"So fing man einfach an, ohne viele Worte": Ausstellungswesen und Sammlungspolitik in den ersten Jahren nach dem zweiten Weltkrieg 9783110350111, 9783110342857

Wie konnte man 1945 einfach wieder anfangen? Diese Frage stellt sich ganz besonders für die deutschen Museen und ihren U

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"So fing man einfach an, ohne viele Worte": Ausstellungswesen und Sammlungspolitik in den ersten Jahren nach dem zweiten Weltkrieg
 9783110350111, 9783110342857

Table of contents :
Inhalt
Einleitung. »So fing man einfach an, ohne viele Worte«
Theoretische Diskurse
Die theoretischen Diskurse über moderne Kunst in der Nachkriegszeit
Standortbestimmung und Vergangenheitsbewältigung. Die documenta 1955 als »Staatsaufgabe«
Modernerezeption in der Kunstpublizistik der Nachkriegszeit. Das Beispiel der Zeitschrift Aussaat
Britische Besatzungszone
Kulturpolitische Rahmenbedingungen und Kunstpolitik in der britischen Besatzungszone 1945-1949
Die Kunstsammlungen der Stadt Düsseldorf 1945-1953. Ankaufspolitik und Ausstellungen in der Ära Werner Doede
»Ein stetiges, der Stadt Essen würdiges Ausstellungsleben« Das Museum Folkwang 1945-1955
»Getreuer Statthalter in schwerer Übergangszeit« Carl Georg Heise und die Hamburger Kunsthalle von 1945 bis 1955
Zwischen Kontinuität und Neubeginn. Die Kunstabteilung im Landesmuseum Hannover nach 1945
Die Sammlung Haubrich und der Wiederaufbau des Wallraf-Richartz-Museums ab 1945
»Neue Grundlagen für unser geistiges Leben« Das Landesmuseum Oldenburg unter seinem Direktor Walter Müller-Wulkow 1945-1951
Französische Besatzungszone
Von der Prestigezur Versöhnungspolitik. Ausstellungen und Sammlungen in der französischen Besatzungszone nach 1945
Amerikanische Besatzungszone
Kulturpolitische Rahmenbedingungen und Kunstpolitik in der amerikanischen Besatzungszone
Anmerkungen zur Ausstellungstätigkeit und Ankaufspolitik der Kunsthalle Bremen nach 1945 unter Günter Busch
Das Städel – Zwischen Restitution und Revision
Die Kunsthalle Mannheim zwischen 1945 und 1955
Eberhard Hanfstaengl und seine Amtszeit an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen von 1945 bis 1953
Ausstellungen und Sammlungsaufbau an der Staatsgalerie Stuttgart
Sowjetische Besatzungszone
Museen – »Bildungsstätten ersten Ranges« Zum Sammlungsaufbau in der sowjetischen Besatzungszone nach 1945
Auf Messers Schneide. Vom schwierigen Neuanfang in den Dresdner Staatlichen Sammlungen für Kunst und Wissenschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
Zwischen Selbstbehauptung und kulturpolitischer Lenkung. Das Städtische Museum in der Moritzburg in Halle 1945-1950
Sammlungsaufbau und Moderne im Museum der bildenden Künste Leipzig 1945-1955
Sonderfall Berlin
Ein neues Kronprinzenpalais? Die Pläne für eine »Galerie des 20. Jahrhunderts« in (Ost-) Berlin und ihr Scheitern
Die »Galerie des 20. Jahrhunderts« Wiederbelebung der Moderne im West-Berlin der Nachkriegsjahre
Zwei Thesen
Statt eines Nachworts: zwei Thesen
Impressum

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»So fing man einfach an, ohne viele Worte«

»So fing man einfach an, ohne viele Worte«

Ausstellungswesen und Sammlungspolitik in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Herausgegeben von Julia Friedrich und Andreas Prinzing für das Museum Ludwig Köln

Akademie Verlag

Britische Besatzungszone

Inhalt 8

Einleitung »So fing man einfach an, ohne viele Worte«

48

Julia Friedrich / Andreas Prinzing

Kulturpolitische Rahmenbedingungen und Kunstpolitik in der britischen Besatzungszone 1945-1949 Eberhard Illner

Theoretische Diskurse 18

26

56

Die theoretischen Diskurse über moderne Kunst in der Nachkriegszeit

Die Kunstsammlungen der Stadt Düsseldorf 1945-1953 Ankaufspolitik und Ausstellungen in der Ära Werner Doede

Christoph Zuschlag

Kay Heymer

Standortbestimmung und Vergangenheitsbewältigung Die documenta 1955 als »Staatsaufgabe«

63

Modernerezeption in der Kunstpublizistik der Nachkriegszeit Das Beispiel der Zeitschrift Aussaat

Essen

»Ein stetiges, der Stadt Essen würdiges Ausstellungsleben« Das Museum Folkwang 1945-1955 Hans-Jürgen Lechtreck

Harald Kimpel

36

Düsseldorf

72

Hamburg

»Getreuer Statthalter in schwerer Übergangszeit« Carl Georg Heise und die Hamburger Kunsthalle von 1945 bis 1955

Andreas Prinzing

Ute Haug

82

Hannover

Zwischen Kontinuität und Neubeginn Die Kunstabteilung im Landesmuseum Hannover nach 1945 Claudia Andratschke

89

Köln

Die Sammlung Haubrich und der Wiederaufbau des Wallraf-Richartz-Museums ab 1945 Dorothee Grafahrend-Gohmert

99

Oldenburg

»Neue Grundlagen für unser geistiges Leben« Das Landesmuseum Oldenburg unter seinem Direktor Walter Müller-Wulkow 1945-1951 Rainer Stamm

Amerikanische Besatzungszone

Französische Besatzungszone 110

Von der Prestigezur Versöhnungspolitik Ausstellungen und Sammlungen in der französischen Besatzungszone nach 1945 Friederike Kitschen

122

Kulturpolitische Rahmenbedingungen und Kunstpolitik in der amerikanischen Besatzungszone Steffen Dengler

131

Bremen

Anmerkungen zur Ausstellungstätigkeit und Ankaufspolitik der Kunsthalle Bremen nach 1945 unter Günter Busch Anne Buschhoff

139

Frankfurt/Main

Das Städel – Zwischen Restitution und Revision Dorothea Schöne

147

Mannheim

Die Kunsthalle Mannheim zwischen 1945 und 1955 Hannah M. Krause

157

München

Eberhard Hanfstaengl und seine Amtszeit an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen von 1945 bis 1953 Andrea Christine Bambi

166

Stuttgart

Ausstellungen und Sammlungsaufbau an der Staatsgalerie Stuttgart Ina Conzen

Sowjetische Besatzungszone 178

Museen – »Bildungsstätten ersten Ranges« Zum Sammlungsaufbau in der sowjetischen Besatzungszone nach 1945

Sonderfall Berlin 214

Ein neues Kronprinzenpalais? Die Pläne für eine »Galerie des 20. Jahrhunderts« in (Ost-) Berlin und ihr Scheitern Maike Steinkamp

Maike Steinkamp 223 186

Dresden

Auf Messers Schneide Vom schwierigen Neuanfang in den Dresdner Staatlichen Sammlungen für Kunst und Wissenschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Thomas Rudert

195

Halle

Zwischen Selbstbehauptung und kulturpolitischer Lenkung Das Städtische Museum in der Moritzburg in Halle 1945-1950 Susanna Köller

203

Leipzig

Sammlungsaufbau und Moderne im Museum der bildenden Künste Leipzig 1945-1955 Frédéric Bußmann

Die »Galerie des 20. Jahrhunderts« Wiederbelebung der Moderne im West-Berlin der Nachkriegsjahre Christina Thomson

Zwei Thesen 234

240

Impressum

Statt eines Nachworts: zwei Thesen Christian Fuhrmeister

Berlin Britische Besatzungszone

Sowjetische Besatzungszone

Französische Besatzungszone

Amerikanische Besatzungszone

Einleitung »So fing man einfach an, ohne viele Worte« Wie konnte man 1945 einfach wieder anfangen? Nach über 60 Millionen Toten? Nach einer Zerstörung sondergleichen? Nach dem Bankrott der deutschen Kultur und der deutschen Werte? Diese Frage stellt sich ganz allgemein, aber für die Museen und ihren Umgang mit der Kunst der Moderne ganz besonders. Denn die materiellen und moralischen Verwüstungen waren auf diesem Feld besonders groß. Die meisten Museen waren stark beschädigt und die moderne Kunst in der Aktion »Entartete Kunst« 1937 konfisziert worden. Die Nazis und ihre Helfer hatten die Werke entweder zerstört oder weiterverkauft. Die Künstler, Kuratoren und Direktoren, die Mitarbeiter in den Museen, Kunstvereinen und Akademien waren, wenn sie nicht ihrer jüdischen Herkunft oder ihrer politischen Haltung wegen ermordet oder vertrieben worden waren, in den Dienst des Regimes eingetreten, manche widerwillig, manche freudig. Trotz alledem fing man, wie Hugo Borger gesagt hat, »einfach an, ohne viele Worte«, gewissermaßen instinktiv. Borger war 1946 Volontär am Kaiser-Wilhelm-Museum in Krefeld. Er erinnert sich an den Pragmatismus und den Aufbruchswillen der Nachkriegszeit, an die Rückführung der ausgelagerten Werke auf offenen Wagen und die ersten Ausstellungen, die vom Publikum »gestürmt« worden seien.1 Viele Museumsmitarbeiter haben die Ereignisse ähnlich geschildert. Doch wie, mit welchen Mitteln fing man wieder an, und wie lange brauchte die Umstellung an den Museen? Von welchen Prinzipien wurde die Arbeit geleitet? Oftmals wird in diesem Zusammenhang Köln eine Sonderstellung zugesprochen. Denn dank der Schenkung einer erstklassigen Sammlung expressionistischer und neusachlicher Kunst, die der Anwalt Josef Haubrich bis 1946 zusammengetragen hat, musste hier der Bestand nicht neu aufgebaut werden. Als wir am Kölner Museum Ludwig mit der Provenienzforscherin Dorothee Grafahrend-Gohmert die Geschichte der Sammlung Haubrich aufgearbeitet haben, stellten wir uns die Frage, ob diese Schenkung an die Stadt Köln tatsächlich so außergewöhnlich gewesen ist, inwiefern sie Beispielcharakter besessen hat, und wie andere Museen in Deutschland, in denen heute große Sammlungen deutscher Kunst der Klassischen Moderne präsentiert werden, mit der Situation umgegangen sind. 8

1 Hugo Borger, »Westdeutsche Museen im Wiederaufbau: Beispiel Köln«, in: Ders. und Karl-Dietrich Bracher (Hrsg.), ’45 und die Folgen. Kunstgeschichte eines Wieder­ beginns, Köln 1991, S. 214–219, S. 214.

Erec Gellautz begab sich für uns auf Recherche und fand zu einigen Institutionen mehr, zu anderen weniger Informationen. Viele Leerstellen blieben leider gerade in den uns brennend interessierenden Jahren zwischen 1945 und 1955. Es waren die Jahre nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Systems und vor der Wiederkehr eines nationalen Selbstbewusstseins seit Ende der Fünfziger (»Wir sind wieder wer«). Wir stiegen tiefer in die Recherche ein, zogen weitere Experten zu Rate und planten ein Symposium, das unter dem Titel »So fing man einfach an, ohne viele Worte. Ausstellungswesen und Sammlungspolitik in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg« am 9. und 10. November 2012, also am Jahrestag sowohl der Pogromnacht als auch des Mauerfalls, im Museum Ludwig stattfand. Wir nahmen die wichtigsten Museen der Zeit in den Blick und baten Kuratoren, Historiker und Provenienzforscher, sich deren Geschichte genauer anzusehen: Welche Personen waren verantwortlich, wo waren sie vor 1945 und wofür standen sie? Welche Werke haben sie angekauft und mit welchem Geld? Für welche Künstler haben sie sich eingesetzt und welche Ausstellungen haben sie präsentiert? Wo konnten sie überhaupt ausstellen, in welchen Räumen, mit wessen Genehmigung? Es stellte sich außerdem die Frage, inwieweit die Kulturpolitik der Besatzungsmächte das Ankaufs- und Ausstellungswesen der einzelnen Museen beeinflusst hat. Die auf unsere Bitte angestellten Überblicksuntersuchungen bestätigen hier die Einzelperspektiven vieler Museen: Unter den Westalliierten waren es die Amerikaner und die Franzosen, die der Kunst große Bedeutung zumaßen, während die Briten andere Prioritäten setzten oder setzen mussten. Moderner Kunst und demokratischer Gesinnung scheint ein innerer Zusammenhang miteinander unterstellt worden zu sein. So übten die Amerikaner, die von einem unmittelbaren, positiven Einfluss der Hoch- auf die Massenkultur ausgingen, eine starke kulturelle Aktivität aus und organisierten bereits ab Dezember 1945 eine Reihe zur Kunst der Gegenwart, bezeichnenderweise aber der deutschen Kunst. Die Franzosen hingegen konzentrierten sich von 1946 an auf Ausstellungen, die die Kultur Frankreichs vorstellen und für sie werben sollten. Allerdings konnten sie sich dem Wunsch der deutschen Kuratoren (und des Publikums), die deutsche Moderne wiederzusehen, auf Dauer nicht entziehen, wie viele kleinere Ausstellungen um 1947 und 1948 belegen. Auch die offizielle Kulturpolitik Frankreichs setzte schließlich auf Versöhnung und präsentierte ab 1950 Ausstellungen deutscher Kunst in Paris. Sowohl Amerikaner als auch FranEinleitung

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zosen versuchten, mit gezielten Schenkungen und Ausstellungen die moderne Kunst ihrer Länder zu platzieren. Die Briten übten eher einen indirekten Einfluss, z. B. über Personalentscheidungen, aus, wie man am Einsatz Werner Doedes in Düsseldorf oder an der Besetzung der Kulturverwaltung in Hannover sehen kann. Allerdings organisierte der British Council später, dem französischen und amerikanischen Beispiel folgend, auch Ausstellungen wie Die großen Maler Englands. Von Hogarth bis Turner in der Hamburger Kunsthalle (1949). Die Westalliierten behandelten trotz Reeducation ihre ideologischen und erzieherischen Absichten eher diskret, in der Sowjetischen Besatzungszone dagegen wurden sie öffentlich deklariert. Auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) vom 4.9. 1945 sollte der Betrieb in den Museen wieder aufgenommen werden, um Kunst »im Kampf gegen den Faschismus« einzusetzen. Konsequenter als im Westen wurden diffamierte Künstler in Ausstellungen gewürdigt und in offizielle Stellungen gebracht. Doch nahm der politische Einfluss auf das, was gezeigt wurde, stetig zu (wobei die Einflussnahme der SMAD kaum noch von der der SED-Funktionäre zu trennen ist). Konnten in Leipzig 1946 noch Drucke Picassos – immerhin von 1944 bis ans Ende seines Lebens Mitglied der Parti communiste français – angekauft und in der Großen Deutschen Kunstausstellung 1946 Surrealismus und Bauhaus gezeigt werden, so wurde die abstrakte und abstrahierende Kunst im Zuge der sogenannten Formalismusdebatte, die 1948 ihren Höhepunkt erreichte, in den Hintergrund gedrängt. Die Planungsphase des Symposiums fiel noch in die Amtszeit von Kasper König. Er regte an, sich nicht auf Einzelrecherchen zu beschränken, sondern auch das weitere Umfeld in Augenschein zu nehmen. So ließen sich die Einzelbeiträge des Symposiums in einen Abendvortrag von Laszlo Glozer unter dem Titel »Nach der Stunde 0 – Moderne Kunst im Klima der Nachkriegszeit« ebenso einbetten wie in die Vorträge von Christoph Zuschlag über die theoretischen Moderne-Diskurse in Kunstzirkeln der Nachkriegszeit sowie in Harald Kimpels Ausführungen über die »documenta 1955 als Staatsaufgabe«. Die Debatte um die politische und ideologische Funktion von Kunst nach dem Krieg, die Vorherrschaft des Realistischen oder des Abstrakten, des Westens oder des Ostens, des Kapitalismus oder des Kommunismus und der Versuch, sich zwischen Wiedergutmachung und neuem Selbstbewusstsein zu orientieren, prägten diese Zeit. Andreas Prinzings Vortrag über die »Modernerezeption in der Kunstpublizistik der Nachkriegszeit« musste leider aus Zeitgründen entfallen, umso 10

glücklicher sind wir, ihn an dieser Stelle nachreichen zu können. Christian Fuhrmeister kritisierte während des Symposiums einige Stereotypen in der Geschichtsschreibung der deutschen Museen und Kunstinstitutionen; Gedanken, die wir so interessant fanden, dass wir ihn gebeten haben, sie für den vorliegenden Band auszuformulieren. Außerdem ergänzt nun ein Beitrag zu den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden die Darstellung. Wer den Sammlungsaufbau in den unterschiedlichen deutschen Museen miteinander vergleicht, trifft auf einige erstaunliche Übereinstimmungen. Zunächst gilt überall, dass trotz sehr knapper Mittel, trotz Hungers und Zerstörung der Museumsbetrieb direkt nach Kriegsende wieder aufgenommen wurde. Es hätte näher gelegen, dass, frei nach Bertolt Brecht, erst das Fressen, dann die Kultur kommt. Tatsächlich dauerte es meist nur wenige Monate, bis die ausgelagerten Werke zurückgeführt waren. In nicht oder nicht so stark zerstörten Flügeln der Museumsbauten oder in Interimsgebäuden bemühte man sich, den Museumsbetrieb provisorisch in Gang zu setzen. Zwar dominierten in den allerersten Jahren Ausstellungen alter Kunst – wohl schlicht deshalb, weil sie noch vorhanden war –, aber der Wille zum Anknüpfen an die Vorkriegsmoderne war in allen untersuchten deutschen Museen überdeutlich vorhanden. Gerade der Aufbau der Moderne-Abteilungen wurde bemerkenswert rasch in Angriff genommen. Das vollzog sich in den Museen, denen neue Direktoren vorgesetzt worden waren (Berlin, Dresden, Düsseldorf, Halle, Hamburg, Köln, Leipzig, München) wie dort, wo sich eine personelle Kontinuität zeigte (Essen, Frankfurt am Main, Hannover, Mannheim, Oldenburg). Ob nun um sich den Alliierten gefällig zu zeigen oder aus innerer Überzeugung, herrschte allgemein der Wille vor, gerade die von den Nazis verfemten Künstler wieder in die Sammlungen aufzunehmen und auch in Sonderausstellungen zu zeigen. Viele Direktoren bemühten sich aktiv, ehemals beschlagnahmte Werke wiederzuerlangen. Wenn dies – aufgrund der komplizierten Situation im Umgang mit den Werken aus der Aktion »Entartete Kunst« – nicht möglich war, wurde bewusst nach Ersatz gesucht. Dieser Ersatz beschränkte sich bezeichnenderweise auf die Kunst, die bereits vor 1933 in den Sammlungen vertreten war, auf den Expressionismus vor allem und in geringerem Maße auf die Neue Sachlichkeit, also auf gegenständliche Genres. Werke aus jüngeren und kontroversen Richtungen wie Surrealismus, Konstruktivismus oder Dada wurden in den ersten Jahren nur selten Einleitung

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angekauft. Ein Direktor wie Alexander Dorner vom Provinzialmuseum Hannover, der den Konstruktivismus bereits vor 1933 unterstützt hatte, war ins Exil gegangen und förderte diese Kunst später von den USA aus. Dagegen hielten es nun viele in Deutschland für dringlicher, Werke zeitgenössischer, vor Ort lebender Künstler zu erwerben. Nur wenige Ausstellungen moderner Kunst wagten sich an Themen außerhalb des deutschen Expressionismus, darunter die von Ludwig Grote organisierte erste Nachkriegsschau zur Malerei des Bauhauses im Haus der Kunst in München 1950 oder, wenn auch kleiner und isoliert, aber aus heutiger Sicht doch auffällig, Ausstellungen zu Fernand Léger in Mannheim 1949, Pablo Picasso in Essen 1953 und Joan Mirò in Stuttgart 1954. Parallel waren auch Wanderausstellungen der drei West-Alliierten in einigen deutschen Museen zu sehen. Die Kunsthalle Mannheim trat mit mehreren Ausstellungen amerikanischer, französischer und britischer Kunst und Fotografie hervor, auch die Staatsgalerie Stuttgart zeigte sich Anfang der 50er Jahre offen gegenüber den Ausstellungen der Westalliierten und zeigte amerikanische und französische Grafik. In Düsseldorf waren auf diese Weise bereits 1953 Werke von Jackson Pollock zu bestaunen. Eine Internationalisierung der Erwerbungspolitik erfolgte ebenso erst zögerlich ab Mitte der 1950er Jahre. Die deutschen Kunstinstitutionen selbst bevorzugten, was die klassische Moderne betrifft, die Maler der Brücke, unter den Zeitgenossen gehörten Willi Baumeister, Ernst Wilhelm Nay und Fritz Winter zu den Favoriten. Die Gleichförmigkeit ist so groß, dass die regional bedingten Besonderheiten hervorstechen. So setzten Doede in Düsseldorf auf das Junge Rheinland, Eberhard Hanfstaengl in München auf den Blauen Reiter, Heise in Hamburg auf Barlach, Günter Busch in Bremen auf Paula ModersohnBecker und Ernst Holzinger in Frankfurt am Main auf Max Beckmann. In Stuttgart wurde ein Konvolut von Oskar Schlemmer erworben, der vor Ort gewirkt hat. Die meisten Museumsverantwortlichen schlossen an die Sammlungsschwerpunkte der Vorkriegszeit an. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) beziehungsweise in der DDR zeigte sich bereits früh eine Konzentration auf antifaschistische, sozialistisch engagierte Kunst wie die von Hans und Lea Grundig, Käthe Kollwitz, aber auch Otto Dix und George Grosz. Mit wenigen Ausnahmen (neben anderen Mannheim und Köln) wurden die Museen von ihren minimalen Ankaufsetats 12

daran gehindert, wichtige Ankäufe im Bereich der klassischen Moderne zu tätigen. Im Osten kam mit der Währungsunion das Problem der schlechten Wechselkurse hinzu. In der Folge wurde im Westen wie im Osten viel Grafik und viel zeitgenössische regionale Kunst gekauft, die in der Regel günstiger zu haben war. Während im Westen Museumsdirektoren einigermaßen selbständig über Ankäufe entscheiden konnten, wurden die Direktoren in Berlin und der SBZ schärfer kontrolliert. Justi und Jannasch wurden von einer mit Politikern und Künstlern besetzten Ankaufskommission gegängelt, die Direktoren aus Dresden, Halle und Leipzig von der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten und vom Kulturministerium. In Dresden und Halle half man sich mit Leihgaben von Sammlern, Künstlerwitwen oder Galeristen über die Runden, Werken, von denen einige erworben werden konnten, einige als Schenkung in den öffentlichen Besitz übergingen, wieder andere schmerzlicherweise wieder abgezogen wurden. Und ein weiterer Gegensatz zwischen Ost und West fällt auf: Während im Westen Direktoren lange und beständig in ihren Posten verblieben und so in Ruhe eine Sammlung entwickeln konnten, die dann auch mit ihrer Person verbunden war, wechselten Direktoren – und für diesen Teil Deutschlands muss man hinzufügen: Direktorinnen – im Osten besonders in den ersten Nachkriegsjahren relativ häufig. Die personelle Lage ist fast ebenso unüberschaubar wie die Lage der Kunst. Insgesamt lässt sich feststellen, dass eine Reihe von Direktoren im Westen bereits vor 1933 (und teilweise auch während des Nationalsozialismus) im Amt gewesen ist. Diese personelle Kontinuität steht auch für ein Anknüpfen an die Strömungen moderner Kunst, die bereits vor 1933 in einigen Sammlungen vertreten waren, also vorwiegend an den deutschen Expressionismus. Schon Zeitgenossen bemerkten, dass sich die deutschen Museen auf die deutsche Kunst konzentrierten. Damals nahm man an, dies liege am mangelnden Zugang zur Kunstszene anderer Länder. Vielleicht lag es auch daran, dass das Bedürfnis, sich mit der Kunst anderer Länder zu beschäftigen, noch nicht allzu ausgeprägt war. Es gab überdies politische Gründe. Es sollte nämlich der Nachweis geliefert werden, dass auch die Deutschen eine Moderne gehabt haben, ja, dass auch das kurz zuvor noch blond bezopfte Deutschland modernefähig ist. Wenn also die Alliierten in West und Ost mit ihrer Kunstpolitik erzieherische und ideologische Absichten verfolgten, so gilt das auch für das postnazistische Deutschland selbst, ob im Westen oder im Osten. Man Einleitung

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wollte sich nun auf der Höhe der Zeit präsentieren. Das erklärt die Selbstbezüglichkeit der ersten documenta (1955). Wie ist also im Jahr 1945 wieder angefangen worden? – Indem man, »ohne viele Worte«, die zwölf vorangegangenen Jahre ausklammerte. So kam es, dass so gut wie keine Werke von emigrierten (jüdischen) oder ermordeten Künstlern erworben worden sind. Ausnahmen wie Marc Chagall in Stuttgart oder Doedes Bemühung um Max Ernst und Gert Wollheim und Frankfurts und Bremens um Max Beckmann bestätigen die Regel. Ab Anfang der 1950er Jahre wurde, vielleicht auch unter dem Eindruck der Münchner Bauhaus-Ausstellung, hier und da ein Paul Klee, ein Wassily Kandinsky oder ein Lyonel Feininger angeschafft. Aber ein Ankauf eines Jankel Adler, Otto Freundlich oder Felix Nussbaum ist uns bisher nicht bekannt (dieser Aspekt könnte noch genauer untersucht werden). Die Ausgangsfrage, ob die Sammlung Haubrich Vorbildcharakter gehabt hat, lässt sich umformulieren: Gab es eine Kunstsammlung, die besser in die Nachkriegszeit gepasst, besser deren Zielen gedient hätte als diese? Gegenständlichkeit, deutscher Expressionismus, ein wenig Neue Sachlichkeit und später auch die anerkannten Zeitgenossen, das wollte man sehen, das wollte man zeigen. Der Direktor der Hamburger Kunsthalle, Alfred Hentzen, bemerkte 1955, dass die moderne Abteilung des WallrafRichartz-Museums »an erster Stelle in Deutschland« gestanden habe (seine eigene moderne Abteilung stellte er unbescheidenerweise gleich daneben).2 Ungewöhnlich blieb allerdings, dass Haubrich seine Sammlung nicht verlieh, sondern verschenkte. Zwar hatten auch andere Sammler ihre Kollektion über den Krieg gerettet oder sie sogar erst während des Krieges aufgebaut, in der Regel setzten sie sie in den ersten Nachkriegsjahren bestenfalls als Dauerleihgaben ein, wie Ottomar Domnick 1952 in Stuttgart, oder verkauften sie sogar gewinnbringend, wie Conrad Doebbeke 1949 in Hannover. Neben Haubrichs Schenkung 1946 darf das Vermächtnis des Ehepaars Blome in Bremen im selben Jahr als Ausnahme gelten, das unter anderem Arbeiten der Brücke enthielt und ausdrücklich zur Kompensation der mit der Aktion »Entartete Kunst« verloren gegangenen Werke gedacht war. Dieses Buch versteht sich als eine erste Sondierung des Themas. Wünschenswert wäre eine Ausweitung auf weitere Sammlungen wie die der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, des Museums 14

2 Jenns Howoldt, »Der Gegenwart dienen: Neubeginn nach Kriegsende mit Carl Georg Heise«, in: Die Hamburger Kunsthalle. Bauten und Bilder, Hamburg 1997, S. 107–112, hier S. 108.

Wiesbaden und der kleineren Museen in Baden-Baden, Chemnitz, Duisburg, Erfurt, Freiburg, Hagen, Krefeld, Mainz, Saarbrücken oder Wuppertal, die aus Zeit- und Platzgründen leider fehlen, aber das Bild doch erweitern würden. Eine tiefer gehende Analyse der Kontinuitäten in der Personal- und Kunstpolitik über die Jahre 1933 und 1945 hinaus und der Funktion von deutscher Kunst in der Konstitution des neuen deutschen Staats wäre wünschenswert. Auch eine detailliertere Kenntnis der Rolle von Kunstakademien und universitärer Kunstgeschichte würde die Moderne-Rezeption im Nachkriegsdeutschland vertiefen. Für diese erste Bestandsaufnahme möchten wir uns ganz herzlich bei allen Autorinnen und Autoren bedanken, die in vielen Fällen Pionierarbeit geleistet haben. Ein ebenso großer Dank gilt Astrid Bardenheuer, die die Publikation organisatorisch betreut hat. Last but not least möchten wir uns bei der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, ihrem Vorstand Jürgen Chr. Regge und der Projektmanagerin Dr. Ricarda Bienbeck, bedanken. Sie haben das Projekt von Anfang an unterstützt, indem sie die Mittel für das Symposium bereitgestellt und einen Druckkostenzuschuss beigesteuert haben. Julia Friedrich und Andreas Prinzing, August 2013

Einleitung

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Theoretische Diskurse

Die theoretischen Diskurse über moderne Kunst in der Nachkriegszeit Christoph Zuschlag Die theoretischen Diskurse über moderne Kunst im Deutschland der Nachkriegszeit in einem Aufsatz angemessen zu würdigen, ist unmöglich. So muss ich mich auf Stichworte und Schlaglichter beschränken. Dennoch bin ich froh, dass das Thema hier zur Sprache kommt, weil es mir zum Verständnis des Ausstellungswesens und der Sammlungspolitik der Museen nach 1945 notwendig scheint. Doch wie lassen sich die kunsttheoretischen Diskurse – die Debatten, Kontroversen, Erörterungen, Gespräche – überhaupt greifen, wie und wo kristallisieren sie sich heraus, und wie geht man methodisch bei ihrer Analyse vor? Sicher ist, dass sie im Kontext der politisch-gesellschaftlichen und ökonomisch-sozialen Systeme gesehen werden müssen, innerhalb deren sie sich herausbilden. Sicher ist auch, dass sie von den einzelnen Faktoren des Kunstsystems geprägt werden, also von dem Geflecht aus berufsständischen Vereinigungen und Künstlergruppen, Kunstkritik und Publizistik, Kunsthändlern und -sammlern, Ausstellungswesen und musealer Ankaufspolitik, und dass die Künstlerausbildung dabei ebenso eine Rolle spielt wie die öffentliche Kunstförderung. Kunsttheoretische Diskurse entstehen nicht im luftleeren Raum, weswegen im Folgenden auch viel die Rede von Künstlergruppen, Ausstellungen und Publikationen sein wird. Die vier Besatzungszonen und die Entwicklung in Ost und West Die Kulturpolitik und die kunsttheoretischen Diskurse entwickelten sich in den ersten Nachkriegsjahren in den vier Besatzungszonen unterschiedlich. Obwohl viele Städte bis weit in die 1950er Jahre zerstört waren und es der Bevölkerung an lebensnotwendigen Gütern mangelte, begann man sofort nach Kriegsende mit dem Wiederaufbau der Städte, der Infrastruktur und damit auch der kulturellen Institutionen. So wurde schon am 3. Juli 1945 in Berlin der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands gegründet. Zum ersten Präsidenten wurde Johannes R. Becher gewählt (der spätere erste Minister für Kultur der DDR), zu einem der Vizepräsidenten der Maler Karl Hofer. 18

Zu Beginn war der Kulturbund eine interzonale und überparteiliche Einrichtung, die zahlreiche Veranstaltungen, insbesondere Ausstellungen, organisierte. Nach Gründung der DDR diente er der SED zur Schaffung einer sozialistischen Kultur. Ebenfalls in Berlin eröffnete im August 1945 die Galerie Gerd Rosen als erste private Kunstgalerie nach dem Krieg. In Köln eröffneten Ende 1945 die Galerie »Der Spiegel« von Eva und Hein Stünke und die Moderne Galerie des Künstlers Erich Mueller-Kraus.1 In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) entwickelte sich Dresden zu einem kulturellen Zentrum. Hier gründeten bereits im November 1945 Edmund Kesting, Hermann Glöckner, Helmut Schmidt-Kirstein und andere Künstler die Gruppe Der Ruf. Es war die erste Künstlergruppe in der SBZ nach dem Zweiten Weltkrieg. Die an der klassischen Moderne und sozialistischen Ideen orientierte Gruppe bestand bis 1948. Nach ihrer Auflösung schlossen sich einige Mitglieder der im März 1947 ebenfalls in Dresden gegründeten Gruppe Das Ufer an.2 1946 fand in Dresden die Allgemeine Deutsche Kunstausstellung statt, an die sich ein Kunstkongress anschloss.3 Einer der Veranstalter war der erwähnte Kulturbund. Dieser Ausstellung kommt ein hoher Rang zu, war sie doch die erste und wegen des bald beginnenden Kalten Krieges gewissermaßen auch letzte gesamtdeutsche Kunstausstellung nach dem Krieg. Sie versammelte knapp 600 Werke der klassischen Moderne sowie Beispiele des aktuellen Kunstschaffens aus fast dem ganzen Land (die vorgesehenen Arbeiten aus der Britischen Besatzungszone konnten diese aus ungeklärten Gründen nicht verlassen). Damit sollte zum einen die während der NS-Herrschaft verfemte Moderne rehabilitiert und zum anderen ein Querschnitt durch die jüngste Kunstproduktion gezeigt werden. Die Schau wurde in Presse und Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Hans Grundig, Rektor der Staatlichen Kunsthochschule in Dresden und Mitglied der Jury, schrieb: »Die Probleme der Malerei, der bildenden Kunst überhaupt, ob realistisch oder abstrakt, ob zeitnahe und für unsere künftige Kunstgestaltung entwicklungsfähig, das sind die Fragen. Alles dies ist zu klären notwendig. Aber daß diese Ausstellung überhaupt zur Tatsache werden konnte [...], ist wohl das Besondere und Positive. Zum ersten Male seit 1933 eine beinahe vollständige Übersicht über das Schaffen Deutschlands und zum ersten Male eine Interzonenschau von großer Bedeutung, die klärend über die Grenzen hinweg den Weg zur Einheit Deutschlands weist.«4 Doch der Weg führte bekanntermaßen keineswegs zur Einheit Deutschlands, sondern im Gegenteil zur Spaltung. Theoretische Diskurse

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1 Vgl. 1945–1985. Kunst in der Bundes­ republik Deutschland, hrsg. von der Nationalgalerie Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Ausst.-Kat. Nationalgalerie Berlin, Berlin 1985, S. 454 f. Daniela Wilmes, Wettbewerb um die Moderne. Zur Geschichte des Kunsthandels in Köln nach 1945, Berlin 2012, S. 107–115.

2 Vgl. Petra Jacoby, Kollektivierung der Phantasie? Künstlergruppen in der DDR zwischen Vereinnahmung und Erfindungsgabe, Bielefeld 2007. 3 Vgl. Kurt Winkler, »Allgemeine Deutsche Kunstausstellung«, in: Stationen der Moderne. Die bedeutenden Kunstausstel­ lungen des 20. Jahrhunderts in Deutsch­ land, Ausst.-Kat. Berlinische Galerie im Martin-Gropius-Bau Berlin 1988–89, Berlin 1988, S. 352–360. Kathleen Schröter, »Kunst zwischen den Systemen. Die ›Allgemeine Deutsche Kunstausstellung« 1946 in Dresden‹«, in: Nikola Doll u. a. (Hrsg.), Kunstgeschichte nach 1945. Kontinuität und Neubeginn in Deutschland, Köln u. a. 2006, S. 211–237.

4 Zit. nach 1945-1985. Kunst in der Bundesrepublik Deutschland (wie Anm. 1), S. 457.

Zum Kunstkongress schreibt Grundig: »Abstrakte oder realistische Kunst, das war die Frage, aber noch ist der Fall nicht restlos geklärt.«5 Es waren die SED und die Sowjetische Militäradministration, die für die SBZ die Frage nach der zukünftigen Kunst »klärten«. Unter deren Einfluss wurde den Künstlern zunehmend das Beispiel der Sowjetunion mit ihrem Sozialistischen Realismus nahegelegt, während alles andere als »bürgerlich dekadente«, »volksfremde« und »formalistische« Kunst abgelehnt wurde. Der einflussreiche sowjetische Kulturoffizier Major Alexander Dymschitz eröffnete am 24. November 1948 mit einem Artikel in der Täglichen Rundschau, dem Organ der Sowjetischen Militäradministration, eine Kampagne gegen den sogenannten Formalismus und die gesamte moderne Kunst.6 Der Formalismusvorwurf traf abstrakte Strömungen ebenso wie Anknüpfungen an den Expressionismus, wie man sie etwa im Werk Karl Hofers beobachten kann. Stattdessen forderte die SED eine realistische, »volksnahe« Kunst, die den Aufbau des Sozialismus bejahte und optimistisch unterstützte. Ministerpräsident Otto Grotewohl machte am 1. September 1951 unmissverständlich klar: »Literatur und bildende Kunst sind der Politik untergeordnet [...]. Die Idee in der Kunst muß der Marschrichtung des politischen Kampfes folgen.[...] Was sich in der Politik als richtig erweist, ist es auch unbedingt in der Kunst.«7 Auch in den westlichen Besatzungszonen kam es bald nach Kriegsende zur Gründung von Künstlergruppen, deren Aktivitäten die kunsttheoretischen Diskurse der Zeit maßgeblich prägten. Diese Gruppen bestanden oft nur wenige Jahre, boten ihren Mitgliedern aber in der schwierigen Nachkriegszeit wichtigen Rückhalt. Erwähnt seien etwa die Westfälische Sezession 1945 in Hagen und die Rheinische Künstler-Gemeinschaft in Köln.8 In Düsseldorf wurde die Rheinische Sezession 1946 wiedergegründet (sie war 1938 verboten worden). »Eine der vitalsten und vielleicht auch folgenreichsten Künstlervereinigungen der Nachkriegszeit«9 war der junge westen, gegründet 1948 in Recklinghausen von Thomas Grochowiak, Emil Schumacher und anderen Künstlern. Die Gruppe war abstrakt ausgerichtet und suchte den Anschluss an die internationale Avantgarde. 1962 löste sie sich auf, der Kunstpreis junger westen wird bis heute alle zwei Jahre verliehen. Ebenfalls ungegenständlich arbeitende, vorwiegend ältere Künstler (darunter Willi Baumeister und Rupprecht Geiger) bildeten 1949 in München die Vereinigung ZEN 49.10 Initiator war der britische Konsul und spätere Kunstkritiker John Anthony Thwaites.11 Eine von der Gruppe 1956/57 durchgeführte 20

5 Zit. nach Winkler 1988 (wie Anm. 3), S. 359.

6 Vgl. zur Formalismuskampagne Eckhart Gillen, Das Kunstkombinat DDR. Zäsuren einer gescheiterten Kunstpolitik, hrsg. vom Museumspädagogischen Dienst Berlin, Köln 2005, S. 34–40.

7 Zit. nach ebd., S. 36. 8 Vgl. Hans M. Schmidt, »›Eine Gemeinschaft Einsamer, eine Verbundenheit Selbständiger‹. Künstlervereinigungen der Nachkriegszeit«, in: Aus den Trümmern. Kunst und Kultur im Rheinland und in Westfalen 1945–1952. Neubeginn und Kontinuität, hrsg. von Klaus Honnef und Hans M. Schmidt, Ausst.-Kat. Rheinisches Landesmuseum Bonn u. a., Köln und Bonn 1985, S. 423–431. Vgl. ferner Christoph Zuschlag, »Künstlergruppen in Deutschland: ZEN 49, Gruppe 53«, in: ders., »Informel – Ecole de Paris – Abstract Expressionism – Cobra. Die Sammlung Kraft Bretschneider in der Stiftung Kunst und Recht«, in: Donata Bretschneider (Hrsg.), Tendenzen der abstrakten Kunst nach 1945. Die Sammlung Kraft Bretschneider in der Stiftung Kunst und Recht, Tübingen, Heidelberg 2003, S. 9–35, hier S. 22–25. 9 Schmidt 1985 (wie Anm. 8), S. 425. 10 Vgl. ZEN 49. Die ersten zehn Jahre– Orientierungen, hrsg. von Jochen Poetter, Ausst.-Kat. Baden-Baden 1986–87, Stuttgart-Bad Cannstatt [1986]; Beate Frosch, Die Künstlergruppe ZEN 49 und ihr Beitrag zur Entwicklung der gegenstandslosen Kunst in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1957, Regensburg 1992; Iris Buchheim und Cathrin Klingsöhr-Leroy, ZEN 49. Fragmente der Erinnerung, Ausst-Kat. München 1999–2000, Ostfildern [1999]. 11 Vgl. Christoph Zuschlag, »›Vive la critique engagée!‹. Kunstkritiker der Stunde Null: John Anthony Thwaites (1909–1981)«, in: Brennpunkt Informel. Quellen – Strömungen – Reaktionen, hrsg. von Christoph Zuschlag u. a., Ausst.Kat. Kurpfälzisches Museum der Stadt Heidelberg und Heidelberger Kunstverein 1998–99, Köln 1998, S. 166–172. Beate Eickhoff, John Anthony Thwaites und die Kunstkritik der 50er Jahre, Weimar 2004.

Ausstellungstournee durch die USA markierte den Höhepunkt und zugleich in etwa das Ende von ZEN 49. Figuration versus Abstraktion Der zentrale kunstkritische und -theoretische Diskurs kreiste ohne Zweifel um das Thema gegenständlich-figurative versus abstrakt-ungegenständliche Kunst. Eine der frühesten Manifestationen der abstrakten Kunst nach 1945 ereignete sich im Rheinland. Auf Schloss Alfter bei Bonn bildete sich 1947 die Donnerstag-Gesellschaft, ein loser Zusammenschluss von Malern, Schriftstellern und Musikern, die bis 1950 zu Lesungen, Vorträgen, Diskussionen, Konzerten und Ausstellungen einluden.12 Am 20. Juli 1947 veranstaltete sie einen Tag der Abstrakten Kunst — wohl die allererste Ausstellung abstrakter Kunst nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland. Sie umfasste 32 Arbeiten von Eugen Batz, Hubert Berke, Joseph Fassbender, Georg Meistermann, Erich Mueller-Kraus und Hann Trier. Die Begrüßung übernahm Josef Haubrich, den Eröffnungsvortrag Werner Haftmann. Als um die Jahreswende 1948/49 die von dem Stuttgarter Sammler Ottomar Domnick organisierte Wanderausstellung französischer abstrakter Malerei in Düsseldorf Station macht, schreibt Anna Klapheck in der Westdeutschen Rundschau: »Der Durchbruch der abstrakten Kunst in allen Ländern muß als Tatsache hingenommen werden.«13 Ich hatte eingangs die Frage gestellt, wie sich die kunsttheoretischen Diskurse überhaupt greifen lassen. Ein für diese Epoche signifikantes Format war das öffentliche Expertengespräch, das häufig in Verbindung mit einer Ausstellung organisiert wurde und durch Funk und Fernsehen eine breite Öffentlichkeit erreichte. Die Verschiebung der Diskurse in den fünfziger Jahren lässt sich wie in einem Nukleus an drei Gesprächen in Darmstadt (1950), Leverkusen (1956) und Baden-Baden (1959) nachvollziehen. Das Darmstädter Gespräch 1950 1950 fand in Darmstadt auf der Mathildenhöhe die von der Neuen Darmstädter Sezession organisierte Ausstellung das menschenbild in unserer zeit statt. Im Katalog schreibt Adolf Schmoll gen. Eisenwerth: »Im Streit um das Menschenbild der Gegenwart stehen sich [...] nicht nur die Vertreter verschiedener persönlicher Meinungen gegenüber, sondern diejenigen verschiedener Epochen, um nicht pathetisch zu sagen: verschiedener Welten. [...] Das einzig Sichere bleibt die Erkenntnis von einer umstürzenTheoretische Diskurse

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12 Vgl. Die Donnerstag­Gesellschaft Alfter 1947–1950. Eine Dokumentation von Frank-R. Hildebrandt und Jens Scholz, Düsseldorf 1997; Hans M. Schmidt, »Die Donnerstag-Gesellschaft zu Alfter. Eine ungewöhnliche Kultur-Initiative der Nachkriegszeit«, in: Dieter Breuer und Gertrude Cepl-Kaufmann (Hrsg.), Öffent­ lichkeit der Moderne – Die Moderne in der Öffentlichkeit. Das Rheinland 1945–1955. Vorträge des interdisziplinären Arbeits­ kreises zur Erforschung der Moderne im Rheinland, Essen 2000, S. 141-156. Vgl. auch Wilmes 2012 (wie Anm. 1), S. 149–158.

13 Westdeutsche Rundschau, 15. Januar 1949. Zit. nach Gabriele Lueg, Im Spiegel der Presse. Die Kunstkritik in der Nach­ kriegszeit, in: Honnef und Schmidt 1985 (wie Anm. 8), S. 443–449, hier S. 444.

den Wandlung. Das Menschenbild ist in ihren Strudel gerissen worden. Am jenseitigen Ufer erhebt sich die ›absolute‹, ›ungegenständliche‹ Kunst – für die einen die Erscheinung des schrecklich Sinnleeren oder gar Sinnlosen, für die anderen das SchöpferischBefreiende [...].«14 Im Rahmen der Ausstellung fand vom 15. bis 17. Juli 1950 eine Gesprächsrunde statt, die als Erstes Darmstädter Gespräch in die Geschichte eingehen sollte.15 An ihm nahmen führende Künstler und Kunstkritiker, aber auch Wissenschaftler anderer Disziplinen teil. Exemplarisch seien genannt der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno und der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich. Hauptkontrahenten waren der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr und Willi Baumeister. Sedlmayrs in den 1930er Jahren begonnene Studie Verlust der Mitte mit dem Untertitel Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit erschien 1948 in der ersten und 1951 bereits in vierter Auflage, der rasch weitere folgen sollten. Das Buch fand auch als Taschenbuch weite Verbreitung und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Von einem konservativ-kulturkritischen, religiös geprägten Standpunkt aus beschreibt Sedlmayr mit medizinischem Vokabular die Entwicklung der Kunst vom späten 18. Jahrhundert bis zur Moderne als die eines allmählichen Verfalls, die ihre Ursache in einer zunehmenden Entfernung von einem geordneten, christlich bestimmten Weltbild mit festen Leitbildern und Werten habe. In der Abstraktion und dem Verlust des Menschenbildes habe dies schließlich zum »Verlust der Mitte« geführt und folglich zu einer exzentrischen, chaotischen Kunst: »Die Kunst strebt fort vom Menschen, vom Menschlichen und vom Maß.«16 Sedlmayrs Antipode auf der Seite der Befürworter der Abstraktion war Willi Baumeister, Professor an der Stuttgarter Kunstakademie und ZEN 49-Gründungsmitglied, dessen ebenfalls in den Kriegsjahren verfasstes Buch Das Unbekannte in der Kunst 1947 erschienen war. Baumeister sah die Entwicklung der bildenden Kunst »als eine fortschreitende Befreiung von Religion, Auftrag und Inhalt. Für Baumeister stellte die abstrakte Kunst »die höchste Stufe der bisherigen Kunstentwicklung dar [...]«.17 Der Künstler plädierte für eine ethisch motivierte, gegenstandsfreie Kunst, die zum Unbekannten vorstößt: »Der originale Künstler verläßt das Bekannte und das Können. Er stößt bis zum Nullpunkt vor. Hier beginnt sein hoher Zustand«.18 Im Darmstädter Gespräch kulminierte die zentrale kunsttheoretische Debatte der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der Hessische Rundfunk schnitt das Gespräch mit und sendete an zwei Terminen Ausschnitte daraus. 22

14 Adolf Schmoll gen. Eisenwerth, »Zur Ausstellung ›Das Menschenbild in unserer Zeit‹«, in: das menschenbild in unserer zeit, Ausst.-Kat. Mathildenhöhe Darmstadt, Darmstadt [1950], o. S.

15 Vgl. Hans Gerhard Evers (Hrsg.), Das Menschenbild in unserer Zeit, Darmstadt [1950].

16 Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhun­ derts als Symptom und Symbol der Zeit, ungekürzte Ausgabe nach der 10. Auflage, Frankfurt am Main und Berlin 1988, S. 148.

17 Philipp Gutbrod, »Werner Haftmanns Einführung im Katalog der ›documenta 2‹«, in: Michael Glasmeier und Karin Stengel (Hrsg.), archive in motion. documenta­ Handbuch. documenta manual, Ausst.-Kat. Kunsthalle Fridericianum Kassel, Göttingen 2005, S. 191–200, hier S. 192. Vgl. auch ders., »Baumeister versus Sedlmayr. Die Kontroverse um Kunst und Religion im ersten Darmstädter Gespräch (1950)«, in: Kirsten Fitzke und Zita Ágota Pataki (Hrsg.), Kritische Wege zur Moderne. Festschrift für Dietrich Schubert, Stuttgart 2006, S. 43–67. 18 Willi Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst, Stuttgart 1947, S. 155.

Das Leverkusener Gespräch 1956 Ein anderes Gespräch geriet unverdientermaßen fast in Vergessenheit: das Leverkusener Gespräch.19 Auch dieses stand in Verbindung mit einer Ausstellung. Vom 28. November 1956 bis 2. Januar 1957 fand im Museum Morsbroich der Stadt Leverkusen die Ausstellung Malerei und Plastik in Westdeutschland 1956 statt. Das Unternehmen war hochambitioniert, ging es doch um eine Bestandsaufnahme der aktuellen Kunst in der Bundesrepublik. Veranstalter war der Westdeutsche Künstlerbund. Dessen Vorsitzender Wilhelm Wessel schrieb in seinem Katalogvorwort, die Ausstellung wolle »Tendenzen der westdeutschen Kunst von heute sichtbar« machen, wobei eine »jüngere Schicht« von Künstlern im Vordergrund stehe.20 Ungegenständlich arbeitende Künstler dominierten, wenngleich mit Erich Heckel auch ein Repräsentant des Brücke-Expressionismus vertreten war. Von Anfang an hatte Wessel geplant, ausländische Experten um eine schriftliche Begutachtung der Ausstellung zu bitten und diese zusammen mit Pressekritiken zu veröffentlichen. Die Stellungnahmen sowie die aus- und inländische Presse wurden 1957 in einer eigenen Broschüre dokumentiert.21 Bereits drei Tage nach Eröffnung trafen auf Einladung Wilhelm Wessels im Museum renommierte Kunstexperten aus mehreren europäischen Ländern zusammen: die Kunsthistoriker und -kritiker Ernest Goldschmidt (Brüssel), Will Grohmann (Berlin), Giuseppe Marchiori (Venedig), Herbert Read (London), Michel Tapié (Paris) und Herta Wescher (Paris), sodann die Museumsleiter Pierre Janlet (Brüssel), Franz Meyer (Bern), Willem J. H. B. Sandberg (Amsterdam) und Georg Schmidt (Basel) sowie der Galerist Rodolphe Stadler (Paris). Nach einem Rundgang diskutierten die Experten die Fragen, ob der Durchbruch der ungegenständlichen Kunst nach 1945 in den verschiedenen Ländern als Ausdruck der Befreiung zu verstehen sei, ob innerhalb der internationalen Bewegung in den verschiedenen Ländern nationale Wesenszüge zu erkennen seien und ob die deutsche Kunst die durch die NS-Zeit bedingte Phase der Isolierung überwunden habe. Sie waren überwiegend der Meinung, dass die (ungegenständliche) Kunst der Gegenwart insgesamt eher international denn national oder regional sei und dass Deutschland elf Jahre nach Kriegsende wieder den Anschluss an die internationale Avantgarde gefunden habe. Die Frage, ob der Durchbruch der Abstraktion nach 1945 Ausdruck der »libération« sei, beantwortete zum Beispiel Georg Schmidt »für Deutschland und Italien mit einem klaren Ja«. Zugleich warnte er davor, »den Geist Theoretische Diskurse

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19 Vgl. 1945–1985. Kunst in der Bundes­ republik Deutschland (wie Anm. 1), S. 499; Christoph Zuschlag, »Zur Debatte um ungegenständliche Kunst in den 50er Jahren: Das ›Leverkusener Gespräch‹«, in: Doll u. a. 2006 (wie Anm. 3), S. 183–194.

20 Wilhelm Wessel, in: Malerei und Plastik in Westdeutschland 1956, Ausst.-Kat. Museum Morsbroich der Stadt Leverkusen, Bonn [1956], o. S.

21 Dokumentation Westdeutscher Künstler­ bund – Die Meinungen ausländischer Experten und die Meinungen deutscher Kunstkritiker – zur Ausstellung ›Malerei und Plastik in Westdeutschland‹ 1956, Leverkusen, Hagen 1956.

der ›libération‹ mit dem Geist der ungegenständlichen Kunst zu identifizieren und die ›libération‹ gar als Vater der ungegenständlichen Kunst zu bezeichnen. Die ›libération‹ war vielmehr ein Sammelbecken sämtlicher von den Diktaturen verfolgten geistigen Bewegungen.« Auch Ernest Goldschmidt bestritt, dass die Abstraktion eine Folge der Befreiung gewesen sei, vielmehr habe diese lediglich neuen Schwung in eine bereits seit Anfang des Jahrhunderts sich entwickelnde Richtung gebracht.22 Anschließend fuhren die Kritiker nach Köln, wo im WDR ein Rundfunkgespräch über diese Fragen stattfand, das mit einer Einführung und einem Schlusswort von Carl Linfert am Abend des 1. März 1957 gesendet wurde.23 Das Baden-Badener Gespräch 1959 Unter der Fragestellung: »Wird die moderne Kunst ›gemanagt‹?« veranstaltete der Verlag der Zeitschrift Das Kunstwerk Ende Oktober 1959 – die II. documenta hatte gerade ihre Pforten geschlossen – in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden das erste von mehreren geplanten öffentlichen Baden-Badener Kunstgesprächen, das zum Teil als Fernsehgespräch mit Publikumsbeteiligung stattfand und nach Aussage der Veranstalter auf »ein überraschendes Echo im In- und Ausland«24 stieß. Teilnehmer waren unter anderem der Philosoph Max Bense, der Soziologe Arnold Gehlen, der Künstler HAP Grieshaber, der Kunsthändler DanielHenry Kahnweiler, der Sammler Karl Ströher, der Kunstkritiker Egon Vietta und der Kunsthistoriker Leopold Zahn. Die Gegner der abstrakten Kunst wie Hans Sedlmayr hatten die Einladung abgelehnt, der Beitrag von Theodor W. Adorno wurde in dessen Abwesenheit verlesen. Anlass der Debatte war die in den Medien geäußerte Kritik an der Jury des in Baden-Baden vergebenen Ersten Deutschen Kunstpreises der Jugend. Der Vorwurf lautete, die Künstlermitglieder stünden überwiegend dem Tachismus nahe und der künstlerische Nachwuchs solle, so Egon Vietta in der Zeitschrift Das Kunstwerk, »in dirigistischer Weise im Sinne einer sehr einseitig orientierten künstlerischen Ausdrucksform beeinflußt werden«.25 Ein weiterer Auslöser war zweifellos die II. documenta. An ihr wurde die Bevorzugung ungegenständlicher Richtungen ebenso kritisiert wie die Einflussnahme durch Kunsthändler, die als wichtige Leihgeber fungierten. Den im Raum stehenden Vorwurf der Manipulation durch Kunstmarkt und Kunstbetrieb brachte ein Teilnehmer in Baden-Baden mit den Worten auf den Punkt: »Die Nichtgegenständlichen werden gemanagt, die Gegenständlichen nicht — siehe documenta II —, da sitzt das Unbehagen!«26 24

22 Zitatnachweise bei Zuschlag 2006 (wie Anm. 19), S. 189.

23 Eine Aufzeichnung befindet sich im Archiv des WDR in Köln.

24 Vorbemerkung des Verlags, in: Wird die moderne Kunst gemanagt? Baden-Baden und Krefeld 1959, S. 7. Vgl. jüngst Hendrik Bündge, »Die Documenta als Katalysator für Kunst und Gesellschaft«, in: Bilderbe­ darf. Braucht Gesellschaft Kunst? The Civic and the Arts, hrsg. von Johan Holten, Ausst.-Kat. Staatliche Kunsthalle BadenBaden, Köln 2012, S. 35–49, hier S. 45 f. Hingewiesen sei auf die titellose Zeichnung von Marcel van Eeden aus dem Jahr 2009, die den Schriftzug »WIRD DIE MODERNE KUNST ›GEMANAGT‹?« unter einer von einer Gabel aufgespießten Wurst zeigt. Vgl. die Abb. in: Michael Zink, Marcel van Eeden. Wird die moderne Kunst »gemanagt«? Zeichnungen und Malerei 1992–2009, Köln [2009], S. 314.

25 Zit. nach 1945­1985. Kunst in der Bundesrepublik Deutschland (wie Anm. 1), S. 510. Preisträger war Friedrich Werthmann. Weitere Auszeichnungen erhielten Horst Antes, Emil Cimiotti, Otto Piene und Heimrad Prem (vgl. ebd.).

26 Wird die moderne Kunst gemanagt? (wie Anm. 24), S. 93.

Fazit und Ausblick Auch wenn ich hier nur einen sehr kursorischen Blick auf das Thema werfen konnte, so zeigt sich doch Folgendes: Der zentrale kunsttheoretische Diskurs der Zeit kreiste um die Frage Figuration oder Abstraktion. In der SBZ bestimmten die Sowjetische Militäradministration und die SED den Diskurs – »Formalismuskampagne« und »Sozialistischer Realismus« lauten die Stichworte. Im Westen kulminierte die Auseinandersetzung um gegenständliche und ungegenständliche Kunst und um das Menschenbild in der Moderne zum ersten Mal im Darmstädter Gespräch 1950. Beim Leverkusener Gespräch Ende 1956, ein Jahr nach der ersten documenta, war die historische und kunsthistorische Situation schon eine gänzlich andere. In den Pariser Verträgen vom 5. Mai 1955 hatten die Westmächte die BRD in die Unabhängigkeit entlassen und ihr die Aufstellung eigener Streitkräfte im Rahmen der Westeuropäischen Union und der NATO ermöglicht. Bundeskanzler Konrad Adenauer setzte seine Politik der Westintegration fort. Außenpolitisch wuchs die Rolle der BRD in der internationalen Staatengemeinschaft, während die Wirtschaft im Lande prosperierte (»Wirtschaftswunder«). Es waren die Jahre des Kalten Krieges, in dem auch die Kunst instrumentalisiert wurde (und zwar in beiden deutschen Staaten). In Leverkusen wurde die mittlerweile dominierende Rolle der ungegenständlichen Kunst nicht mehr bezweifelt. Ziel war es zu demonstrieren, dass die deutsche Kunst wieder Anschluss an die internationale Avantgarde gefunden hatte, und dies sollte durch die Sicht von außen bestätigt werden. Während es in Darmstadt in heftigen Diskussionen um die Alternative gegenständliche oder ungegenständliche Kunst ging und man darin regelrecht zwei gegensätzliche Ideologien sah, herrschte in Leverkusen weitgehend Harmonie. Hier hatten sich Befürworter und Förderer nichtfigurativer Kunst zusammengefunden, deren Anschauungen in einzelnen Punkten differierten, nicht aber grundsätzlich voneinander abwichen. 1959, im Jahr des Baden-Badener Gesprächs, standen erneut andere Fragen im Mittelpunkt der Diskurse. Im selben Jahr hatte Werner Haftmann für die II. documenta die nicht unumstrittene Devise »Die Kunst ist abstrakt geworden«27 ausgegeben. Die junge deutsche Kunst war in Kassel ganz selbstverständlich als Teil der internationalen Avantgarden gezeigt worden. Vom Gefühl der Isolation also keine Spur mehr. In Baden-Baden rückte nun erstmals der ökonomische Aspekt, in den Mittelpunkt. Die Kritiker der Abstraktion bzw. deren vermeintlich einseitiger Bevorzugung warfen Handel und Kunstbetrieb Dirigismus und Manipulation vor. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die künstlerische Avantgarde längst in andere Richtungen bewegt — »Neue Figurationen« hatten sich manifestiert, die Gruppen Zero und Spur sich gebildet, und nur wenig später sollte die Fluxus-Bewegung Kunstbegriff und Kunstbetrieb gehörig aufmischen. Theoretische Diskurse

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27 Werner Haftmann, Malerei nach 1945. Einführung, in: II. documenta ‘59. Kunst nach 1945, Ausst.-Kat. Kassel, Band 1: Malerei, Köln [1959], S. 11–19, hier S. 17. Vgl. jüngst Werner Haftmann, Das antwor­ tende Gegenbild. Ausgewählte Texte 1947–1990, hrsg. von Evelyn Haftmann, München 2012.

Standortbestimmung und Vergangenheitsbewältigung Die documenta 1955 als »Staatsaufgabe« Harald Kimpel Die Kasseler documenta gilt als die weltweit bedeutendste Ausstellungsreihe für Gegenwartskunst. Ihr Anspruch war jahrzehntelang zugleich ihr mythenbildendes Alleinstellungsmerkmal im internationalen Kunstbetrieb: die immer wieder selbstgestellte, gleichwohl ungeschriebene und selbstverständlich stets umstrittene Aufgabe einer regelmäßig wiederkehrenden Definition des künstlerischen Kanons des Zeitgenössischen. Auch bei dieser (schließlich zur Institution verfestigten) Privatinitiative fing alles ohne viele Worte an. Für diese engagierte man, als das Projekt Gestalt anzunehmen begann, den durchaus wortgewaltigen Werner Haftmann. Nicht, dass Arnold Bode, dem Gründungsheros der documenta, 1955 die Worte gefehlt hätten. Doch war seine typische assoziativ-eruptive Diktion nicht immer geeignet, außerkünstlerische Kreise (die »unzuständigen Zuständigen«, wie er Kulturpolitiker und andere Repräsentanten des Administrativen einmal schmähte) von Relevanz und Würde seines Ausstellungsvorhabens zu überzeugen und sie zur Freigabe ihrer öffentlichen Mittel zu bewegen. Hierfür spielten andere Argumente eine Rolle: solche, die die Ur-documenta mit einer kulturpolitischen Dimension ausstatteten, die sie für die Selbstdarstellung der jungen Bundesrepublik in höchstem Maße willkommen machte. Bode, der Kasseler Malereiprofessor, notorische Umweltverbesserer und Kreuz-und-Querdenker war also eher ein Macher als ein Sager, und was er zu sagen hatte, bezog sich zumeist auf das Machen: »Ich musste aus Kassel etwas machen, um nicht unterzugehen«, sagte er zum Beispiel als Begründung für die Unternehmung, die sein Lebenswerk begründen sollte.1 Und was er dann machte, ging weit über eine ästhetische Sanierung seines urbanen Umfeldes, einer im Weltkrieg untergegangen Stadt, hinaus. Es sollte schließlich darin gipfeln, eine aus den Fugen geratene Welt zumindest künstlerisch wieder in Ordnung zu bringen. Und das Medium dafür war jene großangelegte Übersichtsausstellung, die 1955 im kriegszerstörten Museum Fridericianum 26

1 Arnold Bode / Hans Dieter Baumann (Interview), »Ich musste aus Kassel etwas machen, um nicht unterzugehen«, in: Hans Dieter Baumann u. a. (Hrsg.): Kunst und Medien. Materialien. zur documenta 6, Kassel 1977, S. 139–142.

den »Grundriss« der europäischen Kunstentwicklung seit Beginn des 20. Jahrhunderts »aufblenden« sollte. Die Titelerfindung war bereits Programm: Signalisiert werden sollte mit ihr, dass es um objektive Dokumentation und Bilanz, um die »interesselose« Aufarbeitung von Entwicklungen, um wertungsfreies Registrieren ästhetischer Ist-Zustände ging. Zehn Jahre nach Kriegsende bedeutete diese Parade des Besten einer Jahrhunderthälfte nicht nur eine Strukturverbesserungsmaßnahme in einem wirtschaftlichen und kulturellen Notstandsgebiet des Zonenrands, sondern sie nahm, wie Haftmann betonte, den Charakter einer »Staatsaufgabe im eigentlichen Sinne«2 an. Ausgeführt wurde diese (wie immer, wenn es in Deutschland Wichtiges umzusetzen gilt) von einem eigens zu diesem Zweck ins Leben gerufenen Verein namens »Gesellschaft für Abendländische Kunst des XX. Jahrhunderts«, wobei die pathetisch-brisante Abendland-Vokabel mit einiger Naivität als Synonym für Europa gedacht war. Obwohl sie sich als »internationale« definierte, besaß die Ausstellung 1955 doch in erster Linie eine nationale Orientierung. Drei zentrale Funktionen (und zugleich zentrale Stichworte der Zeit) waren es, die sich mit der frühen documenta-Ambition verbanden: Aufgaben, die, unter dem Begriff »Vergangenheitsbewältigung« zusammengeführt, das Unternehmen zu einer »historischen Notwendigkeit«3 nobilitierten und in den Fokus staatlicher Interessen und Fördermöglichkeiten manövrierten. Als Grundmotivation lag der Ausstellung die These vom »Nachholbedarf« zugrunde. Gemeint war damit jenes kulturpolitische Handlungsmodell der Nachkriegszeit, dem zufolge Deutschland während der vergangenen zwölf Jahre von den künstlerischen Entwicklungen in den übrigen europäischen Ländern abgeschnitten gewesen sei. Folglich hatte es der neuen Demokratie darum zu gehen, über die verpassten künstlerischen Innovationen der als »verloren« erachteten Jahre zu informieren. Unmittelbar damit verknüpft war die Idee der »Standortbestimmung«. Sie zielte auf die von Bode wiederholt gestellte Doppelfrage: »Wo steht die Kunst heute? – Wo stehen wir heute?« Mitte der 1950er Jahre diente das Unternehmen also der Suche nach einer gesamtgesellschaftlich akzeptablen Ausgangsposition für künftige kulturelle Tätigkeit: »Standpunkte gewinnen« hieß das in der Diktion Bodes. Kreative Gegenwart – so das Credo der Ausstellungsmacher – ist nur möglich durch Wiedergewinnung einer undiskreditierten Vergangenheit. Theoretische Diskurse

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2 Interview des Verfassers mit Werner Haftmann, März 1983 in Gmund.

3 Friedrich Johann, »4. documenta«, in: 4. documenta, Inter Nationes, Bad Godesberg 1968, S. 5.

Das Projekt documenta versuchte daher den Brückenschlag über den Abgrund eines »absurden Anachronismus«, wie Haftmann die überwundene Phase nationalsozialistischer Kunstdiktatur marginalisierte. Die Bestandsaufnahme der ersten Jahrhunderthälfte nährte die Illusion des bruchlosen Wiederanknüpfens, eines Weitermachenkönnens genau dort, wo die kulturellen Traditionslinien gewaltsam unterbrochen worden waren: an dem Punkt, an dem sich Deutschland von der ästhetischen Evolution in der restlichen Welt abgekoppelt und in die Sackgasse eines idealistischen Naturalismus verrannt hatte. Deutschland – zumindest mit seinem westlichen Teil – wieder auf der Höhe des internationalen kulturellen Geschehens: Mit dieser »Wir-sind-wieder-wer«-Gebärde sollte die Konkurrenzfähigkeit der nun auch künstlerischen Warenproduktion »Made in Germany« dokumentiert werden. Welches Selbstbewusstsein diese Positionsbestimmung beseelte, lässt sich exemplarisch an der Bedeutungsregie im Hauptsaal des Fridericianums ablesen, wo einem Hauptwerk Pablo Picassos ein eigens für diese Triumphgeste hergestelltes monumentales Gemälde Fritz Winters gleichrangig gegenübergestellt wurde – eine Konfrontation, die unübersehbar den Gleichberechtigungsanspruch der einheimischen Nachkriegsabstraktion zu dokumentieren gedacht war. Die dritte Hauptaufgabe bestand in der Selbstbeauftragung mit der Rehabilitation der in der Ausstellung Entartete Kunst verfemten Künstler und Werke. Das machte die documenta zu einem Kernstück bundesdeutscher »Wiedergutmachungskultur« (Heinrich Klotz). Das Projekt konnte wahrgenommen werden als Gegendemonstration zu den Diffamierungsmethoden des Faschismus: Von 58 gezeigten deutschen Künstlerinnen und Künstlern wurden 31 von den berüchtigten Zurschaustellungen missbraucht. Die Inszenierung, die Wilhelm Lehmbrucks Skulptur Kniende (1911), einem Leitmotiv der Entartungstheorien, im Zentrum der Treppenhaus-Halbrotunde zuteil wurde, kann als Musterbeispiel für die Würde restituierende Entschuldigungsgesten gesehen werden: die documenta als Kniefall einer Ausstellung (und ihres Publikums) vor einer Knienden. An zentraler Stelle des ehemaligen Kasseler Museums der Aufklärung sollte der Gesinnungswandel einer ganzen Nation manifest werden. Allerdings fiel dieser Rückruf der Moderne für manche Bereiche der künstlerischen Praxis unhörbar aus. Bodes Präferenzen als Künstler lagen eindeutig auf der Tradition der Bauhaus- und 28

Die große Entschuldigungsgeste: Wilhelm Lehmbrucks Kniende (1911), inszeniert im Museum Fridericianum

Theoretische Diskurse

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Werkbund-Ideen, während Haftmann (der im Jahr zuvor seine Entwicklungsgeschichte der Malerei im 20. Jahrhundert veröffentlicht hatte) als kunsthistorischer Erfüllungsgehilfe der Bodeschen Ideenwelt hier die willkommene Gelegenheit sah, sein Geschichtsbild einer bruchlosen Entwicklung hin zur Abstraktion als definitiver »Weltsprache« bestätigen und mittels realer Werke illustrieren zu können. Dieser Blickwinkel hatte daher viele blinde Flecken. Sie lagen insbesondere bei den realistischen und sozialkritischen Positionen, wie sie im Bilderstreit der Zeit als Gegenargumente zur »Weltsprache«-Ideologie virulent waren.4 Jedenfalls geriet die erste documenta durch dieses Bündel politisch verwertbarer Funktionen zu einem »Politikon primärer Art« (Albert Schulze Vellinghausen): rezipierbar als »ein Bekenntnis zur Freiheit und Weltoffenheit« und als »im allerbesten Sinn bewältigte Vergangenheit«. Die Ausstellung diente als Modul im kulturpolitischen Wiederaufbau der Bundesrepublik, mit dem nicht weniger erreicht werden sollte als die Wiedereingliederung Deutschlands (zumindest mit seinem westlichen Teil) in die Reihe der Kulturnationen. Einer Kunstausstellung wurde zugemutet, den Beweis zu liefern für die vollzogene Überwindung der nationalsozialistischen Barbarei. Die überstandene Diktatur, wenngleich eine Blamage von globalem Ausmaß, erfuhr ihre Verharmlosung zum zwar peinlichen, aber doch glücklich beendeten Intermezzo, zu einem Geschichtsunfall und »anachronistischen Spuk« (Haftmann), an den die kollektive Erinnerung angesichts der visuellen Überzeugungskraft der documenta gleich einem »ärgerlichen Schatten« (Werner Doede) rasch verflogen war. Der Ausstellungsbesuch empfahl sich als Ritual kultureller Entnazifizierung und moralischer Erneuerung einer gestrauchelten, aber von der Geschichte eines Besseren belehrten Nation. Als besonders signifikant wirkte dabei der Umstand, dass diese staatspolitische Aufgabe eben nicht von der Politik, sondern von einer sich als locker gefügter »Freundeskreis« begreifenden Privatinitiative geleistet wurde. Sie trat nicht als eine vom politischen Wollen aufgenötigte Umerziehungsmaßnahme in Erscheinung, sondern als ein Ereignis, das gerade durch die Abwesenheit von Obrigkeitswünschen und staatlichen Aufforderungen seine Wirksamkeit zu entfalten vermochte: »gestaltet von einer Handvoll freier Bürger, die ungehindert von den das Ereignis finanzierenden Institutionen frei handeln konnten«, wie es noch zwei Veranstaltungen später in einer retrospektiven Rechtfertigung hieß.5

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4 Walter Grasskamp hat die Defizite dieser an mehreren Gliedern vollzogenen »Verstümmelung der Moderne« erstmals diagnostiziert und im Detail nachgewiesen. Walter Grasskamp, »›Entartete Kunst‹ und documenta I. Verfemung und Entschärfung der Moderne«, in ders., Die unbewältigte Moderne. Kunst und Öffentlichkeit, München 1989, S. 76–119.

5 Adolf Arndt zit. nach Bernd Müllmann: »Die ›documenta III‹ hat begonnen«, in: Hessische Allgemeine, 29.6. 1964. An dem ostentativ vorgeführten BürgerinitiativeImage ändert auch die Tatsache nichts, dass einige parteipolitische Repräsentanten als Beglaubigungspersonen und Niveaugaranten auf der Mitgliederliste des Veranstaltungsvereins stehen.

Gegenüber den theoretischen Aufarbeitungen von Verfahren und Folgen faschistischer Kulturpolitik konnte in jenen Tagen die documenta auch deshalb so überzeugend wirken, weil sie sich für ihre Reparationsbestrebungen desselben Mediums bediente, in dem der Schaden angerichtet worden war. Wie die Diskreditierung der Moderne wesentlich mit dem Instrument der Ausstellung vonstattengegangen war, geschah nun auch die Rehabilitation in Form einer Ausstellung. Die documenta betrieb ihre Wiedergutmachung nicht als verbale Entkräftung der gegen die Moderne aufgebrachten Aversionen, sondern als formales Revisionsverfahren ihrer ästhetischen Mittel, nicht als intellektuellen Diskurs, sondern als emotionalisierendes Erlebnis. Wie die Liquidierung der Avantgarde in den 1930er Jahren infamerweise unter der Regie bildnerischer Praktiker ins Werk gesetzt worden war (Wolfgang Willrich, Adolf Ziegler und andere), wurde ihre Reinthronisation in den 1950er Jahren ebenfalls von einem bildenden Künstler inszeniert – zumal von einem, der 1933 selbst von Berufsverbot betroffen war. Für die Aufgabe, »in der Trümmerstadt Kassel einen Teil jener geistigen Trümmer [zu] beseitigen, die die Nazis hinterlassen hatten«,6 hielt Bode das adäquate Mittel parat: Für die Inhalte erfand er die passende Form. Denn die documenta ist legendär geworden nicht nur durch das, was sie ausgestellt hat, sondern auch dadurch, wie sie dies getan hat. Im Zwang zur Improvisation entdeckte Bode nämlich den Anreiz für seine Kunst der Inszenierung, für das, was er als »Abenteuer der Gestaltung« bezeichnete. Mit dieser Formel verbindet sich eine Kunstvermittlungsideologie, die von der Behauptung ausgeht, jedem Werk müsse eine sogenannte »2. Ordnung« aus Rahmenumständen beigegeben werden, die dessen Wirkung erst ermögliche. Ziel dieser Kontextuierung ist »visuelles Begreifen«: der intuitive Vorgang des »Begreifens dessen, was Künstler tun«. Inszenierung – wie Bode sie versteht – rangiert also gleichrangig neben der Produktion eines Werks. Erst durch Inszenierung entsteht aus etwas bloß materiell Gemachtem Kunst. Der ausgebrannte Museumsbau, ein Dezennium nach Kriegsende noch immer mahnend und zugleich lästig in den schleppenden städtischen Wiederaufbau des Zonenrandgebiets ragend, war aus hessischen Landesmitteln notdürftig instandgesetzt worden, um Bodes Inszenierungsprinzip »Kunst und Ruine« zu ermöglichen. Dabei wurden die Improvisation zur Absicht, das Provisorium zum Prinzip und die Mängel zu positiven Wirkungsfaktoren umgedeutet. Denn gerade im kreativen Umgang mit dem UnferTheoretische Diskurse

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6 »documenta 7: An der Spitze der künstlerischen Aktualität«, in: Kurhessische Wirtschaft, 37, 7, 1982, S. 326.

tigen (ohnehin die Daueraufgabe einer urbanen Gesellschaft, eingeklemmt zwischen Zerstörung und Wiederaufbau) konnte Bode eine Materialästhetik entfalten, mit der er die kriegsbeschädigte historische Repräsentationsarchitektur zu der ausgestellten Kunst in spannungsvolle Beziehung setzte. Um die zum Teil doppelgeschossigen Raumsituationen zu proportionieren, wurde ein Trägersystem eingezogen, dessen Elemente den Innenbau gliederten, ihn aber in seinen Dimensionen wirksam ließen. Nirgendwo wurde verschleiert, was dem Gebäude im Weltkrieg widerfahren war. Zeitgenössische Baustoffe wurden im Rohzustand belassen, Mauerwerk und brandgeschwärzte Originalsubstanz wurden lediglich geweißt, auf Betonflächen blieben die Verschalungsspuren sichtbar; ein demonstratives Vorzeigen des Mangels, gleichzeitig eine Vermischung von Innen und Außen durch Materialeffekte, die dem Publikum aus dem allmählich neu entstehenden Stadtbild vertraut waren. Zum besonderen Wirkungsfaktor entwickelte sich ein zeitgemäßes Material, das zur Raumgliederung wie zur Lichtdämpfung eingesetzt wurde: »göppinger plastics«, Kunststoff-Folien eines Produzenten, für den Bode als Gestalter tätig war und der mit seiner Materialspende als Sponsor (vor Erfindung des Begriffs) fungierte. In langen Bahnen eingesetzt, lösten die Folien mit ihrem Faltenwurf die Wände in bewegte Flächen auf: jene geborstenen Wände, deren Unzuverlässigkeit als schützende Konstruktionen sich zuvor gezeigt hatte und von denen nun, auch unter Einsatz distanzierender Metallgestänge als Hängekonstruktionen, demonstrativ abgerückt wurde. Mit der Kombination dieser gestalterischen Effekte inszenierte Bode einen Wirkungskomplex aus Architektur und Kunst, der als Gleichnis der Gegenwart begriffen werden sollte: als Zeichen der Zeit, in dem sich das Fragmentarische des Gebäudes mit dem Fragment-Charakter der zeitgenössischen Kunst zu einem Spiegelbild der als chaotisch empfundenen Nachkriegsära verband. Eine Kunst – so die Botschaft –, die selbst zu keinem intakten Menschenbild mehr zu gelangen vermag, ist in der notdürftig ausgebesserten Ruine adäquat untergebracht. Zur Substruktion dieses Ansatzes wurden 5.000 Jahre Kulturgeschichte in Form eines Malraux’schen imaginären Museums aufgeboten. Zwei parallele Bildwände in der Eingangshalle signalisierten mit ihren Reproduktionen, dass jene expressiven und archaischen Ausdrucksformen der Gegenwart, denen die primäre Aufmerksamkeit der documenta galt, auf einem Kunstwollen 32

Begegnung mit dem Schirmherrn: Bundespräsident Theodor Heuss mit Herbert von Buttlar, Arnold Bode und Hans-Martin Euler bei Betrachtung von Lynn Chadwicks Encounter

Theoretische Diskurse

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basieren, das weit in die Vergangenheit zurückreicht. Die gesamte kreative Menschheitsentwicklung wurde als Sockel der zu rehabilitierenden Moderne untergeschoben. Symptom für die Akzeptanz dieses politischen Aufgabenbündels von Seiten der Politik ist auch die Übernahme der Schirmherrschaft durch den Bundespräsidenten. Theodor Heuss (bekanntlich selbst gelernter Kunsthistoriker) ließ es sich nicht nehmen, mit einem Besuch die staatstragende Potenz des Bode’schen Projekts zu bestätigen (»Schaut nicht mich an, schaut die Bilder an!«, soll er bei dieser Gelegenheit einem bereits damals Promi-gierigen Publikum zugerufen haben), wird doch eine bundespräsidiale Schirmherrschaft definitionsgemäß nur in einem Fall übernommen, der repräsentativ für die gesamte Bundesrepublik bzw. von herausragender kultureller, sozialer oder wissenschaftlicher Bedeutung ist. Die erste documenta wollte alle diese Kriterien gleichzeitig erfüllen. 1955 konnten also die Veranstalter die Unterstützung durch Kommunal-, Landes- und Bundespolitik in dem Maße genießen, wie sich ihr Aufgabenspektrum als genauestens auf die kulturpolitische Interessenlage Westdeutschlands zugeschnitten erwies. Eine entscheidende Rolle spielte dabei auch die Möglichkeit zur Instrumentalisierung des Veranstaltungsortes: die strategische Vermarktung jener Stadt unter hartnäckigem Provinzialitätsverdacht im »Schattenwinkel der Wirtschaftswunderrepublik« als Symbol überregionaler Interessen sowie als Paradigma für Freiheit, und die dort inszenierte Ausstellung als Synonym dieses Schlüsselbegriffs des politischen und ästhetischen Diskurses seit Kriegsende. So wurde eine Kunstausstellung rekrutiert als Kampfmittel im Kalten Krieg, indem ihr Austragungsort als Bollwerk gegen die auch künstlerische Diktatur der DDR ins Feld geführt wird. Hier – so die kulturpolitische Kampfansage –, wenige Kilometer vom »Reich der Unfreiheit« entfernt, zeigt der »Freie Westen«, was er auf dem Sektor der bildenden Kunst zu leisten vermag und hält dies demonstrativ Theorie und Praxis des Sozialistischen Realismus entgegen. Gerade die Randständigkeit des repräsentativen Kunstgeschehens konnte zur »vorgeschobenen Stellung der westlichen Zivilisation nahe dem Eisernen Vorhang« (Albert Schulze Vellinghausen) ideologisiert werden. Kassel wurde gerade durch das Besondere seiner ökonomischen, geografischen und politischen Gesamtsituation für fähig erachtet, das Allge34

meine der »deutschen Lage« auf typische Weise zu repräsentieren. Im Ausstellungskatalog gibt Haftmann daher zu verstehen, das Unternehmen sei bewusst »im Hinblick auf unsere deutsche Lage« konzipiert. Diejenigen, denen daran gelegen war, die »Peripherie der freien Welt« als optimalen Schauplatz für die kulturelle Repräsentanz der Bundesrepublik zu stilisieren, gingen mit der »exponierten politischen und geografischen Lage Kassels an der Nahtstelle zwischen Ost und West« (Bernd Müllmann) hausieren und konnten aus dem »Ort am Rande der westlichen Welt« (Alfred Nemeczek) Kapital schlagen. Konsequenterweise wurde die Unterstützungsanfrage an das Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen vorgetragen mit dem Argument, Kassel könne »als Stadt in ›Grenzlandsituation‹ gegen den Osten« die Botschaft »abendländischer Gemeinsamkeit besonders eindringlich verkünden. […] Aus der harten Gegenwartssituation dieser kleinen, schwer getroffenen und dennoch auflebenden Stadt kann das Primat des Geistes […] wirkungsvoller bewiesen werden als in Venedig oder Paris«, hieß es in der Begründungsprosa der »abendländischen Gesellschaft«7. Alles in allem also: Die documenta 1955 gewann eine kulturpolitische Bedeutung, wie sie keine andere Kunstausstellung in diesen Jahren hat aufweisen können. Alle anderen waren Kunstausstellungen, diese war eine Staatsaufgabe in dem Sinne, dass sie als gesellschaftlicher Auftrag begriffen werden konnte. Sie beruhte laut Haftmann auf dem »Wunsch einer ganzen Generation«; sie entsprach »dem Bedürfnis einer deutschen geistigen Situation« und war damit »für die geistige Wohlfahrt der Nation von hohem Belang«8. Was ist von einer Kunstausstellung mehr zu verlangen? Eine weiter reichende Relevanz wurde jedenfalls keiner der nachfolgenden documenta-Versionen mehr zugetraut oder zugemutet.

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7 Schreiben der »Gesellschaft für Abendländische Kunst des XX. Jahrhunderts«, 14.9. 1954.

8 Vorwort in documenta, Ausst.-Kat., Kassel 1955, S. 18.

Modernerezeption in der Kunstpublizistik der Nachkriegszeit Das Beispiel der Zeitschrift Aussaat Andreas Prinzing Modernerezeption in der Kunstpublizistik der Nachkriegszeit – ein Thema, das sich in einem kurzen Beitrag kaum umfassend untersuchen lässt. Daher soll hier ein Schlaglicht auf eines der vielen publizistischen Medien geworfen werden, die in den unmittelbaren Nachkriegsjahren die ästhetischen Diskurse verfolgten und mitprägten – die von 1946 bis 1948 erschienene Zeitschrift Aussaat. Dass dies nur aus Leserperspektive möglich ist, ist der schlechten Quellenlage geschuldet. Ein Redaktionsarchiv ist nicht mehr auffindbar; Autorenkorrespondenz, Abonnentenlisten und weitere Dokumente, die Rückschlüsse auf Themenfindung oder Leserkreis erlauben würden, sind verloren. Die Aussaat Während die 1946 in Baden-Baden gegründete Zeitschrift Das Kunstwerk als eine von wenigen kontinuierlich weiter erschien,1 mussten die meisten parallelen Gründungen im Zuge der Währungsreform ihr Erscheinen einstellen. Zu diesen gehörte auch die Aussaat – Zeitschrift für Kunst und Wissenschaft, die in Lorch bei Stuttgart – nach Berlin war Stuttgart in der unmittelbaren Nachkriegszeit der wichtigste Verlagsort für Zeitschriften2 – von dem Architekten Michael Boblenz und dem Buchverleger Alfons Bürger herausgegeben wurde. Sie erschien zunächst monatlich in einer Auflage von 20.000 Exemplaren.3 Im Gegensatz zu den Herausgebern vieler anderer Publikationen, die einer älteren Generation angehörten, in ihren Titeln jedoch häufig Jugendlichkeit signalisieren wollten, handelte es sich bei Alfons Bürger (1919–2004) in der Tat um den »Modellfall des ungestümen Jungverlegers in der ersten Nachkriegszeit«.4 Bürger, der nach seiner Ausbildung als Priesterschüler eine Verlagslehre in Stuttgart absolviert hatte und im Krieg als Fallschirmspringer eingesetzt worden war, erhielt Anfang 1946 von der amerikanischen Information Control Division eine Verlagslizenz. Diese erlaubte es ihm, neben einem breitgefächerten Literatur-Programm seine Kulturzeitschrift zu veröffentlichen.5 36

1 Dorothee Wimmer, »Die ›Freiheit‹ der Kunst im westlichen Nachkriegsdeutschland. ›Das Kunstwerk‹« als Forum der Kunstgeschichte«, in: Kunstgeschichte nach 1945. Kontinuität und Neubeginn in Deutschland, hrsg. von Nikola Doll u. a., Köln u. a. 2006, S. 137–147, hier S. 137.

2 Ingrid Laurien, Politisch­kulturelle Zeitschriften in den Westzonen 1945­1949. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Nachkriegszeit, Frankfurt/Main u.a. 1991, S. 72 f. und S. 81. 3 Vgl. die Auflagenhöhen verschiedener Kulturzeitschriften bei Laurien 1991 (wie Anm. 2), S. 305–313.

4 Hans Altenhein, »Vergessene Verlage (1). Bürger Verlag. Stunde Null«, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, 166, 52, 2. Juli 1999, S. 22–25, hier S. 22.

5 Ebd.

Wie die meisten vergleichbaren Zeitschriften richtete sich auch die Aussaat primär an das Bildungsbürgertum. Der Anspruch, mehr Leser als die einer Fachzeitschrift zu erreichen, wird allerdings ebenso deutlich wie der Wunsch, durch eine überregionale Ausrichtung der durch die Zonengrenzen bedingten, kulturellen Partikularisierung entgegenzuwirken. Programmatik und Intention Beachtung verdient das Vorwort zum ersten Heft, zumal es sich dabei um die einzige Äußerung der Herausgeber handelt: »›Aussaat‹ haben wir die Zeitschrift benannt. Der Titel birgt im übertragenen Sinne seine löbliche Absicht: Kulturgut auszusäen, auf dass im Menschen Verständnis und Liebe zu den hohen und schönen Dingen wieder grünen und zu neuer und guter Ernte reifen möge. Der Parnaß ist uns heilig – nicht aber der Bückeberg. Dessen Sand und Unkraut schenken wir ihm zurück und lenken über Blut und Boden und allem nationalen Klingklang und Gloria unsere Sinne wieder zu den Ewigkeitswerten, die sich allein im Mysterium des Kosmos zu manifestieren vermögen.«6 Deutlich wird hier die Motivation, mittels ästhetischer Grundlagenarbeit einen erzieherischen Beitrag zur »Regeneration des zerrütteten deutschen Geisteslebens« zu leisten, wobei jeglicher Form von Nationalismus eine Absage erteilt wird. Die Pathos-beladene Rhetorik verrät nicht nur einiges über den missionarischen Aufbruchseifer, sondern offenbart auch eine relativ konservative, religiös grundierte Kunstauffassung. Vergleichbar der inflationären Verwendung der Lichtmetaphorik in der Aufklärung, findet die Berufung auf natürliche Wachstumsprozesse auch in anderen Publikationen der Nachkriegsjahre häufig Verwendung. In dem erwartungsvollen Wunsch, eine Aussaat auszubringen, die Früchte tragen soll, mischt sich eine biologisch-botanische Wachstumsmetaphorik (auch anzutreffen im häufigen Verweis auf elementare Naturkräfte und in der Malerei, zum Beispiel bei Fritz Winter oder Willi Baumeister) mit christlichen Motiven der Auferstehung. Weiter verdeutlicht das Vorwort, dass man sich bei seinem selbstgewählten gesellschaftlichen Auftrag als Unterstützer einer vorwärtsgewandten Haltung in künstlerischen Fragen begreift. Deshalb sollen »neben den schönsten und reifsten Werken aus unvergänglicher Vergangenheit auch hervorragende Vertreter der gegenwärtigen Kunst und Wissenschaft« integriert werden, wobei ein Fokus auf den »Vertreter[n] einer im letzten Dezennium aus bornierten und rassisch-politischen Gründen vernachlässigten oder unterdrückten Geisteswelt« liegt. Theoretische Diskurse

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6 Vorwort, Aussaat, I, 1, Mai 1946, S. 1–2 (ebenso wie alle folgenden Zitate in diesem Absatz).

Cover der Erstausgabe der Aussaat mit Käthe Kollwitz’ Selbstbildnis Die Klage (1938–40).

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Inhalte Alle Hefte folgen einem wiederkehrenden Schema und bieten eine Kombination kunstkritischer, literatur-, musik- und theaterwissenschaftlicher sowie politisch-geschichtlicher Texte. Der Inhalt der ersten Ausgabe weist eine weitgehende Orientierung an vertrauten Klassikern auf: Auf einen Auszug aus Jacob Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrachtungen folgt ein Aufsatz Wilhelm Nestles über »Griechentum und Demokratie«, gefolgt von Johann Wolfgang von Goethes »Osterspaziergang«. Ein religiöses Gedicht aus Albrecht Haushofers Moabiter Sonetten, von dem Widerstandskämpfer in der Haft verfasst, wird von einer Abbildung aus Matthias Grünewalds Isenheimer Altar begleitet. Anschließend signalisiert ein reich bebilderter Text über Édouard Manet unter dem Titel »Impressionisten« den Beginn einer Serie des Stuttgarter Kunsthistorikers Hans Hildebrandt. Derselbe diskutiert dann mit dem Musiker Arno Erfurth über Parallelen zwischen bildender Kunst und Musik. Im Anschluss eröffnen Paul Becks »Erinnerungen an Käthe Kollwitz« die Reihe »Das war verfemte Kunst«. Der Musikwissenschaftler Hermann Keller fragt in einem Beitrag »Wo steht die Musik heute?« Auf ein weiteres Goethe-Zitat folgt unter der Rubrik »Die köstliche Geschichte« eine Erzählung mit frivolem Unterton von Henry Benrath. Interessanter erscheint die sich anschließende Rubrik »Der Kunstbrief«, die die Funktion der aktuellen Berichterstattung über Ausstellungen, Musik- und Theaterveranstaltungen übernimmt. Unter dem Titel »Anekdotisches« finden sich Auszüge aus Theodor Fontanes »Der alte Schadow«. Die Rubrik »Unsere Autoren« beschließt das nur 34-seitige Heft schließlich mit Kurzbiografien, die allerdings in diesem Fall nur den wichtigsten vier Autoren gelten. Während viele Beiträge des ersten Heftes einen engen Bezug zur deutschen Klassik aufweisen, fällt in späteren Ausgaben ein sehr viel breiteres Themenspektrum auf. Die Wahl des Sprachstils ist dementsprechend autorenabhängig, der pathetische Stil, dem sich die Herausgeber im Vorwort der ersten Ausgabe bedienen, durchzieht nicht alle Beiträge gleichermaßen. Die Fülle und Vielschichtigkeit kultureller Erzeugnisse unterschiedlicher Epochen, Stile und Gattungen aufzuzeigen, Vergangenheit und Gegenwart zu verknüpfen und publizistisch einen Beitrag zur Aufgeschlossenheit allem Kulturellen gegenüber zu leisten, kann als eigentliche Intention beschrieben werden – ein Gegenprogramm zu den gleichgeschalteten Medien der NS-Zeit und deren einseitiger Berichterstattung. Die kunstbezogenen Texte widmen sich in selektiver Rückschau dem Impressionismus, dem Vorkriegs-Expressionismus und vereinzelt Theoretische Diskurse

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auch der sozialkritischen Malerei der Weimarer Republik. Frühere Strömungen und Stilrichtungen wie Neue Sachlichkeit, aber auch der Kubismus und Orphismus, Surrealismus, Dadaismus und Konstruktivismus tauchen kaum auf, ebenso wie die abstrakte Kunst noch unterrepräsentiert ist. In Hinblick auf die Gattungen ist vor allem Malerei vertreten, gefolgt von Skulptur, Grafik und Kunsthandwerk. Architektur wird kaum thematisiert, zur Fotografie findet sich nur ein einziger Beitrag. Mit Blick auf die Vorliebe für den Expressionismus scheint die Frage interessant, inwieweit diesem eine Vorbildfunktion für das zeitgenössische Schaffen zugeschrieben wird. Wird er als adäquater, zeitgemäßer künstlerischer Ausdruck gesehen, oder wird er lediglich zur Tradition gezählt? Immerhin war ja spätestens in den frühen 1920er Jahren bereits über ein »Ende« des Expressionismus diskutiert worden.7 Je nach Autor fällt die Antwort unterschiedlich aus, der Wunsch nach einer zeitgemäßen Kunst – die selten näher definiert wird – spricht jedoch aus vielen der Beiträge. Günter Busch von der Kunsthalle Bremen stellt in Bezug auf eine Ausstellung mit Malern der Brücke fest: »Im ganzen aber verstärkt sich immer mehr der Eindruck, daß wir schon durch Welten getrennt sind von diesen ›Alten‹, die man uns in Ermanglung wirklich zeitgenössischer Produktion heute zu gern und zu oft als gegenwärtig und ›aktuell‹ anbietet.«8

7 Vgl. hierzu zum Beispiel Paul Fechter, »Die nachexpressionistische Situation«, in: Das Kunstblatt, 7, 11/12, 1923, S. 321.

8 G[ünter] Busch, »Bremer Kunsthalle«, in: Aussaat, I, 10/11, Februar/März 1947, S. 57 f., hier S. 58.

Die in diesem Zusammenhang aufschlussreiche Serie »Das war verfemte Kunst«, deren Beiträge von wechselnden Autoren verfasst wurden, startete mit dem ersten Heft und zog sich bis zur vorletzten Ausgabe. Nacheinander wurden Käthe Kollwitz, Ernst Barlach, George Grosz, Xaver Fuhr, Max Beckmann, Max Pechstein, Renée Sintenis, Oskar Schlemmer, Karl Schmitt-Rottluff, Albert Weisgerber, Rudolf Schlichter, Christian Rohlfs, Carl Hofer, Wilhelm Lehmbruck, August Strindberg und August Macke vorgestellt. Die zu diesem Zeitpunkt noch stark umstrittene ungegenständliche Kunst beziehungsweise absolute Malerei wird in der Aussaat meist nur am Rande thematisiert. Taucht sie auf, ist ihr gegenüber jedoch bei den meisten Autoren eine positive Grundhaltung vorhanden. Auffällig ist allerdings, dass es sich bei den wenigen Abbildungen ungegenständlicher Kunst – auf das Cover schaffte sie es nie – immer um Werke handelt, die noch vage gegenständliche Bezüge zulassen.9 Dies lässt sich als Entgegenkommen an einen restaurativen Kunstgeschmack breiter Bevölkerungsschichten deuten, die die Hauptaufgabe der Kunst immer noch primär in einer naturalistischen Abbildung sahen. Statt kompromisslos völlig nonfigurative Werke vorzuführen, schien eine tastende Heranführung 40

9 Deutlich wird das vor allem in den Illustrationen des einzigen Beitrages, der sich über mehrere Seiten ausschließlich mit abstrakter Kunst befasst und ein entschiedenes Bekenntnis zu dieser darstellt: Hans Hildebrandt / Willi Baumeister / Conrad Westpfahl, »Zur abstrakten Kunst. Aussagen eines Kunstwissenschaftlers und zweier Maler«, in: Aussaat, II, 3/4, August/ September/Oktober 1947, S. 115–120.

an die ungewohnten Ausdrucksweisen eine größere Akzeptanz zu versprechen. Der Kunstbegriff der Leser durfte zwar herausgefordert, ihre Aufnahmefähigkeit sollte aber – vermutlich auch im eigenen Interesse der Herausgeber – nicht überstrapaziert werden. AutorInnen Die Zeitschrift wurde zwar nicht von den prominentesten Vertretern der Kunstkritik der Nachkriegszeit mit Beiträgen versorgt, unter den ständigen Mitarbeitern befanden sich aber zwei damals renommierte, heute weitgehend vergessene Autoren. Der in Stuttgart lehrende Kunsthistoriker Hans Hildebrandt (1878–1957) etwa stellte die wichtigsten (neo-) impressionistischen Maler wie auch die Wegbereiter der Moderne in monografischen Beiträgen vor. Hildebrandt, der enge Verbindungen zu zahlreichen Vertretern des Bauhauses pflegte, kann als einer der progressivsten Kunsthistoriker seit den 1920er Jahren gelten. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen hatte er, der von 1920 bis zu seiner Entlassung 1937 sowie in den ersten Nachkriegsjahren wieder eine außerordentliche Professur an der Technischen Hochschule Stuttgart bekleidete, ein großes Interesse für zeitgenössische Kunst, was sich in einer Vielzahl an Publikationen und engen Künstlerfreundschaften niederschlug.10 Hildebrandt war mit Lily Uhlmann, einer Schülerin Adolf Hölzels, verheiratet, die als Jüdin ab 1933 Malverbot erhalten hatte, er selbst war in der Ausstellung Entartete Kunst als einer der »Kritiker der Systemzeit« namentlich diffamiert worden. Der einflussreiche Franz Roh würdigte den befreundeten Hildebrandt, nicht ohne Seitenhiebe auf andere akademische Fachvertreter, in der Aussaat: »Von jeher wandelten die Kunsthistoriker […] so einseitig in Problemen verflossener Jahrhunderte, daß sie, von großen früheren Perioden berauscht, mit vollem Unverständnis an moderner Kunst vorbeisegelten, ja dieser mit Fehlurteilen, bezogen aus veralteter Ästhetik, geradezu in den Arm fielen. […] Hildebrandt war eine rühmliche Ausnahme. Er schrieb, als man noch gar nicht allgemein zustimmte, über Adolf Hölzel, Picasso, Archipenko, Schlemmer und Baumeister.«11 Obwohl angesichts der retrospektiven Thematik seiner Serie »Impressionisten / Nachimpressionisten / Neoimpressionisten / Impressionisten und Avantgarde« wenig Möglichkeit bestand, ein Plädoyer für zeitgenössische Kunst zu halten, streute Hildebrandt Bemerkungen ein, die seine Standpunkte deutlich machen. So heißt es in dem ersten, Édouard Manet gewidmeten Beitrag, der Naturalismus verfüge »als die am leichtesten faßliche Schaffensweise auch heute noch über die zahlenmäßig größte Gefolgschaft Theoretische Diskurse

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10 Vgl. Hans Hildebrandt und sein Kreis, hrsg. vom Graphischen Kabinett, Kunsthandel Wolfgang Werner, Bremen 1978.

11 Franz Roh, »Hans Hildebrandt zum 70. Geburtstag«, in: Aussaat, II, 5, November/Dezember 1947, S. 170.

Doppelseite aus der Aussaat (1. Jg., Heft 3, 1946) mit einem Text von Erwin Petermann

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innerhalb des ganzen Abendlandes und erhob im Reiche Adolf Hitlers sogar den dogmatischen Anspruch auf Allgemeingültigkeit«.12 Wiederholt bedient sich der Autor der Vergangenheit als Folie für die Gegenwart. Über Manets Lehrzeit im Atelier Thomas Coutures heißt es: »War man ein Italiener des 16. oder ein Franzose des 19. Jahrhunderts? Und war die Wirklichkeit für Augen, die sehen konnten, nicht der Wunder voll?«13 Auch der Auffassung, dass den wahrhaft gegenwartsbezogenen Künstlern zu ihrer Zeit meist keine oder nur partielle Anerkennung zuteil wird, sie mit ihrer neuartigen Wahrnehmung und künstlerischen Auffassung dieser Zeit gleichsam voraus seien, verleiht Hildebrandt immer wieder Ausdruck. Andernorts plädiert er für eine Kunst, die jegliche Nachahmungsfunktion ablegt, und führt Hölzel als Vorreiter »einer absoluten, also gegenstandslosen Malerei und Plastik [an], wie sie von manchen der stärksten Schöpferpersönlichkeiten heute hervorgebracht wird«.14 Exemplarisch werden zwei Möglichkeiten der Abstraktion angeführt, wobei durch den Gebrauch von Termini wie »Komposition« und »Thema« eine Verbindung zur Musik hergestellt wird: Hölzel habe die hundert Kompartimente eines großen Glasfensters in Hannover auf der Grundlage »eines schlagend einfachen, gegenstandslosen Formthemas in reichster Farbgesetzlichkeit durchkomponiert«. Ebenfalls wiederholt tätig für die Aussaat war die in München lebende Kunsthistorikerin Juliane Bartsch (1909–1987), frühere Leiterin des Mannheimer Kunstvereins und seit 1946 mit Franz Roh verheiratet. Sie steuerte als Korrespondentin unter beiden Namen hauptsächlich Beiträge zu der Rubrik »Der Kunstbrief« bei, schrieb aber auch für die Serie »Das war verfemte Kunst« über Max Beckmann und Xaver Fuhr. Ihre Texte über Kunst und Gegenwartstheater zeichnen sich durch eine angenehm nüchtern argumentierende Betrachtungsweise aus. Ein »Kunstverständnis […], das vom Ewigkeitswert und der Überzeitlichkeit des Kunstwerks ausgeht sowie von dem divinatorischen Charakter des Schöpfungsaktes«15, wie es bei vielen ihrer Fachkollegen zu finden ist, scheint ihr fremd zu sein. In ihrer lobenden Besprechung der Augsburger Schau Extreme Malerei versucht sie bei möglicherweise abstrakter Kunst kritisch gegenüberstehenden Lesern auf anschauliche Weise Interesse zu wecken, indem sie Analogien zum Spracherwerb wie auch zur (absoluten) Musik zieht: »Für den mit dieser neuen Sprache Vertrauten ist es gar nicht mehr so entscheidend, ob die Gegenstandswelt noch eine Rolle spielt oder nicht. […] Wem heute noch ein unüberbrückbarer Abgrund zwischen Inhaltsbezug und Theoretische Diskurse

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12 Hans Hildebrandt, »Impressionisten. I. Edouard Manet«, in: Aussaat, I, 1, Mai 1946, S. 10-16, hier S. 10 f.

13 Ebd., S. 12.

14 Arno Erfurth und Hans Hildebrandt, »Ein Beethoven-Sonaten-Zyklus. Gespräch eines Musikers mit einem Kunstwissenschaftler« in: Aussaat, I, 1, Mai 1946, S. 16-17, hier S. 17.

15 Heidi Hahn, Ästhetische Erfahrung als Vergewisserung menschlicher Existenz. Kunstbetrachtung im Werk von Marie Luise Kaschnitz, Würzburg 2001, S. 137.

Gegenstandslosigkeit klafft, der sei daran erinnert, daß er ja Oper und absolute Musik auch nicht für zwei Welten hält, die nichts miteinander zu tun haben. In der Musik werden Inhaltsbindung und Absolutheit eben schon lange als Doppelsphäre genossen. Bei der Malerei aber ist dies ebenso möglich.«16 In einem späteren Artikel, der eine kritische Antwort auf schulreformerische Pläne darstellt, plädiert sie entschieden für ein vernachlässigtes Lehrgebiet, »dem man in unserer äußerlich und innerlich verbombten Situation die größte Aufmerksamkeit schuldete: die Kunst«.17 Ihrer Auffassung nach habe die bisherige Erziehung versagt und statt künstlerisch denkender Menschen, die »eindrucksfähig bis ins hohe Alter« blieben, »patente Tatmenschen, fleißige Bürokraten, autoritätsgläubige Untertanen« erzogen. Unüberhörbar spricht auch aus dem Text die Ansicht, dass die staatliche Erziehung durch kollektive Disziplinierung statt der Förderung von »Selbstbetätigung« und »Phantasiekraft« das Mitläufertum des »Dritten Reiches« mit ermöglicht habe. In einer umfassenden künstlerischen Erziehung sieht sie sowohl die Chance, soziale Schranken zwischen verschiedenen Bevölkerungsschichten zu überbrücken, als auch interkulturelle Vermittlungsarbeit zu leisten, die einer Reintegration der Deutschen in den europäischen Kulturkontext den Weg bereitet: »Kultur ist zu allen Zeiten übernational gewesen, und wir sollten uns deshalb endlich abgewöhnen, von einer ›nationalen Kultur‹ zu reden, ein Begriff, der jedem wahrhaft Kulturbewußten als ein Widerspruch in sich erscheinen muß.« Das Interesse an bildender Kunst sollte demnach nicht rein um seiner selbst willen gefördert werden, also lediglich schöngeistiger Natur sein, sondern immer auch in Hinblick auf seine gesellschaftliche Relevanz.

16 Juliane Bartsch, »Extreme Malerei«, in: Aussaat, I, 10/11, Februar/März 1947, S. 56 f.

17 Juliane Roh, »Warum musische Erziehung?«, in: Aussaat, II, 7, Juli 1948, S. 235 (ebenso wie alle folgenden Zitate in diesem Absatz).

Neben Hans Hildebrandt und Juliane Bartsch/Roh, die zum engen Autorenkreis zählten und sich als progressive Stimmen schon früh für eine gegenstandslose Kunst einsetzten, schrieb eine Vielzahl von Autoren Essays und Ausstellungsbesprechungen für die Zeitschrift. Als heute noch bekannte Namen seien Ottomar Domnick, Adolf Jannasch, Kurt Leonhard, Leopold Reidemeister und Christian Töwe genannt. Aufschlussreich ist auch die Rubrik »Unsere Autoren«, werden hier doch in kurzen Lebensläufen Berufsverbote oder Verfolgung während der Nazizeit erwähnt. Im Gegensatz zu anderen Kulturzeitschriften, in denen die Realität der NS-Zeit ausgeblendet wurde, herrscht in der Aussaat kein Schweigegebot. Hildebrandt scheut sich nicht, den noch lebenden Paul Schultze-Naumburg als »Vorläufer des Nationalsozialismus«18 und Schuldigen für die Entfernung von Oskar Schlemmers Wandarbeiten im Weimarer 44

18 Hans Hildebrandt, »Das war verfemte Kunst. XIV. Oskar Schlemmer«, in: Aussaat, I, 10/11, Februar/März 1947, S. 40–43, hier S. 43.

Bauhaus zu benennen, während ein anderer Autor den Maler und früheren Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste, Adolf Ziegler, mit einem spöttischen Kommentar bedenkt.19 In einem Beitrag über George Grosz nimmt Erwin Petermann, späterer Direktor der Staatsgalerie Stuttgart, kein Blatt vor den Mund: »Es gibt eine Garnitur von Leuten, die darauf aufmerksam machen, daß in künstlerischen Dingen nicht dort angeknüpft werden dürfe, wo 1933 die Entwicklung der modernen Kunst in Deutschland abgebrochen wurde. Offen oder versteckt handelt es sich dabei immer um Ablehnung dessen, was man unter Hitler ›entartete Kunst‹ nannte.«20

19 Werner Schumann, »Bildende Kunst in Braunschweig, Hannover«, in: Aussaat, I, 12, April 1947, S. 33f., hier S. 34.

20 Erwin Petermann, »Das war verfemte Kunst. IV. George Grosz.«, in: Aussaat, I, 3, August 1946, S. 20–24, hier S. 20.

Fazit Die zahlreichen, in der frühen Nachkriegszeit erscheinenden Kulturzeitschriften stellen einen bedeutenden Faktor für die Verbreitung und Rehabilitierung der Moderne dar. Während Museen noch aufgebaut und Kunstwerke zusammengetragen wurden, konnten auf diesem Wege bereits räumlich getrennte Arbeiten in Form von Reproduktionen zusammengebracht und künstlerische Entwicklungen in aller Kürze aufgezeigt werden. Die Aussaat kann sicher nicht zu den formal und inhaltlich avanciertesten, künstlerisch progressivsten Publikationsorganen der direkten Nachkriegsjahre gezählt werden, ist aber als Zeitdokument von großem Wert. Die Herausgeber wollten in erster Linie als Vermittlungsorgan für die breitere Leserschaft eines kulturell interessierten, aufgeschlossenen Bürgertums wirken, nicht als avantgardistisches Provokationsmedium oder als Forum des Wissensaustausches eines eng beschränkten Fachzirkels. Indem man sich in Kunstdingen schwerpunktmäßig auf den schon lange durchgesetzten Impressionismus französischer Provenienz konzentrierte und parallel die bekanntesten Vertreter einer zuvor diffamierten Moderne unter Konzentration auf den Expressionismus vorstellte, fuhr man einen Kurs der gemäßigten Modernität. Das hier noch scheinbar friedliche Nebeneinander verschiedener Meinungen sollte nur wenige Jahre später zu einem apodiktisch geführten Kampf um die Deutungshoheit in Sachen moderner Kunst werden. Doch von den Jahren des Kalten Krieges, in denen die CIA über den Congress for Cultural Freedom Kulturzeitschriften wie die New Yorker Paris Review, den britischen Encounter oder die in Berlin erscheinende Der Monat maßgeblich finanzieren und in ihrer inhaltlichen Ausrichtung bestimmen sollte, war man noch wenige Jahre entfernt.21

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21 Siehe hierzu Joel Whitney, »Kultur und Geheimdienst. Die Paris Review, gekaufte Zeitschriften, die CIA und der Kalte Krieg«, in: Lettre International, 24, 98, Herbst 2012.

Britische Besatzungszone

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Hannover

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Kulturpolitische Rahmenbedingungen und Kunstpolitik in der britischen Besatzungszone 1945–1949 Eberhard Illner Wenn sich Historiker heute mit der alliierten Besatzungsverwaltung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen, tun sie dies vor dem Hintergrund einer neu gesetzten Periodisierung, die nicht auf der sogenannten Stunde Null, dem Jahr 1945, aufbaut, sondern die Zeit von 1942 bis etwa 1950 als »Periode der Katastrophengesellschaft«1 versteht. Wie wir aus den Planungsdokumenten der Alliierten wissen, setzte auch deren Besatzungspolitik bereits vor 1945 ein und wirkte über die Wiedererlangung der staatlichen Souveränität der Bundesrepublik Deutschland 1949/1950 noch lange hinaus. Aus der Perspektive Großbritanniens war die Frage der Kulturund Kunstpolitik im besetzten Deutschland eher nachrangig. Für eine Nation, die sich selbst noch als Weltmacht sah, deren ökonomisches und militärisches Potential aber längst seine Grenzen erreicht hatte, standen im Fokus ihrer Deutschlandpolitik vielmehr die Kernfragen der Ökonomie und Administration: die Entnazifizierung von Staat und Gesellschaft, der Aufbau lokaler und regionaler Verwaltungsstrukturen, die Industrie- und Finanzpolitik, die Frage der Demontage und die Versorgung der Bevölkerung mit Ernährungsgütern und der Industrie mit Rohstoffen.1 Analysiert man das Archivinventar der Akten der britischen Militärregierung in Deutschland, die sich heute in Public Record Office in Kew (London) befinden, behandeln rund 90% der Akten die genannten Themen. Zur Kulturpolitik im engeren Sinne findet sich nur eine verschwindend kleine Anzahl. Dieser Befund liegt in der Tatsache begründet, dass Kunst- oder Kulturpolitik – anders als etwa in der russischen oder französischen Zone – in der britischen Besatzungsverwaltung eine periphere Bedeutung hatte. Allenfalls auf die Universitäts-, Bildungs- und Schulpolitik, sowie den Rundfunk – wenn man diese Politikfelder als »kulturnah« bezeichnen würde – richteten die Engländer ihr Augenmerk. Doch genau in dieser Grundhaltung der Briten bestand für die deutschen Kultureinrichtungen und Kulturschaffenden im 48

1 Grundlegend zur britischen Besatzungspolitik Josef Foschepoth und Rolf Steininger, Die britische Deutschland­ und Besatzungspolitik 1945–1949, Paderborn 1985.

Westen die Chance, zwar etwas später als in der sowjetischen Zone, dafür aber in Eigenverantwortung zu beginnen. Auch in dieser Hinsicht sollte man von einem »Beginn« sprechen und nicht – zumeist unreflektiert – einen »Neubeginn« postulieren. Denn es gab eben auch in der Kultur nicht jene vielzitierte Stunde Null. Stattdessen überwogen Kontinuitäten. Man knüpfte vielfach an das an, was vor 1933 gepflegt wurde, mit der empfindlichen Ausnahme, dass es nunmehr in Deutschland die damalige Avantgarde kaum mehr gab. Sie war, wenn sich die Protagonisten nicht zuvor ins Exil hatten retten können, von den Nationalsozialisten ausgelöscht worden. Dies war den Alliierten nicht verborgen geblieben, so dass sie nicht damit rechnen konnten, auf genügend unbelastete Kräfte für eine an westlichen Werten orientierte Kultur bauen zu können. Deshalb konnten – zumindest die Westalliierten – nicht umhin, in der ersten Phase der Besatzungsverwaltung ab Frühjahr 1945 zu Verboten zu greifen, um einen möglicherweise noch schwelenden nationalsozialistischen Einfluss auf die Kultur zu verhindern. Der Rahmen der Besatzungspolitik der Briten wurde durch mehrere Eckpunkte bestimmt: 1 Mit der Einnahme deutscher Städte im Westen seit Anfang 1945 galt das Gesetz Nr. 191 (24. November 1944, fortgeschrieben 12. Mai 1945). Buch-, Zeitungs- und Plakatdruck, Theater, Kino, Oper, Märkte und sonstige Veranstaltungen waren grundsätzlich verboten. Man wollte möglicher nazistischer Propaganda keine Plattform geben. 2 Spätestens seit den berühmt-berüchtigten BBC-Reden des Barons Robert Vansittart im Herbst 1940 über den angeblich amoralischen Nationalcharakter der Deutschen galt »Reeducation« in Großbritannien als »Mittel zur Domestizierung des deutschen Volkscharakters«.2 Den »missionarischen Eifer«, den wohlmeinende britische Publizisten bei der Planung einer Demokratisierung des Schul- und Hochschulwesens während des Krieges entwickelten, beobachtete die Labour-Regierung unter Clement Attlee, die die konservative Regierung unter Winston Churchill nach der Unterhauswahl im Juli 1945 abgelöst hatte, freilich mit einer gewissen Zurückhaltung. Sie wollte weder die Besatzungsbehörden mit zusätzlichen Aufgaben belasten, noch glaubte sie, aufgrund des eigenen liberalen Selbstverständnisses, überhaupt das Recht reklamieren zu können, eine neue politisch-gesellschaftliche Grundordnung zu oktroyieren. Dementsprechend Britische Besatzungszone

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2 Vgl. den Forschungsüberblick von Michael Epkenhaus, »Neue Literatur zur britischen Deutschland- und Besatzungspolitik 1945–1949«, in: Westfälische Forschungen, 41, 1991, S. 528 f.

beschränkten sich die Vorgaben für die Militärregierung auf die Beseitigung nationalsozialistischen Gedankenguts durch Überwachung des Nachrichtenwesens und eine Lizenzierung aller kulturellen Aktivitäten. 3 Als die Gefahr eines Wiederauflebens nationalsozialistischer Propaganda nicht mehr bestand, wurde mit der Verordnung Nr. 9 vom 15. September 1945 das Verbot für unpolitische Versammlungen zu sportlichen oder unterhaltenden Zwecken gelockert. Die Programme der Theater, Konzerte oder Museen, wenn sie denn schon arbeitsfähig waren, mussten der Control Unit Fine Arts vorgelegt werden. Diese kleine Einheit bestand überwiegend aus Fachleuten – im Gegensatz zur übrigen Militärverwaltung, in der Berufssoldaten ihren Dienst taten – und gab sich durchaus verständnisvoll und entgegenkommend. Überhaupt wollte man schnell die Disposition über Kultur an die Deutschen übergeben und sich auf reine Kontrollfunktionen beschränken. Zum 1. April 1946 richteten die Briten ohnehin eine neue Gemeindeverfassung nach dem Vorbild ihrer eigenen Kommunalverwaltung ein. Grundgedanke war die strikte Bindung der Verwaltung an die Beschlüsse eines von der Bürgerschaft gewählten Gemeinderates. Das demokratische Element sollte gestärkt werden. Der Rat unter Vorsitz des Oberbürgermeisters gab der Verwaltung unter Leitung eines Oberstadtdirektors und seinem Beigeordnetenkollegium die grundlegenden Direktiven. Mit Aufbau dieser Struktur konnte auch die Kulturverwaltung in die Hand der lokalen deutschen Verwaltungen beziehungsweise der neu zu wählenden Stadtvertretungen gelegt werden. Konkret übernahmen damit in den Städten Beigeordnete für Kultur die Verantwortung. Das bedeutetet: Das Kulturleben stand lediglich während knapp zwölf Monaten nach Kriegsende in der direkten Dispositionsgewalt der Briten. Seit Frühjahr 1946 lag das operative Geschäft der Kulturverwaltung in deutschen Händen. Auch in Grundsatzfragen verhielt sich die britische Militärregierung äußerst zurückhaltend.3 4 Die Militärverwaltung war in dem relativ großen Besatzungsgebiet überhaupt nicht in der Lage – über allgemeine Erlasse hinaus –, eine wie auch immer geartete Einzelfalllenkung der Kultur vorzunehmen. Die Briten mit ihren überaus beschränkten personellen Mitteln – man bedenke, dass das Empire noch im Fernen Osten im Krieg stand und ab 1946 weitere Konfliktherde wie etwa in Palästina aufflackerten – waren zum Pragmatismus geradezu gezwungen, um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten. Man griff auf ein altbewährtes Verwaltungssystem zurück, jenes System der Indirect Rule, das schon der legendäre Baron Lugard in Nigeria 50

3 Ein instruktives Bild aus der Sicht eines Zeitzeugen gibt Arthur Hearnden (Hrsg.), The British in Germany: educational reconstruction after 1945, London 1978.

mit Erfolg angewandt hatte. Kurz gesagt: Deutschland wurde wie Indien oder Birma regiert. Der Kölner brachte die britische Besatzungsverwaltung im besiegten Deutschland in der ihm eigenen Art – nämlich dem Karneval – auf den Punkt. Man werde wie eine Kolonie in Afrika beherrscht, so formulierte es Karl Berbuer 1948 in seinem Lied »Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien« und vergaß dabei nicht, eine gewisse britische Kulturüberheblichkeit »auf die Schüpp zu nehmen«. »Doch fremder Mann, damit du’s weißt, ein Trizonesier hat Humor, er hat Kultur, er hat auch Geist, darin macht keiner ihm was vor. Selbst Goethe stammt aus Trizonesien, Beethovens Wiege ist bekannt. Nein, sowas gibt’s nicht in Chinesien, darum sind wir auch stolz auf unser Land.« Zusammengefasst: Eine britische Kulturpolitik gab es im ersten Jahr der Besatzung nur als »Verbotspolitik« mit einer sich nach und nach lockernden Tendenz. Ab April 1946 erhielten die Deutschen weitgehende Eigenständigkeit. Das administrative Grundverständnis der Briten war lokal und regional geprägt. Aus diesem Grunde gab es auch keine übergreifenden Leitlinien, wie sie etwa die Amerikaner in ihren Besatzungshandbüchern formuliert hatten. Britische Kulturpolitik kann deshalb nur auf lokaler Ebene als praktische Politik betrachtet werden. Wie sah diese Praxis nun konkret aus? Hamburg, Hannover oder Münster bieten sich als Beispiele an. Hier waren die Briten von Beginn an Besatzungsmacht. Doch einen für unser Thema interessanten Vergleich von zwei Besatzungssystemen ermöglicht neben Düsseldorf 4 auch Köln, denn die rheinische Metropole war die erste deutsche Großstadt, die durch ein US Military Government unmittelbar verwaltet wurde, bevor sie Mitte Juni 1945 in britische Hände überging. In welcher Situation befanden sich die Kultureinrichtungen Kölns am 6. März 1945, als die US Army die Stadt einnahm?5 Zwar stand der Dom noch, aber die übrigen Kulturbauten hatte es umso schwerer getroffen. Das Opernhaus am Ring war im Mai 1944 durch eine (V1-) Rakete aus dem Arsenal der deutschen Wunderwaffen schwer beschädigt worden. Der Kunstverein am Friesenplatz war bis auf den Keller zerbombt, und mit Ausnahme Britische Besatzungszone

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4 Siehe Wolfgang Horn, Kulturpolitik in Düsseldorf: Situation und Neubeginn nach 1945, Opladen 1981.

5 Zu den Kunst- und Kulturschutzaktivitäten der Amerikaner in Köln siehe Reinhold Billstein und Eberhard Illner, You are now in Cologne, Compliments. Köln 1945 in den Augen der Sieger, Köln 1945, S. 153 ff. Dort auch die Nachweise der Zitate.

des nur teilweise beschädigten Rautenstrauch-Joest-Museums am Ubierring waren die Gebäude der übrigen Museen bis auf die Grundmauern zerstört. Allein vom Stadtarchiv am Gereonsplatz und von den drei Torburgen war noch Bausubstanz übriggeblieben, so dass diese wenigstens als provisorische Lager dienen konnten. Die ausführlichen Schilderungen des Kunstschutzoffiziers Larwood (MFAA-Offizier des Detachments E1H2) in den Daily Reports der US-Militärregierung vermitteln ein erstaunliches und teilweise bizarres Bild von der zerstörten Kulturmetropole Köln. Noch während über den Rhein hinweg Artillerieduelle ausgetragen wurden, leitete Larwood eine sorgfältige Untersuchung der Kirche Maria im Kapitol ein. Er erstellte unter anderem einen Bericht über die Zerstörung des Dreikönigen-Törchens und sorgte für die Entschärfung eines Blindgängers in der St. Albanskirche. Mit großer Akribie verfolgte er zusammen mit Captain Elliott den Weg, den verschiedene Kultureinrichtungen seit 1943 genommen hatten, und verfasste einen umfangreichen Bericht über die Universitäts- und Stadtbibliothek. Bei Larwoods Akribie war es fast eine Selbstverständlichkeit, dass nur wenige Tage nach der Besetzung die über die NS-Zeit verborgen gebliebene Sammlung expressionistischer Malerei des Kölner Rechtsanwaltes Josef Haubrich, dessen Haus im Stadtteil Marienburg in unmittelbarer Nähe der amerikanischen Offiziersquartiere lag, registriert, gesichert und in die SHAEF-Liste der geschützten Denkmäler aufgenommen wurde. Wenige Monate später belegten die Briten dieses Haus mit einer Beschlagnahmeverfügung und beschlagnahmten auch jene Grafiken Haubrichs, die er noch vor dem Krieg zum Verkauf in London hatte anbieten lassen, als Feindvermögen. So unterschied sich amerikanische von britischer Besatzungsverwaltung: Während die Amerikaner den Industrieanwalt und Kunstsammler Haubrich hoch schätzten und ihn etwa als vertrauenswürdigen Juristen für das amerikanische Militärgericht verpflichteten, zauderten die Briten später nicht, sein Haus und seine Vermögenswerte zu requirieren. Das Bemühen der Amerikaner um den Erhalt deutscher Kultur hob sich stark vom britischen Verhalten ab. Professionell und unter persönlichem Einsatz leiteten sie die Bestandssicherung der Kulturbauten in der Altstadt ein. Spektakulärster Fund im Zuge dieser Aufräumungsarbeiten war die Freilegung einer Grablege aus romanischer Zeit unter St. Severin. Anfang Mai wurde das ausgelagerte Kunstund Archivgut nach Köln zurückgebracht. Drei Lkw brachten unter anderem das berühmte Holzportal der Kirche St. Maria im Kapitol aus dem 10. Jahrhundert, den ebenfalls berühmten Schrein des 52

Heiligen Heribert sowie etwa 40 Kästen mit Kunstwerken des Wallraf-Richartz-Museums. Andererseits gingen manche GIs recht unbefangen mit dem Kulturgut um. Am 24. März 1945 berichtete der Kunstschutzoffizier, eine Gruppe Soldaten habe das Depot des Stadtmuseums im Hahnentor aufgebrochen und sei mit Helmen, Brustpanzern, Visieren, Schwertern und Spießen aus dem 15. Jahrhundert bewaffnet in den Straßen umhergelaufen. Larwoods Kommentar: »No duels or casualties were reported.« Trotz des Einsatzes für die Erhaltung von Kunstwerken blieben Kulturveranstaltungen unter den Amerikanern vom Versammlungsverbot und der Ausgangssperre betroffen. Das Beispiel der Theaterfamilie Millowitsch, die sich um eine entsprechende Lizenz bemühte, ist symptomatisch. Gemeinsam mit Jacques Arouet, dem Residenten der Psychological Warfare Division in Köln, besuchte PWD-Offizier Edward Y. Hartshorne am 23. April 1945 die Geschwister Willi und Lucy Millowitsch, die übrigens 1960 Josef Haubrichs fünfte Ehefrau wurde. Vier Wochen später lehnten die Amerikaner den Zulassungsantrag ab. Die Geschwister hatten in Paris im Rahmen der Truppenbetreuung für deutsche Offiziere gespielt und galten als politisch unzuverlässig. Die Amerikaner waren in dieser Hinsicht kompromisslos. Man achtete sehr genau darauf, nur politisch einwandfreien Personen in der Kultur die Zulassung zu geben. Oberbürgermeister Konrad Adenauer verband Anfang Juni die Frage der Zulassung des Millowitsch-Theaters mit der Forderung nach einer grundsätzlichen Wiederzulassung öffentlicher Kulturveranstaltungen und verwies auf die liberalere Besatzungspolitik der Russen in dieser Frage.6 Die Amerikaner nahmen noch während ihrer letzten Tage in Köln – Mitte Juni 1945 übernahmen die Briten das Kommando – entsprechende Korrekturen vor. Das Kölner Gürzenichorchester konnte sofort seine Proben aufnehmen. »Auf viele heimkehrende Kölner hat es damals einen tiefen Eindruck gemacht, in dieser zerstörten und menschenleeren Stadt aus den Ruinen des Opernhauses sinfonische Musik unserer alten Meister zu hören…«, berichtete der Kulturdezernent Wilhelm Steinforth und weiter: »Wenn auch alle Gebäude stadtkölnischer Kulturpflege vernichtet oder mindestens unbrauchbar geworden waren, so bildete doch ein wahrhafter Hunger nach Kultur eine mächtige Triebkraft für das Aufblühen neuen Lebens aus solchen Ruinen.« Wie hatte man sich die Inhalte der Kultur vorzustellen? Kurz gesagt: Es war der Rückgriff auf die traditionelle Kultur der Klassik, dem »Wahren, Schönen, Guten« gewidmet. Doch war es im Jahre 1945 überhaupt möglich – unbeeindruckt von allen Grausamkeiten des Britische Besatzungszone

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6 Zum Wiederbeginn des Kulturlebens in Köln seit 1945 siehe Eberhard Illner, »Von der Botschaft zur Gesellschaftskritik. Kulturpolitik in Köln 1945–1979«, in: Kunst und Kultur in Köln nach 1945, hrsg. vom Historischen Archiv der Stadt Köln, Köln 1996, S. 14ff. Dort auch die weiterführende Literatur.

Krieges und Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft–, den Geist Goethes und Schillers zu beschwören? War dies nicht vielmehr ein untauglicher Versuch, als ob man vor zerbrochenen Scheiben wieder die alten Gardinen aufhängt und sich in dieser Illusion einzurichten versuchte? Etwas anderes war kaum möglich, wie der Journalist Karl Georg Egel berichtete: »Ich bin Menschen begegnet, die inmitten von Resignation und Not eine geistige Welt in sich schaffen konnten und die ausstrahlten. Ich sah die Litfaßsäulen mit ihren Theateranschlägen. Zwar waren es meist nur Klassiker und Lustspiele, die gespielt wurden, zwar war das ›Ausverkauft‹ auch durch ein wenig Flucht und Sensationshunger zu erklären; zwar fehlten die Stücke, die die Frucht des furchtbaren Jahrzehntes von der Bühne aus zu klären versuchten. Aber doch waren hier Menschen bestrebt, einem formlosen Alltag Form zu geben.« Zuerst konnten Musik und Theater wieder beginnen. Im August 1945 waren wieder so viele Schauspieler und Musiker zusammen, dass ein Konzert-, Operetten- und Opernspielplan aufgestellt werden konnte. Die provisorisch hergerichtete Eigelsteintorburg erlebte anschließend bis Ende 1946 drei rege besuchte Ausstellungen vorwiegend alter Meister. Personell war man auf vorhandene Fachleute angewiesen, an denen jene zwölf »braunen« Jahre nicht spurlos vorbeigegangen waren. So wurde etwa Leopold Reidemeister (1900– 1987), der bis 1939 als treuer Gefolgsmann Otto Kümmels am Völkerkundemuseum Berlin Kurator für Asien gewesen war, Generaldirektor der Kölnischen Museen. Eine große Bedeutung für die Kultur in der britischen Besatzungszone hatte der Rundfunk. Der Nordwestdeutsche Rundfunk mit Sitz in Hamburg richtete eine eigene Redaktion »Künstlerisches Wort« ein und berichtete ab Oktober 1945 jeden Montag gegen 19 Uhr aus Köln über Kulturereignisse im Rheinland. Wissenschaft und Bildung kamen langsam wieder in Gang. Die Universität zu Köln nahm am 10. Dezember 1945 mit 1.500 Studenten ihre Tätigkeit auf. Die im September 1946 eröffnete Volkshochschule sah sich einem unerwartet hohen Andrang, insbesondere in den sprachlichen und künstlerischen Fächern, gegenüber. Die Volksbibliotheken wurden zügig re-organisiert und mit Bücherspenden aus der Schweiz und aus England erweitert. Gerade die Erwachsenenbildung war als Instrument ihrer Reeducation Policy ein großes Anliegen der Briten. Die Kölner Kulturpolitik wurde auf der Grundlage der neuen Gemeindeordnung vom April 1946 von zwölf Stadtverordneten verantwortet, deren Ausschuss mit seinen vier Unterausschüssen (Musik, Erwachsenenbildung, Theater und Oper sowie Museen) 54

eine gewisse Exklusivität umgab. Die dorthin delegierten Stadtverordneten – unter ihnen Josef Haubrich für die SPD – waren überwiegend Angehörige freier Berufe wie Rechtsanwälte, Journalisten, Architekten oder führende Vertreter politischer und kirchlicher Gruppen. Trotz zerstörter Infrastruktur und angespannter Versorgungslage bestand für die Stadtverordneten kein Zweifel daran, dass Kultur als selbstverpflichtete Aufgabe des städtischen Gemeinwesens zu betrachten sei und die Kommune entsprechend tätig zu sein habe. Doch nicht nur Rückbesinnung auf kölnische Tradition, sondern auch Öffnung und Wiederbelebung der früher bestehenden kulturellen Kontakte kennzeichnet das Kulturleben in den ersten Nachkriegsjahren. Bereits im Oktober 1946 organisierte die Stadt die »Kölner Kulturtage« unter dem Titel »Der Rhein und Europa« mit dem programmatischen Ziel, »… die Bereitschaft der Rheinlandschaft zu neuem, europäischen Aufbruch …« zu bezeugen. Die Brückenfunktion der abendländischen Kultur stand auch im August 1948 als Leitmotiv über den Feierlichkeiten zum Dombaujubiläum. Die Feierlichkeiten wurden begleitet von der Ausstellung Christliche Kunst der Gegenwart im Staatenhaus der Messe. Was folgt aus diesem Kölner Befund – immerhin nach Hamburg die zweitwichtigste Stadt in der britischen Zone – für die Kulturpolitik der britischen Besatzungsverwaltung? Weitestgehende Zurückhaltung und Pragmatismus waren die charakteristischen Merkmale der Kulturpolitik der Briten zwischen 1945 und 1949. Nach kaum einem Jahr legten sie die Verantwortung für die klassischen Kultursparten (Kunst, Musik, Literatur, Theater) in deutsche Hände. Sie beschränkten sich auf indirekte Kontrolle und verfolgten Bildungs- und Medienaspekte im Rahmen ihres Reeducation-Konzeptes und ihrer Rundfunkpolitik. Universitäts- und Schulpolitik hatten weit höheren Stellenwert. Vor diesem Hintergrund hatten die deutschen Gemeinde- und Landesverwaltungen in der britischen Zone ab 1946 einen sehr weitgehenden Spielraum zur Gestaltung ihres Kulturlebens. Das Dilemma bestand darin, dass mit den vorhandenen Kultureinrichtungen und den überlebenden Kulturschaffenden diese potentielle Liberalität kaum genutzt werden konnte, um einen tatsächlichen Neuanfang in der Kultur auf den Weg zu bringen. Deutsche Kultur der Nachkriegsjahre blieb primär dem Rückgriff auf die Klassik und auf scheinbar Bewährtes verhaftet. Nur gering war das vorhandene Potenzial für Experiment und echten Neubeginn. Die Renaissance bürgerlicher Kultur leitete unmittelbar in die Kultur der Adenauer-Ära ein. Erst gut zwei Jahrzehnte später – mit der Studenten- und Reformbewegung ab 1968 – startete der kulturelle Neubeginn in Westdeutschland.

Britische Besatzungszone

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Die Kunstsammlungen der Stadt Düsseldorf 1945–1953 Ankaufspolitik und Ausstellungen in der Ära Werner Doede Kay Heymer Der Kunsthistoriker Werner Doede (1904–2000) wurde im August 1945 zum kommissarischen Leiter der Kunstsammlungen der Stadt Düsseldorf bestimmt. An dieser Entscheidung war die britische Militärverwaltung beteiligt. Doede war der richtige Mann für diese Aufgabe, da er politisch unbelastet war und bereits 1935 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Düsseldorfer Kunstsammlungen gearbeitet hatte, er kannte also die Institution und ihre Sammlungen und auch ihre spezifischen Probleme. Wie die meisten Kunstmuseen in Deutschland hatten auch die Städtischen Kunstsammlungen Düsseldorf während der Herrschaft des Nationalsozialismus schwere Eingriffe in ihre inhaltliche Arbeit hinnehmen müssen und zahlreiche Werke aus ihren Sammlungen verloren. Man musste wie auch in vielen anderen deutschen Kunstmuseen von vorn anfangen. Moderne Kunst wurde seit der Gründung der Kunstsammlungen im Jahr 1913 erworben, doch schon der erste Direktor Karl Koetschau (1868–1949) wurde durch eine Ankaufskommission, in der konservative Düsseldorfer Künstler ihren Einfluss geltend machen konnten, am Erwerb internationaler Kunstwerke gehindert und musste sich auf deutsche, vorzugsweise rheinische Kunst beschränken. Der Galerist Alfred Flechtheim hatte ihm schon ein eindrucksvolles Paket französischer Avantgardekunst geschnürt, doch die Ankaufskommission vereitelte die Übernahme. Rückblickend schrieb Flechtheim 1923: »Koetschau, der gerade den Mut gehabt hatte, die Direktion der Städtischen Kunstsammlungen zu übernehmen, wollte französische Meister des 19. Jahrhunderts kaufen, und Cassirer und ich schleppten vor seine Kommission einen Kürassier von Géricault, die Italienerin von Corot, einen herrlichen Daumier, das Selbstbildnis mit dem Cello von Courbet, die Bar von Manet, die Dame mit dem Möwenhütchen von Renoir, das Dorf auf der Höhe von Cézanne, Richard Götzens Sisley, eine der schönsten Seinelandschaften dieses Malers, Pissarro, Van Gogh, Gauguin, Lautrec und vieles andere, alles 56

zusammen für keine fünfhunderttausend Mark. Die Kommission aber zog vor, dieses Geld und noch viel, viel mehr in inzwischen klassisch gewordene deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts zu stecken.«1 Seit Koetschau wurde für die Düsseldorfer Kunstsammlungen nur deutsche Gegenwartskunst gesammelt, und damit unterschied sich dieses Museum von anderen Häusern der Region, die auch französische Avantgarde anschafften. Als nach dem Tode von Karl Ernst Osthaus 1921 die Sammlung des Folkwangmuseums zum Verkauf stand, wollten Koetschau und sein Kustos Walter Cohen diese Sammlung nach Düsseldorf holen, ein Treffen der beiden Oberbürgermeister von Düsseldorf und Essen führte dann aber zu der Einigung, diese Sammlung nach Essen zu geben. Düsseldorf bekam dafür eine Medizinakademie.2 Als Werner Doede 1935 an das Düsseldorfer Museum kam, erlebte er die Zerstörung von Hans Hupps (1896–1943) neu konzipierter »Galerie der Gegenwart« und die nahezu komplette Entfernung der modernen Sammlung durch die Aktion »Entartete Kunst« unmittelbar mit. Außerdem konnte er zusehen, wie der Maler Fred Kocks (1905–1989) als Kustos des Museums Karriere machte, schnell verbeamtet wurde und die Leitung der Kunsthalle Düsseldorf übernahm. Unter anderem organisierte dieser dort regelmäßig die Winterausstellungen Düsseldorfer Künstler. Die Kataloge der Ausstellungen beweisen, dass ein sehr deutliches Gewicht auf die in Kocks Vorworten unverblümt verherrlichte nationalsozialistische Ästhetik gelegt wurde. Kocks wurde nach dem Tod des bisherigen Direktors Dr. Hans Hupp 1943 zum Interimsdirektor der Düsseldorfer Kunstsammlungen bestimmt. Als er nach dem Krieg durch den Einfluss der britischen Militärregierung aus dem Museum entfernt wurde, bekam er eine andere Tätigkeit in der Düsseldorfer Stadtverwaltung zugeteilt, ab 1949 versuchte die Stadtverwaltung jedoch, Kocks wieder im Museum zu platzieren. Das Netzwerk dieses »Mitläufers« erwies sich bis weit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als effektiv und führte zu einem schweren Konflikt zwischen Doede und der Stadtverwaltung. Doede kommentierte das 1985 rückblickend in einem Interview recht zurückhaltend: »Ich kam 1945 im August aus englischer Gefangenschaft und war im Gegensatz zu anderen ehemaligen Mitarbeitern ›unbelastet‹. Dr. Hupp war verstorben, sein Stellvertreter gefallen, andere zogen es vor, vorderhand nicht in Erscheinung zu treten (doch sollte sich dies bald ändern).«3 Man muss Doedes programmatische Entscheidungen zur Ausstellungs- und Ankaufspolitik ab 1946 vor diesem Hintergrund bewerten. Er war sich durchaus bewusst, dass sein Eintreten Britische Besatzungszone Düsseldorf

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1 Alfred Flechtheim, »Zehn Jahre Kunsthändler« (1923), in: Alfred Flechtheim, »Nun mal Schluß mit den blauen Picassos!« Gesammelte Schriften, hrsg. von Rudolf Schmitt-Föller, Bonn 2010, S. 50.

2 Silvia Neysters, »Geschichte des Kunstmuseums Düsseldorf, 1913–1988«, in: Rückblick nach vorn. 75 Jahre Museumsarbeit, Kunstmuseum Düsseldorf 1989, S. 113–146, hier S. 117.

3 Gabriele Lueg, »Interview mit Werner Doede«, in: Klaus Honnef und Hans M. Schmidt (Hrsg.), Aus den Trümmern. Kunst und Kultur im Rheinland und in Westfalen 1945–1952: Neubeginn und Kontinuität, Köln/Bonn 1985, S. 508.

Joseph Fassbender, Plakatentwurf für die Ausstellung der Sammlung Haubrich in den Kunstsammlungen der Stadt Düsseldorf, 1949. Aquarell, Bleistift und Buntstift auf Papier. Stiftung Museum Kunstpalast, Düsseldorf, Bibliothek

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für die von den Nazis verfemten Künstler in der Stadt beileibe nicht unumstritten war: »Während ich versuchte, die durch die Beschlagnahmeaktion ›Entartete Kunst‹ von 1937 dezimierte Abteilung der modernen Kunst vordringlich wieder aufzubauen, konnte es passieren, dass man mir schulterklopfend sagte: Ja, aber wissen Sie, die Münchner Ausstellungen, die waren noch das einzig Vernünftige, was die Nazis gemacht haben… Dabei blieb es noch lange, und hinter meinem Rücken kritisierte man mein Konzept.«4 Doede sah sich mit vielen Aufgaben konfrontiert, um das Museum wieder aufzubauen. Zunächst musste das Gebäude am Ehrenhof saniert werden. Seine Außenhaut war im Krieg nur unwesentlich beschädigt worden, aber das Innere des Baus erforderte eine komplette Neueinrichtung. In den wenigen noch nutzbaren Räumen waren zudem das Telegrafenamt und die Post einquartiert. Doedes erste Ausstellung fand deshalb 1946 in den Räumen des Hetjens-Museums statt. Neben dem Aufbau der Sammlung und der Errichtung eines Netzwerks zwischen den Museen musste Doede eine wichtige Altlast beseitigen: Er setzte sich von Anfang an nachhaltig dafür ein, die zahlreichen während des Krieges illegitim aus holländischen und französischen Sammlungen für das Museum angekauften Werke alter Meister zu restituieren. Mindestens 170 Gemälde und kunstgewerbliche Objekte wurden 1946 auf Befehl der Alliierten direkt aus den Depots mit britischen Lastwagen zu ihren ursprünglichen Eigentümern befördert. Zur gleichen Zeit wurden die Sammlungen des Düsseldorfer Museums, ebenfalls von den Briten, wieder zurückgeführt, so dass 1948 die gesamten Bestände wieder in Museum waren.5 Beim Wiederaufbau der Sammlungen moderner Kunst legte Doede besonderes Gewicht auf Werke jener Künstler, die während des Nationalsozialismus verfemt und aus den Sammlungen entfernt worden waren. Seine Ankaufstätigkeit begann 1947, und er konzentrierte sich zunächst auf den Wiedererwerb von expressionistischer Druckgrafik und von Zeichnungen. Bis 1948 hatte er bereits über zweihundert Blätter erwerben können, zahlenmäßig immerhin ein Viertel der etwa achthundert beschlagnahmten Arbeiten auf Papier.6 Bei den Gemälden und Skulpturen ging er ähnlich vor. Ein Blick auf die beschlagnahmten Werke vermittelt einen Eindruck von den Schwerpunkten der Düsseldorfer Sammlung, die, wie erwähnt, auf das Rheinland konzentriert war und einige weitere deutsche Künstler umfasste – unter anderem Werke von Jankel Adler, Franz Burmann, Otto Dix, Ferdinand Carl Cürten, Max Ernst, Karl Hofer, Erich Heckel, Paul Klee, Ernst Ludwig Kirchner, Heinrich Nauen, Gert H. Wollheim, Britische Besatzungszone Düsseldorf

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4 Ebd.

5 Siehe hierzu das Kapitel »Der lange Schatten der Raubkunst« in der demnächst erscheinenden Dokumentation Das Schatzhaus. Eine Düsseldorfer Museumsgeschichte, Museum Kunstpalast, Düsseldorf 2013.

6 Dies ergibt eine Auswertung des Kataloges Krieg und Frieden vor dreißig Jahren. Expressionistische und nach-expressionistische Druckgraphik, Düsseldorf 1947.

Ferdinand Hodler, Helmuth Macke, Paula Modersohn-Becker. Nur wenige Arbeiten wurden bei der Beschlagnahme durch die Nationalsozialisten ausgespart – etwa August Mackes Vier Mädchen (1912), Skulpturen von Wilhelm Lehmbruck, ein Stillleben von Erich Heckel, ein frühes Portrait von Max Beckmann und zwei Gemälde von Walter Ophey. Doede wollte diese Verluste kompensieren, indem er Arbeiten derselben Künstler ankaufte, wobei es ihm nicht immer sofort gelang, solche von derselben Qualität wie die der verlorenen zu erwerben. Er kaufte zusätzlich auch Werke von Künstlern aus demselben Umfeld, die vor dem Krieg noch gar nicht in der Sammlung vertreten waren: Lyonel Feininger, Alexej von Jawlensky, Wassily Kandinsky, Karl Schmidt-Rottluff oder Oskar Schlemmer mögen hier als Beispiel genügen. Bereits seit 1936 hatte er mit der Witwe des Malers Walter Ophey über den Erwerb des künstlerischen Nachlasses dieses 1930 verstorbenen, bedeutenden Düsseldorfer Malers verhandelt, die Übernahme der großen Werkgruppe aus Gemälden, Zeichnungen und Druckgrafiken erfolgte jedoch erst 1954, als Doede schon nicht mehr am Museum war.7 Insgesamt gesehen setzte Doede im Bereich der Moderne die Sammlungskonzeption Koetschaus fort, die stark fokussiert auf die Kunstregion des Rheinlands und bestrebt war, mit umfangreichen Konvoluten einzelner Künstler und gelegentlichen überregionalen Vergleichsstücken einen umfassenden Überblick der Kunstentwicklung des Rheinlandes zu ermöglichen. Doede wollte die Sammlung auch in die Gegenwart hinein ergänzen und erwarb schon ab 1947 eine ganze Reihe von Werken jüngerer Künstler: Gemälde von Ernst Wilhelm Nay (1947), Werner Gilles (1947), Georg Meistermann (1947), Bruno Goller (1947), Grafiken von Heinz Trökes (1948), Hubert Berke, Joseph Fassbender, Karl Schwesig, Gemälde von Willi Baumeister.8 Auch bei diesen Ankäufen beschränkte er sich bewusst auf deutsche Kunst und knüpfte somit an die bereits seit der Vorkriegszeit verfolgte Ankaufspolitik an. Dabei fällt auch eine klare Vorliebe für figurative und expressive Kunst auf, es wurden kaum ungegenständliche Werke erworben, Arbeiten aus dem Umfeld des Bauhauses und der Tradition des Konstruktivismus fehlen ganz. Die zeitgenössischen Erwerbungen wurden nach Doedes Kündigung 1953 zunächst nicht weiterverfolgt, erst ab Mitte der 1960er Jahre wurden wieder in nennenswertem Umfang Werke der Gegenwartskunst angekauft. Mit der Schaffung einer eigenen Modernen Abteilung 1969 wurde dieser Bereich der Sammlung dann auch international ausgerichtet, doch bis heute verleiht der große Anteil an Düsseldorfer und rheinischer Kunst dieser Abteilung ihre besondere Identität. 60

7 Zum Nachlass von Walter Ophey im Kunstmuseum Düsseldorf s. Stefan Kraus, Walter Ophey 1882–1930. Leben und Werk, Köln 1993, S. 61.

8 Auswertung der Eingangsbücher der Gemäldegalerie und der Modernen Abteilung des Museum Kunstpalast.

Schon 1948 veröffentlichte Werner Doede einen ersten Auswahlkatalog seiner Neuerwerbungen, in dem er 16 Gemälde deutscher Künstler auflistete, die als Ersatz der beschlagnahmten Werke angesehen werden konnten – bis 1953 hatte er beinahe halb soviele Werke vormals »entarteter« Künstler erworben, wie das Museum vor der Aktion besessen hatte.9 Doedes Ankäufe standen in engem Zusammenhang mit seinem Ausstellungsprogramm. Seine erste Ausstellung war den vom NS-Regime verdrängten Künstlern gewidmet. Diese eindeutige Programmbestimmung wurde von Öffentlichkeit und Fachkollegen sehr gut aufgenommen – mehr als 10.000 Besucher kamen, und der zur Ausstellung publizierte Katalog war schnell vergriffen. Die Kunstkritikerin Anna Klapheck schilderte die Bedeutung dieses Ereignisses: »Was mich damals enorm bewegt hat, war die Ausstellung ›Lebendiges Erbe‹ 1946 im Düsseldorfer Kunstmuseum. Sie ist das Verdienst von Dr. Doede und dem damaligen Kulturdezernenten Kralik. Das Anliegen dieser Ausstellung war, der Verfemten, Entarteten und Verstorbenen zu gedenken, all jener, die man vorher nicht nennen durfte. Es war begeisternd, dass auf einmal wieder das Schöne und Absichtslose erlaubt war; wir hatten ja nur Sennerinnen, Mütter mit Kindern an der Brust und den Führer gesehen.«10 Ab 1947 konnte Doede wieder in den Räumen am Ehrenhof Ausstellungen durchführen, und in diesem Jahr zeigte er eine erste Übersicht der von ihm angekauften Druckgrafik: Krieg und Frieden vor dreißig Jahren. Expressionistische und nach-expressionistische Druckgraphik. Sein Ausstellungsprogramm der Nachkriegsjahre war ambitioniert und setzte wichtige Akzente im Bereich der Moderne. 1948 organisierte er eine Gedächtnisausstellung zu Wilhelm Morgner sowie eine Ausstellung mit Spätwerken von Paul Klee, 1949 folgte eine Gedächtnisausstellung zu Wilhelm Lehmbruck und die umfangreiche Präsentation der Modernen Abteilung des Wallraf-Richartz-Museums Köln (Sammlung Haubrich), ein schönes Beispiel der guten Nachbarschaft dieser beiden rheinischen Metropolen, die sich aus dem einfachen Umstand ergab, dass Düsseldorf ein leeres Museumsgebäude hatte und Köln eine Sammlung, aber keine intakten Museen. Der Kölner Maler Joseph Fassbender entwarf ein Plakat für diese Ausstellung, das aber nicht verwendet wurde. Werner Doede verfügte über gute internationale Kontakte. Während des Krieges war er als Soldat in den Niederlanden stationiert und hatte sich mit Willem Sandberg angefreundet, dem später sehr einflussreichen Direktor des Stedelijk Museum Amsterdam. Er war auch mit dem Schweizer Direktor der Kunsthalle Bern, Britische Besatzungszone Düsseldorf

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9 Kunstsammlungen der Stadt Düsseldorf 1945–1948. Düsseldorf 1948.

10 Gabriele Lueg, »Interview mit Anna Klapheck«, S. 510, in: Honnef und Schmidt 1985 (wie Anm. 3).

Arnold Rüdlinger, gut bekannt, und dank dieses Kontaktes konnte er eine Auswahl seiner zeitgenössischen rheinischen Ankäufe schon 1947 in einer Ausstellung in der Kunsthalle Bern präsentieren – Werke von Arthur Erdle, Hermann Hundt, Georg Meistermann, Jupp Rübsam, Ludwig Gabriel Schrieber und anderen.11 Seine Zusammenarbeit mit dem British Council ermöglichte ihm schon ab 1950, ein internationales Ausstellungsprogramm in den Düsseldorfer Kunstsammlungen zu präsentieren – es reichte von holländischen Impressionisten (1950) über Henry Moore (1950; in Zusammenarbeit mit der Hamburger Kunsthalle), polnische Druckgrafik, Keramiken von Pablo Picasso und Fernand Léger (1953) bis zur Ausstellung Zwölf amerikanische Maler und Bildhauer der Gegenwart (1953), in der zum ersten Mal in Düsseldorf auch Werke von Jackson Pollock zu sehen waren. In den acht Jahren seiner Amtszeit war es Werner Doede gelungen, die Kunstsammlungen der Stadt Düsseldorf als einen wichtigen und gut vernetzten Standort der deutschen Museumslandschaft zu etablieren. 1953 wurde er zum Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft rheinischer Museen ernannt. Umso überraschender und bitterer sind die Umstände seiner Entlassung in Düsseldorf zu bewerten, die vor allem auf einen tiefgreifenden Konflikt mit der Stadtverwaltung zurückzuführen sind, welcher sich an der Personalie des ehemaligen Direktors Fred Kocks entzündete. 1949 war es Doede noch gelungen, dessen Wiedereinsetzung in die Düsseldorfer Museen zu verhindern, doch ein zweiter Vorstoß in dieser Richtung im Jahr 1953 führte zur vorzeitigen Entlassung Doedes – nur wenige Tage, bevor er hätte verbeamtet werden müssen.12 Ein öffentlicher Eklat war die Eröffnung der amerikanischen Ausstellung im Dezember 1953, in der der Bürgermeister der Stadt Doedes Namen nicht einmal erwähnte, worauf der Vorsitzende des Freundeskreises seine Rede spontan änderte und eine dezidierte Lobrede auf Doede hielt. Die Entlassung Doedes konnte das freilich nicht mehr verhindern. Doede ging mit einer Abfindung, und das erste vielversprechende Kapitel der Nachkriegsgeschichte der Kunstsammlungen der Stadt Düsseldorf endete mit einer unerfreulichen, politischen Pointe.

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11 Zu dieser Ausstellung erschien der Katalog Moderne deutsche Kunst seit 1933. November / Dezember 1947. Rheinischer Anteil der Ausstellung in der Kunsthalle Bern, Sommer 1947, Düsseldorf 1947.

12 Der Konflikt ist in der Akte IV 5312 unter dem Aktenzeichen VI-I-69 des Stadtarchivs Düsseldorf dokumentiert.

»Ein stetiges, der Stadt Essen würdiges Ausstellungsleben« Das Museum Folkwang 1945–1955 Hans-Jürgen Lechtreck Anfang 1949 wandte sich Heinz Köhn, der Erste Kustos des Museum Folkwang, an Georg Meistermann: »Es wird Ihnen bekannt sein, daß das Folkwang-Museum nach der Zerstörung seines Gebäudes in Essen leider nicht dauernd über Ausstellungsräume verfügt. Nachdem im vorigen Jahre zuerst das Geschäftshaus Th. Althoff, dann eine Schule Räume überlassen hatten, hat sich nun das Möbelhaus Kramm freundlicherweise bereit erklärt, mir von Anfang April bis Mitte Mai fünf sehr schöne, neu hergerichtete Räume für eine Ausstellung zu geben. Ich möchte diese Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen und fünf Maler in einer Ausstellung zusammenfassen, und zwar Sie, Willi Baumeister, Ernst Wilhelm Nay, Fritz Winter, Otto Ritschl und vielleicht Ewald Mataré. Wenn ich ein paar sehr gute Arbeiten bekomme, würde ich quasi als Einleitung und Auftakt auch Kandinsky und Paul Klee vertreten sein lassen.«1 Meistermann sagte sofort zu, ebenso Winter und Ritschl, mit denen Köhn über die Galeristen Otto Stangl, München, und Hanna Bekker vom Rath, Frankfurt/M., in Kontakt gekommen war. Für Ritschl verband sich die Einladung mit einer schmerzhaften Erinnerung. »Frau Bekker vom Rath […] teilte mir kurz mit«, schrieb der Maler nach Essen, »dass Sie eine Ausstellung abstrakter Malerei zu bringen gedächten, dabei auch Bilder von mir zeigen wollten. Es freute mich sehr, das zu hören, weil das Folkwangmuseum für mich gewissermaßen Geschichte wurde. Ich hatte dort meine letzte Ausstellung vor der ›Machtergreifung‹ und bekam drei Tage nach der Wahl den lakonischen Kartenbescheid: ›Ihre Bilder wurden zum Schutz des Volkes abgehängt.‹ So geschehen vor sechzehn Jahren und einigen Tagen.«2 Größter Leihgeber der Ausstellung Abstrakte Malerei, die am 21. April eröffnet werden konnte, war die Galerie Dr. Werner Rusche, Köln, die zu den 45 Exponaten sechs Werke von Nay, neun von Mataré und fünf von Baumeister beisteuerte.3 Den Gedanken, den Ausstellungsparcours mit Kandinsky und Klee beginnen zu lassen, musste Köhn mangels geeigneter Werke fallen lassen. Die regionale Presse reagierte verhalten positiv auf die »vom Gegenstand abgezogene Kunst der bildhaften Aussage«, freute sich jedoch darüber, dass »Essen wieBritische Besatzungszone Essen

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1 Heinz Köhn an Georg Meistermann, 4. März 1949, Museum Folkwang, Archiv (im weiteren: MFA), o. Sign., »Sonderausstellungen«.

2 Otto Ritschl an Heinz Köhn, 17. März 1949, ebd.

3 »Liste für die Versicherung der Ausstellung ›Abstrakte Malerei‹«, undat., April 1949, ebd.

der einen Ausstellungsraum [habe]«.4 – In dieser Momentaufnahme ist vieles von dem enthalten, was für das Museum Folkwang in den ersten zehn Jahren nach Kriegsende bestimmend war.5 Personelle Kontinuität Heinz Köhn (1902–1962) war seit 1930 am Museum Folkwang tätig und hatte von 1938 (nach dem Weggang Klaus Graf von Baudissins6) bis zu seinem Tod faktisch dessen Leitung inne.7 Seine Karriere kann als exemplarisch gelten für die personelle Kontinuität, die das kulturelle Leben der neu gegründeten Bundesrepublik bestimmte. Strukturell gehören hierzu auch seine Beziehungen zu Künstlern und Galeristen, von denen einzelne auf die frühen 1930er Jahre, andere auf die ersten Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zurückgingen. Die Essener Galerie Rudolf Schaumann ist von 1934 bis 1957 als Geschäftspartner nachweisbar8 und Wilhelm Großhennig, bei dem Köhn bis 1955 insgesamt 14 Werke erwarb, hatte 1937 erstmals ein Bild an das Museum verkaufen können.9 Gleiches gilt für die Galerie Günther Franke, München, die zwischen 1936 und 1959 insgesamt 64 Verkäufe abschließen konnte. Kontinuität sicherte auch die von der Stadt und dem FolkwangMuseumsverein gemeinsam ausgeübte Trägerschaft des Museums, deren Grundlage ein 1922 geschlossener Vertrag über den von den Vereinsgründern – Essener Bürger, Banken, Unternehmen und Gewerkschaften – finanzierten Ankauf der Sammlung Karl Ernst Osthaus war.10 Ein mit Vertretern des Vereins, der Stadt und der Erben Osthaus besetztes Gremium, das Kuratorium, fungierte als höchste Beratungs- und Genehmigungsinstanz in allen Angelegenheiten. Die nationalsozialistische Stadtregierung hatte 1933 eine Änderung der Stimmenverteilung durchgesetzt, die es ihr ermöglichte, den Einfluss des Museumsvereins, namentlich den seiner exponierten Mitglieder Albert Janus, Georg Hirschland, Adalbert Colsman und Ernst Henke, zurückzudrängen. Sofort nach Kriegsende bemühte sich der Verein, die alte Stimmverteilung wiederherzustellen. Den Antrag lehnte die neue Stadtregierung jedoch ab.11 Dessen ungeachtet erlangte der Verein bald seine vor 1933 eingenommene Stellung zurück. Mit Colsman und Henke, die trotz der Zurücksetzung des Vereins im Dritten Reich dem Museum und Köhn verbunden geblieben waren, bestand auch hier eine personelle Kontinuität, die sofort nutzbar gemacht werden konnte. Henke etwa setzte seine Kontakte zu den Vorständen der Banken und Unternehmen der Schwerindustrie und Energiewirtschaft dafür ein, potentielle Förderer anzusprechen und als neue Mitglieder zu gewinnen.12 64

4 H.S. (Heiner Stachelhaus?), »Farbige Visionen für das Ohr. Abstrakte Malerei bei Kramm«, in: Neue Ruhr-Zeitung, 27. April 1949; A. Br., »Essen hat wieder einen Ausstellungsraum. Das FolkwangMuseum zeigt bei Kramm abstrakte Kunst«, in: Rheinische Post, 25. April 1949. 5 Paul Vogt, Das Museum Folkwang Essen. Die Geschichte einer Sammlung junger Kunst im Ruhrgebiet, Köln 1965; FolkwangMuseumsverein e.V. (Hrsg.), Ulrike Laufer, Sammlerfleiß und Stiftungswille. 90 Jahre Folkwang-Museumsverein – 90 Jahre Museum Folkwang, Göttingen 2012. Zur Geschichte des Museum Folkwang bis 1937 s. a. Herta Hesse-Frielinghaus, Karl Ernst Osthaus. Leben und Werk, Recklinghausen 1971, und Museum Folkwang, Essen (Hrsg.), »Das schönste Museum der Welt«. Museum Folkwang bis 1933, Ausst.-Kat., Göttingen 2010. 6 Klaus Graf von Baudissin (1891–1961) trat 1934 die Nachfolge von Ernst Gosebruch (1872-1953) an; er verließ das Museum Folkwang 1938. S. Ulrich Weitz, »Klaus Graf von Baudissin. Oberkonservator der Staatsgalerie und Bilderstürmer der SS«, in: Hermann G. Abmayr (Hrsg.), Stuttgarter NS-Täter. Vom Mitläufer bis zum Massenmörder, Stuttgart 2009, S. 310–313. 7 Heinz Köhn kam im Juni 1930 als Assistent nach Essen. 1939 wurde er zum Kustos ernannt, ein Jahr später zum Museumsrat. Zwischen Juni 1941 und Juli 1955 stand er als Erster Kustos dem Museum vor; anschließend firmierte er bis zu seinem Tod am 17. Dezember 1962 als dessen Direktor. Vgl. Rei., »Museumsdirektor findet wenig Ruhe. Dr. Heinz Köhn steht heute 25 Jahre im Dienst der Stadt«, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 15. Juni 1955. 8 Galerie Schaumann, Essen, an das Museum Folkwang, Ansichtsrechnung, 20. März 1934, und Einladungskarte zu der Ausstellung Wiener Zeichner und Graphiker der »Ausstellungsgemeinschaft Folkwangmuseum und Galerie Schaumann«, Juli 1944, MFA, X29. 9 Wilhelm Großhennig, Kunstausstellung Gerstenberger, Chemnitz, an Klaus Graf von Baudissin, 31. Dezember 1936 und 5. April 1937, MFA, E1. Großhennig übersiedelte 1950 nach Düsseldorf. 10 Satzung des Folkwang-Museumsvereins, 1. Juni 1922, MFA, X11; Vertrag zwischen dem Folkwang-Museumsverein und der Stadt Essen, 30. März 1922, MFA, D2. Vgl. Ulrike Laufer, »Die Ruhr zum Leuchten bringen. Folkwang im Wechselspiel von Kunst und Industrie«, in: »Das schönste Museum« (wie Anm. 5), S. 125–139. 11 »Zum Protokoll der Sitzung des Städt. Kunstausschusses: betr. FolkwangMuseum«, 20. August 1946, MFA, X31. Der Ausschussvorsitzende Viktor Niemeyer erklärte, das »Schwergewicht« der Stadt im Kuratorium solle bestehen bleiben.

12 Beispielhaft genannt sei hier Henkes Schreiben an Berthold Beitz vom 18. Oktober 1954, in dem er dem nach Essen gewechselten Manager die Mitgliedschaft im Museumsverein anträgt (MFA, X24).

Sammlungspräsentation des Museum Folkwang in Schloss Hugenpoet, historische Aufnahme, nach 1946

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Das Museumsgebäude Seit 1929 zeigte das Museum Folkwang seine Sammlungen und Ausstellungen in einem Gebäudekomplex aus zwei Gründerzeitvillen und einem Erweiterungsbau im Stil des Neuen Bauens.13 Schon nach der Beschlagnahmungsaktion von 1937 konnte von einem regulären Museumsbetrieb keine Rede mehr sein: »Die Zahl der ausgestellten bezw. ausstellbaren Gemälde [ist] sehr zusammengeschmolzen« und »die Wände in einigen Räumen [machen] einen kahlen Eindruck«.14 Im Frühjahr 1940 begann Köhn mit der Auslagerung der Bestände; nur wenige Objekte blieben zurück.15 Bei der Bombardierung Essens im März 1943 wurde das Gebäude kaum beschädigt, weshalb es bis Anfang 1945 als Ausweichquartier für städtische Dienststellen herhalten musste. Bombeneinschläge im März 1944 und 1945 zerstörten eine der Villen und setzten Teile der übrigen Gebäude in Brand; mehrere Wände stürzten ein.16 Am 4. März 1946 gab Oberbürgermeister Heinz Renner mit einem Aufruf zur Trümmerbeseitigung das Signal für den ›Wiederaufbau‹, doch das stark beschädigte Museumsgebäude gehörte stadtplanerisch zu den Nebenschauplätzen. Immerhin stand für die Zusammenführung der aus den Bergungsorten zurückgekehrten Bestände seit Mitte 1945 das Schloss Hugenpoet in Kettwig (heute Essen) zur Verfügung.17 Für Sonderausstellungen kamen diese Räume jedoch nicht in Betracht. Im Herbst 1947 fand deshalb ein Ortstermin in den »inzwischen aufgeräumten noch vorhandenen Gebäudeteilen« statt, um zu bestimmen, welche Räume für einen Ausstellungsbetrieb instand gesetzt werden sollten.18 Es dauerte aber bis 1950, die für eine Teilinstandsetzung erforderlichen Mittel aufzubringen. Je länger die prekäre räumliche Situation anhielt, die bald auch ein öffentliches Ärgernis darstellte,19 um so dringlicher wurde die Forderung des Folkwang-Museumsvereins nach einer Lösung, die »ein stetiges, der Stadt Essen würdiges Ausstellungsleben«20, sicherstellen würde. Der Verein favorisierte einen Neubau. Namentlich Henke und Colsman warben dafür, die Chance zu ergreifen, ein modernes Gebäude errichten zu können; der Blick nach Köln war ihnen dabei zusätzlicher Ansporn.21 Der langwierige Entscheidungsprozess, getaktet von Förder- und Darlehenszusagen (Land Nordrhein-Westfalen, Kreditanstalt für Wiederaufbau u. a.), fand Ende 1954 seinen Abschluss. Am 27. Mai 1960 wurde der Neubau des Museum Folkwang feierlich eröffnet. Der Ausstellungsbetrieb Die Essener Ausstellung Abstrakte Malerei war 1949 keine Besonderheit. In den westlichen Besatzungszonen und der jungen Bun66

13 Achim Preiß, »Der neue Bau des Museum Folkwang 1929«, in: »Das schönste Museum« (wie Anm. 5), S. 157–172.

14 Heinz Köhn, »Betrifft: Maßnahmen im Folkwang-Museum zur Hebung und Steigerung des Rufes der Stadt Essen als Kulturzentrum«, 23. Dezember 1937, MFA, X29. 15 »Verzeichnisse der zwischen 1940–1945 ausgelagerten Kunstwerke des Museum Folkwang und einiger Privatleute«, MFA, E20.

16 Heinz Köhn, »Jahresbericht 1944« und »Jahresbericht 1945«, 15. Januar 1947, MFA, o. Sign., »Beschädigung und Verlust«.

17 Am 22. August 1946 eröffnete dort die erste Sammlungspräsentation: »Berühmte Gemälde des Folkwang-Museums«, Einladungskarte zur Ausstellungseröffnung, MFA, o. Sign., »Beschädigung und Verlust«. 18 Protokoll des Ortstermins, 10. September 1947, MFA, X31.

19 H. P., »Auswärtige Kunstfreunde vom Folkwangmuseum enttäuscht. Wertvolle Bilder lagern im Magazin – Andere sind beschädigt – Besitz muß erhalten werden«, in: Neue Ruhr-Zeitung, 21. Oktober 1953. 20 Heinz Köhn an Viktor Niemeyer, 2. September 1947, MFA, X21.

21 Ernst Henke an Adalbert Colsman, 16. Januar 1952, MFA, X24. Henke berichtet von einem Gespräch mit Leopold Reidemeister, Josef Haubrich und Wilhelm Steinforth, die ihn »über den Wiederaufbau des WallrafRichartz Museums unterrichtet« haben.

desrepublik wurden die Klassische Moderne und die unter den Nationalsozialisten verfemte Kunst häufig ausgestellt. Es ging um eine Aufarbeitung dessen, was im Dritten Reich nicht gezeigt werden durfte und um persönliche ›Wiedergutmachung‹, indem zuvor mit Ausstellungsverbot belegte Künstler eingeladen wurden, ihre Werke zu präsentieren.22 Köhns Idee, Kandinsky und Klee als ›Einleitung und Auftakt‹ in die Ausstellung aufzunehmen, muss ebenfalls als zeittypisch bezeichnet werden, denn für viele Akteure des damaligen Kunstbetriebs hieß »modern sein […], Anschluß zu finden an die Kunst des ersten Drittels des Jahrhunderts«.23 Die Stadt drängte, den Ausstellungsbetrieb wieder aufzunehmen. Am 28. November 1946, drei Monate nach Eröffnung der Sammlungspräsentation in Schloss Hugenpoet, schrieb der Vorsitzende des städtischen Kunstausschusses, Viktor Niemeyer, an Köhn, dass andernorts bereits Ausstellungen stattfänden und Essen nicht zurückstehen dürfe. 24 Zwar sei das Museumsgebäude noch nicht in Stand gesetzt, es gebe aber genügend geeignete Räumlichkeiten. Die Stadt beauftragte Köhn, »eine Frühjahrsausstellung ins Auge zu fassen und alsbald über Ort und Art dieser Ausstellung […] Vorschläge zu machen«.25 Der konnte bald ein konkretes Vorhaben bekanntgeben: Das Warenhaus Theodor Althoff hatte zugesagt, einen Teil seiner Verkaufsräume am Limbecker Platz für eine Präsentation von Werken westdeutscher Maler zur Verfügung zu stellen.26 Auf diese im Sommer 1948 gezeigte Ausstellung folgte zum Jahresende eine zweite mit Arbeiten von Erich Heckel, Emil Nolde, Christian Rohlfs und Karl Schmidt-Rottluff, für die Köhn Räume in einer Berufsschule zugeteilt worden waren. Sie versammelte »sehr charakteristische Bilder der vier bekannten Maler […], die lange Jahre hindurch aus den Museen und Kunstausstellungen verbannt waren«.27 Für fünf weitere Ausstellungen und bis zur Rückkehr in das teilweise instandgesetzte Museumsgebäude im Frühjahr 1950 konnte Köhn das Einrichtungshaus Kramm »gegenüber dem Rathaus, also mitten in der Stadt« als Gastgeber gewinnen. Das Ausstellungsprogramm war abwechslungsreich und knüpfte an das vor 1933 an. In Einzelausstellungen wurden unter anderem Franz Radziwill (1949), Fritz Winter (1950), Carl Hofer, Max Beckmann, Otto Dix (alle 1951), Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Pablo Picasso (alle 1953) und Eduard Bargheer (1954) vorgestellt; thematische und Gruppenausstellungen präsentierten Gemälde der Goethe-Zeit (1949), christliche Kunst der Gegenwart (1951, 1952), zeitgenössisches Kunstgewerbe (1950, 1951), Britische Besatzungszone Essen

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22 Bernhard Schulz (Hrsg.), Grauzonen, Farbwelten. Kunst und Zeitbilder 1945–1955, Ausst.-Kat. Neue Gesellschaft für bildende Kunst, Berlin 1983. Zum Ausstellungsbetrieb in der französischen Besatzungszone s. Martin Schieder, Expansion/Integration. Die Kunstausstellungen der französischen Besatzung im Nachkriegsdeutschland, Berlin 2004. 23 Martin Damus, »Moderne Kunst in Westdeutschland 1945–1959. Versuche, Vergangenheit und Gegenwart rückwärtsgewandt zu bewältigen und die Moderne in Harmonie zu vollenden«, in: Gerda Breuer (Hrsg.), Die Zähmung der Avantgarde. Zur Rezeption der Moderne in den 50er Jahren, Basel und Frankfurt/M. 1997, S. 25–41, hier S. 25.

24 Viktor Niemeyer an Heinz Köhn, 28. November 1946, MFA, X31.

25 Ebd.

26 Seitens des Museumsvereins hatte Theo Goldschmidt Einwände gegen eine Kaufhaus-Ausstellung erhoben. Die Stadt hielt jedoch daran fest: »Der Leiter des Folkwang-Museums wird ersucht, die geplante Ausstellung im Hause Althoff unbekümmert um Einsprüche von anderer Seite durchzuführen.« (Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Kunstausschusses, 20. April 1948, MFA, X31).

27 Heinz Köhn an das Städtische Schulamt, 2. Dezember 1948, MFA, o. Sign., »Ausstellungen in der Schule«.

Museum Folkwang, »Skizze zur Ausstellung / Westdeutsche Maler Essen 1948 / im Hause T. Althoff / vom 5. Juli bis 5. August 1948« Museum Folkwang, Exponatenliste der Ausstellung Westdeutsche Maler im Warenhaus Theodor Althoff, Essen 1948 (Auszug)

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mittelalterliche Plastiken und den Essener Münsterschatz (1952) sowie regionale Künstlervereinigungen. In den Akten finden sich zudem viele heute wenig bekannte Namen, Eugen Croissant etwa (1950), Alfred Mahlau und Margarethe Schall (beide 1952), Kurt Lambert und Robert Keil (beide 1953). Schon bald waren Ausstellungen erneut fester Bestandteil der städtischen Kultur und wichtiger Imagefaktor. Einladungen und Kataloge ließen sich für Werbezwecke einsetzen und boten Anlässe für Kontaktaufnahmen mit Entscheidungsträgern, potentiellen Partnern oder Förderern. Stadt und Museumsverein machten davon ebenso Gebrauch wie Köhn selbst.28 Die Ankaufspolitik Bei der Aktion »Entartete Kunst« waren 1937 etwa 1.400 Werke der Folkwang-Sammlung beschlagnahmt worden.29 Dieser schwere Verlust bestimmte die Ankaufspolitik der Nachkriegszeit (und beeinflusst sie bis heute). In Anpassung an die Kulturpolitik der Nationalsozialisten und um die Verluste zu kompensieren, hatte Köhn die Bestände durch ältere Kunst vor allem aus Deutschland, aber auch aus Frankreich und Italien, zu erweitern gesucht. Zwei umfangreichere Erwerbungen mussten sofort nach 1945 restituiert werden: Einkäufe im besetzen Paris, wohin Köhn 1940/41 zu diesem Zweck gereist war, und Teile der 1939 enteigneten Sammlung Fritz Thyssen, die Köhn und sein Bonner Kollege Franz Oelmann unter sich hatten aufteilen dürfen. Einen Sonderfall stellte die Sammlung Georg Hirschland dar. Als dieser 1938 gezwungen war, Deutschland zu verlassen, verkaufte er seinen Kunstbesitz, darunter Werke von Honoré Daumier, Paul Cézanne, Caspar David Friedrich und Adolph Menzel, an das Museum Folkwang. Nach Kriegsende wurde der Verkauf in langwierigen Verhandlungen zwischen Erben und Museumsverein rückgängig gemacht. Die Familie verzichtete auf sechs Bilder, die sie dem Museum 1950 als Schenkung überließ. Mit Blick auf die ersten Erwerbungen nach Kriegsende könnte der Eindruck entstehen, Köhn habe seine 1937 aufgenommene Ankaufspolitik zunächst fortgesetzt. Die betreffenden Werke, unter anderem von Joes de Momper, Oswald Achenbach und Hans Thoma, gelangten allerdings als Vermächtnis des 1945 verstorbenen RWE-Direktors Heinrich Schmitz in das Museum.30 Tatsächlich hatte er nach 1945 kein Interesse mehr daran, »die Galerie des Folkwang-Museums […] als Galerie des 19. Jahrhunderts [auszubauen]«.31 Stattdessen machte er sich sofort daran, die Verluste rückgängig zu machen oder zu ersetzen und die Britische Besatzungszone Essen

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28 Quittung, 10. Februar 1950: »Vom Museum Folkwang 40 Kataloge der Ausstellung ›Westdeutsche Maler‹ zu Werbezwecken erhalten. Backhaus, Stadtoberinspektor« (MFA, o. Sign., »Westdeutsche Maler«); The Frick Art Reference Library, New York, Empfangsbestätigung für den Katalog Deutsche Malerwerke der Frühzeit des 19. Jahrhunderts (1949), 9. Januar 1950 (MFA, o. Sign., »Sonderausstellungen«). 29 Vgl. Mario-Andreas von Lüttichau, »Der Verlust der Moderne«, in: »Das schönste Museum« (wie Anm. 5), S. 201–212; ebd. S. 348–356: »Verzeichnis der 1937 beschlagnahmten Werke«.

30 »Betr. Nachlass Direktor Heinrich Schmitz / R. W. E.«, MFA, o. Sign., »Bildhauer Erich Kuhn«.

31 Heinz Köhn, »Das Folkwang-Museum in Essen«, 8. Februar 1941, MFA, X29.

Sammlung zeitgenössischer Kunst weiterzuführen. Dafür sollte das Museum finanziell derart ausgestattet werden, dass es ihm möglich sei, »bei wertvollen Angeboten aus dem Kunsthandel zuzugreifen, damit der so dringend notwendige Wiederaufbau der Galerie keine Unterbrechung erleidet«.32 Diese Forderung konnte teilweise erfüllt werden, indem das jährliche städtische Ankaufsbudget von Fall zu Fall aufgestockt wurde, etwa um nicht ausgeschöpfte Mittel für Bauzwecke.33 Die umfänglichste Unterstützung gab der Museumsverein, der Gelder bereitstellte und dafür warb, sich an beabsichtigten Erwerbungen zu beteiligen. Einzelne Vertreter des Vereins versuchten überdies, Einfluss auf die Ankaufspolitik zu nehmen, indem sie im Kuratorium, das über die Mittelverwendung entschied, oder gegenüber Köhn den Erwerb einzelner Werke anregten, befürworteten oder zu verhindern versuchten. »Sie haben sich«, schreibt zum Beispiel Henke 1946, »seinerzeit die Zustimmung des Ausschusses dazu geben lassen, daß Sie aus den noch vorhandenen Mitteln möglichst Werke anschafften, die dem Museum seinerzeit beschlagnahmt und weggenommen wurden, insbesondere also aus der Zeit des Expressionismus. […] Ich hätte gern einmal von Ihnen gehört, was Sie auf diesem Gebiete bisher getan haben?«34 Zu den zehn Rückkäufen, die Köhn bis 1955 möglich waren, gehörten Noldes Heilige Maria von Ägypten (1912; Rückkauf 1950), Otto Muellers Badende (um 1914; Rückkauf 1952) und August Mackes Modes: Frau mit Sonnenschirm vor Hutladen (1914; Rückkauf 1953). Andere Neuerwerbungen zielten darauf ab, ehemals vorhandene Werke zu ersetzen, die sich noch nicht oder nicht mehr auf dem Markt befanden. Die 1948 angekauften Gemälde Der Hamburger Hafen (1928) von Heckel und Der Kaffeetisch (1923) von Kirchner wurden so »der Grundstein für den Wiederaufbau der 1937 zerstörten Abteilung der deutschen Expressionisten«.35 Gleichzeitig war Köhn bestrebt, die Sammlung in die Gegenwart zu führen. In rascher Folge gelangten Gemälde von Nay (vier; erworben 1951, 1952 und 1957), Meistermann (zwei; erworben 1954) und Winter (erworben 1954) sowie Skulpturen von Karl Hartung und Bernhard Heiliger (je zwei; erworben 1954) in das Museum. Danach wandte sich Köhn der Nouvelle École de Paris zu, die seit Ende der 1940er Jahre im deutschen Kunstbetrieb präsent war: Hans Hartung (erworben 1956), Alfred Manessier (zwei; erworben 1956 und 1957), Jean Le Moal und Gustave Singier (beide erworben 1957). In diesem Zusammenhang ist auch Willi Baumeister zu nennen, von dem das Museum bis 1937 meh70

32 Heinz Köhn an die Stadt Essen, 25. März 1950, MFA, o. Sign., »Westdeutsche Maler«.

33 Auszug aus der Sitzung des Kunstausschusses, 24. März 1947, MFA, X31.

34 Ernst Henke an Heinz Köhn, 29. Juni 1946, MFA, X24.

35 Heinz Köhn, »Chronik 1948«, 14. Juni 1949, MFA, o. Sign., »Beschädigung und Verlust«.

rere Zeichnungen besaß, und der mit zwei 1939/40 beziehungsweise 1944 entstandenen Gemälden in die Sammlung zurückkehrte (erworben 1956 und 1957). Als Köhn 1955 sein 25-jähriges Dienstjubiläum beging, konnte er eine eindrucksvolle Bilanz vorweisen. Das Folkwang »entfaltete eine rege Ausstellungstätigkeit«, der Neubau hatte nach dem »restlosen Abbruch aller Teile des alten Museums« und der »Herstellung eines Modells« erste Formen angenommen und der »Ausbau der Sammlungen« war weiter vorangeschritten.36 Die Nachkriegszeit ging allmählich zu Ende.

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36 Heinz Köhn, »Chronik für das Haushaltsjahr 1955/56«, MFA, o. Sign., »Beschädigung und Verlust«.

»Getreuer Statthalter in schwerer Übergangszeit«1 Carl Georg Heise und die Hamburger Kunsthalle von 1945 bis 1955

1 Grabrede, verfasst von Heise, verlesen am 17.8. 1979, Hamburger Kunsthalle, Bibliothek, Sondersammlung 86 I a.

Ute Haug Carl Georg Heise2 fing nicht bei Null an, als er am 1.10. 1945 sein Amt als Direktor der Hamburger Kunsthalle antrat.3 Da er von 1915 bis 1920 unter Direktor Gustav Pauli als Assistent tätig gewesen war und u. a. 1918 den Katalog der Alten Meister erarbeitet hatte, konnte er den Zustand und die Veränderungen des Museums gut einschätzen. Er fand ein durch den Bombenkrieg beschädigtes Gebäude vor. Die Sammlung war kriegsbedingt kaum minimiert und lagerte verstreut über die Stadt. Die Sammlung der Kunsthalle war gezeichnet durch die Aktion »Entartete Kunst« 1937, die die Bestände der klassischen Moderne reduziert hat. Heise musste aber keine unangenehmen Altlasten aus der NS-Kunst übernehmen – wie sie z. B. die Ausstellung Die Deutsche Kunst in München propagierte –, da solche Kunst nicht angeschafft worden war. Jedoch hatte auch er sich mit den Folgen der Erwerbungen für die Sammlung und den Verkäufen aus ihr zwischen 1933 und 1945 zu befassen. Heise hatte die Hamburger Kunsthalle nach der nationalsozialistischen Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg neu zu gestalten. Er hatte das Gebäude zu sanieren, unliebsame »Untermieter« hinauszukomplimentieren4, die Sammlungen im Hause zusammenzuführen, zu pflegen und mittels Erwerbungen und Geschenken neu zu gewichten, sich dem Thema der Restitutionen zu stellen, Ausstellungen zu organisieren etc.5 Es ging um ein Weitermachen. Jedoch musste er, wie viele andere Museumsleiter in Deutschland, den Anknüpfungspunkt sowie die Art und Weise des »Weitermachens«, des »Neugestaltens« erst bestimmen und unter den jeweiligen Umständen definieren. Der Blick in den Schriftverkehr Heises der Jahre 1945 bis 1947 zeigt, dass der gesamte Alltag in diesen ersten Jahren sehr erschwert war. Existenzielle Probleme hatten Priorität. Es ging 72

2 Carl Georg Heise (28.6. 1890–11.8. 1979) entstammte einer alteingesessenen Hamburger Familie. Nach dem Abitur studierte er Kunstgeschichte in Freiburg im Breisgau, Halle, München und Berlin und promovierte 1915 in Kiel über Norddeutsche Malerei. Studien zu ihrer Entwicklungsgeschichte im 15. Jahrhundert von Köln bis Hamburg. Von 1915 an wurde er Assistent an der Hamburger Kunsthalle unter Direktor Gustav Pauli. Vom 1.5. 1920 bis 1933 war er Leiter des Lübecker Museums für Kunst und Kultur. Am 29.7. 1922 ehelichte er Hildegard Neumann (1897–1979). Im September 1933 wurde er zum 1.1. 1934 auf Grund seines Engagements für die expressionistische Kunst in den Ruhestand versetzt. Im April zog das Ehepaar nach Berlin. Dort arbeitete er bis 1937 als Kunstreferent für die Frankfurter Zeitung. Vom 8.3. bis zum 19.3. 1935 wurde Heise in einem Konzentrationslager festgehalten. Ein Grund hierfür, so wird vermutet, war sein Einsatz für die Verlagerung der Warburg-Bibliothek nach London beim Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust. Ein anderer Grund könnte seine Homosexualität gewesen sein. Von 1939 bis zum Frühjahr 1945 arbeitete er als Lektor und Berater für den Gebr. Mann Verlag. Nach seiner Berufung an die Hamburger Kunsthalle wurde Heise 1946 in den Vorstand des Kunstvereins in Hamburg gewählt. Eine umfassende Biografie steht aus. Kurze biografische Darstellungen siehe u. a.: Ulrike Wendland, Biographisches Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil, Teil 1, München 1999, S. 278–284; Björn Biester und Hans-Michael Schäfer, »Carl Georg Heise – eine biographische Skizze«, in: Carl Georg Heise, Persönliche Erinnerungen an Aby Warburg, hrsg. von dens., Wiesbaden 2005, S. 77–84. 3 Heise nahm Ende September 1945 seine Arbeit auf. Siehe Jenns Howoldt, »Der Gegenwart dienen: Neubeginn nach Kriegsende mit Carl Georg Heise«, in: Die Hamburger Kunsthalle. Bauten und Bilder, Hamburg 1997, S. 107–112, hier S. 107. 4 Bezüglich der in der Kunsthalle ansässigen britischen Einheit hieß dies »De-requisition of HAMBURG Kunsthalle«, siehe National Archives, London, Fo 1014/458. 5 Im Rahmen dieses Beitrages kann auf die umfängliche Thematik der Restitutionen nicht eingegangen werden. Insgesamt wurden zwischen 1946 und 1949 elf Gemälde an die Niederlande, 1948 sechs Gemälde nach Frankreich und eines an Belgien zurückgegeben. Im Zuge von Wiedergutmachungs-

darum, Menschen zu suchen, zu finden und ihnen zu helfen, Transporte zu organisieren, Kollegen zu installieren und / oder zu verteidigen, Zuzugsgenehmigungen zu erwirken, Holz, Kohle und überhaupt Baumaterial usw. zu besorgen.6 Heises Bestrebungen, rasch wieder die Kunstwerke der Hamburger Kunsthalle öffentlich zu zeigen, wurden nicht nur durch diese widrigen Umstände ausgebremst. Im Dezember 1945 bemerkte er: »Aber Sie dürfen sich die Verhältnisse hier auch nicht allzu rosig denken. Die Kunsthalle ist doch sehr schwer angeschlagen und ausserdem sind alle benutzbaren Räume noch von einer englischen Dienststelle besetzt. Auch sonst geht alles sehr langsam voran und der erste Elan eines gewissen kulturellen Auftriebs ist längst vorüber.«7

verfahren gelangten 1950 zwei Werke und 1952 ein Gemälde an Anna Löwengart, Haifa, 1951 ein Gemälde an die Erben von Selma Baum, 1952 zwei Gemälde an die Erben von Eric Lehmann und eines an die Erben der Galerie van Diemen, 1953 ein Gemälde an Leopold Wulson und 1955 ein Gemälde an Eric M. Warburg zurück. 6 Historisches Archiv Hamburger Kunsthalle (HAHK), Sm H, 1945-1947.

7 HAHK, Sm H, 27.12. 1945 Heise an Prof. Beenken.

Hamburger Rahmenbedingungen der ersten Jahre Am 3.5. 1945 war in Hamburg der Krieg zu Ende, die britische Besatzung begann. Am 4.5. wurden Reichsstatthalter Karl Kaufmann, am 9.5. Bürgermeister Vincent Carl Krogmann, zwei Tage später weitere führende Mitglieder der NSDAP verhaftet. In der Stadt lebten 1.110.539 Menschen, 500.000 weniger als 1933. Fast 50 % der Wohnungen waren zerstört, 30 % leicht bis schwer beschädigt. 43 Millionen Kubikmeter Trümmer lagen in der Stadt. Der politische Neuanfang begann am 15.5. 1945 mit der Ernennung des Kaufmannes Rudolf Petersen zum Ersten Bürgermeister, und ein weiterer Schritt in die Demokratie erfolgte mit der Bestimmung der ersten Bürgerschaft der Stadt – 81 Abgeordnete – durch die britische Militärregierung im Februar 1946. Fachliteratur zur britischen Besatzungszeit von 1945 bis 1949 liegt umfangreich vor.8 Die Literatur, die sich mit dem kulturellen Leben in dieser Zeit in Deutschland und der Rolle der britischen Besatzer darin beschäftigt, schließt bisher die Betrachtung der Bildenden Kunst und deren Institutionen fast völlig aus.9 Veronica Davies versucht, mit ihren Untersuchungen diese Lücke zu schließen, jedoch fehlen die Detailforschungen, um ihre Überlegungen auf eine breitere Basis stellen zu können.10 Eine Darstellung der kulturellen Verhältnisse in Hamburg von 1945 bis 1955 fehlt. Das Ziel der britischen Besatzer war es, so der bisherige Tenor, die »deutsche Selbstverwaltung« zu »beaufsichtigen«, sich jedoch nicht direkt zu involvieren.11 Die Kunsthistorikerin Karla Eckert erinnert sich, dass der Museumsoffizier Major G. J. Willmot zwischen Juni und September 1945 vorgeschlagen habe, Kunstwerke aus dem Bunker in die Britische Besatzungszone Hamburg

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8 Siehe Michael Ahrens, Die Briten in Hamburg, Besatzerleben 1945–1958, hrsg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, München, Hamburg 2011. 9 Siehe Gabriele Clemens, Britische Kulturpolitik in Deutschland 1945–1949: Literatur, Film, Musik und Theater, Stuttgart 1997. 10 Veronica Davies, »German Initiatives and British Interventions 1945–51«, in: Kunstgeschichte nach 1945. Kontinuität und Neubeginn in Deutschland, hrsg. von Nicola Doll, Ruth Heftrig, Olaf Peters und Ulrich Rehm, Köln, Weimar, Wien 2006, S. 13–20. 11 Ahrens 2011 (wie Anm. 8), S. 28 f. Noch auszuwertendes Material für die Aktivitäten der Briten auf dem Kunstund Kulturbereich in Hamburg und in ihrer Zone findet sich in den National Archives, London, u. a. Fo 1014/458 und 855.

Blick aus der teilweise zerstörten Kunsthalle auf die Kuppel nach dem Luftangriff am 18.6. 1944

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Räume der Hamburger Kunsthalle zu bringen und auszustellen. Dr. Dietrich Roskamp, Kustos an der Hamburger Kunsthalle, und sie hätten sich wegen der starken Feuchtigkeit in den Räumen geweigert, diesem Vorschlag zu folgen.12 Ähnliche Versuche der Einflussnahme sind bislang nicht bekannt. Es scheint vielmehr, dass in den ersten Jahren nach 1945 die britischen wie auch die deutschen Verwaltungen sehr mit ihrer Struktur, ihrem Aufbau und ihrer Tätigkeitsbestimmung befasst waren. Mit dem Ende der Besatzungszeit 1949 setzt eine ganz andere Kulturpolitik der Alliierten ein, die auf nationaler und bilateraler Ebene wirken sollte. Diese äußerte sich z. B. in der Ausstellung Die Großen Maler Englands. Von Hogarth bis Turner, die vom 15.10. bis 12.11. 1949 in der Hamburger Kunsthalle zu sehen und vom British Council organisiert worden war. Sammlungsgestaltung In den Jahren von 1945 bis 1955 gelangen 100 Gemälde als Ankäufe und 92 als Geschenke in den Bestand der Kunsthalle. In den ersten Jahren kann die Kunsthalle auf Grund ihrer finanziellen Lage nur wenige Gemälde erwerben. 1946 kauft Heise nur einen Alten Meister, Jan van der Heyden (HK-729). 1947 bessert sich die Erwerbslage und die neue Ausrichtung durch Heise wird deutlich: das Stillleben mit Fischen von Max Beckmann (1944), das Selbstbildnis von Karl Kluth (1937), das Waldbild von Karl Schmidt-Rottluff (1921), Mutter und Kind von Otto Dix (1924), Die Quelle von Ernst Wilhelm Nay (1947) und von Emil Nolde die Heilige Maria Aegyptiaca (Triptychon) von 1912. Er will die Alten Meister nicht vernachlässigen, legt aber sein Hauptaugenmerk auf die Werke der Klassischen Moderne und der zeitgenössischen, auch abstrakten deutschen Malerei. Die Hamburger Künstler behält er ebenfalls im Blick. Somit versucht er gleichzeitig, die durch die Aktion »Entartete Kunst« entstandenen Lücken zu schließen (wobei von einer Rekonstruktion nicht die Rede sein kann) und die Weiterentwicklung der deutschen Kunst bis in die Gegenwart und die Hamburger Tendenzen in der Sammlung der Kunsthalle abzubilden. Diesem Grundprinzip bleibt er treu. Ältere Werke von Ivo Hauptmann, Rudolf Levy, Otto Mueller, Ernst Wilhelm Nay, Anita Rée, Karl SchmidtRottluff und aktuelle Arbeiten von Walter Siebelist und Herbert Spangenberg werden 1948 erworben. Mit der Währungsreform steigt 1949 die Zahl der Ankäufe sprunghaft an. Es werden 20 Gemälde angeschafft. Und andere Akzente der Sammlungsgestaltung machen sich bemerkbar: Neben den älteren Werken von Friedrich Ahlers-Hestermann, Lovis Corinth. Erich Heckel, Alexej von Jawlensky, Ernst Ludwig Kirchner, Franz Marc, Britische Besatzungszone Hamburg

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12 Karla Eckert, Leben mit Verzögerungen. Eine Hamburgerin in der Welt von Kunst und Mode, Hamburg 2000, S. 128. Zu den alltäglichen Kontakten der Kunsthalle mit der britischen Militärregierung siehe HAHK, A 235.

Hängung in den Oberlichtsälen der Hamburger Kunsthalle 1953

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Karl Schmidt-Rottluff, Max Slevogt, Heinrich Stegemann, Maurice Vlaminck und den aktuelleren Ölgemälden von Max Beckmann und Gabriele Münter kommt nun ein weiterer Schwerpunkt, der des deutschen Impressionismus und dessen Umfeld, mit Arbeiten von Thomas Herbst und Leopold von Kalckreuth, in den Blick. Für 1949 ist auch der Ankauf von Werken des 19. Jahrhunderts dokumentiert. Die Gemälde von Friedrich Overbeck – hier spiegelt sich Heises ehemaliges Engagement für die Lübekker Museen – und Jacob Gensler verfeinern diesen traditionell starken Bestand. Bis 1955 erwirbt Heise Werke der klassischen Moderne von Max Beckmann, Lovis Corinth, Lyonel Feininger, Erich Heckel, Alexej von Jawlensky, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Oskar Kokoschka, August Macke, Edvard Munch, Ernst Wilhelm Nay, Emil Nolde, Oskar Schlemmer und Karl Schmidt-Rottluff. Arbeiten deutscher Impressionisten wie Max Liebermann und zeitgenössische Werke werden ebenfalls berücksichtigt. Die aktuellen Kunstentwicklungen werden präsentiert durch Arbeiten von Willi Baumeister, Werner Bley, Alexander Camaro, Harald Duwe, Albert Feser, Klaus Frank, Oskar Kokoschka, Georg Meistermann, Hans Müller-Dünwald, Ernst Wilhelm Nay, Hans Purrmann, Theodor Werner und Fritz Winter. Bei den Schenkungen zeigt sich eine andere Gewichtung. Drei größere Zugänge sind dabei von Bedeutung. 1946 gab die Witwe Walburga Hansing drei, 1955 nochmals zwei Werke des 19. Jahrhunderts. Hinzu kamen weitere Geschenke von Werken aus dieser Epoche, nämlich ein Friedrich Overbeck (1949), zwei Friedrich Carl Gröger, ein Julius Schnorr von Carolsfeld, ein Philipp Otto Runge (1953) und ein Daniel Chodowiecki (1954). Wenn auch nur als Dauerleihgaben aus der Sammlung Siegrid Wedells, stärkten und stärken seit 1947 und 1955 20 Werke Alter Meister diese Abteilung der Kunsthalle. An Schenkungen von Alten Meistern kamen nur zwei hinzu: Abraham Bloemaert (1950) und Hinrich Stravius (1952). Lediglich wenige herausragende Werke der klassischen Moderne, z. B. von Paula Modersohn-Becker (1946), Max Slevogt (1951), Lovis Corinth und Ernst Ludwig Kirchner (1952), Edvard Munch, Erich Heckel (1953) und Alexander Kanoldt (1954) kamen auf diese Weise in die Sammlung. Die größte Erweiterung erfuhren die Bestände der Hamburger Künstler. Eine Schenkung von Emmi Ruben im Jahr 1948 mit 17 Gemälden und 129 Grafiken bildete hier den Auftakt. Die Bestände des Kupferstichkabinetts wuchsen bis 1955 um 2.465 Arbeiten an. Der enorme Umfang der Erwerbungen mit 421 Arbeiten im Jahr 1949 ist sicher eine Folge der Währungsreform. Britische Besatzungszone Hamburg

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Der Zuwachs in den Jahren von 1950 bis 1955 liegt im Schnitt bei jeweils 250 Blättern. Bei der Durchsicht der Inventareinträge drängt sich ein ähnlicher Eindruck wie beim Gemäldebestand auf. Schwerpunkt bilden die Ankäufe der ehemals als »entartete« Kunst eingestuften Werke bzw. der klassischen Moderne. Gleichzeitig geht der Blick für die Erzeugnisse Hamburger Künstler, des 19. Jahrhunderts und der Alten Meister nicht verloren. Bei den Erwerbungen der Skulpturen liegt der Schwerpunkt auf den Werken der klassischen Moderne und den zeitgenössischen, abstrakten Arbeiten. Werke von Ernst Barlach, Hermann Blumenthal, Kurt Edzard, Karl Hartung, Käthe Kollwitz, Aristide Maillol, Gerhard Marcks werden angekauft, Schenkungen von Werken von Ernst Barlach, Bernhard Hoetger, Anita Rée und Hans Martin Ruwoldt kommen hinzu. Maßgebliche Tendenzen der zeitgenössischen und damit auch der abstrakten Skulptur präsentieren die Erwerbungen von Arbeiten der Künstler Karl Hartung, Bernhard Heiliger und Gerhard Marcks. Heise setzte sich schon sehr früh für die Künstler der klassischen Moderne ein, die meist während des Nationalsozialismus als »entartete« Künstler eingestuft worden waren. In den letzten Jahren wurde genau erforscht, was an Kunst der Moderne in den Kunstmuseen abhanden gekommen ist. Doch dabei ging der Blick für die Werke der Moderne verloren, die in den Häusern verblieben waren. An dem Werk von Ernst Barlach in der Hamburger Kunsthalle soll schlaglichtartig das Problemfeld eröffnet werden. Insgesamt 170 Blätter, ausschließlich Druckgrafiken Barlachs, waren bei der Aktion »entartete Kunst« 1937 laut Fischer-Liste in der Kunsthalle beschlagnahmt worden. Doch waren 39 Blätter Barlachs, davon zwei Drittel Zeichnungen, übersehen worden. Zudem blieb auch in der Bibliothek je ein weiterer Satz der Illustrationen von Der Arme Vetter und Der Findling unbeachtet. Letzterer war erst 1936 erworben worden. Und von der Mappe Die Wandlungen Gottes blieben ebenfalls fünf Druckgrafiken in der Kunsthalle. 1937 waren allerdings auch die beiden Klinkerarbeiten Barlachs Der Sänger und Die Frau im Wind dem Bestand entzogen worden. Somit war ein beachtlicher Teil von Barlachs Werk weiterhin im Kupferstichkabinett und in der Bibliothek der Hamburger Kunsthalle vertreten. Von einer tabula rasa kann nicht die Rede sein. Dies ist der Ausgangspunkt, an dem Heise, der mit Barlach und seinem Werk durch seine Lübecker Tätigkeit sehr vertraut war, anzusetzen hatte, um dessen Schaffen wieder repräsentativ im 78

Bestand darstellen zu können. Der nicht vollständige Satz von Der tote Tag, der 1937 beschlagnahmt worden war, konnte 1949 durch eine mit 27 Lithografien vollständige Mappe ersetzt werden. Weitere 36 Werke des Künstlers erweiterten bis 1955 den Bestand. Rein quantitativ war damit der Bestand an Werken Barlachs im Kupferstichkabinett fast wieder auf dem Stand von vor 1937. Was die Skulpturen betrifft, ist sogar bis 1954 eine bessere Situation zu vermerken. Sammlungspräsentation – Ausstellungen – Räume Anfangs standen für die Präsentation der Sammlung in der Kunsthalle keine Räume zur Verfügung. Durch Kriegseinwirkungen waren der Vortragssaal und die darüberliegenden Oberlichtsäle zerstört, der Studiensaal des Kupferstichkabinetts stark beschädigt worden. Die britische Dienststelle zur Entlassung von Kriegsgefangenen besetzte Räume, außerdem beanspruchten der Kunstverein, das Kunsthistorische Seminar und die Theaterwerkstätten Räumlichkeiten. Die erste Präsentation von Kunstwerken der Hamburger Kunsthalle fand deshalb in der Kunsthandlung Louis Bock & Sohn, Große Bleichen 34, statt, die Heise angemietet hatte. Dort waren ab dem 2.12. 1945 Meisterwerke der Kunsthalle, Malerei des 17. und 19. Jahrhunderts zu sehen. Diese erste Ausstellung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde durch den Ersten Bürgermeister Rudolf Petersen und Carl Georg Heise eröffnet. 26 Werke Alter Meister, fast ausschließlich niederländischer Künstler, und 44 Künstler des 19. Jahrhunderts waren zu sehen. Darüber hinaus waren zahlreiche Werke französischer Künstler ausgestellt, darunter Paul Cézanne, Jean Corot, Edgar Degas, Eugène Delacroix, Édouard Manet und Pierre-Auguste Renoir. Diese Ausstellung wurde vom Hamburger Publikum sehr stark frequentiert. Täglich wurden Schülergruppen durch die Präsentation geführt. Auf Grund der schlechten Witterung aber und dem bedenklichen baulichen Zustand der Räume musste die Ausstellung vorzeitig am 26.1. 1946 geschlossen werden.13 Nur wenige Monate später, nachdem Sanierungsarbeiten die Räumlichkeiten wetterfester gemacht hatten, folgte die Präsentation der Wegbereiter vom 15.5. bis zum 17.6. 1946.14 Sie zeigte 124 Kunstwerke von u. a. Ernst Barlach, Max Beckmann, Lovis Corinth, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Käthe Kollwitz, Wilhelm Lehmbruck, Franz Marc, Gerhard Marcks, Otto Mueller, Emil Nolde, Karl Schmidt-Rottluff aus Hamburger Privatsammlungen (auch aus Heises Sammlung) und erregte ebenfalls große Britische Besatzungszone Hamburg

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13 HAHK, U 2108.

14 HAHK, U 2108.

Präsentation der Skulpturen in der Kunsthalle, 1953

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Aufmerksamkeit. Täglich fanden Führungen für Schulen und allgemein Interessierte statt. Das Presseecho war außergewöhnlich stark. Die ersten Sammlungsräume wurden am 14.9. 1946 in den acht Kabinetten und in einem kleinen Saal hin zum Glockengießerwall mit der Ausstellung Deutsche Romantik eröffnet. Es kamen die Räume im Sockelgeschoss hinzu. Am 6.12. 1947 wurden neun weitere Kabinette an der Bahnseite im Erdgeschoss des Neubaus mit der Ausstellung Hamburger Malerei bestückt. Am 24.4. 1948 konnten fünf Oberlichtsäle und acht Kabinette des Obergeschosses bespielt werden. Abermals fünf Oberlichtsäle und weitere acht Kabinette waren ab dem 20.10. 1948 für die Öffentlichkeit zugänglich. 1950 konnte auch das Kupferstichkabinett wieder eröffnet werden – genau zum richtigen Zeitpunkt, denn in diesem Jahr beging man die Hundertjahrfeier der Hamburger Kunsthalle. Die zahlreichen bis 1955 stattfindenden Ausstellungen, viele davon ausschließlich mit Handzeichnungen und Grafiken, fanden meist in den Kabinetten und im Kupferstichkabinett statt. Heise wählte einen einheitlichen weißgrauen Farbanstrich für die Sammlungsräume, den er ab 1954, »seitdem eine ständige Ordnung sich abzuzeichnen beginnt«, den ausgestellten Werken farblich anzugleichen begann.15 Zudem wurden die Bestände häufig neu gehängt und in andere Zusammenhänge gestellt. Heise folgte mit diesen in die Sammlung integrierten Präsentationen einer ihm sehr wichtigen Devise: »So wohltuend es sein mag, die altbekannten Meisterwerke immer am gleichen Ort zu finden, wichtiger ist es, sie hin und wieder in anderen Zusammenordnungen neu sehen zu lernen. Der intensive Kontakt mit den geistigen Kräften unserer Zeit ist nur zu halten, wenn auch das Museum dazu beiträgt, Fragen zu stellen, mögen sie gelegentlich noch so beunruhigend sein.«16 Der Nachfolger Heises, Alfred Hentzen, bemerkte 1955, die moderne Abteilung der Hamburger Kunsthalle habe bei Heises Ausscheiden »mit und neben der des Wallraf-Richartz-Museums in Köln an erster Stelle in Deutschland« gestanden.17 Carl Georg Heise hingegen sah sein Wirken und die Stellung der Kunsthalle kritischer. Er resümierte: »Die Kunsthalle sieht jetzt etwa wieder so aus, wie sie vor 1933 gewesen ist, und das heißt, daß sie, im Hinblick etwa auf die heute führenden Museen Amerikas, einen vergleichsweise altmodischen Charakter hat, wenn auch einige befruchtende Impulse aus einer grundlegenden veränderten Situation zu nutzen versucht worden sind.«18

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15 Carl Georg Heise, »Der Wiederaufbau der Hamburger Kunsthalle – außen und innen«, in: Neues Hamburg, 9, 1954, S. 83–88, hier S. 83.

16 Carl Georg Heise, »Ansprache zur Hundertjahrfeier der Hamburger Kunsthalle. 1950«, in: Carl Georg Heise, Der Gegenwärtige Augenblick. Reden und Aufsätze aus vier Jahrzehnten, hrsg. von Paul Ortwin Rave, Otto H. Hess und Marcus Bierich, Berlin 1960, S. 86–91, hier S. 91. 17 Howoldt 1997 (wie Anm. 3), S. 108.

18 Heise 1954 (wie Anm. 15), S. 83.

Zwischen Kontinuität und Neubeginn Die Kunstabteilung im Landesmuseum Hannover nach 1945 Claudia Andratschke Das Landesmuseum Hannover ist aus dem Zusammenschluss privater Vereine und Gesellschaften hervorgegangen, die ihre Sammlungen 1852 im Museum für Kunst und Wissenschaft« zusammenführten und 1886 unter die Ägide der Provinz Hannover stellten. Im 1902 eingeweihten Neubau des Provinzialmuseums am Maschpark wurden die Sammlungen der Trägervereine, die Erwerbungen der Provinz, die Bestände des Welfen-Museums und die zum Fideikomiss des Gesamthauses Braunschweig-Lüneburg gehörenden Objekte vereint. Die Unterteilung in Verwaltungsgruppen führte zur heutigen Struktur mit den Fachbereichen der Landesgalerie, Naturkunde, Archäologie und Völkerkunde.1 Den internationalen Ruf der Kunstabteilung begründete ihr Leiter seit 1923, Alexander Dorner (1893–1957), der eine vielbeachtete Neukonzeption der Galerie im zweiten Obergeschoss durchführte, die in der Installation des von El Lissitzky entworfenen Abstrakten Kabinetts gipfelte.2 Nach 1933 geriet Dorner wegen seines Engagements für die Avantgarde und einer oftmals undurchsichtigen Ankaufs- und Leihgabenpolitik unter Druck. Vorwürfe über unrechtmäßig verwendete öffentliche Gelder führten dazu, dass er im Februar 1937 vom Dienst suspendiert wurde und schließlich in die USA ausreiste.3 Sein Nachfolger wurde der seit 1922 am Haus beschäftigte Ferdinand Stuttmann (1897–1968),4 in dessen kommissarische Amtszeit im Sommer 1937 der Abbruch des Abstrakten Kabinetts und die Beschlagnahme von rund 280 Kunstwerken als »Entartete Kunst« fiel.5 Als NSDAP-Mitglied und Kenner der Hannoverschen Sammlungen avancierte er nach 1938 zum führenden Museumsmann der Stadt, der in Personalunion die Kunstabteilung des Landesmuseums, das Städtische Kestner-Museum und die Kunstgewerbesammlung im Leibnizhaus leitete,6 seinen Sachverstand in den Dienst der NS-Behörden stellte und manche »günstige Gelegenheit« zur Vermehrung der Bestände nutzte.7 Nach 1939 war Stuttmann überdies für die Durchführung der Auslagerungsmaßnahmen zuständig, in deren 82

1 Hundert Jahre Niedersächsisches Landesmuseum zu Hannover 1852–1952, hrsg. von Karl Hermann Jacob-Friesen, Hannover 1952; Ines Katenhusen, »150 Jahre Niedersächsisches Landesmuseum Hannover«, in: Das Niedersächsische Landesmuseum Hannover. 150 Jahre Museum in Hannover. 100 Jahre Gebäude am Maschpark. Festschrift zum Jahr des Doppeljubiläums, hrsg. von Heide Grape-Albers, Hannover 2002, S. 18–94. 2 Dies., Kunst und Politik. Hannovers Auseinandersetzung mit der Moderne in der Weimarer Republik, Hannover 1998, S. 31ff.; dies., »›… nicht der übliche Typus des Museumsdirektors‹. Alexander Dorner und die Gemäldegalerie des Landesmuseums Hannover in der Zwischenkriegszeit«, in: Werke und Werte. Über das Handeln und Sammeln von Kunst im Nationalsozialismus, hrsg. von Maike Steinkamp und Ute Haug, Berlin 2010, S. 173–190. 3 Ebd., S. 178 ff.; Niedersächsische Landesarchiv, Hauptstaatsarchiv Hannover (NLA, HStAH), Nds. 401, Acc. 2000/155, Nr. 32 und 48. Hier und nachfolgend sind sämtliche Nachweise und Werkangaben auf ein Mindestmaß reduziert. 4 Ebd., Nds. 120 Hannover 112/99, Nr. 40/1, 40/2; Nds. 171 Hannover, Nr. 21238. 5 NLMH, Landesgalerie (LG)/Archiv, I.3.2.a (Museums-Reform / »Entartete Kunst« / Beschlagnahme 1937); Katrin Sello, Beschlagnahme-Aktion im Landesmuseum Hannover 1937. Liste der konfiszierten Werke und unveröffentlichten Dokumente, Hannover 1983; Auf Spurensuche – Zur Erinnerung an die Aktion »Entartete Kunst«. Ein Rundgang durch die Sammlung, hrsg. von Isabel Schulz und Isabelle Schwarz, Ausst.-Kat. Sprengel Museum Hannover, Hildesheim 2007, S. 13 ff.

Verlauf die Sammlungen zuerst innerhalb der Stadt und ab Februar 1943 in Schlössern, Kalischächten und Bergwerken der Umgebung deponiert wurden.8 Beim schwersten Fliegerangriff auf Hannover in der Nacht vom 9./10. Oktober 1943 wurden zwar keine wertvollen Bestände, aber die Kuppel, Dächer, Treppenaufgänge sowie sämtliche Portale und Fenster des Museumsgebäudes zerstört.9 Die von Brigadegeneral John Lingham geführte britische Militärregierung übte einen indirekten Einfluss auf die Kulturpolitik aus, indem sie die Verwaltungsorgane und führenden Ämter mit ehemaligen Gegnern oder Verfolgten des NS-Regimes besetzte, darunter der zum Oberbürgermeister ernannte Gustav Bratke, der als Leiter der Abteilung für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung berufene SPD-Politiker Adolf Grimme und der zum Oberpräsident ernannte, spätere niedersächsische Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf. Darüber hinaus förderte sie Presse und Rundfunk und initiierte Wanderausstellungen wie Moderne englische Zeichnungen und Aquarelle.10 Im Landesmuseum war an die Wiederaufnahme eines regulären Museumsbetriebs zunächst nicht zu denken. Das verbliebene oder aus dem Krieg zurückgekehrte Personal sicherte das zerstörte Gebäude und begann mit der Einrichtung provisorischer Arbeitsräume und Magazine, die zugleich als Wohnraum dienten.11 Ferdinand Stuttmann kehrte im Juni 1945 nach Hannover zurück. In seiner Verantwortung erfolgte die Sichtung und Rückführung der musealen Bestände.12 Für seinen »Verbleib im Amt« votierte im Januar 1946 eine aus »Nicht-Parteigenossen« gebildete Kommission, befürwortet vom wieder eingesetzten Direktor Dr. Karl Hermann Jacob-Friesen (1886–1960), der in der NS-Zeit stets in Uniform aufgetreten und an der Diffamierungskampagne gegen Dorner beteiligt gewesen war. Auch als Stuttmann 1947 für die Dauer seines Entnazifizierungsverfahrens vom Dienst suspendiert wurde, bewirkten Eingaben unter anderem des Kultusministers, dass er seine Tätigkeit bereits nach wenigen Wochen wieder aufnehmen konnte; 1949 wurde er schließlich vollständig entlastet.13 Zu den ersten Ausstellungen gehörten eine von der Suspendierung Stuttmanns nur unmerklich überschattete Veranstaltung anlässlich des 100. Geburtstages von Max Liebermann und eine Werkschau des Hannoverschen Sezessionisten Otto Gleichmann,14 dessen konstruktivistische Arbeiten schon 1932 als »wahnsinnig« oder »krankhaft« gebrandmarkt worden Britische Besatzungszone Hannover

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6 Personal- und Entnazifizierungsakte (wie Anm. 4); Stadtarchiv Hannover (StAH), HR 10 Nr. 1286; Michael Reinbold, »Die wissenschaftliche Leitung des Museums«, in: 100 Jahre Kestner-Museum Hannover 1889–1989, hrsg. von Ulrich Gehrig, Hannover 1989, S. 34–66. 7 StAH, AAA, Nr. 2392; Kulturamt/Kulturbüro, Nr. 967; Rechtsamt, Nr. 32 und 45f.; NLA, HStAH, Hann. 210, Acc. 2004/023, Nr. 906/40f.; Sandra Blanke, »Jüdisches Eigentum im Kestner-Museum«, in: Schreibtischtäter? Einblicke in die Stadtverwaltung Hannover 1933-1945, hrsg. von Wolf-Dieter Mechler und Hans-Dieter Schmid, Hannover 2002, S. 43–46; Cornelia Regin, »Erwerbungen der Stadt Hannover: Die Gemälde aus der Sammlung Gustav Rüdenberg«, in: Hannoversche Geschichtsblätter, N. F. 61, 2007, S. 167–174; Claudia Andratschke, »Provenienzforschung am Niedersächsischen Landesmuseum Hannover«, in: Erblickt, verpackt und mitgenommen – Herkunft der Dinge im Museum. Provenienzforschung im Spiegel der Zeit, hrsg. von Ulrich Krempel u. a., Hannover o.J. (2012), S. 73–87; Dies., in: NS-Raubgut in Museen, Bibliotheken und Archiven. Viertes Hannoversches Symposium, im Auftrag der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek hrsg. von Regine Dehnel, Berlin 2012, S. 89–108. 8 NLMH, LG/Archiv, Nachlass W. Redemann; NLMH, LG/Werkstätten, »Luftschutz«; »Bergungslisten 1943–44«.; NLA, HStAH, Hann. 151, Nr. 184f.; Nr. 152, Acc. 68/94, Nr. 24; Christian E. Loeben, Lost! Die Ägypten-Sammlung des Museum August Kestner und ihre (Kriegs-) Verluste, Ausst.-Kat. Hannover, Rahden/Westfalen 2011, S. 135ff. 9 NLA, HStAH, Nds. 401, Acc. 112/83, Nr. 476/9ff.; Ferdinand Stuttmann, »Einleitung«, in: Verzeichnis der Kunstwerke nach 1800 im Landesmuseum Hannover. Sammlungen des Landes Niedersachsen, der Hauptstadt Hannover und des Vereins für die Öffentliche Kunstsammlung, Hannover 1950, S. III. 10 Moderne englische Zeichnungen und Aquarelle, veranstaltet vom British Council, Ausst.-Kat. Hannover u. a., Deutschland 1950/51, London 1950. 11 Vgl. Anm. 8; Hans-Jürgen Imiela, »Erinnerungen«, Manuskript, Dezember 1984 (NLMH, LG/Werkstätten, Mappe »Museumsgeschichte«). 12 Dies, obwohl der 1937 suspendierte Direktor des Kestner-Museums, Carl Küthmann, 1945 rehabilitiert worden war. Der Kustos Dr. Gert von der Osten kehrte erst 1948 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück. Sein Vertreter war Dr. Reinhold Behrens. Als Hilfsarbeiter war der Gymnasiast Hans-Jürgen Imiela im Museum tätig. NLMH, LG/Archiv, I.1.1 (»Personal«, 1946ff.); Reinbold 1989 (wie Anm. 6), S. 45ff.; Loeben 2011 (wie Anm. 8), S. 149f. 13 NLA, HStAH, Nds. 120 Hannover, Acc. 112/99, Nr. 40,1; Nds. 171 Hannover, Nr. 21238. Zu Jacob-Friesen siehe die Entnazifizierungsakte ebd., Nds. 171 Hannover, Nr. 11302. 14 Max Liebermann und der deutsche Impressionismus, Ausst.-Kat. Hannover 1947; Otto Gleichmann, Ausst.-Kat. Hannover 1947.

Zustand des Landesmuseums Hannover nach dem 9. / 10.10. 1943

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waren.15 Stuttmann hatte sich auch nach 1933 für den befreundeten Gleichmann eingesetzt und 1943 einige seiner Werke sichergestellt.16 Sein auch im Entnazifizierungsverfahren angeführter »Einsatz« für die moderne Kunst verwundert nur auf den ersten Blick, denn der Kunsthistoriker war in den 1920er Jahren – wie Dorner – Mitglied der Kestner-Gesellschaft und ein Förderer der avantgardistischen Kunst mit Kontakten zu der von Kurt Schwitters initiierten Gruppe »abstrakte hannover« gewesen.17 Nach 1938 hatte er Vorschläge über die »zweckmäßige Neugestaltung« der Hannoverschen Museumslandschaft vorgelegt, die in Anlehnung an ältere Reformvorhaben eine von Eigentumsverhältnissen unabhängige Zusammenfassung der Bestände nach inhaltlichen Gesichtspunkten vorsahen.18 Stuttmann ging davon aus, diese Pläne nach Kriegsende umsetzen zu können und kündigte bereits 1941 den Wiederaufbau einer modernen Galerie an.19 Daran sowie an die nach 1933 in den Hintergrund getretenen Interessen der 1920er Jahre anknüpfend, forderte er nach 1945 mit Nachdruck den »Wiederanschluss« der Museen an die Moderne.20 Bereits im Juni 1946 bat er Kunsthändler wie Ferdinand Möller, Alex Vömel oder Werner Rusche per Rundschreiben um die Einsendung von Angeboten.21 Zu den ersten Neuerwerbungen gehörte eine 1946/47 bei der Kunstausstellung Gerstenberger in Chemnitz erworbene Dünenlandschaft von Max Pechstein.22 Dass der Mitinhaber der Galerie, Wilhelm Großhennig, in der NS-Zeit in den Handel mit Raubkunst involviert war,23 hielt Stuttmann weder von der Wiederbelebung der Geschäftsbeziehungen noch von der Ausstellung eines Empfehlungsschreibens ab.24 Entsprechend gering war sein Interesse an der Herkunft der Neuerwerbungen – einschließlich der »Entarteten Kunst«.25 Gezielte Rückkäufe wurden erst unter Stuttmanns Nachfolger Harald Seiler (1910–1976) getätigt, der zudem den Konstruktivismus erneut in den Blickpunkt rückte und den Sammlungsbereich der Nachkriegskunst systematisch ausbaute.26 Stuttmann war eher um adäquaten Ersatz für die 1937 entstandenen Sammlungslücken bemüht und erwarb repräsentative Arbeiten von Alexej von Jawlensky,27 Franz Marc,28 Max Beckmann,29 August Macke30 oder Ernst Barlach31. Die Kaufpreise lagen zwischen 2.000 und 25.000 DM und damit über den planmäßigen Mitteln, die sich 1948 auf rund 5.000 DM beliefen. Ankäufe von Gemälden und Skulpturen waren nur mit Hilfe von Sondermitteln des Kultusministeriums möglich.32 So verlegte sich Stuttmann auf preisgünstige Arbeiten auf Pappe oder Papier und legte damit den Grundstock einer Aquarellsammlung, die schließlich sämtliche Hauptvertreter der Klassischen Moderne umfasste.33 GleichzeiBritische Besatzungszone Hannover

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15 Gunda-Anna Gleichmann-Kingeling, Otto Gleichmann und seine Zeit, Hannover 2001; Ausst.-Kat. Hannover 2007 (wie Anm. 5), S. 50. Die Parallel-Ausstellungen des Kunstvereins waren ebenfalls von einer Rehabilitierung der diffamierten Künstler geprägt. Vgl. 175 Jahre Kunstverein Hannover, hrsg. von Stephan Berg, Hannover 2007, S. 295. 16 NLMH, LG/Werkstätten, Bergungslisten; NLA, HStAH, Nds. 171 Hannover, Nr. 21238. 17 NLA, HStAH, Dep. 100, Nr. 33, 51a; Katenhusen 1998 (wie Anm. 2), S. 242ff.

18 StAH, HR 10, Nr. 1286; Karl Hermann Jacob-Friesen, Denkschrift über den Plan einer Neugestaltung der Museen in der Stadt Hannover, Hannover 1919; Katenhusen 2002 (wie Anm. 1), S. 32ff. Ein Beitrag der Verfasserin zur Rolle Stuttmanns innerhalb der HannoverschenMuseumslandschaft während der NS- und Nachkriegszeit wird im 10. Band der Veröffentlichungen der Koordinierungsstelle Magdeburg, hrsg. von Andrea Baresel-Brand, Magdeburg 2013, erscheinen. 19 NLA, HStAH, Hann. 152, Acc. 2006/013, Nr. 57/181; Hann. 152, Acc. 68/94, Nr. 7; StAH, HR 10, Nr. 1286, 1479. 20 NLA, HStAH, Hann. 152, Acc. 2006/013, Nr. 58/193. 21 Ebd., Bl. 131. 22 Max Pechstein, Vordüne (1919), 1947 erworben. Vgl. Kunstmuseum Hannover mit Sammlung Sprengel. Gemälde, Skulpturen, Aquarelle und Zeichnungen des 20. Jahrhunderts. Bestandskatalog, Hannover 2003, Nr. 841; Aya Soika, Max Pechstein. Das Werkverzeichnis der Ölgemälde, Bd. 1, München 2011, Nr. 1919/58. 23 BArch Berlin, R-8-XIV-11; BArch Koblenz, B 323/133, 153f., 173, 1218–1220. 24 NLA, HStAH, Hann. 152, Nr. 58/360ff.; Nr. 63/62. 25 Vgl. die Korrespondenz mit Ferdinand Möller, Dezember 1951, betreffend Erich Heckel, Weibliches Bildnis (1913), 1937 als »entartet« im Landesmuseum beschlagnahmt (NLA, HStAH, Hann. 152, Acc. 2006/013, Nr. 62/97ff.); dazu Wolfgang Schöddert, »Vom Geist der Kunst und dem Ungeist der Zeit. Spuren der Galerie Ferdinand Möller aus den Jahren 1937 bis 1945«, in: Steinkamp und Haug 2010 (wie Anm. 2), S. 61– 81. 26 Ernst Ludwig Kirchner, Kranker in der Nacht (1922), 1937 im Landesmuseum beschlagnahmt, 1977 vom Land Niedersachsen erworben. Vgl. Best.-Kat. Hannover 2003 (wie Anm. 22), Nr. 551; zu Harald Seiler Katenhusen 2002 (wie Anm. 1), S. 85ff. 27 Alexej von Jawlensky, Mystischer Kopf: Gelbe Lippen (1917), 1948 erworben. Best.-Kat. Hannover 2003 (wie Anm. 22), Nr. 522.

Werbeplakat mit Ansicht der Kuppelhalle, ab 1952

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tig nutzte er seine Kontakte zu Vertretern der Politik, Wirtschaft und Kultur, um die Umsetzung seiner Pläne zur Neuordnung der Hannoverschen Museumslandschaft erfolgreich zu forcieren. Die Folge war, dass neben der seit 1924 als Leihgabe in der Kunstabteilung präsentierten und durch Neuerwerbungen und Stiftungen ebenfalls stetig erweiterten Städtischen Galerie auch die Alten Meister des Kestner-Museums ins Landesmuseum gelangten.34 Darüber hinaus wurde die Sammlung durch private Leihgaben und Stiftungen, darunter Arbeiten von Wassily Kandinsky oder Ernst Wilhelm Nay, bereichert. Mit der Gründung der »Kunstfreunde des Niedersächsischen Landesmuseums« wurde die traditionelle Verbundenheit des Hauses mit bedeutenden Förderern und Mäzenen 1951 institutionalisiert.35 Um sich im Kunsthandel bei Leihgabengesuchen oder Ankaufsverhandlungen Vorteile zu verschaffen, bot Stuttmann Galeristen wie Ferdinand Möller an, »Bilder und dergleichen […] in Aufbewahrung zu nehmen«.36 Auch gegenüber dem Juristen und Berliner Immobilienbesitzer Conrad Doebbeke, der 1945/46 in das zerstörte Museum kam und »Listen« seiner seit dem Krieg verstreuten Sammlung mit hochkarätigen Werken des Deutschen Impressionismus und der Moderne vorlegte, erklärte er sich bereit, diese kostenlos im Landesmuseum zu deponieren.37 Inwiefern dabei eine Rolle spielte, dass Doebbeke bei der Entnazifizierung »Kunsthändler« als künftigen Beruf angegeben und 1946 eine »Moderne Galerie« in Hannover angemeldet hatte, bleibt offen.38 Bekannt war allerdings, dass er den größten Teil seiner Sammlung erst nach 1933 erworben hatte und sich um die Freigabe seiner im Collecting Point Wiesbaden gesperrten Kunstwerke bemühte.39 Sollte Stuttmann überhaupt Zweifel an der rechtmäßigen Herkunft der Kunstwerke gehabt haben, ordnete er diese dem Ziel des Wiederaufbaus unter; für ihn soll bereits nach Öffnen der ersten Kiste mit Arbeiten von Lovis Corinth festgestanden haben, dass die Sammlung »wie auch immer in Hannover bleiben müsse«.40 Hierfür setzte er sich mit einer Vehemenz ein, die selbst bei Kollegen wie Dr. Walter Müller-Wulckow vom Oldenburger Landesmuseum Irritationen hervorrief, letztlich aber zum Erfolg führte: 1949 gingen 114 Kunstwerke der Sammlung Doebbeke in den Besitz der Stadt Hannover über, die einen Teil des Gesamtpreises von 314.000 DM durch die Überschreibung eines Hofs in Osterwald beglich.41 Nachdem im Landesmuseum ein Drittel des Obergeschosses, der Treppenaufgang und die notdürftig vermauerte Kuppelhalle wiederhergestellt worden waren, erfolgte am 15. Januar 1950 in AnBritische Besatzungszone Hannover

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28 Franz Marc, Pferde und Adler (1912), 1950 erworben. Ebd., Nr. 703. 29 Max Beckmann, Selbstbildnis mit grünem Vorhang (1940), 1953 erworben. Ebd., Nr. 139. 30 August Macke, Großes helles Schaufenster (1912), 1951 erworben. Ebd., Nr. 693. 31 Ernst Barlach, Der Zweifler (1931), Bronze, 1949 erworben. Ebd., Nr. 114. 32 NLA, HStAH, Hann. 152, Acc. 2006/013, Nr. 5/207. 33 Verzeichnis Hannover 1950 (wie Anm. 9). 34 NLMH, LG/Archiv, I.3.2.a (»Neuordnung/ Austausch«); NLA, HStAH, Hann. 152, Acc. 2006/013, Nr. 8, 18–20; StAH, Kulturamt, Nr. 967, 989. 35 NLMH, LG/Archiv, I.6.11 (»Leihgaben fremder Besitz«, 1948ff.); »Kunstfreunde«, 1951ff.

36 NLA, HStAH, Hann. 152, Acc. 2006/013, Nr. 58/361.

37 Imiela 1984 (wie Anm. 12), S. 12; NLA, HStAH, Hann. 152, Acc. 2006/013, Nr. 60/61; Cornelia Regin, »Erwerbungen der Stadt Hannover: Die Sammlung Doebbeke als Beispiel einer problematischen Provenienz. Ergebnisse einer Aktenrecherche«, in: Hannoversche Geschichtsblätter, N. F. 60, 2006, S. 91–95; Annette Baumann, »Provenienzforschung zum Kunstbesitz der Landeshauptstadt Hannover – Sammlungsbestände moderner Kunst im Sprengel Museum und dem Niedersächsischen Landesmuseum Hannover«, in: Krempel u. a. 2012 (wie Anm. 7), S. 49–72. 38 Einwohnermelde- und Gewerbekarteien in StAH; StA Garbsen; Entnazifizierungsakte in NLA, HStAH, Nds. 171 Hannover Nr. 75394. 39 Ebd.; National Archives and Records Administration, Washington D. C., M 1947, Roll 44, page 11ff.; Roll 75, page 3, 20ff.; Baumann 2012 (wie Anm. 37), S. 49ff. 40 Ferdinand Stuttmann, in: Meisterwerke der Landesgalerie, Hannover o.J. (1959), S. 20; Imiela 1984 (wie Anm. 12).

41 Vgl. ausführlich Regin 2006 (wie Anm. 37), S. 91ff.

wesenheit von Kultusminister und Oberstadtdirektor die feierliche Wiedereröffnung der modernen Abteilung, deren »alte und neue Schätze« euphorisch aufgenommen wurden.42 Ein Jahr später eröffneten weitere Säle mit einem Überblick über die »Europäische Kunst von 1400 bis 1800«. Angesichts der zunehmenden Besucherzahlen (Februar 1951: 12.000) wurden die Öffnungszeiten von vier Tagen pro Woche, 11–16 Uhr, auf 19–21 Uhr erweitert. Als 1952 das 100jährige Jubiläum seit Gründung des Museums für Kunst und Wissenschaft gefeiert wurde, konnte etwa die Hälfte der Kunstwerke wieder öffentlich präsentiert werden.43 Bis zum Ende der alliierten Besatzung blieb die Museumsarbeit von Instandsetzungsmaßnahmen geprägt. Die in Kooperation mit Hamburg oder Bremen veranstalteten Ausstellungen der Kunstabteilung, seit 1953 Landesgalerie, rückten den Sammlungsschwerpunkt des Deutschen Impressionismus in den Blickpunkt.44 Während Stuttmann in eigener Sache stets auf die angesichts der Zonengrenzen oder unbekannten Standorte von Kunstwerken zu überwindenden Hindernisse hinwies, begegnete er Personen, die sich nach dem Verbleib ihres in der NSZeit unrechtmäßig entzogenen Eigentums erkundigten, knapp bis verständnislos. Bis 1959 entsprach er zudem dem Wunsch Doebbekes, seinen Namen bei Sonderausstellungen oder Bestandsverzeichnissen nicht zu nennen; dann bezeichnete er die Begegnung mit dem Sammler rückblickend als »entscheidende Wendung« für den Wiederaufbau der modernen Galerie.45 Selbst die parallel dazu eingehenden ersten Rückgabeforderungen wirkten sich nicht auf den Ruf Stuttmanns aus, der dem Landesmuseum von 1953 bis zur Pensionierung 1962 als Direktor vorstand.46 Zum Abschluss seiner Dienstzeit demonstrierte die Ausstellung Kunst des 20. Jahrhunderts seine Verdienste zur Rehabilitierung der Moderne nach 1945,47 an die im Landesmuseum heute vor allem das Dreigestirn des Deutschen Impressionismus und Paula Modersohn-Becker erinnern. Der größte Teil der modernen und zeitgenössischen Kunst wird als Ergebnis des jüngsten Hannoverschen Sammlungstauschs seit 1979 im Sprengel Museum Hannover bewahrt.

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42 NLA, HStAH, Hann. 152, Acc. 2006/013, Nr. 5/212ff.; NLMH, LG/Archiv, I.7.1 (Werbemappe 1950ff.).

43 Ebd.; Festschrift Hannover 1952 (wie Anm. 1).

44 Lovis Corinth-Gedächtnisausstellung, Ausst.-Kat. Hannover 1950; Max Slevogt. Gemälde, Handzeichnungen, Graphik. Ausst.-Kat. Hannover 1952; Max Liebermann, Ausst.-Kat. Hannover 1954.

45 NLA, HStAH, Hann. 152, Acc. 2006/013, Nr. 60/165f., 292); Stuttmann 1959 (wie Anm. 40).

46 Die Provenienzforschung zu den Städtischen Ankäufen der Sammlung Doebbeke obliegt der Stadt Hannover. Vgl. Regin 2006 (wie Anm. 41), S. 93f.; Raub und Restitution – Kulturgut aus jüdischem Besitz von 1933 bis heute, hrsg. von Michael Dorrmann und Inka Bertz, Ausst.-Kat. Berlin und Frankfurt am Main, Göttingen 2008, S. 46–60 und 266–272; Baumann 2012 (wie Anm. 37). 47 Kunst des 20. Jahrhunderts. Gemälde, Bildwerke, Aquarelle. Landesgalerie – Städtische Galerie Hannover, Ausst.-Kat. Hannover 1962.

Die Sammlung Haubrich und der Wiederaufbau des Wallraf-Richartz-Museums ab 1945 Dorothee Grafahrend-Gohmert 1945 stand in Köln außer dem Rautenstrauch-Joest-Museum kein einziges der Museen mehr. Doch der Aufbau der Stadt wurde sogleich in Angriff genommen. Am 4. Mai 1945 kehrte Konrad Adenauer in das Amt des Oberbürgermeisters von Köln zurück. Und bereits einen Monat später, am 13. Juni 1945, erhielt Otto H. Förster, der Direktor des Wallraf-Richartz-Museums, im Zuge der Entnazifizierung sein Entlassungsschreiben.1 Förster (1894–1975) hatte das Wallraf-Richartz-Museum seit 1933 geleitet, 1934 war er der NSDAP beigetreten.2 Als er am 1. April 1933 die Direktorenstelle antrat, blickte er bereits auf verschiedene Tätigkeiten an den Kölner Museen zurück. Sein Schwerpunkt hierbei lag bei der Kölner Malerschule. Unter seiner Leitung wurden einerseits 1937 circa 500 Werke sogenannter »entarteter Kunst« beschlagnahmt und andererseits der gezielte Ausbau der Gemäldegalerie betrieben – durch Ankäufe im Deutschen Reich sowie in den damals von deutschen Truppen besetzten Ländern Frankreich und den Niederlanden. Finanziert wurden diese Anschaffungen durch Verkäufe von über 600 Depotstücken.3 Als es sich im Juni 1945 abzeichnete, dass die von ihm angeschafften Werke von den Alliierten zurückgegeben werden würden, rechtfertigte sich Förster in Briefen und Stellungnahmen: Die Erwerbungen seien moralisch, juristisch und finanziell völlig einwandfrei geschehen. Er schrieb dies nicht nur, um die Kunstwerke für Köln zu erhalten, sondern auch um seine eigene Integrität wiederherzustellen. Förster fühlte sich ungerecht behandelt und kämpfte für die Zurücknahme seiner Kündigung.4 Das war zwar erfolglos, aber nur für den Moment. 1957 kam er für drei Jahre als Generaldirektor der Kölner Museen zurück. Damit unterstand ihm auch die Leitung des Wallraf-Richartz-Museums. Doch 1945, unter der Amerikanischen und (ab 21. Juni) Britischen Militärregierung, war die Entfernung von an der NS-Kunstpolitik beteiligten Personen noch offizielle Politik, und am 1. November Britische Besatzungszone Köln

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1 Katja Terlau, »Das Wallraf-RichartzMuseum und seine Ankaufspolitik 1933– 1954. Vorläufiger Forschungsbericht«, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch, 62, 2001, S. 277–292, hier S. 281. 2 Agnes von der Borch, »Die nationalsozialistischen Aktionen »Entartete Kunst« in Köln und anderen Orten Deutschlands«, in: Gerhard Kolberg (Hrsg.), Die Expressionisten. Vom Aufbruch zur Verfemung, Ausst.Kat. Museum Ludwig, Köln 1996, S. 292–301, hier S. 295.

3 Terlau 2001 (wie Anm. 1), S. 285. Vgl. auch Beatrix Alexander, »›Verkaufslustige Neigung‹ – Gemäldeverkäufe aus dem Besitz der Stadt Köln«, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins, 19, 2009, S. 101–122, hier S. 110.

4 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA-PK), Nachlass Reidemeister Anhang Severin Nr. 9.

wurde der Berliner Kunsthistoriker Leopold Reidemeister (19001987) zum neuen Direktor des Wallraf-Richartz-Museums berufen. Reidemeister blieb, bis er 1957 als Generaldirektor zu den Berliner Museen wechselte. Der Sohn eines Regierungsrates und Großneffe des berühmten Museumsfachmanns Wilhelm von Bode hatte Architektur, Kunstgeschichte und ostasiatische Sprachen an den Universitäten Berlin, München und Wien studiert. Nach der Promotion 1924 begann er seine Laufbahn als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter der Ostasiatischen Abteilung der Staatlichen Museen Berlin. Bis 1938 arbeitete er sich vom Assistenten zum Direktor hoch.5 Nach seinem Kriegsdienst, in dem er vorwiegend im Kunstschutz in Italien tätig war,6 suchte er eine neue Stelle und ließ durch seinen älteren Bruder nach der Situation der Museen in Köln fragen. Der Bruder arrangierte ein Vorstellungsgespräch beim Dezernenten Prof. Dr. Josef Kroll, und so leitete Reidemeister nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst kommissarisch, seit 1954 als Generaldirektor den Wiederaufbau der Kölner Museen, vor allem des Wallraf-Richartz-Museums. Sein Amtssitz befand sich in der Eigelsteintorburg.7 Reidemeister sorgte zunächst dafür, die seit 1939 ausgelagerten Werke der alten Meister in die Stadt zurückzuführen.8 Ab März 1946 konnten wieder Ausstellungen aus den Beständen in der Eigelsteintorburg realisiert werden. Für seine erste Ausstellung, Meisterwerke aus Kölner Museen, die mit Beteiligung des Schnütgen-Museums und des Diözesanmuseums zustande kam, konnte Reidemeister sogar einen kleinen Katalog produzieren. Mit 13.000 Besuchern in drei Monaten war diese Ausstellung alter Meister ein ausgesprochener Erfolg.9 Auch kümmerte er sich um den Neubau des Wallraf-Richartz-Museums, das nach langen Diskussionen um den modernistischen Entwurf von Rudolf Schwarz am alten Platz neu errichtet wurde. Der Grundstein wurde 1953 gelegt, 1957 war es der erste eigenständige Museumsneubau der Nachkriegszeit. Es ging Reidemeister darum, zugleich die Sammlungstätigkeit des Museums wiederaufzunehmen und Lücken, die durch die Aktion »Entartete Kunst« gerissen worden waren, zu schließen. Es waren 1937 45 Gemälde, 143 Aquarelle, 295 Druckgrafiken und acht Mappen beschlagnahmt worden. Die Stiftung Haubrich war die politische Legitimation dieser Ankaufspolitik. Sie wurde zum Modell für viele weitere Sammlungen deutscher Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.10 90

5 Peter Springer, »Reidemeister, Leopold«, in: Neue Deutsche Biographie, 21, 2003, S. 325–326; Onlinefassung: http://www. deutsche-biographie.de/pnd119335603. html, zuletzt abgerufen am 4.6. 2013. 6 Christian Fuhrmeister, »Der ›Deutsche Militärische Kunstschutz‹ in Italien – Fragen, Probleme, Desiderate«, in: ders., Johannes Griebel, Stephan Klingen, Lisa Kolb: Kunsthistoriker im Krieg. Deutscher Militärischer Kunstschutz in Italien 1943–45, S. 15–27, hier S. 17.

7 Leopold Reidemeister, »Wiederaufbau – Wiedergutmachung. Ein Bericht«, in: »Leopold Reidemeister zum Gedenken«, Brücke-Archiv, 15/16/1988, S. 36-46, hier S. 37. 8 Zu den Auslagerungen vgl. Terlau 2001 (wie Anm. 1), S. 284.

9 Die Ausstellung lief vom 21.3. bis 10.6. 1946. Leopold Reidemeister, Meisterwerke aus Kölner Museen, Köln 1946. Vgl. auch: Amt für Kunst und Volksbildung der Stadt Köln (Hrsg.), Ausstellungen in Köln. 1946–66. Eine Übersicht, Köln 1967.

10 Wolfgang Braunfels, »Ein Sammler des deutschen Expressionismus. In Memoriam Josef Haubrich«, WallrafRichartz-Jahrbuch, 24, 1962, S. 375–380, hier S. 375 f.

Katalogheft zur Macke-Ausstellung des Wallraf-Richartz-Museums in der Alten Universität Köln 1947

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Haubrich Der Kölner Rechtsanwalt Josef Haubrich (1889–1961) hatte bis 1945 eine beachtliche Sammlung an moderner Kunst zusammengetragen. Seit Anfang der 1920er Jahre konzentrierte er sich auf die deutsche Moderne. Er entwickelte zwei Schwerpunkte für seine Sammlung, der eine war der Expressionismus um die Künstlergruppe Brücke, der andere die Neue Sachlichkeit, die gerade erst im Entstehen war.11 Als Anwalt und Notar stand Haubrich mit Otto Förster, dem systemtreuen Direktor des Wallraf-Richartz-Museums, in engem Kontakt. Er half ihm einerseits bei Ankäufen im besetzten Frankreich,12 andererseits übernahm er Werke durch Tausch oder Kauf, die das Wallraf-Richartz-Museum vorbeugend abstieß, darunter drei Gemälde von Max Liebermann, die sich dank Haubrich auch heute wieder im Wallraf-Richartz-Museum befinden.13 Es war eine wichtige kulturpolitische Weichenstellung, als Josef Haubrich sich 1946 – nach Beschlagnahme seines Hauses durch die Briten – entschloss, seine Sammlung der Stadt Köln zu schenken. Was andernorts mühsam wieder aufgebaut werden musste, kam hier mit einem Schlag zusammen. Aber auch politisch war die Schenkung von großer Bedeutung. Haubrichs Sammlung wurde zum Zeichen des Widerstandes, aber auch der sogenannten Wiedergutmachung. Sie sollte den glaubhaften Willen zur Demokratie symbolisieren. Über alle Parteigrenzen hinweg wurde die Schenkung im Rat einhellig begrüßt.14 Im Oktober 1946 wurde sie zum ersten Mal öffentlich ausgestellt. Da die Museen zerstört waren, zeigte man die Sammlung in den Räumen der Alten Universität, die für diesen Zweck mehr schlecht als recht geeignet waren. Reidemeister erinnerte sich, dass die Ausstellung bereits im Dezember wieder geschlossen werden musste, weil es zu kalt und feucht in den Räumen war.15 Doch in zwei Monaten kamen 8.500 Besucher, teilweise zu von Haubrich persönlich veranstalteten Führungen.16 Da es für die Sammlung zwar keinen geeigneten Ausstellungsort gab, sie jedoch viel Interesse auf sich zog, wurde sie auf Reisen geschickt. In verschiedenen Zusammenstellungen war sie bis zur Einweihung des Wallraf-Richartz-Museums 1957 in über 30 Stationen in Deutschland, Belgien, Italien, Frankreich und der Schweiz zu sehen. Im Ausland machte sie Werbung für ein offenes und modernes Deutschland, im Inland wurde sie zu einem Instrument, dieses Deutschland zu schaffen, paradoxerweise indem sie an die Vorkriegszeit anschloss. 92

11 Julia Friedrich, Dorothee GrafahrendGohmert, »Josef Haubrich. Ein Sammler und seine Sammlung«, in: Julia Friedrich (Hrsg.), Meisterwerke der Moderne. Die Sammlung Haubrich im Museum Ludwig, Köln 2012, S. 13–41.

12 Agnes von der Borch (wie Anm. 2), hier S. 299.

13 Vgl. Friedrich, Grafahrend-Gohmert 2012 (wie Anm. 12), hier S. 19 f.

14 Oberbürgermeister zu Köln (Hrsg.), Verhandlungen der StadtverordnetenVersammlung zu Köln vom Jahre 1946, Köln o.J., S. 78–82.

15 GStA-PK, Nl Reidemeister Anhang Severin Nr. 8. 16 GStA-PK, Nl Reidemeister Anhang Severin Nr. 9.

Haubrich-Fonds Doch das bedeutet nicht, dass es in Köln still um Haubrich und seine Sammlung geworden wäre. An seine Schenkung knüpfte er nämlich eine wichtige Bedingung: Er ließ sich jährlich eine Summe in Höhe eines Beigeordnetengehalts ausbezahlen, über die er zur Pflege und Erweiterung sowie zur Förderung der zeitgenössischen Malerei nach seinem Ermessen verfügen konnte. Sollte er verarmen, hätte er diese Summe auch zu seinem Unterhalt verwenden dürfen. Doch dazu kam es nicht. Im Gegenteil, Haubrich setzte dieses Geld, den sogenannten Haubrich-Fonds, für den Ankauf von moderner und zeitgenössischer Kunst für das Wallraf-Richartz-Museum ein. Es kam also hier zu einer höchst ungewöhnlichen Konstellation: Öffentliches Geld wurde einem privaten Sammler übergeben, der sein Sammeln in den öffentlichen Dienst stellte. Eine gute Zusammenarbeit von Museumsdirektor und Sammler, die sich auch in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis befanden, war hier unabdingbar. Tatsächlich zeigt der Blick in das Inventarbuch, dass circa 80% der Neuerwerbungen zwischen 1946 und 1955 im Bereich der Moderne über den Haubrich-Fonds getätigt worden sind. Sehr wenige Werke wurden von der Stadt selbst oder von Kölner Firmen wie dem Autohaus Fleischhauer, dem Gerling-Konzern oder von Bayer Leverkusen für das Museum erworben. Aber alle angeschafften Werke der Moderne waren für die Sammlung Haubrich gedacht. Sie wurde zum Synonym der neu gegründeten ModerneAbteilung in Köln. Haubrich wünschte ausdrücklich die Vermischung und Anreicherung mit anderen Werken, von denen viele bedeutende erst nach 1946 in die Sammlung gelangten. Erste Ankäufe: Macke Die ersten Ankäufe sind bereits programmatisch für die Zusammenarbeit des Sammlers und des Direktors. Es handelt sich um drei Gemälde und ein Aquarell von August Macke. Sie standen in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Ausstellung, die das Wallraf-Richartz-Museum dem Bonner Maler im Sommer 1947 eingerichtet hatte und die Reidemeister, wie er selbst sagte, »ein besonderes Anliegen«17 gewesen ist. Das erste Bild, die Dame mit grüner Jacke (1913), kaufte Haubrich noch während der Ausstellung. Den Abschied (1914) und das Aquarell Hutladen an der Promenade (1914) wenig später. Die Verhandlungen mit dem Sohn des Künstlers scheinen über Haubrich gelaufen zu sein, wie ein Brief vom 11. September 1947 aus dem Nachlass belegt, in dem der Verkäufer Haubrich drängt, den Kauf zu dem angebotenen Preis bald abzuschließen, da »die Verhältnisse von Tag zu Tag Britische Besatzungszone Köln

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17 Leopold Reidemeister (wie Anm. 7), hier S. 38. Vgl. auch Leopold Reidemeister, August Macke. Gedächtnisausstellung. Ausst.-Kat. Köln 1947, sowie Amt für Kunst und Volksbildung (wie Anm. 9), S. 24. Die Ausstellung fand vom 1.6. 1947 bis 23.11. 1947 in der Alten Universität statt und hatte 3.737 Besucher.

ungünstiger werden«.18 Wolfgang Macke spielte wohl auf die sich rasch entwertende Reichsmark an. Haubrich hatte ein Einsehen, beide Werke wurden noch 1947 erworben. Dasselbe gilt für Lesender Mann im Park (1914), dieses Bild kaufte jedoch das WallrafRichartz-Museum ohne Zutun des Haubrich-Fonds. Macke, bisher nur mit wenigen Zeichnungen in Haubrichs Sammlung vertreten, kann nun repräsentativ in Köln gezeigt werden und ergänzt die Sammlung Haubrich auf sinnvolle Weise.

18 Schreiben von Wolfgang Macke, Bonn, an Josef Haubrich, Köln, 11. September 1947, HAStK, hier zitiert nach Daniela Wilmes, Wettbewerb um die Moderne. Zur Geschichte des Kunsthandels in Köln nach 1945, Berlin 2012, S. 134.

Ankäufe aus der »Entarteten Kunst« nach 1946 Einige der bedeutendsten Ankäufe nach 1946 stammen aus der Aktion »Entartete Kunst«, das heißt aus ehemaligem Museumsbesitz, vier davon liefen durch die Hände des nach Köln übergesiedelten Händlers Ferdinand Möller. Der wohl wichtigste Ankauf war die Künstlergemeinschaft (1925/26) von Ernst Ludwig Kirchner, ehemals Nationalgalerie Berlin. Er belegt, wie kompliziert der Umgang mit ehemaligem Museumsbesitz nach 1945 war. Schon im Oktober 1949 wandte sich Adolf Jannasch, der Leiter der Galerie des 20. Jahrhunderts, an Möller in Köln, beglückwünschte ihn zum Entkommen aus dem Ostsektor, den Möller aus Angst vor Beschlagnahme seiner im NS erworbenen Werke der »Entarteten Kunst« verlassen hatte, und versuchte, Verhandlungen über Rückkäufe von Kunstwerken der Berliner Museen für den Westteil der Stadt einzuleiten.19 Nach anfänglichem Zögern begannen die Gespräche, denn Möller brauchte Geld für den Neubau seiner Kölner Galerie; das von Wilhelm Riphahn entworfene Gebäude wurde neben dem Informationszentrum »Brücke« in der Hahnenstraße gebaut.

19 Landesarchiv Berlin Bestand B Rep 014 Nr. 1625.

Die Verhandlungen zogen sich hin, denn in Berlin herrschte die Meinung vor, dass für Kunst, die den eigenen Museen entwendet worden war, nicht so viel Geld bezahlt werden dürfte. Ende 1950 brach Möller die Verhandlungen ab. Die Rückerwerbung scheiterte einerseits am Geldmangel der Berliner Museen, andererseits deshalb, weil man sich auf einen Umgang mit den Werken aus der Aktion »Entartete Kunst« nicht einigen konnte.20

20 Ebd.

Als Möller im November 1951 seine neue Galerie eröffnete, hängte er die Künstlergemeinschaft an prominenter Stelle auf. Spätestens da mussten Haubrich und Reidemeister auf das Bild aufmerksam werden. Sie wollten es erwerben, fragten jedoch vorsichtshalber in Berlin nach, ob es frei sei oder ob die Nationalgalerie es zurückhaben wolle. Hierauf hieß es resigniert aus Berlin, dass dafür die nötigen Mittel fehlten und Köln das Werk ankaufen könne. So geschah es.21

21 Bildakte Museum Ludwig. Auch vor dem Ankauf des Gemäldes Die Heiden von Oskar Kokoschka 1950 fragte Reidemeister erst beim Vorbesitzer, der Nationalgalerie Berlin, an.

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Josef Haubrich und Oberbürgermeister Hermann Pünder bei der Eröffnung in der Alten Universität 1946

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Im Gegenzug für diesen und noch zwei weitere Ankäufe zeigte sich Möller erkenntlich und schenkte 1951 Erich Heckels Göteborg (1928). Das Gemälde war dem Museum im Zuge der Aktion »Entartete Kunst« 1937 entwendet worden und konnte auf diese Weise zurückgeführt werden. Lückenfüllende Ankäufe der Moderne Andere Künstler wie zum Beispiel Alexej von Jawlensky mussten nach 1946 erst einmal in der Sammlung etabliert werden. Dies scheint bewusst verfolgt worden zu sein, denn zwischen 1947 und 1957 kamen sieben repräsentative Werke aus verschiedenen Phasen des Künstlers in die Sammlung. Mit zwei Werken von Marc und den bereits erwähnten Gemälden von Macke bemühten sich Reidemeister und Haubrich, auch Werke aus dem Kreis des Blauen Reiter in Köln zu integrieren. Bei allen Ankäufen lässt sich durchaus ein gemeinsames Interesse von Haubrich und Reidemeister feststellen. Die Brücke-Künstler und die Neusachlichen waren bereits vor 1945 in der Sammlung Haubrichs vertreten, es lag in seinem Interesse, diese Positionen zu stärken, und Reidemeister bemühte sich, wenn nötig, auch um städtische oder private Zusatzfinanzierungen. Weniger ambitioniert gestalten sich Ankäufe der abstrakten Moderne. Zu nennen sind lediglich – aber immerhin – Kandinskys Scharfruhiges Rosa (angekauft 1952), María Blanchards Rotes Stillleben mit Lampe (erst 1961) und Friedrich Vordemberge-Gildewarts Komposition Nr. 122 (1954). Weder für Reidemeister noch für Haubrich stand diese Richtung der Moderne im Vordergrund – womit sie im bundesweiten Vergleich durchaus im Trend lagen. Auch Picasso war schlicht nicht vorhanden. In der Sammlung fand sich kein einziges Werk des Meisters. Der Ankauf seines Gemäldes Kopf einer lesenden Frau 1953 wurde allein aus städtischen Mitteln bestritten. Das führte prompt zu Polemiken wegen angeblicher Verschwendung von Steuergeldern.22 Und mit bösen Worten war es offensichtlich nicht getan. Bereits wenige Wochen nach Ankauf mussten »einige mutwillig angebrachte Kratzer« retuschiert werden, so der Restaurierungsbericht.23 Reidemeister sah sich dazu genötigt, der Kulturverwaltung die gewagte Behauptung vorzutragen, das kleine Gemälde schließe sich »besonders wirkungsvoll an eine Sammlung des deutschen Expressionismus an« und ging sogar so weit, es einem »expressiven Kubismus« zuzuschlagen. 24 Den späten Picasso in die Nachfolge des deutschen Expressionismus zu stellen, erscheint aus heutiger Sicht mehr als fragwürdig, doch das Argument war vermutlich ohne96

22 Vgl. Renate Prieur, »›Wir haben doch die Sammlung Haubrich …‹ Diskussionen um die Moderne Kunst in Köln 1945-60«, in: Historisches Archiv der Stadt Köln (Hrsg.), Freier Eintritt, Freie Fragen, Freie Antworten. Die Kölner Mittwochsgespräche 1950–1956, Köln 1991, S. 122-153, hier S. 145. 23 Restaurierungsbericht vom Sommer 1953, in: Bildakte ML/76 2895 im Archiv Museum Ludwig.

24 Schreiben Reidemeisters an Verwaltung für Kunst und Kultur vom 13.7. 1953 in ebd.

hin nur aus taktischen Gründen eingeführt worden und verfehlte seine Wirkung nicht. Der Ankauf des Picasso hatte allerdings auch symbolischen Charakter. 1937 war das große Bild der Familie Soler (1903) verloren gegangen, das sich heute in Lüttich befindet. In seiner Ankaufsempfehlung schreibt Reidemeister, dass mit dem Kopf einer lesenden Frau »der einst so repräsentativ vertretene Picasso wieder mit einem Werk der neusten Zeit zurückkehrte«.25 Der von Reidemeister auch rückblickend immer wieder erwähnte »unbändige Optimismus« klingt hier an.26 Aber Ankäufe von Picasso – wen wundert es bei diesem Widerstand? – blieben im Wallraf-Richartz-Museum die große Ausnahme.27 Abgesehen vom Haubrich-Fonds standen Reidemeister nur sehr beschränkte Ankaufsmittel zur Verfügung. In einem Brief vom 8.12. 1950 klagt er: »Einen Ankaufetat für das Museum habe ich nach wie vor nicht. Ich muß mir immer in dringlich erscheinenden Fällen das Geld zusammenbetteln.«28 Und dringlich waren für Reidemeister und Haubrich eben Werke der expressionistischen Moderne, mit der sie beide vertraut waren. Jenseits der klassischen Moderne gab es noch ein weiteres bedeutendes Ankaufsgebiet. Das war die zeitgenössische Kunst, die zahlenmäßig den größten Teil der Neuerwerbungen ausmacht. Von circa 130 Gemälden und Skulpturen, die bis 1961 mit dem Haubrich-Fonds angekauft wurden, sind 83, also zwei Drittel, erst nach 1945 geschaffen worden. Relativ günstig waren sie in den aufstrebenden Kölner und Düsseldorfer Galerien wie »Der Spiegel«, Hella Nebelung oder im Kölnischen Kunstverein zu haben. Die Ankäufe zeitgenössischer Kunst setzten 1947 zunächst sehr zögerlich mit einem Gemälde des Kölner Malers Peter Herkenrath von 1946 ein und schleppen sich bis 1955 mit etwa zwei bis drei Ankäufen pro Jahr von deutschen, meist lokalen Künstlern wie Werner Gilles, Georg Meistermann und Ernst Wilhelm Nay hin. In diesen Jahren überwiegen eindeutig noch die Ankäufe auf dem Gebiet der klassischen Moderne. 1955 verschiebt sich das Gleichgewicht aber zu Gunsten der zeitgenössischen Kunst. Wohl auch im Zuge der documenta 1 wird der Fonds bis zu Haubrichs Tod 1961 nun verstärkt für internationale, abstrakte Malerei eingesetzt. Künstler der École de Paris werden ebenso gekauft wie die italienischen Zeitgenossen, die in Kassel einen prominenten Auftritt hatten. Haubrich und Reidemeister schwammen hier mit dem Strom. Lediglich zwei Kleinplastiken von Henry Moore kamen über die britische Militärregierung, beziehungsweise den British Council 1949 bzw. 1954 ins Haus. Die Amerikaner sind bis Britische Besatzungszone Köln

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25 Ebd.

26 Reidemeister 1988 (wie Anm. 7), hier S. 37. 27 Die erste Picasso-Ausstellung in Köln fand mit fast 87.000 Besuchern 1956 im Rheinischen Museum statt, unter den Werken befand sich auch Guernica.

28 Hugo Borger: »In memoriam Leopold Reidemeister«, in: Brücke-Archiv, 15/16, 1988, S. 15–17, hier S. 16.

1961 überhaupt nicht vertreten. Auch die deutschen Informellen wie Hann Trier oder Nay werden aus dem Haubrich-Fonds angeschafft, letzterer allerdings auch mit Werken aus den 30er Jahren. Nays Weißen Stier (1934) kaufte Haubrich, nachdem die Stadtverordnetenversammlung einen Ankauf abgelehnt hatte. Haubrich, der nach der Schenkung 1946 in vielen offiziellen und repräsentativen Ämtern präsent war, zeitweise sogar als dritter stellvertretender Bürgermeister, konnte oft durchsetzen, was ihm gefiel. Leider erwies sich sein Geschmack im Bereich der zeitgenössischen Kunst als nicht so vorausschauend wie im Bereich der Moderne. Diesen Bereich auszubauen blieb in Köln anderen vorbehalten.

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»Neue Grundlagen für unser geistiges Leben« Das Landesmuseum Oldenburg unter seinem Direktor Walter Müller-Wulckow 1945–1951 Rainer Stamm Im Unterschied zu vielen anderen deutschen Museen war das Landesmuseum Oldenburg nicht von Kriegszerstörungen betroffen. Dennoch gab es 1945 – im Gegensatz zu dem beliebten Topos der Verneinung einer Stunde Null – eine kurze Phase der Schließung und somit eine Zäsur: Vom Tag der Waffenruhe am 5. Mai bis zum 8. Dezember 1945 blieb das Museum auf Anordnung der britischen Militärverwaltung geschlossen. Bis dahin hatte es eine kurze, wechselhafte Geschichte hinter sich. Erst nach der Abdankung des Großherzogs Friedrich August 1918 war es durch einen Beschluss des Oldenburger Landtags gegründet worden. 1921 berief man den Publizisten und Kunsthistoriker Walter Müller-Wulckow (1886–1964) aus Frankfurt/ Main zum ersten Direktor. Bis zur Eröffnung des Museums im Februar 1923 hatte dieser die heterogenen Sammlungsbestände des ehemaligen Kunstgewerbemuseums, der Staatlichen Galerie Neuerer Malerei und die verbliebenen Werke aus der ehemaligen Großherzoglichen Gemäldegalerie zu einem Museum vereint und im ehemals großherzoglichen Schloss installiert. Als Verlängerung der bestehenden Sammlungen in die Gegenwart hatte Müller-Wulckow – nach dem Vorbild der Galerie der Lebenden im Berliner Kronprinzenpalais – im Erdgeschoss des Schlosses eine Moderne Galerie eingerichtet, für die er, mit Hilfe der Vereinigung für junge Kunst, Werke der Brücke-Künstler Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff aus ihrer Dangaster Zeit sowie Bilder von Max Beckmann, Ernst Ludwig Kirchner, Paula Modersohn-Becker, Otto Mueller, Emil Nolde, Jan Oeltjen, Elsa Oeltjen-Kasimir, Franz Radziwill, Christian Rohlfs und Fritz Stuckenberg erwarb.1 Obwohl sich Müller-Wulckow mit seiner privaten Sammlung, seiner publizistischen Tätigkeit und den programmatischen Erwerbungen für das Landesmuseum als leidenschaftlicher VerBritische Besatzungszone Oldenburg

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1 Zur Geschichte des Museums bis 1937 vgl. Der zweite Aufbruch in die Moderne. Expressionismus – Bauhaus – Neue Sachlichkeit. Walter Müller-Wulckow und das Landesmuseum Oldenburg 1921–1937, hrsg. v. Rainer Stamm, Bielefeld 2011.

Plakat zur Schließung des Museums auf Anordnung der britischen Militärregierung, Landesmuseum Oldenburg, 1945

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fechter der modernen Kunst in Deutschland positioniert hatte, war es ihm 1933 gelungen, im Amt zu verbleiben. 1937 musste er erdulden, dass 103 seiner Erwerbungen aus den Jahren 1921 bis 1935 als »entartet« beschlagnahmt wurden; umfangreichere Beschlagnahmungen konnte er durch das couragierte Verbergen von weiteren Werken und das offenbar bewusst inszenierte »Inventarwirrwarr«2 verhindern. Während der Ausstellung Entartete Kunst in München bildete Müller-Wulckow den skurrilen Sonderfall eines Kunsthistorikers, der einerseits namentlich in der Ausstellung als »Kritiker der Systemzeit« diffamiert wurde, andererseits jedoch weiterhin als Landesmuseumsdirektor im Amt war. Zu einer Ausnahmeerscheinung macht ihn auch die Tatsache, dass er sowohl 1933 als auch 1945 – und bis zu seiner Pensionierung 1951 – im Amt blieb. Erwerbungen Wie in vielen Museen war der Neubeginn der Museumsarbeit 1945 unter anderem von dem Versuch bestimmt, einige der 1937 beschlagnahmten Werke zurückzuerlangen. Im September 1945 stellte Müller-Wulckow den Antrag auf »Benutzung eines Autos für eine eintägige Fahrt nach Worpswede«, wo er ein ehemals beschlagnahmtes Werk Paula Modersohn-Beckers vermutete: »Wie in Erfahrung gebracht werden konnte, befindet sich eines der 1936 [sic!] als angeblich entartet beschlagnahmten Bilder in Worpswede. Es handelt sich um das besonders volkstümliche Gemälde von Paula Becker-Modersohn, welches das ›Bumla-Bumlaterne-Tragen‹ der Kinder darstellt. [...] Es dürfte [...] Ehrenpflicht sein, die Rückerwerbung dieses Bildes zu versuchen«, schrieb er an die Abteilung Kirchen und Schulen des Staatsministeriums.3 Ob die Fahrt bewilligt wurde und stattgefunden hat, geht aus den überlieferten Akten nicht hervor. Das Gemälde befindet sich noch heute in Privatbesitz. Im November 1948 machte Carl Georg Heise seinen Kollegen Müller-Wulckow darauf aufmerksam, dass der Hamburger Kunsthalle das Gemälde Akte in Dünen von Otto Mueller angeboten worden war, das ebenfalls aus der Sammlung des Landesmuseums stammte: »In diesen Tagen ist mir ein schönes Ölbild von Otto Mueller zum Kauf angeboten, und ich möchte es sehr gerne für die Kunsthalle erwerben. Nun hat es sich aber herausgestellt, daß es sich um dasjenige Gemälde handelt, das früher im Oldenburger Museum gewesen ist.« Mit Verweis auf die »Besprechung von Kunsthistorikern in München unter Vorsitz von [Eberhard] Hanfstaengl«, in der vereinbart worden war, dass »solche wiederauftauchenden Kunstwerke, die damals in der Nazizeit beschlagBritische Besatzungszone Oldenburg

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2 Karl Veit Riedel, »Walter MüllerWulckow«, in: Beiträge zur deutschen Volks- und Altertumskunde, 25, 1986/87, S. 149–161, hier S. 158.

3 Walter Müller-Wulckow an das Staatsministerium, Abt. Kirchen und Schulen, Briefdurchschlag vom 8.9. 1945, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Archiv (im Folgenden: LMO-A), LMO-A 302. Bei dem Gemälde Paula Modersohn-Beckers handelt es sich um Wvz. Busch/Werner 195.

nahmt worden sind, nach Möglichkeiten den Museen zuerst zum Kauf angeboten werden sollten, die sie damals besessen haben«, räumte Heise dem Oldenburger Museum das Vorkaufsrecht ein.4 Doch gelang es Müller-Wulckow – trotz seiner Bemühungen beim Niedersächsischen Kultusministerium – nicht, die erforderlichen 6.000 DM für den Ankauf des Bildes aufzubringen. Während es ihm in seiner verbleibenden Amtszeit in keinem Fall gelungen ist, eines der 1937 in Oldenburg beschlagnahmten Werke zurückzukaufen, versuchte Müller-Wulckow durch Erwerbungen zeitgenössischer Kunst regionaler Künstler und mit Neuerwerbungen von Werken der deutschen Expressionisten die entstandenen Lücken zu schließen. Mit Arbeiten von Adolf Niesmann, Jan Oeltjen, Hans Trimborn, Alfred Bruns und Max Herrmann gelangten Arbeiten moderner Künstler der Region in die Sammlung, und zugleich bildeten diese Ankäufe eine Möglichkeit regionaler Künstlerförderung.

4 Carl Georg Heise an Walter MüllerWulckow, Brief v. 18.11. 1948, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Nachlass Müller-Wulckow (im Folgenden: LMO-MW), LMO-MW 89a. Bei der erwähnten Besprechung handelt es sich um das erste deutsche Kunsthistoriker-Treffen im August 1946 in München. Für diesen Hinweis danke ich Tessa Friederike Rosebrock.

Von Paula Modersohn-Becker und Otto Mueller konnte das Landesmuseum kapitale Hauptwerke erwerben, und von den ehemals verfemten Künstlern Ernst Barlach, Max Beckmann, Lovis Corinth, Erich Heckel, Adolf Hölzel, Käthe Kollwitz, Ernst Ludwig Kirchner, August Macke, Otto Mueller, Otto Pankok, Emma Ritter und Karl Schmidt-Rottluff gelangten Arbeiten auf Papier in die Sammlung. Von der Galerie Schwoon, der einzigen programmatisch auf die Moderne ausgerichteten Galerie vor Ort, kaufte Müller-Wulckow im Mai 1948 ein Konvolut mit sieben Blättern von Barlach, Beckmann, Corinth, Heckel und Schmidt-Rottluff, um die »Graphikbestände des Landesmuseums namentlich in der Richtung, die durch die Beschlagnahme der sogenannten ›entarteten Kunst‹ 1937 eine empfindliche Einbuße erlitten hatten«, zu ergänzen.5 Karl Schwoon (1908–1976), der 1929 bis 1931 am Bauhaus Dessau studierte, hatte die Galerie im Dezember 1947 gegründet und sich bei der Eröffnung explizit auf die Erfahrung des nationalsozialistischen Bildersturms bezogen: »Wir haben es erlebt, daß ernste Kunst zur Banalität gestempelt werden kann, wenn man bewußt diesen äußeren Rahmen zerschlägt und propagandistische Methoden durch entsprechende Plakatierung der Kunstwerke anwendet«, hieß es in seiner Eröffnungsansprache als Begründung dafür, sich auch in den Zeiten von Not und Wiederaufbau mit Kunst auseinanderzusetzen.6 Seine Galerie, die bereits im März 1949 ein erstes Mal schließen musste, um einem Möbelhaus Platz zu machen, bestand indes nur bis Januar 1952. 102

5 Walter Müller-Wulckow an den Präsidenten des Niedersächsischen Verwaltungsbezirks, Briefdurchschlag vom 23.4. 1948, LMO-A 602.

6 Karl Schwoon, »Ansprache anlässlich der Eröffnung der Galerie Schwoon am 14. Dezember 1947«, Familienarchiv Schwoon, Hamburg.

Ein ähnliches Schicksal ereilte die Galerie der Jugend, die der Kunstkritiker Gottfried Sello im Dezember 1945 im Dachgeschoss des Hauptfinanzamtes in Hamburg gegründet hatte und bei der Müller-Wulckow 1948 zwei farbige Zeichnungen von Otto Mueller für je 4.000 Reichsmark kaufte. Sie musste bereits 1951 schließen. Beide Galerien sind im Kunsthandel der frühen Nachkriegszeit Beispiele einer Aufbruchstimmung, die heute – abgesehen von den traditionsreichen Adressen – weitgehend vergessen ist. Weitere Ankäufe moderner Kunst tätigte Müller-Wulckow über den – ebenfallszeitweiligvonKarlSchwoongeleiteten–OldenburgerKunstverein, den Kunstverein Hamburg, die Kestner-Gesellschaft Hannover sowie bei Michael Hertz in Bremen, bei den Galerien Müller-Kraus und Dr. Werner Rusche in Köln und Scheuermann & Seifert in Berlin. Über die Erwerbungen von Werken der Künstler hinaus, die bereits vor 1937 in der Sammlung vertreten waren, engagierte sich Müller-Wulckow ab 1946 für Ankäufe zeitgenössischer Kunst. Im Juni 1946 erwarb er über den Oldenburger Kunstverein ein Schieferrelief des ehemaligen Bauhäuslers Kurt Schwerdtfeger sowie im selben Jahr das Tänzelnde Pferd von Ewald Mataré. Um diese Bronzeplastik erwerben zu können, veräußerte Müller-Wulckow drei historistische Plastiken und ein Pastell aus der Sammlung Rösicke, die 1911 als Schenkung an das Land Oldenburg gekommen war, und sandte Mataré 13 Pfund Kupfer für Güsse seiner Plastiken. Im April 1948, wenige Wochen vor Einführung der D-Mark im Juni des Jahres, wandte sich Müller-Wulckow erneut an Mataré, in der Hoffnung, für das »Oldenburger Museum, in welchem Ihre Kunst bis jetzt doch nur andeutungsweise vertreten ist«, auch eine Holzplastik des Künstlers erwerben zu können: »Falls Sie [B]edenken haben, vor der Währungsreform Objekte in Geld umzutauschen, so möchte ich einerseits darauf hinweisen, daß die jetzt vereinnahmten Geldbeträge sich zwar verringern, aber nicht verschwinden, andererseits voraussagen, daß nach der Währungsreform jedenfalls die Kaufkraft nahezu ganz verschwunden sein wird. Deshalb ist es besser, jetzige Möglichkeiten noch wahrzunehmen. Jedenfalls wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie in diesem Fall dem Museum eine Möglichkeit einräumen wollten, eine Ihrer schönen Plastiken, am liebsten das Holzpferd, zu erwerben.«7 Neben Mataré gehörten Gerhard Marcks, Kurt Lehmann, Bernhard Heiliger, Rolf Nesch und vor allem Ernst Wilhelm Nay zu den zeitgenössischen Künstlern, deren Werke zwischen 1946 und 1951 als exemplarische Positionen der Gegenwartskunst Aufnahme Britische Besatzungszone Oldenburg

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7 Walter Müller-Wulckow an Ewald Mataré, Briefdurchschlag v. 30.4. 1948, LMO-MW 150.

in die Sammlung des Landesmuseums fanden. Sämtliche dieser Werke verbindet, dass sie zwar formal durch eine Abstraktion der Gegenstandswelt gekennzeichnet sind, die Grenze zur Ungegenständlichkeit jedoch nicht überschreiten. Konstruktivistische oder tachistische Werke fanden während dieser Jahre keine Aufnahme in die Sammlung. Die ausgewählten Positionen der zeitgenössischen Kunst blieben stattdessen dem Erbe des Expressionismus verpflichtet, auch dort, wo sie ihn – ohne den Gegenstand als Ausgangspunkt zu verlieren – zu überwinden trachteten. Als symptomatisch erweisen sich die Erwerbungen von Werken Ernst Wilhelm Nays: Unmittelbar nach dem Besuch der Nay-Ausstellung Gemälde, Aquarell, Guasch im Juni 1947 im Hamburger Kunstverein kaufte Müller-Wulckow drei Gouachen des Künstlers aus den Jahren 1946 und 1947 für die Sammlung des Landesmuseums. Für ihn, wie auch für die in den Nachkriegsdebatten um die moderne Kunst tonangebenden Kollegen Will Grohmann, Carl Georg Heise und Werner Haftmann, bildete das Werk Nays eine direkte Verbindung von der Vorkriegsmoderne zur internationalen Avantgarde. Wie viele seiner Museumskollegen betrachtete auch Müller-Wulckow »die Entwicklung der Kunst Nays aus der Tradition der von den Nationalsozialisten als ›entartet‹ bezeichneten Kunst der Moderne« und sah »in seinen Werken eine zeitgemäße Weiterentwicklung auf Augenhöhe mit der internationalen Kunst«.8 1950 ergänzte er die Erwerbungen des Jahres 1947 noch um zwei frühere Blätter Nays aus den 1930er Jahren, »denn gerade an diesen [19]36 und 37 an der Ostsee und den Lofoten entstandenen Arbeiten wird die rasch sich vollziehende Entwicklung erkennbar«. Die Rohrfederzeichnung Ostseefischer und das Aquarell Frau im Sund (Lofoten) sollten den »Zugang zu den hiesigen Gouachebildern von 46 und 47« erleichtern.9 Wie sehr das Werk Nays, aus dessen Arbeiten die Entstehung der ungegenständlichen Kunst aus dem Geist des expressiven und abstrahierenden Erfassens der Wirklichkeit nahtlos abgeleitet werden konnte, zum Kanon der Kunst nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland gehörte, belegt die Tatsache, dass wohl kaum eine Sammlung moderner Kunst in Westdeutschland auf den Ankauf seiner Werke verzichtete. Ausstellungen Obwohl das Schloss als Gebäude des Landesmuseums nicht von Kriegsschäden betroffen war, waren die eigenen Ausstellungsmöglichkeiten des Landesmuseums nach 1945 zunächst stark beschränkt. Dies lag unter anderem daran, dass temporär sowohl die 104

8 Stefan Gronert: »Nay und die Entstehung einer Historiografie der Gegenwartskunst«, in: Ernst Wilhelm Nay. Das polyphone Bild. Gouachen, Aquarelle, Zeichnungen, hrsg. von der Ernst Wilhelm Nay Stiftung, Ostfildern 2012, S. 119–121, hier S. 119.

9 Walter Müller-Wulckow an Ernst Wilhelm Nay, Briefdurchschlag vom 21.10. 1950, LMO-MW 150.

Bernhard Heiliger: Seraph I, 1950

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ausgebombte Landesbibliothek mit Teilen der ihr verbliebenen Bestände als auch der Oldenburger Kunstverein, der sein Galeriegebäude, das Augusteum, der britischen Besatzungsmacht und schließlich für »Zwecke der höheren Schule«10 zur Verfügung stellen musste, im Schloss Räume bezogen. Während die Landesbibliothek, wie sich Paul Raabe erinnert, der hier nach dem Krieg seine Karriere als Bibliothekar begann,11 im zweiten Obergeschoss untergebracht war, belegte der Kunstverein die Räume, die zuvor der Alten Galerie gewidmet waren. Die räumliche Vereinigung von Kunstverein und Landesmuseum führte dazu, dass die wichtigsten Kunstausstellungen der frühen Nachkriegszeit als Ausstellungen des Oldenburger Kunstvereins im Landesmuseum veranstaltet wurden und somit als enge Kooperationsprojekte zu verstehen sind. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Tätigkeit des Kunsthistorikers Gustav Vriesen, der seit 1936 als Assistent Müller-Wulckows am Landesmuseum tätig und als Vorstandsmitglied bei zahlreichen Ausstellungen des Oldenburger Kunstvereins federführend war: Die Ausstellung Kunst der Gegenwart. Gemälde, Graphik, Plastik, Teppiche aus privatem und öffentlichem Besitz, die bereits im Oktober/November 1945 gezeigt wurde, versammelte programmatisch, was an Werken der Moderne den nationalsozialistischen Bildersturm überstanden hatte. »Erstaunlicherweise hatte eine ganze Reihe Oldenburger Bürger und auch das Landesmuseum (Dr. Müller-Wulckow) hervorragende Werke retten können, die jetzt gezeigt wurden.«12 »Die Ausstellung des Kunstvereins, veranstaltet zu einem Zeitpunkt, an dem es gilt, nach dem totalen Zusammenbruch der nationalsozialistischen Welt neue Grundlagen für unser geistiges Leben zu bilden, hat den Sinn, durch eine Rückschau auf die bildende Kunst des letzten Menschenalters und ihre Hauptströmungen Klarheit zu gewinnen über die Voraussetzungen des heutigen künstlerischen Schaffens und dadurch unseren eigenen Standort innerhalb der Gesamtentwicklung zu klären«, erläuterte Vriesen die Absicht der Veranstaltung im Beiblatt der Ausstellung. Gefolgt wurde der programmatische Auftakt von Ausstellungen wie Lebende Kunst aus Oldenburg und Ostfriesland, Europäische Malerei in guten Drucken sowie monografische Ausstellungen der Künstler Xaver Fuhr, Gerhard Marcks, Otto Pankok, Franz Radziwill, Christian Rohlfs, Karl Schmidt-Rottluff und Emil Stumpp. Einen Höhepunkt in der Anknüpfung an die Arbeit und Sammlungstätigkeit der Vorkriegszeit bildete in Oldenburg – wie vielerorts – die Präsentation der Wanderausstellung der 106

10 Vgl. Staatsministerium, Abt. Kirchen und Schulen, an Walter Müller-Wulckow, Brief vom 6.10. 1945, LMO-A 391.

11 Paul Raabe, Frühe Bücherjahre. Erinnerungen, Hamburg und Zürich 2007, S. 105.

12 Jürgen Weichardt, 125 Jahre Oldenburger Kunstverein. Beiträge zu seiner Geschichte, Oldenburg 1968, S. 30.

Sammlung Haubrich im Dezember 1947, die, gemeinsam veranstaltet von Kunstverein und Landesmuseum, bis zum 18. Januar 1948 im Oldenburger Schloss gastierte. »Wenn Oldenburg jetzt nach Köln, Stuttgart, Mannheim und Hamburg als fünfte Stadt in Deutschland die Ehre hat, die Sammlung Haubrich zeigen zu dürfen, so ist dies ein Ereignis, das nicht nur für unsere Stadt, sondern für den ganzen Nordwesten von einzigartiger künstlerischer und kunsterzieherischer Bedeutung ist«, betonte Vriesen im Katalog der Ausstellung.13 Mit der Sammlung Haubrich kehrte für wenige Wochen auch ein Aquarell Schmidt-Rottluffs zurück nach Oldenburg, das hier 1937 beschlagnahmt worden war: »Bis 1937 in deutschem Museumsbesitz« heißt es zur Katalognummer 127, dem Blatt Kniende Frau mit rotem Tuch (1913), ohne darauf zu verweisen, dass es aus der Sammlung des Landesmuseums stammte und wieder in dem Haus gezeigt wurde, in dem es bis 1937 beheimatet war. Resümee Mit der Anknüpfung an die als »entartet« beschlagnahmten Werke einerseits und der Erweiterung der Oldenburger Sammlung um zeitgenössische Werke von Heiliger, Marcks, Mataré, Nay, Nesch und Lehmann andererseits nahm Müller-Wulckow – in freilich äußerst bescheidenem Maße – vorweg, was 1955 durch die erste documenta von Arnold Bode und Werner Haftmann zum Kanon erhoben wurde: Die Sichtbarmachung einer abstrakten, aber nicht ungegenständlichen Kunst in Deutschland, die dem Erbe der Vorkriegsmoderne verpflichtet war und zugleich den Anschluss an die internationalen Strömungen suchte; die Weltsprache einer figurativen Abstraktion vor dem Siegeszug des Informel.

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13 Gustav Vriesen, in: Sammlung Haubrich. Meisterwerke der Malerei und Plastik des 20. Jahrhunderts. Ausstellung im Schloß, Ausst.-Kat. Oldenburger Kunstverein in Verbindung mit dem Oldenburger Landesmuseum, [Oldenburg 1947], S. 3.

Französische Besatzungszone

Von der Prestige- zur Versöhnungspolitik Ausstellungen und Sammlungen in der französischen Besatzungszone nach 1945 Friederike Kitschen 1946 eröffnete in Baden-Baden, dem Sitz der französischen Militärregierung in Deutschland, die große Ausstellung Moderne französische Malerei vom Impressionismus bis zur Gegenwart. Begleitet von einem Katalog, der in englischer, französischer, russischer und deutscher Sprache die Überlegenheit französischer Kunst verkündete, reiste sie über Berlin, wo sie im Stadtschloss zu sehen war, und Mainz in die britische Besatzungszone nach Düsseldorf und in die amerikanische nach München. 1953 übergab der französische Hochkommissar André FrançoisPoncet dem Museum in Kaiserslautern ein Geschenk seines Landes: 13 druckgrafische Werke französischer Künstler. Diese beiden Ereignisse markieren die Pole, zwischen denen sich französische Kulturpolitik in Deutschland nach 1945 entfaltete: hier die Demonstration des Genies französischer Kunst, die sich nicht nur an die Deutschen, sondern auch an die Alliierten richtete, denen Frankreich politisch und wirtschaftlich unterlegen war, sich aber kulturell überlegen fühlte. Und dort, sieben Jahre später, die diskrete Förderung eines kleinen Museums in der französischen Besatzungszone, das sich darum bemühte, seine Sammlung wieder an die aktuelle Kunstentwicklung heranzuführen. Für die französische Militärregierung hatte Kulturpolitik im besetzten Deutschland und vor allem in der eigenen Zone einen hohen Stellenwert. Gerade im Bereich bildender Kunst entfaltete wohl keiner der anderen Alliierten vergleichbar ambitionierte und umfangreiche Aktivitäten. Diese folgten allerdings keinem einheitlichen Programm, sondern entwickelten sich in Kooperation oder Konkurrenz verschiedener Behörden beim Außenministerium in Paris, der französischen Gruppe beim Alliierten Kontrollrat in Berlin und dem zumeist federführenden Service des Beaux-Arts unter der von Raymond Schmittlein geleiteten 110

Direction de l’éducation publique (DEP) in Baden-Baden. Deren Aufgaben übernahm nach 1949 die Direction générale des affaires culturelles beim französischen Hochkommissariat in Mainz.1 Besonders aktiv waren in den ersten Jahren nach 1945 die dem DEP zugeordneten regionalen Bureaux des beaux-arts in den drei Landeshauptstädten der Französischen Besatzungszone (FBZ), Mainz in Rheinland-Pfalz, Tübingen in Württemberg-Hohenzollern und Freiburg in Baden. Ihre Vertreter arbeiteten oft eng mit Kollegen in deutschen Behörden zusammen; allein Maurice Jardot, der französische Kulturoffizier in Freiburg, und Kurt Martin, Direktor der Kunsthalle Karlsruhe und Leiter des Landesamts für Museen, Sammlungen und Ausstellungen in Baden, organisierten bis 1949 gemeinsam fast 30 Ausstellungen.2 Französische Kunst Im Zentrum der französischen Kunstpolitik in Deutschland und im Saarland nach 1945 standen Ausstellungen. Die Gründung von Kunstschulen, wie dem Centre des métiers d’art in Saarbrücken 1946, oder Kulturinstituten, wie dem Institut français in Freiburg, und die Förderung von Sammlungen waren untergeordnete Bereiche. Und im Zentrum der Ausstellungspolitik wiederum standen die über 60 Präsentationen französischer Kunst und Kultur, die französische Behörden ab 1946 in den westlichen Besatzungszonen und Berlin, später der Bundesrepublik organisierten oder unterstützten. Darunter waren Großereignisse wie die erwähnte Schau Moderne französische Malerei 1946 und die im Jahr darauf im Berliner Zeughaus präsentierte Französische Skulptur von Rodin bis in unsere Tage, kleinere, nicht weniger exquisite Ausstellungen, wie die 1947 in Freiburg gezeigten Meister französischer Malerei der Gegenwart mit Werken von Pablo Picasso bis Fernand Léger, mehrere Grafikausstellungen sowie Einzelpräsentationen, etwa von Georges Braque, Henri Matisse, Georges Rouault und André Masson. Da einige davon durch mehr als 20 Städte reisten, war moderne französische Kunst ab 1946 in allen Westzonen und in Berlin außerordentlich präsent. Und wohin keine Originale mehr gelangten, in die kleinen Orte der südwestdeutschen Provinz, wanderten Französische Impressionisten und ihre Zeitgenossen in Farbdrucken. Mit dieser umfangreichen Ausstellungstätigkeit verfolgten die Franzosen zunächst zwei eng miteinander verknüpfte Ziele. Zum einen diente sie der Selbstdarstellung als führende, trotz Krieg und Okkupation ungebrochen große und vorbildhafte Kunstnation. Zum anderen sollte das Vorbild der freiheitlichen französischen Kunst als Mittel im umfassenden Programm der demoFranzösische Besatzungszone

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1 Vgl. Martin Schieder, Im Blick des anderen. Die deutsch-französischen Kunstbeziehungen 1945–1959, Berlin 2005; Karina Günther, Rayonnement culturel: kulturpolitische Bedingungen und Aktivitäten in der französischen Besatzungszone 1945-1948, Frankfurt/Main 2011; Friederike Kitschen, »Die deutsch-französischen Beziehungen im Bereich der bildenden Kunst nach 1945«, in: Nicole Colin u. a. (Hrsg.), Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945, Tübingen 2013, S. 213–215.

2 Vgl. Tessa Friederike Rosebrock, Kurt Martin und das Musée des Beaux-Arts de Strasbourg. Museums- und Ausstellungspolitik am Oberrhein im »Dritten Reich« und der unmittelbaren Nachkriegszeit, Berlin 2012.

Eingang zur Ausstellung Moderne französische Malerei im Berliner Stadtschloss, 1946

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kratischen rééducation der Deutschen dienen. Somit war französische Kultur- und Kunstpolitik in Deutschland nach 1945 auch ein zentrales Element der nationalen Sicherheitspolitik.3 Die erzieherische Funktion war einer der Gründe, weshalb in den ersten Jahren vor allem Werke der Klassischen Moderne gezeigt wurden. Das entwöhnte Publikum und Teile der Presse reagierten oft schon auf Picassos kubistische Bilder und ihr angeblich zerrissenes Menschenbild mit Empörung.4 Ihnen wollte man sichere Maßstäbe geben und sie nicht durch abstrakte Kunst vollends verstören. Hinzu kam, dass bis in die 1950er Jahre auch in Paris noch viele Kunstfunktionäre Vorbehalte gegenüber abstrakter Kunst hatten, denn diese galt als östlich-germanischer Kultureinfluss und manchmal sogar als unfranzösisch.5 Die Maler um Jean René Bazaine und Alfred Manessier oder die Vertreter der geometrischen Abstraktion waren daher auf Ausstellungen in Deutschland zunächst nur spärlich vertreten. Auch die ambitionierte, vom Stuttgarter Sammler Ottomar Domnick 1948 organisierte Schau Französische abstrakte Malerei, mit Werken unter anderem von Hans Hartung und Pierre Soulages, machte zwar in sechs westdeutschen Städten Station, auf Betreiben Jardots jedoch nicht wie geplant in Freiburg.6 Und als der Service des relations artistiques 1950 angesichts des deutschen Interesses in der Ausstellung Französische Malerei und Plastik 1938 bis 1948 auch einen Überblick über gegenstandlose Kunst gab, war diese in Düsseldorf und Berlin, aber wiederum nicht in der FBZ zu sehen. Deutsche Kunst Nicht alle Besucher beurteilten den französischen Kulturimport positiv, manche betrachteten ihn als Deckmantel der Demontagepolitik, als Propaganda oder schlicht als ästhetische Zumutung. Bei jenen deutschen Kultureliten und Künstlern hingegen, die sich schon vor dem »Dritten Reich« mit internationaler Avantgardekunst auseinandergesetzt hatten, kamen die Ausstellungen einem großen Informationsbedürfnis entgegen und wurden meist positiv aufgenommen. Doch stärker noch als das Interesse für die französische Moderne war hier der Wunsch, die eigene, jahrelang als »entartet« aus der Öffentlichkeit verbannte Avantgarde wiederzusehen, sie in Ausstellungen zu rehabilitieren – und dadurch auch sich selbst als Gegner nationalsozialistischer Kunst- und Weltanschauung zu erweisen. Schon ab Mitte 1945 waren daher in der FBZ neben kleineren Ausstellungen regionaler Künstlerverbände auch größere Überblickspräsentationen moderner und zeitgenössischer deutscher Kunst zu sehen, die von deutschen Initiatoren organisiert und von den Franzosen Französische Besatzungszone

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3 Vgl. Rainer Hudemann, »Kulturpolitik in der französischen Besatzungszone – Sicherheitspolitik oder Völkerverständigung?«, in: Kulturpolitik im besetzten Deutschland, hrsg. von Gabriele Clemens, Stuttgart 1994, S. 185–199.

4 Vgl. »Urteile«, in: Die Meister französischer Malerei der Gegenwart, Ausst.-Kat. Freiburg 1947, Baden-Baden 1948, S. 43–52.

5 Vgl. Friederike Kitschen, »Das Ende der nationalen Sonderkulturen?«, in: Martin Schieder und Friederike Kitschen (Hrsg.), Art Vivant. Quellen und Kommentare zu den deutsch-französischen Kunstbeziehungen 1945–1960, Berlin 2011, S. 242–253.

6 Vgl. Schieder 2005 (wie Anm. 1), S. 104 f.

genehmigt oder administrativ unterstützt wurden. Denn gerade die auf regionaler Ebene operierenden Kulturoffiziere erkannten: »Il est plus important de soutenir des initiatives allemandes […] que d’avoir la prétention d’imposer notre culture comme un article d’importation.«7 Gleichwohl übten sie ihr Kontrollrecht aus; so lehnte etwa der Tübinger Kunstoffizier Jacques Vanuxem 1945 die Übernahme der Ausstellung Kunst gegen den Krieg aus Stuttgart ab, da er nur unpolitische Werke ausgestellt sehen wollte.8 Die erste größere Überblicksausstellung, Deutsche Kunst unserer Zeit, fand bereits im Oktober 1945 in der Städtischen Galerie in Überlingen statt. Sie wurde von Walter Kaesbach organisiert, der 1933 als Direktor der Kunstakademie Düsseldorf entlassen worden war und sich an den Bodensee zurückgezogen hatte. Auch viele der 156 Exponate kamen, allein schon aus logistischen Gründen, aus Ateliers von Künstlern, die in der Bodenseeregion lebten, darunter Erich Heckel, Willi Baumeister, Julius Bissier und Max Ackermann.9 Ihre Werke bildeten auch in den folgenden Präsentationen deutscher Kunst in der FBZ den harten Kern, um den sich weitere erreichbare Leihgaben gruppierten. Im Juni 1946 zeigte die Internationale Kulturwoche in Konstanz die 270 Gemälde und Plastiken umfassende, vom örtlichen Kulturdezernenten Bruno Leiner organisierte Ausstellung Neue deutsche Kunst. Sie wollte einen umfassenden »Überblick über das freie Schaffen der bildenden Künstler in Deutschland« bieten, musste aber, wie der Katalog bedauernd mitteilte, auf Künstler aus der sowjetischen und britischen Zone weitgehend verzichten.10 So war sie trotz Exponaten unter anderem von Heckel, Otto Dix, Emil Nolde, Karl Schmidt-Rottluff und Karl Hofer noch »weit davon entfernt, einen Gesamtüberblick über die wesentliche moderne deutsche Kunst zu geben«.11 Vollständiger hingegen präsentierte sich die ab Mai 1947 in Tübingen stattfindende Ausstellung Moderne deutsche Kunst. Da die Veranstalter, die Gesellschaft der Freunde des Tübinger Kunstgebäudes, auf Leihgaben aus öffentlichen und privaten Sammlungen der amerikanischen Zone zugreifen konnten, waren neben Hofer, Max Beckmann und Oskar Schlemmer auch alle wichtigen Künstler der Brücke und des Blauen Reiter vertreten. Hinzu kamen Bildhauer wie Wilhelm Lehmbruck, Käthe Kollwitz und Ernst Barlach sowie jüngere Künstler um Willi Baumeister und Ernst Wilhelm Nay.12 Da zeitgleich in Stuttgart die Kölner Sammlung Haubrich und in Karlsruhe die aus Augsburg übernommene Ausstellung Extreme Kunst gezeigt wurden, resümierte Egon Vietta in der Zeit: »Offenbar drängt alles auf einen großzügigen Ringtausch der modernen Ausstellungen, so dass der gesamte ›Ruinenbestand‹ der deutschen Großstädte ›bespielt‹ werden kann.«13 114

7 Zit. nach Frank Becker, Kultur im Schatten der Trikolore: Theater, Kunstausstellungen, Kino und Film im französisch besetzten Württemberg-Hohenzollern 1945–1949, Frankfurt/Main 2007, S. 42. 8 Vgl. ebd., S. 129 f.

9 Deutsche Kunst unserer Zeit, Ausst.-Kat. Städtisches Museum Überlingen 1946.

10 [Vorwort], in: Neue deutsche Kunst, Ausst.-Kat. Ausstellungsgebäude Mainaustraße Konstanz 1946, o. S.

11 Hans Eckstein, »Kunst und Kultur in Konstanz«, in: Neue Zeitung, 21, 6, 1946, S. 3.

12 Moderne deutsche Kunst, Ausst.-Kat. Kunstgebäude Tübingen 1947.

13 Egon Vietta, »Das innerliche Soll und Haben. Notizen einer süddeutschen Kulturbilanz«, in: Die Zeit, 31.7. 1947.

Neue Deutsche Kunst, 1947 Katalogcover

Französische Besatzungszone

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Dabei ließ er die ebenfalls Mitte 1947 stattfindende Schau Neue deutsche Kunst in Mainz sogar noch unerwähnt, die vom Leiter der Städtischen Gemäldegalerie Rudolf Busch organisiert wurde. Während Busch im Erdgeschoss der Kunsthalle am Dom einen »gedrängten Rückblick« auf die deutsche Vorkriegsmoderne gab, zeigte er im Obergeschoss den »Aufmarsch der jungen Generation«.14 Dazu hatte der Künstler Fred Winter Werke unter anderem von Nay, Otto Ritschl und Fritz Winter »unter besonderer Betonung der abstrakten Malerei des Tages« ausgewählt, mit der Absicht, »das deutsche Kunstschaffen und seine Eigenart […] unter Beweis [zu] stellen«.15 Abstrakte Kunst wurde so als genuine und zugleich zukunftsweisende Ausprägung deutscher Kunst definiert. Damit suchten die Mainzer Kuratoren selbstbewusst den Vergleich mit der gegenständlicher ausgerichteten Ausstellung Moderne französische Malerei, die im Jahr zuvor am selben Ort Station gemacht hatte. Ob es an der starken Präsenz abstrakter Kunst oder an der neuerlichen geografischen Konzentration der Auswahl auf »westliches Deutschland, vorwiegend Rheinlinie« lag – jedenfalls wurde die Mainzer Schau nicht nach Baden-Baden übernommen.16 Dort förderten die französischen Kulturbehörden vielmehr eine Ausstellung, die sich bereits durch ihren zweisprachigen Titel L’art allemand moderne / Deutsche Kunst der Gegenwart und einen Katalogbeitrag von Michel François, Chef des Service des beaux-arts, als eigentliches, offizielles Pendant zur Ausstellung Moderne französische Malerei zu erkennen gab, die 1946 von Baden-Baden aus ihren Weg durch die Westzonen und Berlin genommen hatte.17 Ein Komitee von Kuratoren um Will Grohmann, Heinrich Ehmsen und Kurt Martin hatte, so der Spiegel, einen Querschnitt durch die gegenwärtige Situation der bildenden Kunst von den Avantgardisten der Vergangenheit bis zu den Surrealisten der Gegenwart zusammengestellt und viele jüngere Künstler integriert.18 Dabei lag der Schwerpunkt stärker als in Mainz auf gegenständlichen Positionen. Bemerkenswert war jedoch, dass die Ausstellung erstmals in der FBZ Künstler aus allen vier Besatzungszonen zusammenführte und damit, wie François erklärte, als Antwort auf die Große Dresdner Kunstaustellung konzipiert war, die 1946 in der sowjetischen Zone einen Überblick über das gesamtdeutsche Kunstschaffen gegeben hatte. Doch während ein deutscher Kritiker bereits den »Kampf um die kulturelle Einheit Deutschlands« sah, sprach François lediglich davon, dass auf diese Weise ein »jugement comparé sur les tendances de l’art contemporain dans les états de l’Allemagne d’aujourd’hui« möglich 116

14 Mela Escherich, »Neue deutsche Kunst in Mainz«, in: Das Kunstwerk, 1, 12, 1946–1947, S. 53.

15 Rudolf Busch, »Bemerkungen des Ausstellungsleiters«, in: Neue deutsche Kunst, Ausst.-Kat. Kunsthalle am Dom Mainz, 1947, S. 2.

16 Escherich 1946–1947 (wie Anm. 14), S. 53.

17 L’art allemand moderne / Deutsche Kunst der Gegenwart, Ausst.-Kat. Kurhaus Baden-Baden 1947.

18 Anonym, »Zwischen Loge und Höllenfahrt«, in: Der Spiegel, 1, 44, 1947, S. 18.

sei.19 Immerhin rückten die französischen Kulturbehörden mit dieser im Oktober 1947 eröffneten gesamtdeutschen Ausstellung sowohl von der Fokussierung auf die Präsentation eigener Kunst als auch von ihrer Politik der Dezentralisierung ab – wenn auch zunächst nur auf dem Feld der bildenden Kunst. Während diese Überblicksausstellung ein einmaliges Ereignis in der FBZ blieb, erwies sich der Paradigmenwechsel in der französischen Kulturpolitik, auch deutsche Kunst stärker zu würdigen und als Geste der Versöhnung wieder in den Kanon der Moderne aufzunehmen, als nachhaltiger. 1948 wurden aufgrund privater Initiativen erstmals nach dem Krieg westdeutsche Künstler zu einer Ausstellung nach Paris eingeladen, zum Salon des Réalités nouvelles.20 Doch obwohl der Service des beaux-arts diese Einladung diskret unterstützte, sollte es noch ein langer und von zähen Verhandlungen begleiteter Weg sein, bis schließlich ab 1950 erste von staatlichen Stellen organisierte Ausstellungen deutscher Kunst in Paris möglich sein sollten. Sammeln und Schenken Ein weniger bekanntes Kapitel französischer Kulturpolitik in Deutschland nach 1945 sind die Schenkungen an deutsche Sammlungen durch die französische Militärregierung und später das Hochkommissariat. Auch hier spiegelt sich die Kursänderung von einer Prestige- zu einer Versöhnungspolitik. Gut dokumentiert ist die Schenkung von 88 französischen Grafiken, die im Oktober 1948 der Kunsthalle Karlsruhe übergeben wurden.21 General Pierre Koenig, Chef der französischen Militärregierung, nannte dies eine erste Maßnahme zur »Wiederherstellung von Abteilungen für zeitgenössische Kunst in bestimmten deutschen Museen.«22 Warum die wertvolle Gabe jedoch an ein Haus in der amerikanischen Zone ging, lässt sich nur vermuten. Zum einen war Karlsruhe die Hauptstadt des ehemaligen Großherzogtums Badens, dessen traditionelle Verbindung mit Frankreich noch 1946 durch die Ausstellung France – Pays de Bade. Deux siècles d’histoire 1660–1860 betont worden war. Und es verfügte mit der Kunsthalle über das bedeutendste Museum der Region, das zudem von Kurt Martin geleitet wurde, der über gute Kontakte zu den französischen Kulturbehörden verfügte. Doch mag auch die Absicht mitgespielt haben, gerade in der amerikanischen Zone Großzügigkeit und den Glanz französischer Kunst zu demonstrieren, zumal kurz zuvor, im Frühjahr 1948, just in Karlsruhe die Wanderausstellung Gegenstandslose Malerei in Amerika ihre erste deutsche Station gehabt hatte. Auch die französischen Werke gingen in den folgenden Jahren auf eine Tournee durch Französische Besatzungszone

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19 Vgl. Maike Steinkamp, Das unerwünschte Erbe. Die Rezeption »entarteter Kunst« in Kunstkritik, Ausstellungen und Museen der SBZ und frühen DDR, Berlin 2008, S. 196; Michel François: »Introduction«, in: L’art allemand moderne (wie Anm. 17), S. 6 f.

20 Vgl. Schieder 2005 (wie Anm. 1), S. 94 ff.

21 Ebd., S.19 ff.

22 Vgl. Picasso, Matisse Chagall…: Französische Druckgraphik 1900–1950, hrsg. v. Holger-Jacob Friesen u. a., Ausst.-Kat. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe 2006, S. 13.

20 westdeutsche Städte, die 1951 in der Galerie des amerikanischen Collecting point in München endete. Diskreter gestaltete sich die zweite Schenkung von französischer Seite. Am 24. August 1950 erhielt die Gemäldegalerie in Mainz, Sitz des französischen Hochkommissars, aus dessen Hand acht Werke: Gemälde von François Boucher, Eugène Delacroix, Camille Corot, ein Pastell von Edgar Degas, Aquarelle von Raoul Dufy, Paul Signac und Alfred Sisley sowie eine Büste von Rodin.23 Auch hier betonte Frankreich eine traditionelle Verbindung. Mainz hatte bereits 1803, unter napoleonischer Herrschaft, eine bedeutende Kunstschenkung aus Paris erhalten.24 Diese 36 Gemälde wurden nach dem Krieg mit französischer Hilfe restauriert und 1951 zusammen mit den modernen Werken in der Ausstellung Französische Gemälde aus Mainzer Galeriebesitz präsentiert. 1952 ergänzte Raymond Schmittlein aus seiner Privatsammlung einen Gobelin und Picassos Gouache Frauenkopf von 1908. Doch obwohl diese Schenkungen nicht nur Zeichen alter und neuer Verbundenheit mit Mainz waren, sondern auch der Sammlungstätigkeit des Museums neue Impulse verleihen sollten, wurden dort in den folgenden Jahrzehnten kaum Ankäufe moderner Kunst getätigt und die Lücken, die die Aktion »Entartete Kunst« insbesondere in den Bestand expressionistischer Grafik gerissen hatte, nicht wieder geschlossen. Für die Sammlungstätigkeit eines weiteren Museums hingegen war die dritte französische Schenkung der Nachkriegsjahre Ansporn und Anerkennung eigenen Engagements zugleich. 1953 erhielt das Gewerbemuseum in Kaiserlautern, die heutige Pfalzgalerie, als »Zuweisung« des französischen Hochkommissars 13 druckgrafische Arbeiten französischer Künstler. Es handelte sich vorwiegend um Lithografien, unter anderem von Braque, Bernard Buffet und Marie Laurencin.25 Anders als in Mainz hatte der Nachkriegsdirektor in Kaiserlautern, Charles (Karl) Maria Kiesel, schon in den späten 1940er Jahren begonnen, die Sammlung wieder an die aktuelle Kunstentwicklung heranzuführen, insbesondere im Bereich der Grafik. Kiesel, selbst ein Grafiker, war 1935 als politisch Verfolgter nach Frankreich geflohen. Seine im Exil geknüpften Kontakte führten dazu, dass er die Sammlung nicht nur durch Werke unter anderem von Otto Pankok, Lyonel Feininger und Paul Klee ergänzte, sondern ungewöhnlich früh auch durch Arbeiten deutscher Emigranten in Paris wie Max Ernst und Hans Reichel. Kiesels ambitionierte Sammlungspolitik unterschied sich damit deutlich von der anderer Museen in der FBZ, etwa von Freiburg, wo das Augustinermuseum ungeach118

23 Vgl. Brief des Mainzer OB Franz Stein an André François-Poncet vom 25.8. 1950 (Stadtarchiv Mainz 5412032/50). Ich danke Dr. Norbert Suhr vom Mittelrheinischen Landesmuseum Mainz herzlich für die Informationen. Vgl. auch K.-H. Eser, »Vor dreißig Jahren«, in: Aufbruch nach 1945. Bildende Kunst in Rheinland-Pfalz 1945–1960, Ausst.-Kat. Mittelrheinisches Landesmuseum Mainz 1987, S. 7–20; Fritz Arens, »Schenkung an die Mainzer Galerie«, in: Allgemeine Zeitung, 2. / 3. 9. 1950. 24 Vgl. Sigrun Paas und Sabine Mertens (Hrsg.), Beutekunst unter Napoleon. Die »französische Schenkung« an Mainz 1803, Mainz 2003.

25 Ich danke Dr. Heinz Höfchen, Pfalzgalerie Kaiserslautern, herzlich für die Informationen. Vgl. auch Graphik des deutschen Expressionismus, Ausst.-Kat. Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern 1986 (Bestandskataloge der Graphischen Sammlung; 2, bearb. von Heinz Höfchen); Heinz Höfchen, Französische Graphik 19. und 20. Jahrhundert, École de Paris, (Bestandskataloge der Graphischen Sammlung / Pfalzgalerie Kaiserslautern; 3), Kaiserslautern 1989.

tet der mutigen Ausstellungen des 1949 gegründeten Freiburger Kunstvereins bis in die 1950er Jahre nur Werke lokaler Künstler kaufte;26 oder von Ludwigshafen, wo das Museum ähnlich regional sammelte, allerdings auch Bilder von »Pfälzer« Malern wie Max Slevogt und Hans Purrmann.27 Lediglich in Saarbrücken, der Hauptstadt des 1945 aus der FBZ ausgegliederten, mit Frankreich durch eine Wirtschaftsunion verbundenen Saarlands, gab ein frühes Wirtschaftswunder Gelder für ehrgeizigere Kunstkäufe frei. Der Direktor des Saarland-Museums, Rudolf Bornschein, konnte schon ab 1952 bedeutende Werke des deutschen Expressionismus kaufen – von denen manche vor 1937 anderen deutschen Museen gehört hatten – und so sein Haus früher als die Museen in der FBZ aus der »provinziellen Enge« herausführen.28

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26 Ich danke Herrn Danne vom Augustinermuseum/Neue Galerie Freiburg für diese Informationen. 27 Vgl. 25 Jahre Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen 2004, S. 15.

28 Vgl. Johannes Janssen, »›aus seiner provinziellen Enge heraus…‹. Das Saarlandmuseum 1945–2003«, in: Ralph Melcher (Hrsg.): Ein Bild der Kultur. Die Geschichte des Saarlandmuseums, Blieskastel 2004, S. 219 ff.

Bremen

Frankfurt/Main

Mannheim

Stuttgart

München

Amerikanische Besatzungszone

Kulturpolitische Rahmenbedingungen und Kunstpolitik in der amerikanischen Besatzungszone Steffen Dengler Um die kulturpolitischen Rahmenbedingungen in der amerikanischen Besatzungszone deutlich zu machen, eignet sich eine Ausstellungsreihe, die die Amerikanische Militärregierung in Augsburg veranstaltete. Sie fand im Schaezlerpalais statt, Augsburgs bedeutendem Adelspalais des 18. Jahrhunderts, das von den Bombardements 1944 verschont geblieben war. Bereits im Dezember 1945 eröffnete hier die Ausstellungsreihe mit dem Titel Maler der Gegenwart, die um eine Standortbestimmung der deutschen Gegenwartskunst bemüht war.1 Aus heutiger Sicht verwundert es durchaus, dass in einem zerbombten Land, in dem es überall am Nötigsten fehlte, so früh Ausstellungsaktivitäten aufgenommen wurden. Das erklärt sich auch mit dem Stellenwert, den die Amerikaner der Kultur beimaßen. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg wird in den USA der Gedanke greifbar, die totalitären Machthaber Europas würden die moderne Kunst deshalb so radikal verfolgen, weil von ihr eine reelle Gefahr für deren Macht ausginge.2 Noch 1945 analysierte der Assistant Secretary of State, Archibald MacLeish, dass intellektuelle Kreise am ehesten geeignet seien, die deutsche Gesellschaft zur Demokratie zu führen.3 Die in Deutschland verbliebenen Vertreter der Moderne – Künstler, Kunsthistoriker und Kritiker gleichermaßen – zögerten nicht lange, nutzten ihre neue Freiheit trotz Ruinen und Materialmangel und entfalteten eine beeindruckende kulturelle Aktivität. Sie wurden von der Militärregierung unterstützt, weil sie erwartete, dass die Schriftsteller, Künstler und Intellektuellen helfen würden, die deutsche Gesellschaft zur Demokratie zu führen. Die Amerikaner gingen also von einer direkten Wirkung der Hochkultur auf die Massenkultur aus. Obwohl die Umerziehung der Deutschen, die Re-education, in Amerika bereits seit den frühen 1940er Jahren geplant war, gab es zu Beginn der Besatzungszeit weder ein einheitliches Umerziehungsprogramm der Alliierten, noch war klar umrissen, welche Inhalte ein solches haben könnte.4 Soweit die Umerziehung kulturelle Eingriffe betraf, kam erschwerend hinzu, dass staatliche Kulturarbeit oder Kulturförderung in den USA nicht nur unüb122

1 Art Exhibition/Kunst-Ausstellung. Modern Paintings I/ Maler der Gegenwart I. Ausst.-Kat. Augsburg 1945, unpaginiert, Text wiederabgedruckt in Steffen Dengler, Die Kunst der Freiheit? Die westdeutsche Malerei im Kalten Krieg und im wiedervereinigten Deutschland, München 2010, S. 243 f.

2 Siehe zum Beispiel Lewis Mumford, »Opening Adress«, in: First American Artists‘ Congress. New York 1936, S. 2. 3 Siehe Karl-Ernst Bungenstab, Umerziehung zur Demokratie? Re-education-Politik im Bildungswesen der US-Zone 1945–49, Düsseldorf 1970, S. 174, und Sigrid Ruby, »Have we an American Art?« Präsentation und Rezeption amerikanischer Malerei im Westdeutschland und Westeuropa der Nachkriegszeit, Weimar 1999, S. 51.

4 Siehe Ruby 1999 (wie Anm. 3), S. 48 und 50–51; dort werden auch die psychologischen und pädagogischen Vorstellungen der Amerikaner dargelegt, die zur Re-education führten (S. 46–51).

lich, sondern auch in weiten Kreisen als unzulässiger Eingriff des Staates verpönt war.5 Bereits im Gründungsjahr der CIA, 1947, entstand daher unter ihrem Dach ein Konsortium, das sich verdeckt der staatlichen Kulturarbeit annahm.6 Die erste Augsburger Kunstausstellung versuchte einen Einblick in »das zwölf Jahre unsichtbare Schaffen« in seiner großen Vielseitigkeit zu ermöglichen.7 Es sollte also all das gezeigt werden, was während der zwölfjährigen Herrschaft der Nationalsozialisten von deren Kulturpolitik verdrängt wurde. An dieser Stelle müssen zwei Beispiele genügen, um ein Bild vom Spektrum der präsentierten Stile zu vermitteln: Rudolf Schlichters Blinde Macht von 1937 als Repräsentant einer figurativen Malerei mit sozialkritischen oder politischen Themen. Zum anderen Maria Caspar-Filsers Kirschen und Erdbeeren von 1930 als Beispiel einer genrehaften Malerei mit einem Akzent auf kompositorischen und malerischen Aspekten. Hans Eckstein schrieb im Vorwort des Kataloges gegen das Verdikt des »Kunstbolschewismus« der Nationalsozialisten an, indem er mit Hans Thoma und Carl Schuch, zwei Vertretern des für die Nationalsozialisten als vorbildlich geltenden deutschen Impressionismus, gegen die Kunstauffassung der Nationalsozialisten argumentierte.8 In der Vielgestaltigkeit der ausgestellten Kunst sah Eckstein ein Zeugnis für das Scheitern nationalsozialistischer Kulturpolitik: »Die Aufnahmebereitschaft, das Kunstinteresse der breiten Schichten unserer Nation vermochte der Nazismus irre zu leiten. Sein Ziel hat er dennoch nicht erreicht: er vermochte die vielgestaltige, in ihren künstlerischen Tendenzen widerspruchsvolle deutsche Kunst nicht zu vereinheitlichen.«9 Im August 1946 folgte die zweite Ausstellung in der Reihe Maler der Gegenwart, bei der neben die Zeitgenossen Werke des deutschen Impressionismus traten. An ihnen sollte deutlich werden, auf welche Richtung der jüngeren Tradition die Zeitgenossen aufbauten. Der eigene Anspruch war, mit großer Offenheit »[n]icht irgendeiner Kunstrichtung, sondern nur der Kenntnis und dem Verständnis der Vielfalt künstlerischen Wollens und Könnens« zu dienen.10 Hans Eckstein sah in seiner Rezension für die Süddeutsche Zeitung als Zweck der Ausstellung, das Verständnis für zeitgenössische Malerei beim offenbar moderneskeptischen Augsburger Publikum zu fördern: »Denn darauf kam es hier doch wohl an: dem Besucher, der mit Freude und voll Anerkennung die Werke Corinths und Weisgerber anschaut, aber noch ratlos und befremdet vor den Arbeiten Caspars und Caspar-Filsers steht, Brücken zum Verständnis des modernen Amerikanische Besatzungszone

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5 Das zeigte sich exemplarisch am Scheitern der Ausstellung Advancing American Art, siehe Dengler 2010 (wie Anm. 1), S. 31–49. 6 Frances Stonor Saunders, Who Paid the Piper? The CIA and the Cultural Cold War, London 1999, S. 2.

7 Meister des Impressionismus aus dem Bayerischen Staats-Besitz und Malerei der Gegenwart. Ausst.-Kat. Augsburg 1946, o. S., wiederabgedruckt in Dengler 2010 (wie Anm. 1), S. 245.

8 Augsburg 1945 (wie Anm. 1), o. S.

9 Augsburg 1945 (wie Anm. 1), o. S.

10 Augsburg 1946 (wie Anm. 7), o. S.

Kolorismus zu bauen, seien es auch nur Brücken zu einer toleranteren Haltung, als sie gerade die Augsburger bei der ersten Ausstellung im Schäzler-Palais eingenommen haben.«11 Die Einleitung des Kataloges kündigte als Gegenstück eine Ausstellung an, in der gezeigt werden sollte, von was sich die zeitgenössische Malerei nach Meinung des Autors abgrenzte. Diese Ausstellung hat in der angekündigten Form wohl nie stattgefunden. Welche Kunst hätte sie als »bewußten malerischen und geistigen Gegensatz«12 zur zeitgenössischen Malerei präsentiert? Möglicherweise die expressionistische und abstrakte Malerei, die in der Ausstellung mit der vorbildlichen Kunst fehlte. Dann wären in Augsburg zwei Ausstellungen vorbereitet worden, die Geltungskunst gegen verworfene Kunst gestellt hätten, mit einem Mechanismus, der auf verstörende Weise an das Münchener Ausstellungsgespann aus Großer Deutscher Kunstausstellung und Entartete Kunst aus dem Jahre 1937 erinnert hätte. Im Februar 1947 eröffnete der dritte Teil der Augsburger Ausstellungsreihe Maler der Gegenwart und präsentierte tatsächlich expressionistische und abstrakte Malerei.13 Ihr Titel Extreme Kunst wirkt wie eine leichte Abschwächung von Entartete Kunst. Das Plakat zeigte ein eulenartiges Wesen, das als Collage aus dem zerschnittenen Logo des Schaezlerpalais entstanden war. Diese Collage kann ebenso wie die schräg gesetzte Typografie sowohl als Hommage an den Dadaismus als auch als bildliche Umsetzung des Verdikts, moderne Kunst zerstöre ihren Gegenstand, gedeutet werden. Die Ausstellung zeigte ausschließlich Künstler, denen es während des »Dritten Reiches« verboten war, ihre Werke öffentlich auszustellen.14 Aber sie denunzierte die ausgestellten Werke entgegen der Ankündigung nicht als »bewußten malerischen und geistigen Gegensatz« zum »heutigen Schaffen«.15 Die Verfolgung durch die Nationalsozialisten war zwar ein Kriterium der Zusammenstellung, aber nun wie in den vorangegangenen Ausstellungen mit dem Ziel der Rehabilitierung. Die ausgestellten Werke der Ausstellung zeigen entgegen dem Titel Extreme Kunst Werke von Künstlern, die zum Großteil bereits mehrfach seit 1945 in verschiedenen Kunstausstellungen in Konstanz, Dresden, Augsburg und anderswo in Deutschland ausgestellt wurden. Zu den formal »extremsten« Werken zählen die Arbeiten von Willi Baumeister und Fritz Winter, weil sie den höchsten Abstraktionsgrad aufwiesen. 124

11 Hans Eckstein, »Modernität und Tradition. Die neue Ausstellung im Augsburger Schätzler-Palais«, in: Süddeutsche Zeitung, 2, 75, 17. September 1946, S. 5.

12 Augsburg 1946 (wie Anm. 7), o. S.

13 Siehe Hermann Glaser, Deutsche Kultur. Ein historischer Überblick von 1945 bis zur Gegenwart, 2., erweiterte Auflage, Bonn 2000, S. 164.

14 Siehe Extreme Malerei, Malerei der Gegenwart III, Ausst.-Kat., Augsburg 1947, unpaginiert. Unter dem Verzeichnis der ausgestellten Künstler vermerkt der Katalog: »Sämtlichen Künstlern war während des Dritten Reiches die Ausstellungsmöglichkeit verwehrt.« 15 Augsburg 1946 (wie Anm. 7), o. S.

Plakat zur Ausstellung Extreme Kunst in Augsburg.

Amerikanische Besatzungszone

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Die Diskrepanz zwischen Kunst und Publikum bringt diese Fotografie zum Ausdruck, sie zeigt Besucherinnen der Ausstellung Extreme Kunst im Stuttgarter Kunstverein, April 1947

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Es ist auffällig, dass es sich beim Katalogtext dieser Ausstellung nicht um einen kurzen Absatz zur Einführung von einem namentlich nicht genannten Autor handelte, wie im Katalog der vorangegangenen Impressionistenausstellung, sondern um eine seitenlange Verteidigungsschrift der modernen Kunst von Franz Roh aus München. Darin schrieb er, er sei »gebeten worden, einiges gegen die Mißverständnisse vorzubringen, die der neuesten Gestaltung gegenüber immer wieder auftreten«.16 Wer hatte ihn gebeten? Der Berufsverband, der die Expressionisten gerade aus der vorbildlichen Tradition ausgeschieden hatte? Inzwischen hatte in Dresden die Allgemeine Deutsche Kunstausstellung stattgefunden. Sie wurde zur umfassendsten Darstellung der deutschen Gegenwartskunst in den unmittelbaren Nachkriegsjahren.17 Hans Grundig und Will Grohmann waren durch die Sektoren gereist um in den Künstlerateliers für die Teilnahme an der Ausstellung zu werben. Die anfängliche Begeisterung eines künstlerischen Neuanfangs wurde schnell getrübt. Wohl im Auftrag des Sächsischen Kulturministeriums wurde das Publikum systematisch nach seiner Meinung gefragt.18 Es wurde eine beträchtliche Ablehnung expressionistischer und abstrakter Kunst festgestellt. Im schnell anberaumten Sächsischen Künstlerkongress wurde das Ergebnis mit zum Teil widersprüchlichen Argumenten dazu genutzt, die abstrakte Kunst als volksfern und nicht zukunftsweisend abzuqualifizieren und sich für eine realistische, politisch artikulierte Malerei auszusprechen.19 Die Befürworter moderner Malerei und die Amerikaner hatten nach der Dresdner Ausstellung das gemeinsame Interesse, die dort entwickelten, autoritären kulturpolitischen Prämissen einzudämmen und die Unabhängigkeit der Kunst von der politischen Führung zu schützen. Trotz des Widerspruchs einer von nationalsozialistischer Ästhetik geprägten Mehrheit, die auch in Westdeutschland zu befürchten war, bot sich mit der Unterstützung der in Dresden abgelehnten Kunst die Möglichkeit, diese politische Unabhängigkeit der Kunst als wirksames Symbol der individuellen Freiheit im eigenen Gesellschaftssystem zu gewinnen. Womit die Kunst ihre Unabhängigkeit natürlich gleich wieder eingebüßt hätte. Es könnte demnach die amerikanische Militärregierung gewesen sein, die Roh gebeten hatte, »einiges gegen die Mißverständnisse vorzubringen«.20 Als Veranstalterin der Augsburger Ausstellungsreihe hätte sie gegen eine Schmähausstellung des Berufsverbandes intervenieren können, von der sich möglicherweise der merkwürdige Titel Extreme Kunst erhalten hat. Vielleicht waren die Plakate schon gedruckt. Genauso könnte Amerikanische Besatzungszone

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16 Franz Roh, »Die neue Malerei und ihre Widerstände«, in: Augsburg 1947 (wie Anm. 14), o. S., wiederabgedruckt in Dengler 2010 (wie Anm. 1), S. 245–248.

17 Siehe Dengler 2010 (wie Anm. 1), S. 63–83 und Karin Thomas, Kunst in Deutschland seit 1945, Köln 2002, S. 20–24.

18 Bernd Lindner, Verstellter offener Blick. Eine Rezeptionsgeschichte bildender Kunst im Osten Deutschlands 1945–1995, Köln 1998, S. 70–86.

19 Dengler 2010 (wie Anm. 1), S. 75–83.

20 Siehe Anm. 16.

der Berufsverband selbst nach der Dresdner Ausstellung von dem Vorhaben Abstand genommen haben und zu einer neuen Bewertung der Expressionisten gelangt sein. Von wem der Impuls auch gekommen sein mag, es erscheint sehr wahrscheinlich, dass die Ursache für die Neubewertung des Projekts Extreme Kunst im Skandal der Dresdner Besucherbefragung und dem Künstlerkongress lag. Im Umgang mit dem Problem abgelehnter Kunstwerke kann man einen deutlichen Unterschied zur Kulturpolitik der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) sehen: In der SBZ wurde den Künstlern vorgeworfen, dass ihre Arbeit vom Publikum nicht verstanden wurde. Nach dem Willen der Kulturfunktionäre sollten sie dieses Problem mit einer verständlicheren Kunst lösen. In der amerikanischen Zone wurde das Problem beim Publikum gesehen, das zu ungebildet sei und dem das Werk mit begleitenden Vorträgen und Publikationen von Kennern verständlich gemacht werden sollte. Im Vergleich zu den früheren Ausstellungen, nicht nur in Augsburg, fällt auf, dass thematische Kunst wie die von Rudolf Schlichter ausgespart blieb. Extreme Kunst begrenzte sich auf Kunstwerke, die in formaler Hinsicht an die Grenzen der Sehgewohnheiten gingen und unter diesem Aspekt »extrem« waren, auf der inhaltlichen Ebene muteten die Ausstellungsmacher dem Publikum jedoch keine »extremen« Aussagen zu.21 Die Vermutung liegt nahe, dass auf thematische Kunst in Abgrenzung zur Kulturpolitik der SBZ nach der Dresdner Ausstellung verzichtet wurde. Ein Brief von Ludwig Ohlenroth vom Berufsverband Bildender Künstler Schwaben an Will Grohmann belegt, dass in Augsburg auf die Dresdner Ausstellung reagiert wurde. Ohlenroth bat Grohmann in dem Brief um Zusendung des Dresdner Kataloges und kündigte ihm Extreme Kunst an. Der Brief dürfte also im Spätsommer 1946 verfasst worden sein. Ohlenroth bot Grohmann darin die »grossartige Ausstellungsmöglichkeit« des Schaezlerpalais an, falls er »einmal Pläne für eine ähnliche Ausstellung wie Dresden für die amerikanische Zone« hätte.22 Dieses Angebot führte offenbar noch 1947 zu der Ausstellung Künstler der Ostzone in derselben Ausstellungsreihe im Schaezlerpalais. Diese Ausstellung war nun ganz thematischer Kunst gewidmet. Im Vorwort teilte Grohmann, für den die Dresdner Ausstellung eine schmerzliche persönliche Niederlage dargestellt haben musste, Deutschland in eine westliche und eine östliche Kunstlandschaft ein, wobei der Titel der Ausstellung deutlich zeigt, dass mit der östlichen Kunstlandschaft die »Ostzone« gemeint war, also 128

21 Vgl. Walter Grasskamp, Die unbewältigte Moderne. Kunst und Öffentlichkeit, München 1989, S. 96–97, der bei der ersten documenta die gleiche Beobachtung machte.

22 Brief von Ludwig Ohlenroth an Will Grohmann, Stuttgart: Archiv Will Grohmann, wiederabgedruckt in Dengler 2010 (wie Anm. 1), S. 248.

die SBZ. Grohmann war damals Professor in Dresden, wechselte aber bereits im folgenden Jahr, 1948, an die Hochschule für Bildende Künste in West-Berlin und sollte einer der bedeutendsten Wegbereiter der abstrakten Kunst in Westdeutschland werden. Grohmann schrieb der ostdeutschen Kunstlandschaft den Wirklichkeitssinn zu und reservierte abstrahierende Tendenzen für den Westen. Die kunstlandschaftlichen Unterschiede verankerte er in der Karolingerzeit und gelangte in wenigen Sätzen bis ins 20. Jahrhundert, wo die Ausstellung einsetzte, mit Werken von Otto Dix, Karl Hofer, Käthe Kollwitz, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff. Alle ausgestellten Künstler, mit Ausnahme von Alfred Arndt, waren auch in der Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung in Dresden zu sehen gewesen. Der in Karlsruhe geborene Hölzel-Schüler Hofer konnte nicht ganz zwanglos Grohmanns mentalitätsgeschichtlich begründeter ostdeutscher Kunstlandschaft einverleibt werden. Er verdankte diese Zuteilung sicherlich nicht nur seinem Amt als Direktor der Hochschule für Bildende Künste in Berlin-Charlottenburg, sondern mehr noch seinem Engagement über die Zonengrenze hinaus im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, das ihn auch zu einem der Organisatoren der Dresdener Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung gemacht hatte. Nach dem Dresdner Angriff auf die künstlerische Freiheit stellten sich die Augsburger Ausstellungsmacher hinter die am stärksten betroffene Kunst – und unterstützten so eine Kunst, die sie unter anderen Umständen abgelehnt hätten. Gleichzeitig distanzierten sie sich mit der Ausstellung Künstler der Ostzone von der Kunstrichtung, die die Kulturpolitiker der SBZ favorisierten. So entstand in Augsburg mit Extreme Kunst und Künstler der Ostzone doch noch ein Ausstellungspaar, das Geltungskunst gegen zu verwerfende Kunst stellte, wenn auch weniger explizit vorgeführt und inhaltlich anders als zunächst geplant. Dem Westen kam demnach die Tradition der thematisch ungebundenen Malerei zu und dem Osten wurde die Kunst der Aussage überlassen. In der kurzen Zeit von Juni 1946 bis August 1947 wurde die Geltungskunst in Deutschland geteilt, drei Jahre bevor die Zweistaatlichkeit mit der Gründung der Bundesrepublik politisch festgeschrieben wurde. Die Ausstellungsreihe zeigt, wie im amerikanischen Sektor nach Kriegsende, zunächst genau wie in anderen Sektoren auch, eine Inventur der deutschen Gegenwartskunst gemacht wurde. Die Amerikanische Besatzungszone

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Amerikaner wurden getrieben von den kulturellen Aktivitäten der Franzosen23 und vor allem der Sowjetunion24. Die lokalen Akteure hatten dabei freie Hand. Das eigene kulturpolitische Profil wurde in Reaktion auf die kulturpolitische Setzung in der SBZ entwickelt und führte zu einer Unterstützung abstrakter Kunst, die nicht nur in Augsburg und Bayern mehr Gegner als Befürworter hatte, sondern auch von konservativen Amerikanern verabscheut wurde. Dennoch führte die Entwicklung an der Front des Kalten Krieges dazu, dass unter Präsident Truman ab 1948 auch in den USA der Abstrakte Expressionismus gefördert und zu einer Nationalkunst vereinnahmt wurde.25 1955 wurde die in Augsburg erstmals greifbare Linie prägend für die documenta in Kassel.26 Anders als die Kulturpolitik der SMAD arbeitete die amerikanische Kulturpolitik im Verborgenen und ist nicht so leicht greifbar. Mit der Lizenzpresse, eigenen Publikationen wie der Neuen Zeitung, dem Radio im amerikanischen Sektor RIAS oder den Organen des Kongresses für kulturelle Freiheit, konnten die Amerikaner ihre Interessen durchsetzten, indem sie Protagonisten wie Will Grohmann oder Franz Roh Publikationsmöglichkeiten, angesehene Positionen und auch ein Auskommen gaben.

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23 Vgl. Dengler 2010 (wie Anm. 1), S. 63. 24 Siehe z. B. Eckhart Gillen, Feindliche Brüder? Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945–1990. Berlin 2009, S. 15.

25 Dengler 2010 (wie Anm. 1), S. 106–107, David Craven, Abstract Expressionism as Cultural Critique. Dissent During the McCarthy Period, Cambridge 1999, S. 40, und Serge Guilbaut, Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg, Dresden 1997, S. 193–225. 26 Dengler 2010 (wie Anm. 1), S. 164–170.

Anmerkungen zur Ausstellungstätigkeit und Ankaufspolitik der Kunsthalle Bremen nach 1945 unter Günter Busch Anne Buschhoff Für den Neuanfang nach 1945 waren die Rahmenbedingungen an der Kunsthalle Bremen ausgesprochen schwierig. Die Sammlung wies Kriegsverluste auf, die zu den größten innerhalb der deutschen Museumslandschaft zählten. Nach dem schweren Bombenangriff in der Nacht zum 5. September 1942 war die Sammlung in Schutzräume unter zwei Bremer Bankgebäuden ausgelagert worden, bis schließlich Bürgermeister Johann Heinrich Böhmcker den Abtransport der Werke aus der Stadt anordnete, gegen den sich Emil Waldmann (1880–1945), der Direktor der Kunsthalle Bremen, lange gewehrt hatte: 50 Gemälde, 1.715 Zeichnungen und zirka 3.000 Blatt Druckgrafik wurden auf das Schloss Karnzow des Grafen Königsmarck in der Mark Brandenburg gebracht,1 das aber 15 Monate herrenlos war und wiederholt von sowjetischen Truppen geplündert wurde, nachdem der Graf bei Anrücken der sowjetischen Armee Selbstmord begangen hatte.2 So fehlten dem Kunstverein in Bremen, der auch während der NS-Herrschaft privater Träger des Museums geblieben war, mit Kriegsende 35 Gemälde und über 3.000 Blatt Handzeichnungen und Druckgrafik.3 Waldmann, der die Kunsthalle seit 1914 geleitet hatte, erlebte die Auslagerung nicht mehr mit. Er war bereits 1942, nach Schließung der Kunsthalle, mit seiner Frau nach Salzburg, später nach Würzburg gegangen, wo beide sich während eines Angriffs auf die Stadt 1945 das Leben genommen haben sollen. Der Neuanfang 1945 Schon zur Jahreswende 1944/1945 aber hatte Günter Busch (1917–2009) in Absprache mit Waldmann die Nachfolge des bei einem Bombenangriff ums Leben gekommenen Kustos Wilken von Alten (1885–1944) angetreten. Somit war die Kunsthalle mit Kriegsende 1945 nicht verwaist. Da das Gebäude stark beschädigt worden war und sich die Amerikaner mit dem AmerikaHaus einquartiert hatten,4 war die räumliche Situation zunächst beengt und der Museumsbetrieb blieb anfänglich eingeschränkt. Offensichtlich kam es zu Spannungen, so dass der Dichter und Amerikanische Besatzungszone Bremen

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1 Weitere Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafiken verwahrte man auf dem Schloss Neumühle des Grafen von der Schulenburg im Kreis Salzwedel und auf Schloss Schwöbber bei Hameln. Die Skulpturen gingen in die Bückeburger Fürstengruft. 2 Zu den Umständen auf Schloss Karnzow und ihren Folgen siehe Anne Buschhoff, »Kurt Reutti und seine Verdienste um die Kunsthalle Bremen«, in: Ernst Barlach. Kaviar statt Brot / Kurt Reutti – Sammler und Stifter, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bremen, Leipzig 2001, S. 8–22, insbesondere S. 13–22, und Rainer B. Schossig, Victor Baldin. Der Mann mit dem Koffer. Die Odyssee der 1945 nach Moskau verbrachten Blätter der Kunsthalle Bremen, Bremen 2007. 3 Günter Busch, »Der Förderkreis in der Tradition des Kunstvereins«, in: Der Förderkreis für Gegenwartskunst im Kunstverein Bremen. Eine Dokumentation zum 30jährigen Bestehen, Bremen 2001, S. 17–20, hier S. 18. Siehe grundlegend A Catalogue of the Works of Arts from the Collection of the Kunsthalle Bremen lost during Evacuation in the Second World War, bearbeitet von Andreas Kreul und Anne Röver-Kann u. a., Bremen 1991/97.

4 Vom 3. April 1947 bis zum 17. Juli 1948.

Architekt Rudolf Alexander Schröder (1878–1962), Mitbegründer der ästhetisch-belletristischen Zeitschrift Die Insel, als Direktor eingesetzt wurde. Schröder gehörte bereits seit 1909 dem Vorstand des Kunstvereins an und galt als politisch unbelastet, da er nicht in die NSDAP eingetreten war. Auch wenn er sich wenig in der Hansestadt aufhielt, entspannte sich offenbar die Situation vor Ort, die der ehemalige Vorsitzer des Kunstvereins, Hermann Apelt (1876–1960), scherzhaft mit den Worten kommentierte: »Schröder ist der Regenschirm bei schlechtem amerikanischem Wetter.«5 Im Jahr 1948, zum 125-jährigen Jubiläum des Kunstvereins, wurde der eigentliche Museumsbetrieb dann langsam wieder aufgenommen. Die wissenschaftliche Leitung lag bereits mit Kriegsende bei Günter Busch.6 Ab dem 1. April 1950 stand er ihr dann auch als junger Direktor vor, und Schröder war fortan Ehrenvorsitzer des Kunstvereins.7 Mit 39 Jahren sollte Buschs Amtszeit ungewöhnlich lange andauern. Erste Ausstellungen in den Nachkriegsjahren Die Zahl der Mitglieder des Kunstvereins, die nach dem Kriege auf 693 gesunken war, belief sich zu diesem Zeitpunkt schon wieder auf 1.444. Als erste Kultureinrichtung der Stadt richtete der Kunstverein in Bremen öffentliche Veranstaltungen aus. Bereits im Winter 1945/46 wurden in der Kunsthalle Bremen Vortragsreihen zur französischen Handzeichnung und zum französischen Impressionismus gehalten, in den darauffolgenden Wintern dann zur Barockkunst, zum Deutschen Impressionismus sowie zur französischen Kunst der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.8 Zu diesen Themen und zugleich Sammlungsschwerpunkten fanden ab 1946 auch regelmäßig Ausstellungen statt: 9 Im April und Mai 1946 etwa wurden Ausstellungen zum französischen Impressionismus und zu deutschen Romantikern ausgerichtet.10 Im Herbst darauf präsentierte man italienische Handzeichnungen, Rubens-Stiche und Malerei und Grafik von Rembrandt und seinem Kreis.11 Zudem stand 1947 mit Ausstellungen zu Max Liebermann, Max Slevogt und Lovis Corinth der deutsche Impressionismus im Fokus.12 1947 fand außerdem eine Ausstellung mit Malerei und Grafik von Edvard Munch statt.13 Eine Künstlerin, auf die sich Busch mit Amtsantritt konzentrierte und darin seinen Vorgängern Gustav Pauli und Emil Waldmann folgte, war Paula Modersohn-Becker. Von Mai bis Juni 1947 präsentierte er ihre Kunst in einer ersten Ausstellung, die rund 14.000 Besucher zählte.14 Mit Präsentationen zu Gegenwartskünstlern wie Otto Freytag, Rudolf Grossmann und Otto Pankok stellte Busch in den frühen Nachkriegsjahren Künstler aus, die unter den Nationalsozialisten als »entartet« diffamiert worden waren.15 Mit Fritz 132

5 Hermann Apelt, Erinnerungen aus 57 Jahren Kunstverein, Bremen o.J., S. 17. Da Schröder 1934 in die Bekennende Kirche eingetreten war, wurde ihm von den Nationalsozialisten ein Redeverbot auferlegt, so dass er nach Bergen am Chiemsee ging, wo die Kirche noch stärker war und er predigen konnte. 6 Busch war an der deutschen KarlsUniversität in Prag promoviert worden und bereits als Volontär an der Kunsthalle Bremen tätig gewesen. 7 Busch konnte zunächst nur auf den Sammlungsverwalter Fritz Hilken zurückgreifen. Erst in den Jahren 1949/1950 stand ihm mit Horst Keller ein wissenschaftlicher Mitarbeiter zur Seite. Ab Anfang der 1960er Jahre hatte das Museum dann kontinuierlich einen Kustos und einen wissenschaftlichen Mitarbeiter.

8 Museum heute. Ein Querschnitt. Kunsthalle Bremen, hrsg. von der Kunsthalle Bremen, Bremen 1948, S. 99. 9 Zum gesamten Ausstellungsprogramm zwischen 1945 und 1948 siehe ebd., S. 100. 10 Jeweils vom 19.4. bis zum 16.5. 1946, Ausstellungsbuch März 1935 bis August 1952, Archiv Kunsthalle Bremen

11 19.7. bis 14.8. 1946. Siehe ebd.

12 26. 1. bis 3.3. 1947, 10.3. bis 7.4. 1947, 13.4. bis 15.5. 1947. Siehe ebd. 13 30.9. bis 17.10. 1947. siehe ebd.

14 24.5. bis 20.7. 1947. Siehe auch Museum heute (wie Anm. 8), S. 100. 1976 und 1982 folgten weitere Ausstellungen ihres Werkes. 15 2.11. bis 8.12. 1946, 12.1. 1946 bis 20.1. 1947, 15.2. bis 21.3. 1948. Ausstellungsbuch März 1935 bis August 1952, Archiv Kunsthalle Bremen.

Husmann16 oder auch Gustav Adolf Schreiber17 förderte er zudem aus Bremen stammende oder dort lehrende Künstler.18 Buschs Ankaufspolitik Mit Kriegsende wurde der Berliner Bildhauer Kurt Reutti (1900– 1967) zu einem wichtigen Mitstreiter von Günter Busch. Reutti, der als freier Mitarbeiter des Berliner Magistrats (Abteilung Volksbildung) zahlreiche gestohlene Museumsgüter ausfindig machte und zurückführte, ging dieser Aufgabe ab 1946 auch für die Mark Brandenburg nach, wo er in Schloss Karnzow bei Kyritz kostbare Teile des dorthin ausgelagerten Bremer Kupferstichkabinetts und mehrere Ölbilder der Sammlung hatte sicherstellen können.19

16 Der gebürtige Bremer wurde erst mit 50 Jahren einem breiteren Publikum bekannt, als sein Zyklus Aus Tagen der Not in der Hamburger Kunsthalle präsentiert wurde. 17 Der Maler und Bildhauer war zwischen 1947 und 1956 als Lehrer in der Entwurfsklasse an der Kunstschule Bremen tätig. 18 19.5. bis 16.6. 1945, 19.4. bis 16.5. 1946, 19. 8. bis 30.9. 1946. Zudem präsentierte sich der Bremer Künstlerbund in der Kunsthalle 20.6. bis 14.7. 1946, 7.12. 1947 bis 4.1. 1948.

19 Siehe Buschhoff 2001 (wie Anm. 2), Catalogue Bremen 1991/1997 (wie Anm. 3).

Die Bilanz der Verluste aber blieb ernüchternd. Die finanzielle Situation des Kunstvereins schloss Neuankäufe aus, dennoch traf Busch die grundsätzliche Entscheidung, die alte Abteilung nicht in ihrem reduzierten Bestand zu belassen und sich fortan nicht ausschließlich auf die Gegenwartskunst zu konzentrieren. In Ausnahmefällen konnte er Lücken schließen. So etwa gewann er 1957 für Joos van Craesbeecks verschollenes Selbstbildnis die amüsante Wirtshausszene (mit Selbstbildnis) (um 1645/50) des Antwerpener Malers. Grundsätzlich war seine Ankaufspolitik stark an den bestehenden Sammlungsschwerpunkten orientiert. Busch setzte auf Kontinuität. In seinen Erinnerungen von 1984 heißt es: »Indessen zeigte sich bei genauerer Betrachtung, daß das Verbliebene und in Glücksfällen Zurückgekehrte von solchem Gewicht, von derartigem künstlerischen Rang war, daß es wieder mit den neueren und neuesten Bereichen der Galerie verknüpft werden wollte.«20 Busch bemühte sich, »an gewisse Einzelstücke Ergänzendes und möglicherweise das Vorhandene erst ins rechte Licht Rückendes anzukristallisieren«.21 – Ein Ziel, das schon Emil Waldmann verfolgt und in die Formel »Forcen stärken«22 gekleidet hatte.

22 Zit. nach ebd., S. 102.

Immer ging es Busch darum, mit Ankäufen deutscher und französischer Kunst den vorhandenen Bestand zu stärken und so anzuknüpfen an den von Pauli und Waldmann gesetzten Schwerpunkt zur deutschen und französischen Kunstentwicklung im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert, von der Romantik über den Realismus und Impressionismus und über sie hinaus.23

23 Busch 2001 (wie Anm. 3), S. 20.

Busch suchte insbesondere das französische 19. Jahrhundert als Kerngebiet der Sammlung weiter auszubauen, das unter Gustav Pauli und Emil Waldmann »den Ruf [des] Hauses in der Kunstwelt begründet hat«.24 Während Pauli und Waldmann in ihren

24 Busch 1984 (wie Anm. 22), S. 102.

Amerikanische Besatzungszone Bremen

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20 Günter Busch, Die Kunsthalle Bremen in vier Jahrhunderten. Eine hanseatische Bürgerinitiative 1945–1984, Bremen 1984, S. 99. 21 Ebd., S. 102.

Schloss Karnzow bei Kyritz

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fünfzehn- und einunddreißigjährigen Amtszeiten 18 beziehungsweise 16 Ankäufe auf diesem Gebiet getätigt hatten,25 erweiterte Busch das Sammlungsgebiet bis Ende der 70er Jahre um 130 Gemälde, zumeist mit mehreren Erwerbungen pro Jahr,26 darunter unter anderem frühe Ankäufe zu Delacroix,27 von dem die Kunsthalle Bremen die bedeutendste Sammlung außerhalb Frankreichs besitzt, und zur Schule von Barbizon.28 Auch baute Busch seit den 1950er Jahren im Bereich des Nachimpressionismus mit Werken der Schule von Pont-Aven, vor allem aber der Nabis neue bedeutende Sammlungsschwerpunkte auf.29 Die deutsche Kunst dieser Zeit, den sogenannten deutschen Impressionismus, bereicherte er schon kurz nach Kriegsende mit regelmäßigen Grafikankäufen. Nach zehn Jahren im Amt kaufte Günter Busch die Papageienallee (1902) von Max Liebermann und Lovis Corinths Die Kindheit des Zeus (1905–06). Beim Ankauf moderner und jüngerer Kunst dagegen verhielt sich Busch deutlich zurückhaltender. Den Auftakt zum Aufbau der Klassischen Moderne markiert das bedeutende Vermächtnis des Künstlers Arnold Blome und seiner 1946 verstorbenen Frau Helene, das neben einer größeren Anzahl von Arbeiten auf Papier 33 Bilder des 19. und 20. Jahrhunderts umfasste. Der Schwerpunkt ihrer Sammlung lag bei der Malerei des 19. Jahrhunderts. Sie enthielt aber auch Werke aus der Berliner Zeit der expressionistischen Künstlervereinigung Brücke, darunter Karl Schmidt-Rottluffs Das rote Haus (1913) und Erich Heckels Haus in Dangast (1908) sowie Kees van Dongens Die Bettlerin (um 1907/08), der der Brücke in den Jahren 1908/09 nahe stand. Blomes Vermächtnis diente ausdrücklich zur Kompensation der Verluste innerhalb der NS-Aktion »Entartete Kunst«. Am 21. August 1937 waren 18 Gemälde beschlagnahmt und nach Berlin in die Reichskammer der bildenden Künste gesandt30 sowie 23 Aquarelle und Zeichnungen31 und 120 Blatt Druckgrafik von 33 Künstlern beschlagnahmt worden. Der Blaue Reiter fand nach 1945 vergleichsweise wenig Aufnahme in die Sammlung. Fünf Jahre nach Kriegsende erwarb Busch aus Mitteln der Freien Hansestadt Bremen für stattliche 16.000 Reichsmark bei Otto Stangl in München Franz Marcs Reh im Blumengarten von 1913, ein Betrag, der damals über die Hälfte seines Jahresetats ausmachte. Wiederum aus Staatsmitteln kaufte er 1953 August Mackes Russisches Ballett I von 1912. Neben den 18 Ankäufen von Werken der Klassischen Moderne in Deutschland, weist Buschs Ankaufsbilanz neun Zugänge französischer Kunst des 20. Jahrhunderts auf. Darunter Erwerbungen Amerikanische Besatzungszone Bremen

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25 Während Gustav Paulis Amtszeit war die Sammlung um kapitale Werke wie Eugène Delacroix’ König Roderigo (1833), Édouard Manets Bildnis des Dichters Zacharie Astruc (1866), Claude Monets Camille (1866), Gustave Courbets Brandungswelle (1869), Vincent van Goghs Mohnfeld (1889) erweitert worden. Sogar in den höchst schwierigen Jahren zwischen 1914 und 1945 waren unter Emil Waldmann Werke wie Pierre Auguste Renoirs Früchtestilleben (Feigen und Johannisbeeren) (um 1870/72), Cézannes Dorf hinter Bäumen (Marines) (um 1898) und Henri de ToulouseLautrecs Junges Mädchen im Atelier (Hélène Vary) (um 1889) hinzugekommen. 1945 hatte die Kunsthalle auch in diesem Bereich schwere Kriegsverluste zu beklagen: Claude Monets Der Park (o.J.), Pierre Auguste Renoirs Damenbildnis (Madame Chocquet) (1876) sowie Paul Gauguins Stillleben mit Blumen und Flasche (o.J.). Siehe Dorothee Hansen und Henrike Holsing (Hrsg.), Vom Klassizismus zum Kubismus. Bestandskatalog der französischen Malerei in der Kunsthalle Bremen, München 2011, S. 439. 26 Zu Ankäufen französischer Kunst durch Busch siehe zuletzt Dorothee Hansen: »Französische Malerei in der Kunsthalle Bremen – Die Entstehung der Sammlung«, in: Dorothee Hansen/Henrike Holsing (Hrsg.), Vom Klassizismus zum Kubismus. Bestandskatalog der französischen Malerei in der Kunsthalle Bremen, München 2011, S. 9–15, hier S. 13ff. 27 Bereits 1948/1949 erwarb Busch Delacroix’ Der Tod des Valentin (1847), und die Löwenjagd (nach 1861), die inzwischen Delacroix’ Schüler und engem Mitarbeiter Pierre Andrieu zugeschrieben wird, und knüpfte damit an den Ankauf des König Roderigo (s. Anm. 25) von 1914 an. Dazu Busch 1984 (wie Anm. 20), S. 101: »Ich habe immer versucht, nicht gerade das zu tun, was alle anderen auch taten.« 28 Mit seinen Ankäufen zur Schule von Barbizon, deren Vorbildfunktion für die Impressionisten und nicht zuletzt für die Worpsweder Malerkolonie so entscheidend gewesen war, schloss er die Lücke zwischen der französischen Romantik und dem Impressionismus. Bis 1977, als er mit der Ausstellung Zurück zur Natur dem deutschen Publikum zum ersten Mal die Künstlerkolonie vorstellte, trug er Werke von Camille Corot, Jules Dupré, Paul Huet, Jean-François Millet und Théodore Rousseau zusammen. Dazu Busch 1984 (wie Anm. 20), S. 101. Siehe auch Hansen 2011 (wie Anm. 26), S. 13f. 29 Sein Interesse an den Propheten der Moderne lässt sich unmittelbar nach dem Krieg festmachen. Busch hat die Kunst dieser Malerradierer schon ab Mitte der fünfziger Jahre zu einem herausragenden Schwerpunkt des Kupferstichkabinetts und auch zu einem Sammlungsschwerpunkt der Gemäldegalerie gemacht. Zum größeren Ausbau des französischen Impressionismus fehlten Busch die finanziellen Mittel. Abgesehen von den späten Schenkungen zweier Renoirs im Jahr 1976, Landschaft am Mittelmeer/ Blick auf Toulon (1891) und Junges Mädchen mit erhobenen Armen (um 1895), gelangte Camille Pissarros Im Gras liegendes Mädchen (1882) in die Sammlung. Busch selbst erwarb später weniger bekannte Namen. So etwa 1960 Eva Gonzalès’ Erwachendes Mädchen (um 1877/78) und 1961 Gustave Caillebottes Bootshafen an der Seine (um 1891).

der Fauves-Generation: Maurice de Vlamincks Der kleine SeineArm bei Chatou (1949) und Raoul Dufys Die Seine, die Marne und die Oise (1954) sowie André Derains Bildnis einer Frau (1954). Wiederum an Pauli und Waldmann anknüpfend, setzte sich Busch kontinuierlich für das Werk von Paula Modersohn-Becker ein. Bereits zwischen 1947 und 1959 kaufte er sechs Gemälde, darunter den Blick aus dem Pariser Atelierfenster (1900), erworben 1959, und das Bildnis Werner Sombart (1906), erworben 1953, sowie zahlreiche Zeichnungen. Buschs grundsätzliche Vorliebe für das Figurative wird auch in den beiden Hauptakzenten deutlich, die er mit Werken von Max Beckmann und Pablo Picasso ab 1950 im Bereich der Kunst des 20. Jahrhunderts setzte und mit denen er den Anschluss an die Moderne suchte. »In der Kunst unseres Jahrhunderts ergab sich zwangsläufig die Notwendigkeit zur Konzentration und das heißt ebenso Verzicht: Beckmann und Picasso wurden planmäßig ausgebaut, anderes, so die ›Brücke‹ oder Klee, mussten vorläufig zurückgestellt werden.« 32 Dabei bot Beckmann Busch einen gewissen Halt in der Sammlung, da bereits unter Waldmann 1920 und 1928 zwei Gemälde dieses Malers erworben worden waren, die die Aktion »Entartete Kunst« überstanden hatten.33 Auch waren bereits 20 Blatt Druckgrafik vorhanden, die seit 1917 aus dem Graphischen Kabinett erworben worden waren, das von dem Beckmann-Förderer Israel Ber Neumann gegründet und in Bremen mit einer BeckmannAusstellung eröffnet worden war.34 In seinem Aufbau der Picasso-Sammlung stand Busch beratend und vermittelnd der Bremer Galerist und Verleger Michael Hertz zur Seite, der von Daniel-Henry Kahnweiler mit der Exklusivvertretung der Picasso-Grafik für Deutschland betraut worden war. Am Ende von Buschs Amtszeit zählte die Sammlung zwei Handzeichnungen, 254 Blatt Druckgrafik und 358 Originalillustrationen in 30 Büchern. Betrachtet man Buschs Ankaufspolitik in ihrer Gesamtheit, so lässt sich eine Affinität zum Skizzenhaften zeigen. Busch, der mit einer Arbeit über Das Unvollendete der Handzeichnung und die Bildzeichnung promoviert worden war, erwarb seit seinem Amtsantritt neben Freilichtstudien, Ölskizzen und skizzenhaften Zeichnungen auch Skizzenbücher des 19. Jahrhunderts. Zudem hegte er eine besondere Vorliebe für eine »offene Malerei mit 136

30 Es handelte sich um Werke von Lovis Corinth, Otakar Kubín, Rudolf Grossmann, Erich Heckel, Karl Hofer, Carl Jörres, Oskar Kokoschka, Henri Matisse, Jules Pascin, Max Pechstein, Franz Radziwill, Anita Rée, Henry de Buys Roessingh, Georges Rouault, und Heinz Witte (Liste der beschlagnahmten Werke, Archiv Kunsthalle Bremen). 31 Die Liste führt Werke von Fritz Bagge, Ernst Barlach, A.W. Heise, Karl Hofer, Bernhard Hoetger, Heinz Baden, Paul Klee, Paula Modersohn-Becker, Max Pechstein und Henry de Buys Roessingh auf.

32 Busch 1984 (wie Anm. 20), S. 96. Mit den Ankäufen von Emil Noldes Herbstwolken (1910), Max Pechsteins Frühstückstisch (1910) sowie Ernst Ludwig Kirchners Gemälden Bootshafen auf Fehmarn (1913), Straßenszene bei Nacht (1925) und dem Doppelbild Liegender Akt mit Fächer/ Schlafende Milly (1911) verschaffte Busch dem Sammlungsbereich weiteres Gewicht. Paul Klees Wintertag kurz vor Mittag (1922) wurde erst 1963 erworben. 33 Kaiserdamm in Berlin (1911) und Stillleben mit Kirschwasserflasche (Grünes Stillleben) (1928).

34 Unter Busch wuchs die BeckmannSammlung auf eine für Deutschland damals einzigartige Sammlung von sieben Gemälden und einer Plastik sowie dessen fast vollständiger Druckgrafik an. Ab 1966, dem Jahr, in dem Busch eine große Beckmann-Ausstellung ausrichtete, geriet Beckmanns Werk für die Kunsthalle Bremen aus der finanziellen Reichweite.

Die Kunsthalle Bremen, 1942

Amerikanische Besatzungszone Bremen

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freiem Pinselstrich«.35 Sie spricht ebenso aus seinem Erwerb barocker Bozzetti wie aus seinen Ankäufen von Werken Ernst Wilhelm Nays, dem er unter den quantitativ überschaubaren Ankäufen ungegenständlicher Nachkriegskunst breiteren Raum gewährte. Von Nay, der gleichsam zum »Programmkünstler des Wiederaufbaus« (Rainer Stamm) avanciert war, erwarb er neben Druckgrafik mit Helion (1957) und dem Lofotenbild (1938) zwei Gemälde, allerdings erst 1957 und 1976 und damit wiederum spät. Rückblickend betonte Busch 1984 die Notwendigkeit historischer Distanz, um kurzsichtige Ankäufe und vermeintliche Fehlkäufe zu vermeiden. In seinen Erinnerungen heißt es: »Das aus größerer historischer Distanz Gewählte ließ sich objektiver und in weiteren Zusammenhängen bewerten als dies gegenüber der TagesAktualität möglich war, die sich möglicherweise als Eintagsfliege erwies. (Leider ist kaum ein Museum mit einem wie auch immer bemessenen Dispositionsfonds für Experimente ausgestattet, was Ernst Holzinger vom Frankfurter Städel schon vor Jahrzehnten gefordert hat. Dadurch wäre der Museumsmann in Stand gesetzt, spontan zuzugreifen, aber auch das eine oder andere Objekt nach einer gewissen Erprobungszeit, wenn es sich als unzureichend erwiesen hätte, möglicherweise unter seinem ursprünglichen Preis, zu veräußern, statt es schamhaft im Depot verschwinden zu lassen.)«36

35 Hansen 2011 (wie Anm. 26), S. 13.

36 Busch 1984 (wie Anm. 20), S. 95. Siehe auch Busch 2001 (wie Anm. 3), S. 19f. Für wertvolle Hinweise und Recherchen dankt die Autorin sehr herzlich Dr. Brigitte Reuter, Provenienzforscherin an der Kunsthalle Bremen.

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Das Städel – Zwischen Restitution und Revision1

1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um die gekürzte und leicht geänderte Fassung des Textes: Dorothea Schöne, »Revision, Restitution und Neubeginn. Das Städel nach 1945«, in: Museum im Widerspruch. Das Städel und der Nationalsozialismus, hrsg. von Uwe Fleckner und Max Hollein, Berlin 2011, S. 241–285.

Dorothea Schöne Für einen Forschungsband wie den vorliegenden stellt das privatrechtlich organisierte Städelsche Kunstinstitut in seiner besonderen Verbindung mit der Städtischen Galerie und dem Liebieghaus eine ungewöhnliche institutionelle Konstellation dar. Insbesondere in Hinblick auf Restitutionen sind auch die Zuständigkeiten des städtischen Magistrats von Bedeutung, da für die Städtische Galerie und das Liebieghaus mit Mitteln der Stadt Frankfurt/Main angekauft wurde. Wesentlich bei der Betrachtung der Geschichte des Hauses nach 1945 ist darüber hinaus die überragende Position seines Direktors. Ernst Holzinger (1901–1972) hatte sein Amt von dem zur Emigration genötigten Georg Swarzenski (1876–1957) übernommen und wurde nach Ausscheiden von Alfred Wolters (1884–1973) im Jahr 1949 in Personalunion auch Direktor der Städtischen Galerie. Unter seiner Ägide wurde das Haus maßgeblich geprägt, sowohl im Hinblick auf das Ausstellungsprogramm, die Ankäufe und die Re-Etablierung internationaler Beziehungen, als auch im Hinblick auf die Handhabung von Restitutionsfällen. In zahlreichen anderen Ämtern und durch seine Mitarbeit in Ausschüssen leistete er darüber hinaus einen nachhaltigen Beitrag zur städtischen Kulturpolitik in Frankfurt weit über die Interessen des Städel hinaus. Für das Frankfurter Städel-Museum galt, wie für die meisten deutschen Museen, unmittelbar nach Kriegsende zunächst, sich einen Überblick über den Zustand der Sammlungen zu verschaffen und das stark zerstörte Gebäude zumindest in Teilen wieder nutzbar zu machen, um eine sichere Unterbringung der an verschiedenen Orten ausgelagerten Bestände zu ermöglichen. Für den Wiederaufbau hatte man zunächst nur auf die wenigen verbliebenen eigenen Mittel, wenig später dann auch auf finanzielle Zuwendungen der Stadt und des Landes zurückgreifen können. Dennoch sollte sich die Renovierung des Gebäudes bis in die sechziger Jahre hinziehen. Einen ersten Teil des Museums konnte man aber bereits im Sommer 1946 nutzen, als in provisorisch eingerichteten Räumen erste Ausstellungen stattfanden. Eine direkte Rückführung der seit August 1939 schrittweise ausgelagerten Bestände des Städel, der Städtischen Galerie sowie der Skulpturensammlung des Liebieghauses war nach Kriegsende nicht nur wegen der Zerstörung der Gebäude zunächst unmögAmerikanische Besatzungszone Frankfurt/Main

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lich. Auch aufgrund der Anordnung der amerikanischen Militärverwaltung, dass zuerst alle Standorte der Auslagerungsdepots und deren Bestände offenzulegen seien, konnten die Werke nicht sofort zurückgebracht werden. Daher wurden die Sammlungen erst einmal in wesentlichen Teilen in dem von den Amerikanern betriebenen Central Collecting Point (CCP) in Wiesbaden untergebracht, einer Sammelstelle für gefundenes und konfisziertes Kunstgut, in der auch die Bestände der Staatlichen Preußischen Sammlungen und der anderen Hessischen Museen eingelagert wurden. Um dort die Rückgabe der »entzogenen« Werke vornehmen zu können, erging schon wenige Monate nach Kriegsende die Aufforderung an das Städelsche Kunstinstitut und die Städtische Galerie, alle Sammlungszugänge ab 1938 mit Angaben zum vorigen Eigentümer, Preis und Eingangsdatum aufzulisten. Der Direktor des Städels, Ernst Holzinger2, hielt dies zunächst nicht für realisierbar, da zu wenig Personal zur Verfügung stehe, kam der Weisung dann aber doch nach. So findet sich heute in den National Archives in Washington eine entsprechende Liste, die Holzinger der Militärverwaltung zur Verfügung stellte. Handschriftliche Notizen mit ergänzenden Informationen, die sich nur auf diesem Exemplar finden, deuten darauf hin, dass den Mitarbeitern des Collecting Points nachträglich weitere Informationen zukamen. Anhand dieser konnten die an den Central Collecting Point in Wiesbaden abgegebenen Sammlungsbestände des Städel einschließlich der im Ausland erworbenen Werke sowie jüdische Privatsammlungen wie die Carl von Weinbergs, Alfred Oppenheims und Max von Goldschmidt-Rothschilds identifiziert werden.3 Bis 1954 wurden über zweihundert Werke, also etwa ein Viertel der in der NS-Zeit angekauften Objekte, vom Städel restituiert. Rückkäufe und Ankäufe: Die Sammlung ab 1945 Parallel zu den laufenden Restitutionsverfahren begann die Direktion des Städel schon Ende der 1940er Jahre mit Ankäufen für beide Häuser. Ernst Holzinger, der 1927 bei Heinrich Wölfflin in München über Albrecht Dürer promoviert hatte, war durch seinen akademischen Hintergrund eher den Alten Meistern verbunden, und einige der wichtigsten Erwerbungen während seiner Amtszeit zeugen von diesem Interesse. Mithilfe des MuseumsVereins sowie privater Stiftungen und Zuwendungen erwarb man beispielsweise für das Städel eine Reihe wichtiger Kunstwerke Adam Elsheimers, dem das Museum 1967 auch eine umfassende Retrospektive widmete.4 Nicht nur mit dessen Frankfurter Herkunft, sondern auch mit seiner historischen Bedeutung als Maler rechtfertigte Holzinger diese Erwerbungen, mit denen er die Ankaufspolitik seiner Vorgänger fortführte. 140

2 Er war von 1938 bis 1972 Direktor des Städel.

3 Vgl. Washington, U.S. National Archives and Records Administration, RG 260, M 1947, Roll 60.

4 Vgl. Kurt Bauch, »Die Elsheimer-Ausstellung in Frankfurt am Main«, in: Kunstchronik, 20, 3, 1967, S. 57–66 und 20, 4, 1967, S. 89–93.

Neben den Ankäufen Alter Meister war er aber auch bestrebt, den Sammlungsbestand der klassischen Moderne wiederherzustellen. Dies galt insbesondere für die Städtische Galerie, die bei den Beschlagnahmungen im Rahmen der Aktion »Entartete Kunst« in den Jahren 1936 und 1937 besonders starke Einbußen erlitten hatte. Angekauft werden sollten in erster Linie solche Werke, die zuvor dem Städel oder der Städtischen Galerie gehört hatten. Wenn dies nicht möglich war, sollten zumindest gleichwertige Objekte erworben werden. Dabei standen Werke Lovis Corinths und Max Beckmanns im Vordergrund. Man wollte auf diese Weise die Sammlungspolitik der Städtischen Galerie fortführen und zugleich – im Fall Beckmanns – die Verbundenheit des Künstlers mit der Stadt Frankfurt vor Augen führen. Daneben galt das Interesse auch den Künstlern der Brücke, denn Holzinger hatte während des Krieges die Sammlung Carl Hagemann in die schützende Obhut des Städel genommen. Aus Dankbarkeit für diesen nicht ungefährlichen Einsatz schenkten die Erben dem Direktor und dem Museum nach dem Krieg wesentliche Werke, wodurch sich die Möglichkeit bot, die Sammlung des Expressionismus zu ergänzen.5 Problematisch erwies sich bei den beabsichtigten Ankäufen vor allem die finanzielle Situation des Museums. In den Jahren unmittelbar nach Kriegsende waren es zunächst die restriktiven Devisenbestimmungen bei internationalen Ankäufen, die sich erschwerend auswirkten.6 Auf lange Sicht war aber, angesichts der marktüblichen Preise für Kunst, vor allem das verhältnismäßig limitierte Ankaufsbudget des Magistrats für die Städtischen Sammlungen Grund für die geringen Ankaufsmöglichkeiten. Dieses Budget versuchte Holzinger wiederholt durch Anwerben von Stiftungsgeldern aufzustocken, was allerdings im Widerspruch zum epochenübergreifenden Sammlungsauftrag des Städel stand: Obwohl das Sammeln moderner und zeitgenössischer Kunst eher in den Bereich der Städtischen Galerie fiel, wurden zunehmend Mittel des Städel sowie privat eingeworbene Gelder dafür verwendet. Mehr als einmal schrieb Holzinger dringliche Briefe an das Frankfurter Kulturamt mit der Bitte, den Etat entsprechend zu erhöhen. Die wenigen nach 1945 wieder zum Verkauf angebotenen konfiszierten Werke konnten daher häufig entweder aus Mangel an Mitteln nicht erworben werden oder weil andere, vor allem ausländische Käufer schneller und flexibler handeln konnten. Zwar sicherten sich die deutschen Museen nach dem Krieg gegenseitig ein Vorkaufsrecht der ehemals eigenen Bestände zu, in der Praxis wurde allerdings immer wieder gegen diese Abmachung verstoßen. Amerikanische Besatzungszone Frankfurt/Main

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5 Es sei an dieser Stelle auf die umstrittene Rechtslage und möglichen Restitutionsansprüche der ehemaligen Besitzer von Werken der Sammlung Hagemann verwiesen; vgl. Amelie von Bülow, »Der ›Fall Kirchner‹. Provenienz und Restitution von Ernst Ludwig Kirchners ›Berliner Strassenszene‹«, in: Das Verfemte Meisterwerk. Schicksalswege Moderner Kunst im »Dritten Reich«, hrsg. von Uwe Fleckner, Berlin 2009, S. 543–563; vgl. auch Eva Mongi-Vollmer, »Alltägliches Recht, alltägliches Unrecht. Die Gemäldeerwerbungen des Städel 1933–1945«, in: Museum im Widerspruch. Das Städel und der Nationalsozialismus, hrsg. von Uwe Fleckner und Max Hollein, Berlin 2011, S. 147–199. 6 Vgl. Nicolas Powell, »Notes on German Art Collections Since 1945«, in: Burlington Magazine, 96, 620, November 1954, S. 338–344, hier S. 339.

Trotz aller Probleme konnten bis 1966 immerhin sechs der 1937 beschlagnahmten Werke zurückerworben werden: 1948 kam Erich Heckels Paar (Asta Nielsen) (1927) zurück nach Frankfurt, 1951 dessen Holsteinische Landschaft (1913), Max Beckmanns Stillleben mit Saxophonen (1926) wurde 1955 wieder erworben, und 1961 Franz Marcs Der weiße Hund (Liegender Hund im Schnee) (1910/11); im Jahr darauf konnte ein Stillleben von Henri Matisse zurückgekauft werden, und 1966 erhielt man Karl Hofers Zwei Freunde (1926) durch Schenkung zurück.7 Diese Ankaufspolitik wurde allerdings nicht überall positiv aufgenommen. Aus Sicht einiger Kritiker geriet das Sammeln zeitgenössischer Kunst durch die Vergabe der Ankaufsetats für Werke der Vorkriegsmoderne ins Hintertreffen. Holzinger war in der Tat auf diesem Feld recht zurückhaltend und wollte eher auf solche Künstler und Werke setzen, die der Zeit schon standgehalten und sich in ihrer Qualität behauptet hatten. In einem Vortrag vor dem Deutschen Beton-Verein im März 1961 formulierte er diese Haltung klar: »Wir stehen der Kunst unserer Zeit noch viel zu nahe, um dagegen gefeit zu sein, vor Bäumen den Wald nicht zu sehen.«8 Statt zeitgenössischer Künstler ehrte er in diesem Vortrag all jene, deren Namen und Werk durch die Nationalsozialisten als »entartet« gebrandmarkt worden waren. Holzinger sah in dem Erwerb von Werken der klassischen Moderne nicht nur eine Wiederherstellung der Sammlungsbestände des Museums, sondern auch eine Wiedergutmachung im Sinne einer Neubelebung modernistischer Kunstströmungen. Keinesfalls war Holzingers Haltung gegenüber der Kunst seiner Zeit vollkommen ablehnend. Demgemäß schloss er seinen Vortrag mit den Worten: »Sollen, können wir der modernen Kunst vertrauen? Wir müssen es, wenn wir auch da und dort an der Leistung, an der Echtheit zweifeln. Bezwingend ist der tiefe großartige Ernst derer, die die Kunst unserer Zeit heraufgeführt haben, ihre gewaltige geistige Kraft, ihre vollkommene Wahrheit.«9 Einzelnen Künstlern – allen voran Ernst Wilhelm Nay, dessen Werk er sehr schätzte – zollte er große Anerkennung und erwarb ihre Werke für die Sammlung des Museums. Erst nach Holzingers Tod 1972 kam es zu einer merklichen Änderung der Ankaufspolitik. Der neue Direktor, Klaus Gallwitz, der sich der umstrittenen Haltung seines Vorgängers zur zeitgenössischen Kunst durchaus bewusst war, würdigte diplomatisch dessen Ankaufspolitik und äußerte, eine zuweilen zögerliche Haltung habe »Raum für besonnene Entscheidungen gelassen«.10 Zugleich stellte er aber auch fest, dass die bestehende Lücke in der Sammlung von 142

7 Zum Ankaufsprozedere des Bildes von Matisse vgl. Frankfurt am Main, Institut für Stadtgeschichte, Nr. 1.264 (Kulturamt).

8 Ernst Holzinger, Gedanken über die moderne bildende Kunst, Frankfurt 1961, S. 27.

9 Ebd., S. 63.

10 Gisela Brackert, »Anmerkungen … zur Vergangenheit und Gegenwart des Städels und der Städtischen Galerie«, in: Neue Szene Frankfurt am Main. Ein Kultur-Lesebuch, hrsg. von Katharina Bleibohm, Frankfurt 1976, S. 111–113, hier S. 112.

Werken der 1950er Jahre rasch zu schließen sei. Unter der neuen Leitung des Städelschen Kunstinstitutes sollte künftig der zeitgenössischen Kunst in der Tat mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Ausstellungen moderner Kunst nach 1945 Immer wieder gab es erbitterte Kritik nicht nur in Bezug auf die Ankaufspolitik des Städel und der Städtischen Galerie. Auch das Bemühen, dem Publikum moderne und zeitgenössische Kunst nach 1945 in Ausstellungen wieder zugänglich zu machen, stieß beileibe nicht überall auf Zustimmung. Unmittelbar nach Kriegsende war die Planung des Ausstellungsprogramms noch nicht ohne Genehmigung der amerikanischen Militäradministration möglich. Im Sommer 1946 begann man daher, Vorschläge zu unterbreiten und über die Nutzung der renovierten Räume zu verhandeln. Die erste Ausstellung in dem nur teilweise nutzbaren Gebäude war eine Präsentation internationaler Jugendbücher im Oktober 1946, welche die Information Control Division der amerikanischen Militärverwaltung in Kooperation mit dem Städel veranstaltete. Schon zwei Monate später wurde das Haus erneut von der amerikanischen Besatzungsmacht genutzt, als, auf Anordnung von General Joseph T. McNarney, Kriegsbilder gezeigt wurden. Der Zutritt wurde allerdings nur Angehörigen der Besatzungsmacht gestattet. Für den gleichen Zeitraum hatte Holzinger sich um eine wegweisende Ausstellung französischer Kunst bemüht, die in Mainz gezeigt wurde. Da er aber noch nicht frei über die eigenen Räumlichkeiten verfügen konnte, kam die Ausstellung nicht nach Frankfurt.11 Erst 1947 konnten Ausstellungen veranstaltet werden, die nicht mehr von amerikanischer Seite organisiert wurden. Das folgende Ausstellungsprogramm war der Moderne verpflichtet, aber beileibe nicht unumstritten. Im Winter 1947/1948 beschrieb Hellmut Lehmann-Haupt, Civil Arts Administration Officer der Militärverwaltung, für eine amerikanische Zeitschrift die Missstände der deutschen Museen nach dem Krieg.12 Neben den zu erwartenden Widrigkeiten – Personalmangel, katastrophaler Zustand der Bausubstanz in den zerstörten Gebäuden und kriegsbedingte Sammlungsverluste – zeigte der Autor auch jene Probleme auf, die als Nachwirkungen der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda weiterhin das Ausstellungswesen im Nachkriegsdeutschland beeinflussten. So warf er den deutschen Museumsdirektoren unter anderem vor, immer noch nationaler Kunst den Vorrang zu geben: Albrecht Dürer, Matthias Amerikanische Besatzungszone Frankfurt/Main

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11 Vgl. Anonym, »Verpasste Gelegenheit«, in: Frankfurter Neue Presse, 23. April 1947.

12 Vgl. Hellmut Lehmann-Haupt, »German Museums at the Crossroads«, in: College Art Journal, 7, 2, 1947/48, S. 121–126.

Grünewald, Caspar David Friedrich oder Adolph Menzel stünden hoch im Kurs, während man nur zögerlich der internationalen zeitgenössischen Kunst Raum gewähre. Dies liege nicht allein an einer weit verbreiteten Ablehnung aktueller Kunst, räumte der Autor ein, sondern sei auch bedingt durch den fehlenden Zugang zu aktuellen Kunstströmungen anderer Länder. Das Interesse an zeitgenössischen Werken sei grundsätzlich vorhanden, abstrakte Kunst sei ein Hauptthema bei Diskussionen über Kunst, allerdings mit wenig Toleranz für die jeweils andere Position: Man sei entweder eindeutig dafür oder dagegen. Unter den wenigen Museen und ihren Direktoren, die LehmannHaupt lobend für eine Wiederbelebung des Ausstellungswesens hervorhob, war unter anderem Ernst Holzinger. Diese Einschätzung teile auch Kurt Martin, der das Städelsche Kunstinstitut in einer Publikation des Deutschen Kunstrats 1954 als eines von 32 deutschen Museen mit »bemerkenswerten Sammlungen und Ausstellungen zeitgenössischer Kunst« auflistete.13 Dieser positiven Einschätzung des Frankfurter Museums stand aber auch eine kritische Haltung gegenüber. Dabei teilten sich die Kritiker in zwei Lager: Den einen wurde die zeitgenössische Kunst nicht ausreichend präsentiert, die anderen lehnten schon die Werke der Vorkriegsmoderne ab. Trotz aller Kritik hielt Holzinger an seinem Ausstellungsprogramm fest. In den Gesprächen mit der Militärverwaltung habe sich die Direktion des Städel, so Holzinger, besonders für die moderne und zeitgenössische Kunst eingesetzt.14 Das Wiederbeleben aktueller Kunst sah er als gemeinsame Aufgabe des Städel und des Frankfurter Kunstvereins an. Daher räumte das Museum schon ab dem Frühjahr 1947 dem Kunstverein die Möglichkeit ein, in den Räumen des Städel auszustellen, solange noch keine eigene Unterkunft zur Verfügung stand.15 So zeigte man im März des Jahres eine vom Kunstverein kuratierte Ausstellung Frankfurter Kunst der Gegenwart und noch im selben Monat eine von der Städtischen Galerie zusammengestellte Gedenkausstellung zu Georg Kolbes siebzigstem Geburtstag. Zur Schau des Kunstvereins vermerkte die New York Herald Tribune am 12. März 1947 in einer Ausstellungskritik: »Frankfurt’s half-bombed Städel Museum has organized an exposition which reportedly reflects the current strength and inspiration of German painters and sculptures […]. It is the nostalgic attempt to revive, or relive in ›Gemuetliches Deutschland‹ (peaceful Germany).«16 Es handelte sich dieser Einschätzung nach also nicht um eine kontroverse, sondern vielmehr um eine gemäßigte Positionsbestimmung zur Nachkriegskunst, die bei dieser Gelegenheit vor144

13 Kurt Martin, »Sammlungen und Ausstellungen zeitgenössischer Kunst«, in: Die Situation der Bildenden Kunst in Deutschland, hrsg. vom Deutschen Kunstrat, Stuttgart und Köln 1954, S. 51.

14 Vgl. Washington, U.S. National Archives and Records Administration, RG 260, M 1947, Roll 50.

15 Zu dieser ersten Ausstellung des Frankfurter Kunstvereins und deren Bedeutung vgl. Marion F. Deshmukh, »The Revision of Vision. The Kunstvereine after 1945 – Observations on Postwar Arts Reconstruction«, in: Germany and America. Essays in Honor of Gerald R. Kleinfeld, hrsg. von Wolfgang-Uwe Friedrich, New York und Oxford 2001, S. 99–122.

16 Städel-Archiv, Nr. 655 (Central Collecting Point Wiesbaden CCP / Restitution von Vermögenswerten).

Eine Besucherin in der Max BeckmannAusstellung des Städel, 1947

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genommen wurde. Gezeigt wurden unter anderem Werke von Ernst Wilhelm Nay und Wilhelm Heise, aber auch Werke von Jakob Nussbaum und des in Majdanek ermordeten Malers Hermann Lismann. Die erste Ausstellung von überregionaler Bedeutung war die Ende Juni 1947 eröffnete umfangreiche Retrospektive des Werkes von Max Beckmann. Der Künstler, der noch wenige Wochen vor Eröffnung seine Teilnahme zugesagt hatte, konnte nicht nach Frankfurt reisen, da ihn die ersehnte Einreisegenehmigung in die Vereinigten Staaten erreicht hatte und ihn von Amsterdam nach Saint Louis aufbrechen ließ. Holzinger sah in dieser Ausstellung eine Wiedergutmachung für die beschämende Entlassung des Künstlers aus der Städelschule. Es war ihm ein besonderes Anliegen gewesen, als erste große Sonderausstellung, noch vor Eröffnung der Schausammlung im Oktober des gleichen Jahres, die Werke des ehemals Frankfurter Malers zu zeigen. Beckmann würdigte dies in einem Brief an den Oberbürgermeister vom Juni 1947: »Es war mir eine besondere Freude gerade von dort aus einen Freundbeweis zu bekommen, wo ich […] ein so bitteres Ende erlebt habe.«17 Die Reaktionen auf die Retrospektive waren allerdings nicht durchweg positiv. Einige Kritiker stellten sowohl die Qualität der gezeigten Werke als auch die künstlerische Bedeutung Beckmanns infrage. In einem mehrseitigen Protestschreiben eines Besuchers wurde diese Ablehnung deutlich: »Wir haben Hunger. Und sind darob apathisch. Anders kann man sich diese Beckmann-Ausstellung nicht erklären. […] Gewiss, die Menschen stoßen sich im Raume, den man ihnen zugeordnet hat. Und ihre Mägen sind gefesselt, die man ihnen nicht füllen kann. Und so lassen sie sich von Geistern umschwirren, die vom Geiste, der uns nottäte, so weit entfernt sind, von der Schöpfer-Eingebung, wie die Bilder von Max Beckmann vom Malerischen schlichtweg.«18 Nur ein Jahr nach der Beckmann-Retrospektive stellte das Städel erneut Kunst der Vorkriegsmoderne aus. Mit der Sammlung Carl Hagemann, die man während des Krieges heimlich eingelagert hatte, konnten 1948 dem Publikum nun wieder Werke des deutschen Expressionismus gezeigt werden. Im Wechsel mit diesen Ausstellungen der Klassischen Moderne wurden auch Teile der Schausammlung präsentiert, die aus dem Central Collecting Point in Wiesbaden zurückgekommen waren. Diese Ausrichtung des Ausstellungsprogramms war für die folgenden Jahre charakteristisch und ließ wenig Raum für die zeitgenössische Kunst.

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17 Städel-Archiv, ohne Nr. (Ausstellung Max Beckmann 1947).

18 Brief von Helmut Schüttig an die Direktion des Städel, undatiert [Juni / Juli 1947], ebd.

Die Kunsthalle Mannheim zwischen 1945 und 1955 Hannah M. Krause Seit ihrer Gründung im Jahr 1909 bis ins Jahr 1933 hatte sich die Kunsthalle Mannheim einen hervorragenden Ruf erworben, den sie den beiden ersten Direktoren, Fritz Wichert (1878–1951) und Gustav Friedrich Hartlaub (1884–1963) zu verdanken hatte. Sie konnte sich zu den wenigen frühen Museen zählen, die sich in den 1910er und -20er Jahren für die avantgardistische Kunst einsetzten.1 Allerdings war dieses Engagement stets begleitet von Angriffen aus konservativen Kreisen. Hartlaub enthob man 1933 aufgrund des NS-»Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« aus politischen Gründen seines Amtes, und die Kunsthalle wurde für die nächsten drei Jahre kommissarisch geleitet, zunächst von dem NSDAP-Stadtverordneten Otto Gebele von Waldstein (1885– 1978), bald darauf von Edmund Strübing (1888–1937), der bereits seit 1926 Kustos und stellvertretender Direktor der Kunsthalle war. Walter Passarge 1936 wurde Walter Kurt Adolf Passarge (1898–1958) zum Direktor berufen, er behielt diesen Posten auch nach 1945 bis zu seinem Tode im Jahr 1958 bei.2 Schon bei der Einstellung Passarges stand fest, welches Programm der Oberbürgermeister Carl Renninger sich von dem zukünftigen Direktor der Kunsthalle erhoffte: »Der Gesichtspunkt, Kunst und Kunstgewerbe miteinander zu pflegen – ein Gesichtspunkt, der auch in Berlin besonderen Anklang gefunden habe –, werde es ermöglichen, die Frage der Besetzung des Leiters der Kunsthalle nicht unter rein weltanschaulichen Gesichtspunkten zu betrachten.«3 Ein Jahr nach Passarges Amtsantritt wurden 1937 bei zwei Beschlagnahmeaktionen »entarteter« Kunst 107 Gemälde, 14 Plastiken, 87 Aquarelle, 119 Zeichnungen und 496 Druckgrafiken beschlagnahmt. Im deutschlandweiten Vergleich gehörte die Kunsthalle Mannheim damit zu den am meisten betroffenen Museen. Dieses Ereignis sollte die Ausstellungen und Erwerbungen in der Nachkriegszeit maßgeblich prägen. Passarges Entnazifizierungsverfahren war ein rasches Verfahren. Am 7. April 1945 hatte er seinen Fragebogen abgegeben, am 8. August 1945 konnte er seine Arbeit wieder aufnehmen. Die amerikanische Militärregierung sah »no apparent reason for discharge«,4 da er kein NSDAP-Mitglied gewesen war und in den nationalsozialistischen Vereinigungen, in denen er Mitglied war, keine Ämter inne gehabt hatte.5 Von dem Personal Amerikanische Besatzungszone Mannheim

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1 Die ausführlichsten Darstellungen dieser Frühphase der Kunsthalle: Karoline Hille, Spuren der Moderne. Die Mannheimer Kunsthalle von 1918 bis 1933, Berlin 1994, und Christine Ellrich-Schumann, Eine Kunstsammlung entsteht. Die Entwicklungsgeschichte der städtischenKunstsammlung in der Kunsthalle Mannheim von ihren Anfängen bis zum Jahre 1933, St. Augustin 1997, sowie 100 Jahre Kunsthalle Mannheim 1907–2007, hrsg. von Inge Herold, Mannheim 2007.

2 Die Rekonstruktion seiner Tätigkeiten als Direktor der Kunsthalle Mannheim ist Forschungsgegenstand meines aktuellen Promotionsvorhabens. Bislang erschienen zwei Aufsätze, die seine Amtszeit näher untersuchen: Jochen Kronjäger, »Die Ausstellungs- und Sammlungsaktivitäten der Kunsthalle Mannheim von 1945 bis 1955. Versuch einer Bilanz«, in: Menschenbilder. Figur in Zeiten der Abstraktion (1945–1955), hrsg. von Inge Herold und Thomas Köllhofer, Ausst.-Kat. Kunsthalle Mannheim, Ostfildern-Ruit 1998, S. 286–300 und Thomas Köllhofer, »Walter Passarge (1936–1958). Von der Diktatur zum Aufbruch in die Moderne«, in: EllrichSchumann 2007 (wie Anm. 1), S. 56–81. 3 Auszug aus der Niederschrift über die Besprechung des Oberbürgermeisters mit den Ratsherren am 22.5. 1936 (Personalamt der Stadt Mannheim, Personalakte Walter Passarge).

4 Spruchkammerakte Walter Passarges (Generallandesarchiv Karlsruhe, BadenWürttemberg,Bestand M465a / FB 56 - Spruchkammer Mannheim Fragebogenkartei). 5 Er war laut Personalakte (wie Anm. 3) Mitglied in folgenden Vereinigungen: Reichsbund der deutschen Beamten, Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, Reichsluftschutzbund und Reichskolonialbund.

der Kunsthalle wurden der Verwaltungsinspektor, der Hausmeister und eine Sekretärin von der Militärregierung unterschiedlich lang vom Dienst suspendiert.6

6 Vgl. Personalakten (Kunsthalle Mannheim, Altregistratur).

Rückholung der ausgelagerten Sammlung, Kriegsverluste und Restitution Die 150 Luftangriffe während des Zweiten Weltkriegs, die in Mannheim zu einer Zerstörung von 73% der Bausubstanz geführt hatten, hatte die Kunsthalle relativ gut überstanden. Die beiden nördlichen Anbauten aus dem Jahr 1907 waren zwar komplett zerstört, die Glasdecken und -fenster waren stark beschädigt und die Kuppel des Jugendstilgebäudes wurde noch bis 1950 rekonstruiert, jedoch standen die Mauern des Hauptgebäudes. Auch die Sammlung, die neben der Gemäldesammlung, der Skulpturensammlung und der Graphischen Sammlung inzwischen eine von Passarge neu aufgebaute kunstgewerbliche Abteilung umfasste, hatte die Kriegsgeschehnisse fast vollständig überstanden. Passarge und seine wissenschaftliche Assistentin Hanna Kronberger-Frentzen (1887–1963) hatten 1943 die komplette Sammlung, die kunstwissenschaftliche Bibliothek und die deutschlandweit berühmte Lichtbildersammlung sowie sämtliche Verwaltungsakten ohne große Verluste über die Zeit des Krieges gebracht, indem sie sie an verschiedenen Orten ausgelagert hatten. Die wertvollsten Kunstwerke waren bei Kassel und in BadenBaden untergebracht, die übrigen Werke auf näher gelegene Orte verteilt worden (Heidelberg, Heilbronn, Neckarsteinach, Schwetzingen) und konnten teilweise bereits 1945 zurückgeholt werden oder waren im Bunker der Kunsthalle selbst verblieben. Doch scheinen 120 Werke nicht ausgelagert worden zu sein, da sie 1943 bei einem Fliegerangriff verbrannten.7 Eventuell handelt es sich hier um sogenannte Künstlerunterstützungsankäufe, die außerhalb des Sammlungsplans der Kunsthalle zur Förderung und Unterstützung von Künstlern erworben wurden und die nicht für die Präsentation im Museum, sondern vornehmlich für die Ausschmückung von Schulen oder Amtsräumen gedacht waren.8 Nur acht Werke gelten heute als Kriegsverlust, da sie in den Auslagerungsorten nicht mehr auffindbar waren, wie Passarge im Juli 1945 der Stadtverwaltung berichtete.9 Die Bestände aus Kassel und Heilbronn blieben zunächst im Central Collecting Point Wiesbaden zur Überprüfung des rechtmäßigen Eigentums der Kunsthalle. Bis auf ein Gemälde wurden 1948 alle Werke freigegeben und konnten zurück in die Kunsthalle 148

7 Bei 120 Werken ist auf der Inventarkarte »beim Fliegerangriff am 5. / 6. 43 verbrannt« vermerkt.

8 Vgl. Akten des Kulturamts Mannheim (Stadtarchiv Mannheim, Städtische Kunsthalle – Erwerbungen außerhalb des Sammlungsplanes, Zugang 9/1978, Nr. 200).

9 Vgl. Akten des Kulturamts Mannheim (Stadtarchiv Mannheim, Städtische Kunsthalle – Maßnahmen zur Sicherstellung / Auslagerung 1944–1945, Zugang 1955–1965, Nr. 983).

gebracht werden. Bei diesem Gemälde handelt es sich um Max Slevogts Pfälzische Landschaft (Weinlese) (undatiert), das über die »Verwertungsstelle für Volksfeindliches Vermögen«10 in die Kunsthalle kam. Es stellt die erste Restitution der Kunsthalle dar und wurde dem aus Mannheim nach Amerika emigrierten jüdischen Privatsammler Arthur Nahm 1947 zurückgegeben. Ausstellungen 1945–1955 Im März 1946 wurde ein erster Saal für kleine Sonderausstellungen und Lichtbildvorträge geöffnet. Passarges Intention war es, mit einer Serie von acht kleinen Präsentationen, die alle unter dem Titel Deutsche Kunst des 20. Jahrhunderts liefen, im monatlichen Wechsel Künstler zu zeigen, »die im Dritten Reiche nicht ausstellen konnten«. Er unterschied dabei zwischen der »älteren Generation, die ja größtenteils verboten war (Lehmbruck, Kolbe, Barlach, Marcks, Archipenko, Nolde, Heckel, Rohlfs, Kokoschka, Fuhr)« und der jüngeren Generation, vor allem Mannheimer Künstler.11 Von 1946 bis 1955 widmeten sich ungefähr 30 Ausstellungen – also auffällig viele – dem Ziel, zeitgenössische lokale Künstler zu unterstützen. Die erste Ausstellung der Serie Deutsche Kunst des 20. Jahrhunderts im Jahr 1946 trug den Zusatz aus eigenem Besitz im Titel (ein Zusatz, der von nun an häufiger in den Ausstellungstiteln zu finden war) und zeigte damit einen gewissen Stolz, diese Kunst über das NS-Regime hinaus gerettet zu haben. Tatsächlich muss es Passarge gelungen sein, zahlreiche Werke vor der Beschlagnahme 1937 zu bewahren, denn sie stehen zwar auf der überlieferten Liste der Beschlagnahme-Aktion, tauchen aber ebenfalls auf den Auslagerungslisten der Jahre 1943 bis 1945 auf. Im Frühjahr 1947 war das Erdgeschoss der Kunsthalle wieder in Stand gesetzt, und den Ausstellungen standen nun sechs Räume zur Verfügung. Im Durchschnitt wurden von nun an zehn bis fünfzehn Ausstellungen pro Jahr veranstaltet, die sich der Malerei, Bildhauerei, Grafik, Werkkunst oder Architektur widmeten. Die erste Ausstellung, die große Besuchermengen ins Museum rief, war eine große Werkschau von Franz Marc im Jahr 1947. Wenn bisher im Durchschnitt circa 2.000 Menschen die kleineren Ausstellungen besuchten, kamen nun auf einmal mehr als 10.000 Besucher innerhalb von zweieinhalb Monaten in die Kunsthalle. Den Besucherrekord brachte allerdings die im Winter 1947/48 präsentierte Schau mit Beständen der Karlsruher Kunsthalle Meisterwerke altdeutscher Malerei. Über 18.800 Besucher innerhalb von zweieinhalb Monaten strömten in die Kunsthalle, ein Amerikanische Besatzungszone Mannheim

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10 Zur »Verwertungsstelle für Volksfeindliches Vermögen« vgl. Christiane Fritsche, Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt. Arisierung und Wiedergutmachung in Mannheim, Heidelberg u. a. 2013, S. 529–549 und die Akten Depositum Rijksinstitut voor Oorlogsdocumentatie (Stadtarchiv Mannheim, Zugang 6/1967, Nr. 1–5).

11 Brief von Walter Passarge an Rudi Baerwind am 5.2. 1946 (Kunsthalle Mannheim, Altregistratur, Ordner Nr. 175: Ausstellung Süddeutsche Künstler in Basel).

Blick auf die östliche Seite der Kunsthalle Mannheim, September 1946

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auch im Vergleich mit den Ausstellungen der berühmten 1910er und -20er Jahre der Kunsthalle unerreichter Rekord (die Ausstellung »Neue Sachlichkeit« 1925 zog ca. 4.400 Besucher an), der das damals vorherrschende konservative Kunstverständnis des Publikums sichtbar macht. Nachdem die städtischen Institutionen, die zeitweilig in der Kunsthalle untergebracht worden waren, wieder ausgezogen waren und die ausgelagerten Kunstwerke sich bis 1948 fast alle wieder in der Kunsthalle befanden, feierte man mit der Eröffnung des Obergeschosses am 5. September 1948 die große Wiedereröffnung der Ständigen Galerie. Im Vergleich zu anderen süddeutschen Museen fand diese Wiederinbetriebnahme des kompletten Gebäudes verhältnismäßig früh statt. Allerdings waren Passarge, Kronberger-Frentzen und der seit 1947 am Haus tätige Kustos Heinz Fuchs (1917–2001) noch bis 1950 damit beschäftigt, die Bestände der Graphischen Sammlung, der »Werkkunst« und der Bibliothek auszupacken und zu sichten. Man präsentierte immer wieder in verschiedenen Kombinationen die eigenen über die Kriegszeit »geretteten« Bestände und ergänzte sie mit Neuerwerbungen, wie beispielsweise in der Ausstellung Plastiken aus eigenem Besitz von 1950. Ein deutlicher Schwerpunkt des Ausstellungswesens der Kunsthalle zwischen 1946 und 1955 war es, die während der NS-Zeit als »entartet« verfemten Künstler auszustellen. Sie wurden jährlich in mehreren Gruppen- oder Einzelausstellungen gezeigt: 1947 Alfred Kubin, Franz Marc, 1948 Käthe Kollwitz, Max Slevogt, 1949 Paul Klee, Wilhelm Lehmbruck, Fernand Léger und Xaver Fuhr, 1950 Erich Heckel, Emy Roeder und Hans Purrmann, 1951 Oskar Kokoschka, Ernst Ludwig Kirchner, 1951 Karl SchmidtRottluff, Otto Dix, 1952 Emil Nolde, 1953 Gerhard Marcks, Edvard Munch, 1954 Karl Hofer, Max Ernst, Wassily Kandinsky und schließlich 1955 Alexander Archipenko. Passarge wandte sich 1947 mit der Ausstellung Gewirkte Bildteppiche aber auch wieder dem Sammlungsbereich des modernen Kunsthandwerks zu, den er während der NS-Zeit aufgebaut hatte und als »vorbildlich schöpferisch gestaltete Gegenstände des täglichen Bedarfs« wie Möbel, Geschirr, Besteck und Textilien definierte.12 Doch erst ab 1950 fanden wieder regelmäßig kunstgewerbliche Ausstellungen statt: 1950 Der Werkbund, 1952 Die Gute Industrieform, 1955 Moderne Französische Wandteppiche, 1956 Finnland – Kunst in Handwerk und Industrie und 1957 Wilhelm Wagenfeld – Ein Künstler in der Industrie. Amerikanische Besatzungszone Mannheim

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12 Vgl. Walter Passarge, Deutsche Werkkunst der Gegenwart, Berlin 1936.

Die erste Ausstellung, die Kunst aus dem Ausland zeigte, war eine Wanderausstellung 1948, die sich der Gegenstandslosen Malerei in Amerika widmete. Es wurden in Kooperation mit der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe Bestände aus der Guggenheim-Foundation aus New York gezeigt. Der Schau war in Mannheim mengenmäßig nur ein mäßiger Publikumserfolg beschieden, es kamen lediglich 723 Besucher in knapp einem Monat. Hingegen hatte die große Max Slevogt-Ausstellung, die noch im selben Jahr folgte, wieder 10.000 Besucher. Im Ausstellungskatalog der Guggenheim-Ausstellung versucht Passarge, an das avantgardistische Deutschland vor 1933 anzuknüpfen, indem er die amerikanische Ausstellung »ein bemerkenswertes Zeugnis für die Ausbreitung der von allem Gegenständlichen gelösten bildhaften Gestaltung [nennt], deren Wurzeln in Europa liegen und deren Anfänge in den Beginn unserer Jahrhunderts zurückreichen«. Er erinnert an Hartlaubs Ausstellung von 1927 Wege und Richtungen der abstrakten Malerei und vergisst nicht, seinen persönlichen Kontakt zu Wassily Kandinsky und László Moholy-Nagy aus den Jahren 1925/26 zu erwähnen.13 Der amerikanischen Museumskooperation folgte 1949 eine Ausstellung Französischer Graphik aus dem Bestand der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Das Amerikahaus in München übergab der Kunsthalle 1950 eine Ausstellung von Fotografien Amerikanische[r] Architektur der Gegenwart und 1955 die Architekturausstellung Mies van der Rohe und Richard Neutra. Der Vermittlung des British Council war 1950 eine Ausstellung mit Aquarellen von William Turner aus dem Besitz des British Museum in London zu verdanken, der mehrere Ausstellungen folgten, hervorgehoben sei hier die Ausstellung Henry Moore 1954. Eine wichtige Ausstellung auf dem Weg zum Verständnis gegenstandsloser Kunst war die Ausstellung E. W. Nay und F. Winter – Abstrakte Malerei im Jahr 1949. Auch wenn sie wie die Guggenheim-Ausstellung keine großen Besuchermengen anzog, bildete sie den Auftakt zu einem Sammlungsbereich der Kunsthalle, den Passarges Nachfolger, Heinz Fuchs, durch Ausstellungen und Erwerbungen zu einem Sammlungsschwerpunkt ausbauen sollte, der Kunst des französischen und deutschen Informel. Diesen Weg ebneten Ausstellungen wie Fritz Winter 1953, Karl Hartung und Wassily Kandinsky 1954. 1957 versammelte die Ausstellung Eine neue Richtung in der Malerei die deutsche Malerei des Informel und schließlich 1958 Nouvelle École de Paris die französische Malerei des Informel. Zudem bekam Passarge 1955 den Auftrag, die deutsche Abteilung der 3. Biennale in São Paulo zu konzipieren. 152

13 Walter Passarge, Geleitworte in: Gegenstandslose Malerei in Amerika, Ausst.-Kat. Kunsthalle Mannheim, Baden Baden 1947, S. 4.

Erwerbungen 1945–1955 Für die Erwerbungen der Nachkriegszeit war ein städtischer Etat vorgesehen, der 1947 erstmals in Höhe von 50.000 Reichsmark zur Verfügung stand und 1948 vermutlich aus wirtschaftlicher Not und wegen vordringlicherer Wiederaufbaumaßnahmen um die Hälfte gekürzt wurde. 1949 wurde er gänzlich gestrichen. Von 1950 an stieg der Ankaufsetat wieder, bis er 1955 55.000 DM erreichte.14 Alle Ankäufe mussten von einer städtischen Ankaufskommission bewilligt werden, die sich aus dem Oberbürgermeister, dem Kunsthallendirektor und verschiedenen Stadträten zusammensetzte. Insgesamt sind zwischen 1945 und 1955 für den Sammlungsbereich der Malerei und Skulptur 176 Zugänge, im Bereich der Grafik 438 und im Bereich des Kunsthandwerks 51 in den Inventarbüchern verzeichnet.

14 Vgl. Kronjäger 1998 (wie Anm. 2), S. 289.

Viele Erwerbungen dienten der bereits seit dem Ersten Weltkrieg im Haus bestehenden Tradition, Mannheimer Künstler durch die sogenannten Künstlerunterstützungsankäufe aus der Not zu helfen. Solcher Art waren auch die allerersten Erwerbungen, die Passarge nach 1945 tätigte: das Gemälde Mädchen mit Hut (undatiert) von Marianne Nieten-Overbeck und zwei Tempera-Zeichnungen von Arnd Rebel. Die Kunsthandlung, bei der zwischen 1945 und 1955 mit Abstand am meisten Werke gekauft wurden, war die Galerie Rudolf Probst in Mannheim. Von ihr erwarb die Kunsthalle vor allem Werke von Ernst Barlach, Lovis Corinth, Karl Hofer, Ernst Ludwig Kirchner, August Macke, Emil Nolde, Max Pechstein, Oskar Schlemmer, Fritz Winter und Pablo Picasso. Damit ist einer der Hauptschwerpunkte der Erwerbungen der Nachkriegszeit – analog zu den Ausstellungen – umrissen. Wie Passarge schreibt, dienten die »Neuerwerbungen […] vor allem zur Ergänzung der durch die Beschlagnahme von 1937 gelichteten Sammlung moderner Kunst«.15 Was im Zentrum des Interesses von Walter Passarge stand, ist eindeutig. Er wollte die Sammlung, die in seiner Amtszeit zerrissen worden war, wieder herstellen oder zumindest gleichwertigen Ersatz schaffen. Er hatte 1937 versucht, den Abtransport der beschlagnahmten Werke hinauszuzögern, er hatte es geschafft, Werke in der Kunsthalle zu belassen, obwohl sie auf der Liste der beschlagnahmten Kunst standen und er hatte bis 1943 offizielle Anträge auf Rückerstattung der beschlagnahmten Werke gestellt, teils mit Erfolg: Unter anderem kamen Sonnenblumen (1913) von Erich Heckel, Franz Marcs Hund, Katze, Fuchs (1912) und Ernesto de Fioris Jüngling (1911/12) zurück in die Kunsthalle. Amerikanische Besatzungszone Mannheim

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15 Städtischer Verwaltungsbericht 1949/50, S. 78 (Stadtarchiv Mannheim).

Im Kunsthandel tauchten vereinzelt genau jene Werke auf, die der Kunsthalle vor 1937 gehört hatten und als »entartet« beschlagnahmt worden waren: Max Pechsteins Stillleben (Südseefigur mit Blumen) (1917), Max Beckmanns Pierette und Clown (1925), George Grosz’ Porträt des Schriftstellers Max Herrmann-Neiße (1925) und Christian Rohlfs Kirche in Soest (1918). Alle vier konnten zurückerworben werden. Bei manchen Werken, die im Handel auftauchten und vor 1937 der Kunsthalle Mannheim gehört hatten, erteilte Passarge den Anbietern eine Absage, da er, wie er fand, bereits gleichwertige oder qualitativ höherwertige Ersatzwerke derselben Künstler gefunden hatte. Es gelangten auch umgekehrt Werke in die Sammlung, die ehemals in anderen Museen hingen und dort beschlagnahmt worden waren. Zu diesen ist das Gemälde von Lyonel Feininger Marienkirche I (1929) zu zählen, das die Kunsthalle 1949 erwarb und ursprünglich dem Städtischen Museum für Kunst und Kunstgewerbe in Halle gehörte. Gleichzeitig wandte sich die Kunsthalle mit den Erwerbungen im Jahr 1947 von Max Ackermanns Herabkunft der Musik (1947), 1949 von Ernst Wilhelm Nays Metaphorische[n] Figuren (1948) und von Fritz Winters Lichtsäulen (1935) und Großer Ausklang (1952) der zeitgenössischen ungegenständlichen Kunst zu. Der Erwerb von Henry Moores Reclining Figure (1951) im Jahr 1955 stellt den Auftakt für die Wende zur Internationalisierung im Sammlungsplan der Kunsthalle dar.16 Aber erst 1957/58 begann Heinz Fuchs als Nachfolger Passarges die Kunst des französischen und deutschen Informel, aber auch die Plastik zu Sammlungsschwerpunkten der Kunsthalle auszubauen. Fazit Zusammenfassend lassen sich in Passarges Ausstellungsprogramm als auch bei den Erwerbungen zwischen 1945 und 1955 zwei Schwerpunkte erkennen: Das vordringlichste Ziel war es für Passarge (wie für viele Kunstmuseen im Deutschland der Nachkriegszeit), die während des Nationalsozialismus verfemte Kunst zu »rehabilitieren«. Aus heutiger Perspektive wirkt es, als wollte man – durchaus dem Zeitgeist der 1950er Jahre entsprechend – die letzten Jahre vergessen machen und wieder bei der Moderne anknüpfen, die man in den 1920er Jahren in den günstigsten Fällen selbst mitverfochten hatte. Die Beschlagnahmeaktion von 1937 wirkte wie ein Trauma und machte gleichzeitig nach 1945 Rechtfertigungen von Erwerbungen expressionistischer Kunst, wie sie in den 1920er wegen der Angriffe aus konservativen Kreisen in Mannheim noch notwendig waren, überflüssig. 154

16 Vgl. Kronjäger 1998 (wie Anm. 2), S. 291–300.

Blick in die Ausstellung Plastiken aus eigenem Besitz, Kunsthalle Mannheim 1950

Amerikanische Besatzungszone Mannheim

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Sich der zeitgenössischen Kunst der 1950er Jahre zu öffnen, fiel nicht nur dem Publikum, sondern auch Passarge als Museumsdirektor schwerer. Vereinzelt wurde zwar ungegenständliche Kunst gezeigt oder erworben, doch vermochte es Passarge nicht, das Publikum für abstrakte Kunst zu erwärmen. Dies lässt sich an den Besucherzahlen gut ablesen. Dass die Ausstellung Meisterwerke altdeutscher Malerei – im Vergleich mit anderen Ausstellungen und besonders denen amerikanischer und ungegenständlicher Kunst – die meisten Besucher anzog, untermauert die These, dass der beharrlich rückwärtsgewandte Kunstgeschmack, der auch der NS-Kunstauffassung zugrunde lag, in der Breite der Bevölkerung noch immer fortbestand.

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Eberhard Hanfstaengl und seine Amtszeit bei den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen von 1945 bis 1953 Andrea Christine Bambi Nach Kriegsende lag die Neue Pinakothek in Trümmern, die Schack-Galerie und das Ziebland’sche Kunstausstellungsgebäude am Königsplatz waren schwer beschädigt und die Alte Pinakothek eine Ruine, vor der sich die Schuttberge der Maxvorstadt türmten. 1949 wurde die Neue Pinakothek abgerissen. Für die Alte Pinakothek und das Kunstausstellungsgebäude am Königsplatz wurden Wiederaufbaupläne erarbeitet. Die Schack-Galerie war das erste Museum der Staatsgemäldesammlungen, das 1950 wieder geöffnet werden konnte. Ernst Buchner (1892–1962), Generaldirektor der Staatsgemäldesammlungen seit 1933, wurde mit ministeriellem Entschluss vom 11. Juli 1945 seines Amtes enthoben und in den nachfolgenden Spruchkammerverfahren als Mitläufer eingestuft.1 Eberhard Hanfstaengl (1886–1973) wurde Buchners Nachfolger nach 1945 und Vorgänger bis 1953.2 Erich Steingräber (1922–2013), Vorvorgänger von Eberhard Hanfstaengl, würdigte ihn wie folgt: »Nach dem Zusammenbruch 1945 war in Deutschland kein besserer, weniger belasteter und international mehr geschätzter Mann zu finden, zum Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen berufen zu werden, als Eberhard Hanfstaengl. Mit ganzem Herzen und dem schönsten Erfolg widmete er sich den Münchner Pinakotheken, denen er im kaum beschädigten Haus der Kunst eine vorübergehende Heimstätte schuf. Auch die wichtigsten bayerischen Filialgalerien wurden unter seiner Leitung reorganisiert und wiedereröffnet.«3 Eberhard Hanfstaengl war kein Unbekannter, als er im Sommer 1945 zum Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen ernannt wurde. 1913 bereits begann er als Assistent an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, seine Zuständigkeit galt damals der Neuen Pinakothek sowie der Einrichtung der Neuen Staatsgalerie am Königsplatz, dem Ziebland’schen Kunstausstellungsgebäude. 1925 ernannte man ihn zum Direktor der neu gegründeten städtischen Kunstsammlungen Münchens. Er erweiterte deren Bestand, der sich vorwiegend aus Werken Franz Amerikanische Besatzungszone München

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1 Susanne Carwin, »Unter der Sonne des Artikels 131«, in: Frankfurter Hefte, 11, 11, November 1956, S. 798–797. Grundlegende Beiträge zu Buchner erschienen erst seit 1994: Martin Schawe, »Die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen im Zweiten Weltkrieg«, in: Bayerische Staatsgemäldesammlungen (Hrsg.), Jahresbericht 1994, S. 9–27. Jonathan Petropolous, The Faustian Bargain, Oxford 2000, S. 16–51. Ausführlichste Beurteilung bisher: Helena Perena Sáez, »Ernst Buchner. Eine Annäherung«, in: Nikola Doll u. a. (Hrsg.), Kunstgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zu einer Wissenschaft zwischen 1930 und 1950, Weimar 2005, S. 139–159. Martin Schawe, »1947 – Die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen«, in: Iris Lauterbach (Hrsg.), Kunstgeschichte in München 1947, Institutionen und Personen im Wiederaufbau, München 2010, S. 90–104. 2 Amtszeitraum: 10.7. 1945–11.3. 1953. Zu Hanfstaengl siehe Jörn Grabowsky, »Eberhard Hanfstaengl als Direktor der Nationalgalerie«, in: Claudia Rückert und Sven Kuhrau (Hrsg.), »Der deutschen Kunst…«. Nationalgalerie und Nationale Identität 1876–1998, Amsterdam 1998, S. 97–111; Lauterbach 2010 (wie Anm. 1), darin die Beiträge von Irene Netta und Andreas Burmester. Daniela Stöppel u. a., »Der Verlag F. Bruckmann im Dritten Reich«, in: Ruth Heftrig u. a. (Hrsg.), Kunstgeschichte im ›Dritten Reich‹. Theorien, Methoden, Praktiken, Berlin 2008, S. 302–306. 3 Erich Steingräber, Rede zur Beerdigung von Eberhard Hanfstaengl, in: Personalakte Hanfstaengl, Altregistratur Bayerische Staatsgemäldesammlungen, im folgenden BSTGS genannt, 14.1. 1973.

von Lenbachs zusammensetzte, um Meister aus dem 15. und 16. Jahrhundert, um Maler des Barock und Rokoko und legte mit dem Ankauf von Werken der Münchener Schule den Grundstock der Sammlung. Seine Hoffnung auf eine Sammlung europäischen Ranges sollte schon wenige Jahre später durch Hitlers Machtübernahme 1933 im Keim erstickt werden. Zahlreiche von ihm erworbene Bildwerke wurden 1937 wieder ausgesondert oder in der Ausstellung Entartete Kunst gezeigt. Im November 1933 wurde Hanfstaengl als Nachfolger von Ludwig Justi, der im Sommer 1933 von den Nationalsozialisten »beurlaubt« worden war, zum Direktor der Nationalgalerie in Berlin berufen. Hanfstaengl galt als Kenner der Kunst des 19. Jahrhunderts und aufgeschlossen gegenüber der Moderne. Mit der von ihm vorgenommenen, geschickten Neuhängung des Kronprinzenpalais versuchte er bereits, verfemte Künstler vor weiterer Diffamierung zu schützen.4 Nach der vorzeitigen Versetzung in den Ruhestand 1937 in Berlin trat er 1939 als Lektor in den Münchner Bruckmann Verlag ein. Bis 1945 schrieb er kunsthistorische Rezensionen und publizierte selbst zu Michelangelo, Erasmus Grasser, Rembrandt, Wilhelm Leibl und Caspar David Friedrich. Am 16. Juli 1945 wurde er mit Einverständnis der amerikanischen Militärregierung zum Generaldirektor der Staatsgemäldesammlungen ernannt. Am 27.11. 1946 erfolgte der Spruchkammerbescheid, demzufolge er vom Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 nicht betroffen war.5 Hanfstaengl hatte weder der NSDAP noch einer ihrer Gliederungen angehört. Tätigkeiten im Amt Ganz wesentlich wurde mit Hanfstaengls Amtsantritt die unmittelbar nach Kriegsende einsetzende Rückholung der Objekte aus den Bergungsorten im bayerischen Umland und die damit verbundene Tätigkeit im Central Collecting Point. Die Auslagerung hatte im September 1939 begonnen und bedeutete konkret die Verlagerung nahezu aller Werke der Staatsgemäldesammlungen in Bergungsorte wie Dietramszell und in bayerische Schlösser wie Neuschwanstein nahe den Alpen und in guter Distanz zu München. Die Rückholung beinhaltete eine enge Zusammenarbeit mit den amerikanischen Dienststellen.6 Vom 5. Dezember 1945 bis 1947 erfolgte die Rückführung von gut 12.000 Kunstwerken, die zum großen Teil den Krieg verlustfrei und unbeschädigt überstanden hatten.7 Mit Kriegsende hatte die amerikanische Militärregierung den gesamten Museumsbesitz zunächst beschlagnahmt. In den Parteibauten am Königsplatz wurde von der Sektion MFA&A (Monuments, Fine Arts and Archives) im Juni 1945 der Central Collecting Point eingerichtet, in dem neben 158

4 Meike Steinkamp, »Ein neues Kronprinzenpalais. Ludwig Justis Pläne für eine ›Galerie des 20. Jahrhunderts‹ nach 1945«, in: Ludwig Justi, Jahrbuch der Berliner Museen, hrsg. von Kristina KratzKessemeier und Tanja Moormann-Schulz, Beiheft 52, Berlin 2011, S. 117–121.

5 Personalakte Eberhard Hanfstaengl, Altregistratur BSTGS.

6 Altregistratur BSTGS Akt 20/5a, Nr. 572-573, Central Collecting Point München.

7 Schawe 2010 (wie Anm. 1), S. 91–104.

Eberhard Hanfstaengl und ein unbekannter amerikanischer Soldat im Haus der Kunst beim Aufbau der Ausstellung Meisterwerke des Kaiser-FriedrichMuseums, 1948

Amerikanische Besatzungszone München

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den geraubten Kunstwerken und den Sammlungen der Parteigrößen auch der Museumsbesitz überprüft wurde.8 Die Bestände der Staatsgemäldesammlungen wurden dort von eigenem Personal überwacht und die Rückführung zog sich bis Ende 1946 hin.9 Ganz wesentlich wurde außerdem die Zuweisung geeigneter Baulichkeiten für die Unterbringung der zurückgekehrten Bestände. Hanfstaengl sorgte in diesem Zusammenhang für die rasche Wiedereröffnung der Filialgalerien, um einen Teil der Bestände dort wieder eingliedern zu können, die mangels Depot- und Schauräumen in München keinen Ort hatten. 1947 wurden in rascher Folge die Bamberger Residenz, Füssen, Schleißheim, Augsburg und Burghausen wieder eröffnet. Hinsichtlich der Institution der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen oblag Hanfstaengl der Aufbau der Verwaltung. Mit Kriegsende befanden sich die Direktion wie auch das Doerner Institut in der Leopoldstr. 3. Nach 1945 waren die Diensträume zusammen mit denen der Graphischen Sammlung, des Staatsarchivs und der Staatsbibliothek im Collecting Point in der Arcisstraße 8, 10 und 12 untergebracht. An Mitarbeitern standen Hanfstaengl der Konservator Dr. Peter Halm, der Kunsthistoriker Dr. Ordenberg Bock von Wülfingen, die Sekretärin Erika Lullies und der Sammlungsoffiziant Michael Kastner zur Verfügung. Die Restauratoren waren Andreas Sessig und Hermann Lohe.10 Nachdem die unbeschädigten Außengalerien einen Teil der Bestände aufgenommen hatten, galt es, in München ebenfalls Ausstellungsorte und Depoträume zu schaffen. Da die beiden Pinakotheken und die Neue Staatsgalerie im Ziebland’schen Kunstausstellungsgebäude völlig zerstört und nicht mehr nutzbar waren, stand schon bald ein Teil des Hauses der Deutschen Kunst gegen Mietzahlungen zur Verfügung.11 Die hier gezeigten ersten Sammlungspräsentationen waren nahezu politische Signale. Was aus den Bergungsorten öffentlich präsentiert werden konnte, war Eigentum der Staatsgemäldesammlungen. Bis 1947 kamen fast 230.000 Besucher, um die Gemälde der Alten und Neuen Pinakothek zu sehen. Gremienarbeit Hanfstaengl war in zahlreichen Gremien vertreten, in denen nach 1945 Münchner und internationale Kulturpolitik gemacht wurde. Er war Initiator und treibende Kraft für zwanglose Treffen in München, wo sich kunsthistorisch ausgebildete Repräsentanten wie Ordinarien, Museumsmitarbeiter und Denkmalpfleger aus ganz Deutschland darüber berieten, was in den einzelnen Besatzungszonen vordringlich sei. Er war seit 1945 Beirat im Kultur160

8 Iris Lauterbach, »Central Art Collecting Point und Zentralinstitut für Kunstgeschichte 1945–1949 – Kunstschutz, Restitution und Wissenschaft«, in: Lauterbach 2010 (wie Anm. 1), S. 7–18. 9 Schawe 2010 (wie Anm. 1), S. 95 und 102, Anm. 25 und 26.

10 BSTGS Altregistratur, Akte 20/5, Nr. 571 Militärregierung 1946/47 und Akte 20/5a, Nr. 572-573 Central Collecting Point München.

11 BSTGS Altregistratur, Akte 20/3a, Nr. 544.

ausschuss der Landeshauptstadt und ab 1946 Mitglied im Verwaltungsrat des Germanischen Nationalmuseums. Erwähnenswert sind außerdem seine Ämter, die die damals bestehende enge Verbindung der Staatsgemäldesammlungen mit Italien, besonders Florenz und Venedig, symbolisieren. Von 1934 bis 1958 war er Kommissar des Deutschen Pavillon der Biennale in Venedig und als Vorstandsvorsitzender stand er dem Verein zur Erhaltung des Kunsthistorischen Instituts in Florenz vor.12 Ausstellungen der Amtszeit Hanfstaengl Mangels eigener Sammlungsräume waren die Meisterwerke der Alten und Neuen Pinakothek wie auch der Staatsgalerie moderner Kunst nach 1945 auf Reisen. Dies bedeutete zugleich eine Präsentation der Kunstschätze des vormaligen Kriegsgegners in den zuvor von ihm besetzten Ländern. Ab 1948 tourte die Ausstellung Chefs-d’oeuvre de la Pinacothèque de Munich von Paris, wo sie im Petit Palais präsentiert war, nach Brüssel ins Palais des BeauxArts, nach Amsterdam ins Rijksmuseum und nach London.13 Von 1947 bis 1950 wurde die Sammlung der Staatsgemäldesammlungen in der Schweiz gezeigt. Die Kunsthalle Basel zeigte Meisterwerke altdeutscher Malerei.14 Das Kunstmuseum Winterthur präsentierte Große Maler des 19. Jahrhunderts aus Münchner Museen und das Berner Kunstmuseum stellte Werke der Alten Pinakothek, des Bayerischen Nationalmuseums und der Glyptothek aus.15 Außerdem waren Teile der Sammlung 1951 und 1952 im Rathaussaal Straubing und im Stadtmuseum Amberg zu Gast.16 1952 und 1953 gingen Meisterwerke der Alten Pinakothek und des Museums der Schönen Künste in Antwerpen zu Ausstellungszwecken in das Museum für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund und das Städtische Kunstmuseum Duisburg.17 Das 1937 eröffnete Haus der Deutschen Kunst war weitgehend unbeschädigt und als Ausstellungsraum für Kunst intakt geblieben. Für die Staatsgalerie moderner Kunst begann 1946 eine lange Ausstellungsgeschichte an diesem Ort, die erst mit der Eröffnung der dritten Pinakothek ihr Ende fand. In der Hanfstaengls Amtszeit fanden dort folgende Ausstellungen statt: ∙ 1946. Bayerische Gemälde des 15. und 16. Jahrhunderts (altdeutsche Kunst aus der Alten Pinakothek und der Staatsgalerie Augsburg) ∙ 1947. Moderne französische Malerei von den Impressionisten bis zur Gegenwart ∙ 1950. Hans Purrmann ∙ 1952. Jean Cocteau Amerikanische Besatzungszone München

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12 Personalakte Eberhard Hanfstaengl, Altregistratur BSTGS.

13 BSTGS Altregistratur, Akte 32/1, Nr. 1780-1782.

14 BSTGS Altregistratur, Akte 32/1, Nr. 1774.

15 BSTGS Altregistratur, Akte 32/1, Nr. 1777. 16 BSTGS Altregistratur, Akte 32/1, Nr. 1774-17776.

17 BSTGS Altregistratur, Akte 32/1, Nr. 1796-1797.

Ausstellungskatalog Die Maler am Bauhaus, 1950

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∙ 1952. Marino Marini ∙ 1952. Französische Malerei von Poussin bis Ingres ∙ 1953. Hundert Jahre amerikanische Malerei 1800–1900 Für die Ausstellungen im Haus der Kunst hatte Hanfstaengl in Ludwig Grote (1893–1974) einen wichtigen Partner.18 Grote war von 1924 bis 1933 Landeskonservator von Sachsen-Anhalt und Direktor der Gemäldegalerie in Dessau gewesen. Seine Nähe zum Bauhaus wurde für seine Karriere zum Verhängnis, die Nationalsozialisten bezeichneten ihn als »Kulturbolschewisten« und versetzten ihn in den Ruhestand. Bis 1945 war Grote freiberuflich als Kunsthändler und Schriftsteller sowie als Restaurator tätig. Erst 1951 konnte er seine Karriere als Direktor des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg wieder aufnehmen. Zwischen 1945 und 1951 organisierte er zahlreiche wichtige Ausstellungen im Haus der Kunst: Der Blaue Reiter, Die Maler am Bauhaus, Oskar Kokoschka, Max Beckmann und Toulouse Lautrec. Grote und Hanfstaengl waren sich 1932 begegnet, als Grote noch, wie er schreibt, die törichte Hoffnung hatte, das Bauhaus vor dem Untergang retten zu können. Und es war Hanfstaengl, der ihm vorschlug, an seiner statt das Angebot der Kunsthandlung Heinemann anzunehmen.19 Aufgrund dieser langjährigen Verbundenheit ermöglichte Hanfstaengl Grote nach 1945, im Haus der Kunst große Ausstellungen zu machen. Zu den wegweisenden und kunstpolitisch wichtigen Ausstellungen, die Hanfstaengl von ihm erarbeiten ließ, gehört zweifelsfrei Der Blaue Reiter, die vom 5. September bis zum 15. November 1949 im Haus der Kunst und vom 22. Januar bis zum 5. Februar 1950 in der Kunsthalle Basel gezeigt wurde. Die Ausstellungsleitung lag bei Grote, die Organisation bei den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen.20 Die Ausstellung war mit 30.000 Besuchern und 3.000 Schülern sowie 5.000 verkauften Katalogen überaus erfolgreich. An Unkosten verursachte sie nach Schätzung 10–12.000 DM. Schwerpunktmäßig gezeigt wurden Werke von Wassily Kandinsky, Paul Klee, August Macke und Franz Marc. Vertreten waren außerdem Albert Bloch, Wladimir Burljuk, Heinrich Campendonk, Robert Delaunay, Alexej von Jawlensky, Alfred Kubin, Gabriele Münter, Jean-Bloé Niestlé, Arnold Schönberg und Marianne von Werefkin. Als Grote den Antrag ans Ministerium stellte, hieß es dort: »Die erste deutsche Kunstausstellung von internationalem Rang seit 1933. Sie wird Münchens Ruf als Kulturmetropole erneut begründen. Die abstrakte Malerei hat ihren Ursprung in München. Hier malte Kandinsky das erste abstrakte Bild.«21 Die Leistung Grotes in der Zusammenführung der Objekte Amerikanische Besatzungszone München

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18 Günther Schiedlausky, »Die Zeit des Wiederaufbaus nach dem Kriege. Das Museum unter der Leitung von Ernst Günther Troche und Ludwig Grote«, in: Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg 1852 – 1977, hrsg. von Bernward Deneke und Rainer Kahsnitz, München 1978, S.263–312. Christoph Bernoulli, »Ludwig Grote«, in: Beiträge zur Rezeption der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, hrsg. von Wulf Schadendorf, München 1975, S. 7-8.

19 BSTGS Altregistratur, Personalakte Hanfstaengl. Über diese Tätigkeit Grotes ab 1933 in der Kunsthandlung Heinemann wird vielleicht noch mehr zu recherchieren sein.

20 BSTGS Altregistratur, Akte 32/1, Nr. 1784-1792, 1949.

21 BSTGS Altregistratur, Akte 32/1, Nr. 1784-1792, 1949.

ist nicht hoch genug zu bewerten. Die Korrespondenz füllt acht Aktenkonvolute im Archiv der Staatsgemäldesammlungen und wird regelmäßig von Provenienzforschern aus dem In- und Ausland konsultiert, stehen doch hier wertvolle Informationen zu Eigentümern der Werke bei Kriegsende und teils für die Zeit davor. Im Folgejahr zeigte man im Haus der Kunst die wegweisende Ausstellung Die Maler am Bauhaus, die ebenso gezielt zur Wertsteigerung des Ansehens deutscher Kunst in der Welt benutzt wurde, heißt es doch bei Ludwig Grote im Vorwort des Kataloges: »Im Mai 1933 ließ Göring die ›Brutstätte des Kulturbolschewismus‹ polizeilich schließen. Die Emigration begann und führte dazu, daß sich die Ideen des Bauhauses über die ganze Welt verbreiteten und es fast zu einer Legende wurde.«22 Gezeigt wurde die unglaubliche Menge von 267 Werken auf Leinwand und Papier von Künstlern wie Josef Albers, Lyonel Feininger, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Gerhard Marcks, László Moholy-Nagy, Georg Muche, Oskar Schlemmer und Lothar Schreyer. Das Leihgeberverzeichnis liest sich wie ein Who Is Who wichtiger Sammler; mit der Ausstellung wurden viele Weichen gestellt. Leihgeber wie Ida Bienert (München), Karl Julius Anselmino (WuppertalElberfeld), Lilli Ibach (Wuppertal-Barmen), Otto Stangl (München) und Theodor Werner (Berlin) waren in Folge eng mit der Sammlung verbunden und ließen dieser bedeutende Stiftungen zukommen.23 Erwerbungen in der Amtszeit Hanfstaengl Insgesamt 670 Erwerbungen wurden in Hanfstaengls Amtszeit getätigt, darunter wichtige Werke von Franz Marc, direkt erworben bei Maria Marc, und Wassily Kandinsky, erworben bei Nina Kandinsky, sowie aus dem Nachlass von Fritz von Uhde, erworben bei Anna Uhde. Damit konnte Hanfstaengl, der 1936 in Berlin Maria Marcs Angebot für eine Gedächtnisausstellung zum 20. Todestag von Marc ablehnen musste, eine große Geste gegenüber der Witwe machen.24 1952 erfolgte der Ankauf von Lovis Corinths Gemälde Großes Selbstporträt vor dem Walchensee (1924) bei Charlotte Berend-Corinth, als das Werk bereits in Amerika war. Die Beziehung zu Corinth reicht zurück bis in das Jahr 1924, als Hanfstaengl das im selben Jahr entstandene Gemälde Rittersporn für die Staatsgemäldesammlungen erwarb, das 1937 als entartet beschlagnahmt wurde, dann jedoch 1940 zurückkehrte, da es die Nationalsozialisten wohl doch nicht als so museumsunwürdig betrachteten.25 Ein großes Sammlungskonvolut kam durch den 103 Werke umfassenden Nachlass von Oberlandesgerichtsrat Karl Alfred Osthelder zu den Pinakotheken. Er war 164

22 BSTGS Altregistratur, Akte 32, Nr.2942-2943, 1950.

23 Sammlung Etta und Otto Stangl. Von Klee bis Poliakoff, hrsg. von Carla SchulzHoffmann. Ausst. -Kat. München 1993. Die Sammlung Woty und Thedor Werner, hrsg. von Carla Schulz-Hoffmann, Ausst.Kat. München 1990. Heike Biedermann, »Ida Bienert in München 1945-1965«, in: Dresdener Kunstblätter, 41, 1997, S. 193–200. Will Grohmann, Die Sammlung Ida Bienert in Dresden, Potsdam 1933. Werner Schweiger, »Vom Sammeln in der Provinz: Rudolf Ibach 1873–1940«, in: Avantgarde und Publikum, hrsg. v. Henrike Junge, Köln 1992, S. 165–172. Ulrike Becks-Malorny: Der expressionistische Impuls: Meisterwerke aus Wuppertals großen Privatsammlungen. Ausst.-Kat. Wuppertal 2008, S. 141 ff. 24 BSTGS Ankaufsakten zu Franz Marc, Kämpfende Formen (1914), Tirol (1914), Rinder I (1913).

25 BSTGS Ankaufsakten zu Lovis Corinth Grosses Selbstporträt (1924) und Roter Christus (1922).

bereits in den 1920er Jahren im Freundeskreis der Staatlichen Graphischen Sammlung als Förderer der zeitgenössischen Kunst aktiv und vermachte seine umfangreiche Kunstsammlung dem bayerischen Staat.26 Weiter erfolgen fast 80 sogenannte Überweisungen aus Staatsbesitz, darunter Werke aus den »Sammlungen« von Heinrich Hoffmann, Martin Bormann, Hans Frank und aus dem Parteiforum Berchtesgaden. Hanfstaengl spielte eine wichtige Rolle sowohl bei der Verteilung dieser Kunstwerke als auch bei den Rückgabeverhandlungen, vor allem im Hinblick auf den Kunstbesitz des NS-Reichsbildberichterstatters und Kunsthändlers Heinrich Hoffmann. Dieser Aspekt bedarf noch einer Aufarbeitung.27 21 Erwerbungen tätigten die Staatsgemäldesammlungen in Hanfstaengls Amtszeit bei dem Kunsthändler Günther Franke. Es handelt sich um Werke von Willi Baumeister, Max Beckmann, Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee, Ernst Wilhelm Nay, Emil Nolde, Theodor Werner und Fritz Winter.28 Weitere 40 Erwerbungen tätigte Hanfstaengl bei Künstlern direkt, so bei Arnold Balwé und Edgar Ende. Will man Eberhard Hanfstaengls Erwerbungen bewerten, so darf man konstatieren, dass er den zweiten Grundstock für die Neue Staatsgalerie legte, der erste, unter Friedrich Dornhöffer erworbene ging durch die Aktion »Entartete Kunst« und die Abgaben Ernst Buchners verloren. Hanfstaengl erwarb über dreihundert nach 1900 entstandene Werke, dagegen stehen hundert Werke des 19. Jahrhunderts. Außerdem kaufte er fast einhundert Skulpturen. Als »Dekan aller ächten Kunstfreunde« bezeichnete Doris Schmidt ihn zu seinem 85. Geburtstag, sein Weggefährte Grote sah ihn in der Tradition Hugo von Tschudis und Halldor Soehner lobte seinen Blick auf den großen europäischen Kulturraum und sein Bemühen, München mit der Welt zu verbinden.29

Amerikanische Besatzungszone München

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26 Michael Semff und Kurt Zeitler (Hrsg.), Künstler zeichnen – Sammler stiften. 250 Jahre Staatliche Graphische Sammlung München, 3 Bde., Ostfildern 2008.

27 Korrespondenz und Übertragungsurkunden zu den Vorgängen im Archiv der BSTGS sind Teil des aktuellen Forschungsprojektes zu den Überweisungen aus Staatsbesitz im Bestand der BSTGS.

28 Felix Billeter, Max Beckmann und Günther Franke, Heft 4 des Max Beckmann Archivs, München 2000.

29 Presseclipping in Personalakte Hanfstaengl, Altregistratur BSTGS.

Ausstellungen und Sammlungsaufbau an der Staatsgalerie Stuttgart Ina Conzen »Die Ausstellung brachte heftige Reaktionen, wärmste Zustimmung und Ergriffenheit neben Ablehnung und gehässigen Angriffen. Das hatten wir erwartet […]. Auf zwei Bilder fanden Attentate statt. Die Radierung von Otto Dix ›Abgekämpfte Truppe‹ und eine Zeichnung von Erwin Weinhold ›Fallschirmspringer‹ wurden schwer beschädigt. In brieflichen Zuschriften wurde mehr oder weniger begründet Ablehnung oder Zustimmung ausgedrückt. Erfreulicherweise waren diese Zuschriften nicht anonym. Beauftragte für Kunst in hohen Stellen, Direktoren, äußerten sich, allerdings nicht öffentlich: ›die Ausstellung ist eine Schweinerei, man kann keinen anständigen Menschen hineinführen‹. Stuttgarter Lehrer führten höhere Klassen vor die Bilder [...]. Junge Menschen, besonders entlassene Soldaten gingen durch die Räume. Zurückhaltung, aber auch lautes, betont lautes Urteilen wechselten. […] Wir aber sagen dazu: Es ist gut, daß diese Ausstellung nicht gleichgültig hingenommen wurde.«1 Erwin Petermann (1904–1989), von 1945 bis 1963 Leiter der Graphischen Sammlung der Württembergischen Staatsgalerie, von 1963 bis 1969 deren Direktor, zieht mit diesen Worten ein Fazit der ersten Ausstellung des Museums nach dem Zweiten Weltkrieg. Unter dem Titel Kunst gegen den Krieg wurde sie in der ehemaligen Wehrmachtsbaracke im Hof der Alten Staatsgalerie am 20. November 1945 eröffnet. Gezeigt wurden unter anderem Grafiken von Hans Barlach, Max Beckmann Otto Dix, George Grosz, Erich Heckel und Käthe Kollwitz – jedoch nicht aus dem Besitz der Staatsgalerie, sondern ausschließlich aus Privatsammlungen. 1946 folgte eine Ausstellung mit Grafiken von Beckmann.2 In der Nacht des 12. September 1944 waren die heutige Alte Staatsgalerie – das 1843 eröffnete klassizistische Gebäude des Architekten Gottlob Georg Barth und die beiden Ostflügel von Albert von Bock (1881–1888) – sowie das Kronprinzenpalais am Kleinen Schlossplatz völlig ausgebrannt, zusammen mit der gesamten Innenstadt Stuttgarts. Das Kronprinzenpalais hatte seit 1929 die Graphische Sammlung und die schwäbische Malerei der Nachbiedermeierzeit beheimatet und wurde 1963, obwohl noch viel Bausubstanz erhalten war, zugunsten der auf große Durchgangsstraßen ausgerichteten Stuttgarter Verkehrsplanung abgerissen. 166

1 Stuttgarter Zeitung, 5.1. 1946.

2 Zur Geschichte der Graphischen Sammlung nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. Corinna Höper, »›Vom ›Königl.: Ober-Hof Kupferstich-Zusammenleger‹ bis heute‹ oder ›…Nur Papier, und doch die ganze Welt…‹ Zur Geschichte der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart«, in: »Nur Papier und doch die ganze Welt«. 200 Jahre Graphische Sammlung, Ausst.-Kat. Staatsgalerie Stuttgart, Ostfildern 2010, S. 25 ff.

Staatsgalerie Stuttgart nach 1944

Amerikanische Besatzungszone Stuttgart

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Die Bestände des Museums waren während des Krieges auf verschiedene Auslagerungsorte verteilt worden – unter anderem Schloss Neuenstein, Schloss Taxis, Schloss Waldenburg und das Salzbergwerk Heilbronn. Schloss Waldenburg im Hohenlohischen wurde als einer der letzten Rückzugsorte der Wehrmacht durch amerikanische Brandgranaten in Schutt und Asche gelegt, wobei eine große Zahl an Gemälden und Grafiken der Staatsgalerie verbrannte. Erst kürzlich kam ans Licht, dass ein Nebengebäude, wo hauptsächlich wertvolle Bücher untergebracht waren, nicht verbrannte und amerikanische Soldaten sich hier großzügig bedienten. Das Augsburger Geschlechterbuch (1618) mit Vorzeichnungen und Probedrucken von Heinrich Vogtherr dem Älteren und Hans Burgkmair dem Jüngeren tauchte 2004 auf dem amerikanischen Auktionsmarkt auf und wurde nach einem aufwändigen Rechtsstreit, den das Land Baden-Württemberg führte, 2010 zurückgegeben. Aus anderen Depots, vor allem aus der französischen Zone, wurden über 60 Bilder entwendet. Dieser Umstand wurde nach dem Krieg offensiv thematisiert, denn schon 1948 erschien eine von der Staatsgalerie verantwortete und im Kohlhammer Verlag erschienene dreisprachige Publikation, die Stolen Pictures, Gestohlene Gemälde, Peintures volées aufführte mit der Bitte, zweckdienliche Mitteilungen an Polizei oder Direktion der Württembergischen Staatsgalerie zu richten. Bezüglich ihres Bestandes an moderner Kunst hatte die Staatsgalerie während des Nationalsozialistischen Regimes und unter dem von 1928 bis 1945 dauernden Direktorat von Heinz Braune (1880–1957) das gleiche Schicksal wie die anderen deutschen Museen ereilt, so dass in den Auslagerungsorten in dieser Hinsicht kaum noch etwas vorhanden war. Bereits 1933 hatte man in vorauseilendem Gehorsam eine Ausstellung mit dem Titel Novembergeist. Kunst im Dienste der Zersetzung präsentiert, hauptsächlich mit grafischen Arbeiten, unter anderem von Dix, Conrad Felixmüller, Grosz und Ludwig Meidner, aber auch beispielsweise dem Gemälde Duett im Nord-Café (1925) von Paul Kleinschmidt. Vorweggenommen wurde so in Stuttgart und bei einer weiteren Präsentation in Bielefeld die fünf Jahre später stattfindende Ausstellung Entartete Kunst in München. Verantwortlich hierfür war der Gemäldekonservator Klaus Graf von Baudissin, seit 1925 am Museum tätig und ab 1932 Mitglied der NSDAP. 1934 übernahm er die Leitung des Folkwang-Museums in Essen. Als Mitglied des Komitees zur Sicherstellung beweiskräftigen Materials für die Ausstellung Entartete Kunst konnte er der Beschlagnahmekom168

mission, die am 10. Juli und am 27. August 1937 die Staatsgalerie aufsuchte, bestens informierte Ratschläge geben. Die Aktion war so besonders effektiv: mit 54 Gemälden von Beckmann über Paul Klee bis Oskar Schlemmer und Karl Schmidt-Rottluff und 12 Plastiken, unter anderem von Ernst Barlach und Wilhelm Lehmbruck, wurden die wesentlichen Gemälde und Skulpturen der heute als klassisch bezeichneten Moderne beschlagnahmt, dazu 27 Handzeichnungen von Max Ackermann, Adolf Hölzel, Ida Kerkovius, Oskar Kokoschka und anderen sowie 328 Druckgrafiken.3 Da die Arbeiten der Graphischen Sammlung nicht komplett publiziert waren, gelang es dem seit 1927 am Haus tätigen Grafikkonservator Theodor Musper (1895–1976) – nach dem Krieg bis 1963 Direktor der Staatsgalerie –, 45 Aquarelle und Zeichnungen nach Hause mitzunehmen. Er ließ sie auslagern, 1947 erhielt sie das Museum zurück. Als einziges ihrer beschlagnahmten Gemälde konnte die Staatsgalerie 1948 von dem Münchner Händler Günther Franke das Selbstbildnis mit rotem Schal (1917) von Beckmann für 3.500 DM zurückerwerben. Die Grafikfolge Der Krieg (1924) von Dix wurde 1949 zurückgekauft. Die Erwerbungen zwischen 1933 bis 1945 lassen aufgrund des minimalen Etats und der nationalsozialistischen Kulturpolitik große überregionale und vor allem ausländische Namen weitgehend vermissen. Ein gewisses Aufsehen hatte 1935 noch der Kauf des Wandfrieses von Hans Thoma aus dem Musiksaal des Hauses Pringsheim (1891), München, erregt, der auch in der Presse hoch gelobt wurde. Es handelt sich um ein Werk, das der jüdischen Familie von Katja Mann gehört hatte und dessen damaliger Ankaufspreis als nicht angemessen zu bezeichnen ist, weshalb der Zyklus von der Staatsgalerie Stuttgart in das Lost Art Register Magdeburg eingestellt wurde. Im Bereich der neueren Kunst sind lediglich zwei 1935 gekaufte Stillleben von Alexander Kanoldt, der dann zwei Jahre später als entartet galt, zu erwähnen, wobei das eine, Stillleben mit Gitarre von 1926, im Berliner Auktionshaus Max Perl vom damaligen Galerieverein ersteigert worden war und aus dem ehemaligen Besitz des jüdischen Rechtsanwalts Ismar Littmann stammte. 2008 wurde es an die Erben Littmanns restituiert. Für die Württembergische Staatsgalerie war das Jahr 1945 noch viel umfassender als für andere deutsche Museen ein »Neuer Anfang«, den der Konservator Bruno Bushart rückblickend als desolate, jedoch auch große Chancen bergende Situation charakAmerikanische Besatzungszone Stuttgart

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3 Zu den Beschlagnahmeaktionen vgl. Karin von Maur, »Bildersturm in der Staatsgalerie Stuttgart«, in: Bildzyklen. Zeugnisse verfemter Kunst in Deutschland 1933–1945, Ausst. Kat. Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. D 3–D 68.

terisierte. Und zwar deshalb, weil das Museum im Laufe seiner damals gut hundertjährigen Geschichte wenige hauptberufliche Galeriedirektoren und aufgrund konservativ-pietistischer Kunstauffassung kaum je wirklich nennenswerten sammlungspolitischen Spielraum gehabt hatte: »So verzweifelt die Situation nach Kriegsende war, ein Gutes hatte sie der Galerie gebracht: die Befreiung von traditionellen Bindungen, die ihre selbständige Entwicklung bisher bedroht und oft genug vereitelt hatten. Die Ideen von der Staatskunstanstalt, von der Vorbildersammlung, vom Museum der Bildenden Künste, von der Unterstützungsanstalt lebender Maler, von der Leistungsschau Schwäbischer Kunst und was sonst noch mit wechselndem Glück das Werden der Galerie belastet hatte, lagen mit den Scherben der Gipsabgüsse zusammen unter den Trümmern der Gebäude.«4 Von der Aufbruchstimmung dieser Jahre zeugt auch ein Katalogvorwort der Staatsgalerie (nicht unterzeichnet, aber wohl von Theodor Musper verantwortet) von 1947: »Jetzt angesichts der Katastrophe gilt es zu retten, zu erhalten, Lücken zu schließen und teilweise wieder von vorne anzufangen. Es muss sich zeigen, ob wir – politisch und militärisch kompromittiert – uns endlich auf unsere besseren Eigenschaften besinnen …«.5 Interimsweise hatte man Sammlungsbestände – insgesamt zunächst 130 Gemälde – in Schloss Ludwigsburg präsentiert und in einem schmalen Katalog vorgestellt, wofür ausdrücklich dem »Verständnis der amerikanischen Militärregierung« gedankt wird. Die Ansprachen bei der Eröffnung hielten Kultusminister Theodor Heuss und der amerikanische Kunstoffizier Lieutenant Ford. Die in der amerikanischen Besatzungszone gelagerten Bestände waren 1946 freigegeben worden, während diejenigen in der französischen Zone erst 1948 freigegeben und nach Ludwigsburg gebracht wurden. Ankaufspolitisch gelang es, trotz schwieriger finanzieller Verhältnisse und des nach wie vor von nationalsozialistischer Ideologie gezeichneten Kulturverständnisses weiter Bevölkerungskreise – das sich im Eingangszitat nachdrücklich manifestiert –, bereits in den ersten Jahren nach Kriegsende vor allem die Bestände an moderner Kunst mit einigen Schlüsselwerken aufzubauen. Dass Stuttgart unmittelbar nach dem Krieg neben allem Konservatismus sowohl ein Zentrum der neuesten Avantgarde als auch ein Zentrum der Wiedergeburt der Klassischen Moderne war, verlieh diesen Bestrebungen der Museumsleute einen Rückenwind, den man nicht unterschätzen sollte. 170

4 Bruno Bushart, Meisterwerke der Stuttgarter Staatsgalerie, Honnef/Rhein 1956, S. 35.

5 Katalog der Interimsgalerie in Schloss Ludwigsburg (Vorwort), Stuttgart 1947.

Um Willi Baumeister, der 1946 an die Stuttgarter Kunstakademie berufen worden war, und dem Neurologen, Filmemacher und Sammler Ottomar Domnick bildete sich hier eines der wichtigsten Zentren der abstrakten Kunst in Deutschland. Als Domnick 1947 in seiner Praxis den berühmten Zyklus abstrakter Malerei mit Bildern von Max Ackermann, Willi Baumeister, Otto Ritschl oder Fritz Winter begann, kamen illustre Gäste aus dem In- und Ausland.6 1952 übergab Domnick seine bedeutende Sammlung abstrakter Malerei der Württembergischen Staatsgalerie als Dauerleihgabe.7 Ab 1948 diente auch wieder das Haus Sonnenhalde als Ausstellungsort. Hier hatte Hugo Borst, ehemals kaufmännischer Direktor der Firma Robert Bosch und von 1927 bis 1948 Vorsitzender des Stuttgarter Galerievereins, bereits von 1931 bis zur Zerstörung des Hauses 1944 seine Sammlung (die 1968 von der Staatsgalerie angekauft werden sollte), unter stillschweigender Duldung der Obrigkeit öffentlich zugänglich gemacht. Sowohl Arbeiten heimischer moderner Künstler wie auch Werke überregional bekannter Meister wie Beckmann, Macke oder Nolde waren in diesem bemerkenswerten privaten Museum zu sehen gewesen. Sowohl der Kunstverein als auch die Staatsgalerie, die 1948 Käthe Kollwitz und Ernst Ludwig Kirchner präsentierte, erhielten hier Ausstellungsmöglichkeiten. Die Kirchner-Ausstellung wurde aus Beständen der Sammlung des Schweizer Ehepaares Dr. Gervais bestückt. Aus ihr gelangten 1957 insgesamt 77 Zeichnungen und 66 Druckgrafiken von Kirchner an das Museum. Unmittelbar nach der Währungsreform 1948 setzte, auch maßgeblich unterstützt durch den im gleichen Jahr unter dem Vorsitz von Gerhard Freiherr von Preuschen neu konsolidierten Freundeskreis, eine rege Ausstellungstätigkeit ein, ab 1950 auch im sukzessive wiederaufgebauten Gebäude an der heutigen Konrad-AdenauerStraße. So setzte man z. B. 1951 mit der Ausstellung Gemälde aus dem Besitz der Pinakothek München einen hohen Qualitätsmaßstab, zur Eröffnung der Miró-Schau im Jahr 1954 sprachen Willi Baumeister und der Berliner Kunstprofessor Will Grohmann. Unterstützt durch die Abteilung Cultural Institutions, Public Affairs Divison des Office of the Land Commissioner für WuerttembergBaden zeigte man 1951 Zeitgenössische Graphik aus den USA, und – vielleicht als Reaktion auf diesen Akt kulturellen Austauschs – 1952 und 1954/55 Ausstellungen von Handzeichnungen französischer Bildhauer bzw. Moderne französische Graphik, diesmal unterstützt von dem Service des Relations Artistiques der Direction Générale des Affaires Culturelles in Mainz (beziehungsweise den Services Culturels Français en Allemagne). Amerikanische Besatzungszone Stuttgart

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6 Ottomar Domnick, Hauptwege und Nebenwege. Psychiatrie Kunst Film in meinem Leben, Hamburg 1977, S. 179 ff. 7 Allerdings fand er sie dann dort nicht entsprechend repräsentiert. 1967 errichtete er mit dem Stuttgarter Architekten Paul Stohrer in Nürtingen ein »Museum zum Wohnen«, das heute noch im Rahmen einer unselbständigen Stiftung unter Trägerschaft des Landes Baden-Württemberg existiert.

Zur wichtigen Anlaufstelle für die Erwerbungsbestrebungen der Staatsgalerie im Bereich der ehemals verfemten Kunst wurde das von Roman Norbert Ketterer 1946 gegründete und sich bald als bedeutendster Umschlagplatz für Kunst des 20. Jahrhunderts etablierende Stuttgarter Kunstkabinett. Am 4. September 1947 fand hier die erste Auktion mit Grafiken von Max Slevogt und Max Liebermann statt, in einer Nachkriegsauktion wurde expressionistische Grafik versteigert, die reißenden Absatz fand und das zukünftige Profil des Hauses einleiten sollte. »Hier wurde zum ersten Mal in Deutschland nach dem Krieg die im Dritten Reich als entartet verbotene und verfolgte Kunst von mir auf dem Auktionsmarkt angeboten. So war diese Begegnung mit expressionistischer Graphik nicht nur für mich selbst, sondern auch für viele Besucher der Auktion ein unglaubliches Erlebnis«,8 erinnerte sich Ketterer später. Innerhalb der nächsten Jahre, bis zur letzten Auktion 1962, war das Stuttgarter Auktionshaus entscheidend mitverantwortlich für die Erfolgsgeschichte der Klassischen Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg. Durch die gekonnte Inszenierung der Auktionen und die internationalen Besucher, unter ihnen Sammler wie David Rockefeller, Stavros Niarchos, Heinrich von Thyssen-Bornemisza oder Ragnar Moltzau, veränderte Stuttgart, wie sich Tut Schlemmer später erinnerte, während der Auktionstage sein Gesicht vollständig: »Alles war plötzlich großzügiger geworden. Man hatte das Gefühl, Stuttgart sei für kurze Zeit Weltstadt geworden.«9 So gelangen insbesondere der Graphischen Sammlung trotz beschränkter Mittel wichtige Ankäufe, denn gerade im Bereich der Druckgrafik und Zeichenkunst hatte das Stuttgarter Kunstkabinett in den ersten Jahren Spitzenlose zu Preisen von oft nur wenigen hundert Mark im Angebot. Hochrangige Grafiken von Kirchner beispielsweise, die immer nur in wenigen Handabzügen existieren, kosteten in der Regel zwischen 300 und 800 Mark, Kirchners Gemälde Segelboote bei Grünau (1914) wurde in der 6. Auktion im Oktober 1949 für 4.000 DM ersteigert, was für das Budget der Staatsgalerie damals allerdings auch das absolute Limit darstellte.10 Zusammenfassend ist zu sagen, dass im Bereich der Gemälde und Skulpturen zwischen 1945 bis 1955 einige Hauptwerke der Klassischen Moderne ins Museum gelangten. Allerdings konnte man in den wenigsten Fällen die vor 1937 zur Sammlung gehörenden Werke wieder erwerben, dafür aber andere Arbeiten der als entartet diffamierten Künstler. Im Rahmen der nun einsetzenden »Umverteilung« stammten nicht wenige aus anderen deutschen 172

8 Roman Norbert Ketterer, Legenden am Auktionspult. Die Wiederentdeckung des deutschen Expressionismus, München und Lugano 1999, S. 26.

9 Roman Norbert Ketterer, Dialoge, 2 Bde., Stuttgart 1988/89, Bd. 1, S. 111.

10 Ketterer 1999 (wie Anm. 8), S. 29.

Museen, wo sie 1937 beschlagnahmt worden waren: z. B. Kokoschkas Dr. Hermann Schwarzwald (1911), vormals im Frankfurter Städel, erworben 1951, dessen Frau in Blau (1919) vormals in der Gemäldegalerie in Dresden, erworben 1952 und, ebenfalls von Kokoschka, Der Neue Markt in Amsterdam (1925), vormals im Kaiser Wilhelm Museum in Krefeld, erworben 1947, oder die Konzentrische Gruppe (1925) von Schlemmer, zuvor in der Berliner Nationalgalerie, erworben 1950. Kirchners Ins Meer Schreitende (1912) hatte man vor 1937 im Museum Schloss Moritzburg in Halle gesehen; 1965 gelangten sie über Emil Bührle nach Stuttgart. Die im März 1937 über den Händler Karl Haberstock gegen ältere Gemälde eingetauschten Arbeiten von Liebermann (Altmännerhaus in Amsterdam, 1880) und Camille Pissarro (Der Gärtner, 1899) wurden 1953 bzw. 1962 unter erheblichem finanziellem Aufwand zurückgekauft. Der Stuttgarter Galerieverein erwarb 1951 mit Gottlieb Schicks Porträt der Wilhelmine Cotta (1802) eines der bedeutendsten Bildnisse des 19. Jahrhunderts. Hinzu kamen die Tänzerinnen (1920) von Nolde, Widmung an Oskar Panizza (1917/18) von Grosz, Alexej von Jawlenskys Weiße Feder (1909), Spielende Katzen (1913) von Franz Marc, die erwähnten Segelboote bei Grünau und Friedrichstraße Berlin (1914) von Kirchner, die Komposition mit schwarzem Brennpunkt (1919) von Klee, Stillleben mit Totenkopf (um 1900) von Paul Cézanne, Edward Munchs Vier Mädchen am Aasgarstrand (1902), Marc Chagalls Rotes Tor (1917) und bedeutende Konvolute von Schlemmer und Baumeister, erstere von Schlemmers Witwe Tut erworben, letztere vom Künstler direkt.11 Interessant bei der Durchsicht der Inventare des in Rede stehenden Jahrzehnts ist die Beobachtung, dass die Hemmschwelle für Tauschvorgänge und Wiederverkäufe, die heute für staatliche Museen verpönt sind, relativ niedrig war. Während man bei der Druckgrafik noch versuchte, sich eher auf Doubletten zu beschränken, schmerzen im Rückblick einige Deakzessionierungen wie insbesondere die Tatsache, dass die zwischen 1945 bis 1949 erworbenen drei Nolde-Gemälde Exotische Figur, Maske und Reiter (1913), Großer Mohn (1908) und Die Philister (1915), 1951 und 1954 das Museum wieder verließen. Vermächtnisse und Stiftungen, vor allem im Bereich älterer Kunst jene aus dem Jahr 1948 von Dr. h.c. Heinrich Scheufelen, im Bereich der Nachkriegsabstraktion die besagte Dauerleihgabe Amerikanische Besatzungszone Stuttgart

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11 Theodor Musper war seit 1933 gut mit Baumeister bekannt.

von Ottomar Domnick, traten hinzu. Mit mehreren wichtigen Stiftungen bedacht wurde die Graphische Sammlung; allein dem bereits 1904 nach New York ausgewanderten Schwäbisch-Haller Max Kade sind nahezu 500 hochrangige Zeichnungen und Druckgrafiken zu verdanken. Am 9. Oktober 1958 wurde die nach Plänen des Stuttgarter Architekten Maximilian Debus gestaltete Württembergische Staatsgalerie in Gegenwart von Bundespräsident Theodor Heuss feierlich wiedereröffnet. Für die Zukunft wegweisend wurde das Toto-Lotto-Gesetz verabschiedet, das die Bereitstellung von erheblichen Ankaufsmitteln, anfänglich immerhin jährlich zwischen 10 und 15 Millionen DM, für die Staatlichen Museen in Baden-Württemberg ermöglichte. Zu Weltrang stieg die Sammlung bereits ein Jahr später auf, als mit dem Ankauf der Sammlung des norwegischen Reeders Ragnar Moltzau mit 30 Werken von Auguste Renoir, Paul Gauguin, Paul Cézanne, Henri Matisse, Fernand Léger, Georges Braque und Pablo Picasso das »Stuttgarter Museumswunder« begann, dem in den folgenden Jahrzehnten ein systematischer Ausbau der Sammlung auf höchstem internationalem Niveau folgen sollte.

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Galerieraum in der neueröffneten Staatsgalerie Stuttgart 1958

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Halle Leipzig

Dresden

Sowjetische Besatzungszone

Museen – »Bildungsstätten ersten Ranges« Zum Sammlungsaufbau in der sowjetischen Besatzungszone nach 1945 Maike Steinkamp Bereits am 4. September 1945, nur knapp vier Monate nach der bedingungslosen Kapitulation des nationalsozialistischen Regimes, gab die Sowjetische Militäradministration den Befehl über die Wiedereinrichtung und Tätigkeit von Kunstinstitutionen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) heraus. Diese sollten von allem »nazistischen, rassistischen, militaristischen und anderen reaktionären Ideen und Tendenzen« gesäubert und die Kunstwerke aktiv »im Kampf gegen den Faschismus und für die Umerziehung des deutschen Volkes im Sinne einer konsequenten Demokratie« eingesetzt werden.1 Auch die Wiedereröffnung der Museen fiel unter diese Order.

1 Befehl Nr. 51 zur Wiedererrichtung und Tätigkeit der Kunstinstitutionen, 4. September 1945, in: Gerd Dietrich (Hrsg.), Um die Erneuerung der deutschen Kultur. Dokumente zur Kulturpolitik 1945-1949, Berlin / DDR 1983, S. 83–85, hier S. 83.

Schneller als in den westlichen Besatzungszonen wurde in der SBZ die Wiederaufnahme des Kulturbetriebes vorangetrieben. Dabei spielten die staatlichen Organe, die Sowjetische Militäradministration (SMAD) ebenso wie die neu gegründeten deutschen Verwaltungen, eine maßgebliche Rolle.2 Verbunden war dieser Kulturaufbau von Beginn an mit Ansätzen für eine zentralistische Lenkung der kulturellen Prozesse und ihrer inhaltlichen Prämissen.3 Allerdings standen auch in der SBZ zunächst die Rehabilitierung der während des Nationalsozialismus als »entartet« deklarierten Künstler und die Betonung der künstlerischen Freiheit im Vordergrund. Die vormals diffamierten Künstler wurden als Lehrende an den Kunsthochschulen eingesetzt und ihre Werke, ebenso wie die der jüngeren Künstlergeneration, in zahlreichen Ausstellungen gewürdigt. Die Initiative für diese Ausstellungen gingen zumeist von den zentralen Kulturverwaltungen und -organisationen aus, wie beispielsweise dem Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Häufig traten jedoch auch die Museen als Mitorganisatoren auf.4

3 Unter anderem versuchte die SMAD, Intellektuelle und Künstler durch materielle Begünstigungen zu gewinnen. Vgl. Bernd Lindner, Kunstrezeption in der DDR, in: Feist 1996 (wie Anm. 2), S. 62–93, hier S. 64.

Die Ausstellungsförderung von staatlicher Seite war nicht uneigennützig, sah man in den Präsentationen doch ein wichtiges Mittel der Volksbildung und der »Umerziehung«. Auch die

4 Vgl. Karl-Heinz Schulmeister, Auf dem Weg zu einer neuen Kultur. Der Kulturbund in den Jahren 1945-1949, Berlin / DDR 1977, S. 317 ff. sowie Jutta Held, Kunst und Kunstpolitik 1945–49. Kulturaufbau in Deutschland nach dem Zweiter Weltkrieg, Berlin (West) 1981, S. 295.

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2 Die Verantwortung für die Umsetzung der kulturpolitischen Vorgaben der SMAD wurde im Juli 1945 der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung übertragen, in deren Zuständigkeitsbereich auch die Museen fielen. Die deutsche Verwaltung war den sowjetischen Behörden nachgeordnet. Vgl. Helga A. Welsh, »Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung (DVV)«, in: Martin Broszat und Gerhard Braas (Hrsg.): SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945–1949, Oldenburg 1990, S. 229–238, sowie Angelika Reimers, »Organe der Macht 1945-1954. Von der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung bis zur Gründung des Ministeriums für Kultur«, in: Günther Feist u. a. (Hrsg.), Kunstdokumentation SBZ/DDR. 1945–1990. Aufsätze Berichte Materialien, Berlin 1996, S. 821–834.

Museen sollten aktiv in den kulturellen Wiederaufbau des Landes eingebunden werden und dazu beitragen, die empfundene Kluft zwischen Kunst und Volk zu schließen. Bereits 1946 hatten fast die Hälfte der in der sowjetischen Besatzungszone gelegenen Museen ihre Arbeit wieder aufgenommen, darunter allerdings viele kleinere Häuser.5 Dagegen blieben viele der größeren Institutionen erst einmal geschlossen, hatten die meisten von ihnen doch stark unter den Kriegseinwirkungen gelitten – und dies nicht nur durch Bombenangriffe. Vielmehr war ein Großteil der Museumsbestände während des Zweiten Weltkrieges ausgelagert worden und musste nach 1945 erst einmal wieder an ihre Ursprungsorte zurückgebracht werden. Die Rückführung der Kunstwerke wurde von Seiten der SMAD mit einem am 18. Juni 1946 herausgegebenen Befehl geregelt, mit deren Durchführung die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung beauftragt wurde.6 Gleichzeitig hatte die SMAD jedoch bereits im Mai 1945 damit begonnen, bedeutende Werke deutscher Sammlungen in die Sowjetunion zu überführen, wodurch die Bestände der Museen weiter dezimiert wurden.7 Doch schon vor dem Beginn des Krieges hatten die Museen große Verluste erlitten. So war ein Großteil der modernen Kunst 1937 im Zuge der nationalsozialistischen Aktion »Entartete Kunst« beschlagnahmt worden. Insbesondere dem Verlust der Moderne versuchte man nach 1945 in vielen Museen zu begegnen. Zum einen wollte man sich mit dem Ankauf moderner Kunst vom nationalsozialistischen Regime und seiner Kunstpolitik distanzieren, zum anderen erhoffte man sich, mit deren Förderung den Anschluss an die Kunst der Gegenwart wiederzugewinnen. In Erscheinung traten dabei vor allem die Häuser, die sich bereits während der Weimarer Republik für die zeitgenössische Kunst geöffnet hatten. Eines der markantesten Beispiele in der SBZ ist zweifellos das Museum in der Moritzburg in Halle, wo der Städtische Beirat bereits im Juli 1945 beschloss, die moderne Kunst aus den ehemaligen Beständen zurück zu erwerben. Aber auch in Berlin, Dresden, Erfurt und Chemnitz versuchte man, die Häuser wieder für die Kunst der Moderne zu öffnen.8 Bereits seit 1945 fanden dort Ausstellungen von Künstlern der Vorkriegszeit statt, wie beispielsweise 1946 in Chemnitz, wo die Kunstsammlungen eine Ausstellung mit Aquarellen von Karl Schmidt-Rottluff aus den Jahren 1943 bis 1946 zeigten. Allerdings sollte die mit solchen Präsentationen verbundene liberale Museums- und Ausstellungspolitik in der SBZ nicht lange Bestand haben. War man in den ersten beiden Nachkriegsjahren vor allem darauf bedacht, den Menschen Kunst und Kultur geneSowjetische Besatzungszone

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5 Vgl. Günther Schade, »Ostdeutschland und DDR. Die Museen nach ’45«, in: Hugo Borger u. a. (Hrsg.), ’45 und die Folgen. Kunstgeschichte eines Wiederbeginns, Köln 1991, S. 199–213, hier S. 202.

6 Vgl. Befehl Nr. 177 der SMAD über die Rückführung der Museumswerte und die Wiedereröffnung der Museen, 18. Juni 1946, in: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (Hrsg.), Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland. Dokumente aus den Jahren 1945-1949, Berlin/DDR 1968, S. 285 f. sowie Richtlinien der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung zum SMAD-Befehl Nr. 177 vom 18. Juni 1946 über die Rückführung der Museumswerte und die Wiedereröffnung der Museen, ebd., S. 293–297. 7 Vgl. Bericht über eine Besprechung mit Major Alexander Dymschitz an Paul Wandel, 6. Juni 1946, Berlin, Bundesarchiv, DR2/1038. Als Argument für die Überführung der Kunstwerke in die Sowjetunion wurde offiziell die starke Zerstörung der deutschen Museen und die dadurch zu befürchtende unzulängliche Unterbringung und fehlende restauratorische Betreuung der Objekte angeführt.

8 Vgl. dazu ausführlich Maike Steinkamp, Das unerwünschte Erbe. Zur Rezeption »entarteter« Kunst in Kunstkritik, Ausstellungen und Museen der SBZ und frühen DDR, Berlin 2008, insbesondere S. 113–228.

Ansicht der zerstörten Nationalgalerie auf der Museumsinsel, Berlin 1948

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rell wieder zugänglich zu machen, sollte sich diese Haltung im Zuge des eskalierenden Ost-West-Konfliktes um 1948 ändern. Immer deutlicher forderte die SED-Regierung eine »reale, wirklichkeitsnahe und volksverbundene Kunst« nach dem Vorbild des in der Sowjetunion praktizierten Sozialistischen Realismus. Die Kunst sollte auf eine künstlerische wie politische Leitlinie festgelegt werden und in einer leicht verständlichen Formensprache den Erfolgen des sozialistischen Aufbaus Ausdruck verleihen.9 Die zeitgenössischen Künstler, die sich nach dem Krieg einer expressiven, konstruktiven oder abstrahierenden Formensprache bedient hatten, wurden im Zuge dieser Veränderungen mit wachsendem Nachdruck als »formalistisch« abgelehnt. Doch nicht nur das aktuelle Kunstschaffen geriet in die Kritik. Auch die in den ersten Nachkriegsjahren als Vorbild und Anknüpfungspunkt geehrten Künstler der Vorkriegszeit fielen immer häufiger unter das Verdikt des Formalismus. Als Vorbild für eine neu zu schaffende Kunst im Sozialismus kamen sie nicht länger in Frage. Dass diese Entwicklung auch Auswirkungen auf das Museumsund Ausstellungswesen haben sollte, war nur eine Frage der Zeit. Tatsächlich verfolgte die SED ab 1947/48 auch in der Kunstvermittlung neue Ziele. Ausstellungen und Museen sollten stärker als bisher als Mittel der Volksbildung eingesetzt werden und zu den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen in der SBZ Stellung beziehen.10 Dieser Anspruch zeigt sich deutlich an einigen programmatischen Ausstellungsprojekten dieser Jahre, wie beispielsweise die im Sommer 1949 veranstaltete Schau mensch und arbeit, die das Verhältnis von Malerei, den arbeitenden Menschen und den Zielen des Zweijahresplanes veranschaulichen sollte.11 Auch die Museen wurden stärker in die Pflicht genommen. Die Anforderungen an die Häuser wurden im Zweijahresplan von 1948 erstmals explizit formuliert. Demzufolge sollten alle bestehenden Sammlungen in der SBZ auf ihre Inhalte überprüft werden. Zentrale Ausschüsse und eine Zusammenarbeit mit Universitäten und Kunsthochschulen sollten die Demokratisierung des Museumswesens befördern, Musterkabinette, ebenso wie Tagungen und eine Fachzeitschrift deren fortschrittliche Ausrichtung garantieren. Festgeschrieben wurden darüber hinaus die obligatorische Einrichtung einer Gegenwartsabteilung sowie die Veranstaltung von mindestens einer Sonderausstellung pro Jahr, die sich mit den Zielen des Zweijahresplans befasste.12 In Anlehnung an die dort formulierten Ziele rief die Sächsische Verwaltung für Volksbildung noch im gleichen Jahr zur »Säuberung der Museen Sowjetische Besatzungszone

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9 Vgl. dazu u. a. Anton Ackermann, »Marxistische Kulturpolitik«, in: Tägliche Rundschau, 8. Mai 1948, S. 3.

10 Vgl. Resolution zum Deutschen Museumstag 1947, gez. Vorsitzender des Museumstages Prof. Dr. W. Ulrich, 2. Oktober 1947, Berlin, Bundesarchiv, DR2/1008, Bl. 78 f.

11 Vgl. mensch und arbeit, Kulturfonds beim Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, Ausst.-Kat. Berlin 1949.

12 Vgl. Zweijahresplan, 3. August 1948, Bl. 1-13, hier Bl. 10, Berlin, Bundesarchiv, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR, DY 30/IV 2/9.06/169, Bl. 25–38.

von bedeutungslosen Gegenständen« und zur »Einrichtung von zeitnahen Abteilungen (Raum der Gegenwart)« in allen größeren Institutionen auf.13 Doch trotz dieser von der SED formulierten Forderungen, stellten direkte Eingriffe in die Museumsarbeit in dieser Zeit noch eine Ausnahme dar. Noch immer fanden Ausstellungen mit Werken der Vorkriegsavantgarde oder von expressiv, abstrahierend arbeitenden Künstlern der Nachkriegszeit statt, diese fanden gleichermaßen Eingang in die öffentlichen Sammlungen. Allerdings ist bereits zu diesem Zeitpunkt zu bemerken, dass vermehrt sozialkritisch arbeitende Künstler berücksichtigt wurden, wobei eine Vielzahl von ihnen in der sowjetischen Zone lebte. Darüber hinaus verliefen viele der Ausstellungen, in denen die Kunst der Vorkriegsmoderne zu sehen war, nicht ohne Kontroversen. So rief beispielsweise die Neupräsentation der Sammlungsbestände im Museum in der Moritzburg in Halle im Herbst 1948 starken Unmut sowohl bei der SMAD als auch den deutschen Verwaltungsorganen hervor, hatte der Direktor des Hauses, Gerhard Händler, die moderne Abteilung des Museums ihren Ansichten zufolge doch nicht genügend nach volksbildenden Gesichtspunkten ausgerichtet und realistische Tendenzen zu wenig berücksichtigt.14 – Eine Kritik, die gegenüber vielen Museen ausgesprochen wurde, jedoch vor allem in Halle mit besonderem Nachdruck erhoben wurde. Auch die im Frühjahr 1949 im Kulturhistorischen Museum in Rostock eröffnete Sonderausstellung Moderne Bildende Kunst wurde in der Presse aufgrund ihrer Präsentation expressionistischer Kunst stark angegriffen und als nicht mehr zeitgemäß verurteilt. Laut zeitgenössischer Aussagen wurde die Ausstellung aus diesem Grund sogar vorzeitig geschlossen.15 Solche direkten Eingriffe in die Museumsarbeit wie in Halle oder Rostock nahmen nach der Gründung der DDR im Oktober 1949 zu. Mehr als zuvor sollten die Kunst und damit auch die Museen in den Dienst des Staates und seiner politischen Ziele gestellt werden.16 Wie es im Zweijahresplan von 1949 hieß, sollten die Museen zu »wirklichen volksbildenden Stätten« ausgebaut werden. Dies implizierte eine Bereinigung der vorhandenen Sammlungsbestände und eine neue, systemkonforme Beschriftung in den Ausstellungsräumen. Auch die Mitarbeiter sollten im Sinne der neuen kulturpolitischen Richtlinien geschult und das Genehmigungs- und Meldewesen für Kunstausstellungen verschärft zur Anwendung gebracht werden.17 Die Häuser wurden dazu verpflichtet, sich stärker den revolutionären internationalen Perioden der Geschichte und Kunst zuzuwenden und die Propa182

13 Vgl. Entwurf Gerda Weinholz, Referat Museumswesen/Bildende Kunst, Ministerium für Volksbildung, Landesregierung Sachsen, 24. August 1948, zit. nach Bernd Lindner, Verstellter offener Blick. Eine Rezeptionsgeschichte bildender Kunst im Osten Deutschlands 1945–1995, Köln u. a. 1998, S. 89.

14 Vgl. dazu u. a. Andreas Hüneke, Das »schöpferische« Museum. Eine Dokumentation zur Geschichte der Sammlung moderner Kunst 1908-1949 , hrsg. von Katja Schneider, Stiftung Moritzburg Halle, Halle/Saale 2005, S. 231–277 sowie Steinkamp 2008 (wie Anm. 8), S. 209–224.

15 Die Schließung lässt sich durch die Akten des Museums jedoch nicht belegen. Zu den Vorfällen in Rostock vgl. ausführlich Maike Steinkamp, »Umstrittene Kunst – Die Rezeption ›entarteter‹ Kunst nach 1945 und ihre Auswirkungen auf das Kulturhistorische Museum in Rostock«, in: Meike Hoffmann (Hrsg.), Ein Händler »entarteter« Kunst. Bernhard A. Böhmer und sein Nachlass, Berlin 2010, S. 199–210. 16 Vgl. Otto Grotewohl, »Die Eroberung der Kultur beginnt. Rede zur Berufung der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten«, 31. August 1951, in: ders., Deutsche Kulturpolitik. Reden von Otto Grotewohl, Dresden 1952, S. S. 145–160.

17 Vgl. »Zur Aufgabe der Museen im Zweijahresplan«, in: Arbeitsbericht des Referats bildende Kunst für das III. Quartal 1949, zitiert nach Lindner 1998 (wie Anm. 13), S. 95.

Moderne Abteilung des Moritzburgmuseums in Halle / Saale, 1948

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gierung von Künstlern, die den eng gefassten Vorstellungen einer Kunst im Sozialismus und deren Vorläufern nicht entsprachen, zu unterbinden.18 Zur Umsetzung der kulturpolitischen Forderung der Partei rief die Regierung der DDR im Juni 1951 die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten ins Leben, der die Kontrolle aller kulturellen Einrichtungen und somit auch die der Museen oblag.19 Neben den bereits angesprochenen Vorgaben für die Museen hatte die Kunstkommission insbesondere zur Präsentation von Gegenwartskunst dezidierte Vorstellungen. So führte Kurt Schifner, der Leiter der Abteilung Kunst innerhalb der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten, im Dezember 1951 aus: »In der Weiterführung der neuzeitlichen Sammlungen bis zur Gegenwart liegt ein wesentlicher Faktor zur Gewinnung des breitesten öffentlichen Interesses. Hier gilt es, eine klare Einstellung zu den Verfallserscheinungen in der Kultur der absterbenden bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft im Gegensatz zu der Entwicklung einer realistischen lebensbejahenden Kunst zu beziehen. Eine sorgfältig getroffene Auswahl der Ausstellungsstücke soll die Grundlage zur kritischen Aneignung des kulturellen Erbes bilden. So wird es gelingen, den genannten Gegensatz zu verdeutlichen und unseren Künstlern den Weg zur Überwindung des Formalismus, dem Ausdruck des Kosmopolitismus, zu weisen. Unsere Museen und Sammlungen müssen zur Quelle der Kraft für unsere bildenden Künstler in ihrem Ringen um eine starke realistische Kunst werden.«20 Wie aus dem Zitat deutlich wird, hatten sich die Museen – den Vorgaben der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten entsprechend – sowohl in der Auswahl als auch in der Präsentation der Objekte nach dem politischen Kurs der SED und deren (Kunst-) Geschichtsauffassung zu richten. Den als formalistisch deklarierten Tendenzen des beginnenden 20. Jahrhunderts wurde in diesem offiziell verordneten Geschichtsbild kein Platz mehr zugebilligt. »Formalistische« Kunstrichtungen waren – wenn sie nicht als Verfallserscheinung der Weimarer Republik entsprechend gekennzeichnet wurden – in den Ausstellungsräumen nicht länger erwünscht. Selbst sozialkritische Künstler, wie Käthe Kollwitz oder Ernst Barlach, die von der ersten Phase der Formalismus-Debatte noch verschont geblieben waren, kamen nun, um 1951, zunehmend in die Kritik, galten ihre Arbeiten doch als zu pessimistisch und ohne Zukunftsperspektive, was sie als Vorbil184

18 Vgl. Rolf Kiau, »Zur Entwicklung der Museen in der DDR«, in: Neue Museumskunde, 12, 4, 1969, S. 415–459, hier S. 429.

19 Zur Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten vgl. Dagmar Buchbinder, »Kunst-Administration nach sowjetischem Vorbild: Die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten«, in: Heiner Timmermann (Hrsg.): Die DDR – Analysen eines aufgegebenen Staates, Berlin 1992, S. 389–408.

20 Kurt Schifner, »Grundsätze der Museumsarbeit«, Referat auf der 1. von der StaKoKu organisierten Tagung der Museumsleiter, Dezember 1951, in: Landesstelle für Kunstangelegenheiten Thüringen (Hrsg.), Das Museum ist eine Bildungsstätte ersten Ranges, Erfurt 1951, S. 15.

der für eine zukunftsweisende, optimistische Kunst im Sozialismus ungeeignet machte. Viele Museen begannen nun, ihre Sammlungen nach politischgesellschaftlichen Gesichtspunkten neu zu ordnen und zu kommentieren. Direktoren wie Herbert Kunze in Erfurt oder Friedrich Schreiber-Weigand in Chemnitz versuchten, ihren Idealen und ihrer Einstellung gegenüber der Moderne weiterhin treu zu bleiben – zumindest soweit es unter den gegebenen Umständen möglich war. Dennoch ist in nahezu allen Museen, die sich nach 1945 für die Kunst der Moderne geöffnet hatten, eine Änderung in der Ausrichtung der Sammlungen zu bemerken. So auch in Halle, wo im Sommer 1950 die neue Dauerausstellung des Museums unter dem Titel Kunst als Spiegel der Gesellschaft eröffnete.21 War die Vorkriegsavantgarde zu diesem Zeitpunkt noch in den Ausstellungsräumen zu sehen, wenn auch als Negativbeispiel, erhielt das Museum Ende 1951 die Anweisung, sie aus der Sammlung zu entfernen – was auch geschah. Der Vorfall in Halle zeigt auf, wie massiv die Staatliche Kunstkommission mittlerweile in die Belange der Museen eingriff. Inspektionen, Anweisungen und Entlassungen waren zumindest um 1951, der Hochphase der Formalismus-Debatte, die Regel, ebenso wie die Entfernung von unerwünschten Werken aus den Sammlungen oder die Schließung einzelner Räume. Dies geschah unter anderem an der Nationalgalerie in Ost-Berlin, wo ein Raum mit expressionistischer Grafik geschlossen wurde, oder in Weimar, wo man das Bauhaus-Kabinett auflösen ließ.22 Nur vereinzelt waren in den Sammlungen oder in Ausstellungen noch Werke expressionistischer oder anderer avantgardistischer Künstler der Vorkriegszeit zu sehen, auch Ankäufe von diesen Künstlern wurden kaum mehr getätigt. Erst mit dem Tod Stalins im März 1953 und dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni desselben Jahres sollte sich die kulturpolitische Lage in der DDR etwas entspannen, was auch zu einer Entdogmatisierung in den Museen führte. Allerdings sollte es noch viele Jahre dauern, bis der Expressionismus und andere Strömungen der Vorkriegsavantgarde ihren Weg zurück in die öffentlichen Sammlungen der DDR fanden. Während des gesamten Bestehens der DDR fungierten die Museen als »Bildungsstätten ersten Ranges«23 mit deren Hilfe der von der SED verfolgte kulturpolitische Kurs visualisiert, und die Politik der SED durch die Konstruktion einer sozialistischen (Kunst-) Geschichte historisch fundiert und legitimiert werden sollte.

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21 Vgl. Hans Kahns, »Was wir wollen. Zur Eröffnung der Landesgalerie«, in: Freiheit, 10. Juni 1950. Näheres zu der Umgestaltung u. a. bei Andreas Hüneke, Bilder aus Halle 1945-1949, in Feist 1996 (wie Anm. 2), S. 218–236, insb. S. 227.

22 Vgl. Annegret Janda, »Die Berliner Nationalgalerie im Kampf um die moderne Kunst seit 1933«, in: »Entartete Kunst«. Das Schicksal der Avantgarde in NaziDeutschland, hrsg. von Stephanie Barron, Ausst.-Kat. Los Angeles County Museum und Deutsches Historisches Museum, Los Angeles/Berlin 1992, S. 107–119, hier S. 119 (Anm. 99). Leider sind die Vorfälle nicht in den Akten der jeweiligen Archive dokumentiert.

23 So der Titel der Publikation, die anlässlich der ersten Tagung der Museumsleiter im Dezember 1951 erschien. Vgl. Landesstelle für Kunstangelegenheiten Thüringen (Hrsg.), Das Museum ist eine Bildungsstätte ersten Ranges, Erfurt 1951.

Auf Messers Schneide Vom schwierigen Neuanfang in den Dresdner Staatlichen Sammlungen für Kunst und Wissenschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Thomas Rudert Die Kriegs- und Nachkriegsereignisse haben die Dresdner Staatlichen Sammlungen nicht nur in ihrer Substanz getroffen; sie haben sie auch in ihrer Existenz gefährdet. Die Folgen der eigentlichen Kampfhandlungen waren zwar gravierend, aber sie wären zu kompensieren gewesen. Doch durch die Besatzungspolitik der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) und die Personalpolitik der zunehmend von KPD/SED-Kadern dominierten sächsischen Landesverwaltung1 in der Nachkriegszeit war der institutionelle Fortbestand in Frage gestellt. Bereits während der »Sudetenkrise« 1938 waren die Dresdner Museen vorübergehend geschlossen und die ausgestellten Kunstwerke geborgen worden,2 zunächst in den Kellern der Museumsgebäude. Mit dem Kriegsbeginn am 1. September 1939 trat ein detaillierter Plan zur dauerhaften kriegsbedingten Bergung der Museumsbestände in Kraft. Bis 1942 waren diese Bergungen abgeschlossen. Die Sammlungsbestände befanden sich, über das sächsische Territorium verteilt, in 45 Depots.3 Darunter gab es fünf Großdepots: die Albrechtsburg in Meißen, die Festung Königstein, den Eisenbahntunnel bei Groß-Cotta, das Kalkbergwerk Pockau-Lengefeld und das Schloss Weesenstein. In den Depots überstanden die Kunstwerke die Zeit bis Kriegsende weitgehend unbeschadet. Allerdings ergab sich aus einem Befehl des sächsischen Reichsstatthalters und NSDAP-Gauleiters Martin Mutschmann dennoch eine Gefährdung der Werke, die zu den einzigen nennenswerten Kriegsverlusten vor dem 8. Mai 1945 führten. Mutschmann hatte befohlen, die ostelbischen Depots vor der vorrückenden Roten Armee zu räumen und das Bergungsgut in westsächsische Ausweichdepots zu verlagern. Einer dieser Transporte war in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 befehlswidrig in der Dresdner Innenstadt abgestellt worden und brannte aus. Dabei gingen unter anderem 199 Galeriebilder verloren.4 186

1 Vgl. Mike Schmeitzner und Stefan Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung. KPD/ SED in Sachsen 1945–1952, Köln u. a. 2002, S. 61–121.

2 Vgl. Archiv der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD-Archiv), Vorakten (VA) 52, Bd. 1, Bl. 7.

3 Vgl. Hans Ebert, Kriegsverluste der Dresdner Gemäldegalerie. Vernichtete und vermisste Werke, Dresden 1963, S. 8.

4 Vgl. ebd., S. 7.

Bereits weit vor dem Kriegsende befasste sich die UdSSR mit der Frage, die eigenen Kriegsverluste an Kulturgütern durch Kriegstrophäen aus deutschen Museen zu kompensieren. Seit 1943 arbeitete in Moskau eine Expertenkommission unter der Leitung von Igor Grabar an der Zusammenstellung von Listen jener Museumsobjekte, die aus den künftig sowjetisch besetzten Gebieten als Kriegstrophäen abzutransportieren seien.5 Für die Umsetzung dieses Plans wurden spezielle Einheiten gebildet, die unmittelbar hinter der vorrückenden Front für die Beschlagnahme der ausgewählten Kunstwerke zuständig waren. In Dresden agierte seit dem 8. Mai 1945 neben anderen sowjetischen Trophäenbrigaden, die teils heftig miteinander konkurrierten, maßgeblich das 164. Bataillon mit Sonderauftrag (Trophäenbataillon) der 5. Gardearmee der 1. Ukrainischen Front.6 Am 10. Mai 1945 ließ sich die sowjetische Trophäenorganisation auf Schloss Weesenstein über sämtliche staatlichen Bergungsdepots und deren jeweilige Inhalte informieren. Dabei wurde den Russen eine Liste und eine Landkarte mit den Bergungsdepots ausgehändigt.7 Auf Schloss Weesenstein hatte das sächsische Ministerium für Volksbildung nach dem Luftangriff vom 13. Februar 1945 auf Dresden sein Ausweichquartier bezogen; der Museumsreferent Arthur Graefe8 war ständig vor Ort. Auch der Dresdner Galeriedirektor Hermann Voss sowie der mit allen Bergungsfragen bestens vertraute Regierungsamtmann Albert Gruve hatten hier Notunterkünfte gefunden.9 Die so frühzeitige Präsenz der Trophäenkommission der Roten Armee auf Schloss Weesenstein nur zwei Tage nach Kriegsende war bereits ein Resultat investigativer und erfolgreicher Fahndung nach den Dresdner Bergungsdepots. Die Verantwortungsträger der sächsischen Landes- und Museumsverwaltung, die aus professionellem Verantwortungsbewusstsein oder aus welchen persönlichen Motiven auch immer das Risiko auf sich genommen hatten, nicht vor der Roten Armee zu fliehen, taten gut daran zu kooperieren. Nachdem der geografische und inhaltliche Gesamtüberblick über alle Depots erst einmal erlangt war, war der Abtransport der Kunstwerke für die Rote Armee nurmehr eine technisch-logistische Frage. Als zentrales sächsisches Sammeldepot wurde von der Trophäenorganisation das Schloss Pillnitz ausgewählt und requiriert.10 Hier wurden in den folgenden Wochen die sowjetischen Kriegstrophäen aus Dresdner Museumsbeständen konzentriert. Am 30. Juli 1945 verließ der erste Eisenbahnzug mit Dresdner Beutekunst die Stadt. Er transportierte etwa 600 Gemälde von jenen etwa 1.300 Bildern, die in Pillnitz zusammengefasst worden waren, nach Moskau, wo er am 10. August 1945 eintraf. Weitere Transporte folgten.11 Sowjetische Besatzungszone Dresden

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5 Vgl. Konstantin Akinscha und Grigori Koslow, Beutekunst. Auf Schatzsuche in russischen Geheimdepots, München 1995, S. 39f.

6 Thomas Rudert, »Präsenz im Verborgenen – Die Sixtinische Madonna zwischen 1939 und 1955«, in: Die Sixtinische Madonna. Raffaels Kultbild wird 500, hrsg. von Andreas Henning, München u. a. 2012, S. 113–121, hier S. 118. 7 Vgl. SKD-Archiv, VA 56, Bd. 1, Bl. 116.

8 Vgl. Thomas Schaarschmidt, »Arthur Graefe ›Der Sachsenmacher‹ und das ›Heimatwerk Sachsen‹«, in: Braune Karrieren. Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus, hrsg. v. Christine Pieper u. a., Dresden 2012, S. 248–254. 9 Vgl. Kathrin Iselt, »Sonderbeauftragter des Führers«. Der Kunsthistoriker und Museumsmann Hermann Voss (1884–1969), Köln u. a. 2010, S. 353–368.

10 Akinscha/Koslow 1995 (wie Anm. 5), S. 142.

11 Vgl. ebd., S. 155 f.

Rückführung von Dresdner Museumsbeständen aus den Bergungsdepots (Auswahl), Stand 31. Dezember 1945

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Innerhalb kürzester Zeit waren die Dresdner Sammlungen also um ihre wichtigsten Bestände gebracht worden. Die Werke des Grünen Gewölbes, der Rüstkammer, des Münzkabinetts und die Antikensammlung fehlten vollständig; von der Gemäldegalerie, dem Kupferstich-Kabinett und der Porzellansammlung waren die Kernbestände verloren. Auch der historische Gebäudebestand der Dresdner Sammlungen – das Residenzschloss, der Zwinger mit dem Semperbau, das Johanneum und das Albertinum – waren bis auf weiteres für eine museale Nutzung nicht mehr zu gebrauchen.12 Das Agieren der SMAD in Kulturfragen war ausgesprochen ambivalent. Einerseits hatte sie selbst durch die aggressiven Beschlagnahmen der sowjetischen Trophäenbrigaden einen Mangel an ausstellungswürdigen musealen Kunstwerken überhaupt erst verursacht. Damit war ein Neubeginn der musealen Arbeit auf dem Vorkriegsniveau ausgeschlossen – nicht nur in Dresden, sondern in der gesamten sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Andererseits forderte die SMAD nachdrücklich die möglichst rasche Neueröffnung von Museen in ihrer Zone. Aus den Formulierungen der entsprechenden Befehle spricht angesichts der zeitlich parallel weiterlaufenden Akquisen von Beutekunst durch die Trophäenbrigaden der Zynismus der Macht. Der Befehl Nr. 85 vom 2. Oktober 1945 etwa forderte von den deutschen Verwaltungen die »Inventur-Aufnahme und den Schutz aller Schätze der Museen« und deren Wiedereinrichtung.13 Konkret auf die Dresdner Situation bezog sich Befehl Nr. 58 der Sowjetischen Militäradministration in Sachsen (SMAS) vom 12. März 1946, der die Einrichtung eines sächsischen »Zentralmuseums« in Schloss Pillnitz bei Dresden bis zum 1. Mai 1946 anordnete.14 Flankiert wurde dies durch den Befehl Nr. 177 der SMAD vom 18. Juni 1946, der unter anderem die Einbeziehung von Kunstwerken der sogenannten Schlossbergung in den Neuaufbau der Museen in der SBZ vorschrieb.15 Die Dresdner Museumsleute standen also vor der Aufgabe, mit den Kunstwerken, die die Trophäenbrigaden verschmäht hatten, im Pillnitzer Schloss eine Dauerausstellung zu konzipieren.16 Mit der praktischen Umsetzung war ein Team von nach dem Kriegsende in Dresden verbliebenen Museumsleuten unter der Leitung der Archäologin Ragna Enking (1898–1975),17 ehemals Skulpturensammlung, und des Geologen Walther Fischer (1897–1979), ehemals Mineralogisches Museum, beauftragt worden. Auf Befehl der SMAS wurde ihnen ein Verwaltungsfachmann mit der bis dahin in den Dresdner Staatlichen Sammlungen nicht gebräuchlichen Amtsbezeichnung »Intendant« zur Seite gestellt, Sowjetische Besatzungszone Dresden

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12 Vgl. Werner Schmidt, »Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden nach dem 2. Weltkrieg«, in: Dresdner Hefte, Sonderausgabe 2004, S. 93.

13 Vgl. SKD-Archiv, VA 20, Bd. 1, Bl. 32a.

14 Vgl. ebd., Bd. 38a.

15 Vgl. Thomas Rudert und Gilbert Lupfer, »Die ›Schlossbergung‹ in Sachsen als Teil der Bodenreform 1945/46 und die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden«, in: Dresdener Kunstblätter, 52, 2, 2012, S. 114–122. 16 Vgl. Thomas Rudert, »Museale Praxis zwischen Besatzungsmacht und kulturellem Anspruch. Die Eröffnung des Pillnitzer Zentralmuseums des Landes Sachsen am 6. Juli 1946«, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, 36, 2010, S. 192–203. 17 Vgl. SächsHStA Dresden, 11125 Ministerium für Kultus und öffentlichen Unterricht, Nr. 18991/2 und 18991/3.

Direktorin Dr. Ragna Enking führt den Dresdner Stadtkommandanten der Roten Armee, Oberst Spiridonov, durch die soeben eröffnete Ausstellung, Schloss Pillnitz, 6. Juli 1945

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der in seiner Person die Aufgaben eines Verwaltungsdirektors und teils auch die eines Personalchefs bündelte – letzteres allerdings mit unter Besatzungsrecht und KPD/SED-Kontrolle stark eingeschränkten Entscheidungsmöglichkeiten und Kompetenzen – und der in der Vorbereitungsphase vor allem die komplexen organisatorischen Probleme zu bewältigen hatte. Dieses Amt erhielt der Dresdner Kunstsammler Hans Geller (1894–1962), der sein schwieriges Amt mit einer angesichts der damaligen Zustände beeindruckenden Bravour meisterte.18 Alles erreichbare, auch nur annähernd ausstellungswürdige Kunstgut wurde in Pillnitz zusammengezogen. Der größte Teil der Werke stammte aus den Restbeständen der Dresdner Gemäldegalerie und des Kupferstich-Kabinetts. Denn trotz des Zugriffs der Roten Armee auf die qualitätvollste Substanz war ein immerhin noch erheblicher Teil der Gemälde in Dresden geblieben. Insgesamt waren mehr als 1.200 Werke von der Rote Armee zurückgelassen worden.19 Allerdings ändert diese für sich genommen doch überraschend hohe Zahl – beinahe die Hälfte es ursprünglichen Bestandes der Galerie – nichts daran, dass der eigentliche Kern der Sammlung verloren war. Daneben griff man in Pillnitz auf Schlossbergungsbestände zurück, in Einzelfällen aber auch auf Werke aus dem Dresdner Stadtmuseum, auf nach Dresden verlagerte Werke aus den Museen Aachen und Wiesbaden und auf private Leihgaben. So versuchte etwa Robert Oertel (1907–1981), Bilder aus der Privatsammlung des Galeriedirektors Hermann Voss (1894–1987) zu leihen,20 der sich am 24. Juli 1945 aus Weesenstein in die amerikanische Besatzungszone abgesetzt hatte.21 Für das Pillnitzer Museumsprojekt stand er also nicht mehr zur Verfügung, so dass Oertel neben Fritz Löffler (1899–1988) und dem ehemaligen Dresdner Referenten des »Führerauftrags Linz«, Gottfried Reimer (1911–1987), vor Ort der einzig verbliebene Museumsmitarbeiter mit Galerieerfahrung war. Auf Oertel, Löffler und Reimer geht denn auch die Pillnitzer Hängung in der ersten Fassung vom 6. Juli 1946 zurück.22 Alles in allem entstand im Pillnitzer Schloss eine respektable Ausstellung, die am 6. Juli 1946 mit einem Festakt eröffnet wurde.23 Doch unmittelbar nach der Eröffnung wurden alle beteiligten Wissenschaftler, Restauratoren und technischen Mitarbeiter zum 31. Juli 1946 entlassen; formal von der sächsischen Landesverwaltung, doch letztlich auf Befehl der SMAS. Die siebzehn Betroffenen protestierten vergeblich. Offenkundig hatte die SMAS die Sowjetische Besatzungszone Dresden

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18 Vgl. SächsHStA Dresden, LRS Sammelbestand Personalakten, Karton Nr. 89 sowie Nachlass Hans Geller, in: SLUB, Mscr. Dresd. App. 2390.

19 Vgl. SKD-Archiv SKD, VA 25.

20 Vgl. Archiv SKD, VA 20, Bd. 1, Bl. 42v. 21 Vgl. Iselt 2010 (wie Anm. 9), S. 387–389.

22 Vgl. Horst Zimmermann, »Zur Erwerbungsgeschichte der Gemäldegalerie Dresden (Neue Meister)«, in: Gemäldegalerie Dresden, Neue Meister, 19. und 20. Jahrhundert, Bestandskatalog, Dresden 1987, S. 43. 23 Vgl. Rudert 2010 (wie Anm. 16), S. 192–203.

Galerieeröffnung abgewartet, um die Entlassungen möglichst ohne größeres öffentliches Aufsehen vollziehen zu lassen. Der SMAS war die Eröffnungsveranstaltung nicht politisch genug gewesen. Zudem war die Einladungsliste der Eröffnung liberal und gesamtdeutsch zusammengesetzt. Neben dem katholischen Bischof von Meißen und dem evangelisch-lutherischen Landessuperintendenten – die beide übrigens nicht erschienen waren – waren auch Kollegen aus allen drei westlichen Besatzungszonen eingeladen, was von der SMAS und von den Kommunisten der Landesverwaltung übel vermerkt wurde.24 Und in ihrer Festansprache hatte die Direktorin Enking bildungsbürgerliche Werte beschworen, sich aber jeder politischen Äußerung enthalten. Abschließend hatte sie mit Blick auf das Pillnitzer Schloss formuliert: »Und wenn jetzt dieses Lustschloß Augusts des Starken in ein Museum verwandelt worden ist, so können wir nichts heißer wünschen, als daß auch in dieser neuen Bestimmung der Geist des Ortes der gleiche bleibe: Philosophie und Kunst mögen sich hier harmonisch und fruchtbringend verbinden.«25 Was immer sich die sowjetische Besatzungsmacht und die anwesenden deutschen Kommunisten Mitte 1946 von einer Museumseröffnung in der SBZ »heiß gewünscht« haben mögen: sicher nicht, dass der Geist des Museums unverändert der der Zeit Augusts des Starken bleiben möge. Sicher ist, dass die neuen Machthaber die Rede als Provokation aufgefasst haben; doch genauso sicher ist es auch, dass sie von der Referentin so gar nicht gemeint war. Nichts lag den beteiligten Ausstellungsmachern ferner, als gegen die politischen Erwartungen der Besatzungsmacht zu opponieren. Formal wurden die Entlassungen mit der seit Mai 1945 laufenden Entnazifizierung in der SBZ begründet. Doch das war vorgeschoben. Denn an diesem Beispiel lässt sich einmal mehr belegen, dass die Entnazifizierung in der SBZ neben ihrer besatzungspolitischen Berechtigung oft auch als politisches Herrschaftsinstruments eingesetzt wurde.26 Von den neun entlassenen Wissenschaftlern waren fünf nie in der NSDAP gewesen; die vier ehemaligen Parteimitglieder hatten die Entlassungen von 1945 überstanden oder waren als minder belastet und unabkömmlich wieder eingestellt worden. Zwei der geschassten Wissenschaftler – die Direktorin Enking selbst und der Museumspfleger Walter Hentschel – waren gar zum Zeitpunkt ihrer Entlassung Mitglieder der SED, Gottfried Reimer Mitglied der neu gegründeten CDU.27 Die Folgen waren gravierend. Nachdem die Dresdner Sammlungen durch die Tätigkeit der Trophäenbrigaden ihre wesentlichen 192

24 Vgl. SKD-Archiv, VA 154, Bd. 1, Bl. 80–90.

25 Ebd., Bl. 144.

26 Vgl. Thomas Widera, »›... eine gute saubere anständige politische Gesinnung‹. Entnazifizierung als Instrument der Diktaturdurchsetzung in Dresden 1945«, in: Diktaturdurchsetzung in Sachsen. Studien zur Genese kommunistischer Herrschaft 1945–1952, hrsg. von Rainer Behring und Mike Schmeitzner, Köln u. a. 2003, S. 269–296.

27 Vgl. SKD-Archiv, VA 166, Bl. 56r/v.

Bestände verloren hatten, verloren sie nun auch den verbliebenen Kern ihres durch Krieg und Flucht ohnehin dezimierten Mitarbeiterstabes. Zumindest was die Direktion der Kunstsammlungen betrifft, konnte allerdings schnell ein adäquater Ersatz gefunden werden. Wolfgang Balzer (1884–1968) trat neben der Direktion des Kunstgewerbemuseums, die er bis 1933 innegehabt hatte und die er ab Mai 1945 wieder übernahm, die Nachfolge Enkings an. Daneben war er verantwortlich für die Porzellansammlung, die durch die Schlossbergungsenteignungen aus Wettiner Eigentum auch ohne die eigenen Bestände wieder ein beachtliches Niveau erreicht hatte und die im nur leicht beschädigten Gebäude des Kunstgewerbemuseums auf der Dresdner Güntzstraße gezeigt wurde. Auch für die von der SMAS befohlene Neugründung eines Barockmuseums im ehemals wettinischen Schloss Moritzburg trug er Direktionsverantwortung.28 Ihm zur Seite stand die Keramikerin Hilde Rakebrand, die für die kommenden Jahre seine wichtigste Mitarbeiterin und Beraterin wurde und von ihm zunächst die Direktion der Porzellansammlung und später das Kunstgewerbemuseum übernahm.

28 Vgl. Thomas Rudert, »Betrug und Untreue im Amt oder ethisch-moralisch gebotene Sicherung gefährdeter Kunstwerke. Wolfgang Balzer und die Grafiksammlung des sächsischen Königs Friedrich August II.«, in: Dresdener Kunstblätter, 50, 2, 2010, S. 116–126.

Nach den Entlassungen wurde die Pillnitzer Ausstellung noch 1946 nach nur wenigen Wochen wieder geschlossen und von Balzer gründlich überarbeitet. Da ein ursprünglich geplanter, naturwissenschaftlicher Teil der Ausstellung in Pillnitz nicht zustande gekommen war, konnte Balzer die dafür reservierten Ausstellungsflächen übernehmen und so die Präsentation beträchtlich erweitern. Im Mai 1947 erfolgte die Neueröffnung. Besonders gravierend blieb der Mangel an Werken der klassischen Moderne und der Avantgarde. All jene Künstler, die während der NS-Zeit als »entartet« gegolten hatten, fehlten in den Beständen der Galerie zum 8. Mai 1945 fast völlig.29 Lediglich ein Werk Karl Schmidt-Rottluffs war der Beschlagnahmeaktion von 1937 entgangen.30 Diese Lücken ließen sich zumindest teilweise durch Leihgaben aus Privateigentum schließen. So befanden sich bis zum 5. März 1948 dreizehn Hauptwerke der BienertSammlung von Oskar Kokoschka (3 Werke), Oskar Schlemmer (1), Emil Nolde (3), Lyonel Feininger (2), Wassily Kandinsky (1) und Paul Klee (4) in der Pillnitzer Galerie.31 Es ist anzunehmen, dass zumindest einige von ihnen auch ausgestellt waren. Aus der Privatsammlung von Ursula Baring – nach dem Weggang von Ida Bienert nach München neben Fritz Löffler die wichtigste Dresdner Privatsammlerin moderner und zeitgenössischer Kunst jener Sowjetische Besatzungszone Dresden

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29 Vgl. Christoph Zuschlag, »Entartete Kunst«. Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland, Worms 1995, S. 123–131, S. 354. 30 Vgl. Illustriertes Bestandsverzeichnis Galerie Neue Meister Dresden, hrsg. von Ulrich Bischoff und Dagmar Sommer, Bd. 2, Köln 2010, S. 371.

31 Vgl. SKD-Archiv, VA 19, Bd. 2, Bl. 28.

Jahre – kam ein Gemälde von Otto Mueller als Leihgabe nach Pillnitz.32 Von Maschka Mueller konnten Ende 1946 drei weitere Gemälde Otto Muellers geliehen werden, von denen mindestens zwei zuvor auf der Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung in Dresden gewesen waren.33 Nach und nach gelangen auch Ankäufe, die die moderne und zeitgenössische Abteilung neu begründeten, etwa durch Werke von Feininger, Hofer, Leo von König, Nolde und Nay. Dass das Flechtheim-Porträt von Otto Dix, dessen Erwerbung für einen sehr moderaten Preis möglich gewesen wäre, nicht in die Sammlung gelangte, lag an der Intervention der zuständigen Referentin im sächsischen Ministerium für Volksbildung, Gertrud Rudloff-Hille (1900–1983).34 Auch eine Schwangere von Otto Dix befand sich damals für einige Zeit in Pillnitz, ohne dass ein Ankauf möglich gewesen wäre. Anfang 1951 wurde auch Wolfgang Balzer aus dem Amt gedrängt. Er war seit längerem gesundheitlich angeschlagen und am Ende seiner Kräfte; doch letztlich schied er aus politischen Gründen. Denn er hatte sich, obwohl seit Mai 1945 Mitglied der KPD und später der SED, politisch nicht vereinnahmen lassen und sowohl bei Ausstellungen als auch bei Ankäufen konsequent auf Qualität geachtet.35 Unter seiner Verantwortung konnten in fünf Jahren 47 Sonderausstellungen gezeigt werden, darunter von Otto Mueller, Erich Heckel, Ernst Barlach, Otto Dix, Ludwig von Hofmann, Josef Hegenbarth, Paul Wilhelm, Wilhelm Rudolph, Eugen Hoffmann und Theodor Rosenhauer.36 Balzers Nachfolgerin wurde Gertrud Rudloff-Hille, die aus dem Referat des Ministeriums in die Direktion der Kunstsammlungen wechselte. Das fachliche Niveau Balzers konnte sie nicht halten, was unter anderem gravierende Folgen für die von ihr überarbeitete Pillnitzer Ausstellung hatte.37 Doch gelang nach und nach der Aufbau eines neuen, qualifizierten Mitarbeiterstabes aus jungen Universitätsabsolventen, die später Direktionsverantwortung übernahmen und die Sammlungen für Jahrzehnte prägten.38 Das setzte sich fort, als 1955 bis 1958 die wesentlichen Teile der 1945 verlorenen sowjetischen Kriegstrophäen aus Dresdner Museumsbeständen von der UdSSR zurückgegeben wurden. Damit eröffnete sich die von niemandem mehr ernsthaft für möglich gehaltene, doch immer erhoffte Chance, in Dresden endlich wieder an das Vorkriegsniveau anzuknüpfen.

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32 Vgl. SKD-Archiv, VA 8, Bd. 1, Bl. 20; SKD-Archiv, VA 19, Bd. 2, Bl. 42r-43r.

33 Vgl. ebd., Bl. 19-26.

34 Vgl. Schmidt 2004 (wie Anm. 12), S. 96.

35 Vgl. Rudert 2010 (wie Anm. 28), S. 118-124.

36 Vgl. Schmidt 2004 (wie Anm. 12), S. 96.

37 Vgl. SKD-Archiv, VA 27, passim.

38 Vgl. Schmidt 2004 (wie Anm. 12), S. 96.

Zwischen Selbstbehauptung und kulturpolitischer Lenkung Das Städtische Museum in der Moritzburg in Halle 1945–1950 Susanna Köller Für die Stadt Halle war der Krieg am 19. April 1945 mit der Kapitulation zu Ende. Zunächst übernahmen die Amerikaner die Oberhoheit über die Stadt – bis zur Übergabe an die Rote Armee und die Sowjetische Militäradministration (SMAD) Anfang Juli 1945. Zwar gab es bald eine neue Stadtverwaltung, allerdings waren Entscheidungen über die städtischen Belange nur in Absprache mit der Militärregierung möglich. Die Altstadt war nur geringfügig zerstört worden. Das Städtische Museum für Kunst und Kunstgewerbe, das sich seit 1904 in der Moritzburg befand, war nicht beschädigt worden. Allerdings war das Museum verwaist – der nationalsozialistische Direktor Robert Scholz und sein Kustos Herbert Wolfgang Keiser waren nicht mehr verfügbar. Von den Beständen waren Kunsthandwerk, Grafiken und Skulpturen zum Schutz in den Tiefkellern der Moritzburg, Münzen und Medaillen im Tresor der Stadtsparkasse untergebracht worden.1 Silbergegenstände und kunsthandwerkliche Pretiosen hatte man in den Dachschrägen hinter Tapetenwänden versteckt. Wertvolle Gemälde und Holzskulpturen waren in die Höhle Bösenburg ausgelagert2 – zum Nachteil der Werke und Rahmen, da viele von Schimmel befallen wurden. Besonders schmerzlich aber war der Verlust moderner Werke durch die Aktion »Entartete Kunst« 1937. Dem Museum verblieben lediglich Die weiße Katze (1912) sowie drei kleine Bronzen Franz Marcs, plastische Arbeiten von Wilhelm Lehmbruck und Moissey Kogan, der Feldblumenstrauß (1906) von Paula Modersohn-Becker, Albert Weisgerbers Sebastian in Blau (1909), mehrere kleine Bilder von Hans Reichel und Fritz Winter, einige wenige Papierarbeiten von Lyonel Feininger, Paul Klee, Wassily Kandinsky, El Lissitzky sowie zwei Fliesen mit TänzerinnenMotiv von Emil Nolde. So mag es als wichtiges Zeichen gewertet werden, dass bereits der im Juli 1945 auf städtischer Seite gebildete Beirat für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung3 in einer seiner ersten Sitzungen beschlossen hatte, die 1924 erworbenen Sowjetische Besatzungszone Halle

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1 Dort wurden sie zum Teil von der sowjetischen Trophäenkommission beschlagnahmt und nach Russland verbracht. Ulf Dräger, Deutsche Kunstmedaillen des 20. Jahrhunderts, Halle 1996, S. 26 f. 2 Archiv Stiftung Moritzburg (ASM), Nr. 321-6/4, Bl. 234.

3 Dieser Beirat setzte sich zunächst aus Vertretern des Stadtparlamentes, Künstlern (Gustav Weidanz) als auch Hallenser Bürgern zusammen.

Bilder der Sammlung Ludwig und Rosy Fischer, »soweit es sich um wirkliche Kunstgegenstände handelt«, zurückzuerwerben.4 Wenig später erfolgte sogar der grundsätzliche Rückerwerbungsbeschluss für die 1937 beschlagnahmten Werke.5 Allerdings war schnell klar, dass sich ein Rückerwerb nicht so leicht bewerkstelligen ließ, da der Verbleib zumeist unbekannt war. Zwar wurden bereits auf der Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung in Dresden Ende August 1946 zwei Leihgaben des Kunsthändlers Ferdinand Möller (Erich Heckels Frühling in Flandern (1916) und Ernst Ludwig Kirchners Sich kämmender Akt (1913)) als ehemaliger Museumsbesitz identifiziert und auf Antrag des Stadtarchivars Erich Neuß, der zugleich auch kommissarischer Leiter des Museums war, von der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung (DVV) beschlagnahmt.6 Ihre Rückführung nach Halle wurde aber aufgrund der strittigen Frage nach dem rechtmäßigen Eigentum unter »Vorbehalt« nicht umgesetzt; die Werke wurden Möller zurückgegeben.7 Der Neubeginn 1945 nahm sich aufgrund dieser Situation recht pragmatisch aus. Nur für kurze Zeit, in der nach einem geeigneten Fachmann für das Direktorenamt gesucht wurde, hatte der Jurist Ludwig Erich Redslob die Betreuung des Museums übernommen.8 In Ermangelung von Fachkräften entschied man sich für den Historiker und Stadtarchivar Erich Neuß, der das Amt von 1946 bis 1947 kommissarisch ausübte, aber sich bereits 1945 um Museumsbelange gekümmert hatte.9 Während seiner Amtszeit bereitete er das Museum auf eine Wiedereröffnung vor, deren Zeitpunkt jedoch nicht fest stand. Grundlage war der Befehl Nr. 177 der SMAD10 vom 18. Juni 1946, der anordnete, alle ausgelagerten Museumsbestände zügig zurückzuführen, um den Ausstellungsbetrieb aufzunehmen. Konkret wurden die Schauräume des Museums renoviert sowie – und dies gelang noch im Juni 1945 unter amerikanischer Besatzung – die ausgelagerten Gemälde aus der Höhle Bösenburg zurücktransportiert und restauriert. Ab Frühjahr 1946 kam es zu ersten Ausstellungen in den Räumen des Museums, die vom Hallischen Volksbildungsamt initiiert worden waren. Eine der wichtigsten war die Kunstausstellung 1946 der Provinz Sachsen, der 1947, 1948 und 1949 die Kunstausstellung Sachsen-Anhalt folgte. Sie war das Forum für die einheimischen zeitgenössischen Künstler. Die Reaktionen in der lokalen Presse nahmen die überregionalen kulturpolitischen Auseinandersetzungen um die Moderne sowie ihre Ablehnung etwa auf der Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung in Dresden 1946 vorweg. Die Ausstellungen wurden bis 1948 von Regierungsrat 196

4 Protokoll der Sitzung des Städtischen Beirates für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung, 20. Juli 1945. ASM, 321-1/2, Bl. 10 f. 5 Andreas Hüneke, Das schöpferische Museum. Eine Dokumentation zur Geschichte der Sammlung moderner Kunst 1908–1949, Halle 2005, S. 227.

6 Die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung hatte sich von der SMAD eine Ermächtigung eingeholt, diese und weitere auftauchende Werke aus der »Entarteten Kunst« zum Zweck der Rückführung an ihre Herkunftsmuseen zu beschlagnahmen. Ebd., S. 227 ff; Maike Steinkamp, Das unerwünschte Erbe. Die Rezeption »entarteter« Kunst in Kunstkritik, Ausstellungen und Museen der SBZ und frühen DDR, Berlin 2008, S. 108 ff. 7 Hüneke 2005 (wie Anm. 5), S. 227 f.

8 Redslob hatte zugleich die Leitung der Kunstschule Burg Giebichenstein übernommen und fühlte sich der weiteren Aufgabe fachlich nicht gewachsen. L. E. Redslob an den Oberbürgermeister der Stadt Halle (Heinrich Mertens), 17.11. 1945, Stadtarchiv Halle (StAH), A 3. 25 Nr. 238 Bd. 1, Bl. 4. Für das Direktorenamt wollte man Ludwig Grote, Herbert Kunze oder den ehemaligen Direktor Alois Schardt gewinnen, alle Versuche schlugen aber fehl. 9 Im Zuge der Entnazifizierung wurde Neuß aus dem städtischen Dienst entlassen. Da man auf seine Befähigung nicht verzichten konnte, erhielt er einen »freien Mitarbeitervertrag«. StAH, A 2. 36 Nr. 1947 Bd. 2, o. Bl. 10 Gerd Dietrich (Hrsg.), Um die Erneuerung der deutschen Kultur. Dokumente zur Kulturpolitik 1945–1949, Berlin 1983, S. 161 f. Vorangegangen waren am 4. September der Befehl Nr. 51 der SMAD, der die Wiedereinrichtung und Tätigkeit der Kunstinstitutionen regelte sowie am 2. Oktober 1945 Befehl Nr. 85 der SMAD, der die Wiedereröffnung der Museen nach Beseitigung aller faschistischen und militaristischen Aussagen gestattete. Ebd. S. 83 ff. u. S. 91.

Werner Mayer-Günther11 organisiert, der sich, selbst Maler und Grafiker, mit eigenen Werken auf der Schau präsentierte und der für den Aufbau des Moritzburg-Museums eine wichtige Rolle spielen sollte. Obwohl Neuß kein Kunsthistoriker war, sah er die Aufgabe des Städtischen Museums darin, das Bestehende, »nämlich die Sammlung deutscher Meister des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart«, zu ergänzen und zu erweitern.12 Damit stand er in der Tradition des einstigen Sammlungsaufbaus, ohne dass er damit sehr erfolgreich war. 1946/47 wurden kaum Werke für das Museum angekauft, sicherlich aufgrund des geringen Angebotes. Ausnahmen waren etwa ein Bildnis von Fritz von Uhde, Werke von Adolf Senff und Carl Joseph Begas sowie von zeitgenössischen Künstlern, etwa Oskar Moll, Erwin Hahs und Curt Lahs. Diese Erwerbungen wurden von Seiten der Stadt als allzu zufällig erachtet und Anfang 1947 die Frage aufgeworfen, ob das Städtische Museum seine Sammlung als ein reines Kunstmuseum ausbauen oder ob es als ein stadt- bzw. heimatgeschichtliches Museum geführt werden sollte.13 Sicherlich sahen auch die Funktionäre des im Juli 1945 gebildeten Volksbildungsamtes in Halle und der DVV in Berlin keinen Fortschritt in der Museumsarbeit, denn in ihr sollten sich, in Anlehnung an das sowjetische Vorbild, besonders die Umsetzung des Bekenntnisses zur »antifaschistisch-demokratischen Erneuerung« der Gesellschaft und ihre Umerziehung vollziehen.14 Ob aus Unzufriedenheit oder weil Neuß neben dem Städtischen Museum auch das Händel-Haus, das Stadtarchiv, die Städtische Bibliothek und ab 1947 das Stadtgeschichtliche Museum leitete, also zahlreiche Ämter bekleidete, wurde mit dem 1. April 1947 die Leitung des Museums und des Händel-Hauses der Kunsthistorikerin Dorothea Haupt (Tochter des Kunsthistorikers Wilhelm Waetzoldt) übertragen.15 Nach ihrem Weggang Ende Juli desselben Jahres wurde die Stelle mit dem Kunsthistoriker Gerhard Händler besetzt, der Ausstellungen in der 1947 neu gegründeten privaten Galerie Eduard Henning organisiert hatte.16 Sein Ziel war es, das Museum mit seiner eigenen Sammlung zu eröffnen. Dabei lag ihm besonders daran, in Rückbesinnung auf die Leistungen Max Sauerlandts und Alois Schardts, die durch die Beschlagnahme-Aktion »Entartete Kunst« gerissenen Lücken zu schließen, die Rehabilitierung der Moderne, besonders des Expressionismus zu betreiben und den jüngsten Entwicklungen in der bildenden Kunst – der erneut einsetzenden Ablehnung zum Trotz – ein öffentliches Forum zu bieten. Um dieses Ziel zu erreichen, nutzte er seine Kontakte zu zahlreichen Künstlern (Erich Heckel, Josef Hegenbarth, Otto Niemeyer-Holstein, Emil Nolde, Max Pechstein, Sowjetische Besatzungszone Halle

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11 Der 1914 geborene Künstler kehrte Ende Juni 1945 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück und ließ sich in Halle nieder, wo er im August 1945 vom damaligen Ministerialdirektor des Volksbildungsamtes Otto Halle entdeckt und für dieses Amt geworben worden war. Handschriftlicher Lebenslauf, Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Magdeburg (LHASA, MD), Rep. K 3, Personalakten, Nr. M 53, Bl. 6.

12 Protokoll der Sitzung des Städtischen Beirates für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung, 31. Januar 1947, StAH, A 2. 36 Nr. 1978 Bd. 1, o. Bl. Während dieser Zeit wurden in der Stadt die schon während des NS formulierten Ideen, ein Georg Friedrich Händel-Museum und ein Stadtgeschichtliches Museum zu gründen, umgesetzt. Beide wurden ab 1946/47 auch von Erich Neuß geleitet. Vgl. Schreiben Walter Schmidt (Volksbildungsamt) an die Städtische Museumsverwaltung, 10. Oktober 1947, StAH, A 2. 36 Nr. 1947 Bd. 2. o. Bl. Aus diesem Grund kam es in der Folge zur Herauslösung einiger Sammlungsbestände aus dem Städtischen Museum, etwa die Sammlung der »Händeliana« sowie die »Hallensia«, die teilweise auch an das Stadtarchiv abgegeben worden waren. ASM, 321-4/6, Bl. 449 f. 13 Vgl. Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung am 31. Januar 1947, StAH, A 2. 36 Nr. 1978 Bd. 1, o. Bl.

14 Jan Scheunemann, »Gegenwartsbezogenheit und Parteinahme für den Sozialismus«. Geschichtspolitik und regionale Museumsarbeit in der SBZ/DDR 1945–1971, Berlin 2009, S. 39.

15 Sie war bereits ab Februar 1946 Assistentin am Museum. Rita Gründig und Ulf Dräger, Kunsthandwerk und Design. Zur Geschichte der Sammlung, (Bestandskatalog der Staatlichen Galerie Moritzburg, Bd. 1), Halle 1997, S. 69. 16 Händler hatte 1933 im Fach Kunstgeschichte in Halle promoviert und kannte das Museum und seine Sammlung bereits seit seiner Studienzeit. Ab 1933 leitete er als Nachfolger Ludwig Grotes die Anhaltische Gemäldegalerie in Dessau und übte zugleich die Geschäfte des Landeskonservators aus. 1943 eingezogen, geriet er im April 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach der Rückkehr ließ er sich im Juli 1946 in Halle nieder. StAH, PA 31/287, (Personalakte G. Händler).

Erich Fraaß) sowie zu Sammlern der modernen Kunst (Hermann Klumpp, Bernhard Koehler, ehemals Sammlung Arnold Budczies) und besuchte vor allem in Berlin die jungen Galerien, so die Kleine Galerie Walter Schüler, Galerie Franz oder Galerie Gerd Rosen. Er erwarb aus diesen Quellen Werke von Hermann Blumenthal, Karl Hofer, Erich Heckel, Alexej von Jawlensky, Rudolf Levy, Oskar Moll, Max Pechstein, Hans Purrmann, Christian Rohlfs, Karl Schmidt-Rottluff, Georg Schrimpf. Die jüngeren Strömungen waren vertreten durch Werke von Ernst Wilhelm Nay, Werner Gilles, Horst Strempel, Paul Strecker, Ludwig Peter Kowalsky. Auch von hallischen Künstlern, die teils an der Burg Giebichenstein lehrten, kaufte er Werke, etwa von Charles Crodel, Erwin Hahs, Gustav Weidanz, Waldemar Grzimek, Gerhard Marcks und Curt Lahs. Händler knüpfte Kontakte zum Kunsthändler Ferdinand Möller, der noch Werke aus den »Verwertungsbeständen« der »Entarteten Kunst« besaß. Dieser war nicht abgeneigt, beim Neuaufbau des Museums zu helfen, und so wurde zunächst ein Kaufvertrag über sechs Werke abgeschlossen, der später, aufgrund der hohen Kaufsumme, in einen Leihvertrag umgeschrieben wurde. So kehrten Schmidt-Rottluffs Mosaik Legende (1925), Feiningers Der Dom in Halle (1931) und Heckels Beim Friseur (1913) nach Halle zurück und Kirchners Akte im Strandwald (1913; ehemals Museum Mönchengladbach) gelangte ins Museum. Statt der im Kaufvertrag ebenfalls genannten Gemälde Sich kämmender Akt von Kirchner und Frühling in Flandern von Heckel gab Möller Kirchners Atelierecke (1919/20; ehemals Nationalgalerie Berlin) und Heckels Der Pflüger (1923; ehemals Kaiser Friedrich-Museum Magdeburg) nach Halle. Gerade bei kostspieligeren Erwerbungen in den Westzonen – das Geld war aufgrund der bevorstehenden Währungsreformen äußerst knapp – konnte sich Händler der Unterstützung durch Regierungsrat Mayer-Günther sicher sein, der seine Kontakte zu den liberalen Kreisen der Landesregierung zu nutzen wusste und erreichte, dass viele Kunstwerke vom Ministerium für Volksbildung, Kunst und Wissenschaften erworben und als Leihgaben dem Museum übergeben wurden.17 Neben Erwerbungen konnte Händler Leihgaben aus Privatbesitz18 und von einigen Künstlern19 an das Haus bringen. So war das Triptychon Der Krieg (1929–32) von Otto Dix bereits im April 1947 zunächst als Leihgabe des Künstlers, später als Leihgabe der Galerie Neue Meister, Dresden, an das Museum gelangt und dort auch bis 1949 ausgestellt worden.20 198

17 Vertrag zwischen der Landesregierung Sachsen-Anhalt, Minister für Volksbildung, Kunst und Wissenschaft und dem Rat der Landeshauptstadt Halle und dem Direktor des Moritzburg-Museums, 11.10. 1948, LHASA, MD, Rep. K MVb Nr. 45, Bl. 381ff. 18 Aus der ehemaligen Sammlung Arnold Budczies, von Ferdinand Möller, Berlin, und Felix Weise, Halle. 19 Leihgaben von: C. Lahs, E. Hahs, A. Camaro, E. Bargheer, J. Hegenbarth, M. Hauschild und M. Kaus. 20 Hüneke 2005 (wie Anm. 5), S. 229 f.

Blick in einen Ausstellungsraum nach der Wiedereröffnung 1948 mit Werken von Feininger, Schmidt-Rottluff, Pechstein und Marcks Blick in einen Ausstellungsraum nach der Wiedereröffnung 1948 mit Werken von Modersohn-Becker, Lehmbruck, Mueller, Kirchner

Sowjetische Besatzungszone Halle

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Das Museum wurde mit zahlreichen positiven Resonanzen am 7. Oktober 1948 eröffnet; immerhin war es in der Ostzone eines der ersten Museen, das sich mit eigenem Bestand (ohne Kunsthandwerk) präsentierte. Dabei waren auch Werke des Klassizismus, der Romantik, des Naturalismus/Realismus und des Impressionismus präsent, der Schwerpunkt lag aber eindeutig auf Werken der Moderne.21 Das barg besonderes Konfliktpotential, und so ließen die Gegenstimmen und der kulturpolitische Gegenwind nicht lange auf sich warten. Händler brachte zur Eröffnung ein kleines Heft heraus, in dem er auf die erfolgreichste und freieste Zeit des Museums verwies und sein Museumskonzept darlegte: »Der Wiederaufbau wurde von dem Gedanken getragen, die dem Museum zugefügten Schädigungen soweit als möglich wettzumachen und darüber hinaus Wege zur Zukunft anzudeuten.« Sauerlandt zitierend fuhr er fort: »Das hallische Museum kann sein Eigenrecht, seine Existenz unter den großen deutschen Galerien wirklich am besten, ja eigentlich nur dann behaupten, wenn es auch fernerhin planvoll als Galerie der lebendigen Kunst ausgebaut wird.«22 Dieses Zitat war zum einen an die Kritiker gerichtet, die im Rahmen der auf ihren ersten Höhepunkt zusteuernden Formalismusdebatte die Werke des historischen Expressionismus und der Abstraktion genauso ablehnten wie die neuesten modernen Tendenzen. Zum anderen stand dieser Satz gegen den Plan einer Museumsreform, der von Seiten der DVV für die sowjetische Besatzungszone, im Besonderen für das Land Sachsen-Anhalt, ab Anfang 1948 gefordert und erarbeitet worden war. Deren Ziel war die Lösung der strukturellen Probleme im Museumsbereich und im Umgang mit dem »herrenlosen« Kunst- und Kulturgut aus der Bodenreform, Verbesserung der desolaten finanziellen Situation und Einstimmung der Bevölkerung auf die anstehenden Reformen (Bodenund Schulreform, Zweijahrplan etc.) durch agitatorische Ausstellungen, um letztlich die »demokratische Umerziehung des Volkes« zu beginnen.23 An diesem Plan und seiner Umsetzung war Heinz Arno Knorr maßgeblich beteiligt, der seit April 1948 das Museumsreferat des neu gebildeten Landesamts für Naturschutz und Kulturpflege innerhalb des Volksbildungministeriums SachsenAnhalts leitete und weitreichende Vorschläge zur Umgestaltung der Museumslandschaft erarbeitete. 24 Händler waren die Pläne seit etwa Frühjahr 1948 bekannt.25 Er hatte sich diesen nicht beugen wollen und eigene Ziele verfolgt, ohne auf die kulturpolitischen Forderungen seitens der DVV einzugehen. Die Folge war die Mißbilligung des eröffneten 200

21 H. S., »Die Eröffnung des Moritzburgmuseums. Ein künstlerisches Ereignis von überzonaler Bedeutung«, in: Freiheit, 8. Oktober 1948; Heinz Lüdecke, »Halle wird wieder Kunststadt«, in: Berliner Zeitung, 8. Oktober 1948.

22 Gerhard Händler, Das Moritzburgmuseum in Halle/S., Halle 1948, o. S.

23 Dieser »Museumsplan für die Jahre 1949/50« war auf der Arbeitstagung der DVV mit Museumsreferenten und -pflegern am 3. August 1948 in Berlin beschlossen worden. Scheunemann 2009 (wie Anm. 15), S.100 f. 24 Knorr, 1909 in Kiel geboren, hatte in Berlin und Prag studiert und 1936 mit einer Arbeit zur slawischen Keramik promoviert. Ab April 1940 war er Assistent im Landesamt für Vor- und Frühgeschichte der Provinz Mark Brandenburg, wurde aber bereits im August 1940 zur Wehrmacht eingezogen. Nach kurzer Kriegsgefangenschaft wurde er Ende 1945 als Assistent des Landeskonservators in Halle eingestellt. Ebd., S. 93 f. 25 Gerhard Strauß, »Hallenser Museumsstreit«, in: Bildende Kunst. Zeitschrift für Malerei, Graphik, Plastik und Architektur, 3, 5, Mai 1949, S. 149–151.

Schema der Landesgalerie, um 1950

Sowjetische Besatzungszone Halle

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Museums durch sowjetische und deutsche Kulturfunktionäre,26 durch Teile der Presse in der SBZ und schließlich durch Gerhard Strauß (DVV), der es im Januar 1949 einer Prüfung unterzog. Dabei konfiszierte er die von Händler herausgegebene Schrift Das Moritzburgmuseum in Halle/S.27 und beschlagnahmte die von Möller zur Verfügung gestellten Kunstwerke. Kritik wurde am Aufbau der Ausstellung und an der Werkauswahl geübt, die zu subjektiv seien und nur ästhetischen Gesichtspunkten folgten. Das Fehlen neuer progressiver bzw. »realistischer« Tendenzen, etwa von Hans Baluschek, Hans Grundig, Otto Nagel oder Oskar Nerlinger, wurde gerügt. Es sei ein »Klassenmuseum«, besonders das Fehlen gesellschaftspolitischer Gesichtspunkte wurde negativ beurteilt.28 Strauß forderte mit einer Frist von 14 Tagen ein Konzept für eine Umgestaltung, der sich Händler aus Angst vor Verhaftung durch Flucht entzog.29 Aber bereits seit Dezember 1948 – wieviel Händler davon wusste oder ahnte, ist unklar – war die Umsetzung der Museumsreform im Gange, die Bildung einer »Landesgalerie« mit Standort Halle beschlossen und die finanziellen Weichen dazu gestellt.30 Nur kurzzeitig übernahm Neuß erneut die Museumsgeschäfte, bis Hans Kahns Ende 1949 neuer Direktor wurde. 1950 wurde das Städtische Museum in die neu gebildete Landesgalerie Sachsen-Anhalt integriert, in der auch die staatlichen Museumsbestände (etwa aus der Galerie Mosigkau) sowie Bestände aus der Bodenreform, aber auch Liegenschaften (Burg Saaleck, Schloß und Parkanlagen von Wörlitz, die Neuenburg in Freyburg, Burg Falkenstein, sowie das als »Feudalmuseum« ausgebaute Schloss Wernigerode) zusammengeführt wurden, um »mit dem gleichen Kostenaufwand einen größeren Nutzeneffekt zu erzielen«.31 Die Leitung dieses neuen Gebildes übernahm Heinz Arno Knorr, der hierfür den Begriff »Museumskombinat« prägte. Aufgrund des Zuwachses besonders aus den Beständen der Bodenreform wurden im selben Jahr an der Moritzburg das Grafische Kabinett sowie das Landesmünzkabinett Sachsen-Anhalt gegründet. Allerdings blieb die Landesgalerie Sachsen-Anhalt nur zwei Jahre bestehen – im Zuge der Verwaltungsreform wurde sie 1952 aufgelöst, und das Moritzburgmuseum wurde in die Staatliche Galerie Moritzburg Halle umgewandelt. Die spezialisierten Sammlungsbereiche bestehen, obwohl es einige Namensänderungen und Wechsel der Trägerschaften gab, bis heute.

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26 Auch Max Grabowski, Referent für Bildende Kunst in der Kulturabteilung des ZK äußerte, dass das Museum in dieser Form nicht mehr zu verantworten sei. Das Verhältnis von expressionistischen, surrealistischen, abstrakten und ähnlich formalistischen Kunstrichtungen zu realistischen Künstlern sei geradezu absurd und diese Art der Museumsgestaltung müsse »sofort beseitigt« werden. Zit. n. Scheunemann 2009 (wie Anm. 15), S. 142. 27 Grund der Konfiszierung war die Haltung Emil Noldes, von dessen Abendmahl ein Ausschnitt reproduziert worden war, zum Hitler-Regime.

28 Gerhard Strauß an Ministerialdirektor Einicke, 25. Januar 1949 (Abschrift), ASM, (Leihgaben an die Moritzburg von der Landesregierung), o. Bl. 29 Siehe Hüneke 2005 (wie Anm. 5), S. 272 f., Steinkamp 2008 (wie Anm. 6), S. 216 ff. Händler wurde 1954 Direktor des Lehmbruck-Museums in Duisburg.

30 Schreiben aus dem Volksbildungsministerium an Ministerialdirektor Einecke, 13.12. 1948, LHASA, MD, K 10, Nr. 45, Bl. 140.

31 »Begründung der Umwandlung des Moritzburg-Museums in eine Landesgalerie« (Ministerium für Volksbildung), ASM, (Leihgaben an die Moritzburg von der Landesregierung), o. Bl.

Sammlungsaufbau und Moderne im Museum der bildenden Künste Leipzig 1945–1955 Frédéric Bußmann Leipzig ist keine Stadt der Moderne. Bis heute ist sie im Museum der bildenden Künste nur schwach vertreten, nicht vergleichbar mit anderen wichtigen Museen der ehemaligen DDR in Halle, Dresden oder Berlin. Dennoch gab es nach 1945 auch in Leipzig zögerliche Ansätze, eine Abteilung moderner Kunst wieder aufzubauen, bevor das Museum nach Gründung der DDR – neben der Pflege des ›nationalen Erbes‹ und der lokalen Traditionen – stärker einem sozialistischen Kunstideal verpflichtet werden sollte. Bei Luftangriffen wurde der 1858 errichtete Bau des Museums am 4. Dezember 1943 und am 27. Februar 1945 schwer getroffen. Das Museum erlitt einen Totalschaden. Aus dem Sammlungsbestand gingen einige Plastiken und Gemälde, kleinere Bestände des Graphischen Kabinetts und ein Teil der Bibliothek des Kunstvereins verloren. Da, anders als etwa in der britischen Zone, die Wiedereröffnung von Museen eine wichtige Forderung der sowjetischen Besatzungsmacht gewesen war, sollte auch das Leipziger Museum nach dem Krieg bald wieder in Betrieb genommen werden.1 Ende 1946 erhielt das Museum Räume in der ehemaligen Reichsbank, bevor es ab 1952 (bis 1997) im ehemaligen Reichsgerichtsgebäude untergebracht wurde. Der Umzug ins Reichsgericht war in erster Linie aus Raumnot erfolgt, hatte jedoch für das Museum auch politische Konsequenzen. Mit dem Verlust seines imposanten Neorenaissance-Baus am Augustusplatz hatte das Museum seine ideelle Präsenz in der Stadt eingebüßt. Dominierend für die öffentliche Wahrnehmung des Reichsgerichts wurde das ebenfalls ab 1952 dort in Erinnerung an den Reichstagsbrandprozess von 1933 eingerichtete Georgi-Dimitroff-Museum. Der Bestand um 1945 Nachdem die Stadt am 19. April 1945 an die US-Amerikaner übergeben worden war, galt es zunächst, die seit 1942 an 17 verschiedenen Stätten ausgelagerten Kunstwerke wieder zusammenzuführen. Genaue Kriegsverluste zu ermitteln ist schwierig, da es bereits während des Krieges zu Plünderungen kam und danach Sowjetische Besatzungszone Leipzig

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1 Nach der Übernahme der Verwaltungshoheit hatte die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) die »Wiedererrichtung und Tätigkeit der Kunstinstitutionen« bzw. die »Wiederingangsetzung der Museen […] für die Volksbildung« angeordnet. Befehle Nr. 51 der SMAD vom 25.9. 1945, Nr. 85 vom 2.10. 1945 und Nr. 177 vom 18. 6. 1946; Abschriften und Anweisungen von der Deutschen Zentralverwaltung in der sowjetischen Besatzungszone und des sächsischen Landesmuseumspflegers im Museum der bildenden Künste Leipzig (MdbK), Registratur, Karton 76, Dossier SMAD; s. allgemein zur Wiederöffnung von Museen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) Ulrike Ziegler, Kulturpolitik im geteilten Deutschland, Frankfurt/M. 2006, S. 34 ff., und zur Kulturpolitik der SMAD besonders in Leipzig zuletzt Thomas Höpel, »Die Kunst dem Volke«. Städtische Kulturpolitik in Leipzig und Lyon 1945–1989, Leipzig 2011.

auch amerikanische und sowjetische Besatzungssoldaten Kunstwerke raubten. In einem Zwischenbericht vom Dezember 1945 heißt es, dass bis dahin etwa 60% des Gesamtbestandes von 1.500 Gemälden geborgen waren. Ende 1946 ging man im Bereich der Gemälde von einem endgültigen Verlust von etwa 25% aus, darin eingeschlossen waren allerdings die von der Sowjetunion »geretteten« Kunstwerke.2 Die Beschlagnahmungen von Gemälden, Grafiken, Skulpturen und Büchern durch die sowjetischen Besatzer begannen bereits Anfang Juli 1945 und dauerten bis Februar 1946 an. Dies geschah anfangs unsystematisch, teilweise nur zur Ausschmückung von Wohn- und Diensträumen, bald darauf systematisch, mit Blick auf die wichtigsten Werke vor allem alter Kunst durch die Trophäenbrigaden des Kunstkomitees.3 1958 erst gab die Sowjetunion einen Großteil an die Stadt Leipzig zurück, darunter Meisterwerke des Museums von Frans Hals, Paul Delaroche oder Edvard Munch.4 Die wichtigsten Zugänge zum Bestand wiederum erhielt das Museum durch die in der Bodenreform und danach beschlagnahmten Kunstgegenstände. Unter den durch staatlichen Zugriff in dieser Zeit zugegangenen Gemälden sind vor allem diejenigen aus den Sammlungen Krug von Nidda, Graf Hohenthal und ganz zentral die aus der Sammlung Speck von Sternburg zu nennen. Die etwa 280 durch die SMAD oder die DDR-Regierung im Zeitraum 1945 bis 1956 sequestrierten und dem Museum überwiesenen Gemälde machten etwa zwei Drittel der knapp 400 Neuzugänge aus.5 Auch in qualitativer Hinsicht waren viele dieser Kunstwerke den regulären Erwerbungen überlegen, da man, wie der damalige Direktor Werner Teupser am 28.5. 1945 an das Kulturamt schrieb,6 mit der Sammlung Speck von Sternburg »die wertvollste Sammlung Mitteldeutschlands« erhalten hatte. Die Sammlung umfasste Kunstwerke etwa von Rogier van der Weyden, Rubens, Vermeer, Wilhelm von Schadow oder Caspar David Friedrich. Neben der Enteignung von adeligem Besitz erweiterten auch Kunstwerke aus dem Bestand von verstaatlichten Gesellschaften wie der Deutschen Gesellschaft oder den Thüringer Gaswerken die Sammlung. In den Bestand integriert oder als sogenanntes Verwahrgut aufgenommen wurde auch der beschlagnahmte Besitz von »herrenlosem Gut«, wie es hieß, also von Personen, die in den Westen gezogen oder straffällig geworden waren. Dazu zählen zum Beispiel Kunstwerke aus der Sammlung Kummerlé, 204

2 StArL, StVuR(1), Nr. 8698, Bl. 53, Auflistung der Bestände des Museums und Wertschätzungen vom 14.12. 1945; s. auch MdbK, Reg., Karton 74 und 75. Im Jahresbericht vom 18.12. 1946 wird ein »Verlust an den Auslagerungsorten und durch Abgaben an die SMA etwa 25% des Gesamtbestandes« festgestellt (ebd., Karton 72, Arbeitspläne 1946–1948, unp.). 2006 ging das MdbK von 183 im Krieg verschollenen Gemälden aus, darunter aber etwa 70 geplünderten Werken, die bis heute nicht aufgefunden wurden. 3 Siehe zu Frage der Beutekunst im MdbK Leipzig Dietulf Sander, »Beutekunst aus dem Museum der bildenden Künste Leipzig – beschlagnahmt, zurückgegeben, verschollen, versteigert«, in: Schattengalerie – Symposium zur Beutekunst. Forschung, Recht und Praxis, hrsg. von Heinrich Becker, Aachen 2009, S. 100–108. 4 Ein Jahr später erinnerte eine Ausstellung mit 110 Gemälden und 5 Plastiken an diese »großherzige Tat«, wie es im Katalogvorwort des Oberbürgermeisters Erich Uhlich zum Dank für die »von sowjetischen Restauratoren und Kunstwissenschaftlern liebevolle und sachverständige« Betreuung hieß (Meisterwerke im Museum der bildenden Künste zu Leipzig, übergeben von der Sowjetunion, Ausst.-Kat. Museum der bildenden Künste, Leipzig 1959, S. 3). Die offizielle ›Argumentation‹ der SED zur Frage der »Beutekunst« wurde am 29.1. 1975 vom damaligen Direktor Gerhard Winkler in einem Schreiben an den Abteilungsleiter Roth in der SED Bezirksleitung wie folgt formuliert: »Die Sowjetunion […] hat getreu dem Wesen der Arbeiterklasse gehandelt, Schätze in deutschen Museen nicht als Gegenstand der eigenen Bereicherung angesehen, auch nicht als Wiedergutmachung, sondern trat als Hüter der Weltkultur in Erscheinung.« (MdbK, Reg., Karton 76, Dossier SMAD, unp.) Diese politisch motivierte Einschätzung wird von der Forschung nicht geteilt, die Beschlagnahmungen werden als eine Art verdeckter Kriegsentschädigung gewertet (siehe zum völkerrechtlichen Hintergrund etwa Hannes Hartung, Kunstraub in Krieg und Verfolgung: die Restitution der Beute- und Raubkunst im Kollisions- und Völkerrecht, Berlin 2005, S. 49–53). 5 Das Gemäldeinventarbuch des Museums führt im Zeitraum 1946 bis 1956 377 Gemälde auf, ohne 18 als Gemälde inventarisierte Grafiken; ein Großteil kommt aus der Bodenreform oder wurde aus anderen Gründen von staatlichen Stellen übereignet (281 Gemälde, 74%), ein sehr kleiner Teil ist aus dem Verwahrbestand übernommen worden (4 Gemälde, 1%) oder wurde eingetauscht (6 Gemälde, 2%), die 44 käuflichen Erwerbungen machen etwa 12% und die 42 Schenkungen 11% aus. Unter den 44 erworbenen Gemälden können grob 5 den Alten Meistern (9%), 23 Werke dem 19. (52%) und 17 dem 20. Jahrhundert (40%) zugerechnet werden. 6 MdbK, Reg., Karton 75, Dossier Sichergestellte Kunstwerke (Bodenreform) – Suchaktion Zeitraum 1943–1964, Bl. 1.

die sich zum Teil aus den im Krieg erpressten jüdischen Sammlungen wie der des Händlers Jacques Goudstikker speiste. Erwerbungen von Gemälden des 20. Jahrhunderts nach 1945 Eigenständige Erwerbungen von Gemälden und Grafiken sind aufgrund mangelnder Infrastruktur und der Prioritätensetzung auf die Rückführung der Bestände erst ab 1946 zu verzeichnen. Die 44 bis 1956 erfolgten Ankäufe machen weniger als ein Achtel des Gesamtzuwachses in dieser Zeit aus. Während die Vertiefung der historischen Sammlungsschwerpunkte und der Erwerb von Werken Leipziger und sächsischer Künstler über den gesamten Zeitraum von großer Bedeutung ist – hier ist zum Beispiel das Venezianische Stilleben (1946) von Ernst Hassebrauk als erste Gemäldeerwerbung nach 1945 im Bereich der lokalen Moderne zu nennen –, kann im Bereich des 20. Jahrhunderts anhand der Archivalien eine Verschiebung der Erwerbungsbemühungen von der Rehabilitation der verfemten Moderne und besonders des Expressionismus hin zu einer sozialistischen Gegenwartskunst beobachtet werden. Diese Entwicklung spiegelt auch die Verschärfung der ideologischen Auseinandersetzungen über die sogenannte »formalistische« Kunst ab etwa 1948 wider. Anfangs stand die moderne Kunst nach dem Krieg ganz oben auf der Prioritätenliste der zu erwerbenden Werke des im November 1945 neu eingesetzten Direktors Johannes Jahn, da man die durch den Nationalsozialismus gerissenen Lücken wieder schließen wollte. Angesichts der konservativen Erwerbungspolitik vor 1933 mag dies verwundern, denn anders als der Kunstverein hatte sich das Museum in der Vorkriegszeit nicht übermäßig stark für die Moderne eingesetzt. Es fehlte unter anderem eine engagierte Direktorenpersönlichkeit wie etwa Max Sauerlandt in Halle. Im Zuge der Entfernung sogenannter »entarteter« Kunst, der das Museum ohne größeren Widerstand Folge leistete, ging dann ein Großteil seines bescheidenen Modernebestandes mit 18 Gemälden, 51 Aquarellen und 283 Druckgrafiken verloren.7 Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte das Museum, die verfemte und verlorene Moderne wieder über Ausstellungen wie Befreite Kunst 1946 und entsprechende Ankäufe wenigstens in Teilen zu rehabilitieren. Dabei standen antifaschistische, expressionistische und veristische Ansätze der modernen Figuration im Vordergrund der Bemühungen. »Es fehlt ja noch ganz ein Kabinett junger Kunst«, begründete das Museum die Priorität bei den Neuerwerbungen in einer Notiz für den Stadtrat im NovemSowjetische Besatzungszone Leipzig

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7 S. MdbK, Reg., Karton 71, Dossier Entartete und belanglose Kunst 1937; s. a. mit einer Auflistung der geraubten Arbeiten Karl-Heinz Mehnert, »Die entartete Aktion«, in: Karl Hofer. Tischgesellschaft (Patrimonia, 40), bearb. von Dieter Gleisberg, Leipzig 1992, S. 17– 27, 55–72. Erst nach dem Mauerfall konnten aus dem ursprünglichen Bestand Kokoschkas Genfer Seelandschaft (1923), Otto Muellers Liebespaar (1919) und Karl Hofers Tischgesellschaft (1923/24) über den Kunsthandel zurückgekauft werden.

Blick auf das zerstörte Museum der Bildenden Künste und die Universität am Augustusplatz, 1944

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ber 1946, »die Nazis haben uns die Modernen als entartet weggenommen«.8 Neben praktischen Erwägungen war es dabei aber bis zur Währungsreform nicht von großer Bedeutung, ob die Künstler aus dem Osten oder dem Westen kamen. Künstler aus dem Umkreis des Bauhauses oder abstrakte Werke wurden nicht übermäßig beachtet; hier sind Museen in Ost und West in der unmittelbaren Nachkriegszeit, mit Ausnahmen wie Halle oder Mannheim, vergleichbar. Bis Ende der 1940er Jahre unternahm das Museum verschiedene Anstrengungen, Werke vor allem des Expressionismus aus dem Umkreis der Brücke zu kaufen. Zu den Bemühungen um die expressionistische Kunst zählen zum Beispiel die Versuche, Aquarelle von Otto Mueller und August Macke sowie ein Gemälde von Karl Hofer im Leipziger Museum mit Hilfe des Galeristen Lothar Hempe in Weimar zu erwerben. Doch anders als im Bereich der Graphischen Sammlung, wo seit 1946 Arbeiten von Barlach, Beckmann, Dix, Feininger, Felixmüller, Grosz, Grundig, Heckel, Hofer, Kanoldt, Kollwitz, Nolde, Pechstein, Rohlfs, Schmidt-Rottluff und später sogar Cézanne, Picasso und Léger angekauft werden konnten,9 scheiterten viele Gemäldeankäufe in dieser Frühphase vor allem aufgrund der schlechten finanziellen Ausstattung des Museums.10 Um den Ankaufsetat zu stärken, entwickelte die Museumsdirektion die Idee, Reproduktionen von modernen Grafiken wie etwa Noldes Mohn und Iris (1930) oder Heckels Kornblumen (1926) als hochwertige Kunstdrucke zu vermarkten. So wandte sich die Kustodin Margarete Hartig Ende 1946 an Emil Nolde und begründete die Bitte um Reproduktionserlaubnis folgendermaßen: »Das in unserem Museum von Ihnen befindliche Bild Verspottung Christi ist leider als entartete Kunst von den Nazikommissionen entfernt worden. Wir hoffen, für dieses verloren gegangene Werk in absehbarer Zeit wieder einen Ersatz erwerben zu können und warten dafür auf eine Gelegenheit, denn wir möchten selbstverständlich die moderne deutsche Kunst wieder in unserem Museum vertreten haben.«11 Anders als der 1947 ebenfalls angeschriebene Heckel lehnte Nolde eine solche Reproduktionsgenehmigung aus qualitativen Erwägungen ab. Die ab 1948 verstärkt einsetzende Formalismusdebatte führte auch bei den Ankäufen des Museums zu einer deutlichen Abnahme der anfangs intensiven Ankaufbemühungen um den Expressionismus. So ist unter den Erwerbungen bis 1955 der Anteil expressionistischer Gemälde, aber auch anderer Strömungen Sowjetische Besatzungszone Leipzig

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8 StArL, StVuR(1), Nr. 8698, Bl. 270, Johannes Jahn und Margarete Hartig, Mitteilung an das Volksbildungsamt, Stadtrat Lang vom 9.11. 1946.

9 Der Monatsbericht vom 4.3. 1948 nennt als Erwerbungen etwa »seltene Lithographien von Käthe Kollwitz, Radierung von Max Liebermann […], Hans Theo RichterMappe, Picasso-Mappe, Cézanne-Mappe« (MdbK, Reg., Karton 72, unp.). 10 Entsprechend beschwerte sich Direktor Jahn im November 1946 bei seinem Vorgesetzten, dem Stadtrat Lang, über den »lächerlich kleinen Etat für Ausstellungen und Ankauf« (StArL, StVuR(1), Nr. 8698, Bl. 270). Nach Währungsreform und Gründung der DDR standen dem Museum 1950 10.000 Mark und 1951 14.000 Mark für Erwerbungen insgesamt zur Verfügung. Zum Vergleich: für Hans Grundigs Tafel Chaos hatte man 1949 6.000 Mark ausgegeben, für Böckstiegels Lehmgrubenarbeiter ein Jahr später 3.000 Mark. Der Ankaufsetat war also in der Tat sehr niedrig.

11 MdbK, Reg., Karton 76, Dossier Briefwechsel 1944–1947, Brief von Margarete Hartig an Emil Nolde vom 24.9. 1946.

der Moderne, verschwindend gering. Neben Arbeiten von Künstlern an der Schwelle zur Moderne wie etwa Otto Modersohn oder ein im Tausch erworbenes französisch inspiriertes Stilleben (1942) von Oskar Moll sind unter den Ankäufen expressionistische Werke wie die Pinselzeichnung Sonnenrose (1934) von Christian Rohlfs, ein Hafenbild (1927) von Frans Masereel und eine Arbeiterdarstellung Peter August Böckstiegels zu nennen. Seine Lehmgrubenarbeiter (1913) wurden anlässlich der aus Dresden und Chemnitz übernommenen Böckstiegel-Ausstellung gekauft, die nach einer Erich Heckel gewidmeten Schau als zweite Präsentation expressionistischer Werke im Leipziger Museum 1950 gezeigt wurde. Damit traten die Bemühungen des Museums um diese Form der modernen Kunst wegen des politischen Drucks zunehmend in den Hintergrund – öffentliche und vom Direktor parierte Angriffe auf Böckstiegel ob seiner angeblichen »Verhöhnung der Gegenwartskunst« in der Leipziger Volkszeitung anlässlich der Leipziger Ausstellung Kunst als Spiegel des Lebens 1952 können stellvertretend für den verschärften Tonfall in den gelenkten Kunstdebatten verstanden werden. Neben dem Expressionismus galt unter dem Eindruck des sich wandelnden politischen Klimas das Interesse des Hauses auch der »proletarisch-revolutionären« Kunst, besonders der Assoziation Revolutionärer Bildender Künstler (ASSO) in Leipzig und Dresden mit Künstlern wie Alfred Frank, Kurt Magritz, Hans und Lea Grundig, Otto Griebel, Wilhelm Lachnitt und Theo Balden. Herausragendes Zeugnis dieser Zeit ist Hans Grundigs erste Fassung der Opfer des Faschismus von 1946, das 1949 auf der zweiten Deutschen Kunstausstellung in Dresden gezeigt wurde. 1949 war eine Delegation unter dem Vorsitz des damaligen Leipziger Oberbürgermeisters Max Opitz nach Dresden gefahren, um Werke aus dieser Ausstellung für die städtische Kunstsammlung auszuwählen. Man entschloss sich für den Erwerb von Grundigs Opfer der Faschismus und seiner Tafel Chaos des Triptychons Das Tausendjährige Reich (1938), heute in Dresden, für Walter Münzes Bildnis Alfred Frank (1949), für Kurt Magritz’ Spanische Vision (1949), für Grafiken von Lea Grundig und des in Leipzig lehrenden Spätimpressionisten Max Schwimmer.12 Da sich Hans Grundig und Max Opitz aus gemeinsamer Zeit im KZ Sachsenhausen gut kannten, schenkte Grundig schließlich das Gemälde Opfer des Faschismus in mahnender Erinnerung an gemeinsames Leid der Stadt Leipzig. Max Opitz hatte Anfang der 1950er Jahre das gesamte Triptychon Das Tausendjährige Reich von Grundig erstehen wollen, doch nach 208

12 S. zu den Ankäufen in Dresden 1949 MdbK, Reg., Karton 71, Dossier Ankäufe, Stiftungen, Vermächtnisse I, 1918–1960, Bl. 171 und StArL, StUvR(1), Nr. 8704, Bl. 86ff. Das Museum hatte 1949 anlässlich der Ausstellung in Dresden auch erwogen, figurative Kunstwerke aus den westlichen Zonen anzukaufen, etwa eine Plastik und Holzschnitte von Otto Pankok, eine Plastik von Alfred Lörcher, Holzschnitte von Walter Wörn und Lithografien von Otto Hermann (s. ebd., Bl. 89 ff.). Angekauft wurde schließlich nur die Antikriegsserie Stalingrad von Otto Hermann.

seinem Weggang aus Leipzig 1951 fand dieses Vorhaben nicht mehr genügend Rückhalt in der Stadt. Die Tafel Chaos ging 1956 zur Vervollständigung des Triptychons zurück nach Dresden. Denn nicht nur die abstrakt oder expressionistisch arbeitenden Künstler, sondern auch sozialkritische Realisten wie Kollwitz, Barlach oder ASSO-Künstler wie Grundig fielen zumindest zeitweilig unter das Verdikt des Formalismus und des Geschichtspessimismus. Sie wurden durch die klassenkämpferische Kulturideologie des sozialistischen Realismus zunehmend isoliert, die offen auf dem ersten Kulturtag der SED im Mai 1948 diskutiert und auf der 5. Tagung des ZK der SED 1951 offiziell verkündet wurde.13 Gemälde wie Opfer des Faschismus (1946) entsprachen in ihrer Rückwärtswendung und mahnenden Erinnerung nicht mehr den gesellschaftspolitischen Erfordernissen einer »optimistischen« und »fortschrittlichen« Kunst. Um die »Bildungsprivilegien der Ausbeuterklassen« zu beseitigen, wie der damalige Direktor Gerhard Winkler noch 1979 schrieb,14 stand nach Gründung der DDR nicht nur die Heranführung der Laien und Massen an die Kunst im Vordergrund der Bemühungen des Museums, auch das Ausstellungsprogramm und die Erwerbungen sollten der neuen gesellschaftspolitischen Situation Rechnung tragen. Die SED griff über die Steuerung von Verwaltungsprozessen und die Vergabe von Haushaltsmitteln, ab 1951 auch über die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten und ab 1954 durch das Kulturministerium zunehmend offensiv in die inhaltliche Ausrichtung der Museumsarbeit in der DDR ein. Als richtungsweisend galten dabei unter anderem die Bezirksausstellungen, die von der Gewerkschaft 17 bzw. dann vom Verband Bildender Künstler organisiert wurden, und die Dresdener Kunstausstellungen. Die geplanten Einkäufe auf der »stalinistischsten aller Dresdener Kunstausstellungen« von 1953,15 etwa von Horst Schlossars Bauerndelegation bei sozialistischer Künstlerbrigade (1953), scheiterten jedoch auch an finanziellen Schwierigkeiten. Um dennoch sozialistische Kunst im Bestand des Museums vertreten zu sehen, wurden dem Museum vom Amt für Kunst und kulturelle Massenarbeit entsprechende Bilder überwiesen, wie zum Beispiel das in der Leipziger Bezirksausstellung von 1953 gezeigte Ferienlager an der Ostsee (1952) des Leipziger Hochschullehrers Karl Miersch. 1951 hatte der Leipziger Dezernent für Volksbildung Hartig die Museumsdirektion ermahnt, dass die Erwerbungen im Zeichen stehen sollten »der Überwindung einer überwiegend formalistisch betriebenen Kunst und der Hinwendung zu einem aus den Sowjetische Besatzungszone Leipzig

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13 S. Ulrike Göschen, Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus. Die Rezeption der Moderne in Kunst und Kunstwissenschaft der DDR, Berlin 2001, und auch ihren Aufsatz »Kunstmodell und Normdiktat«, in: Abschied von Ikarus. Bildwelten der DDR neu gesehen, hrsg. von Karl-Siegbert Rehberg, Wolfgang Holler und Paul Kaiser, Ausst.-Kat., Weimar, Neues Museum Weimar, Köln 2012, S. 125–131.

14 Gerhard Winkler, »Zur Geschichte des Museums«, in: Museum der bildenden Künste Leipzig, Leipzig 1979, S. 7–26, hier S. 23. Winkler war von 1968 bis 1981 Direktor des Leipziger Museums; zu seiner Nähe zu Alfred Kurella und seiner Rolle in den Kunstdiskussionen des Bitterfelder Weges siehe Eckhart Gillen, Feindliche Brüder. Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945–1990, Berlin 2009, S. 164–165.

15 Karl-Siegbert Rehberg, »Ideenzwang und Bildgleichnisse. Leipzig als Zentrum der DDR-Malerei«, in: 60 –40–20. Kunst in Leipzig seit 1949, hrsg. von Karl-Siegbert Rehberg und Hans-Werner Schmidt, Museum der bildenden Künste Leipzig und Kunsthalle der Sparkasse Leipzig, Leipzig 2009, S. 19–35, hier S. 22.

Quellen des gesunden Lebens des Volkes schöpfenden sozialistischen Realismus mit dem klaren Ziel, Kunstwerke zu erlangen, die […] die fortschrittlichen Inhalte unserer Zeit optimistisch, anregend und vorwärtstreibend sichtbar machen.«16 Der Erwerb von Bert Hellers Thomas Müntzer (1951) auf der Berliner Ausstellung Künstler schaffen für den Frieden 1953 entsprach schließlich der vorgegebenen Parteilinie, da der Genosse Heller ein fortschrittliches, weil sozialrevolutionäres historisches Thema für ein Laienpublikum zeitgemäß, allgemein anschaulich umgesetzt hatte und damit einen Schritt auf dem Weg nach Bitterfeld gegangen war. Als glücklichen Umstand könnte man die Tatsache bewerten, dass sich das Museum in den 1950er Jahren mit Erwerbungen zeitgenössischer Kunst des sozialistischen Realismus, wie sie vom genannten damaligen Hochschulrektor Kurt Massloff und dem dort lehrenden Kurt Magritz propagiert wurde, aus finanziellen und auch fachlichen Gründen insgesamt eher zurückhielt. Mit der Etablierung der sogenannten Leipziger Schule im Umkreis von Werner Tübke, Bernhard Heisig und Wolfgang Mattheuer in den 1960er Jahren bot sich dem Museum eine interessantere und dann auch sehr viel stärker ausgeschöpfte Erwerbungsoption einer Leipziger Kunst im Sozialismus.

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16 StArL, StVuR(1), Nr. 8702, Entwurf des Dezernats Volksbildung zur Beratung beim OBM für Mittel zum Erwerb von Kunstwerken, Bl. 141.

Kundgebung anlässlich der Eröffnung des Georgi-Dimitroff-Museum, 18. Juni 1952

Sowjetische Besatzungszone Leipzig

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Sonderfall Berlin

Berlin

Ein neues Kronprinzenpalais? Die Pläne für eine »Galerie des 20. Jahrhunderts« in (Ost-)Berlin und ihr Scheitern Maike Steinkamp Wie in vielen anderen deutschen Städten regte sich in Berlin bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das kulturelle Leben. Auch die Berliner Museen wollten darin wieder Fuß fassen, nachdem viele Häuser während des Krieges geschlossen und die Bestände ausgelagert worden waren. Für den gewünschten Wiederanfang berief der Berliner Senat im August 1946 Ludwig Justi (1876–1957) zum neuen Generaldirektor der (ehemals) Staatlichen Museen.1 Vor dem Krieg war er lange Jahre als Direktor der Nationalgalerie tätig gewesen, bevor er 1933 von den Nationalsozialisten aufgrund seines Engagements für die Moderne von seinem Amt enthoben worden war. Sein Lebenswerk, die moderne Abteilung der Nationalgalerie im Kronprinzenpalais, war 1937 fast vollständig der Aktion »Entartete Kunst« zum Opfer gefallen. Nach ihrem Vorbild sollte nach 1945, so der ambitionierte Plan von Justi und seinem Kollegen Adolf Jannasch (1898–1984) vom Berliner Senat, eine neue »Galerie des 20. Jahrhunderts« entstehen, die zu einem »Brennpunkt des künstlerischen Lebens« werden sollte.2 Obwohl die Sammlung aus städtischen Mitteln finanziert wurde, sollte sie sich nicht auf das städtische und regionale Kunstschaffen beschränken, sondern, wie Justi und Jannasch es in einer Denkschrift von 1947 festhielten, ähnlich wie das Kronprinzenpalais als wegweisende, nationale Kunstgalerie fungieren.3 Eine Galerie zeitgenössischer Kunst hielten Justi und Jannasch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für das am ehesten Realisierbare und museal Lohnendste. Ankäufe aus dem Bereich der alten Kunst hielten beide auf Jahre hin nicht vertretbar und vor allem für nicht finanzierbar.4 Die Preise seien, wie Justi in einem Aufsatz vom Februar 1947 schrieb, gerade für wertvolle und »in die Zukunft weisende Schöpfungen« lebender Künstler, unvergleichlich niedriger als für gute Werke vergangener Zeiten.5 Darüber hinaus hätten viele zeitgenössische Maler ihre Werke geschlossen über den Krieg retten können, wodurch die einma214

1 Vgl. 70. Magistratssitzung, 17. August 1946, in: Senat von Berlin (Hrsg.), Berlin. Quellen und Dokumente, 1. Halbband, Berlin (West) 1964, S. 446 f.

2 Vgl. [Ludwig Justi und Adolf Jannasch], »Begründung für den Plan eines Museums lebender Kunst (Museum der Gegenwart)«, Anlage des Briefes von Siegfried Nestriepke an die Alliierten-Kommandantur, 28. Februar 1947, Berlin, Landesarchiv, C Rep. 120/1217, Bl. 2.

3 Vgl. ebd.

4 Vgl. ebd.

5 Vgl. Ludwig Justi, »Aufbau der Berliner Museen«, in: Zeitschrift für Kunst, 1, 1, 1947, S. 20–36, hier S. 29.

lige Gelegenheit bestehe, »Dokumente aus der Zeit der Unterdrückung, aus den Konzentrationslagern und zu den Ereignissen der letzten Jahrzehnte sammeln zu können«.6 Doch nicht nur das aktuellste Kunstschaffen sollte unterstützt werden, gleichermaßen sollten die kunsthistorischen Lücken, welche die zwölfjährige NS-Kulturpolitik verursachte hatte, geschlossen werden. Dieser Wunsch implizierte den Erwerb von Gemälden, Grafiken und Skulpturen, die im Zuge der Aktion »Entartete Kunst« systematisch aus den Sammlungen entfernt worden waren, insbesondere Werke des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit. Gerade nachdem zwölf Jahre lang ein staatlich reglementiertes, ideologisch motiviertes Kunstverständnis vorgeherrscht hatte, sah sich Justi als Leiter der Berliner Museen in der Pflicht, dem Publikum wieder die gesamte Breite des künstlerischen Schaffens vor Augen zu führen, um die Leute wieder »sehend« zu machen, wie er es 1947 formulierte. Dabei erfüllte für ihn ein Museum der Gegenwart auch eine erzieherische Aufgabe, helfe es doch, der jungen Generation Anregungen und Vorbilder zu vermitteln, die ihnen durch die doktrinäre Kulturpolitik der Nationalsozialisten so lange vorenthalten worden waren.7 Zunächst hielt es die im April 1947 zusammengestellte Ankaufskommission für vordringlich, Werke »lebender Künstler und der jetzigen Generation« zu erwerben. Die Ergänzung der klassischen expressionistischen Malerei sollte, so hieß es im Sitzungsprotokoll vom 25. April, einer späteren Zeit vorbehalten bleiben. Ganz im Sinne dieser Zielsetzung beschloss das Gremium, dem neben Justi, Jannasch und Vertretern des Magistrats auch Karl Hofer, Karl Schmidt-Rottluff und Gustav Seitz angehörten, unter anderem den Kauf von Heinz Trökes Gemälde Tierlandschaft und Bernhard Heiligers Skulptur Liegende, beide aus dem Jahr 1946.8 Die Arbeiten von Trökes und Heiliger waren beide auf der Berliner Ausstellung Junge Generation zu sehen gewesen, die von Jannasch im Auftrag des Magistrats organisiert worden war. Dort waren sie von der Kommission ausgewählt worden. Generell boten die zahlreichen Ausstellungen, die bereits kurz nach Kriegsende in Berlin stattfanden, einen guten Überblick über das aktuelle Kunstschaffen. Doch nicht nur dort hielt die Kommission Ausschau nach potentiellen Ankäufen. Sie besuchte auch Berliner Ateliers, Privatsammlungen oder die bereits kurz nach dem Krieg eröffneten Berliner Galerien, wie Rosen, Franz oder Schüler; allesamt wichtige Foren für den Vertrieb moderner Kunst.9 Sonderfall Berlin

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6 Vgl. Justi und Jannasch 1947 (wie Anm. 2), Bl. 2.

7 Ebd.

8 Vgl. Protokoll der Sitzung der Ankaufskommission für Kunstwerke, 25. April 1947, Berlin, Berlinische Galerie, Handakten Adolf Jannasch.

9 Eine Chronologie der Berliner Ausstellungen sowie zu den Berliner Galerien in den ersten Nachkriegsjahren bei Beatrice Vierneisel, »Berliner Ausstellungschronologie 1945–1951« und »Berliner Galerien. Dokumentation« beides in: Eckhard Gillen und Diether Schmidt (Hrsg.): Zone 5. Kunst in der Viersektorenstadt 1945–1951, Ausst.-Kat. Berlinische Galerie, Berlin 1989, S. 235–271 und S. 151–224.

Horst Strempel: Nacht über Deutschland, 1945/46, Öl auf Leinwand, Triptychon, Berlin, Neue Nationalgalerie Otto Dix: Altes Liebespaar, 1923, Öl auf Leinwand, Berlin, Neue Nationalgalerie

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Bei den Erwerbungen für die »Galerie des 20. Jahrhunderts« blieb es nicht lange bei der Konzentration auf dem jüngsten Kunstschaffen. Schon bald wurden auch ältere Arbeiten, wie beispielsweise Karl Schmidt-Rottluffs Haus unter Bäumen von 1910 oder Christian Rohlfs’ Frühlingslandschaft von 1895/97, erworben.10 Insgesamt entschied die Ankaufskommission bis zum Sommer 1948 über den Erwerb von über 60 Gemälden, 20 Plastiken und um die 100 Grafiken und Zeichnungen.11 Darunter waren – neben den genannten Arbeiten – Werke von Karl Hofer, Max Pechstein, Otto Nagel und Hans Baluschek. Auch das Triptychon Nacht über Deutschland (1946) von Horst Strempel war darunter, sicher eines der Hauptwerke der Sammlung. Über das Werk von Strempel hatte das Gremium im April 1948 entschieden und es gemeinsam mit vier Ölskizzen und 20 vorbereitenden Studien des Künstlers sowie fünf Gemälden von Schmidt-Rottluff für den Ankauf vorgeschlagen.12 Strempels Triptychon ging zusammen mit den Studien für 38.000 Mark in den Besitz der Galerie über. Schmidt-Rottluff trat dagegen wenig später von seinem Ankaufsvertrag zurück, konnten doch aufgrund der im Juni 1948 separat in den Ost- und Westzonen vollzogenen Währungsunion seine Bilder nicht mehr bezahlt werden.13 Der Vorfall zeigt auf, inwieweit sich die politischen Verhältnisse mittlerweile verändert hatten. Hatten sich die Siegermächte nach dem Ende des Krieges zumindest nach außen hin um Kooperation bemüht, potenzierten sich um 1947/48 die politischen Konflikte zwischen den westlichen Besatzungsmächten und der Sowjetunion. Sie fanden ihren Höhepunkt in der erwähnten Währungsunion, der darauf folgenden Berlin-Blockade und der Teilung Deutschlands und Berlins im Jahr 1949. Dass die politischen Veränderungen auch Konsequenzen für die »Galerie des 20. Jahrhunderts« hatten, war unvermeidlich. So wechselte Jannasch, der bis dahin sicher den Großteil der praktischen Arbeit erledigt hatte, Ende 1948 zum neuen Magistrat in WestBerlin, womit seine Zusammenarbeit mit Justi endete. In WestBerlin verfolgte Jannasch neue Pläne, für eine vom Ursprungsprojekt unabhängige »Galerie des 20. Jahrhunderts«.14 Justi hielt dagegen der Museumsinsel im sowjetischen Sektor die Treue, wo er seine Pläne für eine »Galerie des 20. Jahrhunderts« weiter verfolgte. Dabei war es für Justi ein glücklicher Umstand, dass die bis 1948 getätigten Ankäufe für die Galerie zum größten Teil im Osten der Stadt verblieben, wo sie seit 1947 in der NationalSonderfall Berlin

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10 Vgl. Brief von Adolf Jannasch an Gielsof, Amt für Haushaltswesen, Magistrat von Groß-Berlin, 27. November 1947 und Brief Adolf Jannasch an Gielsof über die Sitzung der Ankaufskommission, 18. Dezember 1947, Berlin, Berlinische Galerie, Handakten Adolf Jannasch. 11 Vgl. [ohne Autor], »Städtische Galerie im Aufbau«, ohne Quelle, Juni 1948, Berlin, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Justi 471.

12 Vgl. Protokoll über die Sitzung der Ankaufskommission von 19. April 1948, 21. April 1948, Berlin, Berlinische Galerie, Handakten Adolf Jannasch.

13 Vgl. Brief Siegfried Behrsing, Amt Museen und Sammlungen, Magistrat von Groß-Berlin an Ludwig Justi, 30. Dezember 1948, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, VA 8399.

14 Vgl. Adolf Jannasch, Galerie des 20. Jahrhunderts. 1945–1968, Berlin (West) 1968, S. 16 sowie den Aufsatz von Christina Thomson im vorliegenden Band.

galerie auf der Museumsinsel lagerten. Auch der neu zusammengestellte Ost-Berliner Magistrat förderte das Projekt weiterhin. Doch nicht nur die politischen Verhältnisse hatten sich verändert. Gleichermaßen bekam die kulturelle Ausrichtung in der sowjetischen Besatzungszone einen anderen Charakter. Hatte in den ersten beiden Nachkriegsjahren in der SBZ ein relativ toleranter Umgang mit den bildenden Künsten geherrscht, forderte die SED-Regierung spätestens seit 1948 immer deutlicher eine Orientierung an dem in der Sowjetunion praktizierten Sozialistischen Realismus. Die Künstler, die sich vor und nach dem Zweiten Weltkrieg einer expressiven, konstruktiven oder abstrahierenden Formensprache bedient hatten, wurden im Zuge dieser Veränderungen mit wachsendem Nachdruck als »formalistisch« abgelehnt.15 Es verwundert nicht, dass die kulturpolitischen Veränderungen auch Auswirkungen auf die »Galerie des 20. Jahrhunderts« hatten. Diese äußerten sich zunächst in einer Neubesetzung der Ankaufskommission, die nicht zuletzt durch den Wechsel einiger Mitglieder nach West-Berlin nötig geworden war.16 So sagten Schmidt-Rottluff und Hofer ihre weitere Teilnahme ab.17 Der Kommission bei traten nun die Künstler Fritz Duda, Heinrich Ehmsen, Max Lingner und Oskar Nerlinger sowie der Kunstkritiker Heinz Lüdecke, wodurch die Befürworter eines »realistischen«, sozialkritischen Kunstschaffens überwogen.18 Dies machte sich auch an den Ankäufen bemerkbar. Immer häufiger wurden nun Erwerbungen getätigt, die zumindest in Ansätzen den Forderungen der offiziellen Kulturpolitik der SED folgten. Expressive oder gar abstrakt arbeitende Künstler, sei es aus dem ersten Jahrhundertdrittel oder aus der Nachkriegszeit, fanden nur noch selten Eingang in die Sammlung, und wenn, dann meist nur in Form von Grafik. Bevorzugt wurden nun figurative, sozialkritisch arbeitende Künstler wie Horst Strempel, Otto Nagel oder auch Käthe Kollwitz und Otto Dix, wobei zu betonen ist, dass diese Künstler, vor allem in der zweiten Phase der FormalismusDebatte um 1951, ebenfalls nicht mehr unumstritten waren. So entbrannte beispielsweise um den Ankauf von Otto Dix’ Gemälde Altes Liebespaar von 1923 in der Ankaufskommission eine heiße Diskussion: Einerseits wurde die »krasse, fast abstossende Darstellung« des Bildes kritisiert, andererseits stellte man dessen großen zeitgeschichtlichen und zeitkritischen Wert heraus.19 Das Werk wurde schließlich für 6.000 DM angekauft, obwohl es in seiner unbeschönigenden Darstellungsweise trotz seines sozial218

15 Vgl. dazu u. a. Ulrike Goeschen, Vom Sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus. Zur Rezeption der Moderne in der Kunst und Kunstwissenschaft der DDR, Berlin 2001.

16 Vgl. Magistratsvorlage zur Neubildung einer Ankaufskommission für Kunstwerke, 16. März 1949, Berlin, Landesarchiv, C Rep. 120/508, Bl. 2. 17 Vgl. Abschrift der Absage von Karl Schmidt-Rottluff, 10. Februar 1949 sowie den Brief von Karl Hofer an das Referat Museen und Sammlung beim Magistrat, 22. Juni 1949, Berlin, Landesarchiv, C Rep. 120/509, Bl. 222 u. 221. 18 Vgl. Magistratsvorlage Nr. 113, 7. März 1949, Berlin, Landesarchiv, C Rep. 120/2064.

19 Vgl. Protokoll der Sitzung der Ankaufskommission vom 9. Mai 1950, Berlin, Landesarchiv, C Rep. 120/2064.

kritischen Impetus nicht den aktuellen Kunstvorstellungen entsprach. Generell ist es erstaunlich, wie viele Werke Eingang in die »Galerie des 20. Jahrhunderts« erhielten, die zu dieser Zeit schon im Rahmen der Formalismus-Debatte in die Kritik geraten waren. So befürwortete die Kommission in der Sitzung im Mai nicht nur den Ankauf des Gemäldes von Dix, sondern ebenso den einer nicht unerheblichen Zahl an Grafiken von Künstlern wie Beckmann, Grosz, Heckel, Hofer, Kollwitz, Pechstein oder Schmidt-Rottluff.20 In anderen Museen der DDR war von Werken dieser Künstler bereits völlig Abstand genommen worden.21 Ausgestellt wurden die Ankäufe allerdings nicht. Zunächst mangelte es an passenden Räumlichkeiten. Auch die Nationalgalerie, die immer wieder als Ausstellungsort zur Diskussion stand, war durch die Kriegsschäden am Gebäude vorerst nicht bespielbar. Allerdings war auch bei der Wiedereröffnung der ersten Räume der Nationalgalerie im Juli 1949 kein einziges Werk der »Galerie des 20. Jahrhunderts« zu sehen. Dabei hatte Ludwig Justi die Präsentation der Ankäufe zusammen mit dem von der Aktion »Entartete Kunst« verschonten Altbestand der Nationalgalerie fest eingeplant.22 Im Vorfeld der Wiedereröffnung hatte sich Justi sogar darum bemüht, die 1947 bei dem während des Nationalsozialismus am Verkauf »entarteter« Kunst beteiligten Kunsthändler Bernhard A. Böhmer aufgefundenen Werke aus dem ehemaligen Bestand der Nationalgalerie wieder zurückzubekommen.23 Unter den Arbeiten befanden sich so prominente Stücke wie Rudolf Bellings Dreiklang (1924) oder Lyonel Feiningers Gemälde Teltow II (1918). Auch Werke aus anderen Museen waren darunter.24 Eine Rückführung der Kunstwerke war unter den politischen Bedingungen in der SBZ durchaus möglich. Anders als in den westlichen Besatzungszonen hatte die sowjetische Militäradministration im Oktober 1946 einen Beschluss über die Rückführung der im Zuge der Aktion »Entartete Kunst« beschlagnahmten Kunstwerke herausgegeben. Demzufolge sollten »alle auftauchenden Bilder, die mit der Begründung den Museen enteignet wurden, daß sie entartet seien, zurückerstattet werden«.25 Tatsächlich erhielt die Nationalgalerie die bei Böhmer sichergestellten Werke im Sommer 1949 zurück – und zwar als einziges Museum in der SBZ beziehungsweise in der DDR. Zwar waren die übrigen Museen über das Auffinden ihres Bestandes informiert worden, doch wurde der Rehabilitierung und Rückführung der durch die Nationalsozialisten diffamierten Moderne von Sonderfall Berlin

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20 Vgl. Protokoll der Ankaufssitzung, 9. Mai 1950, Berlin, Landesarchiv, C Rep. 120/2064. 21 Vgl. Maike Steinkamp, Das unerwünschte Erbe. Die Rezeption »entarteter« Kunst in Kunstkritik, Ausstellungen und Museen der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR, Berlin 2008, insbesondere S. 264–290.

22 Noch im März 1949 hatte die Presse davon berichtet. Vgl. –d, »Kunst unter Dach und Fach«, in: Tägliche Rundschau, 12. März 1949, S. 4; [ohne Autor], »Wiedereröffnung der Nationalgalerie, in: Berliner Zeitung, 19. März 1949.

23 Vgl. Kurt Reutti, Bericht, undat. (nach Sommer 1949), Los Angeles, The Getty Center for the History of Art and Humanities, Archives of the History of Art, Arntz III C, Box 21. 24 Vgl. Kurt Reutti, Erinnerungen, Liste: Werke aus der Aktion »Entartete Kunst«, Manuskript, undat., S. 336f, Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, VI. HA, NL Reutti.

25 Abschrift der Ermächtigung der Kulturabteilung der Sowjetischen Militäradministration, 8. Oktober 1946, Berlin, Berlinische Galerie, Archiv Galerie Ferdinand-Möller, GI/1.

Seiten der SED-Regierung keine Priorität mehr beigemessen. Ganz im Gegenteil wurden die im Zuge der Aktion »Entartete Kunst« beschlagnahmten Kunstwerke immer öfter als »formalistische Auswüchse bürgerliche Dekadenz« verurteilt und waren in Ausstellungen und Museen der DDR kaum mehr zu sehen.26 Obwohl also die moderne und zeitgenössische Kunst mit den Ankäufen für die »Galerie des 20. Jahrhunderts« und dem Altbestand der Nationalgalerie gut vertreten war, verzichtete Justi im Juli 1949 auf deren Präsentation. Dabei waren gerade die Bestände alter Kunst, die bei der Eröffnungsschau zu sehen waren, vergleichsweise bescheiden, lagerte doch ein Großteil der Werke in Depots im Westen Deutschlands. Zudem war ein weiterer, nicht unerheblicher Teil des Bestandes 1945 von der »Trophäenkommission« in die Sowjetunion überführt worden.27 Doch indem Justi auf die Präsentation moderner Kunst verzichtete, wollte er die Berliner Museen aus der zu dieser Zeit hitzig geführten Debatte um Formalismus und Realismus heraushalten, um so den Wiederaufbau nicht zu gefährden. Erst im Dezember 1954, nachdem die SED-Regierung nach dem Tod Stalins im März und dem Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 auf Druck der Sowjetunion einen »Neuen Kurs« in der Kulturpolitik ausgerufen hatte, stellte Justi in der Nationalgalerie erstmals nach 1945 Gemälde der Expressionisten und der Gegenwart aus – wobei er unter der Kunst der Gegenwart Arbeiten von Fritz Cremer, Dix, Ehmsen, Hofer und Nagel verstand, die teilweise noch vor 1945 entstanden waren, und nicht künstlerische Zeugnisse des Sozialistischen Realismus. Unter den ausgestellten Werken befanden sich auch Erwerbungen für die »Galerie des 20. Jahrhunderts«. Diese waren 1951 – nachdem man die Pläne einer eigenständigen städtischen Galerie moderner Kunst endgültig verworfen hatte – nicht zuletzt durch das Engagement von Justi zum großen Teil in den Besitz der Nationalgalerie übergegangen.28 Doch auch diese Präsentation war nur temporär und zeigte nur einen Ausschnitt der tatsächlich in den ersten Nachkriegsjahren erworbenen Arbeiten moderner, zeitgenössischer Kunst. Der Aufbau der »Galerie des 20. Jahrhunderts« steht exemplarisch für die Bemühungen einer ganzen Reihe von Museen in der sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR. Die Kuratoren versuchten die durch die Aktion »Entartete Kunst« geschlagenen Lücken in ihren Beständen zu schließen und mit dem Erwerb zeitgenössischer Arbeiten den Anschluss an die Gegenwart zu erreichen. So ist auch das Scheitern der »Galerie des 20. Jahrhunderts« für die musealen Entwicklungen in der DDR charakteristisch, 220

26 Vgl. dazu ausführlich Steinkamp 2008 (wie Anm. 21), insbesondere S. 275–290.

27 Vgl. Günter Schade, Die Berliner Museumsinsel. Zerstörung, Rettung, Wiederaufbau, Berlin 1986, S. 38.

28 Vgl. Abschrift des Protokolls der Besprechung vom 7. Juni bezüglich der Auswahl von Kunstwerken für das Märkische Museum und die Nationalgalerie aus dem Bestand der Galerie des 20. Jahrhunderts, 5. Juli 1951, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Zentralarchiv, VA 8399.

Raum mit Expressionisten, Nationalgalerie auf der Museumsinsel, Berlin 1954

Sonderfall Berlin

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machten der kulturpolitische Kurs der SED und die damit in Zusammenhang stehenden Vorgaben eine unabhängige Ankaufsund Ausstellungspolitik doch nahezu unmöglich. Gerade auf den Höhepunkten der Formalismus-Debatte um 1948/49 und 1951 mussten die Museen sowohl beim Ankauf als auch bei der Präsentation ihrer Bestände mit Restriktionen rechnen. Ludwig Justi genoss im Gegensatz zu vielen anderen Museumsdirektoren in der DDR eine relativ große Freiheit. Dennoch war auch er sich der kulturpolitischen Forderungen und Regulierungsmaßnahmen bewusst, wie sein Verzicht auf die Präsentation der für die »Galerie des 20. Jahrhunderts« erworbenen Kunstwerke zeigen. So akzeptierte er letztlich, dass sein ambitioniertes Vorhaben einer wegweisenden, nationalen Sammlung moderner Kunst nach dem Vorbild der zerstörten Abteilung im Kronprinzenpalais durch die kulturpolitischen Vorgaben des Staates scheiterte.

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Die »Galerie des 20. Jahrhunderts« Wiederbelebung der Moderne im West-Berlin der Nachkriegsjahre Christina Thomson Bereits wenige Monate nach Kriegsende, im November 1945, stellte der Magistrat von Groß-Berlin erstmals Finanzmittel für Kunstankäufe bereit, die explizit dem Aufbau einer Galerie für moderne Kunst dienen sollten. Dahinter standen der Wunsch nach einem kulturellen Neuanfang und einem Ausgleichen vergangenen Unrechts sowie das Anliegen, zeitgenössische Künstler in Berlin zu unterstützen: »Der Magistrat von Groß-Berlin hält es für seine Pflicht, eine ›Galerie des 20. Jahrhunderts‹ ins Leben zu rufen. Gerade auf dem gesamten kulturellen Gebiet ist die Pflege der neuen und lebendigen Kunst eine wesentliche Aufgabe geworden. Diese Galerie des 20. Jahrhunderts soll allmählich das frühere ›Kronprinzenpalais‹ ersetzen und damit eine Art der Wiedergutmachung an der von den Nazis entrechteten und verhöhnten ›entarteten Kunst‹ darstellen. Der Aufbau und die Unterstützung dieser Galerie des 20. Jahrhunderts ist deshalb eine Ehrenpflicht der Stadt Berlin.«1 Dieses Bewusstsein blieb, gemeinsam mit dem zu seiner Realisierung nötigen Etat, auch über die imminente Teilung Berlins hinaus bestehen. Während Ludwig Justi, der den Aufbau der städtischen Sammlung moderner Kunst bis 1948 verantwortet hatte, ebenso wie die bis dato erworbenen Werke in Ost-Berlin verblieben,2 wurde die »Galerie des 20. Jahrhunderts« im März 1949 unter Oberbürgermeister Ernst Reuter und dem Stadtrat Walter May, Leiter der Abteilung Volksbildung, in West-Berlin neu gegründet. Adolf Jannasch (1898–1984), Justis früherer Mitarbeiter und seit Herbst 1946 Leiter des Referats Bildende Kunst, übernahm die Leitung der Galerie. Über diese Ereignisse, nachfolgende Entwicklungen sowie einzelne Erwerbungen wurde die Öffentlichkeit durch die Presse informiert. Doch erst 1953 bekamen Berliner und Berlin-Besucher in Gänze zu sehen, was sich hinter der modernen Kunstsammlung verbarg: Am 30. Juni 1953 eröffneten Joachim Tiburtius, der amtierende Senator für Volksbildung, und Adolf Jannasch die erste Präsentation der vom Berliner Senat für die Galerie des 20. Jahrhunderts erworbenen Kunstwerke. Die Ausstellung, die im Schloss Charlottenburg stattfand, stieß sowohl Sonderfall Berlin

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1 Plädoyer für die Rückgabe »entarteter Kunst«, Schreiben von Adolf Jannasch an die Deutsche Verwaltung für Volksbildung, 2.8. 1948, Archiv Berlinische Galerie, De BG Gal 02-0201-08-52.

2 Vgl. Maike Steinkamp: »Ein neues Kronprinzenpalais? Ludwig Justis Pläne für eine ›Galerie des 20. Jahrhunderts‹ nach 1945«, in: Jahrbuch der Berliner Museen, 52, Beiheft Justi, Berlin 2010, S. 117–129. Als 1951 die Staatlichen Museen zu Berlin-Ost in die Verwaltung der Regierung der DDR überführt wurden, erhielten sie die rund 250 von Justi erworbenen Werke als »Schenkung des Magistrats«.

auf reges Publikumsinteresse als auch auf zahlreiche positive Pressereaktionen. Enthusiastisch rezensierte beispielsweise Der Tag: »Ein Glückwunsch an alle, die dieses Museum zusammengetragen haben! Es ist ein Schritt weiter auf dem Wege Berlins zur Weltstadt.«3 Der zur Ausstellung publizierte Katalog, zugleich ein erster Bestandskatalog der »Galerie des 20. Jahrhunderts«, umfasste 111 Gemälde und Skulpturen der fünfzig vorausgegangenen Jahre. Vertreten waren vor allem deutsche Künstler, deren Werk während der NS-Zeit als »entartet« deklariert, verboten und beschlagnahmt worden war, darunter klingende Namen wie Willi Baumeister, Max Beckmann, Lyonel Feininger, Erich Heckel, Karl Hofer, Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee, August Macke, Gerhard Marcks, Karl Schmidt-Rottluff und weitere Protagonisten der Brücke, des Bauhaus und der Neuen Sachlichkeit. Einzelne Werke von Künstlern wie Lovis Corinth, Max Slevogt und Karl Hagemeister repräsentierten die Vorläufer der Moderne. Hinzu kamen vereinzelte ausländische Positionen, etwa von Edvard Munch, Pablo Picasso, Henry Moore oder Aristide Maillol, sowie die neue Generation der Berliner Modernen, darunter Werner Gilles, Karl Hartung, Werner Heldt, Ernst Wilhelm Nay, Heinz Trökes, Hans Uhlmann und Fritz Winter. Ein paar Dutzend angekaufte Papierarbeiten waren nicht im Katalog aufgeführt. Die Sammlung, die Der Tag bereits großzügig als »Museum« beschrieb und auf der musealen Weltbühne agieren sah, enthielt im Sommer 1953 demnach kaum mehr als 150 Werke – eine zwar angesichts der Nachkriegsumstände, des Zusammentragens in nur vier Jahren und des verfügbaren Etats beachtliche, aber doch überschaubare Ankaufsleistung. Kritischere Beobachter ließen diesen Umstand nicht unkommentiert: »Die Galerie des 20. Jahrhunderts wird sich ihren Namen erst noch verdienen müssen«, resümierte der Kurier. »Viel ist getan worden, mehr noch bleibt zu tun. Das Ganze ist ein Anfang. Aber immerhin – ein Anfang.«4 Es fiel auch negativ auf, dass es sich bei der Ausstellung im Schloss um eine temporäre Unterbringung handelte und die »Galerie des 20. Jahrhunderts« keine Räume für eine dauerhafte Präsentation besaß. Dabei hatte der Senat seit langem einen Ort im Blick: Bereits 1950 hatte er das ehemalige Landwehrcasino in der Jebensstraße am Bahnhof Zoo im kriegszerstörten Zustand erworben, um es zum Kunstzentrum auszubauen. Das neu hergerichtete Gebäude sollte neben der Galerie die Kunstbibliothek der Ehemals Staatlichen Museen beherbergen. Doch erst im August 1952 begannen die Ausbauarbeiten5 und auch der für Anfang 1953 angekündigte Einzug verschob sich. Im März 1953 schrieb Eberhard Seel an Heinz Trökes: 224

3 »50 Jahre – 100 Kunstwerke«, in: Der Tag, 1. Juli 1953.

4 »Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Ein Anfang ist gemacht«, in: Der Kurier, Berlin, 4. Juli 1953.

5 Vgl. »Landwehrcasino wird zum Kunstzentrum. Der Ausbau hat begonnen«, in: Die Neue Zeitung, München, Berliner Blatt, 9.8. 1952.

Zeitungsartikel zur Erstpräsentation der Bestände der »Galerie des 20. Jahrhunderts« im Schloss Charlottenburg, in: Der Kurier, Berlin, 4. Juli 1953

Sonderfall Berlin

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»Die Eröffnung des Berliner legendären Museums des 20. Jahrhunderts, die seit Jahren täglich erfolgen soll, scheint neuerdings wieder in weiter Ferne zu liegen. Es wird aber weiter – mit allerdings gedämpftem Trommelklang – angekauft.«6 Als die Sammlung der »Galerie des 20. Jahrhunderts« nach der Ausstellung im Herbst 1953 wieder in den Depots verschwand, wurde der Ruf nach einem Berliner Museum moderner Kunst von Weltrang zunehmend lauter. Hatte dieser Gedanke magistratsintern schon in den Gründungsjahren der Galerie eine Rolle gespielt, so wurde nun auch öffentlich um die mögliche Realisierung eines solchen Museums spekuliert, wie beispielsweise im Telegraf: »Das Ideal wäre ein völlig neues Gebäude, das schon in seiner Architektur dem Inhalt gemäß ist. […] Es wäre wunderbar, wenn Berlin hier ein Beispiel geben würde, wie man ein solches Museum der Gegenwart […] aufbaut. Ob dieses Museum später den übrigen Museen eingegliedert wird oder der Besitz der Stadt bleibt ist sekundär. […] Natürlich geht das nicht von heute zu morgen, aber eine in Kisten verpackte Galerie ist Nonsens.«7 Unter den schärfsten Kritikern der Kulturpolitik des West-Berliner Senats fand sich Will Grohmann, der fragte: »Warum aber können wir für die neuere Kunst nicht mehr tun? Wenn der Senat als Ankaufsetat für [seine] Galerie nur über 20.000 bis 25.000 DM jährlich verfügen darf, so ist das ein in diesem Zusammenhang lächerlicher Betrag, zumal wenn man bedenkt, dass Berlin, im Gegensatz zu anderen Städten, ganz von vorn beginnen muss. […] Hier muss etwas geschehen. Das Ausstellungswesen in Berlin lahmt, und die privaten Kunstgalerien können sich infolge der insularen Lage der Stadt nicht rühren. […] Für [Theater] wird zweihundertmal so viel Geld ausgegeben wie für die lebende Kunst. Ist das logisch? […] Und man bedenke, dass eine […] moderne Galerie […] nicht nur der Stadt Berlin zugute käme – hier, wie in so vielem, arbeitet diese Stadt stellvertretend für die gesamte Ostzone.«8 Grohmanns Worte sind im Kontext der komplexen kulturpolitischen Situation West-Berlins der frühen 1950er Jahre zu sehen. Berlin hatte – mehr als andere Städte Deutschlands – hart mit den Überhängen der desolaten 1940er Jahre zu kämpfen. Die Kunstszene in der Vier-Sektoren-Stadt war zwischen 1945 und 1949 gelähmt: Die Museumsbestände der Hauptstadt waren weitgehend geplündert, verschleppt, vernichtet oder ausgelagert, die Museumsgebäude und Kunsthäuser zerstört oder in desolatem Zustand, die Etats für den Neuaufbau schmal. Außer dem Zeughaus gab es kaum intakte Ausstellungsorte größeren Formats. 226

6 Brief Eberhard Seel an Heinz Trökes, 19.3. 1953, Deutsches Kunstarchiv Nürnberg, NL Trökes, Heinz, I,B-139.

7 »Was planen die Berliner Museen? Probleme auf dem Gebiete der bildenden Kunst «, in: Der Telegraf, 16.11. 1953.

8 Will Grohmann: »Maßstäbe«, in: Die Neue Zeitung, 20.8. 1953.

Nach der Teilung Berlins sah sich der Westteil der Stadt einer noch schärferen Herausforderung gegenüber: Die Hauptmuseen lagen nun unzugänglich in Ost-Berlin, so dass es um 1950 mit dem Museum in Dahlem und dem Schloss Charlottenburg nur zwei Orte in öffentlicher Hand gab, an denen in angemessenem Rahmen Kunst ausgestellt und gelagert werden konnte. Das vom Senat für kulturelle Nutzung erworbene Landwehrcasino war noch nicht saniert, alle anderen bedeutenden Kunstorte unterlagen privaten Initiativen: Das 1946 eröffnete Haus am Waldsee und das seit 1950 existierende Kolbe-Museum waren eigenständig, das Haus am Lützowplatz wurde vom Verein Berliner Künstler betrieben und auch die Kulturhäuser der drei westlichen Besatzungsmächte9 agierten unabhängig. Außerhalb dieser wenigen Anlaufstellen waren zeitgenössische Künstler auf sich und eine Handvoll privater Galerien gestellt, die in diesen Jahren eine zentrale Position im Berliner Kunstgeschehen einnahmen.10 Das Jahr 1953 markierte mit der Erstpräsentation der Sammlung der »Galerie des 20. Jahrhunderts« und der Ausstellung der zurückgekehrten Bestände ausgelagerter Kunst aus Berliner Museen und Schlössern in Dahlem11 einen ersten entscheidenden Aufschwung in der öffentlichen Kunstszene des jungen WestBerlins. Dem Berliner Senat kam innerhalb des kulturellen Aufbaus der Stadt eine zentrale Rolle zu. Wie zuvor im ungeteilten Berlin, wo sie durch den Magistrat verwaltet wurden, waren die Ehemals Staatlichen Museen in West-Berlin der Senatsverwaltung, Abteilung Volksbildung, unterstellt und dort als eigener Haushaltsposten mit 13 Abteilungen geführt.12 Ankäufe konnten die Museen selbst nur in sehr beschränktem Rahmen tätigen13: In den gesamten 1950er Jahren hat die Nationalgalerie (West) lediglich 35 Kunstwerke erwerben können, davon 19 Werke des 20. Jahrhunderts von Pechstein, Mueller, Schlemmer, Grosz, Nay, Hartung, Marini, Soulages und anderen. Die Verluste im Bereich moderner Kunst, die vor allem durch die NS-Aktion »Entartete Kunst« herbeigeführt worden waren, wurden dadurch nicht ansatzweise ausgeglichen. Ein Auffüllen der Sammlungslücken und eine Rehabilitation der Verfemten ließen sich überhaupt erst im Zuge eines Zusammendenkens der Einsätze von Magistrat/ Senat und Museen initiieren. Jannasch war sich sowohl der Tragweite seiner Aufgabe als auch ihrer Schwierigkeiten bewusst: »Die Galerie des 20. Jahrhunderts kennt ihre hohe Pflicht der Wiedergutmachung«, bekräftigte er im Vorwort des ersten Katalogs,14 betonte aber auch wiederholt, dass der Aufbau der Galerie »aus dem Nichts heraus«15 zu bewälSonderfall Berlin

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9 Sowohl die Amerikaner (Amerika-Haus) als auch die Franzosen (Institut Français) und die Briten (British Centre) unterhielten Kulturhäuser mit regelmäßigen Ausstellungen moderner Kunst. 10 Dazu zählten die Galerien von Gerd Rosen, Rudolf Springer, Anja Bremer und Walter Schüler, die alle nach 1949 in West-Berlin agierten. Vgl. insbes. Eckhard Gillen und Dieter Schmidt (Hrsg.), Zone 5. Kunst in der Viersektorenstadt 1945 bis 1951, Berlin 1989.

11 Es handelte sich hier um die in den Kriegsjahren in den Central Collecting Points in Celle und Wiesbaden ausgelagerte bildende Kunst der Epochen bis 1900. Vgl. Meisterwerke aus den Berliner Museen und Schlössern: Gemälde alter Meister, Gemälde des 19. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. Museum Dahlem, Berlin 1953.

12 Entwurf zum Haushaltsplan 1957, Abschnitt B 3440 (Staatliche Museen), u. a. Archiv Berlinische Galerie, De BG Gal 02-0201-06-28.2 bis 5. 13 Erst 1959, mit Inkrafttreten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, wurden die Museen aus dem Senatshaushalt entlassen, womit sich die Etatverteilung änderte. Vgl. Ordentlicher Haushaltsplan, Haushaltsteil Hauptverwaltung, Einzelplan B 3 Volksbildung – Kunst, S. 855, u. a. Archiv Berlinische Galerie, De BG Gal 02-0204-0237.1 bis 9.

14 Galerie des 20. Jahrhunderts, Ausst.-Kat., Berlin 1953. 15 Brief Adolf Jannasch an G. Delbanco, London, 11. Januar 1955, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II/B G20 – Land Berlin 6, Bl. 107.

Die »Galerie des 20. Jahrhunderts« im ehemaligen Landwehrcasino in der Jebensstraße, Berlin-Tiergarten. Raumansicht der ersten Dauerpräsentation, 1955, mit Werken von Werner Heldt, Willi Baumeister, Werner Gilles, Karl Hartung u. a.

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tigen war und die Entwicklungen des Kunstmarkts zunehmend Hürden für Ankaufspläne darstellten. Zugleich verfolgte er das »Motiv der Hilfeleistung für notleidende Künstler der Stadt«16 und sah sich verpflichtet, die Galerieplattform auch für lebende Künstler zu öffnen. Neben Erwerbungen zeitgenössischer Kunst für die »Galerie des 20. Jahrhunderts« stand zu diesem Zweck ein separater, fast ebenso großer Künstlerhilfsfonds im Senatsetat zur Verfügung.17 Jeder Ankauf für die Galerie musste von einer 10- bis 12-köpfigen Ankaufskommission bewilligt werden, in der neben Senatsvertretern auch Berliner Künstler und Repräsentanten der Ehemals Staatlichen Museen saßen. Diese vielfältigen Faktoren steuerten die Erwerbungsstrategie hinter dem Aufbau der »Galerie des 20. Jahrhunderts«. Aus medialer Sicht deckten Jannaschs Erwerbungen das gesamte Spektrum der Bildenden Kunst ab: von Gemälden und Skulpturen über Zeichnungen und Aquarelle bis hin zur Druckgrafik und vereinzelt Textilarbeiten. Die ersten, im März 1949 in das neue Inventar eingetragenen Werke – darunter Spaziergang in Blumen (1912) von August Macke, Drei Akte (1913) von Karl SchmidtRottluff, Selbstbildnis mit Mädchen (1915) von Ernst Ludwig Kirchner, Frauenkopf (1925) von Emil Nolde und Die schwarzen Zimmer (1943) von Karl Hofer – spiegeln die anfängliche Konzentration auf eine Rehabilitierung der verfemten Moderne der Vorkriegsjahre. Neben Werken des Expressionismus wurden in den Folgejahren zunehmend Neue Sachlichkeit, Bauhaus und Blauer Reiter angekauft, dazu Einzelpositionen wie Max Beckmann und Oskar Kokoschka. War es nach 1945 nicht gelungen, das Gros der »entarteten« Moderne, die bei Ferdinand Möller und anderen vom NS-Staat beauftragten Kunsthändlern gelagert worden war, ihren ursprünglichen Museumssammlungen wieder zuzuführen, so erreichte Jannasch doch hier und da den Erwerb eines vormals aus dem Kronprinzenpalais oder anderen Museen beschlagnahmten Werks für die »Galerie des 20. Jahrhunderts«, beispielsweise Das Urteil des Paris (1910/11) von Otto Mueller aus der National-Galerie Berlin, das 1940 Bernhard Böhmer in Güstrow überlassen worden war. Erst ab Mitte der 1950er Jahre waren vermehrt Ankäufe ausländischer europäischer Kunst möglich, deren vielfaches Fehlen Jannasch stets als schmerzliche Lücken wahrnahm. Wie viele seiner Museumskollegen in ganz Deutschland verfolgte auch Jannasch in den frühen Nachkriegsjahren die Vorstellung, dass man bei Ankäufen »schnell zugreifen müsse«18 – solange das Angebot an Vorkriegswerken noch groß und die Preise niedrig Sonderfall Berlin

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16 Memorandum zur Galerie des XX. Jahrhunderts vom 1.11. 1954, Akten der Senatsverwaltung, Kopie in: Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, VA 11078.

17 1954 setzte sich die verfügbare Summe von 62.000 DM für Kunstankäufe zusammen aus 30.000 DM »Senatsunterstützung für notleidende Künstler der Stadt« und 32.000 DM für den »Aufbau der Galerie des XX. Jahrhunderts« (vgl. ebenda). Zum Vergleich: Die Ehemals Staatlichen Museen verfügten im selben Jahr über einen Erwerbsetat von 20.000 DM, davon 10.000 DM für die Nationalgalerie. In den Folgejahren wurde einerseits der Gesamtetat erhöht, andererseits die Gewichtung umverteilt. Im Haushaltsplan 1963 wurden für den Aufbau der Galerie 160.000 DM eingestellt, für den Künstlerfonds 75.000 DM (vgl. Archiv Berlinische Galerie, De BG Gal 02-0204-02-37.1-9).

18 Korrespondenz Adolf Jannasch mit dem Finanzdezernenten Lange 1948, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014, Nr. 1145.

waren. 1953 schrieb der Tagesspiegel: »Seit 1949 konnte Dr. Jannasch […] regelmäßig Erwerbungen machen. Zugute kam ihm dabei das Berliner Preisniveau, das in diesen Jahren unter dem der Bundesrepublik lag. Er brauchte nur etwa zwei Drittel der Summen anzulegen, die im Westen für entsprechende Objekte bezahlt werden mußten.«19 Mit den stetig steigenden Preisen der Moderne auf dem Kunstmarkt verlangsamte sich die Ankaufsrate ab Ende der 1950er Jahre deutlich. Aus einem SammlerNotizbuch, das Jannasch über viele Jahre führte, geht hervor, dass er über ein dichtes Netzwerk an Kontakten und Informationen verfügte; auch mit zahlreichen Künstlern war er persönlich bekannt. Trotzdem konnte der Vorgabe der Ankaufskommission, Direktkäufe dem Erwerb über den Kunsthandel vorzuziehen, nur bedingt entsprochen werden. Jannasch war ein geschätzter Kunde des Berliner und westdeutschen Kunsthandels: In Berlin tätigte er Ankäufe vor allem über die Galerien Bassenge, Bremer, Franz, Nierendorf, Reitzenstein & Seel, Rosen, Schüler und Springer sowie über das Kunstkabinett Asta von Friedrichs, im Rheinland bei Aenne Abels, Grosshennig und Vömel. Zu den direkt aus den Ateliers erworbenen Werken zählte vor allem die Kunst der jüngeren Generation der in Berlin oder Westdeutschland lebenden Künstler wie Hans Hartung, Theodor Werner und Willi Baumeister. Insbesondere waren die neuen Modernen aus dem WestBerliner Umfeld gut vertreten, beispielsweise Werner Gilles, Werner Heldt, Heinz Trökes, Heinz Uhlmann und Mac Zimmermann. Einer Forderung der Ankaufskommission nachkommend, die eine Aufwendungsquote von 20% des Etats für Werke lebender, insbesondere notleidender Künstler festgelegt hatte, erwarb Jannasch zwischen 1949 und 1968 über 1.000 Werke von Künstlern der Nachkriegszeit. Wenngleich die verfügbaren finanziellen Mittel den Senat zur tatkräftigen Pflege zeitgenössischer Kunst in West-Berlin befähigten, waren die Präsentationsmöglichkeiten beschränkt. Erst im Dezember 1954, mit Abschluss der Sanierungsarbeiten im Landwehrcasino in der Jebensstraße, konnte die »Galerie des 20. Jahrhunderts« ihre lange Heimatlosigkeit beenden und mit feierlicher Eröffnung in ihr neues, dauerhaftes Domizil am Bahnhof Zoo einziehen. Allerdings waren die drei mit einfachen Vitrinen und Stellwänden ausgestatten Räume zu beengt, als dass die inzwischen über 180 Werke umfassende Sammlung in Gänze hätte gezeigt werden können: Für als weniger repräsentativ erachtete Werke der Galerie (darunter auch die Mehrzahl der Arbeiten auf Papier) und sämtliche aus dem Künstlerhilfsfonds erworbene Kunst fehlte der Platz; Sonderausstellungen, wie sie Jannasch 230

19 »Galerie des 20. Jahrhunderts. Eröffnung im Charlottenburger Schloß«, in: Der Tagesspiegel, 1.6. 1953.

vor 1953 im Schloss Charlottenburg und andernorts veranstaltet hatte, waren aus räumlicher und finanzieller Sicht nicht mehr möglich. Eine Ausstellungsplattform entstand somit lediglich für ausgewählte, bereits etablierte Künstler, deren Werke Eingang in die Dauerpräsentation der Galerie fanden. Doch war es vielleicht gerade die Tatsache, dass die Moderne jedes Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts mit ausgesuchten Beispielen vertreten war, die das kunsthungrige West-Berliner Publikum ab 1955 in die »Galerie des 20. Jahrhunderts« zog. In den ersten Jahren kamen jährlich rund 20.000 Besucher in die Dauerausstellung, in den 1960er Jahren steigerte man sich auf rund 23.000 Besucher pro Jahr. Dreizehn Jahre lang sollte die »Galerie des 20. Jahrhunderts« – in der Presse bereits als »Stiefkind« der Berliner Museumslandschaft bezeichnet –20 in den ursprünglich als Zwischenlösung gedachten Räumen des Landwehrcasinos verbringen. In dieser Zeit setzte Jannasch seine Ankaufstätigkeit ungebrochen fort, so dass die Sammlung kontinuierlich anwuchs.21 Die seit 1950 diskutierten Pläne, der modernen Kunst in West-Berlin ein eigenes Haus zu geben, das der Stadt eine angemessene Stellung in der internationalen Museumsszene verschaffen würde, brauchten etliche Jahre bis zur Umsetzung. 1968 wurde der Neubau am heutigen Kulturforum – dessen Entwurf der Senat bereits 1961 bei Mies van der Rohe beauftragt hatte – unter dem Namen Neue Nationalgalerie als dauerhafte Herberge für die nunmehr fusionierten modernen Kunstbestände der Nationalgalerie und der »Galerie des 20. Jahrhunderts« eröffnet. Die Sammlung des Senats, die ihre Ursprünge in den frühen Nachkriegsjahren hat, stellt somit einen der wichtigsten Pfeiler der heutigen Sammlungen der Moderne der Staatlichen Museen zu Berlin dar.

Sonderfall Berlin

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20 »Hoffnungen zum Gruß. Leopold Reidemeister – Berlins neuer Museumsdirektor«, in: Der Tagesspiegel, 17.2. 1957.

21 1965 umfasste sie 278 Gemälde, Handzeichnungen und Aquarelle, 80 Skulpturen und zahlreiche druckgrafische Arbeiten.

Zwei Thesen

Statt eines Nachworts: Zwei Thesen zu deutschen Museen nach 1945 Christian Fuhrmeister Die Tagung im Museum Ludwig am 9. und 10. November 2012 war wichtig, ja überfällig. Das seit einiger Zeit in der Forschung virulente Thema der Nachkriegszeit blieb trotz des unmittelbaren Anlasses, der genauen Untersuchung und Neupräsentation der Sammlung Haubrich, keineswegs auf Köln beschränkt. Alle Besatzungszonen sowie der Sonderfall Berlin wurden in den Blick genommen. Julia Friedrich und Andreas Prinzing müssen im Vorfeld den Referentinnen und Referenten gute Fragen gestellt haben, denn viele Beiträge leisteten veritable Grundlagenforschung. Und doch nährten mehrere Darstellungen ein Unbehagen in mir, was den heutigen Umgang mit den Begründungen der späten 1940er und frühen 1950er Jahre für einen »Einsatz für die Moderne« betraf. In der Diskussion versuchte ich zu artikulieren, welche Aspekte (von der Kontinuitätsproblematik bis zur kritischen Hinterfragung der Motive und Intentionen der Kuratoren) mir zu wenig beachtet erschienen.1 Julia Friedrich bat mich, aus dieser Intervention ein Nachwort zu destillieren. Doch da ich nicht alle Vorträge hören konnte, möchte ich stattdessen zwei Thesen wagen. Die erste betrifft den Gegenstandsbereich: Was meinen wir, wenn wir – hinsichtlich der Nachkriegszeit – von der »Moderne« reden? Die zweite These beschäftigt sich mit jener Bewegung, die ich als »Selbstpurifizierung« bezeichnen möchte. Erste These: Selektives Moderne-Verständnis Die gängige Epocheneinteilung für die Kunst des 20. Jahrhunderts in Deutschland lautet: Avantgarde und Moderne bis Anfang 1933, nationalsozialistische Kunst, nach 1945 Wiedergutmachung, Rehabilitierung und Fortsetzung der Moderne. Dieses sowohl bequeme als auch dogmatische Schema – diese Geschichte von Fortschritt und Durchsetzung, Verbot und Erfolg – ist aus vielen Gründen falsch, nicht nur, weil es die konservativen Kunstströmungen in der Weimarer Republik unterschlägt, sondern auch, weil die bildende Kunst im Nationalsozialismus (ganz zu schweigen von der Gebrauchsgrafik, dem Zeitschriften- und Produktdesign und der Industriearchitektur) durchaus bestimmte Elemente und Strategien der Moderne weiterführte und ausdifferenzierte. Wie die Forschung in den letzten Jahren vielfach herausgearbeitet hat, war trotz der Entlassungswelle, trotz der ersten Femeaus234

1 Julia Voss, »Seit 1945 sind die Künste modern«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 272, 21. November 2012, S. N 3.

stellungen und ungeachtet eines wachsenden Anpassungsdrucks das Jahr 1933 für Kunst und Künstler jedenfalls kein so radikaler, tiefer und plötzlicher Einschnitt, wie es sowohl im Nationalsozialismus als auch danach immer wieder behauptet worden ist.2 Um dies nur an einem Beispiel zu illustrieren: Joseph Goebbels kauft im November 1934 für 1.000 RM die Bronze Bettlerin (1907?3) von Ernst Barlach sowie zwei Vorstadtkinder 4 betitelte Lithografien des langjährigen SPD-Mitglieds Hans Baluschek – für die Ausschmückung der Diensträume des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda.5 Das »Vetorecht der Quellen« (Reinhart Koselleck) relativiert in gleichem Maße auch die Deutung von 1945 als mythischer Stunde Null. So erwirbt Bernhard Degenhart schon Anfang 1943 für insgesamt 10.000 RM für die Albertina Grafiken in den Ateliers von u. a. Henri Matisse, Giorgio de Chirico und Renato Guttuso6 (was freilich mit der besonderen Wiener Situation unter Reichsstatthalter Baldur von Schirach zusammenhängt7). Das binäre oder dichotomische Schema ist aber vor allem deshalb problematisch, weil implizit unterstellt wird, dass die im Nationalsozialismus verfemten und als »entartet« erklärten modernen Künstler weitgehend identisch seien mit jenen, denen nach 1945 Ankäufe und Ausstellungen gewidmet wurden. Dieser weitreichende Konsens erscheint mir diskussionswürdig. Denn tatsächlich müssen wir für die Jahre nach 1945 auf der einen Seite Kontinuitäten und starke konservative Beharrungskräfte (in Künstlerverbänden8 wie bei Sammlern, Händlern9 und Ausstellungsbesuchern), auf der anderen Seite ein außerordentlich selektives Moderne-Verständnis konstatieren. Im Zentrum dieses stark verengten Verständnisses stehen zwei Künstlergruppen des Kaiserreichs, nämlich die Künstler der Brücke und des Blauen Reiters, erst wesentlich später auch Gegenwartskünstler wie Ernst Wilhelm Nay. Beide, die Künstler der Brücke und des Blauen Reiters, sind nach 1945 – obwohl einige der Protagonisten noch leben – historische Phänomene. Die ganze Vielfalt der modernen künstlerischen Kultur der Weimarer Republik erfährt in der ersten Nachkriegsdekade in den deutschen Museen jedenfalls keine Wiedergutmachung in toto. Gegenüber der ubiquitären Feier einiger (nicht aller) Expressionisten sind die anderen Stilrichtungen in den ersten Jahren nach 1945 definitiv zu vernachlässigen: Lässt man punktuelle Initiativen in Galerien (etwa Gerd Rosen in Berlin) außer Acht, werden weder dem Dadaismus noch dem Suprematismus, weder dem Konstruktivismus noch dem Zwei Thesen

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2 Vgl. in diesem Zusammenhang James A. Van Dyke, »Something New on Nolde, National Socialism, and the SS«, in: Kunstchronik, 65, 5, Mai 2012, S. 265–270, hier S. 270: »Old taboos about taking seriously art in National Socialist Germany have certainly eroded to a considerable extent, but the stories told by institutions of art history still have yet to come fully to terms with the unsettling questions about the history of German art […].« 3 Eine Bronze Bettlerin ist mit diesem Titel nicht im Werkverzeichnis (Ernst Barlach. Das plastische Werk, bearbeitet von Elisabeth Laur, Ernst Barlach Stiftung Güstrow, 2006) enthalten, lediglich ein Holzrelief dieses Titels von 1911 (WVZNr. 161). Bei Goebbels’ Ankauf könnte es sich meines Erachtens sowohl um Russische Bettlerin I von 1907 (WVZ-Nr. 117), von der 1933-34 25 Exemplare bei Noack gegossen wurden, als auch um die Bronze Bettlerin mit Kind, ebenfalls von 1907 (WVZ-Nr. 119), gehandelt haben. In Frage käme freilich auch Russische Bettlerin II von 1932, von der 31 Exemplare bekannt sind (WVZ-Nr. 517). 4 Das Werkverzeichnis von Günter Meißner (1962) war mir nicht zugänglich; Lithografien mit dem Titel Vorstadtkinder konnte ich in der Literatur zu Baluschek nicht identifizieren. Vorstellbar wäre, daß es sich dabei um die Lithografie Arbeiterjugend von 1925 (Blatt I, 11 aus dem Zyklus Volk) handelt, oder um Arme Kinder von 1928. 5 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 55/21592, nicht foliiert. Zum Periodisierungsproblem und der Vorstellung, alle modernen Künstler hätten 1933 den Pinsel aus der Hand gelegt, vgl. auch Christian Fuhrmeister, »Legenden, Spezifika und Definitionsfragen«, in: »Der stärkste Ausdruck unserer Tage«. Neue Sachlichkeit in Hannover, Ausst.-Kat. Sprengel Museum Hannover, Hildesheim 2001, S. 11–22, hier S. 18 f.; ders., »Kunst und Architektur im Nationalsozialismus – ein Überblick«, in: Was macht die Kunst? Aus der Werkstatt der Kunstgeschichte, hrsg. von Urte Krass, München 2009, S. 187–205, hier S. 189–193. 6 Christian Fuhrmeister und Susanne Kienlechner, »Tatort Nizza: Kunstgeschichte zwischen Kunsthandel, Kunstraub und Verfolgung. Zur Vita von August Liebmann Mayer, mit einem Exkurs zu Bernhard Degenhart und Bemerkungen zu Erhard Göpel und Bruno Lohse«, in: Kunstgeschichte im »Dritten Reich«. Theorien, Methoden, Praktiken, hrsg. von Ruth Heftrig, Olaf Peters, Barbara Schellewald, Berlin 2008, S. 405–429, hier S. 426 f. 7 Dazu Jonathan Petropoulos, Kunstraub und Sammelwahn. Kunst und Politik im Dritten Reich, Berlin 1999, S. 273–281. 8 So gehörte Hans Müller-Schnuttenbach, der bei der Großen Deutschen Kunstausstellung mit 56 Exponaten (von denen Adolf Hitler 8 erwarb) vertreten war – einzig übertroffen von Franz Eichhorst (57 Exponate, von denen Hitler 26 erwarb), siehe www.gdk-research.de [zuletzt aufgerufen am 26.6. 2013] – und unbestreitbar zu den erfolgreichsten Künstlern in der Zeit des Nationalsozialismus gezählt werden muss, 1954 dem Rat des Kunstvereins München e.V. an (Archiv der Akademie der Bildenden Künste München, X.17.8); so lieferten sich Constantin Gerhardinger und Carl Theodor Protzen (25 und 19 Exponate bei der GDK) um 1950, als Protzen im Vorstand der (Neuen) Münchner Künstlergenossenschaft war, Streitgespräche (Süddeutsche Zeitung, 10.3. 1950,

Surrealismus Ausstellungen gewidmet, weder dem Neuen Sehen und der Avantgarde-Fotografie einer Aenne Biermann noch der Neuen Sachlichkeit Berliner, Hannoverscher oder Dresdner Prägung. Abstrakte und gegenstandslose Kunst scheinen nie existiert zu haben, selbst Pablo Picasso und Max Beckmann werden erst nach einer mehrjährigen Inkubationszeit ausführlicher bzw. in Einzelausstellungen gewürdigt. Mehr noch: Die in weiten Teilen schlicht spießbürgerliche nationalsozialistische Kunstpolitik (die dennoch wesentlich vielfältigere Ergebnisse hervorbrachte als gemeinhin angenommen)10 war in ihrer Prägekraft so nachhaltig, dass, wie etwa Ina Conzen bei der Tagung ausführte, Ende 1945 in Stuttgart Messerattakken auf Werke von Otto Dix und Erich Weinhold verübt wurden. »Reactionary forces were by no means absent«, hält John-Paul Stonard fest,11 und berichtet von mehreren dezidiert antimodernen Affekten und Reaktionen des Publikums aus den Jahren 1945 bis 1947, etwa in dieser Form: »What has become of our wonderful clean German art again? We were so proud, when finally we got rid of our ›Entartete Kunst‹, […] and now they have the nerve to show us dirt again.«12 Beispiele wie dieses führen drastisch vor Augen, dass die erzwungene militärische Kapitulation des Deutschen Reichs und das Ende der nationalsozialistischen Diktatur im Mai 1945 nicht mit einem Sinnes- oder Geschmackswandel in Kunstfragen kurzgeschlossen oder gleichgesetzt werden kann. Im Falle der Brücke-Künstler (anders verhält es sich beim Blauen Reiter) werden somit aus dem vor 1933 außerordentlich breiten (wenn auch sehr unterschiedlich am Markt erfolgreichen) Spektrum künstlerischer Äußerungen just jene Produzenten ins Rampenlicht gezogen und bald auch wieder angekauft, die in den ersten beiden Jahren der NS-Diktatur noch als mögliche Vorbilder für eine zu schaffende genuin nationalsozialistische Kunst gehandelt worden waren. Adolf Behne argumentierte 1947 in Entartete Kunst – eine Hitlerlüge, dass »alle diese entarteten Künstler prachtvoll geradgewachsene Menschenexemplare waren. Deutschere Naturen […] kann ich mir nur schwer vorstellen. Keine Spur war bei Ihnen allen von blassem Ästhetentum, von bleicher Kaffeehausgenialität, sie waren kerngesund an Leib und Seele.« 13 Wie stark das Bild der Nachkriegszeit von der Kunst der »Moderne« tatsächlich verzerrt war, erhellte eine Bemerkung von Laszlo Glozer, der beim Abendvortrag in Köln trocken feststellte, dass – gerade im Fall der Expressionisten, aber auch allgemein – »nie zuvor jemals ein ähnlicher Grad öffentlicher Wertschät236

»Wiederkehr der Gearteten?«, und Protokoll der Sitzung der Künstlergenossenschaft vom 30.10. 1952, Archiv der Akademie der Bildenden Künste München, X.17.f). 9 Genannt sei hier nur der Münchner Kunsthistoriker und -händler Hans Sauermann, ein Mitarbeiter der Kunsthandlung Julius Böhler und Mitglied der »Kommission zur Verwertung der Produkte entarteter Kunst« (dazu zuletzt Meike Hopp, Kunsthandel im Nationalsozialismus: Adolf Weinmüller in München und Wien, Köln Weimar Wien 2012, S. 121 und passim), der als »Experte« im Frühjahr 1946 der Ankaufskommission der Stadt München angehörte (Archiv der Akademie der Bildenden Künste München, III.4, Sammelhefter Kulturausschuß bildender Künstler (1946–1947), Register K). 10 S. gdk-research (wie Anm. 8).

11 John-Paul Stonard, Fault Lines. Art in Germany 1945–1955, London 2007, S. 22.

12 National Archives and Records Administration, Washington DC, OMGUS, ISD 007, Fine Arts, Ilse Nehemias, Proposal of Features on Modern Art on US-Controlled Radio Stations, 26.8. 1946, zitiert nach Stonard 2007 (wie Anm. 9), S. 98; weitere Beispiele S. 97 und 99.

13 Adolf Behne, Entartete Kunst – eine Hitlerlüge. Rede gehalten bei der Eröffnung der Volkshochschule Wilmersdorf 1947, Berlin 1947, S. 45 ff., zit. nach Christian Saehrendt, »Die Brücke« zwischen Staatskunst und Verfemung. Expressionistische Kunst als Politikum in der Weimarer Republik, im »Dritten Reich« und im Kalten Krieg, Stuttgart 2005, S. 87. – Stonard 2007, S. 178, präzisiert, dass die Rede vom Volksbildungsamt bereits am 13.5. 1945 – »just eleven days after the fall of the city to the Red Army« – geplant gewesen sei. – Vgl. ergänzend Martin Papenbrock, »Spiel und Zufall, Ordnung und Gesetz. Adolf Behne und die Rehabilitierung der modernen Kunst in Deutschland nach 1945«, in: Adolf Behne. Essays zu seiner Kunst- und Architektur-Kritik, hrsg. von Magdalena Bushart, Berlin 2000, sowie Maike Steinkamp, Das unerwünschte Erbe. Die Rezeption »entarteter« Kunst in Kunstkritik, Ausstellungen und Museen der SBZ und frühen DDR, Berlin 2008.

zung erreicht« worden war. Es ist dabei signifikant, dass gerade die deutschen Brücke-Künstler pars pro toto, also stellvertretend, für die Fülle und Breite der durchaus international vernetzten künstlerischen Kultur der ersten 30 Jahre des 20. Jahrhunderts in Anspruch genommen wurden. Denn wenn auch viele ihrer Werke de facto auf der wandernden Femeschau Entartete Kunst angeprangert worden waren, so muss doch erstaunen, wie gering demgegenüber die Aufmerksamkeit für die ebenfalls diffamierten, aber weitaus stärker mit physischer Vernichtung bedrohten verfolgten jüdischen Künstler wie etwa Jankel Adler, Otto Freundlich oder Felix Nussbaum war. Soweit ich sehe, gingen von den deutschen Museen zunächst auch keine Anstrengungen aus, Werke emigrierter Künstler (wie etwa Wols) zu zeigen oder gar anzukaufen. Dieses starke Ungleichgewicht, dieses selektive Moderne-Verständnis, sollte zukünftig bei Studien zur Nachkriegszeit stärker berücksichtigt werden: Bei welchen Künstlern wird wo und wann die Notwendigkeit einer Rehabilitierung gesehen, und bei welchen bis wann nicht? Inwiefern korreliert die sukzessive Ausweitung des Künstlerkreises, für den eine symbolische »Wiedergutmachung« als erforderlich erachtet wird, mit der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in der Dekade von 1945 bis 1955? Noch konkreter: Was bedeutet es, dass ausgerechnet der Kriegskünstler Lothar-Günther Buchheim (von dem 22 Werke von der Jury für die GDK zugelassen wurden und der dort eine Zeichnung für 2.400 RM an Goebbels verkaufen konnte14) 1956 die erste größere Monografie der Brücke vorlegte?

14 S. gdk-research (wie Anm. 8).

Inwiefern sind Emphase und Leidenschaft, mit der sich Kuratoren und Kunstkritiker einigen der vormals als »entartet« erklärten Künstler widmen, Teil einer spezifisch deutschen Erinnerungs- und Vergangenheitspolitik (Norbert Frei)? Spätestens mit dieser letzten Frage ist die Funktion der ModerneBegeisterung angesprochen. Zweite These: Die Moderne als Versteck Das Jahr 1945 könne man sich, so Glozer, als Linie vorstellen, die von sehr vielen (Lebens-) Linien gekreuzt oder geschnitten werde. Mit einer solchen Betonung von Kontinuitäten wird die Vorstellung der tabula rasa, des radikalen Neubeginns, die in der Kunstgeschichte oft mit dem Jahr 1945 verbunden wird, in Frage gestellt.15 Ohne breite empirische Basis und ohne Rekurs auf archivalische Quellen sei hier eine Vermutung geäußert: Zwei Thesen

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15 Für den Bereich der universitären Kunstgeschichte vgl. exemplarisch die Münchner Fallstudie zu Hugo Kehrer und Ernst Strauss bei Christian Fuhrmeister, »Blockade und Kontinuität«, in: Kunstgeschichte nach 1945. Kontinuität und Neubeginn in Deutschland, hrsg. von Nikola Doll, Ruth Heftrig, Olaf Peters, Ulrich Rehm, Köln, Weimar, Wien 2006, S. 21–38.

Könnte es sein, dass die Hinwendung zahlreicher Museumsdirektoren und -kuratoren, von Kunsthistorikern und -kritikern, aber natürlich auch von Galeristen und Kunsthändlern, zu einer wie auch immer rudimentären und fragmentierten Vorstellung von Moderne und Avantgarde zumindest in einigen Fällen eine entlastende und (selbst-) reinigende Funktion gehabt haben könnte? Diese Spekulation steht und fällt selbstverständlich mit den Belegen; mir geht es im Rahmen dieses kurzen Beitrags indes vor allem darum, eine Fragerichtung anzudeuten. Aus verschiedenen Gründen sind die Biografien wichtiger Akteure der Nachkriegszeit ganz unterschiedlich gut erforscht. Das Bild, das wir etwa vom Werdegang profilierter Museumsleute haben, ist dementsprechend unvollständig (zu den Desideraten zählen Ludwig Grote ebenso wie Eberhard Hanfstaengl und Georg Poensgen, um nur drei Namen zu nennen). Nicht immer ist die Arbeitsbiografie so ungebrochen wie bei Heiner Dikreiter, der von 1941 bis zu seinem Tod 1966 als Direktor der Städtischen Galerie Würzburg amtierte – und der vor und nach 1945 vor allem Werke jener Künstler erwarb, die auf der GDK in München ausgestellt hatten.16 Angesichts der insgesamt großen Kontinuität der Funktionseliten (in Verwaltung wie in Forschung und Lehre, in der Publizistik wie in der Rechtssprechung, etc.) wäre die Kunstgeschichte eine spektakuläre Ausnahme, hätte es hier keine Beständigkeit gegeben. Vier solcher kunsthistorischen Praxisfelder, alle in den besetzten Gebieten Europas,17 seien hier exemplarisch erwähnt: Erwerbungen für den »Sonderauftrag Linz« (z.B. Erhard Göpel18 und Robert Oertel), die Tätigkeit im Einsatz Reichsleiter Rosenberg (etwa Dietrich Roskamp, Hamburger Kunsthalle), im militärischen Kunstschutz der Wehrmacht (z.B. Leopold Reidemeister oder Ernst-Otto Graf Solms-Laubach) und in der besonders schlecht erforschten Dienststelle »Chef der Heeresmuseen«(genanntseienhiernurPeterHalm,GraphischeSammlung München, und Hans Robert Weihrauch, Bayerisches Nationalmuseum). Selbstverständlich bedarf es der genauen Untersuchung der Einzelfälle. Doch führt man sich die Situation der Nachkriegsjahre vor Augen, diese Gemengelage von Re-Education und Ruinen, Spruchkammerverfahren und Orientierungslosigkeit, dann bietet – für deutsche Kunsthistoriker und Kuratoren, die ihre Einsätze der Jahre 1939 bis 1945 überlebt hatten – die Beschäftigung mit der Kunst der Moderne eine willkommene individuelle 238

16 Tradition und Propaganda. Eine Bestandsaufnahme. Kunst aus der Zeit des Nationalsozialismus in der Städtischen Sammlung Würzburg, hrsg. vom Museum im Kulturspeicher Würzburg, Würzburg 2013.

17 Die Ergebnisse der Tagung vom 27. bis 29.4. 2012 an der TU Berlin, »Kunstgeschichte in den besetzten Gebieten (1939–1945): Diskurse, Strukturen, Praktiken« (http://www.kunstgeschichte. tu-berlin.de/index.php?id=575; zuletzt aufgerufen am 26.6. 2013) erscheinen voraussichtlich im Herbst 2013. 18 Vgl. Christian Fuhrmeister, Susanne Kienlechner, »Erhard Göpel im Nationalsozialismus – eine Skizze«, in: Kunstexperten im Nationalsozialismus, hrsg. von Andrea Baresel-Brand, erscheint voraussichtlich Herbst 2013.

Entwicklungsmöglichkeit. Wie selektiv auch immer: Dies war ein weißes Blatt, das beschrieben werden konnte und sollte, und zwar nicht nur mit Billigung und Unterstützung, sondern geradezu auf Anweisung der jeweiligen Besatzungsmacht (und sicherlich auch mit Rückendeckung durch die lokalen Zivilbehörden). Parallel zu den Entnazifizierungsverfahren fokussierten einige Kuratoren und Kunsthistoriker auf diese Weise jene Aspekte der vergangenen Dekaden, die für sie selbst nicht nur völlig ungefährlich waren, sondern die auch von ihren teils problematischen Aktivitäten im Nationalsozialismus ablenkten. Dies wäre nicht möglich gewesen, wäre die Kunst der Moderne nach 1945 nicht so außerordentlich stark politisch und moralisch aufgeladen worden, als Repräsentantin einer freien Gesellschaft und einer demokratischen Verfassung: »Der Zweck der Präsentationen [von Ausstellungen in den vier Besatzungszonen, bis zur Währungsreform] war, wie den Katalogvorworten zu entnehmen ist, politischmoralischer Natur […].«19 Es ist exakt diese massive Indienstnahme der Kunst, die mir in der Kölner Tagung zu wenig reflektiert worden ist. Paul Jaskot hat zweifellos Recht, wenn er festhält: »All artists and architects after 1945 operated within the context of evolving concepts of the Nazi past. […] In the art history of postwar Germany, however, scholars have surprisingly undervalued the variety of ways this Nazi past wove in and out of the production of art and architecture.«20 Dies bedeutet nicht zuletzt: Die Initiativen und Aktivitäten, die Museumsdirektoren und -kuratoren im Hinblick auf moderne und / oder »entartete« Kunst entfalteten, müssen meines Erachtens wesentlich intensiver auch auf ihre jeweilige individuelle Funktion befragt werden. Von welchen dunklen Flecken der eigenen Biografie konnte mit dieser opportunen Neuausrichtung abgelenkt werden? Für wen hatte die Beschäftigung mit der »Moderne« eine entlastende Funktion, für wen wurde sie zu einem temporären Versteck, in dem man abwarten konnte, und wer konnte nun tatsächlich ein bislang zurückgestelltes oder unterdrücktes, jedenfalls seit den 1920er Jahren ungebrochenes Engagement realisieren? Welchem »Täter« erlaubte der Einsatz für die unschuldige »Moderne«, rückwirkend selbst auch den Status eines »Opfers« zu erlangen?

Zwei Thesen

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19 Dieter Vorsteher, »In die Freiheit entlassen?«, in: Soviel Anfang war nie. Deutsche Städte 1945–1949, hrsg. von Hermann Glaser, Lutz von Pufendorf, Michael Schöneich, Berlin 1989, S. 190–203, hier S. 193.

20 Paul B. Jaskot, The Nazi Perpetrator. Postwar German Art and the politics of the Right, Minneapolis 2012, S. 3.

Bildnachweise S. 29: documenta Archiv Kassel, Foto: Günther Becker; S. 33: Bildarchiv Foto Marburg, Foto: Erich Müller-Cassel; S. 65 und S. 68: Museum Folkwang, Fotoarchiv 2013; S. 74: Archiv Hamburger Kunsthalle; S. 76: Archiv Hamburger Kunsthalle, Foto: Ingeborg Sello; S. 80: Archiv Hamburger Kunsthalle, Foto: vermutlich Ingeborg Sello; S. 84 und S. 86: Archiv Landesmuseum Hannover; S. 95: Rheinisches Bildarchiv Köln; S. 100: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Archiv; S. 105: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Foto: Sven Adelaide; S. 112: Landesarchiv Berlin; S. 126: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Foto: Hilmar Pabel; S. 134 und S. 137: Archiv Kunsthalle Bremen; S. 145: Paul and Virginia Fontaine Archive, Austin / Texas; S. 150: Stadtarchiv Mannheim; S. 155: Kunsthalle Mannheim; S. 167 und S. 175: Staatsgalerie Stuttgart; S. 180: Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin; S. 183: Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes SachsenAnhalt; S. 188 und S. 190: SKD-Archiv; S. 199 oben: Archiv Andreas Hüneke, Potsdam; S. 199 unten: Bilddokumentation der Stiftung Moritzburg, Halle; S. 201: LHASA, MD, Rep. K 10, Nr. 7448, Bl. 161; S. 206: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, F/4641/1980, Foto: Alfons Trapp; S. 211: Leipzig 1952, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, F/2095/1978; S. 221: Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin; S. 228: Landesdenkmalamt Berlin Für die Werke von Otto Dix und Horst Strempel: © VG Bild-Kunst, Bonn 2013 Leider konnten in einigen Fällen die Rechteinhabernicht ermittelt werden. Berechtigte Ansprüche werden im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

Dieses Buch erscheint im Anschluss an die Tagung »So fing man einfach an, ohne viele Worte« Ausstellungswesen und Sammlungspolitik in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, die am 9./10.11. 2012 im Museum Ludwig Köln stattgefunden hat. Herausgeber: Julia Friedrich, Andreas Prinzing Katalogmanagement: Astrid Bardenheuer Lektorat: Stefan Ripplinger Gestaltung: tino graß Lithografie, Druck und Bindung: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

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