993). Kooperation innerhalb dieser begrenzten Zahl ist relativ problemlos möglich und Gefangenendilemma noch seltener, da sich typischerweise die Auszahlungen in der Spielmatrix verändern, wenn man gegen enge Angehörige oder Bekannte spielt (beispielsweise defektieren Menschen üblicherweise nicht gegen ihre Kinder aus dem einfachen Grund, dass ihnen diese Strategie wenig Nutzen bringt – hier verändern sich somit die Auszahlungen der Strategien und folglich das Spiel als solches (Binmore 2005). Auch Darwin selbst sah die Fähigkeit zur Kooperation als entscheidenden Vorteil in der Geschichte der verschiedenen Kleingruppen an (Darwin 1888). Eine Situation, die zwischen Fremden die Struktur eines Gefangenendilemmas hat, verliert ergo ihre typischen Charakteristika oft, wenn sie innerhalb einer Kleingruppe auftritt. Die heutige Lebensrealität ist aber durch weit mehr als die reine soziale Integration in die Kleingruppe geprägt. Tatsächlich hat sich der heutige Lebensstil, der in hohem Maße von spezialisierten Rollen abhängig ist, wohl zu spät entwickelt, um unsere evolutionäre Entwicklung oder unsere kognitiven Fähigkeiten wesentlich zu beeinflussen (Rubin und Gick, 2005). Friedrich Hayek (1988) spricht von der Schwierigkeit, in zwei Welten gleichzeitig leben zu müssen. Auf der einen Seite ähnelt der moralische Mikrokosmos der Kleingruppe und erfordert persönliche Beziehungen, um Vertrauen und Gegenseitigkeit herzustellen. Andererseits ist die komplexe Welt des Makrokosmos durch einen Mangel an persönlichen Beziehungen gekennzeichnet und erfordert gemeinsame Regeln. Wenn wir uns im Makrokosmos zurechtfinden wollen und uns dabei auf Intuitionen verlas-
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sen, die sich für die Struktur der Kleingruppe entwickelt haben, dann geht dies mit Problemen einher. Hayek (1988) nennt diese Intuitionen dementsprechend „atavistisch“ und warnt davor, dass sie die moderne erweiterte Ordnung zerstören würden, weil sie schlecht resp. gar nicht an sie angepasst sind. Tatsächlich entstand die erweiterte Ordnung – so Hayek – nicht from human design or intention but spontaneously: it arose from unintentionally conforming to certain traditional & largely moral practices, many of which men tend to dislike, whose significance they usually fail to understand, whose validity they cannot prove, and which have nonetheless fairly rapidly spread by means of an evolutionary selection – the comparative increase in population & wealth – of those groups that happened to follow them. (Hayek 1988, 6)
Wenn wir tatsächlich das Problem haben, dass wir Konzepte der Kleingruppe auf interpersonelle Beziehungen der globalisierten Welt anwenden, dann stellt sich die Frage, warum es ja ganz augenscheinlich gut funktioniert mit der Kooperation. Zumindest scheint es so, als ob wir es im Alltag sehr oft verstünden, die Hirschjagd pareto-effizient zu lösen oder Gefangenendilemmata aufzulösen. Wie eingangs erwähnt hilft uns oft der Rahmen (in)formeller Institutionen dabei Kooperation zu ermöglichen und Abweichungen zu sanktionieren, sodass wir sinnvollerweise auch von Vertrauen in Institutionen sprechen können. Wenn jedoch Hayek Recht hat, dann haben sich diese Institutionen zwar entwickelt und uns dadurch große Sprünge in der Zivilisation eingebracht. Jedoch scheinen wir sie nicht explizit als essentiell wahrzunehmen. Das ist einerseits verschmerzbar, da die meisten unserer Institutionen bereits zu dem Grade existieren und auch funktionieren, dass sie auch ohne unsere Anerkennung ihren Dienst tun. Andererseits gefährdet diese vermeintliche Ignoranz jedoch gegebenenfalls das Entstehen neuer Institutionen, die vor allem durch eine sich schnell ändernde Welt nötig werden können. Ein fehlendes Verständnis für die Notwendigkeit passender Institutionen und ein dadurch folgendes Verlassen auf für die Kleingruppe entstandenen Konzepten wie persönliches Vertrauen, Gleichheit etc. könnten gerade im Zeitalter der Digitalisierung zu unerwünschten Konsequenzen führen. Empirische Studien, vor allem aus der Verhaltensökonomie, bestätigen dabei diese Sorge. Zwei Experimente sollen hier kurz beispielhaft beschrieben werden. In ihrer Studie aus dem Jahr 2006 untersuchen Gürerk et al. (2006) die Dynamiken von Selbstselektion innerhalb zweier modellierter Gesellschaftsformen: einer mit und einer ohne Sanktionierungsmechanismen, durch die Durchführung eines Öffentliche-Güter-Spiels über mehrere Runden. Die Teilnehmer erhielten dabei zyklisches Feedback über die relativen Auszahlungen innerhalb ihrer eigenen sowie der alternativen Gesellschaft und hatten die Möglichkeit, nach jeder Spielrunde ohne Kosten zwischen den Gesellschaften zu wechseln. Die Autoren beobachteten, dass die Gesellschaft mit funktionierenden Sanktionsmechanismen im
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Wettbewerb signifikant überlegen war. Dennoch zeigte sich initial eine überraschend hohe Präferenz für die sanktionsfreie Gesellschaft, was möglicherweise auf eine Präferenz für Kooperationsmechanismen ohne formale Sanktionen hindeutet. Dies geschieht ganz im Sinne eines res, non verba durch eigene Entscheidung und deren Konsequenzen. Dieser Befund legt nahe, dass die Teilnehmenden anfangs institutionelle Mechanismen und Sanktionen als unnötig oder unerwünscht betrachteten. Im Verlauf des Experiments und durch den iterativen Lernprozess migrierten jedoch alle Teilnehmenden zur Gesellschaft mit Sanktionsmechanismen, während die sanktionsfreie Gesellschaft leerstand. Obwohl der Schwerpunkt von Gürerk et al. (2006) auf der Entstehung einer sozialen Ordnung durch institutionelle Selektion liegt, scheint dieses Ergebnis ebenfalls die essentielle Rolle von Institutionen zur Erzeugung sozialer Ordnung aufzuzeigen, besonders in Kontexten, in denen Anonymität vorherrscht, und weist auf eine mögliche intuitive Unterschätzung der Bedeutung dieser Mechanismen hin. In einem anderen Experiment untersuchen Gogoll und Uhl (2020) die Hypothese, dass Menschen Institutionen in unpersönlichen Umgebungen unterbewerten, d. h. ihre Wertschätzung ihnen gegenüber im Hinblick auf den potentiellen Nutzen ungenügend ist. Die Probanden spielten in dem Experiment eine Version des Hirschjagdspiels in Gruppen von entweder zwei oder sechs Personen. Ein Geldbetrag, der über einen Zeitraum von fünf Minuten kontinuierlich wuchs, konnte jederzeit von jedem Teilnehmer einseitig an sich gerissen werden, sodass die anderen Teilnehmer leer ausgingen (also eine Art wachsendes Kaninchen). Falls niemand den Betrag an sich gezogen hat, erhielten alle Spieler den Höchstbetrag von 15 € (den Hirsch). Alle Spieler erhielten also nur dann die maximale Auszahlung, wenn niemand abtrünnig wurde und vorher zugriff. Es gilt festzuhalten, dass jedes vorzeitige Zugreifen immer und per definitionem weniger lukrativ war als die Auszahlung von 15 € bei gegenseitigem Vertrauen. Vor dem Spiel gab es die Möglichkeit für die Probanden eine Institution zu erwerben, welche die Kooperation sicherstellen würde, indem sie die Möglichkeit des Zugriffs während der fünf Minuten unterband. Dabei konnten die Teilnehmer einen Betrag wählen, der ihnen später von den dann sicheren 15 € abgezogen würde. Innerhalb jeder Gruppe wurde die niedrigste Zahlungsbereitschaft als Gebot ausgewählt – d. h. der Preis, auf den sich alle Gruppenmitglieder implizit einigen konnten. Die Bereitschaft der Probanden, für diese Institution zu zahlen, war dabei geringer als der Verlust, der durch fehlende Kooperation bei einem Spiel ohne Institutionen entstand. Dies galt sogar für den Teilnehmer, der am besten abgeschnitten hatte in einer Gesellschaft ohne Institution. In diesem Experiment wurde lediglich eine Runde gespielt, sodass kein Lerneffekt einsetzen konnte und anscheinend saßen die Teilnehmer tatsächlich dem Irrtum auf, auf Menschen, statt
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auf Institutionen zu vertrauen. Interessant ist vor allem, dass der Nachteil des Spiels ohne Institution bereits bei einer anonymen Gruppengröße von sechs vs. zwei deutlich steigt – es also in einem konservativen Setting bereits zum Zusammenbruch des Vertrauens kommt, und die wenigsten das saliente und pareto-effiziente Gleichgewicht erreichen. Die zunehmenden Verflechtungen unserer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interaktionen erfordern einen Rahmen von Regeln und Institutionen. Im Laufe der Jahrtausende haben sich solche institutionellen Strukturen entwickelt, die für die Zivilisation von grundlegender Bedeutung sind und von uns oft als selbstverständlich angesehen werden. Dennoch scheint es nötig, dass gerade in dieser sich rasant verändernden Welt neue Institutionen geschaffen und alte angepasst werden müssen, denn der rasante Fortschritt der digitalen Technologie fördert eine nie dagewesene globale Interaktion, die zur Komplexität und Unpersönlichkeit dieser Beziehungen beiträgt. Dies erfordert jedoch oft Aufwand und verursacht Kosten. Wenn die Bedeutung dieser Institutionen allerdings grundsätzlich unterschätzt wird, ist dies ein potenzielles Hindernis für die gelungene Kooperation der Zukunft. Es scheint daher dringend erforderlich, die Menschen über die Bedeutung von Institutionen für das gesellschaftliche Wohlergehen aufzuklären – eine Erkenntnis, die sich nicht immer instinktiv einstellt. Dies könnte auch eine Neubewertung der Art und Weise erforderlich machen, wie Ethik in Bildungseinrichtungen gelehrt wird. Es gilt darüber aufzuklären, dass kollektive Interaktionen, seien es nun Gefangenendilemmata oder Hirschjagden, nicht sinnvoll durch Appelle an moralische Tugenden des Einzelnen gelöst werden können, sondern, dass es in unser aller Interesse ist, Institutionen zu schaffen, um Kooperationen anreizkompatibel zu gestalten und pareto-effiziente Gleichgewichte risikoarm zu gestalten.
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14 Warum man auf Arrows Unabhängigkeitsaxiom verzichten sollte Abstract: Why one should renounce Arrow’s independence axiom. Arrow’s Theorem is an important result of Social Choice Theory. I argue that the central axiom of Independence of Irrelevant Alternatives is unconvincing. It precludes the use of vital information, e. g. about indifference classes of individual preferences. Bringing this kind of information into the picture opens up the way for positive results in the form of possibility theorems.
Einleitung Kein anderer Philosoph hat sich im deutschen Sprachraum so ausgiebig mit jenem Teilbereich der Theorie rationaler Wahl auseinandergesetzt, der im angloamerikanischen Raum als Social Choice Theory bekannt ist, wie Julian Nida-Rümelin. Die von ihm vorgeschlagene deutsche Bezeichnung Logik kollektiver Entscheidungen ist treffend, und verdient weite Verbreitung. Er ist der (Co‐)Autor des mutmaßlich einzigen Lehrbuchs dieser Disziplin in deutscher Sprache (Kern und Nida-Rümelin 1994) und hat die Ergebnisse und Einsichten aus dieser Theorietradition immer wieder in einen umfassenden philosophischen Kontext gestellt, oder aber für Detailargumente in höchst spezifischen Kontexten, zumeist solchen der Demokratietheorie, verwendet. Ich habe von Nida-Rümelins einschlägigen Arbeiten viel gelernt, freilich noch mehr aus den häufigen Diskussionen, die wir über diese Theorietradition hatten und haben. Auch darum halte ich es für angebracht, in einem liber amicorum einen Beitrag zu diesem Themenkreis zu liefern. Nun weiß ich mich in vielen Dingen mit Julian Nida-Rümelin in der Sache sehr einig; es scheint mir darum gerade zu diesem Anlass angebracht, eine Fragestellung zu behandeln, bezüglich derer wir ausnahmsweise nicht, oder nur teilweise dieselbe Einschätzung haben. Es soll im Folgenden darum gehen, wie das wohl berühmteste Resultat der Logik kollektiver Entscheidungen, das Theorem von Arrow, zu beurteilen ist. Fraglos wurde die Disziplin der SCT damit geboren (Arrow 1951/ 1963), und von daher ist seine historische Bedeutung unbestreitbar.¹ Aber ist es tatsächlich jener Stolperstein für die Demokratietheorie, als der es oft hingestellt 1 Natürlich gibt es eine viel umfassendere Tradition, wie Arrow selber in der 2. Auflage von Social Choice and Individual Values (Arrow 1951/1963) einräumt. https://doi.org/10.1515/9783111433233-015
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wird? Ich möchte im Folgenden einiges an Argumenten für die These zusammentragen, wonach eine zentrale Annahme des Arrow-Theorems, das bekannte Axiom der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen, tatsächlich keine plausible Annahme darstellt, sondern vielmehr entschieden zu stark ist. Es ist nicht plausibel, sollte durchgängig abgeschwächt werden, was in der Literatur schon sehr bald gesehen, aber aus unklaren Gründen nicht zur gängigen Lageeinschätzung wurde. Die Abschwächungen eröffnen auch einen großen Raum von Möglichkeiten – von positiven Resultaten, die sowohl gerechtigkeitstheoretisch wie demokratietheoretisch sehr bedeutsam sind. Und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Möglichkeiten nicht immer auf dem Schirm der Philosophen und auch nicht der Ökonomen waren und z.T. auch noch nicht sind.
1 Arrows Theorem Ich beginne mit einer kurzen, informell gehaltenen Darstellung von Arrows Theorem. Der Grundbegriff bei Arrow ist der einer social welfare function (SWF). Das ist eine Funktion, die als Argumente Profile von individuellen Präferenzordnungen nimmt, und als Werte eine Rangordnung liefert, die als die gesellschaftliche Rangordnung der Alternativen interpretiert wird. Wichtig (und in Arrows Definition einer SWF eingebaut) ist, dass diese Präferenzordnungen Ordnungsrelationen, also konnex und transitiv sind. Ein Präferenzprofil ist einfach eine geordnete Folge von individuellen Präferenzordnungen. Nun gibt es eine Unmenge von solchen SWFs, darunter viele, die intuitiv inakzeptabel sind. Arrow schreibt nun einige Bedingungen fest, die eine jede brauchbare SWF erfüllen soll. Zunächst einmal wird gefordert, dass SWFs jedes mögliche Präferenzprofil als Argument nehmen können; es gibt keine Kombination individueller Präferenzen, die aus welchen Gründen auch immer ausgeschlossen ist. Das ist die Forderung nach Unbeschränktem Bereich (U). Dann verlangt Arrow eine Pareto-Bedingung (P): wenn eine Alternative x in allen individuellen Rangordnungen in einem Präferenzprofil höher eingestuft wird als eine Alternative y, dann soll x in der sozialen Rangordnung auch höher eingestuft sein als y. Weiter soll es keinen Diktator geben (D); präziser ausgedrückt soll es nicht der Fall sein, dass es ein Individuum i gibt, dessen individuelle Rangordnung von x gegenüber y immer mit der sozialen Rangordnung der beiden Alternativen zusammenfällt, egal wie das Präferenzprofil ansonsten aussehen mag. Und schließlich haben wir noch die Bedingung der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen (die ich im Folgenden Arrow-Unabhängigkeit (AI) nennen möchte). Sie besagt, dass die soziale Rangfolge zweier Alternativen x und y ausschließlich von der Einordnung dieser beiden Alternativen in den individuellen Rangordnungen abhängt – technisch gesprochen ist
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die soziale Rangfolge eine Funktion der individuellen Rangordnung der beiden betrachteten Alternativen. Arrows Theorem besagt nun: es gibt keine SWF, die zugleich die Bedingungen U, P, D, und AI erfüllt. Oder in einer anderen Formulierung: Jede SWF, die U, P und AI erfüllt, ist diktatorisch. Das ist in einer gewissen Hinsicht das Geburts-Resultat der Logik kollektiver Entscheidungen, und als solches von bleibender historischer Bedeutung. Wie wichtig ist es aber unter systematischer Perspektive? Die allgemeine Lageeinschätzung lautet: Es ist sehr wichtig. Das kommt zum Ausdruck in der Pressemitteilung des Nobelkommitees 1972 zur Erläuterung der Preisverleihung an Arrow: „As perhaps the most important of Arrow’s many contributions to welfare theory appears his „possibility theorem“, according to which it is impossible to construct a social welfare function out of individual preference functions.“ Wäre das so richtig, hätte Arrows Theorem eine Durchschlagskraft wie kaum ein anderes formales Resultat. Leider ist diese Pressemitteilung nur eine besonders auffällige Form einer klassischen Fehldarstellung von Arrows Theorem. Es besagt, dass es keine SWF gibt, die bestimmte Bedingungen erfüllt, nicht dass es gar keine gibt. Nida-Rümelin weiß natürlich darum und hat das in seinen Darstellungen von Arrows Theorem stets berücksichtigt. Aber er sagt auch explizit: „Jede dieser vier Bedingungen kann als ein unverzichtbares Charakteristikum demokratischer Entscheidungsverfahren gelten.“ (Nida-Rümelin 1999, 81). Es ist mir nicht wirklich klar, ob er das als Beschreibung des demokratietheoretischen state of the art benutzen will, oder selber tatsächlich dieser Meinung ist. Ich möchte nun dafür argumentieren, dass die von ihm hier zum Ausdruck gebrachte (wenngleich nicht offensichtlich von ihm geteilte) Auffassung nicht richtig ist. Arrows Theorem ist wichtig, aber es ist schlicht nicht wahr, dass alle seine Prämissen so plausibel sind, wie es oft behauptet wird.
2 Arrows Bedingungen Im Grunde haben wir es nicht mit vier, sondern mit fünf Bedingungen zu tun. In die Definition einer SWF wird üblicherweise eingebaut, dass sowohl individuelle als auch vor allem die soziale Präferenzordnung vollständig und transitiv sind. Das kann man in Frage stellen; insbesondere ist die Annahme der Vollständigkeit sicher keine zwingende Rationalitätsforderung. Und es gibt auch Möglichkeiten, Transitivität abzuschwächen. Allerdings führen entsprechende Abschwächungen hier nur dazu, dass es statt eines Diktators nunmehr eine diktatorische Gruppe gibt.² Das
2 Siehe dazu Kern und Nida-Rümelin 1994, Kap. 4.3. und auch schon Weymark 1984.
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macht die Sache nicht besser, weshalb ich diese Abschwächung nicht weiter diskutiere. Historisch gesehen hat man zwecks Vermeidung von Arrows Ergebnis zumeist die Bedingung U in Frage gestellt. Mir erschien das immer abwegig. Zum einen gibt es einen bedeutenden Zweig in der Logik kollektiver Entscheidungen, der U vermeidet, und dennoch Arrow-artige Resultate hervorbringt (vgl. LeBreton und Weymark 2011), zum anderen scheint es mir gerade unter demokratietheoretischen Vorzeichen sehr angebracht, keine spezifischen Einschränkungen für den Definitionsbereich einer SWF zu fordern. Lasst die Leute in das Entscheidungsverfahren einspeisen, was immer sie für sinnvoll erachten. Bedingung P ist Liebkind vor allem der Ökonomen. Es mag gleichwohl Gründe geben, eine gewisse Skepsis walten zu lassen³, aber vor allem aus demokratischer Perspektive kann man wenig gegen die Bedingung einwenden. Das gilt erst recht für D; natürlich wollen wir keinen Diktator. Nun ist der Arrowsche Diktator schon ein eigenartiger Diktator; auch ein universaler Glückspilz würde als ein solcher eingestuft werden. Aber es scheint fraglos richtig, dass man eine solche Gestalt nicht haben will. Bleibt also noch die Bedingung der Arrow-Unabhängigkeit. Und die, so möchte ich nunmehr argumentieren, ist weder unter demokratietheoretischen oder auch anderen Aspekten plausibel. Sondern sie ist offensichtlich viel zu stark, und sollte darum nicht akzeptiert werden.
3 Arrow-Unabhängigkeit Was spricht erst einmal dafür, Arrow-Unabhängigkeit zu fordern? Arrow selber bringt in der ursprünglichen Auflage seines Buches ein Beispiel, das effektiv zeigt, dass die bekannte Borda-Regel die Bedingung verletzt. Implizit scheint Arrows Auffassung zu sein, dass vernünftige SWFs eine Form von Invarianz unter verändertem Präferenzinput aufweisen sollten – und wenn dann AI nicht gilt, es eine offensichtliche Möglichkeit gibt, durch Eingabe anderer Präferenzen als denen, die ein Akteur eigentlich hat, das Resultat zu eigenen Gunsten zu manipulieren. In der Tat: das Axiom AI verhindert verschiedene Formen der Manipulation, die sich bei Regeln ergeben, deren Informationsbasis umfangreicher ausfällt als unter den sehr restriktiven Festsetzungen von Arrows Axiom. Eine andere Motivation hat damit zu tun, dass AI in dem rein ordinalen Kontext, in dem Arrow arbeitet, interpersonale Vergleiche ausschließt. Im positivisti-
3 Vgl. Sen 1970 zum liberalen Paradoxon, Mongin 2016 über spurious unanimity.
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schen Geist, der die ökonomische Theoriebildung in den 1950er Jahren beherrschte, war das eine durchaus erstrebenswerte Vorgabe. Philosophen wie auch normativ orientierte Ökonomen standen dieser Haltung immer schon skeptisch gegenüber. Sen hat dann in seinem Buch Social Choice and Collective Welfare von 1970 entfaltet, dass man durchaus gute Gründe haben kann, Arrows rein ordinalen Rahmen zu verlassen und stattdessen mit Sozialen Wohlfahrtsfunktionalen zu arbeiten, also Funktionen von Profilen von Nutzenfunktionen in sozialen Rangordnungen. Sen zeigte dann, dass sich in dem neuen Rahmen Arrows Theorem so lange reproduzieren lässt, als man explizit interpersonale Vergleiche ausschließt. Lässt man sie hingegen zu, gibt es positive Resultate – freilich in einem technisch durchaus anderen Rahmen (und es ist wichtig für das folgende, dass ich Sens Weg in diesen anderen Rahmen gerade nicht folge). Nida-Rümelin verweist auch noch darauf, dass AI ein Element von Neutralität in demokratische Entscheidungsprozesse einführt; es garantiert eine „Art von Vorhersehbarkeit“, die generell für Verfahren wichtig ist, „wollen sie nicht von vornherein als regellos und willkürlich gelten“ (Kern und Nida-Rümelin 1994, 41). Mich überzeugen diese Überlegungen zugunsten AI alle nicht. Den Verweis auf die Manipulierbarkeit, die sich bei Verzicht auf AI einstellt, bin ich geneigt mit einem Hinweis auf das Gibbard-Satterthwaite-Theorem zu kontern, dessen wesentliche Aussage man in aller Kürze so zusammenfassen kann: Eine nichttriviale Entscheidungsregel ist entweder manipulierbar oder diktatorisch.⁴ Und dann ist es allemal besser, eine manipulationsanfällige Regel zu haben. Der Verzicht auf interpersonale Vergleichbarkeit erscheint mir heute eher als ein Mangel als eine Tugend; allemal ist die Diskussion hier kompliziert, weshalb ich sie nicht aufgreifen will. Neutralität ist gut und schön, aber muss man wirklich AI fordern, um sie zu erhalten? Das bezweifle ich, und werde nun versuchen, positive Argumente gegen das Axiom zusammenzutragen. Eine erste wichtige Feststellung: Das Axiom schränkt die für die Aggregationsprozesse relevanten Informationen ein. Ob x sozial besser, gleich gut oder schlechter ist als y, das bestimmt sich ausschließlich durch die individuellen paarweisen Vergleiche von x und y. Ein grundsätzlicher Einwand dagegen lautet: hier wird zu viel Information weggenommen. Im wesentlichen lässt sich das mit zwei Überlegungen weiter ausführen: (1) es stellt sich heraus, dass in sehr vielen ökonomisch relevanten Kontexten unter der Vorgabe von AI bestimmte Dinge nicht gezeigt werden können, die man gerne zeigen würde. Diese Kontexte sind gar nicht mal solche, in denen man unbedingt interpersonale Vergleiche haben wollte – nein,
4 Es gibt einen sehr engen Zusammenhang zwischen Arrows Theorem und dem Gibbard-Satterthwaite-Theorem; für eine schöne Explikation vgl. Reny 2001.
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es sind „ganz normale“ ökonomische Umgebungen. Insbesondere gibt es mit AI ein Problem, wenn man das täglich Brot der Ökonomen verwenden möchte, nämlich Indifferenzkurven. (2) Man kann dafür argumentieren, dass es gerade die rigiden informationellen Beschränkungen sind, die in das Unmöglichkeitsresultat hineinführen. Denn es zeigt sich, dass bereits geringfügige Abschwächungen von AI, die ein wenig zusätzliche Information ins Spiel zu bringen erlauben, hinreichen, um positive Resultate zu erhalten. Die beiden Überlegungen hängen insofern zusammen, als die zusätzliche Information, die ins Spiel kommt, tatsächlich Information über die Äquivalenzklassen der beiden ursprünglich betrachteten Alternativen darstellt. Ich werde diese beiden Punkte, die viel mehr bekannt sein sollten, aber offenbar nicht wirklich in die ökonomische und philosophische Standard-Literatur vorgedrungen zu sein scheinen, nunmehr näher ausführen.
4 Arrow-Unabhängigkeit und Indifferenzkurven Betrachten wir ein klassisches Problem aus der Theorie fairer Allokationen. Wir haben einen mehrdimensionalen Güterraum, die unterschiedlichen Güter werden auf verschiedene Akteure verteilt, und es geht nun darum, welche Verteilungen unter Gesichtspunkten individueller Rationalität und elementaren Überlegungen zur Gerechtigkeit von Verteilungen besser sind als andere. Man beachte: Dies ist eine ökonomische Umgebung ohne Produktion, die Individuen haben Präferenzen über den möglichen Güterbündeln, und benötigen nicht mehr als eine ordinale Repräsentation – ein sehr simples Modell. Ein Schlüsselprinzip in der Theorie fairer Allokationen ist das Prinzip der Neidfreiheit. Eine Allokation, also eine Verteilung der Güter auf die Individuen, ist neidfrei genau dann, wenn jedes Individuum das ihm zugeteilte Güterbündel für mindestens so gut hält wie die Bündel der anderen Individuen in der betrachteten Allokation. Insbesondere ist eine vollständige Gleichverteilung der Güter aus dem vorgegebenen Güterraum neidfrei. Allerdings steht zu erwarten, dass eine solche Gleichverteilung in vielen Fällen nicht (Pareto‐) effizient ist. Man kann aber nun zeigen, dass in reinen Tauschökonomien es immer eine neidfreie und Pareto-effiziente Allokation gibt (vgl. Varian 1974). Nun ist das alles in Ökonomien mit Produktion – und damit mit personalisierten Gütern – nicht mehr gültig, aber das braucht uns im Augenblick nicht zu interessieren. Ceteris paribus ist die Neidfreiheit von Allokationen eine gute Sache. Nun betrachte man aber folgendes Beispiel (es stammt von Fleurbaey 2007a): Wir haben einen zweidimensionalen Güterraum, dessen Güter (z. B. Wein und Brot) zwischen Ann und Ben aufgeteilt werden sollen. Beide Akteure ziehen von jedem Gut mehr als weniger vor. Nun betrachten wir die Allokationen A = und B = (Anns Anteil zuerst genannt). Es ist klar, dass Ann B gegenüber A
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vorzieht, Ben hingegen A gegenüber B. In einem Arrow-artigen Umfeld lässt sich aber weiter nichts mehr sagen; angesichts der entgegengesetzten Bewertungen der beiden Akteure wird man bestenfalls sagen können, dass A und B als sozial gleich gut eingestuft werden sollten. Aber nehmen wir noch weiter an, dass Ann und Ben unterschiedliche, aber spezifische Vorlieben für Wein und Brot haben, dergestalt, dass für beide gilt, dass sie und gleich gut finden. Dann ist die Allokation A im oben angegebenen Sinne neidfrei, da jede Person ihr Bündel für ebenso gut wie das der anderen einschätzt. B hingegen ist nicht neidfrei; Ann ist hier klar im Vorteil. (Die Situation wäre symmetrisch umgekehrt, wenn Ann und Ben indifferent zwischen und wären – dann wäre B neidfrei und A nicht.) Ceteris paribus sollte das Berücksichtigung finden, und A sollte als sozial besser eingestuft werden. Das Problem mit Arrow-Unabhängigkeit ist nun, dass das Axiom die Berücksichtigung der Indifferenz beider Akteure zwischen den Alternativen und nicht zulässt. Ann wie Ben wären dann indifferent zwischen A und C = und infolge dieser Indifferenz lässt sich dann A als neidfrei auszeichnen. Aber Vergleiche zwischen A und C dürfen nach AI keinen Einfluss auf die soziale Rangordnung von A und B haben. So sind wir in Arrows Rahmen nicht in der Lage, den offensichtlichen Vorteil von A geltend zu machen. Die Schwierigkeit hat damit zu tun, dass AI Information so einschränkt, dass die Lage von Indifferenzkurven keine Rolle bei der Bewertung von zwei Alternativen spielen kann. Ob eine Allokation aber neidfrei ist oder nicht, hängt entscheidend von der Lage der Indifferenzkurven der beteiligten Akteure ab. In einer gewissen Hinsicht ist es erstaunlich, dass gerade Ökonomen diese doch erhebliche Einschränkung, die in Arrows Unabhängigkeitsaxiom angelegt ist, nicht sofort kritisiert haben. Das Hantieren mit Indifferenzkurven und der in ihnen angelegten Information ist doch deren täglich Brot. Tatsächlich gibt es schon in den 1970er Jahren mehrere Arbeiten, die Arrows Axiom kritisch unter die Lupe genommen haben, und auch teilweise mit Vorschlägen aufwarteten, wie man die Sachlage verbessern kann. Es gibt das kleine Büchlein von Mayston (Mayston 1974), das aber kaum rezipiert worden zu sein scheint. Der schwedische Logiker Bengt Hansson hat 1973 bereits einen Artikel speziell über das Unabhängigkeitsaxiom verfasst, in dem erstmals auch die Abschwächung auftaucht, die dann später zu positiven Resultaten beigetragen hat (Hansson 1973). Und es gibt einen Artikel des israelischen Ökonomen Elisha Pazner von 1979, in dem der gleiche Punkt nochmals hervorgehoben wurde (Pazner 1979). Die Kernidee dieser Reformulierung sieht so aus: AI erklärt gewissermaßen alle Alternativen für irrelevant, die nicht Bestandteil des paarweisen Vergleichs sind. Das neue Axiom, von Marc Fleurbaey später zu Ehren von Hansson als Hansson-Unabhängigkeit HI bezeichnet, erklärt alle Alternativen für irrelevant für den Aggregationsprozess, die außerhalb der Äquivalenzklassen der zum Vergleich anstehenden beiden Alternativen liegen. Aber In-
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formation über solche Alternativen, die zu einer der paarweise verglichenen Alternative indifferent sind, ist nunmehr zulässig. Man kann sich nun fragen, warum diese Arbeiten, in denen ersichtlich der richtige Weg beschritten wurde, so untergegangen sind.⁵ Im Falle von Hanssons Artikel hat das sicher auch damit zu tun, dass der dort verwendete Formalismus ziemlich undurchsichtig ist. Und im Falle von Pazners schönem Artikel kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die mangelnde Rezeption mit dem tragischen Umstand zu tun hat, dass Pazner 1979 viel zu früh verstorben ist. Maystons Buch ist ebenfalls nicht leicht zu lesen und weicht in seiner Darstellungsform auch sehr von der üblichen Social Choice-Literatur ab. Dennoch: Alle diese Autoren waren ersichtlich auf dem richtigen Weg und zeigten Auswege auf, die aus dem durch Arrows Theorem geschaffenen Problem hinausführen.
5 Möglichkeitsresultate ohne Arrow-Unabhängigkeit Dieser Argumentationsstrang wurde erst nach 2000 wieder in der Social ChoiceLiteratur aufgegriffen, vor allem von Marc Fleurbaey und einigen seiner Koautoren. Die Kernidee dahinter besteht in einer Abschwächung von Arrow-Unabhängigkeit hin zu etwas, das Fleurbaey als Hansson-Unabhängigkeit bezeichnet hat (Fleurbaey 2005). Wie gesagt, im Falle von Arrow-Unabhängigkeit ist bei der Bestimmung, ob x sozial besser ist als y, nur Information zulässig, die auf die paarweisen Vergleiche von x und y in den Präferenzordnungen der Individuen zurückgeht. Hansson-Unabhängigkeit besteht nun im Kern darin, auch Information über die Indifferenzklassen der beiden zu vergleichenden Alternativen x und y zuzulassen. Ich skizziere im Folgenden eines der Resultate, die ein auf Hansson-Unabhängigkeit basierendes Möglichkeitstheorem darstellen.⁶ Wir haben also Hansson-Unabhängigkeit als ein erstes Axiom: Wenn die Indifferenzklassen zweier Alternativen x und y in den Präferenzprofilen R und R’ im selben Verhältnis zueinander stehen, dann muss die soziale Präferenz zwischen x 5 Ich habe überprüft, ob in der Standard-Literatur drauf Bezug genommen wurde. Sen erwähnt Hansson und seinen Aufsatz wiederholt, scheint aber kaum etwas für seine eigenen Zwecke draus gemacht zu haben. Maystons Buch und der Artikel von Pazner werden nicht erwähnt. Im Lehrbuch von Kern/Nida-Rümelin taucht ebenfalls kein Bezug auf diese Arbeiten auf. 6 Das Resultat stammt aus Fleurbaey 2005. Es ist dort nur eines von mehreren Charakterisierungsresultaten. In der Monographie Fleurbaey und Maniquet 2011 finden sich noch diverse weitere Möglichkeitstheoreme, teilweise basierend auf anderen Abschwächungen des ursprünglichen Unabhängigkeitsaxioms.
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und y für R dieselbe sein wie für R’. Ein weiteres Axiom ist die vertraute schwache Pareto-Bedingung: Wenn alle Individuen x in ihrer Rangordnung höher einstufen als y, dann ist x sozial besser als y. Ein drittes Axiom ist eine Verallgemeinerung der bekannten Pigou-Dalton-Bedingung für multidimensionale Güterräume, die Fleurbaey als „Transferprinzip unter Gleichen“ bezeichnet: Wenn zwei Individuen A und B die gleichen Präferenzen haben, alle außer A und B zwischen den Bündeln x und y indifferent sind, A in beiden Alternativen x und y schlechter dasteht als B und A x gegenüber y vorzieht, während B y gegenüber x vorzieht, und die Differenz der individuellen Vektoren von Gütern analog zu der Pigou-Dalton-Bedingung verläuft, dann soll x sozial besser sein als y.⁷ Das ist eine minimale egalitäre Bedingung, die tatsächlich massive Annahmen macht und dementsprechend schwach ist. Fleurbaey hat noch ein viertes Axiom, genannt minimaler Egalitarismus für proportionale Allokationen (ME): Wenn im Falle proportionaler Allokationen ein jegliches Bündel in einer Allokation x gleich dem durchschnittlichen Bündel in einer Allokation y ist, dann ist x sozial mindestens so gut wie y. Der Bezug auf proportionale Allokationen baut hier eine sehr spezifische Form interpersonaler Vergleichbarkeit ein. Fleurbaey beweist nun ein bemerkenswertes Charakterisierungsresultat. Eine jede soziale Ordnungsrelation auf der Menge der möglichen Allokationen von Gütern, die die genannten Axiome Hansson-Unabhängigkeit, schwache Pareto-Bedingung, Transfer unter Gleichen und minimaler Egalitarismus für proportionale Allokationen erfüllt, ist eine lexikographische Relation der Egalitär-Äquivalenz. Diese Relation stammt aus dem grundlegenden (und ebenfalls unter Philosophen viel zu wenig bekannten) Aufsatz über egalitär-äquivalente Allokationen von Pazner und Schmeidler (Pazner und Schmeidler 1978). Ich sehe in dem Ansatz von Pazner und Schmeidler einen der besten Versuche aus der Ökonomie, die zentrale Idee aus der Gerechtigkeitstheorie von Rawls präzise in ökonomischen Umgebungen zu erfassen, wonach die am schlechtesten Gestellten einen Vorrang erhalten sollen. Eine Allokation A ist egalitär-äquivalent, wenn es ein Referenzbündel e gibt, so dass jedes Individuum i sein individuelles Güterbündel in A ai als indifferent zu e ansieht. Es gibt egalitär-äquivalente Allokationen; die komplette Gleichaufteilung des verfügbaren Güterraums ist ersichtlich eine solche. Pazner und Schmeidler zeigen dann, dass es auch Pareto-effiziente Allokationen gibt (die Gleichaufteilung wird normalerweise nicht Pareto-effizient sein), und dass es eine lexikographische Relation auf
7 Die Annahme, dass die beiden Akteure die gleichen Präferenzen haben, wird gebraucht, um eine heikle Variante des Index-Problems zu vermeiden, bei der es zu einem Konflikt zwischen der ParetoBedingung und einem höchst plausiblen Prinzip der Vektordominanz im Güterraum kommt, wenn die Individuen unterschiedliche Präferenzen haben (Fleurbaey 2007b).
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Martin Rechenauer
den proportionalen Allokationen gibt, die tatsächlich die am schlechtesten gestellten begünstigt. Ich habe dieses Charakterisierungsresultat aus all der Vielzahl solcher Resultate aus den Arbeiten von Fleurbaey, Maniquet und anderen herausgegriffen, weil es sich sehr schön mit bestimmten Ansätzen in der Gerechtigkeitstheorie verbinden lässt, wo egalitäre Positionen sehr häufig durch lexikographische Rangordnungen zum Ausdruck gebracht werden. Aber der wesentliche Punkt ist, dass es gerade eine Abschwächung von Arrow-Unabhängigkeit ist, die hier den Weg zu Möglichkeitsresultaten ebnet. Und diese Abschwächung ist sowohl minimal als auch sehr plausibel.
Fazit Mein Argumentationsziel war aufzuzeigen, dass Arrows Unabhängigkeitsbedingung keine plausible Auflage für Aggregationsprozesse innerhalb der Logik kollektiver Entscheidungen darstellt. Sie schließt Information aus, die man normalerweise zur Verfügung haben möchte. Und wenn man die Bedingung nur geringfügig abschwächt, kann man positive Resultate erhalten. Arrows Theorem hat große Bedeutung in der Geschichte der Social Choice-Theorie, aber sein systematischer Ertrag ist deutlich geringer, als man all die Jahre geglaubt hat.⁸
Bibliographie Arrow, Kenneth J. 1951/1963. Social Choice and Individual Values, 1./2. Aufl. New York: Wiley. Arrow, Kenneth J. 1967. „Public and Private Values.“ In: Sidney Hook (Hrsg.), Human Values and Economic Policy. New York: NY University Press. Fleurbaey Marc. 2005. „The Pazner-Schmeidler Ordering: A Defense.“ Review of Economic Design 9: 145–166. Fleurbaey, Marc. 2007a. „Social Choice and Just Institutions: New Perspectives.“ Economics and Philosophy 23: 15–43. Fleurbaey, Marc. 2007b. „Social Choice and the Indexing Dilemma.“ Social Choice and Welfare 29: 633– 648.
8 Es sieht auch so aus, als habe Arrow selber im Laufe der Zeit Zweifel an seinem Unabhängigkeitsaxiom entwickelt. Man sehe folgendes bemerkenswerte Zitat: „I now feel […] that the austerity imposed by this condition [AI, der Verf.] is stricter than desirable; in many situations we do have information on preferences for nonfeasible choices. It can certainly be argued that when available this information should be used in social choice.“ (Arrow 1967, 19). Ich danke Marc Fleurbaey dafür, mich auf diese Stelle aufmerksam gemacht zu haben.
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Fleurbaey, Marc, und Maniquet François. 2011. A Theory of Fairness and Social Welfare. Cambridge: Cambridge University Press. Hansson, Bengt. 1973. „The Independence Condition in the Theory of Social Choice.“ Theory and Decision 4: 25–49. Kern, Lucian, und Julian Nida-Rümelin. 1994. Logik kollektiver Entscheidungen. München/Wien: Oldenbourg. Le Breton, Michel, und John A. Weymark. 2011. „Arrovian Social Choice Theory on Economic Domains.“ In: K. J. Arrow, A. Sen und K. Suzumura (Hrsg.), Handbook of Social Choice and Welfare, Vol. 2, 191–299. Amsterdam: Elsevier. Mayston, David J. 1974. The Idea of Social Choice. London: MacMillan. Mongin, Philippe. 2016. „Spurious Unanimity and the Pareto-Principle.“ Economics and Philosophy 32 (3): 511–532. https://doi.org/10.1017/S0266267115000371. Nida-Rümelin, Julian. 1999. Demokratie als Kooperation, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Pazner, Elisha. 1979. „Equity, Nonfeasible Alternatives and Social Choice: a Reconsideration of the Concept of Social Welfare.“ In: J.-J. Laffont (Hrsg.), Aggregation and Revelation of Preferences, 161– 173. Amsterdam: North-Holland. Pazner, Elisha A., und David Schmeidler. 1978. „Egalitarian Equivalent Allocations: A New Concept of Economic Equity.“ Quarterly Journal of Economics 92 (4): 671–687. Pressemitteilung des Nobelkommitees 1972. https://www.nobelprize.org/prizes/economic-sciences/ 1972/summary (letzter Abruf 04. 02. 2024). Reny, Philip. 2001. „Arrow’s Theorem and the Gibbard-Satterthwaite Theorem: a Unified Approach.“ Economics Letters 70 (1): 99–105. https://doi.org/10.1016/S0165-1765(00)00332-3. Sen, Amartya K. 1970. Social Choice and Collective Welfare. San Francisco: Holden Day. Varian, Hal. 1974. „Equity, Envy and Efficiency.“ Journal of Economic Theory 9 (1): 63–91. https://doi.org/ 10.1016/0022-0531(74)90075-1. Weymark, John A. 1984: „Arrow’s Theorem with Social Quasi-Orderings.“ Public Choice 42: 235–246. https://doi.org/10.1007/BF00124943.
Fabian Wendt
15 Ein Ausflug zur Zwillingserde: Das libertäre Alter Ego von Julian Nida-Rümelin Abstract: A Trip to Twin Earth: Julian Nida-Rümelins Libertarian Alter Ego. The article offers a twin earth thought experiment in which a libertarian counterpart of Nida-Rümelin – who shares his broader philosophical commitments – engages with Nida-Rümelins political philosophy.
Einleitung Vor gut 15 Jahren habe ich bei Julian Nida-Rümelin in München meine Doktorarbeit über libertäre politische Philosophie geschrieben. Was liegt da näher, als anlässlich seines 70. Geburtstags einen leicht augenzwinkernden Beitrag über sein Verhältnis zu dieser in Deutschland eher vernachlässigten Traditionslinie der politischen Philosophie zu verfassen? Man stelle sich eine Zwillingserde vor, auf der auch ein Doppelgänger von Julian Nida-Rümelin lebt. Nennen wir ihn der Einfachheit halber „Alter-Ego“. Alter-Ego teilt Nida-Rümelins philosophische Grundüberzeugungen: den Pragmatismus, den Kohärentismus, den anthropologischen Humanismus, den unaufgeregten Realismus und so weiter. Allein was die politische Philosophie angeht, steht Alter-Ego, anders als „unser“ Nida-Rümelin, fest in der klassisch-liberalen bzw. libertären Tradition von John Locke, Adam Smith, Friedrich Hayek und Robert Nozick. Dies, so wollen wir annehmen, ist auch der einzige Unterschied zwischen der Zwillingserde und unserer Erde. Durch einen metaphysischen Unfall gelangen die Werke des hiesigen Nida-Rümelin in die Hände von Alter-Ego, als dieser sich gerade in einer alten Villa im Italien der Zwillingserde aufhält. Im Folgenden erfahren wir von seinen Leseeindrücken.
1 Nozicks Geschichte von der Entstehung des Minimalstaats Alter-Ego ist zunächst neugierig, was Nida-Rümelin zur libertären Tradition zu sagen hat. Dieser begreift Robert Nozick als den Hauptvertreter und bringt zwei https://doi.org/10.1515/9783111433233-016
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Argumente gegen dessen Auffassungen vor. Das erste richtet sich gegen Nozicks Rechtfertigung des Minimalstaats. Nozick erzählt bekanntlich im ersten Teil von Anarchy, State, and Utopia eine Geschichte von einem Naturzustand, in dem Personen sich zu Schutzgemeinschaften zusammenschließen, welche dann, ohne Lockesche Rechte zu verletzen, in einem Prozess der unsichtbaren Hand eine Entwicklung hin zu einem Minimalstaat nehmen. Dies legitimiert nach Nozick den Minimalstaat¹. Nida-Rümelin schreibt: Warum sollte es nicht in einem analogen Prozess der unsichtbaren Hand neben Schutzgemeinschaften auch Bildungsgemeinschaften geben, die auf Grund individueller Verträge entstehen? Warum sollten sich nicht die Eltern A und die Eltern B zusammenschließen und eine Abgabe zahlen, um beider Kinder unterrichten zu lassen? Dies ist sicher effizienter, als je individuell diesen Unterricht zu gestalten. Warum sollten in gleicher Weise nicht Sozialgemeinschaften entstehen, die gegen existentielle Risiken, wie Krankheit, Elternschaft, Alter oder Arbeitslosigkeit versichern? Auch hier gilt das gleiche Argument der Größe: Je größer die jeweilige Gemeinschaft, desto effektiver kann sie das jeweilige Gut bereitstellen. Es ist zu erwarten, dass auf Grund lediglich individueller Rationalität, der Möglichkeit,Verträge zu tätigen und unter Voraussetzung der wechselseitigen Anerkennung Locke’scher Individualrechte neben Schutzgemeinschaften auch Bildungs- und Sozialgemeinschaften entstehen. Sie sind damit unter den – problematisch einseitigen – normativen Voraussetzungen der Libertären legitimiert. Der Libertarismus zeigt gerade das nicht, was er glaubt, zeigen zu können, nämlich dass jede über den liberalen Nachtwächterstaat hinausgehende staatliche Ordnung Locke’sche Individualrechte verletzt. Mit anderen Worten: Selbst wenn man sich auf die Eskamotierung aller normativen Bestimmungen ausgenommen der Locke’schen Individualrechte einließe, würde sich nach wie vor, also unter Voraussetzung des Primats, ja der ausschließlichen moralischen Relevanz individueller Rechte, ein Sicherheits-, Bildungs- und Sozialstaat legitimieren lassen. (Nida-Rümelin 2006, 120–121)
Alter-Ego findet diese Parallele zwischen Schutzgemeinschaften und Bildungs- und Sozialgemeinschaften nicht recht überzeugend, nachdem er die entsprechende Diskussion in Fabian Wendts Dissertation gelesen hat (Wendt 2009, 168–169). Erstens argumentiert Nozick, dass auf demselben geographischen Gebiet miteinander konkurrierende Schutzgemeinschaften in gewaltsame Konflikte geraten werden, was die Tendenz zur Monopolisierung erklären soll, die ein erster entscheidender Schritt für die Entstehung des Minimalstaates ist (Nozick 1974, 17). Bei miteinander konkurrierenden Bildungs- und Sozialgemeinschaften ist keine parallele Tendenz zur Monopolisierung zu erwarten. Zweitens ist eine Schutzgemeinschaft, die auf einem geographischen Gebiet Monopolstellung erlangt hat, nicht schon aus diesem Grund ein Minimalstaat. Vielmehr ist sie ein Minimalstaat, weil sie moralisch berechtigt ist, auf ihrem Gebiet
1 Vgl. zur Diskussion Miller 2002; Simmons 2005; Wendt 2016; Bader 2017; Mack 2018, 110–124.
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die Privatjustiz durch Individuen, die „unabhängig“ bleiben wollen, zu verbieten, da Privatjustiz ein zu großes Risiko in sich birgt, Lockesche Rechte zu verletzen (Nozick 1974, 74–76 und 105). Zur Entschädigung für ein Verbot der Privatjustiz ist die Schutzgemeinschaft zweitens moralisch verpflichtet, nicht nur zahlende Mitglieder, sondern alle Personen auf ihrem Gebiet zu schützen (Nozick 1974, 110–111). Beides sind moralische Thesen, die nicht auf eine unsichtbare Hand Bezug nehmen, wie auch Nida-Rümelin in einem älteren Text feststellt (Nida-Rümelin 1991, 358). Bezüglich Bildungs- und Sozialgemeinschaften gibt es hier keine plausible Parallele. Selbst wenn in einem bestimmten geographischen Gebiet monopolistische Bildungs- und Sozialgemeinschaften entstehen sollten, werden diese nicht moralisch berechtigt sein, Unabhängigen zu verbieten, ihre Kinder selbst zu unterrichten, oder selbständig für Krankheit und Alter vorzusorgen, da beides kein Risiko für Lockesche Rechte darstellt.
2 Lebensweltliche Moral und Nozicks Begründungspflicht In seinem zweiten Argument gegen Nozick macht Nida-Rümelin geltend, dass eine libertäre Gerechtigkeitstheorie, die ausschließlich auf Lockesche Rechte fokussiert, angesichts der lebensweltlichen moralischen Praxis einer besonderen Begründungspflicht unterliegt: Die elaborierteste Form des Libertarismus hat Robert Nozick mit Anarchy, State and Utopia vorgelegt. Es ist charakteristisch für diese und andere Formen des Libertarismus, dass sie individuelle Freiheit als etwas normativ Gegebenes annehmen. Dies geschieht bei Robert Nozick in der Form, dass er, sich auf John Locke berufend, die wichtigsten individuellen Rechte, das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf Eigentum, ohne weitere ethische Begründungen anführt. Dies ist insoweit ein legitimer Argumentationsschritt, als diese genannten individuellen Rechte in unserer lebensweltlichen moralischen Praxis ebenso wie in den juridischen Systemen der westlichen Demokratien tief verankert sind, wie ein Blick auf die Verfassungsordnungen zeigt. […] [Aber:] Wer […] einzelne Elemente der lebensweltlichen moralischen Praxis (auch der juridischen Systeme und der politischen Begründung) herausgreift, diese als unbezweifelbares Fundament allen normativen Argumentierens auszeichnet und andere Teile der etablierten moralischen Praxis (der juridischen Systeme oder der politischen Begründungen) als irrelevant markiert, trägt eine besondere Begründungspflicht. Interessanterweise erfüllt Nozick diese, ebenso wie andere Libertarier, nicht. (2006, 118–119; vgl. Nida-Rümelin 2017, 40; 2020, 291)
Alter-Ego nimmt erfreut zur Kenntnis, dass Nida-Rümelin die lebensweltliche Verankerung von Lockeschen Rechten inklusive Eigentumsrechten betont, wie es zuletzt ausführlicher Dan Moller getan hat (Moller 2019, Kap. 4). Und Alter-Ego teilt
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natürlich Nida-Rümelins methodischen Pragmatismus hinsichtlich der Relevanz der lebensweltlichen moralischen Praxis. Ihn überrascht allerdings die Aussage, dass Nozick und andere libertäre Philosophen der von Nida-Rümelin postulierten besonderen Begründungspflicht für ihren – vermeintlich – einseitigen Fokus auf Lockesche Rechte nicht nachkommen. Es existieren schließlich hobbesianische, humeanische, kantianische, aristotelische und utilitaristische Theorien, die klassisch-liberale bis libertäre Positionen zu begründen versuchen. Und auch Nozick hat durchaus Argumente für seine auf Lockesche Rechte fokussierende libertäre Gerechtigkeitstheorie, wie wir im Folgenden sehen werden.
3 Lebensweltliche Moral und libertäre Gerechtigkeit Alter-Ego kehrt zu Nozicks Buch zurück. Egalitäre Gerechtigkeitskonzeptionen trägt die Überzeugung, dass eine egalitäre Verteilungsstruktur von Chancen oder Ressourcen oder Wohlergehen realisiert werden muss, damit eine Gesellschaft als gerecht gelten kann. Das wohl bekannteste Argument gegen egalitäre (und andere strukturelle) Gerechtigkeitskonzeptionen im zweiten Teil von Anarchy, State, and Utopia ist das Wilt Chamberlain-Argument (Nozick 1974, 160–164). Nozick lädt seine Leserinnen und Leser ein, sich vorzustellen, dass ihre bevorzugte egalitäre Gerechtigkeitskonzeption verwirklicht ist. Sofern Personen das Recht haben sollen, mit dem, was ihnen gemäß dieser Konzeption zusteht, zu machen, was sie wollen, können und werden sie durch freiwillige Transfers die egalitäre Struktur sprengen, so Nozick, zum Beispiel indem sie zu Wilt Chamberlains Basketballspielen gehen und ihn dadurch reich werden lassen. Da diese neu entstandene Struktur durch legitime Schritte aus einer gerechten Struktur entstanden ist, muss sie ebenfalls als gerecht gelten. Und damit, so das bestechend einfache Argument, sind egalitäre Gerechtigkeitskonzeptionen widerlegt: Eine Gesellschaft muss eben nicht eine egalitäre Verteilungsstruktur realisieren, um als gerecht gelten zu können². Alter-Ego hält das Wilt Chamberlain-Argument für ein plausibles, an unsere lebensweltliche Moral andockendes Argument für eine libertäre Gerechtigkeitskonzeption mit ihrer Offenheit für aus der Ausübung von individuellen Rechten resultierende Verteilungen. Kopfnickend liest er bei Nida-Rümelin: „Robert Nozick hat starke Argumente dafür vorgebracht, dass alle Gerechtigkeitstheorien, die sich darauf beschränken, [Verteilungen zu bewerten,] inadäquat sind, weil sie die Ge2 Vgl. zur Diskussion Rawls 1993, 281–285; Cohen 1995, Kap. 1; Schmidtz 2005; Mack 2018, 76–92, 124– 129; Wendt 2018.
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nese von Verteilungen systematisch ausklammern, weil sie historisch blind sind.“ (Nida-Rümelin 2020, 145; vgl. 1999, 116–117)
4 Individuelle Rechte und kollektive Entscheidungen Alter-Ego möchte mehr über die Konzeption individueller Rechte bei Nida-Rümelin herausfinden und stößt auf dessen Diskussion des „liberalen Paradoxons“. Das liberale Paradoxon ist ein von Amartya Sen beschriebenes Paradoxon in der Theorie kollektiver Entscheidungen, das, grob gesprochen, einen Konflikt aufzeigt zwischen Effizienz bzw. Wohlfahrtssteigerung auf der einen Seite und der minimal-liberalen Idee, dass Individuen eine Sphäre autonomer Entscheidungen haben sollten, auf der anderen Seite (Sen 1970). Die Details sind in unserem Kontext nicht wichtig. In Reaktion auf das Paradoxon schreibt jedenfalls Nida-Rümelin: Meine Überzeugung ist, dass wir im Konflikt zwischen Liberalität und Effizienz für das Primat der Freiheit optieren und anerkennen sollten, dass ein wohlverstandener Liberalismus […] einen Preis hat. […] Freiheit kostet etwas und verlangt im Einzelfall Wohlfahrtseinbußen. Individuelle Rechte rangieren in der Regel vor ökonomischen Vorteilen. Die radikal-libertäre Position lautet: Wenn alle individuellen Rechte wahrgenommen sind, bleiben keine Spielraume mehr für kollektives Entscheiden: Die Individuen, die für sich ihre Rechte realisieren, legen fest, welche Zustände der Gesellschaft realisiert werden. (Nida-Rümelin 2020, 295; vgl. 1993, 102, 107–108; 2009, 291).
Nachdem Nida-Rümelin, wie bereits gesehen, die lebensweltliche Verankerung von Eigentumsrechten anerkennt, muss er sich bei dem beschriebenen Verständnis individueller Rechte die libertäre Position zu eigen machen, glaubt Alter-Ego. Schließlich macht auch Nozick in seiner Diskussion des liberalen Paradoxons geltend, dass individuelle Rechte den Bereich legitimer kollektiver Entscheidungen abstecken: „[S]ocial choice must take place within the constraints of how people choose to exercise these rights.“ (Nozick 1974, 166) Auch weiß Alter-Ego, dass NidaRümelin ebenso wie er selbst diese Rechte im Sinne eines unaufgeregten Realismus ernst nehmen will. Kurz darauf muss er jedoch feststellen, dass Nida-Rümelin sich von der libertären Position distanziert: Die politische Philosophie des Libertarismus suggeriert, dass alle kollektiven Entscheidungen diesem Muster entsprechen, dies ist jedoch ihr zentraler Irrtum. Der Spielraum kollektiver Entscheidungen ohne Verletzung individueller Rechte ist groß. Er ist umso größer, desto stärker wir von Motiven der Solidarität, des gemeinsamen Handelns, des gesellschaftlichen Zusammenhalts, geprägt sind. Dennoch sind individuelle Rechte Trümpfe, das heißt, sie dürfen
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auch dann nicht verletzt werden, wenn ihre Verletzung das allgemeine Wohl fördert. (NidaRümelin 2020, 296; vgl. auch 1999, 92–93)
Alter-Ego ist erstaunt. Wenn Eigentumsrechte und andere individuelle Rechte als Trümpfe fungieren, wie können sie dann einen großen Spielraum für kollektive Entscheidungen lassen? Natürlich, insofern alle das Motiv haben, sich aus Gründen der Solidarität und des Zusammenhalts kollektiven Entscheidungen zu unterwerfen, und entsprechend freiwillig Rechte aufgeben, wird es einen solchen Spielraum geben. Aber wenn einige dieses Motiv nicht haben – vielleicht weil sie lieber selbst entscheiden wollen, auf welche Weise sie ihre Solidarität zeigen wollen und welche gemeinschaftlichen Anliegen sie unterstützen wollen –, dann werden sich kollektive Entscheidungen in einer Demokratie regelmäßig über ihre Rechte hinwegsetzen, denkt Alter-Ego.
5 Individuelle Rechte und die Unverletzlichkeit des Individuums Nida-Rümelin hält Robert Nozick – und auch John Rawls – vor, die Gleichheit individueller Rechte nicht tiefer zu begründen (Nida-Rümelin 2020, 299). Bei ihm soll die Idee der Menschenwürde diese tiefere Begründung liefern. „Ein rechtverstandener Egalitarismus fokussiert auf die gleiche Würde, die jedem menschlichen Individuum zukommt, und den gleichen Respekt, den es verdient.“ (Nida-Rümelin 2020, 266; vgl. auch 2020, 292, 300; 2006, 128, 145–146) Mit Kant erläutert Nida-Rümelin, dass Personen nie als bloßes Mittel für die Handlungsziele anderer instrumentalisiert werden dürfen (Nida-Rümelin 2011, 258). Rechte schützen die Unverletzlichkeit des Individuums. Alter-Ego fällt in diesem Zusammenhang ein, dass der Verweis auf Gleichheit manchmal redundant ist, weil Gleichheit als substantielles Ziel mit der Allgemeinheit der Geltung eines moralischen Prinzips verwechselt wird, wie etwa Angelika Krebs in der Einleitung zu ihrem Sammelband zur Egalitarismuskritik erklärt (Krebs 2000, 8–9). Er vermutet, dass dies auch bei der Rede „gleicher Rechte“ der Fall ist. Aber er hält das im Moment für eher nebensächlich, schließlich stimmt er mit Nida-Rümelin überein, dass individuelle Rechte einer (in einem weiten Sinne) Kantischen Begründung bedürfen, die in einen anthropologischen Humanismus eingebettet ist. Er stellt nur fest, dass Nozick durchaus eine solche Kantische Begründung für individuelle Rechte skizziert (Nozick 1974, 30–33, 48–51). Und auch Rawls betont die Unverletzlichkeit des Individuums, wenn er seine Theorie der
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Gerechtigkeit als Alternative zum Utilitarismus präsentiert (Rawls 1971, 3, 26–28; vgl. auch 1971, 329, 585–586). Rawls und Nozick, Nida-Rümelin, alle sitzen im selben (in einem weiten Sinne) Kantischen Boot, denkt Alter-Ego. Aber ist es nicht die libertäre Gerechtigkeitskonzeption, die die Unverletzlichkeit des Individuums wirklich ernst nimmt? Ist sie nicht die konsequent individualistische Alternative zum Utilitarismus, wie er zum Beispiel von Peter Singer vertreten wird? In Singers Beitrag zu einem alten Sammelband zu Anarchy, State, and Utopia heißt es: „The question we must face, then, is whether any conception of distributive justice that accepts individual rights, particularly the right to property, and prohibits absolutely treating one man as a means to the welfare of another can withstand the arguments Nozick has directed primarily against Rawls.“ (Singer 1975, 48) Mit dem Rückenwind von Singers Autorität fühlt sich jedenfalls Alter-Ego erneut bestätigt³.
6 Deontologisch verstandene Freiheit Am nächsten Tag widmet sich Alter-Ego ausführlicher den Ideen der Freiheit und Gleichheit bei Nida-Rümelin. Nach Nida-Rümelin ist Freiheit nicht axiologisch zu verstehen, also nicht als ein Wert, der zu fördern oder zu maximieren ist. Freiheit ist vielmehr deontologisch zu verstehen, also als etwas, das zu respektieren ist: „Eine Person ist frei, sofern sie autonom leben kann. Ein deontologisches Verständnis von Freiheit verlangt, dass wir uns aller Handlungen enthalten, die diese je individuelle Autonomie gefährden könnten.“ (Nida-Rümelin 2006, 143) Nida-Rümelin scheint dabei einen engen Zusammenhang zwischen Freiheit und individuellen Rechten anzunehmen, was sicherlich gut zu einem deontologischen Verständnis von Freiheit passt. In einer bereits zitierten Passage geht er von der Sprache der Freiheit nahtlos zur Sprache der Rechte über: „Freiheit kostet etwas und verlangt im Einzelfall Wohlfahrtseinbußen. Individuelle Rechte rangieren in der Regel vor ökonomischen Vorteilen“. Alter-Ego ist das sympathisch, auch wenn er gerne mehr Details erfahren würde, etwa ob Freiheit wie bei Ralf Bader in Abhängigkeit von individuellen Rechten definiert werden soll, so dass man nur unfrei werden kann zu Handlungen, die man ein Recht hat zu tun (Bader 2018). In John Rawls’ A Theory of Justice sind ökonomische Freiheiten bekanntlich nicht durch den Gerechtigkeitsgrundsatz, der es mit Rechten und Freiheiten zu tun hat, geschützt (Rawls 1971, 61). Aber wenn individuelle Rechte und deontologisch verstandene Freiheitssphären die Autonomie des Individuums schützen sollen,
3 Vgl. zur Diskussion Mack 2018, 41–55.
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dann sind auch ökonomische Freiheiten anzuerkennen, ist Alter-Ego im Anschluss an John Tomasi überzeugt (Tomasi 2012, 75–84, 182–184). Wie sonst kann zum Beispiel jemand, zu dessen Lebensplan es gehört, ein Restaurant zu führen, selbstbestimmt leben? Freiheit hat, betont Nida-Rümelin, notwendig eine „Gleichheitskomponente“ (Nida-Rümelin 2006, 144): „Diese Kantisch verstandene Freiheit ist ohne Gleichheit konzeptionell unvollständig. Das Postulat des Respekts verlangt, allen gleichermaßen ein autonomes Leben zuzugestehen.“ (Nida-Rümelin 2006, 134) Alter-Ego kann auch dem zustimmen: Natürlich, alle sollen gleichermaßen deontologisch verstandene Freiheit genießen, die Rechte aller sollen gleichermaßen respektiert werden, alle sollen gleichermaßen nach ihrer Façon selig werden können. Das ist etwas ganz anderes, als Eingriffe in die Freiheit im Namen der Gleichheit zu fordern.
7 Gleichbehandlung und Gleichverteilung Nida-Rümelin spricht allerdings nicht nur von Gleichheit, wenn es um gleiche Rechte, gleiche Würde und gleiche Freiheit geht. Er kontrastiert an anderer Stelle Gleichbehandlung und Gleichverteilung. Sofern Verteilungen das Ergebnis von nicht rechtfertigbarer Ungleichbehandlung sind, sind diese ungerecht. Es ist der Akt der Verteilung, der unter deontologischen Kriterien die Gleichheit aller Menschen beachten muss, es ist nicht die Verteilung selbst, die gleich sein muss. Aber sofern die Gleichbehandlung im Akt des Verteilens zu Gleichverteilung führt, ist Gleichverteilung geboten (Nida-Rümelin 2020, 266; vgl. 2006, 131; 2017, 91).
Nida-Rümelin bemüht zur Erläuterung das Kuchenbild der Verteilungsgerechtigkeit: „Wer fünf Gäste hat und auf diese einen Kuchen verteilt, muss Gründe haben, wenn er seinen Gästen nicht gleich große Kuchenstücke serviert.“ (NidaRümelin 2020, 266; vgl. 2017, 92) Möglicherweise werden bei der Verteilung des Kuchens alle gleichbehandelt, wenn auf besondere Bedürfnisse oder auf besondere Verdienste Rücksicht genommen wird. Aber ohne solche guten Gründe für eine Ungleichverteilung verlangt Gleichbehandlung auch eine Gleichverteilung des Kuchens. Alles richtig, denkt sich Alter-Ego, aber in einer freien Gesellschaft sind wir nicht in der Situation, einen vom Himmel gefallenen Kuchen zentral verteilen zu lassen, und zitiert Robert Nozick in sein Diktiergerät: [We] are not in the position of children who have been given portions of pie by someone who now makes last minute adjustments to rectify careless cutting. There is no central distribution, no person or group entitled to control all the resources, jointly deciding how they are to be
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doled out. What each person gets, he gets from others who give to him in exchange for something, or as a gift. In a free society, diverse persons control different resources, and new holdings arise out of the voluntary exchanges and actions of persons. There is no more a distributing or distribution of shares than there is a distributing of mates in a society in which persons choose whom they shall marry. (Nozick 1974, 149–150)
Insofern der Staat keinen Kuchen zu verteilen hat, „behandelt“ er auch niemanden gleich oder ungleich, wenn er Menschen in Ruhe lässt und sie durch freiwillige Kooperation zum wechselseitigen Vorteil ihre je eigenen Kuchen backen und teilen lässt.
8 Gleichbehandlung vs. Suffizienz Nida-Rümelin dagegen scheint Eingriffe in Freiheit und individuelle Rechte im Namen der Gleichbehandlung zu akzeptieren, und spricht in diesem Zusammenhang von einer Balance von Gleichheit und Freiheit (Nida-Rümelin 2006, 147): Gute Gründe für eine Ungleichverteilung sind gerade solche, die zeigen, dass diese spezifische Ungleichverteilung keine Ungleichbehandlung bedeutet. Die Willkürgrenzen dafür sind eng gezogen. […] Die staatlichen Institutionen werden darauf achten, dass [die] Autonomie des Vertragsschlusses und der Kooperation generell mit einer Politik der Inklusion verträglich bleibt, also die Marginalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen durch entsprechende Regelsetzung, aber auch durch staatliche Umverteilung und die Sicherung von sozialen Mindeststandards ausschließen. (Nida-Rümelin 2006, 149; vgl. auch 2009, 370–371; 2011, 258–260, 289– 290; 2017, 166–167)
Alter-Ego fragt sich, wie das Herstellen einer „Balance“ von Freiheit und Gleichheit mit einem deontologischen Verständnis von Freiheit, das an individuelle Rechte geknüpft ist, vereinbar sein soll. Und er versteht nicht, inwiefern eine Politik der Inklusion eine „Gleichbehandlung“ mit sich bringt. (Wer behandelt hier wen gleich?). Ist eine Politik der Inklusion nicht – wenn überhaupt – plausibler im Namen der Suffizienz zu rechtfertigen, also der Idee, dass in einer gerechten Gesellschaft alle genug haben sollten? Nida-Rümelin lehnt zwar einen Suffizienzkriterien hochhaltenden „Non-Egalitarismus“ ab (Nida-Rümelin 2006, 125–128). Doch schreibt er selbst an anderer Stelle: „Der politische Liberalismus des kantianischen Typs nimmt den Staat […] in die Pflicht, die Bedingungen gleicher individueller Autonomie sicherzustellen.“ (Nida-Rümelin 2020, 292; vgl. auch 2011, 258) Da Freiheit, wie gesehen, deontologisch, nicht axiologisch verstanden werden soll, kann Nida-Rümelin hier nicht meinen, dass Freiheit umverteilt werden soll, überlegt Alter-Ego. In seiner Interpretation werden hier vielmehr bestimmte Eingriffe in deontologisch verstandene Freiheit
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und individuelle Rechte für legitim erklärt, falls nur durch solche Eingriffe sichergestellt werden kann, dass alle genug haben, um ein autonomes Leben zu führen. Er hat durchaus Sympathien für diese Auffassung. Auch gemäßigte Klassisch-Liberale und Libertäre (vgl. Friedman 1962, Kap. 12; Hayek 1979, 54-56; Lomasky 1987, 96-97, 125-129; Mack 2006; Zwolinski 2019; Wendt 2022) haben schließlich ähnliche Positionen verteidigt. Alter-Ego fällt in diesem Kontext immer wieder auf, dass libertäre Denker oft als kaltherzig wahrgenommen werden, manchmal sogar als reaktionäre Verteidiger des Status Quo, als Helfershelfer der Reichen und Mächtigen. Doch die libertäre Tradition ist komplex, und die radikale, kritische und emanzipatorische Stoßrichtung libertären Denkens wird allzu oft leider nicht verstanden, wie Matt Zwolinski und John Tomasi in ihrem jüngst erschienenen Buch hervorragend herausgearbeitet haben (Zwolinski und Tomasi 2023). Für individuelle Rechte, Freiheit und Eigentum einzutreten bedeutet nicht, den Status Quo zementieren zu wollen, wenn dieser Status Quo das Ergebnis einer Geschichte des Unrechts ist, in der der Staat nicht nur die schlimmsten Verbrechen begangen hat, sondern auch in seinen demokratisch gezähmten Formen immer wieder für eine ungerechte Umverteilung von unten nach oben sorgt.
9 Gerechtigkeit und Akzeptabilität Einen Tag später beginnt Alter-Ego über den Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Akzeptabilität nachzudenken, den der von Nida-Rümelin verschiedentlich diskutierte Kontraktualismus herzustellen versucht: „Gerecht ist, was von jeder Person akzeptiert werden kann. Ungerecht ist, was aus der Perspektive mindestens einer Person normativ inakzeptabel ist.“ (Nida-Rümelin 2020, 149; vgl. 2020, 297; 2017, 37–38) Statt von der Akzeptabilität von Gerechtigkeitsprinzipien kann man auch von ihrer„öffentlichen Rechtfertigbarkeit“ sprechen, oder die Idee eines hypothetischen Vertragsschlusses involvieren, der dann als Kriterium der Gerechtigkeit gelten soll (Nida-Rümelin 1991, 355; 1993, 97–98; 1999, 28, 37). Nida-Rümelin lehnt den Kontraktualismus zwar ab, wenn und insofern dieser alle Moral auf Kooperationsnormen zwischen Vertragschließenden reduzieren will (Nida-Rümelin 2017, 40). Doch zumindest bezüglich Gerechtigkeit – verstanden als Teilbereich der Moral, der von individuellen Rechten, Freiheit und Gleichheit handelt – scheint er sich durchaus ein kontraktualistisches Bild zu eigen zu machen (Nida-Rümelin 2006, 152–153; 2009, 362–363, 369). Die Frage ist dann, wie der hypothetische Vertrag zu modellieren ist. NidaRümelin kritisiert John Rawls’ Vertragsmodell, bei dem die Fairness der kontrak-
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tualistischen Wahl von Gerechtigkeitsprinzipien durch einen „Schleier des Nichtwissens“ gesichert wird (Rawls 1971, Kap. 3): Die konsequente Unterdrückung aller Information über die Interessenlage und die Annahme wechselseitiger Desinteressiertheit und eigeninteressierter Rationalität macht die „vertragschließenden“ Parteien ununterscheidbar. Es ist rätselhaft, in welchem Sinne sie unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft repräsentieren. Die Fairness-Bedingung ist so stark ausgefallen, dass sie unter der Hand die Theory of Justice in eine Theorie des idealen Beobachters – ungewollt – transformiert hat (Nida-Rümelin 2020, 154; vgl. Nida-Rümelin 2009, 363, aber auch 1999, 53).
Alter-Ego stimmt dem zu: Wenn Gerechtigkeitsprinzipien gegenüber Personen aus Fleisch und Blut rechtfertigbar sein sollen, dann sollte man diese Personen in der Modellierung der Wahlsituation dieser Prinzipien nicht so weit idealisieren, dass alles unsichtbar wird, was sie als Individuen ausmacht. Genau diese Einsicht motiviert Gerald Gaus zu einer nur moderaten Idealisierung der Akteure in seinem Modell öffentlicher Rechtfertigung, bei dem diese ihre je verschiedenen Auffassungen von Gerechtigkeit und dem guten Leben behalten (Gaus 2011, Kap. 14–16). Aber Eingriffe in die Freiheit werden dann natürlich auch schwieriger öffentlich zu rechtfertigen, weswegen das Prinzip öffentlicher Rechtfertigung nach Gaus tendenziell klassisch-liberale Implikationen hat (Gaus 2011, Kap. 23–24). Alter-Ego selbst glaubt zwar nicht, dass öffentliche Rechtfertigbarkeit als Kriterium der Gerechtigkeit gelten sollte, ist dabei aber wahrscheinlich übergebührlich von Fabian Wendt beeinflusst (Wendt 2019). Wenn man öffentliche Rechtfertigbarkeit als Kriterium der Gerechtigkeit ansieht, dann hat man im Lichte von Gaus’ Argumentation einen weiteren Grund, eine klassisch-liberale Gerechtigkeitskonzeption zu akzeptieren. Damit schließt sich der Kreis und alles passt zusammen, sinniert Alter-Ego, der wie Nida-Rümelin ein Anhänger des Kohärentismus ist. Alter-Ego ist zufrieden mit der bisherigen Auseinandersetzung mit seinem Doppelgänger. Doch am folgenden Tag, während er in der alten Villa über das Thema der Migration und internationalen Gerechtigkeit bei Nida-Rümelin nachzudenken beginnt, behebt das Universum plötzlich und unerwartet den metaphysischen Unfall, mit dem unser Ausflug zur Zwillingserde begann, und Nida-Rümelins Werk entschwindet seinen Händen.⁴
4 Für Feedback zu früheren Versionen dieses Textes danke ich Benjamin Buchthal, Christine Bratu, Julian F. Müller und Thomas Wyrwich.
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Elias Unger
16 Zum Verständnis der Menschenrechte jenseits philosophischer Reduktionismen Abstract: Towards an understanding of human rights beyond philosophical reductionisms. Julian Nida-Rümelin′s practical philosophy represents a counter-proposal to the reductionist approaches that are widespread in both ethics and political philosophy. According to him, the main problem with such approaches is that they do not adequately take into account the variety of action-guiding reasons. In order to clarify this problem, this article will examine some reductionisms represented in the current human rights literature. Finally, the question of how human rights can be adequately understood beyond such reductionisms is also examined.
Einleitung Die Kritik reduktionistischer Ansätze im Zusammenhang mit der Erörterung moralischer oder politischer Pflichten gehört zu den wiederkehrenden Motiven in der praktischen Philosophie Julian Nida-Rümelins. Sein in diesem Zusammenhang zentrales Argument basiert dabei auf der Feststellung, dass derartige Ansätze die Vielfalt der Gründe, die für einzelne Handlungen sprechen, vernachlässigen und damit eine extreme Verkürzung unserer lebensweltlichen Begründungspraxis darstellen. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, ist diese Einsicht auch im Zusammenhang mit den Menschenrechten von Bedeutung. Hierfür werde ich zunächst auf einige im philosophischen Diskurs um die Menschenrechte vertretenen reduktionistischen Ansätze eingehen und zeigen, inwiefern diese den Wesensgehalt der Menschenrechte nicht adäquat erfassen. Wie ein Menschenrechtsverständnis jenseits derartiger Reduktionismen aussehen könnte, wird dann im zweiten Teil dieses Beitrags skizziert.
1 Kritik menschenrechtlicher Reduktionismen 1.1 Der Rekurs auf den allgemeinen Nutzen Eine erste Form des menschenrechtlichen Reduktionismus findet sich bereits bei John Stuart Mill, der die Notwendigkeit der Achtung grundlegender individueller https://doi.org/10.1515/9783111433233-017
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Rechte durch Rekurs auf das allgemeine Nutzenprinzip begründet.¹ So argumentiert er etwa, dass die Missachtung des Rechts auf freie Meinungsäußerung in jedem Fall problematische Konsequenzen für das allgemeine Wohl mit sich brächte: Wäre der Inhalt einer verbotenen Äußerung wahr, so beraubte sich die Gesellschaft einer möglichen Anregung zur Überwindung ihres Irrtums; wäre er hingegen falsch, so ginge durch das Verbot ein Anschauungsbeispiel für den Irrtum verloren, welches dazu dienen könnte, die Notwendigkeit des Richtigen noch eindrücklicher zu offenbaren (Mill 1988, 26). Die Pflicht der Achtung des Rechts auf freie Meinungsäußerung folgt bei Mill demnach allein aus dem Umstand, dass eine Gesellschaft, in der ein derartiges Recht gewährleistet wird, mehr Vorteile mit sich bringt als eine solche, in der dieses Recht nicht gewährleistet wird. Und wie Mill glaubt, lässt sich ein derartiger Nachweis für sämtliche individuellen Rechte erbringen. So bedeutsam Mills Hinweis auf die positiven gesellschaftlichen Folgen einer allgemeinen Achtung grundlegender individueller Rechte auch sein mag, sein Versuch, individuelle Rechte durch Rekurs auf das Nutzenprinzip zu begründen, überzeugt nicht. Die utilitaristische Begründung universeller Menschenrechte scheitert nicht zuletzt an dem Umstand, dass die konsequente Anwendung des Prinzips der allgemeinen Nutzensteigerung unter gewissen Umständen die Missachtung individueller Rechte durchaus gebietet.² Man nehme etwa an, ein Straftäter habe zum wiederholten Male eine schwere, der Gesellschaft enormen wirtschaftlichen Schaden zufügende Straftat begangen und es ist davon auszugehen, dass er nach dem Absitzen seiner Strafe wieder auf eine ähnliche Weise straffällig werden würde. Man nehme außerdem an, der Täter habe keine Angehörigen, weshalb auch niemand darunter leiden würde, wenn er nicht mehr unter den Lebenden weilte. Würde sich unter diesen Ausgangsbedingungen ein Umstand ergeben, in dem die schmerzlose und im Geheimen durchgeführte Tötung des Straftäters möglich ist, so wäre diese aus utilitaristischer Perspektive geboten,³ was jedoch in einem starken Widerspruch zum menschenrechtlichen Gebot der gleichen Achtung allen menschlichen Lebens steht. An Beispielen wie diesen wird deutlich, dass es rein utilitaristischen Begründungsversuchen nicht gelingt, das Wesen der Menschenrechte angemessen zu erfassen.
1 Mills reduktionistischer Ansatz beschränkt sich nicht allein auf die Begründung individueller Rechte. Vielmehr versteht er „Nützlichkeit als letzte Berufungsinstanz in allen ethischen Fragen“ (Mill 1988, 18). 2 Für den formallogischen Beweis eines prinzipiellen Konflikts zwischen konsequentialistischen Ethiken und der Idee individueller Rechte vgl. Nida-Rümelin 1993, 99–110. 3 Dies gilt nicht nur für die Position des Handlungsutilitarismus. Auch ein Regelutilitarist nimmt seine Position nur dann wirklich ernst, wenn er derartige Fälle berücksichtigt und seine Regeln dementsprechend anpasst.
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1.2 Der Rekurs auf die Menschenwürde Die nächste Form des menschenrechtlichen Reduktionismus, der ich mich hier zuwenden möchte, ist eine, zu der auch Nida-Rümelin selbst kritisch Stellung bezogen hat. Aufgrund der Prominenz des Würdebegriffs im jüngeren Menschenrechtsdenken sehen sich immer wieder Theoretiker dazu veranlasst, die menschliche Würde als das normative Fundament der Menschenrechte auszuzeichnen. Und auch die internationale Menschenrechtsdoktrin legt bisweilen einen derartigen Begründungszusammenhang von Menschenwürde und Menschenrechten nahe. So heißt es etwa in den Präambeln der beiden Menschenrechtspakte von 1966, dass sich die dort enthaltenen Rechte „aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten“. Und tatsächlich scheint der Menschenwürdebegriff im Zusammenhang mit den Menschenrechten von enormer Bedeutung zu sein. So lässt sich etwa das menschenrechtliche Folterverbot, welches auch Formen so genannter Rettungsfolter einschließt, als Ausdruck der von Kant geprägten Würdevorstellung interpretieren, der zufolge jeder Mensch immer auch als Selbstzweck, niemals nur als Mittel behandelt werden darf. Und auch darüber hinaus lassen sich viele Menschenrechte als Grundbedingungen eines menschenwürdigen Lebens verstehen. Dennoch ist die Vorstellung, alle Menschenrechte seien in der allgemeinen Menschenwürde begründet, mit gewissen Problemen behaftet. Schließlich handelt es sich beim Würdebegriff um einen philosophisch durchaus umstrittenen Begriff. Es stellt sich daher die Frage, inwiefern der Rekurs auf die Menschenwürde tatsächlich Klarheit verschafft, wenn es um die Frage nach der Sollgeltung und dem konkreten Inhalt einzelner Menschenrechte geht. Außerdem scheint eine Würdekonzeption, die tatsächlich als normatives Fundament der Menschenrechte herhalten könnte, in einem gewissen Spannungsverhältnis zu unserer lebensweltlichen Vorstellung von der Menschenwürde zu stehen. Wie eine Würdekonzeption aussehen könnte, die unserem Alltagsverständnis des Würdebegriffs entspricht, hat Nida-Rümelin gezeigt. In Anlehnung an Avishai Margalit rekonstruiert er den Würdebegriff durch Bezug auf den Begriff der Selbstachtung. Die Würde eines Menschen verletzen heißt dann, ihm seine Selbstachtung zu nehmen, indem man ihm durch gewisse Handlungen einen Grund dafür gibt, sich existenziell gedemütigt zu fühlen (Nida-Rümelin 2009, 241–242). Wie Nida-Rümelin zurecht feststellt, reicht ein so gefasster Würdebegriff jedoch bei Weitem nicht aus, um als normatives Fundament der Menschenrechte zu dienen. Denn nicht nur gibt es Handlungen, die wir für gewöhnlich als eine Menschenrechtsverletzung ansehen, die jedoch zugleich keinen Akt der Demütigung darstellen; vielmehr gibt es darüber hinaus laut NidaRümelin auch solche Handlungen, die zwar existentiell demütigen, dabei jedoch kein Menschenrecht verletzen (Nida-Rümelin 2009, 244).Vor dem Hintergrund eines
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an unserem Alltagsverständnis orientierten Würdebegriffs scheint es insofern angebracht, die Menschenwürde nicht als das (alleinige) normative Fundament der Menschenrechte anzusehen. Das Gesamt der Menschenrechte lässt sich ohne größere philosophische Verrenkungen durch den Rekurs auf den Würdebegriff jedenfalls nicht adäquat erfassen.
1.3 Der Rekurs auf den Freiheitsbegriff Eine weitere Form des menschenrechtlichen Reduktionismus zeigt sich bei denjenigen Ansätzen, die den normativen Grund der Menschenrechte im Freiheitsbegriff verorten. Da der Freiheitsbegriff in der Philosophie ganz unterschiedlich interpretiert wird, kommen derartige Ansätze zum Teil zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Zum Zwecke der Illustration werde ich mich im Folgenden lediglich zwei unterschiedlichen Varianten eines derartigen Ansatzes zuwenden. Die klassische liberale Position versteht den Freiheitsbegriff ausschließlich negativ. Freiheit besteht diesem Verständnis zufolge in der Abwesenheit von Zwang. Insbesondere von libertärer, aber auch von neo-konservativer Seite wird der negative Freiheitsbegriff immer wieder als das eigentliche normative Fundament der Menschenrechte herausgestellt, welches – so die oftmals damit verbundene Kritik – im modernen Menschenrechtsdenken vollkommen aus den Augen geraten sei.⁴ Schließlich gehen die international vereinbarten Menschenrechtskataloge über die Proklamation negativer Abwehrrechte weit hinaus, indem sie Rechte enthalten, deren Erfüllung mehr verlangt, als ein bloßes Unterlassen gewisser Handlungen. So beinhaltet die internationale Menschenrechtsdoktrin etwa mit den so genannten wirtschaftlichen und sozialen Rechten (u. a. Recht auf Nahrung, Recht auf medizinische Grundversorgung, Recht auf Bildung) Ansprüche, die sich in erster Linie als Korrelat positiver Pflichten auffassen lassen. Da es durchaus gute Gründe dafür gibt, diese Rechte als elementaren Bestandteil des Menschenrechtskorpus anzuerkennen,⁵ ist jedoch der libertäre, auf dem negativen Freiheitsbegriff aufruhende Reduktionismus im Zusammenhang mit den Menschenrechten unzureichend. Anstelle des negativen wird bisweilen auch der kommunikative Freiheitsbegriff als das normative Fundament der Menschenrechte ausgezeichnet. So heißt es etwa bei Seyla Benhabib: „Die Menschenrechte können […] als Moralprinzipien betrachtet werden, welche die Ausübung unserer kommunikativen Freiheit schützen und der Verkörperung in Gesetzesform bedürfen“ (Benhabib 2016, 79). Während
4 Vgl. u. a. Hayek 2003, 252–257; Scruton 2019, 113–132. 5 Für eine überzeugende Verteidigung dieser Menschenrechte vgl. u. a. Nickel 2009, 440–451.
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Benhabib die Frage, welche konkreten Rechte sich aus dem kommunikativen Freiheitsbegriff ergeben, bewusst offenlässt,⁶ haben andere Autoren hierzu durchaus konkrete Angaben gemacht.⁷ Dabei zeigt sich, dass sich tatsächlich nahezu alle der im internationalen Menschenrechtskorpus enthaltenen Rechte auf der Grundlage des kommunikativen Freiheitsbegriffs begründen lassen. Dies gilt nicht nur für die sogenannten politischen Teilnahmerechte, sondern auch für die negativen Freiheitsrechte sowie die sozialen Anspruchsrechte. Denn wie sollte kommunikative Freiheit gewährleistet sein, wenn Menschen mittels Folter zum Unterlassen einer öffentlichen Meinungsäußerung bewegt werden könnten? Auch lässt sich kommunikative Freiheit nur dann adäquat ausüben, wenn alle Menschen über die materiellen Voraussetzungen verfügen, um sich überhaupt an öffentlichen Diskursen beteiligen zu können. Dennoch eignet sich der kommunikative Freiheitsbegriff meines Erachtens nur bedingt als normatives Fundament der Menschenrechte. Diese Bedingtheit ergibt sich unter anderem aus dem Umstand, dass nicht alle Menschen zur Kommunikation fähig sind. Es stellt sich daher nicht nur die Frage, wie mittels dieses Freiheitsbegriffs gerechtfertigt werden kann, dass alle Menschen gleichermaßen Menschenrechte haben (Valentini 2014, 676), sondern auch, warum unter diesen Umständen kommunikative Freiheit überhaupt für alle Menschen gleichermaßen ein besonders schützenswertes Gut darstellt und insofern der vorrangige rechtliche Schutz dieser Freiheit universell rechtfertigbar ist. Außerdem sind es oftmals nicht – oder jedenfalls nicht in erster Linie – Verletzungen der Kommunikationsbedingungen, die uns dazu veranlassen, eine Handlung als Menschenrechtsverletzung zu klassifizieren. Ist etwa die Verletzung des Rechts, nicht gefoltert zu werden, in erster Linie deshalb problematisch, weil durch die Folter die kommunikative Freiheit einer Person eingeschränkt wird? Ist nicht vielmehr die Tatsache, dass durch diese Praxis einem Menschen vermeidbares Leid zugefügt wird, bereits ein hinreichender Grund für das Unterlassen einer derartigen Praxis? Die Verletzung kommunikativer Freiheit stellt also, wie es scheint, nur einen Teilaspekt dessen dar, was mittels der Menschenrechte verhindert werden soll. Der Begriff der kommunikativen Freiheit ist insofern als alleiniges normatives Fundament der Menschenrechte unzureichend.
6 Laut Benhabib gibt es eine „intrinsische Verbindung“ zwischen Menschenrechten und demokratischer Selbstbestimmung (vgl. Benhabib 2016, 71). Nur in gemeinsamer Ausübung kommunikativer Freiheit lassen sich ihr zufolge konkrete Menschenrechte ermitteln. Daher sei „jede Liste von Menschenrechten, die wir aufstellen, zwangsläufig unvollständig“ (Benhabib 2016, 67). Dennoch finden sich auch bei ihr stellenweise Andeutungen darüber, welche Rechte ihrer Meinung nach konkret dem Kanon der Menschenrechte zugeordnet werden könnten (vgl. etwa Benhabib 2016, 143). 7 Vgl. dazu u. a. Cortina 1990, 37–49; Alexy 1995, 127–164.
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1.4 Der Rekurs auf die völkerrechtliche Funktion der Menschenrechte Eine weitere Form des menschenrechtlichen Reduktionismus zeigt sich schließlich im Zusammenhang mit den sogenannten politischen Menschenrechtskonzeptionen, wie sie unter anderem von John Rawls, Charles Beitz und Joseph Raz vertreten werden.⁸ Ihnen zufolge besteht die zentrale Funktion der Menschenrechte darin, anzugeben, ab wann externe Eingriffe in die Souveränität anderer Staaten völkerrechtlich legitim sind. Menschenrechte stellen diesem Verständnis zufolge genau diejenigen Rechte dar, deren Verletzung ein Eingreifen anderer Staaten rechtfertigt. Hier wird also die Legitimität äußerer Eingriffe im Falle einer Verletzung individueller Rechte zum zentralen Definitionsmerkmal der Menschenrechte erklärt. Zweifelsohne ist der Umstand, dass Menschenrechte unterdessen auch auf der Ebene des Völkerrechts institutionalisiert sind, für das Menschenrechtsprojekt von enormer Bedeutung. Dennoch scheinen Ansätze, die Menschenrechte in erster Linie als ein Instrument der Außenpolitik verstehen, eine ganz wesentliche Funktion der Menschenrechte zu vernachlässigen. Diese besteht darin, den Unterdrückten selbst ein Instrument an die Hand zu geben, um ihnen zugefügtes Unrecht anzuprangern. Die Sprache der Menschenrechte ist eine der Ermächtigung. Es mag durchaus Fälle geben, bei denen externe Hilfe den einzig möglichen Weg der Realisierung von Menschenrechten darstellt. Diesen Weg der Menschenrechtsdurchsetzung zum Definitionsmerkmal der Menschenrechte zu erklären, verfehlt jedoch deren eigentliche Ausrichtung. Besonders deutlich zeigt sich dies am Ansatz von Rawls, dessen Menschenrechtsliste hinter den international vereinbarten Menschenrechtskatalogen weit zurückbleibt.⁹ Aber auch die Menschenrechtskonzeption von Beitz weist in diesem Sinne deutliche Lücken auf, wenn er etwa Frauenrechte aus dem Katalog der Menschenrechte ausschließt, mit dem Argument, eine Verletzung derartiger Rechte würde ein Eingreifen anderer Staaten nicht rechtfertigen (Beitz 2009, 195).
8 Vgl. Rawls 1996, 80–83; Rawls 2002, 78–81; Beitz 2003, 36–46; Beitz 2004, 193–214; Beitz 2009, 96–125; Raz 2010, 321–337. 9 Für die Unterschiede zwischen der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte enthaltenen Menschenrechtsliste und der Rawls′schen Konzeption siehe Rawls 2002, 80, FN 23.
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2 Menschenrechte als diskursiv zu ergründendes Konzept Wie dieser Überblick über unterschiedliche im Zusammenhang mit den Menschenrechten vertretenen Reduktionismen gezeigt hat, gelingt es derartigen Ansätzen nicht, das Wesen der Menschenrechte angemessen zu erfassen. Es stellt sich daher die Frage, wie ein Menschenrechtsverständnis jenseits derartiger Reduktionismen aussehen könnte. Dieser Frage möchte ich mich nun abschließend zuwenden. Zur Klärung dieser Frage ist es hilfreich, sich noch einmal das zentrale Problem reduktionistischer Ansätze vor Augen zu führen. Es besteht darin, dass diese die Vielfalt der Gründe, die für die Achtung einzelner Menschenrechte sprechen, vernachlässigen. Mit anderen Worten: Es handelt sich hierbei um begründungstheoretische Abkürzungen, die zur Folge haben, dass die reichhaltige Welt normativer Gründe nicht mehr wahrgenommen wird. Doch wie könnte ein Ansatz aussehen, der solche Abkürzungen vermeidet? Die naheliegende Antwort liegt in einem Ansatz, welcher sich nicht über die lebensweltliche Begründungspraxis hinwegsetzt, sondern ebendiese vielmehr ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit stellt. Unter den in der Philosophie vertretenen Menschenrechtskonzeptionen werden diskursive Ansätze dieser Anforderung am ehesten gerecht. Der Kerngedanke derartiger Ansätze besteht darin, dass normative Fragen wie die der Menschenrechte einer gemeinsamen, gründebasierten Auseinandersetzung bedürfen und nicht an wissenschaftliche, religiöse, politische oder andere Autoritäten abgegeben werden sollten. Auch wenn diskursiven Menschenrechtskonzeptionen zumeist ein kantischkonstruktivistisches Moralverständnis zugrunde liegt,¹⁰ sind sie an eine derartige metaethische Positionierung keineswegs notwendig gebunden. Vielmehr ist eine solche Auffassung auch problemlos mit einer spezifischen Form des moralischen Realismus vereinbar, wie sie unter anderem Nida-Rümelin vertritt. Laut Nida-Rümelin ist nämlich ein überzeugender moralischer Realismus notwendig fallibilistisch. Mit anderen Worten: Die Annahme der Existenz moralischer Tatsachen ist nicht an die Überzeugung gebunden, diese Tatsachen bereits vollumfänglich erkannt zu haben (Nida-Rümelin 2018, 115). Übertragen auf die Menschenrechte bedeutet das: Wir sollten das, was wir als Menschenrechte bezeichnen, immer nur als den Versuch einer Annäherung an und Konkretisierung der tatsächlichen, ewig gültigen und unveränderlichen, aber uns verborgenen, Menschenrechte verstehen. Wie in theoretischen, so haben wir jedoch auch in praktischen Fragen immer den
10 So z. B. Forst 2018, 241–265.
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öffentlichen Diskurs als einen guten Indikator dafür, was richtig und was falsch ist. Durch den wechselseitigen Austausch von Gründen stellen wir fest, welche Rechte sich gut, und welche sich weniger gut begründen lassen. Da der Diskurs nicht von Vornherein auf eine bestimmte Sorte an Gründen festgelegt ist, lässt ein diskursiver Ansatz – im Gegensatz zu den oben beschriebenen reduktionistischen Ansätzen – eine Vielzahl an Gründen für die Geltung einzelner Menschenrechte zu. Darüber hinaus ist auch noch ein weiterer Unterschied unverkennbar: Während reduktionistische Ansätze dazu tendieren, endgültige Menschenrechtslisten zu präsentieren, bleibt ein diskursiver Ansatz im Zusammenhang mit inhaltlichen Fragen deutlich zurückhaltender. Gemäß dieser Auffassung handelt es sich bei Menschenrechten in ihrer politisch-rechtlich verwirklichten Form um ein historisch offenes Konzept, welches immer wieder aufs Neue kritisch überprüft und gegebenenfalls diskursiv weiterentwickelt werden musss. Der hier skizzierte Ansatz unterscheidet sich von den reduktionistischen Ansätzen also nicht zuletzt insofern, als ihm ein anderes Verständnis von Philosophie zu Grunde liegt. Gemäß diesem Verständnis besteht die Aufgabe der Philosophie weniger darin, endgültige Antworten auf normative Fragen zu finden; ihr kommt vielmehr die Rolle zu, unsere lebensweltlichen Überzeugungen zu systematisieren, weiterzudenken, und auf mögliche Probleme einzelner Positionen hinzuweisen. Auf diese begrenzte, aber deshalb nicht weniger wichtige Funktion der Philosophie immer wieder hinzuweisen, gehört zu den großen Verdiensten Julian Nida-Rümelins.
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Ariane Gärtner
17 Zur politischen Dimension des philosophischen Humanismus Abstract: On the Political Dimension of Philosophical Humanism. Nida-Rümelins take on Philosophical Humanism emphasizes the pivotal human capacity to make decisions and act upon reasons. This understanding of Philosophical Humanism specifically entails an political dimension, which has to defend itself against various ‘isms’ That reveal themselves in current dominant sociopolitical theories. Amongst the latter we can not only identify naturalism but foremost economism with its’ focus on agents’ productivity. This doesn’t only affect political decision making regarding education which has been gradually shifting from fostering a broader spectrum of capabilities in favour of economical functionalism but also bears on what Michael Sandel calls an ’Ethics of Merit’. As a philosophical stance which takes individuals seriously, Humanism thereby also opposes to all kinds of variations of collectivism as its propositions are irreconcilable with Humanisms’ main concern: the protection of individuals’ rights and their right to self-determination. This article explores why Nida-Rümelins Theory of Philosophical Humanism offers appropriate answers to major political challenges of our time, how the humanistic stance can ease fears of future dystopias, and protect democracy against its enemies which requires individuals’ awareness and usage of their power of judgment. Der philosophische Humanismus hat, wie kaum eine andere philosophische Strömung, eine politische Dimension. In der Tat bin ich davon überzeugt, dass die neuen Fantasmen und Fundamentalismen, die Kommerzialisierung und Infantilisierung der westlichen Kultur und der Kulturen weltweit nicht nur einer philosophischen, sondern einer politischen Antwort bedürfen und dass diese humanistisch sein sollte. (Nida-Rümelin 2016, 11)
Einleitung Nida-Rümelins Verständnis des philosophischen Humanismus kann man, wie dieses Eingangszitat vermuten lässt, als Antithese zu gewissen zeitgenössischen Tendenzen begreifen, den Menschen zunehmend zu infantilisieren, ihm also immer weniger zuzutrauen, oder gar im Sinne eines ökonomistisch geprägten Menschenbildes mehr als Konsumist denn als Bürger zu behandeln. Die Diagnose einer Gefährdung politischer Ordnung und Kultur schließt an dieser Feststellung an und lässt sich primär an zwei Problemfeldern explizieren: erstens, die bildungspolitihttps://doi.org/10.1515/9783111433233-018
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sche Abkehr vom humanistischen Persönlichkeitsideal (1) und zweitens, der Orientierung an Parametern und Handlungsmaximen, welche sich nicht an der lebensweltlichen Realität und der Lebensform selbst orientieren, sondern vielmehr glauben, diese Realität über die Identifikation eines idealen Gestaltungsprinzips verändern oder optimieren zu können (2). Das humanistische Persönlichkeitsideal zeichnet sich dabei ideengeschichtlich durch Autarkie (Pico della Mirandola) sowie Autonomie (Kant) aus. Mit seinem Fokus auf Würde, Universalität, Freiheit und Gleichheit, und damit der Achtung vor jedem Einzelnen, steht der philosophische Humanismus vor der Herausforderung sich gegen diverse Positionen und Weltanschauungen verteidigen zu müssen, die bei näherer Betrachtung im Kern als anti-humanistisch zu kennzeichnen sind, sich aber gegenwärtig wie historisch größerer Anziehungskraft erfreuen. Diese Ismen, wie ich sie hier nennen will, zeigen neben ihrer anti-humanistischen Ausrichtung zudem eine weitere Gemeinsamkeit, nämlich, dass man sie darüber hinaus ebenso als anti-realistisch klassifizieren kann. Es ist daher konsequent, dass Nida-Rümelin den Realismus selbst als wichtiges Merkmal des Humanismus begreift (Nida-Rümelin 2016, 362–363) und zugleich in oben genannter humanistischer Antwort auf die politischen Fantasmen dieser Zeit fordert, dass Wahrheit einen Platz in der Demokratie haben muss (Nida-Rümelin 2019, 250), sich damit also gleichzeitig jeder anti-realistischen Tendenz wie etwa der zum Relativismus oder (moralischen) Subjektivismus verwehrt.
1 Anthropologie Das humanistische Menschenbild unterscheidet sich schon deshalb maßgeblich von seiner Antipode, dem Hume’schen Akteur als des Idealtypus eines interessengeleiteten Konsumbürgers, als dass sich das humanistische autarke wie autonome Persönlichkeitsideal nicht etwa von Augenblicksneigungen, Interessen oder Wünschen leiten lässt, sondern der Mensch, selbst- nicht fremdbestimmt, Autor seines Lebens, sich vielmehr durch eine besondere Fähigkeit auszeichnet, die sich in ihren drei fundamentalen Merkmalen Vernunft-Freiheit-Verantwortung manifestiert. Diese drei Merkmale wiederum beschreiben nach Nida-Rümelin unterschiedliche, jedoch nicht getrennt voneinander denkbare Seiten der genuin menschlichen Fähigkeit sich von Gründen affizieren zu lassen: Die besondere menschliche Fähigkeit sich von Gründen leiten zu lassen, verstehe ich als die zentrale These des Humanismus als eines Clusters philosophischer Theorien, sowie kultureller, politischer und sozialer Praktiken, insbesondere im Bereich der Bildung. Die Idee Autorin oder Autor des eigenen Lebens zu sein, Verantwortung zu tragen, für das, was man meint und tut,
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autonom zu urteilen und entscheiden zu können, durchzieht die unterschiedlichen Fassungen des Humanismus in sonst weit divergierenden Kulturen von der Antike bis zur Gegenwart. (Nida-Rümelin 2020, IX)
Nach Gründen zu handeln ist demnach kennzeichnend für die Lebensform des Menschen, der Grund seiner Würde, seiner Freiheit, seiner Verantwortung als vernünftiger Akteur und verdeutlicht zugleich, warum der Humanismus eine realistische Haltung voraussetzt: denn Gründe sind ihrem propositionalen Inhalt nach objektiver Art. Unsere Begründungspraxis, die aus der je individuellen Verantwortung resultierende wechselseitige Notwendigkeit sich rechtfertigen zu können und nach Rechtfertigung verlangen zu dürfen, erfordert „sich nur von solchen Gründen“ leiten zu lassen, die aus Perspektive anderer Personen objektiv nachvollziehbar sind (Nida-Rümelin 2020, 41–42). Die Orientierung an und Handeln nach Gründen als besonderes Merkmal der menschlichen Lebensform wird, da der Austausch von Gründen das Interpersonelle an sich kennzeichnet, in Nida-Rümelins politische Philosophie integriert, welche damit seine holistische Betrachtung von Lebensform und Lebenswelt reflektiert: so wie der vernünftige Mensch sich von Gründen affizieren, nicht von Wünschen leiten lässt, erfordert auch die politische Praxis nach den besseren Gründen, dem überzeugenderen Argument, das nach Wahrheit und Objektivität strebt, zu entscheiden sich und nicht an den je subjektiven Präferenzen der jeweiligen politischen Akteure auszurichten. Politische Argumente bringen niemals lediglich Wünsche oder Interessen zum Ausdruck (Nida-Rümelin 2006, 41). Diese wichtige Differenzierung zwischen Gründen und Interessen ist auch insofern bedeutsam, als dass sie unter anderem die populäre Standardauffassung von Demokratie als Mehrheitswahl in Frage stellt. Demokratie darf nicht zum Dominanzstreben in einem Spiel der Interessen verkommen, wenn die normativen Grundlagen der politischen Ordnung nicht erodieren sollen und damit deren Stabilität gefährden. Das humanistische Verständnis von Demokratie ist daher ein normatives, kein instrumentelles. Es lassen sich zuvorderst schon allein hinsichtlich der anthropologischen Basispostulate gewisse Differenzen zwischen oben genannten Ismen und dem Humanismus hervorheben. Diese Parameter nehmen Einfluss darauf, welche Politikkonzeption, oder besser gesagt: welche (normativen) Gestaltungsparameter politischer Ordnung man auf Basis dieser Grundannahmen für geboten hält. Da der Humanismus in jedweder Lesart ideengeschichtlich die Kernthese vertritt, wonach jedem Menschen qua Existenz eine besondere Würde zukommt und wie es Kant (1785) in der Metaphysik der Sitten über die zweite Variante des kategorischen Imperativs formalisiert, jeder Mensch Zweck an sich sei, es folglich es untersagt ist, ihn zu fremden Zwecken zu instrumentalisieren, ist, was diese Würde ausmacht,
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immer unabhängig von teleologischen Qualitäten wie etwa distinkten natürlichen Eigenschaften zu bestimmen, anhand derer über die Nützlich- bzw. Wertigkeit des Einzelnen im Kontext gesellschaftlicher Zielvorstellungen gerichtet wird. Deshalb wendet sich die Humanistische Philosophie gegen jede Art anthropologischen Fundamentalismus (Nida-Rümelin 2016, 201–202), welcher es zulassen würde, auf Basis solcher Attribute über das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe zu bestimmen, (sozialdarwinistisch begründete) Hierarchien zu etablieren und aufrecht zu erhalten, Gruppenkonflikte zu befeuern oder gar den Ausschluss aus der Gesellschaft aufgrund dieser qualitativen Merkmale zu rechtfertigen. Der Naturalismus muss sich hier in Anbetracht seiner Ausrichtung auf eben jene Suche nach distinkten ontologischen Entitäten prima facie als erste offensichtliche Opposition zum Humanismus aufdrängen. Die Selbstkonstitution des Menschen durch Gründe schließt aus, dass man diese Art von qualitativen Kriterien heranzieht. Wenn sich der Mensch dadurch auszeichnet, dass er sich von Gründen leiten lässt, Gründe aber nun selbst naturalistisch unterbestimmt sind (Nida-Rümelin 2012), bedeutet das, dass die menschliche Natur, bei aller Gemeinsamkeit hinsichtlich grundlegender menschlicher Bedürfnisse in diesem Sinne zu einem gewissen Grad indeterminiert bleibt. Diese Indeterminiertheit lässt die Annahme zu, dass der Mensch in eben dieser Hinsicht frei ist. Frei darin Autor seines Lebens zu sein, sich in seinen Handlungen wie Überzeugungen auf Basis seiner Vernunft an den besseren Gründen zu orientieren, welche in einen strukturellen Zusammenhang seiner Lebensführung, Werte und Ziele eingebettet sind, weshalb ihm für seine Handlungen und Überzeugungen Verantwortung zugeschrieben werden kann. Der charakterlich gefestigte, vernünftige Mensch kann sich wissend um langfristige Ziele, unter Rücksichtnahme auf andere, zurücknehmen, sich distanzieren von noch so menschlichen Bedürfnissen, insbesondere dort, wo seine Verantwortung anderen oder sich selbst gegenüber gefragt ist. Die Praxis der Schuldzuweisung, das Strafrecht an sich, würde unter der Annahme, dass wir durch unsere Biologie vollständig determiniert sind, so dass von einer Akteursebene nicht auszugehen wäre, in sich zusammenfallen: wo keine Autorschaft, kann es keine Verantwortung, kann es keine Schuld geben. Die humanistische Anthropologie ist im Gegensatz zu jenem qualitativ-fundamentalistischen Menschenbild daher genuin normativ zu verstehen. Sie sucht nicht nach ontologischen Beweisen, auf deren Basis sich eine Gesellschaftsordnung, rechtliche oder moralische Verhaltensregeln rechtfertigen ließen. Diese Normativität spiegelt sich, wie sich an Artikel 1 des Grundgesetzes erkennen lässt, offensichtlich bereits in den rechtlichen Rahmenbedingungen unserer demokratischen Gesellschaftsordnung wider. Normativität ist dabei nicht nur in die politische Konzeption eingelassen, sondern vielmehr noch: sie ist dieser als konstitutive Bedingung vorgeordnet! Die
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Würde des Menschen ist nicht nur unantastbar, sondern, wie es im Grundgesetz lautet, ist sie zu achten und zu schützen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Die gesamte politische Ordnung hat damit der humanistischen Forderung nach Respekt vor der Würde des Einzelnen im Rahmen gesellschaftlicher Kooperation freier und gleicher Bürger zu entsprechen. Auf die normativen konstitutiven Bedingungen demokratischer Ordnung stützen sich durch die Verfassung geschützte individuelle Rechte, aus denen ihrerseits entsprechend korrespondierende Pflichten resultieren. Die vorgeordnete Stellung der Würde des Einzelnen im Humanismus verwehrt sich damit aufgrund dieses (verfassungsrechtlich geschützten) Individualismus auch jeder Variante des Kollektivismus – ob nun des Sozialismus, Kommunismus oder Nationalsozialismus. Fraglich ist, inwieweit die praktische Ausgestaltung innerhalb dieser normativen Rahmenbedingungen ihrer dezidiert humanistischen Richtungsanweisung noch gerecht wird. Die Diagnose potenziell demokratiegefährdender Entwicklungen aufgrund der Orientierung an anderen gesellschaftlichen Gestaltungsprinzipien scheint zuzutreffen (Nida-Rümelin 2019). Auch wenn der Status Quo noch keinen Anlass dazu gibt, in dystopische Zukunftsängste zu verfallen, lassen sich Tendenzen festmachen, die Grund zur Sorge bereiten könnten.
2 Anti-Humanismen Dabei zeigt sich holistisch betrachtet zunächst vor allem ein fundamentaler Irrtum bildungspolitischer Entwicklung, der zuvorderst die Gefahr einer gewissen Erosion der Urteilskraft in sich birgt und damit potenziell die der Wehrhaftigkeit der Demokratie selbst. Von Rousseau (1762) über Dewey (1916) zu Kohlberg (1996) ließ sich bislang vor allem eine Gemeinsamkeit hinsichtlich des Ziels von Bildung ausmachen: nämlich, dass Bildung über die Entwicklung von individuellen Fähigkeiten, von Ich-Stärke und autonomer Urteilsfähigkeit immer auch die Erziehung zum Bürger einschließt. Man kann die Diagnose stellen, dass der gegenwärtige bildungspolitische Irrtum im Gegensatz zu diesem Ideal der Erziehung einem alle Gesellschaftsebenen durchdringenden Ökonomismus geschuldet ist, der die Gesellschaft wie ihre Bürger ihrem Beitrag zur ökonomischen Produktivität beurteilt und deshalb Funktionalität, nicht Urteilsfähigkeit, zum höchsten Ziel von Bildung erheben muss. Dieser Funktionalismus erfordert, dass Bildung sich an der Entwicklung von Fertigkeiten, die der Maximierung der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt als übergeordneten Gestaltungsprinzip dienen, orientiert und damit geringerer Wert auf die Förderung einer größeren Bandbreite von Kompetenzen gelegt wird. Es stehen hier also die
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Verwertungsinteressen im Vordergrund, der an künftiger Produktivität ausgerichtete Beitrag einer Person, und nicht ihre tatsächlichen Stärken als Individuum. Damit weicht nun wiederum der Respekt vor der Person als Zweck an sich dem Zweck, den die Person innerhalb der Gesellschaft erfüllen soll. Im Ergebnis kann die Instrumentalisierung der Bildung nur in eine gewisse gesellschaftliche wie kulturelle Armut führen. Schlimmstenfalls hat die dem ökonomischen Funktionalismus geschuldete Präferenz zur Akademisierung (Nida-Rümelin 2014) langfristig einen Mangel an wichtigen Berufsgruppen zur Folge, wie etwa dem Handwerk. Damit einher geht ein Mangel an Respekt gegenüber wichtigen Berufsgruppen wie etwa im Pflegebereich, die gemessen an ihrem quantitativen Beitrag zur Gesamtwohlfahrt wenig Gewicht haben, ohne die eine Gesellschaft jedoch nicht funktionieren kann. Der recht eindimensionale Blick auf die Lebenswelt unter dem Aspekt ökonomischer Effizienz bewirkt damit neben einer Schwächung der Urteilsfähigkeit das gerade Gegenteil dieses Ziels: die gesamtgesellschaftliche Funktionalität wird vielmehr gefährdet, weil die Vielseitigkeit menschlicher Fähigkeiten substanziell vernachlässigt wird, um dem marktwirtschaftlichen Prinzip zu weichen. Wie Michael Sandel (2020, 113) jüngst feststellte, droht mit dem Blick auf den Menschen als Produktionsfaktor darüber hinaus, dass sich eine Ethik des Erfolgs („success ethics“) etabliert, in der der jeweilige Beitrag zur Wohlfahrt unter anderem darüber bestimmt, wie man über die einzelne Person als moralischer Akteur befindet. Wird Erfolg zur moralischen Verantwortung des Einzelnen erhoben, wird wiederum die Grundlage gesellschaftlicher Solidarität gefährdet, denn folglich könnte man unter einem geringen quantitativen Beitrag zur Wohlfahrt eine gewisse moralische Verantwortungslosigkeit begreifen. Solidarität selbst bleibt dabei entsprechend der humanistischen Forderung nach Respekt vor dem Einzelnen eine wichtige Grundlage stabiler gesellschaftlicher Kooperation. Es liegt entsprechend gleichermaßen in der Verantwortung jedes Akteurs die Solidargemeinschaft nur dann in Anspruch zu nehmen, wenn ihm seine Selbstbestimmung durch Umstände, die sich seiner Kontrolle entziehen, erschwert wird. Dieser wechselseitiger Kontraktualismus lebensweltlicher Kooperation, der sich an der Lebensform selbst orientiert, muss sich also entsprechend in der politischen Ordnung wiederfinden.
3 Lebensform und Realitä tsprinzip Nida-Rümelins Verständnis von Demokratie als Lebensform kann dabei analog zur Deliberation von Gründen auf intra- wie intersubjektiver Akteursebene als deliberativ charakterisiert werden. Diese Auffassung von Demokratie ist schon deshalb holistisch, da wir nicht von unterschiedlichen Wertsphären des Politischen und des
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Zivilgesellschaftlichen¹ ausgehen dürfen, die ähnlich den Prämissen der marktwirtschaftlichen Rationalität den Bereich des Normativen als der Sphäre des Politischen extrinsisch verorten will. Politische Rationalität ist im Verständnis von Demokratie als Deliberation demnach nicht unabhängig von Begründung denkbar, will sie ihrer Verantwortung gegenüber den regierten Individuen gerecht werden. So wie die intersubjektive Alltagspraxis nach Rechtfertigung, für Handlungen, Überzeugungen, ja sogar Emotionen verlangt, müssen politische Entscheidungen gerechtfertigt, also begründet werden – und das öffentlich. Die Praxis öffentlicher Deliberation bringt damit normative Regeln ins Spiel, welche der kollektiven punktuellen Optimierung entgegenwirken (Nida-Rümelin 2009, 286). Sie schafft Stabilität durch Transparenz und ihr Streben nach Objektivität. Die Verkürzung öffentlicher Deliberation zur Entscheidungsfindung unter dem Verweis auf Mehrheitsinteressen genügt als politische Begründung eben nicht, da sie nicht in einem Zustand des Antagonismus (Mouffe 2014), also des politischen wie zivilgesellschaftlichen Dissens verharren darf, sondern über die Notwendigkeit sich hinsichtlich der Bedingungen von Kooperation zu einigen auf Objektivität und Konsens zulaufen muss. Auch wenn wir uns, für den Fall dass die öffentliche Deliberation über einzelne Sachverhalte zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis führt, gelegentlich vorläufig darauf einigen müssen, dass wir uns uneinig sind, kann diese Uneinigkeit nur in friedlicher Koexistenz bestehen, wenn wir uns über gewisse Divergenzen hinaus maßgeblich in einem Rahmen des Konsens und geteilter Überzeugungen bewegen. Eine stabile freiheitliche politische Ordnung, welche durch die zivilgesellschaftliche Praxis gestützt wird, erfordert damit auch, dass die in dieser politischen Ordnung eingelassenen Werte und korrespondierenden Maßnahmen vom Einzelnen akzeptiert und umgesetzt werden können. Sprich: sie müssen in der Praxis bestehen, sich an realen Bedingungen messen lassen können. Die Demokratie kann man dann als gefährdet ansehen, sobald diese zivilgesellschaftliche Grundlage erodiert (Nida-Rümelin 2019, 233), politische Maßnahmen, lebensweltliche Realität der Bürger und Werte nicht mehr in kohärenter Beziehung stehen. Diese Feststellung verdeutlicht wiederum, warum anti-humanistische Ismen und von diesen propagierte politische Gestaltungsprinzipien keine solide Grundlage demokratischer Ordnung bieten können und offenbart zugleich, dass die Orientierung der Politik an zivilgesellschaftlicher Praxis, an humanen Lebensbedingungen einen (unaufgeregten) Realismus voraussetzt: Demokratie als Lebensform hat sich an dem, was die Lebensform innerhalb der Lebenswelt im Kern auszeichnet, zu orientieren und erfindet diese nicht neu. Die Gestaltung der Lebenswelt darf nicht
1 Eine Idee, die Michael Walzer in Spheres of Justice (1983) verfolgt.
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derart erfolgen, als könne man gezielt Einfluss auf die Lebensform selbst nehmen, sondern sollte sich vielmehr darauf fokussieren, die humanen Lebensbedingungen zu verbessern. Die Konsequenz aus diesem Realismus ist, dass wir im Politischen eine epistemische Haltung einnehmen, welche sich hinsichtlich ontologischer Fragen zurücknimmt: was diese Lebensbedingungen human macht, was die besten Bedingungen des Zusammenlebens sind, wird ausgehandelt, nicht über den Versuch einer naturalistischen Reduktion bestimmt. Wir deliberieren, wissend, dass wir divergieren und irren können, über unsere Vorstellung von Gerechtigkeit, über die Vorstellung von richtig oder falsch, nehmen diese innerhalb eines Rahmens unbestrittener Tatsachen jedoch nicht als gegeben an oder halten sie für endgültig. Realistische (politische) Begründung erfordert also sich an Tatsachen zu orientieren und scheut sich nicht vor Wahrheit – ganz im Gegenteil! Das bedeutet in dieser Lesart des Humanismus, dass selbst wohlgemeinte, aber eben anti-realistische Haltungen gegebenenfalls als anti-humanistisch zu klassifizieren sind. Man denke etwa an den Relativismus einer, wie Paul Boghossian (2013, 10) sie nennt, idealistischen „Gleichwertigkeitsdoktrin“, die sich aus falscher Angst vor Diskriminierung einer Festlegung auf Wahrheiten verwehrt. Die Angst vor Wahrheit kann mitunter praktische Konsequenzen nach sich ziehen, die dem Menschen wenig zuträglich sind oder an seiner Lebensform vorbeizielen. Das gilt etwa für den Versuch, unliebsame Meinungen aus dem Diskurs zu verbannen, weil sie einer idealistischen Vorstellung widersprechen: in der deliberativen Demokratie darf es nicht um die Verifikation der vorherrschenden Mehrheitsmeinung gehen, wenn diese zwar einem Ideal ent-, dem besseren Argument jedoch widerspricht. Wenn sich dem humanistischen Verständnis nach politische Entscheidungen an den Ergebnissen öffentlicher Deliberation zu orientieren haben, könnte man auch den Konstruktivismus als anti-realistische, idealistische Denkschule zu den nicht-humanistischen zählen: Handlungsmaximen oder Prinzipien nach Kantischem Konstruktivismus (Rawls 1979) müssen sich daran messen lassen können, ob sie oben genannten Praxistest bestehen, ob sie wirklich den besseren, praktisch umsetzbaren Gründen folgen, die der menschlichen Lebensform gerecht werden. Der Kantische Konstruktivismus genügt zwar der humanistischen Forderung nach Universalität, sofern er das Individuum aber einem unerreichbaren Ideal unterwerfen will, das in Konflikt mit der Realität seiner Lebensumstände gerät, ist er wenig praxistauglich und nicht realistisch. Ein berechtigter Einwand an diesem Konstruktivismus wurde etwa von Amartya Sen (1993) vorgebracht: Durch die Implementierung wohlgemeinter universeller Rechte, wie dem allgemeinen Recht auf Bildung, folgt nicht notwendig eine tatsächliche Verbesserung der Lebensbedingungen, wenn man nicht bedenkt, wie realistisch deren lebensweltliche Umsetzbarkeit ist. Das Recht auf Bildung etwa
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nutzt wenig, wenn in Ländern, die der Bildung von Mädchen keinen Wert beimessen, mit diesem gesetzlich garantierten Recht nicht gleichzeitig eine Schulpflicht verbunden wird. Das Recht auf Bildung allein führt also nicht zu (künftigen) besseren Lebensbedingungen der Mädchen, wenn man die Eltern nicht dazu verpflichtet, sie auch zur Schule zu schicken. Es gilt daher, wie oben angemerkt, sich ein angemessenes Bild der Realität zu machen. Abzuwägen, ob politische Entscheidungen einer realistischen Begründungspraxis genügen und umsetzbar sind. Das gilt in Fragen der Gerechtigkeit wie solchen über normative Überzeugungen. Man hat sich mit der Realität in angemessener Weise auseinanderzusetzen, deshalb sollte das Realitätsprinzip im Mittelpunkt eines erneuerten Humanismus stehen (Nida-Rümelin 2016, 364), anstatt sich zu fragen, wie man die Realität einem Ideal anpassen kann. Realitätsverweigerung ist, da sie sich der besseren Begründung verwehrt, anti-humanistisch. Dazu gehört nicht zuletzt, dass man Stimmen nicht aus dem öffentlichen Diskurs ausschließt (Nida-Rümelin 2023), nur weil diese von Mehrheitsmeinungen abweichen, diese aber gegebenenfalls dem besseren Argument folgen (s. o.). Der kollektive Moralismus gewisser politischer Idealvorstellungen, der nach seiner eigenen Verifikation strebt und sich Gründen verweigert, welche diese widerlegen, etwa weil diese Ideale oben genannter lebensweltlicher Realität widersprechen oder deren Umsetzbarkeit unter realen Bedingungen unmöglich scheint, ist im Kern ungeachtet dessen, wie wohl gemeint er sein mag, ebenso anti-realistisch wie antihumanistisch. Die oben erwähnte Tendenz dazu unliebsame Meinungen aus dem Diskurs zu verbannen, könnte man hier zudem als einen Versuch eines Meinungskollektivismus deuten, der die individuelle Urteilsfähigkeit unterwandert und damit dem Einzelnen die Bürde des Urteils abzunehmen sucht. Es ist jedoch eben diese Bürde des Urteils, wie Rawls (2003, 127 ff.) sie nennt, derer sich der vernünftige Mensch in seiner Verantwortung als Bürger nicht entziehen darf, wenn er die demokratische Ordnung und ihre Vernunft, die auf die Urteilskraft des Einzelnen angewiesen bleibt, nicht gefährden will.
4 Eine humanistische Antwort Damit schließt sich der Kreis zu den eingangs erwähnten Fantasmen unserer Zeit und der gleichzeitigen Infantilisierung der Bürger: es braucht als humanistische Antwort bildungspolitische Maßnahmen, die sich nicht allein auf Funktionalität oder Verwertbarkeit der Person als wirtschaftlicher Produktionsfaktor beschränken, sondern zuvorderst die Formung der menschlichen Persönlichkeit (Nida-Rümelin (2016, 206 ff.) im Blick haben müssen, was keineswegs im Widerspruch zur Ausbildung von (ökonomisch verwertbaren) Fertigkeiten steht. Bildung hat jedoch
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immer einen Selbstwert, ist um ihrer selbst willen erstrebenswert. Es bedarf also ganz offensichtlich zuerst einer normativen Anthropologie, eines Persönlichkeitsideals, an dem sich Bildungspolitik orientieren sollte. Dieses Persönlichkeitsideal sollte sich, als Antwort auf die erwähnte Infantilisierung der westlichen Kultur, durch Ich-Stärke, Urteilskraft und Entscheidungsfähigkeit auszeichnen. Die zweite humanistische Antwort auf die Diagnose einer gefährdeten Rationalität des Politischen, ist dem Geist der Aufklärung geschuldet und lautet, dass man gemäß der Vorstellung von Demokratie als Deliberation dem Realitätsprinzip zu folgen hat. Politische Urteilskraft bedarf, da sie sich an der Lebensform selbst zu orientieren hat, des (öffentlichen) Gebens und Nehmens von Gründen (Nida-Rümelin 2023). Damit baut die zweite Antwort auf der ersten und dem Ziel von Bildung auf. Das Politische hat sich, wie das vernünftige Subjekt, an Gründen, nicht an Interessen oder Präferenzen, eben am besseren Argument zu orientieren, nicht an realitätsfernen Idealen, welche gar der lebensweltlichen Realität und der Lebensform selbst widersprechen. Die politische Entscheidung steht am Ende eines Abwägungsprozesses der besseren Argumente und richtet sich nicht nach einem einzigen idealen Gestaltungsprinzip. Politische Entscheidungen dürfen weder gesetzt oder erzwungen werden, Andersdenkende nicht aus dem Diskurs ausgeschlossen werden, insbesondere auch im digitalen Raum, erst recht da sich im Rahmen der Digitalisierung ein erneuter Strukturwandel der Öffentlichkeit vollzogen hat, welcher die öffentliche Meinungsbildung maßgeblich beeinflusst. In dieser neuen Öffentlichkeit liegt zugleich eine Chance für höhere Transparenz und mehr Objektivität (sprich: Realismus) durch Partizipation am öffentlichen Austausch von Gründen. Demokratie zeichnet sich nicht durch Setzung, sondern Konsensfähigkeit auf Basis des besseren Arguments aus, muss divergierende Meinungen und Überzeugungen aushalten, sich um Antworten bemühen, nicht im Konflikt verharren, um Stabilität zu garantieren. Das Realitätsprinzip erfordert also, wie Nida-Rümelin zurecht diagnostiziert, dass Wahrheit einen Platz in der Demokratie haben muss, will man sie nicht gefährden.
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John-Stewart Gordon
18 Bemerkungen zur Immoralität von Protestwahlen Abstract: Remarks on the Immorality of Protest Voting. In this chapter, the inadequately analyzed phenomenon of protest voting is discussed as a specific type of what is known as bad voting, partially drawing upon the works of Jason Brennan. Although I agree with Brennan’s thesis that poorly informed voters should not vote, I argue that protest votes are not covered by the widely held opinion that all forms of bad voting are politically acceptable. Protest votes indicate the voter’s inability to participate meaningfully in the democratic electoral process. In my argumentation, I will explain why protest votes should be morally condemned. Additionally, three criteria are introduced that characterize protest votes as a special form of bad voting. Finally, two objections are discussed: on the one hand, the distinction between morally questionable but permitted voting and illicit protest voting is addressed. On the other hand, the challenges in implementing a ban on protest voting are examined.
Einleitung Obwohl ich mich nicht explizit mit Nida-Rümelins¹ Werken wie Demokratie als Kooperation (1999), Demokratie und Wahrheit (2006) oder Die gefährdete Rationalität der Demokratie. Ein politischer Traktat (2020) auseinandersetze, untersuche ich ein Thema, das für die politische Philosophie Nida-Rümelins besonders mit Blick auf das Problem von aufgeklärten und fundierten Wahlentscheidungen von Bedeutung ist. Es handelt sich dabei um das Phänomen der Protestwahlen; ein Thema, das jedoch in seinen bisherigen Schriften noch nicht wirklich beleuchtet wurde. Gleichwohl ich glaube, dass Nida-Rümelin auf Grund seiner sozial-liberalen, politischen Einstellung insgesamt kritisch gegenüber meiner Idee des Verbots von Protestwahlen wäre, teilen wir jedoch einige politische Grundsätze, die ich im
1 Julian Nida-Rümelin ist ohne Zweifel einer der bekanntesten deutschen Gegenwartsphilosophen, der zudem einige Zeit als Staatsminister im Kabinett unter Gerhard Schröder gearbeitet hat (2001– 2002). Dass Nida-Rümelin seine theoretische Arbeit als politischer Philosoph mit einem hohen politischen Staatsamt verbunden hat, ist in der jüngeren deutschen Geschichte einmalig. Er hat die Philosophie für den politischen Diskurs sichtbar gemacht. https://doi.org/10.1515/9783111433233-019
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Folgenden kurz aufzeigen möchte, und die als Hintergrund für die folgende Diskussion dienlich sein mögen.
1 Bemerkungen zur politischen Philosophie Nida-Rümelins Nida-Rümelin legt großen Wert auf die Rolle der öffentlichen Argumentation und des Dialogs in demokratischen Systemen. Er argumentiert, dass es bei der demokratischen Regierungsführung nicht nur um Abstimmungen oder Mehrheitsentscheidungen gehen sollte, sondern auch darum, einen sinnvollen Dialog und Beratungen zu führen. Dazu gehört die Schaffung von Räumen, in denen die Bürger über öffentliche Themen diskutieren, debattieren und nachdenken können, um sicherzustellen, dass unterschiedliche Standpunkte berücksichtigt werden. Darüber hinaus plädiert er für eine stärker partizipatorische Form der Politik, bei der die Bürger aktiv in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Dies geht über die reine Wahlbeteiligung hinaus und umfasst verschiedene Formen des bürgerschaftlichen Engagements und des öffentlichen Diskurses. Nida-Rümelin hält dies mit Blick auf eine gesunde Demokratie für unerlässlich, da hierbei sichergestellt wird, dass die Politik den kollektiven Willen und die Ansichten der Bevölkerung widerspiegelt. Im Mittelpunkt seines Konzepts der demokratischen Deliberation steht die Idee einer informierten und rationalen Entscheidungsfindung. Er betont, wie wichtig es ist, gut informierte Bürger zu haben, die sich gedanklich und kritisch mit komplexen Themen auseinandersetzen können. Bei diesem Ansatz werden Bildung und öffentliches Bewusstsein als Schlüsselkomponenten einer funktionierenden Demokratie angesehen. Grundsätzlich kann man sagen, dass Nida-Rümelins Ansatz ethische Überlegungen mit politischen Prozessen verbindet. Er ist der Ansicht, dass ethische Überlegungen ein integraler Bestandteil der politischen Entscheidungsfindung sein sollten, um sicherzustellen, dass die Politik nicht nur effektiv, sondern auch moralisch integer ist.
2 Vorgehensweise Die aktuelle politische Lage in Europa und insbesondere in Deutschland hat sich gerade in den letzten Jahren erheblich verschlechtert. Die unterschiedlichen Krisen – die globale Finanzkrise (2008–2010), die Migrationskrise (2015–2017), der Brexit
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(2020), COVID-19 (2020‐), der Ukrainekrieg (2022‐) und die Energiekrise (2022‐) – haben dazu beigetragen, dass sich der Faschismus in Europa und insbesondere in Deutschland (vor allem das Erstarken der AfD) ausbreiten konnte. Die Demokratie in Deutschland steht derzeit unter einem erheblichen Druck und es ist keineswegs sicher, dass es nicht mittelfristig – unter dem Einfluss der AfD – zu einem neuerlichen Systemwechsel kommt. In diesem Beitrag erörtere ich das selten untersuchte Phänomen der Protestwahl als einen Sonderfall einer schlechten Wahl (bad voting), wobei ich mich teilweise auf Jason Brennan stütze, aber auch von ihm abweichende Beobachtungen mache. Heutzutage wird im Allgemeinen angenommen, dass das allgemeine Wahlrecht grundsätzlich gelten sollte, und zwar unabhängig davon, ob die Menschen eine gute oder schlechte Wahl treffen (Estlund 2007). Brennan hat jedoch in einigen Publikationen (vgl. Brennan 2009; 2012) diese Annahme in Frage gestellt. Er vertritt eine epistokratische, elitäre Sichtweise und argumentiert, dass man, obwohl jede Person das Recht hat zu wählen, nicht schlecht wählen sollte, sondern sich stattdessen der Ausübung des Wahlrechts enthalten sollte, wenn man sich durch die Stimmabgabe an „collectively harmful activities“ (Brennan 2009, 5–8) beteiligen würde. Brennan lässt zwar eine enge Ausnahme von dieser Regel zu, wenn gilt: „if restraining oneself from voting caused significant personal harm, then individuals might be permitted to vote badly“ (Brennan 2009, 7; siehe auch 1). Er schränkt diese Ausnahme jedoch später wieder ein, indem er argumentiert, dass „the bad voter’s pleasure in voting is not sufficient to counterbalance a potential duty to refrain from polluting the polls“ (Brennan 2009, 8). Ich stimme Brennan zu, dass Personen, die schlecht wählen, dies nicht tun sollten. Darüber hinaus glaube ich jedoch, dass Protestwahlen einen Sonderfall darstellen, und nicht durch die vorherrschende Überzeugung gestützt werden, dass alle Fälle einer schlechten Wahl politisch akzeptabel sind. Mein Hauptargument ist, dass die besonderen Merkmale einer Protestwahl die mangelnde Eignung des Wählers für die Teilnahme am Wählen aufzeigen, insbesondere in Anbetracht des langen historischen Kampfes für das allgemeine Wahlrecht (vgl. Mill 2001). Um meine Argumentation zu untermauern, werde ich im zweiten Teil zunächst den Begriff der Protestwahl als eine besondere Form der schlechten Wahl untersuchen. Dabei werde ich kurz darauf eingehen, auf welche Weise sich Protestwahlen von strategischen Wahlen unterscheiden. Im dritten Teil werde ich erläutern, warum Protestwahlen eine schwerwiegende moralische Verfehlung darstellen, die sich von anderen Wahlen unterscheidet. Darüber hinaus werde ich drei Bedingungen angeben, die die Protestwahl als eine besondere Form der schlechten Wahl einstuft. Im vierten Teil werde ich weitere Überlegungen zur Unterscheidung zwischen schlechten Wahlen und Protestwahlen anstellen und begründen, warum man Protestwahlen verbieten sollte. Der fünfte Teil wird sich mit
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zwei Einwänden befassen: Erstens mit der Unterscheidung zwischen unmoralischen Stimmabgaben (politisch zulässig, aber unmoralisch) und Protestwahlen (politisch unzulässig und unmoralisch) und zweitens mit der Herausforderung, die praktische Umsetzung eines Verbots von Protestwahlen zu gestalten. Der Beitrag schließt mit einigen Schlussbemerkungen.
3 Protestwahl (protest voting) als Sonderfall einer schlechten Wahl (bad voting) Die jüngste europäische Migrationskrise im Kontext des Ukrainekriegs und die vielschichtigen negativen Folgen der globalen Pandemie haben zu unvorhergesehenen politischen Erdbeben geführt. Viele unzufriedene Wähler haben sich dazu entschlossen, ihren politischen Anführern eine „Lektion“ zu erteilen, indem sie anders als bisher wählten, um ihren Unmut Ausdruck zu verleihen. Infolgedessen ist der Einfluss verschiedener rechtsextremer Parteien in vielen europäischen Ländern, wie der AfD in Deutschland, erheblich gestiegen. Der entscheidende Unterschied zwischen den üblichen Formen einer schlechten Wahl (bad voting) – die durch unmoralische Überzeugungen, Unwissenheit, epistemische Irrationalität und Voreingenommenheit genährt werden (Brennan 2009, 4) – und diesen Fällen der Protestwahl besteht darin, dass die Protestwähler ein klares Ziel mit ihrem Handeln verfolgten. Ihre Absicht ist, den verantwortlichen Politikern eine Lektion zu erteilen, weil sie mit einer bestimmten Politik oder Strategie unzufrieden sind. Dabei sind sie sich darüber im Klaren, dass ihre Proteststimme erhebliche negative Folgen haben könnte, wenn eine ausreichend große Anzahl von Menschen ebenfalls entsprechend wählt (dies wird billigend in Kauf genommen). Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass jede Stimmabgabe, einschließlich der Proteststimmen, eine Entscheidung ist, die vollständig in den Händen des einzelnen Wählers liegt, da gute und schlechte Wähler (good and bad voters) gleichermaßen das politische Recht haben, zu wählen (Estlund 2007). Dies gilt selbst dann, wenn schlechte Wahlentscheidungen häufig auf unmoralischen Werten und Interessen beruhen (z. B. die White Supremacy und White Power-Bewegungen in den USA). Diese Standardansicht des uneingeschränkten Rechts des Einzelnen, nach eigenem Gutdünken zu wählen, wurde von einigen Philosophen in Frage gestellt, darunter auch von Mill, der bekanntlich Folgendes dazu konstatiert hat: [The citizen’s] vote is not a thing in which he has an option; it has no more to do with his personal wishes than the verdict of a juryman. It is strictly a matter of duty; he is bound to give
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it according to his best and most conscientious opinion of the public good. Whoever has any other idea of it is unfit to have the suffrage. (Mill 2001, 124)
Obwohl ich glaube, dass Mill hier einen berechtigten Standpunkt vertritt, bin ich nicht der Meinung, dass die Unterscheidung zwischen der Stimmabgabe für das öffentliche Wohl (z. B. Gerechtigkeit, physische Sicherheit, Freiheit, Gleichheit, Wohlergehen, Frieden usw.) und den individuellen Interessen oder Präferenzen (wie auch immer sie aussehen mögen) mit Blick auf die Protestwahl relevant ist. Vielmehr ist die Inauthentizität der Stimmabgabe, die auf einer „teach-them-a-lesson“-Gesinnung beruht, ohne die möglichen gesellschaftspolitischen Folgen ernsthaft zu berücksichtigen, ein entscheidender Faktor im Kontext von Protestwahlen. Das Merkmal der Inauthentizität macht die Protestwahl aus Gründen schlecht, die nicht auf die üblichen Fälle schlechter Wahlen applizierbar sind. Annabelle Lever weist zu Recht auf die große Verantwortung der Wähler hin: Voting in national elections means helping to choose the government that will represent our country to the world and that will legally commit us, as citizens, at home and abroad. So even if our electoral choice has no other consequences for our fellow citizens, these features of national elections are enough to make the ethics of voting a morally weighty matter. (Lever 2017, 145)
Es stellt sich die Frage, wie sich die Protestwahl von der strategischen² Wahl unterscheidet, die in der politischen Philosophie und Entscheidungstheorie in den letzten Jahrzehnten häufig diskutiert wurde. Strategische Stimmabgabe bedeutet, dass man entgegen der eigenen Überzeugung die beste (oder am wenigsten schlechte) Option wählt, um zu verhindern, dass eine noch schlechtere Option realisiert wird. Meine kurze Antwort auf diese Frage lautet, dass die strategische Stimmabgabe nicht unter den gleichen Einwänden leidet, die gegen eine Protestwahl vorgebracht werden können. Die strategische Stimmabgabe ist nicht von Natur aus inauthentisch (da die Abwendung einer noch schlechteren Option die eigene Stimme nicht
2 Brennan behauptet das Folgende: „Previously I had argued that voters have an obligation to vote on the basis of justified moral and political beliefs and attitudes. I argued that citizens should not vote for candidates who support harmful or unjust policies or who are likely to do so. However, to accommodate strategic voting, I would add a clause or qualification to these claims. According to what we might call the strategic voting clause, a voter may vote for a candidate who is known to support bad policies provided that she justifiably expects that electing this candidate in that particular race would be an effective means of promoting the common good, provided that electing the candidate does not impose expressive risk, or if she justifiably expects voting this way to help promote the common good.“ (Brennan 2012, 131)
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inauthentisch macht); sie spiegelt nicht eine rachsüchtige „teach-them-a-lesson“Gesinnung gegenüber der politischen Elite oder einer bestimmten Strategie oder Politik wider, und sie untergräbt auch nicht die moralische Verantwortung des Wählers (im Gegenteil, der strategische Wähler sorgt sich sehr um das Ergebnis). Dies bedeutet jedoch nicht, dass ich der Praxis der strategischen Stimmabgabe zustimme; und ich werde an dieser Stelle auch nicht weiter darüber sprechen, ob die strategische Stimmabgabe im Allgemeinen moralisch zulässig ist. Ich möchte lediglich zwischen den beiden Arten der Stimmabgabe unterscheiden, um klarzustellen, dass sich meine Ausführungen in diesem Kapitel auf Protestwahlen und nicht auf strategische Abstimmungen beziehen.
4 Protestwahlen als moralisches Vergehen Brennan stellt fest: „Bad voting is collectively, not individually, harmful. The harm is not caused by individual voters, but by voters together.“ (Brennan 2009, 5). Schlechte Wähler, so Brennan, sollten nicht wählen, weil schlechtes Wählen für die Gemeinschaft schädlich ist, und jeder einzelne schlechte Wähler sollte nicht wählen, weil er oder sie „from [the] polluting [of ] democracy“ profitiert, während andere darunter leiden (Brennan 2009, 7). Bis zu einem gewissen Grad stimme ich seiner Argumentation zu, aber ich widerspreche seiner Behauptung, dass individuelles schlechtes Wählen nicht schädlich ist, ebenso wie seiner allgemeineren Argumentation, dass sogar der schlechte Wähler ein politisches Recht hat, zu wählen, es aber nicht ausüben sollte. Für sich genommen hat die schlechte Stimmabgabe eines Einzelnen fast nie negative Folgen, obwohl die Wahrscheinlichkeit ihrer Auswirkungen von der Größe der Gemeinschaft abhängt³. Eine wachsende Anzahl von „bad votes“ kann jedoch auf Grund ihrer kollektiven Kraft zunehmend schädliche Folgen entfalten. Daher scheint es falsch zu sein, zu behaupten, dass individuelles schlechtes Abstimmen per se nicht schädlich ist, selbst wenn man sich auf eine konsequentialistische Argumentation stützt. Stellen Sie sich zum Beispiel ein kleines Dorf mit 50 oder 100 Wählern vor. Hier würde man vermutlich mit Recht behaupten können, dass die schlechte Wahl des Einzelnen durchaus schädlich sein kann, denn sie könnte leicht das Ergebnis beeinflussen und dazu führen, dass das kleine Dorf die nächsten zwei oder vier Jahre von einem rassistischen und bösartigen Bürgermeister regiert wird. Je größer das Dorf ist – oder wenn wir von einer Stadt, einem Bundesland oder sogar einem
3 Vgl. dazu auch Nida-Rümelins Arbeiten zur Rationalität kollektiver Entscheidungen bei Wahlen.
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ganzen Staat sprechen – desto stärker schrumpft die Wahrscheinlichkeit, dass eine einzelne Stimme entscheidend ist. Die Bedeutung des Ergebnisses steigt jedoch in etwa gleichem Maße. Der Konsequentialist ist für beide Faktoren empfänglich. Der wahrscheinlichkeitsgewichtete Schaden einer schlechten Wahl ist daher ungefähr gleich groß, unabhängig davon, wie viele andere Wähler es gibt. Zum Beispiel: In den USA hat der einzelne Wähler in einem Swing State eine sehr geringe Chance, den Ausgang einer Präsidentschaftswahl zu beeinflussen, aber die (negativen) Auswirkungen einer solchen Entscheidung wären astronomisch und könnten sogar die Politik auf globaler Ebene bestimmen.⁴ Nach tugendethischen Gesichtspunkten schadet bad voting dem Charakter des Einzelnen, weil die Protestwahl inauthentisch ist (siehe unten), und nach deontologischen Gesichtspunkten ist eine individuelle schlechte Stimmabgabe von Natur aus schädlich, und zwar unabhängig von seinen Folgen. Gemäß diesen traditionellen Ethiken ist bad voting also schädlich. Zweitens stimme ich mit Brennan darin überein, dass bad voters sich der Stimme enthalten sollten, aber ich glaube, dass die besondere Form der Protestwahl nicht den Schutz beanspruchen kann, den die weit verbreitete Annahme fordert, nämlich, dass alle Fälle schlechten Wählens politisch legitim sind. Der Hauptgrund ist, dass sich die Protestwähler auf Grund ihrer nicht-authentischen Wahl – vor dem Hintergrund des enormen historischen Kampfes für ein allgemeines Wahlrecht – als verantwortungsbewusste, politische Akteure ungeeignet erweisen. Während Brennan (2012) argumentiert, dass nur hinreichend informierte und gut motivierte Wähler ihr Wahlrecht ausüben sollten, behaupte ich hingegen, dass Protestwahlen die Ausnahme von schlechten Wahlen bilden, und eine Aussetzung des politischen Wahlrechts erforderlich macht, selbst wenn der Protestwähler informiert und motiviert ist, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: 1. Die Proteststimme ist Ausdruck von Inauthentizität. 2. Eine nicht-authentische Proteststimme ist eine Stimme, die die folgenden zwei Kriterien erfüllt: a. Sie basiert auf der „teach-them-a-lesson“-Gesinnung. b. Die spezifische Stimmenabgabe steht im Gegensatz zur üblichen Denkweise des betreffenden Wählers. 3. Der Protestwähler denkt nicht ernsthaft über die möglicherweise schwerwiegenden gesellschaftspolitischen Folgen für die Gemeinschaft nach. Nach Ansicht einiger politischer Kommentatoren hatte die europäische Migrationskrise (2015–2017) das Potenzial, die demokratischen Systeme in mehreren
4 Diesen Punkt verdanke ich Thomas Pogge.
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Ländern, durch einen massiven Zustrom von Proteststimmen zur Unterstützung rechter Parteien, zu unterminieren. Viele der Wähler waren keine Anhänger rechter Bewegungen, sondern wollten lediglich ein extremes politisches Zeichen setzen, um die führenden Politiker zu zwingen, ihre Politik zu überdenken (was in diesem Fall schließlich auch geschah). Die damaligen Protestwahlen brachten einige demokratische Systeme ins Wanken. Die meisten Protestwähler, die für rechte Parteien stimmten, wollten damals nicht wirklich in rechten Gesellschaften leben, in denen ihre gewohnte liberale Lebensweise bis zur Unkenntlichkeit hin entstellt worden wäre. Faschistische Gesellschaften sind schließlich ganz anders als liberale Demokratien (Gordon 2021). Die erfolgreichen Protestwahlen, die einen Systemwandel evoziert hätten, hätten erhebliche soziale Unruhen und politische Verwerfungen auslösen können, die unter Umständen sogar zu einem Bürgerkrieg geführt hätten. Vor diesem Hintergrund bleibt zu konstatieren, dass Protestwahlen einen schwerwiegenden politischen Schaden verursachen können. Diese Gefahr sollte man anerkennen und entsprechend politische Vorkehrungen treffen. Dagegen könnte man einwenden, dass dieser Ansatz zu weit geht, weil er auch weniger schwerwiegende Fälle abdeckt. Mein Argument bezieht sich jedoch nur auf jene Wahlen, die das Wohlergehen von Gemeinschaften betreffen, die durch Protestwahlen in ihrer demokratischen Grundstruktur gefährdet werden können. Die weitergehende Behauptung, dass nicht-politische Protestwahlen demselben Muster folgen wie politische Protestwahlen, ist für mich daher nicht relevant.
5 Bad voting vs. protest voting Ich habe die Protestwahl als einen Sonderfall der schlechten Wahl dargestellt, und gehe davon aus, dass eine schlechte Wahl dann vorliegt, „when a citizen votes without sufficient reason for harmful or unjust policies or for candidates that are likely to enact harmful or unjust policies“ (Brennan 2009, 3). So bin ich im Allgemeinen mit Brennan und im Gegensatz zu Estlund (2007) der Meinung, dass man nicht schlecht wählen sollte und dass schlechte Wähler (bad voters) sich der Stimme enthalten sollten, auch wenn dies (vielleicht im Gegensatz zu Brennan an dieser Stelle) mit erheblichen persönlichen Kosten verbunden ist. Es gibt jedoch viele verschiedene Arten von schlechten Wahlen, z. B. solche, die auf unmoralischen, rassistischen oder sexistischen Überzeugungen beruhen, die viele Menschen nicht in der Gesetzgebung umgesetzt sehen wollen. Es ist eine Frage der politischen Kultur, ob extremistische oder radikale Ansichten und Parteien in liberalen Demokratien erlaubt sein sollten oder nicht. So sind beispielsweise freie Meinungsäußerungen zur Propagierung rassistischer Ansichten und freie Ver-
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sammlungen von Neonazis, die Symbole wie die deutsche Hakenkreuzfahne und den Hitlergruß offen zeigen, in den USA erlaubt, in Deutschland jedoch nicht. Beide Länder sind liberale Demokratien, aber sie haben dennoch unterschiedliche Vorstellungen davon, was als akzeptable politische Äußerung in der Öffentlichkeit gilt. Die Mitglieder einer Gemeinschaft, so könnte man behaupten, haben das Recht zu entscheiden, in welche politische Richtung sie gehen wollen; die Gemeinschaft könnte liberal bleiben oder mehr nach links oder extrem nach rechts gehen, wenn die Wähler so entscheiden. Doch diese Vorstellung ist irreführend. Gemeinschaften haben das Recht, sich in verschiedene politische Richtungen zu bewegen – solange sie mit den Menschenrechten in Einklang stehen (Gordon 2021). Dies ist der Ausgangspunkt und der umfassende Rahmen moderner Gesellschaften (ich gehe von dieser fundamentalen Ansicht aus und gebe an dieser Stelle kein eigenständiges Argument dafür an). Protestwahlen können die Radikalisierung der Öffentlichkeit verstärken und sind somit eine Gefahr für demokratische Grundwerte. Dies könnte ein entscheidender Moment in der Entwicklung einer Nation sein, wo ein ehemals demokratisches Land zu einem faschistischen Staat mutiert, was sich natürlich negativ auf die soziale Harmonie innerhalb einer Gemeinschaft auswirkt (dies erleben wir gerade mit Blick auf die Revitalisierung faschistischer Ideen in Deutschland). Diese Verschiebung könnte zu einer weiteren gesellschaftspolitischen Instabilität führen, wenn Einzelne bereit sind, die Schädigung oder den Tod anderer in Kauf zu nehmen, nur weil sie andere Überzeugungen haben oder einer Minderheitengruppe angehören, wie z. B. Asylbewerber, Kriegsflüchtlinge oder deutsche Mitbürger mit einer Migrationsgeschichte. Protestwähler können im Gegensatz zu strategischen Wählern, die das Gemeinwohl im Auge haben, fahrlässig die Zukunft ganzer Gesellschaften aufs Spiel setzen, was ihre Eignung als aufgekärte und demokratische Wähler insgesamt in Frage stellt. Das inhärente Risiko unerwünschter Ergebnisse bei Protestwahlen ist beträchtlich, und wenn entsprechende Ergebnisse eintreten, sind viele Protestwähler oftmals schockiert, da sie solche Ergebnisse nicht erwartet oder nicht wirklich gewünscht haben. Es kann durchaus sein, dass Wähler mit ihrer Partei und ihrer früheren Wahlentscheidung unzufrieden sind, was sie dazu veranlassen kann, von ihrem demokratischen Recht Gebrauch zu machen und ihre Stimme, alternativen Parteien zu geben, auch solchen, die wie die AfD oder Die Heimat (ehemals NPD) rechtsextreme Ideologien propagieren. Diese Entscheidung wäre eine authentische Manifestation ihrer politischen Neigungen, unbeeinflusst von strategischen Wahltaktiken. Bedauerlicherweise liegt es in der Natur eines demokratischen Systems, dass solche Entscheidungen akzeptiert werden müssen, auch wenn sie im Extremfall den Zerfall der Demokratie selbst zur Folge haben könnten, sofern es keine Schutz-
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mechanismen gibt, wie z. B. ein robustes Verfassungsgericht, das als letzter Schutzschild dient. Dies unterstreicht das beträchtliche Risiko, das von schlechten Wahlen – insbesondere, wenn sie in Form von Protestwahlen stattfinden – für die Stabilität einer demokratischen Staatsführung ausgeht, und legt somit die Notwendigkeit ihres Verbots nahe. Wie wir oben gesehen haben, geht es für Mill (2001) bei einer Wahl darum, das Gemeinwohl in den Blick zu nehmen und nicht die eigenen Interessen in den Vordergrund zu stellen. Mill geht sogar noch weiter und stellt das Wahlrecht bestimmter Personen in Frage, die dieser Ansicht nicht folgen. In der politischen Philosophie ist es jedoch umstritten, ob wir immer für das Gemeinwohl stimmen oder einfach unseren eigenen Präferenzen folgen sollten (z. B. Lever, 2017). Wolff stellt zutreffend fest, dass es “no official view about what voters should be doing” (Wolff 1994, 195). Man könnte jedoch einwenden, dass die Protestwähler nur versuchen, zur Verwirklichung des Gemeinwohls beizutragen. Die Anti-Einwanderungsbewegung in Europa (insbesondere 2015–2017) könnte nach dieser Argumentation beispielsweise als eine Bewegung zur Unterstützung des Gemeinwohls interpretiert werden und nicht als kollektiv schädliche Aktivitäten fremdenfeindlicher Menschen, die Europa gegen andere verteidigen wollen, die sie als minderwertig und weniger kultiviert betrachten („Defend Europe“). Eine Möglichkeit, diesen Einwand zu entkräften, besteht darin, die verschiedenen Argumente, die die Menschen zur Verteidigung ihrer Ansichten vorbringen, kritisch zu untersuchen. Die Motive und Gründe für die Anti-Immigranten-Bewegung beruhen zu einem erheblichen Teil auf allgemeinen Vorurteilen, pseudowissenschaftlichen Ansichten über das Wesen von Ethnien, falschen Annahmen über die Ansprüche der Moral und fragwürdigen Ansichten über den Charakter von Einwanderern. Nach der fremdenfeindlichen Weltanschauung sind viele (männliche) Einwanderer beispielsweise Kriminelle und Vergewaltiger, deren eigentliches Ziel ist, die „weiße Rasse“ zu unterwandern und schließlich auszulöschen (die rechte Mär „vom großen Austausch“). Das Gemeinwohl, so könnte man konstatieren, basiert sicherlich nicht auf Fehlinformationen, irreführenden Fakten oder unmoralischen Werten. Das starke Engagement der großen Mehrheit der Menschen für die etablierten normativen Grundsätze der Menschenrechte beweist das Gegenteil (wie wir derzeit mit Blick auf die Demonstrationen gegen Rechts in Deutschland sehen können).
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6 Einwände Der Vorschlag, Protestwahlen zu verbieten, ist in der Tat kühn. Viele Menschen würden die Abschaffung dieser populären Form des Dissenses kritisch sehen. Protestwahlen werden häufig von Bürgern genutzt, um „die politischen Machthaber“ zur Rechenschaft zu ziehen und Änderungen unpopulärer politischer Entscheidungen anzustoßen (vgl. die aktuellen Bauernproteste). In Anbetracht der potenziellen Risiken, die dies nicht nur für eine bestimmte Regierung, sondern für das Gefüge der Demokratie selbst bedeutet, scheint ein solcher Vorschlag jedoch gerechtfertigt. Um meine These zu untermauern, ist es von entscheidender Bedeutung, auf zwei Aspekte einzugehen. Erstens ist es wichtig, den Unterschied zwischen dem, was man als unmoralische schlechte Wahl (immoral bad voting) bezeichnen könnte, die zwar authentisch (und damit zulässig) sein kann, und einer nicht-authentischen Protestwahl, die verboten werden sollte, zu klären. Einige Personen mögen Schwierigkeiten haben, den moralischen Unterschied zwischen diesen beiden Formen des Wählens zu erkennen und argumentieren, dass das Fehlen eines klaren Unterschieds eher dafürspricht, dass man Protestwahlen erlauben sollte, auch wenn sie möglicherweise ganz erhebliche negative Auswirkungen haben könnten. Der zweite Aspekt bezieht sich auf die praktischen Probleme, die mit der Umsetzung des Vorschlags verbunden sind. Wie kann man feststellen, ob die Stimmabgabe eines Wählers Ausdruck einer Protestwahl ist und daher nicht zugelassen werden sollte? Und wie könnte man die Stimmen bei öffentlichen Wahlen für ungültig erklären? Kritiker könnten argumentieren, dass es eine Sache ist, wie Brennan (2012) vorschlägt, dafür zu plädieren, dass Wähler schlechte Wahlentscheidungen vermeiden sollten, es aber in ihrem Ermessen bleiben sollte. Eine andere Sache ist jedoch dafür Sorge zu tragen, dass wir auch sicherstellen sollten, dass Proteststimmen das Wahlergebnis nicht beeinflussen. Lassen Sie uns zunächst den ersten Punkt etwas genauer in den Blick nehmen.
6.1 Über den Unterschied zwischen bad voting und protest voting Doch wo liegt der genaue Unterschied zwischen einer unmoralischen Stimmabgabe (politisch erlaubt, aber unmoralisch) und einer Protestwahl (in unserem Sinn politisch verboten und unmoralisch)? Protestwähler wissen in der Regel recht gut, dass es z. B. eigentlich nicht gut ist, rechte Parteien wie die AfD oder Die Heimat zu unterstützen, aber viele tun dies, um ein politisches Statement zu setzen, weil sie
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der politischen Elite eine Lektion erteilen wollen. Oftmals sind solche Wähler mit einer bestimmten Politik oder Strategie nicht einverstanden und sehen die Protestwahl als ihre letzte Möglichkeit, in den politischen Willensbildungsprozess wirksam einzugreifen. Überzeugte Rassisten und Sexisten wissen normalerweise nicht, dass ihre Überzeugungen unmoralisch sind (in dieser Hinsicht sind sie völlig authentisch). Im Gegensatz dazu wissen Protestwähler häufig sehr genau, dass das, was sie tun, eigentlich nicht der richtige Weg ist, um politische Ziele in einer liberalen Demokratie zu verfolgen, vor allem dann, wenn ihre Wahl nicht mit ihren tatsächlichen politischen Ansichten übereinstimmt (das ist das Merkmal, das das Verhalten von Protestwählern inauthentisch macht).⁵ Es gibt viele andere Möglichkeiten, den politischen Prozess zu beeinflussen: Teilnahme an öffentlichen Debatten, politischer Aktivismus (Gründung von Vereinigungen oder Teilnahme an bereits bestehenden Vereinigungen), öffentliche Demonstrationen und Proteste, das Schreiben von Briefen an die verantwortlichen Politiker und die Medien, Nutzung sozialer Medien, Geldspenden an Parteien oder bestimmte Kandidaten und so weiter. Mit anderen Worten: Auf Grund der Tatsache, dass Protestwähler häufig gegen ihr besseres Wissen wählen – weil sie wissen, was sie tun, und dennoch letztlich das Risiko der unvorhergesehenen gesellschaftspolitischen Folgen billigend in Kauf nehmen (in der Hoffnung, dass sowieso alles gut geht) –, versagen sie moralisch, weil sie ihre Mitmenschen in Geiselhaft nehmen. Protestwahlen sind daher gefährlich und sollten verboten werden, weil die Protestwähler mit dem Schicksal von demokratischen Gemeinschaften spielen. Manch einer mag behaupten, dass es keinen moralischen Unterschied zwischen einer schlechten Wahl und einer Protestwahl gibt, und deswegen Protestwahlen nicht verboten werden sollten. Sie könnten argumentieren, dass beides zwar unerwünscht ist, es aber unfair wäre, speziell auf Protestwahlen zu fokussieren. Folgt man dieser Logik, so könnte man behaupten, dass es keinen moralischen Unterschied zwischen einem wirklich rassistischen Wähler und einem nichtauthentischen Wähler gibt, der aus Protest eine rassistische Partei unterstützt. Aber ist dieses Argument wirklich stichhaltig? Erstens: Rassistische Wähler mögen zwar oft behaupten, dass sie die Mehrheit repräsentieren, obgleich sie in Wirklichkeit eine Minderheit darstellen. Andererseits können Protestwähler auf Grund ihrer großen Anzahl den Wahlausgang erheblich beeinflussen.
5 Zugegeben, die meisten Protestwähler – auch wenn sie in dieser Hinsicht in die Irre geführt werden – denken, dass die Protestwahl die einzige mögliche Alternative ist, die ihnen bleibt. Genau das macht die Protestwahl so gefährlich.
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Zweitens: Protestwähler handeln oft entgegen ihren üblichen moralischen Grundsätzen, indem sie zeitweise Ansichten unterstützen, die sie normalerweise ablehnen, von denen sie aber glauben, dass sie zumindest kurzfristig ihren eigenen Protest stärken können. Dieses Phänomen lässt sich empirisch bei vielen Wahlen beobachten, bei denen die Wähler versuchen, der politischen Elite eine Lektion zu erteilen oder sie zum Umdenken zu bewegen. Drittens: Was Protestwähler auf moralischer Ebene auszeichnet, ist ihre bewusste Entscheidung, in einer Weise zu handeln, die den demokratischen Charakter einer Gesellschaft destabilisieren könnte, obwohl sie sich der möglichen Folgen durchaus bewusst sind. Sie verstoßen gegen das sogenannte Peter-ParkerPrinzip („Aus großer Macht folgt große Verantwortung!“). Daher wird ihr moralisches Fehlverhalten als gravierender betrachtet als das von tatsächlichen Rassisten, die möglicherweise auf Grund ihrer eingeschränkten Bildung (im weitgefassten Sinne von Paideia) nicht über eine umfassendere moralische Perspektive verfügen. Viertens: Der Einfluss von Protestwählern bei „der Verzerrung“ von Wahlergebnissen ist im Vergleich zur Minderheit der rechtsgerichteten Wähler auf Grund ihrer viel größeren Anzahl hoch. Dabei handelt es sich um Personen, die mit aktuellen politischen Lösungen unzufrieden sind, die von der Migrationspolitik über Maßnahmen gegen den Klimawandel, die Unterstützung der Ukraine im Konflikt mit Russland und Strategien zur Inflationsbekämpfung bis hin zur Arbeitsmarktpolitik usw. reichen können. Aus Sicht der Tugendethik fehlt ihnen die Tugend der Authentizität. Außerdem können sie mit ihrer Proteststimme die politische Kultur in einem Land stärker prägen als rechte Minderheitengruppen es jemals könnten (man beachte hier das frühere Urteil des Bundesverfassungsgerichts bezüglich des NPD-Verbotsurteils⁶). Daher versagen sie auch moralisch im Rahmen einer konsequentialistischen Perspektive, da ihre Handlungen mit hoher Wahrscheinlichkeit ganz erhebliche negative Auswirkungen auf viele Menschen haben würden (sollte eine rechte Protestwahl erfolgreich sein). Zusammenfassend kann man folgern, dass die zuvor dargestellten Argumente ausreichen, um zu belegen, dass eine moralische Gleichsetzung beider Gruppen (gleichwohl beide schlecht sind) nicht gerechtfertigt ist.
6 Die Entscheidung, die NPD im Jahr 2017 nicht zu verbieten, wurde durch ihre wahrgenommene Bedeutungslosigkeit beeinflusst. Obwohl das Bundesverfassungsgericht der Partei anti-verfassungsmäßige Ziele und eine ideologische Verwandtschaft mit dem Nationalsozialismus bescheinigte, wurde sie als zu unbedeutend angesehen, um diese Ziele effektiv verfolgen oder eine Bedrohung für die Demokratie darstellen zu können.
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6.2 Zu den praktischen Problemen des Verbots von Protestwahlen Ein Verbot von Protestwahlen ist mit offensichtlichen praktischen Schwierigkeiten verbunden. Wie könnte man ein solches Verbot erfolgreich umsetzen? Es gibt zumindest zwei Strategien: (1.) Der Ehrlichkeitsansatz und (2.) die KI-Wahlmaschine.
6.2.1 Der Ehrlichkeitsansatz Bei der ersten Option würde die Gemeinschaft lediglich an die Ehrlichkeit ihrer Wähler appellieren und sie auffordern, sich nicht an unmoralischen Protestwahlen zu beteiligen. Diese Strategie würde jedoch höchstwahrscheinlich scheitern, da viele Protestwähler von Populismus, Fake News und Verschwörungstheorien beeinflusst sind. Sie würden diesem Appell nicht folgen, weil sie es als ihre Aufgabe ansehen, der politischen Elite eine Lektion zu erteilen. In Zukunft wird es für die Wähler immer schwieriger werden, die Echtheit von Informationen zu erkennen, die ihre Wahlentscheidung beeinflussen könnten. Grund dafür ist der potenzielle Missbrauch von Künstlicher Intelligenz (KI) durch skrupellose Personen, die den Wahlprozess zu ihrem Vorteil manipulieren wollen. Sie könnten fortgeschrittene KI-Techniken einsetzen, um Deepfake-Videos und Deepsounds zu erstellen (ein erstes Anzeichen davon kann man bereits in den Vorwahlen zur US-Präsidentschaftswahl 2024 erkennen). Bei Deepfake-Videos handelt es sich um synthetische Medien, bei denen eine Person in einem vorhandenen Bild oder Video durch das Abbild einer anderen Person ersetzt wird, so dass es so aussieht, als ob sie Dinge gesagt oder getan hätte, die sie nie getan hat (oder tun würde). Deepsounds hingegen sind Audiodateien, die mit Hilfe von KI manipuliert oder vollständig erzeugt wurden und echte Stimmen oder Geräusche überzeugend imitieren können. Selbst für ausgewiesene Experten wird es immer schwieriger, zwischen den fabrizierten Inhalten und echten Inhalten eindeutig unterscheiden zu können. Vor diesem Hintergrund erscheint es beinahe unmöglich, die Voraussetzungen für die Umsetzung des Ehrlichkeitsansatzes zu schaffen. Dieser Ansatz setzt nämlich voraus, dass sich die Mitglieder einer Gemeinschaft, insbesondere die Wähler, zu einer authentischen gemeinschaftlichen Lebensweise verpflichten, die sie zu tugendhaftem Handeln ermutigt und auf einem kollektiven Verständnis dessen beruht, was eine moralisch integre Gemeinschaft ausmacht. Es geht nicht nur darum, Handlungen mit Worten und Gedanken in Einklang zu bringen, sondern auch darum, Authentizität im menschlichen Leben zu kultivieren.
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Diese Authentizität wäre eine Grundvoraussetzung dafür, ein Leben ohne Vergeltungsmentalität mit Blick auf die politischen Eliten zu führen. Wir haben es hier nämlich mit einem politischen Boomerang zu tun.
6.2.2 Die KI-Wahlmaschine Die zweite Option, die eher futuristisch anmutet, sieht den Einsatz einer KI-gesteuerten Wahlmaschine vor, die in der Lage ist, bestimmte Wahlverhalten – wie eine Protestwahl – zu erkennen. Diese Maschine könnte nicht nur den Gesichtsausdruck eines Wählers genau interpretieren, um festzustellen, ob eine Proteststimme vorliegt. Man könnte auch einen speziell entwickelten KI-Lügendetektortest einführen: Mit diesem Test könnte festgestellt werden, ob ein Wähler wirklich seine authentische Meinung äußert oder lediglich eine Proteststimme abgibt. Faktoren wie Mimik und Blutdruck und andere bio-physische Indikatoren könnten analysiert werden, um die Echtheit der Absichten eines Wählers festzustellen. Die KI-Wahlmaschine wäre dezentralisiert, so dass sie nicht von außen gehackt werden könnte (at least, for the sake of argument), und würde alle Proteststimmen von nicht-authentischen Wählern annullieren, die das Wohlergehen der Gemeinschaft gefährden. Der Protestwähler würde nicht über die Entscheidung der Maschine informiert werden. Natürlich wäre diese Option anfällig für einen Missbrauch, wenn die Maschine gehackt werden könnte, da Personen sie dann auch zur Manipulation von anderen Wahlen nutzen könnten. Eine groß angelegte Manipulation tausender dezentraler KI-Wahlmaschinen, die mit den besten verfügbaren Verschlüsselungsmethoden gesichert sind, erscheint jedoch äußerst unwahrscheinlich. Dennoch könnte dieses Big-Brother-Szenario auf viele demokratisch orientierte Wähler abschreckend wirken.
6.2.3 Up-shot Die Stärke, der in diesem Kapitel dargelegten Argumente, hängt jedoch nicht von den technischen Herausforderungen ab, die mit der praktischen Umsetzung verbunden sind. Es muss besser aufgeklärt werden: Die negativen gesellschaftspolitischen Auswirkungen von Protestwahlen könnten zu einem positiven Wandel der individuellen Einstellungen führen und die Wähler dazu veranlassen, ihr Verhalten zu überdenken. Dies könnte zu einer Vermeidung von Protestwahlen führen – auch ohne den Einsatz technischer Lösungen. Darüber hinaus könnte eine öffentliche
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Diskussion eine breitere Debatte über das Wesen der Demokratie und die Verantwortung der Wähler anregen, was durchaus zu bedeutenden Veränderungen in der Art und Weise, wie wir wählen, führen kann. Darüber hinaus könnte es auch zu Fortschritten in der Technologie und in der Gesetzgebung kommen, die die technische Aufdeckung und Verhinderung von Protestwahlen in Zukunft leichter machen können. Letztlich sollte der Schwerpunkt auf der Förderung einer demokratischen Kultur liegen, die die Authentizität schätzt und die Wähler davon abhält, ihren durchaus berechtigten Unmut durch Protestwahlen ausdrücken zu wollen.
Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Protestwahlen nicht als eine weitere gültige Methode zur Durchsetzung des eigenen politischen Standpunkts betrachtet werden sollten. Vielmehr birgt sie das Potenzial, das Wohlergehen eines Gemeinwesens zu gefährden, indem sie Extremisten, die andernfalls nicht in der Lage gewesen wären, politische Autorität zu erlangen, den Aufstieg zur Macht ermöglicht (wir sehen dies gerade bezüglich der AfD in Deutschland). Der Akt der Protestwahl kann als eine Form von schuldhafter Fahrlässigkeit angesehen werden, als eine Missachtung der potenziellen Folgen, die den Kurs einer Gemeinschaft, einer Nation oder sogar der Welt erheblich verändern können. Die Auswirkungen von Protestwahlen gehen über den unmittelbaren Wahlzyklus hinaus. Eine Protestwahl – wie sie bei einer Bundestagswahl vorkommen könnte – kann zu einer langfristigen Verschiebung der politischen Dynamik führen, oft in einer Weise, die für Minderheiten und sogar für die Mehrheit von Nachteil ist. Sie kann das Machtgleichgewicht stören, politische Entscheidungen verfälschen und sogar soziale Unruhen bis hin zum Bürgerkrieg auslösen. Es handelt sich also nicht nur um eine Frage der individuellen Meinungsäußerung, sondern um ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem. Angesichts dieser potenziellen negativen Auswirkungen spricht vieles für ein Verbot und Ächtung von Protestwahlen. Es geht nicht darum, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu beschneiden, sondern sicherzustellen, dass der demokratische Prozess nicht aus Gründen manipuliert wird, die vom Grundprinzip des Wählens abweichen – nämlich Vertreter zu wählen, die einzig das Gemeinwohl im Blick haben. Zweifelsohne ist es von entscheidender Bedeutung, die Wähler über die möglichen gesellschaftspolitischen Folgen von Protestwahlen aufzuklären und Mechanismen zu entwickeln, die diese aufdecken und verhindern können. Auch wenn der Weg zu diesem Ziel mit großen Herausforderungen verbunden sein mag, ist dies ein notwendiger Schritt, um die Integrität von demokratischen Prozessen zu bewahren.
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Es ist meiner Ansicht nach unbestritten, dass Protestwahlen moralisch falsch sind, und man alles tun sollte, um das politische System zu schützen und zu verhindern, dass das Fundament eines demokratischen Gemeinwesens unterminiert wird. Die unmissverständliche Botschaft an alle Wähler lautet, Protestwahlen auf Grund ihrer ungewissen und potenziell schädlichen Ergebnisse für die Gemeinschaft zu vermeiden. Danksagung: Ich möchte Thomas Pogge für seine wertvollen Kommentare und seine Unterstützung bei früheren Versionen dieses Artikels herzlich danken.
Bibliographie Brennan, Jason. 2009. „Polluting the Polls: When Citizens Should Not Vote.“ Australasian Journal of Philosophy 87 (4): 1–15. https://doi.org/10.1080/00048400802587309. Brennan, Jason. 2012. The Ethics of Voting. Princeton: Princeton University Press. Estlund, David. 2007. Democratic Authority. Princeton: Princeton University Press. Gordon, John-Stewart. 2021. Moralische Orientierung. Eine kurze Philosophie des guten Lebens. Freiburg: Verlag Karl Alber. Lever, Annabelle. 2017. „Must We Vote for the Common Good?“ In: E. Crookston, D. Killoren und J. Trerise, Ethics in Politics. The Rights and Obligations of Individual Political Agents, 145–156. London: Routledge. Mill, John Stuart S. 2001. Representative Government. Kitchener: Batoche Books. Original veröffentlicht 1861. Nida-Rümelin, Julian. 1999. Demokratie als Kooperation. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Nida-Rümelin, Julian. 2006. Demokratie und Wahrheit. München: C.H. Beck. Nida-Rümelin, Julian. 2020. Die gefährdete Rationalität der Demokratie: Ein politischer Traktat. Hamburg: Edition Körber. Wolff, J. 1994. „Democratic Voting and the Mixed-Motivation Problem.“ Analysis 54 (4): 193–196.
Katja Vogt
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Abstract: Stoic Cosmopolitanism. The public image of Stoic cosmopolitanism is shaped by the framework of modern moral philosophy. One approach, which I call Kantian, views the Stoics as ancestors of a Kantian concern with persons. The other, which I call Environmentalist, invokes Stoic pantheism and ascribes “moral status” to all of nature. But the Stoics are not concerned with the moral status of all reasoners or of nature, and not only insofar as the language of “moral status” is alien to them. On the account I defend, they start out from a literal version of the Socratic premise that virtue is knowledge. To become virtuous, we must gain knowledge of the world. This knowledge provides us, according to the Stoics, with a self-conception as a part-of-a-whole, with attitudes of fellowship with all human beings, awe for the world, and attitudes that inherit some of this awe toward all components of the world.
Introduction In earlier work, I argue that Stoic cosmopolitanism does not ask us to create a world state. The world-as-city already exists – it is the world we live in, jointly with everyone else.¹ Cosmopolitanism thus starts with a descriptive claim. At the same time, it is a normative outlook. The Stoics do not commit the naturalistic fallacy; they do not infer norms from descriptive claims. Instead, the descriptive premise clashes with how we typically see things, and thereby asks us to reconsider. Ordinarily we do not see ourselves as what we are: integrated parts of the cosmos, fellow-inhabitants of it with everyone else. The insight that we share the world as habitat, the Stoics propose, changes our attitudes. This proposal relies on so-called monism about the mind, which does not distinguish between reason and desire as two faculties. Knowledge about the world and our place in it provides us with the right attitudes to the world, ourselves, other human beings, and the world’s other components. The public image of Stoic cosmopolitanism is shaped by the quite different framework of modern moral philosophy. One approach, call it Kantian, views the Stoics as ancestors of
1 Vogt (2006) on Zeno’s version of cosmopolitanism, (2008) on Stoic cosmopolitanism, (2018) on causality, (2021) on the notion of the law, and (forthcoming) on the identification of virtue and knowledge. https://doi.org/10.1515/9783111433233-020
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a Kantian concern with persons. The other, call it Environmentalist, invokes Stoic pantheism and ascribes “moral status” to all of nature.² But the Stoics are not concerned with the moral status of all reasoners or of nature, and not only insofar as the language of “moral status” is alien to them. They start out from a literal version of the Socratic premise that virtue is knowledge. To become virtuous, we must gain knowledge of the world. With this knowledge, we acquire attitudes of appreciation on a scale: some for a stone, more for a flower, yet more for a mouse, yet more for a human being, and most of all, for the world. To lay out this proposal, I examine the self-conception of a human inhabitant of the world (Section 2), the attitudes toward other human beings (Section 3), to divinity (Section 4), and to non-human components of the world (Section 5) that, according to the Stoics, come with comprehensive knowledge. I offer replies to objections that Kantians, Environmentalists, and their critics may raise (Section 6) and end with a brief conclusion (Section 7). It is unlikely that anyone today can embrace the Stoic outlook wholesale. The same applies to the Kantian outlook as well as other approaches in ethics. That said, the Stoic focus on the role of scientific understanding in shaping our attitudes seems timely to me. Whatever else we think in ethics, this is a proposal worth taking seriously.³
1 The World as System Here is one of the most informative accounts of Stoic cosmopolitanism: T1 The world is said to be an organization (sustêma) of heaven and air and earth and sea and the natures within them. The world is also called the habitation (oikêtêrion) of gods and human beings, [and the structure consisting of gods and human beings,] and the things created for their sake. For just as there are two meanings of city, first as habitation and second as the structure of its inhabitants along with its citizens, so the world is like a city consisting of gods and human beings, with the gods serving as rulers and human beings as their subjects. They are members of a community because of their participation in reason, which is law by
2 Nussbaum (1997). The Environmentalist approach is not prominent among scholars; Brennan and Lo suggest that Spinoza was influenced by the Stoics and that his pantheism was, in turn, an inspiration for environmentalists in the 20th century (2016). Shogry 2020 reconstructs this picture and offers a critical response to the Environmentalist view. 3 A note about my contribution to this Festschrift. I choose my topic for three reasons. First, NidaRümelin’s recent book (2020) appeals to the Stoics. Second, his work supports an idea that is centrally important to the Stoics: ethics must be in conversation with what today we call the natural sciences, in Stoic terms, physics. Third and not least, some of my earliest conversations with NidaRümelin addressed precisely these issues.
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nature (phusei nomos); and everything else is created for their sake. (Arius Didymus, ap. Eusebius, Praep. Evang. 15.15.3–5 = LS 67 L, tr. LS with changes by KMV)
T1 starts with the claim that the world is a sustêma, a system. This system includes spheres of the natural world: heaven and air, the oceans, the earth. It also includes all entities or “natures” in this system. In other words, Stoic cosmopolitanism begins with a descriptive premise about the natural world. What does it mean that the world is a system? T1 does not offer much help, but another text reports two ideas (DL 7.138–9, LS 47O). The first is mereological. Human beings, animals, plants, etc., stand in part-whole relations to the world. The second idea concerns a physical bond among all parts. According to Stoic physics, the active principle—identified with divinity—pervades all the world’s parts; this is the “pantheism” that Environmentalists invoke. The active principle unifies the world, and it unifies and individuates each of its parts. The norms of Stoic cosmopolitanism start where all Stoic ethics starts: with the demand to become knowledgeable, and what amounts to the same, virtuous. The Stoics claim that the most generic virtues are logic, ethics, and physics, the three subfields of Stoic philosophy (Aetius I, Preface 2 = LS 26 A). By mastering these three fields, one acquires systematic knowledge. The Stoics also recognize the traditional virtues: wisdom, moderation, courage, and justice (Stobaeus 2.59,4–2.60,2 = LS 61H). Each of them is defined as a science of such-and-such. In effect, the Stoic distinctions between virtues are two sets of distinctions between disciplines of study. Virtue is—in both cases—comprehensive knowledge of ourselves as human beings, the world’s other components, and the world. This knowledge is descriptive and normative. It tells us what the world and its components are, and which norms we ought to adopt in order to become better thinkers and agents. It is also normative in the deeper sense that, with the knowledge we gain, we acquire the attitudes we should have. This is the upshot of psychological monism. The change of perspective that comes with knowledge may be most drastic in how we conceive of ourselves. According to the mereological premise, we are parts among other parts of the world. According to the premise of physical connectedness, we are tied to all other parts of the world by the physical presence of the same thing—the active principle—in each of them. Our status is that of a fellow-part among other parts of the world. Each human being has a level of selfstandingness insofar as we are agents with reason. But we are, nevertheless, parts of the world, connected with all other parts of the world, which is one system. Arguably, our self-conception is fundamentally revised once we recognize ourselves as such.
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2 The World as Home The second sentence of T1 describes the world as a habitation or home. While we live, locally, in Athens, NYC, and so on, we also live in the world. By calling the world a habitation, the Stoics propose that we are “at home” in the world. This is a descriptive claim: de facto, we live in the world. It is also a normative claim, insofar as we need to recognize the world as the home we share with everyone else. The notion of a habitation informs how the Stoics think of a city, as we may translate polis. When they describe the world as city, they aim to pick out two ideas: the world is where we live, and it is governed by law. A city is ‘‘a group of people living in the same place and administered by law.’’⁴ The law which administers this place is the law of nature, identified with reason and divinity. The relevant group of people, according to Zeno, includes all human beings. The claim that we should regard everyone as fellow-citizens goes back to him, the founder of the Stoics.⁵ Scholars have asked whether this report is reliable. While it speaks of all human beings, another report ascribes the view to Zeno that only sages are citizens (DL 7.32–3).⁶ Strictly speaking, the question of whether all or some human beings—the wise—are cosmic citizens, is not on target. As we saw in T1, the gods live also in the cosmos. More precisely, the question is whether all humans and the gods or only wise humans and the gods qualify as citizens. If these options are construed as alternatives, neither of them is adequate (Vogt 2008). Both show up in the sources because they are part and parcel of one proposal. Zeno’s view is formulated as a norm. It speaks to the question of how we should view everyone. We all live in the world as integrated parts of it. And yet, that is not how we typically see ourselves. Hence, we are subject to norms that request a change of outlook. We are called upon to gain knowledge of the world. This knowledge changes our relational attitudes. Among other things, it provides us with attitudes to all other humans as the world’s fellow-inhabitants. This goal can also be articulated in terms of citizenship: by becoming wise, we live up to the standards of being citizens of the world. For the sake of simplicity,
4 Dio Chrysostom 36.20, LS 67 J, tr. LS. 5 On the fortune of Alexander 329a-b, LS67 A. 6 Schofield 1991, Vander Waerdt 1994, and Wildberger 2021 argue that the Stoics envisage a city of sages. Nussbaum 1999 argues that there is an important sense in which the Stoics refer to all human beings. Obbink 2001 defends a developmental picture, from a city of sages in early Stoicism to a theory about all human beings in later authors.
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one may introduce a distinction between being a fellow-inhabitant and a fellowcitizen. We all start out as fellow-inhabitants, namely, by living in the world. If we gain wisdom we become, fully, the world’s citizen.
3 Living with Gods According to T1, the world is also the home of gods. If we are interested in versions of cosmopolitanism that may inspire our own thinking, such premises seem unwelcome. What does it mean that humans and gods live in the world? Who are the gods that the Stoics refer to? And what is the attitude to divinity that comes with knowledge of the world? I already mentioned that god is identified with the active principle, which pervades the world and makes every part of it what it is. The second Stoic principle is matter, also called the passive principle. Both of these principles are corporeal.⁷ Jointly, they make up the corporeal world. Recent scholarly debates ask whether the Stoics should count as proto-physicalists (de Harven, forthcoming). After all, their account of the world views all of it, including the soul, reason, and divinity, as corporeal. Very few physicalists would claim that god pervades the world and individuates everything in it. This idea may seem closer to pantheism. Ultimately, however, none of today’s metaphysical options seems entirely on target. The claim that the Stoics are pantheists underrates their corporealism. The claim that they are physicalists underrates their appeal to divinity. For now, the key idea is that divinity is corporeal. Qua active principle, divinity is a component of the world; given this presence, however, the world also counts as divine. Who, then, are the Stoics talking about when they say that humans and gods live together? One option is that they invoke the relationship between human beings and the world. By living in the world, we live—in a sense—with god. The problem with this option is that the text speaks of gods in the plural. This problem may be resolvable, insofar as the Stoics seem to speak at times interchangeably of god and the gods. For example, according to Cicero they hold that it is “by the providence of the gods that the world and all its parts were first compounded and have been governed for all time.”⁸ Here the Stoics ascribe a role to the gods that is elsewhere ascribed to god-singular.
7 In addition to 2008 and 2021, this dimension of my argument draws also on Vogt 2018. 8 De natura deorum 2.75–6 = LS 54 J, tr. LS.
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Another option is that the report refers to celestial bodies, which the Stoics consider divine.⁹ Celestial bodies move across the heavens as reasoners. On this reading, humans live in a world that does not only contain animals, plants, and oceans, but also divine celestial bodies. For present purposes, the issue need not be decided. It is likely that the Stoics endorse both ideas: humans live with divinity insofar as the world is divine, and with gods insofar as celestial bodies are parts of the universe. The gods, according to T1, govern, and humans are their subjects. In which sense do gods-plural govern the world? The only clue that T1 provides is that the gods participate in reason, which is identified with the law of nature. If “gods” is to be read as god-singular, this is a cornerstone of Stoic physics. God is not only identified with the active principle and with the world, but also with the world’s reason and with law.¹⁰ Humans are governed by god insofar as everything in the world is determined by god/reason/law. If “gods” is instead read as referring to celestial bodies, the proposal is that those components of the universe that move as perfect reasoners are superior to humans who participate in reason, while not being perfect reasoners. Either way, Stoic cosmopolitanism includes norms of relating to the world: we should regard the world and its governance as divine and relate to it as such.
4 The Stoic Scala Naturae In addition to humans and gods, there are many other parts of the world, some of them what today we may call microscopic, such as the elements, others macroscopic, such as stones, plants, animals, and so on. The attitudes to these parts of the world that come with systematic knowledge should rely on the mereological premise that the world is a whole-with-parts, and the physical premise of connectedness among parts via the active principle. The stone, the tree, the mouse, and so on, are fellow-parts of the world. What is it to view and treat them as such? Our fellow-parts of the world are not all on par. The Stoics emphasize, in any number of contexts, that having reason is better than not having reason.¹¹ They offer a scala naturae that considers parts of the world with a view to how they move or are moved.
9 Cicero, De natura deorum 1.36–41. Cf. Vogt 2021 on how lawlike reasoning is a kind of governance. 10 See the collection of fragments in chapters 54 and 55 in Long and Sedley 1987; see Vogt 2021. On the world itself as rational, see Sextus Empiricus M 9.104 = LS 54F. 11 Sextus Empiricus M 9.104 = 54F.
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T2 Of that which moves, some have the cause (aitia) of movement in themselves, while others are moved only from outside. That which is moved only from the outside is transportable, like logs and stones and every material thing which is sustained by tenor (hexis) alone … Animals and plants have the cause of movement in (en) themselves, and so, quite simply, does everything sustained by its nature or soul, which they say also includes metals … Some things of this kind, they say, are moved out of (ex) themselves, and others by (aph’) themselves: the former are the soulless things, the latter are the ensouled. Ensouled things are moved by themselves when an impression occurs within them which calls forth an impulse … A rational animal, however, in addition to its impressionistic nature, has reason which passes judgment on impressions, rejecting some of these and accepting others, in order that the animal may be guided accordingly. (Origen, On principles 3.1.2–3 = LS 53 A, tr. LS minimally modified by KMV)
This scalar picture relates modes of movement to the way in which the active principle pervades a given entity. Stones and similar things are sustained—individuated and made to persist—by the lowest level of active principle, called “tenor.” Plants and animals are made what they are by the active principle to a higher degree: they have “natures,” which enable them to move “out of” themselves, and “souls,” which enable them to move by themselves. Plants move with the movement of growth, while animals are guided by cognition. They have phantasiai, impressions or mental representations. They also have impulses, hormai, movements of the mind toward and away from the things that are mentally represented, say, a tasty berry to be eaten or a dangerous predator to hide from. But they do not have reason, the ability to accept and reject representations and be guided by that. Only humans, and in perfected form gods, have that. No matter how attractive the Stoic picture is in other respects for environmental and animal ethics, there is no denying that it is scalar. The attitudes we should have must accordingly also be scalar. This does not translate into the assignment of moral or non-moral status. Rather, it translates into a deeper connection with some than with other components of the world. Insofar as stones do not contain high-level versions of the active principle, our relation to them is least deep. It is not, however, the relation to a mere “object,” as today one may put this. Even a stone is a fellow-part of nature. In terms of our relation to it, this may mean that we should not simply destroy stones when old houses are renovated, but rather repurpose them. A fortiori, we should not destroy mountains, but treat them as components of the world that, even if only in the least degree, have something of high standing in them—the active principle, in other words, god. Our relation with plants and animals is, respectively, deeper.
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5 Objections and Replies My proposal may seem disappointing to Kantians, Environmentalists, and those who reject Environmentalism on account of its ill fit with the texts.¹² The former may argue that I underrate similarities with Kantian ethics. After all, the scalar picture ends up with a normatively important community among reasoners. Environmentalists may want to emphasize pantheism more strongly, pushing the scalar outlook into the background. Critics of the Environmentalists may argue that talk about fellow-parts of the universe makes our relation to animals and plants look friendlier than the Stoics envisage it. Let me address these concerns in turn. Epictetus, a late Stoic, claims that relations of justice figure only among peers, that is, among human beings (Diss. 2.8.8). This proposal may sound as if Stoic cosmopolitanism is about human reasoners after all, as the Kantian view has it. But once the larger picture is in view, it is clear that Epictetus’ claim is more plausibly read differently. It clarifies our standing in the world, relative to gods on the one hand and to non-human components of the world on the other hand. We don’t stand in relations of justice with gods, who also live in the world, because we are not their peers. We are also not peers with animals, plants, stones, etc., and thus how we ought to relate to them is not a matter of justice. This does not mean, however, that we don’t owe anything to divinity, on the contrary. Insofar as the world is identified with god, we owe the highest kind of regard to divinity. It also does not mean that we don’t owe anything to animals, plants, and so on. Our relation to them is governed by our understanding of the world, including the way in which it is one complex system with us, animals, plants, stones, etc., as parts. In response to an Environmentalist complaint about the scalar picture, there is not much to say, other than that the texts are straightforward. It is all too clear that the Stoics rank reason highest, and that components of the world that are not reasoners are ranked with respect to their distance from reason. The more challenging complaint comes from those who reject the Environmentalist outlook in a more wholesale way than I do. They may invoke a phrase in T1 that I have not yet addressed: other natures are made for the sake of gods and human beings. If all components of the world are made for the sake of humans and gods, their status may —in the terminology of modern moral philosophy—be described as instrumental. That is, the Stoics seem to say precisely the opposite of what the Environmentalist wants them to say. Some examples for the for-the-sake-of-relation may spoil the Stoic outlook for us. Mice encourage us not to be untidy, horses are made to help us in war, bears 12 For the third approach, cf. Shogry 2020.
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and lions to give us practice in war, and so on.¹³ One need not be an adherent of deep ecology in order to be tempted to set this dimension of Stoic philosophy aside, or even, to dismiss the Stoic outlook on account of such claims. Key sources for these examples are Porphyry’s On Abstinence from Killing Animals and Plutarch’s On Stoic Self-Contradictions. The former is a defense of vegetarianism, the latter is a distinctively hostile text. As elsewhere, critics of the Stoics are good at making their views appear crass. Though Porphyry and Plutarch seem to cite from Stoic texts, they don’t tell their readers much about context. Cicero ascribes an example to Chrysippus that too may come across as off-putting: the soul of the pig preserves it, like salt, for human consumption (De natura deorum 2.160).¹⁴ But Cicero, who is not a hostile source, provides helpful context. He includes this example in his account of the idea that the world is the shared home and city for gods and human beings. Just as Athens and Sparta have been founded for the sake of Athenians and Spartans, and everything in these cities belongs to them, the world must be considered as belonging to gods and human beings (2.154–155). Cicero’s first example for this for-the-sake-of relation conveys an important qualification. The celestial bodies afford a spectacle for us, permit us to calculate seasons, and so on; and yet they also pertain to the overall cohesion and structure of the world (etiam ad mundi cohaerentiam pertinent, 2.155). This conjunction permits the following thought: that plants and animals serve human beings as food or for other purposes does not mean that they do not also play the role I fore-fronted, of being a component of the world-qua-system. According to Nemesius, Chrysippus and other Stoics hold that every generated being has a “gift,” given to it by fate. For example, water has being cool as its gift; each kind of plant has bearing a certain fruit; stones and fire have downward and upward movement respectively; animals have assent and impulse (291, 1–6, LS 53O). This picture seems to embrace the premise that divinity pervades everything. Via that route, everything also inherits a standing reflective of the presence of divinity. Arguably, this makes for a Stoic version of the imago Dei idea, one that permits degrees. All components of the world are pervaded and individuated by divinity. All of them demand awe on account of this.¹⁵
13 Plutarch, On Stoic self-contradictions 1044D = LS 54O, Porphyry, On abstinence 3.20.1, 3 = LS 54P. 14 I am grateful to Anthony Hejduk for alerting me to this passage. See also De natura deorum 2.133 = LS 54N. 15 According to Cicero, all natural entities inherit “our awe at things in the heaven and on earth.” De natura deorum 2.75–6 = LS 54 J.
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Conclusion Stoic cosmopolitanism, I argued, differs quite deeply from options framed by premises of modern moral philosophy. It does not ascribe moral status to natural entities, but it also does not ascribe moral status to us. It simply does not embrace the distinction between moral and non-moral value, or a version thereof. Instead, it starts from the identification of virtue and knowledge. Its main proposal is that we come to see ourselves, the world, and its components differently when we gain knowledge. While this approach is alien to modern moral philosophy, it may not be alien to how today we think of the sciences and their role in our conception of the world. This makes Stoic cosmopolitanism, I submit, of interest beyond the confines of scholarship. Knowledge provides us, according to the Stoics, with a self-conception as part-of-a-whole, with attitudes of fellowship with all human beings, awe for the world, and attitudes that inherit some of this awe toward all components of the world.
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Nikil Mukerji
20 Das Ethos der epistemischen Rationalität und das Abgrenzungsproblem in der Wissenschaftsphilosophie Abstract: The ethos of epistemic rationality and the problem of demarcation in the philosophy of science. The ethos of epistemic rationality requires us to accept scientific hypotheses solely based on sound reasons and to disregard social, political, cultural or ideological considerations. According to Julian Nida-Rümelin, this ethos is the essence of science. I argue in this article that it can also help us to grasp the essence of what is commonly regarded as the antithesis of science, namely pseudoscience. The latter, I suggest, is characterised by a substantial and systematic violation of the ethos of epistemic rationality. Accordingly, the ethos of epistemic rationality is suitable for solving a philosophical problem that is almost 100 years old: the problem of demarcation in the philosophy of science.
Einleitung Ein wesentliches Element der Wissenschaftsphilosophie Julian Nida-Rümelins ist das Ethos der epistemischen Rationalität (EER), das bereits 1991 im Zentrum seiner Antrittsvorlesung an der Universität Tübingen stand.¹ Dieses Ethos verlangt, wissenschaftliche Hypothesen dann und nur dann zu akzeptieren, wenn gute Gründe dafürsprechen, sie anzunehmen. Es zählt nur das Argument und nicht „die soziale, politische, kulturelle oder ideologische Rolle der betreffenden Hypothese“ (NidaRümelin 2018, 15).² In der Wissenschaft geht es mit anderen Worten nicht darum, was es uns nützt, das eine oder andere zu glauben, diese oder jene Sichtweise zu akzeptieren. Es geht nicht darum, welchen gesellschaftlichen Kräften es in die Hände spielen würde, würde man diese oder jene Position vertreten. Es geht auch nicht darum, von welcher politischen Seite eine wissenschaftliche Hypothese Applaus erhält oder wessen Gefühle man dadurch verletzt, dass man sie vertritt. Es
1 Die Antrittsvorlesung Nida-Rümelins wurde später im Band Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung (Nida-Rümelin 1996/2005a) als Kapitel „Wissenschaftsethik“ (Nida-Rümelin 1996/2005b) veröffentlicht. 2 Vgl. auch Nida-Rümelin 2020, 272. https://doi.org/10.1515/9783111433233-021
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geht einzig und allein um eins, nämlich um die Frage, welche Hypothesen gut begründet sind. Nach Nida-Rümelin ist dieses Ethos konstitutiv für die Wissenschaft. Im vorliegenden Beitrag möchte ich argumentieren, dass es uns auch einen weiteren Dienst erweisen kann: Wir können mithilfe des EER nicht nur das Wesen der Wissenschaft erfassen, sondern auch das Wesen ihres Widerparts: der Pseudowissenschaft. Dieses, so möchte ich zeigen, liegt darin, dass ein Erkenntnisunternehmen als Wissenschaft ausgewiesen wird, obwohl man dort das EER substanziell und systematisch verletzt. Dieser Beitrag ist wie folgt strukturiert: Nach einem kurzen Abriss des Abgrenzungsproblems (Abs. 2) werde ich zunächst die eine Seite des Abgrenzungsproblems diskutieren, nämlich das Wesen der Wissenschaft, das nach Nida-Rümelin im EER liegt (Abs. 3). Im nächsten Schritt werde ich mich der anderen Seite des Abgrenzungsproblems zuwenden und zeigen, wie uns das EER als Kontrastfolie dienen kann, um auch das Wesen der Pseudowissenschaft zu erfassen (Abs. 4). In einem letzten Schritt werde ich ergänzend einige Gedanken zur Frage, wie man Pseudowissenschaft im konkreten Fall erkennen kann, vorstellen (Abs. 5), um danach mit einem Gedanken zu möglichen Anschlussfragen zu schließen (Abs. 6).
1 Wissenschaft, Pseudowissenschaft und das Abgrenzungsproblem Bereits in antiken Texten – insbesondere bei Aristoteles und Cicero (vgl. Laudan 1983; Fernandez-Beanato 2020) – lassen sich Vorläufer der modernen Debatte über das Abgrenzungsproblem finden. In seiner modernen Erscheinungsform ist es jedoch untrennbar mit Karl R. Poppers Logik der Forschung (1934/2005) verbunden.³ Poppers Beiträge zählen gleichsam zu den bekanntesten Versuchen, das Abgrenzungsproblem zu lösen. Während Vertreter des Wiener Kreises dem Problem der Bestätigung wissenschaftlicher Hypothesen große Beachtung schenkten und versuchten, eine Bestätigungslogik zu entwickeln, zeigte sich Popper unbeeindruckt durch Versuche, die Wahrheit einer Hypothese zu belegen. Er glaubte, das Wesen der Wissenschaft liege nicht in einer speziellen Methode der Bestätigung, sondern vielmehr in der systematischen Suche nach Fehlern. Wissenschaft, so Poppers Gedanke, erkenne man gerade daran, dass man ihre Aussagen falsifizieren, also Bedingungen angeben kann, unter denen man diese als falsch zurückweisen würde. 3 Ein Überblick über Diskussionen zum Abgrenzungsproblem findet sich bei Hansson (2021) und Mukerji (im Erscheinen b).
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Demgegenüber könnte man Pseudowissenschaften als diejenigen Disziplinen verstehen, deren Aussagen eine Falsifikation nicht zulassen.⁴ Solche unfalsifizierbaren Aussagen, so könnte man es mithilfe eines Bonmots sagen, das dem Physiker Wolfgang Pauli zugeschrieben wird, sind so falsch, dass nicht einmal das Gegenteil richtig wäre. Poppers Abgrenzungskriterium erscheint durchaus erfolgreich, wenn man seine Anwendung auf die Theorien von Karl Marx, Sigmund Freud und Alfred Adler beschränkt, die Popper selbst als Beispiele wählt (Popper 1963/2002, Kap. 1). Doch es würde dem Geist des Falsifikationskriteriums selbst widersprechen, konzentrierte man sich nur auf diejenigen Fälle, die es uns als Lösung des Abgrenzungsproblems anempfehlen. Betrachtet man genügend konkrete Pseudowissenschaften, so wird offenkundig, dass Poppers Kriterium unsere Urteile darüber, was als Wissenschaft bzw. Pseudowissenschaft klassifiziert werden sollte, nicht adäquat erfasst (Laudan 1983). Hinzu kommt, dass Poppers Ansicht die wissenschaftliche Praxis falsch zu charakterisieren scheint, wie bereits sein Schüler Imre Lakatos (1978) aufbauend auf Vorarbeit von Pierre Duhem (1906/1954) einwandte.⁵ Wissenschaftler vermeiden häufig eine Falsifizierung, indem sie nicht den Kern der jeweiligen Theorie verwerfen, sondern stattdessen Hilfshypothesen modifizieren.⁶ Somit ist Poppers Vorschlag zur Lösung des Abgrenzungsproblems, der auch heute noch einflussreich ist, als unzureichend zu verwerfen. Da auch andere, historisch bedeutsame Entwürfe problembehaftet sind, schlug der Wissenschaftsphilosoph Larry Laudan in seinem einflussreichen Aufsatz „The Demise of the Demarcation Problem“ (1983) kurzerhand vor, das Abgrenzungsproblem zu Grabe zu tragen.
4 Der Präzision wegen sei angemerkt, dass Popper in Logik der Forschung (1934/2005) Aussagen, die nicht falsifizierbar sind, nicht als „pseudowissenschaftlich“ bezeichnet, sondern als „metaphysisch“. Allerdings findet sich im Index der englischen Routledge Ausgabe der Logik der Forschung (Popper 1959/2005) der Indexeintrag „Demarcation between science and pseudoscience, as well as between science and metaphysics“, der auf Abschnitt 4 verweist. Dies deutet darauf hin, dass man Poppers Abgrenzungskriterium auch auf die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft beziehen kann. Zudem schildert Popper in einer Vorlesung aus dem Jahre 1953, die als Kapitel 1 von Conjectures and Refutations (1963/2002) veröffentlicht wurde, er habe sich seit 1919 kernpunktmäßig für die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft interessiert. 5 Den Einwand der empirischen Inadäquatheit erhebt auch Kuhn (1962/1996). 6 Lakatos schlug daher eine verfeinerte Variante des Falsifikationismus vor (sophisticated falsificationism), der die Einheit der Abgrenzung verändert. Nach Lakatos grenzen wir nicht wissenschaftliche von pseudowissenschaftlichen Theorien ab, sondern betrachten ganze Forschungsprogramme einschließlich ihres „Schutzgürtels“ aus Hilfshypothesen.
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Spätestens seit der Veröffentlichung des Bandes The Philosophy of Pseudoscience (2013) floriert die Debatte jedoch wieder.⁷ Tatsächlich scheint es alleine aus praktischen Gründen kaum möglich, die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu ignorieren. Wissenschaft genießt einen sehr guten Ruf (Cologna et al. 2024), und wissenschaftliche Wissensansprüche zählen in vielen Bereichen, z. B. Medizin⁸ oder Bildung⁹, weitaus mehr als nicht-wissenschaftliche. Zudem scheint es eine genuine Unterscheidung zu geben, denn die meisten Wissenschaftsphilosophen sind sich hinsichtlich der Beurteilung konkreter Beispiele einig, auch wenn noch darüber gestritten wird, wie man eine theoretische Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft vornehmen kann (Hansson 2021).
2 Wahrheit, Vernunft und Ethos Bisher basierte unsere Suche nach einem Abgrenzungskriterium auf folgenden stillschweigenden Annahmen: 1. Wir suchen notwendige und hinreichende Bedingungen für Wissenschaft und Pseudowissenschaft. 2. Einheit der Abgrenzung ist die einzelne Hypothese. Martin Mahner schlägt vor, beide Annahmen aufzugeben. Statt, wie Popper, auf einzelne Hypothesen zu fokussieren, regt er mit Bunge (1983) und Thagard (1988) an, ganze Erkenntnisunternehmungen (epistemic fields) zu betrachten; und anstelle von notwendigen und hinreichenden Bedingungen strebt Mahner eine Liste von Indikatoren für Wissenschaftlichkeit bzw. Pseudowissenschaftlichkeit an (Mahner 2013). Konkrete Faktoren, die Mahner für geeignet hält, sind z. B. der Organisationsgrad der jeweiligen Erkenntnisunternehmung, der interne Informationsaustausch sowie die Diskursregeln, die diesen anleiten. Mahners Indikatoren-Liste wirkt durchaus geeignet, unseren Blick für Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu schärfen. Doch sie scheint eher einen heuristischen denn einen konstitutiven Charakter zu haben. Zwar streben Wissenschaftler durchaus geeignete Organisationsformen an, pflegen regen Informationsaustausch und beachten Diskursnormen. Aber es bleibt offen, warum
7 Allerdings wurden natürlich auch in der Zwischenzeit Diskussionen zum Abgrenzungsproblem veröffentlicht (vgl. etwa Dupré 1993 sowie Mahner 2007). 8 Eine Ausnahme stellen nach deutschem Arzneimittelgesetz die sogenannten „besonderen Therapierichtungen“ wie etwa die Homöopathie dar, mit der sich Deutschland eine im internationalen Vergleich bemerkenswerte Irrationalität leistet (vgl. Mukerji 2022). 9 In öffentlichen Schulen haben wissenschaftliche Theorien (z. B. die Evolutionstheorie) einen Platz im naturwissenschaftlichen Unterricht, pseudowissenschaftliche Theorien (z. B. der Kreationismus) nicht oder allenfalls als Negativbeispiel (Pigliucci 2010/2018, Kap. 7).
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dies jeweils Indikatoren von Wissenschaft sind. Hier kann das EER helfen, denn aus diesem scheinen sich Mahners Wissenschaftsindikatoren ableiten zu lassen. Das EER ist nach Nida-Rümelin ein Ethos der Unbestechlichkeit, nach dem „das Argument selbst zählt und nicht die soziale, politische, kulturelle oder ideologische Rolle der betreffenden Hypothese.“ (Nida-Rümelin 2018, 15) Für unsere Zwecke ist eine weitere Differenzierung sinnvoll. Angenommen eine Person sei bereit, nur das Argument zählen zu lassen, solange es um die Wahrheitssuche geht. Sie könnte das EER dennoch verletzen, indem sie entweder Wahrheit als Ziel aufgibt, sodass NidaRümelins Grundsatz gewissermaßen „leerläuft“ oder so irrational ist, dass sie gegen fundamentale Grundsätze der epistemischen Rationalität verstößt.¹⁰ Also gibt uns das EER plausiblerweise Ziel und Mittel vor: Es verpflichtet uns auf Wahrheitsfindung als Ziel. Und da derjenige, der den Zweck will, „so fern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat“, „auch das dazu unentbehrlich nothwendige Mittel“ (Kant 1785: AA IV 417) will, folgt vernünftigerweise eine Verpflichtung auf die epistemische Rationalität als notwendiges Mittel der Wahrheitssuche. Mahners Wissenschaftsindikatoren sollten sich mithin als dasjenige „Gefüge aus Rollenerwartungen, Gratifikationen und Sanktionen, handlungsleitenden Überzeugungen, Einstellungen, Dispositionen und Regeln“ (Nida-Rümelin 1996/2005: 836) rekonstruieren lassen, das eine Gemeinschaft vernunftbegabter Wesen (Wissenschaftler) anleiten würde, die nach Wahrheit suchen und sich des dafür notwendigen Mittels, der epistemischen Rationalität, bedienen wollen.¹¹
3 Nicht-Wissenschaft, Parawissenschaft und Pseudowissenschaft Das EER ist also für die Wissenschaft konstitutiv. Wissenschaft ist eine Unternehmung, bei der Wahrheitsfindung das Ziel darstellt. Dieses Ziel wird mit dem Mittel der epistemischen Rationalität, die sich pointiert auf die Formel bringen lässt, nur das Argument zählen zu lassen, rigoros verfolgt. Doch wo endet diese Unternehmung, und wo beginnt Pseudowissenschaft?
10 In meinem Buch Die 10 Gebote des gesunden Menschenverstands Mukerji (2017) stelle ich eine Konzeption des kritischen Denkens vor, die solche Grundsätze enthält. 11 Um die Details dieses Vorschlags weiter auszuarbeiten, müsste man das Rad nicht neu erfinden. Das florierende Feld der Sozialepistemologie, in dem erkenntnistheoretische Fragen vor dem Hintergrund sozialer Systeme, Normen und Praktiken diskutiert werden, bietet uns einen reichen Erkenntnisschatz, auf den wir uns stützen können (O’Connor et al. 2023).
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Zunächst sollten wir ein einfaches Modell ausschließen, nach dem es einen klar definierbaren Punkt gibt, ab dem Wissenschaft in Pseudowissenschaft umschlägt. Dieses Modell wirkt deswegen unzutreffend, weil Wissenschaftlichkeit und Pseudowissenschaftlichkeit jeweils Grade zuzulassen scheinen. Ein Kontinuum-Modell erscheint angemessener. Danach gibt es (in einem näher zu bestimmenden Sinne) „gute“ Wissenschaft sowie Wissenschaft, die sich an den Grundsätzen der epistemischen Rationalität in einer so gravierenden Weise versündigt, dass man von „schlechter“ Wissenschaft sprechen sollte. Strittig ist, ob Pseudowissenschaft sich noch auf dem gleichen Kontinuum befindet und schlicht dort beginnt, wo epistemisch so schlecht gearbeitet wird, dass man nicht einmal mehr von „Wissenschaft“ sprechen kann (Kitcher 1982) oder Pseudowissenschaft eine Kategorie sui generis darstellt (Gordin 2012). Zweifelslos gibt es auch Orte außerhalb des Kontinuums. Dieser Bereich der Nicht-Wissenschaft lässt sich weiter aufgliedern. Dass in einem bestimmten Bereich nicht wissenschaftlich gearbeitet wird, ist nicht per se zu beanstanden. „Der Weltmeister im Diskuswerfen muss nicht physikalische Ballistik studiert haben. Der gute Handwerker muss nicht einmal in der Lage sein, mit Worten zu erklären, warum er dies genau so und nicht anders verrichtet.“ (Nida-Rümelin 2014, 88) In der Praxis geht es nicht um unbestechliche Wahrheitssuche, sondern um andere Ziele: Der Diskuswerfer möchte den Diskus möglichst weit werfen; der Handwerkerin ist daran gelegen, ein Werk zu schaffen. Zwar spielt Wahrheitssuche auch hier eine gewisse Rolle, denn wenn der Werfer einer falschen Vorstellung über Wurftechniken anhängt, könnte dies seinen Erfolg mindern. Analoges gilt für unsere Handwerkerin. Aber die Wahrheitssuche ist jeweils anderen Zielen untergeordnet. Allgemein ist in nicht-wissenschaftlichen Praxisfeldern das Streben nach Wahrheit nachrangig und hinsichtlich der Erreichung anderer Ziele, die sich nach Aristoteles dem Streben nach dem Guten unterordnen lassen, instrumentell.¹² Es gibt allerdings nicht-wissenschaftliche Bereiche, die wir als unwissenschaftlich bezeichnen. Diese Bezeichnung enthält eine Kritik: Wissenschaftlichkeit im Sinne eines kompromisslosen Strebens nach Wahrheit im Sinne des EER wäre angezeigt, wird jedoch nicht praktiziert. Dieser Vorwurf ist in Praxisbereichen relevant, für die eine möglichst präzise Aufklärung der Tatsachen von kritischer, instrumenteller Bedeutung ist. Ein Baugutachter sollte z. B. vor Gericht wahrheitsgemäße Angaben machen, da die Rechtsfindung davon abhängt. Gibt er an, er stütze seine Einschätzungen auf die Inspektion des Baugrundes mithilfe von Wünschel-
12 Dass eine Verletzung des EER mit hohen Leistungen in anderen Bereichen vereinbar ist, zeigt das Beispiel des Leistungssports, bei dem es sich um eine Brutstätte der Pseudowissenschaft zu handeln scheint (Tiller 2022).
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ruten, dann ist dies zu beanstanden, da Wünschelruten nicht funktionieren. Ähnlich verhält es sich, wenn eine Heilpraktikerin angibt, sie bestimme die Behandlung ihrer Patienten mithilfe eines Pendels, da dies keine zuverlässige Methode der Diagnostik und Therapiewahl darstellt. Obwohl es im Rechts- und Medizinbereich nicht per se um Wahrheit geht, ist sie in diesen Praxisfeldern von instrumenteller Bedeutung. Denn nur wer weiß, was der Fall ist, kann aufklären, welches Urteil rechtens und welche Behandlung medizinisch indiziert ist. Erkenntnispraktiken, welche wissenschaftliche Maßstäbe nicht erfüllen, obwohl sie dies im vorliegenden Kontext der Sache nach sollten, brandmarken wir entsprechend als unwissenschaftlich. Nun sind wir schon fast im Bereich der Pseudowissenschaft angekommen. Allerdings fehlt noch eine weitere Bedingung, um davon sprechen zu können, nämlich die Anmaßung der Wissenschaftlichkeit. Der Wünschelrutengänger und die pendelnde Heilpraktikerin erheben eventuell gar keinen wissenschaftlichen Anspruch. Vielleicht lehnen beide die Wissenschaft ab und glauben, sie verfügten über einen „höheren“ Erkenntnisweg. Dann befänden wir uns im Bereich der Parawissenschaft (Mahner 2007). Vertreten beide jedoch einen wissenschaftlichen Anspruch, dann handelt es sich um Pseudowissenschaft. An dieser Stelle kann ich die zentrale These dieses Aufsatzes einführen. Sie lautet: Pseudowissenschaft ist jedes Erkenntnisunternehmen, das den Anspruch erhebt, Wissenschaft zu sein und das EER substanziell und systematisch verletzt. Für eine substanzielle Verletzung kommen nach unserer Interpretation des EER zwei Fälle in Betracht. Im ersten Fall verfolgt man gar nicht erst das Ziel, sich an der Wahrheit zu orientieren.¹³ Hier liegt Wahrheitsindifferenz vor, die nach Harry Frankfurt die Essenz dessen bildet, was wir in der Popkultur als „Bullshit“ bezeichnen (Frankfurt 2005). Doch alle Menschen, Wissenschaftler eingeschlossen, wollen bisweilen schlicht Recht behalten und priorisieren dies gegenüber der Wahrheitssuche. Ist diese Neigung nur in geringem Umfang ausgeprägt, sollte man dies noch nicht als substanzielle Verletzung des EER werten. Im zweiten Fall verfolgt eine Person zwar das Ziel der Wahrheitsfindung, versündigt sich jedoch aufgrund kognitiver Fehlleistungen an Grundsätzen der 13 Strenggenommen müsste man zwei Fälle unterscheiden: 1. Die jeweilige Person ist gedankenlos und gar nicht an der Wahrheit interessiert. 2. Sie will zwar, dass ihre Überzeugungen mit der Realität übereinstimmen, aber es ist ihr egal, ob ihre Äußerungen wahr oder falsch sind. Diese Differenzierung soll hier jedoch keine Rolle spielen. Eine weiterführende Diskussion findet sich in Mukerji (im Erscheinen a).
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epistemischen Rationalität. Wir neigen, wie Popper bereits anmerkte, z. B. dazu, eher nach Bestätigung für unsere Ansichten zu suchen denn nach Widerlegungen und Gegenargumenten (Nickerson 1998). Deswegen sagt Julian Nida-Rümelin, das EER verlange „ein gewisses Maß an Distanzierung von sich selbst, von seinen bisherigen Ansichten und Entscheidungen.“ (Nida-Rümelin 2018: 20) Ich habe andernorts vorgeschlagen, auch dann von Bullshit zu sprechen, wenn sich eine Person genuin als wahrheitssuchend einschätzt, sie aber aufgrund fehlender Selbstdistanzierung (oder anderer kognitiver Untugenden) unfähig ist, die Wahrheitssuche konsequent zu betreiben (Mukerji 2018; 2021, im Erscheinen a; Mukerji und Ernst 2022). Eine solche Person, die ich als Bullshitter „zweiter Ordnung“ bezeichne, verhält sich wie ein klassischer Frankfurt’scher Bullshitter, dem die Wahrheit schlicht egal ist. Ihre Gedankengänge dienen nicht der Wahrheitsfindung, auch wenn sie letztere eventuell wirklich beabsichtigt. Auch dies stellt jedoch nicht unbedingt eine substanzielle Verletzung des EER dar. Dies ist nur dann der Fall, wenn die Abweichungen von den Maßstäben der epistemischen Rationalität hinreichend groß sind. Eine systematische Verletzung des EER liegt vor, wenn Abweichungen vom Ideal der epistemischen Rationalität, sei es aufgrund von Wahrheitsindifferenz oder Irrationalität, über die Zeit hinweg nicht korrigiert werden. Die drei Wissenschaftsindikatoren Mahners, die wir oben beispielhaft betrachtet haben, lassen sich vor diesem Hintergrund deuten: Wissenschaftliche Unternehmungen verfügen üblicherweise über einen hohen Organisationsgrad, pflegen intensiven Informationsaustausch und legen der Wahrheitsfindung dienliche Diskursregeln fest. All dies soll sicherstellen, dass schlechte Argumente, die das EER substanziell verletzen, nicht über die Zeit hinweg – also: systematisch – akzeptiert, sondern durch Prüfung und Kritik aussortiert werden.
4 Zur Identifikation von Pseudowissenschaft Abschließend möchte ich kurz das Problem diskutieren, wie man Pseudowissenschaft nicht nur theoretisch erfassen, sondern sie auch in konkreten Fällen erkennen kann. Man könnte meinen, Mahners Wissenschaftsindikatoren beantworten dies bereits. Tatsächlich wird es sich oft lohnen, die Aspekte zu betrachten, die er vorschlägt. Ein Erkenntnisunternehmen mit Wissenschaftsanspruch, das z. B. erst gar nicht versucht, eine der Wahrheitsfindung dienliche Organisationsform zu etablieren, Informationsaustausch zu ermöglichen oder vernünftige Diskursnormen festzulegen, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Pseudowissenschaft. Doch eine Verwendung solcher Wissenschaftsindikatoren ist nicht in allen Fällen anzuraten. Denn obwohl wir mit ihnen bestimmte Fälle von Pseudowissenschaft er-
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kennen können, werden wir andere Fälle übersehen. In diesen Fällen haben wir es mit Varianten der Pseudowissenschaft zu tun, die geschickte Wissenschafts-Mimikry (Blancke et al. 2017) betreiben, also typische Eigenschaften der Wissenschaft nachahmen. Die Homöopathie ist z. B. eine paradigmatische Pseudowissenschaft, wie Mahner selbst anmerkt (Mahner 2007; 2013).¹⁴ Interessanterweise schlagen aber gerade hier die genannten Wissenschaftsindikatoren nicht an.¹⁵ Denn Fürsprecher der Homöopathie haben sich in bemerkenswerter Weise organisiert (z. B. unter dem Dach der sogenannten „Wissenschaftlichen Gesellschaft für Homöopathie“), veröffentlichen in Fachzeitschriften und unterwerfen sich Diskursregeln, die prima vista wissenschaftlich wirken und Kritik zulassen.¹⁶ Ein alternativer, „symptomatischer Ansatz“ (Boudry 2021) zur Identifikation von Pseudowissenschaft fokussiert direkt auf primäre Evidenz für die Hypothese, dass das EER substanziell und systematisch verletzt wird. Wie wir festgehalten haben, kann dies auf zwei Arten erfolgen, nämlich erstens durch eine Ablehnung des vorgegebenen Ziels (Wahrheitsindifferenz) und zweitens durch die Unfähigkeit, sich der Mittel zur Verfolgung des Ziels zu bedienen (Irrationalität). Obwohl es sich lohnt, diese Erscheinungsformen konzeptuell zu trennen, äußern sie sich auf die gleiche Weise, nämlich durch einen substanziellen und systematischen Anteil sophistischer Argumentation. Nach dem symptomatischen Ansatz können wir also nachweisen, dass es sich bei einer bestimmten Erkenntnisunternehmung um eine Pseudowissenschaft handelt, indem wir zeigen, dass die Gedankengänge, die dort angestellt werden, hinreichend viele und schwerwiegende Denkfehler enthalten, die nicht korrigiert werden, sondern systematisch auftreten.
14 Vgl. ebenso Oreskes 2019 und Pigliucci 2015. 15 Für den Zweck dieses Aufsatzes prüfe ich nur die drei o.g. Kriterien und nicht die vollständige Liste. Ich möchte nicht ausschließen, dass andere Wissenschaftsindikatoren auch im Falle der Homöopathie anschlagen würden. Allerdings wirft jeder Ansatz, der mithilfe von Wissenschaftsindikatoren arbeitet, das Problem auf, dass diese Indikatoren, die nicht wissenschaftskonstitutiv sind, nachgeahmt werden können. Dies gilt nicht für den symptomatischen Ansatz, den ich in diesem Abschnitt vorschlage. 16 Ein Beispiel, das die Kritikoffenheit der homöopathischen Gemeinschaft illustriert, ist ein Brief des deutschen Physikers Philippe Leick an den Editor der Fachzeitschrift Homeopathy Ken Fisher. Im Brief stellt Leick das sogenannte „Wassergedächtnis“ (die Theorie, dass Information in Wasser gespeichert werden kann) physikalisch in Frage. Der Brief wurde im Journal veröffentlicht (Leick 2008) und in der Community diskutiert (Milgrom 2008). Gleichzeitig muss konstatiert werden, dass bestimmte wissenschaftliche Bereiche in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine so starke Politisierung erlebt haben (Ackermann 2022; Mukerji 2023; Nida-Rümelin 2023), sodass der Eindruck entstehen mag, der Diskurs in der Homöopathie-Community sei vergleichsweise frei.
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Mithilfe dieses Ansatzes lässt sich die Pseudowissenschaftlichkeit der Homöopathie nachweisen (Mukerji und Ernst 2022). Denn ihre Anhänger und auch ihre Koryphäen argumentieren aus Sicht des EER gleichermaßen haarsträubend. Die Homöopathie geht z. B. davon aus, dass Mittel wirken können, die so hoch verdünnt wurden, dass kein pharmakologisch wirksames Molekül mehr anwesend ist. Träfe dies zu, dann müsste, wie Nida-Rümelin anmerkt, „ein Großteil der naturwissenschaftlichen Gesetze ungültig sein“ (Nida-Rümelin 2011, 140). Dies lässt sich auf der Grundlage einer fallibilistischen Philosophie (Nida-Rümelin 2018, 115) zwar nicht sicher ausschließen, müsste jedoch zumindest plausibilisiert werden. Cornelia Richardson-Boedler, ehemalige Direktorin der Abteilung für Bach-Blüten-Studien des British Institute of Homoeopathy, schreibt dazu etwa, dass homöopathische Mittel ab einem bestimmten Verdünnungsgrad „ihre physikalischen Eigenschaften verlieren“ und „die freigesetzte und hoch aktivierte einfache Substanz des Mittels in der Lage [ist], mit den höchsten Bereichen der einfachen Substanz oder der innersten Identität des Menschen zu resonieren.“ (Richardson-Boedler 1993/2005, 19; eigene Übersetzung, NM) Der in Homöopathie-Kreisen angesehene Chemiker Lionel R. Milgrom schlägt in zwei Aufsätzen (Milgrom 2002; 2007) im Flaggschiff-Journal der Homöopathie-Forschung (Homeopathy) vor, den Behandler, den Behandelten und das zur Behandlung eingesetzte homöopathische Mittel als „quantenverschränkt“ zu betrachten.¹⁷ Diese Vorschläge mögen Laien beeindrucken, da sie hochtrabende Begriffe beinhalten, die Wissenschaftlichkeit suggerieren (Wissenschafts-Mimikry). Doch hierbei handelt es sich lediglich um Sprachblasen und nicht um genuine Erklärungsversuche. Anders formuliert: Verteidiger der Homöopathie versuchen, ihre Doktrin mithilfe von „argumentativem Bullshit“ (Mukerji und Mannino 2022) zu verteidigen. Die genannten Beispiele stammen zudem nicht von randständigen Figuren, sondern von zentralen Protagonisten der HomöopathieCommunity. Die Denkfehler, die in ihren Einlassungen enthalten sind, stellen substanzielle Verletzungen des EER dar, die systematisch auftreten, also über die Zeit hinweg nicht durch Kritik aus der Gemeinschaft korrigiert werden. Deswegen ist die Homöopathie eine Pseudowissenschaft.
Fazit Die vorgeschlagene Lösung des Abgrenzungsproblems gibt zu Anschlussfragen Anlass. Insbesondere könnten wir fragen, wie andere wissenschaftliche Grundwerte ins Bild passen. Nach dem Wissenschaftssoziologen Robert K. Merton stellt
17 Eine skeptisch-naturwissenschaftliche Replik gibt Leick (2008).
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z. B. Originalität einen weiteren, wichtigen Wert dar (Merton 1957).¹⁸ Es ist jedoch fraglich, wieweit sich dieser mit dem EER verbinden lässt bzw. ob sich beide überhaupt in Einklang bringen lassen. Zwischen Wahrheitsfindung und Originalität scheint eine gewisse Spannung vorzuliegen, denn originelle Forschung riskiert in höherem Maße, falsche Ergebnisse zu produzieren (Hansson 2023). Doch es besteht auch eine augenscheinliche Kompatibilität. Es ließe sich nämlich argumentieren, dass man den Erfolg der Wahrheitssuche auch daran festmachen sollte, wieviel neues Wissen erzielt wird. Und da originelle Forschung mehr neues Wissen verspricht, scheint sie dem Ziel der Wahrheitsfindung in einem naheliegenden, quantitativen Sinne besser zu entsprechen. Hinsichtlich der Frage nach dem Wesen der Pseudowissenschaft ergibt sich an diesem Punkt eine interessante, aber bisher wenig belichtete Frage: Wie würden wir einen epistemisch rigorosen und damit auf Wahrheitskonformität hin ausgerichteten Forscher einordnen, der so wenig originell forscht, dass substanzieller Wissenszuwachs ausgeschlossen erscheint? Insistiert er, er sei aufrichtig an Wahrheitsfindung interessiert, dann können wir, so scheint mir, ebenfalls von Pseudowissenschaft sprechen, insoweit Wahrheitssuche als konstitutives Wesensmerkmal der Wissenschaft lediglich vorgegeben, nicht aber praktiziert wird. Die im vorliegenden Beitrag vorgeschlagene Lösung des Abgrenzungsproblems verfügt über Ressourcen, um auch diese Intuition abzubilden. Erinnern wir uns dazu, dass wir im Rahmen des EER zwischen einer Ziel- und einer Mitteldimension unterschieden haben, wobei wir Wahrheitsfindung als Ziel und epistemische Rationalität als Mittel verstanden haben. Allerdings richtet sich epistemische Rationalität, so wie wir sie verstanden haben, lediglich auf die Hypothesenprüfung. Es erscheint naheliegend, die zur Hypothesengenerierung notwendige Originalität als weiteres Mittel der Wahrheitsfindung ins EER zu integrieren, sodass sich mithilfe des beschriebenen Lösungsansatzes auch weniger paradigmatische Fälle von Pseudowissenschaft als solche rekonstruieren lassen.
Bibliographie Ackermann, Ulrike. 2022. Die neue Schweigespirale. Wie die Politisierung der Wissenschaft unsere Freiheit einschränkt. Darmstadt: wbg Theiss.
18 Originalität gilt auch als philosophische Tugend. So schreibt etwa Derek Parfit über Immanuel Kants Philosophie, ihre größte Tugend liege nicht etwa in ihrer Konsistenz, wie Kant selbst dachte, sondern in ihrer Originalität und Fruchtbarkeit (Parfit 2011). Systematische Diskussionen zum Wesen der Originalität sind jedoch rar (Hansson 2023).
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Georg Marckmann
21 Kohärentistisch begründete Ethik in Medizin und Public Health: Methodische Grundlagen Abstract: Coherentist-based ethics in medicine and public health: methodological foundations. Ethics in medicine and public health have become not only established academic disciplines, but also increasingly influential on the practice of patient care and public health. Therefore, the quality of the ethical arguments has gained more and more importance. Starting from the basic structure of ethical analyses, this contribution proposes a structured methodological approach for ethics in medicine and public health. It contains a set of normative criteria established by a coherentist method of justification and a step-wise procedure to apply the criteria for the ethical evaluation of concrete situations or actions. The approach is illustrated by two examples, a 5-step approach for ethical case discussions in patient care and a framework for the ethical evaluation of public health interventions. Overall, these considerations shall contribute to methodological reflections in applied ethics and thereby to the quality of the resulting ethical analyses.
Einleitung Die bereichsspezifischen Ethiken haben sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend ausdifferenziert und widmen sich konkreten ethischen Fragestellungen in verschiedenen Anwendungsbereichen. Sie beschränken sich dabei nicht auf die Identifizierung und Deskription moralischer Phänomene, sondern möchten zu einer normativen Orientierung in dem jeweiligen Anwendungsbereich beitragen: Unter welchen ethischen Voraussetzungen ist eine bestimmte Handlungspraxis ethisch vertretbar? Die biomedizinische Ethik beispielsweise konnte sich als Bereichsethik in Deutschland nicht nur als akademisches Fach an den Universitäten etablieren, sondern ist überdies auch in Gesellschaft und medizinscher Praxis in Ethikräten, Ethikkommissionen und Ethikkomitees strukturell verankert. An eine in Theorie und Praxis gleichermaßen etablierte Disziplin darf – und muss – die Frage nach Qualitätsstandards gestellt werden: Was zeichnet eine gute medizinethische Analyse aus? Anhand welcher Kriterien lässt sich beurteilen, was eine bessere oder schlechtere ethische Argumentation ist? Diese Fragen sind insofern besonders relevant, als die Medizinethik in unterschiedlichen Beratungsformen einen immer größeren Einfluss auf konkrete Entscheidungen in der Praxis gewinnt: Wie kann der https://doi.org/10.1515/9783111433233-022
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Georg Marckmann
Erfolg und damit die Qualität dieser Bemühungen beurteilt und sichergestellt werden? Zentral scheint hierfür ein transparentes, klar definiertes methodisches Vorgehen zu sein, das es den Betroffenen ermöglicht, die argumentativen Grundlagen einer Entscheidung nachzuvollziehen und ggf. zu kritisieren. Mit dem vorliegenden Beitrag möchte ich aufzeigen, wie ein methodisches Vorgehen einer Ethik im Gesundheitsbereich aussehen könnte – als Beitrag zur Methodenreflexion in den Bereichsethiken. Dabei erscheint es zunächst sinnvoll, sich den Kern der Ethik im Gesundheitsbereich vor Augen zu führen. Durch eine systematische Analyse versucht sie einen Beitrag zu ethisch besser begründeten Entscheidungen in Medizin und Gesundheitswesen zu leisten. Sie tritt dabei als normative Ethik auf, die Entscheidungssituationen analysiert und die verfügbaren Handlungsoptionen ethisch bewertet. Im Ergebnis will sie den handelnden Personen eine Orientierung bieten, welches Vorgehen aus ethischer Sicht zu bevorzugen ist. Aus dieser allgemeinen Charakterisierung lassen sich zwei Elemente ableiten, die eine Methodik einer Ethik im Gesundheitswesen auf jeden Fall umfassen sollte: Zum einen die Benennung und Begründung der normativen Maßstäbe, anhand derer die Handlungsoptionen bewertet werden, zum anderen ein klar definiertes Vorgehen, wie diese normativen Maßstäbe bei der Bearbeitung konkreter Fragestellungen anzuwenden sind. Ich werde deshalb zunächst den Kohärentismus als Modell zur ethischen Rechtfertigung der normativen Bewertungsmaßstäbe vorstellen und dann aus der Grundstruktur ethischer Analysen ein methodisches Vorgehen für die Ethik im Gesundheitsbereich ableiten. Veranschaulichen möchte ich dieses Vorgehen dann zum einen an dem Modell der prinzipienorientierten Falldiskussion für die Ethik in der Patientenversorgung und zum anderen am Ansatz einer kohärentistisch begründeten Public-Health-Ethik.¹
1 Kohärentismus als Modell ethischer Rechtfertigung Wie bereits ausgeführt, benötigt die normative Ethik – unabhängig von ihrem Anwendungsbereich – eine explizite Begründung der relevanten normativen Bewertungsmaßstäbe. Sie trifft dabei auf das Problem, dass sich bislang keine ethische Theorie als allgemein verbindliche normative Orientierung durchsetzen konnte. Die
1 Weitere Anwendungen des kohärentistisch begründeten Vorgehens habe ich u. a. für die Bewertung von eHealth-Anwendungen (Marckmann 2016) und für die Bewertung der Xenotransplantation, d. h. der Übertragung tierischer Organe auf den Menschen (Marckmann 2018), ausgearbeitet.
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Moralphilosophie ist vielmehr geprägt von einer Vielzahl konkurrierender, ihrem Anspruch nach oft exklusiver Theorien, die sich in ihren Begründungsstrategien teilweise erheblich unterscheiden. Beispielhaft erwähnt seien konsequenzialistische Ethiken, nach denen die Folgen einer Handlung zu optimieren sind (z. B. der Nutzen für die Betroffenen), oder deontologische Ethiken, welche auf die Einhaltung übergreifender Gebote abheben (z. B. die Selbstbestimmung des Einzelnen zu respektieren). Die angewandte Ethik, die sich mit aktuellen Entwicklungen in verschiedenen Praxisbereichen auseinandersetzt, kann die moralphilosophischen Grundlagenkontroversen nicht umfassend erörtern, geschweige denn lösen. Zudem stellt sich die Frage, ob die Vorgehensweise traditioneller ethischer Theorien der deskriptiven und normativen Komplexität konkreter Praxisfelder angemessen ist (Nida-Rümelin 1996). Unter Praxisbedingungen ist eine Vielzahl unterschiedlicher normativer Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Konsequenzialistische Argumente (z. B. hoher Nutzengewinn), deontologische Normen (z. B. Recht auf Selbstbestimmung), Fragen der Gerechtigkeit (z. B. Nutzenverteilung, Zugang zu Gesundheitsleistungen) und evaluative Fragen eines guten und gelingenden Lebens (z. B. Bewertung von gesundheitlichen Einschränkungen oder Verhaltensänderungen). Mit dem Kohärentismus konnte sich ein alternativer Begründungsansatz etablieren, der sich explizit dem Theorienpluralismus in der Moralphilosophie und dem Wertepluralismus in der Gesellschaft stellt. Angesichts ungelöster moralphilosophischer Grundlagenkontroversen gibt der Ansatz den Anspruch einer umfassenden Moraltheorie auf. Im Gegensatz zu den klassischen Ethiktheorien beruft sich der Kohärentismus auch nicht auf ein einziges, letztgültiges Moralprinzip, sondern knüpft an die in einer bestimmten Gemeinschaft etablierten moralischen Überzeugungen an, die in ihrem moralischen Gehalt rekonstruiert und in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden (Badura 2011; Nida-Rümelin 1997). Man spricht deshalb von einem rekonstruktiven oder kohärentistischen Begründungsansatz. Gewöhnlich ergibt sich dadurch eine Pluralität normativer Prinzipien, die als Grundlage für die Bewertung konkreter Handlungsoptionen dienen. John Rawls hat mit seinem Konzept des Überlegungsgleichgewichts („reflective equilibrium“) die Debatte um den ethischen Kohärentismus wesentlich geprägt. Nach diesem Modell der ethischen Rechtfertigung sind unsere wohl abgewogenen moralischen Urteile („considered judgements“) mit den relevanten Hintergrundüberzeugungen und ethischen Grundsätzen in ein – dynamisches – Gleichgewicht der Überlegung zu bringen (Rawls 1975). Für den biomedizinischen Bereich lassen sich mit dem kohärentistischen Begründungsverfahren die vier Prinzipien Wohltun, Nichtschaden, Respekt der Autonomie und Gerechtigkeit rekonstruieren. Sie sind in Abhängigkeit vom jeweiligen Anwendungsbereich weiter zu konkretisieren bzw. zu ergänzen. Bei der Anwendung medizinischer Technologien z. B. sind die Funktionsfähigkeit der Technologie,
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ihre Sicherheit und Fehleranfälligkeit sowie – bei digitalen Anwendungen – der Schutz vertraulicher Patientendaten vor unautorisiertem Zugriff (Datenschutz) als normative Maßstäbe mit zu berücksichtigen (Marckmann 2016). Bei der Xenotransplantation, d. h. der Übertragung tierischer Organe auf den Menschen, sind zusätzlich Belastungen und Schadenspotenziale für die betroffenen Tiere als ethische Kriterien zu berücksichtigen (Marckmann 2018). Methodisch maßgeblich sind folglich nicht „universelle“ medizinethische Prinzipien, sondern ein ethisches Rechtfertigungsmodell, das bereichsspezifische kohärente Bewertungsmaßstäbe aus den jeweils relevanten wohlüberlegten moralischen Urteilen rekonstruiert. Im Folgenden möchte ich aus der Grundstruktur einer ethischen Bewertung konkreter Entscheidungssituationen die Kernelemente eines methodischen Vorgehens ableiten.
2 Grundstruktur ethischer Analysen im Gesundheitsbereich Die Ethik im Gesundheitsbereich zielt allgemein darauf ab, durch eine systematische Analyse einen Beitrag zu ethisch besser begründeten Entscheidungen im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit zu leisten. Sie tritt dabei insbesondere als normative Ethik auf, deren Aufgabe es allgemein ist, eine begründete Antwort zu geben auf die Leitfrage: Was sollen wir (in moralischer Hinsicht) tun? Dazu muss die normative Ethik die jeweilige Entscheidungssituation analysieren und die verfügbaren Handlungsoptionen ethisch bewerten. Im Ergebnis möchte sie den handelnden Personen eine Orientierung bieten, welche Handlung aus ethischer Sicht mit guten Gründen zu bevorzugen ist. Aus dieser allgemeinen Charakterisierung ethischer Bewertungen lassen sich Kernelemente eines methodischen Vorgehens definieren, die über verschiedene Bereiche und Fragestellungen hinweg invariant sind und jeweils mit entsprechenden Qualitätsstandards verbunden werden können (Marckmann 2013). (1) Jede ethische Analyse muss mit einer genauen Beschreibung der Entscheidungssituation einschließlich der verfügbaren Handlungsoptionen mit ihren Folgen beginnen. Als Qualitätsstandard wäre z. B. zu fordern, hierbei die verfügbare wissenschaftliche Evidenz zu berücksichtigen. (2) In einem zweiten Schritt sind die normativen Kriterien für die Bewertung der Handlungsoptionen zu benennen. Dabei ist das zugrundeliegende Begründungsverfahren zu erläutern. In vielen Fällen wird man auf bereits etablierte Bewertungsinstrumente zurückzugreifen können.
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(3) In einem dritten Schritt sind die Handlungsoptionen auf der Grundlage jedes einzelnen ethischen Kriteriums zu bewerten. Hier ist es ein Qualitätsmerkmal, dass alle für den Bereich einschlägigen normativen Bewertungsmaßstäbe auch tatsächlich berücksichtigt werden. (4) Anschließend müssen die resultierenden Einzelbewertungen in einer Synthese zu einer übergreifenden Beurteilung der Entscheidungssituation zusammengeführt werden. Eine wesentliche Herausforderung liegt in der Abwägung konkurrierender Einzelbewertungen. Dass das dabei verwendete Vorgehen explizit erläutert wird, stellt ein Qualitätsmerkmal dieses Bearbeitungsschrittes dar. (5) Da die meisten ethischen Bewertungen nicht in einer kategorischen Befürwortung oder Ablehnung der untersuchten Handlungsoptionen resultieren, sollten anschließend möglichst praxisnahe Empfehlungen formuliert werden, wie mit der Entscheidungssituation in einer ethisch vertretbaren Art und Weise umgegangen werden kann. Dabei sind auch pragmatische Fragen der Implementierung der ethisch jeweils vorzugswürdigen Handlungsoption zu klären. (6) Im weiteren Verlauf sollte schließlich evaluiert werden, wie sich die gewählte Lösung in der Praxis tatsächlich bewährt und ob die sachlichen und normativen Bewertungsgrundlagen noch zutreffen. An den Beispielen ethischer Entscheidungen in der Patientenversorgung und der ethischen Bewertung von Public-Health-Maßnahmen sei im Folgenden erläutert, wie die rekonstruierten Bewertungsmaßstäbe in ein methodisches Rahmengerüst eingebettet werden können.
3 Kohärentistische begründete Ethik in der Patientenversorgung Die Bearbeitung ethischer Fragen in der Patientenversorgung gehört zu den Kernaufgaben einer Ethik im Gesundheitsbereich. Im Rahmen ethischen Fallbesprechungen soll gemeinsam mit dem Betreuungsteam herausgearbeitet werden, welche (Be‐)Handlungsoption in einer bestimmten medizinischen Situation ethisch am besten begründbar ist. Orientiert an der zuvor herausgearbeiteten Grundstruktur ethischer Analysen muss das Vorgehen zunächst eine Analyse der Entscheidungssituation mit den verfügbaren Handlungsoptionen umfassen, anschließend eine Bewertung der Handlungsoptionen anhand der relevanten normativethischen Maßstäbe und schließlich eine Synthese, die die Einzelbewertungen zusammenführt. Die Bewertungsmaßstäbe ergeben sich im Bereich der Patienten-
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Georg Marckmann
versorgung aus den vier klassischen medizinethischen Prinzipien Wohltun, Nichtschaden, Respekt der Autonomie und Gerechtigkeit. Mit einer abschließenden kritischen Reflexion ergibt sich ein fünfschrittiges Vorgehen (vgl. die Übersicht des Modells der prinzipienorientierten Falldiskussion). Das Modell kann als Strukturierung für die Moderation ethischer Fallbesprechungen im Team dienen, darüber hinaus aber auch als Leitfaden für die strukturierte Aufarbeitung ethischer Fragen in der Patientenversorgung. Tab. 1: Das Modell der prinzipienorientierten Falldiskussion zur Strukturierung ethischer Fallbesprechungen (Marckmann und Mayer 2009; McCullough und Ashton 1994) 0. Fragestellung: Anlass der Fallbesprechung 1. Analyse: Medizinische Aufarbeitung des Falles a. Situation des Patienten (Anamnese, Befunde, Diagnosen, etc.) b. (Be‐)Handlungsstrategien mit ihrem weiteren Verlauf (Prognose) 2. Bewertung I: Ethische Verpflichtungen gegenüber dem Patienten a. Wohltun und Nichtschaden (Wohlergehen des Patienten) b. Autonomie respektieren (Wille des Patienten) 3. Bewertung II: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten: Familienangehörige, andere Patienten, Team, Versichertengemeinschaft (Gerechtigkeit) 4. Synthese: Übergreifende Bewertung: Konvergieren oder divergieren die Verpflichtungen? a. Im Konfliktfall: begründete Abwägung b. Planung der Umsetzung der Entscheidung 5. Kritische Reflexion: a. Was ist der stärkste Einwand gegen die ausgewählte Option? b. Wie hätte der Konflikt möglicherweise vermieden werden können?
Schritt 1: Medizinische Aufarbeitung des Falles Die medizinische Aufarbeitung umfasst zwei Teilschritte: a) Zunächst muss die aktuelle medizinische Situation möglichst genau beschrieben werden, in der sich der Patient aktuell befindet. Ziel ist eine gemeinsam geteilte, umfassende Sicht der Situation des Patienten, auch in psychosozialer Hinsicht. b) Anschließend gilt es, die verfügbaren (Be‐)Handlungsstrategien herauszuarbeiten, die sich aus etwaigen unterschiedlichen Behandlungszielen ergeben oder die – bei gleichem Behandlungsziel – durch unterschiedliche NutzenSchaden-Relationen gekennzeichnet sind. Für jede einzelne Handlungsstrategie ist dann der zu erwartende weitere Verlauf zu klären: Wie groß sind die
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Überlebenschancen des Patienten? Mit welcher Lebensqualität wird der Patient voraussichtlich weiterleben? Schritt 2: Ethische Verpflichtungen gegenüber dem Patienten In ethischen Fallbesprechungen hat es sich bewährt, bei der Bewertung der herausgearbeiteten Handlungsstrategie mit der Wohlergehens-Perspektive zu beginnen, um zunächst unabhängig vom Patientenwillen zu prüfen, welches Vorgehen aus Sicht des Teams für den Patienten am besten ist. a) Wohltun und Nichtschaden (Wohlergehen des Patienten) Die Bewertung der verfügbaren Handlungsstrategien hinsichtlich des Wohlergehens des Patienten erfordert eine Klärung des Therapieziels und die Abwägung der Nutzen- und Schadenspotenzialen der entsprechenden Behandlungsoptionen. So weit als möglich wird man sich hierbei an allgemein geteilten Wertvorstellungen orientieren (sog. „best interest-Standard“). Letztere ergeben sich vor allem aus der Einschätzung bzw. Erfahrung, wie andere Patienten in vergleichbaren Situationen die Therapieziele und das Nutzen-Schaden-Verhältnis verschiedener Handlungsoptionen üblicherweise bewerten. b) Respekt der Autonomie (Wille des Patienten) Anschließend ist zu klären, welche der verfügbaren Handlungsstrategien der Patient selbst nach entsprechender Aufklärung bevorzugt und wie dies im Kontext seiner persönlichen Werte, Präferenzen und Einstellungen begründet ist. Nach Möglichkeit sollte der Patientenwille bereits vorab im Rahmen eines ihn befähigenden Prozesses gemeinsamer Entscheidungsfindung ermittelt worden sein. Bei nicht einwilligungsfähigen Patienten ist hier auf (1) eine vorliegende Patientenverfügung, (2) auf zuvor mündlich geäußerte Behandlungswünsche oder (3) den mutmaßlichen Patientenwillen zurückzugreifen. Schritt 3: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten Im dritten Bearbeitungsschritt ist – geboten durch das Prinzip der Gerechtigkeit – zu prüfen, welche Bedürfnisse anderer Personen bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen sind. Neben den Angehörigen und nahestehenden Personen (die z. B. noch etwas Zeit zum Abschiednehmen benötigen) sind hierbei auch die Bedürfnisse anderer Patienten zu berücksichtigen, wenn z. B. mehrere Patienten um begrenzte Versorgungskapazitäten konkurrieren. Auch Fragen des Ressourcenverbrauchs wären hier zu diskutieren, sofern sie für die vorliegende Entscheidung relevant sind. Die Verpflichtungen gegenüber Dritten haben dabei im Einzelfall in der Regel ein geringeres Gewicht als die Verpflichtungen gegenüber dem einzelnen Patienten (vgl. Bearbeitungsschritt 2). Meist dient dieser Schritt deshalb vor allem dazu, die Bedürfnisse anderer beteiligter Personen, insbesondere der Angehörigen,
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bei der Umsetzung der für den Patienten besten Option nicht aus dem Blick zu verlieren. Schritt 4: Synthese Im vierten Bearbeitungsschritt sind die vorangehenden Einzelbewertungen zu einer übergreifenden Beurteilung zusammenzuführen. Wenn die Ergebnisse der drei Bewertungsperspektiven – Wohlergehen des Patienten, Patientenwille und Verpflichtungen gegenüber Dritten – übereinstimmen, gibt es gute ethische Gründe, die entsprechende Behandlungsoption zu ergreifen. Liegt hingegen ein ethischer Konflikt vor, ist eine begründete Abwägung der konfligierenden Verpflichtungen erforderlich. Dabei sind fallbezogene Gründe herauszuarbeiten, welche Verpflichtung Vorrang genießen soll (vgl. hierzu ausführlicher Hirsch 2023). Im Fall der Ablehnung einer medizinischen Maßnahme durch einen aufgeklärten, einwilligungsfähigen Patienten hat dessen Selbstbestimmung Vorrang vor den professionellen Fürsorgeverpflichtungen. Lässt sich bei einer ethischen Fallbesprechung in der Synthese keine Einigkeit erzielen, sind die unterschiedlichen Positionen jeweils mit ihrer ethischen Begründung zu dokumentieren. Anschließend sollte überlegt werden, welche weiteren Schritte erforderlich sind, um das Ergebnis der Fallbesprechung umzusetzen. Schritt 5: Kritische Reflexion Als letzter Bearbeitungsschritt kann eine kritische Reflexion der Fallbesprechung sinnvoll sein: Worin besteht der stärkste Einwand gegen die favorisierte Handlungsoption? Und: Wie hätte der Entscheidungskonflikt möglicherweise verhindert werden können? Zum einen soll dadurch das Ergebnis der Fallbesprechung noch einmal kritisch geprüft (und ggf. modifiziert) werden, zum anderen ist zu überlegen, ob man aus dem vorliegenden Fall für zukünftige Fälle lernen kann – im Sinne einer präventiven Ethik. Insgesamt bietet das Modell der prinzipienorientierten Falldiskussion einen methodischen Rahmen, um in einer strukturierten Art und Weise im Einzelfall zu einer ethisch gut begründeten Entscheidung zu gelangen. Die transparente Abarbeitung der verschiedenen Schritte ermöglicht eine Prüfung der Qualität der ethischen Argumentation und damit auch des Ergebnisses.
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4 Kohärentistisch begründete Public-Health-Ethik Mit dem kohärentistischen Begründungsverfahren lässt sich gleichermaßen auch ein normatives Rahmengerüst für die Bewertung von Public-Health-Maßnahmen rekonstruieren (Marckmann et al. 2015). Public-Health-Maßnahmen setzen nicht beim einzelnen bereits erkrankten Patienten an, sondern versuchen auf der Ebene von Bevölkerungsgruppen die Gesundheit der Menschen zu fördern und Krankheiten zu vermeiden. Beispiele sind Maßnahmen zur Förderung eines gesunden Lebensstils, Impfungen zur Vermeidung von Infektionskrankheiten und Früherkennungsmaßnahmen bei bösartigen Erkrankungen. Tabelle 1 zeigt die ermittelten normativen Kriterien in der Übersicht. Da es auch bei Public-Health-Maßnahmen um die Gesundheit der Menschen geht, sind hier ebenfalls die traditionellen medizinethischen Prinzipien relevant. Sie sind aber für den Bereich bevölkerungsbezogener Maßnahmen weiter zu konkretisieren. So geht es beim Wohltun nicht um den Nutzen für den Einzelnen, sondern um den aggregierten populationsbezogenen Nutzen der Maßnahmen. Bei der Selbstbestimmung steht neben der Einwilligung in die Teilnahme an der Public-Health-Maßnahme insbesondere auch die Förderung der Gesundheitskompetenz der Menschen im Vordergrund. Hinzu kommt das formale Kriterium der Legitimität der Public-Health-Maßnahmen, da sie an größeren Bevölkerungsgruppen ansetzen und mit Belastungen und Risiken für Gesunde verbunden sind, die möglicherweise selbst von den Maßnahmen nicht profitieren. Die Maßnahmen sollten folglich von einer hierfür legitimierten Entscheidungsinstanz in einem fairen Entscheidungsprozess implementiert werden. Die Anwendung der ethischen Bewertungskriterien erfolgt dann in einem sechsschrittigen Vorgehen, das sich wieder an der Grundstruktur ethischer Analysen orientiert (vgl. Tabelle 2). Nach der genauen Beschreibung der zu bewertenden Public-Health-Maßnahme ist zunächst zu prüfen, ob die Bewertungskriterien noch weiter zu spezifizieren sind. Bei digitalen Public-Health-Maßnahmen sind beispielsweise die Kriterien des Datenschutzes und der Datensicherheit sowie die Zuschreibbarkeit von Verantwortung zu ergänzen (Marckmann 2020). Dann erfolgt die Bewertung der Public-Health-Maßnahmen anhand der einzelnen spezifizierten Kriterien. In der Synthese werden die Einzelbewertungen zu einer übergreifenden Bewertung der Maßnahmen zusammengeführt. Da die Bewertung in der Regel nicht in einer kategorischen Befürwortung oder Ablehnung der Maßnahme mündet, bekommt die Erarbeitung von Empfehlungen für die Entwicklung und Implementierung der Maßnahmen eine besondere Bedeutung: Sie sollen sicherstellen, dass die Nutzenpotenziale realisiert und negative Auswirkungen auf die Teilnehmenden vermieden oder zumindest reduziert werden. Ein Monitoring im weiteren Verlauf soll sicherstellen, dass die ethische Bewertung in regelmäßigen Abständen
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überprüft und gegebenenfalls an neue Erkenntnisse angepasst wird. Die Bewertung kann damit einen Beitrag zu einer ethisch reflektierten Gestaltung der Public-Health-Maßnahmen leisten. Tab. 2: Normative Kriterien zur ethischen Bewertung von Public-Health-Maßnahmen. Quelle: Marckmann, Neitzke und Strech 2023 Bewertungskriterien
Ethische Begründung
1. Nutzenpotential für die Zielpopulation – Bestimmung der Interventionsziele – Grad der Zielerreichung – Relevanz für Morbidität, Lebensqualität, Mortalität – Validität (Evidenzgrad) des Nutzennachweises
Prinzip des Wohltuns, Prinzip der Nutzenmaximierung
2. Schadenspotential für die Teilnehmer – Belastungen (individuell und gruppenbezogen) – gesundheitliche Risiken – Validität (Evidenzgrad)
Prinzip des Nichtschadens
3. Selbstbestimmung – Förderung der Gesundheitskompetenz des Einzelnen (Empowerment) – Möglichkeit zur informierten Einwilligung – Auswirkungen auf die Entscheidungsfreiheit – Schutz der Privatsphäre (personelle Integrität, Vertraulichkeit, Datenschutz)
Prinzip Respekt der Autonomie, Prinzip des Wohltuns
4. Gerechtigkeit Prinzip der Gerechtigkeit – (nicht diskriminierender) Zugang zur Public-Health-Maßnahme – Verteilung der gesundheitlichen Nutzen- und Schadenspotentiale – Ausgleich bestehender Ungleichheiten in den Gesundheitschancen – Bedarf an Kompensation 5. Effizienz – Kosten-Nutzen-Verhältnis – Validität der Effizienzmessung
Prinzip der Nutzenmaximierung, Prinzip der Gerechtigkeit
6. Legitimität – legitimierte Entscheidungsinstanz – fairer Entscheidungsprozess (Transparenz, Partizipation, rationale Begründung, Möglichkeit der Revision, Regulierung)
Prinzip der Gerechtigkeit, Respekt der Autonomie
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Tab. 3: Methodisches Vorgehen bei der ethischen Bewertung von Public-Health-Maßnahmen. Quelle: Marckmann, Neitzke und Strech 2023. 1. Beschreibung
Beschreibung der zu untersuchenden Public-Health-Maßnahme: Zielsetzung, Methodik, Zielpopulation etc.
2. Spezifizierung
Spezifizierung der Bewertungskriterien für die vorliegende Public-Health-Maßnahme (sofern erforderlich)
3. Einzelbewertung
Bewertung der Public-Health-Maßnahme anhand der einzelnen, in Schritt 2 ggf. spezifizierten Kriterien im Vergleich zu alternativen Optionen
4. Synthese
Übergreifende Beurteilung der Public-Health-Maßnahme durch Synthese, Gewichtung und Abwägung der Einzelbewertungen aus Schritt 3
5. Empfehlungen
Erarbeitung von Empfehlungen für die Entwicklung und Implementierung der Public-Health-Maßnahme
6. Monitoring
Überprüfung und ggf. Anpassung der ethischen Bewertungen in regelmäßigen Zeitabständen
Fazit Ethische Analysen im Gesundheitsbereich benötigen zum einen gut begründete Bewertungsmaßstäbe und zum anderen ein klar definiertes methodisches Vorgehen. Als Begründungsmodell erscheint der Kohärentismus am ehesten geeignet, da er an lebensweltlichen moralischen Überzeugungen anknüpft und damit die Verständigung auf weithin anerkannte normative Bewertungsmaßstäbe diesseits ungelöster moralphilosophischer Grundkontroversen ermöglicht. Die vier klassischen medizinethischen Prinzipien bieten hierfür ein Beispiel. Sie sind aber für den jeweiligen Anwendungsbereich weiter zu spezifizieren oder zu ergänzen. Die Anwendung der rekonstruierten, kohärenten Bewertungsmaßstäbe sollte dann in einem definierten methodischen Verfahren erfolgen, das sich an der analytischen Grundstruktur ethischer Bewertungen orientiert. Dies fördert die Transparenz der ethischen Bewertung, erleichtert ihre Nachvollziehbarkeit insbesondere auch für die von den jeweiligen Maßnahmen Betroffenen und ermöglicht eine Einschätzung ihrer Qualität (Marckmann 2013): Sind alle relevanten Schritten bearbeitet worden? Ergibt sich die Synthese aus den zuvor erarbeiteten Einzelbewertungen? Ist die Abwägung konfligierender Bewertungsperspektiven nachvollziehbar und argumentativ überzeugend? Die Einschätzung der Qualität ethischer Bewertungen wird dabei umso wichtiger, je mehr die Ethik im Gesundheitsbereich durch unterschiedliche Beratungsformen Einfluss auf konkrete Entscheidungen in der Praxis
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Georg Marckmann
nimmt. Bleibt zu prüfen, inwieweit sich die hier skizzierte methodische Grundstruktur ethischer Analysen auf anderen Bereichsethiken übertragen lässt.
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Ralf Schöppner
22 Humanismus – Leitkultur oder Weltanschauung? Abstract: Humanism – Leitkultur or worldview? This text analyzes the relationship between Humanism as a „Leitkultur“ (guiding culture) and humanism as a worldview. It is argued that the distinction is primarily based on different foundational approaches: Humanism is viewed as a universal guiding idea based on reason and experience by Nida-Rümelin, while it is understood as a non-religious worldview by humanistic organizations. It is emphasizes that both perspectives are related in content and ethics and can complement each other to promote democracy, human rights, and social justice. Humanism as a „Leitkultur“ cannot completely dispense itself from „Leitkultur“, whereas Humanism as a Weltanschauung implies Leitkultur.
Einleitung Julian Nida-Rümelin ist in Deutschland einer der wenigen „public intellectuals“, der sich seit vielen Jahren gänzlich unerschrocken für Humanismus stark macht. In vielen seiner Publikationen und bei zahlreichen öffentlichen Auftritten plädiert er für einen „erneuerten Humanismus“ (Nida-Rümelin 2016), für „Humanismus als Leitkultur“ (Nida-Rümelin 2006), für einen „digitalen Humanismus“ (Nida-Rümelin 2018) oder auch für einen „erotischen Humanismus“ (Nida-Rümelin 2022). Damit wurde er – gewollt oder ungewollt – von humanistischen Organisationen immer als eine willkommene Unterstützung der eigenen Arbeit angesehen, die sich trotz der beständig steigenden Zahl konfessionsfreier Menschen in der Bundesrepublik noch immer weniger prominenter Unterstützung erfreut als die Kirchen. Vergleicht man die Selbstverständnisse dieser humanistischen Organisationen mit Nida-Rümelins philosophischen Ausführungen zum Humanismus, so fallen einerseits sofort die großen und überwiegenden inhaltlichen Schnittmengen auf. Menschenwürde, Selbstbestimmung und Verantwortung sind gemeinsame zentrale Prinzipien; Demokratie, Menschenrechte und die Trennung von Staat und Religion sind gemeinsame politische Konkretisierungen. Darüber hinaus teilen der Philosoph und die Organisationen das Engagement für einen respektvollen und toleranten Umgang miteinander, für eine menschliche Kultur. Andererseits aber sticht auch eine offensichtliche Differenz ins Auge. Die humanistischen Organisationen verstehen Humanismus als eine nichtreligiöse Welthttps://doi.org/10.1515/9783111433233-023
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anschauung und setzen sich politisch für die grundgesetzlich vorgeschriebene Gleichbehandlung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ein. Julian Nida-Rümelin aber versteht Humanismus explizit nicht als weltanschaulich, sondern als eine philosophisch begründete Leitidee, die zustimmungsfähig und verbindlich sein soll für alle Menschen, unabhängig von ihrer jeweiligen Religion oder Weltanschauung. Der Aufsatz erkundet nachfolgend diese Differenz als Differenz von „Humanismus als Leitkultur“ (Teil 1) versus „Humanismus als Weltanschauung“ (Teil 3). Meine Vermutung ist, dass die Differenz primär eine Differenz der Begründungsansprüche ist: Ein „Humanismus als normative Tatsache“ (Teil 2) hat bei Nida-Rümelin die begründende Rolle inne, die die „Weltanschauung“ bei den Organisationen spielt. Dabei gehe ich hier der These nach, dass eine starke Oppositionierung der beiden Humanismen keinen Sinn macht, weil sie aufgrund starker inhaltlicher Gemeinsamkeiten in enger Beziehung zueinander bestehen und wechselseitig aufeinander verwiesen sind.
1 Humanismus als Leitkultur Der Band Humanismus als Leitkultur versammelt eine größere Anzahl von Reden und Schriften aus den Jahren 1996–2005, für die ein gemeinsamer Buchtitel gesucht und schließlich die „Leitkultur“ gefunden wurde, weil diese das „normative Potential eines erneuerten Humanismus zum Ausdruck bringt“ (Nida-Rümelin 2006, 7). Dabei waren die Herausgeberin Elif Özmen und der Autor sich bewusst, dass der Titel provozierend ist. Denn „Leitkultur“ ist eine in rechtskonservativen und rechtsextremen Kreisen Deutschlands sehr geschätzte Formel. Sie steht dort z. B. für eine monokulturelle Politik der geschlossenen Grenzen, für die Norm der nationalheterosexuellen Kernfamilie oder dafür, dass richtige Deutsche Filterkaffee statt Latte Macchiato mit Hafermilch trinken. Zuletzt bezog sich in der Wochenzeitung Die Zeit vom 8. Februar 2024 der sogenannte „Vordenker der Union“, Andreas Rödder, positiv auf den Begriff, ihn aber verbindend mit dem Begriff der „offenen Gesellschaft“ und „rechtmäßig hier lebende Migranten“ einbeziehend, zumindest rhetorisch. Schon die Herkunft des Begriffes – der Sozial- und Politikwissenschaftler Bassam Tibi hatte Anfang des neuen Jahrtausends eine „europäische Leitkultur“ gefordert (Bassam Tibi 2000) – verweist auf die Möglichkeit einer anderen und progressiven Füllung des Begriffes. Was also ist nun eine humanistische Leitkultur? Nida-Rümelins „Humanismus als Leitkultur“ fordert nicht eine für alle Gesellschaftsmitglieder gleiche Lebensform, nicht eine allen gemeinsame umfassende Idee eines guten menschlichen Lebens und natürlich auch keine ethnisch begrün-
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dete gemeinsame Kultur. Er meint einen notwendigen Minimalkonsens aller Bürger*innen eines Staates, unabhängig von ihrer jeweiligen kulturellen Herkunft oder Zugehörigkeit, unabhängig auch von ihrer jeweiligen Religion oder Weltanschauung: Ein solcher „Minimalbestand geteilter Normen, Werte, Einstellungen und Kenntnisse“ (Nida-Rümelin 2006, 27) soll die Sicherung stabiler gesellschaftlicher Kooperation gewährleisten und nicht etwa eine Identität von Lebensformen: „Gesellschaftliche Kooperation setzt nicht eine geteilte Lebensform voraus.“ (Nida-Rümelin 2006, 139)¹ Diese minimale Leitkultur oder Minimalethik ist aber mehr als „nur“ die oftmals eingeforderte Verfassungs- und Gesetzestreue, die sich auf den politisch-juristischen Bereich bezieht. Sie geht über den „Verfassungspatriotismus“ von Habermas und die damit einhergehende weitgehende ethische Enthaltsamkeit hinaus. Denn sie zielt nicht nur auf die mehr oder weniger leidenschaftliche Akzeptanz der rechtlichen Rahmenbedingungen und der demokratischen Institutionen, sondern darüber hinaus auf eine Ethik für den kulturellen bzw. zivilgesellschaftlichen Bereich. „Der normative Minimalkonsens, wie ich ihn verstehe, beruht auf einem Ethos des Respekts – Respekt für den je individuellen Lebensentwurf, für die Autonomie und Integrität anderer Personen, für ihre existenziellen Bindungen.“ (Nida-Rümelin 2006, 179). Diese Leitkultur ist also interessanterweise kein „Kulturalismus“, kein „Kollektivismus“ oder „Kommunitarismus“, sondern sie fußt zunächst einmal auf einem humanistischen Individualismus, in dem Selbstbestimmung eine zentrale Rolle spielt und der das Individuum nicht in seiner Kultur aufgehen lässt.² Zugleich aber ist dieser Individualismus von vorneherein auf Kooperation und Ausgleich mit anderen angelegt. Die hier vorgeschlagene Leitkultur zielt nicht nur auf den Menschen als Staatsbürger*in, sondern auf den Menschen als ganze Person und auf seine Persönlichkeitsbildung: Einzuüben wäre hiernach sowohl die Fähigkeit, dem Leben eine eigene Richtung und Prägung zu geben als auch Petrarcas „Milde und Freundlichkeit“ (Nida-Rümelin 2006, 23) gegenüber den Mitmenschen.³
1 In späteren Publikationen spricht Nida-Rümelin zusätzlich auch noch von einer menschlichen Lebensform bzw. Lebenswelt, die wir alle teilen und die am Ende der Begründungskette von Humanismus steht (Nida-Rümelin 2016, 33 und 353. Siehe dazu Abschnitt 3 dieses Aufsatzes). Hier – 2006 – ist jedoch Lebensform im Plural gemeint, die Vielfalt der verschiedenen menschlichen – kulturellen, religiösen, weltanschaulichen usw. – Lebensformen. 2 Von hier aus lässt sich eine humanistische Interkulturalität denken, die weder wie manche Theorien des Multikulturalismus die Individuen allzu sehr an ihre Kultur bindet noch wie manche transkulturellen Ansätze die Bedeutung kultureller Differenz vernachlässigt: als qualitatives Zwischen und Neues der Kulturen, eine Art 1+1=3. Vgl. Schöppner 2017. 3 Die humanistische Leitkultur wird hier also auch in Opposition gebracht zu einem bloß ökonomistischen Verständnis des Menschen, eine spezifische kulturelle – humane – Verfasstheit gegen den „homo oeconomicus“, Bildung statt nur Ausbildung (Nida-Rümelin 2006, 23).
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Diese Persönlichkeitsmerkmale sind Voraussetzung für gelingendes gesellschaftliches Miteinander und tragen letztendlich auch die aktive Staatsbürgerschaft und die Akzeptanz der politisch-juristischen Rahmenbedingungen. Sie sind das „Unterfutter der Demokratie“ (Nida-Rümelin 2006, 156). Wem das mit der „Milde und Freundlichkeit“ zu weit geht und dies als eine zu enge und anspruchsvolle, vielleicht sogar übergriffige Normierung gegenüber dem Individuum empfindet, kann es auch nüchterner haben: Nida-Rümelin bestimmt die für den gesellschaftlichen Verkehr notwendige Fähigkeit an anderer Stelle als diejenige, „Differenzen wahrnehmen, ernst nehmen und Restriktionen anerkennen“ zu können (Nida-Rümelin 2006, 141). Das streng klingende „Restriktionen“ meint hier zunächst einmal nicht mehr als das: Im sozialen Miteinander erfahre ich, dass nicht alles nach meiner Nase gehen kann, sondern dass ich Rücksicht nehmen und mich ggf. einschränken muss. Interessant ist daran die deutliche Bezugnahme und Anerkennung von Differenz. Ohne dass Nida-Rümelin das explizit macht, ist hier doch eine Erweiterung der vordergründig bekannten humanistischen Perspektive angelegt, im anderen einen Gleichen zu erkennen. Wenn er schreibt, dass gesellschaftliche Kooperation „nicht aus der Wahrnehmung des Gleichen im anderen“ entsteht (Nida-Rümelin 2006, 141), dann lässt sich hier ein Humanismus in einer doppelten Perspektive weiterdenken: als Achtung des anderen als Menschen (als Gleichen) und zugleich als Achtung des anderen als anderen (als Differenten).⁴ Vielleicht wäre die Rede von einem „zivilgesellschaftlichen Minimalkonsens“ (Nida-Rümelin 2006, 140) weniger provokant als „Leitkultur“. Die Zivilgesellschaft bestimmt Nida-Rümelin als das Institutionengefüge und die Netzwerke der Kommunikation und Kooperation, die sich zwischen Staat und Bürger*innen bilden. Er schreibt ihr drei bedeutende Aufgaben zu: erstens Sozialisation – das Einüben kooperativer Verhaltensweisen (Bürger*innensinn), zweitens Partizipation – gelebte Demokratie und drittens sogar die Lösung gesellschaftlicher Probleme (Nida-Rümelin 2006, 156–157). Es ist erhellend, diese mehr als 20 Jahre alten Ausführungen zur „Entfremdung zwischen Politik und Bürger“ (Nida-Rümelin 2006, 152) heute wieder zu lesen, wo eine solche immer noch und verschärft konstatiert wird. Die heute nach wie vor bedenkenswerte These war damals, dass die Aktivierung der
4 Eine doppelte Perspektive, die produktiv als „Humanismus im Widerstreit“ verstanden werden kann (Mayer 2015). Auch Sara Bakewell tritt der verbreiteten Fehldeutung entgegen, Humanismus präferiere ausschließlich das Gleiche im anderen und nennt Universalität und Diversität als zwei der „vier großen humanistischen Grundprinzipien“ (neben dem kritischen Denken und Forschen sowie der moralischen – im Sinne von rücksichtsvollen – Lebensführung) (Bakewell 2023, 227). Von hier aus wären interessante Verknüpfungen möglich mit Philosophien der Alterität – Levinas, Derrida u. a., von denen Nida-Rümelin sich ansonsten eher abzugrenzen scheint.
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Zivilgesellschaft die Entfremdung zwischen Politik und Bürgern mindern könne. Aufgabe des Staates sei es, gute Bedingungen für zivilgesellschaftliche Selbsttätigkeit – vor allem in den Kommunen – zu schaffen, durch sowohl staatliche Regulierungen als auch durch Anreize zur freien Entfaltung. Im zivilgesellschaftlichen Miteinander können sich die Einzelnen als miteinander verbundene erfahren, als solche, die zählen und Bedeutung haben, die kooperieren und die auch schätzen, dass die anderen sie weitgehend „lassen“. Zivilgesellschaftliche Kooperation wäre demnach ein Kandidat für das gesuchte soziale Band in großen pluralen Gesellschaften (Bedorf und Herrmann 2016). Dieser Kandidat bedarf allerdings der Unterstützung, denn das Gelingen sozialer Kooperation ist voraussetzungsreich. Es ist nicht nur abhängig von Bildung, sondern vor allem auch von sozio-ökonomischen Faktoren: Es bedarf der „notwendigen Grundgüter“ und „sozialer Anspruchsrechte“ für alle in Form von organisierter und institutionalisierter Solidarität (Nida-Rümelin 2016, 138 und 142). Sozialstaatlichkeit ist eine notwendige Rahmenbedingung, insbesondere die heute unter finanziellem und in Hinsicht auf Gerechtigkeit auch unter legitimatorischem Druck stehende solidarische Sozialversicherung hat eigentlich das Potential, beträchtlich am sozialen Band mitzuweben. Eine weitere Voraussetzung ist Rechtstaatlichkeit und damit verbunden normative Übereinstimmungen der Bürger*innen in Bezug auf Staatsaufgaben, Grundrechte, „Verpflichtungsgefühle“ und notwendige Verantwortungsübernahme (Nida-Rümelin 2016, 154). Die beiden Letzteren aber – und hier schließt sich der Kreis – bedürfen genau wie die soziale Kooperation prinzipiell der o.g. Persönlichkeiten, die sich auch im Alltag der gelebten sozialen Beziehungen mit Respekt und Solidarität zu begegnen wissen. Humanismus als Leitkultur ist hier als Grundlage für das Funktionieren von Gesellschaft, Politik und Demokratie gedacht. Genaugenommen umfasst der Gedanke einer humanistischen Leitkultur zwei Elemente und eine spezifische Verbindung dieser beiden Elemente. Die beiden Elemente sind zum einen allgemeine gültige – universelle – Prinzipien und Kooperationsregeln (z. B. Menschenrechte und Anerkennung des anderen) und zum anderen ein „Ethos des Respekts und der Toleranz“ (Nida-Rümelin 2016, 165) bis hin zu Petrarcas Milde und Freundlichkeit. Ihre spezifische Verbindung besteht darin, dass das Ethos als eine Minimalethik die Prinzipien und Kooperationsregeln des zivilgesellschaftlichen Minimalkonsenses in Politik und Gesellschaft trägt. Wie aber entsteht dieser zivilgesellschaftliche Minimalkonsens? Nida-Rümelin bezieht sich auf John Rawls „overlapping consensus“, darauf, „dass sich – bei aller Diversität – aus den moralischen Überzeugungen der Individuen ein gemeinsamer Kern rekonstruieren lässt“ (Nida-Rümelin 2016, 165). Meiner Ansicht nach kann man diesen Prozess zweifach interpretieren. Entweder meint man, dass sich aus den jeweiligen partikularen moralischen Überzeugungen oder Weltanschauungen ein Konsens kreativ konstruieren lässt, der ohne diese Anschauungen und diese Kon-
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struktionsarbeit gar nicht existiert.⁵ Oder aber man meint, dass es diesen Konsens kontextfrei und damit unabhängig von partikularen moralischen Überzeugungen oder Weltanschauungen sowieso gibt und man ihn darüber hinaus auch in diversen Weltanschauungen auffinden und dort rekonstruieren kann. Ich bin nicht völlig sicher, ob dies wirklich eine plausible Unterscheidung ist. Wenn sie es aber ist, dann hätte die erste Variante auch eine weltanschauliche Grundlage, denn der Konsens wird aus den Weltanschauungen extrahiert.⁶ Die weltanschaulichen humanistischen Organisationen in Deutschland scheinen interessanterweise oft die zweite Variante zu vertreten, d. h. im strengen Sinne gar keine weltanschauliche, sondern eine mit kontextfreier normativer Gültigkeit begründete und aufgeladene – doch dazu später mehr. Nida-Rümelin hingegen vertritt vermutlich die zweite Variante, denn er spricht dem Konsens universelle – kontextfreie – Gültigkeit zu. (Nida-Rümelin 2016, 165). Allerdings gibt es auch andere Anklänge, die eher in Richtung der ersten Variante weisen könnten, etwa wenn er den Prozess der „Verständigung auf universell gültige[n] Grundregeln“ akzentuiert (Nida-Rümelin 2006, 179). Wie dem auch sei: Auch die erste Variante der kreativen Konstruktion aus dem Kontext von spezifischen Weltanschauungen ist nicht wie gelegentlich befürchtet ein normativer Relativismus, sondern lediglich ein Abschied von transzendenter Normativität.⁷ Selbst wenn nun aber die Normativität eines zivilgesellschaftlichen Minimalkonsenses als eine kontextfreie und damit auch von Weltanschauung unabhängige vorgestellt wird, so kehrt die Frage doch verstärkt beim zweiten Element der humanistischen Leitkultur, der Minimalethik eines zugrundeliegenden Ethos, wieder. Die „abstrakten universellen Prinzipien“ – das Konsensuelle – werden von einem speziellen „Ethos der Toleranz und des Respekts“ „getragen“ (Nida-Rümelin 2016, 165). Womit meines Erachtens nahegelegt ist, dass dieses Ethos selbst kein „abstraktes universelles Prinzip“ ist. Was aber ist es dann? Ist es ein universell gelebtes Ethos oder nicht doch eher eine spezifische weltanschauliche Haltung? Ich lasse das hier offen, möchte aber die Bedeutung der Frage festhalten: Woher soll ein solches Ethos kommen? Warum soll ich motiviert sein, mich überhaupt vom eigenen Standpunkt zu distanzieren und einen allgemeineren einzunehmen? Und eine plausible Antwort – sofern man nicht allein auf staatlichen Zwang setzen möchte –
5 Auch bei Rawls scheint mir der„overlapping consensus“ auf den unterschiedlichen, umfassenden Auffassungen eines guten Lebens zu beruhen (Rawls 2003, 231–265). 6 Ich lasse hier das Problem beiseite, was natürlich auch bei Rawls eine Rolle spielt: Konsensuelle Gerechtigkeitsprinzipien lassen sich nicht aus allen Weltanschauungen extrahieren, sondern nur aus sogenannten „vernünftigen umfassenden Lehren“ (Rawls 2003, 132–133). Ich kann es beiseitelassen, weil es unstrittig sein dürfte, dass Humanismus als Weltanschauung zu diesen Lehren gehört. 7 Siehe dazu vor allem Enno Rudolph (2013) und Richard Rorty (2023).
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ist sicher diese: Dafür bedarf es eines bestimmten Menschen- und Weltbildes, einer umfassenden Idee eines guten menschlichen Lebens, kurz: einer Weltanschauung, sei sie religiös oder nicht. Das würde dann bedeuten, der Humanismus als Leitkultur steht dem Humanismus als Weltanschauung nicht oppositionell gegenüber. Es handelt sich keineswegs um eine einfache Differenz. Sondern der Humanismus als Leitkultur benötigt die Unterstützung durch ein weltanschaulich verankertes Ethos, z. B. eines Humanismus als Weltanschauung. Diese Weltanschauung kann Personen dazu motivieren, sich überhaupt auf Kooperation und Aushandlungsverfahren einzulassen. Und die Leitkultur braucht das für ihre Wirksamkeit. Der zentrale Grund für eine Unterscheidung von einerseits Humanismus als Leitkultur und andererseits Humanismus als Weltanschauung liegt darin, dass Humanismus als Leitkultur sich als eine die Weltanschauungen und Religionen überwölbende Instanz versteht. „Der Humanismus weist Weltanschauungen und spirituelle und politische Religionen in die Schranken der Vernunft.“ (Nida-Rümelin 2016, 381) Humanismus als Leitkultur ist also durch eine Äquidistanz zu allen Religionen und Weltanschauungen charakterisiert, während Humanismus als Weltanschauung explizit nichtreligiös ist.⁸ Vor dem Hintergrund des Erstarkens religiöser Fundamentalismen erschien 2015 ein Artikel von Nida-Rümelin im Berliner Tagesspiegel, betitelt mit „Die Religion zivilisieren“ (Nida-Rümelin 2016, 467). Humanismus gebe außen- wie innenpolitisch Orientierung und stelle eine „Gemeinsamkeit überwölbender Normen und Werte“ zur Verfügung, die „kulturell-religiöse Identitäten überbrückt“ und „kulturelle und religiöse Praktiken auf ihre Kulturverträglichkeit einschränkt“. Dem religiösen Fanatismus müsse die Leitkultur des Humanismus und nicht die „christliche, katholische oder protestantische, auch nicht die jüdische Identität“ entgegengestellt werden. Und auch nicht, so wäre zu ergänzen, eine weltanschaulich-humanistische Identität. Denn das, was für die Religionsgemeinschaften gilt, muss in diesem leitkulturellen Verständnis von Humanismus auch für die Weltanschauungen gelten. Im säkularen Staat muss sich auch der weltanschauliche Humanismus „säkularisieren“: Atheismus kann nicht Teil des zivilgesellschaftlichen Minimalkonsenses sein. Das aber bedeutet wiederum: Wenn der Humanismus als Weltanschauung zu seiner Zivilisierung den Humanismus als Leitkultur braucht, dann wird einmal mehr deutlich, dass wir es hier nicht mit einer einfachen Opposition zu tun haben.⁹
8 Zu Letzterem siehe Abschnitt 3. 9 Im Spektrum der humanistischen Organisationen in Deutschland gibt es mit u. a. der GiordanoBruno-Stiftung einen Akteur, der für einen evolutionären Humanismus bzw. für „Säkularismus“ als Leitkultur plädiert (Schmidt-Salomon 2006). Diese humanistische Leitkultur ist explizit nichtreligiös, deutlich mehr als ein „Minimalkonsens“ und versteht sich selbst eher als nicht-weltanschaulich und wissenschaftlich. Man kann sich dabei des Eindrucks nicht erwehren, dass ein maximales Men-
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2 Humanismus als normative Tatsache Weil Julian Nida-Rümelin seine humanistische Leitkultur nicht als weltanschaulich versteht, benötigt er eine andere Begründungsebene. Im vorherigen Abschnitt war bereits die Rede von den „Schranken der Vernunft“, in die die Religionen und Weltanschauungen zu weisen seien. Und an anderer Stelle des Sammelbandes setzt er ein humanistisches Verständnis von Bildung und Wissenschaft, dem es um Erkenntnis geht, in Opposition zu weltanschaulichen und religiösen Zielen (NidaRümelin 2006, 32). Humanismus als Leitkultur hat also den Anspruch, eine vernünftige Erkenntnis zu sein. Diese Erkenntnis ist aber primär nicht wissenschaftliche oder rationalistische Erkenntnis, sondern „erfahrungsgesättigte Lebensklugheit“ (Nida-Rümelin 2016, 357). Humanismus widerspricht hier einer Abwertung lebensweltlichen Erfahrungswissens durch Szientismus und Rationalismus: Das, was über Menschen und ihr Leben zu sagen ist, ist immer auch ausgehend von ihrer Lebenswelt zu sagen. „Humanistisches Denken knüpft an die lebensweltliche Erfahrung an und humanistische Praxis aktiviert die normativen Potentiale, die diese Praxis tragen.“ (Nida-Rümelin 2016, 362) Es ist keine Setzung von außen. Dennoch oder gerade deshalb ist diese Erkenntnis vernünftig. Gemeint ist eine lebensweltliche Vernunft und nicht etwa eine der menschlichen Lebenswelt enthobene philosophische Vernunft. Sie besteht darin, sich von Gründen affizieren und leiten zu lassen. Gründe sind „unaufgebbares Merkmal unserer lebensweltlichen Praxis“ (Nida-Rümelin 2016, 360). Man kann nicht aus der lebensweltlichen Abwägung von Gründen aussteigen, philosophische und wissenschaftliche Begründungen müssen sich in lebensweltlichen Begründungen bewähren (Nida-Rümelin 2016, 224). Demnach ist z. B. die humanistische Aussage, dass die Diskriminierung einer Person aufgrund ihrer Hautfarbe unzulässig ist, eine vernünftige Erkenntnis aus dem Geben und Nehmen von Gründen in der menschlichen Lebenswelt.¹⁰ Eine solche Aussage ist eine normative Erkenntnis: Erkenntnis, wie etwas sein sollte. Denn empirisch ist klar, dass Menschen nach wie vor weltweit aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert werden. Die sich u. a. gegen solche Diskriminierung wendende Normativität ist zentraler Bestandteil der menschlichen Lebensform und von Humanismus: „Das Menschliche ist normativ.“ (Nida-Rümelin 2016, 353) Der Gehalt der vernünftigen normativen Erkenntnis – gelegentlich auch der „humanistische[n]
schen- und Weltbild – eine sich als wissenschaftlich verstehende vollständige Weltanschauung – zur Leitschnur für mindestens das öffentliche Leben aller erhoben wird. Hier wird die eigene Weltanschauung nicht „säkularisiert“, sondern eher ihre maximale Packung verschrieben. 10 Ich kann hier nicht genauer auf die Fragen und Probleme eingehen, die sich mit der Rede von einer einheitlichen menschlichen Lebenswelt ergeben. Vgl. dazu auch Nida-Rümelin 2009.
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Erkenntnis“ (Nida-Rümelin 2016, 380) – wird vom Autor auch als eine „moralische Tatsache“ klassifiziert (Nida-Rümelin 2016, 91 ff. und 366). Wir können also sagen: Humanismus als Leitkultur ist die vernünftige Erkenntnis einer moralischen Tatsache. Um diesen Gedanken nachvollziehen und ggf. auch teilen zu können, kommt nun alles darauf an, was genau diese moralische Tatsache sein soll. Ich nehme das bereits verwendete humanistische Beispiel wieder auf: „Selbstverständlich ist die Diskriminierung einer Person aufgrund ihrer Hautfarbe unzulässig.“ (Nida-Rümelin 2016, 33) Wenn man diese Aussage nicht bloß als Meinungsäußerung, sondern als Erkenntnis einer moralischen Tatsache interpretiert, dann möchte man damit sagen, dass sie wahr ist, unabhängig davon, ob sie irgendwo von irgendwem geäußert wird oder nicht. Dies aber kann hier eigentlich nicht gemeint sein, denn der Ausgangspunkt waren ja die lebensweltlichen Begründungszusammenhänge. Die Behauptung der moralischen Tatsache wird von Nida-Rümelin mit der Behauptung einer empirischen Tatsache verknüpft: Der Beispielsatz entspringt – so die empirische Behauptung – dem „robuste[n] Realismus unserer Lebenswelt“ (Nida-Rümelin 2016, 33). Die Beispiele für moralische Tatsachen beginnen stets mit „wir alle sind überzeugt davon, dass…“ (Nida-Rümelin 2016, 227).¹¹ Die moralische Tatsache ist in dieser Lesart also etwas, was Menschen in ihrer Lebenswelt für normativ richtig halten und nicht etwas, was unabhängig von menschlichen Ansichten richtig ist. Die kritische Würdigung dieser These muss sich dann um die empirische Frage drehen, ob wir wirklich alle davon überzeugt sind, dass die Diskriminierung einer Person aufgrund ihrer Hautfarbe unzulässig ist. Meines Erachtens würden sich hier eher Formulierungen anbieten wie „viele von uns“ oder „die meisten von uns“. Weil hier die Behauptung einer moralischen Tatsache mit der Behauptung einer empirischen Tatsache verbunden ist, lässt sich jedenfalls der empirische Einwand, dass es in unserer lebensweltlichen Praxis Menschen mit rassistischen Überzeugungen gibt, nicht einfach mit dem Hinweis erledigen, es gehe hier nur um moralische Tatsachen. Der Clou ist hier, dass man auf diese Weise am Begriff der moralischen Tatsache, die der jeweiligen Aussage eine besondere Güte und eine starke Handlungsaufforderung verleiht, festhalten kann, obgleich die Aussage dem Sprachspiel des Begründens in der Lebenswelt entspringt und nicht von allen geteilt wird. Verbunden ist so das Beharren auf moralischen Tatsachen mit dynamischen lebensweltlichen Lernprozessen, die weder nur Realisierung einer vorgegebenen kulturellen Prägung noch nur freiflottierende Inno11 Bei diesen letztgenannten Beispielen ist die moralische Tatsache stets eine Aussage über Gründe: z. B.: „Wir alle sind überzeugt davon, dass ein gegebenes Versprechen ein guter Grund dafür ist, es zu halten.“ (Nida-Rümelin 2016, 227) Die Behauptung der moralischen Tatsache (x ist ein guter Grund für y) ist verknüpft mit der Behauptung einer empirischen, lebensweltlichen Tatsache (wir alle seien von dieser moralischen Tatsache überzeugt).
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vation eines Individuums sind: Gründe kennenlernen, sie vergleichen, sie gewichten und bewerten, sie weiterentwickeln und modifizieren. Das Beharren auf der Charakterisierung einer Aussage als moralische Tatsache soll ihr sicherlich mehr Gewicht in Auseinandersetzungen mit ihren Bestreiter*innen und die Legitimität geben, auch mit staatlicher Gewalt und juristischen Mitteln gegen diese vorgehen zu dürfen. Aber welche Bestreiterin der gleichen Würde oder welcher Unentschlossene lässt sich mit dem Argument „moralische Tatsache“ überzeugen? Und haben Staat und Justiz nicht auch so gute Gründe und sind ausreichend legitimiert, um gegen Personen vorzugehen, die die Diskriminierung einer Person aufgrund ihrer Hautfarbe für zulässig halten? Im Anschluss an Nida-Rümelins Kritik an reduktionistischen Theorien, die der komplexen menschlichen Wirklichkeit mit nur einem einzigen Prinzip zu Leibe rücken wollen (Nida-Rümelin 2016, 359), möchte ich vorschlagen, auch seine eigene Fokussierung von Humanismus auf das Geben und Nehmen von Gründen nicht reduktionistisch zu verstehen: Humanismus beginnt nicht nur „mit der Beobachtung, dass es Gründe sind, von denen wir uns affizieren lassen“ (Nida-Rümelin 2016, 360), er beginnt ebenso schon mit der Beobachtung, dass wir Appetit auf ein glückliches Leben verspüren, dass wir für andere da sein können und dass wir versuchen, unserem Leben einen Sinn zu geben. Diese ethische Perspektive ist nicht unabhängig von Gründen, denn ob es um Glück, Moral oder Sinn geht: wir können nach den Gründen unseres Urteilens und Handelns fragen, sie bedenken, untereinander austauschen, revidieren oder bestätigen. Aber diese Perspektive benötigt nicht zwingend die epistemische Überprüfung, um eine humanistische zu sein: vieles davon gelingt ohne die Explikation und Reflexion von Gründen. Manchmal bleiben den Akteuren ihre Gründe auch verborgen oder sie agieren sogar aufgrund schwer bestimmbarer und nichtartikulierbarer Impulse. Für den Humanismus ist nicht nur eine geteilte lebensweltliche Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen entscheidend, sondern auch eine geteilte lebensweltliche Praxis des Gebens und Nehmens von Genuss, Liebe und Sinn. Steht der Humanismus als vernünftige Erkenntnis einer moralischen Tatsache in strikter Opposition zu einem weltanschaulichen Humanismus? Oder ist nicht die Entscheidung, die Bedeutung des lebensweltlichen Erfahrungswissens wertzuschätzen und Szientismus und abgehobenem Rationalismus zu widersprechen, eine weltanschauliche Weichenstellung? Können vielleicht auch die Rede von einem einheitlichen Wir der menschlichen Lebenswelt und die zugeschriebenen moralischen Überzeugungen nicht ganz unabhängig von weltanschaulichen Präferenzen sein? Und liegt womöglich in dem Ansinnen, humanistischen Prinzipien qua Charakterisierung als moralische oder normative Tatsachen mehr Gewicht zu verleihen, die weltanschauliche Annahme zu Grunde, Menschen benötigen für ihr gutes Zusammenleben die Verankerung von ethischen Prinzipien in moralischen Tatsa-
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chen, die nicht zur menschlichen Disposition stehen? Eine alternative weltanschauliche Annahme wäre ja, dass eine solche Verankerung nichts nützt und dass wir auf die Verankerung dieser Prinzipien in von Menschen gemachten Entscheidungen und sanktionierenden Institutionen setzen müssen. Mir geht es hier nicht darum, diese beiden Annahmen miteinander zu vergleichen und zu bewerten, sondern nur um die Frage, ob es nicht notwendigerweise weltanschauliche Annahmen sind und auch die Rede von den moralischen oder normativen Tatsachen nicht ohne Weltanschauung auskommt, was – so meine ich – weder gegen sie sprechen noch ihr schaden würde.
3 Humanismus als Weltanschauung Viele humanistische Organisationen in Deutschland sind Weltanschauungsgemeinschaften und verstehen Humanismus entsprechend als eine Weltanschauung.¹² Die inhaltliche Füllung ihres Verständnisses von Humanismus weist aber wesentliche Gemeinsamkeiten mit dem Humanismus als Leitkultur auf. Politisch treten sie ebenfalls ein für Menschen- und Bürger*innenrechte, Demokratie, soziale Gerechtigkeit und die Trennung von Staat und Religion. Auch ihnen geht es um Werte wie Menschenwürde, Selbstbestimmung, Kooperation, Solidarität und Toleranz und sie engagieren sich ebenso für deren gelebte Verwirklichung in Gesellschaft, Kultur und Alltag.¹³ Unterschiede lassen sich bei erster Sichtung allenfalls in einem zusätzlichen Akzent der Organisationen auf praktische Humanität, Sinn und Gemeinschaft erkennen. Die Diagnose einer starken Differenz zum Humanismus als Leitkultur erwächst daraus, dass diese humanistischen Organisationen in ihrem Selbstverständnis als Weltanschauungsgemeinschaften den spezifischen juristischen Rahmenbedingungen des überkommenen bundesdeutschen Religions- und Weltanschauungsrechts unterliegen. „Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen.“¹⁴ Dieser Rahmen sowie die dazugehörige Rechtsprechung orientieren sich aber am Vorbild der beiden großen christlichen Kirchen und stellen eigentlich ein Kirchenrecht dar. Für die politisch-juristische Gleichstellung und Gleichbehandlung
12 Zum Begriff „Weltanschauung“ siehe auch Schöppner 2018. 13 Exemplarisch nachvollziehbar ist das am ausführlich dargelegten Selbstverständnis des größten humanistischen Weltanschauungsverbandes hierzulande, des Humanistischen Verbandes Deutschlands: https://humanismus.de/wp-content/uploads/2020/12/humanistisches_selbstverstaend nis_hvd.pdf (letzter Abruf 02.04. 2024). 14 Art. 137, Abs. 7 der Weimarer Reichsverfassung, durch Art. 140 GG übernommen ins Grundgesetz.
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einer humanistischen Weltanschauungsgemeinschaft mit den Religionsgemeinschaften wird von dieser eine deutliche organisatorische und konzeptuelle Kirchenförmigkeit verlangt, obwohl sie keine Kirche ist und sein will.¹⁵ Zur geforderten konzeptuellen Kirchenförmigkeit gehört meines Erachtens, dass der vorgegebene juristische Weltanschauungsbegriff sich zu sehr an religiösen Gretchenfragen orientiert.¹⁶ „Unter Religion oder Weltanschauung ist eine mit der Person des Menschen verbundene Gewissheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel des menschlichen Lebens zu verstehen; dabei legt die Religion eine den Menschen überschreitende und umgreifende (‚transzendente‘) Wirklichkeit zugrunde, während sich die Weltanschauung auf innerweltliche (‚immanente‘) Bezüge beschränkt“.¹⁷ Mit zwei von drei thematischen Bestimmungen – „Aussagen zum Weltganzen“ und „Herkunft des menschlichen Lebens“ – wird die Frage nach einer göttlichen oder nichtgöttlichen Herkunft des Kosmos machtvoll in den Mittelpunkt gerückt. Lediglich die dritte thematische Bestimmung – „Ziel des menschlichen Lebens“ – eröffnet die naheliegende Möglichkeit, Weltanschauung auch in einem lebensnäheren und praktischeren Sinn zu verstehen: als Antwort auf Fragen nach Wertvorstellungen und nach einem guten menschlichen Leben. Diese Fragen sind denjenigen, die sich heute als Humanist*innen bezeichnen, bedeutend wichtiger als Fragen nach der Herkunft und den Gesetzen des Kosmos (Schöppner 2023). Soll man ihnen deshalb die Zuschreibung „weltanschaulich“ absprechen? Ihre Ansichten sind weltanschaulich, weil sie leidenschaftlich und engagiert auf ihre Stellung in der Welt und auf Fragen eines glücklichen, moralischen und sinnvollen Lebens schauen. Weil sie in einem nichtreligiösen Sinne glauben, dass die bewusste Gestaltung und Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens sinnvoll und möglich ist, selbst wenn letzte Evidenzen dafür fehlen sollten. Der vorgegebene juristische Weltanschauungsbegriff und das Selbstverständnis humanistischer Organisationen als Weltanschauungsgemeinschaften können nun auch Anlass zur Annahme einer unüberwindbaren Differenz zum Humanismus als Leitkultur sein. Während Nida-Rümelins leitkultureller Humanismus einen übergeordneten Minimalkonsens der verschiedenen Religionen und Weltanschauungen zum Zwecke ihrer friedlichen Kooperation profiliert, vertritt der weltan-
15 Siehe dazu auch Schöppner (2023). 16 Die Genese der juristischen Bestimmung bestätigt dies. Siehe dazu Cancik-Lindemaier 2018, insbesondere 108–110. Die Autorin verweist auch darauf, dass die nachträgliche „Gleichstellung“ von Weltanschauung nicht nur einfach einen vermeintlich neutralen Religionsbezug beinhaltet, sondern dass dieser Religionsbezug zusätzlich pejorative Konnotationen von Weltanschauung als etwas Nachrangigem, Sekundärem oder gar Minderwertigem transportiert: Mangel, Religionsersatz. 17 Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27. 3.1992, 7 C 21/90, BVerwGE Bd. 90, 112 (115 f.).
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schauliche Humanismus religionsanalog eine umfassende Weltanschauung, die neben anderen solchen Weltanschauungen und neben den Religionen steht. Drei Differenzen zum Humanismus als Leitkultur werden hier deutlich. Erstens stehen weitreichende – nicht minimale – Aussagen zum Weltganzen und zu den Zielen des menschlichen Lebens dem leitkulturellen Minimalkonsens gegenüber. Zweitens geht es um Gewissheiten – nichtreligiöse Glaubensüberzeugungen, die plural neben anderen Gewissheiten koexistieren und nicht um vernünftige philosophische Einsichten, die allgemein für alle gelten sollen. Drittens steht die Religion hier in strikter Opposition zum Humanismus, während vom leitkulturellen Humanismus nur diejenigen – zumeist fundamentalistischen – Religionen ausgeschlossen sind, die den Minimalkonsens nicht akzeptieren. Ganz offensichtlich ist es nun aber so, dass auch weltanschauliche Humanist*innen für Menschen- und Bürger*innenrechte, Demokratie, soziale Gerechtigkeit und die Trennung von Staat und Religion eine allgemeinverbindliche – leitkulturelle – Gültigkeit beanspruchen. Dazu gehört auch der Einsatz für die Verankerung von humanistischen Bildungszielen in Bildungs- und Lehrplänen und beispielsweise die Forderung, dass in einer öffentlichen Schule nicht die Schöpfungsgeschichte gleichberechtigt neben die Evolutionstheorie gestellt werden kann, sondern die eine in den naturwissenschaftlichen Unterricht und die andere in den Religionsunterricht gehört. Ebenso engagieren sich weltanschauliche Humanist*innen dafür, dass die von Ihnen verfochtenen Prinzipien wie Menschenwürde, Selbstbestimmung, Kooperation, Solidarität und Toleranz sich in Gesellschaft, Kultur und Alltag praktisch verwirklichen und allgemein ausbreiten. Und sie sind dabei durchaus der Ansicht, dass all diese Dinge ganz ausgezeichnet dafür geeignet sind, das kooperative Zusammenleben der unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen zu fördern. Weltanschauliche Humanist*innen vertreten also auch einen normativen leitkulturellen Humanismus. Dieser ist ein Teil ihres weltanschaulichen Humanismus. Die Differenz liegt hier auf der Begründungsebene: Während Nida-Rümelin seinen leitkulturellen Humanismus philosophisch als vernünftige Erkenntnis einer moralischen Tatsache begründet, begründen die weltanschaulichen Humanist*innen ihren Humanismus und ihre Leitkultur weltanschaulich: mit der Überzeugung, dass es keine außerweltlichen Instanzen wie z. B. Götter gibt und dass ein gutes Leben keiner Religion bedarf. Hier darf jetzt nebenbei die kritische Frage aufgeworfen werden, ob den weltanschaulichen Humanist*innen wirklich immer bewusst ist, dass ihre weltanschauliche Begründung eigentlich einen schwächeren Begründungsanspruch impliziert als z. B. die philosophische von Nida-Rümelin, weil sie nicht gänzlich ohne (nichtreligiöse) Glaubensüberzeugungen auskommt. Denn oftmals scheinen sie implizit und vielleicht manchmal sogar uneingestanden davon auszugehen, dass ihr Humanismus die vernünftige Erkenntnis einer allgemeinen Wahrheit ist. Dieser Eindruck wird erweckt, wenn sie
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die eigene Weltanschauung für dermaßen gut begründet halten, womöglich „wissenschaftlich“ oder „rational“, dass dieser eigentlich alle Menschen zustimmen müssten, sofern diese vernünftig und rational sind. Wichtiger ist mir hier jetzt aber meine These vom leitkulturellen Humanismus als eines Teils des weltanschaulichen Humanismus. Denn dazu gehört auch, dass letzterer einen weiteren und ebenso wichtigen Teil hat. Ich hatte oben einen zusätzlichen Akzent auf praktische Humanität, Sinn und Gemeinschaft im Selbstverständnis des weltanschaulichen Humanismus angedeutet: Dieser umfasst Orientierungsangebote für existenzielle Sinnfragen und Bindungen, pflegt eine vielfältige Fest- und Feierkultur, hält Angebote im Sozial-, Bildungs-, Jugend- und Kulturbereich bereit und betreibt „Häuser des Humanismus“ als offene Begegnungsstätten. All dies kann und darf meines Erachtens nicht leitkulturell verstanden werden, als etwas, das für alle richtig ist und für alle gültig sein soll. Humanistische Weltanschauung hat auch diesen partikularen evaluativen Teil, der selbstverständlich Wertvorstellungen impliziert, der offen ist für alle und auch guten Gewissens und frohen Herzens allen angeboten werden kann, der aber nicht zum Bereich des normativ Verbindlichen gehört. Für einen zeitgenössischen Humanismus wird es darauf ankommen, seine verschiedenen Teile besser und klarer als bisher zu unterscheiden. Die irrtümliche Annahme, dass ein leitkultureller Humanismus wie der von Nida-Rümelin dem weltanschaulichen Verständnis von Humanismus diametral widerspricht, entsteht durch die unausgeführte Unterscheidung der verschiedenen Teile eines weltanschaulichen Humanismus. Genaugenommen wäre innerhalb des leitkulturellen und normativen Teils des weltanschaulichen Humanismus noch einmal zwischen zwei normativen Bereichen zu unterscheiden: einer juristischen Normativität und einer ethischen Normativität. Menschenrechte und Demokratie beispielsweise sind in humanistischer Perspektive ohne Wenn und Aber juristisch verbindlich, sie müssen mit staatlicher Gewalt geschützt und ggf. verteidigt werden. Ein solidarisches und respektvolles Miteinander in Gesellschaft, Kultur und Alltag hingegen ist zwar ethisch wünschenswert und Humanist*innen engagieren sich auch genau dafür. Es kann aber nicht in Gänze für alle juristisch verbindlich gemacht werden, sondern nur begrenzt als allgemein begründbare Rechte und Pflichten: Nicht jedes achtlose Vorbeigehen an der aufgestellten Dose eines Hilfesuchenden kann als unterlassene Hilfeleistung gelten. Bei konkreten Themen zeigt sich schnell: Die Grenzen zwischen diesen Bereichen sind fließend, gesellschaftlich umkämpft und auch unter weltanschaulichen Humanist*innen kontrovers. Sie müssen bei jedem Thema politisch austariert werden, etwa wenn es z. B. um die Frage eines sozialen Pflichtjahres geht. Dieser dynamische Übergang von der ethischen zur juristischen Normativität markiert ein wichtiges Spezifikum im Verhältnis von Leitkultur und Weltanschauung: Bei dem, was im Recht und qua Gesetz für alle verbindlich sein soll,
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müssen weltanschauliche Humanist*innen eine gewisse Distanznahme von ihrer Weltanschauung vollziehen und überlegen, was für alle oder zumindest für die allermeisten begründbar die beste Regelung ist. Zur Orientierung am politischen Gemeinwohl gehört der Einbezug anderer Weltanschauungen und auch der Religionen. Die je eigene Weltanschauung oder Religion bleibt ein Orientierungspunkt, sie kann aber nicht in Gänze zum normativen Maßstab für alle werden. So wie sich an diesem Punkt die Fähigkeit der Religionen zur politischen Säkularität zeigt oder eben auch nicht, so muss sich hier ebenso die humanistische Weltanschauung „säkularisieren“. Es kann also beispielsweise bei den Debatten um die politische Regelung des assistierten Suizides in Deutschland nicht darum gehen, die kirchlichen Bestrebungen, eigene religiöse Maßstäbe zur Norm für alle zu erheben, mit Vorschlägen zu kontern, die ausschließlich für Konfessionsfreie und Atheist*innen akzeptabel sind. Es ist die Kultivierung dieser anspruchsvollen Kompetenz der verallgemeinernden Distanznahme, die ebenfalls zu den zentralen Gemeinsamkeiten mit dem leitkulturellen Humanismus gehört (Nida-Rümelin 2016, 417–418). Aus diesen drei zu unterscheidenden Bereichen ergeben sich für den weltanschaulichen Humanismus auch drei unterschiedliche Beziehungen zur Religion. Auf der partikularen evaluativen Ebene ist er schlicht eine von der Religion abgegrenzte und koexistierende Weltanschauung ohne Religion. Auf der Zwischenebene ethischer Normativität in Gesellschaft und Kultur kommen Austausch, Dialog, Kooperation und öffentlicher Meinungsstreit mit Religion hinzu. Auf der politischen Ebene juristischer Normativität aber ist säkularisierende Transzendenz von der nichtreligiösen Weltanschauung hin zu einem Humanismus und Religion überwölbenden Minimalkonsens gefordert.
Fazit Die Titelfrage dieses Beitrags kann also mit einem klaren Sowohl-als-auch beantwortet werden. Humanismus kann beides sein: Leitkultur und Weltanschauung. Die schöne Konjunktion „als“ ermöglicht es, Humanismus in diesen unterschiedlichen Relationen zu beschreiben. Dabei macht es keinen Sinn, eine einfache und klare Oppositionierung von Julian Nida-Rümelins Humanismus als Leitkultur und dem weltanschaulichen Humanismus der humanistischen Organisationen anzunehmen. Es macht dagegen Sinn, die Gemeinsamkeiten, Beziehungen und wechselseitigen Verweisungen beider Relationen in den Blick zu nehmen. Die Gemeinsamkeiten sind bei allen Unterschieden auf der Begründungsebene deutlich und wurden hier benannt: Dies in Hinblick auf die grundlegenden Prinzipien, die geforderten politisch-juristischen
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Rahmenbedingungen und das Plädoyer für eine minimale ethische Grundierung der Kultur. Humanismus als Leitkultur und Humanismus als Weltanschauung stehen in Beziehung zueinander und verweisen aufeinander. Beim Humanismus als Leitkultur ist es nicht sicher, ob er wirklich vollständig ohne – zumindest minimale – weltanschauliche Weichenstellungen auskommt. Auch scheint er zu seiner Unterstützung auf der Motivationsebene den weltanschaulichen Humanismus zu benötigen, der die nötigen leitkulturellen Kompetenzen mithervorbringt. Zum weltanschaulichen Humanismus wiederum gehört ganz offensichtlich konstitutiv ein leitkultureller Teil, selbst wenn dieser anders begründet wird.
Bibliographie Bakewell, Sarah. 2023. Wie man Mensch wird. Auf den Spuren der Humanisten. München: C.H. Beck. Bedorf, Thomas und Herrmann, Steffen, hrsg. 2016. Das soziale Band. Geschichte und Gegenwart eines sozialtheoretischen Grundbegriffs. Frankfurt a. M.: Campus Verlag. Cancik-Lindemaier, Hildegard. 2018. „Weltanschauung – immanent/transzendent.“ In: Ralf Schöppner (Hrsg.), Menschen stärken ohne Populismus. Humanistische Weltanschauung zwischen Alltagshumanismus, Werturteilen und Wissenschaft, 107–123. Aschaffenburg: Alibri. Mayer, Michael. 2012. Humanismus im Widerstreit. München: Wilhelm Fink Verlag. Nida-Rümelin, Julian. 2006. Humanismus als Leitkultur. München: C.H. Beck. Nida-Rümelin, Julian. 2009. Philosophie und Lebensform. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Nida-Rümelin, Julian. 2016. Humanistische Reflexionen. Berlin: Suhrkamp. Nida-Rümelin, Julian und Weidenfeld, Nathalie. 2018. Digitaler Humanismus. Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. München: Piper. Nida-Rümelin, Julian und Weidenfeld, Nathalie. 2022. Erotischer Humanismus. Zur Philosophie der Geschlechterbeziehung. München: Piper. Rawls, John. 2003. Politischer Liberalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp Rorty, Richard. 2023. Pragmatismus als Antiautoritarismus. Berlin: Suhrkamp. Rudolph, Enno. 2013. „Abschied von der normativen Transzendenz. Rortys Moderne.“ In: Vorländer, Hans (Hrsg.). Demokratie und Transzendenz. Die Begründung politischer Ordnungen. Bielefeld: Transcript. https://doi.org/10.1515/transcript.9783839422786.105. Schmidt-Salomon, Michael. 2006. Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur. Aschaffenburg: Alibri. Schöppner, Ralf. 2017. „Humanistische Werte in der Einwanderungsgesellschaft?“ In: Schöppner, Ralf (Hrsg.). Vielfalt statt Reformation. Humanistische Beiträge zum Dialog der Weltanschauungen, 67–82. Aschaffenburg: Alibri. Schöppner, Ralf, hrsg. 2018. Menschen stärken ohne Populismus. Humanistische Weltanschauung zwischen Alltagshumanismus, Werturteilen und Wissenschaft. Aschaffenburg: Alibri. Schöppner, Ralf, hrsg. 2023. Humanismus in, Mitgliedschaft out? Moderne Formen von Zugehörigkeit. Aschaffenburg: Alibri. Tibi, Bassam. 2000. Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft. München: Siedler.
Kathrin B. Zimmer
23 Mit Strategie in die Digitale Transformation – Verantwortung von Kulturinstitutionen im 21. Jahrhundert Abstract: Navigating Digital Transformation: The Imperative for Cultural Institutions in the 21st Century. The text tackles the profound impact of digital transformation on the cultural sector. This transformation is not merely an expansion of traditional cultural institutions into the digital realm but a comprehensive reimagining that offers unprecedented avenues for engaging with a diverse audience. Digital platforms enable cultural institutions to deploy innovative educational programs that captivate, reach, and actively engage audiences in novel ways. In response, it is essential for these institutions to proactively embrace innovation, formulate strategic plans, enhance their digital infrastructure, and cultivate digital literacy. By doing so, they can effectively establish their presence within the evolving landscape of the 21st-century cultural sector and uphold their societal obligations.
Einleitung Die digitale Transformation verändert auch den Kulturbereich radikal. Kulturinstitutionen müssen deshalb dauerhaft Innovationen nutzen, Strategien entwickeln, digitale Infrastruktur ausbauen und verstärkt digitale Kompetenzen aufbauen, um sich in dem im Wandel befindlichen Kulturbereich des 21. Jahrhunderts wirksam zu positionieren und ihrer Verantwortung für die Gesellschaft gerecht zu werden. Dieser Beitrag skizziert verschiedene ineinandergreifende Maßnahmen, die am Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst seit 2020 umgesetzt werden, um Kulturinstitutionen und Kulturschaffende auf ihrem Weg in die digitale Transformation zielgerichtet zu unterstützen. Ausgehend von einer Bedarfsermittlung im Jahr 2019, über die Skizze der verschiedenen ineinandergreifenden Maßnahmen gibt der Beitrag einen Einblick in die bislang erzielten Erfolge der etablierten Maßnahmen und formuliert vor allem ein klares Statement für die Notwendigkeit einer strategischen Herangehensweise an das so umfassende Querschnittsthema der digitalen Transformation in den einzelnen Häusern.¹
1 Passagen dieses Beitrags sind in leichter Variation bereits in Aviso 2023 erschienen. https://doi.org/10.1515/9783111433233-024
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1 Ein Blick zurück: Digitale Kulturvermittlung in Bayern – Oder: Am Anfang stand das ZD.B Am 24. Juli 2019 luden das Zentrum Digitalisierung.Bayern (ZD.B), das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst und die Bayerische Akademie der Wissenschaften zu einem Runden Tisch Digitale Kulturvermittlung – Aktueller Stand und Zukunftsperspektive(n) ein. Sprecher des Teilbereichs Kultur der ZD.B Themenplattform Digitalisierung in Bildung, Wissenschaft und Kunst und damit Schirmherr der Veranstaltung war Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin. Im Fokus des Treffens stand neben dem Austausch über die einzelnen Kunstsparten hinweg eine Bestandsanalyse in den einzelnen Kulturinstitutionen. Die eingeladenen Vertreterinnen und Vertreter aus staatlichen und nichtstaatlichen Museen, Archiven, Bibliotheken und Theatern präsentierten den aktuellen Stand ihrer Häuser im Bereich der Digitalisierung. Sie entwarfen große Visionen und formulierten Etappenziele auf dem Weg ihrer Institution in die Digitale Transformation und benannten die größten Hemmschwellen und Hindernisse auf dem Weg.
Abb. 1: Graphical Recording zum Runden Tisch Digitale Kulturvermittlung – Aktueller Stand und Zukunftsperspektive(n) am 24. Juli 2019. © Michael Schrenk – Liveillustration.de.
Viele Ideen und adressierte Themen wurden im Nachgang des Treffens in Angriff genommen: Im Frühjahr 2020 wurde am Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst die Koordinierungsstelle für Digitalisierung in Kunst & Kultur
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eingerichtet, um Kulturinstitutionen und Kulturschaffende auf ihrem Weg in die Digitale Transformation zielgerichtet und nachhaltig zu unterstützen. Die WebSeminarreihe Digitale Kulturvermittlung lief im Sommer 2020 an und wurde stetig um neue Veranstaltungsformate, wie beispielsweise digitale Netzwerkveranstaltungen, erweitert. Im Frühjahr 2021 startete das Programm kultur.digital.vermittlung. Das jährlich ausgeschriebene Programm unterstützt seitdem die staatlichen Kulturinstitutionen für zwei Jahre dabei, eine Digitalstrategie für das Haus zu entwickeln und im Rahmen der Strategieentwicklung ein konkretes Anwendungsprojekt der digitalen Kulturvermittlung umzusetzen.
2 Fokus Digitalstrategie – Oder: Verantwortung einer Kulturinstitution im 21. Jahrhundert Sollten nicht die eigentlichen Kernaufgaben der Kulturinstitutionen im Zentrum ihrer Arbeit stehen – so zum Beispiel das Sammeln und Bewahren im Falle der Museen? Sind nicht eher die Freude am digitalen Experimentieren und damit die Förderung innovativer Projekte der Schlüssel für die Digitale Transformation im Kulturbereich? Legt ein Strategieprozess nicht gerade kleine Häuser mit knappen personellen Ressourcen für Monate oder sogar Jahre lahm? Und was ist mit so einem Strategiepapier, das gedruckt oder als PDF auf der Homepage steht, für den täglichen Arbeitsalltag in einem Theater gewonnen? – So könnten kritische Stimmen fragen. Beispielsweise wurde die Frage der Relevanz von Digitalstrategien für Kulturinstitutionen im letzten Jahr in der länderoffenen AG Digitale Transformation in Berlin diskutiert. Das klare „Ja“ für die Notwendigkeit von Strategieprozessen wie es die Diskussion ergab, signalisiert auch die am 11.10. 2023 von der Kultur-MK verabschiedete Empfehlung der Kulturministerkonferenz zu Digitalität und digitaler Transformation im Kulturbereich (2023) ². Gleich das erste Handlungsfeld widmet sich der Frage der Strategie. Als zentrale Herausforderung wird folgendes benannt: Nur wenige Akteure im Kultursektor verfügen über klar formulierte, bekannte, konsistente, konkrete und in Koordination mit allen Beteiligten entwickelte Digitalstrategien. Kaum eine Institution hat ein umfassendes Leitbild, aus dem sich eine solche Strategie ableiten lassen würde. Es fehlt an konkreten Positionierungen dazu, was Kultureinrichtungen in Zukunft ausmachen wird, welche programmatischen Zielsetzungen sie verfolgen, und inwiefern durchgeführte oder geplante Maßnahmen auf eine solche Strategie einzahlen. Dass Strategieprozessen ein agiler und iterativer Charakter innewohnt, ist ebenfalls noch nicht in allen
2 KMK 2023.
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Arbeitsbereichen Standard. Dies gilt trotz einzelner vielversprechender Ansätze sowohl für die Kultureinrichtungen selbst wie für die Kulturverwaltung.
1. 2.
Daraus abgeleitet werden zwei zentrale Handlungsempfehlungen: Strategieprozesse in allen geförderten Einrichtungen ermutigen und einfordern. Aus Strategien konkrete Zielvorgaben und Kriterien zur Messung des Projekterfolgs ableiten.
Versteht man die Entwicklung einer Digitalstrategie als eine Positionierung der jeweiligen Kulturinstitution im analogen wie im digitalen Raum, so liegt die Notwendigkeit auf der Hand. Allein eine Kulturinstitution, die sich und anderen klar darlegen kann, warum sie die Angebote macht, die sie macht, die weiß, wen sie erreichen möchte, die Digitalisierung nicht allein als Ausführung analoger Prozesse mit digitalen Tools versteht, sondern Digitalität als innovativ nach außen an das Publikum gerichtet sowie nach innen als Basis für die erfolgreiche tägliche Arbeit der Mitarbeitenden versteht, und in der dieses Verständnis von der gesamten Institution geteilt und getragen wird, ist für das 21. Jahrhundert erfolgreich aufgestellt. Strategieprozess klingt nach einer sehr großen Aufgabe, die angesichts stets knapper personeller Ressourcen zu Recht in ihrer Relevanz hinterfragt werden kann. Doch impliziert man, dass der Umfang des Prozesses in Relation zur Größe eines Hauses stehen und auch schlank gestaltet sein kann, berücksichtigt man, dass im Rahmen eines Strategieprozesses auch Priorisierungen vorgenommen werden können, die im Nachgang zu Arbeitserleichterungen führen und ist man offen dafür, dass Strategieprozesse auch zu einem gewissen Grad im Verbund und Austausch geführt werden können, so liegt der elementare Nutzen einer Digitalstrategie für Kulturinstitutionen auf der Hand. Die zu erarbeitende Vision und Mission stellen sicher, dass neue innovative Projekte im Haus nachhaltig weitergeführt werden können und keine Eintagsfliegen bleiben müssen. Die Strategiearbeit bringt kritische bzw. lang aufgeschobene Fragen auf den Tisch, sie bildet die Grundlage für die Entwicklung konkreter Zielvorgaben und Kriterien zur Messung von Projekterfolgen ebenso wie für den gezielten Aus- und Aufbau digitaler Kompetenzen innerhalb einer Institution oder eines institutionsübergreifenden Netzwerks. Wo möglich sollte ein Strategieprozess mit der Entwicklung oder dem Ausbau konkreter Anwendungen – digitaler Projekte und Experimente – parallel vonstatten gehen. Projekte und Experimente, die Spaß machen und Mitarbeitende und Publikum in Austausch oder Zusammenarbeit bringen und beide gleichermaßen begeistern, können helfen, die Kernelemente des Strategieprozesses noch im Prozessverlauf auszutesten. Fortschritte und Ergebnisse der Experimente im digitalen Raum können auf die Digitalstrategie einzahlen und den Fortgang einer Strategie-
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entwicklung effektiv unterstützen, während die Strategie die nachhaltige Fortsetzung der Anwendungen sicherstellt. Klar muss uns allen dabei immer sein: Eine Digitalstrategie wird nicht einmal entwickelt, publiziert und ist damit abgeschlossen. Vielmehr ist die formulierte Strategie ein Versprechen in die Zukunft, und der Prozess der Entwicklung geht nahtlos in die schrittweise Implementierung im Haus über. Die Implementierung und die tägliche Arbeit in einer Institution werden die Strategie immer wieder auf den Prüfstand stellen. Sie bildet dabei ein lebendes Dokument, das stets im Blick behalten und weiterentwickelt werden will.
3 Aktueller Stand und Zukunftsperspektive(n) Vier Jahre nach dem Runden Tisch haben neun Kulturinstitutionen die erste Runde des Programms kultur.digital.vermittlung durchlaufen. Die Institutionen stellten sich mit ihren Projektskizzen einem wettbewerblichen Verfahren und wurden von einer externen Fachjury zur Unterstützung durch das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst empfohlen. Die Entwicklung und Umsetzung konkreter Projekte stand während der gesamten Laufzeit von zwei Jahren in unmittelbarem Zusammenhang mit der Entwicklung einer Digitalstrategie in den einzelnen Häusern. Die Bandbreite der Projekte³, die in dem spartenübergreifend angelegten Programm unterstützt werden, reichten in der ersten Runde vom digitalen Besuchsassistenten Alte Pinakothek Unframed, der einen personalisierten Museumsbesuch vor Ort unterstützt bis zum digitalen Rundgang durch Räume des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, die real nicht ohne weiteres zugänglich sind. Sie unterstützen sehbehinderte und gehörlose/taube Besucherinnen und Besucher durch spezielle digitale Angebote in der Neuen Sammlung – The Design Museum, im Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke und mit Angeboten des Museumspädagogischen Zentrums. Mit dem neuen Escape Game Fluch der Feder hat das Bayerische Nationalmuseum ein Angebot für den jugendlichen, kulturinteressierten Nachwuchs entwickelt, und das Residenztheater zeigt mit Resi ganz nah, dass Theater mehr sein kann, als allein der Besuch vor Ort. Die Klanginstallation Naga – Die verschüttete Königsstadt im Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst erlaubt eine virtuelle Reise in den Sudan und lässt die Besuchenden unmittelbar in die Grabungsarbeiten vor Ort in Naga eintauchen. Bereits neun weitere staatliche Kul-
3 Vorstellung der Projekte: https://www.stmwk.bayern.de/kunst-und-kultur/digitale-kulturvermitt lung/programm-kulturdigitalvermittlung/laufzeit-2021-2023.html (letzter Abruf 04.03. 2024); und Zimmer und Büsing 2023.
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turinstitutionen sind inzwischen auf dem Weg, sechs von ihnen werden im Juli 2024 ihre Arbeitsergebnisse präsentieren, drei im Sommer 2025.
Abb. 2: Graphical Recording zur Abschlusspräsentation #Spotlight KulturDigitalVermitlung am 10. Juli 2023. © Michael Schrenk – Liveillustration.de.
Um sicherzustellen, dass die entwickelten Digitalstrategien keine leeren Versprechen in die Zukunft bedeuten, sondern als living document den Transformationsprozess in den verschiedenen Häusern intensiv unterstützen und begleiten können, wurde am Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst 2023 das Anschlussprogramm kultur.digital.strategie aufgesetzt. Das Anschlussprogramm unterstützt zielgerichtet die zeitnahe und nachhaltige Implementierung der erarbeiteten Digitalstrategien. Mit dem Blick auf das Publikum und die Besuchenden einerseits, dem Blick auf Arbeitsprozesse und Teamkultur andererseits, dem Fokus auf die digitale Infrastruktur oder auch neue innovative Projekte werden in diesem Rahmen die Strategien in den Häusern step by step tatkräftig und erfolgreich mit Leben gefüllt. Es wurde seit dem Runden Tisch Digitale Kulturvermittlung – Aktueller Stand und Zukunftsperspektive(n) 2019 viel angestoßen, dennoch liegt noch eine große Strecke auf dem Weg in die Digitale Transformation vor den Kulturinstitutionen: Der digitale Raum bietet als Erweiterung der traditionellen Kulturbauten vielfältige Chancen der Kulturvermittlung an differenzierte Publika, verschiedenste Optionen der Verschränkung von analogen und digitalen Angeboten. Er macht innovative Vermittlungsformate möglich, die das Publikum auf faszinierende neue Art und Weise berühren, erreichen, einbeziehen oder mit ihm in Interaktion treten. Kulturinstitutionen müssen deshalb dauerhaft Innovationen nutzen, und vor allem Strategien entwickeln, verstärkt digitale Infrastruktur ausbauen und intensiv di-
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gitale Kompetenzen aufbauen, um sich in dem im Wandel befindlichen Kulturbereich des 21. Jahrhunderts wirksam zu positionieren und ihrer Verantwortung für die Gesellschaft gerecht zu werden.
Bibliographie Aviso. 2023. Magazin für Kunst und Wissenschaft in Bayern 2/2023. Kultur digital – Strategie. https:// www.stmwk.bayern.de/epaper/2023-2-aviso/index.html (letzter Abruf 04. 03. 2024). KMK. 2023. Empfehlung der Kulturministerkonferenz zu Digitalitä t und digitaler Transformation im Kulturbereich: „Beschluss der Kulturministerkonferenz vom 11. 10. 2023“ https://www.kmk.org/ fileadmin/pdf/PresseUndAktuelles/2023/2023_10_11-Handlungsempfehlungen_ DigitaleTransformation_2023.pdf (letzter Abruf 04. 03. 2024). Zimmer, Kathrin B., und Elsa Büsing. 2023. „Von verborgenem Archivmaterial bis zur Gehörlosenführung. Neun innovative Projekte der digitalen Kulturvermittlung in Bayern.“ Aviso. Magazin für Kunst und Wissenschaft in Bayern 2/2023: 34–42. https://www.stmwk.bayern.de/ epaper/2023-2-aviso/index.html (letzter Abruf 04. 03. 2024).
Personen- und Sachregister Abgrenzungsproblem 255–258, 264 f. Adorno, Theodor 33, 157 Aggression 139 Animismus 154 Anthropologisch 25, 60, 62, 107, 189 Argumente 2, 19, 32, 46 f., 53, 61, 99 f., 105, 107–110, 112–117, 124, 138, 140 f., 144, 155, 178, 181, 190, 192, 215, 222, 234, 237, 239, 262, 271 – Argumentationstheorie 105, 110 f., 114–117 Aristoteles 98–100, 102, 107, 109–111, 113 f., 160, 256, 260 Arrow, Kenneth 177–181, 183, 186 – Arrows Theorem 178 f., 181, 184, 186 – Arrow-Unabhängigkeit 178, 180, 182–184, 186 Authentizität 237–240 Autonomie 14, 23, 24, 31, 36, 62, 125, 160, 195, 197, 214, 271, 274, 275, 277, 278, 285 autonome Systeme 18, 20–23, 26–28 Autorschaft 2 f., 14, 31–34, 36 f., 39 f., 124, 134, 152 f., 157, 216 Badiou, Alain 88 Begründungspraxis 31 f., 34, 40, 143, 203, 209, 215, 221 belief-desire 8 Bentham, Jeremy 23 f. Betzler, Monika 83–85, 87–89 Binmore, Ken 166, 169, 171 Bullshit 261 f., 264 Charakter 4, 13, 28, 35, 48, 50, 77, 84, 93, 96, 98–102, 109, 114, 231, 234, 237, 258, 301 Chrysippus 251 Cicero 111, 247 f., 251, 256 Conditio Humana 3, 134 Cosmopolitanism 243, 247 Darwin, Charles 171 Deliberation 4, 8 f., 31 f., 68, 70, 113, 144, 218– 220, 222
Demokratie 191, 194, 214 f., 217–220, 222, 225– 227, 232 f., 235–237, 240, 283, 286 f., 293, 295 f. – demokratische Deliberation 226 deontologisch 125, 128, 195–197, 231, 271 desire-belief 127 Determinismus 6, 9, 19 f., 54, 57 – deterministisch 9, 54, 92, 98 digital 1 f., 10, 31, 33–40, 174, 222, 272, 278, 283, 299–305 – Digitaler Humanismus 1, 31, 39 f. – Digitale Transformation 1 f., 31, 33–35, 39, 299–301, 304 – Digitalisierung 2, 10, 33, 35, 172, 222, 300, 302 diskursiv 32, 39, 124, 209 f. Dunbar, Robin I.M. 171 Entmenschlichung 17 f., 22–27, 33 entscheiden 6, 8, 13, 15, 56, 72, 76, 82 f., 91, 93–95, 97, 100, 113, 140, 157, 167, 193 f., 215, 233 – Entscheidung 3, 5–8, 10, 12, 20, 22, 27, 31–33, 37, 54–56, 62, 68 f., 79–89, 91–103, 106, 114, 164 f., 167, 169, 173, 193 f., 219–222, 228, 230 f., 233, 235, 237, 239 f., 262, 269 f., 272– 276, 280, 292 f. – Entscheidungsfreiheit 6 f., 56 f., 278 Entschuldigung 67, 69, 72 f., 75–77, 141 Epictetus 250 epistemisch 55, 57, 77 f., 87, 119, 133, 157, 220, 260, 265, 292 – epistemische Irrationalität 77, 228 – epistemische Rationalität 255, 259 f., 262, 265 – epistemische Verantwortung 77 f. Erfahrung 24, 28, 85–89, 100 f., 150, 154, 157, 275, 290 – existentielle Erfahrung 89 f. – transformative Erfahrung 79, 85 f., 88 f. Ethik des Erfolgs 218 Ethos epistemischer Rationalität 128 Fischer, John Martin
https://doi.org/10.1515/9783111433233-025
19, 21, 23, 26, 28
308
Personen- und Sachregister
Frankfurt, Harry 6 f., 33, 58, 87, 261 f. Freiheit 1–4, 6 f., 9, 14, 18 f., 32, 34, 36 f., 53–64, 67–70, 86, 114, 125, 133, 152, 159 f., 191, 193, 195–199, 206 f., 214 f., 229 – kommunikativer Freiheitsbegriff 206 f. – negativer Freiheitsbegriff 206 Fromm, Erich 97 Gefangenendilemma 164–167, 169–171 Gibbard-Satterthwaite-Theorem 181 gleich 7, 14, 20, 50, 56, 60, 68, 71, 139, 154, 156, 181, 183, 185, 190, 194, 196 f., 204, 217, 229, 231, 260, 263, 274, 284, 286, 292, 301 – Gleichbehandlung 196 f., 284, 293 – Gleichheit 96, 172, 194–198, 214, 229 – Gleichverteilung 182, 196 Grice, Paul 124, 126 f., 129–131 Grund 4 f., 7, 14, 19, 23, 32, 40, 45, 60, 62, 64, 71, 77, 88 f., 96, 105–109, 115, 117 f., 126, 128–130, 132, 165, 168, 171, 179, 190, 199, 205–207, 210, 215, 217, 225, 230 f., 236–238, 241, 289, 292 – Gründe 3–10, 14, 18, 20 f., 23, 26–28, 31–34, 39, 43, 45, 47–50, 52 f., 55 f., 58–65, 67–76, 78–90, 93 f., 96, 99 f., 102 f., 105–120, 123– 125, 127–130, 132 f., 137–140, 142–146, 152, 154, 156, 178, 180 f., 194, 196 f., 203, 206, 209 f., 214–216, 218, 220–222, 229, 234, 240, 255, 258, 272, 276, 290–292 – gründebasiert 138, 209 – guter Grund 5, 14, 32, 80, 83, 128, 138, 291 Handlung 3–9, 18, 20–22, 26–28, 31 f., 34, 37 f., 43–46, 48–51, 56, 58 f., 62 f., 68–80, 85, 87 f., 92, 98, 101–103, 106, 108, 113, 123, 126 f., 130, 132, 138, 164, 169, 195, 203, 205– 207, 216, 219, 237 f., 259, 271 f. Harsanyi, John C. 165, 168 Hobbes, Thomas 164 Humanismus 1 f., 10, 31–36, 38 f., 55, 153, 159, 189, 194, 213–217, 220 f., 283–298 – Humane Bildung 149–151, 157, 159 f. – humanistisch 1–3, 10, 14, 31–33, 39 f., 81 f., 124, 128 f., 132, 151–153, 157 f., 213–222, 283–297 – humanistische Semantik 123–125, 127–134 – humanistisches Grundmodell 128–131
Hume, David 8, 54, 164 f., 171, 214 Hunt, Stag 163, 166 Illouz, Eva 95 Inauthentizität 229, 231 individuell 33, 37, 43, 49, 58, 73, 80–82, 87, 94, 97, 102, 132, 151, 156, 165–168, 171, 178 f., 181 f., 185, 190 f., 195, 197, 215, 217, 221, 229– 231, 239 f., 277, 285 – individuelle Rechte 190–195, 197 f., 204, 208, 217 Institutionen 35, 144, 151, 163 f., 170–174, 197, 285, 293, 303 – formelle Institutionen 172, 164 – informelle Institutionen 164 Kant, Immanuel 23 f., 63, 150, 155–157, 194, 205, 214 f., 259, 265 – kantisch 23 f., 194–196, 209, 220 Kinder 49, 64, 82, 84 f., 140, 149, 151–155, 157– 160, 171, 190 f. – Kinderphilosophie 153 f. Kohärenz 81, 89, 102, 143 – Kohärentismus 189, 199, 270 f., 279 Kohlberg, Jakob 137, 141 f., 144, 217 Konsequentialismus 43–45, 47–51, 82 Konstruktivismus 220 Kontrolle 3, 17 f., 20–23, 26 f., 33, 70, 126, 160, 171, 218 Kooperation 36, 44 f., 51, 81, 124 f., 128, 133, 163–174, 197, 217–219, 225, 285–287, 289, 293–295, 297 Large Language Models 39, 134 Leben 2, 14, 18, 22, 27, 31–34, 36, 39, 48–50, 73, 75, 80–87, 89, 91–93, 95, 98, 101, 107, 149, 153, 160, 163 f., 171, 191, 195 f., 198 f., 204 f., 214, 216, 232, 238 f., 271, 284 f., 288– 290, 292, 294 f., 304 – Lebensform 32 f., 80–91, 93, 101–103, 124 f., 132–134, 213, 215, 218–220, 222, 284 f., 290 – Lebensformen 37, 81 f., 85, 87–90, 285 – Lebenswelt 35, 37, 68, 88–90, 105, 215, 218 f., 285, 290–292 Libertäre Gerechtigkeit 192 Locke, John 189–191
Personen- und Sachregister
Logik 60, 105, 107, 109, 113–119, 154, 158 f., 183, 236, 256 f. – Logik kollektiver Entscheidungen 177, 179 f., 186 Luhmann, Niklas 92 Machery, Edouard 23–25 Malapropismen 131 f. Martinich, A.P. 130 McGowan, Mary Kate 127 Medizin 258, 269 f. – Medizinethik 269 Menschen 2, 10–14, 20–23, 25–27, 31, 33, 35 f., 39, 55 f., 58, 64 f., 69, 73, 91 f., 94–97, 99, 101 f., 106, 125 f., 139, 149 f., 152–155, 159, 163, 168, 170 f., 173 f., 196 f., 205, 207, 213, 215–218, 220, 227 f., 232, 234 f., 237, 261, 264, 270, 272, 277, 283–286, 289–296 – Menschenrechte 203–210, 233 f., 283, 287, 296 – Menschenwürde 25, 194, 205 f., 283, 293, 295 Migration 199 – Migrationskrise 226, 228, 231 Mill, John Stuart 113, 190, 203 f., 227–229, 234 mithörende Dritte 129, 131 Mobbing 138–140, 144 f. Moral 3 f., 25, 28, 49, 84, 106, 111, 137, 149, 163, 165 f., 172, 191 f., 198, 229, 234, 243 f., 249 f., 252, 292 – Moral Disengagement 141–143 – moralisch 4–6, 20, 23–27, 33, 36, 49 f., 63, 70, 72 f., 75, 77 f., 82, 84, 92, 100, 106, 111–113, 116, 137–146, 149, 152, 154, 157, 160, 171, 174, 190–192, 194, 203, 209, 214, 216, 218, 226 f., 230, 235–238, 241, 269, 271 f., 279, 286–288, 291–295 – moralische Deliberation 137 – moralischer Realismus 19, 209 – moralischer Urteilstest 140, 143 – moralische Sensibilität 157 f. – moralische Verantwortung 18, 20 f., 26 f., 77 f., 218, 230 – Moralpsychologie 140–142 Motivation 43 f., 50 f., 95, 106, 125, 180 Mündigkeit 157 Nash-Gleichgewicht
165 f., 168, 170
309
natural entities 251 f. Naturalismus 24, 55, 133, 216 – naturalistisch 5, 11, 54–59, 68 f., 94, 105, 216, 220 Neidfreiheit 182 Nemesius 251 non-moral value 252 normativ 3, 5, 8 f., 11, 14, 22 f., 27, 32, 35, 37– 39, 67, 72, 75–80, 84 f., 87, 89, 96, 98, 109, 114 f., 125, 132 f., 137, 143–146, 150, 152 f., 166, 181, 190 f., 198, 205–207, 209 f., 215–217, 219, 221 f., 234, 243, 245 f., 269–273, 277, 279, 284 f., 287 f., 290–293, 295–297 – Normativität 5, 37, 216, 288, 290, 296 f. Notwendigkeit 25, 31, 36, 57–59, 61, 88, 102, 109, 166, 171 f., 203 f., 215, 219, 234, 299, 301 f. Nozick, Robert 46 f., 189–197 Nutzen 33 f., 43, 45, 102, 107, 165 f., 168, 170 f., 173, 203, 239, 271, 274 f., 277 f., 299, 302, 304 objektiv 5, 32, 60, 63, 72 f., 76, 79, 85, 87, 108, 119, 128 f., 132 f., 156, 215 Olbrechts-Tyteca, Lucie 111, 114 Optimierung 43, 45, 99, 102, 219 paideia 237 pantheism 243–245, 247, 250 pareto-effizient 168, 170, 172, 174, 182, 185 Parfit, Derek 48, 106 f., 265 Patientenversorgung 270, 273 f. Pay-off-dominant 168 f. Plutarch 251 Popper, Karl R. 256–258, 262 Prinzip 6, 46, 63, 117, 182, 185, 194, 199, 204, 218, 237, 277 f., 288, 292 – Prinzip der Gerechtigkeit 275, 278 – Prinzip des Nichtschadens 277 prohairesis 91, 93, 97–103 Projekte 46, 48, 74, 80, 83–90, 138, 301–304 Protestwahl 225, 227–241 Pseudowissenschaft 256–265 Public Health 269 Rationalität 4, 8, 43, 45, 63, 94, 102, 125, 133 f., 155, 159, 182, 190, 199, 219, 222, 225, 230
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Personen- und Sachregister
– Politische Rationalität 219 – Praktische Rationalität 138 – rationale Person 82, 102 f., 138, 143 – strukturelle Rationalität 43–45, 47–51, 80 f., 88, 90, 93, 101 f., 125, 134 Ravizza, Mark 18–21, 23, 26, 28 Rawls, John 45, 165, 185, 192, 194 f., 198 f., 208, 220 f., 271, 287 f. Realismus 214, 219 f., 222, 291 – unaufgeregter Realismus 125, 128, 189, 193 reasons account 137 f., 143 f. Rechtfertigung 9, 60, 65, 72 f., 84, 106, 111, 113, 119, 138, 143, 190, 199, 215, 219, 270 f. Reputation 164, 170 risk-dominant 168 Rousseau, Jean-Jacques 152, 164, 166 f., 217 scala naturae 248 Selten, Reinhard 138, 140, 151, 158, 168, 170 f., 227 Semi-Kompatibilismus 6 Skyrms, Brian 169 Smith, Adam 17, 164, 171, 189 Social Choice Theory 177 Social Welfare Function (SWF) 178 f. Spieltheorie 164–166, 170 Stoic 243–252 – Stoic Cosmopolitanism 243–245, 248, 250, 252 Strawson, Peter 53, 68, 75, 129 f., 133 Suffizienz 197
Sugden, Robert 166 sustêma 244 f. Toulmin, Stephen 107, 111–115, 119 Tullock, Gordon 164 Urteil 4, 9, 32, 86–88, 106, 116, 133, 137, 141, 153, 215, 221, 237, 257, 261, 271 f., 294 – Urteilsfähigkeit 157, 217 f., 221 – Urteilskompetenz 137, 140–144, 146 Verantwortung 1–3, 6, 9, 13 f., 18, 20, 26–28, 32, 34, 36, 65, 67–74, 76–78, 125, 133, 143 f., 152, 157, 214–216, 218 f., 221, 229, 237, 240, 278, 283, 299, 301, 305 Vernunft 1, 3 f., 6, 9, 14, 34, 36 f., 55, 63, 79, 84, 90 f., 107, 125 f., 133 f., 156, 214, 216, 221, 258 f., 289 f. Vertragstheorie 165 Vertrauen 83, 128, 167, 169–174 – Völkerrecht 208 – Völkerrechtlich 208 Wahrheit 20, 86, 94, 114, 153–158, 214 f., 220, 222, 225, 256, 258–262, 295 Werte 36, 39 f., 43, 45, 65, 74, 114, 141–143, 178, 216, 219, 228, 234, 261, 275, 285, 289, 293 Wille 20, 23, 61, 63 f., 98, 222, 226, 274 f. – Willensfreiheit 6, 53–57, 59, 64 Wolf, Ursula 99 f. Zufall
57, 88, 92