Der seit einigen Jahren zu beobachtende Anstieg deutschsprachiger Literatur von AutorInnen osteuropäischer Herkunft wirf
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German Pages 284 Year 2021
Table of contents :
Inhalt
Einleitung „Migrationsvordergrund“ – „Provinzhintergrund.“ Deutschsprachige Literatur aus Osteuropa
Teil I Konzept ‚Osteuropa‘ – Theoretische Aspekte
Kapitel 1 „Go West?“ Zur Frage eines ‚eastern turn‘ in der deutschsprachigen Literatur, zum Konzept ‚Osteuropa‘ und zur Verhandlung der Ost-West-Differenz in Nellja Veremejs Berlin liegt im Osten
Kapitel 2 „Ich bin genauso deutsch wie Kafka“ (Terézia Mora). Zur Infragestellung des Konzepts der Migrantenliteratur
Kapitel 3 Alte Grenzziehungen – neue Ähnlichkeitsbeziehungen. Katja Petrowskajas Vielleicht Esther (2014) und die Neuvermessung der deutschen Literatur in Europa
Kapitel 4 Shared HiStories. Ost-West-Geschichte(n) in Texten von AutorInnen mit osteuropäischem Hintergrund am Beispiel von Olga Martynovas Roman Sogar Papageien überleben uns
Teil II Marktmechanismen und Platzierung im strategischen Feld
Kapitel 5 Chance, Falle, Marketing: Herkunft als Kriterium in Literaturbetrieb und Literaturkritik
Kapitel 6 „Mein Pseudonym sollte schön klingen. Und es sollte deutlich machen, dass ich eine Autorin mit Migrationshintergrund bin.“ Zu Alina Bronskys Positionierungen im literarischen Feld der Gegenwart
Teil III Fallbeispiele
Kapitel 7 Vordergründiger Hintergrund. Authentisches Sprechen in Saša Stanišićs Fallensteller
Kapitel 8 Ein Stück Heimat verspeisen? Zum Verhältnis von Nahrung und Herkunft bei Melinda Nadj Abonji, Saša Stanišić und Alina Bronsky
Kapitel 9 Third Space im Pop 3? Olga Martynovas Mörikes Schlüsselbein und Saša Stanišićs Vor dem Fest
Kapitel 10 Die Zukunft ‚nach Auschwitz‘. Zur Konstruktion des Jüdischen in Jan Faktors Romanen
Kapitel 11 „Ich erzähle alles so, wie der Zopf von der Oma unterm Kopftuch aussieht.“ ExzentrischesErzählen bei Martin Kordićs Wie ich mir das Glück vorstelle
Kapitel 12 Erlebte Erinnerungsstruktur(en) als Teil einer postmodernen Poetik am Beispiel des Romans Das Herz von Chopin (2006) von Artur Becker
Kapitel 13 Malenkaja Strana – Deutschland als Sehnsuchtsort in Lana Lux’ Kukolka
Kapitel 14 „Der Geflüchtete ist eine eigene Kategorie Mensch.“ Narrative der Flucht bei Olga Grjasnowa und Ilija Trojanow
Register
„Migrationsvordergrund“ – „Provinzhintergrund“
Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik studies in german literature and cultural studies
Founding Editor Gerd Labroisse Series Editors William Collins Donahue Norbert Otto Eke Elizabeth Loentz Sven Kramer
VOLUME 94
The titles published in this series are listed at brill.com/abng
„Migrationsvordergrund“ – „Provinzhintergrund“ Deutschsprachige Literatur osteuropäischer Herkunft herausgegeben von
Axel Dunker Jan Gerstner Julian Osthues
LEIDEN | BOSTON
Cover illustration: photography by ©Lenja Dunker, https://lenjadunkerphotography.com The Library of Congress Cataloging-in-Publication Data is available online at http://catalog.loc.gov LC record available at http://lccn.loc.gov/2021033273
Typeface for the Latin, Greek, and Cyrillic scripts: “Brill”. See and download: brill.com/brill-typeface. ISSN 0304-6257 ISBN 978-90-04-46256-4 (hardback) ISBN 978-90-04-46623-4 (e-book) Copyright 2021 by Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands. Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau Verlag and V&R Unipress. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, translated, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without prior written permission from the publisher. Requests for re-use and/or translations must be addressed to Koninklijke Brill NV via brill.com or copyright.com. This book is printed on acid-free paper and produced in a sustainable manner.
Inhalt Einleitung: „Migrationsvordergrund“ – „Provinzhintergrund.“ Deutschsprachige Literatur aus Osteuropa 1 Axel Dunker, Jan Gerstner, Julian Osthues
Teil I Konzept ‚Osteuropa‘ – Theoretische Aspekte 1
„Go West?“ Zur Frage eines ‚eastern turn‘ in der deutschsprachigen Literatur, zum Konzept ‚Osteuropa‘ und zur Verhandlung der Ost-West-Differenz in Nellja Veremejs Berlin liegt im Osten 15 Hansjörg Bay
2
„Ich bin genauso deutsch wie Kafka“ (Terézia Mora). Zur Infragestellung des Konzepts der Migrantenliteratur 40 Manfred Weinberg
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Alte Grenzziehungen – neue Ähnlichkeitsbeziehungen. Katja Petrowskajas Vielleicht Esther (2014) und die Neuvermessung der deutschen Literatur in Europa 57 Iulia-Karin Patrut
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Shared HiStories. Ost-West-Geschichte(n) in Texten von AutorInnen mit osteuropäischem Hintergrund am Beispiel von Olga Martynovas Roman Sogar Papageien überleben uns 76 Axel Dunker
Teil II Marktmechanismen und Platzierung im strategischen Feld 5
Chance, Falle, Marketing: Herkunft als Kriterium in Literaturbetrieb und Literaturkritik 91 Brigitte Schwens-Harrant
6
„Mein Pseudonym sollte schön klingen. Und es sollte deutlich machen, dass ich eine Autorin mit Migrationshintergrund bin.“ Zu Alina Bronskys Positionierungen im literarischen Feld der Gegenwart 108 Ruth Steinberg
vi
Inhalt
Teil III Fallbeispiele 7
Vordergründiger Hintergrund. Authentisches Sprechen in Saša Stanišićs Fallensteller 127 Jan Gerstner
8
Ein Stück Heimat verspeisen? Zum Verhältnis von Nahrung und Herkunft bei Melinda Nadj Abonji, Saša Stanišić und Alina Bronsky 147 Laura Beck
9
Third Space im Pop 3? Olga Martynovas Mörikes Schlüsselbein und Saša Stanišićs Vor dem Fest 166 Martin Schierbaum
10
Die Zukunft ‚nach Auschwitz‘. Zur Konstruktion des Jüdischen in Jan Faktors Romanen 190 Sven Kramer
11
„Ich erzähle alles so, wie der Zopf von der Oma unterm Kopftuch aussieht.“ Exzentrisches Erzählen bei Martin Kordićs Wie ich mir das Glück vorstelle 206 Julian Osthues
12
Erlebte Erinnerungsstruktur(en) als Teil einer postmodernen Poetik am Beispiel des Romans Das Herz von Chopin (2006) von Artur Becker 226 André Steiner
13
Malenkaja Strana – Deutschland als Sehnsuchtsort in Lana Lux’ Kukolka 244 Janine Ludwig
14
„Der Geflüchtete ist eine eigene Kategorie Mensch.“ Narrative der Flucht bei Olga Grjasnowa und Ilija Trojanow 261 Stephanie Catani
Register 275
Einleitung
„Migrationsvordergrund“ – „Provinzhintergrund.“ Deutschsprachige Literatur aus Osteuropa Axel Dunker, Jan Gerstner, Julian Osthues In Bezug auf die deutschsprachige Literatur mit der Kategorie ‚Osteuropa‘ zu operieren, ist nicht unproblematisch. Zwar handelt es sich um einen eingeführten, häufig benutzten Begriff, doch bleibt meist unbestimmt, was genau eigentlich darunter zu verstehen ist. Eine Möglichkeit wäre, ‚Osteuropa‘ mit den Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts zuzüglich der Staaten des früheren Jugoslawien zu identifizieren. In ähnlicher Weise benennt die Forschungsstelle Osteuropa (FSO) an der Universität Bremen ihren Gegenstand mit Bezug auf frühere politische Einheiten als „die Sowjetunion sowie die Länder Ostmitteleuropas, insbesondere Polen und die Tschechoslowakei“1 bzw. als den „Ostblock und seine Gesellschaften mit ihrer spezifischen Kultur […] sowie die […] post-sowjetische[] Region“.2 Anstelle der Orientierung an politischen Konstellationen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ihres Nachlebens hätte sich auch die sprachliche Perspektive angeboten. ‚Osteuropa‘ wäre dann der Raum, in dem mehrheitlich eine slawische Sprache gesprochen wird3 – aber
1 https://www.forschungsstelle.uni-bremen.de/de/4/20161018143141/Forschungsprofil.html; zuletzt geprüft am 22.5.2019. 2 https://www.forschungsstelle.uni-bremen.de/de/2/20110606110855/Die_Forschungsstelle .html; zuletzt geprüft am 22.5.2019. Die von der Forschungsstelle herausgegebenen Länderanalysen umfassen die Staaten Russland, Polen, Ukraine, Belarus, die Kaukasus-Region und Zentralasien (vgl. ebd.). 3 Das führt dazu, dass auch SlawistInnen über die entsprechende auf Deutsch geschriebene Literatur arbeiten. So enthält etwa Eva Hausbachers Studie Poetik der Migration. Transnationale Schreibweisen in der russischen Literatur (Tübingen: Stauffenburg 2009) ein Kapitel über Wladimir Kaminer. Zur „zeitgenössische[n] mittelosteuropäische[n] Literatur“ rechnet sie unterschiedslos die in verschiedenen Sprachen (darunter vor allem auch deutsch) schreibenden „Julia Kissina, Katja Petrowskaja […] Hanna Sukare […] Sergej Lebedev, Olga Martynova, Nellja Veremej, Tanja Maljartschuk, Marjana Gaponenko oder Julya Rabinowich“ (Eva Hausbacher: Tiefe Spuren: Erinnerungstopographien in der zeitgenössischen transkulturellen Literatur. In: „Kontaminierte Landschaften.“ Mitteleuropa inmitten von Krieg und Totalitarismus. Eine exemplarische Bestandsaufnahme anhand von literarischen Texten. Hg. Alexander Höllwerth, Ursula Knoll und Helena Ulbrechtová. Berlin: Peter Lang 2019, S. 165– 179, S. 166.
© Koninklijke Brill NV, Leiden, 2021 | doi:10.1163/9789004466234_002
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Dunker, Gerstner und Osthues
einschließlich Rumäniens und zuzüglich Ungarns (sowie, mit Blick auf das Korpus entsprechender AutorInnen, auch Georgiens und Aserbaidschans). In allen Fällen, das machen die Beispiele deutlich, verlangt die Kategorie, unter der eine Gruppe von jüngeren AutorInnen aus der nicht minder umstrittenen Kategorie der sogenannten ‚Migranten-‘ oder ‚Migrationsliteratur‘ gefasst werden soll, die Hinzufügung einer Ausnahme oder einer Erweiterung. Als geografische Bezeichnung taugt ‚Osteuropa‘ ohnehin wenig, denn einige der AutorInnen, die für eine entsprechende Korpusbildung in Frage kämen, kommen aus Gegenden, die westlich von Wien liegen – und wer käme auf die Idee, z.B. Elfriede Jelinek als ‚osteuropäische Autorin‘ zu bezeichnen? Andere, wie die in Aserbaidschan geborene Olga Grjasnowa, stammen so weit aus dem Osten, dass manche schon nicht mehr von Europa sprechen wollen. Was also hat es auf sich mit einem Phänomen, das in der Forschung bereits in der Vergangenheit mit so vielversprechenden Schlagworten wie „Eastern Turn“4 oder „Osterweiterung“5 belegt wurde, und das jedes Mal, wenn man es begrifflich zu fassen versucht, auf eine äußerst unsichere Referenz hinausläuft? Dass es eine neue Entwicklung in der deutschsprachigen Literatur gibt, die mit einer Migrationsbewegung aus bestimmten Ländern und Regionen zusammenhängt, darauf deuten selbst etwas vorsichtigere, additive Beschreibungen wie die von der „zunehmende[n] Bedeutung von AutorInnen aus dem ehemaligen Jugoslawien, Mittel- und Osteuropa sowie der ehemaligen Sowjetunion“6 hin. Allerdings stellt sich auch hier die Frage, wo zwischen der ehemaligen Sowjet union und Mitteleuropa nun eigentlich Osteuropa liegen soll. Die Rede vom „Eastern turn“, der „Osterweiterung“ oder der „zunehmenden Bedeutung“ entsprechender AutorInnen kann durchaus auf den beachtlichen Anstieg von Texten auf dem Buchmarkt seit der Jahrtausendwende und insbesondere in den vergangenen Jahren verweisen: Bereits 2008 hat Irmgard Ackermann eine fünfzehnseitige bio-bibliographische Übersicht von auf Deutsch schreibenden AutorInnen aus Ost- und Südosteuropa erstellt, die insgesamt 62 AutorInnen mit mehr als 304 Texten umfasst.7 Seitdem sind 4 Brigid Haines: The Eastern Turn in Contemporary German, Swiss and Austrian Literature. In: Debatte: Journal of Contemporary Central and Eastern Europe 16 (2008), S. 135–149. 5 Michaela Bürger-Koftis (Hg.): Eine Sprache – viele Horizonte… Die Osterweiterung der deutschsprachigen Literatur. Porträts einer neuen europäischen Generation. Wien: Praesens 2008. 6 Hansjörg Bay: Migrationsliteratur (Gegenwartsliteratur III). In: Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Hg. Dirk Göttsche, Axel Dunker und Gabriele Dürbeck. Stuttgart: Metzler 2017, S. 323–332, S. 330. Zum Versuch einer weiteren Verortung der Migrationsliteratur in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vgl. den Beitrag von Martin Schierbaum in diesem Band. 7 Irmgard Ackermann: Bio-bibliographischer Anhang: Autoren aus Ost- und Südosteuropa in der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Eine Sprache – viele Horizonte. Hg. Bürger-Koftis, S. 23–38.
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zahlreiche, z.T. sehr erfolgreiche und mit wichtigen Preisen prämierte AutorInnen dazugekommen.8 Nicht zuletzt der Adelbert-von-Chamisso-Preis, den seit 2008 insgesamt zwanzig AutorInnen aus den hier in Frage kommenden Regionen erhielten,9 spiegelt diese Tendenzen wider. Hier hat sich die Anzahl an AutorInnen mit ‚osteuropäischem‘ Hintergrund (2009–2017) gegenüber dem Zeitraum seit Gründung des Literaturpreises (1985–2008) nahezu verdoppelt.10 Am Adelbert-von-Chamisso-Preis lässt sich in anderer Hinsicht wieder eine weitere Komplexität der Bestimmung ‚osteuropäischer Herkunft‘ aufzeigen. Das ursprünglich einschlägige Kriterium „nicht deutscher Muttersprache“11 wurde zwar 2012 zugunsten einer weiteren Umschreibung der Auszeichnungskriterien aufgegeben; zwei Jahre zuvor gewann aber mit Terézia Mora schon eine Autorin den Preis, die gar keinen Sprachwechsel im Sinne der Ausschreibungskriterien der Robert Bosch Stiftung vollzogen hat. Ähnlich wie Herta Müller in Rumänien (die, wie auch Libuše Moníková, als Angehörige einer älteren Generation in diesem Band, der die letzten zehn bis zwanzig Jahre fokussiert, nicht behandelt wird) gehörte sie in Ungarn zur deutschsprachigen Minderheit. An Moras Beispiel wird zugleich sichtbar, dass in den komplexen Verortungsprozessen, die hier am unscharfen Begriff ‚Osteuropa‘ verfolgt
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2010 erhielt Melinda Nadj Abonji sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis für Tauben fliegen auf; 2012 debütierte Olga Grjasnowa mit Der Russe ist einer, der Birken liebt und gewann den Anna Seghers-Preis; 2012 überzeugte Olga Martynova die Jury des Ingeborg Bachmann-Wettbewerbs; auf sie folgte ein Jahr später Katja Petrowskaja. 2015 wurde Kat Kaufmanns Debütroman Superposition mit dem Aspekte-Literaturpreis prämiert. Andere, schon länger etablierte AutorInnen wie Saša Stanišić oder Terézia Mora sind gerade in letzter Zeit mit weiteren sehr wichtigen Preisen ausgezeichnet worden, so 2017 Mora mit dem Bremer Literaturpreis und dem Preis der Literaturhäuser sowie 2018 mit dem Georg-Büchner-Preis und Stanišić 2019 mit dem deutschen Buchpreis. 9 2008: Saša Stanišić (Hauptpreis), Léda Forgó (Förderpreis); 2009: Artur Becker (Hauptpreis), Tzveta Sofronieva (Förderpreis); 2010: Terézia Mora (Hauptpreis), Nino Haratischwili (Förderpreis); 2011: Olga Martynova und Nicol Ljubić (Förderpreis); 2012: Michael Stavarič (Hauptpreis), Akos Doma und Ilir Ferra (Förderpreis); 2013: Marjana Gaponenko (Hauptpreis), Matthias Nawrat und Anila Wilms (Förderpreis); 2014: Dana Ranga und Nellja Veremej (Förderpreis); 2015: Olga Grjasnowa und Martin Kordić (Förderpreis); 2016: Uljana Wolf (Hauptpreis); 2017: Barbi Marković (Förderpreis). 10 Bereits 2008 stellt Irmgard Ackermann heraus, dass seit Gründung des Chamisso-Preises 1985 von insgesamt 58 PreisträgerInnen 21 aus Ost- und Südosteuropa stammen (vgl. Irmgard Ackermann: Die Osterweiterung in der deutschsprachigen „Migrantenliteratur“ vor und nach der Wende. In: Eine Sprache – viele Horizonte. Hg. Bürger-Koftis, S. 13–22, S. 18). Ackermann kommt zu dem Fazit: „Die Preisverleihungen spiegeln damit in gewisser Hinsicht die gesamte Szene der sogenannten Migrantenliteratur wieder [sic], die in immer stärkerem Maße von Autoren aus Osteuropa geprägt wird.“ (Ebd., S. 19). 11 https://www.bosch-stiftung.de/de/projekt/adelbert-von-chamisso-preis-der-robert -bosch-stiftung, zuletzt geprüft am 22.5.2019.
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Dunker, Gerstner und Osthues
werden, die Muttersprache nur ein Faktor unter vielen ist, der zudem selbst wieder keine Einheit garantiert: Als ich – 1990, im Alter von 19 Jahren – nach Deutschland, genauer: nach Berlin, kam, konnte ich bereits etwas, das man eine deutsche Sprache nennen konnte. Aber zum einen stammte diese Sprache aus einem anderen Territorium: Minderheitendeutsch aus dem ländlichen Ungarn vs. Nachwende-Ostberlinerisch vs. Nachwende-Westberlinerisch vs. Humboldt-Universitätsdeutsch vs. und so weiter. Du kommst mit deiner Sprache, die von vornherein deterritorialisiert gewesen wäre, in eine Situation, in der auch in der Sprache der bereits anwesenden Mehrheit gerade eine starke Wandlung vor sich geht.12 Die Wendung „Nachwende-Ostberlinerisch vs. Nachwende-Westberlinerisch“ macht deutlich, dass eine politische Grenzziehung zwischen Ost- und Westeuropa streng genommen dann auch die DDR zu Osteuropa rechnen müsste. Manche bis heute andauernde (nicht nur, aber auch) sprachliche und kulturelle Missverständnisse zwischen Ost- und Westdeutschen haben in der Tat wohl auch damit etwas zu tun. Eines der großen Probleme der Verortung von ‚Osteuropa‘ liegt sicherlich darin begründet, dass die Bezeichnung oft Abwehr und Ausgrenzung hervorruft, nach dem Motto: „Osten sind immer die Anderen!“13 Manfred Weinberg und Hansjörg Bay weisen in ihren Beiträgen zu diesem Band auf diese Schwierigkeit hin, und tragen damit zugleich zur Diskussion über die infrage stehenden Kriterien einer Korpusbildung bei. ‚Osteuropa‘ erweist sich in dieser Perspektive als „Diskursraum“,14 der sich aus der Fremd- und Selbstwahrnehmung gegenüber ‚(West-)Europa‘ konstituiert – in diesem Sinne geht es bei der Rede von ‚Osteuropa‘ hier immer um Diskurs, nicht um Geographie. Daher laufen geographische, politische, sprachliche oder kulturelle Präzisierungen und Korrekturen der Bezeichnung ‚osteuropäisch‘, so notwendig sie sachlich 12 Terézia Mora: Nicht sterben. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. München: Luchterhand 2014, S. 12f. 13 Stefan Troebst: „Osten sind immer die Anderen!“. „Mitteleuropa“ als exklusionistisches Konzept (http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/132980/ osten-sind-immer-die-anderen?p=all, zuletzt geprüft am 22.5.2019). 14 Christa Ebert: Literatur in Osteuropa. Russland und Polen. Berlin: Akademie 2010, S. 7; Ebert bezieht sich dabei auf Manfred Hildermeier: Wo liegt Osteuropa und wie gehen wir mit ihm um? In: Themenportal Europäische Geschichte (https://www.europa.clio-online. de/essay/id/artikel-3218, zuletzt geprüft am 22.5.1019).
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sein mögen, mit Blick auf die Performanz der Bezeichnung ein Stück weit ins Leere. Implizit wird über ein ‚Osteuropa‘ auch ein ‚Westeuropa‘ konstruiert, ein essentialisierender Wechselprozess, der an Edward Saids Beschreibung der Konstruktion eines homogenen ‚Orients‘ erinnert. Katrin Sorko spricht in diesem Zusammenhang von einem „‚Osteuropäismus‘-Diskurs – ein stereotypes Bild von Osteuropa, das der ‚Westen‘ zu seiner Selbstdefinition konstruiert hat“.15 Aufgerufen wird aber auch die Frage nach der Grenze zwischen West und Ost. Ist es einfach der ‚Eiserne Vorhang‘ zwischen der ehemaligen Sowjetunion und ihren Einflussgebieten auf der einen und den liberalen Demokratien auf der anderen Seite? Die drei Jahrzehnte, die nach der Öffnung des Vorhangs vergangen sind, sollten diese Grenzziehung, wenn es sie denn überhaupt so strikt gegeben hat, doch mittlerweile verwischt haben. Terézia Mora, die als bisher einzige Autorin mit ‚migrantischem Hintergrund‘ mit dem Büchnerpreis als dem wichtigsten Preis für deutschsprachige Literatur ausgezeichnet worden ist, stellt in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen (auch bei dieser für die deutschsprachige Literatur wichtigen Institution ist Mora zusammen mit Navid Kermani die bisher einzige Autorin mit entsprechender Biographie) die Frage nach dieser Grenze: Noch einmal: welche Grenze, was für eine Grenze? Diejenige, die dieses rohe, armselige Leben von einem geheimnisvollen „Drüben“ trennt, wobei das „Hier“ nicht der „Osten“ ist und das „Drüben“ nicht der „Westen“, das wäre zu banal. Die Grenze verläuft zwischen Freiheit und Gefangenschaft, zwischen Macht und Ohnmacht.16 Mora, die aus „einem kleinen Dorf in Westungarn“ stammt, spricht davon, ihre „ersten Narrative“ seien „die der Repression“ gewesen: „Vernachlässigung des körperlichen Wohlergehens, Misstrauen gegenüber jeder Form von Intellektualität, sexuelle Frustration, gelebte Vorurteile, weit reichende seelische Verwahrlosung, Alkoholismus, Härte des Herzens und Gewalttätigkeit.“17 In ihrer Kennzeichnung ist es nicht nur der „real existierende Sozialismus“ und mit ihm der politische ‚Eiserne Vorhang‘, der diese Repression mit sich brachte, sondern
15 Katrin Sorko: Die Literatur der Systemmigration. Diskurs und Form. München: Meidenbauer 2007, S. 89. 16 Mora: Nicht sterben, S. 27. 17 Ebd., S. 10.
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hinter/unter/neben dieser Tyrannei wirkte ein ganzer Komplex „mehrerer durchweg autoritärer Systeme, die älter waren als der real existierende. Zusammengefasst, vereinfacht und verkürzt: bäuerliche Lebensweise, katholische Religionsausübung sowie […] die Zugehörigkeit zu einer ethnischen (genauer: sprachlichen) Minderheit […].“18 Mora verwendet im Übrigen für ihre unmittelbare Herkunft den Begriff ‚Mitteleuropa‘ („Wo stammst du her? Aus einem Dorf in Mitteleuropa“19), für einen größeren Zusammenhang spricht sie von ‚Osteuropa‘: „Die Wanderbewegung aus Osteuropa in den Westen. Darunter jene, die gegangen waren, weil sie es nun konnten und wollten (ich)“.20 Gerade bei einem transkulturellen Phänomen wie der Literatur von Migrant Innen können sich Selbst- und Fremdwahrnehmungen in einer Weise überschneiden, die hinsichtlich der Wirksamkeit von Kategorien, mit denen ‚wir‘ (wer immer das ist) diese Texte betrachten, aufschlussreich sind. Eine Literatur der Migration ist nicht einfach der Ausdruck einer Erfahrung, die sich aus der fremden Herkunft herschreibt, sondern bringt mindestens ebenso die an diese Herkunft gebundenen Zuschreibungen zur Sprache, wie sie in der Ankunftsgesellschaft erfahren werden. In deren Sprache und für deren Publikum sind die Texte schließlich meist geschrieben. Und selbst wenn viele der AutorInnen von ihrem Status als ‚Migranten vom Dienst‘ – Mora spricht von „Berufs-Fremde“21 und „Berufsungarin“22 – nichts mehr wissen wollen und sich auch in ihren Texten längst von diesem Status emanzipiert haben,23 lässt sich die Fremdzuschreibung der Fremdheit oft nicht ganz ausschalten. In diesem Sinne könnte 18 19 20 21
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Ebd. Mora zitiert sich hier selbst aus ihrem Aufsatz: Das Kreter-Spiel. In: Sprache im technischen Zeitalter 183 (2007), S. 333–343. Mora: Nicht sterben, S. 20. Ebd., S. 34. Vgl. dazu die Aussage im Interviewgespräch zwischen Terézia Mora, Imran Ayata, Wladimir Kaminer und Navid Kermani in der Zeitschrift Cicero. Magazin für politische Kultur (https://www.cicero.de/ich-bin-ein-teil-der-deutschen-literatur-so-deutsch-wie -kafka/45292, zuletzt geprüft am 22.5.2019). Olga Olivia Kasaty: Gespräch mit Terézia Mora. In: Entgrenzungen. Vierzehn Autorengespräche über Liebe, Leben und Literatur. München: edition text + kritik 2007, S. 223–256, S. 230. Vgl. dazu exemplarisch Terézia Mora: „Grenzen zu verschieben ist schon sehr wichtig, und natürlich könnte man diese eine Sache immer wieder aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten, ich könnte mein Leben lang die gleiche Geschichte schreiben, diese Grenze, sagen wir mal, in 22 Büchern hin und her schieben – aber so etwas mache ich nicht. Meine Entscheidung war eine andere, und zwar die, dass ich dieses eine Buch schreibe und fertig – nie wieder das gleiche Thema. Vor allem deswegen, weil ich nicht will, dass es mich mein ganzes Leben lang festhält, […]. Ich muss nicht an diesem Grenzgebiet
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auch ‚Osteuropa‘ sich bei aller Fragwürdigkeit als eine – im deutschsprachigen Literaturbetrieb – sehr wirkmächtige Kategorie erweisen. Es geht bei der Rede von deutschsprachiger Literatur ‚aus Osteuropa‘ also immer auch um die perspektivischen Verzerrungen, die mit dieser Bezeichnung einhergehen. Wie wirksam solche Verzerrungen sind, d.h. wie sehr die Texte selbst von bestimmten Zuschreibungen abhängen und diese teilweise auch einkalkulieren, zeigt eine Rezension, die auf die problematische Bezeichnung „Osteuropa“ ganz verzichtet und gleich von den „neuen deutschen Russinnen“24 spricht. Rezensiert werden dabei mit Alina Bronskys Scherbenpark, Olga Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt und Nino Haratischwilis Mein sanfter Zwilling Texte von Autorinnen, die zwar aus ehemaligen Sowjetrepubliken stammen, aber nur im Fall Bronskys aus Russland. Während Bronsky, wie Ruth Steinberg in ihrem Beitrag zu diesem Band exemplarisch zeigen kann, ihre Herkunft sehr gezielt für die Konstruktion einer bestimmten Autor-Persona einsetzt, ist das ‚Russische‘ bei Grjasnowa bereits in den Romantitel eingewandert und wird im Text als problematische Fremdzuschreibung reflektiert.25 In beiden Fällen ist der Umgang mit den Zuschreibungen, mit den Konnotationen des ‚Osteuropäischen‘ oder hier spezifischer ‚Russischen‘, offenkundig und Teil von – durchaus unterschiedlichen – literarischen Strategien. Diese Strategien tendieren, insbesondere im Fall von Grjasnowa, zur Problematisierung von Fragen der Identität und Herkunft26 sowie schließlich festkleben. Ich mag es auch nicht, dass ich hier in Deutschland die Berufsungarin sein muss.“ (Ebd., S. 229f.). 24 Nadja Luschina: Die neuen deutschen Russinnen. Generationsgeschichten von Alina Bronsky, Olga Grjasnowa, Nino Haratischwili und anderen. In: andererseits. Yearbook of Transatlantic German Studies 3 (2013), S. 245–254. 25 Vgl. dazu den Beitrag von Laura Beck im vorliegenden Band, der die literarische Darstellung des Verhältnisses von Herkunft/Identität und Nahrung thematisiert und dabei auch Strategien der (Selbst-)Exotisierung problematisiert. Zu Grjasnowa vgl. auch Stephanie Catani: Im Niemandsland. Figuren und Formen der Entgrenzung in Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012). In: Über Grenzen. Texte und Lektüren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. dies. und Friedhelm Marx. Göttingen: Wallstein 2015, S. 95–109; Axel Dunker: „Was ist damals in Baku passiert?“ Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten und Gedächtnisdiskurse bei Autorinnen und Autoren mit osteuropäischem Hintergrund am Beispiel von Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt. In: Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit als kulturhistorisches Phänomen. Räume – Materialien – Erinnerungen. Hg. von Dagmar Freist, Sabine Kyora und Melanie Unseld. Bielefeld: transcript 2019, S. 169–180. 26 Eine der Figuren, die „deutscher Staatsbürger“ ist, „in Beirut geboren und in Paris sowie in Frankfurt a.M. aufgewachsen, Sohn eines Schweizer Bankiers und einer Libanesin, seine eigentliche Muttersprache ist Französisch“ (Catani: Im Niemandsland, S. 98) antwortet auf die Frage, „wo er denn wirklich herkäme“: „Ich komme aus Madagaskar. […]
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Dunker, Gerstner und Osthues
zur Auseinandersetzung mit Deutschland als dem Land, in dem diese Fragen ausgetragen werden, in dem sie sich überhaupt stellen und damit mit den Problemen und Ausflüchten der deutschen Einwanderungsgesellschaft.27 Texte, die dies leisten, stehen aus verständlichen Gründen meist im Fokus der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung. Das Phänomen ‚osteuropäischer‘ AutorInnen ist dabei aber auch vor dem Hintergrund einer Textproduktion zu sehen, die auf weniger komplexe Weise den Horizont des ‚Osteuropäischen‘ in den deutschsprachigen Buchmarkt einbringt. Ein Buch wie z.B. Anna Galkinas Das kalte Licht der fernen Sterne bedient nicht nur inhaltlich einen bestimmten Erwartungshorizont, indem das spät- und postsozialistische Elend einer Kindheit und Jugend in der UdSSR in den schwärzesten Farben ausgemalt wird.28 Instruktiv ist bereits die Umschlagsgestaltung mit einem zentral platzierten roten Stern, um den sich vom Samowar über die Leninstatue bis zum Plumpsklo Gegenstände reihen, die als Konnotate von Kultur und Politik des ‚Ostens‘ sowie von dessen vorgeblicher infrastruktureller und ökonomischer Rückständigkeit den Horizont dessen umreißen, was (zumindest in den Augen des Verlags) Russland oder ‚Osteuropa‘ für das deutsche Publikum darstellen. In Anlehnung an Roland Barthes ließe sich davon sprechen, dass dieses Bild sowie der Text darauf abzielen, eine ‚Osteuropäität‘ zu inszenieren.29 Dabei – im Fall von Galkinas Roman gilt dies freilich eher für die Umschlaggestaltung als für den Text – dürfte sicherlich auch eine mehr oder weniger exotisierte
Dort leben alle in Baumhäusern und ernähren sich ausschließlich von Bananen“ (Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt. München: Hanser 2012, S. 142). 27 In dieser Hinsicht lassen sie sich häufig dem weiter gefassten Konzept einer Literatur der Postmigration zuordnen, vgl. dazu Heidi Rösch: Von der Migrations- zur postmigrantischen Literatur? Ansätze einer postmigrantischen Lesart. In: Neue Formen des Poetischen. Didaktische Potenziale von Gegenwartsliteratur. Hg. Irene Pieper und Tobias Stark. Frankfurt a.M.: Lang 2016, S. 239–263; Moritz Schramm: Jenseits der binären Logik. Postmigrantische Perspektiven für die Literatur- und Kulturwissenschaft. In: Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik. Hg. Naika Foroutan, Juliane Karakayalı und Riem Spielhaus. Frankfurt a.M., New York: Campus 2018, S. 83–94; zum sozialwissenschaftlichen Hintergrund des Konzepts vgl. zuletzt Postmigrantische Visionen. Hg. Marc Hill und Erol Yildiz. Bielefeld: transcript 2018. 28 Vgl. Anna Galkina: Das kalte Licht der fernen Sterne. Frankfurt a.M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2016. 29 Vgl. Barthes’ berühmte Analyse einer Panzani-Werbung, bei der er die „Italienität“ des Werbefotos herausarbeitet – was als Wort gewiss weniger befremdlich klingt als „Osteuropäität“ (Roland Barthes: Rhetorik des Bildes. In: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Übers. Dieter Hornig. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 18–46, S. 30).
„Migrationsvordergrund“ – „Provinzhintergrund“
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Form von ‚Ostalgie‘30 mitschwingen, die eine (nicht nur) typisch deutsche Sehnsucht nach Vergangenheit aufruft. In ähnlicher Weise arbeitet auch die Umschlaggestaltung von Lana Lux’ Roman Kukolka,31 den Janine Ludwig in ihrem Beitrag untersucht, mit einer Collage von ‚osteuropäischen‘ Stereotypen. Zur Platzierung dieses Debütromans in einem bestimmten Diskurs (oder einem bestimmten Buchmarktsegment) gehört auch, dass auf der Umschlagrückseite mit Lena Gorelik und Olga Grjasnowa zwei weitere ‚Autorinnen osteuropäischer Herkunft‘ zitiert werden. Solche Verlagsstrategien, die Brigitte Schwens-Harrant in ihrem Beitrag genauer untersucht, tragen nicht unwesentlich zum Phänomen eines ‚eastern turn‘ bei und werden von der Literaturkritik auch entsprechend gewürdigt. Wenn Paul Jandl in der Welt Galkinas Roman an die Seite von Saša Stanišićs Wie der Soldat das Grammofon repariert, Melinda Nadj Abonjis Tauben fliegen auf und Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt stellt,32 dann steht bei dieser Korpusbildung ganz offensichtlich auch ein Konzept nicht nur von Migrationsliteratur, sondern auch von ‚osteuropäischer‘ Migrationsliteratur im Hintergrund. Es scheint im deutschsprachigen Literaturbetrieb also die Vorstellung zu geben, dass hier etwas zusammengehört – ob es wirklich zusammenpasst, ist dann zunächst eine nachgeordnete Frage. Eines der Ziele des vorliegenden Bandes ist es dementsprechend, nicht nur diese letztere, zweifellos notwendige Frage aufzuwerfen, sondern auch zu überprüfen, ob bei aller Fragwürdigkeit des Labelings das Label selbst nicht doch eine Produktivität entfaltet, die über die exotistische Konstruktion einer ‚Osteuropäität‘ hinausgeht. Wie produktiv die Fragwürdigkeit eines solchen Labels literarisch werden kann, zeigt die Titelgeschichte von Saša Stanišićs 2016 erschienenem Erzählband Fallensteller, die auch einen der Titelbegriffe des vorliegenden Bands geliefert hat. Einer der Protagonisten, ein junger Mann aus einem Dorf in der Uckermark, gewinnt hier einen Preis für Nachwuchsschriftsteller, und 30 „Das Kunstwort Ostalgie“, so schreibt Katharina Grabbe in ihrer Dissertationsschrift Deutschland – Image und Imaginäres, „setzt sich zusammen aus den Begriffen ‚Osten‘ – bezogen auf die DDR – und ‚Nostalgie‘. Es bezeichnet in der allgemeinen Auffassung die positiven und rückblickend verklärenden Erinnerungen an die DDR.“ (Katharina Grabbe: Deutschland – Image und Imaginäres. Zur Dynamik der nationalen Identifizierung nach 1990. Berlin, Boston: de Gruyter 2014, S. 128). Dass mit einer Literatur der Migration noch weitere Formen der Erinnerungspoetik verknüpft sind, zeigt André Steiner in seinem Beitrag zum vorliegenden Band. 31 Lana Lux: Kukolka. Berlin: Aufbau 2017. 32 Paul Jandl: Als die weite Welt noch Thomas Anders hieß. In: Die Welt, 30.6.2016 (https:// www.welt.de/kultur/literarischewelt/article156685013/Als-die-weite-Welt-noch-Thomas -Anders-hiess.html, zuletzt geprüft am 22.5.2019).
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Dunker, Gerstner und Osthues
begründet wird dies mit der „originelle[n] Musikalität“ seiner Sprache, die „sicherlich“ etwas „damit zu tun hat“, dass es sich um einen „Autor mit Provinzhintergrund“ handelt.33 Diese Passage, die von einigen AutorInnen des vorliegenden Bands dankbar aufgegriffen wurde und die Jan Gerstner in seinem Beitrag zum Ausgangspunkt für eine Lektüre von Fallensteller als Auseinandersetzung mit der Kategorie ‚Migrationsliteratur‘ nimmt, kehrt in ironischer Weise jenen „Migrationsvordergrund“ um, den Kat Kaufmann in ihrem Debüt Superposition von 2015 in deutlich aggressiverer Weise exponiert: „Jaja … Migrationshintergrund./Keine Ahnung habt ihr! Könnt ihr auch gar nicht! Und ich hätte euch gern fest in den Kiefer gegriffen, und in die starren angsterfüllten Augen geschrien – VORDERGRUND! MigrationsVOR-DERGRUND!“34 Dieses Spiel von Vordergrund und Hintergrund, eines sogenannten Migrationshintergrunds, der allzu oft in den Vordergrund gerückt wird, und der natürlich auch beim Provinzhintergrund im Hintergrund steht, koppelt gleichzeitig in bezeichnender Weise die Begriffe von Migration und Provinz. Auf den ersten Blick mag es kontraintuitiv erscheinen, einen transversalen Begriff wie Migration an die doch eher bodenständige, wenig bewegliche Provinz zu koppeln, und doch kommt mit der Provinz eine Peripherie ins Spiel, an die auch viele Migranten qua vermeintlicher Herkunft vom Zentrum her gesehen immer wieder verwiesen werden.35 Gerade im Fall von ‚Osteuropa‘ erscheinen trotz mancher Metropole Vorstellungen des provinziellen Rands von Europa doch nicht so fern. Dabei sind viele der Länder, die oft ‚Osteuropa‘ zugeschlagen werden, auch aus deutscher Perspektive alles andere als peripher und randständig. Historisch gesehen sind sie mit der deutschen Geschichte eng verflochten; auch wenn dies in Deutschland lange Zeit vor allem unter dem Aspekt einer ‚verlorenen Heimat‘ wahrgenommen wurde. AutorInnen aus Osteuropa bringen so, wie Iulia-Karin Patrut in ihrem Beitrag ausführt, andere Literaturgeschichten und Narrative und andere Gegenstände des ‚kollektiven Gedächtnisses‘ in die deutschsprachige Literatur ein. Axel Dunker verdeutlicht das in seinem Beitrag am Beispiel der Belagerung Leningrads in Olga Martynovas Roman Sogar Papageien überleben uns (2010). Dies gilt in ähnlicher Weise ebenso für die historische Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wie sie Sven Kramer mit Blick auf die Konstruktion des Jüdischen am Beispiel von Jan Faktors 2010 erschienem Roman Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder 33 Saša Stanišić: Fallensteller. 2. Aufl. München: Luchterhand 2016, S. 173. 34 Kat Kaufmann: Superposition. Hamburg: Hoffmann und Campe 2015, S. 67. 35 Zum Spannungsverhältnis von Peripherie und Zentrum vgl. die Überlegungen von Julian Osthues zur Kategorie des exzentrischen Erzählens in diesem Band.
„Migrationsvordergrund“ – „Provinzhintergrund“
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Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag untersucht. In allen diesen Fällen wird deutlich, dass mit ‚Osteuropa‘ kein ferner, exotischer Osten in den Blick rückt, sondern ein ‚Fremdes‘, das dem ‚Eigenen‘ (um einmal diese Kategorien zu verwenden) sehr viel näher steht, als es die derzeit mit Migration verbundenen Assoziationen nahelegen. ‚Osteuropa‘ wäre so gesehen ein Versuch, diesem vermeintlich Fremden einen Ort zuzuweisen. Zum Aufbau des Bandes: Im ersten Teil werden theoretische Aspekte und Kontexte des Konzepts ‚Osteuropa‘ erörtert. Eher skeptischen Einlassungen Hansjörg Bays, der die Unschärfe des Begriffs bemängelt, und Manfred Weinbergs, der aus mitteleuropäischer Perspektive auch das Konzept der ‚Migrantenliteratur‘ in Frage stellt, stehen mit den Ausführungen Iulia-Karin Patruts, die dem Begriff der Grenze die in den letzten Jahren in der inter- und transkulturellen Literaturwissenschaft verstärkt diskutierte Kategorie der Ähnlichkeit entgegenhält, und Axel Dunkers Rückgriff auf das Konzept der ‚Shared History‘ Beiträge gegenüber, die die Osteuropa-Kategorie durch Kombination mit Elementen aus anderen Theorie-Zusammenhängen zu befruchten versuchen. Die beiden folgenden Beiträge von Brigitte Schwens-Harrant und Ruth Steinberg fokussieren das Label Osteuropa im Hinblick auf Marketing-Aspekte bzw. als Möglichkeit zur Selbst-Positionierung im literarischen Feld. Der dritte Teil enthält Einzel- und Fallstudien zu Autorinnen und Autoren wie Melinda Nadj Abonji, Saša Stanišić und Alina Bronsky, Olga Martynova, Jan Faktor, Martin Kordić, Artur Becker, Lana Lux, Olga Grjasnowa und Ilija Trojanow. Die Textanalysen vor dem Hintergrund von Zusammenhängen der Pop-Literatur und der Konstruktion des Jüdischen, postmoderner Poetik und Narrativen der Flucht zeigen, dass eines gelten kann für die deutschsprachige Literatur mit osteuropäischem Hintergrund: sie ist so vielfältig und individuell, dass sie in einlinigen Beschreibungsversuchen, die Herkunft oder Migration für sie verabsolutieren, nicht aufgeht. Wir bedanken uns bei der Zentralen Forschungsförderung (ZF) der Universität Bremen sowie beim Institut für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien (IfkuD) für die finanzielle Unterstützung der Tagung, aus der dieser Band hervorgegangen ist. Weiterer Dank gilt dem Durden Dickinson Bremen Program, das die Tagung mit einem Workshop begleitet und die Lesung von Lana Lux im Begleitprogramm durch eine großzügige Spende von Bill und Elke Durden unterstützt hat, sowie der globale°. Festival für grenzüberschreitende Literatur, in deren Rahmen die Tagung vom 9.–11. November 2017 stattfinden konnte.
Teil I Konzept ‚Osteuropa‘ – Theoretische Aspekte
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kapitel 1
„Go West?“ Zur Frage eines ‚eastern turn‘ in der deutschsprachigen Literatur, zum Konzept ‚Osteuropa‘ und zur Verhandlung der Ost-West-Differenz in Nellja Veremejs Berlin liegt im Osten Hansjörg Bay 1
Performative Widersprüche. Zur Frage nach der „Literatur von AutorInnen ‚osteuropäischer‘ Herkunft“
Betrachtet man den Buchmarkt der letzten beiden Dekaden, so scheint sich die Frage nach der „Deutschsprachige[n] Literatur von AutorInnen ‚osteuropäischer‘ Herkunft“1 geradezu aufzudrängen. Ihre rapide Zunahme und die ihr zuteil gewordene Anerkennung fallen so sehr ins Auge, dass nicht ohne Grund von einem ‚eastern turn‘ oder ‚eastern European turn‘ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gesprochen wurde.2 Gleichwohl steckt die Frage nach einer solchen Literatur voller Fragwürdigkeiten.3 Welche Probleme 1 So der Arbeitstitel der dem vorliegenden Band zugrunde liegenden, im November 2017 im Rahmen des Bremer Literaturfestivals globale°. Festival für grenzüberschreitende Literatur ausgerichteten Tagung. 2 Vgl. Brigid Haines: The Eastern Turn in Contemporary German, Swiss and Austrian Literature. In: Debatte. Journal of Contemporary Central and Eastern Europe 16, H. 2 (2008), S. 135– 149; dies. und Anca Luca Holden (Hg.): The Eastern European Turn in Contemporary German Literature (= Special Issue of German Life and Letters 68, H. 2 (2015), S. 145–333). Für eine erste Übersicht über einschlägige AutorInnen und literarische Auszeichnungen vgl. Haines: Eastern Turn, S. 136f.; Haines: Introduction. In: The Eastern European Turn. Hg. dies., S. 145– 153, S. 146. 3 Auf die Frage verzichten die beiden Dissertationen von Katrin Sorko (Die Literatur der Systemmigration. Diskurs und Form. München: Martin Meidenbauer 2007) und Madlen Kazmierczak (Fremde Frauen. Zur Figur der Migrantin aus (post)sozialistischen Ländern in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Berlin: Erich Schmidt 2016). Beide behandeln ähnliche Texte wie Haines, beziehen sich bei ihrer Korpusbildung jedoch statt auf ‚Osteuropa‘ oder den ‚Osten‘ auf das politische System und statt auf die AutorInnen auf die Texte selbst. Anders dagegen die vorliegenden Sammelpublikationen: Michaela Bürger-Koftis (Hg.): Eine Sprache – viele Horizonte… Die Osterweiterung der deutschsprachigen Literatur. Porträts einer neuen europäischen Generation. Wien: Praesens 2008; Renata Cornejo, Sławomir Piontek
© Koninklijke Brill NV, Leiden, 2021 | doi:10.1163/9789004466234_003
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es mit sich bringt, literarische Texte nach der Herkunft ihrer AutorInnen zu sortieren, wurde schon vor geraumer Zeit anhand des Begriffs ‚Migrantenliteratur‘ diskutiert – mit dem Ergebnis, dass dieser Begriff zugunsten alternativer, wenn auch nicht unbedingt unproblematischer Bezeichnungen aufgegeben wurde.4 Nun ist kaum zu erwarten, dass sich die Gefahren einer perspektivischen Verengung der Lektüre und einer Homogenisierung, Exotisierung oder biographistischen Reduktion der Texte durch die räumliche Eingrenzung des vielbeschworenen ‚Migrationshintergrunds‘ auf ‚Osteuropa‘ verringern lassen. Zwar spricht einiges dafür, dass Gemeinsamkeiten zwischen den untersuchten Texten durch eine solche Eingrenzung größer werden. Abgesehen davon, dass auch der ‚Osteuropa‘-Begriff alles andere als unproblematisch ist,5 gilt dasselbe aber auch für die Gefahr homogenisierender Zuschreibungen und jenes othering, das Mark Terkessidis als „Verweisung an einen anderen Ort“6 bezeichnet hat. und Sandra Vlasta (Hg.): National – postnational – transnational? Zu neueren Perspektiven auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa. Ústí nad Labem: Univerzita J.E. Purkyně v Ústí nad Labem, Filozofická fakulta 2012 (= Aussiger Beiträge 6 (2012)); Renata Cornejo u.a. (Hg.): Wie viele Sprachen spricht die Literatur? Deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa. Wien: Praesens 2014; Haines und Holden (Hg.): The Eastern European Turn in Contemporary German Literature. 4 Vgl. Hansjörg Bay: Migrationsliteratur. In: Handbuch Postkolonialismus. Hg. Dirk Göttsche, Axel Dunker und Gabriele Dürbeck. Stuttgart: Metzler 2017, S. 323–332, S. 323f. Ausführlicher Myriam Geiser: Der Ort transkultureller Literatur in Deutschland und Frankreich. Deutschtürkische und frankomaghrebinische Literatur der Postmigration. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 303 und passim. 5 Vgl. den zweiten Teil dieses Beitrags. Im Interesse der Lesbarkeit verwende ich Begriffe wie ‚Osteuropa‘, ‚Osten‘, ‚Westen‘ etc. im Folgenden ohne die Anführungszeichen, die eigentlich nötig wären, um sie als Zitation einer verbreiteten Redeweise zu markieren. Anführungszeichen setze ich nur, wo die Begriffe als solche thematisiert werden. 6 Mark Terkessidis: Interkultur. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 81 (Hervorh. i. Orig.). Terkessidis bezieht sich hier auf häufig ganz unscheinbare, aber sich penetrant wiederholende Alltagssituationen, in denen Kinder aus migrantischen Familien mehr oder weniger subtil oder wohlmeinend mit dem Herkunftsland ihrer Eltern in Verbindung gebracht und dadurch zu Anderen oder Fremden allererst gemacht werden. Wie schnell eine entsprechende „Verweisung“ in der Literaturwissenschaft stattfindet, wo räumliche Vorgaben wie ‚Osteuropa‘ oder auch nur ‚Osten‘ eine korpuskonstitutive Bedeutung gewinnen, belegen – zweifellos ent gegen der Absicht der HerausgeberInnen – die in Anm. 3 genannten Sammelpublikationen. So spricht Michaela Bürger-Koftis in ihrer Einleitung davon, dass die ins Auge gefasste Literatur „geographisch im Osten beheimatet“ sei (Michaela Bürger-Koftis: Eine Sprache – viele Horizonte… Ein Beitrag zur Literaturgeographie. In: Eine Sprache – viele Horizonte. Hg. dies. S. 7–11, S. 10); Renata Cornejo und ihre KoeditorInnen geben ihrem Band Wie viele Sprachen spricht die Literatur? den Untertitel Deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa (entsprechend auch schon Cornejo u.a. (Hg.): National – postnational – transnational?
Zur Frage eines ‚eastern turn ‘ in der deutschsprachigen Literatur 17
Natürlich sind sich die Herausgeber des vorliegenden Bandes dieser Schwierigkeiten bewusst. Bereits in der Einladung zu der ihm zugrundeliegenden Tagung weisen Axel Dunker, Jan Gerstner und Julian Osthues darauf hin, dass „die Rede von ‚deutschsprachigen AutorInnen osteuropäischer Herkunft‘ […] eine Zugehörigkeit [unterstellt], welche Vielfalt und Komplexität des Phänomens unter dem unscharfen Label ‚Osteuropa‘ subsummiert und vereinfacht.“ Sie schlagen daher vor, „die problematische Kollektivbezeichnung als vorläufige heuristische Perspektivierung zu verstehen, um ein Phänomen zu diskutieren, ohne dessen Heterogenität ungewollt zu reduzieren.“ Auch heuristische Kategorien sind jedoch nicht per se unproblematisch. Das gilt zumal dann, wenn sie, wie in diesem Fall, den wissenschaftlichen Gegenstand – und das heißt hier insbesondere das Korpus zu untersuchender Texte – allererst definieren. Denn die Zunahme der Literatur von AutorInnen osteuropäischer Herkunft, die hier als zu erforschendes „Phänomen“ vorausgesetzt wird, zeichnet sich als ein solches ja überhaupt erst ab, wenn man erstens der Herkunft der VerfasserInnen entsprechende Bedeutung zumisst und zur Bestimmung dieser Herkunft zweitens den Begriff ‚Osteuropa‘ ins Spiel bringt. So bleibt auch bei einer bloß heuristischen Kategorienbildung die Frage, welche Art von Erkenntnis die Kombination von herkunftsorientierter Korpuskonstitution und Osteuropa-Begriff eigentlich fördert – und ob man sich dabei nicht unvermeidlich in performative Widersprüche verstrickt. Hinweise auf die Gefahr homogenisierender Zuschreibungen finden sich jedenfalls schon in früheren Publikationen zum Thema, ohne dass dies der Konjunktur der genannten Fragestellung Abbruch getan hätte.7 Am differenziertesten argumentiert dabei Brigid Haines, die sich zwar bei den Fragwürdigkeiten des Osteuropa-Konzepts nicht lange aufhält,8 ihre Proklamation eines ‚eastern turn‘ aber mit der ausdrücklichen Warnung vor falschen Homogenisierungen verbindet. Haines bescheinigt dem von ihr ins Auge gefassten, durch die osteuropäische Herkunft der VerfasserInnen bestimmten Korpus von Zu neueren Perspektiven auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa), und auch der offizielle Titel der Bremer Tagung – „Deutschsprachige (Welt-)Literatur aus Osteuropa“ – erweckt den Anschein, als entstehe diese Literatur nicht in den deutschsprachigen Ländern und gehöre nicht richtig hierher. 7 Vgl. z.B. Renata Cornejo u.a.: Vorwort. In: Wie viele Sprachen spricht die Literatur? Hg. dies. S. 7–14, S. 8f.; Haines: Introduction, S. 145–147. 8 Entsprechend der gängigen angelsächsischen Perspektivierung begreift Haines Osteuropa unter Berufung auf die prägende Wirkung des politischen Systems der Nachkriegsjahrzehnte als das Gebiet der ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten zuzüglich des früheren Jugoslawien (vgl. Haines: The Eastern Turn, S. 136). Faktisch schließt sie die ehemalige DDR dann allerdings aus, ohne dies zu reflektieren oder auch nur explizit zu machen.
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Texten9 eine transitorische Einheitlichkeit, die vor allem auf der Auseinandersetzung mit dem Leben im real existierenden Sozialismus und der Zeit nach dessen Zusammenbruch basiere, zu der aber auch die Projektion eines durch gemeinsame Erfahrungen und Erinnerungen formierten ‚Wir‘, die Adressierung an eine deutsche, österreichische und schweizerische Leserschaft und eine leicht lesbare, dem westlichen Exotismus und dem neu erwachten Interesse an Osteuropa entgegenkommende Schreibweise beitrage.10 Gleichzeitig unterstreicht Haines jedoch auch, dass sich diese Texte in jeder anderen Hinsicht gegen eine vereinheitlichende Perspektivierung sträubten, was sich u.a. durch die unterschiedlichen Herkunfts- und Einwanderungsländer sowie die unterschiedliche sprachliche Situation der AutorInnen erkläre.11 Obschon dies kein bloßes Lippenbekenntnis ist und Haines entsprechende Differenzen tatsächlich herausarbeitet, liegt der Nachdruck ihrer Argumentation allerdings doch auf dem Nachweis der Kohärenz.12 Dem korrespondiert die Fokussierung von mehr oder weniger autobiographienahen Texten, die eben das Leben im Sozialismus, die sich anschließenden politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Umbrüche und die Migration in den Westen thematisieren und bei Haines als eine Art Kern des ins Auge gefassten Korpus erscheinen.13 Tatsächlich haben solche Texte erheblichen Anteil an der deutschsprachigen Literatur des beginnenden 21. Jahrhunderts, und es ist Haines’ Verdienst, darauf aufmerksam gemacht und damit zugleich unterstrichen zu haben, dass eine bestimmte Form von migrationsbezogenem Schreiben nicht einfach für tot erklärt werden kann.14 Aber die Literatur von AutorInnen 9 10 11 12
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Vgl. ebd., S. 145. Vgl. ebd., S. 138. Vgl. ebd., S. 142f. In der 2015 verfassten Einleitung betont Haines darüber hinaus die Möglichkeit zu einer veränderten Perspektivierung der jüngsten europäischen Geschichte: „[…] the Eastern European turn does not simply denote a wave of new immigrant writers, though there has been such a wave and it has made a huge impact, but designates also a conceptual stocktaking of the present, post-‚Wende‘ European moment […].“ (Haines: Introduction, S. 147). Dabei kommt es ihrer Argumentation zugute, dass Haines lyrische und dramatische Texte von vornherein ausklammert (vgl. Haines: The Eastern Turn, S. 137). Vgl. ebd., S. 135. Haines bezieht sich auf Feridun Zaimoğlus Aussage, die „Migrationsliteratur“ sei „ein toter Kadaver“ (Feridun Zaimoğlu und Julia Abel: „Migrationsliteratur ist ein toter Kadaver“. Ein Gespräch. In: text + kritik. Sonderband: Literatur und Migration (2006), S. 159–166, S. 162), und auf Tom Cheesmans Konzept einer ‚literature of settlement‘ (vgl. Tom Cheesman: Novels of Turkish German Settlement. Cosmopolite Fictions. Rochester und New York: Camden House 2007). Unausgesprochenerweise geht es aber natürlich auch um Leslie Adelsons The Turkish Turn in Contemporary German Literature. Towards a New Critical Grammar of Migration (New York u.a. 2005). Auch wenn Haines den von ihr
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osteuropäischer Herkunft erschöpft sich natürlich ebenso wenig in autobiographienahen ‚novels of arrival‘ wie diese umgekehrt SchriftstellerInnen aus Osteuropa vorbehalten sind.15 Von daher rühren, von der zusätzlichen Problematik des Osteuropa-Konzepts einmal abgesehen, die Probleme. Denn zum einen entsteht trotz des ausdrücklichen Bemühens, falsche Zuschreibungen und Homogenisierungen zu vermeiden, ein Bild typischer ‚deutschosteuropäischer‘ Literatur, das dann an alle anderen Texte dieses Korpus herangetragen wird.16 Zum anderen stellt sich die Frage, ob vieles von dem, was bei Haines als osteuropäisches Spezifikum erscheint, nicht ein viel allgemeineres Phänomen darstellt. Tatsächlich tendiert die literarische Auseinandersetzung mit Migration zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch sonst zu konstatierten ‚eastern turn‘ als Komplement zu dem von Adelson unter Berufung auf eine ausgesprochen schmale Textbasis ausgerufenen ‚turkish turn‘ präsentiert, lässt sich die analoge Formulierung auch als kompetitiver Hinweis darauf verstehen, woher der literarische Wind zu Beginn des 21. Jahrhunderts tatsächlich wehe. 15 Das gilt auch dann, wenn man die von Haines ausgeklammerten lyrischen und dramatischen Texte unberücksichtigt lässt. Verwiesen sei hier nur auf so erfolgreiche und zugleich unterschiedliche Publikationen wie Wladimir Kaminers Russendisko, Terézia Moras Alle Tage und Ilija Trojanows Der Weltensammler sowie andererseits auf Abbas Khiders Der falsche Inder oder Sherko Fatahs Das dunkle Schiff. 16 Besonders deutlich wird dies anhand des wohl bekanntesten Texts aus dem in Frage stehenden Korpus, Ilija Trojanows Der Weltensammler. Als fiktionale Erzählung vom Leben des britischen Kolonialoffiziers Richard Burton entfernt sich Trojanows Roman historisch und geographisch denkbar weit vom Typus der autobiographienahen Auseinandersetzung mit einer Ost-West-Migration oder der jüngeren Geschichte der (ehemaligen) Warschauer Pakt-Staaten. Haines nimmt dies zur Kenntnis, sieht durch den Roman aber gleichwohl ihre These bestätigt, „that contemporary German-language writers from eastern Europe work with a long historical consciousness and a heightened awareness of empires“ (ebd., S. 144). Die These selbst mag nicht falsch sein; bei einem nicht durch die Orientierung an Herkunftsfragen belasteten Blick auf Trojanows Text würde man diesen aber zunächst jener großen Gruppe von Romanen zuordnen, in denen sich SchriftstellerInnen wie Raoul Schrott, Michael Roes, Felicitas Hoppe, Hans Christoph Buch, Thomas Stangl oder auch Daniel Kehlmann in dem Jahrzehnt vor Erscheinen des Weltensammlers mit der Geschichte historischer ‚Entdeckungsreisen‘ beschäftigten (vgl. dazu Christof Hamann und Alexander Honold (Hg.): Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen. Göttingen: Wallstein 2009; Hansjörg Bay und Wolfgang Struck (Hg.): Literarische Entdeckungsreisen. Vorfahren – Nachfahrten – Revisionen. Wien, Köln und Weimar: Böhlau 2012). Wie angesichts ihrer Thematik nicht anders zu erwarten, sind diese Texte nahezu durchgehend durch ein mehr oder weniger ausgeprägtes historisches Bewusstsein und eine gewisse Sensibilität für koloniale Zusammenhänge geprägt. Unter der Maßgabe der Herkunft aber werden dieses Bewusstsein und diese Sensibilität zu einem Merkmal osteuropäischen Schreibens, und Trojanows Roman wird aus dem genannten und in vielerlei Hinsicht kohärenten Kontext der sekundären Literarisierung von Entdeckungsreisen in denjenigen einer ‚Literatur von AutorInnen aus Osteuropa‘ verwiesen.
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einem autobiographienahen Modus und einer vergleichsweise realistischen, publikumsorientierten Schreibweise. Was Haines als ‚eastern turn‘ bezeichnet oder doch zumindest als dessen Kern begreift, lässt sich insofern zunächst einfach dahingehend beschreiben, dass sich das Thema Migration zu Beginn des 21. Jahrhunderts am literarischen Markt durchgesetzt hatte,17 dass dieses Thema im Interesse ungestörten Differenzkonsums18 ‚authentisch‘ und gut lesbar aufbereitet werden sollte, dass unter den MigrantInnen der entsprechenden Generation aufgrund des vorausliegenden Endes des Kalten Krieges sowie auch aufgrund der Jugoslawienkriege Personen aus östlicheren Teilen Europas besonders stark vertreten waren und dass diese im Unterschied zu anderen Gruppen auch über die nötigen Bildungsvoraussetzungen verfügten, um die Chancen des literarischen Markts wahrnehmen zu können – was selbstverständlich nicht bedeutet, dass AutorInnen osteuropäischer Herkunft nicht auch ganz andere, weniger marktförmige Texte geschrieben hätten. Die Spezifik auch des ‚Kernphänomens‘ einer ‚deutsch-osteuropäischen‘ Literatur, die methodologisch überhaupt nur im Vergleich zu anderen Migrations texten zu bestimmen wäre, reduziert sich in dieser Perspektive auf die Ausei nandersetzung mit Osteuropa-Stereotypen und spezifischen Themen wie dem Leben in der Zerfallsphase der sozialistischen Systeme, der Systemmigration, den Jugoslawien-Kriegen, der historischen oder historisch bedingten Präsenz Deutscher in Osteuropa und der Ermordung der osteuropäischen Juden – wobei sich sogleich die Frage stellt, ob zwischen diesen Themen ein hinreichend enger Zusammenhang besteht oder es sich nicht vielmehr um relativ eigenständige Problemfelder handelt, deren literarische Verhandlung, wenn es denn überhaupt solcher Etikettierungen bedarf, mit thematisch ausgerichteten Begriffen wie ‚Literatur der Systemmigration‘19 genauer und angemessener zu bezeichnen wäre.
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Das belegen gleich mehrere um die Jahrtausendwende erschienene Anthologien: Joachim Lottmann (Hg.): Kanaksta. Von deutschen und anderen Ausländern. Berlin: Ullstein 1999; Ilija Trojanow (Hg.): Döner in Walhalla. Texte aus der anderen deutschen Literatur. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2000; Jamal Tuschick (Hg.): Morgen Land. Neueste deutsche Literatur. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2000. Vgl. dazu Julia Abel: Positionslichter. Die neue Generation von Anthologien der ‚Migrationsliteratur‘. In: text + kritik. Sonderband: Literatur und Migration (2006), S. 233–245. 18 Vgl. Kien Nghi Ha: Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus. Bielefeld: transcript 2005. 19 Sorko: Die Literatur der Systemmigration, S. 64. Sorko benutzt diesen Begriff im Anschluss an Heidi Rösch.
Zur Frage eines ‚eastern turn ‘ in der deutschsprachigen Literatur 21
Der Auseinandersetzung mit Haines’ Argumentation wurde hier so viel Raum eingeräumt, um auf ein allgemeineres Problem aufmerksam zu machen, das mit der Bildung biographie- und erst recht herkunftsorientierter Kate gorien einhergeht und in der Auseinandersetzung mit migrationsbezogenen Texten hartnäckig wiederkehrt. Auch wo im Bemühen um sachliche und politische Korrektheit die Heterogenität der aufgrund einer gemeinsamen Herkunft ihrer AutorInnen gemeinsam betrachteten Texte betont wird, fragt man am Ende doch vor allem nach deren Übereinstimmungen und erklärt diese durch die gemeinsame Herkunft. Berücksichtigt man die Logik des Wissenschaftsbetriebs, so ist dies auch nicht anders zu erwarten. Denn während die festgestellten Gemeinsamkeiten die Konstitution eines solchen Korpus nachträglich legitimieren, bewirken Unterschiede das Gegenteil, sobald sie sich nicht mehr als bloße Relativierungen dieser Gemeinsamkeiten behandeln lassen. Aber selbst wenn die verwendeten Kategorien am Ende problematisiert werden, wiederholt und verstärkt man durch ihre Verwendung zunächst performativ jene Zuschreibungen, die schon der Literaturbetrieb durch Etikettierungen, Paratexte und Zusammenstellungen an die Literatur von AutorInnen aus Osteuropa heranträgt – von Vorgaben, die der Publikation vorausliegen, ganz zu schweigen. Wo es nicht explizit darum geht, eine bereits im Umlauf befindliche Kategorie auf ihre Funktionsweise hin zu befragen, bleibt die scheinbar so naheliegende Frage nach der ‚Literatur von AutorInnen osteuropäischer Herkunft‘ daher problematisch. Wenn ich mich im weiteren Verlauf dieses Beitrags Nellja Veremejs Roman Berlin liegt im Osten zuwende, so handelt es sich dabei um einen Text, den man zweifellos dem von Haines ausgerufenen ‚eastern turn‘ zurechnen könnte. Verfasst von einer gebürtigen Russin, erzählt er die autobiographienahe Geschichte einer nach Deutschland eingewanderten Frau aus dem ehemaligen sowjetischen Imperium und thematisiert dabei die gesellschaftlichen Verhältnisse und politischen Umbrüche der jüngeren Vergangenheit. Aufgrund der skizzierten Vorbehalte werde ich sein Verhältnis zu einem bestimmten Korpus ‚deutsch-osteuropäischer‘ Literatur allerdings nur am Rande diskutieren und den Roman stattdessen im allgemeineren Kontext des Schreibens über Migration verorten, indem ich zeige, wie er die tradierte Ost-West-Differenz und mit ihr zusammenhängende Codierungen der Migrationsbewegung seiner Protagonistin zugleich fortschreibt und problematisiert. Vorab jedoch gilt es, diese Differenz näher zu betrachten und das Konzept ‚Osteuropa‘ auf seine Funktionsweise hin zu befragen.
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Die Verwerfung des Ostens. Zum Konzept ‚Osteuropa‘ und zur Bedeutung der Ost-West-Dimension für die Konstruktion europäischer Identitäten
Mehr noch als andere Begriffe, in denen sich kulturelle und territoriale Vorstellungen verbinden, ist ‚Osteuropa‘ ein problematisches Konzept. Seine Fragwürdigkeit verdankt sich nicht nur der fehlenden Kongruenz geographischer, historischer, politischer und kultureller Bestimmungen, an der alle kulturräumlich orientierten Begriffe kranken. Fragwürdig wird das Konzept ‚Osteuropa‘ auch durch die hartnäckig wiederkehrende Differenzierung in Nord- und Südosteuropa, Ostmitteleuropa und ein verbleibendes Rest-Osteuropa, das dann eigentlich Ost-Osteuropa heißen müsste und von dem man, im Westen zumindest, ob einer solch vorbehaltlosen Verortung im Osten nicht weiß, ob es denn nun das eigentliche Osteuropa ist oder doch schon zu Asien gehört. Problematischer noch als diejenige nach Osten ist jedoch die Abgrenzung des in Frage stehenden Raums von jenem unmarkierten, westlichen oder zentralen Europa, als dessen Anderes Osteuropa seit dem 18. Jahrhundert entworfen wird. Die permanente Verhandlung und Verschiebung seiner irgendwo zwischen Russland und dem Thüringer Wald verorteten Westgrenze deutet bereits darauf hin, dass hier der Hase, und nicht nur der osteuropäische, im Pfeffer liegt. Wie Larry Wolff in seiner wegweisenden Studie gezeigt hat, sind Ost- und Westeuropa keineswegs gleichwertige Gebilde.20 Vielmehr entsteht und besteht Osteuropa als jene paradoxe Figur, durch deren Erfindung und permanente Wiederholung sich Europa zum Westen erklärt, indem es den Osten aus sich ausschließt. Osteuropa ist, mit anderen Worten, eine Figur der Verwerfung, und zwar der Verwerfung eines eigenen, nahen Ostens, die das dominante (west-)europäische Selbstverständnis sichert, indem sie die Entgegensetzung zum Orient als dem fremden, fernen Osten ergänzt. Paradox ist diese Figur, weil die Exklusion, die sich im ersten Teil des Kompositums ‚Osteuropa‘ artikuliert, unweigerlich mit jener Inklusion einhergeht, die der zweite Teil impliziert. Osteuropa ist immer zugleich das Andere Europas und dessen Teil. Eben dieser paradoxe Charakter aber macht das Konzept so geschmeidig. 20
Vgl. Larry Wolff: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of Enlightenment. Stanford: Stanford University Press 1994; ders.: Die Erfindung Osteuropas: Von Voltaire zu Voldemort. In: Europa und die Grenzen im Kopf. Hg. Karl Kaser u.a. Klagenfurt: Wieser 2003, S. 21–34. Zum aktuellen Stand der Diskussion vgl. Frithjof Benjamin Schenk: Lemberg and Wolff revisited. Zur Entstehung und Struktur des Konzepts ‚Osteuropa‘ seit dem späten 18. Jahrhundert. In: Europa vertikal. Zur Ost-West-Gliederung im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. Rita Aldenhoff-Hübinger, Catherine Gousseff und Thomas Serrier. Göttingen: Wallstein 2016, S. 43–62.
Zur Frage eines ‚eastern turn ‘ in der deutschsprachigen Literatur 23
Die variable, ebenso kontroverse wie instabile Lokalisierung auf einer OstWest-Achse verweist auf die Funktion Osteuropas als Verwerfungs- und Pufferzone, die den imaginären Ausschluss des Ostens aus einem sich als Westen21 verstehenden und im Akt dieses Ausschlusses als Westen konstituierenden ‚eigentlichen‘ Europa garantieren soll – und deshalb auch immer Gefahr läuft, tatsächlich ausgeschlossen zu werden. Um diese paradoxe Figur zu begreifen und zu verstehen, warum dem Verhältnis zu einem wie auch immer konkretisierten Osten eine für den Entwurf europäischer Identitäten so fundamentale Bedeutung zukommt, muss man historisch etwas zurückgehen und sich klar machen, welche Bedeutung die Ost-West-Dimension im Kontext des universalistischen Geschichtsverständnisses der Aufklärung gewinnt. Meine These dazu ist, dass sich im (west-) europäischen Selbstverständnis seit dem späten 18. Jahrhundert eine kontradiktorische und zunehmend kulturalistisch gedachte Entgegensetzung von Osten und Westen und eine fortschrittsbezogene, die Unterschiede eher als graduell und entwicklungsbedingt auffassende Annahme eines Ost-WestKontinuums überlagern. Das Spannungsverhältnis zwischen beiden Auffassungen zeigt exemplarisch eine Aussage aus Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. „Die Weltgeschichte“, so der Berliner Philosoph, geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang. Für die Weltgeschichte ist ein Osten kat‘ exochen vorhanden, dagegen der Osten für sich etwas ganz Relatives ist; denn obgleich die Erde eine Kugel bildet, so macht die Geschichte doch keinen Kreis um sie herum, sondern sie hat vielmehr einen bestimmten Osten, und das ist Asien. Hier geht die äußerliche physische Sonne auf, und im Westen geht sie unter: dafür steigt aber hier die innere Sonne des Selbstbewußtseins auf, die einen höheren Glanz verbreitet. […] Der Orient wußte und weiß nur, daß Einer frei ist, die griechische und römische Welt, daß Einige frei seien, die germanische Welt weiß, daß Alle frei sind.22
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Zum Konzept des ‚Westens‘ vgl. nach wie vor Stuart Hall: Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hg. Ulrich Mehlem u.a. Hamburg: Argument Verlag 1994, S. 137–179. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Ders.: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–45 neu edierte Ausgabe. Red. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, Bd. 12, S. 134.
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Hegel nimmt hier die traditionelle Entgegensetzung Europas zu einem als Asien oder Orient begriffenen Osten23 auf, wendet diese jedoch ins Historische, indem er sie mit der im 18. Jahrhundert entstandenen Vorstellung von Geschichte als Fortschritt der Menschheit verknüpft – einem Fortschritt, der bei Hegel als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“24 erscheint. Um der Differenz zwischen unterschiedlichen kulturellen Formationen Rechnung zu tragen, verorten die universalistischen Konzeptionen der Aufklärung und des Deutschen Idealismus auch zeitgenössische ‚Völker‘ oder ‚Kulturen‘ als mehr oder weniger avanciert auf einer einzigen Entwicklungslinie, deren Spitzenposition selbstverständlich von Europäern besetzt wird. Hegels Einschreibung eines orientalischen Anderen in diese Entwicklungslinie ist ebenso wenig originell wie seine auf Knechtschaft und Despotismus abhebende Konzeption dieses Anderen. Der Meister der Dialektik formuliert nur das Resultat der zeitgenössischen Arbeit an einer ‚Ordnung der Kulturen‘,25 wenn er im Anschluss an ältere Ideen einer translatio imperii von einer historischen Verlagerung des kulturellen Höhenkamms von Asien über Griechenland nach Mittel- und Westeuropa ausgeht und diese Annahme mit der Idee universalgeschichtlichen Fortschritts verbindet. Auffallend jedoch sind die merkwürdige Häufung des Begriffs ‚Osten‘ und der Vergleich des besagten Prozesses mit dem Lauf der Sonne. Hegel macht die in der Rede von einem Osten und Westen immer schon stattfindende Verwandlung einer Himmelsrichtung in einen geographisch lokalisierbaren Raum explizit, wenn er die Begriffe „Osten“ und „Westen“ gleich zu Beginn der Passage durch die Toponyme „Asien“ und „Europa“ ersetzt. Aber er hält den Bezug insbesondere Asiens auf eine Ost-West-Achse aufrecht, indem er in der Folge dann doch immer wieder vom „Osten“ spricht, und er 23 Vgl. neben der grundlegenden Studie von Edward Said (Orientalism. New York: Pantheon Books 1978) etwa Gerard Delanty: Inventing Europe. Idea, Identity, Reality. London: St. Martin’s Press 1995. Die im Zuge der Aufklärung forcierte Entgegensetzung hat eine längere Vorgeschichte. Dass schon im Gefolge der Perserkriege eine hierarchische Opposition zwischen Griechen/Europa und Persern/Asien konstruiert wurde, die sich mit Gegensätzen wie ‚Freiheit versus Knechtschaft‘ oder ‚Demokratie versus Despotismus‘ verband, zeigt Bernd Manuwald: Zu Begriff und Idee ‚Europa‘ in der griechischen Antike. In: Europa? Zur Kulturgeschichte einer Idee. Hg. Tomislav Zelić u.a. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 15–32. Zur Entstehung eines nicht mehr primär religiös, sondern politisch und kulturell akzentuierten Ost-West-Gegensatzes in der Renaissance vgl. Nancy Bisaha: Creating East and West. Renaissance Humanists and the Ottoman Turks. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2006. 24 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 32. 25 Vgl. Hansjörg Bay und Kai Merten: Einleitung. In: Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen 1750–1850. Hg. dies. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 7–29.
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schreibt dem Verhältnis zwischen Osten und Westen, Asien und Europa einen historischen Richtungssinn ein, indem er zwar nur vergleichsweise, darum aber nicht minder suggestiv auf den ‚Gang‘ der Sonne Bezug nimmt. Dabei registriert er sehr genau das geschichtsphilosophische Potential des Begriffs ‚Osten‘ und macht es sich zunutze, um seinen universalistischen Geschichts entwurf mit den zeitgenössischen Vorstellungen von konkreten, historisch und geographisch lokalisierbaren kulturellen Formationen in Einklang zu bringen. In dem daraus resultierenden Entwurf des Ost-West-Verhältnisses aber, und das gilt nicht nur bei Hegel, überlagern sich eine polare und eine kontradiktorische Entgegensetzung, die Vorstellung eines räumlichen Kontinuums und die zweier eigenständiger, einander gegenüberstehender Räume. Entspricht erstere der Rede vom ‚Osten‘ und ‚Westen‘ als durch den ‚Gang‘ der Sonne bestimmten Himmelsrichtungen, so korrespondiert letztere deren Verwandlung in territoriale Bestimmungen, in die die Entgegensetzung zur jeweils anderen jedoch eingeschrieben bleibt. Nun bezieht sich Hegels Rede vom „Osten“ allerdings nicht auf Osteuropa, sondern auf den „Orient“. Sieht man von Griechenland ab, so spielt der östliche Teil des europäischen Kontinents, dem Autor der Vorlesungen zufolge, zumindest in der bisherigen Weltgeschichte keine eigenständige Rolle.26 Das entspricht dem wohl wichtigsten Unterschied zwischen den zeitgenössischen Diskursen über den Orient und Osteuropa. Als ein Raum, in dem nie viel Kultur gewesen sein soll, liegt Osteuropa nicht auf dem nordöstlich ausgerichteten Vektor welthistorischen Fortschritts, der vom Orient nach Mittel- und Westeuropa deutet.27 Beide jedoch, der europäische wie der außereuropäische 26 Dementsprechend widmen die Vorlesungen dem nordöstlichen Europa, das „beständig den Zusammenhang mit Asien“ (Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 133) halte, auch nur wenige Sätze. Mit dem Topos des ‚Halbbarbarischen‘ betont Hegel dabei den Übergangscharakter der Region und ihrer Bevölkerung: „Wir finden nun außerdem im Osten von Europa die große slawische Nation […], in Moldau und Walachei und dem nördlichen Griechenland sind die Bulgaren, Serben und Albanesen ebenso asiatischen Ursprungs und in den Stößen und Gegenstößen der Völkerschaften hier als gebrochene barbarische Reste geblieben. Es haben zwar diese Völkerschaften Königreiche gebildet und mutige Kämpfe mit den verschiedenen Nationen bestanden; sie haben bisweilen als Vortruppen, als ein Mittelwesen in den Kampf des christlichen Europa und unchristlichen Asien eingegriffen, die Polen haben sogar das belagerte Wien von den Türken befreit, und ein Teil der Slawen ist der westlichen Vernunft erobert worden. Dennoch aber bleibt diese ganze Masse aus unserer Betrachtung ausgeschlossen, weil sie bisher nicht als ein selbständiges Moment in der Reihe der Gestaltungen der Vernunft in der Welt aufgetreten ist.“ (Ebd, S. 422; zur Bedeutung der Knechtschaft für die postulierte Zurückgebliebenheit der Slawen vgl. auch S. 500 u. S. 536). 27 Wenn, wie Maria Todorova in ihrer Studie zur „Erfindung des Balkans“ hervorhebt, das Fehlen einer großen Vergangenheit den Balkan vom Orient unterscheidet, so gilt dasselbe
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Osten, sollen aktuell hinter dem eigentlichen, westlichen Europa zurückgeblieben sein, und auch wenn der Topos der Rückständigkeit die (west)europäische Vorstellung von Osteuropa geradezu konstituiert, ist diese Rückständigkeit in der universalistischen, vom Glauben an den historischen Fortschritt durchdrungenen Perspektive der Aufklärung, des Deutschen Idealismus und noch der Modernisierungstheorien des 20. Jahrhunderts per definitionem graduell. Dabei fügt es sich, dass, wie Reisende und Nicht-Reisende zu beteuern nicht müde werden,28 die Rückständigkeit nach Osten hin immer mehr zunimmt. Während sich Fortschritt und Zurückgebliebenheit kontradiktorisch auf Westund Osteuropa verteilen sollen, wird also gleichzeitig ein Kontinuum der nach Osten hin zunehmenden Rückständigkeit postuliert. So ist es vielleicht kein Zufall, wenn Hegel in der zitierten Passage die traditionell mit der Rede vom Orient verbundene Nord-Süd-Deklination der Ost-West-Achse tilgt, indem er den Gang der Weltgeschichte am Lauf der Sonne ausrichtet. Seine im Berlin der 1820er und 30er Jahre gehaltenen Vorlesungen stehen an der Schwelle zwischen einer Zeit, in der die südöstliche Orientierung dominierte und der alte Orient als Wiege der Kultur verehrt wurde, und einer anderen, in der die zunehmend robuste Überzeugung von der eigenen Überlegenheit gerade in Preußen dazu einlud, den Blick direkter nach Osten zu wenden, um sich der Rückständigkeit der slawischen Nachbarn zu vergewissern. Entscheidend jedenfalls ist im hier verfolgten Zusammenhang, dass sich auch die postulierte Rückständigkeit Osteuropas in ein geographisches Kontinuum fügt – auch wenn sich dieses nicht wie im Fall des Orients als Weg des Kulturtransfers und des historischen Fortschritts, sondern als bloße Skala der Fortgeschritten heit darstellt. Eine Verschränkung von kulturalistischer und universalistischer, kulturräumlicher und fortschrittsbezogener Differenzkonstruktion, wie sie in Hegels Vorlesungen zutage tritt, ist für das vorherrschende europäische Selbstverständnis und den kulturellen Atlas der Europäer seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts konstitutiv. Sie bestimmt nicht nur das Verhältnis zum Osten,
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auch für Osteuropa. Auch weitere der von Todorova aufgeführten Unterscheidungsmerkmale betreffen Osteuropa im Allgemeinen. Insbesondere fungiert es nicht einfach als Gegenwelt des Westens, sondern, wie der Balkan, als Welt des Übergangs. Ähnliches gilt für die im Vergleich zum Orient geringere Bedeutung exotistischer Besetzungen und, der Imagination vorgelagert, den Umstand, dass Osteuropa nicht im strengen Sinn kolonisiert war. Vgl. Maria Todorova: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Darmstadt: Primus 1999, S. 27ff.; zur Frage einer Kolonialisierung Osteuropas Kristin Kopp: Germany’s Wild East. Constructing Poland as Colonial Space. Ann Arbor: University of Michigan Press 2012. Vgl. Wolff: Inventing Eastern Europe, S. 17–49, 89–143.
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betrifft dieses jedoch in besonderem Maß, weil sich das universalgeschichtliche Fortschrittspostulat hier mit einer unmittelbar räumlichen Vorstellung verbindet: mit der Vorstellung eines territorialen Kontinuums, in das durch den mit der Rede vom ‚Osten‘ und ‚Westen‘ implizit bereits aufgerufenen Lauf der Sonne eine bestimmte Bewegungsrichtung appellativ eingezeichnet ist. Das suggeriert ein zivilisatorisches Kontinuum und eine Art raum-zeitlichen Vektor, der von Osten nach Westen wie auch von der Vergangenheit in die Zukunft weist und im spannungsreichen Wechselspiel mit der dichotomisierenden Unterscheidung von Osten und Westen die Vorstellung von Europa organisiert. Mit dieser Verschränkung und Überlagerung zweier im Grunde unvereinbarer Konzepte hängt die unsichere Lokalisierung Osteuropas genauso zusammen wie das Phänomen jener lokalen Abgrenzungsprozesse, die Milica Bakić-Hayden mit Blick auf den Balkan als „nesting orientalisms“29 bezeichnet hat, die sich aber auch weiter nördlich beobachten lassen: Der Osten beginnt immer dort, wo das Eigene endet.30 Bekräftigt wurden sowohl die Vorstellung eines Ost-West-Kontinuums als auch diejenige einer Ost-West-Dichotomie durch historische Entwicklungen der letzten zweihundert Jahre. Dass sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts indus trielle Zentren und liberale Gesellschaften eher im Westen als im Osten Europas herausbildeten, stützte die Auffassung, dass der Vektor des ökonomischen, politischen und kulturellen Fortschritts nach Westen weise. Dass Europa nach dem Zweiten Weltkrieg über Jahrzehnte hinweg von einer Systemgrenze in Gestalt des ‚Eisernen Vorhangs‘ durchzogen war, wobei vor allem der östliche Teil durch den homogenisierenden Einfluss ein und derselben Supermacht geprägt wurde, bestätigte hingegen das Bild eines geteilten Kontinents. Neben der diskursiven Dominanz des Westens dürften diese Entwicklungen dazu beigetragen haben, dass die skizzierte Entgegensetzung eines aufgeklärten, zivilisierten Westens und eines rückschrittlichen, halbbarbarischen Ostens nicht nur das Selbstverständnis französischer, britischer, deutscher oder auch österreichischer Bürgerinnen und Bürger prägte, sondern vielfach auch im östlicheren Europa übernommen wurde.31 In einem Punkt freilich war das (west) 29 30 31
Vgl. Milica Bakić-Hayden: Nesting Orientalisms: The Case of Former Yugoslavia. In: Slavic Review 54, H. 4 (1995), S. 917–931. Vgl. Schenk: Lemberg and Wolff revisited, S. 46. Zumal in Russland nahm die Arbeit am Selbstbild seit den Zeiten Peters des Großen auf das Bild eines westlichen Europas Bezug, zu dem man sich positiv oder negativ, aber nicht nicht verhalten konnte. Vgl. Boris Groys: Die Erfindung Russlands. München u.a.: Hanser 1995; Michail Logvinov: Russische Deutschlandbilder im 19. und 20. Jahrhundert. In: Russische Ansichten – Ansichten von Russland. Festschrift für Hugo Dyserinck. Hg. Elke Mehnert. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2007, S. 164–173; Elisabeth Cheauré: Infinite Mirroring.
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europäische Selbstverständnis des 18. und auch noch 19. Jahrhunderts nicht zu halten: Das westliche Europa fungiert heute nicht mehr als der Ort des historischen Fortschritts schlechthin und auch nicht als dessen Speerspitze. Noch weiter im Westen konnten sich die USA so unübersehbar als historischer Schrittmacher etablieren, dass im frühen 20. Jahrhundert ‚Amerika‘ zur Chiffre des Fortschritts wurde. Dank der Gunst des geographischen Zufalls hat dies die geschichtsphilosophische Codierung der Ost-West-Differenz jedoch eher noch bestärkt. Neu ist insofern nur, dass Europa nun zwischen Asien und den USA zu verorten ist. Zum Westen zählt man sich zwar noch immer; zu der jahrhundertealten Abgrenzung gegen einen als Ort der Vergangenheit (Orient) oder der Zurückgebliebenheit (Osteuropa) verstandenen Osten jedoch ist die Ausrichtung an einer Neuen Welt jenseits des Atlantiks getreten, der die Zukunft zu gehören scheint. 3
„Das Paradies lag immer westwärts“. Berlin liegt im Osten als Auseinandersetzung mit dem Traum vom Westen
Gerade aufgrund ihrer Vagheit und der Verschiebbarkeit ihrer Koordinaten hat sich die geschichtsphilosophisch inspirierte Landkarte, die in Europa um 1800 ausgearbeitet wurde, als ausgesprochen wirkungsmächtig erwiesen. Bis heute bestimmt die skizzierte Relationierung von Osten und Westen nicht nur das dominante europäische Selbstverständnis, sondern auch dasjenige vieler MigrantInnen, die ihren Weg nach Westen als Weg in den Westen und das heißt hier als Weg in eine goldene Zukunft begreifen. So zumindest stellt es sich dar in Nellja Veremejs 2013 erschienenem Roman Berlin liegt im Osten,32 einem Text, der anhand der Geschichte der in Russland geborenen, in Berlin als Altenpflegerin tätigen Ich-Erzählerin Lena die traditionelle Codierung der Ost-West-Bewegung sowohl fortschreibt als auch kritisch befragt. Das Innovative des autobiographisch inspirierten Debütromans liegt dabei zunächst im Alter der Hauptfigur. Im Gegensatz zu fast allen migrantischen Protagonistinnen und Protagonisten der deutschsprachigen Literatur ist Lena
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Russia and Eastern Europe as the West’s ‚Other‘. In: Facing the East in the West. Images of Eastern Europe in British Literature, Film, and Culture. Hg. Barbara Korte u.a. Amsterdam u.a.: Rodopi 2010, S. 25–41; Georg Witte: Das Phantom Europa. Weitsichten und Kurzsichten der russischen Literatur. In: Europa in anderen Kulturen. Mosse-Lectures an der Humboldt-Universität zu Berlin. Hg. Elisabeth Wagner und Klaus R. Scherpe. Berlin: Vorwerk 8 2015, S. 76–92. Nellja Veremej: Berlin liegt im Osten. Roman. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2013. Zitate aus diesem Text werden direkt im Anschluss an das Zitat nur durch Angabe der Seitenzahl nachgewiesen.
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keine heranwachsende oder adoleszente Figur, sondern eine Frau Anfang vierzig mit 18jähriger Tochter und Ex-Mann, deren Situierung in der Lebensmitte durch den Tod ihrer Mutter noch unterstrichen wird. Dem korrespondiert die große Bedeutung lebensgeschichtlicher, in die Erzählung der im Jahr 2010 angesiedelten Gegenwartshandlung eingeflochtener Rückblicke, vor deren Hintergrund die Ich-Erzählerin ihre aktuelle Lage reflektiert. Ihre Stück für Stück eingeholte Lebensgeschichte führt die Protagonistin zwar nicht auf geradem Weg, dafür aber in umso größeren Schritten nach Westen. Geboren in einem Dorf an der östlichen Grenze des sowjetischen Imperiums, zieht sie in ihrer Kindheit in eine Stadt im Kauskasus, studiert zur Zeit der Perestroika in St. Petersburg Anglistik und heiratet dort einen Kommilitonen, mit dem sie eine Tochter bekommt und 1996 nach Berlin übersiedelt. Im Rückblick begreift und befragt Lena diese Migrationsgeschichte ausdrücklich als eine Ost-WestBewegung. Immer wieder reflektiert sie den kollektiven Traum vom Westen, der schon zu Sowjetzeiten allgegenwärtig war und nach dem Zerfall des sozialistischen Systems noch an Virulenz gewann. „[D]as Paradies lag immer westwärts“, heißt es gleich zu Beginn des Romans im Blick auf die Zeit im „fernen Osten“, wo sich die Menschen nach einem Westen sehnten, in dem man „nicht sät, nicht sichelt, nicht kränkelt und nicht stirbt.“ (9) In Lenas Petersburger Umfeld steigert sich diese Begeisterung für einen wenig konkreten Westen im Kontext der Perestroika und der darauf folgenden Wirren zu einem kollektiven Rausch: „Jenseitig hieß bei uns westlich. Wir alle liebten den Westen grenzenlos, restlos, in Bausch und Bogen.“ (135) Dementsprechend verbindet sich die Übersiedlung nach Deutschland für Lena und ihren Mann Schura mit großen persönlichen Hoffnungen. Wie andere MigrantInnen auch machen sie die tradierte Konzeption des Ost-West-Verhältnisses zur Grundlage ihres persönlichen Lebensentwurfs und versuchen, den im Osten kollektiv verpassten Fortschritt durch einen individuellen Sprung in den Westen einzuholen. Dem Schwebezustand der Anfangszeit, in der Berlin in ein goldenes Licht getaucht scheint, folgt jedoch bald die Ernüchterung. Während Schura mit immer neuen Projekten scheitert und ihre Ehe in die Brüche geht, arrangiert sich Lena mit einer beruflichen Existenz, die weder ihrer Ausbildung noch ihren intellektuellen Möglichkeiten entspricht. So gesehen kann Berlin liegt im Osten zweifellos als ein Roman der Desillu sionierung gelten. Wie viele andere Texte, die seit den späten 1990er Jahren von Migrationsbewegungen über die ehemalige Systemgrenze berichtet haben, lässt er den Traum vom goldenen Westen platzen.33 Das Besondere 33 Zur Rekurrenz dieses Desillusionierungsmoments vgl. Sorko: Die Literatur der System migration, S. 112; Andrea Meixner: Zwischen Ost-West-Reise und Entwicklungsroman? Zum Potenzial der so genannten Migrationsliteratur. In: Wie viele Sprachen spricht die
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an Veremejs Roman jedoch ist, dass seine Protagonistin die Desillusionierung bereits hinter sich hat. Der Erinnerung an die hochfliegenden Hoffnungen der Vergangenheit steht von Anfang an das Bewusstsein der Ich-Erzählerin gegenüber, dass sich an ihrem eher mediokren Dasein nicht mehr viel ändern wird: Noch gestern hieß es, es liegt alles vor mir und alles ist möglich, und über die Nacht stehen mir keine Wunder und Überraschungen mehr bevor. Ich bin ausgewachsen, fertig gestellt. Ich werde keine Stewardess mehr, keine Professorin, keine Diva. Diese Optionen stehen aber Marina, meiner Tochter, noch offen: Sie ist achtzehn, sie will irgendwann Regisseurin werden oder Designerin, und nicht Altenpflegerin wie ich. (10) Veremejs Text projiziert auch dieses generationelle Verhältnis zwischen Mutter und Tochter auf die Ost-West-Achse. Während Lena selbst nur noch „große und kleine Runden um den Alexanderplatz“ (10) dreht, schickt Marina sich an, mit einem geplanten USA-Aufenthalt den Weg in den Westen fortzusetzen. Insofern könnte man meinen, dass die Protagonistin auf diesem Weg einfach nicht weit genug gekommen ist und die Desillusionierung abwehrt, indem sie das unvollendete Projekt auf ihre Tochter überträgt. Aber Lena und mit ihr der gesamte Roman konstatieren nicht bloß, dass die alten Ziele für sie nicht mehr zu erreichen sind; sie stellen auch die ihnen zugrunde liegende Orientierung in Frage. Einschlägig sind hier bereits die beiden Zitate, die Veremej ihrem Roman vorangestellt hat. Das eine, W.G. Sebalds Die Ringe des Saturn entnommene Motto betont nicht nur die Relativität des Westens und damit die Unabschließbarkeit der Bewegung dorthin, sondern rückt diese Bewegung, eben durch den Bezug auf Sebalds melancholie- und katastrophengesättigten Roman, zugleich in ein düsteres Licht: „Auffällig viele unserer Ansiedlungen sind ausgerichtet und verschieben sich, wo die Verhältnisse es erlauben, nach Westen.“34 Komplementär zu dieser menschheitsgeschichtlichen Akzentuierung der Ost-West-Bewegung rückt das andere Motto das individuelle Subjekt
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Literatur? Deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa. Hg. Renata Cornejo u.a. Wien: Praesens 2014, S. 37–54. Bei Sebald steht die zitierte Aussage in Zusammenhang mit dem Bericht vom Untergang der ostenglischen Stadt Dunwich, die ob des allmählichen Abbröckelns der Klippen, auf denen sie errichtet worden war, immer weiter nach Westen verlagert wurde. Die als „eine der Grundbewegungen des menschlichen Lebens auf der Erde“ begriffene Bewegung nach Westen wird dabei mit „Kolonialisierung“ und „Raubbau“ assoziiert. „Der Osten“, so der auf die bei Veremej angeführte Stelle folgende, von ihr aber nicht mehr zitierte Satz, sei hingegen „gleichbedeutend mit Aussichtslosigkeit.“ (W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt. Frankfurt a.M.: Eichborn 1995, S. 199).
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in den Blick. Es zitiert jene Geste migrantischer Selbstbehauptung, mit der sich Adelbert von Chamisso vom Schicksal seines Romanhelden Peter Schlemihl distanziert: „Den Schatten hab ich, der mir angeboren,/ Ich habe meinen Schatten nie verloren.“ Während Sebald nur im Motto zitiert wird, durchziehen Anspielungen auf Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte den gesamten Roman. Wenn die Ich-Erzählerin das Motiv des verkauften Schattens auf ihr Dasein im Westen bezieht,35 die Migrationsbewegung als solche hingegen im Motiv der Siebenmeilenstiefel reflektiert, erscheint die wundersame Beweglichkeit jedoch anders als bei Chamisso nicht als Kompensation für den fragwürdig gewordenen sozialen Status, sondern als Ursache seiner Fragwürdigkeit. Das Innehalten in der Bewegung ist daher mehr als nur ein Symptom der Erschöpfung. Es steht am Anfang der Erinnerungs- und Reflexionsbewegung des Romans: Früh entschlüpfte ich dem Elternhaus, weil ich nicht so werden wollte wie meine peinlich provinziellen Ahnen, Verwandten und Nachbarn. Ich eilte weg, den wunderbaren Dingen entgegen, die mein Herz im Voraus zu schmecken glaubte. Mit Siebenmeilenstiefeln habe ich etliche Grenzen und Gräben überquert, eine Revolution gefeiert, meinen Kaschmirmantel abgetragen, tausende Avocados verzehrt, Dutzende von Wurstsorten gekostet, und nun bleibe ich immer öfter stehen und schaue zurück. Plötzlich werden mir viele Menschen aus meinem ehemaligen Leben wieder wichtig, und ich schaue nach Osten, wo sich verschwommene, vage Gesichter tummeln. (11) Die Wendung gen Osten ist hier zunächst eine Hinwendung zur lebens geschichtlichen Vergangenheit. Sie bahnt jedoch einem Wechsel oder besser einer Relativierung der Orientierung den Weg, die auch Lenas jetziges Leben betrifft und es ihr ermöglicht, sich aus dem Bann des Westens zu lösen – aus dem Bann eines Programms, dem zufolge ein Weg in die Zukunft nur als permanente Flucht vor der als Osten, und das heißt als rückständig, provinziell und insgesamt unerträglich begriffenen Herkunftswelt denkbar war. Auch dies klingt zunächst nach Ernüchterung: „Es wird nichts mit dem neuen, heiteren Leben, mich zieht es zum alten, trägen – zu meinen Landsleuten.“ (257) Das kleine Grüppchen dieser Landsleute, das sich im Laden einer Freundin versammelt, wo „anstatt von Sekt und Kaviar Hering und Wodka angeboten 35 Vgl. Veremej: Berlin liegt im Osten, S. 72; zur entsprechenden Chamisso-Interpretation ebd., S. 80.
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werden“, ist nicht die erlesene deutsche Gesellschaft, von der Lena in Russ land geträumt hatte. Aber auch wenn diese Treffen mehr oder weniger gebrochener Gestalten, die ihre „lichten Träume auf den Schultern [ihrer] Kinder abgelegt“ (259) haben, nicht frei sind von einer fragwürdigen Ostalgie, vermag Veremejs Ich-Erzählerin sie am Ende des Romans wertzuschätzen: „Na und? Wir fühlen uns auch unter uns hier wohl.“ (257) Entspricht dieses „Wir“ der von Haines konstatierten Projektion eines kollektiven Subjekts osteuropäischer Ausgewanderter, so relativiert das „hier“, und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend, das gemeinsame Schwärmen von „verlassenen und vergangenen Orten“ (259), an die im Grunde doch keiner zurück will, zugunsten des Lebens im Hier und Jetzt. Der nach Westen gerichtete Vektor, der Lenas erste Lebenshälfte bestimmte, kehrt sich also nicht einfach um. Wenn sie sich zu der „unerwartete[n] Freude“ bekennt, die ihr jetzt vieles bereitet, was sie früher „als aufgeklärter Mensch westlicher Prägung“ gemieden hatte – seien es die „alkoholhaltigen Cocktails“, die „von Mayonnaise überfluteten Salate“ oder die „polyphonen Gespräche“ (258f.) –, so zeigt sich jedoch, dass dieser Vektor seine uneingeschränkte Geltung verloren hat. Bei aller Resignation, die durchaus auch mitschwingt, vermag sich die Ich-Erzählerin am Ende auf eine von vielfältigen Brechungen gekennzeichnete Situation einzulassen, in der sich Osten und Westen auf komplexe Weise verschränken, überlagern und relativieren. Wenn Berlin liegt im Osten tatsächlich ein Roman der Desillusionierung ist, so also nicht allein deshalb, weil sich die Ich-Erzählerin eingestehen muss, es nicht wirklich in den Westen oder es im Westen nicht wirklich geschafft zu haben, oder weil der immer schon illusionäre Charakter dieses Westens deutlich wird. Entscheidend ist vielmehr, dass Lena im Verlauf der Handlung, aber auch im Verlauf ihrer Erinnerungsarbeit klar wird, was sie an die eigene Vergangenheit bindet, dass sie den eigenen Osten anzunehmen vermag und den Imperativ permanenten Fortschreitens in Frage stellt. Das relativiert auch die Optionen der Tochter: „Bald steckt Marina ihre Füße in die Siebenmeilenstiefel und fliegt nach Amerika. Vielleicht wird sie da für immer bleiben und sich aus ihrem neuen Westen nach diesen Minuten hier sehnen, nach dieser Stadt […].“ (250)36 Dass Lena von einem „neuen“ Westen spricht, stellt die 36
Von diesem Zitat her erschließt sich der provokative Titel des Romans. Tatsächlich liegt das Berlin, in dem er spielt, aber nicht so eindeutig im Osten, wie es der Titel behauptet. Vielmehr betont Veremej den räumlichen und auch zeitlichen Schwellen- und Übergangscharakter der im Umbruch begriffenen, noch vor kurzem von einer Systemgrenze durchzogenen Stadt in der Mitte Europas. Nicht umsonst lokalisiert sie die Handlung in Berlin Mitte, in der Gegend um den in einer Phase der Umgestaltung befindlichen Alexanderplatz. Der lebensgeschichtlichen Situation der Protagonistin korrespondiert die
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Verwandlung einer geschichtsphilosophisch codierten Himmelsrichtung in eine geographische Bezeichnung in der Rede von dem Westen oder auch Osten in Frage. Indem sie ihr eine allenfalls temporäre Gültigkeit bescheinigt, wendet sich Veremejs Protagonistin gegen das Postulat eines bestimmten, absoluten Westens, wie es Hegel mit der Bezeichnung Europas als „Ende der Weltgeschichte“ formuliert hatte. Das Problem am Westen, wie es sich gegen Ende des Romans darstellt, ist aber nicht nur, dass dieser Ort des Fortschritts selbst buchstäblich oder doch beinahe buchstäblich fortschreitet und sich entzieht. Das Problem ist das Konzept des Westens als solches, weil es auf der Verwerfung des Ostens beruht. 4
Geteilte Geschichten. Berlin liegt im Osten als Roman einer deutsch-russischen Begegnung
Veremejs Befragung des Ost-West-Vektors gewinnt an Komplexität durch die Einführung einer Figur, die in mehr als einer Hinsicht als Gegenüber der IchErzählerin Lena fungiert, ihres betagten, auf den Rollstuhl angewiesenen Pflegefalls Herr Seitz. Der ehemalige Journalist einer Ostberliner Zeitung, den sie halbtags betreut, erscheint in vielem als Gegenteil der Protagonistin. So unterscheiden sich beide in Hinblick auf ihr Geschlecht, ihre Generation und ihre Herkunftsnation. Vor allem aber hat Herr Seitz, als einer der „wenigen übriggebliebenen Eingeborenen“ (40) in Lenas Revier um den Alexanderplatz, sein ganzes Leben in derselben Wohnung verbracht. Die gebürtige Russin liebt seine Geschichten: „mehrmals erzählt, gewinnen sie an Volumen, Farben, Facetten. Die Bilder bewegen sich, reihen sich zu einem Film, zu meinem Film, der vom Leben eines Berliners handelt“ (169). Dabei weiß Lena, dass dieser Film „nicht unbedingt mit dem wahren Leben von Herrn Seitz übereinstimmen muss“ (169). Hier wie im Blick auf ihre eigene Geschichte ist sie sich der Tatsache bewusst, dass Erinnerungen trügerisch und Geschichten, auch persönliche, konstruiert sind. Aber Lena liebt nicht nur Herrn Seitzens Geschichten; sie liebt auch Herrn Seitz selbst, mit dem sie sich auf eine prekäre, zunehmend intime und ihr selbst peinliche Beziehung einlässt. Dabei überlagern sich viele Motive, so Lenas Mitleid mit dem alten Mann, ihre eigene Einsamkeit, ihre Suche nach einem Ersatz für den früh verlorenen Vater oder der Umstand, dass ihr Kiez Verortung „an der unsicher punktierten und imaginären Grenze zwischen dem Osten und dem Westen“ – zweier Welten, bei denen letztlich offen bleibt, ob es sich tatsächlich um zwei voneinander getrennte „Hemisphären“ (9) handelt.
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durch die Erzählungen seines langjährigen Bewohners, dessen Vater als Figur in Döblins Berlin Alexanderplatz hineingeraten sein soll, an historischer Tiefe gewinnt. Nicht zuletzt fungiert die Liaison mit Ulf Seitz auch als Ersatz für die verpasste Beziehung zu einem attraktiven Mann ihres Alters, dem Lena auf der Straße begegnet ist. Wenn sich mit diesem dann doch noch eine Affäre ergibt, so lässt sein Name keinen Zweifel daran, worum es sich dabei handelt. Roman heißt der aus München stammende Arzt, an dem Lena die „ruhige, besonnene Stärke eines rationalen westlichen Menschen“ (212) schätzt. Dieser Roman im Roman aber ist zu schön, als dass eine längerfristige Beziehung wahr werden könnte. Als er nach einer gemeinsam verbrachten Nacht die baldige Ankunft seiner Ehefrau ankündigt, erweist sich der Mythos vom gelobten Land auf einer weiteren Ebene als falsches Versprechen. Wie Roman erscheint auch Herr Seitz als ein typischer Deutscher; er ist „nüchtern […], beherrscht und auch etwas pedantisch – […] genau so, wie wir Russen uns einen kultivierten Deutschen vorstellen.“ (39) Aber er ist, im Gegensatz zu dem Arzt aus München, ein Ostdeutscher. Obschon er für Lena zunächst als Vertreter des Westens erscheint (vgl. 79), korrespondiert ihre Hinwendung zu Ulf Seitz daher jener Wendung gen Osten, zu der sie sich im Verlauf des Romans bekennt und die als partielle doch keine echte Rückwendung ist. Früh schon betont der Roman die Prägung durch die Zeit im politischen Osten der staatssozialistischen Systeme als eine Gemeinsamkeit beider Figuren, die sich zwar intellektuell von ihrer Vergangenheit distanzieren, aber emotional an die Erfahrungen und Hoffnungen einer „untergegangenen Zivilisation“ (44) gebunden bleiben. „Wir sind halt Ossis“ (44) konstatiert Lena in diesem Sinn, und als solcher ist auch Herr Seitz im wiedervereinigten Berlin eine Figur ohne Schatten (vgl. 292). Obwohl er noch immer in der Wohnung seiner Kindheit lebt wie ein Weichtier in seinem Gehäuse, erscheint er nach dem Untergang des historischen Kosmos, in dem er sein Leben verbracht hat, irgendwie unbehaust. Ist Lena eine Migrantin, so der ehemalige Journalist ein ‚Vertriebener‘ im Sinn Vilém Flussers – ein Vertriebener freilich, der seine Fremdheit in der über ihn hereingebrochenen Welt so wenig produktiv zu machen vermag, wie sie die ihre.37 Das verbindet die beiden Figuren über alle Unterschiede hinweg. Wie die aus Russland eingewanderte Ich-Erzählerin 37 Flusser versteht Exil und Vertriebensein in einem umfassenden Sinn, der bspw. auch das Vertriebensein der älteren Generation aus der Welt der jüngeren einschließt. Dabei betont er die produktive Herausforderung dieser Situation: „Der Vertriebene ist aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen worden (oder hat sich daraus herausgerissen). […] Das Exil ist ein Ozean von chaotischen Informationen. […] Der Vertriebene muß kreativ sein, will er nicht verkommen.“ (Vilém Flusser: Exil und Kreativität. In: Ders: Von
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ist auch Ulf Seitz, dieser alteingesessene Bewohner der Gegend um den Alexanderplatz, ein Bewohner jenes imaginären Grenzgebiets, in dem sich Osten und Westen verschränken und überlagern. Im Unterschied zu Lena lebt Herr Seitz in diesem Grenzgebiet jedoch nicht, weil sein Traum von einem Leben im Westen nur unvollständig in Erfüllung gegangen ist, sondern weil er sich der Verwestlichung seines Landes verweigert hat. Das Geschehen zwischen der aus Russland eingewanderten Ich-Erzählerin und ihrem deutschen Pflegefall bestimmt einen Großteil der eigentlichen, über einen Zeitraum von etwa einem Jahr sich erstreckenden Handlung des Romans. Aber Veremej begnügt sich nicht mit der schwierigen Beziehung zwischen den beiden Figuren, sondern holt auch Herrn Seitzens Lebensgeschichte ein, die als eine dritte und nicht minder wichtige Dimension des Romans neben Lenas eigene Rückblicke und ihre Darstellung des gegenwärtigen Geschehens tritt. Die Art und Weise, in der die Biographie der Ich-Erzählerin dabei mit einer ihr in vielem konträren und in mancher Hinsicht auch komplementären Lebensgeschichte konfrontiert wird, trägt als einer der produktivsten Züge des Romans entscheidend bei zur Verhandlung der Ost-West-Differenz. In mehr als einem Sinn nämlich handelt es sich bei dem, was wir von Lena und von Ulf Seitz erfahren, um geteilte Geschichten und auch um eine geteilte Geschichte. Während sich Lena an ihre Vergangenheit in Russland und zum Teil auch an die ihrer Verwandten erinnert, berichtet Herr Seitz von seinem Leben in Deutschland. Und während man Lenas Geschichte als exemplarische Migrationsgeschichte begreifen kann, erzählt Herr Seitz vom Dasein eines Sesshaften, dessen gesellschaftliches Umfeld sich zweimal radikal verändert – wir erfahren von seiner Kindheit während des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, von seinem Ergehen in der DDR und von der Zeit nach der Wende. Veremej konfrontiert damit zwei in vielem entgegengesetzte Biographien, die erst in der jüngsten Vergangenheit konvergieren. Insofern sich die Geschichte der beiden Herkunftsländer berührt und dies für die individuellen Erzählungen relevant wird, handelt es sich bei den beiden Lebensgeschichten jedoch auch um die in sich geteilte Erzählung ein und derselben Geschichte. Eine besondere Konstellation ergibt sich dabei angesichts von Seitzens opportunistischem Verhalten in der Endphase der DDR. Wenn er sich hier allem politischen und gesellschaftlichen Unbehagen verweigert und unter dem Titel „Go West?“ eine Zeitungsbeilage produziert, „in der die negativen Erfahrungen republikflüchtiger Bürger im Westen dargestellt werden“ (278), so denunziert der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. Bensheim: Bollmann 1994, S. 103–109, S. 103).
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er damit einen Slogan, der als Motto nicht nur über Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, sondern auch über Lenas Migrationsbewegung hätte stehen können.38 Bei alldem darf nicht übersehen werden, dass wir die Geschichte von Herrn Seitz nur durch Lena erfahren. Sie ist in dem doppelten Sinn mitgeteilt, dass er selbst seine Erinnerungen mit einer Zuhörerin teilt, die diese dann in ihrer Eigenschaft als Ich-Erzählerin weitergibt – teils als direkte oder transponierte Figurenrede, teils in Form längerer, in sich geschlossener Nacherzählungen. Dabei ist es keineswegs gleichgültig, dass Lena eine Migrantin und genauer eine Migrantin aus Russland ist, deren Herkunft in den Gesprächen mit Herrn Seitz auch immer wieder hervorgehoben wird. Schon figurenpsychologisch betrachtet dürfte die Adressierung an eine ‚Fremde‘ die Voraussetzung dafür bilden, dass Herr Seitz überhaupt so viel von sich preisgibt. Jedenfalls aber verändern die Adressierung an und die Wiedergabe durch eine gebürtige Russin die Art, in der Seitzens deutsche Geschichte in Veremejs deutschsprachigem 38 Der Slogan hat eine komplizierte Geschichte. Die Formulierung ‚Go West, young man!‘ wird im Allgemeinen dem Gründer der New York Tribune, Horace Greeley, zugeschrieben, der in den 1860er Jahren im Sinn der Manifest Destiny-Doktrin zur Landnahme im amerikanischen Westen aufforderte. Wie leicht diese Aufforderung geschichtsphilosophisch aufgeladen werden konnte, zeigt eine zeitgenössische Äußerung Henry David Thoreaus: „We go eastward to realize history and study the works of art and literature, retracing the steps of the race; we go westward as into the future, with a spirit of enterprise and adventure.“ (Henry David Thoreau: Walking. In: The Atlantic Monthly. A Magazine of Literature, Art, and Politics 9, H. 56 (1862), S. 657–674, S. 662) Dieser ursprüngliche Sinn des Slogans ist zumindest in den USA bis heute geläufig und wurde in vielfältiger Weise tradiert. So betitelten bspw. Buster Keaton (1925) und die Marx Brothers (1940) ihre Westernparodien mit Go West. In ihrem gleichnamigen, 1979 produzierten Song verschob die US-amerikanische Band Village People jedoch die Bedeutung des Schlagworts. In dem zunächst nur mäßig beachteten Lied der für den Brückenschlag zwischen Schwulen- und Mainstream-Kultur bekannten Gruppe wird ‚Go West‘ zum Motto des sexuell motivierten Aufbruchs an die mit schönem Wetter, liberalen Gesetzen und einer vitalen LGBT-Gemeinde lockende Westküste Kaliforniens. 1993 schließlich produzierten die Pet Shop Boys eine Cover-Version dieses Songs, die das sexuelle Aufbruchspathos der Pre-AIDS-Ära nur mehr zitierte und schnell zum internationalen Hit wurde. Eine neue Bedeutung gewann die Parole ‚Go West‘ dabei vor allem durch den zugehörigen, auf den Zerfall der Sowjetunion anspielenden Videoclip, in dem eine uniforme Masse junger russischer Männer nach New York aufbricht. Zur Rezeption des Songs in Russland scheint seine unterschwellige Verwandtschaft mit der sowjetischen Nationalhymne beigetragen zu haben (vgl. Matthias Tischer: Go West (Village People/Pet Shop Boys). In: Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Hg. Michael Fischer, Fernand Hörner und Christofer Jost (http://www.songlexikon.de/songs/gowest, 12/2011 (revised 10/2013), zuletzt geprüft am 13.5.2019); Harriet Fitch Little: How the US doctrine of manifest destiny became the gay anthem Go West. In: Financial Times, 26.6.2017 (https://www.ft.com/content/65131be4 -5805-11e7-80b6-9bfa4c1f83d2, zuletzt geprüft am 13.5.2019).
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und erkennbar für ein deutsches Publikum geschriebenem Roman zu lesen ist. Denn diese Geschichte verbleibt nicht im Echoraum eines sich mit sich selbst verständigenden, national definierten ‚Wir‘. Schon rein formal betrachtet überlagern sich bei der Redewiedergabe unterschiedliche Perspektiven im Bachtin’schen Sinn einer „hybriden Konstruktion“.39 Eine Überlagerung der Perspektiven liegt aber, als Antizipation der Wahrnehmung durch und der Wirkung auf seine russischstämmige Adressatin, auch schon den ursprünglichen Äußerungen Seitzens zugrunde. Prinzipiell gilt dies für seine gesamte Geschichte; relevant aber wird es besonders dort, wo deutsch-russische Beziehungen berührt werden – so wenn Herr Seitz von der unauffälligen, aber massiven Präsenz russischer Zwangsarbeiter im Berlin der Kriegsjahre berichtet oder von der Vergewaltigung seiner Mutter durch russische Soldaten.40 5
Nach der Migration. Berlin liegt im Osten im Kontext der literarischen Auseinandersetzung mit transnationalen Wanderungsbewegungen
Es liegt auf der Hand, dass man Veremejs Roman im Kontext jener ‚deutschsprachigen Literatur von AutorInnen osteuropäischer Herkunft‘ verhandeln könnte, die, mit je anderen Akzentuierungen, Brigid Haines als „eastern turn“, Michaela Bürger-Koftis als „Osterweiterung der deutschen Literatur“ und Renata Cornejo u.a. als „deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa“41 bezeichnet haben. Von der biographienahen Konzeption einmal abgesehen, lassen sich zumal die in diesem Zusammenhang hervorgehobene Desillusionierung bezüglich des Lebens im Westen, die Konstruktion eines durch den gemeinsamen Bezug auf die Erfahrung des real existierenden Sozialismus geformten ‚Wir‘, das Spiel mit Klischees und die Wendung an ein mit den russischen und deutsch-russischen Verhältnissen wenig vertrautes Publikum auch bei Veremej beobachten. Angesichts der eingangs formulierten 39 Michail M. Bachtin: Das Wort im Roman. In: Ders.: Ästhetik des Wortes. Hg. Rainer Grübel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 195. 40 Veremejs Roman bietet damit eine interessante Variante dessen, was Andreas Huyssen (Diaspora and Nation. Migration Into Other Pasts. In: New German Critique 88 (2003), S. 147–164, S. 154) als eine Art Einwanderung in die deutsche Geschichte bezeichnet hat. Geht es Huyssen im Anschluss an Zafer Şenocak um die unmittelbare Beteiligung von MigrantInnen an der Konstruktion der nationalen Geschichte und um deren Veränderung durch abweichende Perspektiven, so ist Veremejs migrantische Hauptfigur an dieser Konstruktion beteiligt, insofern sie zunächst als Adressatin der von einem Deutschen erzählten Geschichte fungiert und diese dann ihrerseits reformuliert. 41 Vgl. Anm. 2 und 3.
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Vorbehalte gegenüber derartigen Kategorisierungen möchte ich die Perspektive jedoch in anderer Weise öffnen und Veremejs Auseinandersetzung mit der Ost-West-Differenz zum Abschluss im umfassenderen Kontext des aktuellen transnationalen und transkulturellen Schreibens über Migration verorten. Ausgehen kann man dabei vom bereits hervorgehobenen Alter der IchErzählerin. Als autobiographisch inspirierte Geschichte einer Migrationsbewegung folgt Berlin liegt im Osten dem in der deutschsprachigen Literatur seit der Jahrtausendwende verbreitetsten und gerade für Debütromane hochgradig charakteristischen Muster einer literarischen Auseinandersetzung mit Migrationsphänomenen. Dieses Muster verband sich jedoch in den letzten Jahrzehnten fast durchgehend mit der Wahl einer heranwachsenden oder adoleszenten Hauptfigur, deren Migrationsbewegung mit einer entwicklungsoffenen, durch ein hohes Maß an Flexibilität, Dynamik und Ungebundenheit geprägten Lebensphase zusammenfiel und deren Migrationserfahrungen relativ unmittelbar aus der Sicht des erlebenden Ichs erzählt wurden. Veremejs Roman dagegen akzentuiert die Differenz zwischen Erzählgegenwart und Vergangenheit, indem er eine Ich-Erzählerin fortgeschrittenen Alters auf ihre Migrationserfahrung zurückblicken lässt. Dem korrespondieren inhaltlich eine nicht bloß desillusionierende, sondern von vornherein schon desillusionierte Sicht auf die eigene Migrationsgeschichte und eine problematisierende, wenn nicht gar ironisierende Auseinandersetzung mit einem gewissen Pathos der Migration, die sich konkret in der Auseinandersetzung mit dem Ost-WestVektor vollzieht. Und dem korrespondiert in der Schreibweise der Verzicht auf formale Experimente, die diese Thematik im Sinn einer Poetik der Migration auch ästhetisch zur Geltung bringen würden, auf das Spiel mit der Fremdoder Mehrsprachigkeit etwa oder auf radikale Verfremdungen durch die In anspruchnahme eines fremden Blicks. Berlin liegt im Osten unterscheidet sich damit insbesondere von den mit Namen wie Özdamar, Tawada oder Zaimoğlu verbundenen Texten der 1990er Jahre, die das Bild der sogenannten ‚Migrationsliteratur‘ geprägt haben, indem sie das Thema offensiv besetzten, ein positives Verständnis von Migrationsbewegungen, Fremdheitseffekten, hybriden Strukturen und transkulturellen Phänomenen entwickelten und dem auch durch entsprechende poetische Verfahren Rechnung trugen. Die Verknüpfung von Migrationsphänomenen mit poststrukturalistischen und postmodernen Konzepten erlaubte auch nicht-migrantischen LeserInnen, diese Texte zumindest partiell identifikatorisch zu lesen. Migrantischen Figuren, die einen neuen Umgang mit Mobilität, Mehrsprachigkeit und kultureller Differenz praktizierten, konnte hier eine gesellschaftliche Vorreiterrolle zugeschrieben werden; die adoleszenten und
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sozial ungebundenen Charaktere erschienen als avantgardistische Helden der Überschreitung.42 Dass Veremejs Debütroman gleich in mehrfacher Hinsicht mit dieser Form des Schreibens über Migration bricht, lässt sich sicherlich auch mit der von Katrin Sorko und anderen beschriebenen Desillusionierungs tendenz der ‚Literatur der Systemmigration‘ in Verbindung bringen.43 Da die deutschsprachigen Länder nicht nur aus osteuropäischer Sicht als ‚goldener Westen‘ erscheinen, stellt sich jedoch die Frage, wie spezifisch diese Tendenz eigentlich ist. In einer umfassenderen Perspektive jedenfalls fügt sich Berlin liegt im Osten in die allgemeinere Entwicklung des Schreibens über Migration, das seit den frühen 2000er Jahren durch eine verstärkte Problematisierung von Migrationsphänomenen und die Tendenz zur ästhetischen Normalisierung gekennzeichnet ist.44 Das Besondere von Veremejs Roman aber liegt darin, dass er im Zuge der Ost-West-Codierung der von Lena vollzogenen Migrationsbewegung nicht nur die komplementären Konzepte des ‚Ostens‘ und ‚Westens‘ mitsamt der in sie eingeschriebenen Vektorisierung hinterfragt, sondern implizit auch jenes im weitesten Sinn modernistische Aufbruchs pathos, das in den Jahren vor und unmittelbar nach der Jahrtausendwende zumindest im deutschsprachigen Raum die literarische Auseinandersetzung mit Migration prägte. 42 Ich paraphrasiere hier frühere Ausführungen zur literarischen Auseinandersetzung mit Migration in den 1990er-Jahren. Vgl. Hansjörg Bay: Migration, postheroisch. Zu Sherko Fatahs Das dunkle Schiff. In: Niemandsbuchten und Schutzbefohlene. Flucht-Räume und Flüchtlingsfiguren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. Thomas Hardtke, Johannes Kleine und Charlton Payne. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, S. 23–37, S. 29–32. 43 Vgl. Sorko: Die Literatur der Systemmigration, S. 112 und passim; Haines: The Eastern Turn, S. 140; Meixner: Zwischen Ost-West-Reise und Entwicklungsroman? 44 Vgl. Bay: Migrationsliteratur, S. 329–331.
kapitel 2
„Ich bin genauso deutsch wie Kafka“ (Terézia Mora). Zur Infragestellung des Konzepts der Migrantenliteratur Manfred Weinberg Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier. Beschreiben wir beides wie folgt.1 Terézia Mora: Alle Tage
∵ Als ich mich an das Verfassen des Vortrags, auf den dieser Aufsatz zurückgeht, machte, habe ich mich, wie üblich, noch einmal rückversichert, was ich den Veranstaltern der Tagung überhaupt als Thema und Titel meines Beitrags genannt hatte. Erst bei dieser ‚Überprüfung‘ fiel mir auf, dass sich ein entscheidendes Wort meines Untertitels geändert hatte. Ich hatte eine Infragestellung des Konzepts der ‚Migrantenliteratur‘ angeboten; im Tagungsprogramm fand sich eine Infragestellung der ‚Migrationsliteratur‘. Einen größeren Gefallen hätten mir die Veranstalter allerdings nicht erweisen können, denn so zeigt sich – ohne irgendeinen Aufwand meinerseits – die Umstrittenheit, für viele: grundlegende Unangemessenheit des Begriffs der ‚Migrantenliteratur‘, wobei ich allerdings nicht erkennen kann, dass es um den Begriff der ‚Migrationsliteratur‘ besser stünde. Ich hatte auch noch einen anderen Vortrag unter dem Titel „Vor der Zeit. Libuše Moníková und ihr Projekt eines anderen Europas“ angeboten und dazu angemerkt, „Vor der Zeit“ bezöge sich auch darauf, dass Moníková schrieb, als von ‚Migrantenliteratur‘ noch nicht die Rede war. Ich hatte aber gleich auch gefragt, ob Moníková als Autorin überhaupt passe, denn im Call for Papers seien ja „deutschsprachige[] AutorInnen osteuropäischer Herkunft“ [Hervorhebung M.W.] als Gegenstand der Tagung benannt, wenn auch mit der Einschränkung, dass die Rede von diesen – vor allem in Hinsicht auf das 1 Terézia Mora: Alle Tage. München: Luchterhand 2004, S. 9.
© Koninklijke Brill NV, Leiden, 2021 | doi:10.1163/9789004466234_004
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„unscharfe[] Label ‚Osteuropa‘“2 – durchaus problematisch sei. Mein Fazit im Mail-Wechsel mit den Veranstaltern lautete jedenfalls: „Das würde Moníková ausschließen, denn (ost)mitteleuropäischer als bei Moníková geht es kaum.“ Die Zurechnung zu Osteuropa ist allerdings nicht nur im Falle von Libuše Moníková fragwürdig. Von den auf der Tagung „Migrationsvordergrund – Provinzhintergrund. Deutschsprachige (Welt-)Literatur aus Osteuropa“ und somit auch in diesem Band verhandelten AutorInnen ist sie eigentlich nur bei den aus der Ukraine stammenden Autorinnen Lana Lux und Katja Petrowskaja fraglos, denn immerhin weiß sogar wikipedia: „Die Ukraine ist ein Staat in Osteuropa“.3 Selbst bei den russischstämmigen Autorinnen Alina Bronsky, Olga Martynova und Nellja Veremej muss man jeweils genauer hinsehen, denn – wie wiederum im entsprechenden wikipedia-Artikel zu lesen ist – „Russland bzw. die Russische Föderation ist ein interkontinentaler, föderativer Staat im nordöstlichen Eurasien“.4 Zum Herkunftsland Terézia Moras heißt es dagegen: „Ungarn ist ein Binnenstaat in Mitteleuropa“.5 Das Herkunftsland von Martin Kordić und Saša Stanišić, Bosnien-Herzegowina, wurde auf einem Seminartag des Lehrstuhls für Sozial- und Wirtschaftsgeographie an der Universität Augsburg gemeinsam mit Slowenien und Kroatien als „neue[r] Staat[] am Rande Mitteleuropas“6 bezeichnet, wobei unklar ist, ob die Formulierung „am 2 Vgl. die Ankündigung der Tagung bei H-Germanistik (https://networks.h-net.org/node/ 79435/discussions/722244/konf-migrationsvordergrund-–-provinzhintergrund-deutschspra chige, zuletzt geprüft am 29.4.2019). 3 Wikipedia-Artikel Ukraine (https://de.wikipedia.org/wiki/Ukraine, zuletzt geprüft am 29.4. 2019). 4 Wikipedia-Artikel Russland (https://de.wikipedia.org/wiki/Russland, zuletzt geprüft am 29.4. 2019). Zu Bronskys Geburtsort liest man bei wikipedia: „Jekaterinburg liegt am Fluss Isset knapp 40 Kilometer östlich der imaginären Trennlinie zwischen Europa und Asien.“ (Wikipedia-Artikel Jekaterinburg (https://de.wikipedia.org/wiki/Jekaterinburg, zuletzt geprüft am 29.4.2019)). Zu Martynovas Heimatstadt heißt es: „Dudinka (russisch Дудинка) ist eine Stadt […] im Norden des Westsibirischen Tieflands, jeweils im Norden der Region Krasnojarsk, von Sibirien und Russland (Asien).“ (Wikipedia-Artikel Dudinka (https:// de.wikipedia.org/wiki/Dudinka, zuletzt geprüft am 29.4.2019)). Nellja Veremej ist in Maikop im südlichen Russland geboren worden; allerdings hat sie die Schule – nach wikipedia – im Kaukasus beendet (vgl. Wikipedia-Artikel Nellja Veremej (https://de.wikipedia.org/wiki/ Nellja_Veremej, zuletzt geprüft am 29.4.2019)). Zumindest die Länder des Südkaukasus werden geographisch üblicherweise zu Asien gerechnet, aus historischen und kulturellen Gründen aber auch oft als Teil Europas angesehen. Bronsky und Martynova stammen also eindeutig aus dem asiatischen Teil Russlands; bei Veremej ist die Lage immerhin unklar. 5 Wikipedia-Artikel Ungarn (https://de.wikipedia.org/wiki/Ungarn, zuletzt geprüft am 29.4. 2019). 6 Franz Schaffer (Hg.): Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina. Neue Staaten am Rande Mitteleuropas. Ergebnisse eines Seminartages an der Universität Augsburg im Mai 1996. Augsburg: Selbstverlag Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeographie, Universität Augsburg 1997.
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Rande“ ein Dazu- oder Nicht-Dazugehören ausdrücken soll; von Osteuropa ist jedenfalls nicht die Rede. Jan Faktor ist gebürtiger Tscheche und stammt nach wikipedia wiederum aus einem „Binnenstaat in Mitteleuropa“.7 Artur Beckers Herkunftsland Polen nennt wikipedia „eine parlamentarische Republik in Mitteleuropa“,8 wobei mir die Verortung in Mitteleuropa klarer zu sein scheint als die Frage, wie lange es sich im Falle Polens noch um eine klassische „parlamentarische Republik“ handeln wird. Bei Olga Grjasnowa liegt der Fall noch einmal anders, denn zu ihrem Herkunftsland Aserbaidschan heißt es bei wikipedia, es sei ein „Binnenstaat in Vorderasien“.9 Bei einer sehr deutlichen Mehrheit der in diesem Band verhandelten AutorInnen ist ihre Zurechnung zu Osteuropa also fraglich bis eindeutig inadäquat. Auf eine unscharfe Verwendung des Begriffs Osteuropa habe ich auch bei einer Podiumsdiskussion unter dem Titel Europa, Europa-Universitäten und dann? am letzten Tag der Tagung der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik im September 2017 in Flensburg hingewiesen. Eine andere Podiumsteilnehmerin, Tove Hansen Malloy, Direktorin des European Centre for Minority Issues, pflichtete mir daraufhin, was die mangelnde Präzision des Osteuropa-Begriffs angehe, bei, plauderte aber aus, dass sie sich für die Binnen-Diskussionen in ihrem Zentrum auf einen rein pragmatischen Begriff verständigt hätten: Osteuropa sei eben alles, was östlich von Wien liege. Als ‚gelernter‘ Prager kann man sich, weil Prag natürlich westlich von Wien liegt, über die Anerkennung freuen, dass sich, wenn die einzige Alternative zu Osteuropa Westeuropa ist, Tschechien so in den erlauchten Kreis westeuropäischer Nationen aufgenommen findet und den osteuropäischen Schmuddelkindertisch verlassen darf. Man kann jedenfalls schließen: Osteuropa wird meist nicht als geographischer, sondern als historischer resp. politischer Begriff verwendet: Osteuropa ist, was früher hinter dem Eisernen Vorhang lag. Aber hat sich nach 1989 denn wirklich so wenig geändert und zählen die gut vierzig Jahre der politischen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich so viel mehr als die hunderte von Jahren davor und die ja nun auch schon fast dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch eben jenes ‚Ostblocks‘? In der ZEIT schrieb Tomasz Kurianowicz unter dem Titel Osteuropa: Der Eiserne Vorhang im Kopf:
7 Wikipedia-Artikel Tschechien (https://de.wikipedia.org/wiki/Tschechien, zuletzt geprüft am 29.4.2019). 8 Wikipedia-Artikel Polen (https://de.wikipedia.org/wiki/Polen, zuletzt geprüft am 29.4.2019). 9 Wikipedia-Artikel Aserbaidschan (https://de.wikipedia.org/wiki/Aserbaidschan, zuletzt geprüft am 29.4.2019).
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Die Deutschen wissen um die Entwicklungen in Frankreich, reisen nach Italien, essen Griechisch und sprechen Englisch, doch den schnellen Sprung in den Osten vermeiden sie, als würde auch 28 Jahre nach dem Fall der Mauer in Polen, Tschechien, Ungarn oder Bulgarien eine fremde Welt voller Fellmützenträger und zurückgebliebener Traktorfahrer warten.10 Auch bezüglich der Literatur kann ich nicht erkennen, dass die von Brigid Haines im Abstract ihres Aufsatzes „The Eastern Turn in Contemporary German, Swiss and Austrian Literature“ formulierte These: „this emerging field is […] contributing to a post-Cold War remapping of Europe“11 zutrifft. Allein die Zuschreibung, wer ein osteuropäischer Autor sein soll, macht deutlich, dass wir uns vielmehr noch mitten im geostrategischen Denken des Kalten Kriegs bewegen, was allerdings, konsequent zu Ende gedacht, zur Frage führen müsste, ob nicht in der DDR sozialisierte Autoren eigentlich auch Osteuropäer sind. In einem Porträt des tschechischen Schriftstellers Jaroslav Rudiš liest man als Einschätzung der Mitglieder von Rudiš’ Kafka-Band: Auch in ihrem Land haben der Populismus und die Europafeindschaft an Einfluss gewonnen, während sie selbst den Fall des Eisernen Vorhangs als große Befreiung erlebten, verbunden mit dem Erstaunen darüber, plötzlich als „Osteuropäer“, also als Europäer am Rand zu gelten. „Das hat die Tschechen beleidigt“, sagt Jaroslav Rudiš.12 Zumindest Polen, Slowaken und Ungarn würden diese Diagnose sicher teilen.13 10 Tomasz Kurianowicz: Der Eiserne Vorhang im Kopf. In: ZEIT-Online, 21.9.2017 (https:// www.zeit.de/kultur/2017-09/osteuropa-klischees-unterentwickelt-rueckstaendig -bundestagswahlkampf/komplettansicht, zuletzt geprüft am 29.4.2019). 11 Brigid Haines: Introduction: The Eastern Turn in Contemporary German, Swiss and Austrian Literature. In: German Life and Letters 68, H. 2 (2015), S. 145–153. Das Abstract findet sich im Internet etwa unter: https://www.researchgate.net/publication/233073374_ The_Eastern_Turn_in_Contemporary_German_Swiss_and_Austrian_Literature1, zuletzt geprüft am 29.4.2019. 12 Uwe Ebbinghaus: Mit Kafka in der Kneipe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.10.2017 (http://plus.faz.net/faz-plus/feuilleton/2017-10-14/mit-kafka-in-der-kneipe/67761.html/, zuletzt geprüft am 29.4.2019). 13 Am Rande der Tagung „Migrationsvordergrund – Provinzhintergrund. Deutschsprachige (Welt-)Literatur aus Osteuropa“ ergab sich die Gelegenheit zu einem Treffen mit Jaroslav Rudiš, der mit seiner Kafka-Band gerade an einer Aufführung von Franz Kafkas Amerika am Theater Bremen beteiligt war. Auf die Frage nach Osteuropa angesprochen meinte
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Jaroslav Rudiš erlaubt mir den Übergang zur im Untertitel benannten ‚Migranten-‘ oder ‚Migrationsliteratur‘. Insofern Rudiš seine literarischen Texte auf Tschechisch – also der Sprache seines Herkunftslandes – verfasst, kann er dieser Kategorie nicht zugerechnet werden. Wirklich nicht? Einen großen Teil seines Lebens verbringt Rudiš in Berlin und ist jedenfalls auch Teil der deutschen Literaturszene, insofern er Zeitungs- und Zeitschriftenartikel oder Geleitworte zu Übersetzungen – etwa der Neuübersetzung von Jaroslav Hašeks Švejk – auf Deutsch publiziert. Jaroslav Balvin, tschechischer Autor und Publizist, hat auf die „schwache Stellung der Literatur in der tschechischen Gesellschaft“ hingewiesen, was auch dazu führe, „dass nur wenige Schriftsteller ihren Lebensunterhalt durch Schreiben verdienen“ könnten. Man dürfe sich deshalb nicht wundern, „dass sich Autoren wie Jaroslav Rudiš etwa zum deutschen Markt hin orientieren“.14 Ist Rudiš also doch ein Migrant im Wortsinn der Migrantenliteratur? Es scheint mir dabei aussagekräftig, dass Balvil Rudiš’ Orientierung nach Deutschland auf den „Markt“15 und damit auf die Verdienstmöglichkeiten zurückführt, nicht auf eine stärkere Stellung der Literatur in der deutschen Gesellschaft. In Deutschland gibt es zwar sicher eine lautstärkere Kulturindustrie, aber man kann sich allzu oft des Eindrucks nicht erwehren, dass Literaturkritiker auch hierzulande eigentlich nur noch für ‚ihresgleichen‘ schreiben. Der Artikel in der FAZ trug übrigens den Titel Mit Kafka in der Kneipe und den Untertitel: „In Europa liegen Vergangenheit und Gegenwart, Herkunftsund Wohnorte, Kulturen, Sprachen und Trinkgewohnheiten nahe beieinander: Eine deutsch-tschechische Szene in Bremen, rund um ein Musiktheaterprojekt des Schriftstellers Jaroslav Rudiš.“16 Das kann einen schon zur Frage bringen, ob es eine Binnen-EU-Migration im Sinne der Migrantenliteratur überhaupt geben kann, wobei die ‚Nähe‘ von Orten, Kulturen und Sprachen sicher nicht als er, damit verhielte es sich doch recht einfach: Wenn man in Europa immer weiter nach Osten fahre und frage, ob man nun in Osteuropa sei, erhalte man zur Antwort: „Nein, hier ist noch Mitteleuropa. Osteuropa beginnt erst weiter östlich.“ Diese Antwort erhalte man, bis man schließlich in Asien angekommen sei. 14 Jaroslav Balvin: Literatur und politische Kritik in Tschechien. In: Literaturhaus Europa (https://www.literaturhauseuropa.eu/de/observatorium/blog/literature-and-political -commentary-in-the-czech-republic-literatur-und-politische-kritik-in-tschechien, zuletzt geprüft am 29.4.2019). 15 Dieser „Markt“ mag Rudiš auch dazu bewegt haben, seinen neuen Roman ‚gleich‘ auf Deutsch zu schreiben. Winterbergs letzte Reise erschien im Februar 2019, also pünktlich zur Leipziger Buchmesse, bei der Tschechien Schwerpunktland war; der Roman war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Damit hätte sich Rudiš dann endgültig den Status eines Autors der Migrantenliteratur ‚verdient‘. 16 Ebbinghaus: Mit Kafka in der Kneipe.
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Differenzlosigkeit zu verstehen ist. Bezogen auf diese Fremdheiten hat Rudiš übrigens schon öfter „Mehr Stammtische für Europa“ gefordert, an denen wir uns unsere unterschiedlichen Herkünfte und deren Besonderheiten erklären könnten. Im FAZ-Artikel heißt es: „Dass er das nicht einfach so dahergesagt hat, sieht man daran, wie intensiv er selbst im Kneipengespräch mitteleuropäische Gemeinsamkeiten sucht und durch seine Begeisterung für alles Geschichtliche überraschende Verbindungen schafft.“17 Bezogen auf die Frage nach einer Binnen-EU-Migration gilt allerdings wohl, dass es so einige der AutorInnen, für die diese gilt, selbst sind, die sich nach dem Label der Migrantenliteratur drängen, weil derzeit mit kaum einer anderen Rubrizierung auf dem deutschen Buchmarkt vergleichbare Erfolgs- und damit eben auch Verdienstaussichten verbunden sind.18 Man kann das weiterdenken: Ist der sogenannte ‚eastern turn‘ der deutschen Literatur vielleicht nichts anderes als der Versuch sicherzustellen, dass migrantische AutorInnen wirklich noch fremd wirken und somit als Fremde in die deutsche Literatur eingewandert sind? Gibt es Fremderes als den ‚wilden Osten‘? Dieser Fremdheitsstatus wäre dann aber eben dem beschriebenen Missverstehen Osteuropas geschuldet, denn Bratislava und Budapest, Prag und Warschau, um nur die Hauptstädte der jeweiligen Länder zu nennen, sind von Deutschland aus gesehen tatsächlich sehr nahe Herkunftsorte, was – noch einmal – keinesfalls Unterschiedslosigkeit oder gar Gleichheit meint. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass zwar im Vorwort zum von Renata Cornejo, Sławomir Piontek, Izabela Sellmer und Sandra Vlasta herausgegebenen Sammelband Wie viele Sprachen spricht die Literatur? davon die Rede ist, dass der Band die „Diskussion um einen ‚eastern turn‘ bzw. eine Osterweiterung in der deutschsprachigen Literatur weiterführen“19 wolle, dass der Untertitel aber immerhin geographisch präzise „Deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa“ [Hervorhebung M.W.] lautet. In meinem Beitrag zu diesem Band hatte ich unter dem Titel „Was heißt und zu welchem Ende liest man Migrantenliteratur?“ grundsätzliche Überlegungen zum Begriff der ‚Migrantenliteratur‘ angestellt. Dabei habe ich auch gefragt, warum die so rubrizierte Literatur überhaupt derart verkaufsträchtig 17 Ebd. 18 In ihrem Beitrag „Chance, Falle, Marketing. Herkunft als Kriterium in Literaturbetrieb und Literaturkritik“ in diesem Band zeigt Brigitte Schwens-Harrant eindrucksvoll den ‚Mehrwert‘, den sich Verlage offensichtlich von einer Vermarktung von AutorInnen als solchen der Migrantenliteratur versprechen. 19 Renata Cornejo, Sławomir Piontek, Izabela Sellmer und Sandra Vlasta: Vorwort. In: Wie viele Sprachen spricht die Literatur? Deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa. Hg. dies. Wien: Präsens 2014, S. 7–12, S. 7.
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ist – und gemutmaßt: „Es wird kaum ein überschäumendes Interesse an den/ der/dem Fremden sein, jedenfalls nicht im Fall Mittel- und Osteuropas“.20 Wenig später heißt es: So muss der Grund wohl allgemeinerer Art sein. Naheliegend ist folgende Zurechnung: Wir alle leben in längst hybrid, synkretistisch, inter- oder transkulturell etc. gewordenen Kulturen, die eine große Unübersichtlichkeit mit sich bringen. Für den Einzelnen führt dies zu einer gewissen Orientierungslosigkeit oder, um mit dem Titel eines anderen Bestsellers zu sprechen, zur Frage: Wer bin ich und wenn ja wie viele? […] Den Migrant Innen wird nun aber offenbar eine besondere Kompetenz in gerade dieser Hinsicht zugesprochen. Ganz offensichtlich mussten sie sich – beim Übergang von der einen in die andere Kultur – mit eben solchen kulturellen Heterogenitäten und Uneindeutigkeiten und ihren Folgen für den Einzelnen auseinandersetzen.21 So wurden sie zu Experten für das, was Homi Bhabha ‚dritte Räume‘ nennt. Insofern ‚Migrantenliteratur‘ also verspricht, von eben solchen Unsicherheiten Zeugnis abzulegen, erlaubt sie es den LeserInnen, ihre eigene Orientierungslosigkeit in einer (post-)modernen Gesellschaft in diesen Büchern gespiegelt zu sehen. Das gelingt um so besser, als zumindest der üblichen Zuschreibung nach ‚Migrantenliteratur‘ thematisch nah an den persönlichen Erfahrungen der AutorInnen bleibt.22 Heute würde ich übrigens die Möglichkeit, Migrantenliteratur aus Interesse an der Herkunftskultur der Migrierten zu lesen, gar nicht mehr erwähnen, weil mir die ihr zugerechneten Bücher dies – natürlich mit Ausnahmen – höchst selten anzubieten scheinen. Es geht fast immer nur ums Ankommen und Fremd-Bleiben (mit dem sich die ach so orientierungslosen LeserInnen dann identifizieren können), kaum um etwas, was sich dem genauen Herkunftsort verdankt. Die wörtlichen Übersetzungen aus dem Türkischen ins Deutsche in Emine Sevgi Özdamars Roman Das Leben ist eine Karawanserei hat Regula Müller dahingehend kommentiert, dass es uns eine solche Schreibweise 20
Manfred Weinberg: Was heißt und zu welchem Ende liest man Migrantenliteratur? Mit Anmerkungen zum Werk Libuše Moníkovás. In: Wie viele Sprachen spricht die Literatur? Deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa, Hg. Renata Cornejo, Sławomir Piontek, Izabela Sellmer und Sandra Vlasta. Wien: Präsens 2014, S. 15–36, S. 15. 21 Ebd., S. 16. 22 Ebd.
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ermögliche, „ohne mitleidige oder überhebliche Gedanken, wissend und unsicher zugleich, ‚der Fremdheit‘ zu begegnen“,23 womit sie die ‚spezifische‘ Fremdheit des erinnerten türkischen Alltags meint. Mir dagegen bleiben solche wörtlich übersetzten Redensarten einfach unverständlich und insofern nur in einem sehr allgemeinen, jedenfalls unspezifischen Sinne fremd, was ja ihre poetische Produktivität nicht ausschließt. Der übliche Vorwurf gegen den Begriff der Migrantenliteratur ist, dass er die literarischen Texte an ein Ereignis im Leben des Autors binde, also biographis tisch sei. Das habe ich im benannten Aufsatz mit Wilhelm Diltheys Ausführungen über Das Erlebnis und die Dichtung zusammengebracht, in denen man liest: „Poesie ist Darstellung und Ausdruck des Lebens“,24 und gefragt, ob etwa im Zeichen der Migrantenliteratur „theoretische und methodologische Paradigmen fröhliche Urständ [feiern], die die Theorie-Diskussionen der Literaturund Kulturwissenschaften des späteren 20. Jahrhunderts für überwunden erklärt hatten“.25 Im Übrigen müsste ja auch der Autor erst einmal wieder von den Toten auferstanden sein, damit eine solche Verkopplung theoretisch haltbar wäre, was ihm inzwischen aber wohl gelungen ist. In wikipedia finden sich Ausführungen zur Migrantenliteratur übrigens unter dem Lemma „Interkulturelle Literatur“. Man liest: Als inter- oder multikulturelle Literatur bezeichnet man heute die Literatur von Autoren, die aus einer von mindestens zwei Kulturräumen geprägten Sichtweise schreiben. Sie ist auch als Literatur der Kultursynthesen beschreibbar. Interkulturelle Literaturen sind Bestandteil der Nationalliteraturen. Als solcher behandelt sie ebenso Identitätsfragen nationaler oder kultureller Minderheiten innerhalb einer Mehrheitsgesellschaft wie umgekehrt die Selbstkonstitution der Mehrheit gegenüber allen „Anderen“. Dadurch hat letztlich jeder Text einen interkulturellen Aspekt.26
23 Regula Müller: „Ich war Mädchen, war ich Sultanin“. Weitgeöffnete Augen betrachten türkische Frauengeschichte(n). Zum Karawanserei-Roman von Emine Sevgi Özdamar. In: Denn du tanzt auf einem Seil. Positionen deutschsprachiger MigrantInnenliteratur. Hg. Sabine Fischer und Moray McGowan. Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 133–149, S. 147. 24 Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing · Goethe · Novalis · Hölderlin. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. Gabriele Malsch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, Bd. XXVI, S. 151. 25 Weinberg: Was heißt und zu welchem Ende liest man Migrantenliteratur?, S. 17. 26 Wikipedia-Artikel Interkulturelle Literatur (https://de.wikipedia.org/wiki/Interkulturelle_ Literatur, zuletzt geprüft am 29.4.2019).
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Während der letzte Satz die vorher versuchte Abgrenzung gleich wieder unterläuft, machen die Sätze davor deutlich, dass der gemeinsame Nenner der sogenannten ‚interkulturellen Literatur‘ nicht die Migration, sondern der Status der AutorInnen als MigrantInnen in der Ankunftsgesellschaft ist, was dann auch den Begriff der ‚Migrationsliteratur‘ obsolet macht. Vorausgesetzt werden zudem wiederum zwei differente Kulturräume, die in den Texten synthetisiert werden sollen – das alles aber in einer Nationalliteratur. Mit dem Terminus der Migrantenliteratur und seinen auch nicht besseren Ersatzbegriffen fallen wir also tatsächlich in all das zurück, was hinter uns zu lassen wir einmal halbwegs einig waren: Biographismus, Erlebnisdichtung, das Modell einer abgegrenzten Nationalliteratur sowie die Vorstellung von Kulturen als Container. Auch andere Begriffe helfen nicht weiter. Auf der Seite des Internationalen Forschungszentrums Chamisso liest man: Sein Interesse gilt einer neuen Grundlegung der Literaturwissenschaft anhand literarischer Werke, die einen Kultur- und Sprachwechsel the matisieren und sich mit der Logik von Machtkämpfen sowie den Chancen und Risiken einer noch weitgehend unbegriffenen Globalität beschäftigen.27 Die Verben „thematisieren“ und „[mit etwas] beschäftigen“ zeigen dabei die bloße Fokussierung auf die Inhalte literarischer Texte. Auf der Homepage der Robert Bosch Stiftung liest man unter der Überschrift „Adelbert-von-ChamissoPreis der Robert Bosch Stiftung“: „Bis einschließlich 2017 vergab die Robert Bosch Stiftung den Literaturpreis an herausragende auf Deutsch schreibende Autoren, deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist und die ein außergewöhnlicher, die deutsche Literatur bereichernder Umgang mit Sprache eint.“28 Noch 2013 las man dort, dass „deutsch schreibende Autoren nicht deutscher Muttersprache aus[ge]zeichnet“29 würden. Die Diagnose eines Kulturwechsels, die ja aber auch nur wieder den Weg von Kulturcontainer A in Kulturcontainer 27 Homepage Internationales Forschungszentrum Chamisso (https://www.chamisso.daf.uni -muenchen.de/index.html, zuletzt geprüft am 29.4.2019). 28 Homepage der Robert Bosch Stiftung, Seite zum Chamisso-Preis (https://www.bosch -stiftung.de/de/projekt/adelbert-von-chamisso-preis-der-robert-bosch-stiftung, zuletzt geprüft am 29.4.2019). 29 Inzwischen findet sich diese Formulierung im Internet nur noch unter den Angaben „Zur Geschichte des Preises“ auf der Homepage der Robert Bosch Stiftung (https://www.bosch -stiftung.de/de/projekt/adelbert-von-chamisso-preis-der-robert-bosch-stiftung/im -detail, zuletzt geprüft am 5.7.2018).
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B meinen kann, scheint inzwischen politisch korrekter als der Hinweis auf den Status als Nichtmuttersprachler. Libuše Moníková hat bei ihrer Dankesrede zur Verleihung des ChamissoPreises 1991 entsprechend gesagt: Der Preis erinnere sie erst einmal daran, dass sie „Ausländerin“ sei, aber das täten ja auch schon die Kritiker. Wenn Arno Schmidt schreibe ‚Der Spitz boll‘, werde es „als innovativ, witzig, originell ästimiert. Wenn ich so etwas versuchte, würde es heißen: Die Ausländerin kann nicht einmal Deutsch.“30 Als der Chamisso-Preis im Jahr 2017 eingestellt wurde, habe ich darauf anders reagiert als meine Umgebung, weil mir ein besonderer Literaturpreis für Nicht-Muttersprachler immer schon deren Texte herabzuwürdigen schien. Mein Umfeld aber verwies darauf, welcher Verlust das Ende dieses Preises für die ‚betroffenen‘ Autoren sei, die oft nur mittels seiner auf sich aufmerksam machen und ihre literarischen Karrieren beginnen konnten. Einmal mehr finden sich somit Aussagen zur Migranten- oder eben Chamisso-Literatur auf den Literaturmarkt, nicht auf die Literatur bezogen. Am Beginn eines Interviews in einem Sonderheft der Zeitschrift Literaturen von 2009 mit Imran Ayata, Terézia Mora, Wladimir Kaminer und Navid Kermani äußert sich Terézia Mora auf die Frage, warum alle vier Autoren „spontan abwehrend“ auf die Einladung zu einem Gespräch über „,Fremde‘ – die Fremde, das Fremde, die Fremden“ reagiert hätten: Sie habe etwas „dagegen, in Deutschland bis ans Ende meines Lebens die Berufs-Fremde geben zu müssen. Weil das nicht mich als Person, aber schon gar nicht das beschreibt, was ich mache – meine Arbeit.“ Auf die Feststellung: „Sie wollen nicht als Fachfrau fürs Fremde angesprochen werden“, antwortet Mora: „Ich bin unendlich genervt von dieser Fragestellung. Ich nehme an diesem Gespräch nur teil, um mich ein allerletztes Mal zu diesem Thema zu äußern.“31 Ich habe nicht recherchiert, wie oft sich Mora danach noch zu dieser Frage geäußert hat resp. äußern musste, um im lukrativen Spiel zu bleiben.32 Wichtiger scheint mir etwas Anderes: 30 Libuše Moníková: Ortsbestimmung. Dankrede zum Chamisso-Preis in der Bayrischen Akademie der Künste am 22. Februar 1991. In: Dies: Prager Fenster. Essays. München, Wien: Hanser 1994, S. 40–44, S. 43. 31 Das Interview findet sich inzwischen auf der Homepage von Cicero. Magazin für politische Kultur (https://www.cicero.de/ich-bin-ein-teil-der-deutschen-literatur-so-deutsch-wie -kafka/45292, zuletzt geprüft am 29.4.2019). 32 Inzwischen hat Terézia Mora den Georg Büchner-Preis zuerkannt bekommen. In den Feuilletons war durchgängig ein Lob für diese Preisvergabe zu lesen. Auf ihren Status als „Berufsfremde“ resp. Migrantin wurde dabei so gut wie gar nicht hingewiesen. Nur in der Neuen Zürcher Zeitung schrieb Paul Jandl am 3.7.2018: „1971 in einer Familie der deutschsprachigen Minderheit Ungarns geboren, ist Terézia Mora 1990 nach Deutschland gekommen. Sie ist damit in eine Literatur eingewandert, die ihr heute sehr viel verdankt:
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Am Ende des Interviews steht die Frage, ob die Interviewten „den ChamissoPreis annehmen oder ablehnen“ würden. Navid Kermani antwortet mit der Summe des Preisgeldes: „15.000 Euro!“ – und Mora sekundiert: „Das ist auch mein Kommentar. Als ich den Förderpreis zum Chamisso-Preis bekam, bin ich zuerst erschrocken, aber dann habe ich ihn angenommen. Es ist ja keine Schande, diesen Preis zu bekommen.“33 Bei einem solchen Preisgeld scheint es für um die Möglichkeit des Weiterschreibens kämpfende AutorInnen dann doch keine Schande mehr, als Berufsfremde geehrt zu werden. Im selben Interview äußerte Navid Kermani: „Es ist mir egal, ob die Deutschen mich für einen Iraner, einen Muslim oder sonst was halten. Sollen sie mich halten, wofür sie wollen. Aber in einem Punkt muss ich darauf beharren dazuzugehören: bei der Literatur. Ich bin ein Teil der deutschen Literatur.“ Die Interviewer fragten nach: „So unterschiedlich Ihre Herkünfte, Ihre Biografien und Ihre Brotberufe sind […], so haben Sie in Ihrem zweiten Beruf als Autoren doch eines gemeinsam: dass Sie eben nicht deutsche Autoren sind im Sinne von Goethe oder Thomas Mann.“ Darauf antwortet Kermani: „Aber vielleicht deutsch eher im Sinne von Kafka“, was Terézia Mora wiederum emphatisch zustimmen lässt: „Ja, eben. Ich bin genauso deutsch wie Kafka. Ich komme ungefähr aus derselben Gegend.“34 Meine Zustimmung zu Moras Satz „Ich bin genauso deutsch wie Kafka“ könnte ich nur geben, wenn Mora damit meinte: eben nicht-deutsch. Denn Kafka war nicht deutsch, sondern ein deutschsprachiger, nicht migrierter Autor aus Mitteleuropa! National gesehen war Kafka bis 1918 Österreicher, dann Tschechoslowake; regional (und das war für ihn offensichtlich wichtiger) Böhme und Prager. Jedenfalls hat er in sein ‚Studienbuch‘ an der „k.k. CarlFerdinands-Universität in Prag“ unter der Rubrik „Vaterland“ nicht Österreich oder Österreich-Ungarn angegeben, sondern „Böhmen, Prag (2., 3. und 7. Semester), Österreich, Prag (4., 5. und 6. Semester) oder Prag, Böhmen (8. Semester), einmal auch nur Böhmen (1. Semester).“35 So sehr ich Kermanis Beharren darauf, ein Teil der deutschen Literatur zu sein, verständlich finde – schon Libuše
ein allemal büchnerpreiswürdiges Werk“ (https://www.nzz.ch/feuilleton/terezia-mora -erhaelt-den-buechnerpreis-2018-ld.1400269, zuletzt geprüft am 29.4.2019). Es scheint mir erstaunlich, dass der Büchner-Preis damit zum ersten Mal an eine Autorin der sogenannten Migrantenliteratur geht – und die Feuilletons (wie es aussieht: programmatisch) diese Tatsache nicht erwähnen. 33 Vgl. Anm. 31. 34 Ebd. 35 Hartmut Binder: Kafkas Wien. Portrait einer schwierigen Beziehung. Prag: Vitalis 2013, S. 36f.
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Moníková hat sich unumwunden als „deutsche Autorin“36 bezeichnet –, so unangemessen erscheint mir die Behauptung Moras, so deutsch wie Kafka zu sein, der sich selbst immerhin ‚nur‘ als „Halbdeutsche[n]“37 verstanden hat. Zuletzt, um einen bewusst drastischen Vergleich zu wählen, scheint mir diese Behauptung ebenso geschichtsvergessen wie die (inzwischen zurückgenommene) Absicht der deutschen Bahn, einen ihrer neuen ICEs nach Anne Frank zu benennen. Es irritiert mich zutiefst, dass die als Berufsfremde Apostrophierten und als Experten für Unübersichtlichkeit Gelobten auch keine genaueren Kenntnisse von europäischer Geschichte haben und ihnen auch nichts Besseres einfällt, als unter Kultur Nationalkultur zu verstehen. Und es befremdet mich zudem, dass Mora die 411 Autokilometer zwischen Prag und Sopron, ihrer Geburtsstadt, mit der Aussage ‚ungefähr dieselbe Gegend‘ ignoriert. Natürlich haben die beiden Städte ein europäisches Näheverhältnis; in derselben Gegend liegen sie bei den gravierenden Unterschieden der tschechoslowakischen und ungarischen Geschichte aber nicht, auch nicht ungefähr. Das tun sie vielmehr nur, wenn man – gut westeuropäisch – ihre Lage nach den Geostrategien des Kalten Krieges bestimmt; dann sind halt beide: Osteuropa. Allerdings müsste es eine aus Ungarn nach Deutschland migrierte Autorin eigentlich besser wissen. Offenbar schlägt solches Fehlverständnis sogar LiteraturwissenschaftlerInnen in seinen Bann. In einem Aufsatz über Mora schreibt Laura Bohn Case zunächst im (deutschen) Abstract: Terézia Mora, die translinguistische38 Autorin von Alle Tage, Der einzige Mann auf dem Kontinent und Das Ungeheuer, behauptet[,] sie sei „genauso deutsch wie Kafka“ und ebenso sehr beteiligt an der deutschen Literatur. Moras Erwähnung von Kafka zeigt die Wichtigkeit des osteuropäischen Einflusses auf die deutsche Literatur. „Das Fremde“, besonders das geographisch nahe Osteuropäische, ist, und war immer, Teil des Deutschen.39
36 Libuše Moníková: Libuše Moníková im Gespräch mit Sibylle Cramer, Jürg Laederach und Hajo Steinert. In: Sprache im technischen Zeitalter 119 (1991), S. 184–206, S. 202. 37 So in einem Brief an seine Schwester Ottla vom 20.2.1919 (Franz Kafka: Briefe an Ottla und die Familie. Frankfurt a.M.: Fischer 1981, S. 67). 38 Im englischen Abstract findet sich an dieser Stelle das Wort „translingual“, was mit einem simplen ‚mehrsprachig‘ sicher besser übersetzt wäre als mit ‚translinguistisch‘. 39 Laura Bohn Case: „Ich bin genauso deutsch wie Kafka“: German linguistic identity in the Novels of Terézia Mora. In: German Life and Letters 68, H. 2 (2015), S. 211–227, S. 211.
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Da wird dann aus Kafka gleich ein „osteuropäischer Einfluss“ – also einer von außen! – auf die deutsche Literatur, was mindestens so falsch ist wie Moras Anspruch, so deutsch zu sein wie Kafka. Im Prager Tagblatt fand sich 1922 folgende Bemerkung: Es wird im Ernst und Spott behauptet, daß die ganze deutsche Literatur aus Prag stamme. Nun ist das ja nicht so ganz richtig, selbst wenn man Brünn und Olmütz usw. zu Prag rechnet. Denn schließlich sind Hauptmann, die Brüder Mann, Stefan George, Trakl, Kaiser, die Lasker-Schüler und andere Sterne am Literaturhimmel der neuen Zeit keineswegs tschechoslowakische Deutsche. Dennoch: Rilke, Werfel, Kornfeld, Ernst Weiß, Brod, Franz Kafka, Leppin, Rudolf Fuchs sind es, andere, wie etwa Meyrink, sind es fast; und zu einer Zeit, wo noch das „Café Arco“ in Blüte stand, konnte der selige Oberkellner Počta glauben, er halte mit seinen Krediten tatsächlich die ganze deutsche Literatur aus.40 Dies widerlegt – zumindest aus historischer Perspektive – Case wie Mora: Kafka (und die Anderen) wurden keinesfalls als Einfluss von außen verstanden; aber natürlich waren sie auch nicht einfach ‚deutsch‘ – sonst wäre die Bedeutung von Prag als Stadt, in der wichtige deutsche Literatur entsteht, ja gar nicht bemerkenswert. Man müsste diese tatsächlichen Verhältnisse hier viel genauer beschreiben, wozu aber kein Platz ist.41 Von Osteuropa kann jedenfalls nicht die Rede sein.42 Als Zwischenresümee scheint mir bezogen auf den Begriff der Migrantenliteratur und seine Ersatzlösungen klar, dass es sich um Marketingbegriffe von Verlegern, Buchhändlern und Autoren handelt. In dieser Hinsicht ist er sogar ein präziser Begriff, der tatsächlich sagt, was er sagen soll, indem er verspricht, dass in den Büchern der Migrantenliteratur vom Fremdsein und -bleiben die 40 N.N.: Prag als Literaturstadt. In: Prager Tagblatt 47/127 (2.6.1922), S. 6. 41 Siehe zur Aufklärung immerhin über die Region der Böhmischen Länder inkl. Prags: Peter Becher, Steffen Höhne, Jörg Krappmann und Manfred Weinberg (Hg.): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Stuttgart: Metzler 2017. 42 Die Zurechnung zu Osteuropa findet sich übrigens auch nicht in Terézia Moras Romanen. Nur im Klappentext (!) von Alle Tage heißt es: „Abel Nema, ein junger Mann, kann nicht mehr in seine osteuropäische Heimat zurück – dort wird Krieg geführt.“ In Der einzige Mann auf dem Kontinent und Das Ungeheuer findet sich der Begriff ‚Osteuropa‘ und seine Ableitungen zwar gelegentlich, aber immer (!) nur in höchst ironischer Weise, die auf seine falsche, weil einer stereotypen Darstellung dieser Region geschuldeten Verwendung verweist. So liest man in Das Ungeheuer: „Diese osteuropäischen Frauen wollen doch alle nur, dass man sie heiratet und aushält.“ (Terézia Mora: Die Ungeheuer. München: Luchterhand 2013, S. 105) und: „Sag ein Bild für Osteuropa: Lungenentzündung in einem dreckigen Zug“ (ebd., S. 107).
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Rede ist. Einen wissenschaftlichen Begriff kann es meines Erachtens dafür nicht geben, weil eine solche Gruppenbildung grundsätzlich von der Besonderheit der jeweiligen Texte absehen muss. Der einzige wirklich angemessene Ersatzbegriff ist wohl schlicht der Begriff der ‚Literatur‘, der dazu zwingt, das jeweils Besondere eines Textes zur Kenntnis zu nehmen. Allenfalls schiene mir die Formulierung ‚Literatur von Migranten‘ anwendbar, die den biographistischen Kurzschluss noch stärker ausstellt und anders als die Komposita Migranten-, Migrations- oder Chamissoliteratur keine kompakte Homogenität der so vereinten Texte unterstellt. Andernteils: Das erfolgreiche Phänomen der vermarkteten Migrantenliteratur, zunehmend auch osteuropäischer Herkunft, ist nicht zu leugnen. Am Ende ist somit zu diskutieren, ob sich denn Fragen an diese Textgruppe richten lassen, die über eine bloß inhaltliche Dimension hinausgehen. Dabei orientiere ich mich an dem diesem Aufsatz als Motto mitgegebenen Anfang von Terézia Moras Roman Alle Tage: „Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier. Beschreiben wir beides wie folgt“, der ja das Nachfolgende ihres Romans in ein besonderes Verhältnis zu Zeit und Raum stellt. Zum Raum: Auf meine Nachfrage, wie es zum Titelteil „Provinzhintergrund“ gekommen sei, hat mich Julian Osthues darüber aufgeklärt, dass er sich auf eine Stelle in Saša Stanišićs Erzählung Fallensteller bezieht, auf die ich gleich zurückkommen werde. Angeregt durch diesen Begriff solle den Raumstrukturen innerhalb der Texte besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Um dies zu begründen, muss man allerdings wieder biographisch werden: der Ortswechsel des Autors und seine genaue Kenntnis zweier Kulturen können tatsächlich ein anderes Verhältnis zum Raum, möglicherweise ein für Heterogenitäten sensibleres bewirken. In Stanišićs Fallensteller heißt es über die schon aus Vor dem Fest bekannte Figur „Lada“, dass er, „[n]achdem der Schriftsteller hier gewesen ist, der mit dem Buch über uns“,43 selbst angefangen habe zu schreiben. Und nun das: Lada bekommt für seinen ersten Text gleich einen Literaturpreis. In der Begründung heißt es: Robert Lada Zieschke komponiert in seinem rasanten Milieustück eine Sinfonie der Provinz jenseits der großen Themen und abseits des Mainstreams. Die originelle Musikalität seiner Sprache sucht ihresgleichen in seiner Generation, was sicherlich damit zu tun hat, dass Zieschke ein Autor mit Provinzhintergrund ist.44
43 Saša Stanišić: Fallensteller. München: Luchterhand 2016, S. 173. 44 Ebd., S. 250.
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Es ist wohl nicht zufällig, dass im Text eines vermeintlichen Autors der ‚Migrantenliteratur‘ in dieser Weise auf einen reichlich früh vergebenen Literaturpreis hingewiesen wird. Auch wenn der in der Erzählung Fallensteller geehrte Autor keiner der Migrantenliteratur ist, scheint mir die ironische Selbstreflexion ihres Autors, der dieser gemeinhin zugerechnet wird, unverkennbar.45 Allerdings ist zu fragen, ob Stanišić mit seinem Roman Vor dem Fest überhaupt noch als Migrantenautor ‚durchgeht‘, da es darin um vieles, aber nicht um die Synthese mit einer fremden Kultur geht. Die besondere Musikalität des Textes des Nachwuchsautors in der Erzählung Fallensteller soll seinem „Provinzhintergrund“ geschuldet sein, den der Titel des vorliegenden Sammelbandes mit einem „Migrationsvordergrund“ zusammenbringt. Es ist sicher eine Idiosynkrasie meinerseits, dass ich es mir nicht abgewöhnen kann, ‚Provinz‘ als abqualifizierenden Begriff zu verstehen. Das hat damit zu tun, dass bezogen auf mein derzeitiges Hauptforschungsfeld, die deutsche Literatur Prags und der Böhmischen Länder, die sogenannte ‚Prager deutsche Literatur‘ in der traditionsbildenden Modellierung als umfassend gut, die provinzielle und periphere sudetendeutsche Literatur aber als durch die Bank schlecht bewertet wird. ‚Gut‘ und ‚schlecht‘ sind dabei erst einmal tatsächlich moralische Kategorien und sagen dann erst etwas über die Qualität der Texte. Gut waren die Prager Autoren, weil sie allesamt Humanisten gewesen sein sollen, während den sudetendeutschen Autoren allesamt Chauvinismus, Nationalismus, gar Präfaschismus zugeschrieben wurden. Um uns von diesem Modell zu entfernen, haben wir im Metzler-Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder die Begriffe ‚Provinz‘ und ‚Peripherie‘ vermieden, und – sozusagen aus der Vogelperspektive – jeweils den Begriff ‚Region(en)‘ verwendet. Von daher habe ich in der Einleitung formuliert, das Handbuch gelte tatsächlich der Literatur einer Region, nicht aber regionaler Literatur. Voraussetzung ist dabei, Region nicht mehr als sozusagen ‚einfältig‘, sondern vielmehr als Vielfalt zu denken, in der sich einzelne Phänomene anziehen, abstoßen, immer aber in einem nachweisbaren Zusammenhang miteinander stehen. Weiterhin sind die vermeintlichen Grenzen einer Region nicht als einfach gegeben, sondern als je konstruierte zu betrachten – hervorgebracht von kulturellen Artefakten, von denen die Literatur sicher mit an vorderster Stelle zu nennen ist.46 45 46
Vgl. hierzu den Beitrag von Jan Gerstner im vorliegenden Band. Manfred Weinberg: Einleitung. In: Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Hg. ders., Peter Becher, Steffen Höhne und Jörg Krappmann. Stuttgart: Metzler 2017, S. 2–4, S. 4.
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Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass der Gegenstand der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder nach den Voraussetzungen dieses Bandes einem osteuropäischen Kulturraum entstammt, aber es leuchtet mir unmittelbar ein, dass sich aus einer historisch über lange Zeiten gegebenen sprachlichen und kulturellen Vielfalt in diesen östlich von Deutschland gelegenen Räumen, über die hier aus Platzgründen nichts weiter ausgeführt werden kann, tatsächlich noch heute andere Raumvorstellungen finden und dass sich solche in literarischen Texten von aus diesen Räumen stammenden Autor Innen strukturell wiederfinden. Jedenfalls schiene es mir lohnend, genau das zu untersuchen. Zur Zeit: Der vordergründigste Aspekt der sogenannten ‚Migrantenliteratur‘ ist, dass es sich bei ihr in fast jeder Hinsicht um ‚Gegenwartsliteratur‘ handelt. Nun sollte man einen Aufsatz über einen unpräzisen Begriff eigentlich nicht mit Anmerkungen zu einem anderen, ebenso unpräzisen Terminus beenden, wobei allerdings auffällt, dass letzterer mit deutlich besserem Gewissen verwendet wird und es ja auch schon in die Denomination von Professuren geschafft hat. Ein Zusammendenken mit der Migrantenliteratur scheint mir aber durchaus naheliegend, weil es sich ja bei dieser als neuere und neueste Erscheinung allemal um Gegenwartsliteratur im harmlosen Sinne der jeweils letzten Epoche der Literaturgeschichte handelt. In Sandro Zanettis Aufsatz Welche Gegenwart? Welche Literatur? Welche Wissenschaft? Zum Verhältnis von Literaturwissenschaft und Gegenwartsliteratur liest man: Für eine Gegenwartsliteratur, die ihre Gegenwärtigkeit zum Programm erhebt […], wäre […] zu fragen, über welche Verfahren ein solcher Gegenwartseffekt zustande kommt – und ob dieser Effekt auch einen Nerv der Zeit trifft, der es den Lesern ermöglicht, in diesem Effekt noch mehr zu sehen als das bloße Kalkül des Textes.47 Das DFG-Graduiertenkolleg Gegenwart/Literatur an der Universität Bonn spricht im Passus „Forschungsvorhaben und methodische Prämissen“ seiner Selbstdarstellung im Internet von „Verfahren literarischer Präsenzerzeugung“.48 Auch diese ließen sich wohl gewinnbringend in der Literatur von Migranten 47 Sandro Zanetti: Welche Gegenwart? Welche Literatur? Welche Wissenschaft? Zum Verhältnis von Literaturwissenschaft und Gegenwartsliteratur. In: Wie über Gegenwart sprechen? Überlegungen zu den Methoden einer Gegenwartsliteraturwissenschaft. Hg. Paul Brodowsky und Thomas Klupp. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2010, S. 13–30, S. 17f. 48 Homepage Graduiertenkolleg Gegenwart/Literatur an der Universität Bonn (https://www .grk2291.uni-bonn.de/de/forschungsprofil/forschungsidee, zuletzt geprüft am 29.4.2019).
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aufspüren. Allerdings erwarte ich, dass – anders als in Bezug auf den Raum – bei dieser Fragestellung keine kulturspezifischen Muster zum Vorschein kommen werden. Am Ende steht meine Diagnose, dass es durchaus noch so einiges zu erkunden gibt in den Texten von migrierten AutorInnen und hinsichtlich der Frage, wie die Erfahrung der Migration und des Ankommens in der Fremde ihre Texte geprägt haben. Wichtig scheint mir dabei vor allem, dass solche Fragen nicht bloß in Inhaltlichem stecken bleiben, sondern, wie zuletzt angedeutet, auch zu Strukturfragen der literarischen Texte durchdringen. Dabei ist meines Erachtens die Fokussierung auf eine bestimmte Herkunftsregion sogar in besonderer Weise produktiv – wenngleich nur unter der Voraussetzung, dass diese ebenso präzise benannt ist wie umfassend gekannt wird. Alles andere würde zu Allerweltsdiagnosen führen, die dem Begriff der Migrations- oder Migrantenliteratur in ihrer Unschärfe gleichkämen.
kapitel 3
Alte Grenzziehungen – neue Ähnlichkeitsbeziehungen. Katja Petrowskajas Vielleicht Esther (2014) und die Neuvermessung der deutschen Literatur in Europa Iulia-Karin Patrut 1
Theoretische Vorbemerkung
Seit einigen Jahren entstehen vermehrt deutschsprachige literarische Texte, denen gemeinsam ist, dass ihre Verfasserinnen und Verfasser auch osteuropäische Sprachen als Erst- oder Zweitsprache beherrschen und gegebenenfalls biographische Bezüge in den Osten des Kontinents haben. Dieser Aufsatz plädiert dafür, die hohe Zahl und den Erfolg dieser Texte als Indizien für einen Transformationsprozess zu betrachten, der die deutschsprachige Literatur in ihrem Innersten betrifft. Dieser Prozess bringt es mit sich, dass eine ganze Reihe imaginärer Grenzziehungen kollabieren. Allem voran gilt dies für die Annahme, deutschsprachige Literatur entstehe in der Regel innerhalb eines ‚deutschen‘ und ‚deutschsprachigen‘ Erfahrungsraums, der in etwa mit den Territorialgrenzen deutscher Staaten übereinstimmt (seien es Fürstentümer, Königreiche oder Republiken). Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Franz Kafka, Paul Celan oder Rose Ausländer galten schon aufgrund ihres Lebens an den ‚Rändern‘ des deutschsprachigen Raums und ihrer Mehrsprachigkeit als Ausnahmefälle. Die weit verbreitete Rede von den ‚Rändern‘ evoziert imaginäre Landkarten, die – selbstverständlich – auf Grenzziehungen angewiesen sind und mehr oder weniger durchlässige Übergangsbereiche aufweisen. Über viele Jahrhunderte wurde ein imaginäres Kollektivsubjekt, ein mitgedachtes ‚Wir‘ der deutschsprachigen Literatur entworfen, das auch territorial verortet wurde. Implikatur dieser vergleichsweise selten beleuchteten Facette der Kanonisierung/Dekanonisierung ist eine erhöhte Aufmerksamkeit für den Herkunftsort von Autorinnen und Autoren als Voraussetzung für die Inklusion in den deutschsprachigen Literaturbetrieb. Gerade auf dem heutigen Gebiet Deutschlands war der Leitgedanke eines ethnisch und sprachlich homogenen, nach innen vereinten und nach außen klar abgegrenzten Territorialstaats seit der Zeit um 1800 prägend für das kollektive Imaginäre. Er ist ins
© Koninklijke Brill NV, Leiden, 2021 | doi:10.1163/9789004466234_005
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Patrut
kollektive Gedächtnis eingegangen, und zwar als von der ‚deutschen‘ Literatur ab dem 18. Jahrhundert evozierter Sehnsuchtsort politischer und kultureller Selbstbestimmung – der dann freilich nach der Reichsgründung im Ersten Weltkrieg, in der Weimarer Republik und insbesondere im Zweiten Weltkrieg und im Nationalsozialismus derart instrumentalisiert wurde, dass auch die Literatur (wegen ihres Anteils an diesem Leitgedanken eines selbstbestimmten ‚deutschen‘ Kollektivsubjekts) versagt zu haben schien. Bis heute ist die Debatte um widerständige Potentiale deutschsprachiger Literatur(en) gegen ethnische, religiöse und weltanschauliche Homogenisierung sowie gegen normative Exklusionsmuster offen. Das enge Band der nationalstaatlich gerahmten deutschen, österreichischen, schweizer Literatur löst sich nach dem Ende des Kalten Kriegs und dem Fall des Eisernen Vorhangs. Es ist damit möglich geworden, die Frage nach deutschsprachigen Literaturen in einer breiteren, nämlich gesamteuropäischen und post-ideologischen und post-nationalen Perspektive zu stellen, eine Perspektive, die sich vom Gegenstand her aufdrängt. Sie schließt die deutsch-jüdisch geprägten Literaturen der Bukowina und Galiziens, die deutschsprachigen Literaturen Siebenbürgens, des Banats und aus vielen weiteren Ländern und Regionen Ost- und Südosteuropas mit ein – bis hin zu den produktions- wie rezeptionsästhetisch anders gelagerten, aber gleichermaßen zum Korpus deutschsprachiger Literaturen gehörenden Texte, die von mehrsprachigen Autorinnen und Autoren nach der Jahrtausendwende in der Europäischen Union entstanden sind. Bislang galt: je größer die räumliche und thematische Distanz zum nationalstaatlich geprägten Narrativ von der ‚deutschen Literaturgeschichte‘ war, desto ‚randständiger‘ erscheinen die Literaturen und Autorinnen und Autoren. Schriftsteller wie Franz Kafka oder Paul Celan wurden als Ausnahmeerscheinungen wahrgenommen, aus ihren produktionsästhetischen Kontexten herausgelöst und isoliert betrachtet, weil deren Einbeziehung eine Revision des literaturgeschichtlichen Narrativs erfordert hätte. Während beispielsweise Kleists Hermannsschlacht im Zentrum des Narrativs steht und sich die meisten Schriftstellerinnen und Schriftsteller des Realismus problemlos dazu in Relation setzen lassen (als kritische Anamnese der Befindlichkeit ‚deutscher Bürger‘ im ‚Reich‘), gilt dies etwa nicht für die Texte Kafkas (die häufig aus einer peripheralisierten Perspektive Grenzziehungen infrage stellen) – wohl aber für andere Texte der klassischen Moderne (Benn, Musil) und auch noch für die Postmoderne. Von dieser imaginären Genealogie, die sich immer wieder rekursiv stabilisiert hat, geht eine erhebliche Exklusionskraft aus. Diese Exklusionskraft betrifft vor allem Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die außerhalb der deutschen Staaten lebten sowie Texte, die außerhalb der deutschen Staaten entstanden. Begriffe wie ‚Minderheitenliteratur‘ und ‚Migrationsliteratur‘ sind Folge und Instrument dieser
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Exklusionsprozesse: Beide Begriffe legen nahe, dass sie einen literarischen Sonderbestand bezeichnen, der nicht zur großen, eigentlichen und zentralen genealogischen Achse der deutschen Literaturen gehörte. Sie stehen vielleicht für den letzten Versuch, Literaturgeschichte eng an die Diskursgeschichte der Bundesrepublik zu knüpfen. Die Vorstellung von der aus einer so gut wie rein deutschsprachigen deutschen Öffentlichkeit entsprungenen deutschen Literatur, die sich an ein entsprechend aufgefasstes deutsches Lesepublikum richtet und in erster Linie für diese Öffentlichkeit spezifisch literar-ästhetische Funktionen erfüllt, kann historischen Überprüfungen nicht standhalten. Deutschsprachige Literatur entstand unter anderem in Galizien, in der Bukowina, in vielen Teilen Polens und in der heutigen Ukraine, in Russland sowie in den heutigen Gebieten Ungarns, Sloweniens und Kroatiens und in Siebenbürgen, im Banat und in der Moldau – zum Teil schon seit dem Mittelalter, spätestens aber in allen genannten Kulturräumen seit dem 18. Jahrhundert. Weshalb wurden diese Texte und Literaturen, die im Osten des Kontinents entstanden waren, unter Sonderkategorien wie ‚Regionalliteratur‘, ‚Minderheitenliteratur‘ oder neuerdings – sofern die Verfasserinnen und Verfasser aus diesen Räumen nach Deutschland oder Österreich zogen – als ‚Migrationsliteratur‘ bezeichnet? Zwei mögliche Gründe bieten sich an: Erstens, weil sie nicht ohne Weiteres im Zusammenhang mit den kollektiven Selbstentwürfen als literarischer Öffentlichkeit des ‚deutschen Staats‘ standen, sondern sich an anderen historisch-gesellschaftlichen Konstellationen abarbeiteten; und zweitens weil sie auf andere Räume, andere Staaten, andere Erinnerungskulturen, andere ‚lieux de mémoire‘ (im Sinne Pierre Noras) Bezug nehmen und häufig von anderen räumlich-diskursiven Verortungen her sprechen als die Literatur innerhalb deutscher Staatsgrenzen – zumal innerhalb der Bundesrepublik und ihrer Vorgänger-Staaten. Beide Aspekte stehen im Spannungsverhältnis zum Paradigma Nation und sprengen das Konzept der ‚Nationalliteratur‘, das – samt seiner territorialen Implikationen – prägend für Kanonisierungsprozesse wie für die wissenschaftliche Erschließung und Bearbeitung deutschsprachiger Literatur gewesen ist. Interessanterweise wurden vor der angesprochenen Erfolgswelle deutschsprachiger Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Osteuropa vergleichsweise selten osteuropäische Perspektiven in ‚deutschen‘ literarischen Texten eingenommen. Naheliegenderweise galten die Berührungsängste diesen Literaturen, weil sie neben großen Ähnlichkeiten mit der deutschen Literatur innerhalb deutscher Staatsgrenzen eine ganze Reihe von Unterschieden aufwiesen, die das Potential besaßen, das genealogische Narrativ der territorial fixierten und sprachlich sowie ethnisch homogen gedachten ‚deutschen Literaturgeschichte‘ zu irritieren, ja sogar ad absurdum zu führen.
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Zu diesen Unterschieden zählen: – Das mehrsprachige Umfeld und die Bilder, die anderen Alltagssprachen entstammen (z.B. Herta Müllers Begriff ‚Mundhimmel‘, der wörtlich ins Rumänische übersetzt ‚Gaumen‘ bedeutet); – Andere Literaturgeschichten, -genealogien und andere Narrative über die Funktion von Literatur für die jeweilige ‚Nation‘ und für kollektive Selbstentwürfe prägen die deutschsprachige Literatur dieser Kulturräume mit; – Andere literarische Institutionen, andere Formen der Staatlichkeit und teilweise Gesellschaftssysteme rahmen und prägen diese literarischen Texte mit; – Andere Gegenstände des ‚kollektiven Gedächtnisses‘ werden unter Umständen in ihnen mitverhandelt; – Metaphern, Motive und Topoi, die für osteuropäische Literaturen wichtiger als für die (west-)deutsche sind, können in diesen Texten ebenfalls vergleichsweise bedeutsamer sein; – Andere Szenographien und Verständnisrahmen können in diesen deutschsprachigen Texten vorherrschen. Das Irritationspotential dieser ‚undeutschen deutschen‘ Literaturen rührt gerade aus ihrer großen Ähnlichkeit mit der ‚homogen deutsch‘ wirkenden her: Wortmaterial, Formensprache, Epochenzugehörigkeiten und intertextuelle Bezüge zu deren wichtigsten Autorinnen und Autoren sind – um das Beispiel Siebenbürgens zu wählen – etwa bei Adolf Meschendörfer, Joachim Wittstock, Ernest Wichner, Eginald Schlatter, Paul Schuster und Hans Bergel jenen (west-)deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Vor- und Nachkriegszeit auf den ersten Blick zum Verwechseln ähnlich, auf den zweiten fallen jedoch die oben angeführten Unterschiede auf. Diese von Diversität geprägte Literatur hat der (west-)deutsche Literaturbetrieb bislang in ihrer Komplexität reduziert, indem die Texte entweder einem ‚fremden‘, marginalen und irrelevanten Raum zugeordnet wurden, oder umgekehrt von diesem weitgehend entkoppelt und aufgrund einer vermeintlich ‚allgemeinen‘ Relevanz dem Bestand ‚deutscher‘ Literatur zugerechnet wurden. Übergreifend lassen sich folgende Tendenzen feststellen: 1. Aus den oben genannten Gründen (insbesondere aus Angst vor Irritationen) wurden gerade die in Osteuropa entstandenen literarischen Texte häufig ausgeblendet, wurde ihre Relevanz gleichsam gebannt und in ihrer Wirksamkeit auf vermeintlich marginale Territorien und Kulturräume beschränkt (Regionalliteratur). Auch die Polemik, die sich teilweise gegen Paul Celan oder gegen Herta Müller richtete, ist von diesen Denkfiguren geprägt. Aspekte von Celans Poetik, die zwar mit dem ‚Schreiben nach dem Holocaust‘ zusammenhängen, aber nicht in den ‚deutschen‘ Diskurs
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gehören, wurden marginalisiert; an Herta Müller hob man das vermeintlich Partikuläre der Verhältnisse im Banat oder des Staatssozialismus hervor – eine hegemoniale Sichtweise, die den ‚eigenen‘ Erfahrungshorizont als den für die deutschsprachige Literatur ‚eigentlich‘ maßgeblichen setzt. 2. Gegenwärtig ist das an nationalstaatlichen Rahmungen orientierte Narrativ ‚deutscher Literaturgeschichte(n)‘ nicht mehr aufrecht zu erhalten, weil Globalisierung und Transmigration die kulturräumliche Fixierung von Individuen weitgehend aufgehoben haben. Mit der Globalisierung von Warenproduktion und -handel, von medialen Artefakten und auch von Erfahrungen und Erinnerungen wird in letzter Konsequenz ein kollektives Gedächtnis der Weltgesellschaft notwendig. Deshalb gewinnt in den deutschsprachigen Literaturen genau das an Wert, was früher ausgeblendet wurde: Mehrsprachige Kontexte, andere historische Erfahrungen und Erinnerungskulturen als die in ‚Kerndeutschland‘ oder Österreich entstandenen, in Ost- und Südosteuropa zentrierte Perspektiven auf den Kontinent und die Welt, etc. 3. Eine besondere Herausforderung stellt dabei das Schreiben über den Holocaust dar, da mit der Pluralisierung der Perspektiven auch die Gefahr einer Verflüchtigung dieses Erinnerungsortes einhergeht. Dieser Verflüchtigung und Relativierung kann aber nur entgegengewirkt werden, indem – unter Aufrechterhaltung der These von der Singularität des Holocaust – kulturraumspezifische Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus in die Debatten mit einbezogen werden – etwa die Texte in Vergessenheit geratener deutsch-jüdischer Schriftsteller aus der Bukowina oder Erfahrungen wie jene, die Herta Müller in Atemschaukel darstellt. Zu dieser Verschiebung (also dem Einschluss von Osteuropa als Teil der als ‚normal‘ geltenden kulturräumlichen Selbstreferenz der deutschsprachigen Literatur) tragen umgekehrt auch auf Deutsch schreibende Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit Bezügen nach Georgien (Nino Haratischwili), nach Aserbaidschan (Olga Grjasnowa), nach Bosnien (Saša Stanišić) oder nach Russ land (Julya Rabinowich) bei. Besondere ‚Meilensteine‘ dieser Öffnung sind der Nobelpreis an Herta Müller (2009) und der Büchner-Preis an Terézia Mora (2018). Möglicherweise ist dies ein erster Schritt zur ‚Verweltlichung‘ des ‚mitgedachten Wir‘ der deutschen Literatur. Dies ist gerade nicht im Sinne einer Abkehr von Geschichtlichkeit gedacht, es geht umgekehrt darum, die vorhandene Komplexität und Vielgestaltigkeit von – transnationaler – Geschichte wahrzunehmen. Im national-genealogischen, kulturräumlich, ethnisch und sprachlich begrenzenden Narrativ von ‚der‘ deutschen Literatur war diese
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Komplexität weitgehend aufgehoben. Diese Exklusionsmechanismen sind nicht nur im Sinne einer transnationalen Geschichte obsolet geworden, das Narrativ von den kulturräumlichen und identitären Grenzen der deutschen Literatur wird (wenngleich es durchaus sehr folgenreich war) auch früheren literarischen Texten nicht gerecht. Die Aufarbeitung der ganz unterschiedlichen Genealogien, Geschichtsnarrative, imaginären Kollektivsubjektivierungen, Erfahrungszusammenhänge und sprachlichen Interdependenzen deutschsprachiger Literaturen aus Osteuropa steht noch weitgehend aus. Von der heute erfolgreichen deutschsprachigen Literatur mit Osteuropa-Bezug gehen Impulse aus, die die Revision deutschsprachiger Literaturgeschichte im Zeichen transnationaler Selbstentwürfe mit großem Nachdruck einfordern. 2
Katja Petrowskajas Vielleicht Esther
Katja Petrowskaja, um die es im Folgenden geht, zählt zu den herausragenden Beispielen. Die jüdisch-deutsche Schriftstellerin, die in Kiew aufgewachsen ist, in Turku studiert hat und heute in Berlin lebt, führt in Vielleicht Esther (2014)1 geradezu vor, was das Gebot der Stunde ist: Eine Spurensuche nach europäischen Vernetzungen, die quer stehen zu den großen Zäsuren des 20. Jahrhunderts, allen voran der Shoah, diese aber umso mehr als Zivilisationsbrüche in Erscheinung treten lassen – aus einer neuen, transnationalen, europäischen Perspektive. Die „Geschichten“, so die Gattungsbezeichnung auf dem Titelblatt, schildern die Sichtweise einer Ich-Erzählerin auf Regionen und Landschaften Mittelund Osteuropas. Gegenstände und Ereignisse in der Gegenwart werden dabei zum Anlass imaginärer Zeitreisen in die Vergangenheit des 20. Jahrhunderts. Die Leserinnen und Leser folgen der Erinnerungsspur der Ich-Erzählerin, in deren Vorstellungswelt viele der zufällig angetroffenen Dinge temporal und spatial hypercodiert werden: Sie werden ihren gegenwärtigen Kontexten entrückt und in vergangene hineinprojiziert oder sie werden räumlich verschoben. So entstehen Metaphern zeit-räumlicher Transfers, die die Geschichten durchziehen und die Episoden miteinander korrelieren. Gleich im ersten Kapitel wird das Wort ‚Bombardier‘, das zum Schriftzug „Bombardier – Willkommen in Berlin“ am dortigen Hauptbahnhof gehört, zu einer von der Ich-Erzählerin in verschiedenen Kontexten situierten Metapher. 1 Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther. Berlin: Suhrkamp 2014. Die Zitatbelege beziehen sich im Folgenden auf diese Ausgabe und werden im Text mit Seitenzahl in Klammern angegeben.
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Zusammengedacht ergeben diese Kontexte eine Fluchtlinie, der dann der weitere Handlungsverlauf folgt. Der semantische Kontrast zwischen ‚Bombardieren‘ und ‚Willkommen heißen‘ setzt sich fort in einer ganzen Reihe von Kippfiguren: Der Frieden wird in Berlin „fast aggressiv“ betrieben, „als eine Form der Erinnerung an den Krieg“ (S. 7), und dabei scheint es sich um einen nicht gesteuerten Prozess zu handeln, der sich kompensatorisch entfaltet. Der Bahnhof – ganz konform mit dem mittlerweile topischen TransitraumKonzept W.G. Sebalds – ist eine „Leere inmitten der Stadt“, eine zugige „Ödnis“, die sich in ihrer ganzen Erscheinung gegen das Bemühen um architektonische und politische Friedensstrukturen stemmt – er bleibt eine „Leere […], die keine Regierung füllen kann, mit keinen großzügigen Bauten und keinen guten Absichten“ (ebd.). Diese zweifache Beschaffenheit als neue regierungsnahe Monumentalarchitektur und als Nicht-Ort korrespondiert in der Logik der Geschichten der allgemeinen Janusköpfigkeit von Kultur und Gesellschaft nach 1945 – und alles, was die Ich-Erzählerin nach dem Ausfahren aus diesem Bahnhof sieht, erfährt und berichtet, steht unter diesem (Adornos Ästhetischer Theorie nahe stehenden) Vorzeichen und Vorbehalt. Es gibt – und darin liegt die große Stärke des Buchs – schlichtweg nichts, was in Vielleicht Esther nicht in den Kontext von ‚Auschwitz‘ gestellt wird – und dies nicht nur wegen Mauthausen und Babij Jar. Bahnhof und Stadt scheinen topographisch und architektonisch von Anfang an nicht ganz der Jetzt-Zeit zugehörig; stets schwingt etwas mit, was „immer noch von der Verwüstung dieser Stadt zeugt“ (ebd.): „denn von dieser Stadt aus war der Krieg gesteuert worden, der tausendfach Verwüstung verursacht hatte, weit und breit, ein endloser Blitzkrieg auf eisernen Rädern, mit eisernen Flügeln.“ (Ebd.) Die letzte Formulierung weist voraus auf etwas, was die Ich-Erzählerin zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß, etwas, was ihr Google erst am Ende des Kapitels enthüllt: Dass ‚Bombardier‘ „eine der größten Eisenbahn- und Flugzeugfirmen der Welt“ (S. 13) ist. Heutige Infrastrukturen des Luft- und Landwegs werden dadurch in eine Kontinuitätslinie seit dem Zweiten Weltkrieg eingereiht. Das Wort ‚Bombardier‘ bedeutet für die Ich-Erzählerin also: Es gibt kein unschuldiges Reisen, jede Fahrt durch Europa, auch die Spurensuche nach jüdischen Vorfahren in der eigenen Familie, verläuft in Bahnen, die schon einmal der Gewalt und dem Massenmord gedient haben. Petrowskaja entwirft hier eine Poetik kreativer Ähnlichkeit – und zwar eine selbstreflexive Poetik der Ähnlichkeit, die sich selbst unter Verdacht stellt, mit Ähnlichkeit geschlagen zu sein. Auf der einen Seite steht eine Suche nach Ähnlichkeit, die zugleich Selbstentwurf ist. Dies erinnert an Canettis Metamorphose-Begriff, nach dem das Neue immer in gewisser Weise als
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Transformation, als kleine Differenz ins Leben tritt. Auf der anderen Seite steht ein Sich-Einstellen von Ähnlichkeit, das den Bedürfnissen der Gewinnmaximierung und der Ästhetik der Werbung entspringt, und das an Adornos Bann der Ähnlichkeit erinnert, der sich über alles legt. Auf übergeordneter Ebene gibt es dann drittens noch Ähnlichkeiten, die sich vor den Augen des Lesers einstellen, z.B. als Analogien zwischen Handlungsebenen, zwischen Empfindungen in bestimmten Situationen. Erstens: Kreative Ähnlichkeit entsteht durch Erinnerungsarbeit, die nicht zu etwas ‚Identischem‘ in der Vergangenheit vordringt, keine ‚ursprüngliche Einheit‘ ‚wiederfindet‘, sondern etwas dezidiertermaßen Anderes entwirft, das in ein Ähnlichkeitsverhältnis zu dem Gesuchten gerückt wird. Die Operation der Analogisierung ist ein Akt des Selbstentwurfs. Indem das Ich bewusst oder unbewusst Ähnlichkeitsrelationen herstellt, sucht es nach sich selbst oder findet etwas, womit es sich für den Moment identifizieren kann. Diese Operation wird von der Ich-Erzählerin bereits im ersten Kapitel vorgeführt. Sie setzt ein mit dem Satz: „vielleicht bin ich […] strelotschnik“ (S. 8) – ‚vielleicht bin ich der Weichensteller‘ – womit zum einen auf die russische Redewendung ‚Der Weichensteller ist immer schuld‘ verwiesen wird, und zum anderen – wie an allen Textstellen, in denen es um Gleise geht – auf den Holocaust und die Deportationszüge. Der Weichensteller ist in diesem doppelten Sinne schuld, er hat aber auch die Verantwortung für den Weg, den der Zug einschlagen wird – neben Bombardier, dem Unternehmen, das die Infrastruktur bereitstellt. Mit dem Topos des Stellens versetzt sich die Ich-Erzählerin in die Position, der Erzählung einen ganz anderen bzw. überhaupt einen bestimmten Lauf zu geben. Dies führt sie unmittelbar im Anschluss an diesen Satz vor, indem sie plötzlich beginnt, eine Geschichte zu erzählen, die die Bedeutung der Inschrift ‚Bombardier‘ erklärt. Es sei, so sagt sie, der Name eines französischen Musicals, das in Berlin aufgeführt würde und das am Hauptbahnhof in ganz unvermittelter, dekontextualisierter Weise (mit dem einen Wort) beworben würde, weshalb es bereits einen juristischen Konflikt gegeben habe. Am Ende habe aber das Gericht zugunsten der freien Werbung entschieden. Die Ich-Erzählerin erklärt dies gegenüber einem Reisenden, der sie am Berliner Bahnhof empört und erschrocken nach der Bedeutung der Inschrift gefragt hat. Sie erkennt eine Ähnlichkeit zwischen ihrer eigenen Reaktion und der Empfindung des Reisenden, der, wie sich herausstellt, ein US-Amerikaner jüdischen Glaubens ist, der ursprünglich aus Teheran kommt. Mit seiner Frau, deren Angehörige im weißrussischen Dorf Biała Podlaska ermordet oder von dort aus verschleppt wurden, möchte er sich mit dem Warschau-Express, so erzählt er, auf eine Reise in diese Landschaft begeben, eine Reise, die nicht ‚zurück‘ führt – also keine verlorene Identität restituiert –
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und, er sagte tatsächlich wieder und wieder und, als stolpere er über ein Hindernis, dort sei natürlich nichts geblieben, er sagte natürlich und nichts, um die Sinnlosigkeit seiner Reise zu betonen, ich sage auch oft natürlich und sogar naturgemäß, als ob dieses Verschwinden oder dieses Nichts natürlich oder auch selbstverständlich sei. (S. 10) Die Ich-Erzählerin und der ältere US-Amerikaner reagieren in gleicher Weise auf die Inschrift ‚Bombardier‘, indem sie den Mangel an Sensibilität für die Erinnerung an die Gewalt des Zweiten Weltkriegs anprangern. Man denke sofort an Bomben, sagte er, an Artillerie, an diesen schrecklichen, unbegreiflichen Krieg, und warum gerade Berlin so grüßen solle, diese schöne, friedliche, zerbombte Stadt, die sich all dessen bewusst sei, es könne doch nicht wahr sein, dass Berlin Ankommende wie ihn mit diesem Wort in Großbuchstaben sozusagen bombardiere, und was heißt hier Willkommen, wer genau soll hier bombardiert werden und womit. (S. 8) Die Ich-Erzählerin empfindet dies, als habe sich ihre eigene innere Stimme „in Gestalt eines alten Mannes mit schwarzen Augen und amerikanischem Akzent“ (S. 8) an sie gewandt. „Play it again“ (ebd., ein intermedialer Verweis auf den Film Casablanca und die dortige Darstellung des Nationalsozialismus und, da der Mann bei Petrowskaja Sam heißt, auch auf Woody Allens Play it again, Sam) – um dieser Wiederholung des Unbehagens an dem Umgang der Gegenwart mit der Vergangenheit etwas entgegenzusetzen, wird die Erzählerin zur Weichenstellerin und schlägt ganz andere Pfade ein oder verlegt sich auf ein anderes Gleis der Geschichte. Die erzählerische Karriere beginnt also auf den ersten Blick mit einer Lüge: Ihre Antwort auf die Frage des Fremden, Bombardier sei ein Musical, ist, so zeigt es sich später, aber doch nicht bloß gelogen, es ist eine erzählerisch ausgestaltete Erinnerung an etwas Ähnliches: An den tatsächlichen Werbeschriftzug für ein französisches Musical, um den es in Berlin einen Gerichtsprozess gegeben hat: an Victor Hugos Les Misérables. Sobald die Ich-Erzählerin sich dieser Erinnerung bewusst wird, gewinnt sie ihr etwas Neues ab: Sie deutet den Titel als Kollektivansprache aller Nachgeborenen und bringt den Titel des Films Gefangene des Schicksals mit dem Satz des jüdischen Mitreisenden in Verbindung, das Schicksal habe sie zusammengebracht, weil sie sich zur gleichen Zeit auf die Suche nach Spuren ihrer jüdischen Vorfahren machen. Diesem Satz hatte sie zuvor widersprochen, sie hätten bei genauerer Betrachtung nicht nur kein gemeinsames Schicksal, sondern nicht einmal ein gemeinsames Ziel, sie triebe nichts als der „zweifelhafte
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Drang, nach Verlorenem zu suchen“ (S. 12). Erst ihre erfundene Geschichte – darauf kommt es an – ermöglicht eine gemeinsame Perspektive („angesichts dieser Ödnis in der Mitte der Stadt sind wir alle Elende“, S. 13). ‚Schicksal‘ ergibt sich aus kreativen Erzählungen, denen die Kraft innewohnt, geheimnisvolle Ähnlichkeiten zu generieren, die an einem selbst, in der Beziehung zu anderen und in der Welt etwas treffen, das als ‚richtig‘ empfunden wird. So kann die Ich-Erzählerin von dem Warszawa-Express als einem Zug, der sich „for us only“ „in die Zeit von Bombardier“ (10) bewegt, sprechen. Dieses ‚Wir‘ ist aber Ergebnis ihrer der Wirklichkeit immer bloß ähnlichen Erzählung, die der Spurensuche der Elenden durch den Rückbezug auf Victor Hugo, durch die vorgenommene neue Weichenstellung in den Bombardier-Gleisen usw. eine neue Richtung eröffnet. Diesem kreativen Spiel mit Ähnlichkeiten steht ein anderes entgegen, auf das Ersteres jedoch angewiesen ist. ‚Google‘ schlägt alles mit Ähnlichkeit und läuft, dank raffiniert programmierter Algorithmen, nicht auf das ‚for us only‘ hinaus, auf die Gemeinschaft der Rezipienten einer Geschichte, sondern auf ein ‚only you‘: Und nein, es ist nicht Schicksal, sagte ich, denn Google wacht über uns wie Gott, und wenn wir etwas suchen, dann gibt er uns nur unsere Reime darauf, genauso wie sie einem, hat man im Internet einen Drucker gekauft, noch lange Zeit danach Drucker anbieten, und wenn man einen Schulranzen kauft, hat man noch lange Werbung dazu […] und wenn man sich selbst googelt, verschwinden irgendwann sogar die Namensvettern, und es bleibt only you. (S. 12) Damit habe man keine Chance, „die anderen zu treffen“ (S. 12). Genau das geschieht aber in diesem ersten Kapitel, das die Funktion eines Prologs erfüllt: Es kommt zu Begegnungen, die durch die Logik der Algorithmen angestoßen wurden. Das Spannungsverhältnis, das bereits hier aufkommt, durchzieht die Geschichten. Es besteht zwischen einer kreativen Ähnlichkeit, die erzählerische Metamorphosen der Welt anstößt, und der letztlich auf Stillstand, Einsamkeit und Tod zielenden Logik von Werbung und Algorithmen (die ‚Bombardier‘-Werbung am Berliner Hauptbahnhof verhält sich mindestens pietätslos zu den Holocaust-Transporten). Der Prolog ist wohlgemerkt mit „Google sei Dank“ überschrieben – Google ermöglicht die Spurensuche und das Zusammentreffen der Suchenden, die Vernetzung von Lebenswegen, Familien- und Geschichtserzählungen: Ohne Google hätte der aus Teheran stammende jüdische Mann die aus Polen und der Ukraine stammende IchErzählerin nie getroffen – beide finden Anhaltspunkte für ihre Spurensuche
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nach der eigenen Vergangenheit im Osten mithilfe der Suchmaschine – und es wäre nicht dazu gekommen, dass er in ihr eine Gestalt erkannte, die ihn an Teheran erinnert – sie sähe aus „wie die iranischen Frauen seiner Kindheit, er hatte iranische Mütter sagen wollen, vielleicht wollte er sogar wie meine Mutter sagen“ (S. 11). Aus den von Google generierten Ähnlichkeiten werden solche, die neue Erzählungen anstoßen und Verbindendes anzeigen können. Es ist allerdings kein unschuldiger, gewaltfreier Raum, der da eröffnet wird. Die Reise „in die Zeit von Bombardier“ (S. 10) erfolgt auch „mit dem Segen Bombardiers“ und im Nachklang des Krieges, denn der Warszawa Express hat auf „Vorhängen und Servietten“ überall seine „Insignien mit dem Aufdruck WARS, einer Abkürzung so altmodisch und vergangen wie Star Wars und andere Kriege der Zukunft.“ (S. 13) Man findet zwar nicht das, wonach man sucht – das weiß auch die US-amerikanische Familie, die bereits durch Google erfahren hat, dass der jüdische Friedhof in Biała Podlaska nicht mehr erhalten ist. Man findet aber etwas Ähnliches, und über dieses Ähnliche, sei es auch sehr befremdlich, kann man mitunter lachen: „Google sei Dank“ weiß der Mann, dass es dort einen Pferdefriedhof gebe, Araberpferde wurden dort seit den Napoleonischen Kriegen bis heute gezüchtet. So entstehen an vielen Stellen Witz und Ironie, womit auf das Unverfügbare, Verlorene hingewiesen wird. Dies gilt auch für den Titel Vielleicht Esther. Gefunden, entworfen, erzählt werden mit dem Leben und dem Tod Esthers möglicherweise Teile der Familiengeschichte, aber nicht unbedingt: Möglicherweise ist es nur ein ähnlicher Lebensweg einer Frau mit einem ähnlichen Namen. Ähnlichkeiten kommen in den Geschichten nie ohne Grund auf, sie verknüpfen die Lebenswege der Figuren, unterschiedliche geschichtliche Ereignisse und vor allem die ost- und westeuropäischen Kulturräume. Dieses subtile Netz der Ähnlichkeitsrelationen unterläuft die Grenzziehung zwischen ost- und westeuropäischen Kulturräumen und damit auch jene zwischen ost- und westeuropäischen Literaturen. So beginnt also die Reise der Ich-Erzählerin, die auf Familien-Spuren und zugleich auf die Spuren des Nationalsozialismus in Europa führt. Das gesamte Erzählen legitimiert sich als Suchbewegung, die meint, in Gegenständen, Menschen, Bauwerken und Ereignissen Ähnlichkeiten zu etwas Unbekanntem zu entdecken. Von der Familienüberlieferung her zu schließen, vermutet die Erzählerin, mit der Rekonstruktion des „Familienbaums“, wie das erste Kapitel überschrieben ist, ganz Europa und das ganze zwanzigste Jahrhundert zu überblicken. Einerseits erweist sich die Familiengeschichte tatsächlich als weit verzweigt. Die Reisen der einzelnen Personen, manchmal ganzer Generationen, sind ganz unterschiedlich motiviert. Einige hängen mit der Entrechtung und Verfolgung der Juden zusammen – beispielsweise mit Niederlassungskonzessionen für Juden, die dazu führten, dass die Vorfahren der Ich-Erzählerin
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aus der ältesten polnischen Stadt nach Warschau und von dort in die heutige Ukraine zogen. Andere Familienmitglieder begründeten eine Taubstummenschule, mit deren Standorten sich auch die Familiengeschichte räumlich auffächerte. Andere sind aber auch aus eigenem, unbekanntem Antrieb aus der Familienerinnerung weggeblieben, während oder nach den Kriegen, und dann wiedergekommen, wie der Großvater Wassilij, der erst nach einundvierzig Jahren zu seiner Frau Rosa zurückkehrte und sich zwischenzeitlich woanders eine Existenz aufgebaut hatte. Bemerkenswert ist die Darstellung der Taubstummenschule, die aus unterschiedlichen Perspektiven erfolgt: Es gibt auf der einen Seite die Erzählung der Mutter, die Familienlegende, und auf der anderen Seite die Funde der Ich-Erzählerin in Kalisz, einer der wichtigsten Stationen ihrer Reise. Die Familienlegende lautet, dass sich über sieben Generationen und zwei Jahrhunderte eine breit verzweigte Taubstummenschule etabliert habe; die Mutter beispielsweise erzählte, wie sich die Ahnen „über ganz Europa verteilten und Schulen für Taubstumme gründeten in ÖsterreichUngarn, in Frankreich und Polen“ (S. 50), und verbindet damit die Vorstellung eines generationenübergreifenden Lebensauftrags zum aufklärerischen Altruismus – eine uneigennützige Ermächtigung Benachteiligter zur gesellschaftlichen Teilhabe. In diesem Szenario treffen tatsächlich das weltläufige, große Europa und die kleine Provinz aufeinander: Der Anspruch der Haskala, Botschaften der Bildung zu übermitteln, so wie ihn etwa ein Karl Emil Franzos oder ein Martin Buber vertraten, verbindet die Bildungsarbeit in den europäischen Hauptstädten, insbesondere Wien, Prag und Berlin mit der Arbeit in der engen Provinz: Von Wien aus zog die Schule durch die polnische Provinz, durch Galizien, wie ein Wanderzirkus, sie blieben jeweils nur kurz in einer Stadt, in einem Städtchen, einem Shtetl, dann zog Simon weiter, mit seiner Familie, den Waisenkindern und jenen Kindern, die von ihren Eltern geschickt wurden. (S. 55) Auf der anderen Seite steht die „Route durch Europa“, die Mira absolvieren musste, eine Überlebende aus dem Familienkreis: „Die Stationen lauten Danzig, Warschau, Tomaszów Mazowiecki und Blzyn Majdanek, Auschwitz-Birkenau, Hindenburg, Gleiwitz, Mittelbau-Dora, Bergen-Belsen. Ein Ghetto, fünf KZ und ein Todesmarsch“ (S. 127). Das ebenfalls Europa durchziehende Netz der Deportationszüge, ein Netzwerk der Vernichtung, steht im Gegensatz zu den Taubstummenschulen. Beides, die Wege der Verschleppung in Konzentrationsund Vernichtungslager (neben der Aufzählung weiter oben wird noch Mauthausen erwähnt) – oder in die in einem eigenen Kapitel behandelte Schlucht
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von Babij Jar, wo Massenerschießungen stattgefunden haben, auf der einen Seite – und die Wege der vielen Generationen von Lehrerinnen und Lehrern zu Taubstummenschulen in ganz Europa auf der anderen Seite, versucht die Ich-Erzählerin abzuschreiten. Die im Text angelegten Ähnlichkeitsrelationen zwischen diesen Wegen machen die Gegenwart unheimlich, indem sie zu früh vergessene oder verdrängte, nicht aufgearbeitete Aspekte der Vergangenheit im Nationalsozialismus gegenwärtig machen. Die Ich-Erzählerin oszilliert zwischen diesen beiden Trajektorien und macht sie einander ähnlich; dadurch entstellt sie die aktuelle Gesellschaft zur Kenntlichkeit: sie legt die Gegenwart der verdrängten NS-Vergangenheit offen. Dinge und Orte werden zu Zeichen, die sowohl auf die persönlichen Wege der Vorfahren verweisen als auch auf deren Leidens- und Verfolgungsgeschichte im Nationalsozialismus. Exemplarisch hierfür ist der Aufenthalt in Kalisz. Katja erhofft sich, nach alttestamentarischem Muster eine Genealogie der sieben Generationen von Lehrerinnen und Lehrern zu finden. Diese Suche wird aber enttäuscht, denn die Geschichten der Krzewins „ergaben keine eigene Linie, sie kreisten und kreisten, rissen ab, […] ich sah kein Ornament, nur kleine Fetzen, uneheliche Kinder, nie gehörte Namen, verlorene Fäden, unnötige Details.“ (S. 134) Wenn es unmöglich scheint, lineare Abfolgen, Kausalitäten und Konsekutivrelationen im ‚Familienbaum‘ auszumachen, gewinnen andere Relationen an Bedeutung, insbesondere jene der Ähnlichkeit. Überreste, aufgefundene ‚Fetzen‘ werden aufgegriffen, miteinander verglichen und nach Ähnlichkeitsgraden gruppiert, in denen nicht mehr die tatsächliche Zugehörigkeit zur Blutsverwandtschaft ausschlaggebend ist, nicht mehr der tatsächliche genaue Ort, an dem früher die erste Taubstummenschule gestanden hat, sondern eine empfundene Nähe – sei es die ‚Nachbarschaft‘ zweier Namen in einer Stadtverwaltungsliste oder die Nachbarschaft zweier Häuser, von denen eines die Taubstummenschule gewesen sein könnte. Vielleicht Esther führt vor, wie kreativ erstellte ‚Familienähnlichkeiten‘ im Sinne Wittgensteins den „Familienbaum“ und den „Stammbaum“ (S. 17) – beides eingangs eingeführte Suchobjekte der um Rekonstruktion bemühten Ich-Erzählerin – überschreiben und sukzessive ersetzen. Die Geschichten, die einem fragmentarisch gegliederten Roman nahekommen, lösen das Muster der alttestamentarischen, linearen Genealogie zunehmend auf und ersetzen es durch ein spiralförmiges, nach allen Seiten hin offenes Suchen und Gruppieren. Indem unerwarteterweise Verbindungen quer durch Europa gefunden werden, die sich nicht in eine Genealogie fügen, wird auch der ‚Stammbaum‘ der auf das Territorium der deutschen Staaten begrenzten Literaturgeschichte indirekt dekonstruiert. Das Muster „Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob […]“ (S. 50) lässt sich jedenfalls nicht aufrecht erhalten, stattdessen fragt Katja nach dem „glühenden Flüstern“ (S. 50) der
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taubstummen Kinder, denen das Sprechen beigebracht wurde, und das über Staatsgrenzen hinweg von ihren Vorfahren vermittelt wurde und hörbar war. In diesem Sinne ist auch das als ‚chinesische Weisheit‘ bezeichnete Motto zu verstehen, das dem Kapitel „Schimon der Hörende“ vorangestellt wurde: „Wenn ein Mensch sich nicht findet, wird er von seinem Stamm verschluckt“ (S. 49). Statt identitätsstiftend zu sein, verunmöglichen eine scharfe Begrenzung nach Außen und eine lückenlose Genealogie vielmehr Individualität und Identität. Die Taubstummen stehen, vom ‚Familienstammbaum‘ aus betrachtet, nicht auf der anderen Seite – auch dann nicht, wenn sie mit der ‚Familie‘ nicht verwandt sind: Katja, die Ich-Erzählerin, findet in Kalisz Dokumente, die belegen, dass das Bild von der europaweit vernetzten erfolgreichen Lehrer-Familie unhaltbar ist. Der älteste auffindbare Verwandte wurde 1875 geboren und heiratete selbst eine taubstumme Frau. Seine Mutter war Analphabetin, der Vater unbekannt. Ozjel Krzewin verständigte sich mit seiner taubstummen Braut Estera Patt „mühelos in Gebärdensprache“, so hatte der Standesbeamte festgehalten, und Katja findet Indizien dafür, dass auch ihre beiden Söhne möglicherweise taubstumm waren, u.a. weil sie in einer Druckerei gearbeitet hatten und Typograph wegen der Lärmbelastung ein unter Taubstummen verbreiteter Beruf war. Ozjels Frau Estera war nicht, wie die Familienüberlieferung es wollte, Anfang des Jahrhunderts gestorben, sie hatten sich vielmehr getrennt – oder wahrscheinlicher: Katjas Urgroßvater war mit einer anderen, nicht taubstummen Frau nach Kiew gegangen und hatte Estera mit den beiden Söhnen zurückgelassen. Anstelle der altruistischen Motive trifft die Ich-Erzählerin auf eigennützige, anstelle emanzipatorischer Weltläufigkeit auf enge und ärmliche Verhältnisse. Vor allem endet die Genealogie mit dem vaterlosen Sohn einer Frau, die des Lesens und Schreibens nicht mächtig ist, in einer Sackgasse. Mehr noch, die gerade mit der jüdischen Überlieferung verbundene Vorstellung „wir seien seit Adam und Eva belesen und dazu auserwählt, andere zu bilden“ (S. 130) ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. So ergeben sich Zufallsfunde, die in ganz unterschiedlicher Weise erhellend sind und das Tableau ändern. So gut wie jede Differenz, die Ich-Erzählerin und Leser als gesetzt annehmen könnten, wird schließlich aufgelöst und in ein vielfältiges semantisches Universum der Ähnlichkeiten überführt, seien sie zufällig oder nicht. Katja telefoniert mit der ältesten und einzigen Überlebenden aus dem polnischen Familienzweig, Mira, die in den USA lebt, und mit deren Rabbi, und erfährt zufällig von Verwandten in London, deren Lebensgeschichte ebenfalls erzählenswert wäre: Von Anthony Gorbutt, dem Kind von Zygmund und Hela, dem ein Freund arische Papiere besorgte, durch die er aus dem Warschauer Ghetto entkommen konnte. Er lebte in Graz, Wien,
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Berlin, Italien und schließlich in London, wo er von einer katholischen Familie adoptiert wurde und sich den zufällig im Telefonbuch gefundenen Namen „Anthony Gorbutt“ (S. 125) zulegte. Den Bericht über sein Leben und jenes seiner vier Kinder in London hört Katja am Telefon und fragt sich, wie sie nun ihre erzählte Rekonstruktion fortsetzen soll. Sie gewinnt außerdem den Eindruck, dass sie sich endlos fortsetzen ließe und dass der Grund für das Festhalten an der Blutsverwandtschaft als rotem Faden zunehmend obsolet erscheint. „Und ich habe eine neue Familie, related through Adam, sozusagen, über tausend Ecken“ (S. 126). Mit Mira, die sich nicht als Blutsverwandte ausgibt, die aber Geschichten aus der Vergangenheit mit der Ich-Erzählerin teilt und die außerdem neue beisteuern kann, verbindet sie viel. Während der Archivarbeit taucht unerwarteter Weise ein ‚Ad. Krzewin‘ auf, hinter dem sie einen die These von der allgemeinen Verwandtschaft bestätigenden Adam vermutet, muss aber feststellen: „Ein Adolf unter meinen Juden, related through, damit hatte ich als letztes gerechnet.“ (S. 131) Das DifferenzDenken ist spätestens an dieser Stelle in ein generalisiertes ‚not quite‘ übergegangen. Dies stellt aber in der Gesamttextlogik keinen Verlust, sondern einen Gewinn dar, weil es die Möglichkeit eröffnet, neue Konfigurationen zu erstellen, deren Sinnhaftigkeit nicht dadurch geschmälert wird, dass sie kein präfiguriertes Schema bestätigen oder exemplifizieren. Die auf den Pfaden der Ähnlichkeit neu gewonnenen Sinnzusammenhänge sind beweglich und subjektiv, sie hängen von Betrachterperspektiven ab, von zufälligen Begegnungen, von Zufallsfunden in Archiven usw. Es stellt daher keinen Verlust dar, wenn die Ich-Erzählerin nicht das Haus, an dessen Stelle einmal die erste Taubstummenschule in Kalisz stand, fotografiert hat, weil sich die Hausnummer als falsch erwies. Es stellt auch keinen Verlust dar, dass sie letztlich in Kalisz nur „die Häuser im Nieselregen“ fotografiert, obwohl sie „eine lange Adressliste aufgeschrieben“ (S. 132) hatte. Schließlich trifft sie in den Registern neben Adolf Krzewin auch einen Hary Krzewin und eine Kunigunda von Kalizs, ein in diesem früheren Shtetl kaum erwartbarer Name. Die Ich-Erzählerin denkt dabei „an einen Roman mit dem Titel Adolf, Hary und Kunigunde“ (S. 133), den sie schreiben könnte. Das Erzählen wird angeregt und vervielfältigt sich durch Zufälle. Um Zufallsfunde handelt es sich auch bei den Steinen, die auf den Straßen von Kalisz liegen, und die vom jüdischen Friedhof geraubt, zunächst mit den Inschriften nach unten verlegt und dann wegen Bauarbeiten aufgewühlt und teilweise mit der Schrift nach oben, teilweise nach unten neu ins Pflaster eingesetzt wurden. „Ich entdeckte zwei oder drei, dann zwanzig Meter nichts, dann wieder ein Buchstabenstein, drei Meter weiter noch ein paar, ein Glücksspiel, dessen Regeln niemand festgelegt hat und das jedem offensteht.“ (S. 136)
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Vielleicht am weitreichendsten im Hinblick auf die bislang skizzierte ‚Ästhetik der Ähnlichkeit‘ in den Geschichten ist der Umgang mit Schriftzeichen und Medialität. Deren herkömmliche Aufgabe ist es, auf etwas zu verweisen – allein die Funktion sprachlicher Zeichen, zu referieren, wird durch die Logik der Ähnlichkeit sistiert und in einen Reigen der Analogien gelenkt, der in diesem Fall den Leserinnen und Lesern Reflexionsaufgaben stellt – insbesondere im Hinblick auf das Fortwirken von Strukturen, die mit dem Nationalsozialismus zusammenhängen. Dies mag auf den ersten Blick irritieren, suggeriert doch das Anfangsszenario den Lesern, Vielleicht Esther leiste eine dokumentarische, rekonstruierende Arbeit und habe die Absicht, Spuren als Zeichen zu deuten, die auf etwas Vergangenes verweisen. Dies ist aber nicht der Fall. Ganz im Sinne aktueller Debatten, die in kritischer Auseinandersetzung mit Michel Foucaults These von der Ablösung des eher zyklischen Ähnlichkeitsdenkens durch das lineare Kausalitätsdenken eine Aufwertung von ‚Ähnlichkeit‘ als Alternative zum Differenzdenken fordern,2 geben Petrowskajas Geschichten nicht vor, die Welt zu erklären, sondern sie entwerfen Ähnlichkeitsverhältnisse, die sich als Reflexionsaufgabe verstehen. Dieses Ähnlichkeitsverhältnis ist (auch für die Figuren, die es herstellen, erst recht für die Leserinnen und Leser) auslegungsbedürftig. Paradigmatisch wird dies in einem Traum, von dem die Ich-Erzählerin berichtet: Der Traum setzt mit dem Gründungsmythos der Stadt Kiew ein, in dem eine in der Luft schwebende Kirche den Ort in der Landschaft anzeigt, an dem die Stadt errichtet werden soll. Gleichzeitig läuft die Ich-Erzählerin als Kind durch die Straßen der Stadt, immer mit der Vorstellung, hinter ihr schwebe eine Kirche in der Luft. Das Wunder ist also bereits in der Vergangenheit vollbracht worden, der Gründungs-Augenblick liegt hinter der Erzählerin, in ihrem „Nacken“ (S. 137). Die Existenz der Stadt scheint allerdings die magische Referentialisierung zu bestätigen. Zwei Gestalten begleiten die Erzählerin und führen sie zu einem Postament, auf dem in einem Buch „alles geschrieben“ (S. 137) stehen soll. Allerdings liegt auf dem Sockel stattdessen eine Eisscholle, in der die Erzählerin einen Buchstaben aus Erde entdeckt, aus dem ein Grashalm herausragt. „Ich versuchte, den Buchstaben zu lesen, aber ich verstand nicht einmal, aus welchem Alphabet er stammte.“ (S. 137) Die Schrift, die auf die Wahrheit verweist, gibt es nicht mehr. Analog dazu gibt es keine ‚wahren Spuren‘ mehr, keine Referentialisierung in die Vergangenheit zurück. Erst recht eröffnet die Schrift keinen Zugang zur Materialität
2 Anil Bhatti und Dorothee Kimmich (Hg.): Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma. Konstanz: Konstanz University Press 2015.
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der Vergangenheit. Die Materialität und Alterierbarkeit der Schriftzeichen und Bücher selbst wird stattdessen exponiert, wenn der Buchstabe aus dem Substrat des Lebendigen, aus Erde ist und aus ihm ein Grashalm erwächst. Damit ist die Fährte vorgegeben, der der Lebensweg der Ich-Erzählerin folgt: Sie setzt medial codierte Zeichen in eine Beziehung mit lebendiger Materie, die nicht referierender Natur ist und dennoch etwas für die jeweiligen Umstände, Personen, gesellschaftlichen Verhältnisse usw. aussagt. Es geht dabei um nichts Geringeres als die zentralen Versprechen des Judentums: Wunder, Tempel, wahre Schrift werden zurückgestellt; anstelle des Verweisens auf das Gesetz tritt die Ähnlichkeit zum Lebendigen. Paradigmatisch ist dieser Traum für ganz unterschiedliche mediale Codierungen in den Geschichten. An mehreren Stellen ist von Zeitungsartikeln die Rede – etwa, wenn über die Taubstummenschule in Wien in einem Artikel um die Jahrhundertwende berichtet wird, oder wenn es um Judas Stern geht, einen Großonkel der Erzählerin. Judas Stern hat, so erfahren wir, „am 5. März 1932 […] mitten in Moskau auf den deutschen Botschaftsrat Fritz von Twardowski geschossen. Twardowski wurde verletzt, Judas Stern verhaftet, auf der Stelle.“ (S. 141) Über dieses Ereignis berichteten Europas große Zeitungen, so auch in London; das Attentat rückte die Familie ins Zentrum internationaler Diplomatie. Aber auch die in Zeitungen abgedruckten Nachrichten führen nicht heran an die ‚Wahrheit‘ des Geschehens. 1932, im letzten Jahr vor dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, waren die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Deutschland durch zahlreiche Abkommen gesichert. Stalin war an einer Allianz mit den deutschen Kommunisten inte ressiert, nicht aber mit den Sozialisten. Ob Stern manipuliert wurde, ob er, wie sein Bruder Schimon sagte, nichts als ein „Van der Lubbe“ (S. 144) war, oder ob er eigenmächtig politische oder persönliche Interessen verfolgte, ob er bei vollem Bewusstsein oder im Wahn handelte, ob er einer „polnischen Terror organisation“ (S. 161) angehörte, wie sein sowjetischer Ankläger ihm vor Gericht vorwarf, oder ob er umgekehrt von Stalin in eine Falle gelockt wurde, indem ihm vorgegaukelt wurde, er gebe mit diesem Attentat den Startschuss für eine gesamteuropäische Revolution – das alles und vieles mehr ist möglich. Ob er ein GPU-Agent war, der eigentlich versuchte, den deutschen Botschafter von Dirksen zu töten, ob ihm, wie ein Mitinhaftierter später zu Protokoll gab, in Aussicht gestellt wurde, mit falschem Pass unterzutauchen, nachdem er den Prätext für einen europäischen Krieg im Namen der proletarischen Revolution geliefert hätte – all das bleibt offen. Stern beruft sich jedenfalls auf den Zufall, wenn er begründen soll, warum er geschossen habe: „Es war Zufall. Ich wollte auf irgendeinen Botschafter schießen, und ich wohnte in der Nähe“ (S. 165). Die Erzählerin recherchiert im Archiv des Auswärtigen Amtes, in dem sie drei
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umfangreiche Bände zum Attentat erhält, und sieht keinen anderen Weg, als nach Ähnlichkeitsmustern in Archivalien zu suchen. 3
Schluss
Die Archiv-Materialien lassen sich ganz unterschiedlich konstellieren – deshalb ist das entsprechende Kapitel mit In der Welt der unorganisierten Materie überschrieben. Die Genealogien, die Grenzen der Religionen, Sprachen und Literaturen, auch zwischen Taubstummen und Nicht-Taubstummen werden, so die Textlogik, im Zuge des Suchens und Sammelns nach dem Prinzip von ‚Familienähnlichkeiten‘ arrangiert. Es wohnt ihnen keine Form der Organisation inne, bevor eine medial codierte Beobachtung sie ordnet. Dies gilt für die Ordnung der Zeichen, des Lebendigen wie auch für die Relationen, die zwischen Zeichen und Bezeichnetem hergestellt werden. Überlappung, Prozesse der Anziehung und Abstoßung, Ähnlichkeitsverhältnisse und Transformationsabstände bestimmen – stets aus der subjektiven Perspektive der Ich-Erzählerin, die das höchstmögliche Maß an Genauigkeit einhält: eine Schreibethik subjektiv-situativer Objektivität, die im eigenen Erleben begründet ist, und nicht vorgibt, auf (nicht mehr) Vorhandenes zu verweisen, sondern sich mit – höchst aufschlussreichen – Indizien zufriedengibt, die sich aus wieder aufgefundenen Spuren, Archivalien, Traumfragmenten und Ähnlichkeitsrelationen zusammensetzen. Petrowskaja entwirft in Vielleicht Esther engmaschige Ähnlichkeitsrelationen, die reale und imaginäre Topographien durchziehen, und dabei auch deutsche Geschichtsnarrative und das Selbstverständnis deutschsprachiger Literatur erfassen und neu perspektivieren, sodass herkömmliche Grenzziehungen und Genealogien obsolet erscheinen. Ihr identitätsstiftender Anspruch kollabiert und erweist sich vielmehr als künstliche Grenzziehung, die kreative, produktive Prozesse des Selbstentwurfs unterbindet. Vergleichbares gilt dann auch für das Selbstverständnis ‚deutscher‘ Literatur, denn der Grund, weshalb sie primär auf den Resonanzraum der Öffentlichkeit in den Gebieten der Vorgänger-Staaten der Bundesrepublik begrenzt bleiben sollte, entfällt. Vielleicht Esther entwirft einen mehrsprachigen, europaweiten, interreligiösen Resonanzraum, der die Begrenztheit der Emphase auf nationale Staatsgrenzen als inadäquat entlarvt. Gerade die ‚Pfade der Ähnlichkeit‘ legen es nahe, deutschsprachige Literatur in einer ost-west-europäischen, nicht von Staats- und Systemgrenzen geleiteten Perspektive neu zu vermessen. Dies impliziert neue imaginäre Karten und Koordinaten, die der Marginalisierung
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deutschsprachiger osteuropäischer Literaturen entgegenwirken und ihrer Komplexität und Vielgestaltigkeit gerecht werden. Die schwierigste Aufgabe ist dabei sicherlich die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektivierungen der Shoah, ohne deren Einmaligkeit infrage zu stellen – und gerade diese schwierige Aufgabe meistert Vielleicht Esther.
kapitel 4
Shared HiStories. Ost-West-Geschichte(n) in Texten von AutorInnen mit osteuropäischem Hintergrund am Beispiel von Olga Martynovas Roman Sogar Papageien überleben uns Axel Dunker Seit den 1990er Jahren tauchen in den Sozial- und Geschichtswissenschaften, aber auch in der Kultur- und Literaturwissenschaft Konzepte von touching tales,1 Shared History bzw. ‚Geteilte Geschichte‘ oder Entangled History2 oder auch Histoire croisée3 auf. Während das im deutschen Sprachbereich vor allem von Sebastian Conrad und Shalini Randeria vertretene Shared HistoryKonzept postkoloniale Perspektiven jenseits des Eurozentrismus zu entwickeln versucht, geht es bei der Histoire croisée um die mögliche „Überwindung nationalgeschichtlicher Sichtweisen“4 allgemein. Michael Werner und Bénédicte Zimmermann erheben den Anspruch, Vorgänge freizulegen, „die von der nationalen Geschichtsschreibung zugedeckt wurden“ und die Aufmerksamkeit „auf die Überschneidungen und gemeinsamen Anteile bislang getrennt untersuchter Geschichten“5 zu lenken. Dabei machen sie vor allem epistemologische Gesichtspunkte stark: die Histoire croisée versucht „eine spezifische 1 Leslie A. Adelson: Touching Tales of Turks, Germans, and Jews. Cultural Alterity, Historical Narrative, and Literary Riddles for the 1990s. In: New German Critique 80 (2000), S. 93–124. 2 Vgl. Sebastian Conrad und Shalini Randeria: Einleitung: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Hg. dies. und Regina Römhild. 2., erw. Aufl. Frankfurt a.M., New York: Campus 2013, S. 32–70; Gregor Feindt, Félix Krawatzek, Daniela Mehler, Friedemann Pestel und Rieke Trimçev: Entangled Memory: Toward a Third Wave in Memory Studies. In: History and Theory 53 (2014), S. 24–44. Feindt et. al. unterscheiden vier „heuristics“: „the access point to memory being the researcher’s present, a focus on moments of conflicts, systematic attention to the role of generations, and, finally, the contextualization of memory scholarship in the mnemonic practices of its own time“ (ebd., S. 43). 3 Vgl. Michael Werner und Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636. 4 Ebd., S. 607. 5 Ebd., S. 608.
© Koninklijke Brill NV, Leiden, 2021 | doi:10.1163/9789004466234_006
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Verbindung von Beobachterposition, Blickwinkel und Objekt zu konstruieren.“6 Wichtig ist dabei zu beachten, dass „sich Sprache, Begrifflichkeit, kulturelles Referenzsystem sowie persönliche Erfahrung des Beobachters in die Beobachtung selbst ein[blenden]“.7 Im Gegensatz zur Shared History sollen hier nicht nur „historische Vorgänge von Verflechtung ins Blickfeld“ genommen werden, sondern Beobachtung und Beschreibung selbst als „aktive[r] Verflechtungsfaktor“8 verstanden werden. Dabei bleibt offen, „was in einer derartigen Geschichte überkreuzt oder verschränkt wird: topologische Faktoren wie Beobachtungen, Blickrichtungen, Sichtweisen, Perspektiven“, aber auch „Menschen, Migranten, die ein Gewebe von Verbindungen vielfältiger Art herstellen“.9 Das scheint mir ein Ansatz zu sein, der sich für eine literaturwissenschaftliche Betrachtung von deutschsprachiger Literatur ‚mit osteuropäischem Hintergrund‘ fruchtbar machen lässt, auch weil Werner und Zimmermann das Augenmerk darauf lenken, dass „Asymmetrien“ zu berücksichtigen sind, Asymmetrien wie die der Sprache mit ihren Konsequenzen für die Kategorisierung und für die Art und Weise, wie die entsprechenden Erfahrungen umgesetzt werden, oder […] die Asymmetrie der Zeitstruktur mit ihren verschiedenen historischen Abfolgen, Verschachtelungen in der einen oder anderen nationalen Geschichte.10 Nun gibt es eine ganze Reihe von AutorInnen mit osteuropäischem Hintergrund, die in ihren Büchern Episoden oder ganze Zusammenhänge aus der Geschichte Osteuropas zu einem Bestandteil der deutschsprachigen Literatur machen. Ob das nun die Bosnienkriege sind wie in Saša Stanišićs Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006), in Martin Kordićs Wie ich mir das Glück vorstelle (2014) oder Tijan Silas Tierchen unlimited (2017), das Ungarn der 1950er und 60er Jahre wie in Zsuzsa Bánks Der Schwimmer (2002), die jüdische Emigration aus Russland wie in Vladimir Vertlibs Zwischenstationen (1999), Julya Rabinowichs Spaltkopf (2011), Dmitrij Kapitelmans Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters (2016) oder jüngst in Sasha Marianna Salzmanns Außer sich (2017), der Bürgerkrieg um Berg-Karabach in Olga Grjasnowas Der Russe ist 6 7 8 9 10
Ebd., S. 609. Ebd., S. 610. Ebd., S. 618. Ebd. Ebd., S. 619.
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einer, der Birken liebt (2012) oder gleich die ganze Geschichte Georgiens im 20. Jahrhundert in Nino Haratischwilis Das achte Leben (Für Brilka) (2014). Diese Liste ließe sich sicher noch erheblich verlängern. Durch den Transfer dieser geschichtlichen Ereignisse in die deutschsprachige Literatur werden sie Teil des Überlieferungszusammenhangs dieser Literatur und damit auch den Leserinnen und Lesern als solche bewusst, so dass man von Shared History sprechen könnte. Es handelt sich aber nicht automatisch auch schon um Histoire croisée im eben gekennzeichneten Sinn. Dazu braucht es mehr. Als Beispiel für ein Buch, das meines Erachtens nach so etwas leistet, möchte ich den ersten Roman der in Sibirien geborenen Olga Martynova heranziehen, Sogar Papageien überleben uns, erschienen 2010.11 Erzählt wird darin in 88 kurzen Abschnitten die Geschichte der Russin Marina und ihres deutschen Freundes Andreas. Beide hatten vor 20 Jahren, vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als Andreas in Leningrad Russisch studierte, eine Liebesbeziehung miteinander. Jetzt (2006) kommt Marina aus der Stadt, die inzwischen Sankt Petersburg heißt, nach Deutschland, um auf einem Kongress einen Vortrag über den russischen Avantgarde-Schriftsteller Daniil Charms zu halten. Über jedem der kurzen Kapitel findet sich eine Zeitleiste mit Jahreszahlen, die vom 5. Jahrhundert vor Chr. bis zum Jahr 2006 reichen. Die für den jeweiligen Abschnitt relevanten Jahreszahlen sind durch Fettdruck hervorgehoben. Oft sind das mehrere Zahlen, die darauf hinweisen, dass mehrere Zeiten in eine Beziehung zueinander gesetzt werden. Das erste Kapitel des Romans ruft die Jahre 1973 und 2006 auf. Ein Ich erinnert sich daran, wie es als Kind von einer Frau, die als „Zeitflussweib“12 mythisiert wird, durch einen Bergbach ans andere Ufer getragen wird. Um was für einen Bergbach es sich hier konkret handelt, bleibt – auch für das Ich selbst – undeutlich. Der Neologismus ‚Zeitflussweib‘ verbindet hier einen räumlichen Begriff (Fluss) mit einem zeitlichen, die Überquerung des Baches liegt für die Erzählerin in einer nicht zugänglichen Vergangenheit, zu der ein Übergang nicht möglich ist. Der Roman geht dann über in die Beschreibung der Ankunft der Ich-Erzählerin Marina in Deutschland im Jahr 2006. Am Flughafen wird die Zoll-Kontrolle passiert, nicht ohne die bei solchen Anlässen wohl 11
Die folgenden Ausführungen überschneiden sich z.T. mit Axel Dunker: Osterweiterung? AutorInnen aus Osteuropa und die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. In: Narrationen in Bewegung. Hg. Margarita Blanco Hölscher und Christina Jurcic. Bielefeld: Aisthesis 2019, S. 35–52. 12 Olga Martynova: Sogar Papageien überleben uns. München: btb 2012, S. 7. Nachfolgend wird der Roman im Text mit der Sigle M und Seitenzahl zitiert.
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allgegenwärtig gewordene Terrorangst aufzurufen. Mit dem Zug geht es dann an Weinbergen entlang, deren „Weinstockreihen wie die Zeilen einer Schrift“ (M 12) aussehen. Der Umstieg in die S-Bahn mit ihrer Bewegung durch den Raum geht über in die Evokation der „stillen Zeiten der endenden sowjetischen Epoche“ (ebd.): „In der Fensterscheibe der deutschen S-Bahn sehe ich eine schmale gewundene Treppe in einem alten Haus in Leningrad“ (M 15), was die Überquerung eines anderen Flusses heraufruft, der zugefrorenen Newa. In der Silvesternacht 1986/87 war Marina mit Andreas, den sie russisch Andrjuscha nennt, zu einer Feier jenseits der Newa, die durch Leningrad/ Petersburg fließt, eingeladen. „In der Mitte des Flusses kam es uns entgegen, das Neue Jahr.“ (Ebd.) Die Überschreitung der Grenze am Flughafen ruft die (gefährliche – es ist nicht sicher, ob die Newa wirklich richtig zugefroren ist) Überquerung einer anderen räumlichen Trennungslinie auf, die mit der Überschreitung einer Zeitgrenze in der Silvesternacht verbunden ist. Das erscheint hier zunächst als völlig harmlos, Andreas holt aus seinem Rucksack anlassgemäß eine Flasche Champagner hervor, was aber wiederum das Vorhandensein einer – jetzt politischen – Grenze aufruft: „die Flasche war dreimal so teuer wie meine neue Daunenjacke, die freilich sehr schick aussah, da sie aus dem Westen kam“ (ebd.). Ein Fluss, der mit dem Anklang an den Anfang des Romans den Zeitfluss konnotiert, und eine mehrfache zeitliche Grenze – zwischen den Jahren 1986 und 1987, in der Erinnerung vor allem aber zwischen der Zeit vor dem Ende der Sowjetunion mit der Trennung von West und Ost und der Zeit danach. ‚Zum Raum wird hier die Zeit‘, sagte ich, nachdem wir in der Mitte des Flusses auf das Neujahr getrunken hatten. Ich wusste, dass Andreas nichts mit Wagner anfangen kann13 und ich ihm mit dieser Zeile vulgär vorkam. ‚Stimmt‘, sagt Andrjuscha, ‚trinken wir auf Bachtin und seinen Chronotop!‘ (M 19) In einem viel weitergehenden Sinne zum Chronotopos im Sinne Bachtins14 wird die Newa dann im Fortgang des Romans.
13 In Wagners ‚Bühnenweihfestspiel‘ Parsifal sagt Gurnemanz diesen Satz zu Parsifal: „Du siehst, mein Sohn,/zum Raum wird hier die Zeit.“ (Richard Wagner: Die Musikdramen. München: dtv 1978, S. 834). 14 Vgl. Michail Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008.
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Marina ist in Deutschland, um über den russischen Dichter Daniil Charms zu sprechen, Mitglied der Oberiu-Gruppe, „Vereinigung der Realen Kunst“, der „letzte[n] Avantgardegruppe der russischen Kunst vor 1934“,15 die dem Dadaismus und dem russischen Futurismus nahestand und „eine eigene Literatur des Absurden“ (M 17) begründete; ein weiteres wichtiges Mitglied war Aleksandr Vvedenskij.16 Charms starb am 2. Februar 1942 in Leningrad, er verhungerte in der von den Deutschen belagerten Stadt. 1931 war er unter dem Verdacht „der Organisation und Beteiligung an einer antisowjetischen illegalen Vereinigung von Literaten“17 verhaftet worden. Im Roman wird erzählt, wie Marina Malitsch, Charms’ Frau, ihn im Leningrader Gefängnis aufsucht: Sie ging zum Gefängnis, um Charms ein Päckchen zu übergeben, ein biss chen Brot, das bedeutete im belagerten Leningrad, sie brachte ihm ihre eigene Ration und war selbst nah am Verhungern. Sie hatte die eingefrorene Newa zu überqueren, die Sonne strahlte, die Schneehaufen glänzten, die deutschen Flieger surrten das Lied der Zeit, die hier zum Raum geworden war. Sie kam an zwei Jungen vorbei, sie baten um Essen, dann fielen sie vor Schwäche um, sie ging weiter. Als sie ihr Ziel erreicht hatte, erfuhr sie, dass Charms gestorben war. (M 37) Auch diese Konstellation, „die Jahre des NKVD-Terrors“ und die „Blockade Leningrads durch Hitlers Wehrmacht“,18 bei der ca. eine Million Menschen verhungert sind, unter ihnen der im Gefängnis sitzende Dichter Daniil Charms, steht hinter der interkulturellen Begegnung zwischen Andreas und Marina. Später erzählt ein Marina „unbekannter deutscher Autor“, er wolle ein Buch über die Belagerung Leningrads schreiben, weil sein Vater dabeigewesen und mit vielen Wunden zurückgekehrt sei: „Hierzulande weiß niemand Bescheid über diese Belagerung. In Russland auch nicht, weil es in Russland verboten war, darüber zu sprechen.“ „Nein“, sagte ich, „das stimmt nicht.“ „Doch“, sagte er, „ich habe das in der Zeitung gelesen.“ Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Seit ich denken kann, hörte ich von der Belagerung, der Blockade. (M 126)
15 Peter Urban: Oberiu, Vereinigung der Realen Kunst. Editorische Vorbemerkung. In: Schreibheft, H. 39 (1992), S. 16–18, S. 16. 16 Martynova transkribiert den russischen Namen in ihrem Roman ‚Wwedenskij‘. 17 http://www.umsu.de/charms/texte/lebwe.htm, zuletzt geprüft am 24.4.2019. 18 Urban: Oberiu, S. 18.
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Tatsächlich ist die Belagerung Leningrads, die sich 2017 zum 75. Mal gejährt hat, mit ihrer immensen Zahl an Todesopfern in Deutschland bis heute kaum ein Thema.19 Der Historiker Jörg Ganzenmüller stellt 2005, ein Jahr vor dem Erscheinen von Martynovas Roman, fest, daß die Blockade keinen Platz im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik fand. Weder Historiker noch Schriftsteller oder Filmemacher schenkten dem Ereignis ihre Aufmerksamkeit. Auch in den westdeutschen Schulbüchern fanden die Ereignisse im belagerten Leningrad keine Erwähnung. Der Grund für dieses weitgehende Vergessen bestand darin, daß sich die Blockade nicht in das in den späten vierziger und fünfziger Jahren sich etablierende allgemeine Narrativ vom Zweiten Weltkrieg einpassen ließ. Bis in die achtziger Jahre dominierte die doppelte Opferrolle der Deutschen das kulturelle Gedächtnis der Bundesrepublik: von der Führung mißbraucht und vom Krieg gebrandmarkt.20 Charakteristisch dafür ist auch, dass Gerd Ledigs Roman Die Stalinorgel (1955), der die Belagerung thematisiert, wie die anderen Bücher dieses Autors weitgehend vergessen war und erst im Zuge der Sebald-Debatte über den Luftkrieg bei Suhrkamp wieder aufgelegt wurde. Mittlerweile ist das Buch schon wieder vergriffen.21 Mit Olga Martynovas Roman ist es die deutschsprachige Literatur mit osteuropäischem Hintergrund, die die Blockade in den literarischen Diskurs und damit ins kulturelle Gedächtnis einführt. Zugleich weist dieser Roman darauf hin, dass die Blockade den interkulturellen deutsch-russischen Diskurs mitbestimmt, jedenfalls aus russischer Sicht, was aus deutscher Perspektive dann ebenfalls nicht wahrgenommen wird. Zwei unterschiedliche Narrative, die sich untereinander nicht wahrnehmen, konkurrieren miteinander. Die Literatur macht daraus eine geteilte Geschichte, es ist die Migrantin Martynova, die eine Kreuzung im Sinne einer Histoire croisée, mit Werner und Zimmermann gesprochen ein „Gewebe von Verbindungen“, allererst herstellt. Das Gewebe ist hier der literarische Text, die Zeit- und Raumstruktur, die der Roman inszeniert.
19 Vgl. dazu Jörg Ganzenmüller: Nebenkriegsschauplatz der Erinnerung: Die Blockade Leningrads im Gedächtnis der Deutschen. In: Osteuropa 61 (2011), S. 7–22. 20 Jörg Ganzenmüller: Das belagerte Leningrad 1941–1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern. Paderborn u.a.: Schöningh 2005, S. 363. 21 Vgl. auch Antje Leetz (Hg.): Blockade: Leningrad 1941–1944. Dokumente und Essays von Russen und Deutschen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992.
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Die deutschen und die russischen Figuren in Martynovas Roman haben ganz unterschiedliche Perspektiven auf die historischen Ereignisse, was ihre Reaktionsweisen bis in die Gegenwart prägt. Man kann auch hier von einer „Asymmetrie der Zeitstruktur“ sprechen. „Aber auch Andrjuschas Mutter sagte mir, als ich am Neujahrstag bei ihr zum Essen war, jedes Jahr muss sie in dieser Nacht an die Bombardierungen denken.“ (M 38) Für die deutsche Seite hängen die Jahre 1941–1945 und 2006 auf eine andere Weise zusammen als für die russische, das Silvesterfeuerwerk ruft für Andreas’ Mutter – der hier in seiner russischen Variante (Andrjuscha) benannt wird – „die amerikanischen Bomben“ auf. „Oder waren das schon russische Kanonen?“ (Ebd.) Und das ist keine Frage, die nur eine bald verschwundene Generation betrifft. Als ich geboren wurde, lag zwischen mir und dem Zweiten Weltkrieg ein Vierteljahrhundert. Dieser Krieg […] war für mich als Kind fast so fern wie die Napoleonkriege, die Punischen Kriege oder der Spanische Erbfolgekrieg. […] Heute ist mir der Zweite Weltkrieg, der im Sumpf der Geschichtsschreibung immer tiefer versinkt, viel gegenwärtiger als damals. Mein Vater ist tot, Andrjuschas Vater ist tot, ich sehe, wie die Nachwelt die Geschichte umschreibt. Vor einem Jahr hörte ich Radio im Frühstücksraum eines Dresdener Hotels. Das war am 22. Juni, am Jahrestag des deutschen Angriffs auf Russland. Der Sprecher sagte, die Russen beharrten immer noch darauf, dass ihr Land an diesem Tag von Deutschland angegriffen worden sei. […] Ich sagte Andreas: „Die Sieger schreiben die Geschichte. Doch die Geschichte Russlands schreiben die Besiegten.“ (M 136f.) Diese Variation von Walter Benjamins berühmtem Diktum, dass die Geschichte immer die Geschichte der Sieger ist,22 verdeutlicht die geschichtspolitische Relevanz auch für die Gegenwart. Nach Heinrich August Winkler lässt sich Geschichtspolitik als „Kampf um das richtige Gedächtnis“ und „Inanspruchnahme von Geschichte für Gegenwartszwecke“23 definieren. Genau damit, mit einer politics of memory, haben wir es hier zu tun. Mit Jan und Aleida Assmann 22
„Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugute.“ (Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften. Hg. Rolf Tiedemann und Wolfgang Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, Bd. I/2, S. 691–704, S. 696). 23 Heinrich August Winkler: Einleitung. In: Griff nach der Deutungsmacht. Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland. Hg. ders. Göttingen: Wallstein 2004, S. 1–13, S. 11f.
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könnte man sagen, dass Martynova etwas aus dem russischen ‚kommunikativen Gedächtnis‘ in das deutsche ‚kulturelle Gedächtnis‘ überführt bzw. allererst einführt. Das scheint mir ganz generell ein sehr wichtiger Aspekt der deutschsprachigen Literatur mit osteuropäischem Hintergrund zu sein, der in all den Debatten über Inter- und Transkulturalität, die Kategorien wie Hybridität oder den Dritten Raum ins Zentrum stellen, häufig vernachlässigt wird. Die innere Vernetzung von Olga Martynovas Roman, die sich als Simulation eines in sich verschlungenen Gedächtnisses, eines individuellen wie eines kollektiven lesen lässt, sei noch an einem weiteren Detail gezeigt. Als sich Marina und Andrjuscha in der Silvesternacht auf das den (interkulturellen) Chronotopos aufrufende und begründende Eis der Newa wagen und ihnen das Neue Jahr entgegenkommt, heißt es: „Ich fühlte mich wie ein Luftballon, hohl und mit dunklem leichten Edelgas gefüllt, gewichtlos vor Angst.“ (M 15) Was hier zunächst wie ein kontextloser Vergleich wirkt („Ich fühlte mich wie ein Luftballon“), wird im weiteren Verlauf des Textes mit dem Autor verknüpft, für den sich Marina in Deutschland aufhält: Daniil Charms. Ein auf 2006 datiertes Kapitel mit der Überschrift „Beschleuniger der Zeit“ beginnt folgendermaßen: Vor dem Haus gehen Studentinnen des Haussohnes, der Kunstgeschichte lehrt, mit Sektgläsern (die Gläser haben Gänsehaut) langsam hin und her. Wir schließen uns der Gesellschaft an. Noch ziemlich aufgeregt und zugleich ermattet, wie ich immer nach einem Vortrag bin, ertappe ich mich dabei, ein Gesellschaftsspiel vorzuschlagen. Das Spiel – Beschleuniger der Zeit – hat Daniil Charms erfunden: Man nimmt seinem Neffen einen mit Edelgas gefüllten Luftballon weg, der einen Teil seines Gases schon verloren hat, schon schlapp geworden ist, schon nicht mehr nach oben strebt, sondern in der Luft steht und eine gewisse Neigung zum Niedersinken aufweist. Man stellt sich vor, das sei eine hölzerne Kugel. Man ist ruhig, man liest, trinkt Tee, schaut aus dem Fenster, telefoniert – und all das innerhalb dieser einzelnen Sekunde, die diese hölzerne Kugel nach unten bringt (die sie nach unten gebracht hätte, wäre sie tatsächlich aus Holz), dieser dank des Charms’schen Drehs ausgedehnten Sekunde. So badet man in der Zeit, bekommt tausendfach mehr von dieser kostbaren Substanz. Nur würde ich das Spiel Verlangsamer der Zeit nennen. (M 79) Auch das betont wieder die ‚Asymmetrie der Zeit‘, je nach Wahrnehmungsperspektive wird der Vorgang – der hier natürlich zunächst einmal nichts mit Historie zu tun hat – als Beschleunigung oder als Verlangsamung wahrgenommen.
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Als 1991 die Sowjetunion untergeht – Marina plant gerade ihre erste Deutschlandreise – wird das so beschrieben: Nur über den Plätzen Leningrads (nicht lange mehr, zwei Wochen später waren sie bereits zu Plätzen Petersburgs geworden) hingen unsichtbare, aber spürbare Ballons, die mit der Begeisterung der siegenden Massen gefüllt waren, aber einen Teil ihrer Füllung bereits verloren hatten und nicht mehr nach oben strebten, sondern, schon etwas schlapp, in der Luft standen und eine gewisse Neigung zum Sinkflug aufwiesen – – – (M 159) Verständlich ist das nur, wenn man die Verbindung zu Charms herstellen kann. Dieses Bild der schlapp gewordenen Luftballons wiederholt sich noch einmal, als Marina 2002 mit Andreas ein Wochenende in Rom verbringt: „Als wir endlich auf dem Petersplatz waren, war schon alles vorbei, die Menge ging auseinander, nur unsichtbare, aber spürbare Ballons hingen in der Luft, mit Begeisterung gefüllt, doch sie hatten einen Teil ihrer Füllung bereits verloren, waren etwas schlapp geworden und strebten nicht mehr nach oben, sondern standen in der Luft und wiesen eine gewisse Neigung zum Sinkflug auf“ (M 163). „Andreas war sauer und ich sagte ihm, was ich von Massenbegeisterung halte“ (ebd.). Diese transkulturelle Zusammenführung von Raum und Zeit (hier auch von Petersburg und Petersplatz) auf der Textebene kulminiert kurz vor Schluss des Romans in einem auf 1941–1942 und 2006 datierten Kapitel mit der Überschrift „Ich habe Angst vor den Geheimnissen der Zeit“ (M 190): „Es wandelt niemand ungestraft unter dem trockenen Regen des Stundenglases“ – natürlich ist das eine Anspielung auf eine der interkulturell einschlägigen Stellen aus Goethes Wahlverwandtschaften („Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiß in einem Lande wo Elephanten24 und Tiger zu Hause sind“,25 schreibt dort Ottilie in ihr Tagebuch; in Martynovas Roman nimmt zuvor eine der russischen Figuren des Romans die Wahlverwandtschaften als Reiselektüre mit nach Deutschland, „er wollte in Deutschland etwas Deutsches lesen“ (M 142)). 24 Untergründig wird hier das Kapitel „Russland ist die Heimat der Elefanten!“ (M 44) aufgerufen, in dem davon erzählt wird, wie 1714 der erste Elefant aus Persien nach Petersburg gekommen war. 25 Im Abschnitt „Aus Ottiliens Tagebuch“ im 7. Kapitel des 2. Teils (Johann Wolfgang Goethe: Wahlverwandtschaften. In: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. Karl Richter und Christoph Siegrist. München: btb 2006, Bd. 9, S. 457).
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Es wandelt niemand ungestraft unter dem trockenen Regen des Stundenglases, und die Gesinnungen ändern sich gewiss, wenn ein Stundenglas von innen gesehen wird, die Sandkörnchen, die Gänsehaut der Zeit26 […] … Es wandelt niemand ungestraft und die Gesinnungen ändern sich gewiss … Wwedenskij und Charms haben diese Kribbelbläschen der Zeit aus der Nähe gesehen; sie waren dabei, die Geheimnisse der Zeit zu lüften. Beinahe haben sie es geschafft, aber dann wurden sie von den vereinigten Kräften von Hitler & Stalin vernichtet: Charms, der kurz vor dem Kriegsausbruch vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet wurde, verhungerte im Gefängnisspital, einer der Millionen Hungertoten in Leningrad während der deutschen Belagerung; Wwedenskij wurde in Charkow kurz vor dem Einmarsch der deutschen Truppen als unzuverlässiges Element gefangengenommen und auf dem Häftlingstransport erschossen. Als er im Schnee lag, weil er vor Schwäche nicht weiter gehen konnte, hatte er vor dem Gewehrlauf nur diese eine Sekunde, die er als die einzig existierende entdeckt hatte: Denn bevor die neue Sekunde dazu kommt, wird die alte verschwinden. Das könnte man so darstellen: ØØØØØØ ØØØØO Nur sollten die Nullen nicht durchgestrichen werden, sondern wegradiert. (M 190f.) Das Letzte ist ein Zitat aus Aleksandr Vvedenskijs Grauem Heft,27 das hier an die Seite von Ottilies Tagebuch in den Wahlverwandtschaften tritt, zusammengeführt werden Goethe und die russische Avantgarde-Tradition in den Personen von Charms und Vvedenskij. Olga Martynova betreibt in ihrem Roman eine solche Verlangsamung der Zeit, wie sie Charms/Martynova proklamieren, die den vergessenen historischen Untergrund der interkulturellen Begegnung zwischen Russen und Deutschen oder verallgemeinert zwischen Osteuropäern und Deutschen aufruft und durch die literarische Struktur im Sinne einer Histoire croisée eine Vernetzung deutscher und russischer Geschichte herstellt.
26 Was über die Gänsehaut wiederum einen Bezug zu den Sektgläsern und dem Champagner auf der zugefrorenen Newa herstellt. 27 Vgl. Aleksandr Vvedenskij: Das Graue Heft. In: Schreibheft, H. 39 (1992), S. 26–33, S. 32.
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Auf diese Vernetzung weist sie auch in ihrem letzten, 2016 erschienenen Roman Der Engelherd hin. Im Mittelpunkt dieses Buches steht mit der „Euthanasie“, der Ermordung von ca. 300.000 geistig und körperlich behinderten und psychisch kranken Menschen durch die Nationalsozialisten, der Karriere der Täter nach 1945 und den Nachwirkungen bis heute ein sehr deutsches Thema. Es gibt aber eine historische Ebene, die ein deutsch-russisches Element in der Vorgeschichte der „Euthanasie“ zu Tage fördert. Erzählt wird neben Friedrich Hölderlin, der in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts wohl auch der „Euthanasie“ zum Opfer gefallen wäre, von dessen „russische[m] Doppelgänger“28 Konstantin Batjuschkow, in der Anschauung des 19. Jahrhunderts genauso geisteskrank wie Hölderlin. Der deutsche Arzt Anton Gotthelf Dietrich begleitet ihn auf seiner Reise „aus der musterhaften sächsischen Irrenklinik im Schloss Sonnenstein bei Pirna nach Moskau“.29 Der russische Zar Alexander I. hatte Batjuschkow im Schloss Sonnenstein untergebracht, denn „was kann besser sein als eine deutsche Klinik mit deutschen Ärzten“;30 „dort im sächsischen Sonnenstein quält man die Kranken nicht mit Masken, es gibt eine Bibliothek, es gibt ein Klavier, es gibt gütige Doktoren. Es gibt, wie bei einem Schloss zu erwarten ist, auch eine geheime Gruselkammer, die hier Gaskammer heißt.“31 Der Sprung von der Gruselkammer zur Gaskammer erscheint zunächst vielleicht als sehr willkürlich, fast frivol. Dieser Eindruck ändert sich aber, wenn man weiß, dass genau in diesem Schloss Sonnenstein, in dem Batjuschkow vier Jahre lang, von 1824 bis 1828, nach den Regeln der damaligen Zeit behandelt worden war, sich die „Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein“ befand, in der zwischen Juni 1940 und September 1941 laut Angaben der Gedenkstätte PirnaSonnenstein im Rahmen der Aktion T4 13.720 Menschen in einer Gaskammer ermordet wurden, darunter über 1.000 Häftlinge aus Konzentrationslagern.32 Die aus Russland stammende Autorin deckt hier eine untergründige deutschrussische Vernetzung auf; die deutsche Geschichte ist in Teilen auch eine russische Geschichte und umgekehrt. „Ich frage mich“, sagt eine Figur in diesem Roman mit gereizter Stimme, „sprecht ihr so viel über Russland, nur wenn ich da bin, oder ist das das einzige Thema, das alle interessiert?“ Fabian, der hier geboren war und Russisch zwar fließend, aber mit deutschem Akzent sprach, der nie in 28 29 30 31 32
Olga Martynova: Der Engelherd. Frankfurt a.M.: Fischer 2016, S. 129. Ebd. Ebd., S. 130. Ebd., S. 131. Vgl. https://www.stsg.de/cms/pirna/startseite, zuletzt geprüft am 24.4.2019.
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Russland gewesen war, weil seine Eltern, Kinder von politischen Emigranten aus der Sowjetunion, „mit diesem Land“ nichts zu tun haben wollten, […] konnte nicht einsehen, warum seine russische Herkunft, die er nie verleugnete, die für ihn aber zweitrangig war, von den anderen als seine charakteristischste Eigenschaft betrachtet wurde.33 Die in der Sowjetunion geborene Olga Martynova, die fließend Deutsch, aber mit russischem Akzent spricht, handelt seit ihrem ersten Roman Sogar Papageien überleben uns in der Tat nicht von Russland, sondern von deutschrussischen Vernetzungen, die aber wiederum nicht in Kategorien wie Hybridität, Dritter Raum usw. aufgehen. Ihre Texte leisten vielmehr ziemlich exakt das, was Werner und Zimmermann – wie eingangs zitiert – für die Histoire croisée proklamieren: es überkreuzen und verschränken sich „topologische Faktoren wie Beobachtungen, Blickrichtungen, Sichtweisen, Perspektiven“, aber auch „Menschen, Migranten, die ein Gewebe von Verbindungen vielfältiger Art herstellen“.34 Es ist die Migrantin Olga Martynova, die sich selbst zu einem „aktiven Verflechtungsfaktor“35 macht; Ort dieser Verflechtung ist das Gewebe des literarischen Textes. 33 Martynova: Engelherd, S. 90f. 34 Werner und Zimmermann: Vergleich, S. 618. 35 Ebd.
Teil II Marktmechanismen und Platzierung im strategischen Feld
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kapitel 5
Chance, Falle, Marketing: Herkunft als Kriterium in Literaturbetrieb und Literaturkritik Brigitte Schwens-Harrant Die Behauptung von Roland Barthes aus dem Jahr 1968 hat an Aktualität seither kaum verloren, im Gegenteil: „das Bild der Literatur, das man in der gängigen Kultur antreffen kann, ist tyrannisch auf den Autor ausgerichtet, auf seine Person, seine Geschichte, seine Vorlieben und seine Leidenschaften“.1 Die Fokussierung auf die Person gilt heute, im Zeitalter von Internet und Social Media, mehr denn je, nicht nur im Literaturbetrieb. Die Werbung setzt auf prominente Gesichter, die Musikbranche positioniert leicht bekleidete Sängerinnen auf das CD-Cover, als müssten diese ihre Körper verkaufen und nicht die Songs, der Journalismus liefert Human Touch.2 Das Prinzip aller erfolgreichen Medien lautet: Wenn du eine Geschichte erzählst, dann überlege dir, welche Menschen in ihr eine Rolle spielen! […] Nur wer seine Leser langsam, aber sicher vergraulen will, der erlaube sich, auf Menschen im Zentrum seiner Texte zu verzichten.3 Diese Tendenz gilt auch für den Literaturbetrieb: Autoren erklären ihr eigenes Werk, Homestorys zeigen sie am Schreibtisch oder beim nachdenklichen Wandern, und wer sich der Kamera verweigert und auf Homepages und Facebook verzichtet, hat es schwer, sichtbar zu bleiben. Die ökonomischen Notwendigkeiten spielen diesem Trend in die Hände. Denn vor allem durch öffentliche Auftritte, durch Lesungen und Literaturevents kommen Autorinnen und Autoren zu ihrem Einkommen, das heißt, zugespitzt: nicht durch ihre Texte, sondern durch ihr persönliches Auftreten.
1 Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Ders.: Das Rauschen der Sprache. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 57–63, S. 58. 2 Vgl. Brigitte Schwens-Harrant: Literaturkritik. Eine Suche. Innsbruck: StudienVerlag 2008, vor allem S. 13–18. 3 Wolf Schneider und Paul-Josef Raue: Das neue Handbuch des Journalismus. 2., üb. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 131.
© Koninklijke Brill NV, Leiden, 2021 | doi:10.1163/9789004466234_007
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Die Fokussierung auf die Person bringt Maßstäbe und Kriterien ins Spiel, die sich nicht auf den literarischen Text, sondern auf die Autorin, den Autor beziehen und ebenfalls an die Zeit und das gesellschaftliche und mediale Umfeld gekoppelt und von ihm geprägt sind: Körper und Aussehen, Beredsamkeit und rhetorische Fähigkeiten, Stimme und Performance, selbst moralische, politische und ideologische Fragen können zum Thema werden. Und die Herkunft. „Mit ihrem Leben verwirklichen die Dichter eine literarische Aufgabe. Und genau diese literarische Biographie brauchte auch der Leser“,4 schrieb der russische Linguist und Literaturwissenschaftler Boris Tomaševskij bereits 1923, der die Bedeutung von Autorenlegenden scharfsichtig analysierte. Dass für eine solche Legende auch eine besondere Erzählung der Herkunft nützlich sein kann, bewies der österreichische Autor Raoul Schrott, der mehrere Versionen seiner Herkunft in Umlauf brachte. 2005 erklärte er in einem Essay, um „um die geforderte eine, endgültige Biographie herumzukommen, da mußte ich mir schon etwas einfallen lassen, also schrieb ich deren gleich zwei“.5 Vor allem Schrotts Legende von seiner Geburt auf einem Schiff auf dem Weg nach Brasilien wurde gerne aufgegriffen, eine internationale Schiffsgeburt scheint interessanter zu sein als eine Tiroler Kindheit. Raoul Schrott reagierte damit auf die Einsicht, dass der Literaturbetrieb „das zweitälteste Gewerbe der Welt ist“ und „daß man auf irgendeine Weise wohl oder übel seine Haut zu Markte tragen muß“.6 Die Fokussierung auf den Autor, die Autorin bedeutet auch, dass, was Autoren über ihre eigenen Werke oder über die Situation der Welt zu sagen haben, wichtiger ist als das literarische Werk selbst. Autoren sezieren in Interviews ihr Werk und erklären vor laufender Kamera oder in Essays die Lage der Nation. Das politische Statement, klagte Richard Wagner, verwandle sich in der Mediengesellschaft „zum Akt der Selbstdarstellung des Autors“.7 Sich dem zu verweigern, hieße freilich, sich der Möglichkeit zu begeben, sichtbar zu sein. Mit der Sichtbarkeit aber steigt der Marktwert, und mit Aufmerksamkeit des Publikums ist gerade bei politischen und gesellschaftspolitischen Fragen zu rechnen. Dieser Trend zeigt sich auch hinsichtlich des Unterscheidungskriteriums ‚Herkunft‘. 4 Boris Tomaševskij: Literatur und Biographie. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. und komm. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Stuttgart: Reclam 2007, S. 49–61, S. 55. 5 Raoul Schrott: De Personis & Larvis Earumque Apud Veteres Usu Et Origine Syntagmation oder Über eine Schiffsgeburt auf dem Weg nach Brasilien. In: Ders.: Handbuch der Wolkenputzerei. Gesammelte Essays. Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 17–30, S. 23. 6 Ebd., S. 20. 7 Richard Wagner: Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes. Berlin: Aufbau 2006, S. 241. Vgl dazu auch Schwens-Harrant: Literaturkritik, S. 15.
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Ich will nicht mitmachen, obwohl es genau das ist, was man notorisch von mir erwartet. Man interviewt mich zum Beispiel anlässlich der besagten Gastprofessur für deutsche Poetik und fragt fast ausschließlich nach der aktuellen politischen Lage in Russland. Jedoch ist meine Meinung (im Allgemeinen und in diesem Fall im Besonderen und besonders) zu dieser aktuellen Lage viel weniger relevant als meine Meinung zur deutschen Poetik, was mir noch kein Interviewer glauben wollte.8 Autorinnen und Autoren, die migriert sind, werden zu Stellvertretern für eine ganze Gruppe, Kultur, Nation. Wer aus Syrien kommt, muss Auskunft geben können über syrische Flüchtlinge. Wer aus Russland stammt, wird reduziert auf Putins Politik. Und Migranten gelten als Experten für Migration und Heimat: „Was ist Heimat? Wenn ich für diese Frage einen Euro kriegen würde, würde ich mir zwar keine neue Heimat, aber schon ein Häuschen kaufen können“,9 feixte der in Warschau geborene und in Wien lebende Autor Radek Knapp. Unter den Tisch fällt dabei die Reflexion über die Fragwürdigkeit der Kategorie „Migranten“, die die kulturelle Diversität dieser „Gruppe“ völlig ignoriert. „Sie haben viel zu bieten und wenig gemein“,10 schrieb Ilija Trojanow und verwies auf viele Typen: „Zwischen zwei so wunderbar innovativen Autorinnen wie Emine Sevgi Özdamar und Terézia Mora liegt ein ganzer botanischer Garten an Differenz.“11 Die fragwürdige und positivistische Kategorisierung findet auch Eingang in die Literaturwissenschaft, wie Leslie Adelson im Band „Literatur und Migration“ kritisch festhält: Obgleich man allgemein einsieht, dass Politikwissenschaft und Literaturanalyse sich auf unterschiedliche Begriffe, Medien und analytische Verfahren berufen, scheint das wachsende und vielfältige Feld der Migrationsliteratur der heute wohl einzige Gegenstand der Literaturwissenschaft zu sein, bezüglich dessen ein fest verwurzelter soziologischer Positivismus weiterhin vorherrscht. Dieser positivistische Ansatz setzt voraus, dass Literatur empirische Wahrheiten über Migrantenleben widerspiegelt und dass die Biografien von Autoren ihre Texte so 8
Olga Martynova: Über die Dummheit der Stunde. In: Dies.: Über die Dummheit der Stunde. Essays. Frankfurt a.M.: Fischer 2018, S. 108–114, S. 111. 9 Radek Knapp: „Ich bin in mir beheimatet.“ In: Brigitte Schwens-Harrant: Ankommen. Gespräche mit Dimitré Dinev, Anna Kim, Radek Knapp, Julya Rabinowich, Michael Stavarič. Wien: Styria 2014, S. 87–126, S. 92. 10 Ilija Trojanow: Migration als Heimat. Von den literarischen Früchten der Entwurzelung und den Agenten der Mehrsprachigkeit. In: Neue Zürcher Zeitung, 30.11.2009, S. 23. 11 Ebd.
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gründlich erklären, dass es nahezu überflüssig ist, diese literarischen Texte zu lesen. Das erspart Lesern und Kritikern eine Menge Zeit. Das literarische Gewicht selbst bleibt indessen unbemerkt.12 Welche Rolle spielt nun angesichts dieser generell wahrzunehmenden Fokussierung auf Person und Biografie das Thema Herkunft im Literaturbetrieb? Ist Heimat ein entscheidendes Kriterium bei der Klassifizierung, Bewerbung und Beurteilung von Literatur? Dieser Frage möchte ich im Folgenden anhand dreier Bereiche nachgehen: (1) Literaturpreise, (2) Verlagswesen und Marketing, (3) Literaturkritik im klassischen Print-Feuilleton. 1
Literaturpreise
Mehr noch als ökonomisches erhalten Autorinnen und Autoren symbolisches Kapital, wenn sie mit Preisen ausgezeichnet werden. Literaturpreise richten sich nicht selten dezidiert an Autorinnen und Autoren bestimmter Herkunft oder eines Wohnortes, formulieren also klare Ein- und Ausschlusskriterien. So gibt es etwa Preise von Gemeinden (bzw. Bundesländern oder vom Staat), die sich ausschließlich an ihre Mitglieder richten, dabei oft aber nicht nur dort Geborene zulassen, sondern auch eines Tages Hinzugezogene berücksichtigen. Herkunft ist jedenfalls ein Kriterium bei Preisen, die sich dezidiert an „Autoren nicht deutscher Muttersprache“ richten, und derer gibt es einige. In Österreich wird der Preis „Schreiben zwischen den Kulturen“ von der edition exil seit 1997 jährlich vergeben und der „Hohenemser Literaturpreis“ richtet sich seit 2009 an deutschsprachige Autorinnen und Autoren nicht deutscher Muttersprache. Derartige Preise lassen annehmen, so etwa Anna Kim, es sei „derzeit für ‚migrantische‘ Autoren sogar leichter“, „in den Betrieb hineinzukommen“.13 Der im deutschen Sprachraum bekannteste, der renommierte Adelbertvon-Chamisso-Preis, wurde 1985 von der Robert-Bosch-Stiftung gegründet, „damals definiert als Auszeichnung für deutsch schreibende Autoren nicht deutscher Muttersprache“.14 Die Liste der Autoren, die den Chamisso-Preis oder den Förderpreis seither erhielten – darunter Rafik Schami, György Dalos, José F.A. Oliver, Emine Sevgi Özdamar, Ilija Trojanow, Terézia Mora, Aglaja 12 Leslie A. Adelson: Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwischen. In: text + kritik. Sonderband: Literatur und Migration (2006), S. 36–46, S. 38. 13 Anna Kim: „Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, wenn man eine Heimat hat.“ In: SchwensHarrant: Ankommen, S. 127–168, S. 143. 14 https://www.bosch-stiftung.de/de/projekt/adelbert-von-chamisso-preis-der-robert -bosch-stiftung, zuletzt geprüft am 23.5.2019.
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Veteranyi, Feridun Zaimoglu, Dimitré Dinev, Saša Stanišić, Michael Stavarič, María Cecilia Barbetta, Olga Martynova und Ann Cotten – scheint zu belegen, dass dieser Preis tatsächlich vielen Autorinnen und Autoren half, im deutschsprachigen Literaturbetrieb anzukommen. Die Preisverleihung an Esther Kinsky und Uljana Wolf im Jahr 2016 zeigte eine Veränderung an, Herkunft als Kriterium wurde als nicht mehr passend empfunden. Auf der Webseite der Robert Bosch Stiftung wurde das wie folgt begründet: Die gesellschaftliche Realität zeigt heute, dass eine stetig wachsende Autorengruppe mit Migrationsgeschichte Deutsch als selbstverständliche Muttersprache spricht. Für die Literatur dieser Autoren ist der Sprach- und Kulturwechsel zwar thematisch oder stilistisch prägend, sie ist jedoch zu einem selbstverständlichen und unverzichtbaren Bestandteil deutscher Gegenwartsliteratur geworden. 2012 wurde die Definition des Preises daher erweitert.15 2017 wurden Preis und Förderpreis ein letztes Mal verliehen, und zwar an Abbas Khider, Barbi Marković und Senthuran Varatharajah. In einem Schreiben an die Preisträger begründete die Bosch-Stiftung die Entscheidung, diesen Preis einzustellen, damit, er habe „seine ursprüngliche Zielsetzung vollständig erfüllt: Autoren mit Migrationsgeschichte haben heute grundsätzlich die Möglichkeit, jeden in Deutschland existierenden Literaturpreis zu gewinnen“.16 Ein Blick in die Listen der Preisträger renommierter Literaturpreise scheint die Behauptung zu bestätigen. Ob der Preis dadurch obsolet geworden sei, wurde in der Folge heiß diskutiert. Die Wortmeldungen machten die grundsätzliche Ambivalenz der Kategorie einmal mehr deutlich: War der Preis für viele nachgewiesenermaßen eine Chance, wahrgenommen zu werden und dann im Literaturbetrieb und in der Öffentlichkeit anzukommen – „Der ChamissoPreis war für viele Autoren, auch für mich, eine Art Anschubfinanzierung, eine Ermutigung, dass man sich auf jeder Bühne beweisen kann, nicht nur im Migrantenstadl“,17 schreibt etwa Ilija Trojanow –, haderten andere angesichts der Begrenzungen durch die Schublade. Während Autorinnen und Autoren prinzipiell nicht in einen „Migrantenraum“ geschoben werden wollten, der 15 Ebd. 16 Zitiert nach: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kritik-an-bosch-stiftung-ade -chamisso-preis-14443175.html, zuletzt geprüft am 23.5.2019. Seit 2019 gibt es den ChamissoPreis/Hellerau. 17 Trojanow: Migration als Heimat, S. 23.
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sich dann „manchmal als Abstellkammer entpuppt“,18 protestierten sie doch vehement gegen die Einstellung des Preises. „Da bleibt einem die Spucke weg“, wetterten Ilija Trojanow und José F.A. Oliver in einem gemeinsamen Beitrag: Weil der Literaturbetrieb anfängliche Ressentiments gegen eingewanderte Autorinnen und Autoren abgelegt hat, soll dieses Phänomen nicht mehr beleuchtet werden? Mit anderen Worten: Das Bestreben der Bosch-Stiftung war offenbar von vornherein eher ein diakonisches, die Migrationsliteratur ein Mündel, das es aufzupäppeln galt, und nun, da es wohlgenährt scheint und zu jedem Bankett eingeladen wird, kann es verabschiedet werden. Diese Haltung ist eine paternalistische, also genau das, was Migranten und Geflüchtete auf den Tod nicht ausstehen können. Gelegentlich geäußerte Kritik, der Preis gettoisiere eine bestimmte Literatur, greift nicht – es gibt unzählige Literaturpreise, die sich eines Ausschnitts der gesamten Produktion annehmen, die nach bestimmten außerliterarischen Kriterien begrenzen. Zudem hat sich der Preis in letzter Zeit auch dem literarischen Phänomen der Mehrsprachigkeit, unabhängig von der Herkunft der Autoren, geöffnet und insofern zum Ausdruck gebracht, dass zwischen Migration und dynamischer kultureller Identität fließende Übergange [sic] bestehen. Gewiss, die Welt geht nicht unter, wenn ein Literaturpreis eingestellt wird. Aber der Zeitpunkt ist schlecht gewählt. Die mehr als eine Million Geflüchteten, die nach Deutschland eingewandert sind, werden eine eigene Literatur erzeugen. Das ist in Ansätzen schon geschehen. […] Diese Entwicklung mit Hilfe des Chamisso-Preises, der auch Förderpreise umfasste, zu begleiten, hätte der Bosch-Stiftung sehr gut angestanden.19 Die Argumentation der Bosch-Stiftung, „Autoren mit Migrationsgeschichte“ hätten „heute grundsätzlich die Möglichkeit, jeden in Deutschland existierenden Literaturpreis zu gewinnen“,20 scheint sich allerdings angesichts der Preisverleihungen der vergangenen Jahre zu bestätigen. Als Zäsur gilt der Bachmannpreis an Emine Sevgi Özdamar im Jahr 1991. Während das erste Buch der Autorin, Mutterzunge, 1990 beim Rotbuch Verlag erschienen war, kam ihr Roman Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus – nachdem die Autorin den Bachmannpreis 18 Kim: „Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, wenn man eine Heimat hat“, S. 145. 19 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kritik-an-bosch-stiftung-ade-chamisso -preis-14443175.html, zuletzt geprüft am 23.5.2019. 20 Ebd.
Herkunft als Kriterium in Literaturbetrieb und Literaturkritik
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erhalten hatte – bei Kiepenheuer & Witsch heraus, sie war damit im Literaturbetrieb als anerkannte Autorin angekommen.21 Aus einer Literatur, die es bis dahin immer auch nötig gehabt hatte, dass man sie „förderte“, die gewissermaßen einen Minderheitenbonus gebraucht hatte oder gebraucht zu haben schien und eher eine Nische in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gebildet hatte, die von den Verlagen mit einem stark moralischen Anspruch gepflegt wurde, war eine literarische Größe und Macht geworden. Die Autoren waren jetzt begehrt. Das Auftreten von Feridun Zaimoglu oder Wladimir Kaminer umgibt heute die Aura von Pop-Ereignissen. Sie haben einen Kultstatus erlangt, der auch die engen Grenzen der Literaturszene überschreitet.22 Inzwischen wären die Autorinnen und Autoren, konstatierte Martin Hielscher bereits 2006 und argumentierte damit ähnlich wie elf Jahre später die Bosch-Stiftung, „nicht mehr die Außenseiter des deutschen Literaturbetriebs, für deren Schutz man sorgen muss. Sie sind selbst zu einer Definitionsmacht geworden.“23 Als Olga Martynova, die in Leningrad aufwuchs und seit 1990 in Deutschland lebt, 2012 mit dem Bachmannpreis ausgezeichnet wurde und im Jahr darauf Katja Petrowskaja, die in Kiew geboren wurde und seit 1999 in Berlin lebt, schien sich diese Feststellung in besonderer Weise zu bewahrheiten. „Nach Olga Martynowa im vergangenen Jahr hat somit erneut eine Autorin aus dem slawischen Kulturkreis gewonnen, was bis zu einem gewissen Grad ja auch schon für die Preisträgerin 2011 gilt, denn Maja Haderlaps Erst- und Lyriksprache ist das Slowenische“,24 schrieb die Tageszeitung Kurier und betonte damit im Fall der Kärntner Slowenin Haderlap einen ‚anderen‘ „Kulturkreis“. 2016 ging der Preis an Sharon Dodua Otoo, 2018 an Tanja Maljartschuk. Die Präsenz von Autorinnen und Autoren mit nicht deutscher Muttersprache im Literaturbetrieb zeigt sich auch beim Schweizer Buchpreis, den 2009 Ilma Rakusa, 2010 Melinda Nadj Abonji und 2011 Catalin Dorian Florescu erhielten. 2018 schließlich ging der renommierteste Literaturpreis des deutschen Sprachraums, der Georg-Büchner-Preis, an Terézia Mora. 21
Vgl. Martin Hielscher: Andere Stimmen – andere Räume. Die Funktion der Migrantenliteratur in deutschen Verlagen und Dimitré Dinevs Roman „Engelszungen“. In: text + kritik. Sonderband: Literatur und Migration (2006), S. 196–208. 22 Ebd., S. 198. 23 Ebd., S. 207. 24 https://kurier.at/kultur/katja-petrowskaja-gewinnt-37-bachmann-preis/18.220.352, zuletzt geprüft am 3.11.2018.
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Verlagsmarketing
Preise bedeuten Aufmerksamkeit und die Diskussionen um das Besondere der Literatur aus nicht deutschsprachigen Kulturräumen wissen auch Verlage für ihr Programm zu nutzen. Ein traditionelles Mittel der Verlagswerbung sind immer noch jene Prospekte, die nicht nur die Medien, sondern vor allem den Buchhandel auf Neuerscheinungen aufmerksam machen wollen. Dass sich das Label ‚interkulturelle/r Autorin/Autor‘ in einer besonderen Häufung und als „Definitionsmacht“25 wiederfindet in den Verlagsproduktionen, lässt sich nach exemplarischer Durchsicht der Programme renommierter Verlage des Jahres 2017 quantitativ allerdings nicht bestätigen.26 In Bezug auf die gesamte Produktion dieser Verlage ist Literatur von Autorinnen und Autoren nicht deutscher Muttersprache allerdings selbstverständlich präsent, aber nicht in einem Ausmaß, das als „Definitionsmacht“ bezeichnet werden könnte. Die Präsentation in den Werbemitteln der Verlage entspricht dem eingangs genannten Trend zur Fokussierung auf den Autor, die Autorin. Seitengroße Fotografien der Autorinnen und Autoren samt biografischer Angaben sind in großen Verlagen die Regel. Das gilt grundsätzlich und unabhängig von der Herkunft. Sieht man sich die Vermarktung der Literatur von Autorinnen und Autoren nicht deutscher Muttersprache genauer an, so finden sich aber doch Hinweise, dass Herkunft als Unterscheidungsmerkmal ins Spiel gebracht wird. Der Aufbau Verlag präsentiert Lana Lux’ Debütroman Kukolka mit einem biografischen Verweis auf die Herkunft, Stichworte wie „Kontingentflüchtling“ erregen Aufmerksamkeit und verweisen auf die gesellschaftliche Aktualität. Zwar wird dies nicht groß hervorgehoben, aber die beiden Zitate der prominenten Kolleginnen Lena Gorelik und Olga Grjasnowa legen eine weitere Spur: Beide gelten ebenfalls als in die deutsche Sprache migriert, ihre Nennung hier funktioniert also nach dem Motto: Kunden, die Lena Gorelik und Olga Grjasnowa gekauft haben, werden sich auch für Lana Lux interessieren. Erwähnenswert scheint hier das Buchcover, das auffällig bunt mit Exotik spielt und mit dem der Aufbau Verlag auch seinen Prospekt covert.
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Hielscher: Andere Stimmen – andere Räume, S. 207. In den Frühjahrsprogrammen finden sich Autorinnen und Autoren wie Olga Grjasnowa (Aufbau), Michael Stavarič (Czernin), Mascha Dabić (Edition Atelier), Sharon Dodua Otoo (Fischer Taschenbuch), Zsuzsa Bánk, Ilija Trojanow (Fischer), Tijan Sila, Alina Bronsky (KiWi), Michael Stavarič (Luchterhand), Lena Gorelik (Rowohlt Berlin), Stanisław Strasburger (Secession; dort auch eine Anthologie), Radek Knapp (Deuticke). In den Herbstprogrammen u.a.: Lana Lux (Aufbau), Catalin Dorian Florescu (C.H. Beck), Nicol Ljubić (dtv), Mitja Vachedin (DVA), Melinda Nadj Abonji, Doron Rabinovici (Suhrkamp).
Herkunft als Kriterium in Literaturbetrieb und Literaturkritik
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Abbildung 1 Lana Lux und ihr Roman Kukolka in der Vorschau des Aufbau Verlags, Herbst 2017
Mitja Vachedins Roman Engel sprechen russisch präsentiert die Deutsche Verlagsanstalt mit einem Zitat in Ich-Form auf der linken Seite, das augenfällig auf das Thema Herkunft verweist: „Wie Zahnpasta bestehe ich aus drei Schichten: zehn Jahre sowjetische Kindheit, zehn Jahre wilder russischer Kapitalismus, zehn Jahre Westdeutschland. Rot, blau, weiß – mein russisch-deutsches Zahnpastaleben.“ Die Bedeutung der Biografie wird verstärkt durch den Namen des Autors, den er mit dem Protagonisten gemeinsam hat. Die rechte Seite liefert die Stichworte „überall zuhause zu sein“ und betont, dass dies der erste auf Deutsch geschriebene Roman des Autors ist. Bei der Ankündigung von Melinda Nadj Abonjis bei Suhrkamp erschienenem Roman „Schildkrötensoldat“ findet sich kein besonders auffälliger Hinweis auf biografische Herkunft. Auf der rechten Seite allerdings wird Verena Mayer aus dem Tagesspiegel zitiert: „Das ist nicht die Sprache von jemandem, der eine Anpassungsleistung vollbringt. Das ist die Wortgewalt von jemandem, der sich Sprache bemächtigt.“ Als wichtige Marketingstichworte sind hier aber vor allem der Deutsche und der Schweizer Buchpreis genannt. C.H. Beck verweist wie üblich in der Biografie auf der linken Seite kurz und eher unauffällig auf die Herkunft von Catalin Dorian Florescu. Auf der rechten Seite wird vor allem der Schweizer Buchpreis hervorgehoben. Mit Stichworten
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wie Grenzüberschreitung und Flucht wird auf aktuelle Ereignisse angespielt, doch die Herkunft des Autors steht hier sonst nicht im Vordergrund, prägender ist das Prädikat „Was für ein Erzähler!“ von Elke Heidenreich. Nach wie vor findet sich also der Verweis auf Herkunft in den Verlagsankündigungen des Jahres 2017 auffällig platziert. Bei bereits etablierten Autorinnen und Autoren treten vermehrt literaturbetriebliche Hinweise an die Stelle des Merkmals Herkunft und es wird der „Marktwert“ betont, wozu Aussagen von Prominenten wie Elke Heidenreich ebenso gehören wie die Nennung von Buchpreisen bzw. Nominierungen dafür. Ein wissenschaftliches Desiderat wäre, die vergangenen Jahre systematisch und vollständig durchzusehen. Hat es Verschiebungen gegeben, hat sich die Form des Marketings in Bezug auf Herkunft verändert? Eine solche Untersuchung müsste Inserate ebenso miteinbeziehen wie das weite Feld der Literaturvermittlung. Wie wird in Literaturhäusern und an anderen Veranstaltungsorten Literatur angeboten? Wird Literatur von Autoren nicht deutscher Muttersprache gebündelt präsentiert? Desgleichen bieten Anthologien ein interessantes Forschungsfeld. Welche Literatur wird wie begründet zusammengestellt mit Blick auf Herkunft? 3
Literaturkritik
„In Deutschland sind SchriftstellerInnen mit fremden Wurzeln wie Feridun Zaimoglu oder Ilija Trojanow auf Erfolgskurs. Wie hält es die Schweiz mit AutorInnen, die hierher gezogen sind?“ fragte Bettina Spoerri 2006 in der Schweizer WochenZeitung: In Rezensionen ist zu beobachten, dass zunehmend über den eigenen Standpunkt reflektiert wird. Ausländisch ist nicht mehr gleich einfach ausländisch, fremd nicht gleich fremd. Dies ist ein Zeichen der Sensibilisierung, das hoffen lässt. Mit der Kritik lernt auch das Publikum zu differenzieren. Vermittler, Medien und die Leserinnen sind also gefragt. Und die AutorInnen selbst, um sich nicht mehr in diese Schublade zwängen zu lassen (respektive sich selbst in sie zu manövrieren). Dann könnte es in zehn Jahren anders aussehen; vielleicht ist dann die Schweiz bereit für eine Schriftstellerin wie Terézia Mora, die doppeldeutig sagt: „Ich bin genauso deutsch wie Kafka.“ Oder für den selbstbewussten Anspruch Florescus: „Ich bin helvetischer, deutschsprachiger, europäischer Schriftsteller in einem. Ich bin deutsche Literatur ohne Wenn und Aber.“27 27
Bettina Spoerri: „Ich bin hier nicht auf Besuch“. Literatur von MigrantInnen. In Deutschland sind SchriftstellerInnen mit fremden Wurzeln wie Feridun Zaimoglu oder Ilija
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Hat Spoerri mit ihrer Prognose recht, nicht nur auf die Schweiz bezogen? Elf Jahre später merkt man bei Durchsicht von seit 2000 erschienenen Feuilletons in deutschsprachigen Printmedien28 vielen Texten noch immer die Problematik der Begrifflichkeit an. In seinem Beitrag „Migration als Heimat“ kritisierte Ilija Trojanow bestimmte Termini der Germanisten: „Literatur von Ausländern“, „Gastliteratur“, „eine deutsche Literatur von aussen [sic]“, „Migrantenliteratur“, „Chamisso-Literatur“, „Literatur nationaler Minderheiten“ und „eine nicht nur deutsche Literatur“.29 Vielen journalistischen Texten merkt man die Mühe der Verfasser an, bestimmte Begriffe nicht verwenden zu wollen, aber dann doch keine anderen zur Verfügung zu haben. Zum Vorschein kommt jenes Paradoxon, das in einem Beitrag über jene Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (sie fand unter dem Titel „Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland“ von 29. Oktober bis 1. November 2008 in Darmstadt statt) treffend formuliert wird: „Man hat sich also ein Thema vorgenommen, das eigentlich keines sein darf.“30 Man kreiert Gruppen und weiß doch um die Fragwürdigkeit dieser Gruppenbildung. Der „Wert“ der sogenannten „Migrantenliteratur“ wird dabei gerne mit Begriffen aus dem Bereich der Ökonomie bezeichnet, etwa dem Wort „bereichern“. So formuliert etwa Klara Obermüller in der Welt, Autorinnen und Autoren wie Catalin Dorian Florescu, Melinda Nadj Abonji und Ilma Rakusa verfügten über ein „Pfund“, „mit dem sie wuchern können, und das ist ihre an Brüchen, Spannungen und Konflikten reiche Lebensgeschichte.“31 Alexander Cammann nennt in seiner Büchervorschau in der Zeit die „enorme Bereicherung für die Literatur“, „jenseits aller Integrationssonntagsreden“.32 Geht man davon aus, dass Literaturvermittler Literatur generell die Fähigkeit zugestehen, ihre Leserinnen und Leser zu „bereichern“, so stellt sich die Frage, warum die Bereicherung hier so besonders betont wird.
Trojanow auf Erfolgskurs. Wie hält es die Schweiz mit AutorInnen, die hierher gezogen sind? In: WochenZeitung, 6.4.2006, S. 15f., S. 16. 28 Quelle: Innsbrucker Zeitungsarchiv (iza.uibk.ac.at). Mein besonderer Dank gilt hier Veronika Schuchter. 29 Trojanow: Migration als Heimat, S. 23. 30 Oliver Jungen: Glanz und Elend der föderalen Gelehrtenrepublik. Süchtig nach Selbstmord: Die Herbststagung der Akademie fragt nach Poetiken in unserem Einwanderungsland und ehrt Josef Winkler. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.11.2008, S. 33. 31 Klara Obermüller: Dichter von Welt. In der deutschsprachigen Literatur geben immer mehr Autoren nichtdeutscher Muttersprache den Ton an. In: Die Welt (Die literarische Welt), 24.3.2012, S. 13. 32 Alexander Cammann: Die Sprachwechsler. Ob Petrowskaja, Grjasnowa oder Stanišić: Sie schreiben deutsch. In: Die Zeit, 6.2.2014, S. 45.
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Antworten auf die Frage, warum die Bereicherung hier so besonders betont wird, finden sich in den Debatten der vergangenen Jahre über den Zustand der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur,33 aber wohl auch in der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation. In Zeiten, in denen Migrantinnen und Migranten von manchen Parteien als kulturelle Bedrohung markiert werden und Leitkultur-Konzepte Einheit beschwören, mag der Bereicherungsdiskurs die Vorteile kultureller Vielfalt betonen. Mit dieser an sich gut gemeinten und lobenswerten Absicht geschehen aber auch Zuschreibungen. Besondere Themen, um nicht zu sagen Klischees, werden mit der Literatur verbunden. Als ein Beispiel, das geeignet ist, das Problem anzudeuten, das dabei entstehen kann, zitiere ich aus dem profunden Beitrag von Klara Obermüller. Die Zuschreibung, jene Autoren, die nicht mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen sind, „haben etwas zu sagen, und sie können es auch sagen. Denn sie verfügen über eine meist unverbrauchte Sprache und stehen vielfach in einer Erzähltradition, die unbefangener mit Geschichten umgeht, als dies bei Autoren hierzulande der Fall ist“,34 impliziert in ihrer Pauschalisierung, es gäbe die eine Literatur der anderen. Den anhaltenden Erfolg eben dieser erkläre die Mischung der Faktoren, also „ungewöhnliche Lebensgeschichte“, „lebendige Erzähltradition“, „eigenwillige Sprache“.35 Vermutlich hat Klara Obermüller recht, dass diese Faktoren als Marketinginstrumente geeignet sind und den Erfolg erklären, ein kritischer Blick auf die genannten Faktoren tut aber not. Angesichts der weltweit Millionen Migranten in Zusammenhang von migrantischen Geschichten als „ungewöhnliche[n] Lebensgeschichte[n]“ zu sprechen, wirft ein Schlaglicht auf die Positionierung und auf das, was hierzulande als Norm gilt. Auch die Zuschreibung „lebendige Erzähltradition“ müsste einer genaueren Überprüfung unterzogen werden. Obermüller nennt zuvor so unterschiedliche Autoren wie Florescu, Nadj Abonji und Rakusa. Erklärt wird nicht, warum diese aus lebendigeren Erzähltraditionen kommen sollten, als der deutschsprachige Kulturbereich sie bereithält. Die Zuschreibung klingt doch sehr nach jenem Konstrukt des Orients, das Edward Said in Orientalism bereits 1978 kritisch aufdeckte. Auffallend sind hier nämlich die Oppositionen, die stillschweigend vorausgesetzt werden: ungewöhnliche Lebensgeschichte versus gewöhnliche; lebendige Erzähltradition, als wäre jene der deutschsprachigen Autoren das Gegenteil; eigenwillige Sprache, als wäre jene der deutschsprachigen Autoren 33 Vgl. dazu etwa Andrea Köhler, Rainer Moritz (Hg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig: Reclam 1998. 34 Obermüller: Dichter von Welt. 35 Ebd.
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nicht eigenwillig. „Man attestiert uns, relevante Themen zu bearbeiten und eine starke Sprache. Eine Selbstverständlichkeit in der Literatur, sollte man meinen“,36 stellt Florescu fest. Seiner Literatur etwa wird in unterschiedlichen Begriffen und Phrasen immer wieder so etwas wie ‚orientalische Üppigkeit‘ und Fabulierlust zugesprochen.37 Häufig findet sich die Argumentation, dass die Werke dieser Autorinnen und Autoren Einblick in Welten bringen, die den deutschen Lesern eher unbekannt sind. Dieses Argument vergisst, dass das jede Literatur könnte, wenn sie nur wollte. Es impliziert, Literatinnen und Literaten könnten nur über das schreiben, was ihnen bekannt ist, als ob noch nie Werke über andere Welten geschrieben worden wären, mit oder ohne Reise, entstanden auch nur in der Fantasie der Schreibenden. Diese Argumentation schließt den Stoff der Literatur mit der Lebenserfahrung der Autorinnen und Autoren kurz und schränkt deren Themen unzulässig ein, oder um es mit Saša Stanišić zu sagen: „Von einem Komponisten, der in der Nähe einer Brücke geboren wurde, darf man nicht immer Symphonien über Karpfen erwarten“.38 Doch die Literatur wird offensichtlich als so anders empfunden, dass es sogar heißt: „Es wäre bedauerlich, wenn all diese Autoren sich folgsam ins Räderwerk des deutschen Literaturbetriebs einpassen würden.“39 Damit wird einerseits der hiesige Literaturbetrieb als ein Räderwerk konstruiert, andererseits von Autorinnen und Autoren verlangt, nie anzukommen. Bedeutet das womöglich, sie sollten auch den Erfolg der deutschsprachigen Autorinnen und Autoren nicht anstreben? Wozu eine Kategorisierung nach Herkunft führen kann, hat Maxim Billers Beitrag „Letzte Ausfahrt Uckermark“ gezeigt. Biller kritisiert in seinem am 20. Februar 2014 in der Zeit erschienenen Essay, dass sich Schriftsteller sehr früh der „herrschenden Ästhetik und Themenwahl anpassen“, bemängelt den „kalten, leeren Suhrkamp-Ton“ oder „reservierten Präsensstil eines ARDFernsehspiel-Drehbuchs“. „Und auch ihre Helden sind relativ unglückliche, gesichtslose Großstadtbewohner mit nichtssagenden Nuller-Jahre-Vornamen, mit Liebes- und Arbeitsproblemen, ohne Selbstbewusstsein und festes Einkommen, dafür fest im Griff von Facebook, Clubwahn und HBO.“ Biller 36 Catalin Dorian Florescu: Ich bin nicht Florescu. „Wo kommen Sie schon wieder her?“ „Vom Limmatplatz.“ Eine Polemik gegen nationale Kernidentität und das voreilig verhängte Label „Migrationsliteratur“. In: Die Wochenzeitung (Literatur), 22.5.2014, S. 5f., S. 5. 37 Vgl. dazu Spoerri: „Ich bin hier nicht auf Besuch“, S. 15. 38 Saša Stanišić, zitiert in: Volker Weidermann: Planet Deutschland. In: Der Spiegel, 23.5.2015, S. 100–102, 104, S. 102. 39 Helmut Höge: Mannsein in Niedersachsen. Emigrantenliteratur aus Osteuropa oder: Die Marginal Man Position als Kippfigur. In: Frankfurter Rundschau, 28.10.2000, S. 19.
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kritisiert die Anpassung, das Entsprechen der Erwartungen und nebenbei den deutschen Literaturbetrieb – „echte oder habituelle Christen, als Kinder der Suhrkamp-Kultur und Enkel von halbwegs umerzogenen Nazisoldaten“ – ebenso wie „süße, naive Gastarbeitergeschichten“.40 Seine Polemik mündet in der Forderung: „Dass wir nicht deutschen Schriftsteller deutscher Sprache endlich anfangen sollten, die Freiheit unserer Multilingualität und Fremdperspektive zu nutzen.“41 Es sollte aber immer eine Story sein, die voller Leben und Widersprüche ist – und die nicht die tausend anderen leblosen, unehrlichen, indirekten, in tyrannischer Deutschunterricht-Tradition erstarrten Geschichten imitiert, die in diesem Land seit Jahrzehnten gedruckt und rezensiert, aber nicht gelesen werden. Je mehr solche wilden, ehrlichen, bis ins Mark ethnischen und authentischen Texte geschrieben und veröffentlicht werden würden, desto größer wäre das Publikum, das sie verstehen, lieben und sich mit ihnen beschäftigen würde.42 Biller benützt hier jene Kategorie vom ‚Wilden‘, ‚Ehrlichen‘, die zurückführt in koloniale Zeiten, und setzt die Dichotomien – hier das Gezähmte (die Erzählschwäche der Deutschen?) und dort das Ursprüngliche, Wilde, Archaische – als gegeben fort. Die Reaktionen auf Billers Beitrag blieben nicht aus: Schriftstellerkollegin Katja Petrowskaja bezeichnet im Gespräch seine Argumente als jene „eines lupenreinen Rassisten“,43 Klaus-Dieter Lehmann sieht Biller „die Migranten auf ihren Migrationsbezug in ihren Themen und Positionen“ festmachen44 und nach Ijoma Mangold steckt in Billers Argument „eine verteufelte positive Diskriminierung: Der Autor mit Migrationshintergrund ist nämlich nicht mehr frei, den Stoff aufzugreifen, der seinen Formvorstellungen den größten Spielraum eröffnet, statt dessen ist seine Herkunft sein literarisches Schicksal!“45
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Maxim Biller: Letzte Ausfahrt Uckermark. In: Die Zeit, 20.2.2014, S. 45f. Ebd. Ebd. In: Jan Küveler: „Dieser Krieg ist unsere Antike“. In: Welt am Sonntag, 9.3.2014, S. 48. Klaus-Dieter Lehmann: Bitte keine Vorschriften und Etiketten! Maxim Biller treibt einen Keil zwischen Migranten und Deutsche. In: Die Zeit, 27.2.2014, S. 46. Ijoma Mangold: Fremdling, erlöse uns! In der vorigen Woche schrieb Maxim Biller hier, der deutsche Literaturbetrieb zwinge zugewanderte Autoren zur Anpassung. Eine Erwiderung. In: Die Zeit, 27.2.2014, S. 46.
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Jene, die im Literaturbetrieb angekommen sind und von der Literaturkritik gefeiert werden, würden hier zum „Kollaborateur“46 gemacht. Zwar wissen die schreibenden Kritiker, dass es keine einheitliche „Migrantenliteratur“ gibt und sie thematisieren dies auch. „Gemeinsam ist diesen Werken vieles und nichts zugleich.“47 Doch die seltsame These, die Literatur von Autorinnen und Autoren nicht deutscher Muttersprache würde ein Gemeinsames ergeben, durch die nicht-deutsche Herkunft (das heißt durch das Nicht-Wir) eine Einheit des Anderen bilden, findet man hergestellt und gestärkt durch die Usance in den Medien, Bücher, egal wie formal und inhaltlich unterschiedlich sie auch seien, in Sammelrezensionen zusammenzufassen. Hier wird durch die Praktik der Sammelrezension dann oft das Gegenteil des Behaupteten getan und die Diversität nicht beachtet. Einige Beispiele sollen hier als Beleg genannt werden, die Titel sind dabei ebenso aufschlussreich wie die unterschiedlichen Bücher, die darunter subsumiert werden: „Tochtersprache. Romane von Migrantenkindern prägen diesen Bücherherbst. Sie liefern eine Außenansicht aus dem Inneren des Landes.“48 In diesem Beitrag werden Werke von Marica Bodrožić, Melinda Nadj Abonji, Alina Bronsky und Doron Rabinovici erwähnt. Marica Bodrožić, 1973 in Jugoslawien (heute Kroatien) geboren, lebt seit 1983 in Deutschland; Melinda Nadj Abonji, 1968 in Serbien, damals Jugoslawien, als Angehörige einer ungarischen Minderheit geboren, kam als Fünfjährige in die Schweiz; Alina Bronsky, 1978 in der Sowjetunion geboren, traf Anfang der 1990er Jahre in Deutschland ein; Doron Rabinovici, 1961 in Tel Aviv geboren, lebt seit 1964 in Österreich. Gemeinsam ist diesen Autorinnen und Autoren tatsächlich nur, dass sie als Kinder migrierten. Über die Literatur ist damit nichts gesagt. „Die Sprachwechsler. Ob Petrowskaja, Grjasnowa oder Stanišić: Sie schreiben deutsch.“49 Diese Büchervorschau legt den Schwerpunkt auf die Biografien respektive Herkünfte, betont wird aber, dass man die künstlerischen Biografien nicht über einen Kamm scheren könne. Fazit:
46 Ebd. 47 Obermüller: Dichter von Welt. 48 Georg Diez und Claudia Voigt: Tochtersprache. Romane von Migrantenkindern prägen diesen Bücherherbst. Sie liefern eine Außenansicht aus dem Inneren des Landes. In: Der Spiegel, 4.10.2010, S. 157f. 49 Cammann: Die Sprachwechsler, S. 45.
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So unterschiedlich diese Lebenswege sein mögen: Die neue Sprache erwies sich bei allen als machtvolles Medium künstlerischen Ausdrucks, in intensiver Anverwandlung, vielschichtiger Neubearbeitung, spielerischer Spiegelung. Herkünfte wurden in ästhetische Form verwandelt – bis sie sich gar nicht selten in ihr auflösten.50 Was das bedeuten mag, wird in diesem Beitrag nicht erklärt. Weitere Beispiele für Sammelrezensionen: „Der Roman ist ein Fremder. Die deutschsprachige Literatur kennt schon lange eine Vielzahl von Herkunftsländern. Jetzt rücken die Geschichten von Migranten ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Vorausblick auf einen Bücherfrühling im Zeichen der Flüchtlingskrise.“51 „Eroberung der Zwischenräume. Sprache ist das Mittel der Annäherung: Die ‚Chamisso-Autoren‘ erzeugen intelligente Sprachmixturen, die der gesellschaftlichen Entwicklung voraus sind.“52 „Zwischen die Fronten geraten. Derek Walcott, Michael Ondaatje, Rafik Schami: Die Literatur verarbeitet die Entwurzelungen von Menschen multiethnischer Herkunft“.53 „Freund und Feind. Zahlreiche Romane beschäftigten sich 2015 mit den Fremden und den Folgen der Migrationsbewegung für westliche Gesellschaften“54 (hier wird auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen verwiesen und in 69 Zeilen werden fünf Bücher vorgestellt). „Das Paradies ist anderswo. Neue Stimmen in der Literatur der Migration“.55 Die Literaturkritik, die in vielen Beiträgen die Kategorisierungen reflektiert und zurecht in Frage stellt, nimmt in derartigen Praktiken – Dichotomisierung einerseits durch Exotisierung, andererseits durch pauschalisierende Gruppierungen – diese Kategorisierung nach dem Unterscheidungsmerkmal 50 Ebd. 51 Richard Kämmerlings: Der Roman ist ein Fremder. Die deutschsprachige Literatur kennt schon lange eine Vielzahl von Herkunftsländern. Jetzt rücken die Geschichten von Migranten ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Vorausblick auf einen Bücherfrühling im Zeichen der Flüchtlingskrise: In: Die Welt (Die literarische Welt), 6.2.2016, S. 1. 52 Björn Hayer: Eroberung der Zwischenräume. Sprache ist das Mittel der Annäherung: Die „Chamisso-Autoren“ erzeugen intelligente Sprachmixturen, die der gesellschaftlichen Entwicklung voraus sind. In: Neues Deutschland, 26.9.2015, S. 22. 53 Andrea Böhm: Zwischen die Fronten geraten. Derek Walcott, Michael Ondaatje, Rafik Schami: Die Literatur verarbeitet die Entwurzelungen von Menschen multiethnischer Herkunft. In: Die Zeit, 15.4.2005, S. 45. 54 som: Freund und Feind. Zahlreiche Romane beschäftigten sich 2015 mit den Fremden und den Folgen der Migrationsbewegung für westliche Gesellschaften. In: Die Presse am Sonntag, 27.12.2015, S. 32. 55 Monika Carbe: Das Paradies ist anderswo. Neue Stimmen in der Literatur der Migration. In: Neue Zürcher Zeitung, 24.6.2003, S. 37.
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Herkunft (hier deutschsprachige Herkunft, dort nicht deutschsprachige Herkunft) vor und schreibt sie damit fest. Klara Obermüller kommt in ihrem oben genannten Beitrag zum Schluss, dass eine neue Definition ansteht von dem, was als deutsche Literatur zu verstehen ist. Literarische Zugehörigkeit muss „nicht unbedingt mit der sprachlichen, der ethnischen oder gar der nationalen Zugehörigkeit“56 identisch sein. Dieser Gedanke führt wohl weiter als die altbekannten Dichotomien, von welcher Seite aus sie auch ausgesprochen werden. 56 Obermüller: Dichter von Welt.
kapitel 6
„Mein Pseudonym sollte schön klingen. Und es sollte deutlich machen, dass ich eine Autorin mit Migrationshintergrund bin.“ Zu Alina Bronskys Positionierungen im literarischen Feld der Gegenwart Ruth Steinberg 1
„Migrationsliteratur“ oder von der „Festlegung einer Produzentengruppe auf ein bestimmtes Produkt“1
Die Frage, wie Autorschaft und Literatur im Kontext von Migrationsprozessen in literaturwissenschaftlicher Perspektive erforscht werden kann, ist Gegenstand einer langjährigen Fachdiskussion. Volker Dörr hat die Diskussion in seinem Überblick über verschiedene bisher vorgeschlagene theoretische Perspektiven überzeugend zusammengefasst: Von Deleuze und Guattaris Modell der kleinen Literaturen über das Konzept des Rhizoms, Überlegungen zu Redevielfalt, Dialogizität und Intertextualität bis hin zu den Begriffen Interkulturalität und Hybridität. Dörrs Synopse veranschaulicht die Problematik der den einzelnen Konzepten innewohnenden Vorannahmen und Implikationen und läuft auf zwei Grundannahmen hinaus, die sowohl in der literaturwissenschaftlichen als auch in der feuilletonistischen Diskussion des Phänomens immer wieder anzutreffen sind und zunehmend deutlich diskutiert werden. Zum einen ist da der „Erwartungshorizont gegenüber Literatur von Migranten oder von Autoren mit familiärem Migrationshintergrund“,2 der unmittelbar mit Fragen literarischer Alterität inhaltlicher sowie ästhetischer Art verknüpft ist. Schon 1983/84 fordert Harald Weinrich, so Dörr, dass die Gastarbeiterliteratur „ihren Beitrag zur deutschen Literatur leisten“ solle […]. Gemeint sind damit Erfahrungen von Migration und Exil als existentielle Erfahrungen 1 Volker C. Dörr: Deutschsprachige Migrantenliteratur. Von Gastarbeitern zu Kanakstas, von der Interkulturalität zur Hybridität. In: Literatur der Migration – Migration der Literatur. Hg. Karin Hoff. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2008, S. 17–33, S. 19. 2 Ebd. © Koninklijke Brill NV, Leiden, 2021 | doi:10.1163/9789004466234_008
Zu Alina Bronskys Positionierungen im literarischen Feld
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der Autoren; und da Autoren, die immer schon Deutsche gewesen sind, diese Erfahrungen nicht gemacht haben können, erweist sich der Zuwachs als Nettogewinn. Hier, am Anfang, geht es also genau um die Schnittmenge der Hinsichten: Literatur von Migranten soll eben auch Literatur über Migration sein, damit sie tatsächlich eine inhaltliche ‚Mitgift‘ mitbringt, etwas, was der Beschenkte nicht schon hat. Allerdings gilt auch der Umkehrschluss, denn wenn es darum geht, in Literatur existentielle Erfahrungen darzustellen, dann kann Literatur über Migration nur Literatur sein, die auch von Migranten geschrieben worden ist.3 Die Erwartung, die Literatur von Migranten bereichere die deutschsprachige Literatur inhaltlich aufgrund einer angenommenen „spezifische[n] Differenz“,4 wurde später um die Vorstellung besonderer ästhetischer, insbesondere sprachlicher Qualitätskriterien erweitert. Doch kommt Dörr zu der inzwischen verbreiteten Schlussfolgerung, dass sich [w]eder […] ästhetische Qualität oder die Qualität des Ästhetischen notwendigerweise schon dann ein[stellen], wenn der Produzent des Artefakts einem bestimmten Kollektiv angehört (auch ein noch so authentischer Text über Migration ist nicht schon deswegen auch ästhetisch hochwertig); noch kommt in der Bestimmung des Moments der poetischen Alterität der Produzent des poetischen Produkts überhaupt vor.5 Gegenwärtig hat die Suche nach einem adäquaten wissenschaftlichen Umgang mit Autorschaft und Literatur im Kontext von Migrationsprozessen, wie Walter Schmitz in seinem Vortragsmanuskript für die Tagung Grenzüberschreitungen. Migration und Literatur aus der Perspektive der Literatursoziologie6 im Juni 2016 in Wien ausführt, „zwei komplementär gegensätzliche literaturwissenschaftliche Positionen“7 hervorgebracht: Die einen halten die Rede von einer irgendwie gearteten besonderen ‚migrantischen‘ Literatur ohnehin in einer textorientierten Wissenschaft 3 Ebd., S. 18f. 4 Ebd., S. 21. 5 Ebd. 6 Bei der Tagung handelte es sich um die Abschlusstagung des Projekts „Literature on the Move“, gefördert vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF), die vom 20.–21.6.2016 an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien stattfand. 7 Walter Schmitz: Begrenzte Zugehörigkeit. Die Entwicklung im Feld einer Literatur der Migration in Deutschland seit den 1970er Jahren. Manuskript. 2016, S. 1.
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für unzulässig, die anderen hingegen suchen weiterhin nach der verlässlichen Definition und erklären nur die bisher vorliegenden für untauglich.8 Während die einen Ansätze also bestrebt sind, außerliterarische Faktoren in die Textanalyse einzubinden, bemühen sich diesem Standpunkt gegenüber kritische Ansätze, die historischen, gesellschaftlichen und biografischen Entstehungszusammenhänge der Texte aus der Analyse und Interpretation zugunsten einer Fokussierung auf textimmanente und formal-ästhetische Phänomene – Form, Sprache, Narrative – auszuklammern. Julia Schöll überträgt in ihrem Aufsatz Unterwegs im Text. Kritische Rückfragen zum Begriff Migrationsliteratur die von Elisabeth Bronfen für die sogenannte Exilliteratur getroffene Feststellung, diese müsse „biographisch, referenziell, thematisch inhaltlich und textästhetisch strukturell“ dekodiert werden, auf „Literatur zum Thema Migration“ und stellt fest, dass noch immer in „der textästhetischen Kategorie die größten Defizite zu verzeichnen [sind] – vor dem Hintergrund des Interesses, wer erzählt und was erzählt wird, tritt die Frage danach, wie erzählt wird, in den Hintergrund.“9 Schölls Untersuchung der narrativen Inszenierung von Migration in Texten von Terézia Mora und Olga Martynova gestaltet sich als Erzähltextanalyse und bezieht die biografische Erfahrung der Autorinnen als Kontext ein. Ausgehend von dem Wissen um den „biographischen Diskurs über die Literatur eingewanderter AutorInnen“,10 schlägt Hannes Schweiger vor, „weder nur die Herkunft in den Blick zu nehmen noch die transnationalen Perspektiven, die AutorInnen mit transgressiven Lebensläufen und mit Mehrfachzugehörigkeiten zu eröffnen vermögen, völlig außer Acht zu lassen.“11 Wie kann dieser Anspruch methodisch umgesetzt werden? In diesem Beitrag soll exemplarisch an einer Analyse der Autorfigur Alina Bronsky und ausgewählter Texte erprobt werden, welche Perspektiven mit Hilfe des feldanalytischen Verfahrens im Anschluss an Arbeiten Pierre Bourdieus auf Literatur und Autorschaft im Kontext von Migrationsprozessen eröffnet werden können. Den Anstoß zu einem literatursoziologischen Vorgehen bildet die Vorannahme, auf diese Weise mit 8 Ebd., S. 1. 9 Julia Schöll: Unterwegs im Text. Kritische Rückfragen zum Begriff Migrationsliteratur. In: Das Argument 298 (2012), S. 539–547, S. 539. 10 Hannes Schweiger: Transnationale Lebensgeschichten. Der biographische Diskurs über die Literatur eingewanderter AutorInnen. In: National – postnational – transnational? Zu neueren Perspektiven auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa. Hg. Renata Cornejo, Sławomir Piontek und Sandra Vlasta. Ústí nad Labem: Univerzita J.E. Purkyně v Ústí nad Labem, Filozofická fakulta 2012 (= Aussiger Beiträge 6 (2012)), S. 13–31, S. 13. 11 Ebd., S. 22.
Zu Alina Bronskys Positionierungen im literarischen Feld
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Lösungsversuchen für zentrale Analyse- und Beschreibungsprobleme experimentieren zu können, mit denen die Literaturwissenschaft bei der Erforschung und Einordnung des Phänomens konfrontiert ist. Inwieweit, so die übergeordnete Analysefrage, können die (Migrations-)biografie der empirischen Person der Autorin, die Autorfigur und die fiktionalen Texte in der Analyse zueinander ins Verhältnis gesetzt werden? Mit einer feldanalytischen He rangehensweise, so die Vorannahme, werden problematische Ordnungs- und Systematisierungskategorien, die im Rahmen von Rezensionen, Autorportraits und wissenschaftlicher Literatur einerseits, im Rahmen von Interviews, Essays und autofiktionalen Texten anderseits gebildet werden, nicht ausgeklammert, sondern im Hinblick auf ihre Form und Funktion im literarischen Feld in die Analyse einbezogen. In diesem Beitrag liegt ein besonderer Fokus auf der Verwendungsweise und Funktion der Kategorien Migrationsliteratur und Migrationsautorin bzw. Migrationsautor. Die Feldanalyse bietet hinsichtlich dieser Fragestellung die Möglichkeit, an die Stelle eines deduktiven Vorgehens (daher die Suche nach biografischen Parallelen sowie verbindenden ästhetischen Merkmalen und Schreibweisen einer angenommenen Gruppe) die Frage zu setzen, inwieweit und auf welche Art und Weise einzelne SchriftstellerInnen die im literarischen Feld exis tierende Autorposition eines migrantischen Autors bzw. einer migrantischen Autorin intentional bzw. nicht-intentional besetzen oder diese zu umgehen suchen und wie sich spezifische Textmerkmale im Verhältnis zu anderen Texten bestimmen lassen. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die in diesem Zusammenhang fokussierten Autorfiguren und ihre Texte nicht sui generis einer der genannten Kategorien zugehören. Vielmehr lassen sich Aktionen und Strategien identifizieren, mit Hilfe derer SchriftstellerInnen sich als Migrationsautorin bzw. als Migrationsautor im Feld positionieren, also eine Position beziehen, die im Rückgriff auf den von Heribert Tommek genutzten Begriff als medial hergestellte „(Gruppen-)Autorposition“12 bezeichnet werden könnte. Untersuchen lassen sich demnach Verfahren der Positionsnahme, und zwar anhand von Strategien der Selbstpräsentation einer/eines 12 Tommek nutzt den Begriff im Zusammenhang seiner Ausführungen zu einer „medial hergestellte[n] und inszenierte[n] Gruppenbildung des ,Fräuleinwunders‘“: „Die Herstellung dieser Position resultierte im Unterschied zur Gruppeninszenierung der Tristesse Royale-Popliteraten einzig und allein aus einer Fremdzuschreibung durch die Medien, die in diesem Fall auf einen einzelnen Feuilleton-Artikel von Volker Hage im Spiegel 1999 zurückging.“ (Heribert Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000. Berlin, Boston: de Gruyter 2015, S. 279, 277) Zwar sind Selbstzuschreibungen für die Herstellung der Position „Migrationsliteratur“ und für ihre Traditionslinie in bestimmten Feldphasen relevant, doch überwiegt m.E. im literarischen Feld der Gegenwart nach 1989/90 die Bedeutung der Fremdzuschreibungen für ihr Bestehen.
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Autorin/Autors, anhand ihrer/seiner epitextuellen Äußerungen und anhand der literarischen Texte, die in feldanalytischer Perspektive ebenfalls als Stellungnahmen gelesen werden. 2
Perspektiven der Feldanalyse
Inwieweit bietet das Konzept einer literaturwissenschaftlichen Feldanalyse im Anschluss an Pierre Bourdieus Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (1979/dt. 1982) und Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes (1992/dt. 1999) lösungsorientierte Perspektiven für diese Forschungsfrage? Die hier vorgestellten Überlegungen entstanden im Rahmen eines Forschungsprojekts zu einem Phänomen der jüngsten deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, das u.a. als „Osterweiterung der deutschsprachigen Literatur“13 und „Eastern Turn“14 bezeichnet wurde: Es handelt sich um Versuche der Einordnung deutschsprachiger Texte von AutorInnen nicht-deutschsprachiger Sprachherkunft im literarischen Feld nach 1989/90, die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche europäische Transformationsprozesse, sowjetische und postsowjetische Realitäten, Veränderungen europäischer Erinnerungskulturen, Migrationserfahrungen und dazugehörige Identitätslagen thematisieren. Anhand dieses literarischen Phänomens lassen sich m.E. einerseits die mit Ordnungsversuchen verbundenen Kategorienbildungen im literarischen und im wissenschaftlichen Feld aufzeigen und anderseits die Möglichkeiten der Feldanalyse in diesem Zusammenhang erproben. Für die Untersuchung der Wechselwirkungen von Literatur und Migration (vergleichbar: Flucht, Exil, Diaspora) scheint mir ein feldanalytischer Ansatz aufgrund zweier Aspekte vielversprechend: Zum einen aufgrund des „Syntheseversprechens“ der Feldanalyse, Individualbiografie und Text einerseits, immanente Werkanalyse und einen intertextuellen Bezugsrahmen anderseits aufeinander zu beziehen, ohne einen direkten Zusammenhang zwischen ihnen zu konstruieren. Markus Joch und Norbert Christian Wolf formulieren dieses Potenzial der Feldanalyse folgendermaßen: Bourdieu interessiert sich dafür, wie die herkunftsbedingte Einstellung eines Schriftstellers, die Einheit seiner Denk-, Wahrnehmungs- und 13 Michaela Bürger-Koftis (Hg.): Eine Sprache - viele Horizonte… Die Osterweiterung der deutschsprachigen Literatur. Porträts einer neuen europäischen Generation. Wien: Praesens 2008. 14 Brigid Haines: The Eastern Turn in Contemporary German, Swiss and Austrian Literature. In: Debatte 16, H. 2 (2008), S. 135–149.
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Handlungsmuster (Habitus), auf eine bestimmte Situation im Gefüge der Literatur trifft, im hier geltenden Raum des Möglichen, in dem der Autor seinen Ort sucht. Seine Präferenzen, seien sie stilistischer, politischer oder religiöser Natur, sind damit nicht einfach der Herkunft zuzurechnen, sie ergeben sich vielmehr erst aus der Konstellation von Habitus und literarischer Welt. Da sich der Zustand letzterer permanent verändert, kann es im Extremfall vorkommen, dass vergleichbare Dispositionen zu entgegengesetzten Positionsnahmen führen. Die Singularität von Schriftstellern wiederum erschließt sich nur in Differenz zu vergleichbaren Autoren, seien es vorangegangene oder zeitgenössische. Eine textimmanente Lektüre wird damit nicht obsolet, doch hat sie zu berücksichtigen, dass sich der Autor eines literarischen Textes, unbewusst oder bewusst, immer zu anderen Autoren verhält, da er sich in einem sozialen Kontext besonderer Art bewegt, in dem nur das Unverwechselbare zählt. Von den tradierten Konzepten literarischer Evolution und Intertextualität, die auf das Netz von Beziehungen, Differenzen und Streuungen zwischen Texten abheben, unterscheidet sich die Feldtheorie darin, dass sie die Triebfeder literarischen Wandels nicht […] allein auf der Ebene der Texte sieht, sondern diese in eine Homologiebeziehung zu den sozialen Positionskämpfen zwischen den Bewahrern und den Umstürzlern in aestheticis bringt, aus denen die Textdifferenzen entstehen.15 Zum anderen scheint der in neueren Studien hypothetisch angenommene Programmcharakter des Feldkonzepts vielversprechend, das heißt, nicht etwa von einem festen Theoriegebilde auszugehen, sondern ein generell erweiterbares Forschungsprogramm anzunehmen. Stefan Bernhard und Christian Schmidt-Wellenburg plädieren in dem Sammelband Feldanalyse als Forschungsprogramm16 für einen feldtheoretischen „Kern“ ihres Forschungsprogramms, sehen aber die Peripherie der Feldforschung als „flexible(n) 15 Markus Joch und Norbert Christian Wolf: Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft. Einleitung. In: Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Hg. dies. Tübingen: Niemeyer 2005, S. 1–24, S. 1f. 16 Unter dem Titel summieren die Autoren Ansätze und Arbeiten, die im Geiste eines „kultursoziologisch geprägten, genetisch-strukturalistischen Konstruktivismus“ an die Arbeiten Pierre Bourdieus (im Zentrum: Die feinen Unterschiede, Die Regeln der Kunst) anschließen und teils neuere Überlegungen der praxeologischen Soziologie einbeziehen. Hier nennen die Autoren u.a. Gregor Bongaerts: Soziale Praxis und Verhalten – Überlegungen zum Practice Turn in Social Theory. In: Zeitschrift für Soziologie 36, H. 4 (2007), S. 246–260; Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 32, H. 4 (2003), S. 282–301; Stefan Bernhard und Christian Schmidt-Wellenburg (Hg.): Feldanalyse als Forschungsprogramm 1: Der programmatische Kern. Wiesbaden: VS Verlag 2012; dies.
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Schutzgürtel“, in dessen Bereich „Annahmen, empirische Aussagen und Theoriebestandteile“ regelmäßig „angefochten und verworfen werden“.17 Eine für die Fragestellung dieses Beitrags interessante methodologische Erweiterung stellte Jérôme Meizoz bereits 2005 mit seiner Ausarbeitung des Konzepts der posture vor, das auf die Analyse auktorialer Selbstpräsentationen zielt.18 Der Begriff der posture eines Autors […] schließt untrennbar zwei Dimensionen ein: Erstens eine nicht-diskursive, die die Gesamtheit nonverbaler Verhaltensweisen im Rahmen der Selbstpräsentation umfasst (Kleidung, Gebaren, etc.), und zweitens eine diskursive Dimension, die des diskursiven Ethos. (Hervorhebung i. Orig.)19 Meizoz geht es um die Dimensionen der „irreduziblen Einzigartigkeit des Autors und jene der spezifischen Form, die jedem Text immanent ist und sich aus Genre und Stil zusammensetzt“, daher um „die singuläre Weise, eine objektive Position innerhalb eines Feldes zu besetzen“ (Hervorhebungen i. Orig.).20 Mit der diskursiven Dimension der posture ist eine bestimmte Art des Sprechens bzw. Schreibens gemeint: Die Konstruktion des Autorbildes durchläuft eine Dramaturgie (posture im Sinn von Verhalten), drückt sich durch einen spezifischen Ton aus und kann als individueller Stil oder als écriture analysiert werden. Das Feld deckt dann die verschiedenen postures des auktorialen Ausdrucks ab, die auch als Stellungnahmen im literarischen Feld gelesen werden können und durch Genre und Form vermittelt werden. (Hervorhebungen i. Orig.)21
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(Hg.): Feldanalyse als Forschungsprogramm 2: Gegenstandsbezogene Theoriebildung. Wiesbaden: VS Verlag 2012. Stefan Bernhard und Christian Schmidt-Wellenburg: Feldanalyse als Forschungsprogramm. In: Feldanalyse als Forschungsprogramm 1. Hg. dies., S. 28. Ausgehend von dieser Überlegung entstanden bspw. Vorschläge, die „Termini Intermedialität, Paratextualität und Transgression“ in das Analyseprogramm zu integrieren (vgl. Georg Brabandt: Literaturwissenschaft ,mit und zugleich gegen‘ Bourdieu – Zur methodologischen Integration der Termini Intermedialität, Paratextualität und Transgression in die Analyse von Text und Feld. In: Feldanalyse als Forschungsprogramm 1. Hg. Bernhard und SchmidtWellenburg, S. 289–318). Jérôme Meizoz: Die posture und das literarische Feld. Rousseau, Céline, Ajar, Houellebecq. In: Text und Feld. Hg. Joch und Wolf, S. 177–188. Ebd., S. 178. Ebd., S. 177. Ebd., S. 181.
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Alina Bronskys Selbstpräsentation
Betrachtet man zunächst die nicht-diskursiven Aspekte der auktorialen posture Alina Bronskys, zu denen Meizoz neben Kleidung und Gesten Formen der „Selbstdarstellung des Autors (die ‚Airs‘ oder ‚Looks‘, die er sich gibt, ein Ethos im Weber’schen Sinn) in den jeweiligen Kontexten, in denen er seine Funktion verkörpert (Gespräch mit den Medien, Diskurs der Rezeption etc.)“ zählt, fallen insbesondere diverse sich ergänzende Strategien einer gezielten Verschleierung und Enthüllung von Informationen zur empirischen Person der Autorin auf. Diese zielen bei gleichzeitig erkennbarem Bemühen um Authentizitätssuggestion in Bronskys Autorinnenportraits auf die Inszenierung einer kaum greifbaren Kunstfigur ab, hinter der die Identität der empirischen Person verborgen bleibt. Bei dem Namen ‚Alina Bronsky‘ handelt es sich um ein Pseudonym, das sie als Verfassername des Debütromans Scherbenpark (2008)22 erstmals nutzte und für die nachfolgenden Publikationen beibehielt – der Geburtsname der Autorin ist meines Wissens bisher im öffentlichen Diskurs (noch) nicht bekannt. Bronskys Pseudonym-Verwendung lässt sich als „posturales Indiz“23 lesen: Wie sie 2010 in einem Interview ausführte, habe sie durch die Wahl des Pseudonyms ihre russische Herkunft transparent machen wollen. Dort sagte sie: „Mein Pseudonym sollte schön klingen. Und es sollte deutlich machen, dass ich eine Autorin mit Migrationshintergrund bin.“24 Hinweise auf die gezielte Betonung der Migrationserfahrung in der auktorialen Selbstdarstellung finden sich auch in anderen Epitexten, beispielsweise in einem Interview mit dem Blogger Linus Giese auf der Frankfurter Buchmesse 2013, in dem sie angibt, der Name habe „sehr gut zu dem Buch ‚Scherbenpark‘ [gepasst], das damals bald erscheinen sollte. In dem Namen sind viele Assoziationen versteckt: zum Teil persönlicher Natur, zum Teil aber auch allgemein – beispielsweise der Name Bronsky, der ein alter Immigrantenname ist.“25 Anhand dieses Beispiels lässt sich zeigen, wie in Bronskys Positionierungen im literarischen Feld eine Abstimmung der non-verbalen und der diskursiven Dimension der auktorialen posture stattfindet, indem der Hinweis auf die Migrationserfahrung der Autorfigur mit der thematischen Ausrichtung bestimmter literarischer Texte, wie noch gezeigt wird, in Verbindung gebracht wird. 22 23 24
Alina Bronsky: Scherbenpark. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008. Meizoz: Die posture, S. 178. Sabine Schmidt: „Erfahrungen mit einem anderen Land“. In: buchjournal 4 (2010), S. 12–15, S. 15. 25 Alina Bronsky und Linus Giese: Alina Bronsky über Pseudonyme und Literaturverfilmungen! (http://buzzaldrins.de/2013/10/23/alina-bronsky-uber-pseudonyme-und-literatur verfilmungen/, zuletzt geprüft am 1.4.2019).
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In Interviews weist die Autorin regelmäßig Fragen zu ihrem Privatleben mit der Begründung zurück, sie wolle Privat- und Familienleben von ihrer literarischen Arbeit trennen. An anderer Stelle gibt sie Details ihrer angeblichen Privatbiografie preis, so beispielsweise ihre russische Herkunft in Verbindung mit dem Hinweis, diese sei für das Verständnis ihres Debütromans Scherbenpark unerlässlich.26 Auf diese Weise bleibt die Autorfigur Alina Bronsky für die Medienöffentlichkeit mit teils vagen Vermutungen hinsichtlich der Privatperson verbunden, lediglich die biografische Migrationserfahrung wird deutlich kommuniziert. Laut Angabe des Internationalen Biographischen Archivs wurde die Autorin 1978 in Jekaterinburg (bis 1991 Swerdlowsk) „am Rande des Uralgebirges als Tochter eines Physikers und einer Astronomin geboren.“27 Diese Information, dass die Autorin ihre Kindheit „auf der asiatischen Seite des Uralgebirges“ verbracht habe, hatte bis 2013 einen festen Platz in der Autoreninformation des Verlags Kiepenheuer & Witsch auf den Buchdeckeln ihrer Romane. 1991 wanderte Bronskys Familie, die väterlicherseits jüdische Wurzeln hat, im Rahmen des Kontingentflüchtlings-Abkommens nach Deutschland aus, wo die Autorin in Marburg und Darmstadt aufwuchs. Nach Abbruch eines Medizinstudiums arbeitete sie der offiziellen Darstellung nach als Texterin für eine Werbeagentur und Redakteurin einer Tageszeitung, bevor sie begann, hauptberuflich als Schriftstellerin zu arbeiten. Mit Blick auf Publikationen, Verlagstexte, Interviews und Rezensionen lässt sich hinsichtlich ihrer Positionierungen von einer vielseitigen und flexiblen Autorschaft sprechen, da ihr Schreiben verschiedene Genres abdeckt: Bronsky ist als Roman-, Jugend-, Kinderbuch- und Sachbuchautorin in verschiedenen Literatur- und Buchmarktsektoren präsent. Im Bereich der Belletristik, zu der die literarischen Bücher Scherbenpark (2008), Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche (2010) und Baba Dunjas letzte Liebe (2015) sowie auch die von erwachsenen Lesern rezipierten Jugendromane Nenn mich einfach Superheld (2013) und Und du kommst auch drin vor (2017) zählen, debütierte die Autorin 2008 mit dem Roman Scherbenpark. Die seit 2012 erschienenen fantastischen Jugendromane Spiegelkind (2012) und Spiegelriss (2013), als erste Bände einer geplanten Trilogie, positionieren die Autorin auch im Bereich der Jugendliteratur, das gemeinsam mit Kitty Kahane gestaltete Bilderbuch Mamas Liebling (2013) für eine deutlich jüngere Altersklasse auch im Bereich der Kinderliteratur. Eine der 26
Alina Bronsky und Irma Wagner: „Aber die Leser mögen sie trotz ihres Gezickes“. (https:// www.koelner.de/2008/10/28/aber-die-leser-mgen-sie-trotz-ihres-gezickes-1234/, zuletzt geprüft am 1.4.2019). 27 Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv: http://www.munzin ger.de/document/00000029737, zuletzt geprüft am 1.4.2019.
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jüngsten Positionierungen der Autorin erweiterten die Autorschaft zudem um den Sachbuchbereich: 2016 erschien die gemeinsam mit Denise Wilk verfasste Streitschrift Die Abschaffung der Mutter über die rechtliche und gesellschaftliche Stellung von Müttern in Deutschland. 4
Gegensätzliche Positionierungen: Scherbenpark (2008) und Spiegelkind (2012)
Nachdem der Blick in einem ersten Schritt einer exemplarischen Auswahl von Quellen zur Untersuchung der non-verbalen Dimension der auktorialen posture Alina Bronskys galt, soll die Aufmerksamkeit nun bezüglich der Querschnittsfrage, inwieweit die Positionierungen der Autorin im literarischen Feld eine Einordnung der Texte als ‚Migrationsliteratur‘ stützen, auf zwei thematisch höchst unterschiedliche literarische Texte gerichtet werden, den Roman Scherbenpark (2008) und den fantastischen Jugendroman Spiegelkind (2012). Bronskys Debütroman Scherbenpark ist konsequent aus der Perspektive der siebzehnjährigen Russlanddeutschen Sascha Naimann erzählt, die mit ihrer Familie aus Moskau nach Deutschland immigriert ist und gemeinsam mit ihren beiden Geschwistern in der Obhut einer entfernten Verwandten in einer hauptsächlich von russischen Einwanderern bewohnten Wohnsiedlung, genannt „Solitär“, in der Nähe von Frankfurt lebt. Die Ich-Erzählerin ist eigensinnig, schroff und eine hochbegabte Schülerin an einem EliteGymnasium – und zum Zeitpunkt der Romanhandlung noch zutiefst traumatisiert von dem Erlebnis, vor zwei Jahren Augenzeugin des Doppelmordes ihres gewalttätigen Stiefvaters Vadim an ihrer Mutter und deren neuem Freund geworden zu sein. In einer episodischen Erzählweise folgt der Leser den Versuchen der Protagonistin, in diesem trost-, hoffnungs- und auf den ersten Blick zukunftslosen Milieu das familiäre Drama zu verarbeiten und die eigene Identität auszumachen. Es reihen sich ihre blutigen Rachefantasien, erste sexuelle Erfahrungen, die Verantwortung für die jüngeren Geschwister, ein Ausflug ins Frankfurter Intellektuellenmilieu und Begegnungen mit den traurigen ‚Randexistenzen‘ des „Solitär“ aneinander, bis Sascha zum offenen Ende des Romans diese Lebenswelt hinter sich lässt und in eine ungewisse Zukunft aufbricht. Wie Weertje Willms in ihrer Analyse subsumiert, bestehen hinsichtlich der Erzählverfahren Parallelen zu Texten von AutorInnen wie Lena Gorelik, Olga Grjasnowa, Eleonora Hummel, Olga Martynova und Julya Rabinowich, aber auch anderen AutorInnen (nicht nur aus postsowjetischen Staaten) – weibliche Ich-Erzählfiguren, die kindliche bzw. jugendliche Erzählperspektive, die Fokussierung auf mit Migrationserfahrungen verbundene
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Probleme in der Identitätsentwicklung von Jugendlichen, „Gefühle der NichtDazugehörigkeit und Wurzellosigkeit“, „Ängste vor Entfremdung zwischen Eltern und Kindern“28 etc. Nicht nur das Romanthema trug dazu bei, dass die Autorin und ihre Texte mit dem Etikett der ‚Migrationsliteratur‘ in Verbindung gebracht wurden, sondern auch die Marketingstrategie des Verlags Kiepenheuer & Witsch. Anhand des als Klappentext abgedruckten Portraits der Autorin wird deutlich, wie eng in Bronskys Fall diskursive und nicht-diskursive Positionierungen verflochten sind: Alina Bronsky, geboren 1978 in Jekaterinburg/Russland, verbrachte ihre Kindheit auf der asiatischen Seite des Ural-Gebirges und ihre Jugend in Marburg und in Darmstadt. Nach abgebrochenem Medizinstudium arbeitete sie als Texterin in einer Werbeagentur und als Redakteurin bei einer Tageszeitung. Sie lebt in Frankfurt und telefoniert bis heute fast täglich mit ihren Großeltern in Sibirien. Scherbenpark ist ihre erste literarische Veröffentlichung.29 Auch die Rezeption in der Literatur- und Medienöffentlichkeit ist deutlich von Bronskys Privatbiografie, insbesondere der Migrationserfahrung der Verfasserin, geprägt, wie Nadja Luschina zusammengetragen hat: Alina Bronsky ist „aus Russland, spricht und schreibt perfekt Deutsch“, wundert sich Brigitte Bücherspecial noch im Oktober 2008; das Darmstädter Echo erwähnt nicht ohne Stolz die „in Darmstadt aufgewachsene“ Autorin (25.8.2008). Eine „Deutsch-Russin“ und gleichzeitig „wieder ein neues Fräulein-Wunder“ bleibt sie für Focus (2.9.2008); das Konkurrenzblatt Der Spiegel echot: „die Deutschrussin“ und das „aufregende […] Literaturtalent“. (Der Spiegel, 30. Juni 2008) Die Frankfurter Allgemeine zögert ein wenig und zieht dann zeitversetzt ihr Fazit: „Das stürmische Debüt der russisch-deutschen Autorin Alina Bronsky über eine russisch-deutsche Beinahe-Autorin“ (2.10.2008). Zwei Jahre später heißt es schlicht, dass „Alina Bronsky, 31, […] heute zu den besten Autorinnen Deutschlands“ gehört. (Kulturspiegel, H. 9/2010) [Hervorhebungen i.Orig.]30 28 Weertje Willms: Die ‚Newcomerin‘ Alina Bronsky im Kontext der russisch-deutschen Gegenwartsliteratur und ihre Rezeption im deutschen Feuilleton. In: Studien zur Deutschen Sprache und Literatur 29 (2013), S. 65–84, S. 70. 29 Alina Bronsky: Scherbenpark. 7. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2012. 30 Nadja Luschina: Die neuen deutschen Russinnen. Generationsgeschichten von Alina Bronsky, Olga Grjasnowa, Nino Haratischwili und anderen. In: andererseits. Yearbook of Transatlantic German Studies 3 (2013), S. 245–254, S. 250f.
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Neben dem Fokus auf die Immigrantenbiografie der Verfasserin würdigte die Literaturkritik vor allem den sprachlichen Ausdruck der Ich-Erzählerin und das damit verbundene hohe Erzähltempo des Romans – in der FAZ ist von einem „atemlose[n] Stakkato“, dem bald als „Bronsky-Beat“ deklarierten Duktus des Romans, die Rede.31 Insoweit lässt sich neben der Überbetonung biografischer Aspekte in der Rezeption des Romans auch ein Zugewinn an symbolischem Kapital belegen, der sich insbesondere an dessen Nominierung für den Aspekte-Literaturpreis und den Deutschen Jugendliteraturpreis sowie an Bronskys Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2008 belegen lässt. Bei dem vier Jahre später erschienenen Text Spiegelkind (2012) handelt es sich um eine Mischung aus fantastischem Jugend- und dystopischem Zukunftsroman. Erzählt wird die Geschichte der 15-jährigen Juliane Rettemi, deren Alltag in einer nicht-definierbaren Zukunft von der folgenschweren Aufteilung der Gesellschaft in verschiedene Gruppierungen, die sogenannten „Normalen“ und „Freaks“ sowie rätselhafte, feenhafte Wesen bestimmt wird. Das Leben der Gymnasiastin im System der „totalen Normalität“ ist lückenlos geregelt und überwacht, ihr Internetzugang reglementiert und ihre Identität und ausgewiesene Normalität durch einen Code verbürgt, den jeder Angehörige der Mehrheitsgesellschaft in Form eines personalisierten Armbands permanent mitführt. Eines Tages verschwindet Julis Mutter plötzlich spurlos und es stellt sich heraus, dass auch sie eine mit märchenhaften Fähigkeiten ausgestattete „Phee“ ist, die vom Vater zur Erlangung persönlicher Vorteile an das System verraten wurde. Juli entdeckt bald, dass die zahlreichen, von ihrer Mutter gemalten Bilder den Durchgang zu der Märchenwelt der Pheen ermöglichen, in der eigene Gesetze herrschen, und lässt ihre zerbrechende Familie hinter sich, um sich auf die Suche nach ihrer Mutter und, so stellt sich bald heraus, nach ihrer eigenen Identität zu machen. Der paratextuell als ‚Jugendroman‘ gekennzeichnete Text verbindet Julis Coming-of-Age-Konflikt – sie erlebt im Zuge der Scheidung der Eltern, dem Verrat des Vaters und dem Auseinanderbrechen ihrer Familie ein plötzliches und schmerzhaftes Ende der Kindheit – mit einem gesellschaftskritischen Zukunftsentwurf, der in pessimistischer Weise mögliche Auswüchse übersteigerter sozialer Kontrolle, technischer Überwachung und strenger gesellschaftlicher Spaltung in Klassen illustriert.32 Hinzu kommen eine Reihe von Merkmalen fantastischer 31 Oliver Jungen: Eine Zeit zum Steinewerfen. In: FAZ online, 2.11.2008 (https://www.faz .net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/eine-zeit-zum-steinewerfen -1716340.html, zuletzt geprüft am 1.4.2019). 32 Vgl. Christian Hoffmann: Von Feen und leiser Zivilisationskritik: Alina Bronskys Jugendroman „Spiegelkind“ (http://www.literaturcafe.de/alina-bronskys-jugendroman-spiegel kind/, zuletzt geprüft am 1.4.2019).
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Literatur wie die Existenz einer sekundären Welt und die von Bewährungsproben gekennzeichnete Reise der Protagonistin, deren Ausgang jedoch bis zur Publikation des letzten Teils der Trilogie offen bleiben muss. Tilman Spreckelsen wies bei FAZ online zudem auf das Bild eines heilenden Tiers [hin], das den angeschlagenen menschlichen Körper besetzt und im Weiterleben unterstützt, was für den Betreffenden nicht ohne Folgen bleibt, die wiederum, je nach Tier, sehr unterschiedlich ausfallen können. Damit schließt Alina Bronsky etwa an Joanne K. Rowling oder Cornelia Funke an, die jeweils im letzten Band der „Harry Potter“- oder „Tintenwelt“-Serie ihre Helden kurzzeitig zwischen Tod und Leben pendeln ließen.33 Dieser Hinweis ist insofern wichtig, als Bronskys Spiegel-Trilogie offensichtlich an den Erfolg populärer fantastischer „All-Age“-Werke aus dem deutschen und englischen Sprachraum anzuknüpfen sucht. Neben der Nutzung des international erprobten Formats des fantastischen Romans deuten der Fortsetzungscharakter und die für die für diese Form fantastischer Kinder- und Jugendliteratur hervorstechende Unterhaltungsfunktion34 darauf hin, dass Spiegelkind im Gegensatz zum Debütroman Scherbenpark einer Sparte der Genreliteratur und damit feldtheoretisch betrachtet dem Subfeld der kulturellen Massenproduktion zuzurechnen ist. Auffällig im Vergleich zu Scherbenpark ist, dass die Migrationsthematik weder für die Marketingstrategie noch (explizit) als Sujet des Romans oder in der kargen medialen Rezeption eine Rolle spielt.35 Im Autorenportrait verzichtet der Jugendbuchverlag Arena, sieht man von der Verwendung des semantisch aufgeladenen Pseudonyms ab, auf jeglichen Hinweis auf die Migrationserfahrung der Verfasserin:
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Tilman Spreckelsen: Hinter der Leinwand geht es weiter. In: FAZ online, 2.2.2012 (http:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/kinderbuch/alina-bronskys -jugendbuch-spiegelkind-hinter-der-leinwand-geht-es-weiter-11627717.html, zuletzt geprüft am 1.4.2019). 34 Vgl. Hans-Heino Ewers: Auf der Suche nach den Umrissen einer zukünftigen Kinderund Jugendliteratur. Ein Versuch, die gegenwärtigen kinder- und jugendliterarischen Veränderungen einzuschätzen. In: Kinder- und Jugendliteratur zur Jahrtausendwende: Autoren – Themen – Vermittlung. Hg. Kurt Franz, Günter Lange und Franz-Josef Payrhuber. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren 2000, S. 2–21. 35 Außer Tilman Spreckelsens Rezension in der FAZ am 2.2.2012 ist m.W. in keiner der maßgeblichen Tages- und Wochenzeitungen eine Buchbesprechung des Romans erschienen. Vgl. zu den maßgeblichen Rezensionsorganen Volker Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Köln u.a.: Böhlau 2010, S. 202.
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Alina Bronsky, Jahrgang 1978, war Medizinstudentin, Werbetexterin und Redakteurin bei einer Tageszeitung, bis sie eines Tages ein Manuskript an drei Verlage schickte und auf Anhieb die Zusage bekam. Ihr Debüt „Scherbenpark“ gehörte zu den meist beachteten Debüts des Jahres 2008, wurde für diverse Preise nominiert, darunter den Deutschen Jugendliteraturpreis, und für das Kino verfilmt. Ihr zweiter Roman „Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche“ stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Die Rechte an Bronskys Romanen wurden in mehr als 15 Länder verkauft, sie erscheinen unter anderem in den USA und Italien. „Spiegelkind“ und „Spiegelriss“ bezeichnet Alina Bronsky als ihre bisher persönlichsten Bücher.36 5
Resümee
Ausgehend von der Fragestellung, inwieweit und auf welche Art und Weise SchriftstellerInnen ihre „auktoriale Identität“37 intentional oder nichtintentional im Zusammenhang mit der im literarischen Feld existierenden Autorposition des ‚Migrationsliteraten‘ definieren, ließ sich für die Autorfigur Alina Bronsky und ihre Texte eine Reihe von Beobachtungen machen. Zusammengefasst bringt die Autorin im Rahmen der nicht-verbalen Dimension ihrer auktorialen posture Hinweise auf ihre transnationale Biografie als empirische Person ein, arbeitet im Bereich der diskursiven Dimension ihrer posture mit der Migrationsthematik als literarischem Sujet und regt darüber hinaus potenzielle RezipientInnen in epitextuellen Äußerungen zu einer biografischen Lesart an. Im Vergleich zu GegenwartsautorInnen wie beispielsweise Saša Stanišić, die ihre auktoriale Selbstpräsentation kalkuliert und reflektiert in kritischer Haltung zur Position ‚Migrationsliteratur‘ inszenieren,38 ist für Alina Bronsky eine starke, als intendiert einzuordnende Positionierungsstrategie erkennbar.
36 https://www.arena-verlag.de/helden/alina-bronsky, zuletzt geprüft am 1.4.2019. 37 Meizoz: Die posture, S. 177. 38 Vgl. hierzu Ruth Steinberg: Zugehörigkeit, Autorschaft und die Debatte um eine ‚Migrationsliteratur‘. Saša Stanišić und Olga Grjasnowa im literarischen Feld Deutschlands. In: Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit als kulturhistorisches Phänomen. Räume – Materialitäten – Erinnerungen. Hg. Dagmar Freist, Sabine Kyora und Melanie Unseld. Bielefeld: transcript 2019, S. 181–205. Vgl. auch den Beitrag von Jan Gerstner im vorliegenden Band.
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Hinweise auf die Funktionen dieser Positionierungsstrategie im literarischen Feld der Gegenwart werden m.E. aus der zeitlichen Genese von Bronskys auktorialer Selbstpräsentation sowie aus der Tatsache erkennbar, dass diese mit den Marketingstrategien der Buchmarktakteure korrespondiert: Für den Debütroman Scherbenpark (2008), der der Buchmarktsparte ‚Belletristik‘ zuzuordnen ist, stellt die Autorin selbst in Interviews selektiv ihre biografische Migrationserfahrung in den Vordergrund, was mit dem Sujet des Romans ebenso korrespondiert wie mit der Marketingstrategie des Verlags Kiepenheuer & Witsch und dem Tenor der späteren medialen Rezeption des Romans. Gerade im Vergleich mit Bronskys fantastischem Jugendroman Spiegelkind (2012) wird aber deutlich, dass die Autorin nur vier Jahre später eine veränderte auktoriale posture inszeniert, die ohne eine Betonung ihrer transnationalen Biografie auskommt, die vom Jugendbuchverlag Arena mitgetragen wird und wiederum mit dem fantastischen Genre des neuen Textes korrespondiert. Insofern lässt sich in feldanalytischer Perspektive argumentieren, dass ein durch Migration, Kultur- und Sprachwechsel geprägter individueller Erfahrungsschatz zwar im Habitus von AutorInnen eingeschrieben sein, ihnen zur Unterscheidung von anderen AutorInnen im Feld aber nur dienen kann, insofern er in der non-verbalen bzw. der diskursiven Ausdruck einer auktorialen posture zutage tritt. Zur Einordnung der auch als ökonomische Erfolgsstrategie eingesetzten Bezugnahme auf biografische Migrationserfahrungen im Rahmen einer auktorialen posture, die sich bei Bronsky abzeichnet, kann ein geweiteter Blick auf die Gesamtstruktur des literarischen Feldes der Gegenwart lohnenswert sein.39 Ausgehend von Tommeks Analyse der internen Struktur des Gegenwartsliteraturfeldes, dessen Subfeldern und Autorpositionen, ließe sich argumentieren, dass bei Alina Bronsky eine Form der Autorschaft zum Tragen kommt, die im „flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich“ des Literaturfelds anzusiedeln ist, den Tommek „zwischen den Subfeldern der eingeschränkten und der Massenproduktion, der E- und U-Literatur“40 39
40
Grundlage dieser Überlegung bildet die 2015 erschienene Analyse des literarischen Feldes seit 1945 von Heribert Tommek. Dieser überträgt Pierre Bourdieus Analysemodell, wobei er eine Reihe von methodischen Erweiterungen vornimmt, auf das zeitgenössische Literaturfeld und kommt zu dem Ergebnis, dass sich die „Formation der Gegenwartsliteratur“ Mitte der 1990er Jahre durchgesetzt hat (Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur, S. 213). Heribert Tommek: Die Formation der Gegenwartsliteratur. Deutsche Literaturgeschichte im Lichte von Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes. In: IASL 40, H. 1 (2015), S. 110–143, S. 131. Vgl. zum literarischen Feld der Gegenwartsliteratur insbesondere auch ebd., S. 142.
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verortet. Typisch für diesen Bereich ist die „Praxis einer flexibel gemischten und multiplen Autorschaft zwischen den Polen des kulturellen und des ökonomischen Kapitals“.41 Die Beobachtungen zu der Bedeutung der Migrationsthematik für die auktoriale posture Alina Bronskys geben Anlass zu der Annahme, dass vergleichende Untersuchungen zu anderen Autorfiguren, beispielsweise zu Terézia Mora oder Ilija Trojanow, zu aufschlussreichen Ergebnissen hinsichtlich des Zusammenhangs von Autorposition, Feldstruktur und der Funktion des Rekurses auf biografische Migrationserfahrungen führen können. 41 Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur, S. 244.
Teil III Fallbeispiele
∵
kapitel 7
Vordergründiger Hintergrund. Authentisches Sprechen in Saša Stanišićs Fallensteller Jan Gerstner 1
Der Hintergrund
2014 beklagte Maxim Biller die Angepasstheit der deutschsprachigen Literatur, die, so ließe sich der Vorwurf paraphrasieren, in ihrer Durchschnittlichkeit der Unfähigkeit der mehrheitsdeutschen Mittelschichtsgesellschaft entspreche, die Erfahrungen der in Deutschland lebenden MigrantInnen in ihrem Eigenwert anzuerkennen. Von diesem Vorwurf ist auch ein Autor mit Migrationshintergrund wie Saša Stanišić, der mit Vor dem Fest kurz darauf den Preis der Leipziger Buchmesse gewinnt, nicht ausgenommen: sein neuer Roman spielt in einem Dorf in der Uckermark, unter ehemaligen Ossis, von denen Stanišić so viel versteht wie seine Kritiker vom jugoslawischen Bürgerkrieg, vor dem er mit 14 Jahren nach Deutschland fliehen musste. […] Hat den ehemaligen Leipziger Literaturstudenten Saša Stanišić der Mut verlassen? Ist es ihm wichtiger, als Neudeutscher über Urdeutsche zu schreiben als über Leute wie sich selbst?1 In der Titelerzählung des 2016 erschienenen Erzählungsbands Fallensteller kehren wir wieder in die Uckermark zurück. Nicht zuletzt wegen der neuerdings das Dorf aufsuchenden Literatur-TouristInnen erinnern sich die dortigen ‚Urdeutschen‘ an den Schriftsteller „mit dem Buch über uns“: „Ein Jugo war das. Aber ein verweichlichter Jugo, ganz ungewöhnlich. Jugo-Schriftsteller halt.“2 Das ebenso ungewöhnliche touristische Interesse ist nicht die einzige Folge des Schriftsteller-Besuchs. Auch eine Figur aus Vor dem Fest hat zu schreiben begonnen: Lada, der vom Dorf mindestens so viel versteht wie – nach 1 Maxim Biller: Letzte Ausfahrt Uckermark. In: Die Zeit, 20.2.2014 (http://www.zeit.de/2014/09/ deutsche-gegenwartsliteratur-maxim-biller/komplettansicht, zuletzt geprüft am 7.5.2019); vgl. zu Billers Vorwürfen im vorliegenden Band auch die Beiträge von Martin Schierbaum und v.a. Brigitte Schwens-Harrant. 2 Saša Stanišić: Fallensteller. 2. Aufl. München: Luchterhand 2016, S. 173. Im Folgenden wird Text direkt mit Seitenangaben aus dieser Ausgabe zitiert.
© Koninklijke Brill NV, Leiden, 2021 | doi:10.1163/9789004466234_009
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Gerstner
Biller – sein Autor vom jugoslawischen Bürgerkrieg. Als er am Ende der Erzählung mit einer Erzählung vom Besuch eines Fallenstellers in seinem Dorf einen Preis gewinnt, wird das metafiktionale Spiel auf eine weitere Ebene gehoben. Die Begründung der Jury lautet folgendermaßen: Robert Lada Zieschke komponiert in seinem rasanten Milieustück eine Sinfonie der Provinz jenseits der großen Themen und abseits des Mainstreams. Die originelle Musikalität seiner Sprache sucht ihresgleichen in seiner Generation, was sicherlich damit zu tun hat, dass Zieschke ein Autor mit Provinzhintergrund ist. (250) Der eigentlich evidente parodistische Hintergrund dieser Passage wird wohl eher unfreiwillig wiederholt durch einige Rezensionen zu Fallensteller. In einer insgesamt sehr aufmerksamen Rezension spricht Richard Kämmerlings vom Autor als einem „Sprachvirtuose[n]“ und bringt diese „eminente Begabung […] mit der bosnischen Herkunft […] und der Flucht von Višegrad nach Heidelberg im Alter von 14 Jahren“3 in Zusammenhang. Auch Christopher Schmidt weist im Zusammenhang mit Stanišićs literarischer Sprache darauf hin, „dass der 1978 im bosnischen Višegrad geborene Stanišić 1992 mit seinen Eltern vor dem Krieg nach Deutschland floh.“4 Die Etikettierung als ‚Autor mit Migrationshintergrund‘, mit der sich die zitierte Episode in Fallensteller spielerisch auseinandersetzt und deren Vermengung von Fiktion und Realität die zitierten Rezensenten fortzusetzen scheinen, hat Stanišić in der Vergangenheit, trotz aller Freude über das damit einhergehende Lob, mit einem gewissen Unbehagen kommentiert: In one review of my novel, a well-known critic wrote: „Stanišić puts our old German under the oxygen tent!“ I, of course, took that as a compliment and bragged about it a lot, as I am doing right now. Still, I am very suspicious when, in terms of literary quality, the fact that an author writes in his second or even third language leads to a more favorable critical judgment […]. Giving a migrant author credit for every little language-game
3 Richard Kämmerlings: Große Literatur funktioniert wie ein Zaubertrick. In: Die Welt, 30.5.2016 (https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article155812309/Grosse-Literatur -funktioniert-wie-ein-Zaubertrick.html, zuletzt geprüft am 7.5.2019). 4 Christopher Schmidt: Wunderkindermund. Mit seinem hinreißenden Erzählungsband „Fallensteller“ zeigt sich Saša Stanišić abermals als großer Zauberkünstler der jüngeren deutschsprachigen Literatur. In: Süddeutsche Zeitung, 28./29.5.2016, S. 20.
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he tries, is (to exaggerate slightly) nothing more than another way to say „Oh, look how well that foreigner has learned German.“5 Was sich hier noch in der ambivalenten Haltung gegenüber einem Urteil niederschlägt, das bei aller Euphorie doch die Nicht-Zugehörigkeit zu einer Literatur markiert, die man angeblich revitalisiert, wird in Fallensteller in eine literarische Reflexion über Zugehörigkeiten, Identitäten und die Positionierung als Autor ‚mit Migrationshintergrund‘ überführt. Von daher bietet sich Stanišićs Buch an, exemplarisch nach dem Umgang mit einer Kategorie wie Migrations- oder Migrantenliteratur zu fragen, der jenseits rein thematischer Aspekte die noch immer gängige Orientierung an der AutorInnenbiografie reflektiert, ohne diese vollständig verabschieden zu können. Der Versuch, dem latenten Biografismus einer solchen Orientierung entgegenzuwirken,6 indem stärker als die Person die „transnationalen Perspektiven, die AutorInnen mit transgressiven Lebensläufen und mit Mehrfachzugehörigkeiten zu eröffnen vermögen“,7 in den Blick genommen werden, geht über die oben mit Stanišić beschriebene Festlegung der AutorInnen auf den MigrantInnenstatus nicht wirklich hinaus. Dies gilt ebenso für Manfred Weinbergs Vorschlag, über die Partizipation eines Texts am jeweiligen kulturellen Gedächtnis Migrationsliteratur als das Produkt einer „Übersetzung von Kulturen ineinander, welche die Originalität einzelner Nationalkulturen aufgibt und ein Drittes entstehen lässt“,8 zu beschreiben. Abgesehen davon, dass dafür von einer vorgängigen Entität ‚Nationalkultur‘ ausgegangen werden muss, liegt auch hier die Vorstellung nahe, Texten von MigrantInnen sei gewissermaßen ein mehr oder weniger fremder oder anderer kultureller Zusammenhang 5 Saša Stanišić: How You See Us. Three Myths about Migrant Writing. In: 91st Meridian 7 (2010); deutschsprachiger Wiederabdruck: Saša Stanišić: Wie ihr uns seht. Über drei Mythen vom Schreiben der Migranten. In: Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland. Hg. Uwe Pörksen und Bernd Busch. Göttingen: Wallstein 2008, S. 104–110. 6 Vgl. Manfred Weinberg: Migrantenliteratur – eine Bestandsaufnahme. Am Beispiel von Libuše Monikovás Pavane für eine verstorbene Infantin. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 2, H. 2 (2011), S. 93–111, S. 94: „Welches Lektüre-Modell liegt einem solchen Verständnis von ‚Migrantenliteratur‘ zugrunde? Etwa dieses: ‚Poesie ist Darstellung und Ausdruck des Lebens‘.“ (Weinberg zitiert hier Dilthey); vgl. des Weiteren den Beitrag von Weinberg in diesem Band. 7 Hannes Schweiger: Transnationale Lebensgeschichten. Der biographische Diskurs über die Literatur eingewanderter AutorInnen. In: National – postnational – transnational? Neuere Perspektiven auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa. Hg. Renata Cornejo, Sławomir Piontek und Sandra Vlasta. Ústí nad Labem: Univerzita J.E. Purkyně v Ústí nad Labem, Filozofická fakulta (= Aussiger Beiträge 6 (2012)), S. 13–32, S. 22. 8 Weinberg: Migrantenliteratur – eine Bestandsaufnahme, S. 101.
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ein- oder festgeschrieben, der durch die Migration in eine neue Konstellation gesetzt wird. Ein solcher Zusammenhang – aber auch schon dessen Fremdheit für den Migranten selbst – spielt in Stanišićs erstem Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert durchaus noch eine wichtige Rolle, wird bezeichnenderweise aber in dessen Nachfolger mit der Konzentration auf die Uckermark geradezu demonstrativ zurückgenommen, was wiederum bezeichnenderweise bei einem Kritiker wie Biller nicht gut ankam. Dies alles hat sicherlich mit der bei literarischen Debüts – auch, aber nicht nur von MigrantInnen – häufig zu beobachtenden autobiografischen Orientierung zu tun, die es im vorliegenden Fall dann weiter erlauben würde, den thematischen Bezug zu einem weit verstandenen Begriff von Osteuropa, wie wir ihn in der Einleitung zum vorliegenden Band beschreiben, über die jugoslawische Herkunft Stanišićs herzustellen. Wenn hier gerade nicht der thematisch einschlägigere Debütroman, sondern der in dieser Hinsicht doch weniger ergiebige Erzählband Fallensteller im Mittelpunkt stehen soll, so deshalb, weil die mit der Problematik des Labels ‚osteuropäische Herkunft‘ aufgeworfene Frage doch mehr impliziert als nur die Aufmerksamkeit für neue Themenfelder.9 In der Werkbiografie Stanišićs und deren Rezeption spiegelt sich so einerseits eine durchaus auch in Deutschland zu konstatierende Etablierung der Literatur von Menschen wider, die in einem anderen Land geboren wurden, und von dieser Entwicklung scheint auch und vielleicht in besonderem Maße die Literatur derer zu profitieren, die seit den 1990er Jahren aus den Ländern des früheren Warschauer Pakts und des ehemaligen Jugoslawiens eingewandert sind. Wie die einführend an Stanišićs Texten skizzierte Problemlage zeigt, bleibt allerdings, trotz aller Anerkennung, auch hier Herkunft ein wesentlicher Faktor bei der Rezeption der Texte. Die vielfältigen Zuschreibungen, mit denen MigrantInnen konfrontiert sind, schlagen sich eben auch im Literaturbetrieb nieder. In Fallensteller vollzieht sich die Auseinandersetzung mit diesem „Migrationsvordergrund“10 eher selten auf inhaltlicher Ebene, auf die Billers Forderung, Stanišić solle über „Leute wie sich selbst“11 schreiben, abzuzielen scheint. Sie wird, wie im Fall des „Provinzhintergrunds“, zum einen auf andere Bereiche verschoben, und unterläuft damit gerade die Differenz zwischen „Neudeutschen“ und „Urdeutschen“ im Bereich der literarischen Äußerung. 9 Stanišićs für den vorliegenden Zusammenhang ebenfalls ergiebiges Buch Herkunft (München: Luchterhand 2019) erschien kurz vor Fertigstellung des vorliegenden Bands und konnte daher nicht mehr berücksichtigt werden. 10 So die treffende Formulierung in: Kat Kaufmann: Superposition. Hamburg: Hoffmann und Campe 2015, S. 67. 11 Biller: Letzte Ausfahrt Uckermark.
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Zum anderen schlägt sie sich in Textstrategien nieder, die das Verhältnis von Identität und Differenz, das bei dieser Positionierung im Spiel ist, auf verschiedenen Ebenen als grundsätzliches Spiel des literarischen Texts ausweisen. In diesem Sinn, und nicht an rein thematische Konstellationen gebunden, könnte man in Fallensteller von einer ‚Poetik der (Post-)Migration‘ sprechen,12 die ihr Potential daraus schöpft, dass sie sich einer einfachen Zuordnung zu solchen Kategorien verweigert. ‚Postmigrantisch‘ bezieht sich damit weniger darauf, dass Stanišićs „Leben und Schreiben auf eine nicht genauer definierte Weise zeitlich nach einer Migrationserfahrung situiert ist“,13 sondern auf ein Schreiben, das solche biografischen Festlegungen gerade transzendiert. Myriam Geiser versteht in ihrem Entwurf zu einer durch Hybridität und nicht zuletzt eine „distanzierte[], häufig selbstreflexive[] dynamische[]“14 Erzählposition gekennzeichnete „Poetik der Literaturen der Postmigration“ letztere sehr viel stärker als transitorischen Begriff, der nicht zum „terminologischen Ghetto“15 werden dürfe. Gleichwohl bleibt auch hier der Fokus auf eine „mehrfache kulturelle Zugehörigkeit“16 der entsprechenden AutorInnen zentraler Bestandteil der Korpusbildung. In der sozialwissenschaftlichen Literatur, wo der Begriff der Postmigration in den letzten Jahren besonders rege diskutiert wurde,17 hat
12 Zu einer Poetik der Migration vgl. die Überlegungen von Eva Hausbacher: Poetik der Migration. Transnationale Schreibweisen in der zeitgenössischen russischen Literatur. Tübingen: Stauffenburg 2009, S. 107–144 bzw. zusammenfassend Eva Hausbacher: Schreiben MigrantInnen anders? Überlegungen zu einer Poetik der Migration. In: Migrationsliteraturen in Europa. Hg. Eva Binder und Birgit Mertz-Baumgartner. Innsbruck: Innsbruck University Press 2012, S. 169–183; Hausbachers Thesen lassen sich auf die hier an Fallensteller exemplifizierte Perspektive allerdings nicht umstandslos übertragen. Vgl. dazu weiter unten. 13 Laura Peters: Zwischen Berlin-Mitte und Kreuzberg. Szenarien der Identitätsverhandlung in literarischen Texten der Postmigration nach 1989 (Carmen-Francesca Banciu, Yadé Kara und Wladimir Kaminer). In: Zeitschrift für Germanistik 21, H. 3 (2011), S. 501–521, S. 501, Anm. 2; Peters präzisiert ihren Gebrauch des Begriffs „Literatur der Postmigration“ weiter: „Es kann sich dabei sowohl um Autoren der ersten Generation handeln, die womöglich den Prozess der Umsiedlung und die häufig damit verbundenen Entfremdungserfahrungen beschreiben, als auch um Autoren der zweiten oder dritten Generation, die den Migrationshintergrund als Wissen um die Erfahrung ihrer Eltern und als kulturelle und sprachliche Mehrfachzugehörigkeit mitbringen.“ 14 Myriam Geiser: Der Ort transkultureller Literatur in Deutschland und in Frankreich. Deutsch-türkische und franko-maghrebinische Literatur der Postmigration. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 595. 15 Ebd., S. 307. 16 Ebd., S. 308. 17 Vgl. exemplarisch die Sammelbände Nach der Migration. Hg. Erol Yildiz und Marc Hill. Bielefeld: transcript 2014; Postmigrantische Visionen. Hg. Marc Hill und Erol Yildiz.
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er, obwohl er nicht immer ganz einheitlich verwendet wird,18 auch die ebenso analytische wie strategische Funktion, Migration und Transnationalität als gesamtgesellschaftliches Phänomen zu beschreiben. Erol Yildiz spricht in diesem Sinne von einem „Kampfbegriff […] gegen einen öffentlichen Diskurs, der Migrationsgeschichten weiterhin als spezifische historische Ausnahme erscheinungen behandelt und in dem zwischen einheimischer Normalität und eingewanderten Problemen unterschieden wird.“19 Auf die Analyse literarischer Texte übertragen, kann der Begriff in dieser Beziehung den Vorteil haben, strukturelle Auswirkungen einer durch Migration geprägten Gesellschaft bzw. Welt in Texten stärker zu berücksichtigen, anstatt ein weiteres Teilsegment des literarischen Felds abzustecken.20 In einer solchen ‚postmigrantischen Perspektive‘ lässt sich in „Verbindung mit produktiven oder textnahen Verfahren […] (fast) jede Literatur postmigrantisch lesen.“21 Obgleich Fallensteller sicherlich auch in (werk-)biografischer Hinsicht postmigrantisch genannt werden könnte, ist die zuletzt skizzierte Perspektive deutlich fruchtbarer, da sie erlaubt, mit dem Blick auf die Schreibweise des Texts die kategoriale Zuordnung von Texten zu literatursoziologischen Gruppierungen zu transzendieren und damit einer Auseinandersetzung mit Migrationsphänomenen im Text gerecht zu werden, die sich auf die Migrationsgeschichte des Autors nicht reduzieren lässt. 2
Flüchtlingsthematik
Teil dessen, was hier versuchsweise als postmigrantische Perspektive in Fallensteller bezeichnet wird, ist neben der auf dem Feld der impliziten Poetik des Bielefeld: transcript 2018; Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik. Hg. Naika Foroutan, Juliane Karakayalı und Riem Spielhaus. Frankfurt a.M., New York: Campus 2018. 18 Vgl. Naika Foroutan: Die postmigrantische Perspektive: Aushandlungsprozesse in pluralen Gesellschaften. In: Postmigrantische Visionen. Hg. Hill und Yildiz, S. 15–27, wo zwischen drei Formen, den Begriff operationalisierbar zu machen, unterschieden wird; zur Bedeutung des „Post“ im Postmigrantischen vgl. Dirk Rupnow: Wann war „die PostMigration“? Denken über Zeiten und Grenzen. In: Ebd., S. 29–42. 19 Erol Yildiz: Postmigrantische Perspektiven. Aufbruch in eine neue Geschichtlichkeit. In: Nach der Migration. Hg. Yildiz und Hill, 19–48, S. 22. 20 Vgl. Moritz Schramm: Jenseits der binären Logik. Postmigrantische Perspektiven für die Literatur- und Kulturwissenschaft. In: Postmigrantische Perspektiven. Hg. Foroutan, Karakayalı und Spielhaus, S. 83–94, v.a. S. 89. 21 Heidi Rösch: Von der Migrations- zur postmigrantischen Literatur? Ansätze einer postmigrantischen Lesart. In: Neue Formen des Poetischen. Didaktische Potenziale von Gegenwartsliteratur. Hg. Irene Pieper und Tobias Stark. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2016, 239–263, S. 257; vgl. ähnl. auch ebd., S. 90f.
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Texts ausgetragenen Auseinandersetzung mit der Positionierung als ‚Autor mit Migrationshintergrund‘ die Frage nach der Möglichkeit, von anderen Migrationserfahrungen zu sprechen. Dies impliziert nicht nur die Reflexion des Sprechens über jene und der eigenen Position, sondern ebenso die der gesellschaftlichen Position von Migration. An einem Handlungsstrang der Erzählung Fallensteller lässt sich dies wieder exemplifizieren. Einige „besorgte Bürger“ (208) des Dorfs sorgen sich dort wegen der vorgeblichen „Übergriffe[]“ (213) neuerdings im Umland lebender Wölfe. Die Sprache, mit der dieses Problem bei einer abendlichen Versammlung in einer Gaststätte diskutiert wird, lässt wenig Zweifel daran, worauf der Text abzielt: „Ein Wolf ist ein Wolf, der kann sich doch schon allein von seiner Kultur her nicht an unsere Sitten halten“ (212). Das erzählerische Verfahren, den jüngsten Aufschwung deutscher Fremdenfeindlichkeit nicht an den ebenfalls im Dorf lebenden syrischen Flüchtlingen22 (vgl. u.a. 175), sondern an der Tierwelt durchzuspielen, lenkt zunächst einmal den Fokus weg von den Opfern der Rassisten. Jene erscheinen damit nicht, wie sonst oft, als Teil des Problems. Stattdessen tritt das tatsächlich problematische Denken der Fremdenfeinde in den Vordergrund. Darüber hinaus reflektiert das Verfahren die Aporie, aus einer durchaus politisch engagierten Haltung heraus zu schreiben, ohne dabei in einen Betroffenheitsgestus zu verfallen oder, im vorliegenden Fall, über die Thematisierung einer aktuellen Fluchtbewegung die Fluchtgeschichte des Autors gleichsam als Authentizitätsgarantie mit ins Spiel zu bringen. Die Verbindung der Kategorie ‚Autor mit Migrations- bzw. Fluchthintergrund‘ mit der Frage nach einer literarischen Antwort auf den europäischen Umgang mit Flüchtlingen ergibt sich dabei aber in erster Linie aus der Reflexion über die Problematik, eine solche Verbindung überhaupt herzustellen. Der Ankündigungstext zu Fallensteller, den Stanišić auf seiner Homepage veröffentlicht hat, bezieht das Buch sehr viel deutlicher als der fiktionale Text auf das Flüchtlings-Thema (und wieder auch nicht): Im Mai 2016 erscheint mein neues Buch, „Fallensteller“, mit kurzen Formen, Erzählungen, Novellen. Es geht um Mißtrauen der Sprache gegenüber, um Undankbarkeit, um einsame Witwer bei einer Zaubershow, um Hirten im Hochgebirge. Warum zu einer Zeit, da sich 60 Mio. Menschen, so viele wie noch nie, auf der Flucht befinden, andere Geschichten als ihre erzählen?
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Die Verwendung des Ausdrucks „Flüchtlinge“ statt „Geflüchtete“ hat nichts mit der Ablehnung politisch korrekter Sprache zu tun, sondern damit, dass mich bisher keins der Argumente für dieses oder gegen jenes Wort überzeugt hat.
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Oder Geschichten über das politisch brutale, sozial verrohte Europa, das Grenzzäune errichtet und einem Flüchtigen mit Kind im Arm das Bein stellt, statt sichere Fluchtwege zu schaffen und für humane Behandlung der Menschen in Not zu sorgen? […] So viel erinnert an ’92, an unsere Flucht nach Deutschland, an Ungewissheiten unterwegs, das Ausgeliefertsein den Grenzbeamten, Fußmär sche, Angst. Auch Angst in Deutschland, in der eigentlichen Sicherheit, an deren Rändern es brannte: in Rostock-Lichternhagen [sic] wenige Tage nach der Ankunft. Heute brennt es wieder dort, wo Schutz sein sollte. Und wie damals verzapfen die gleichen politischen Entscheidungsträger den gleichen protektionistischen Irrsinn, und es brüllt in der Mitte der versorgte, besorgte Bürgermob Parolen, die vermuten lassen, man habe den Geschichts unterricht auf Jahre hinweg geschwänzt, den Ethikunterricht nicht verstanden und nicht mal in Reli aufgepasst. Sogar Autoren wollen das „Nationale“ der Literatur schützen, dabei ist nichts weniger schützenswert als begrenzende Bevormundung der Kunst. Wenn man heute Literatur sprechen lassen möchte, muss man 1001 Einfluss hören können. Die einfache Antwort: Es müssen auch andere Geschichten erzählt werden. Die komplizierte: Was sagt die Flucht der anderen über uns? Wie klingt sie?23 Für einen Ankündigungstext ist hier erstaunlich viel Platz darauf verwendet, zu erklären, worum es im angekündigten Buch nicht geht. Die Erklärung dafür scheint eher in der zweiten, ‚komplizierten‘ Antwort zu liegen als in der recht unbefriedigenden ersten. Das Komplizierte liegt bereits im Referenzbereich des ‚wir‘, von dem im Gegensatz zur „Flucht der anderen“ die Rede ist. Obgleich der biografische Rückbezug auf die Situation von 1992 die Gemeinsamkeit der eigenen Erfahrung mit der der aktuellen Flüchtlinge herausstellt, dabei aber vor allem auf die deprimierend vergleichbaren politischen Rahmenbedingungen abzielt, scheint das Subjekt, über das die „Flucht der anderen“ etwas sagen könnte, eher die deutsche oder europäische Gesellschaft zu sein als eine Gemeinschaft der ehemaligen Jugoslawien-Flüchtlinge. Hinsichtlich der erwähnten Wolfs-Handlung in der Erzählung Fallensteller ließe sich das so lesen, dass mit der Anwesenheit von Flüchtlingen in der deutschen Gesellschaft etwas sichtbar wird, was sonst unter der Oberfläche geblieben wäre. Diese bezogen auf den gesamten Erzählband doch recht punktuelle 23 Saša Stanišić: [Ankündigungstext zu Fallensteller] (http://www.kuenstlicht.de/kuenst licht, zuletzt geprüft am 8.11.2017, inzwischen nicht mehr verfügbar).
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Interpretation wäre im Blick auf das disproportionale Verhältnis der tatsächlichen Ankündigung zur politischen Anklage im Ankündigungstext dahingehend zu erweitern, dass die Flucht der anderen einen Hintergrund abgibt, der auch die Erzählungen über „uns“ in einer Weise strukturiert, die nicht unbedingt auf didaktisch motivierte Flüchtlingsgeschichten aus deutscher Perspektive hinauslaufen muss. Das Wissen um die Vorgänge an den Grenzen der Europäischen Union verlangt, dass man auch von ‚uns‘ anders erzählt. Die Frage nach dem ‚Klang‘ der Flucht deutet dabei auf die ästhetische Faktur literarischer Rede. 3
Die Flucht der anderen: In diesem Wasser versinkt alles
Die schwierige Identität eines ‚Wir‘ und die Verbindung einer Flüchtlingsbiografie mit aktuellen Fluchtbewegungen wird in der letzten Erzählung des Bands mit dem Titel In diesem Wasser versinkt alles thematisiert. Auf der Fahrt vom Ferienhaus in der Provence nach Paris überlegen der Erzähler und seine beiden Freundinnen, was angesichts der „Unfähigkeit“ oder des „Unwillen[s]“ „der europäischen Regierungen, die Flüchtlingssituation in einer Weise zu managen, die zugleich menschenwürdig und effektiv wäre“ (260), auf persönlicher Ebene zur Besserung der Lage beigetragen werden kann. Da die ProtagonistInnen, allesamt erfolgreiche junge UnternehmerInnen, keine Zeit für persönliches Engagement haben, nehmen sie sich vor, „einfach Kohle [zu] spenden an irgendwas mit Kindern.“ (261) Bei der Suche nach der richtigen Form des Engagements weist eine seiner Begleiterinnen auf die Fluchtbiografie des Erzählers hin: „‚Du bist doch selbst einer [d.h. ein Flüchtling], du kennst dich aus‘, sagt Anna./‚Ist jetzt nicht so, dass das ein Talent ist‘, sage ich.“ (Ebd.) In der Tat ist zunächst nicht ganz ersichtlich, was die Fluchtgeschichte des Erzählers, der als Kind aus einer Bürgerkriegssituation, die sich in einer der ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken abzuspielen schien – der Hinweis auf Bosnien wird konsequent vermieden –, nach Deutschland floh, nun mit der Situation syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge zu tun haben könnte. Auch wenn die Grundbedürfnisse von Flüchtlingen sicherlich nicht so verschieden sind, ist im Kontext selbstverständlich etwas anderes im Spiel. Die eigene Fluchtbiografie hat der Erzähler weitgehend von sich abgespalten. Erinnerungen sind für ihn vor allem geschäftlich von Belang: Sein Start-Up-Unternehmen memstore vermarktet offenbar das Ergebnis seiner neurowissenschaftlichen Forschungen, ein „Brain-Computer-Interface, das aus Splittern der Erinnerung Geschichten konstruiert“ (272). Dies steht dem Geschäft eines Schriftstellers zwar recht nahe, doch der Erzähler erfährt die persönliche Erinnerung als glücklicherweise
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ignorierbares Problem: „Meine Erinnerungen sind bisher gut umgegangen mit mir, die bitteren blieben folgenlos, glaube ich. Das Leben meiner Mutter und meines Großvaters ließ sich gut wegtelefonieren, und ein Mal im Jahr, wenn Mutter nach Frankfurt kam, wegbesuchen.“ (272f.) Mit der Nachricht, dass der Großvater im Sterben liegt, tritt die Vergangenheit wieder hervor, in Form von Erinnerungssplittern, Anekdoten aus der Kindheit, die die Gegenwartsebene in Frankreich durchbrechen. Diese zweite Erzählebene demonstriert ebenso wie die Partizipation am Sterben des Großvaters über den SMS-Verkehr mit der Mutter die Distanz zum Herkunftsland und zur dort noch lebenden Familie. Angesichts der Beziehungslosigkeit zwischen der eigenen Fluchtgeschichte und seinem gegenwärtigen Leben kann man vom Erzähler wohl tatsächlich nicht verlangen, dass er sich mit der Flucht anderer besonders gut auskenne. Die Problematik hat in der Erzählung metapoetische Züge. Die bei aller Distanz deutlich erkennbaren Parallelen zwischen dem Erzähler und Stanišić – neben den biografischen Rahmenbedingungen etwa die Verwendung von aus Wie der Soldat das Grammofon repariert bekannten Motiven24 und die Nähe der Geschäftsidee memstore zur literarischen Tätigkeit – stellen auch die Bemerkung, es sei kein „Talent“, Flüchtling zu sein, in den hier interessierenden Kontext. Innerhalb der Erzählung ist dies sicherlich ein Versuch des Erzählers, die Vergangenheit von sich wegzuschieben. Experte ist aber auch der Autor mit Migrationshintergrund nicht, wenn es um die aktuelle Situation von Flüchtlingen geht, und nur in diesem Kontext ist es eigentlich sinnvoll, von einem „Talent“ zu sprechen. Die eigene Position als Autor mit Migrationshintergrund macht das Sprechen über die Situation anderer Migranten nicht authentischer, wenn man damit im Sinne einer ‚Subjektauthentizität‘25 auf die Verankerung einer Äußerung in der Erfahrung dessen, der sie tätigt, abzielt. Dies liegt in der Erzählung nicht zuletzt daran, dass das Subjekt der Äußerung, um es mit einer etwas abgegriffenen Metapher auszudrücken, in sich gespalten ist. Die oben gestellte Frage nach dem ‚wir‘ am Ende des Ankündigungstexts für Fallensteller scheint der Erzähler für sich beantwortet zu haben,
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So etwa das Eisenbahnerhemd und damit der Beruf des Großvaters, der Fluss, das Motiv des Ertrinkens (vgl. 261f. sowie Saša Stanišić: Wie der Soldat das Grammofon repariert. 6. Aufl. München: btb 2008, S. 17–21). Vgl. zur Differenzierung Susanne Knaller: Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität. Heidelberg: Winter 2007, S. 21–25; vgl. auch die weiteren Differenzierungen bei Antonius Weixler: Authentisches erzählen – authentisches Erzählen. Über Authentizität als Zuschreibungsphänomen und Pakt. In: Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption. Hg. ders. Berlin: de Gruyter 2012, S. 1–32, S. 12–15.
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denn er ist in Deutschland angekommen. Sowohl familiär als auch von Seiten seiner Freundinnen – die ihn doch noch als Flüchtling ansehen – wird aber deutlich, dass es einen Teil seiner Identität gibt, der zwar weder Talent noch authentisches Wissen garantiert, der eine Identität im Sinne von Zugehörigkeit doch erschwert. ‚Authentizität‘ läge hier eher im Abstand von Äußerung und Identität, in Brüchen, die sich im literarischen Äußerungsakt selbst niederschlagen. 4
Im Zwischenraum der Zeichen: Die Horvath-Geschichten und Die Fabrik
Ohne Bezug auf die Flucht- oder Migrationsproblematik zu nehmen, spielt der Komplex der Erzählungen um Georg Horvath in Fallensteller den Zusammenhang sowie den Bruch zwischen sprachlicher Äußerung und Identität durch. Von Anfang an stehen diese drei aufeinander aufbauenden und im Band hintereinander abgedruckten Erzählungen von der Dienstreise des Justiziars eines Bremer Brauereikonzerns mit dessen Suche nach dem richtigen Sprachbild für den Anblick der Lichter des nächtlichen Rio de Janeiro im Zeichen poetologischer Reflexion und einer sich fortsetzenden Sprachkrise. Welche manifesten Folgen die Frage der richtigen Benennung haben kann, muss Horvath erfahren, als er nach der Landung in der Annahme, es handle sich um einen Schreibfehler, in den Wagen eines Chauffeurs steigt, der ein Pappschild in der Hand hält, auf dem sein Name mit w statt mit v geschrieben ist. Fortan ist auch Horvath im Text mit w geschrieben. Als sich aufklärt, dass der Chauffeur offenbar einen anderen Horwarth hätte abholen müssen und Horvarths Name wieder mit v geschrieben wird, hat sich der Protagonist längst damit abgefunden, statt zur Brauerei „Vogelbräu“ zu einer Art Hippiekommune mit angeschlossener Vogelwarte gefahren zu werden, wo er schließlich ein neues Verhältnis zu sich selbst wie zur Welt und ihrer zeichenhaften Vermittlung zu entwickeln scheint. Während der Fahrt befindet sich ‚Horv/warth‘ in einer Art Zwischenzone, einem sprachlichen ‚third space‘, in dem sprachliche Vermittlung misslingt und zugleich irgendwie gelingt. Die titelgebende Ambivalenz der mittleren der drei Erzählungen, It’s okay. It’s also not okay, bestimmt schon den größten Teil der Kommunikationsversuche Horvaths mit seinem Chauffeur Ali, dessen Antworten zunächst immer gleich ausfallen: „‚Si‘, sagt er und nach einer Pause: ‚No‘, und reckt den Daumen.“ (105) Diese Zwischenposition zwischen Bestätigung und Verneinung wird in einer traumartigen Binnenerzählung im titelgebenden Ausspruch eines Manns aufgenommen, dem Horvath während
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einer früheren Dienstreise nach Bukarest in den äußerst eigenartigen Gängen im Untergeschoß seines Hotels begegnete. Auf die eigentlich anlasslose Entschuldigung Horvaths („For being here. For who I am. For everything“) entgegnet dieser seltsam livrierte Mann zunächst scheinbar beschwichtigend, es sei ok, um dann, während er den Protagonisten attackiert, hinzuzufügen, es sei zugleich nicht ok, denn: „Who can be truly sorry for everything?“ (111) Damit entwirft die Binnenerzählung einen Raum, der charakteristisch ist für die gesamte Erzählung, in der generell Bedeutung nicht mehr durch die regelgerechte Differenz von Zeichen garantiert werden kann. Offensichtliche Schlüsselwörter hierfür liefert die sich in der Binnenerzählung unmittelbar an die Begegnung mit dem Livrierten anschließende Episode. Horvath gerät auf eine offenbar literaturwissenschaftliche Konferenz, bei deren auf Rumänisch gehaltenen Vorträgen er nur zwei Wörter zu verstehen meint, die er später einem Taxifahrer in Bukarest entgegenschleudern wird: „kafkaeskul“ und „groteskul“. Mit der Übernahme dieser beiden Wörter durch den Protagonisten, der erst später erfährt, dass es sich um Substantivierungen und nicht um Adjektive handelt, macht der Text die Verfahren seiner Konstruktion anschaulich: Das Groteske entspringt einer Übersetzung und sprachlichen Verschiebung, die zu eigentlich dysfunktionalen, aber darin situationsadäquaten Kommunikationsakten führt. Horvath selbst erscheint es im Nachhinein absurd, in einem Taxi „das Groteske“ und „das Kafkaeske“ geschrien zu haben, aber gerade darin wird der Effekt des Grotesken performativ als Ergebnis sprachlicher Prozesse, also auch der Textverfahren, sichtbar. Das Spiel mit Mehrsprachigkeit in diesen Erzählungen ist nun weniger als stereotypes Merkmal einer ‚interkulturellen Literatur‘ interessant, sondern weil damit eine sprachliche Produktivität jenseits von Urteilsfunktionen und Referenzialität erkennbar wird, deren kommunikative Dysfunktionalität auf der inhaltlichen Ebene der Protagonist am Ende als Befreiung von Identitätszwängen zu erfahren scheint. Dies gelingt aber, weil literarische Sprache als sekundäres Zeichensystem vorgeführt wird, das auf der Textebene und nicht auf der Referenzebene operiert. Ein klassisches Modell solcher literarischen Selbstreflexivität ruft der nicht zum Horvath-Komplex gehörige Text Die Fabrik auf, die einzige Erzählung in Fallensteller, deren Schauplatz in Bosnien liegt. Ein namenloser Ich-Erzähler kommt im Schneetreiben auf der Romanija, einem Gebirge im Osten des Landes, von der Straße ab und wird von Hirten zu ihrer Hütte und später zur Bauruine einer Fabrik geführt, deren Errichtung bis zum Verschwinden des Bauherrn mit EU-Geldern gefördert wurde. Was es mit den leicht phantastisch wirkenden Hirten auf sich hat, wird zumindest ansatzweise angedeutet:
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Über das karge Hochland ginge immer Wind, lügen sie [die Hirten, J.G.], darin seien die Atemzüge aller Serben und Bosniaken und Kroaten, die je auf der Romanija geseufzt, geliebt, getrauert hätten, verwoben in alle Ewigkeit. Die sagen das nicht ganz so, die Hirten. (58) „Die sagen das nicht ganz so, die Hirten“ (61), heißt es auch zwei Seiten später wieder, nach einer in ähnlich gehobenem Ton formulierten Passage, und dies beschreibt ungefähr ein Verfahren, mit dem die europäische Hirtendichtung seit Vergils Eklogen operiert. Traditionell war die Bukolik ein Genre, das Literatur als sekundäres Zeichensystem vorführt.26 Man muss die Hirten bei Stanišić nun nicht traditionsgemäß als Stellvertreter des Dichters lesen, und wirklich arkadisch erscheinen sie auch nicht in ihren Puma-Trainingsjacken, wenn sie in der Fabrik Karten spielen oder Mars-Schokoriegel in den Tee tunken. Aber auch in dieser Erzählung ist am Werk, was William Empson schon in den 1930er Jahren pointiert für die Verfahren der Schäferdichtung zusammengefasst hat: „The essential trick of the old pastoral […] was to make simple people express strong feelings […] in learned and fashionable language“.27 Das macht Stanišićs Text noch nicht zur Idylle. Indem die Hirten aber als Figuren inszeniert werden, die im Text etwas anderes sagen als sie eigentlich sagen, ruft die Erzählung auch eine spezifische literarische Tradition auf und potenziert darin die Reflexion über die Möglichkeiten literarischen Sprechens. Die Fabrik ist für den vorliegenden Zusammenhang daher aus zwei Gründen interessant: Zum einen als Verweis auf ein literarisches Modell der Reflexion und Veranschaulichung von Möglichkeiten literarischer Rede, zum anderen, indem hier der Verweis auf Stanišićs Herkunftsregion und das Sprechen da rüber explizit in ein künstliches Sprechen überführt wird.28 Die hohe Sprache, in der die Romnaija als geschichtsträchtiger Begegnungsort der Bevölkerungsgruppen in der Region dargestellt werden könnte, ist nicht die Sprache derer, 26 27 28
Vgl. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 65, 71. William Empson: Some versions of pastoral. New York: New Directions 1974, S. 11. Dazu trägt auch bei, dass der Text einige der in der Literatur des 20. Jahrhunderts topischen Elemente zur Beschreibung Bosniens aufruft, wie u.a. den Schnee, die historische Vertiefung als Vielvölkerregion, die „Zerklüftetheit der Landschaft und die raue meteorologische Situation“ sowie den dem angeblich entsprechenden Menschenschlag (vgl. zu dieser Topik: Miranda Jakiša: Bosnientexte. Über-Leben im literarischen Text. In: Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen. Hg. Magdalena Marszałek und Sylvia Sasse. Berlin: Kadmos 2010, S. 69–91, S. 80).
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die dort wirklich leben und umgekehrt: „Ich spreche die Sprache der Hirten, aber ich verstehe nicht, was sie verstehen“ (62). Auch um über die Herkunftsgegend zu sprechen – sofern man unterstellt, dass der Erzähler ebenfalls aus Bosnien stammt –, bedarf es einer anderen Sprache als jener, die die dort Ansässigen sprechen.29 5
Positionierung des/r Erzähler/in: Die Mo-Geschichten
In Die Fabrik und den Geschichten um Georg Horvath zeigt sich der Text offen als differenzielles Spiel von Zeichen, die sich einer eindeutigen Festlegung entziehen. Die Äußerungen der Hirten im Text siedeln sich ebenso in einem Zwischenraum zwischen der Sprache des Erzählers und der der Hirten an, wie in den Horvath-Geschichten verschiedene Formen des Zwischenraums zwischen dem sprachlichen Zeichen und seinem Geltungsbereich eröffnet werden – zwischen Bestätigung und Verneinung, zwischen pragmatischen und semantischen Dimensionen sowie grundsätzlich zwischen zwei Schreibweisen des Namens der Hauptfigur. Dies muss – und sollte – selbstverständlich nicht exklusiv auf die Situation eines Autors mit Migrationshintergrund hin gelesen werden. Im selbstreflexiven Ausstellen seiner differenziellen Struktur entzieht sich der Text vielmehr eindeutigen Zuweisungen zu einem Herkunftsbereich, ohne sich dabei wiederum im reinen Sprachspiel zu erschöpfen. Die Bedeutung der bisher am textuellen Einsatz von Äußerungen gezeigten Differenzfiguren für die Ausgangsthesen einer Auseinandersetzung sowohl mit Zuschreibungen wie ‚Autor mit Migrationshintergrund‘ als auch mit der gegenwärtigen Flüchtlingssituation in Europa lässt sich in Fallensteller besonders deutlich anhand der Geschichten um Mo herausarbeiten. Wie die Geschichten um Horvath bauen auch diese drei Erzählungen aufeinander auf, sind aber in ihrer Reihenfolge durch andere Erzählungen im Band unterbrochen. Fragen der Identität und Differenz betreffen hier bereits die Erzählinstanz, bei der erst im Verlauf der zweiten Erzählung deutlich wird, dass sie offenbar weiblichen Geschlechts ist. Während vorhergehende Gesten wie das Nachziehen der Augenbrauen vor dem Spiegel (vgl. 75) noch überlesen werden können bzw. nicht unbedingt geschlechtsspezifisch gelesen werden müssen, ist der Text in einer späteren Szene sehr deutlich. Mo, der Begleiter der Erzählerin, flirtet hier auf recht einfallslose Weise mit zwei Polizistinnen an einem Imbissstand 29 Wenn es zu Beginn des letzten Absatzes schließlich heißt: „Ich habe gehört, auf dem Karstklotz namens Romanija […] stehe eine Fabrik“ (62), scheint die Erzählung sich schließlich insgesamt als reine Imagination herauszustellen.
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in Stockholm, während jene „mit einem geliehenen Kinderwagen ohne Kind“ (80) neben ihm steht: „Die Brünette [eine der Polizistinnen, J.G.] sieht mitleidig von mir zum Kinderwagen, ein wenig herablassend auch, von wegen: hat der Spaßspecht etwa mit solchen Diskurselementen bei dir den Telemark hingekriegt?“ (82) Auch wenn man nicht weiß, dass es sich beim Telemark um eine Landetechnik beim Skispringen handelt, ist deutlich, was im vorliegenden Kontext damit gemeint ist. Bis zu dieser Stelle lag die Annahme nahe, bei der Erzählinstanz, die in der ersten Erzählung immerhin ein T-Shirt mit eher männlich kodiertem Motiv – „Sylvester Stallone in einer seiner frühen Rollen“ (41) – trägt, handle es sich um einen jungen Mann. Unabhängig vom T-ShirtMotiv dürfte dazu bereits die von der feministischen Erzähltheorie herausgearbeitete prinzipielle Vorannahme einer Übereinstimmung des Geschlechts von Autor/in und homodiegetischer Erzählinstanz beigetragen haben.30 Wie wirkmächtig eine solche Unterstellung ist, zeigt die Rede vom „ungenannte[n] Erzähler und seine[m] Kumpel Mo“31 in den meisten Rezensionen zu Fallensteller. Hinweise auf die „Icherzählerin“32 bzw. darauf, dass „das Geschlecht des Erzählers, der Erzählerin changiert“,33 bilden die Ausnahme. Selbst wenn man die Annahme der Erzählerin teilt, „dass man Frauen überall erwarten kann 30
Vgl. dazu: Susan S. Lanser: Sexing Narratology. Towards a Gendered Poetics of Narrative Voice. In: Grenzüberschreitungen. Narratologie im Kontext. Hg. Walter Grünzweig und Andreas Solbach. Tübingen: Narr 1999, S. 167–183, S. 176f. 31 Kämmerlings: Große Literatur funktioniert wie ein Zaubertrick; vgl. fast wortgleich Schmidt: Wunderkindermund und Wolfgang Schneider: Ein literarischer Ethnologe (http://www.deutschlandfunkkultur.de/sasa-stanisic-fallensteller-ein-literarischer -ethnologe.1270.de.html?dram:article_id=353633, zuletzt geprüft am 7.5.2019) sowie Judith von Sternburg: Uckermarkerschütternd. In: Frankfurter Rundschau, 8.6.2016 (http:// www.fr.de/kultur/literatur/sasa-stanisic-fallensteller-uckermarkerschuetternd-a-343468, zuletzt geprüft am 7.5.2019). Nach Metz handelt es sich bei den Erzählern in Fallensteller „durchgehend um männliche Erzähler- und Perspektivfiguren“ (Christian Metz: Jeder Text erblüht aus einem einzelnen Wort. Saša Stanišić lässt in seinem Erzählungsband „Fallensteller“ unscheinbare Zeitgenossen in einer entzauberten Welt aufleuchten. Besonders zeitgemäß ist das nicht. In: Frankfurter Allgemeine, 23.7.2016 (http://www.faz .net/aktuell/feuilleton/buecher/erzaehlungsband-fallensteller-von-sa-a-stani-i-14352889 .html, zuletzt geprüft am 7.5.2019). 32 Christoph Schröder: Ein heiterer Melancholiker. Saša Stanišić ist ein Schriftsteller, der fast alles kann. Sein Erzählband „Fallensteller“ ist reich an verspielter Komik, Traurigkeit und brillanten Sätzen. In: Die Zeit, 18.5.2016 (https://www.zeit.de/kultur/literatur/2016-05/ sasa-stanisic-fallensteller-rezension, zuletzt geprüft 7.5.2019). 33 Karl-Markus Gauss: Gross in Form. Nach zwei hervorragenden Romanen beweist Saša Stanišić mit einer Sammlung von Erzählungen, dass er auch in der kurzen Form Grossartiges zustande bringt. In: Neue Zürcher Zeitung, 26.7.2016 (https://www.nzz.ch/feuilleton/ buecher/sasa-stanisis-sammlung-fallensteller-gross-in-form-ld.107537, zuletzt geprüft am 7.5.2019).
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und dass jeder Mensch alles sein dürfen sollte“ (41), nimmt ihre Überraschung, dass es sich bei der in der entsprechenden Szene vor ihr stehenden Person nicht um einen Mann handelt, wohl die spätere Leserüberraschung vorweg. Indem er rezeptionssteuernde Vorannahmen bezüglich der Geschlechtsidentität der Erzählinstanz bewusst macht, transferiert der Text das Thema des auf seine Migrationsbiografie bezogenen Autors auf ein anderes, aber vergleichbares Feld. Die grundsätzliche Verunsicherung von Identitätszuschreibungen auf der Ebene der narrativen Vermittlungsinstanz wird innerhalb der Diegese mehrfach aufgenommen. Gleich zu Beginn der ersten Erzählung, wenn die beiden ProtagonistInnen ungeladen auf einem Fest von „christlichen Menschenrechtsaktivisten“ (39) erscheinen, behauptet Mo, „bevor […] das erste Fragezeichen in der Identitätsreederei seetauglich gemacht wird“, „sein Name sei Mohammed, und er sei Kosovare, was den Aktivisten keine Wahl lässt, als uns Eindringlinge nicht als Eindringlinge zu betrachten“ (40). Obwohl später im Rückblick auf eine Situation vor Betreten des Fests von der „kosovarisch gebeutelten Stimme“ Mos (48) die Rede ist, erscheint diese Vorstellung angesichts des Spendenzwecks der Feier – ein Brunnen in Kosova (ich übernehme die Verwendung der albanischen Form im Text) – und Mos eigentlicher Absicht bei dem Besuch – mit einer der Aktivistinnen anzubandeln – schon zu diesem Zeitpunkt nicht recht glaubwürdig. In der Anschlusserzählung wird die instrumentelle Aneignung von Identitätszuschreibungen schließlich im Rahmen einer Vernissage in Stockholm als Strategie des Protagonisten offengelegt: Mo gab sich zwar mitunter eine falsche Nationalität, um für bestimmte Milieus relevanter zu erscheinen, aber in der Galerie ging er die Sache als Deutscher an, womöglich um mit Merkels Politik der irgendwie quasi fast offenen Grenzen für eine junge Ärztin ohne Grenzen […] hervorzustechen. (71) Nun liegt hier zwar ein Milieu vor, in dem Mo gerade als Deutscher relevant wirken möchte, doch angesichts der an anderen Stellen erkennbaren familiären Hintergründe scheint diese Information zur Nationalität über die jeweilige Situation hinaus tatsächlich diegetisch gültig zu sein. Es ist ein weiterer Teil der Verunsicherungsstrategien des Texts, wenn an späterer Stelle Mo von seiner Stiefmutter wirklich Mohammed genannt wird (vgl. 85). Die naheliegende Schlussfolgerung, Mo sei deshalb auch Muslim, scheint allerdings aufgrund einer Überlegung der Erzählerin zu „Muslimen aus meinem erweiterten Freundeskreis“ (42) wiederum nicht zuzutreffen.
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Es kann hier nicht darum gehen, möglichst viele der widersprüchlichen Informationen des Texts zusammenzutragen, um sie in eventuell zutreffende und offensichtlich irreführende einzuteilen, sondern lediglich darum, den verwirrenden Umgang mit Informationen als Textstrategie zu illustrieren. Diese ist auch in der pikaresk modellierten Erzählstruktur begründet, was die Unsicherheit bzw. Unbekümmertheit in Identitätsfragen ebenso einschließt wie die ständigen, oft episodisch gereihten Ortswechsel. Lassen sich die Identitätsverwirrungen schon auf Fragen der Zuschreibung wie ‚Autor mit Migrationshintergrund‘ beziehen, ohne exklusiv darauf festgelegt werden zu müssen, so entfalten die Reisebewegungen der beiden ProtagonistInnen ein ganzes Panorama unterschiedlicher Aspekte von Migration. Dies betrifft phantastische Elemente, wie den finnischen Gott der Reise (vgl. 152), einen Zugvogel wie die Turteltaube, die Mo und der Erzählerin Island ausgerechnet als ihre Heimat präsentieren will (vgl. 143–145), oder auch die Behauptung, in Mos Augenbrauen probe eine Schauspielklasse, was mit einem Zitat aus Aischylos’ Die Schutzflehenden belegt wird (vgl. 148 – damit ist natürlich auch eines der meistgespielten aktuellen Theaterstücke zur sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘ aufgerufen). Es betrifft aber ebenso Ereignisse der Zeitgeschichte, wie die Proteste nordafrikanischer MigrantInnen in einem Stockholmer Vorort, an denen Mo und die Erzählerin teilnehmen (154f.), oder die Überquerung der norwegisch-russischen Grenze durch afghanische und syrische Flüchtlinge auf Fahrrädern im tiefen Schnee (vgl. 148–150). Angesichts der Absurdität von Grenzbestimmungen gerade in letzterem Fall34 scheint die Grenze zwischen Phantastik und zeitgeschichtlicher Referenz zu verschwimmen, was durchaus als textstrategisch intendierter Effekt verstanden werden kann. Die Absurdität der Phantastik lässt die der Realität sichtbar werden. Ein negatives Modell für den Umgang der Erzählung mit der Situation von Flüchtlingen und den Zuständen in ihren Herkunftsländern findet sich in der erwähnten Stockholmer Galerie. Dort werden Bilder einer „syrischen Surrealistin“ (65) ausgestellt, deren Hauptwerk „zwischen Ruinen spielende Flugmarschkörper in Kinderkleidung“ (ebd.) zeigt. Sekundiert wird dieses Bild vom Mann der Künstlerin, der im Rollstuhl sitzend den Galeriebesuchern erzählt, wie er in Aleppo seine Kinder auf dem Schulweg während eines Luftangriffs verlor.35 34
Da der Grenzübergang bei Storskog von Fahrzeugen, nicht aber von Fußgängern passiert werden darf, und lokale Autofahrer aus Furcht vor Strafen keine Flüchtlinge mitnehmen wollen, stellt das Fahrrad hier ein vergleichsweise einfaches Mittel zum problemlosen Grenzübertritt dar (vgl. u.a. Reinhard Wolff: Mit dem Fahrrad nach Norwegen. In: taz 9.9.2015, http://www.taz.de/!5230498/, zuletzt geprüft am 7.5.2019). 35 Später wird zumindest die Möglichkeit eröffnet, dass die Kinder in Wirklichkeit im Obergeschoss der Galerie friedlich schlafen.
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Mo und ich waren alles andere als Kunstheinis, aber auch uns war klar, dass das Motiv ohne die Aufhängung aus Biografie und Kindern und zitternden Händen des Vaters – einmal berührte er das weiße Jäckchen der Tochterrakete – das plumpste Kackbild ever war […]. Man teilt das so aber natürlich nicht mit, man geht nicht zu Alima hin und sagt […] dein Gemälde ist aber ziemlich schlecht, es macht mich wütend, und es ist grausam, aber auch trivial und damit wieder nicht grausam genug. (67f.) Wenn Mo und die Erzählerin dieses Bild im Anschluss stehlen, um es zu verkaufen und das Geld der Künstlerin zukommen zu lassen, kann dies auch als transformierende Aneignung der damit verbundenen Ästhetik – für einen ‚guten Zweck‘ immerhin – verstanden werden. Stanišićs Erzählung weist in ihrer Einbindung traumartiger Elemente in ein klar lokalisierbares und datierbares Setting durchaus Affinitäten zu einem weit gefassten Verständnis von Surrealismus auf. Zugleich verzichtet der Text auf die wirkungsästhetische Intention des Gemäldes, das seine Schockwirkung nur über das Wissen um die biografische Betroffenheit der Künstlerin erreicht und hierfür der supplementierenden Erzählung des Manns bedarf. Hier verbindet sich im Text die Verweigerung gegenüber biografistischen Kurzschlüssen mit der Weigerung, das Elend der Flüchtlinge weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn auszustellen. Stattdessen wird die Beschäftigung mit den dadurch aufgeworfenen Fragen in eine Reflexion über die Möglichkeiten künstlerischer Beschäftigung damit verschoben. Der Ansatz der syrischen Malerin wird an späterer Stelle ironisch gespiegelt, wenn die Erzählerin in einem Internetcafé in Reykjavik gegenüber zwei Künstlerinnen behauptet, sie sei selbst Künstlerin, obwohl sie „keine Ahnung“ hat, „wie und warum man Künstler wird, außer dass es dafür eine Schule in Leipzig gibt.“ (141) Aber nicht in Leipzig, wo Stanišić am Literaturinstitut studierte, sondern in Kosova hat sie angeblich studiert. Um nicht von einem Studium sprechen zu müssen, von dem sie nichts versteht, erzählt sie von der Ermordung dreier junger Männer dort, deren Mörder aufgrund der Verstrickungen von Politik und Mafia nie zur Rechenschaft gezogen wurden. Diese Geschichte hat ihr vorher auf dem Fest der MenschenrechtsaktivistInnen das Mitglied einer im Kosovo tätigen NGO erzählt. Der frühere Gesprächspartner beendete seinen Bericht mit einer Ellipse: „Das sind so Momente der Ohnmacht, wenn man alle Optionen durch hat –“ (51); die Erzählerin vollendet nun den Satz: „da hilft nur die Kunst. Ich habe das Schicksal der Familie in einer Serie von Aquarellen verarbeitet.“ (143) Anders als im Fall der syrischen Künstlerin ginge es bei diesen Bildern zwar nicht um die Verarbeitung persönlicher Erfahrung,
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aber die Vorstellung einer direkten Zeugenschaft soll hier offensichtlich für die künstlerische Authentizität einstehen. Natürlich handelt es sich dabei um ein Klischee, und das verdeutlicht nicht erst die Bemerkung, der Ausdruck „Serie von Aquarellen“ fühle sich „warm, friedlich und eitel“ (ebd.) an. Dies wäre wohl jener „sogenannte[n] künstlerische[n] Gestaltung des nackten körperlichen Schmerzes“ verwandt, in deren „Potential, Genuß herauszupressen“, Adorno das Problem engagierter Kunst sah: „Die Moral, die der Kunst gebietet, es keine Sekunde zu vergessen, schliddert in den Abgrund ihres Gegenteils.“36 Von Moral lässt sich freilich schon hinsichtlich der innerdiegetischen Erzählsituation kaum sprechen. Der Gestus des richtigen Handelns, der in den MoGeschichten aufgerufen wird – Mo begründet seinen Plan, das Bild aus der Galerie zu stehlen damit, dass „das nicht geht, dass man immer nur zuguckt“ (75) – und der offensichtlich nicht auf moralisch korrekte Handlungen hinausläuft, stellt implizit die Frage nach Möglichkeiten ‚richtigen‘ Handelns, ohne dass die Erzählungen solche vorführten. In dieser Hinsicht sagt die „Flucht der anderen“ vielleicht tatsächlich etwas über „uns“ aus. Im Gegensatz zur ästhetisierenden ‚Verarbeitung‘ eines leidvollen Schicksals wirft die Aneignung der Leidensgeschichte aus dem Kosovo die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Erzählens vom Leid anderer auf. Der einleitende Kommentar der Erzählerin zu ihrer Kosova-Geschichte – „jeder kann alles erzählen, es geht ja nicht darum, wer erzählt, sondern um das Erzählte“ (142) – ist dabei so zutreffend wie falsch. Sicherlich gibt es keine Beschränkungen des Sprechens, doch zugleich ist das Erzählte von der Form seiner Vermittlung nicht zu trennen, und eine angemaßte oder ausgestellte Authentizität beschädigt insofern auch das Erzählte. Die Lösung in Fallensteller besteht in der fiktionalen Inszenierung von Erzählsituationen, die es erlauben, mit dem Erzählten den Status des Erzählens und Darstellens selbst zu reflektieren. Dies berührt auch die Frage nach der Verbindung des Texts mit dem Migrationshintergrund des Autors. Selbst in einem Verständnis von Migrationsliteratur oder Literatur der Postmigration, das auf den literarischen Eigenwert der Texte und die Verwendung avancierter literarischer Verfahren abzielt, steht mit dem „Einbezug der lebensweltlichen Erfahrung der AutorInnen“37 die Vorstellung einer durch die Autorinstanz verbürgten spezifischen Qualität dieser Texte im Hintergrund, die mit einem Konzept wie ‚Authentizität‘ zumindest korrespondiert. In ihrer einfachen Form ist diese Verbindung von Autor und Text in den Erzählungen von Fallensteller immer wieder problematisiert. In 36 Theodor W. Adorno: Engagement. In: Gesammelte Schriften. Hg. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, Bd. 11: Noten zur Literatur, S. 409–430, S. 423. 37 Hausbacher: Schreiben MigrantInnen anders?, S. 174.
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den Mo-Geschichten betrifft dies auf der Ebene des discours die Inszenierung der Erzählstimme sowie die problematische Annahme einer – und sei es partiellen – Identität von Erzähler/in und Autor, während auf der Ebene der histoire in verschiedener Weise unsichere Identitäten dargestellt werden. In den anderen Erzählungen lassen sich ähnliche Phänomene beobachten. Als Auseinandersetzung mit einer Zuschreibung wie ‚Autor mit Migrationshintergrund‘ ist diese Fokussierung auf dezentrierte und nicht festlegbare Identitäten freilich – von deutlichen Referenzen wie dem „Autor mit Provinzhintergrund“ (250) abgesehen – nur im Rahmen einer Argumentation lesbar, die sich oder ihrem Gegenstand den Boden unter den Füßen wegzieht. In einer postmigrantischen Perspektive, die ihren „Fokus auf den Erfahrungsraum von Migrant_innen und deren Nachkommen durch den Fokus auf die gesamtgesellschaftlichen Aushandlungsmechanismen von Migration und ihrer [sic] Folgen“38 ablöst, ist ein solcher performativer Widerspruch sicher zu vermeiden. Gleichzeitig – und deshalb muss es doch widersprüchlich bleiben – ist die Auseinandersetzung mit der sozialen Position des Autors Teil der in Frage stehenden Aushandlungsmechanismen im Text. Wichtiger als die persönliche Migrationserfahrung des Autors ist dabei aber das Problem, von einer Migrationserfahrung zu erzählen, die der eigenen in vielen Punkten gleichen mag und die doch nicht die eigene ist. Insofern zeugt Stanišićs Erzählband sowohl von der „Normalisierung“39 der Migrationsliteratur seit der Jahrtausendwende als auch von der Schwierigkeit, von so etwas wie Normalität angesichts der derzeitigen Situation von MigrantInnen auszugehen. 38 Schramm: Jenseits der binären Logik, S. 89. 39 Hansjörg Bay: Migrationsliteratur (Gegenwartsliteratur III). In: Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Hg. Dirk Göttsche, Axel Dunker und Gabriele Dürbeck. Stuttgart: Metzler 2017, S. 323–332, S. 330.
kapitel 8
Ein Stück Heimat verspeisen? Zum Verhältnis von Nahrung und Herkunft bei Melinda Nadj Abonji, Saša Stanišić und Alina Bronsky Laura Beck 1
Einleitung
Spätestens seit Essen in den frühen 1990er Jahren als „soziales Totalphänomen“1 und „Kulturthema“ zum Gegenstand eines eigenen, interdisziplinären Forschungsfeldes, der Kulinaristik, wurde, sind Repräsentationen von Speisepraktiken vermehrt ins Zentrum des Interesses der Literaturwissenschaft gerückt. In den letzten Jahren wurde dabei die Rolle von Mahlzeiten und Nahrungsmitteln in Texten, die von Begegnungen mit kultureller Fremdheit, von Reisen und Migrationsbewegungen erzählen, im Rahmen einer interkulturellen Literaturwissenschaft verstärkt in den Blick genommen. In diesem Kontext können, wie Claudia Lillge und Anne-Rose Meyer im Vorwort ihres 2008 erschienenen Sammelbandes Interkulturelle Mahlzeiten. Kulinarische Begegnungen und Kommunikation in der Literatur feststellen, der literarischen Repräsentation von Essen und Mahlzeiten eine ganze Reihe von Funktionen zukommen. So kann sie im Dienste „nationaler und regionaler Stereotypisierungen“ stehen und an der „Kennzeichnung von interkultureller Fremdheit und Differenz“2 teilhaben. „Lebensmittel[n] und deren Zubereitung“ ließen sich „als symbolischer Ausdruck oder unverzichtbares Requisit für die Konstruktion von ‚Heimat‘ und ‚Zugehörigkeit‘ oder ‚Nähe‘ und ‚Ferne‘“ begreifen oder als „Ausdruck eines interkulturellen Reiz- und Differenzgewinns“.3 Verschiedentlich problematisiert wurde aber ebenfalls, wie groß das sowohl identitätsstiftende Potential von Nahrung als auch das interkulturelle Potential von kulinarischen Grenzüberschreitungen überhaupt sein kann. Inwiefern verbergen sich beispielsweise hinter einer – auch literarischen – Feier 1 Alois Wierlacher: Einleitung. In: Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder. Hg. ders., Gerhard Neumann und Hans Jürgen Teuteberg. Berlin: Akademie 1993, S. 1–21, S. 2. 2 Claudia Lillge und Anne-Rose Meyer: Interkulturelle Dimensionen von Mahlzeiten. In: Interkulturelle Mahlzeiten. Kulinarische Begegnungen und Kommunikation in der Literatur. Hg. dies. Bielefeld: transcript 2008, S. 11–20, S. 18f. 3 Ebd.
© Koninklijke Brill NV, Leiden, 2021 | doi:10.1163/9789004466234_010
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einer Pluralisierung von Esskulturen nicht weitere Stereotypisierungen von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘, die Verfestigung kulinarischer Klischees und eine Einverleibung4 oder ein oberflächlicher Konsum von vermeintlicher Exotik, der den Konsumenten wenig kostet und kaum geeignet ist, starre Identitätszuschreibungen in Bewegung zu bringen?5 Vor dem Hintergrund der hier kurz umrissenen Überlegungen möchte ich mich im Folgenden mit drei Romanen der Gegenwartsliteratur beschäftigen, die, abgesehen von der als Kategorisierungskriterium wenig befriedigenden ‚osteuropäischen Herkunft‘6 ihrer Autorinnen und Autoren und damit ihrer möglichen Verortung innerhalb des sogenannten „,Eastern European Turn‘“,7 gemeinsam haben, dass in ihnen aus 4 So verweist bspw. Claudia Hein auf die Ambivalenz, die solchen Figuren der potentiell räuberischen Einverleibung innewohnen kann; vgl. dies.: Die Essbarkeit der Welt. Einverleibung als Figur der Weltbegegnung bei Italo Calvino, Marianne Wiggins und Juan José Saer. Bielefeld: transcript 2016, S. 18. 5 In diesem Sinne drückt beispielsweise bell hooks die Problematik einer unreflektierten Einverleibung kultureller Fremdheit durch eine Mehrheitsgesellschaft über eine kulinarische Metapher aus, wenn sie schreibt: „Within commodity culture ethnicity becomes spice, seasoning that can liven up the dull dish that is mainstream white culture.“ bell hooks: ,Eating the Other‘. Desire and Resistance. In: Black Looks. Race and Representation. Hg. dies. Boston: South End Press, S. 21–39, S. 21. 6 Zugunsten einer genaueren Textanalyse verzichte ich im Rahmen dieses Artikels auf eine ausführliche Problematisierung der Kategorie ‚Autorinnen und Autoren aus Osteuropa‘, die diesem Band und damit meiner Textauswahl ursprünglich zugrunde liegt. Siehe dazu in diesem Band beispielsweise die Artikel von Hansjörg Bay und Manfred Weinberg sowie die konzeptuelle Grundlegung innerhalb der Einleitung. Zur Diskussion um die Problematik von Kategorien wie ‚Migrantenliteratur‘ und generell von Kategorisierungsversuchen, deren zentrales Kriterium aus der Biographie der Autorinnen und Autoren resultiert vgl. allgemein auch Manfred Weinberg: Was heißt und zu welchem Ende liest man Migrantenliteratur? Mit Anmerkungen zum Werk Libuše Moníkovás. In: Wie viele Sprachen spricht die Literatur? Deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa. Hg. Renata Cornejo, Sławomir Piontek, Izabela Sellmer und Sandra Vlasta. Wien: Praesens 2014, S. 15–36. Als Weg aus „der biographisch-thematischen Verstrickung“ ist die Analyse der „poetologischen Identität“ der Texte zu nennen; so plädieren die Herausgeber des oben genannten Sammelbandes dafür, „,Migrationsliteratur‘ als eine historische und prozessuale Variable“ zu sehen, „als eine Form der kommunikativen literarischen Praxis, die ihre Legitimation sowohl aus der erfahrungsgesättigten Erzählerperspektive als auch aus der imaginativen Fremdschau schöpfen kann.“ (Renata Cornejo, Sławomir Piontek, Izabela Sellmer und Sandra Vlasta: Vorwort. In: Wie viele Sprachen spricht die Literatur? Hg. dies., S. 7–13, S. 11). 7 Brigid Haines: Introduction: The Eastern European Turn in Contemporary German-Language Literature. In: German Life and Letters 68, H. 2 (2015), S. 145–153, S. 145. Irmgard Ackermann spricht von einer „Osterweiterung“ in der deutschsprachigen Literatur. Irmgard Ackermann: Die Osterweiterung in der deutschsprachigen „Migrantenliteratur“ vor und nach der Wende. In: Eine Sprache – viele Horizonte… Die Osterweiterung der deutschen Literatur. Porträts einer neuen europäischen Generation. Hg. Michaela Bürger-Koftis. Wien: Praesens 2009, S. 13–22, passim.
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der Perspektive (in zwei Fällen junger) Ich-Erzähler Flucht- und Migrationserfahrungen aus ‚Osteuropa‘ und ein Wechsel nach Deutschland bzw. die Schweiz thematisiert werden. Dabei werden über Motive des Kulinarischen in Szenen der Essenszubereitung und des Verzehrs, der Nahrungsverweigerung und der Gastlichkeit Fragen von kultureller Zugehörigkeit und Abgrenzung, von Anpassung und Opposition, von Macht und Ohnmacht, der Erinnerung, der inter- und intrakulturellen Kommunikation, des Unterschieds zwischen Eigenund Fremdwahrnehmung auf auffällige und vielfältige Weise verhandelt. Im Zentrum der Untersuchung stehen der Roman Tauben fliegen auf (2010) der im ehemaligen Jugoslawien geborenen Autorin Melinda Nadj Abonji, Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006) des deutsch-bosnischen Schriftstellers Saša Stanišić sowie Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche (2010) der russisch-deutschen Autorin Alina Bronsky. Auf welche Weise verknüpfen diese Autorinnen und Autoren in ihren Texten Fragen der Herkunft, der Zugehörigkeit, aber auch der Abgrenzung mit Motiven aus dem Bereich des Kulinarischen? Gibt es wiederkehrende Motive? Subvertieren die Texte kulinarische Stereotypisierungen oder sind in ihnen im Gegenteil (Selbst-)Exotisierungsmechanismen am Werk, die mit dem Begriff ‚Migrantenliteratur‘ gemeinhin verknüpfte Klischeevorstellungen und damit eine Nachfrage auf dem deutschen Buchmarkt bedienen?8 2
Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf
Der autobiographisch geprägte 2010 erschienene Roman Tauben fliegen auf von Melinda Nadj Abonji, für den die Autorin sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis erhielt, erzählt aus der Perspektive der Erzählerin Ildiko davon, wie ihre (ungarische) Familie aus Serbien in die Schweiz auswandert und dort um Akzeptanz und Integration und mit Gefühlen der Entwurzelung und Ortlosigkeit kämpft, wobei sie noch als Betreiber eines gut besuchten traditionellen Cafés mit dem sprechenden Namen „Mondial“ immer wieder mit den Vorurteilen und dem Rassismus ihrer Schweizer Gäste konfrontiert wird. In dem Text wechseln Kapitel, die in der Schweiz spielen, mit solchen ab, in denen sich die Erzählerin an ihre Kindheit sowie an spätere Besuche in
8 Zur Frage der Vermarktbarkeit vgl. z.B. Andrea Meixner: Zwischen Ost-West-Reise und Entwicklungsroman? Zum Potenzial der so genannten Migrationsliteratur. In: Wie viele Spra chen spricht die Literatur? Hg. Cornejo, Piontek, Sellmer und Vlasta, S. 37–54, S. 39f.
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der ehemaligen serbischen Heimat erinnert;9 er verdeutlicht so durch seine Erzählstruktur die partielle Desorientierung der Erzählerin ebenso wie den Konstruktionscharakter erzählenden Erinnerns.10 Im Roman werden, wie Bettina Spoerri feststellt, in der kritischen Befragung von sowohl Herkunftsort als auch Migrationsziel diese „in ihrer Konstruktion bzw. Rekonstruktion als kontingent herausgestellt.“11 Das Verhältnis der Figuren zu diesen Orten wird dabei vielfach über kulinarische Motive, besonders über die Zubereitung von Nahrung, verhandelt. Auffällig ist zunächst, dass die Zubereitung von Speisen und vor allem Getränken im Café Mondial für die Familie nach der Ankunft in der Schweiz völlig der Integration in die Schweizer Mehrheitsgesellschaft untergeordnet wird bzw. als Mittel dieser erhofften Eingliederung fungiert. Anstatt beispielsweise durch gezielte Selbstexotisierung einen Zugang zur Gesellschaft des Auswanderungslandes zu erlangen, stellen die Mitglieder der serbischen, der ungarisch-sprachigen Minderheit zugehörigen Familie in Nadj Abonjis Roman ihre Fertigkeiten bei der Zubereitung von Speisen in den Dienst der Anpassung. Peinlich genau überwacht von der einheimischen Gästeschar und dem Personal, das die Familie von den ehemaligen Schweizer Betreibern übernommen hat und das jede geschmackliche Abweichung vom Gewohnten kritisch registriert, bemühen sich die Kocsis, das Restaurant im, wie in der örtlichen Zeitung angekündigt wird, „gewohnten Stil“12 weiter zu führen, um die in jahrelanger Unauffälligkeit mühsam errungene Duldung durch die Einheimischen nicht zu verspielen. Interessanterweise wird dabei zwar die Zubereitung von Gebäck und ausladenden Menus immer wieder thematisiert, im Mittelpunkt der Beschreibung steht aber die des Kaffees und besonders das Schäumen der Milch für den Cappuccino. Während die Erzählerin den Schäumvorgang akribisch perfektioniert, sinniert sie gleichzeitig mit Befriedigung darüber, dass keines der in 9
Vgl. dazu auch Grazziella Predoui: „Angekommen wie nicht da.“ Heimat und Fremdheit in Melinda Nadj Abonjis Roman Tauben fliegen auf. In: Pluralität als Existenzmuster. Interdisziplinäre Perspektiven auf die deutschsprachige Migrationsliteratur. Hg. Raluca Radulescu und Christel Baltes-Löhr. Bielefeld: transcript 2016, S. 191–206, S. 192. 10 Siehe zur Ausstellung von „narrativen und textuellen Selektions- sowie Konstruktionsprozessen“, die für das retrospektive Erzählen konstitutiv sind: Madlen Kazmierczak: Nation als Identitätskarte? Zur literarischen Auseinandersetzung mit ,Nation‘ und ,Geschichte‘ bei Marica Bodrožić und Melinda Nadj Abonji. In: Germanica 51 (2012), S. 1–12, S. 4 [online]. 11 Bettina Spoerri: Eine mnemografische Landschaft mitten in Europa – eine narrativanalytische Lektüre von Melinda Nadj Abonjis Tauben fliegen auf. In: Aussiger Beiträge 6 (2012), S. 65–80, S. 69. 12 Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf. Frankfurt a.M.: Büchergilde Gutenberg 2010, S. 53. Im Folgenden direkt im Text zitiert unter der Sigle TF und Seitenzahl.
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Serbien zurückgebliebenen Familienmitglieder die Anpassung an den Mikrokosmos des Mondial13 so gut zuwege bringen würde wie sie selbst. Dass ausgerechnet dem Milchschaum, der, wie es heißt, beim kleinsten Fehler in der Zubereitung in sich zusammenzufallen droht, erzählerisch so große Aufmerksamkeit gewidmet wird, kann dabei als Hinweis darauf verstanden werden, wie fragil und letztlich vordergründig die Akzeptanz der Kocsis, die sich immer wieder fremdenfeindlichen Angriffen und Vandalismus ausgesetzt sehen, stets bleibt. Während die Essenszubereitung durch die Großmutter in der Heimat auch semantisch als untrennbar verflochten mit der Aktivierung von familiärem „kommunikative[n] Gedächtnis“,14 dem Erzählen von Geschichten, präsentiert wird – nicht zuletzt beschwört Mamika beim Kochen die Ereignisse der Vergangenheit herauf, bis diese wieder da sind, „als gehörten sie in die heutige Suppe“ (TF 80) –, verbindet sich die Zubereitung der Mahlzeiten und besonders des Kaffees im Restaurant mit einem Schweigen über den erlebten Rassismus und die Verlusterfahrungen der Migration. Dies zeigt sich auch darin, dass die lauten Geräusche der Kaffeemaschine Gespräche zwischen Ildiko und den anderen Familienmitgliedern nahezu unmöglich machen, was auf die prinzipielle „Prekarität der Kommunikation“15 zwischen der Erzählerin und ihren Eltern verweist. Der Konnex zwischen dem angepassten Kochen und der bis zur Selbstverleugnung gehenden Integration und Duldung der Feindseligkeiten der Gäste im eigenen Restaurant drückt sich ebenfalls darin aus, dass die Protagonistin Ildiko am Ende das Schweigen über die Fremdenfeindlichkeit ebenso wie die Essenszubereitung bricht („es schmeckt nicht mehr nach uns“, TF 294) und das Mondial endgültig verlässt.16 Katalysiert wird dieser von Vera King als „erste deutliche und nicht mehr hintergehbare Differenzerfahrung zwischen Eltern
13 Vgl. zur Rolle des Mondial: Predoui: Heimat und Fremdheit, S. 201. 14 Sofie Decock: Sich Wohn- und Erzählraum schaffen. Zur Bewältigung von Alterität in Melinda Nadj Abonjis Roman Tauben fliegen auf. In: Alterität. Festschrift für Heidy Margrit Müller. Hg. Inge Arteel und Katja Lochtmann. Tübingen: Stauffenburg 2013, S. 113–126, S. 123. 15 Stéphane Maffli: „Ich möchte unsere Verschiedenheit verstehen“. Darstellungsformen intergenerationeller Kommunikation in Melinda Nadj Abonjis Migrationsroman Tauben fliegen auf. In: Familie und Identität in der Gegenwartsliteratur. Hg. Goran Lovrić und Marijana Jeleč. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2016, S. 133–146, S. 144. 16 Bezeichnenderweise sprüht Ildiko vor ihrer endgültigen Abreise eine Botschaft aus Vollrahm auf den Dorfplatz, deren Inhalt leider ausgespart wird. Decock deutet diesen Akt der öffentlichen Artikulation „als Befreiung aus der Sprachblockade und symbolische[n] Anfang des Schreibens“ (Decock: Sich Wohn- und Erzählraum schaffen, S. 120).
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und Tochter“17 bezeichnete Moment durch die Verschmutzung der Restauranttoilette mit Fäkalien durch eine unbekannte Person.18 Die nur vordergründig gelingenden Integrationsversuche der Familie über das Bewirten der Schweizer Gäste mit denkbar unexotischen Speisen werden so im Roman immer wieder als eine geradezu masochistische Anpassung an eine als hermetisch empfundene Kultur entlarvt. Diese Anpassung resultiert letztlich in einer Spaltung des kulinarischen Bekenntnisses – die Kehrseite der professionellen Gastfreundschaft bildet eine im Familienkreis artikulierte Abgrenzung von den Schweizer Essgewohnheiten.19 Diese werden kontrastiert mit den kulinarischen Vorlieben in der serbischen Heimat, wo gehaltvolle Speisen wie Würste, Speck und „schwindelerregende Torten“ (TF 91f.) aufgetischt werden. Höhepunkt der Beschreibung heimatlicher Esskultur bildet dabei eine Hochzeitsfeier, bei deren Schilderung die Aufzählung der Speisenfolge mehrere Seiten einnimmt, „es nimmt“, so heißt es, „kein Ende, sondern immer einen neuen Anfang“ (TF 37), eine Fülle, die durch die additive Struktur der langen Sätze verdeutlicht wird, welche zumal häufig durch Konjunktionen eingeleitet werden: Und weiter geht’s mit leichten Fleischgerichten: knusprig gebratene Hühner und frittierte Kartoffeln, hauchdünn geklopfte, panierte Schweineschnitzel mit Petersilienkartoffeln, und die Musiker singen, und alle singen mit […] Kalbfleisch mit frischen Champignons, dazu Sauerrahm und Knödel […] mit einer Gulaschsuppe wollen wir uns kräftigen, den Leib und die Seele!, eine Gulaschsuppe mit gezupften Nockerln, […] zur Gulaschsuppe noch eine Kraftbrühe mit Tokajer, magerem Rindfleisch, Pilzen und süssen Zwiebeln und ausserdem ein Süppchen mit geschlagenem Ei und viel Petersilie. (TF 34–37) 17 Vera King: Migration, Interkulturalität und Adoleszenz. Generationale Dynamiken am Beispiel des Romans Tauben fliegen auf von Melinda Nadj Abonji. In: Interkulturalität. Konstruktionen des Anderen. Hg. Ortrud Gutjahr. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 141–161, S. 155. Für Annette Bühler-Dietrich wird durch die Verschmutzung der Toilette der Wohnort, den Ildiko mit ihren Eltern teilt, in den Bereich des Abjekten verschoben (Annette Bühler-Dietrich: Verlusterfahrungen in den Romanen von Melinda Nadj Abonji und Saša Stanišić. In: Germanica 51 (2012), S. 1–10, S. 4 [online]). 18 Dabei wird die (wenngleich professionelle) Gastfreundschaft gewissermaßen mit dem peinlichen Restprodukt der (potentiell im Mondial erfolgten) Nahrungsaufnahme ‚vergolten‘. 19 Vergleichbar argumentiert hier Predoui: Heimat und Fremdheit, S. 196. Siehe allgemein ebd., S. 196–198.
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Die Schweizer dagegen werden in Nadj Abonjis Roman dadurch charakterisiert, dass es für sie „nichts Schlimmeres als Fettaugen“ (TF 147) gibt und ihre Küche sich dementsprechend durch Geschmacklosigkeit auszeichnet.20 Für Spoerri wird die Schweiz auf diese Weise als „Land der Unechtheit“ charakterisiert, „als blasse Kopie, als Abklatsch des Eigentlichen, das insbesondere von Ildikos Vater mit dem ‚Eigenen‘ identifiziert wird.“21 Von dieser durchaus klischeehaften Gegenüberstellung einer ‚blutleeren‘ Schweiz und einer ‚ursprünglicheren‘ serbischen Heimat distanziert sich die Erzählerin aber zumindest partiell durch ihren teils kritischen Blick auf die Nostalgie des Vaters. In der Abwertung der Schweizer Speisen drückt sich allerdings auch eine Kritik an der Politik des Einwanderungslandes aus, die über den Vorwurf einer blassen, passiven Neutralität hinausgeht: So ist von der Nationalwurst Cervelat die Rede, die aus pürierten, zusammengematschten Resten bestehe, „weil die Schweizer nicht wissen wollen, dass sie Tiere essen“ und „nichts mehr von der Wahrheit“ (TF 148) sehen wollen. Das vernichtende Urteil, das impliziert, die Verdrängung unangenehmer Wahrheiten spiele für die Konstitution eines schweizerischen Nationalcharakters bzw. für eine bestimmte Politik eine zentrale Rolle, wird hier also auf eine Kritik am Essen verschoben. Noch expliziter wird die Verknüpfung zwischen Kulinarischem und nationaler Identität, wenn die Schweizerische Volkspartei zu „Chäs und Wurscht“ einlädt und, wie die Tochter feststellt, „als Gegenleistung eine Unterschrift [erwartet], in der man eine Initiative unterstützt, meist eine menschenfeindliche“ (TF 100) – den Speisen wird damit eine Komplizenschaft mit Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit zugeschrieben, für die die Schweizerische Volkspartei steht. In der indirekten Form dieser Kritik ihres ‚Gastgeberlandes‘, in dem doch die Einwanderer diejenigen sind, die ununterbrochen die Einheimischen bedienen, verdeutlicht sich der familieninterne Pakt des Schweigens über die erfahrene Ablehnung. Dass das Leben in der Schweiz dementsprechend für die Familie in vielerlei Hinsicht mit einer Enttäuschung von potentiell auch idealistischen Erwartungen verbunden ist, wird noch einmal durch eine kulinarische Metapher ausgedrückt, wenn Ildikos Halbschwester Janka die Schweiz als Land bezeichnet, „in dem Milch und Honig fliessen“, und nach einer begehrten Schweizer Spezialität fragt; eine Frage, die unbeantwortet bleibt, da die
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Ein solcher, durchaus klischeehafter Kontrast wird auch hergestellt, wenn „die mit Beinschinken belegten Brote“ (TF 146) der Eltern Kocsis Fettflecken im Buch zur Schweizer Staatskunde hinterlassen, das sie für ihre Einbürgerungsprüfung studieren müssen. Spoerri: Eine mnemografische Landschaft, S. 77.
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Erzählerin und ihre Schwester Nomi „nicht wissen, welche berühmte Spezialität sie meint“ (TF 73).22 Gleichzeitig kommt es aber nicht zu einer simplen nostalgischen Aufwertung der heimatlichen Küche in Abgrenzung zur Schweizer Küche – stattdessen haftet der Schilderung der heimatlichen Essgelage keineswegs nur etwas Identifikatorisches, sondern auch etwas Ambivalentes an.23 Wird zu Anfang des Romans noch die Frage gestellt: „Klingt das ungarische Wort für ‚Familie‘ für dich nicht wie ein warmes, schönes Essen“ (TF 46) (Család) und wird damit ein Bezug zwischen Nahrung und familiärer Geborgenheit hergestellt, so deutet die spätere Bemerkung „Balkankrieg, das klingt wie eine Spezialität, so wie es Waadtländer Saucisson oder Wiener Schnitzel gibt“ (TF 234) die problematische Wahrnehmung des Herkunftslandes in der neuen ‚Heimat‘ an. Die ironische Äußerung etabliert zudem eine Verbindung zwischen Kulinarischem und Kriegerischem, die sich bereits in der ambivalenten Schilderung des exzessiven Hochzeitsgelages verdeutlicht: Dort wird der Ort des Banketts auch zum Schauplatz der politisch motivierten Aggression und des gewaltsamen Konfliktes unter den Eingeladenen, in denen sich die Spannungen spiegeln, die den späteren Kriegshandlungen im Kontext des Zerfalls von Jugoslawien zugrunde liegen.24 Die Zwiespältigkeit der Erzählperspektive lässt sich dabei eben auch darauf zurückführen, dass die Erzählerin sich weder der ehemaligen und so nicht mehr existenten Heimat in der Vojvodina, noch der Schweiz bruchlos zugehörig fühlt. Auch wenn die vielen Essensszenen in der serbischen Heimat und die Schilderung des Hochzeitsgelages durch diese Implikationen über Folklore und „Balkanismus“25 durchaus hinaus gehen, lässt sich dennoch die Frage stellen, 22 Rückblickend ist es die verlorene serbische Heimat, in der zumindest der Honig zu fließen scheint, wenn die Erzählerin feststellt, „dass der erste süsse Geschmack, an den ich mich erinnern kann, Akazienhonig ist, auf einer dicken Brotscheibe, die Mamika mir geschnitten hat“ (TF 192). 23 Zumindest zum Teil ist daher Predoui zuzustimmen, die eine habituelle Abgrenzung der Rückkehrer von bestimmten kulinarischen Gepflogenheiten der verlorenen Heimat konstatiert: „Die teuren Kleider und die Autos sollen den Erfolg in der Fremde vorführen und opponieren den Trink- und Essritualen in der Vojvodina.“ (Predoui: Heimat und Fremdheit, S. 193; vgl. zur ambivalenten Bewertung der Vojvodina durch die Erzählerin auch ebd., S. 195). 24 Auch an anderer Stelle wird das heimelige Wohlbehagen, das mit bestimmten Speisen verknüpft ist, in sein Gegenteil verkehrt; etwa wenn Mamika davon erzählt, wie sich 1945/46 nach der Erschießung von Faschisten durch die Kommunisten am Flussufer das Wasser rot gefärbt habe und niemand mehr ihre „Fischsuppe, die alle so liebten“ (TF 253), habe essen können. 25 In Anlehnung an Maria Todorova beschreibt Madlen Kazmierczak dieses dem ,Orientalismus‘ verwandte Konzept folgendermaßen: „Der sogenannte ,Balkanismus‘ ergebe sich
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inwieweit über die Szenen des exzessiven und sinnlichen Essens im Kreis der ungarisch-serbischen Familie, die mit denen einer zwar ‚blutleereren‘, aber auch ‚zivilisierteren‘, da maßvolleren Schweizer Esskultur kontrastiert werden,26 nicht auch partiell (wenn auch bewusst) exotistische kulinarische Klischees aktualisiert werden, über die die Autorin den deutschsprachigen Leserinnen und Lesern zumindest zum Teil genau das ‚serviert‘, was diese erwarten. 3
Saša Stanišić: Wie der Soldat das Grammofon repariert
Der partiell autobiographische polyphone Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006) des deutsch-bosnischen Schriftstellers Saša Stanišić erzählt – zumeist aus der Perspektive des jugendlichen Ich-Erzählers Aleksandar – vom jugoslawischen Bürgerkrieg, von der Flucht seiner Familie aus der bosnischen Stadt Višegrad und dem Leben in Deutschland. Auch Wie der Soldat das Grammofon repariert reflektiert dabei die Versuche, erzählend Vergangenheit und Verlorenes präsent zu machen und stellt deutlich den Konstruktionscharakter der so entstehenden Bilder heraus. Der Roman zeichnet sich ebenfalls durch eine Verschränkung von Essensmotiven mit Reflexionen über Heimatkonzepte aus. Dabei dient Nahrung auf der einen Seite zwar dazu, nostalgische Bilder der verlorenen Heimat zu entwerfen, auf der anderen Seite wird besonders exzessive Nahrungsaufnahme aber, und das in deutlich drastischerer Form als bei Nadj Abonji, auch mit sexualisierter und ethnisch motivierter Gewalt verknüpft. Zentral ist hier eine karnevaleske27 Bankettszene, in der über mehrere Seiten hinweg der Überfluss deftiger Speisen aufgezählt wird, und in der das überbordende Erzählen und die Häufung besonders der Anapher „es gibt“ bei Leserinnen und Lesern den Eindruck einer unerschöpflichen Speisefolge erweckt, die sich die Gäste in einem fast als autoaggressiv zu beschreibenden Akt trotz steigenden Völlegefühls einverleiben.
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aus westlichen Zuschreibungen, Vorurteilen sowie politischen und kulturellen Projektionen, die zur Exotisierung und Idealisierung des Balkans auf der einen Seite und zur Dämonisierung auf der anderen Seite führten.“ (Kazmierczak: Nation als Identitätskarte, S. 3). Konterkariert wird dies jedoch bei Nadj Abonji bspw., wenn die Familienmitglieder „vor einem heissen Fetttopf“ (TF 286) sitzend Fondue essen, wodurch suggeriert wird, dass geselliges, gehaltvolles Essen ebenfalls Teil der Schweizer Esskultur sein kann. Zu literarischen Traditionen, in die sich der Roman stellt, des Romans siehe Matteo Galli: Wirklichkeit abbilden heißt vor ihr kapitulieren: Saša Stanišić. In: Eine Sprache – viele Horizonte… Hg. Bürger-Koftis, S. 53–63, S. 54.
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Es gibt Rohwurst mit rotem Paprika und Knoblauch, es gibt geräucherten Schinken, es gibt geräucherten Speck, es gibt Ziegenkäse, Schafskäse, Kuhkäse, es gibt gebratene Kartoffeln mit Lauch, es gibt gekochte Eier; Zahnstocher gibt es, die Zahnstocher stecken in der Rohwurst, im Schinken, im Käse, in den Eierscheiben; es gibt Weißbrot, es gibt goldenes Maisbrot, immer gebrochen wird das Brot, niemals geschnitten; es gibt Knoblauchbutter, Leberpastete, Kajmak, es gibt Kohlsuppe und auf der Hühnersuppe schwimmen daumengroße Fettaugen, das Brot wird in die Suppe getunkt; es gibt Bohnenbrühe, ein Gräuel!, es gibt gebratene Bohnen, es gibt Bohnensalat; es gibt reis- und hackfleischgefüllte Weißkrautrouladen, es gibt hackfleischgefüllte Paprika, hackfleischgefülltes Hackfleisch, Hackfleisch und Pflaumen […] Griebe aus gekochtem, gesalzenem, gepresstem Schweinefett gibt es, es gibt gebratenen Schweinedarm, es gibt Schweinefüße und -ohren, mit Gelee überzogen, es gibt nichts, was es nicht gibt.28 Deutlich drastischer als Nadj Abonjis mehrere Jahre später erschienener Roman schildert Wie der Soldat das Grammofon repariert, wie das Gelage von einem Ausbruch gewaltsamer Streitigkeiten unter den Familienmitgliedern begleitet wird, die bereits auf den Bosnienkrieg und die diesem zugrundeliegenden ethnischen und politischen Spannungen vorausweisen. Entgegen essentialisierender Konstruktionen ‚des Balkans‘ als homogenem Raum liefert der Text dementsprechend „die Beschreibung eines multikulturellen Gastmahls“.29 Dabei wird das Essen hier besonders dadurch zu einem räuberischen, ja aggressiven Akt gemacht, dass die Schilderung der exzessiven Nahrungsaufnahme auch parallelisiert wird durch eine längere Beschreibung der Schlachtung des Spanferkels und die Verknüpfung dieser Schlachtung mit der unmittelbar danach erwähnten Ermordung von Serben durch die Mitglieder der faschistischen Ustascha, von denen es heißt, sie „schlachten unser Volk“ (WSG 49). Die zunächst ebenfalls folkloristisch-komisch anmutende Beschreibung eines fröhlichen und enthemmten Dorfgelages, das durchaus an der Konstruktion einer „auch klischeisierten [sic] Balkanwelt“30 partizipiert, kippt damit in eine bedrohliche Szene, in der über die Überblendung von Menschen und Schweinen schließlich, so ließe sich sagen, alle versammelten Esser als mörderische Täter erscheinen. Diese Suggestion eines Zusammenhangs 28 Saša Stanišić: Wie der Soldat das Grammofon repariert. München: Btb 2008, S. 40f. Im Folgenden im Text zitiert mit Sigle WSG und Seitenzahl. 29 Raluca Rădulesco: Die Fremde als Ort der Begegnung. Untersuchungen zu deutschsprachigen südosteuropäischen Autoren mit Migrationshintergrund. Konstanz: Hartung-Gorre 2013, S. 145. 30 Ebd., S. 131.
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zwischen Essen und Schuld, Essen und (Mit-)Täterschaft, die in Nadj Abonjis Text eher punktuell angedeutet wird, spielt bei Stanišić immer wieder eine Rolle. Ganz besonders deutlich wird der Konnex später im Text, wenn die Soldaten, die Višegrad einnehmen, in die Küche als Ort der Nahrungszubereitung eindringen und das erbeutete „Fleisch von den Messerspitzen“ (WSG 114) essen.31 Hier wird darüber hinaus eine Verbindung von weiblicher Essenszubereitung und männlichem Essen mit sexueller Gewalt hergestellt.32 So präsentiert sich die Küche in den Eroberungspassagen als Sphäre der Frauen; die Soldaten lassen sich von ihnen mit Nahrung versorgen und es ist Aleksandars schöne Nachbarin Amela, die „das beste Brot der Welt“ (WSG 111) backt, die zum Vergewaltigungsopfer wird: Als Indiz figurieren hier die Teigreste unter den Fingernägeln ihres Vergewaltigers, der als „dieser Hungrige“ (WSG 120) geschildert wird.33 Essen wird damit zu einer problematischen, mit der Erinnerung an Gewalt kontaminierten Tätigkeit, die nur noch bedingt identitätsstiftend sein kann. Dem entspricht in gewisser Weise, dass im Roman nach der Flucht aus der Heimat Nahrung ihr positives, tröstendes Potential zumindest zeitweise verliert, was sich in der verzweifelten Aussage von Aleksandars Mutter manifestiert: „[E]gal, was ich koche, es schmeckt nicht“ (WSG 134). Nichtsdestotrotz kommt dem Bezug der Figuren auf Kulinarisches im Roman weiterhin eine zentrale Rolle zu; immer wieder wird es zum Vehikel des Sprechens über die Heimat. Dies verdeutlicht sich beispielsweise, als der doppeldeutige Name der deutschen Stadt Essen zum Auslöser einer absichtlichen Fehlinterpretation wird im Rahmen derer die Themenkomplexe Nahrung und Herkunft, aber auch Erzählen über Herkunft auf deutliche Weise zueinander in Bezug treten. Als der Pro tagonist im Deutschunterricht „einen Aufsatz zum Thema ‚Essen, ich habe dich gern‘“ schreiben soll, deutet er den Namen der Stadt, die seine neue Heimat werden soll, an der er aber „gar nichts gern habe“, gezielt als Bezeichnung von 31
Kontrastiv zum räuberischen Potential besonders des Fleisch-Essens sinniert der Erzähler an anderer Stelle: „Häuser sind mitfühlend und selbstlos […]. Wären Häuser Menschen, wären sie Vegetarier oder Veganer oder Vgnr oder wahrscheinlich sogar nur Vg. Als Vg. nimmst du nichts zu dir, was auch nur theoretisch einen Herzschlag haben könnte.“ (WGS 197) Die Passage ist gleichwohl doppelbödig, da das Weglassen von bestimmten Nahrungsmitteln mit dem Weglassen von Buchstaben koinzidiert, eine Bewegung, die, auf die Spitze getrieben, auch mit dem Ende des Erzählens zusammenfallen könnte. 32 Vgl. auch Sara Michel: Identitätskonstruktionen und Essensdarstellungen in der Migrationsliteratur am Beispiel von Aglaja Veteranyis Roman Warum das Kind in der Polenta kocht und Saša Stanišićs Wie der Soldat das Grammofon repariert. In: Germanica 57, H. 2 (2015), S. 139–157, S. 148. 33 Im Kontext der Kriegspassagen ist Nahrung darüber hinaus selbstverständlich nicht nur symbolisch, sondern sehr konkret zu denken, da ihr Mangel die Betroffenen in reale existentielle Not bringt.
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Nahrung und beschreibt, „wie man bei uns Börek macht“ (WSG 139). Eine ganz ähnliche Szene des ‚Missverständnisses‘, in dem die Forderung nach einem Bekenntnis zur neuen Heimat mit einem Rezept aus der Heimat beantwortet wird, taucht in Nadj Abonjis Roman auf, in dem die Mutter der Protagonistin beim Einbürgerungstest „der Prüfungskommission ein besonders ausgefallenes Strudelrezept aufgetischt hatte, weil sie das Wort Sudel nicht gekannt hat, das schweizerische Wort für Fresszettel, die Beamten, die ihr angeboten haben, sie könne sich auf einem Sudel Notizen machen“ (TF 146f., Satz so im Orig.).34 Während die Strudelepisode die Mutter in Tauben fliegen auf den Einbürgerungstest kosten kann und trotz aller Komik auch die Hilflosigkeit der Figur verdeutlicht, handelt es sich bei Stanišić gerade nicht um ein Missverständnis, sondern um eine produktive Fehldeutung, ein kreatives Ausnutzen der Polysemie von Sprache.35 Die Weigerung des Protagonisten, über die Stadt Essen zu schreiben und sich gewissermaßen zu ihr zu bekennen, manifestiert sich in einem indirekten Sprechen über die verlorene Heimat, die über ein mit ihr assoziiertes Nahrungsmittel präsent gemacht wird: vielleicht auch in der Hoffnung, dass eine Beschreibung der Herstellung von Börek in ihrer vermeintlichen Konkretheit ein – gewissermaßen mundgerechtes – Sprechen über etwas so Unkonkretes wie diese Heimat erst ermöglichen soll?36 Nicht durch das Essen selbst, sondern durch die Beschreibung der kulinarischen Besonderheiten der bosnischen Heimat versucht der Erzähler die Schwierigkeit zu kompensieren, von dieser zu erzählen, eine Schwierigkeit, die u.a. daraus resultiert, dass „ich aus einem Land komme, das es dort, wo ich gelebt habe, nicht mehr gibt.“ (WSG 139) Die „stabilisierende Funktion bei der Auseinandersetzung mit 34
Hier wird die Komik noch dadurch verstärkt, dass als anderes Wort für Sudel (‚Schmierzettel‘) hier Fresszettel angegeben wird, und damit ein Wort, das ebenfalls metaphorisch an den Vorgang des Essens gebunden ist. Für Kristina Förster treiben solche sprachlichen Fehler und Missverständnisse nicht nur eine spielerische Komponente der deutschen Sprache hervor, sondern legen teils auch verborgene Bedeutungen frei. Vgl. Kristina Förster: Foreign or Familiar? Melinda Abonji’s and Marica Bodrožić’s Multilingual Literature. In: German Life and Letters 68, H. 2 (2015), S. 228–244, S. 236f. 35 Zur Frage der „Ambivalenz im sprachlichen Wahrheitsanspruch“ siehe ausführlicher Lene Rock: Überflüssige Anführungsstriche: Grenzen der Sprache in Terézia Moras Alle Tage & Saša Stanišić’ Wie der Soldat das Grammophon repariert. In: Germanica 51 (2012), S. 1–14, S. 7 [online]. 36 Die Schwierigkeiten, von der verlorenen Heimat zu erzählen, resultieren auch aus den traumatischen Erfahrungen des Krieges und der Flucht. Vgl. dazu Svetlana Arnaudova: Versprachlichung von Flucht und Ausgrenzung im Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert von Saša Stanišić. In: Niemandsbuchten und Schutzbefohlene. Fluchträume und Flüchtlingsfiguren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. Thomas Hardtke, Johannes Kleine und Charlton Payne. Göttingen: V & R unipress 2016, S. 157–175.
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dem Anderen“,37 die Sara Michel dem Essen hier zuschreibt, kann aber allenfalls ephemer sein. So wird die Unmöglichkeit, über Višegrad zu schreiben, ebenfalls in den Problemen gespiegelt, für die Niederschrift des Börekrezepts in der neuen Sprache das richtige Vokabular zu finden, „weil ich das Wort für Hackfleisch nicht kannte“ (WSG 139).38 Gleichzeitig wird das Börekrezept für die bosnischen und kroatischen Mitschüler Auslöser eines Gesprächs über Zubereitungs- und dadurch implizit kulturelle Unterschiede. Die anderen Schüler aus Bosnien kopierten das Rezept und nahmen es mit nach Hause, weil sie der Meinung waren, dass Zwiebeln nicht reinmüssen und dass man Blätterteig nehmen soll. Josip und Tomislav, zwei Jungs aus Kroatien, meinten, bei ihnen gäbe es gar kein Börek. […] Ein börekloses Land? (WSG 139f.) Die so verhandelten Differenzen kontrastieren dabei mit der kurz davor benannten Tatsache, dass man in Deutschland sowohl die Bosnier als auch die Ungarn sowie die Bulgaren unter dem vereinheitlichenden Begriff ‚Jugos‘ zusammenfasst; eine Entlarvung deutscher Unkenntnis bzw. Homogenisierungsbestrebungen. Gleichzeitig lässt sich die Diskussion über das Börekrezept, die sich – von außen betrachtet – auf Kleinigkeiten konzentriert, durch die implizite Übersetzung vermeintlicher kultureller in kulinarische Differenzen als Reflexion über den Konstruktionscharakter und den diffusen Charakter dieser Differenzen auffassen.39 In der Schlussszene des Romans kulminieren die hier verhandelten Aspekte noch einmal, wenn nach Rückkehr des inzwischen erwachsenen Protagonisten an die ihm inzwischen fremd gewordenen Orte der Kindheit im kleineren Familienkreis am Grab des verstorbenen Großvaters Slavko eine Mahlzeit zu dessen Ehren eingenommen wird. Michel stellt fest, dass die „mehrdimensionale Bedeutung des Essens […] am Ende des Textes in einem größeren
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Michel: Identitätskonstruktionen und Essensdarstellungen, S. 156. Gerade die Vorliebe für Hackfleisch (und bzw. auch in Kombination mit Pflaumen) verbindet den Jungen Aleksandar zudem mit seiner Mutter, der er, wie er schreibt, „pflaumenund hackfleischähnlich“ (WSG 33) ist und die ihm bei ihrem späteren Wegzug in die USA mehrere Rezepte hinterlässt, „zehn einfache und das Pflaumenhackfleischschnitzel.“ (WSG 151f.) Vgl. auch Michel: Identitätskonstruktionen und Essensdarstellungen, S. 150f. 39 Ähnlich äußert sich auch Norbert Wichard: Mitteleuropäische Blickrichtungen. Geschichtsdarstellung bei Saša Stanišić und Jan Faktor. In: Aussiger Beiträge 6 (2012), S. 159–175.
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Zusammenhang von Sinnlichkeit und Affekt, von Erinnerung und Sehnsucht, von Narrativität und Identität inszeniert“40 werde. Auf den ersten Blick reproduziert die Passage thematisch, aber auch sprachlich durch die Verwendung der Anapher „Es gibt“, die bereits geschilderte Bankettszene, wobei sie erzählerisch geringeren Raum einnimmt und weniger große Fülle herrscht; zu den aufgetischten Speisen gehören z.B. „etwas Räucherfleisch“, „zwei Zwiebeln“ und eine „Diätmarmelade aus Deutschland“ (WSG 308). Diese reduzierte Fülle korrespondiert damit, dass auch von der ehemals so großen Familie hier nur noch wenige Mitglieder präsent sind. Der Bezug zwischen den Motiven Essen, Heimat und Erinnerung wird auf verschiedene Weisen hergestellt, so beispielsweise wenn der Protagonist nicht nur sein Brot, sondern auch die Erde, in der sein Großvater begraben ist, salzt und mit Schnaps begießt. Durch die symbolische Versorgung des Großvaters wird dieser präsent gemacht und auch die Vergangenheit ein letztes Mal heraufbeschworen. Die enge Verschränkung von Essen und Verpflichtung zum Erzählen, die der Erzähler von seinem zu Beginn des Romans verstorbenen Großvater gewissermaßen geerbt hat, verdeutlicht sich abermals am Ende des Romans. Dort bricht, so wird suggeriert, die Erzählung vielleicht auch deswegen ab, weil der Erzähler „unglaublich viel gegessen und getrunken [hat] und das zweimal“ (WSG 313). Essen und Trinken erscheinen somit nicht nur als Begleit-, sondern ebenfalls als Ersatzhandlungen für das Sprechen und Erzählen. Und so wie Aleksandar selbst nach der Rückkehr in die Heimat weiterhin einen unstillbaren Hunger empfindet, so resultiert auch der Abbruch der Erzählung vielleicht aus der akzeptierenden Feststellung, dass es unmöglich ist, der Vergangenheit durch Erzählen vollständig beizukommen. 4
Alina Bronsky: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
Der 2010 erschiene Roman Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche der russisch-deutschen Autorin Alina Bronsky kündigt den Konnex zwischen Nahrung und Herkunft prominent in seinem Titel an, der eher auf das Genre des Kochbuchs anspielt, als auf ein fiktionales Werk. Der Titel verheißt durch die Verwendung des Superlativs und dem offensichtlich als Marker für kulturelle Fremdheit fungierenden Bezug auf das Tatarische ein außergewöhnlich exotisches Geschmacks- bzw. Leseerlebnis und ist als selbstreflexives Spiel mit jenen Exotisierungsmechanismen zu verstehen, welche auch in der Vermarktung der Literatur von Autorinnen und Autoren aus Osteuropa an ein deutsches Publikum eine Rolle spielen. Die paratextuelle Ankündigung einer 40
Michel: Identitätskonstruktionen und Essensdarstellungen, S. 157.
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Verschränkung von Kulinarischem und Kulturellem wird in Bronskys Roman auf vielfältige Weise eingelöst. Wie Nadj Abonji und Stanišić erzählt auch Bronsky eine Familien- und Migrationsgeschichte; diese setzt in Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche in den späten 1970er Jahren in der Sowjetunion ein und endet in Westdeutschland. Im Zentrum der Geschichte stehen drei weibliche Figuren: die Ich-Erzählerin Rosalinda, ihre Tochter Sulfia und ihre Enkelin Aminat. Anders als in den beiden anderen hier behandelten Romanen liegt der Fokus in Bronskys Text nicht auf der Perspektive einer kindlichen oder jugendlichen Figur. Stattdessen ist es die tyrannische Großmutter Rosalinda, die die beiden anderen weiblichen Figuren ebenso wie die randständigen Männerfiguren durch Manipulationen und körperliche Gewalt kontrolliert und deren sich im Laufe der Geschichte immer offenkundiger als unzuverlässig entlarvende Erzählstimme auch den Blick der Leserinnen und Leser zu lenken versucht. Ein wichtiges Mittel der Machtausübung und der Manipulation, das sich Rosalinda zunutze macht, ist die (teils gewaltsame) Versorgung der anderen Figuren mit Nahrung. Im Rahmen interkultureller Kontakte spielt besonders die titelgebende tatarische Küche eine große Rolle, die die angebliche Tatarin Rosalinda als exotische Chiffre einsetzt, um potentielle Ehemänner für ihre Tochter Sulfia anzulocken und die Familie auf diese Weise aus ihren prekären Lebensumständen zu befreien. Dabei wird die Zubereitung von Essen in Bronskys Roman primär als durchaus zweifelhafte weibliche Tätigkeit dargestellt, wobei sich das positive Bild der guten Mutter und Ehefrau, die die Familie mit Nahrung versorgt, u.a. durch das Moment der Übersteigerung in sein negatives, aggressives Gegenbild verkehrt.41 Ironisch stellt der Text heraus, wie Rosalinda unermüdlich darum bemüht ist, sowohl in ihrem Heimatland als auch später über dessen Grenzen hinaus aus ihrer angeblichen Alterität Kapital zu schlagen,42 und zieht dabei von Anfang an den Kern dieser Alterität selbst in Zweifel. So erweisen sich Rosalindas Versuche, die Spezifika der mythischen tatarischen Küche genauer zu fassen als ebenso unmöglich wie der, ihrer Enkelin sowie auch der Leserschaft zu erklären, worin das tatarische Erbe der Familie eigentlich bestehen soll. Diese
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Inwiefern sich die Schilderung Rosalindas als lustvoll-böser Entwurf einer allerdings aus dem Ruder gelaufenen Auflehnung gegen traditionelle Geschlechterrollen lesen ließe, wäre noch zu untersuchen – eine genaue Analyse der Gender-Aspekte kann im Rahmen dieses Beitrags allerdings nicht geleistet werden. Das Verhältnis Rosalindas zum tatarischen Erbe bleibt prinzipiell ambivalent: So bemüht sie sich auf der einen Seite darum, ihrer Enkelin ein perfektes Russisch frei von tatarischen Wörtern beizubringen; auf der anderen Seite beruft sie sich auf die tatarische Herkunft.
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Undefinierbarkeit wird von der Erzählerin aber keineswegs als eine existentielle Verunsicherung empfunden, stattdessen kompensiert sie den zunächst als Abbruch des kulinarischen Familiengedächtnisses präsentierten Mangel – sie ist in einem Waisenhaus „ganz ohne die tatarische Küche aufgewachsen“43 – durch Kreativität und nicht zuletzt durch einen Prozess der Aneignung. So deklariert sie usbekische und baschkirische Rezepte zu tatarischen und äußert kämpferisch: „und es sollte mir erst mal jemand nachweisen, dass es keine richtige tatarische Küche war.“ (SG 55) Die kulinarischen Gewohnheiten der tatarischen Verwandten von Rosalindas Ehemann wiederum werden als unappetitlich und primitiv abgewertet (Vgl. u.a. SG 83) und haben keinen Platz in ihrem Verständnis tatarischer Küche, welches der Text als konstruiert und selektiv ausstellt. Schließlich gelingt es Rosalinda u.a. durch diese kulinarische Selbstexotisierung, das Interesse des deutschen Akademikers Dieter zu erwecken, der an einem Buch über „die alten Rezepte unseres Vielvölkerstaates“ (SG 180) schreibt. Rosalinda stellt zwar fest, dass in der Sowjetunion nicht zuletzt wegen der ständigen Lebensmittelknappheit „längst alle die gleichen Rezepte“ (ebd.) hätten und diese denkbar unexotisch seien. Dies hindert sie allerdings nicht daran, Dieter mit dem Versprechen von ‚authentischer‘ kultureller Alterität zu locken, indem sie ihm „alte tatarische Geheimrezepte, die von Generation zu Generation weitergegeben werden“ (ebd.), verspricht. In der komischen Schilderung von Rosalindas Umgang mit Dieters Anliegen entlarvt der Text, dass der exotistische, häufig auf eine diffuse Vergangenheit gerichtete westeuropäische Blick auf kulturelle Fremdheit in vielerlei Hinsicht konkrete und aktuelle soziale und politische Probleme ausblendet.44 Das Interesse an den Rezepten bemäntelt zudem noch ein zweites Interesse, das Rosalinda für ihre Zwecke instrumentalisiert: Schließlich nimmt Dieter die weiblichen Familienmitglieder nicht nur deswegen mit zurück in seine deutsche Heimat, um ihnen Rezepte zu entlocken, sondern auch, weil er sich von Aminat die Befriedigung seines pädophilen Begehrens erhofft, wobei er versucht, sich Aminats Zuneigung mit Unmengen an Schokolade als Inbegriff vermeintlich westlichen kulinarischen Überflusses zu erkaufen.
43 Alina Bronsky: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche. 3. Auflage. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2016, S. 54. Im Folgenden direkt im Text zitiert unter der Sigle SG und Seitenzahl. 44 Ironisiert wird in dem Text aber auch die Begeisterung, mit der Rosalinda, Aminat und Sulfia bei ihrem Zwischenstopp in Moskau auf das Essen in einer Filiale der amerikanischen Fast-Food-Kette McDonald’s reagieren, welche Rosalinda als „sehr gutes Restaurant” deklariert, in dem sie meint, „gerade den Westen geschmeckt zu haben“ (SG 200).
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Prinzipiell dekonstruiert der Text die Vorstellung, dass die Zubereitung und der Genuss bestimmter Nahrungsmittel sowohl in Bezug auf die persönliche, familiäre Vergangenheit der Figuren als auch auf ihre kulturelle Zugehörigkeit prinzipiell identitätsstiftend und Mittel funktionierender Kommunikation sein muss.45 Dies zeigt sich z.B. auch, wenn Rosalinda sich nach Gesprächen mit Dieter an ein typisch tatarisches Gericht zu erinnern meint, das die zuvor noch als kulinarische Barbaren dargestellten Verwandten ihres Ehemanns angeblich zubereitetet hätten – die Leserin oder der Leser hat jedoch inzwischen gelernt, den Versicherungen der unzuverlässigen Erzählerin zu misstrauen, und liest die Integration des eigentlich von Dieter eingeführten Rezeptes in ihr kulinarisches Erbe eher als Produktion einer brüchigen falschen Erinnerung denn als Zugriff auf jene verlorene Vergangenheit (vgl. SG 255). Umgekehrt stellt der Roman aber auch Dieters beharrliche Versuche, einer authentischen, klar abgrenzbaren kulinarischen Fremdheit auf die Spur zu kommen, ihrer habhaft zu werden und sie in ein Kategorisierungssystem einzuspeisen ironisch als Essentialisierungsmechanismus aus. Wenn Dieter am Schluss des Romans die Unmöglichkeit konstatiert, „ein Kochbuch der tatarischen Küche zu schreiben“ (SG 314), weil „er den Gegenstand seines Interesses von baschkirischen, kasachischen, usbekischen, aserbaidschanischen, jakutischen Einflüssen um ringt sah und die Grenzen zu verschwimmen begannen (SG 316), lässt sich der fast schadenfrohe Tonfall, in dem von seiner Verzweiflung berichtet wird, ebenfalls als achselzuckendes Bekenntnis des Textes zu einer vielleicht ohnehin vorhersehbaren unauflösbaren kulturellen Hybridität verstehen – „Das“, so heißt es im Text lakonisch, „war sicher etwas, was für ihn schwer auszuhalten gewesen war“ (ebd.).46 Dabei spiegelt sich in der vergeblichen Suche Dieters nach den tatarischen Rezepten aber auch die Enttäuschung einer Erwartungshaltung derjenigen Leserinnen und Leser, die an dem Roman Bronskys vielleicht ebenfalls gerade die Aussicht auf jene Exotik, jenen leicht konsumierbaren Differenzgewinn angelockt hat, welchen der Titel Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche zu versprechen schien, den der Roman aber – zumindest zum Teil – als Mogelpackung zu entlarven weiß.
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Zum Vehikel einer positiven Bindung wird Nahrung erst durch die Figur des Engländers John: Nachdem Rosalindas Versuche, ihn durch ihre Kochkünste zu binden, gescheitert sind, verkehrt sich später die geschlechtlich codierte Rollenverteilung, als John Rosalinda bekocht. 46 Auch Dieters Bestreben, bei der Suche nach den Rezepten gleichzeitig die tatarische Sprache zu lernen, führt nur zur Produktion eines schmalen Vokabelhefts, dessen Inhalt nicht zu tatsächlicher Kommunikation befähigt.
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Schlussbetrachtung und Ausblick
Viele Texte von Autorinnen und Autoren, die in der Rezeption dem diffusen Raumbegriff ‚Osteuropa‘ zugeordnet werden, verhandeln Fragen der Interkulturalität und der Transkulturalität in besonderer Weise über kulinarische Motive. So wie es angesichts der literarischen Diversität der genannten Texte, die ihre einheitliche Kategorisierung unmöglich macht, allerdings zu erwarten ist, ergibt sich für die Darstellung kulinarischer Praktiken in ihrem Bezug auf die Verhandlung von Heimat, Kulturwechsel und verwandte Thematiken kein einheitliches Bild. Stattdessen ist ein ausgesprochen vielfältiger, teils durchaus widersprüchlicher Einsatz kulinarischer Motive zu beobachten, wobei exotistische Stereotypisierungen der geschilderten Länder teils dekonstruiert, punktuell aber auch reproduziert werden. Die Frage, ob durch die minutiöse Beschreibung von Speisen und Essensvorgängen, die Integration von ganzen Rezepten sowie prinzipiell die Verwendung von Speisemetaphern trotz der Heterogenität der Texte dennoch spezifische Poetiken entworfen werden, bedürfte noch eingehender Untersuchungen. Diese schlösse eine genaue Analyse des hier umrissenen Themenfeldes in einer Vielzahl anderer Texte von Autorinnen und Autoren, die für die Fragestellung dieses Bandes in Betracht kommen, ebenso mit ein wie eine Erweiterung der Untersuchung um in diesem Beitrag allenfalls am Rande behandelte Motive. Dazu gehören beispielsweise die Bedeutung des Nicht-Essens, das in Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) eine Rolle spielt; die Relevanz der ebenfalls mit einiger Häufigkeit auftretenden Passagen, in denen Nahrungsaufnahme durch Erbrechen umgekehrt wird oder in denen Verdauungsvorgänge und Fäkalien thematisiert werden; aber auch Fragen nach der Verknüpfung von Gender und Kulinarischem. Darüber hinaus interessant ist die Darstellung von exzessivem Alkoholkonsum oder der Zusammenhang zwischen bestimmten Speisemotiven, kulturellem Gedächtnis47 und religiösen Praktiken; so referiert bspw. Julya Rabinowich in ihrem Roman Die Erdfresserin (2012) u.a. über das Motiv des Erde-Essens auf die aus jüdischen Erzähltraditionen bekannte Golem-Legende. Besondere Beachtung verdienten meiner Ansicht nach weitere Texte, die wie Bronskys Roman die Fremd- und ggf. Selbstexotisierung von Migranten durch bestimmte kulinarische Praktiken thematisieren und damit die Herstellung 47 So fragt sich die Erzählerin in Der Russe ist einer, der Birken liebt: „Ich fragte mich, ob dieser Drang, die nachfolgende Generation im Essen zu ersticken, mehr mit der kaukasischen Mentalität oder dem Holocaust-Erbe meiner Großmutter zu tun hatte.“ (Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt. 6. Auflage. München: dtv 2017, S. 174).
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allzu simpler Bezüge zwischen Nahrung und Herkunft nicht nur als potentiell essentialisierend problematisieren, sondern zudem die Möglichkeiten interkultureller Kommunikation über das Vehikel des Kulinarischen in Zweifel ziehen. Beispielhaft nennen lässt sich hier der 2017 erschienene Roman Gott ist nicht schüchtern der bereits genannten Olga Grjasnowa, der von der Flucht junger Syrerinnen und Syrer nach Deutschland erzählt und u.a. thematisiert, wie die Kochkünste der Schauspielerin Amal im Rahmen ihrer Teilnahme an einer zweifelhaften Kochshow mit dem paternalistischen Namen Mein Flüchtling kocht zur Chiffre ihrer kulturellen Fremdheit gemacht werden, die für die deutsche Mehrheitsgesellschaft gefahrlos konsumierbar erscheint. An die Beschäftigung mit den von mir angesprochenen Romanen ließen sich schließlich Untersuchungen zur Funktion von Essen in denjenigen Texten der hier verhandelten Autorinnen und Autoren anschließen, die sich nicht explizit mit Migrationsgeschichten beschäftigen,48 z.B. in Bronskys Baba Dunjas letzte Liebe (2015), der von einer Tschernobyl-Heimkehrerin erzählt, über deren erfolgreiche Bewirtschaftung des vergifteten Bodens potentiell die Ambivalenzen idyllisierender Regionalitätsdiskurse in den Blick genommen werden könnten. Darüber hinaus stellen sich prinzipiell Fragen nach dem Konnex von Essen und Herkunft in unterschiedlichen ‚osteuropäischen’ und deutschsprachigen Literaturtraditionen, welche letztlich nur eine explizit komparatistisch ausgerichtete Literaturwissenschaft zu beantworten in der Lage wäre. Letztlich könnte nur eine solche Perspektive dabei helfen, zu beantworten, ob und, wenn ja, inwiefern das Interesse für Kulinarisches in seiner Verschränkung mit Fragen nach Identität und Herkunft in Texten von Autorinnen und Autoren mit biographischen Bezügen zu ‚osteuropäischen‘ Ländern im Unterschied zu jenen mit z.B. afrikanischen oder arabischen ‚Hintergründen‘ eine spezifische Ausprägung erfährt oder ob die Unterschiede – provokativ gefragt – nur darin bestehen, dass in den Texten mal Börek, mal Fufu und mal Couscous serviert wird. 48
Hier stimme ich Andrea Meixner zu, die feststellt: „Der eigene Migrationshintergrund ist nur einer der vielen thematischen Aspekte, die den Schreibenden zur Verfügung stehen. Ihr individuelles Themenspektrum, anders als bei AutorInnen ohne diesen Hintergrund, in der Rezeption auf diesen einen Aspekt beschränken zu wollen, erscheint aus diesem Blickwinkel einseitig.“ (Meixner: Zwischen Ost-West-Reise und Entwicklungsroman, S. 48).
kapitel 9
Third Space im Pop 3? Olga Martynovas Mörikes Schlüsselbein und Saša Stanišićs Vor dem Fest Martin Schierbaum Hannah Arendt setzt sich in ihrem Essay We Refugees von 1943 mit ihrer eigenen Situation auseinander und generalisiert sie für eine große Gruppe jüdischer „Flüchtlinge“.1 Dabei reflektiert sie intensiv die Assimilationsprozesse, die die Menschen durchmachen, und die unterschiedlichen Reaktionen darauf: „Es stimmt, dass wir manchmal Einwände erheben, gegen den wohlgemeinten Rat, unsere frühere Tätigkeit zu vergessen; auch unsere einstigen Ideale werfen wir in der Regel nur schweren Herzens über Bord, wenn unsere gesellschaftliche Position auf dem Spiel steht.“ Sie nimmt dabei die Prozesse, die Opfer und die Orientierungspunkte in der Interaktion zwischen Alterität und Identität sehr sensibel wahr, die entstehen, wenn z.B. die soziale Rolle wichtiger ist als die Haltung. Im Gegensatz dazu bildet die Sprache für sie eher eine Brücke als eine Grenze: „Mit der Sprache haben wir allerdings keine Schwierigkeiten“.2 Wesentlich sind in diesem Kontext der Anpassung die Aussparungen und Tabus: „Um reibungsloser zu vergessen, vermeiden wir lieber jede Anspielung auf die Konzentrations- und Internierungslager, die wir fast überall in Europa durchgemacht haben“.3 In der Relation des Eigenen und des Fremden wägt sie ab zwischen existentiellen Alteritätserfahrungen und Konzessionen, die der Vermittlung dienen. Inwiefern gelten diese Probleme auch noch für die heutige Literatur von Migrantinnen und Migranten? Welche Alteritätserfahrungen und Konzepte teilen sie mit? Welche Konzessionen machen sie dabei? Olga Martynovas Roman Mörikes Schlüsselbein und der Roman Vor dem Fest des Autors Saša Stanišić sollen im Hinblick auf zwei Fragestellungen diskutiert werden, die in diesen Rahmen gehören.4 Die erste bezieht sich auf die Funktion der Texte in der interkulturellen Literatur und zielt darauf, wie und auf welchen Ebenen eine Hybridisierung in den Texten vorgenommen wird. 1 Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge. Stuttgart: Reclam 2016, S. 7–36. 2 Ebd., S. 11. 3 Ebd., S. 12. 4 Olga Martynova: Mörikes Schlüsselbein. München: btb 2015; künftig im Text zitiert mit der Sigle MS und Seitenzahl; Saša Stanišić: Vor dem Fest. 3. Aufl. München: btb 2015; künftig im Text zitiert mit der Sigle VdF und Seitenzahl.
© Koninklijke Brill NV, Leiden, 2021 | doi:10.1163/9789004466234_011
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Im Hintergrund steht die Frage, wie die Romane auf die theoretischen Prämissen der interkulturellen Literaturwissenschaft antworten. Wirkt sich der „Migrationshintergrund“ auf die Literatur aus? Maxim Biller hat Stanišić in seiner Rezension vorgeworfen, dass der Autor sich gezielt vom engeren Gegenstandsbereich der Migrationsthematik ablösen wolle.5 Gibt Stanišić damit z.B. die Migrationsperspektive auf die aufnehmende Gesellschaft auf? Der zweite Untersuchungsschwerpunkt ist bestrebt, eine literaturgeschichtliche Einordnung der Texte vorzunehmen und damit auch dem Phänomen des Erfolgs der Migrationsliteratur oder der interkulturellen Literatur näher zu kommen. Mit der Frage, wieweit die interkulturelle oder Migrationsliteratur in inhaltlicher oder formaler Hinsicht Parallelen zu breiteren Tendenzen der Gegenwartsliteratur seit etwa 2010 aufweist, ist es möglich, den Rahmen in inhaltlicher wie auch in ästhetischer Hinsicht zu erweitern, vor dessen Hintergrund die Resonanz, die die Texte erzeugen, nachvollziehbar wird. 1
Aspekte der Third Space-Theorie in der heutigen Diskussion
Die gegenwärtige Diskussion der interkulturellen Literaturwissenschaft ist weitgehend diskurstheoretisch orientiert und basiert auf einem konstruktivistischen Ansatz. Aus diesen Perspektiven wird auch die Hybridisierung betrachtet. Die Voraussetzung der avancierteren Hybridisierungstheorien, die auf Homi K. Bhabha zurückgehen, bildet die These von der sozialen wie personalen Identität als einer gesellschaftlichen Konstruktion. Damit wird die Identität von Einzelnen und Gruppen einerseits als dynamisch und wandelbar verstanden und andererseits als ein Moment, das durch innere und besonders auch äußere Faktoren beeinflusst werden kann. Oftmals diskutiert wird die Wechselrelation von Eigenem und Fremdem, von Identität und Alterität. Die gegenwärtig nicht allein in der interkulturellen Literaturwissenschaft weiter abstrahierte Variante dieses Modells zielt auf die wechselseitige Konstruktion des Eigenen und des Fremden innerhalb dieser gesellschaftlichen Hybridisierungsprozesse. D.h., wenn Identitätsmuster diskursiv konstruiert werden und nicht etwa kulturalistisch festgelegt werden, sind sie Teil auch derjenigen Prozesse, in denen Hybridisierungen und mit ihnen Bilder der Identität und der Alterität ausgehandelt werden. Für Bhabha ist im Jahr 1994 wichtig, dass in den Austauschprozessen im Rahmen der Kolonialisierung Identität und Alterität
5 Maxim Biller: Letzte Ausfahrt Uckermark. In: Die Zeit, 20.2.2014 (http://www.zeit.de/2014/09/ deutsche-gegenwartsliteratur-maxim-biller, zuletzt geprüft am 9.5.2019).
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neu ausgehandelt werden.6 Dabei entstehe eine dritte Gruppe, die Anteile aus beiden Gruppen in sich vereinige. Er deutet diese Gruppe als dritten Raum, der sich durch seine hybride Verfasstheit bereits gegen die Kolonialisierung richte. Heute wird dieser These bereits in Handbüchern der Kulturtheorie mit dem Argument widersprochen, dass die dritte Gruppe nicht a priori eine minoritäre Gruppe sein müsse, von der Widerstand ausgehen könne. Vielmehr werfe die Anwendung der Third Space-Theorie auf Prozesse der Personalführung und der Massenkommunikation die Frage auf, ob damit sogar gegen die Interessen der Beteiligten gehandelt werde.7 Bhabhas Modell hat Aktualisierungen auch in anderen Teildisziplinen der Kulturwissenschaften erfahren, die es besonders für die Ästhetik heute wieder interessant machen. Bereits Michael Hofmann geht in seinem Standardwerk von der Konstruktion des Eigenen und des Fremden aus. Er spricht vom „‚Aushandeln‘ einer neuen flüssigen Form von Identität, die ein ‚Patchwork‘ aufgenommener und bearbeiteter kultureller Perspektiven darstellt“.8 Hartmut Böhme entwickelt das Theorem in diesem Sinne weiter, wenn er für kulturgeschichtliche Prozesse ein neues Modell vorschlägt. Er legt die Theorie der wechselseitigen Konstruktion des Eigenen und des Fremden zugrunde und spricht von ‚Allelopoiesis‘. D.h. im Prozess der kulturgeschichtlichen Aneignung konstruiert das aufnehmende Individuum nicht nur die fremde Kultur, sondern auch seine eigene. Dieses Modell ist natürlich auch auf synchrone Phänomene zu übertragen.9 Erstens sind also die Konstruktionsprozesse des Fremden in der individuellen sowie in der kulturellen Konstruktion immer auch Konstruktionsprozesse des Eigenen. Zweitens sind bestimmte kulturelle Praktiken besonders gut dazu 6 Vgl. Homi K. Bhabha: The Location of Culture. London: Routledge 2004; deutsch: Die Verortung der Kultur. 2. Aufl. Tübingen: Stauffenburg 2007. 7 Vgl. zur Kritik Eberhard Kreutzer: Bhabha, Homi K. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hg. Ansgar Nünning. Stuttgart: Metzler 2013, S. 74f. Gibt man heute den Begriff ‚Third Space‘ in eine Internetsuchmaschine ein, erhält man primär Treffer aus dem Bereich des Personalmanagements. 8 Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn: Fink 2006, S. 13. Überträgt man Konzepte wie die Heterotopien Michel Foucaults, in denen er gesellschaftliche Sonderräume untersucht, die für die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse eine besondere Rolle spielen, auf die interkulturelle Theoriebildung, ist eine weitere Grundlage für die Third Space-Theorien gelegt. Auch die Kunst wäre dann als ein/eine solcher Sonderraum/Heterotopie zu verstehen. Vgl. Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Schriften. Hg. Daniel Defert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, Bd. 4, S. 931–942. 9 Hartmut Böhme: Einladung zur Transformation. In: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. Hg. ders., Lutz Bergemann, Martin Dönike u.a. München: Fink 2011, S. 7–37.
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geeignet, diese Prozesse darzustellen und zu gestalten. Literatur ist in der Lage, sowohl die Konstruktionsprozesse darzustellen und auszulösen, als auch, sie als solche Prozesse zu reflektieren. Der letzte Faktor steht einer Steuerung dieser Konstruktionsprozesse z.B. im Sinne der Massenpsychologie und der Machtausübung entgegen. In diesem Sinne soll der Begriff ‚Third Space‘ verstanden und auf die Analyse der Texte angewendet werden. Zu fragen ist, wie und mit welchen Mitteln die literarischen Texte die Konstruktion von Identität und Alterität sowohl als wechselseitige Konstruktionsarbeit beschreiben als auch diese Arbeit als gesellschaftlich vermittelten und dynamischen Prozess erfahrbar machen, und wie sie schließlich in diese Prozesse eingreifen. 2
Pop 3 – Ein Vorschlag zur Differenzierung der Gegenwartsliteratur
Die Pop-Literatur ist seit ihrer Entstehung am Ende der 1940er Jahre in den USA kontrovers diskutiert worden. Sie hat dabei eine recht erfolgreiche Entwicklung genommen. Diederichsen argumentiert: „Bei Pop-Kulturen geht/ging es immer […] um die Durchsetzung der von den Beteiligten als ‚selbstentwi ckelte‘, autochthone und angemessener empfundenen Sprechweisen.“10 Für das breite Phänomen Pop stehen heute umfangreiche Definitionen zur Verfügung.11 Oftmals wird dabei auf die von Diederichsen Ende der 1990er Jahre geprägten Begriffe Pop I und Pop II zur qualitativen Differenzierung zurückgegriffen. Er argumentiert, die Pop-Kultur der 1990er Jahre habe durch Nivellierung und Kommerzialisierung die kritischen Potentiale der Pop-Kultur der 1960er Jahre verspielt,12 er bezeichnet Pop in den 1990er Jahren als „begriffliche[s] Passepartout einer unübersichtlichen Gesellschaft“13 und fordert deshalb eine engagierte – nicht zuletzt wissenschaftliche – Auseinandersetzung, die zu einer Veränderung der aktuellen Popkultur führen solle. Blickt man auf die Literatur, hat sich die Pop-Literatur der 1990er Jahre ein wenig anders entwickelt als weite Teile der Pop-Kultur, außerdem ist heute im Anschluss daran ein neues Phänomen zu beschreiben, das Diederichsens 10
Diedrich Diederichsen: Was ist Pop?. In: Texte zur Theorie des Pop. Hg. Charis Goer, Stefan Greif und Christoph Jacke. Stuttgart: Reclam 2015, S. 244–258, S. 254. 11 Vgl. dazu den Band: Charis Goer, Stefan Greif und Christoph Jacke (Hg.): Texte zur Theorie des Pop. Stuttgart: Reclam 2015. 12 Diederichsen: Was ist Pop?, S. 255f. 13 Ebd., S. 246. Auch in seinem 2013 erschienenen Opus Magnum zur Pop-Musik geht er historisch nicht über den Bruch am Ende der 1980er Jahre hinaus und äußert sich nicht zu den tatsächlichen Entwicklungen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Vgl. Diedrich Diederichsen: Pop-Musik. 2. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014, S. 373–436.
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Forderung nach einer Erneuerung des Pop II im Sinne des Pop I nicht aufgreift, im Gegenteil. Bereits 2012 weisen Moritz Baßler und Heinz Drügh in ihrer Auseinandersetzung mit Leif Randts Roman Schimmernder Dunst über Coby County auf eine modifizierte Fortsetzung der Pop-Literatur der 1990er Jahre um 2010 hin.14 Sie soll hier Pop 3 genannt werden. Populärkulturelle Phänomene setzen sich zumeist über Vorbilder und selten über Begriffe oder Definitionen durch. Für die deutsche Literaturgeschichte des Pop hat Rolf Dieter Brinkmann eine wesentliche Rolle gespielt. Er hat die US-amerikanische Pop-, Beat- und Underground-Literatur zusammen mit Ralf-Rainer Rygulla in mehreren Auswahlbänden übersetzt und damit zugänglich gemacht.15 Besonders seine eigene deutschsprachige Lyrik hat die erste Generation der deutschen Pop-Literatur stark beeinflusst. Für die etwa bis in die Mitte der 1970er Jahre andauernde Phase der Literaturgeschichte des Pop I16 kann man einen Bruch mit den Formtraditionen und den literaturhistorischen Traditionen feststellen. Brinkmann und andere stellen die Oberfläche sowohl im Hinblick auf die Bedeutungsschichten als auch im Hinblick auf die Gegenstände ihrer Texte in den Mittelpunkt. Jede Art von symbolischer Bedeutungskonstruktion wird abgelehnt, Verweise auf historische oder semantische Tiefendimensionen sind verpönt. An deren Stelle tritt die Auseinandersetzung mit der Gegenwart, ihrer Wahrnehmung, ihren Medien und den Reflexen dieser Wahrnehmung auf die Produzenten sowie die Leser der Texte. Pop in diesem Sinne ist ein System der Beobachtung der alltagskulturellen Kommunikationspraxis, jenseits der bürgerlichen Moralvorstellungen.17 In den 1970er und 1980er Jahren nimmt u.a. Jörg Fauser diese Anregungen auf. Er ist journalistisch geschult und führt eine alltagstaugliche Sprache in die Pop-Literatur ein. Besonders sein autobiographischer Roman Rohstoff von 1984 14
Moritz Baßler und Heinz Drügh: Schimmernder Dunst. Konsumrealismus und die paralogischen Pop-Potenziale. In: POP. Kultur und Kritik 1 (2012), S. 60–65. 15 Vgl. Jörgen Schäfer: „Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit“. Zum Verhältnis von Pop und Literatur seit 1968. In: text + kritik. Sonderband: Pop-Literatur (2003), S. 7–25; Andreas Kramer: Von Beat bis „ACID“. Zur Rezeption amerikanischer und britischer Literatur in den sechziger Jahren. In: Ebd. S. 26–40. 16 Vgl. Charis Goer: Einleitung zu Dietrich Diederichsen: Was ist Pop. In: Texte zur Theorie des Pop. Hg. Charis Goer, Stefan Greif und Christoph Jacke. Stuttgart: Reclam 2015, S. 242–243, die mit Diederichsen die „‚oppositionelle Struktur‘“ und die „Gegenkultur“ besonders für den Pop I hervorhebt. Diese Unterscheidung zwischen Pop I und Pop II ist von Diederichsen primär als qualitative Unterscheidung in kritische und kommerzielle Kunst konzipiert. 17 Vgl. dazu Markus Fauser und Martin Schierbaum: Einleitung. In: Unmittelbarkeit – Brinkmann, Born und die Gegenwartsliteratur. Hg. dies. Bielefeld: Aisthesis 2016, S. 7–26. Diederichsen verwendet die Metapher der „sozialen Plastik“ in: Diederichsen: Pop-Musik, S. 373–453.
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bildet eine Vermittlungsinstanz zur Popliteratur der 1990er Jahre.18 Pop II ist in der Literatur besonders ein Phänomen der mediatisierten Öffentlichkeit.19 Mit der Pop I-Literatur teilt diese Literatur die Fixierung auf das Gegenwärtige und den Verzicht auf die symbolische Tiefendimension. Sie wird von ihren Kritikern wie Thomas Assheuer in der Trash-Debatte der 1990er Jahre als schnöde kommerzielle Unterhaltungsliteratur gebrandmarkt.20 An die Stelle der Wahrnehmungsexperimente des Pop I treten die Kommunikationsexperimente des Pop II.21 Zwei Aspekte sind für die formale Beschreibung hervorzuheben: Einerseits teilt die Pop II-Literatur mit der des Pop I oftmals die Perspektive der leichten Devianz,22 die einen anderen Blick auf die Wirklichkeit ermöglicht, andererseits hat besonders Baßler die Archivierungsfunktion hervorgehoben, die mit der Ausrichtung auf die Gegenwart in Verbindung trete. Das ‚Erzählen im Paradigma‘ führt zu einer Episodenstruktur von recht kurzen Kapiteln, die nicht immer durch einen übergreifenden Handlungsfaden zusammengehalten werden.23 Festzuhalten ist andererseits, dass die Pop II-Literatur die in der Debatte immer wieder angeführte Dichotomisierung zwischen U- und E-Literatur aufrechterhält. Das große Medieninteresse daran hat sich allerdings recht schnell erschöpft und damit auch die Produktion dieser Literatur. Pop I und Pop II haben Gemeinsamkeiten in der Perspektive und in der Darstellungsweise, weniger aber in der Zugänglichkeit. Die an die Pop IILiteratur anschließende Literatur am Beginn des 21. Jahrhunderts, sie soll hier unter dem Begriff Pop 3 zusammengefasst werden,24 setzt die Tendenzen 18 Jörg Fauser: Rohstoff. Zürich: Diogenes 2004. Auch diese Literatur wird besonders durch US-amerikanische Vorbilder beeinflusst. Vgl. dazu u.a. Moritz Baßler: Der deutsche PopRoman. Die neuen Archivisten. 2. Aufl. München: Beck 2005, S. 108, 168. 19 Vgl. Diederichsen: Was ist Pop?, S. 247f. Diederichsen spricht von der „neue[n] pluralisierten Öffentlichkeit“. 20 Vgl. zur Trash-Debatte: Ebd., S. 251f. Nicht allein für das von Baßler so bezeichnete „Gründungsphänomen“ Christian Kracht, sondern auch für den „Meister“ Benjamin von Stuckrad-Barre gilt, dass sie sich und auch ihre Protagonisten in Positionen inszenieren, die Anstoß und Kontroversen erregen. Vgl. Baßler: Pop-Roman, S. 110. 21 Stärker noch als Brinkmann und der Pop I spielt die moderne Massenkultur eine zentrale Rolle für die Literatur des Pop II, anders als für Krachts Vorbild Bret Easton Ellis, bilden die Darstellungen dieser Kultur keinen Anlass zu moralischer Kritik, sondern zu einem Spiel mit der Affirmation zwischen Text, Protagonisten und Publikum. Die Kritik ist auf der Ebene der Darstellung zu situieren und nicht auf der der Wertungen. Vgl. dazu Diederichsen: Was ist Pop?, S. 248f. Diederichsen spricht von „Überlagerungen“. 22 Vgl. Baßler: Pop-Roman, S. 102. 23 Vgl. dazu ebd., S. 94–97. Baßler hebt das serielle Prinzip hervor. Paradigmatisch für diese Erzählweise verfährt Andreas Mands Roman Grovers Erfindung (1990), der die Kindheit und Jugend des Erzählers nicht chronologisch, sondern in nach Topoi geordneten Episodenreihen darstellt. Vgl. Baßler: Pop-Roman, S. 21–40. 24 Dabei sollte darauf hingewiesen werden, dass es töricht wäre, inmitten einer literarischen Entwicklung eine abschließende Definition zu formulieren.
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fort, die bereits die Entwicklung von der Pop I zur Pop II-Literatur gezeigt hat. Mit der Pop I und Pop II-Literatur stellt auch die Pop 3-Literatur die oftmals massenmedial kommunizierten Themen der Gegenwartskultur in den Mittelpunkt.25 Sie übernimmt von der Pop II-Literatur diese Zugänglichkeit und öffnet sich noch weiter der Vermarktung. Sie schließt also die Kluft zwischen der U- und E-Literatur noch weiter. Die Pop 3-Literatur unterscheidet sich darin von ihren Vorgängern, dass sie die strikte Gegenwartsorientierung aufgibt und aus dem Arsenal der Kultur Bezugstexte auswählt, zu denen sie lockere intertextuelle Bezüge knüpft: Gerhard Henschel orientiert sich in seinen Chronikromanen beispielsweise an Walter Kempowskis Familienromanen; Tino Hanekamps Sowas von da von 2011 knüpft in vielen Punkten, so z.B. im dezentrierten Protagonisten, in der linear-episodischen Erzählstruktur, im Gegenwartsbezug und in Zitaten und Darstellungsweise, an die Pop II-Literatur deutlich an.26 Allerdings stellt er wiederum die traditionelle und moralische Frage nach dem richtigen Leben ins Zentrum. Er formuliert sie mit Marc Aurel, dem römischen Kaiser und Philosophen sowie mit der Bibel. Die Antwort bleibt allerdings auch auf der Ebene der Alltagswirklichkeit blass. Damit ist ein weiteres Muster zu beschreiben: die Frage nach dem Leben wird gestellt und auf der Ebene der Darstellung des Alltagslebens thematisiert und schließlich offengelassen.27 Tiefergehende Kritik übt auch diese Darstellungsweise der Wirklichkeit nicht. Leif Randt beispielsweise macht auf die Haarrisse und die Verdrängungsmechanismen der höheren gesellschaftlichen Schichten aufmerksam, etwa dadurch, dass er deren Alltagsleben in seinem 2011 erschienenen Roman Schimmernder Dunst über Coby County beinahe wertfrei schildert. Beim ersten Lesen verstören die Brüche der Lebensentwürfe in geringem Maße, bei intensiverer Analyse stellt man fest, dass die Perspektive des Lesers auf die dargestellte Gruppe darüber entscheidet, ob man von einer Darstellung der Wirklichkeit oder einem gezielten Aufzeigen von Krisenphänomenen
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Vgl. Martin Lindner: Das Fernsehen, der Computer und das Jahrhundert von ‚die Medien‘. Zur Konstruktion der mediasphere um 1950: Riesmann, McLuhan, Orwell, Leinster. In: Archiv für Mediengeschichte – 1950. Hg. Lorenz Engell, Bernhard Siegert und Josef Vogl. Weimar: Universitätsverlag 2004, S. 11–34, S. 24: „Das Funktionieren der Medienwelt beruht nicht auf der Vorspiegelung falscher Tatsachen, sondern auf der immer neuen spannungsvollen Zurschaustellung der Schnittstelle von ‚Wirklichkeit’ und mediasphere“. Zur Einbeziehung der Texte von Henschel und Hahnekamp in diese Gruppe vgl. Baßler und Drügh: Dunst, S. 63f. Vgl. dazu ebd., S. 64. Baßler und Drügh sprechen vom „fiktionalen Entwurf von Pop zur Lebenskunst“.
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sprechen möchte.28 Baßler und Drügh argumentieren für diese Pop-Literatur der 2010er Jahre, sie sei „erkennbar in der Mitte der Literatur angekommen“.29 In der Konsumaffinität – im Gegensatz z.B. zur Konsumkritik des Pop I – sehen sie eine Verbindungslinie zur Pop-Literatur der 1990er Jahre. Sie heben außerdem das Interesse an der Provinz hervor und argumentieren: „Wenn die Literatur der Neunziger sich (und uns) eine globale Pop-Enzyklopädie im Modus mega-ironischer Sophistication erschlossen hatte, dann wird Pop jetzt und hier historisch und als ‚local knowledge‘ erfasst.“30 Als weiteres Kriterium fügen sie in der Fortführung der Überlegungen Baßlers zum episodischen Erzählen hinzu: „Der Traum eines paralogischen Erzählens, das sich nicht ständig gegenüber irgendwelchen historischen Wahrheiten zu rechtfertigen hätte und trotzdem wahr wäre […] und dabei Welten […] erschaffe[], in denen wir uns mit Lust und intellektuellem Gewinn aufhalten […]“,31 grenze diese Literatur von der Reflexionsprosa z.B. der Erinnerungsliteratur ab. Baßler geht es dabei um fiktionale Freiräume, die nicht unbedingt an die außerliterarische Wirklichkeit rückgebunden werden müssen. Diederichsen sieht die Öffnung zum Konsum, als deren Konsequenz sich die Texte als Konsumgut auffassen, bereits in den 1990er Jahren kritisch, während Baßler und Drügh die Fortsetzung der
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Vgl. Leif Randt: Schimmernder Dunst über Coby County. Berlin: Berlin 2011; vgl. auch Leif Randt: Planet Magnon, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2017. In diesem Roman geht es um die Machtübernahme von kleinen Gruppen junger Menschen über Teile der Gesellschaft mittels synthetischer Drogen, einer Gesellschaft, die durch ein Computersystem gesteuert wird. Auch in diesem Roman finden sich keine Indikatoren für die gravierenden Einschnitte. Rainald Goetz unterteilt sein Werk in verschiedene Phasen. Seine 5. Werkphase, die sein popliterarisches Engagement umfasst, ist mit „Heute Morgen“ betitelt. Zu dieser Phase gehören folgende Texte: 5.1 Rave, Erzählung 1998, 5.2 Jeff Koons, Stück 1998, 5.3 Dekonspiratione, Erzählung 2000, 5.4 Celebration, Texte und Bilder zur Nacht 1999, 5.5 Abfall für alle. Roman eines Jahres 1999. Seine Position zur Populärkultur stellt er in dieser Phase in einem Gespräch mit zwei Redakteurinnen der Texte zur Kunst dar: Praktische Politik. Streitgespräch mit Isabelle Graw und Astrid Wege. In: Rainald Goetz: Celebration. Texte und Bilder zur Nacht. Frankfurt a.M. 2004, S. 243–271. Goetz’ Roman Johann Holtrop hingegen wendet sich von der pop-kulturellen Darstellungsweise entschieden ab, er übt eine geradezu hasserfüllte Systemkritik und gestaltet eine lineare Handlung, die nicht aus Episoden, sondern auch konzeptionell anspruchsvoll verschränkten Handlungssträngen besteht. 29 Baßler und Drügh: Dunst, S. 62. Anders als Diederichsen nehmen Baßler und Drügh auch in der Pop II-Literatur einen kritischen Anspruch wahr. Vgl. auch ebd., S. 63: „Populärkultur ist nun auch in ‚der Literatur‘ angekommen.“ 30 Ebd., S. 63. 31 Ebd., S. 65.
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Nivellierung des ‚Grabens‘ zwischen Pop-Literatur und Reflexionsprosa positiv bewerten.32 In aller Vorläufigkeit könnte man einige zentrale Definitionskriterien der Pop 3-Literatur folgendermaßen zusammenfassen: die Orientierung an Themen der Massenkultur, die deutliche Öffnung auf Vermarktung, intertextuelle Bezüge zu historischen Texten und ihren Wertsystemen, teils dezentrierte Protagonisten und Protagonistinnen, episodische Erzählstrukturen, Erzählen im Paradigma, Verzicht auf tiefgreifende Gegenwartskritik, Tendenz zur Öffnung für die unterschiedlichen Interpretationsperspektiven der Leserinnen und Leser. Baßler und Drügh heben ebenso die Konsumaffinität und die Affinität zur „Mitte der Literatur“ hervor und fügen den Aspekt des Interesses für „local knowledge“ hinzu, also für Aspekte des kulturellen Wissens der Provinz, schließlich eine mögliche Affinität zu „paralogischem Erzählen“, also zu einer Fiktionalisierung im Gegensatz zu einer Rationalisierung der Problempotentiale der Texte. Welche Konsequenzen aber hat es, wenn die Themen der Hybridisierung aus dieser Perspektive diskutiert werden? 3
Patchwork und paralogisches Erzählen – Olga Martynovas Roman Mörikes Schlüsselbein
Martynovas Roman führt eine literaturgeschichtliche Anspielung im Titel und beginnt nach der Exposition mit einer Reise einer deutsch-russischen Patchworkfamilie nach Tübingen zum Hölderlinturm und zu einer Ausstellung über Mörikes Leben, bei der auch ‚Mörikes Schlüsselbein‘ gezeigt wird.33 Der Familie bleibt gerade dieses Stück in Erinnerung, es fordert die Protagonistin zu einer Recherche und ihren Stiefsohn zu einem literarischen Projekt heraus. Auf den letzten Seiten stellt sich heraus, dass es sich um eine Fälschung, um einen Studentenulk (MS 317) gehandelt hat.34 Dieser titelgebende Handlungsstrang verbindet mindestens vier Aspekte: einerseits die Alltäglichkeit des Ereignisses, 32
Damit wäre Leslie Fiedlers Forderung eingelöst: Leslie A. Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne. In: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Hg. Wolfgang Welsch. Weinheim: VCH 1988, S. 57–74. 33 Die Familie ist spätestens seit der Wiedervereinigung ein durchaus mediengängiges Thema geworden, zusammen mit den Themen der Internationalität und Migration konstituiert sich damit ein thematisch durchaus medienaffiner Rahmen. 34 Die Studierenden hatten einen fremden Knochen in die Ausstellung geschmuggelt und ihn als offizielles Ausstellungsstück ausgegeben, von der Familie war er tatsächlich als solches wahrgenommen worden.
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das passagenweise den gesamten Roman durchzieht; andererseits den im Nachhinein nichtigen Anlass, der schließlich zu einem Schreibprojekt führt, und drittens die Integration eines Fremdkörpers – das Schlüsselbein war von Studierenden in die Ausstellung hineingeschmuggelt worden – in den Diskurs der Familie, der vom Beginn bis zum Ende des Textes durchaus ernst genommen wird. Die Familie ist schließlich von diesem unauthentischen Exponat stärker beeindruckt als von allen authentischen, weil es die Frage nach dem Leben, besonders danach, wie es ausgefüllt wird und was davon bleibt, in Erinnerung ruft. Mit dem paralogischen Erzählen, den lokalen Bezügen und der Frage nach dem Leben wäre bereits ein Pop 3-Rahmen abgesteckt. Diese Frage nach dem richtigen Leben bildet das Syntagma, mit dessen Hilfe die einzelnen Paradigmen/Episoden popliterarisch verbunden werden können.35 Martynovas Roman kann konzeptionell als nichtlineares polyperspektivisches Patchwork beschrieben werden, in dem die Räume und Zeitebenen häufig wechseln. Dieser Struktur folgt ebenfalls das Modell der Episodenverknüpfung. Das Patchwork-Modell wird auch auf der Inhaltsebene aufgenommen und ansatzweise theoretisch diskutiert. Der Text erzählt die Geschichte einer Familie, die ihre Wirkungsstätten in Deutschland und Russland hat, der Kulturmanagerin Marina und dem Ost-Slawisten Andreas Bach. Beide haben eine enge Beziehung zum russischen Dichter Fjodor, der im Verlauf der Handlung stirbt, und zu dessen Frau Natascha. Allerdings hat jeder seine eigene Perspektive und seinen eigenen Zugang zu Fjodor. Ähnlich verhält es sich mit Andreas’ Kindern, die aus seiner ersten Ehe mit Sabine stammen. Beruflich ist Marina u.a. in den USA engagiert, ihr amerikanischer Kollege John, der ebenfalls intensive Kontakte zur russischen Sprache und Kultur pflegt, reist schließlich zu Schamanen in die tiefste russische Provinz. Nicht der Plot ist in diesem Buch das Entscheidende, sondern die kulturelle Vielfalt und die unablässige Bewegung der Erzählung durch heterogene ethnische, sprachliche, kulturelle oder auch familiäre Felder. Der Roman macht implizit deutlich, dass wir uns unablässig durch Fragmente von Kulturen, Sprachen und Identitäten bewegen. Konzeptionell und auch im Hinblick auf die Sinnzuschreibung werden diese Fragmente durch das Thema Literatur zusammengehalten. Auf der Handlungsebene ist die Beschäftigung mit der (russischen) Literatur das Medium der Dynamisierung und des Austauschs der Lebensverhältnisse. 35 Bereits zwei der drei Motti von Mörikes Schlüsselbein stellen den Begriff des Lebens in den Mittelpunkt: das erste Kapitel kreist um den Neubeginn in Andreas’ Leben, einer der Protagonisten (MS 5, 9). Genau das ist die Frage, die auch Autoren wie Hanekamp und Randt stellen.
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Der Roman beginnt mit der Aufforderung an Andreas, einen „Neustart“ in seinem Leben zu wagen, da seine gesundheitlichen Probleme sich auf eine psychosomatische Ursache zurückführen lassen. Andreas kommentiert: „Merkwürdig, wie wenig Möglichkeiten du hast, etwas zu machen, was nicht zum Ablauf deines Lebens gehört, ohne das, was zum Ablauf deines Lebens gehört, zum Entgleisen zu bringen.“ (MS 12) Diese Art der Veränderung des Lebens steht oftmals im Mittelpunkt des Textes, sie wird bereits am Beginn vorsichtig mit dem „osteuropäischen Akzent“ der Tischnachbarn in Verbindung gebracht – damit deutet sich die Gegenstandsebene des Textes an (MS 13). Ein zwei-Welten-Modell wird diskutiert, als Andreas im Krankenhaus für eine Weile den 50-Euro-Schein, den sein Bettnachbar für die Krankenschwestern vorgesehen hat, stiehlt: In dem blanken Winterlicht sieht er eine sonst nicht sichtbare Grenze zwischen zwei Welten: der Welt der Bürgerlichen und der Welt der Vogelfreien […] Er nimmt den Geldschein, und durch die Berührung mit dem harten Papier […] kommt er wieder auf seine Seite der Welt […]. (MS 14) [Hervorhebung i. Orig.] Der Rollentausch in der Alltagssituation und das Verlassen der eingespielten Bahn als Gedankenexperimente eröffnen die Perspektive der Hybridität als einem Hinüberwechseln in eine andere Identität und eine möglicherweise veränderte Rückkehr bereits auf den ersten Seiten des Textes. Mit einem LeskowZitat leitet der Roman über zu seinem Hauptthema. Leskow beschreibt die Schönheit und die Tugenden der russischen Frauen „deutscher Abstammung“ (MS 18). Der Wechsel zwischen Kulturen, sogar zwischen Identitäten, ist auf der Figuren- und Handlungsebene selbstverständlich. Unmittelbar daran schließt sich die Nachricht an, dass Andreas sein Freisemester bewilligt bekommt, in dem er nach Petersburg fahren will, um sein Buch über Deutsche in Russland, darunter den eben verstorbenen russischen Dichter Fjodor, zu beenden. In der Mitte des drittletzten Kapitels (MS 316) schaltet der Roman noch einmal zurück auf die Krankenhausszenerie und den Geldschein, um im vorletzten Kapitel die Geschichte von Mörikes Schlüsselbein aufzuklären (MS 317) und die nach der Krankenhausszene begonnene Handlung fortzuführen. Diese paralogische – metaleptische – Erzählkonfiguration ruft noch einmal die Frage vom Beginn nach der Veränderung und Veränderbarkeit des Lebens in Erinnerung. Allerdings gerät durch die sich immer wieder ins Labyrinthische verlierende Struktur des Textes die zentrale Problematik der Synthetisierung von fragmentarischen Erzählsträngen in dem Maße aus dem Blick, in dem sie fortwährend in neuen Konstellationen diskutiert wird.
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Die Handlung ist besonders auf die Perspektive Marinas, die aus Russland stammt und in Frankfurt mit Andreas lebt, konzentriert. Obwohl sie in ihrem Beruf anerkannt ist und über weitreichende internationale Kontakte verfügt, fühlt sie sich immer noch als Fremde in einer fremden, aber als homogen wahrgenommenen Kultur. Aus dieser Perspektive werden die kulturellen Grenzen immer wieder befragt. Inhaltlich vereinigt der Roman drei Perspektiven, er fokussiert das deutsche Alltagsleben der Patchworkfamilie, das Leben des russischen Dichters und die Auseinandersetzung mit der Funktionsweise von Kulturen. Primär durchschnittlich gestaltet ist die deutsch-russische Familie, wie ein Ausschnitt aus der Schilderung des gemeinsamen Essens nach dem Besuch im Mörikemuseum zeigt: Franziska hatte sich übergeben müssen. Sie wusch sich gerade das Gesicht, lächelte Marina zu. Marina zog die Lippen nach, um einen Grund vorzutäuschen, warum sie im WC-Raum erschienen war. Sie hatte ohnehin die Lippen nachziehen wollen. Hätte Marina nicht gewusst, wie überempfindlich das Mädchen ist, hätte sie denken können, Franziska hätte ihre Pille nicht genommen und nun mit den Folgen zu tun. Aber Marina machte sich Sorgen um Franziskas Magen. Und um Franziskas Nervenzustand, ob sie in dieser Hinsicht nach ihrem Vater geraten war, Gott bewahre. „Geht es dir gut?“ Franziska war es peinlich, diese Frage zu beantworten. Klar ging es ihr nicht gut. Vielleicht hat sie etwas mit dem Magen. Vielleicht hat sie mal die Pille vergessen und ist schwanger. Vielleicht war es die Vorstellung, es sei ein menschliches Schlüsselbein gewesen + den ganzen Tag in der Kälte spazieren + etwas Wein ohne etwas zu essen. (MS 41f.) Es handelt sich um Alltagsprobleme der Patchworkfamilie, aus denen mit Musil gesprochen „bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht“.36 Alles wirkt ein wenig hysterisch, Hypothesen werden aufgestellt, aber es folgt weder auf der Handlungsebene noch in der Sinndimension des Romans etwas daraus. Der Aspekt der Abbildung des Lebens steht im Mittelpunkt – ‚local knowledge‘ im Sinne von Baßler und Drügh. Solche Wahrnehmungen, Lebensperspektiven und Haltungen werden besonders im zweiten Teil des Romans mit denen der ‚Osteuropäer‘ kontrastiert. Marina, die sich immer noch als Fremde fühlt, trifft bei ihrem Weg durch Frankfurt auf „Männer aus Osteuropa, die als solche sofort zu erkennen waren, aber nicht weiter definierbar.“ (MS 165) Eine 36 So lautet die erste Kapitelüberschrift des Romans: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes Buch. Hg. Alfred Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981, S. 9.
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spezifische hybride Identität, ein Patchwork aus Identitäten verbindet diese Männer. Dieses Thema wird am Beispiel des Dichters Fjodor Stern vertieft. Sein Leben und seine Position zur Literatur werden nach seinem Tod vom Text aus historischen Zeugnissen rekonstruiert. Dazu gehören die Urkunden, die Andreas sammelt. Sie dokumentieren bereits das Identitätsproblem von Fjodors Urgroßvater, der an den Zaren schreibt und ihn bittet, seinen deutschen Namen Stern in einen russischen Namen ändern zu dürfen, weil er bereits vollständig die russische Identität angenommen habe. Die Bitte wird ihm verwehrt (MS 169f.). Fjodors Großvater habe in dem Straflager, in das er deportiert worden sei, begonnen, Geschichten zu erzählen, „um von den Kriminellen nicht umgebracht zu werden.“ (MS 269) Die Großeltern waren aus dem von deutschen Truppen belagerten Leningrad in die kasachische Steppe deportiert worden, weil man Angst hatte, die Deutschstämmigen würden mit den deutschen Truppen kollaborieren, auch darüber schreibt der Großvater Geschichten (MS 269f.). Die Identitätszuschreibung von außen ist stärker als die eigene, die Literatur aber trägt dazu bei, diese Differenzen zu verarbeiten. In Erinnerung an Fjodor wird ein Dokumentarfilm über ihn in Anwesenheit der übrigen Protagonisten gezeigt, er enthält auch dessen ästhetisches Konzept: „Und eben darin besteht die Arbeit des Dichters, die verbrauchten Schemen aufzuscheuchen. Sonst würden wir Gedanken denken, die nicht unsere sind.“ (MS 282) Der erste Aspekt zielt auf die Innovationskraft und die Authentizität des Dichters in einer von Stereotypen geprägten Welt. Der zweite bezieht das Leben ein: „Warum fing ich an, Prosa zu schreiben? Sie klopften an mein Bewußtsein, wie Wanderer an die Tür eines Einsiedlers klopfen. Zum Beispiel eine Alte, die jede Nacht von einem Traum geweckt wird, in dem sie mit ihrem im Krieg gefallenen Bräutigam tanzt.“ (MS 282) Die Verarbeitung des Leides der Menschen, ihrer Schicksale und ihrer Biographien bildet die zentrale Herausforderung. Sie steht im Gegensatz zu Fjodors Diagnose der Gegenwart: Alles wird berechnet: Romane, Filme, Bilder, alles verpackt und dem Publikum, dessen Vorlieben erforscht sind, angeboten. […] Wenn dieser von allen Seiten manipulierte Mensch zufällig ein Künstler, ein Dichter ist, dann erstellt er die Werke, die genauso gut ein Roboter schaffen könnte. Ein guter Roman muß heute eine mühsame Lektüre sein, unberechnet, vom Geschmack des Publikums nichts wissend […]. (MS 283) Im Vergleich mit einem Schachspieler entwickelt Fjodor den letzten Gedanken weiter, er müsse seinen Gegner gewinnen lassen, aber ihn dabei „mit Wagemut und scheinbarem Unsinn der Kombinationen irritieren“ (MS 283).
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Authentizität, die Verbundenheit mit dem Leben und die Irritation der angepassten Leser durch die Darstellung bilden Fjodors ästhetisches Programm. Man darf darin wohl die implizite Poetik des Textes vermuten. Wird sie aber eingelöst? Der russische Dichter wird in seiner Poetik und in den Schilderungen seiner Herkunft auch mit dem Patchwork-Topos belegt. Inhaltlich stehen in diesen beiden Handlungssträngen Formen der Hybridisierung im Mittelpunkt, in das zentrale Thema der Identität gehören die Patchwork-Struktur der Familie wie die Interferenzen und Diskrepanzen der deutschen und der russischen Kultur. Literatur will, so lautet Fjodors Poetik, die Bilder dieses Lebens gegen die moderne Massengesellschaft stellen, der Roman ist bestrebt, eine Fülle solcher Bilder zu liefern. Der amerikanische Slawist John, der mit Marina, Andreas und Natascha an der Gedenkveranstaltung für Fjodor teilnimmt, hat eine mysteriöse Biographie, die ihn in die Nähe der Thriller bringt: er arbeitet für einen US-amerikanischen Geheimdienst. Eine Episode seines Lebens stellt eine besondere Variante des Third Space vor. Er wird zusammen mit dem Russlanddeutschen Fabian von einem russischen Stamm verschleppt und tritt im Anschluss daran in Verbindung mit Schamanen (MS 190–202, 245–259). John beginnt, durch die Kontakte zu einem sprachkundigen Fremden, das „Volk“ zu analysieren. Dargestellt wird in einem Gedankenexperiment ein „Volk“, das sich von allen interkulturellen Kontakten abgekoppelt hat und das seine Verbindung zur Außenwelt lediglich über Computersysteme aufrechterhält. Die Inhalte der fremden Kommunikation werden von sechzehn Sprachkundigen selektiert und mit dem Ziel einer eigenen unabhängigen Kulturentwicklung in den eigenen Diskurs eingefügt. Die „Gäste“ dienen lediglich zur Auffrischung des Genpools und müssen unter Drogen Kinder zeugen. In diesen Sonderraum hinein und heraus gelangt man durch Schleusen, die das Gedächtnis und die Fremdsprachenkompetenzen abschalten. Dargestellt wird das Modell einer homogenen, kulturell entflochtenen Gesellschaft, die keine ‚Leitkultur‘ mehr benötigt, da sie kulturell isoliert ist, bis auf die selektierten Informationen. Der Kontaktmann argumentiert: „Wir haben einen Weg gefunden, wie wir von ihren Entdeckungen profitieren können – ohne uns ihrem Entwicklungsmuster zu unterwerfen. Das, was sie machen, hat zwar gute Seiten, ist aber oft zu voreilig und zu vielen Zufällen überlassen.“ (MS 194) Sieht man davon ab, dass dieses Gedankenexperiment nicht unbedingt plausibel erscheint – es ist paralogisch im Sinne von Baßler und Drügh –, auch die Informationen sind kulturell imprägniert, so wird in diesem Bild ein Modell einer Monokultur in kulturtheoretischer Hinsicht dargestellt. Zwei Aspekte sind an diesem Gedankenspiel besonders hervorzuheben. Einerseits wird
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damit der immanente Funktionszusammenhang von Interkulturalität auf dem Weg über das Gegenbild verdeutlicht und damit auch in seiner Leistungsfähigkeit dargestellt. Der Umkehrschluss lautet, dass durch den Kontakt auch kulturelle Aspekte, Perspektiven, Wertmaßstäbe und habituelle Faktoren kommuniziert werden. Der zweite Aspekt besteht in der Beschreibung dieses Ortes als Sonderraum, der durch den Tunnel (MS 201, 245) und eine bewusstseinsverändernde Schleuse (MS 195) erreicht werden kann. In diesem Sonderraum werden auf dem Weg über das Gegenbild die Fragen der Interkulturalität und der Hybridisierung neu ausgehandelt. Wie setzt der Roman diese Aspekte und wie die Irritation und die Hybridisierung konzeptionell um? Der Text ist als ein Patchwork aus einzelnen Begebenheiten aufgebaut, die oftmals digressiv die Handlungsstränge weiterentwickeln. Die Stränge sind über Fjodor verknüpft und über das Symbol des Schlüsselbeins, das zunächst den Aspekt des Lebens, später zunehmend durch die Schreibversuche des Stiefsohns sowie das Schreiben selbst in den Mittelpunkt stellt. Der teils sprunghafte, teils mit kleinen wechselnden Strukturen arbeitende Text nimmt den Patchworkcharakter der Inhaltsebene wieder auf und vertieft ihn. Dabei stehen weniger die typischen Aspekte der Montagetechnik im Zentrum, sondern vielmehr die einzelnen kulturellen, handlungs- und erzählperspektivischen Differenzen, die der Text vereinigt. Verbunden werden diese Erzählepisoden oftmals durch Symbole, so tauchen z.B. ein Typus einer mysteriöse ‚Reisedecke‘ (MS 191, 310, 317 u.ö.) sowie eine dreibeinige „Schildpatt-Katze“ (MS 34, 45, 221–224, 317) in mehreren Handlungssträngen und bei verschiedenen Personen auf, aber auch Haltungen oder Gegenstände verbinden Episoden, die inhaltlich wenig Berührungspunkte aufweisen. Textualität und Intertextualität bilden ein weiteres wesentliches Darstellungsmittel, dabei spielen – auch das ist typisch für Pop 3 – die Texte von Leskow, Hölderlin oder Mörike für den Roman, obwohl sie zitiert werden, eine untergeordnete Rolle, vielmehr inszeniert sich der Text selbst durch eine Reihe von Mitteln, darunter Grafiken (MS 28–31), verschiedene Drucktypen (MS 39f. u.ö.), aus der Menu-Technik der Computer übernommene Orientierungsmittel, die die aktuellen Themenstränge insgesamt enthalten und durch Hervorhebung bzw. Abschwächung markieren (MS 49–79 u.ö.), welcher Strang gerade verhandelt wird. Dieses Verfahren wird sowohl zur Markierung der Sprecher in einer Art Ferndialog zwischen Marina und Andreas eingesetzt als auch zur Darstellung von inneren Monologen (MS 157–181). Durch abweichende Helligkeit der Typen sind einige Textstellen herausgehoben. Dabei changiert die Erzählperspektive des Romans zwischen dem Erzähler, der die Figuren begleitet, und dem Text, den Moritz, der Stiefsohn Marinas, angeregt durch Mörikes Schlüsselbein, schreibt (MS 203–243). Dieses pop-literarische Verfahren ist
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auf die Hybridisierung heterogenen Materials in Figuren, Handlungssträngen, Darstellungsperspektiven und auch dem äußeren Erscheinungsbild hin angelegt; insofern kann man sagen, dass der Patchworkcharakter, den der Text auf allen Ebenen aufrechterhält, sein Bild der hybriden Kultur darstellt, ein Bild, das im Rahmen der Literatur einen Ort der Mischung und auch der Reflexion der Mischung von kulturellen Impulsen bildet, die die unterschiedlichen Identitäten konstituieren. Auf der Handlungsebene wird dieser Impuls am deutlichsten durch das Gegenbild der kulturell geschlossenen Gesellschaft gesetzt, auf der Darstellungsebene primär durch die Aufnahme des Patchworkverfahrens in das Erscheinungsbild. Der Sonderraum, den John betritt, dient nicht primär zur wechselseitigen Konstruktion von Identität und Differenz, sondern er konstruiert die Differenz zwischen einem entflochtenen und einem hybridisierten Modell von Gesellschaft. Hybridisierung wird in Martynovas Roman immer schon vorausgesetzt. Das Bild der Offenheit und der Hybridisierung dominiert den Roman auf allen Ebenen. Das ist nicht unproblematisch, denn die prinzipielle Offenheit in der Begegnung mit dem Fremden unterscheidet sich von der konzeptionellen Offenheit eines Textes ebenso wie der Unterhaltungsanspruch vom Wirkungsanspruch. Die heterogene und teils paralogische Darstellungsform unterminiert oftmals die Inhaltsebene. 4
‚local knowledge‘ und Alterität – Saša Stanišićs Roman Vor dem Fest
Stanišićs Roman schildert das alltägliche Leben rund um ein Dorffest, das Annenfest, im fiktiven Uckermärkischen Fürstenwalde, das nach der Grenzöffnung 1989 heruntergekommen und ausgedünnt zurückbleibt. Ein Thema, das seit Marie-Luise Scherers Reportage Die Hundegrenze bis heute eine große mediale Aufmerksamkeit erfahren hat.37 Metaphorisch steht der Tod des Fährmanns, mit dessen Hilfe zwei Seen überquert werden konnten (VdF 11–13) für das Schicksal des Ortes. In der Geschichte des Gewässers ist ein weiterer Metaphernkomplex verborgen, der die Vermittlung über eine Grenze hinweg in den Mittelpunkt stellt. Die Legende besagt, dass ein Riese die Spitze eines jugoslawischen Berges gekappt und in die Uckermark geworfen habe, dadurch seien aus einem See zwei geworden (VdF 170). Der Fährmann trägt dazu bei, die Seen zu überqueren, aber auch die Konflikte der Menschen nach der Prekarisierung beizulegen. „Fährmanns Wort hatte von alters her immer schon mehr 37 Marie-Luise Scherer: Die Hundegrenze. In: Marie-Luise Scherer: Der Akkordeonspieler. Wahre Geschichte aus vier Jahrzehnten. Frankfurt a.M. Eichborn 2004, S. 141–196. Zuerst in Der Spiegel 1994.
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Gewicht als das der Stadtherrn.“ (VdF 197) Sein Tod verändert die Gesellschaft, er liefert die Metapher für die Situierung der Gemeinde als Wendeverliererin, die Bewohner sind ökonomisch und gesellschaftlich isoliert, die Bevölkerung schrumpft. Die Erzählungen des Fährmanns haben außerdem den Kontakt und die Kommunikation der Menschen untereinander hergestellt wie auch zur Vergangenheit, über die er ebenfalls berichtet hat. Das episodische Prinzip des Romans, das ‚Erzählen im Paradigma‘, das der Roman unter dem Syntagma des Dorffestes praktiziert, wäre damit auch in eine Korrespondenz zu den Erzählungen des Fährmanns zu rücken; der Roman mit seinen Geschichten aus der Gegenwart und der Vergangenheit füllt diese identitätsbildende Lücke für desintegrierte Gruppen der Bevölkerung. Mit Baßler und Drügh kann man die Wendung zur Provinz als pop-literarisches Verfahren des Pop 3 hervorheben, Stanišić bringt dabei den nicht ganz unproblematischen Begriff der Heimat in die Diskussion.38 In die erzählte Zeit einer Nacht und eines Tages wird ein großer Ausschnitt der Geschichte des Ortes hineinkomprimiert, dessen Archiv Frau Schwermuth führt. Der Text vollzieht dies über seine Episodenreihung, die in kurzen Kapiteln von einer Person und Gruppe zur nächsten springt und immer wieder Texte der – auch auf der Handlungsebene – fiktiven Dorfchronik einbezieht. Der Text verlässt wie viele Pop 3-Texte die Orientierung an der Gegenwart mit der Hinwendung zu knappen Exkursen. Er archiviert außerdem Daten der Alltagswelt wie Speisekarten (VdF 115) und Listen (VdF 123) – auch das ist ein popliterarisches Verfahren.39 Die Erzählperspektive wechselt, sie geht teils sogar auf die subjektive Perspektive eines Fuchses über,40 zumeist aber spricht sie aus dem kollektiven Wir der Ortsansässigen (z.B. VdF 254), was ihr teils tiefgreifende und gleichzeitig subtile psychologische Studien ermöglicht (z.B. VdF 37).41 38 So z.B. als Titel einer Lesung in Hamburg am 6.2.2018 in der freien Akademie der Künste: „zu heimaten“. Auch seine Züricher Poetikvorlesung von 2017 stand unter dem Titel „Das Biographische, das Unwahrscheinliche, das Grausame und der Witz: Meine Heimaten“. 39 Vgl. dazu Baßler: Pop-Roman, S. 9–45 u. 94–114. 40 Vgl. dazu die Praxis der Ökoliteratur, die Erzählinstanzen mit Tieren oder Gegenständen zu identifizieren. Sabine Frost: „Ecocentric Identification“. Grenzüberschreitung als Grenzziehung. In: Neue Naturverhältnisse in der Gegenwartsliteratur? Hg. Sven Kramer und Martin Schierbaum. Berlin: Erich Schmidt 2015, S. 95–118. 41 Diese Perspektive mit ihrem Angebot zur Selbstreflexion der aufnehmenden Bevölkerung verbindet den Roman z.B. mit den aktuellen Filmen von Aki Kaurismäki zum Thema Migration. Vgl. Aki Kaurismäki: Le Havre 2011 und Die andere Seite der Hoffnung 2017, beide Filme richten sich an die aufnehmende Bevölkerung und führen ihr ihr Verhalten und ihre Perspektiven gegenüber anderen, z.B. Migranten, vor Augen. Le Havre setzt sich dabei mit der veränderten Selbstwahrnehmung der kleinen Leute auseinander,
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In den zahlreichen kurzen Geschichten, die oftmals um die identitätsbildenden Zusammenhänge der Menschen kreisen und als Mittelpunkt die Vorbereitung zum Annenfest haben, spielt auch der Gegensatz zur DDR-Zeit, dem „früher“ (VdF 57), eine Rolle und die damit verbundenen Brüche in Identitäten und Biographien. In der „Garage“, einem ‚privat‘ betriebenen Billigausschank, in dem sich die arme Bevölkerung trifft, erzählt Imboden von einem Annenfest in den „frühen Sechzigern“ (VdF 57): Er hat sich in Fräulein Zieschke verliebt und fordert sie zum Tanz auf, weil er weiß, dass dies eine große Wirkung auf sie ausüben wird. Als FDJ-Werber aus Prenzlau eintreffen, um Politik zu machen, wollen auch sie mit Fräulein Zieschke tanzen, sie lehnt ab, Imboden schreitet ein und prügelt sich mit ihnen. Später wird er vorgeladen und mit dem Schicksal seines Vaters, der als Nazitäter im Gefängnis sitzt, konfrontiert. Imboden betont zwar, dass es nur um den Tanz ging, dennoch muss er sich entscheiden, entweder aus der DDR zu fliehen oder Fräulein Zieschke wiederzusehen. Er bleibt, schweigt und heiratet sie später. Obwohl die Zuhörer die DDR-Zeit für besser halten als die Gegenwart, stimmen sie seinen Schilderungen des Widerstands und der Kritik am politischen System voll zu (VdF 57–61). Der Roman kann weder als expliziter Wenderoman aufgefasst werden, der die Geschichte der Vereinigung kommentiert, noch als Erinnerungsroman, der sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzt. Vielmehr werden diese historischen Wendepunkte, wie bereits im Pop 2 üblich, in den Text eingefügt, ohne ein tragendes Strukturmoment zu bilden, hier werden sie durch regionales kulturelles Wissen angereichert. Worum geht es dann und inwiefern kann man von einem Third Space sprechen? In den Episoden findet sich eine durchgehende, aber nicht in den Vordergrund tretende Linie, die nach Bosnien führt; von jugoslawischen und rumänischen Gastarbeitern aus der Nachwendezeit ist die Rede, Frau Kranz stammt ursprünglich aus dem Banat. Diese Ebene tritt im Laufe des Romans eher zurück. Der Aspekt der Hybridität besteht vornehmlich in der Vermischung der Handlungen in der Gegenwart mit Episoden aus der Chronik. So tritt die Unterhaltung, die Herr Schramm mit der Partnervermittlerin Frau Mahlke führt, wie auch die Geschichte Annas, die beim Joggen einen Asthmaanfall erlitten hat, in Beziehung mit den Ereignissen um das Annenfest 1589. Der Brauer Ramelow hat gepanschtes Bier verkauft, ihm wird – so ein Selbstzitat aus La vie de bohème 1992, das sich durch den Aufenthalt eines polizeilich gesuchten Migrantenkindes nachhaltig verändert. Die andere Seite der Hoffnung parallelisiert das Schicksal eines finnischen Aussteigers mit dem eines Migranten und weist auf den unmotivierten Hass von Teilen der aufnehmenden Bevölkerung hin. Diese Filme verwenden keine popliterarischen Verfahren, sondern reflektieren die Geschichte des Kinos im Hinblick auf ihre Thematik und auf die Wirkungsmittel.
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berichtet die Chronik – zur Strafe die Frau entführt und eine andere zugeführt, die durch ihre lockere Haltung die integre Kundschaft vergrault. Bis hierhin steht die Frage nach den Eigenschaften der Partner in der Beziehung und der Position der Menschen zum Leben im Mittelpunkt beider Erzählungen. Auf der Handlungsebene arbeitet Herr Schramm schwarz und ist Protestwähler. Brauer Ramelow in der Chronik ist mit der groben Frau gar nicht zufrieden. Sobald er wieder unverfälschtes Bier ausschenkt, kehrt seine alte Frau zurück und berichtet, sie sei von zwei Räubern entführt, aber gut behandelt worden. Anna wird auf der Handlungsebene des Textes nach ihrem Zusammenbruch von zwei unbekannten Männern aufgelesen und weiß nicht, ob sie sie ins Krankenhaus fahren oder ihr Gewalt antun werden (VdF 109–120). Es kommt zu einem Unfall durch einen Geisterfahrer – Herr Schramm wollte Selbstmord begehen –, Anna flieht, es bleibt offen, was die Männer vorhatten. Sie steigt zu Schramm ins Auto, der sich nunmehr erschießen will, und kann ihn überreden, ihr die Waffe zu geben und ihr in den Ort zu folgen (VdF 165–168). Die unberechenbaren Situationen für die Frauen sind in Chronik und Handlung vergleichbar. In den letzten Kapiteln verschwimmt die Handlung sogar partiell mit den Erzählungen der Chronik bzw. der Archivarin; so bei Frau Steiner, die in die Nähe einer Hexe gerückt wird und ein Hexengebet spricht (VdF 294f.), und bei Anna, deren Tod der Text immer wieder imaginiert und die später erneut auf ihre Retter trifft. Darin besteht ein weiteres paralogisches Moment, denn die beiden Männer werden mit zwei Sträflingen in Verbindung gebracht, die 1599 fliehen konnten, als der Scheiterhaufen, der sie verbrennen sollte, die Häuser des Ortes entzündete (VdF 281f. bzw. 306f.). Diese Tendenz zum Kommentieren der Handlung durch Geschichten aus der Vergangenheit bis hin zum partiellen Verschmelzen am Ende bildet eine erste Ebene des Verfahrens der wechselseitigen Konstruktion des Eigenen und des Vergangenen. Sie gerät allerdings in die Gefahr einer Nivellierung der Probleme in der Gegenwart durch frequenten Verweis auf die Vergangenheit, die durchweg durch grausame, ja sogar brutale Szenen gekennzeichnet ist. Das Archiv des Ortes birgt eine Reihe von unbekannten Urkunden aus der Ortsgeschichte – quasi eine Verabgründung des ‚local knowledge‘ – die nicht insgesamt, sondern nur in Ausschnitten zugänglich gemacht werden. Die Qualität und das Alter der ausgestellten Dokumente lassen den Erzähler auf Fälschungen schließen (VdF 126–128).42 Das Dorf bildet sich jedoch durch 42 Die Informationen, die über den Ort gegeben werden, stützen diese These: es ist von einem Brand im Jahre 1740 die Rede, der alle Aufzeichnungen, auch die Chronik, zerstört habe. Dennoch wird mehrfach über Ereignisse berichtet, die zeitlich davor liegen (VdF 49).
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diese Fälschungen eine narrative Identität. Im Heimatverein wird ein Heft mit den Erinnerungen der alten Leute aus Fürstenwalde angeboten (VdF 131), damit wird selbstreferentiell auch der Aspekt des Archivs noch einmal angesprochen. Auch an dessen Echtheit zweifelt der Erzähler (VdF 131). Er resümiert über die 160 Kg schwere Autorin der Texte: „Ich glaube, Mu lenkt sich mit der Vergangenheit von der Gegenwart ab“ (VdF 132). Was für diese Figur gilt, gilt auch für die Wiedervereinigungsverlierer, ihre Situation wird durch die Erzählungen der Archivarin kompensiert. Ein in Faksimile abgedruckter Text zeigt eine handschriftliche Bearbeitung eines gedruckten Textes über einen Kesselflicker, der einen magischen Ring findet, der ihn unsichtbar macht (VdF 187–190). In der gedruckten Variante legt er ihn ab, in der handschriftlichen Umschrift nutzt er ihn, um sich von seinen Mitbürgern seinen Lebensunterhalt zu stehlen. Die Bearbeitungstendenz macht deutlich, dass die Umgestaltung in Richtung auf den Unterhaltungswert und auf die Konfrontation hinweist.43 Die häufig eingestreuten Geschichten verarbeiten die Gegenwart und kommentieren sie in Richtung auf die Überschreitung der Normen (VdF 187–192). Diese Geschichten stehen im Gegensatz zu den Geschichten, die die Bewohner sich vom Fährmann erzählen, es sind Geschichten der Übersetzung und der Transfers, kurz des sozialen Ausgleichs (VdF 197, 208). Frau Schwermuth kann schließlich nicht mehr diese erfundenen historischen Episoden von der Wirklichkeit des Ortes trennen (VdF 221). Verhandelt werden dabei zwei Möglichkeiten der narrativen Identitätskonstruktion: negative Projektion und Vermittlung. Ein Entwicklungsprozess in der Wahrnehmung des Fremden zeichnet sich ab, sobald man die Wahrnehmung des Generals Trunov mit der des Fremden der Gegenwart vergleicht. Der General, der während der DDR-Zeit die Raketenstellung von Herrn Schramm besucht, vereinigt auf sich die Attribute der überquellenden Lebenskraft,44 er lässt in der Sauna einen Hauptmann der DDR nicht gehen, sondern bedroht ihn mit dem Säbel; die Phänomene der Macht und der Angst werden den Deutschen dabei bewusst (VdF 44). Nachdem er im Bereich der Raketenstellung einen Gemüsegarten anlegen ließ, wurde er noch gesehen, „wie er mit zwei jungen Bäuerinnen einen Trecker bestieg und Richtung Osten fuhr, der Jude im Anhänger mit einer Schreibmaschine im Schoß, in die er alle Sätze hämmerte, die Trunov je gesprochen hatte“ (VdF 47). Er hinterlässt bei den DDR-Soldaten die von ihm gestellte Frage „welchen Wert 43
Auch das ist eine Form des paralogischen Erzählens, das Baßler und Drügh für die Pop 3Literatur hervorheben. 44 „U-Boote versenken mit eigenen Händen. Oberstleutnant Schramm war sich sicher, es wäre ihm auch gelungen.“ (VDF 42).
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ihr Leben habe“ – das Pop 3-Thema –; Schramm resümiert: „aber keiner wusste eine Antwort zu geben“ (VdF 47). In wenigen Szenen am Ende des Romans wird die Realität, die durch eine andere Selbstwahrnehmung einiger Bewohner des Ortes generiert wird, deutlich. Im Morgengrauen treffen einige junge Kunden des Garagenausschanks auf den ‚Adidas-Mann‘, einen Unbekannten, der in abgerissener Kleidung an jedem Morgen beim Bäcker Orangensaft und eine Puddingbrezel kauft. Manchen Ortsansässigen macht der Fremde Angst, da er nichts von sich preisgibt. Lada schlägt ihn nieder, Suzi, ein anderer junger Mann, hilft ihm wieder auf, der Text resümiert in der Perspektive des Kollektivs: Fremde kommen selten zu uns. Selten bleiben sie. Selten bleiben uns Fremde, die länger bei uns bleiben, fremd. Selten freunden wir uns mit den Fremden an, auch wenn sie länger bei uns bleiben. Wir sind sozial. Wir sind asozial. Wir sind aufgeschlossen. Wir sind argwöhnisch. Wer mag das schon, gestört zu werden, niemand. (VdF 253) Dieser inkohärente Kommentar schwankt zwischen einer Selbstdiagnose und einer Begründung für das fremdenfeindliche Verhalten, die auf Sympathie zielt. Er umkreist einen Teil der Mentalität des Ortes und wirkt eher durch die Abbildung dieser alltäglichen Ausgrenzung und ihrer Hintergründe als durch eine explizite Bewertung.45 Dieser Übergriff fügt sich in eine Reihe mit einem Angriff auf die Wohnanlage für rumänische Landarbeiter durch Neonazis. Ein Bewohner verändert die durch die Neonazis angebrachte Schmähschrift und beseitigt sie dadurch. Das Bild, das Frau Kranz davon malt, ist deshalb ihr Lieblingsbild. Auch diese Bewertung unterschätzt die Drastik der geschilderten Ereignisse (VdF 290f.). Das literarische Verfahren, die Bruchlinien darzustellen, aber nicht explizit zu markieren und zu bewerten, erinnert an Randts Romane.46 In diesem thematischen Zusammenhang ist es allerdings fragwürdig, geht es doch gerade um die ‚Generation Hoyerswerda‘ und deren Weiterwirken bis heute.47 Thomas Andre, der Rezensent des Buches auf Spiegel-Online, 45 46 47
Vgl. dazu die dazu konträre Darstellung der Übergriffe in Reinhard Jirgl: Die Stille. München: Hanser 2009, S. 308–310 und in Kaurismäkis Film Die andere Seite der Hoffnung. Der Verzicht auf eine politische Perspektive findet sich in den Texten der Pop 3-Literatur praktisch durchgehend. Der Begriff wurde 2011 in einem Artikel der Journalisten Thorsten Thissen und Johannes Wiedemann geprägt. Nach Heike Kleffner und Anna Spangenberger, die sich gerade mit der Entwicklung des Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus im Bundesland Brandenburg, in dem die Uckermark zum größten Teil liegt, beschäftigen, kann man diese
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hebt dessen Ironie hervor;48 das ist sicher auch an diesen Stellen richtig. Fraglich ist allerdings, ob die Ironisierung von Fremdenfeindlichkeit ausreicht, wenn es um ein Grundmuster der Radikalisierung geht. Wolfgang Hilbig hat bereits 1995 in seiner Frankfurter Poetikvorlesung die Gegenwartsliteratur kritisiert, weil sie oftmals den Interessen der Verlage folgt und gut verkäufliche Literatur produziert, die „übersetzbar“ und damit auch kommerziell attraktiv ist – Arendt spricht von ‚reibungslosem Vergessen‘ –, weil sie nicht aneckt.49 Diese ‚Übersetzbarkeit‘ wird auch im Umgang des Romans mit Fremdenfeindlichkeit und Rassismus deutlich. Auch in diesem Punkt kommt der Roman in ‚der Mitte der Gesellschaft‘ an. Der Roman endet mit einem tableau vivant, das auch Verstorbene, wie den Fährmann und den Tischler, als Lebende abbildet. Deutlich wird durch dieses Ineinander von Erzählungen und Handlung die narrative Identitätsbildung von Einzelnen und Gruppen. Zusammen mit der Beschreibung der Malerin Ana Kranz durch einen Zeitungsartikel50 bildet dieses Tableau die Grundlage der impliziten Poetik des Romans, auch dieser Text stellt die Konstellation der Generation folgendermaßen zusammenfassen: „Die Erfahrung, rassistischen Vorstellungen nicht nur Gehör, sondern ihnen – durch den Einsatz von Gewalt – Geltung verschaffen zu können, prägte eine ganze Alterskohorte rechter Jugendlicher. Die ‚Generation Hoyerswerda‘ hat den Neonazismus von einer Szene in eine soziale Bewegung verwandelt, die in den Straßen ostdeutscher Dörfer und Städte – nicht überall in gleicher Weise und Intensität – als eine tatsächliche Macht auftrat.“ Heike Kleffner und Anna Spangenberg: Vorwort der Herausgeberinnen. In: Generation Hoyerswerda. Das Netzwerk militanter Neonazis in Brandenburg. Hg. dies. Berlin: be.bra verlag 2016, S. 9–17, S. 12. Mehrfach wird betont, dass sich diese Perspektive und das damit verbundene Selbstverständnis auch auf die jüngere Generation übertragen hat und zu einer Kontinuität von Rassismus und Gewalt führt. Vgl. dazu David Begrich: Hoyerswerda und Lichtenhagen. Urszenen rassistischer Gewalt in Ostdeutschland. In: Generation Hoyerswerda, S. 32–44, S. 43f.; und der Beitrag „Ich habe immer damit gerechnet, dass es einen organisierten Rechtsterrorismus geben könnte“ Erardo Christophoro Rautenberg im Gespräch mit Heike Kleffner und Anna Spangenberg. In: Generation Hoyerswerda, S. 212–223, S. 222. 48 Thomas Andre: Ostdeutsche Provinz. Null Kneipen, aber Sterni mit Schnittchen. In: Spiegel-Online, (http://www.spiegel.de/kultur/literatur/sasa-stanisic-vor-dem-fest-a -955575.html, zuletzt geprüft am 9.5.2019). 49 Wolfgang Hilbig: Abriß der Kritik. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a.M.: Fischer 1995, S. 90. Für Hilbig führt das Ende der Moderne dazu, dass die Verlage „vollkommen übersetzbare“ Bücher verlangen: „in einem vorgesehenen Buch dürfe kein einziges Tabu irgendeines Landes berührt werden“. Er folgert: „der Autor soll mit seiner wahren Meinung gefälligst hinterm Berg halten, damit Geld hineinkommt“ (ebd.). 50 „Ana Kranz sieht sich nicht als Heimatmalerin. Verbunden zu sein mit einem Land und einer Kultur ist ihr nicht geheuer. Ihre Gemälde zeigen aber eine Heimat – unsere Uckermark. Sie zeigen unsere Erinnerungen, auch solche, von denen wir erst durch ihr Bild erfahren, dass wir sie haben […].“ (VdF 288, Hervorh. i. Orig.) Vgl. dazu die Beschreibung der Malerei der Frau Kranz durch den Erzähler: „Frau Kranz möchte gern malen, was niemand weiß./Frau
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Figuren in hervorgehobenen Situationen dar und archiviert sie. Der Roman akzentuiert in seiner Episodenstruktur primär Situationen des Übergangs und der Unsicherheit und weicht damit die festen Identitätsmuster auf. Einerseits wird in diesem Zusammenhang die Ausgrenzung des Fremden mehrfacht aufgegriffen, aber kaum kommentiert, dabei relativiert sich diese Brutalität sogar durch die historischen Gewaltdarstellungen. Sie entstehen aus der psychischen Situation von Frau Schwermuth und bilden gewissermaßen ‚das Unbewusste‘ der Wendeverlierer ab. Dieser Verbindung von Chronik und Gegenwart steht andererseits die Erinnerung an den Fährmann und dessen ausgleichende Rolle entgegen. Diese Funktion übernimmt das Tableau und auch das Selbstverständnis der anderen Heimatmalerin Frau Kranz. Die Differenz zur Gegenwart wird in den Metaphern des Endes der Vermittlung angedeutet, die der Text von Beginn an einführt. Schließlich wird durch die Patchwork-Struktur und durch die Biographien deutlich gemacht, dass die Vorstellung der Homogenität einer Mehrheitskultur, die oftmals als Begründung der Ausgrenzung angeführt wird, auf einem Trugschluss der Selbstwahrnehmung beruht. Die Hybridität ist nicht zu leugnen. 5
Schluss
Legt man die Kriterien an, die der Dichter Fjodor im Martynovas Roman aufstellt: „Ein guter Roman muß heute eine mühsame Lektüre sein, unberechnet, vom Geschmack des Publikums nichts wissend“, er müsse dabei mit „Wagemut und scheinbarem Unsinn der Kombinationen irritieren“ (MS 283), dann erfüllen beide Texte diese Kriterien nur bedingt. Mit Baßler und Drügh kann man feststellen, dass sie „in der Mitte der Literatur“ angekommen sind, also durchaus den „Geschmack des Publikums“ treffen. Das hat allerdings auch Konsequenzen für die verhandelten Inhalte. Beide Romane stellen die zentralen Fragen nach der Identität, der Alterität und der Hybridisierung oder sie inszenieren immer wieder Third Space-Konstellationen, insofern haben sie Teil an der Debatte um Interkulturalität. Bei Martynova führt aber die Unübersichtlichkeit des Episoden-Patchworks – „Wagemut und scheinbare[r] Unsinn“ – häufig dazu, dass gerade diese Inhalte an Wirkungsmöglichkeiten einbüßen. Beide Romane nehmen die Probleme der Ausgrenzung und der Differenzierung innerhalb der Gesellschaften ernst. Martynova setzt sich dabei mit dem Ost-West-Gegensatz und den interkulturellen Problemen, die ihm Kranz möchte das Böse malen in uns, aber wie geht das?/Frau Kranz möchte das Durchhalten malen, aber wie geht das?/Das Hindern, aber wie?“ (VdF 94).
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folgen, auseinander, während Stanišić die Wahrnehmung auf die Heterogenität innerhalb der Majorität lenkt. Er benennt zwar die Probleme der Kinder der ‚Generation Hoyerswerda‘, teils auch deren Ursachen, dennoch neigt er dazu, deren Konsequenzen, darunter Ausgrenzung und Gewalt, eher abzubilden als zu hinterfragen. Biller kann man wohl nicht zustimmen, dass Stanišićs Roman sich von der Migrationsperspektive entfernt habe, er behält sie auch bei der Auseinandersetzung mit der märkischen Gesellschaft bei. Beide Romane bleiben mit Wolfgang Hilbigs Kategorie „übersetzbar“, d.h. sie spielen die Themen an, halten sich aber von entschiedener Kritik oder gar von Provokation fern, sie ecken nicht an. Darin besteht die Konzession an die ‚Mitte‘ – im literatursoziologischen wie im migrationssoziologischen Sinne. Mit dem allgemein gehaltenen Thema des Lebens stellen sie sich vielmehr in die Reihe der Pop 3-Literatur, in diesem Medium wollen sie die Hybridisierungs- und Transformationsprozesse darstellen und zugleich initiieren. Die Kategorien, die Baßler, Drügh und Diederichsen vorschlagen, ermöglichen es, die Einordnung fortzuführen. Gerade in ihrer Übersetzbarkeit und ihrer Konsumierbarkeit fügen die beiden Romane sich in das Pop 3-Umfeld ein, auch die Kriterien der Provinzialität und des paralogischen Erzählens, wie auch der Umgang mit dem Thema des Lebens und mit der Episodenreihung sprechen dafür. Das sind mit Diederichsen Kriterien einer gemeinsamen „Sprechweise“, die sie mit einer Reihe von zeitgenössischen Texten verbindet. Mit dieser Zuordnung ist auch ein Dilemma benannt, zwar sichert ihnen die Wahl dieses Literaturkonzepts eine recht große Aufmerksamkeit, allerdings schwindet damit auch die Möglichkeit, weiterreichende Fragen zu stellen.
kapitel 10
Die Zukunft ‚nach Auschwitz‘. Zur Konstruktion des Jüdischen in Jan Faktors Romanen Sven Kramer Womit Jan Faktor in früheren Jahren aus verschiedenen Gründen nicht rechnen konnte,1 widerfuhr ihm im mittleren Autorenalter, nachdem er 2010 seinen zweiten Roman publiziert hatte: Der Literaturbetrieb wurde auf ihn aufmerksam; er erlebte ein gewisses Maß an Erfolg. Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag2 gelangte auf die Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse. Auch die Literaturwissenschaft reagierte; Faktor erhielt einen Artikel im Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Dort stellt Dirk Engelhardt seine Werkbiografie vor und listet auch die biografischen Stationen auf: „geboren […] 1951 in Prag, […] übersiedelte 1978 […] nach Ostberlin […], war in der inoffiziellen Literaturszene des Prenzlauer Bergs […] verankert […]. Seit […] 1990 als Schriftsteller freischaffend. […] Faktor ist tschechischer Staatsbürger“.3 Fortgeschrittenes 1 Jan Faktor: Warum aus uns nichts geworden ist. Betrachtungen zur Prenzlauer-Berg-Szene zehn Jahre nach dem Mauerfall. In: text + kritik. Sonderband: DDR-Literatur der neunziger Jahre (2000), S. 92–106. 2 Jan Faktor: Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen HodensackBimbams von Prag. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010. Im Text ausgewiesen unter der Sigle GS und der Seitenzahl. Das Motiv des Hodensacks verbindet Faktor mit dem des Sprachwechsels: „Alles Deutsche um uns herum wurde getilgt, wegradiert, umbenannt. Auch meine Mutter, Tante und Großmutter wollten unbedingt den Namen Schornstein (ová) loswerden und nahmen den Spitznamen des schon vor dem Krieg verstorbenen Familienoberhaupts an: Schorek – tschechisch geschrieben dann natürlich Šorek. In meiner Geburtsurkunde taucht meine Mutter also als geborene Šorková auf, was ich immer als falsch empfand. Und ganz günstig war dieser neue Name sowieso nicht, weil das ähnlich klingende tschechische ‚Šourek‘ Skrotum, also Hodensack, bedeutet“ (Jan Faktor: ‚Eine nachträgliche Erfindung der deutschen Germanistik‘. In: Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Hg. Peter Becher, Steffen Höhne, Jörg Krappmann und Manfred Weinberg. Stuttgart: Metzler 2017, S. 353–354). 3 Dirk Engelhardt: Jan Faktor. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Loseblattsammlung. 98. Nlg., Stand: 1.6.2011, S. 1–10, S. 1 (online unter: https://www .munzinger.de/search/document?index=mol-16&id=16000000751&type=text/html&query .key=xHZwMFpk&template=/publikationen/klg/document.jsp&preview=, zuletzt geprüft am 10.5.2019).
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Deutsch lernte er erst in der DDR, seit Mitte der achtziger Jahre schreibt er in dieser Sprache.4 Zu diesen erschwerten sprachlichen Bedingungen trat die selbstgewählte Isolation in Ostberlin, wo er sich ein Nischendasein einrichtete, in dem er experimentelle Prosa und Gedichte – er spricht von „aggressiven seriellen Texte[n]“5 – sowie Essays verfasste. Den Grund für seine auch nach der Wende zunächst anhaltende Erfolglosigkeit suchte er im Jahr 2000 bei sich selbst. Noch nach dem Fall der Berliner Mauer habe er, wie die meisten anderen Prenzlauer-Berg-Autoren auch, die Routine der „fortgesetzten Verweigerung“ unbewusst beibehalten und „bis hin zur Selbstsabotage“6 betrieben. Mit dem Roman Schornstein7 änderte er 2006 seine Schreibweise und erhielt 2005 sogleich einen Literaturpreis (den Alfred-Döblin-Preis) für das noch unpublizierte Typoskript. Georgs Sorgen, sein bislang letzter Roman, entfaltet mittlerweile auch eine internationale Wirkung. 2015 erschien er in einer tschechischen Version.8 Die inter- bzw. transkulturell ausgerichtete Literaturwissenschaft hat Faktors – durch seine Biografie und insbesondere durch den Sprachwechsel bedingte – besondere Autorposition bereits erkannt und herausgearbeitet.9 Mit Recht hat sie mit Bezug auf Georgs Sorgen auf die supranationale Verzweigung von Georgs Familie sowie auf deren multilinguale10 und „transkulturelle 4 Vgl. die Informationen in Jan Faktor: Ich muss einfach weiter lernen. Gespräch mit Jan Kuhlbrodt für den poetenladen (http://www.poetenladen.de/jan-kuhlbrodt-jan-faktor .htm, zuletzt geprüft am 10.5.2019; abgedruckt in: Poet. Literaturmagazin 8 (2010), S. 220– 235). Vgl. auch Renata Cornejo: Zum Sprachwechsel der deutsch schreibenden Autoren tschechischer Herkunft. Kommentierte Interviews mit Ota Filip, Jan Faktor und Michael Stavarič. In: Bastard. Figurationen des Hybriden zwischen Ausgrenzung und Entgrenzung. Hg. Andrea Bartl und Stephanie Catani. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 175–189, bes. S. 181–185. 5 Faktor: Warum aus uns nichts geworden ist, S. 96f. 6 Ebd., S. 105. 7 Jan Faktor: Schornstein. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006. Im Text ausgewiesen unter der Sigle S und Seitenzahl. 8 Jan Faktor: Jiříkovy starosti o minulost. Praha: Plus 2015. 9 Als Taktgeber fungierten immer wieder Renata Cornejos Arbeiten, vgl. u.a. dies.: Heimat im Wort. Zum Sprachwechsel der deutsch schreibenden tschechischen Autorinnen und Autoren nach 1968. Eine Bestandsaufnahme. Wien: Praesens 2010, bes. S. 206–217, 272–282, 407–419; vgl. dies., Sławomir Piontek, Izabela Sellmer und Sandra Vlasta (Hg.): Wie viele Sprachen spricht die Literatur? Deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa. Wien: Praesens 2014; vgl. dies.: Prag als individueller und kollektiver Raum in Jan Faktors Roman Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen HodensackBimbams von Prag. In: Über Grenzen. Texte und Lektüren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. Stephanie Catani und Friedhelm Marx. Göttingen: Wallstein 2015, S. 71–85. 10 Vgl. Cornejo: Prag als individueller und kollektiver Raum, S. 82.
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Disposition“11 hingewiesen.12 Auch der Handlungsort Prag erscheint auf eine für die aktuelle deutschsprachige Literatur neuartige Weise – in der Binnensicht aus dem sozialistischen Bereich. Hier profitiert die Literatur der Berliner Republik von Faktors biografischen Erfahrungen in der Tschechoslowakei. Gefragt, ob er sich als einen deutschen Autor bezeichnen würde, antwortete Faktor 2008 mit einer Prise abgründigem Humor: „Ich bin eindeutig ein tschechischer Autor, der notgedrungen/dummerweise Deutsch schreibt. Zu Hause bin ich allerdings […] in Berlin […] trotz meines tschechischen Passes, ich habe nur eine Staatsbürgerschaft.“13 Seinen Protagonisten gibt der Autor keine ähnlich gelagerten deutsch-tschechischen Migrationsbiografien mit: Schornstein erhält einen deutschen Lebenslauf, Georg einen tschechischen. Transkulturell ausgerichtete Lektüren finden an diesen Figuren keinen eindeutigen Ansatzpunkt. Faktors Romane gehen in solchen Lektüren offensichtlich nicht auf. In diesem Sinne hat Inga Probst, nachdem sie diverse transkulturelle Phänomene in Georgs Sorgen herausgearbeitet hat, zurecht davor gewarnt, Faktors Literatur durch eine ausschließlich auf das Transkulturelle festgelegte, exotisierende Lesart zu verengen.14 In der Tat umfassen beide Romane eine Vielzahl weiterer Aspekte, die eigens betrachtet und in ein Verhältnis zu den transkulturellen versetzt sein wollen. Es ist vor allem die vielfach zusammengesetzte, sich dauernd verschiebende und insgesamt komplizierte Identität der Protagonisten, die hier genannt werden muss. Dass deren Selbstbild in beiden Romanen ins Zentrum rückt, signalisiert schon die Erzählperspektive. Den Erzähler legt der Autor in beiden Texten autodiegetisch an. Im Stile einer autobiografischen Erzählung wird aus einer selbst nur ungenau aufgerufenen Gegenwart eine Vergangenheit rekonstruiert. Dabei wechselt die Fokalisierung, weil Teile der in der Vergangenheit liegenden Geschichte aus der Gegenwart des Ich-Erzählers perspektiviert, während andere Teile intern, im Ich von einst, fokalisiert werden. Schornstein berichtet in dem gleichnamigen Roman rückblickend von seiner Krankengeschichte der letzten „zehn Monate“ (S 7). Auch Georg vergegenwärtigt sich seine 11
Inga Probst: „Rodina“ – „Familie“ – „Mischpoke“ oder Georgs Sorgen um die multikulturelle Familienerinnerung. In: Aussiger Beiträge 6 (2012), S. 177–192, S. 185. 12 Anna Horakova thematisiert den transnationalen Aspekt, indem sie in dem Roman die „transnational culture of dissent that existed between the GDR and other countries within the former Eastern Block“ herausarbeitet (Anna Horakova: Producing a Future, Commemorating a Past. Jan Faktor and the Avantgardes. In: German Life and Letters 68, H. 2 (2015), S. 284–301, S. 285). 13 Interview Cornejo & Faktor am 25.11.2008. In: Cornejo: Heimat im Wort, S. 407–419, S. 418. 14 Vgl. Probst: „Rodina“ – „Familie“ – „Mischpoke“, S. 189f.
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Jugend in der Tschechoslowakei retrospektiv nach dem Tod aller Familienmitglieder der Elterngeneration etwa eineinhalb Jahrzehnte nach dem Ende des Sozialismus.15 Die Leser sehen also jeweils einem Erzähler bei der Rekonstruktion seiner Vergangenheit zu. Beide Erzähler wissen um den Konstruktionscharakter, den die Vergangenheit in ihren Erzählungen annimmt. In beiden Fällen geht es nicht zuletzt um die Wandlungen des Selbstbildes, um dessen grundsätzliche Stabilität und Instabilität, Kohärenz und Inkohärenz, um Konstanten und um Neubestimmungen. In thematischer Hinsicht kreisen die Romane vor allem um die Grenzen zwischen Normalität und Anomalität, um die Frage nach dem Gesund- und Kranksein sowie um die Geschlechterverhältnisse oder, genauer: um das männliche Selbstbild. Bei Faktor gewährt keine dieser Kategorien eine problemlos zu übernehmende Identität; jede Zuschreibung wird in konkrete Zusammenhänge versetzt und dabei erprobt, moduliert, umgewertet, phasenweise übernommen usw. Eine der zentralen Fragen, die die Romane stellen, betrifft damit ihre Helden: Wer sind diese Individuen, die alle möglichen Zuschreibungen auf sich ziehen, aber auf keine verrechnet werden können? Die Forschung hat zurecht darauf hingewiesen, dass beide Romane starke autobiografische Züge enthalten und mit Hilfe der Kategorie der Autofiktion gelesen werden können.16 Im Folgenden soll dieser Aspekt jedoch nicht 15
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Von der Figur des Onkels heißt es, er sei noch am Leben, als „das friedliche Einschlummern des Sozialismus […] schon über zehn Jahre […] zurück[lag]“ (GS 626). Des Weiteren wird ein Zeitpunkt „einige Jahre nach Onkels Tod“ (GS 633) erwähnt, so dass seit 1989 wohl mindestens fünfzehn Jahre vergangen sein müssen. Auch Tante Peperls Tod kann zur Datierung des Erzählzeitpunkts herangezogen werden: Sie stirbt „in den Jahren nach der Invasion“ (GS 390) von 1968 (vgl. S 391). Georg findet „fünfunddreißig Jahre“ (S 633) danach einen ihrer Einkaufszettel. In beiden Datierungen reicht die erzählte Zeit also bis in die frühen 2000er Jahre, so dass der Erzählzeitpunkt in einer Zeit danach liegt. Anderswo ist vom „Bild des schwimmenden dicken Mao im Jang-tse“ (GS 227) die Rede; hier lautet die Datierung: „heute – vierzig Jahre später“. Der Zeitpunkt des Erzählens ist hier also auf 2006 datierbar. – Die erzählte Zeit reicht von der Nachkriegszeit bis in die Phase nach der Wende von 1989, mit einem Schwerpunkt auf den sechziger und siebziger Jahren. Vgl. zum Beispiel Engelhardt: Jan Faktor, S. 6, 9; für Schornstein Cornejo: Heimat im Wort, S. 274 f.; sowie Charel Braconnier: „Die Vergangenheit gärte und blubberte bei uns hinter jeder Tür und jedem Vorhang.“ Prager Geschichte(n) und Erinnerung in Jan Faktors „Georgs Sorgen um die Vergangenheit“. In: Zagreber germanistische Beiträge. Jahrbuch für Literatur- und Sprachwissenschaft 21, H. 1 (2012), S. 221–243, S. 223 (online unter: http:// hrcak.srce.hr/122491, zuletzt geprüft am 11.10.2017). Zur Alter Ego-Figur Georg in Faktors Gesamtwerk vgl. Inga Probst: „Mein Name ist Georg“ – Zur Subjektinszenierung im Werk Jan Faktors. In: Konturen der Subjektivität in den Literaturen Ostmitteleuropas im 20. und 21. Jahrhundert. Hg. Valéria Lengyel. Hildesheim: Olms 2013, S. 159–182.
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weiter vertieft werden, wenngleich im Zentrum der Überlegungen ein auch biografisch relevantes Thema steht – eine Zuschreibung, mit der ein weiteres Identitätsangebot verbunden ist: das Judentum der Protagonisten sowie die Konstruktion des Jüdischen.17 Zur autobiografischen Schicht gehört die Charakterisierung der Erzähler Schornstein und Georg als Angehörige der zweiten Generation nach der Shoah. In beiden Romanen kommen die Todeslager als historisch bedeutsame Ereignisse vor, deren Effekte bis in die Gegenwart hineinreichen. Beide Erzähler wissen um die Verstrickung ihrer Biografien in die Geschichte und in die Nachgeschichte der Lager. In Schornstein wird das Thema im deutschen Bezugsrahmen aufgerufen, in Georgs Sorgen überwiegend im tschechoslowakischen. In beiden Romanen kehrt es regelmäßig wieder, Faktor räumt ihm aber keine dominierende Stellung ein.18 Dieses dauernde Aufrufen, Aushandeln und wieder Beiseitelegen, also die Präsenz und gleichzeitige Latenz des Themas, soll im Folgenden an einigen Beispielen erörtert werden. Da die Romane – bei allen Unterschieden – in dieser Hinsicht Ähnlichkeiten aufweisen, beziehen sich die Überlegungen abwechselnd auf beide. Der titelgebende Held in Schornstein wurde 1960 geboren (vgl. S 175); er erzählt die Geschichte im Alter von 43 Jahren (vgl. S 15), also im Jahre 2003. Die Ereignisse tragen sich allerdings noch zu D-Mark-Zeiten zu (vgl. S 65), vor der Abschaffung der Währung am 31.12.2001. Die Geschichte spielt irgendwann „nach der Wende“ (S 83) in Berlin-Pankow. Der Erzähler kommt aus dem Westen; er befindet sich zum Zeitpunkt der erzählten Gegenwart seit zehn Monaten in einer lebensbedrohlichen Krise. Sein Judentum erwähnt er erst im vierten Kapitel mit den Worten: „Für mich spielte es früher keine besondere Rolle, daß ich Jude bin“ (S 30). Ohne an dieser Stelle auf die angedeutete Veränderung dieser Haltung einzugehen, bestimmt er sein Verständnis vom Judentum näher mit der Überlegung, die „Vietnamesen“, „die Alkoholkranken und Obdachlosen“ seien „die Juden von heute“. Die „Berufsjuden […], die ihre stinknormalen Schwierigkeiten nur auf das Schicksal des auserwählten Volkes schoben“, gehen ihm dagegen „auf den Wecker“ (S 30). Schon diese wenigen 17 Vgl. hierzu auch schon die Ausführungen bei Cornejo: Heimat im Wort, S. 274–282, 409, 412, 419; sowie Probst: „Rodina“ – „Familie“ – „Mischpoke“. 18 Das unterstreicht er für Georgs Sorgen auch in einem Paratext, wenn er schreibt: „es ist ein Entwicklungsroman, ein politischer Roman über die Niederungen des Gesellschaftssystems und über die zerfallende Stadt Prag – und nur unauffällig-subkutan auch ein Roman über die Folgen des Holocausts“ (Jan Faktor: Lange Suche in den endlosen Wäldern von Christianstadt oder Wie ein völlig im Abseits spielendes Kapitel eines Romans ins Zentrum der Recherchearbeit rücken kann. Bericht über die Recherchen zum Roman „Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag“. In: Über Grenzen. Hg. Catani und Marx, S. 49–70, S. 50).
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Sätze führen vor, wie sich die Konstruktion des Selbstbilds im Kontakt mit zirkulierenden Diskurselementen vollzieht. Die Wendung ‚die Juden von heute‘ ruft die Geschichte des Antisemitismus auf, die Wendung vom ‚Schicksal des auserwählten Volkes‘ stellt nicht nur einen Bezug zur Bibel her, sondern durch den Handlungsort Deutschland steht zugleich die rassistisch begründete Aussonderung der Juden aus der deutschen Gesellschaft sowie ihre Ermordung zur Zeit des Nationalsozialismus im Raum. Durch die sprachlichen Wendungen wird die Verfolgungsgeschichte vergegenwärtigt, doch der Protagonist misst ihr keine Gegenwart im Sinne einer aktuellen Bedrohung zu. Das Judesein in der Bundesrepublik scheint hier zu einer neuen, normalen Alltäglichkeit geworden zu sein. Faktor greift mit Schornsteins Äußerung, es habe für ihn keine besondere Rolle gespielt, dass er Jude sei, auf Formulierungen zurück, die aus der Literatur der Shoah bekannt sind. Jean Améry und Primo Levi charakterisieren in vielzitierten Passagen rückblickend die Zeit vor der Verfolgung in ähnlichen Wendungen. Levi studierte Chemie, als die Juden seit 1938 in Italien aus dem öffentlichen Leben gedrängt wurden. Erst jetzt – weil seine Umgebung es so wichtig nahm – musste er sich mit seinem Judentum auseinandersetzen: In Wahrheit hatte es mir bis zu jenen Monaten nicht viel bedeutet, daß ich Jude war: innerlich und auch im Umgang mit meinen christlichen Freunden hatte ich meine Herkunft immer als nahezu unerheblich, wenn auch merkwürdig angesehen, als eine komische kleine Anomalie, wie wenn jemand eine schiefe Nase oder Sommersprossen hat.19 Améry beschreibt diesen Zustand mit Bezug auf seine österreichische Kindheit folgendermaßen: „Ich war Jude, so wie einer meiner Mitschüler Sohn eines bankrotten Wirtes war“.20 Er datiert das Ende dieses Zustands auf die Nürnberger Rassengesetze von 1935, in denen er die „Todesdrohung, […] das Todesurteil“21 gegenüber den Juden schon deutlich empfunden habe. Nach diesem Zeitpunkt, also schon während der Segregation, die erst Jahre später in die Politik der physischen Auslöschung mündete, war für Améry der vorherige Zustand unwiederbringlich verloren. Das Merkmal des Jüdischen war seit diesem Zeitpunkt anders konnotiert. Bei Faktor scheint es aber genau diese Andersheit im Sinne der Sommersprossen und des bankrotten Wirtssohnes 19 20
Primo Levi: Das periodische System. München, Wien: Hanser 1987, S. 41. Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. In: Werke. Hg. Irene Heidelberger-Leonard und Gerhard Scheit. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, Bd. 2, S. 7–177, S. 150f. 21 Ebd., S. 154.
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nach Auschwitz wieder geben zu können. Jedenfalls rufen beide Erzähler das Jüdischsein durchaus auch in den Kategorien der ‚komischen kleinen Anomalie‘ auf. In Georgs Sorgen entwickelt sich Georg zunächst ganz im Sinne der tschechoslowakischen Mehrheitsgesellschaft; er übernimmt auch deren Antisemitismus. Nachdem die Jungen den Mitschüler Fassgolt als Juden stigmatisiert haben, lauern sie ihm auf und versuchen ihn zu verprügeln. Ihr Opfer entwischt jedoch. „Irgendwann erwähnte ich zu Hause das unerträgliche Wesen von Fassgolt und gab dazu noch einen rassistischen Kommentar ab“ (GS 54), bekennt Georg. Daraufhin belehrt ihn allerdings seine Familie, dass Fassgolt kein Jude sei. Darüber hinaus wird ihm eröffnet: „Hat dir das bis jetzt niemand gesagt, Georg? WIR sind doch JUDEN, wir alle hier, du natürlich auch“ (GS 54). Der latente Antisemitismus und das Verschweigen des Jüdischseins korrespondieren miteinander, beides zusammen gehört zur beschriebenen diskursiven Formation im tschechoslowakischen Sozialismus vor 1968.22 Bemerkenswert ist nun, dass nach dem so inszenierten Augenblick der Initiation in ein die Identität betreffendes Wissen das Jüdische nicht zur bestimmenden Unterscheidung Georgs von seiner Umgebung wird. In seiner Erzählung fährt er fort mit den Worten: „Das alles erschreckte mich maßlos. […] Fassgolt bekam ab sofort meinen Schutz, und wir freundeten uns sogar vorsichtig an. Wir sind trotzdem zwei sehr unterschiedliche Juden geblieben“ (GS 55). Hier und im Weiteren nimmt Georg das Jüdische nicht als eine aktuelle Ausgrenzungsund Verfolgungskategorie wahr. Er bleibt Teil einer Jugendbande in seinem Viertel und verlebt in vielerlei Hinsicht auch sonst eine durchschnittliche Prager Jugend. Die ebenso humorvolle wie abgründige Formulierung von den zwei sehr unterschiedlichen Juden weist allerdings auf Prozesse, die den Roman durchqueren und ihm Bedeutungsschichten jenseits des Ausgesprochenen mitgeben. Für Konstellationen wie diese nutzt die Forschung mitunter den Begriff des Minoritären. Die jüdische Position, sei es des Erzählers, sei es des Autors, würde dann zum Beispiel als ein kulturelles Minderheitenphänomen betrachtet werden, das von der hegemonialen Kultur schon immer marginalisiert worden sei. Schon in Bezug auf die Vordenker des Minoritären, Gilles Deleuze und Félix Guattari, kann aber mit Recht gefragt werden, ob sie die Gruppenzugehörigkeit mit der Entstehung der ‚kleinen Literatur‘ kausal verknüpfen.23 Zweifellos 22
In diesen Zusammenhang gehört auch die mehrfache Erwähnung des Slánský-Prozesses (vgl. GS 158, 273). 23 Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976.
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verwenden die Autoren auch einige Argumente, die in diese Richtung zielen. Gerade ihre literaturgeschichtlich ausgerichteten, auf Franz Kafkas Literatur bezogenen Thesen wurden in letzter Zeit allerdings deutlich kritisiert.24 Ein Verständnis von Deleuzes und Guattaris Kafkabuch, das an anderen Passagen ansetzt, löst dagegen die minoritäre Schreibweise von der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen weitgehend ab. So schreibt Christian Jäger, dass „der minoritäre Status der Schreibenden nicht notwendige, sondern begünstigende Voraussetzung“25 sei: Einerseits würden Angehörige von Minderheiten keineswegs notwendigerweise eine minoritäre Literatur verfassen, andererseits könnten auch in der Mehrheitskultur sozialisierte Autorinnen und Autoren minoritär schreiben. Entscheidend seien bei Deleuze und Guattari vielmehr die textuellen Merkmale, die eine Literatur als minoritäre charakterisierten: ihre deterritorialisierende Funktion, ihre Verkoppelung des Individuellen mit dem Politischen und ihre durchgehende Bedeutung für das Kollektiv.26 Mit Bezug auf das hier untersuchte Thema in Faktors Romanen sollten beide begrifflichen Zugänge zunächst auseinandergehalten werden, um das Changieren zwischen ihnen, das ein zentrales Merkmal seiner Schreibweise ist, nachweisen zu können. Denn die Frage, ob das Minoritäre soziologisch, im Sinne der Literatur einer Minderheit – und damit tendenziell kulturalisierend und essenzialisierend – gemeint ist oder deterritorialisierend – und damit alle Autorinnen und Autoren, die dieser Schreibweise folgen, charakterisiert –, betrifft, neben anderen Identitätsangeboten, entscheidend auch die Darstellung des Jüdischen. Die Lektürehypothese für die nun folgenden Überlegungen lautet, dass Faktors Romane diese Problemstellung umreißen, indem sie in der Zone der Uneindeutigkeit agieren. Darüber hinaus produzieren sie zugleich solche Phänomene der Uneindeutigkeit und der Ambivalenz durch ein textuelles Verfahren, das ein fortgesetztes Changieren inszeniert. Dieses Verfahren soll nun an einigen Passagen herausgearbeitet werden. An der Episode um Fassgolt zeichnet sich schon ab, dass sich aus dem Judentum von Faktors Helden nicht umstandslos deren minoritäre Positionierung ergibt. Wie Georg in der tschechischen, verortet sich auch Schornstein 24 Vgl. Marie-Odile Thirouin: Franz Kafka als Schutzpatron der minoritären Literaturen. Eine französische Erfindung aus den 1970er-Jahren. In: Franz Kafka. Wirkung und Wirkungsverhinderung. Hg. Steffen Höhne und Ludger Udolph. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2014, S. 333–354. Vgl. weiter Manfred Weinberg: Prager Kreise. In: Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Hg. ders., Peter Becher, Steffen Höhne und Jörg Krappmann. Stuttgart: Metzler 2017, S. 195–223, S. 204f. 25 Christian Jäger: Minoritäre Literatur. Das Konzept der kleinen Literatur am Beispiel pragerund sudetendeutscher Werke. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2005, S. 17. 26 Vgl. ebd., S. 16f.
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zunächst inmitten der Normalität der sozial stratifizierten bundesdeutschen Gesellschaft. Auch sein Judentum erscheint eher als eine ‚komische kleine Anomalie‘ denn als eine lebensbestimmende Zuschreibung. Lebensbedrohlich wird dagegen eine andere seiner Eigenschaften: Er leidet an einer seltenen Krankheit, und es ist die Auseinandersetzung mit dieser Krankheit, die auf vielfältige Art im thematischen Zentrum des Romans steht. Obwohl sie und das Judentum des Helden zwei voneinander unabhängige Sachverhalte bilden, parallelisiert Faktor die mit der Krankheit verknüpften Motive implizit mit jenen, die das Thema des Jüdischen betreffen.27 Erst gegen Ende des Romans wird die Überschneidung beider Bereiche auch zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Schornstein leidet an einer Blutkrankheit, die im Krankenhaus durch regelmäßige „Blutwäsche“ (S 48) behandelt wird. Vollständig aus der Normalität seines Alltags fällt er heraus, als die Krankenkasse die Kostenübernahme für diese Behandlung verweigert und er die nötigen Gelder aus eigener Kraft nicht aufbringen kann. Die Situation spitzt sich zu und wird lebensbedrohlich. Ohne dass Faktor Parallelen zum Nationalsozialismus explizit benennt, setzt er vielfältige implizite Bezüge und Anspielungen in Gang. Als Schornstein die Mitteilung von der Krankenkasse erhält, denkt er: Ich konnte das erst einmal nicht fassen […], etwas Grundsätzliches stimmte hier nicht. Wir lebten […] in einem Land, in dem einiges ziemlich streng geregelt war. Und ich wußte genauso wie jeder andere, daß man egal wie maroden Leuten […] ihre […] Maschinen […] nicht einfach abstellen durfte. (S 39) Das Gegenbild, das hier durch die Negation mit aufgerufen wird, sind die Verhältnisse in Diktaturen, in denen über das Leben der Einzelnen anders verfügt wird als im Rechtsstaat. Schornstein legt erfolglos Widerspruch ein. Er ruft eine Initiative der von seltenen Krankheiten Betroffenen ins Leben und versucht auf diese Weise politischen Druck zu erzeugen. Vor allem aber kämpft er gegen die Bürokratie der Kassen und der Verbände, gegen das „gesundheitsbürokratische Genehmigungs- und Verweigerungssystem“ (S 40). Da die Bewilligung oder Verweigerung der Kostenübernahme das Schicksal des Patienten maßgeblich beeinflusst, thematisiert der Roman die herausragende Rolle der Verwaltung für die Weichenstellung in Bezug auf Leben und Tod. Gegen Ende des Textes legt Faktor einer seiner Figuren den Fluchtpunkt 27
Vgl. dazu schon Cornejo: Heimat im Wort, S. 272–282.
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der historischen Argumentation in den Mund: „Hier werden doch ganz legal Leute umgebracht! […] Wegen der Euthanasie hätte es hier in Deutschland nie so weit kommen dürfen! […] Niemand ist […] direkt verantwortlich! Mir kommt das bekannt vor“ (S 261). Damit spätestens ist die Parallele zum Mord durch Verwaltung im Nationalsozialismus benannt. Dass Faktor Schornstein ausgerechnet eine Blutkrankheit mitgibt, verstärkt den Hinweis, denn in Verbindung mit dem Thema des Jüdischen konnotiert das Motiv der Blutkrankheit den rassistischen Antisemitismus des Nationalsozialismus, in dem die sogenannte Blutszugehörigkeit den Zugang zur arischen Volksgemeinschaft regelte und Nichtarier entweder – wie die Slawen – für das Helotentum oder – wie die Juden – für die Vernichtung vorgesehen waren. Aus der Sicht eines Betroffenen artikuliert der Roman die Angst, dass die Verwaltung einem ordentlich Versicherten wegen der Anomalität seines Blutes Hilfe verweigert und damit seinen Tod in Kauf nimmt. Entscheidend an der erzählerischen Konstruktion des Romans ist jedoch, dass Schornstein diese Parallele selbst nicht zieht. Er sieht sich als ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, keinesfalls als einen marginalisierten, minorisierten und tendenziell verfolgten Juden. Er lebe in dem, wie er sagt, für ihn „auf jeden Fall besten Land auf der Erde“ (S 15). Seine jüdische Herkunft bringe ihm sogar Vorteile. Schornstein, der als Werbetexter arbeitet, ist seiner Meinung nach in der Agentur so gut wie unkündbar – und zwar wegen Auschwitz, wie ich und mein Chef uns in unserer Stammkneipe mal geeinigt hatten. Jüdische Witze, das Judentum und meine Rassenzugehörigkeit waren zwischen uns ein Dauerthema. Mit ihm konnte ich sehr gut über alles mögliche witzeln […]. Trotzdem hatte mein Chef als Angehöriger einer höheren, aber schuldig gewordenen Rasse dauerhaft ein schlechtes Gewissen zu haben. (S 82) Die Geschichte erscheint als Verursacherin von Unterschieden, die für beide Vertreter der zweiten Generation charakteristische Positionierungen bereithält. Die einstige Verfolgungssituation wird zwar nicht erneuert, durch den Gebrauch des Konstrukts der Rasse aber diskursiv fortgeschrieben. Faktor lädt diesen anachronistischen, auf die nationalsozialistische Ideologie verweisenden Terminus vexierbildartig auf, so dass die Grenzen der Ironie verwischt werden. Gegenüber der einstigen Verfolgung erscheint die Beziehung der jüdischen zur nichtjüdischen Figur als eine deutlich veränderte, doch wie stark die Kontinuitäten sind, bleibt im Ungewissen und Unauslotbaren.
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Sowohl in Schornstein als auch in Georgs Sorgen wird also einerseits das Jüdischsein der Protagonisten und andererseits das Nachleben des Nationalsozialismus in der Gesellschaft sowie in einzelnen Biografien thematisiert. Dennoch setzt Faktor das Thema des Jüdischen in beiden Fällen nicht als den offensichtlichen Fluchtpunkt der Erzählungen ein. Es erhält vielmehr seinen Ort neben anderen Großzuschreibungen wie Männlichkeit und Krankheit. Auch auf diesen Feldern weist der Autor seinen Helden kleine und größere ‚Anomalitäten‘ zu. Ein unerschöpfliches Reservoir bietet in Georgs Sorgen der gesamte Bereich der Sexualität, in Schornstein das Verhältnis zu allen mit Ekel konnotierten Vollzügen des menschlichen Körpers. Normalität erscheint als etwas Vexierbildartiges; zwar wird sie einerseits dauernd als Bezugspunkt angeführt, andererseits kann sie dann aber nicht genau bestimmt werden. In steter Reibung mit den Normalisierungs- stehen die Individualisierungstendenzen, die die Helden ebenfalls verkörpern. Diese Dynamik durchläuft auch die ästhetische Gestalt der Romane. Auffällig in Schornstein ist zum Beispiel die Fixierung des Helden an diverse Bereiche des kulturell Verworfenen wie körperliche Ausscheidungen. Faktor beschreibt das Ausgeschlossene detailliert und bedient dadurch eine Ästhetik des Nichtschönen, Abstoßenden und Ekelhaften, in der Kot, Erbrochenes, Verwesungsgerüche und Ströme von Blut vorkommen. Das Ringen zwischen Normalisierung und Individualisierung betrifft die ästhetische Gestalt der Romane darüber hinaus in einem ihrer hauptsächlichen Merkmale: in der Komik. Sowohl Faktors Erzähler als auch der Autor selbst praktizieren eine von unterschiedlichen Formen der Komik durchsetzte Schreib- und Erzählweise. Die Komik erstreckt sich in den Romanen auch auf das Thema des Jüdischen. In Georgs Sorgen setzt Faktor die Komik im Zusammenhang mit den Verfolgungserfahrungen der Mutter ein. Neben allem, was der Roman sonst noch ist, geht es in ihm auch um das Verhältnis eines Sohnes zu seiner Mutter. Als Jüdin war sie in mehreren Lagern interniert, zuletzt in Christianstadt. Georg drängt sie, mit ihm dort noch einmal hinzufahren (vgl. GS 557). Die Reise, die die beiden mit dem Auto durch die DDR nach Polen führt, zeigt dann, in welchem Maße die Lagererfahrung noch immer im Leben der Mutter gegenwärtig ist. Den Schrecken, der sie an der Grenze zur DDR erfasst, konterkariert Faktor mit einer Form von Komik, die zwischen Sarkasmus und Slapstick changiert. Georg schreibt: Die DDR-Uniformen […] sahen den früheren Uniformen bis auf die Farbe und die fehlenden Hakenkreuze erstaunlich ähnlich. Aber Tradition ist Tradition […]. Als die drei Nazi-Gestalten von zwei Seiten auf uns zukamen, erwachte das jüdische Mädchen neben mir aus schwerer
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Bewußtlosigkeit. Es riß die Augen auf, dann die Tür – und meine Mutter begann zu rennen, wie ich sie noch nie hatte rennen sehen. Vor dreiunddreißig Jahren war sie in der gleichen Gegend vom Todesmarsch geflüchtet […]. Die […] Männer rannten ebenfalls los, hatten gegen meine flinke Mutter allerdings keine Chance. Ihre Hosen und Stiefel sahen zwar zünftig aus, vor allem die engen Schaftstiefel waren aber nicht schnellauftauglich. Außerdem störte den einen seine Maschinenpistole, den anderen seine nicht korrekt verschlossene Stempeltasche, aus der bei jedem Sprung mehrere gelbe Karteikarten herausfielen – und der dritte Mann war einfach zu dick. Ich erstarrte und überlegte mir ein mannhaftes deutsches Wort, um meiner Mutter einen drohenden Schuß in den Rücken zu ersparen. (GS 562 f.) Die Grenzbeamten der DDR erscheinen einerseits als Dilettanten, als lachhafte Gestalten, andererseits besteht die reale Gefahr, dass die Mutter von ihnen erschossen werden könnte. Auf verwickelte Weise legt die Situation den Gedanken an historische Kontinuitäten nahe, denn auch im deutschen Sozialismus wird offensichtlich auf Flüchtende geschossen. Dass aber in der DDR die Juden nicht verfolgt werden, zeigt der Fortgang der Handlung nach der Gefangennahme der Mutter: „Das Verhör war kurz und schmerzlos, meine Mutter brauchte im Grunde nur ihre Auschwitznummer […] zu zeigen. Wir bekamen Kaffee, und man bot uns wunderbares Schwarzbrot an“ (GS 564). Was der Roman hier zeigt, ebenso übrigens wie etwas später in Christianstadt, wo die Mutter unter den Erinnerungen zusammenbricht und dabei in die jiddische Sprache wechselt, ist der unabweisbare Zwang, den die längst vergangenen Verfolgungserfahrungen auf das gegenwärtige Leben der Mutter ausüben.28 Im größeren oder kleineren Umfang bestimmt die Verfolgung weiterhin ihre Existenz. Die damit aufgerufene Frage des Determinismus, also des Festgelegtseins auf eine Lebensform, und die damit einhergehende Abwesenheit von Freiheit in der Gestaltung des eigenen Lebens, betrifft den gesamten Roman. So lässt sich auch die Wohnsituation in Prag, wo die überlebenden
28 Zu Christianstadt vgl. Jan Faktor: Lange Suche in den endlosen Wäldern von Christianstadt; vgl. ders.: Tarnname Ulme. Das vergessene Konzentrationslager Christianstadt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.8.2010, sowie Friedhelm Marx: Das vergessene Konzentrationslager Christianstadt in Ruth Klügers Autobiographie „weiter leben. Eine Jugend“ (1992) und Jan Faktors Roman „Georgs Sorgen um die Vergangenheit“ (2010). In: Erinnern und Erzählen. Theologische, geistes-, human- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hg. Konstantin Lindner, Andrea Kabus, Ralph Bergold und Harald Schwillus. Berlin: Lit 2013, S. 153–162.
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Familienmitglieder sich in einer skurrilen Wohngemeinschaft eingerichtet haben, als ein Resultat und ein später Effekt der Verfolgung begreifen. Solche Zusammenhänge erstrecken sich auch auf einen zentralen, titelgebenden Aspekt. Georg hegt als Jugendlicher und junger Erwachsener einen unerschütterlichen Glauben daran, dass ihn „eine helle Zukunft“ (GS 10) erwarte. Im Zeichen der antizipierten Annäherungen an zukünftig kennenzulernende Frauen und den Geschlechtsverkehr mit ihnen erscheint ihm die Zukunft als eine glanzvolle. Sorgen hingegen macht er sich „um die Vergangenheit“. Diese Verkehrung, in der dem Zurückliegenden jene Aufmerksamkeit zuteil wird, die normalerweise dem Bevorstehenden zukommt, gewinnt in dem Moment an Überzeugungskraft, in dem das Determiniertsein durch die Familiengeschichte oder durch das eigene Vorleben unterstellt wird. Die traumatischen re-enactments der Mutter deuten auf den Zwang, den die Vergangenheit auf die Zukunft ausüben kann, indem jene den Entscheidungsspielraum für die künftige Lebensführung einschränkt oder sogar tilgt. Der determinierende Zwang der Vergangenheit wäre also zunächst zu brechen, um ihn überwinden zu können. Der damit gesetzte narrative Rahmen einer Geschichte der Heilung wird in beiden Romanen zwar aufgerufen, das psychotherapeutisch unterfütterte Modell der Heilung durch Bewusstwerdung bleibt aber nicht als Lösung stehen. In Schornstein mobilisiert Faktor die für Überlebende der Shoah zuständige Theorie und Therapie, die Traumaforschung und -therapie, ganz explizit.29 Neben den Versehrungen in der ersten Generation bezieht sie sich auch auf die kulturelle Weitergabe von Traumatisierungen in der zweiten Generation. Der Körper- und Gestalttherapeut Dr. Brakwart, an den Schornstein im Verlaufe seiner Krankengeschichte gerät, stellt ohne lange Sitzungen sofort die Diagnose, als er von dem familiären Hintergrund seines Patienten erfährt: „Das ist es doch, rief er, zweite Generation, transgenerationelle Traumatisierung, natürlich!“ (S 190) Er erläutert: Alle diese schlimmen Erlebnisse werden unterschwellig an die Kinder weitergereicht – das ist unvermeidbar. […] Es ist völlig irrelevant, wie man diese Dinge intellektuell verarbeitet. Diese alten Katastrophen der Eltern wirken sowieso um so stärker, je weniger man sie emotional an sich heranläßt […]. (S 191)
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Auch in Georgs Sorgen gibt es, worauf Probst aufmerksam macht, Hinweise auf eine therapeutische Situation (vgl. Probst: „Rodina“ – „Familie“ – „Mischpoke“, S. 179).
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Nach einigen Therapiestunden räumt Schornstein ein: Bei einigen „Erklärungen meiner Vorvergangenheit, also der Vergangenheit meiner Familie, lag Dr. Brakwart vielleicht richtig“ (S 203). Zugleich weigert er sich jedoch zunehmend, alle seine Regungen auf dessen „Interpretationsschlachtbank“ (ebd.) zu legen. So erzählt er dem Therapeuten eine „Schlüsselgeschichte“ (S 206) absichtlich nicht. Ihm widerstrebt die Eindeutigkeit von Brakwarts professionellen Erklärungen.30 Nicht zufällig entzündet sich daran auch sein Spott. Brakwarts Verhalten beim Inthronisieren der transgenerationellen Traumatisierung als der gültigen Erklärung beschreibt er mit den Worten: „Er war wie elektrisiert. Nachdem er die wichtigsten Fakten zusammengetragen hatte, erstrahlte er wie ein Seelenreflektor“ (S 190). Schornstein kann Brakwarts Euphorie nicht teilen, denn die dergestalt auf einen einfachen und eindeutigen Begriff gebrachte Vergangenheit verändert seine eigene Gegenwart keineswegs. Wenn es die unbewusste Weitergabe erlittener Traumata an die nächste Generation gibt, was auch Schornstein für plausibel hält, so schafft sie kein einfaches Aussprechen dieses Sachverhalts aus der Welt. In keinem der beiden Romane eröffnet das Wissen um das Determiniertsein durch die Vergangenheit den Protagonisten Lösungen für ihre Lebenswirklichkeit. Beide entwickeln jedoch im Erzählen einen besonderen Umgang mit den transgenerationellen Zwängen. Sie arbeiten das komplexe und vielgestaltige Geflecht, das Changieren zwischen Determiniertsein und Freiheit, zwischen Normalisierung31 und Individualisierung durch. Aber nicht so, dass dabei ein 30 Cornejo interpretiert in diesem Zusammenhang: Schornsteins „panische Angst erweist sich als Projektion der unbewussten Ängste und Folge der verdrängten jüdischen Identität sowie der unerträglichen Last des tragischen Schicksals eines ganzen Volkes“ (Heimat im Wort, S. 279) und belegt dies mit einem Zitat von Dr. Brakwart. Durch dessen Intervention werde „die sich entwickelnde Phobie und krankhafte Obsession des Pro tagonisten als die Projektion der tief verinnerlichten Angst gedeutet, als Jude von einem staatlichen Machtapparat systematisch vernichtet zu werden“ (ebd., S. 280f.). „Erst als […] Schornsteins verdrängte jüdische Wurzeln freigelegt werden“, so Cornejo, „kann der innere ‚Heilungsprozess‘ der Hauptfigur eingeleitet werden“ (ebd., S. 280). Indem Cornejo eine „(Sich-Selbst)Entfremdung“ (ebd., S. 282) Schornsteins diagnostiziert und dessen Heilungsprozess hervorhebt, tendiert sie allerdings dazu, die nicht hintergehbaren Ambivalenzen, die mit der Situation der Figur gegeben sind, therapeutisierend und essenzialisierend aufzulösen. Zur Heilung Schornsteins gehört in dieser Sichtweise, dass er seine jüdische Identität annehmen solle. Meines Erachtens geht es in Faktors Romanen aber gerade darum, solche vorgegebenen, verfestigten, angeblich ‚verwurzelten‘ Identitäten – darunter auch die jüdische – in ihren Ambivalenzen aufzurufen, zu verflüssigen, zu individualisieren, nicht aber als Identitäten zu restituieren. 31 Dieser Begriff umfasst in Georgs Sorgen immer auch den politischen Aspekt, denn die „Normalisierungszeit“ (GS 407) bezeichnet die Phase der Repression nach der Niederschlagung des Prager Frühlings.
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stabiler Zustand, ein Resultat, entstünde. Das betrifft auch die Kategorie des Jüdischen, die durch die Verfolgungsgeschichte eine eigene Dynamik erhält. Beide Erzähler betonen ihr Menschsein, während sie ihr Judesein in den Hintergrund rücken. Doch immer wieder treibt der Text, vor allem in Bezug auf das jüdische Leben in Deutschland, auch den Gedanken hervor, dass es nach dem, was der Zivilisationsbruch durch die Shoah genannt wurde, eines bestimmten Grades der Geschichtsvergessenheit, der Ignoranz oder sogar der Verleugnung der historischen Erfahrung bedarf, um die Möglichkeit einer Normalität des Differenten, eines Miteinanders des Verschiedenen zu konzipieren. Schließlich wurde gerade dieses Modell des Zusammenlebens durch die Shoah grausam außer Kraft gesetzt. Besonders Schornstein ruft also Fragen wie die folgenden auf: Wie kann vor dem Erfahrungshintergrund der Shoah ein Zusammenleben in Differenz konzipiert und gelebt werden? Sollen sich Juden heute dazu überreden, dass es nicht wieder passieren wird? Sollen sie zur Normalität zurückkehren? Zu jener Normalität des Menschseins im Anderssein, die Levi und Améry als uneinholbar vergangen charakterisiert hatten? Alle möglichen Positionierungen scheinen von unkittbaren Brüchen durchzogen zu sein, und Faktors Komik arbeitet Situationen heraus, an denen das offensichtlich wird. Sie referiert unablässig auf wie selbstverständlich vorausgesetzte Normalitäten und akzentuiert zugleich das Bodenlose, das jede tägliche Verrichtung herbeiruft. Zugleich misstraut sie jenen Erklärungen, die die Abgründe, die sich auftun, wissenschaftlich-rational zuschütten oder interpretierend auflösen. Der Humor stößt immer wieder auf die Frage, wie sicher der Grund ist, auf dem die Helden wandeln. Daran aber, an der Stellung, die dem Vergangenen gegenüber etabliert werden kann, entscheidet sich auch die Zukunft. Im Erzählen der eigenen Geschichte wird diese mit dem Blick in die Vergangenheit auf die Zukunft hin entworfen. Mit dem Narrativ, das als gültig in Anspruch genommen wird, entscheidet sich Grundlegendes: Bin ich der transgenerationell Traumatisierte oder der anderswie Festgeschriebene? Oder gibt es Spielräume jenseits der Großzuschreibungen, in denen andere Varianten des Existierens praktiziert werden können? Wenn die Deutungsfrage über die Teilhabe an einer als passabel imaginierten Zukunft mitentscheidet, dann lastet auf dem Erzählen und der einhergehenden Konstruktion der Wirklichkeit ein beträchtlicher Druck. Er wirkt in den Helden als Integrationsdruck; er schlägt sich als Normalisierungserwartung nieder. In den Ich-Erzählern setzt sich in diesem Zusammenhang eine autosuggestive Tendenz im Erzählen der eigenen Geschichte durch; der therapeutische Impuls macht sich geltend: Um sich die Zukunft als eine sorgenfreie vorstellen zu können, müssen sich die Helden im Schema der Zugehörigen
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entwerfen. Wie gezeigt, produziert Faktors Text dann aber kein Narrativ, an dem sich solche eindimensionalen Identitäten ausbilden könnten. Alle Narrative der Heilung, der Gesundung, der Identitätsfindung oder des Erwachsenwerdens verfehlten das konstitutiv Unabschließbare, Unlösbare in der Situation der Protagonisten. Der Gedanke an ein stimmiges Leben unter den gegebenen historischen Bedingungen wird immer wieder irritiert. Zuletzt verbleiben sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft im Uneindeutigen. Und ein ums andere Mal ist es der Humor, der die Zugehörigkeiten erschüttert. Er vor allem treibt jenes dauernde Changieren hervor, das als eine deterritorialisierende Bewegung im Sinne der textuellen Bestimmung des Minoritären aufgefasst werden kann. In Bezug auf die Konstruktion des Jüdischen wirken die damit einhergehenden Verunsicherungen jedoch keineswegs befreiend. Sie rufen das Abgründige einer Position auf, in der die Last der Geschichte im einzelnen Individuum wirkt, ohne dass ein Königsweg der individuellen Bewältigung gegeben werden könnte – jedenfalls keiner, der nicht ironisch gebrochen wäre.
kapitel 11
„Ich erzähle alles so, wie der Zopf von der Oma unterm Kopftuch aussieht.“ Exzentrisches Erzählen bei Martin Kordićs Wie ich mir das Glück vorstelle Julian Osthues Der Exzentriker kommt nicht von außen, weder dem Raum noch der Zeit nach, er kommt aus der Mitte und verläßt diese. Der Exzentriker markiert eine Binnendifferenz des Subjekts und der Gesellschaft, kontrastiert beide nicht von außen; gerade weil er sich an der Peripherie bewegt, bezieht sich der Exzentriker stets auf das Zentrum. […] Der Exzentriker ist kein Exot und kein Barbar, kein Utopist und kein Nostalgiker.1
∵ 1
Vorüberlegungen
Wenn gemeinhin das Wort ‚exzentrisch‘ fällt, ist eine Grenze gezogen, die das Außergewöhnliche, Sonderbare, Unübliche vom Normalen trennt. Der Duden kennt eine Vielzahl von Synonymen, die das Attribut umschreiben: auffällig, aus dem Rahmen fallend, ausgefallen, extravagant, extrem, spleenig, überspannt, übersteigert, übertrieben, ungewöhnlich, verstiegen, vom Üblichen abweichend; (bildungssprachlich) exaltiert, unkonventionell; (umgangssprachlich) flippig, überkandidelt, verrückt; (umgangssprachlich) verdreht.2
1 Konrad Paul Liessmann: Kanon und Exzentrik. Zur Ästhetik der Abweichung. In: Kursbuch 118 (1994), S. 13–26, S. 15. 2 https://www.duden.de/rechtschreibung/exzentrisch, zuletzt geprüft am 29.4.2019.
© Koninklijke Brill NV, Leiden, 2021 | doi:10.1163/9789004466234_013
Exzentrisches erzählen bei Martin Kordić
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Kulturgeschichtlich ist mit dem Attribut ein schillernder Sozialcharakter der Moderne aufgerufen: Der Exzentriker.3 Was den Exzentriker auszeichnet, ist seine charakterliche Disposition, die ihn vom sozialen Mittelmaß (‚Durchschnittsbürger‘) ab- bzw. – von der Mitte her gedacht – ausgrenzt. Seine Andersheit ist es, die ihn ex centro an die Ränder einer räumlich-metaphorisch abstrahierten Vorstellung von Gesellschaft, dem Zentrum, versetzt. Dabei hat der Begriff ‚exzentrisch‘ eine lange Geschichte, die weit bis in die Antike zurückreicht. Von mittellateinisch eccentrus herkommend bedeutet ‚exzentrisch‘ wörtlich so viel wie „aus dem Mittelpunkt gerückt“.4 Ursprünglich besaß das Wort daher keinen anthropologischen Bezug. In der antiken Geometrie und Astronomie diente es der Bestimmung der Bahnen von Planeten, und zwar solchen, bei denen – im Gegensatz zu ‚konzentrischen‘ Bahnen – die Erde nicht das Zentrum bildete.5 Erst deutlich später avancierte das astronomische Vorbild zum anthropologischen Modell für eine Lebensbahn, die aus der Mitte ge- bzw. ‚verrückt‘6 erscheint. Von historischer Konsequenz war insbesondere die Entstehung der Auffassung von Normalität:7 So fand im 19.
3 Vgl. so auch Aleida Assmann, Monika Gomille und Gabriele Rippl: Einleitung. In: Sammler – Bibliophile – Exzentriker. Hg. dies. Tübingen: Narr 1998, S. 7–19, S. 8; Liessmann: Kanon und Exzentrik, S. 13. 4 exzentrisch. In: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Hg. Peter Seebold. 24. Aufl. Berlin, New York: de Gruyter 2002, S. 268. 5 exzentrisch. In: Brockhaus Enzyklopädie. 21. Aufl. Leipzig, Mannheim: Brockhaus 2006, Bd. 8, S. 671; Exzentrizität. In: Brockhaus Astronomie. Planeten, Sterne, Galaxien. Mannheim, Leipzig: Brockhaus 2006, S. 118. 6 Bereits früh, etwa ab dem 13. Jahrhundert, so schreibt Fernand Hörner, kam es zur normativen Übertragung des Begriffs „für den Geisteszustand einer orientierungslosen Person“ – und damit zur charakteristischen Ambivalenz von Exzentrik, welche „die Ver-rücktheit im doppelten Sinn als Wahn und örtliche Abgegrenztheit“ auffasste. Diese Vorstellung, die den Exzentriker außerhalb der Mitte verortet, führte zu einer Pathologisierung des Exzentrischen, wobei das Krankhafte bis ins 19. Jahrhundert hinein stets auf ambivalente Weise mit dem Fantasievollen, Spirituellen, Künstlerischen diskursiv verknüpft blieb (Fernand Hörner: Exzentrik, Fantastik, Verrücktheit: Medizinische und literarische Sichtweisen des 19. Jahrhunderts. In: Grenzen der Zentralität. Zur Dynamik von Zentren und Peripherien. Hg. Myriam Geiser, Dominique Rademacher und Lucie Taïeb. Berlin: Logos 2011, S. 67–88, S. 69); vgl. zur Pathologisierung des Exzentrischen auch ders.: Zwischen Pathologie und Fantasie. Der Exzentriker als Ver-rückter in literarischen und medizinischen Diskursen. In: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie 59 (2010), S. 42–47, S. 43. 7 Vgl. dazu Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 2. Aufl. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 213; Ders.: Normal/Normalität/Normalismus. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. Karlheinz Barck u.a. Stuttgart: Metzler 2002, Bd. 2, S. 338–362, S. 338.
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Jahrhundert auch das französische excentrique8 mehr und mehr in der heute noch geläufigen Bedeutung als Eigenschaftswort Verwendung, um eine Le bensweise zu beschreiben, die auf „überspannte, übertriebene, Weise vom Üblichen“9 abweicht. Die Vorstellung von Exzentrik konstituiert sich maßgeblich durch ein Spannungsverhältnis, das räumlich und binär strukturiert ist: Ihr wesentlich ist eine Position der Mitte, des Kerns oder Zentrums (lat. centrum: Kreis-/Mittelpunkt), welche dialektisch an die Existenz des Randes, die Peripherie (gr. periphéreia: Kreislinie, am Rande liegend), gebunden ist: „Ein Zentrum existiert nicht ohne Peripherie“10 – und andersherum. Die Beziehung von Zentrum und Peripherie ist allgemein durch drei Eigenschaften charakterisiert: Komplementarität, Relationalität, Relativität. Zentrum und Peripherie sind relationale Begriffe. Der eine bleibt unverständlich ohne den anderen. Jeder ist vom Pole des anderen her definiert und verändert seine Bedeutung mit dessen Veränderung oder Verlagerung. Damit sind die Begriffe Zentrum und Peripherie aber nicht nur relational, sondern auch relativ. Das wird besonders deutlich, wenn wir von der Optik und der Struktur des Wahrnehmungsaufbaus ausgehen. Die äußerste Peripherie, die den Blick in die Ferne säumt, ist der Horizont, der eine verschwommene und bewegliche Grenze darstellt. Mit der Standpunktabhängigkeit und der Beweglichkeit des Betrachters verschiebt sich die Grenze unentwegt in eine Ferne, deren Unerreichbarkeit und Undeutlichkeit allein konstant bleiben.11
8 Diesen Verdacht stützt auch die graphische Darstellung der historischen Wortverlaufskurve von ‚exzentrisch‘ im frühen 19. Jahrhundert, die Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart (https://www.dwds.de/wb/exzentrisch, zuletzt geprüft am 29.4.2019) und das Deutsche Textarchiv (http://www.deutschestextar chiv.de/search/plot/?query=%27exzentrisch%27, zuletzt geprüft am 29.4.2019) ausweisen. Vgl. dazu auch die begriffsgeschichtlichen Ausführungen und Verweise auf weitere Forschung bei Hörner: Exzentrik, Fantastik, Verrücktheit, S. 67, 69. 9 exzentrisch. In: Brockhaus Enzyklopädie, S. 671. 10 Myriam Geiser: Einführung. Einige Reflexionen zum Begriff „Zentrum – Peripherie“. In: Grenzen der Zentralität. Hg. dies., Rademacher und Taïeb, S. 17–22, S. 17. 11 Aleida Assmann: Vom Zentrum zur Peripherie und wieder zurück. Reisen ins Herz der Finsternis. In: Peripherie in der Mitte Europas. Hg. Matthias Theodor Vogt u.a. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2009, S. 66–71, S. 61; zur Komplementarität vgl. Hörner: Exzentrik, Fantastik, Verrücktheit, S. 67.
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Die Begriffe Peripherie/Zentrum können, wenn es um die Beschreibung kultureller Zusammenhänge geht, semantisch ganz unterschiedlich besetzt sein. Grundlegend für die Beziehung ist „eine mehr oder weniger stark ausgeprägte asymmetrische, hierarchische Relationierung“.12 Die Rede vom Exzentriker verweist zum einen auf eine räumliche Vorstellung. Zum anderen ist mit ihr eine normative Wertung aufgerufen, indem etwa als „peripher, marginal oder abseitig wahrgenommene Phänomene […] in Bezug auf einen zentralen Orientierungspunkt positioniert und bewertet“13 werden. Das Paradigma ‚Zentrum/Peripherie‘ hat innerhalb der vergangenen Jahrzehnte über eine Breite an Forschungsdisziplinen (u.a. Urbanistik, Soziologie, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften) hinweg eine beachtliche Resonanz erfahren.14 Und gerade in den vergangenen Jahren ist eine erstaunliche Konjunktur an Monographien, Sammelbänden und Einzelbeiträgen zu beobachten, die es sowohl für kritische Raum- und Machtanalysen als auch zur Beschreibung ästhetischer Phänomene heranziehen.15 Gleichwohl zeichnet sich ein deutliches Ungleichgewicht zugunsten eines theoretischen Zugriffs ab. Ein Forschungsdefizit herrscht etwa bei der Frage, inwiefern und inwieweit das Modell ‚Peripherie/Zentrum‘ sowie der Begriff ‚exzentrisch‘ über ihre Theoretisierung hinaus eine für Textanalysen und ästhetische Fragestellungen produktive Kategorie darstellen können. 12
Hanne Birk: Zentrum und Peripherie. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hg. Ansgar Nünning. 5. Aufl. Stuttgart: Metzler 2013, S. 822. 13 Ebd. 14 Wenngleich ein eingehender Forschungsüberblick noch aussteht, so lassen sich meiner Beobachtung nach bereits vereinzelt Überblicksarbeiten zur Begriffs- und Forschungsgeschichte feststellen: vgl. Geiser: Einführung, S. 17f.; Theodor Matthias Vogt: Ubi Leones/ Wo nichts als Löwen hausen. Zu Begriff und Problem der Peripherizität. In: Peripherie in der Mitte Europas. Hg. ders. u.a., S. 11–49. 15 Nachfolgend soll auf eine systematische Differenzierung, die aufgrund der Disparität der Sammelbände schwerfällt, verzichtet werden. In alphabetischer Reihenfolge wären folgende Arbeiten zu nennen: Assmann, Gomille und Rippl: Einleitung; Nana Badenberg, Florian Nelle und Ellen Spielmann (Hg.): Exzentrische Räume. Festschrift für Carlos Rincón. Stuttgart: Akademischer Verlag 2000; Bernd Blaschke u.a. (Hg.): Umwege. Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen. Bielefeld: Aisthesis 2008; Csaba Földes und Detlef Haberland (Hg.): Nahe Ferne – ferne Nähe. Zentrum und Peripherie in deutschsprachiger Literatur, Kunst und Philosophie. Tübingen: Narr Francke Attempto 2017; Geiser, Rademacher und Taïeb (Hg.): Grenzen der Zentralität; Christian Moser u.a. (Hg.): Zwischen Zentrum und Peripherie. Die Metropole als kultureller und ästhetischer Erfahrungsraum. Bielefeld: Aisthesis 2005; Vogt u.a. (Hg.): Peripherie in der Mitte Europas; Norbert Otto Eke: „In jeder Sprache sitzen andere Augen“. Herta Müllers ex-zentrisches Schreiben. In: Unterwegs. Zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert. Hg. Hans Richard Brittnacher und Magnus Klaue. Köln, Weimar und Wien: Böhlau 2008, S. 247–259.
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Diese Situation nimmt der folgende Beitrag zum Ausgangspunkt, um nach der Leistung der Kategorie ‚exzentrisch‘ zur Beschreibung literarischer Texte zu fragen. Dabei rückt eine Literatur in den Fokus, die nicht zuletzt aufgrund ihrer literatursoziologischen Verortung unter dem prekären Label ‚osteuropäisch‘16 qua Distinktion bereits eine hohe Affinität zu räumlichen Frage- und Problemstellungen besitzt. Doch nicht nur thematisch verweist diese Literatur auf die Vektoren einer räumlich-imaginären Geographie – und damit auf eine diskursive Konstruktion, die ‚Osteuropa‘ als peripheren Teiloder Gegenraum einer mitteleuropäisch zentrierten Kartierung entwirft.17 Zugleich sind es die Texte selbst, welche die ihnen eingeschriebenen imaginären Geographien über ihre Raumsemantik thematisieren, d.h. einerseits affirmieren, andererseits aber auch kritisch reflektieren und dekonstruieren können. Denn eine zentrale topographische/topologische Achse bildet häufig die zwischen Ost und West, zwischen einem ‚Kerneuropa‘ und seinen Peripherien. Auf ihr werden für die Texte wichtige Themen wie z.B. Migration, Identität (Heimat/Herkunft/Tradition), Moderne/Globalität sowie daraus resultierende interkulturelle Fragen der Selbst- und Fremdwahrnehmung verhandelt. Nachfolgend soll der analytische Blick jedoch keineswegs auf die Raumsemantik der Texte beschränkt bleiben. Vielmehr wird der Versuch unternommen, unterschiedliche Spielarten des Exzentrischen zu beschreiben, insbesondere die Rolle sogenannter ‚exzentrischer Figuren‘: Gemeint sind Figuren, die auf unterschiedliche Weisen, wie z.B. aufgrund ihrer Konfiguration sowie ihrer Bewegungen ex centro, normative Grenzziehungen überschreiten können und Blickverschiebungen, die das Vertraute als unvertraut/fremd erscheinen lassen, ermöglichen. Das Exzentrische zeigt sich nicht selten über die schelmenhafte Zeichnung der Figuren (Sonderlinge, Underdogs, Außenseiter etc.), die eine Perspektive ‚von unten‘ zulässt und Machtasymmetrien, u.a. mit Mitteln der Komik und Satire, desavouieren. Eine mögliche Funktion eines solch ‚exzentrischen Blickes‘ könnte darin liegen, zur Irritation und ‚DeZentrierung‘ – bis hin zur Dekonstruktion – z.B. territorialer Konstrukte, wie etwa jener von West-, Ost-, Mittel-, Südosteuropa oder Kerneuropa, beizutragen. Hieraus ergeben sich eine Reihe von übergeordneten Fragestellungen, 16 17
Zur Problematisierung dieser Kategorie vgl. die Ausführungen innerhalb der Einleitung des vorliegenden Sammelbandes sowie die Beiträge von Hansjörg Bay und Manfred Weinberg. Vgl. dazu auch Christa Ebert: Literatur in Osteuropa. Russland und Polen. Berlin: Akademie Verlag 2010, S. 14. In ähnlicher Weise spricht Stefan Troebst in seinem Beitrag „‚Osten sind immer die Anderen!‘“ von ‚Mitteleuropa‘ als einem „exklusionistische[n] Konzept“ (vgl. http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/132980/osten-sind -immer-die-anderen, zuletzt geprüft am 29.4.2019).
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die den Fokus des Gegenstandsfeldes rahmen: Partizipieren die Texte an einer ‚Geopoetik‘,18 indem sie an der tradierten Kartierung Europas mitschreiben bzw. diese einer strategischen Neu-, Um- oder Überschreibung unterziehen?19 Inwiefern ist damit einem Typ des (West-)Eurozentrismus, der den Osten projektiv als diskursiven Gegenraum entwirft, eine Absage erteilt? Und wäre demnach, wie Jurij M. Lotman in seinem kultursemiotischen Modell der ‚Semiosphäre‘20 dargelegt hat, Weltliteratur nicht als Literatur der Peripherie zu begreifen, da sich in ihr gegenüber nationalphilologischen Kategorien die Vorstellung „dynamischer Kulturentwicklung“21 vollzieht? Und schließlich wäre ferner die Literatur selbst danach zu befragen, wie sich das Exzentrische als ästhetische Eigenschaft der Literatur zeigt, d.h. welche Verfahrensweisen eine ‚exzentrische Poetik‘ charakterisieren.22 18
Zum Konzept der ‚Geopoetik‘ vgl. den von Magdalena Marszałek und Sylvia Sasse herausgegebenen Sammelband Geopoetiken, darin insbesondere die theoretischen Grundlagen und Begriffsdiskussionen (Magdalena Marszałek und Sylvia Sasse: Geopoetiken. In: Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen. Hg. dies. Berlin: Kadmos 2010, S. 7–18; Susi K. Frank: Geokulturologie – Geopoetik. Definitionsund Abgrenzungsvorschläge. In: Ebd., S. 19–42). 19 Mit Bezug auf postkoloniale Ansätze spricht etwa auch Doris Bachmann-Medick von einem Potential der Literatur, das ein „kritisches Re-Mapping“ leiste. Literarische Texte vermögen es, zu einer „Umkartierung zwischen Zentrum und Peripherie“ beizutragen und die „polarisierte Hierarchie der Räume mit ihrer ungleichen Machtverteilung“ infrage zu stellen (Doris Bachmann-Medick: Postcolonial Turn. In: Dies.: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 3. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2009, S. 184–237, S. 196). 20 Vgl. Jurij M. Lotman: Die Semiosphäre. In: Die Innenwelt des Denkens. eine semiotische Theorie der Kultur. Hg. Susi K. Frank, Cornelia Ruhe und Alexander Schmitz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, S. 163–290. 21 Vgl. dazu die einführenden Überlegungen in den Themenkomplex „Weltliteratur als Peripherie“ von Dorothee Kimmich (Dorothee Kimmich: Migration und Literatur: Literatur als Kulturkritik. In: Kulturwissenschaften in Europa – eine grenzüberschreitende Disziplin? Hg. Andrea Allerkamp und Gérard Raulet. Münster: Westfälisches Dampfboot 2010, S. 234–249, S. 242–244). Vgl. zur Dynamik des Lotman’schen Modells auch Albrecht Koschorke: Zur Funktionsweise kultureller Peripherien. In: Explosion und Peripherie. Jurij Lotmans Semiotik der kulturellen Dynamik revisited. Bielefeld: transcript 2012, S. 27–39, S. 30f. 22 Mit Bezug auf „ästhetische Verfahren und literarische Textverfahren“ haben Aleida Assmann, Monika Gomille und Gabriele Rippl bereits im Rahmen ihrer Einleitung des Sammelbandes Sammler – Bibliophile – Exzentriker mögliche Aspekte des Exzentrischen in der Literatur aufgezählt: „Exzentrische Textverfahren betreffen die Verwendung des Prinzips der Hypertrophie, bestimmte rhetorische Figuren (etwa Hyperbel, Oxymoron), Formen der Copia und Amplifizierung, Recasting/Rearrangement und Fragmentarisierung, zentrifugale Sinnbildungsverfahren, Ekphrastik sowie das Spiel mit Gattungskonventionen“ (Assmann, Gomille und Rippl: Einleitung, S. 10).
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Dass auf diese Fragen im folgenden Beitrag nur teil- und ansatzweise eingegangen werden kann, liegt auf der Hand. Eingangs soll auf eine eingehende Theoretisierung verzichtet und stattdessen eine Lektüre ins Zentrum gestellt werden, bevor der Schluss des Beitrags einige Überlegungen zur Kategorie ‚exzentrischer Figuren‘ diskutiert und weitere Fragen aufwirft, die für eine zukünftige Beschäftigung mit literarischer Exzentrik relevant sein können. 2
Martin Kordić: Wie ich mir das Glück vorstelle (2014) Ich habe einigen Schaden an meinem Körper. Als ich zur Welt komme, haben die Menschen gleich eine Menge mit mir zu tun. Maria, o Maria. Ich habe damals schon ein ordentliches Rückenproblem. Ich bin so schief und steif, dass die Oma und die Mutter mich wochenlang nur in Tücher wickeln können. Dass mit meinem Kopf etwas nicht stimmt, findet nie ein Doktor raus. Ich selbst weiß auch nicht, was mir da fehlen soll. Aber wenn die anderen mich loswerden wollen, sagen sie: Du Kretin!23
Am Anfang von Martin Kordićs 2014 veröffentlichtem Debüt-Roman Wie ich mir das Glück vorstelle steht diese Selbstbeschreibung. Bemerkenswert ist ihr nüchtern-sachlicher Tonfall, mit dem der Erzähler seine körperlich-geistige Disposition und die Reaktionen seiner Mitmenschen ins Bild setzt, die sein Anderssein mit dem pathologischen Stigma ‚Kretin‘, ein pejorativ gebrauchter Begriff für ‚Dummkopf‘, ‚Schwachsinniger‘ oder ‚Geisteskranker‘, sozial disqualifizieren. Wenngleich an dieser Stelle der Erzähler noch die Ursachen seines Handicaps verschleiert und stattdessen die Aufmerksamkeit des Lesers auf das Symptomatische seiner physischen wie sozialen Devianz lenkt, so spielt der Text bereits zu Beginn des Romans ein wichtiges Motiv und Figurenmerkmal aus, das in mehrfacher Hinsicht als ‚exzentrisch‘ erfasst werden kann. Konstitutiv für die Konfiguration des Erzählers ist dessen Ausgrenzung aus dem Bereich des Normalen – und damit eine Position, die ex centro in den Bereich des Krank- und Wahnhaften verschoben ist.24 Erst wenige Seiten später bringt der Erzähler Licht ins Dunkel: In dem Kapitel „Die Geburt von dem Jungen“ (K 15–22) präsentiert er die im kommunikativen Gedächtnis seiner Familie 23
Martin Kordić: Wie ich mir das Glück vorstelle. München: Hanser 2015, S. 9f. Nachfolgend im Text nachgewiesen mit der Sigle K und Seitenzahl. 24 Spätere Zuschreibungen wie „Krüppel“ (K 44), „Missgeburten“ (K 127) oder der antiziganistische Ausspruch „Tanz für uns, Zigeuner!“ (K 45) verschärfen die soziale Ausgrenzung weiter.
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mündlich tradierte Geschichte seiner Geburt, ein mit archaischen, exotistischen Faszinationen besetztes Familiennarrativ, wie er im sogenannten „Dorf der Glücklichen“ (K 21) von der Großmutter mit einer „zweizackigen Schinkengabel“ und einem „Messer, das die Oma benutzt, wenn sie Lämmern die Kehle durchschneidet“, zur Welt geholt wird, wie es dabei zu Komplikationen gekommen sein muss („Das Kind ist ganz schief“) und wie er schließlich zu seinem Namen kam, da die Mutter „nur einen Mädchennamen“ zur Hand hatte. Erneut ist es die Großmutter, die schließlich Nägel mit Köpfen macht und „beschließt […], das Kind nach der Stadt zu benennen, in die der Onkel zieht, als der die Rückbank aus dem Bus ausbaut und in die Küche stellt: Viktor, die Stadt des Goldes und der Goldsucher in Amerika.“ (K 22) Martin Kordićs Roman macht damit gleich von Beginn an kein Geheimnis daraus, mit was für einem Erzähler es der/die LeserIn zu tun hat. Und dieser Erzählertyp ist innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die von AutorInnen mit ‚osteuropäischer‘25 Herkunft verfasst wurde, erstaunlich häufig anzutreffen. Romane wie Melinda Nadj Abonjis Tauben fliegen auf (2010), Alina Bronskys Scherbenpark (2008), Nenn mich einfach Superheld (2013) oder zuletzt Und du kommst auch drin vor (2017), Lena Goreliks Meine weißen Nächte (2004) und Hochzeit in Jerusalem (2007), Olga Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012), Lana Lux’ Kukolka (2017), Terézia Moras Erzählungen in Seltsame Materie (1999), Katerina Poladjans Eine Nacht, woanders (2011), Julya Rabinowichs Spaltkopf (2008) oder Dazwischen: Ich (2016), Sasha Marianna Salzmanns Außer sich (2017), Saša Stanišićs Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006): sie alle präsentieren ihre Geschichten (oder zumindest Teile davon) aus der Sicht einer kindlichen oder adoleszenten Perspektivfigur.26 Bei Kordićs Roman handelt es sich speziell um eine kindliche Erzählinstanz, die dadurch auffällt, dass ihr Verhältnis zur erzählten Geschichte nicht stabil ist. Mal ist sie Teil der erzählten Welt, mal nicht; sie alterniert folglich zwischen heterodiegetischem und homodiegetischem Erzählen. Oftmals ist von „dem Jungen“ die Rede, womit ein Wechsel in eine heterodiegetische 25 Vgl. dazu die konzeptuelle Problematisierung des Begriffs innerhalb der Einleitung zu diesem Band. 26 Erstaunlich häufig handelt es sich bei den Texten der jüngeren AutorInnen, die oftmals selbst im frühen Alter nach Deutschland migrierten, um das literarische Debüt. Die Wahl einer adoleszenten Perspektivfigur scheint folglich mit individueller Migrationserfahrung zu konvergieren, was den Texten eine autobiographische Nähe einschreibt. Vgl. ähnlich zu diesem Befund auch die Überlegungen Hansjörg Bays in dem vorliegenden Band sowie ders.: Migration, postheroisch. Zu Sherko Fatahs Das dunkle Schiff. In: Niemandsbuchten und Schutzbefohlene. Flucht-Räume und Flüchtlingsfiguren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. Thomas Hardtke, Johannes Kleine und Charlton Payne. Göttingen: V & R unipress 2017, S. 23–27, S. 31, 32.
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Perspektivierung markiert ist. Dem gegenüber wird der Text durch eine Ebene strukturiert, die aus Schreibversuchen Viktors besteht, seine Geschichte festzuhalten. Auf dieser Ebene hat eine homo- bzw. autodiegetische Position das Wort: ein erzählendes Ich, das den Leser mit einem ‚du‘ direkt adressiert (u.a. K 13, K 20, K 108f.). Auffällig ist zudem eine einfache Sprache, die aus der kindlichen Erzählersicht hervorgeht: Die Satzstrukturen bestehen meist aus Nominalsätzen, die syntaktisch parallel gereiht sind und teils identisch beginnen. Typisch erscheinen ferner Merkmale unzuverlässigen Erzählens. Stellenweise verliert Viktor den Erzählfaden, schweift fabulierend – und nicht selten ins Phantastische (vgl. K 68) – ab und findet stellenweise erst über selbst eingeschobene Kommentare (z.B. „Aber ich will Dir doch erzählen“, K 20) zum Erzählstrang zurück. Trotz ihrer Einfachheit ist Viktors Sprache eine kindlichphantasievolle Sprache: Aus dem medizinischen Korsett, dass der Junge tragen muss, wird so die sogenannte „Rückenspinne“ (K 47), ein Gerät aus „hartem Plastik“, das ihm Schmerzen verursacht, über das die übrigen Kinder jedoch staunen, er sehe damit „aus wie ein Krieger aus der Spezialeinheit.“ (K 12) Da Viktors Erzählperspektive an seine körperlich-psychische Disposition rückgebunden bzw. durch diese begrenzt bleibt, kann sie gerade dadurch einen kindlich-naiven, phantasievollen Umgang mit der Wirklichkeit bewahren. Das ist gerade deshalb außergewöhnlich, weil diese Wirklichkeit im Wesentlichen vom Bosnienkrieg der 1990er geprägt ist. Viktors Spielkameraden dagegen ist in den Wirren des Kriegsalltags ihre Phantasie längst abhandengekommen. Wenn im Roman Kinder spielen, dann spielen sie meist Krieg, der ihnen alltäglich geworden ist (vgl. K 24, 110). Auf der Ebene der histoire zieht der Text damit einen wichtigen historischen Kontext in die Erzählung: Kordićs Roman erzählt die Kriegserfahrung aus einer exzentrischen Perspektive, aus einer doppelt ‚entrückten‘ bzw. ‚deplatzierten‘ Erzählersicht, die einen besonderen Blick auf die Wirklichkeit entwickelt. Wenngleich der Text keineswegs frei von exotistischen Klischees ist, die das „Dorf der Glücklichen“, wie der Erzähler das Dorf nennt, aus dem die Großmutter stammt, als Sehnsuchtsort romantisch verklären, so bleibt dieser kindliche Blick jedoch textlogisch konsequent und zugleich ambivalent. Denn aufgrund der erzählerischen Unzuverlässigkeit ist dem Leser schnell klar, dass dieser Sicht nicht immer zu trauen ist. Die Faszinationen der frühen Kindheit erscheinen dadurch als brüchig – und damit als das, was sie sind: Fiktionen, Wunsch- und Imaginationsräume einer längst vergangenen Zeit, in der, worauf der Titel des Romans hindeutet, das Glück noch vorstellbar ist. Die Vergangenheit erscheint dem Erzähler, im Gegensatz zur Gegenwart, noch kohärent greifbar – und somit auch erzählbar. Der de-zentrierte Blick des Erzählers ermöglicht dabei einen spielerischen Umgang mit normativen
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Grenzziehungen, der zu Irritationen des Gewohnten/Alltäglichen beiträgt. Nicht nur stellt der Text die brutale Alltäglichkeit des Krieges und deren absurde Logik, nach der es nur Opfer, aber keine Sieger gibt, ostentativ aus. Zugleich wird eine Lesart angeboten, welche kontrapunktisch eine kritische Sicht ermöglicht: Etwa durch den zweifachen Auftritt von Reportern (K 75f., 107f.), denen lediglich daran gelegen ist, möglichst ‚anschauliche‘ Kriegsopfer auf die Mattscheibe zu bannen. Für die Reporter ist Viktor das ideale Anschauungsobjekt, das Quote verspricht. Das Exzentrische des Textes entfaltet sich an dieser Stelle über das Schelmenhafte27 der Viktor-Figur, die die Opferrolle listig mitspielt, etwa um sich ein Mittagessen zu erhaschen. Viktors schelmenhaftes Spiel führt die Reporter schließlich vor und entlarvt ihre Rolle als teilnehmende Beobachter. Diese Umkehrung der Perspektive desavouiert letztlich auch metonymisch eine passive Zuschauerrolle und rückt die Verantwortung Gesamteuropas an diesem politischen Konflikt an der Peripherie Europas kritisch ins Bild. Eine Leistung des Textes ist es, dem Fokus auf den Bürgerkrieg in Süd-Osteuropa auf diese Weise implizit eine transnationale, europäische Perspektive zu unterlegen, die geopolitische Machtasymmetrien reflektiert. Wenngleich der Text selbst keine konkrete Referenz zum historischen Kontext herstellt, so hat der Autor selbst diese Spur, die sich dazu als biographische ausweist, in einem Interview ausgelegt. Martin Kordić, Jahrgang 1983, zählt dabei zu einer noch recht jungen Generation von AutorInnen, die in den vergangenen Jahren mit ihrem Debütroman reüssierten und daraufhin u.a. den Adelbert-von-Chamisso-Preis erhielten.28 Gemeinsam ist den AutorInnen, dass sie ihre Erfahrung mit Migration häufig über die Literarisierung von Familiennarrativen zum Thema ihrer Texte machen. Kordić ist Sohn einer Deutschen und eines kroatischen Gastarbeiters aus Bosnien-Herzegowina. Als die Familie, so Kordić in einem Interview mit dem Chamisso-Magazin, bereits ihren Umzug zurück nach Bosnien geplant hatte, brachen die Jugoslawienkriege aus. Seine Erfahrung mit dem Krieg ist dabei aus zweiter Hand und kam mit den Verwandten, die nach Deutschland flohen und ihre Geschichten mitbrachten. 27 Die Viktor-Figur ähnelt typischen Charaktermerkmalen des Schelms, wie z.B. „List, Verschlagenheit und Unverfrorenheit“ oder „die Cleverness des Unterprivilegierten, der nicht um Kronen, vielmehr ums bloße Überleben in einer Welt kämpft, die ihn ins Abseits gestellt hat.“ (Georg Kurscheidt: Der Schelmenroman. In: Formen der Literatur in Einzeldarstellungen. Hg. Otto Knörrich. 2. Aufl. Stuttgart: Kröner 1991, S. 347–359, S. 350). 28 In absteigender chronologischer Reihenfolge (Geburtsjahr/Jahr der Auszeichnung mit dem Chamisso-Preis) wären hier zu nennen: Marjana Gaponenko (geb. 1996/2013), Olga Grjasnowa (geb. 1984/2015), Nino Haratischwili (geb. 1983/2010), Martin Kordić (geb. 1983/2015), Barbi Marković (geb. 1980/2017), Matthias Nawrat (geb. 1979/2013), Uljana Wolf (geb. 1979/2016), Saša Stanišić (geb. 1978/2008).
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„Als Kind“, so Kordić, „versteht man nicht so viel, aber der Krieg war immer da, weil die Leute da waren.“29 Die im Roman verhandelten Themen wie Krieg, Flucht und Verlusterfahrung erfahren hierdurch eine für die Textgestalt nicht unerhebliche biographische Resonanz. Davon zeugt etwa eine Schwarz-WeißFotografie im Bereich des Paratextes,30 die, so heißt es im Interview, den Hof von Kordićs Onkel, gelegen in der Nähe der Stadt Mostar, zeigt. Dass der Ort Mostar dem Autor zur Entwicklung der Raumstruktur Modell gestanden hat, darauf liefert der Roman selbst Hinweise. An einer Stelle präsentiert der Text jedoch eine Skizze, die eine auffällige Ähnlichkeit zur Kartierung der Region aufweist.
Abbildung 1 Martin Kordić: Wie ich mir das Glück vorstelle. München: Hanser 2015, o.S.
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Richard Kämmerlings: Sein Stoff war immer schon da. Martin Kordić erzählt vom Krieg. In: Chamisso. Viele Kulturen – eine Sprache H. 12 (2015), S. 15–17, S. 15. Die Abbildung folgt ohne Seitenangabe im Anschluss an die Erzählung. Dass diese nicht zur Erzählung gehört, sondern sich außerhalb der erzählten Welt befindet, zeigt eine zwischen Fotografie und Text gefügte Seite, die mit dem Textzug „Ende“ (o.S.) deutlich eine Grenze zieht.
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Abbildung 2 links eine Zeichnung, die dem Kapitel „Die Stadt der zwei Brücken“ (K 55–61) aus Kordićs Roman (K 59) entnommen ist; rechts die Kartierung (s/w) der Stadt Mostar (Bosnien-Herzegowina) bei openstreetmap.org Note: https://www.openstreetmap.org/relation/2528234#map=11/43.3362/17.8057, zuletzt geprüft am 29.3.2019.
Die Fotografie des Hofes (Abb. 1) ist zugleich mit einer Passage des Textes verknüpft, die eine besondere Stellung im Romangefüge besitzt. Vor dem eigentlichen Beginn der Geschichte Viktors (K 8) befindet sich eine kurze Standortbeschreibung eines zweiten Ich-Erzählers, dessen Sprache sich deutlich vom kindlichen Erzählstil Viktors unterscheidet. „Ich lebe in einem der alten Häuser, weit oben im Berg“, beginnt der Erzähler. Darauf folgt die Selbstbeschreibung eines Eremiten, und damit eines narrativen Standpunkts, der durch eine gewissermaßen exzentrische Lage gekennzeichnet ist: Die Menschen, die zu mir hochsteigen, bringen mir etwas übriggebliebenes Lammfleisch von einer Familienfeier, ein Stück Schokoladentorte, einen Kürbis oder eine Wassermelone, etwas Wirsing, ein paar Knochen für den Hund. Und immer bringen sie Geschichten. Ihre eigenen oder welche, die sie von jemand anderem erzählt bekommen haben. […] Warum die Menschen ausgerechnet zu mir kommen, kann ich nicht mit
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Sicherheit sagen. Ich glaube aber, es hat etwas mit der Lage dieses Hofes zu tun. So weit oben im Berg, und so weit weg von der nächsten Straße, hat man nicht das Gefühl, dass dieser Ort etwas mit dem Rest der Welt zu tun hat. (K 7) Wenngleich diese zwei Textstellen, Prolog und Fotografie (Abb. 1), keinen unmittelbaren Bezug zur Handlung aufweisen, so bilden sie dennoch einen Erzählrahmen, der mit der Diegese verknüpft zu sein scheint. Zum einen antizipiert der Einstieg ein für den Roman zentrales Motiv, nämlich die Rolle von Geschichten und die Notwendigkeit ihres Weitererzählens. Zum anderen wird das Bild eines exzentrisch-solitären Orts erzeugt, dessen Semantik mit Bedeutungen wie ‚Ruhe‘, ‚Frieden‘, ‚Stillstand‘ und ‚Idylle‘ konnotiert ist und den Titel räumlich ins Bild setzt. Dieser Ort außerhalb der Ordnung steht quer zur Topologie des Romans, die durch Viktors Flucht- und Kriegserfahrung deutlich negativ semantisiert ist. Diese Ebene der Geschichte beginnt mit dem Aufbruch, der sich als eine Flucht ins Ungewisse herausstellt. Viktors Geschichte wird keineswegs chronologisch entfaltet. Vielmehr zeichnet sich diese durch Brüche aus: Die Vorgeschichte über die Zeit der Kindheit in der „Stadt der Brücken“, wie Viktors Familie deportiert wurde, wie er aus der Stadt entkam und von der „Gemeinschaft der Söhne Marias“ im sogenannten „Sehergebirge“ aufgenommen wurde, präsentiert der Erzähler erst sukzessiv im Verlauf des Romans über eine Reihe von Rückblenden. Weitere Einschübe handeln von Erinnerungen der frühen Kindheit im ‚Dorf der Glücklichen‘. Auf der Ebene der Basisgeschichte, die mit dem Aufbruch einsetzt, entwickelt nun die Erzählinstanz nach und nach ihre Geschichte, wie Viktor zurückkehrt in die ‚Stadt der zwei Brücken‘ und eine Reihe sonderbarer Figuren kennenlernt, die während der Kämpfe geblieben sind bzw. die schlichtweg keine Wahl hatten, aus der Stadt zu entkommen. Dass die Chronologie der Geschichte und die Stellung des Erzählers zum Geschehen, wie bereits hervorgehoben, für den Leser nicht immer klar zu lokalisieren sind, verdankt sich nicht nur dem Umstand, dass der Text durchweg im Tempus Präsens erzählt ist. Hinzu kommt eine Serie kurzer Episoden, die jeweils den Titel „Der letzte Tag“ tragen und als Einschübe über den Text hinweg verteilt sind. Diese Episoden bilden gewissermaßen den Fluchtpunkt des Romans und münden in einer rätselhaften Szene, in der Viktor freiwillig ins Meer hinaustreibt. Für weitere Desorientierung sorgen häufige Abschweifungen, plötzliche Analepsen in die Kindheit sowie Einfügungen, die der kindlichen, z.T. narrativ unzuverlässigen Lust des Erzählens geschuldet sind: Dazu zählen etwa eine „Anleitung zum Backen von Teigschnecken“ (K 31), eine „Anleitung zum Bauen
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von Atombomben“ (K 102) – womit jedoch die besondere Mixtur eines alkoholischen Getränks gemeint ist – oder eine Vielzahl an Inventarlisten über Dinge, die Viktor im Verlauf seiner Reise sammelt oder bereits seit Aufbruch mit sich mitführt. Einige dieser Dinge dienen als Erzählanlass, als ‚Erinnerungsdinge‘, welche die Familiengeschichte archivieren.
Abbildung 3 links oben: Inventarliste (K 11), rechts oben: graphische Illustration eines sprachlichen Vergleichs (K 18), links unten: Tattoo des Vaters (K 88), rechts unten: Fragenkatalog „Wie du das Heft führen musst“ (K 146)
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Wie die Abbildungen zeigen, ist für den Roman seine starke Medialität charakteristisch, die sich in der graphisch-bildlichen Darstellung von Zeichnungen und Listen ausdrückt und den Text auf der bildlichen Ebene konkretisiert. Dazu gehören ferner Aufzählungen von Mitschülern (K 69), eine Aufstellung von Tieren im Zoo (K 120) oder ein Fragenkatalog (K 146, vgl. Abb. 3 r.u.) nebst einer Vielzahl an kindlichen Zeichnungen (Karten, Tattoos). Wenn der Text einerseits in seiner ästhetischen Gestalt durch erzählerische Unzuverlässigkeit sowie Dissonanzen im Erzählen (Anachronien) geprägt ist, die zur Fragmentierung der Handlung beitragen, so zeigt sich andererseits Viktors Erzählprojekt als ein Versuch des Festhaltens seiner Familiengeschichte und als Gegenreaktion auf Verlusterfahrungen: die Trennung von der Familie, den Tod der Oma sowie das Verschwinden seiner Weggefährten, wie der ‚einbeinige Dschib‘ oder der ‚dicke Dim‘. Vom ‚einbeinigen Dschib‘, einer ebenso schelmenhaften und zugleich als Sonderling entworfenen Figur, erhält Viktor ein Heft, das zum Gedächtnismedium avanciert: Ich schreibe das Buch. Ich muss sehr sparsam sein mit den Seiten im Heft. Ich erzähle alles so, wie der Zopf von der Oma unterm Kopftuch aussieht. Diese Geschichte ist mein Leben. Diese Geschichte darf nicht länger sein als das Heft, in das ich reinschreibe. Ich schreibe sie für dich. Ich schreibe sie für den einen, der sie liest. Jede Nacht schreibe ich ein paar Seiten. Oft streiche ich in der nächsten Nacht alles wieder durch und schreibe die Seiten neu zwischen die durchgestrichenen Zeilen. Wenn ich nichts mehr ändern will, stehe ich auf und male für jede Seite einen Elefanten an die Wand, auf die auch schon ein anderer die Parole draufsprüht. Neunundsiebzig Elefanten sind es jetzt und die machen eine Kette von dem Rüssel zum Schwanz. (K 79) Das Motiv des Aufschreibens mittels einer Sprache, die aus der kindlichen Vorstellungskraft hervorgeht, steht in Wie ich mir das Glück vorstelle für eine identitätsstiftende Geste, mit der sich der Protagonist gegen das durch Krieg, Zerstörung und Vertreibung verursachte Vergessen zu Wehr setzen kann. Aus Viktors Sicht ist es der Krieg, der zur Auflösung von Geschichten – und damit zum Zerfall von Identitäten sowie Gemeinschaften führt, die sich zuvor als ethnisch heterogen verstanden und die nun, was der Roman reflektiert, von ethnischen Konflikten, von Segregation und Deportationen betroffen ist.31 Das für den Text zentrale Motiv des Verschwindens drückt sich dabei in der Bewegung der Handlung aus. Wenn der Krieg anfangs noch zwischen Dorf und 31
Vgl. dazu die Textstellen K 90f., 94, 127.
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Stadt zirkuliert,32 so zieht sich dieser zum Schluss auf das topographische Zentrum, die Stadt der zwei Brücken, zusammen und hinterlässt schließlich einen Ort, ein leeres Zentrum, das nur noch aus Ruinen besteht. Zum Schluss des Romans verschwindet auch der ‚einbeinige Dschib‘. Mit dessen Verschwinden bricht auch Viktor auf und verlässt die inzwischen völlig zerstörte Stadt. Das Ende des Romans verhält sich geradezu analog zu Viktors Schreiben: Das vorletzte Kapitel, das den Titel „Wie ich mir das Glück vorstelle“ (165–170) trägt, ist die kindlich-phantastische Fiktion einer Idylle und intakten Welt, die nicht aus den Fugen geraten ist, und auf die Viktor seine Sehnsucht nach der verlorenen Vergangenheit projiziert. Mit der von Viktor auserzählten Geschichte, die sein „Buch“ abschließt („Alles, was Du wissen sollst, steht nun in diesem Buch“, K 170), endet auch der Roman in einer kryptischen Szene, in der Viktor ins Meer hinaustreibt. Diese Schlusssequenz lässt die Deutung offen, inwiefern mit dem Ende des Erzählens auch Viktors Tod eintritt. Über die traditionelle Wassersymbolik entwickelt der Roman dabei ein für den Text zentrales poetologisches Moment: Der Fluss trägt alles Leben und alle Toten und alle Geschichten. Aus allen Ländern und aus allen Völkern. Alles versinkt hier. Im Meer. Und wenn es irgendwann mal keine Geschichten mehr gibt, wenn keiner mehr was erzählt, wenn keiner mehr zuhört, ist das die Finsternis. Die Finsternis, aus der hier keiner mehr rauskommt. Auch du nicht. Egal wo du bist. (K 162f.) Das Schreiben, Viktors Erzählprojekt, avanciert in dieser Lesart zu einem exis tentiellen Widerstand gegen ein Vergessen und Verschwinden, das sich im Erzählen diesem Sog zu entziehen vermag. 3
Schluss: Exzentrische Figuren und literarische Exzentrik
Außenseiter, Sonderlinge, Einzelgänger: exzentrische Figuren zeichnen sich, wie eingangs behauptet, durch ihr prekäres Verhältnis zu einem metaphorisch (meist normativ) besetzten Zentrum aus.33 Der Schriftsteller Uwe Timm hat 32 33
„Der Krieg fängt in den Dörfern an. Dort hört er auf“ (K 55) heißt es an einer, „Der Große Kampf ist in den Dörfern. In den Dörfern sind die entscheidenden Schlachten“ (K 58) an einer anderen Stelle. Zu diesen wären auch Figuren wie Vagabunden, Flaneure und Nomaden zu zählen, wie sie Norbert Otto Eke als Gegenfiguren und „Metaphern für ein Denken im Widerspruch
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in seiner 1993 publizierten Poetikvorlesung Erzählen und kein Ende das literarische Potential solcher Underdogs und Antihelden treffend umschrieben. In der Figur des ‚Desperado‘34 sieht er die Chance zur Blickverschiebung, welche alltägliche Denk- und Sehgewohnheiten irritiert und eine andere, kritische Sicht zulässt. Mich interessieren darum besonders die Desperados die moralischen, die ästhetischen, die ökonomischen. Die Desperados sind, Sie wissen es, die Hoffnungslosen, die Verzweifelten, die Einzelgänger, die allein für sich, abseits von Konventionen und herkömmlichen Moralbegriffen, ihren Weg suchen. Intensiv kompromißlos, ungebundener in ihren Entscheidungen. Sie leben diese alltägliche Destruktion. Die Destruktion des Selbstverständlichen. Daraus kann sich ein Blick entwickeln, der auf einer kritischen Distanz zum Zeitgeist bleibt und das Gewöhnliche ungewöhnlich zeigt. Ein ästhetischer Blick – eine Form des Erzählens –, durch die sich die Wahrnehmung für das schult, was sonst unbemerkt bleibt – oder was sich als ideologisch Selbstverständliches in die Wahrnehmung einschleicht.35 Die exzentrische Sicht zeichnet sich durch ihre besondere Blickrichtung bzw. Sichtachse aus: Sie schaut nicht nur auf ihre Weise ex centro von ‚außen‘, sondern auch, über eine hierarchische Vertikale betrachtet, von ‚unten‘ auf das Geschehen. Der Blick des Unterprivilegierten, des Underdog, kann folglich durchaus schelmische Züge annehmen. Wie die exzentrische Disposition der Viktor-Figur exemplarisch verdeutlicht, vermag der Text so eine ‚pikareske Perspektive‘ zu entwickeln, wodurch Machtasymmetrien – u.a. mit Mitteln der Komik und Satire – ausgestellt und zeitweise auf den Kopf gestellt werden: „In der List der Verschlagenheit, die den Schelm auszeichnet, reflektiert sie die Arglist, mit der er zum Narren gehalten, geschlagen und verhöhnt, dergestalt aber
34 35
zu den stabilen Diskursformationen der modernen Gesellschaft“ umschrieben hat (Eke: „In jeder Sprache sitzen andere Augen“, S. 247). Abgeleitet aus dem Spanischen von desesperado, dt. für ‚verzweifelt‘/‚Verzweifelter‘. Uwe Timm: Erzählen und kein Ende. Versuche zu einer Ästhetik des Alltags. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1993, S. 106. Vgl. hierzu auch die Überlegungen Silvia Bovenschens, die in ihrem Essay auf das Potential des Exzentrikers zur Verfremdung und Verschiebung des Blicks eingegangen ist: „Was für eine schöne Aussicht: aus dem Stick der Gewöhnlichkeiten, aus dem Muff der Üblichkeiten einfach hinauszutreten in das erkennbar Ungewöhnliche, das Unübliche; was für eine schöne Hoffnung: von dort einen fremden Blick auf die anderen gewinnen; was für eine schöne Illusion: darüber befremdend für die anderen und vertraut mit sich selbst werden zu können. Ein Wunsch nur. Der Exzentriker war die Personifikation dieses Wunsches.“ (Silvia Bovenschen: Lob der Nuance. Zur Rettung des Exzentrischen. In: Kursbuch 118 (1994), S. 49–63, S. 49).
Exzentrisches erzählen bei Martin Kordić
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auch in eine teuflisch verkehrte Welt eingeführt worden ist, in der niemand Vertrauen verdient.“36 Die literarische Spezifik exzentrischer Figuren zeigt sich nicht nur als Merkmal von Figurenkonfigurationen und -konstellationen. Besonders scheint ferner ihr semantisch-räumlicher Bezug: d.h. zum einen, wie Figuren im Figurensetting des Textes auch räumlich positioniert sind (exzentrische Orte), und zum anderen, wie sie aufgrund ihrer Bewegungen ex centro das Zentrum infrage stellen können. Reisen ex centro wären im Sinne Jurij. M. Lotmans mit einem devianten ‚Ereignis‘37 verknüpft, das auf einen Bruch mit dem „sozialen Milieu“, einer „Abweichung von der Norm“38 basiert. Das Ereignis ist dabei für Lotman die Konsequenz einer Überschreitung, es sei „immer die Verletzung irgendeines Verbotes, ein Faktum, das stattgefunden hat, obwohl es nicht hätte stattfinden sollen.“39 Die exzentrischen Bewegungen der Figuren im Text rekurrieren zugleich auf eine kulturell tradierte Bedeutung des Reisens: Reisen als identitätsstiftendes Moment, als Sinn- und Selbstsuche. Oliver Lubrich zufolge sei sogar jede Reise im wörtlichen Sinn exzentrisch, da sie von einem Ort ausgeht, der ein individuelles Zentrum bildet. Wenn das Reisen eine existentielle und eine ästhetische Erfahrung ist und der Umweg seine extreme und zugleich typische Form, dann wäre es gerade in seinen auf den ersten Blick ungewöhnlichen Varianten paradigmatisch zu verstehen. Es lohnt sich also, das Reisen in seiner Exzentrik zu betrachten: in den Umwegen, die es erfordert, in den Überraschungen, die mit ihm einhergehen.40 Für ‚exzentrisches Reisen‘ scheint, was ebenso für Kordićs Roman zutrifft, andererseits das Abwegige und Abschweifende, das ‚Digressive‘ ein zentrales Muster zu sein, das das Ziel der Selbstfindung zur Disposition stellt oder gar ihr Scheitern ostentativ vorführt (Reisen als Identitätsverlust).41 Dass die Bewegung ex centro somit stets Gefahr laufen kann, ihr Versprechen nicht 36 Matthias Bauer: Den Schalk im Nacken und den Tod vor Augen. Elemente des Enigmatischen im pikaresken Erzählen. In: Das Enigma des Pikaresken/The Enigma of the Pica resque. Hg. Jens Elze. Heidelberg: Winter 2018, S. 29–48, S. 30. 37 Ein Ereignis ist für Lotman „die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“ (Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. 3. Aufl. München: Fink 1989, S. 332). 38 Ebd., S. 338. 39 Ebd., S. 336. 40 Oliver Lubrich: Von Königgrätz nach Basra. Wege und Umwege. Vorwort. In: Umwege. Hg. Blaschke u.a., S. 9–15, S. 10. 41 Vgl. zum Digressiven des Reisens Ute Gerhard: Literarische Reisen zwischen Selbstfindung und Selbstentäußerung. Exemplarische Blicke auf Texte von Sterne, Eichendorff und Traven. In: Der Deutschunterricht 54, H. 4 (2003), S. 27–36.
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einzulösen, zeigt neben Kordićs Wie ich mir das Glück vorstelle etwa auch Saša Stanišićs Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006) oder Terézia Moras Roman Das Ungeheuer (2013). Moras Protagonisten verschlägt es in die Peripherie Süd-Osteuropas, wobei die (Auto-)Reise zum Selbstverlust in der Fremde avanciert.42 Typisch für solch exzentrische Reiseformen ist zusammengenommen ein Narrationstyp, den Jürgen Link als „(nicht) normale Fahrt“43 bezeichnet hat, die von „Prozesse[n] der Denormalisierung, der Abweichung von der Normalität in Richtung der Normalitätsgrenzen“ sowie der „Überschreitung solcher Grenzen“44 handelt. Literarische Exzentrik wird somit zugleich maßgeblich über die Raumstruktur der Texte reflektiert. Nicht selten sind es exzentrische Orte, wie z.B. provinzielle, dörflich-periphere Schauplätze und Regionen, die das Spannungsverhältnis zwischen idyllischprovinzieller Peripherie und urbanem, globalem Zentrum, zwischen Tradition und Moderne sowie zwischen Heimat und Fremde thematisieren. Romane wie Alina Bronskys Baba Dunjas letzte Liebe (2015), Terézia Moras Erzählungen in Seltsame Materie (1999) oder ihr Roman Das Ungeheuer (2013) reflektieren diese Polarität zwischen Metropole und Provinz. Dabei fällt auf, dass die Semantik peripherer Räume in den Texten eine besondere Affinität zu Alteritätsfragen besitzt. Die Rand- und Grenzgebiete literarischer Raumordnung sind nicht selten mit idyllisch-archaischen Projektionen des Dörflichen konnotiert, die auf tradierte exotistische Topoi und Wunsch(t)räume zurückgreifen. Und in
42 Vgl. dazu auch unlängst Erika Hammer: Identität im Transit. Nicht-Orte und die Dissoziation des Subjekts in Terézia Moras Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7, H. 2 (2016), S. 117–130. 43 „Dabei erzählen diese Geschichten einen Prozess der Abweichung, der Devianz aus einer normalen Situation am Anfang durch eine Serie denormalisierender Ereignisse bis zur ‚Landung‘ des bzw. der Protagonisten in einem Zustand irreversibler Anormalität (mit den klassischen Fällen Kriminalität, sexuelle Devianz, psychische oder mentale Denormalisierung). Symbolisch gesehen, geht es gleichzeitig immer um einen Prozess des ‚Abstiegs‘ (häufig aus einer illusionären in eine ‚realistische‘ Situation) – mit dem griechischen Begriff um einen Prozess der Katabasis.“ (Jürgen Link: Immer nach Süden: (Nicht) normale Fahrten über die Grenzen von Normalitätsklassen (mit einem Blick auf Sibylle Berg, Jean Marie Gustave Le Clézio und Güney Dal). In: Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven. Hg. ders. u.a. Bielefeld: transcript 2010, S. 29–39, S. 34). 44 Jürgen Link: (Nicht) normale Lebensläufe, (nicht) normale Fahrten: Das Beispiel des experimentellen Romans von Sibylle Berg. In: (Nicht) normale Fahrten: Faszinationen eines modernen Narrationstyps. Hg. ders., Ute Gerhard, Walter Grünzweig und Rolf Parr. Heidelberg: Synchron 2003, S. 21–36, S. 32f.
Exzentrisches erzählen bei Martin Kordić
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Kordićs Roman wird solch eine ‚Exotik des Exzentrischen‘45 über das titelgebende Motiv „Wie ich mir das Glück vorstelle“ explizit. Diese bringt Viktors eskapistische Sehnsucht und Suchbewegung zum Ausdruck, die zugleich eine Schreibbewegung ist. Das Familiennarrativ vom ‚Dorf der Glücklichen‘ dient der Figur als imaginärer Fix- und Fluchtpunkt, als Projektion einer ‚verlorenen Heimat‘, an dem die Welt, die mit dem Krieg aus den Fugen gerät, noch geordnet und erzählerisch greifbar scheint. Das Exzentrische des Textes drückt sich dabei nicht nur im Erzählten selbst aus. Im inkohärenten, unzuverlässigen Erzählen, das der kindlichen Fabulierlust geschuldet ist, kommt die deviante, dezentrierte Sicht einer Figur zum Tragen, die sich ihre Welt ‚anders‘ bzw. auf eine besondere exzentrische Weise ausphantasiert – und damit den Kern literarischer Exzentrik ambivalent wie deutungsoffen ins Bild setzt: „Ich erzähle alles so, wie der Zopf von der Oma unterm Kopftuch aussieht.“ (K 79) Das Exzentrische des Textes zeigt sich somit als genuin das, was es ist: als Literatur. 45 Vgl. zu dieser Denkfigur den Beitrag des Ethnologen Fritz Kramer in der titelgebenden Ausgabe „Exzentriker“ der Zeitschrift Kursbuch (Fritz Kramer: Exotismen. In: Kursbuch 118 (1994), S. 1–7).
kapitel 12
Erlebte Erinnerungsstruktur(en) als Teil einer postmodernen Poetik am Beispiel des Romans Das Herz von Chopin (2006) von Artur Becker André Steiner 1
Einleitung zu einer Umdeutung
Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, inwiefern das, was mit Bezug auf das literarische Erzählen Artur Beckers in der Forschung als „Poetik der Verdoppelung“1 bezeichnet worden ist, aus Sicht einer narrativ orientierten, postmodernen Theorie der Erinnerung nicht auch, oder vielleicht sogar angemessener, im Sinne einer erlebten Erinnerungsstruktur begriffen werden kann. Diese Fragestellung ist motiviert durch die Beobachtung, dass jenes Phänomen der semantischen Verdoppelung, das sich auf topografische Gegebenheiten und Figuren im literarischen Text bezieht und von Sławomir Piontek und Alicja Krauze-Olejniczak auch mithilfe der Begriffe „Parallelität der Intensität“, „Poetik der Binarität“, „Interferenzräume“2 sowie „zeit- und ortlose[] Enklaven“3 umschrieben wird, recht genau jenem Konstrukt erlebter Erinnerung entspricht, das ich in Anlehnung an Vertreter der narrativen Psychologie bereits für die Analyse des Romans Eine Übertragung (1989) von Wolfgang Hilbig verwendet habe.4 Hier wie dort gehe ich dabei davon aus, dass wichtige Elemente des erzählten Geschehens ‒ und das dürfte im Fall von Becker noch unstrittiger sein als bei Hilbig ‒ aus der Erinnerung, d.h. dem erinnerten autobiografischen Selbst des Autors stammen, zumindest aber diesem nachempfunden sind.
1 Sławomir Piontek: Zwischen B und B. Identitätsräume bei Artur Becker. In: Aussiger Beiträge 6 (2012), S. 133–142, S. 133. 2 Ebd., S.133, 138, 140. 3 Alicja Krauze-Olejniczak: Nöte und Zäsuren eines modernen Migrantenschicksals ‒ Der deutsch-polnische Grenzgänger Artur Becker und sein Roman Das Herz von Chopin. In: Studia Germanica Posnaniensia 34 (2013), S. 163–172, S. 167. 4 Vgl. André Steiner: Das narrative Selbst. Studien zum Erzählwerk Wolfgang Hilbigs ‒ Erzählungen 1979‒1991, Romane 1989‒2000. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2008, S. 180–209.
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Erlebte Erinnerungsstruktur ( en )
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Gewiss ist diese Anknüpfung an Hilbigs Œuvre alles andere als zufällig, denn beide Autoren verbindet das gemeinsame Schicksal des Nicht-WiederZurückwollens oder -Könnens.5 So behandeln auch die hier in Rede stehenden Texte Artur Beckers inhaltlich die 1980er und 1990er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in denen der Eiserne Vorhang entweder noch Realität war oder aber nach der Wende in Form habitueller Einstellungen im Bewusstsein der Bevölkerung seine reale Abschaffung lange überdauerte. Identisch ist schließlich in beiden Fällen auch das Jahr der Ausreise in den Westen ‒ 1985 ‒, wenngleich die Polen zu dieser Zeit bereits freizügiger ihren Wohnsitz jenseits des Eisernen Vorhangs wählen konnten und dafür von den Bürgern der DDR, zu denen Hilbig damals noch gehörte, oft beneidet wurden. Damit hinterfragt dieser Ansatz den sowohl in der bisherigen Forschung als auch im Rahmen der Tagung „Migrationsvordergrund ‒ Provinzhintergrund“ ‒ wenngleich hier kritisch zur Disposition stehend ‒ für die gemeinten AutorInnen verwendeten, generalisierenden Sammelbegriff ‚osteuropäisch‘. Stattdessen wird eine grundlegende Konstellation als maßgeblich für bestimmte Züge des literarischen Schaffens angesehen ‒ nämlich die des für immer Getrenntseins von der Kultur, der Topografie und vor allem den zwischenmenschlichen Beziehungen des Herkunftslandes, von der politischen Ordnung ganz zu schweigen, die man wohl eher nicht vermisst haben dürfte. 2
Parallelen zwischen Fiktion und biografischer Realität
Unverkennbar beschäftigt sich Artur Becker seit Beginn seiner literarischen Karriere in den 1990er Jahren mit dem Phänomen der Transgression gegebener Identität durch Migration. Oft gibt es bereits in seinen frühen Erzählungen Figuren, die es entweder schon geschafft haben, sich eine neue Existenz im Westen aufzubauen oder gerade dabei sind, dies zu tun. Eine solche Figur ist etwa Marek Blome aus Der Pass im Erzählband Die Milchstraße (2002). Als Sohn eines deutschen Vaters und einer polnisch-masurischen Mutter, die bereits in Deutschland leben, soll er ‒ besonders auf Wunsch seiner Mutter ‒ nun auch ausreisen und zu ihnen nach Bremen kommen. Dies verzögert sich 5 So leben etwa Chopin und Jakub Dernicki, die beiden Protagonisten aus Das Herz von Chopin bzw. Wodka und Messer (2008), in der Überzeugung, mit der polnischen Vergangenheit abgeschlossen zu haben. Besonders Chopin gibt vor, eher Kontakt zu Deutschen als zu seinen Landsleuten zu suchen. Vgl. dazu Artur Becker: Das Herz von Chopin. Hamburg: Hoffmann und Campe 2006, S. 30–32.
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jedoch, weil die Behörden den Pass zurückhalten, der für den Wechsel erforderlich ist. Es fällt nicht schwer, in Marek ein Alter Ego von Artur Becker zu erkennen, denn zu offensichtlich sind die Parallelen zwischen der Erzählung und dem wirklichen Leben, wie man dem Artikel Das letzte Sakko, den der Autor für die Berliner Zeitung geschrieben hat, entnehmen kann.6 Neben dem monatelangen Hinauszögern der Ausstellung des Reisepasses für den damals sechzehnjährigen Schüler und der Zahlung von Schmiergeldern findet sich auch die Parallele der Auflösung seiner Wohnung bis hin zu dem Detail der überflüssig gewordenen Sakkos, die er schließlich in einem Müllcontainer entsorgt, in der Erzählung wieder.7 Dies gilt ebenso für den Umstand, dass seine Eltern bereits in Deutschland leben. Während Marek in der Erzählung aber erst noch die Schwester seines besten Freundes Bogdan heiraten muss, weil es heißt, dass nur Verheiratete den Pass bekämen, schwärmt der wirkliche Artur Becker in seinem autobiografischen Zeitungsartikel von einer gewissen Magdalena aus Poznan, die später namentlich in weiteren Prosaarbeiten wieder auftaucht, so auch als Maria Magdalena im Herz von Chopin. Die „Mehrfacherzählung“8 wird sich fortsetzen, wenn schließlich auch Chopin am Ende des Romans, ähnlich wie Marek, auf seinen Reisepass, den er 6 Vgl. Artur Becker: Das letzte Sakko. In: Berliner Zeitung, 20.2.2010 (http://www.arturbecker .de/Varia/artikel/varia016.htm, zuletzt geprüft am 13.5.2019). 7 Vgl. dazu Artur Becker: Die Milchstraße. Hamburg: Hoffmann und Campe 2002, S. 7 und S. 68–70. 8 Der Terminus „Mehrfacherzählung“ stammt von Sabine Sistig und wird von ihr für die wiederholte Erzählung von Ereignissen im Roman „Ich“ von Wolfgang Hilbig verwendet. Sie interpretiert dies als Symptom zeitlicher Verwirrung des Protagonisten C. (Sabine Sistig: Wandel der Ich-Identität in der Postmoderne: Zeit und Erzählen in Wolfgang Hilbigs „Ich“ und Peter Kurzecks Keiner stirbt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 49). Eine vergleichbare Struktur gibt es auch im Roman Eine Übertragung. Ich habe dies, anders als Sistig, eher im psychoanalytischen Sinn als Wiederkehr einer Erinnerung interpretiert, der ein verdrängter emotionaler Konflikt des Ich-Erzählers zugrunde liegt (vgl. Steiner: Das narrative Selbst, S. 189). Diese Rekurrenzen finden sich an vielen Stellen in Hilbigs Werk und sind meiner Ansicht nach typisch für literarische Texte, in denen die Identitätsverluste ihrer AutorInnen, seien diese aus sozialpsychologischen Gründen oder aufgrund von politisch bzw. ökonomisch motivierter Migration erfolgt, mit verhandelt werden. Es ist aus diesem Grund auch nicht verwunderlich, dass solche Rekurrenzen bzw. Mehrfacherzählungen im Werk von Artur Becker vorkommen, denn auch er ist als Autor und Person vom Verlust gewachsener Identität bedroht. Ähnliche Wiederholungen finden sich auch bei Peter Kurzeck, z.B. in Das schwarze Buch (1982), dessen Erzählwiederholungen von den Trinkexzessen des Vertreters Merderein handeln, sowie im Werk von Thomas Melle, der zuletzt mit seiner autobiografischen Chronik Die Welt im Rücken (2016) hervorgetreten ist, in der es um seine manisch-depressive Erkrankung geht.
Erlebte Erinnerungsstruktur ( en )
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für die Ausreise in den Westen braucht, warten muss.9 Und auch in Beckers erstem Roman Der Dadajsee (1997) gibt es bereits eine solche GrenzgängerFigur. Es handelt sich um Jurek Majer, der nach Ausrufung des Kriegsrechts (1981‒1983) seinen elterlichen Hof in Wilimy gegen den Willen der Eltern Barbara und Jan verlässt und in Bremen als Arbeitsmigrant lebt. Magda, eine ehemalige Prostituierte, die nach dem Tod von Jan, der ihr Kunde war, auf den Hof kommt, nimmt Kontakt zu ihm auf und veranlasst schließlich seine zeitweilige Rückkehr. Wie man sieht, sind sowohl über die Topografie ‒ fast alle Geschichten spielen in der heutigen Woiwodschaft Ermland-Masuren zwischen Olsztyn, Biskupiec, Stopki, Sępopol und der Geburtsstadt des Autors Bartoczyce, dem früheren Bartenstein ‒ als auch über bestimmte krisenhafte Lebenssituationen, wie etwa die Ausreise von Marek mit dem Ziel Deutschland, die Ebenen von Fiktion und Realität ‒ in Form der Biografie des Autors ‒ in vielfältiger Weise miteinander verknüpft. Es bestätigt sich daher die bereits in der Forschungsliteratur für das Werk von Becker definierte Thematik des Identitätsverlustes, der Emigration sowie des Problems der Integration „heterogener Erfahrungsbereiche“10 innerhalb der zunächst fremden Mehrheitsgesellschaft des Ziellandes Bundesrepublik Deutschland. Dabei erweist sich, wie Piontek mit Becker feststellt, die ausschließlich „nationale Kodierung der Identität“ nicht länger als tauglich und wird daher vom Autor in seinen Texten „systematisch demontiert“.11 So lässt sich auch das bizarre Ritual verstehen, das Jurek in Der Dadajsee vollzieht, als er der Leiche seines Vaters den Kopf abtrennt und ihn im See versenkt, um sich von der überkommenen Identität des Vaters und damit der eigenen polnischen Herkunft, die ihn immer wieder in Form von Gedanken und Erinnerungen heimsucht, endgültig zu befreien.12 3
Narrative Identität und fiktionales literarisches Erzählen
Wenn es richtig ist, wie Matías Martínez mit Norbert Meuter ausführt, dass Erzählen die Grundlage für personale Identität bildet, mithin die Identität einer Person als narrativer Zusammenhang verstanden werden kann,13 so ergibt sich daraus, dass die eigenen Erzählungen stets in ein Netz vorgängiger 9 10 11 12 13
Vgl. Becker: Das Herz von Chopin, S. 283. Piontek: Zwischen B und B., S. 135. Ebd., S. 139. Vgl. Artur Becker: Der Dadajsee. Bremen: Kollektion Stint 1997, S. 194–196. Vgl. dazu Christian Klein: Erzählen und personale Identität. In: Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Hg. Matías Martínez. Stuttgart: Metzler 2011, S. 83–89, S. 84.
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Narrationen eingeflochten werden müssen. Es wird also eine Art Korrespondenzverhältnis zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit des Erzählers in den verschiedenen Erzählungen, seien diese nun mündlich oder schriftlich, hergestellt. Neben den bereits genannten Beispielen Marek Blome und Jurek Majer gilt dieser Zusammenhang auch für die Figur des Kartenabreißers Arek Lapsi-Zatzko aus der Erzählung Die Zwölfte Insel des Erzählbands Die Milchstraße, denn er ist ganz deutlich ein Vorläufer von Antek Haack aus dem späteren Roman Kino Muza (2003). So lassen sich die Figuren sozusagen als Varianten verstehen, in denen in leicht abgewandelter Form Elemente aus der Vita des Autors wieder erscheinen bzw. verarbeitet werden. Anders als Antek, der schließlich in den Westen geht, entscheidet sich Arek jedoch dafür, in seiner Heimatstadt Bartoszyce zu bleiben und nur in den Sommerferien in einer Klebstofffabrik in der Nähe von Hamburg, wo seine Eltern bereits seit Ende der 1970er Jahre wohnen, gutes Geld zu verdienen.14 Nun gelten die Kernthesen des zugrundeliegenden Schlüsselkonzepts der narrativen Identität, das von der narrativen Psychologie in die Erzählforschung übernommen worden ist, wie sich gezeigt hat, nicht nur für Erzählakte faktualer Natur, sondern auch für das Verhältnis von Identität und fiktionalem Erzählen im Besonderen und genau damit haben wir es ja im vorliegenden Beitrag zu tun. Christian Klein hat das im Handbuch zur Erzählliteratur in folgender Weise zusammengefasst: Wenn eingangs die These diskutiert wurde, dass keine Identität ohne Erzählen denkbar ist, lässt sich dieses Bedingungsverhältnis bezogen auf Erzählliteratur womöglich auch umgekehrt betrachten: Erzählliteratur handelt in den meisten Fällen von Identitätsfragen. Dabei sind einzelne (faktuale und fiktionale) Genres besonders eng an die Identitätsproblematik gekoppelt. Erzählliteratur hat (autor- und leserbezogen) identitätsstabilisierende oder -stiftende Funktion, präsentiert vorbildhafte Identitätsmodelle und lädt zur Identifikation und Nachahmung ein, stellt misslungene Identitätssuchen dar oder problematisiert gängige Identitätsmuster und fordert zur kritischen Reflexion auf.15
14 15
Vgl. Becker: Die Milchstraße, S. 99. Klein: Erzählen und personale Identität, S. 88.
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Kritik an Schlüsselbegriffen der Interkulturalitätsforschung
Es verwundert daher nicht, wenn Becker über die Darstellung seiner Charaktere implizit zu wichtigen Konzepten der inter- bzw. transkulturellen Literatur, die sich ja auch am Paradigma der Identität orientieren, Stellung bezieht. Neben der Vorstellung eines „dritten Raums“16 (Homi K. Bhabha) ist es vor allem die einer hybriden Identität (Stuart Hall),17 welche, wie Piontek gezeigt hat, von Becker angezweifelt wird.18 Die Kritik zielt dabei auf die beiden Begriffen innewohnende Tendenz, die Logik der Binarität aufzusprengen und zu einer dritten Position jenseits davon zu gelangen.19 Anders als in diesen 16 Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 56–58. Vgl. außerdem Karen Struve: Third Space. In: Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Hg. Dirk Göttsche, Axel Dunker und Gabriele Dürbeck. Stuttgart: Metzler 2017, S. 226–228. 17 Vgl. Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. In: Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument 1994, S. 41. Vgl. außerdem das Kapitel „Alte und neue Identitäten, alte und neue Ethnizitäten“, ebd., S. 66–88. 18 Vgl. Piontek: Zwischen B und B., S. 133. 19 Ob diese Kritik berechtigt ist, wäre vielleicht ausführlicher an anderem Ort zu diskutieren. Deshalb hier nur einige kurze Bemerkungen dazu. Dass es im Roman Das Herz von Chopin kaum zu einer hybriden Vermischung kultureller Identitäten kommt, hängt sicher auch damit zusammen, dass das Spiel mit ethnischen Vorurteilen und Stereotypen, wie es hier auf humorvolle Weise in Szene gesetzt wird, sich wirkungsvoller im Rahmen scheinbar homogener, ethnisch-nationaler Identitäten, etwa Pole und Deutscher, inszenieren lässt. Hinsichtlich der Kategorie des ‚Dritten Raums‘ wäre es hingegen die Frage, wie sich dieser qualitativ von territorial separaten Arealen, die tendenziell mit Nationalstaaten oder Staatenbünden identisch sind, welche politisch und kulturell mehr oder weniger eine Einheit bilden, unterscheidet. Offensichtlich hängt das, was mit dem Tropus ‚Dritter Raum‘ zum Ausdruck gebracht wird, doch stark sowohl mit dem Erleben als auch mit dem kulturell typisierten Verhalten von ethnisch-kulturell differenten Subjekten zusammen, aus dem beim Aufeinandertreffen mit der kulturell andersartigen Mehrheitsgesellschaft so etwas wie ein ‚Dritter Raum‘ im Sinne eines Dazwischen emergiert, der von den Migranten bevölkert bzw. erlebt wird. Dass es sich dabei nicht, oder nur am Rande, um einen Raum im Sinne eines physikalischen Kontinuums handelt, dürfte klar sein. Vielmehr ist es eher eine Metapher für das zuvor benannte Szenario der Migration. Wenn es im Zusammenhang einer bestimmten Örtlichkeit, wo es zu einer synchronistischen Erfahrung des Zugleich kommt, auf die ich noch zu sprechen komme, im Text heißt, die Dachterrasse „lag für mich nicht in Bremen, sondern in Masuren. Am Dadajsee. […] Der Dadajsee befand sich in einem anderen Raum, in einer anderen Zeit“ (Becker: Das Herz von Chopin, S. 188), so deutet das auf der Ebene der Beschreibung ja durchaus auf so etwas wie ein ‚Dazwischen‘ hin. Dass es dann psychologisch als ein Zugleich von Erinnerungseindrücken und Gegenwartswahrnehmung erlebt wird, wie ich unten noch ausführen werde, spricht, meine ich, nicht unbedingt gegen eine Charakterisierung dieser Erfahrung als einer des ‚Dritten Raums‘. Denn die wird, abhängig davon, um wen es sich
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transitorischen, aus dem postkolonialen Diskurs stammenden Begriffen wird sogar, wie eingangs erwähnt, an einer „Poetik der Binarität“20 festgehalten. Am Beispiel des gleichnamigen Protagonisten aus dem Roman Das Herz von Chopin zeigt sich, dass nicht nur auf Stereotypen beharrt und mit ihnen ‒ bis zur Inversion ‒ gespielt wird.21 Ebenso wenig kommt es zu einer Vermischung oder Verschmelzung kulturell differenter Formen von Identität. Das Charakteristische an der Figur Chopin ist vielmehr, dass sie entweder raumzeitlich oder kulturell differente Erfahrungen, wie sie in der Theorie beschrieben werden, in Form eines temporären Zugleich erlebt. Chopin befindet sich, mit anderen Worten, gleichzeitig in zwei Welten und kann auf diese Weise Missstände in beiden Gesellschaften, in denen er lebt bzw. gelebt hat, aufdecken. 5
Erfahrung des Zugleich und erlebte Erinnerungsstruktur
Der besondere Ort, an dem Chopin diese Erfahrung des Zugleich macht, ist die Dachterrasse seines Hauses in der Horner Straße im Bremer Steintorviertel. Er beschreibt diesen Platz zunächst als „den unbekannten Kontinent auf dem Dach“.22 Später wird die Erfahrung des Zugleich mit folgenden Worten umschrieben: Sie [die Dachterrasse, A.S.] war der einzige Ort, an dem ich mich entspannen und meinen Job vergessen konnte. Sie lag für mich nicht in Bremen, sondern in Masuren. Am Dadajsee. […] Der Dadajsee befand sich in einem anderen Raum, in einer anderen Zeit, nicht in Polen, Masuren, im Ermland oder auf der Erde. Ohne diese Zuflucht hätte ich mein Leben in Deutschland schwer ertragen können.23 Genau solche Orte, an denen die gewöhnliche Raumzeiterfahrung aufgehoben scheint, werden von Piontek als „Interferenzräume“ und von KrauseOlejniczak als „zeit- und ortlose[…] Enklaven“ bezeichnet. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sich der Protagonist an einem bestimmten Ort befindet, dieser aber raumzeitlich durchlässig wird für das Szenario einer anderen zeitlichen Dimension. Neben der Dachterrasse gibt es im Roman noch einen weiteren Rückzugsort von der Welt, für den Gleiches gilt, nur dass in ihm nicht im Einzelnen handelt, auf einer psychologischen Ebene subjektiv durchaus verschieden ausfallen dürfen. 20 Piontek: Zwischen B und B., S. 138. 21 Vgl. ebd., S. 139. 22 Becker: Das Herz von Chopin, S. 104. 23 Ebd., S. 188.
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die Vergangenheit erinnert, sondern die Zukunft antizipiert wird. Es handelt sich um einen von Chopin so bezeichneten „Warteraum“,24 eine geheime „Kommandozentrale“25 auf einem Hügel mit Pappeln an einem von den Deutschen 1945 geschaffenen künstlichen See, wo er gemeinsam mit seinem Schulfreund Andrzej die „Welt abgeschafft hatte[]“26 und, wie es im Text heißt, „auf die Liebe [wartete]“, auf „die Briefe der Liebe“.27 Dieses Detail, das wieder aktualisiert wird, nachdem er völlig überraschend nach über zwanzigjähriger Abwesenheit eine Mail von Andrzej bekommt, stammt aus dem autobiografischen Gedächtnis Chopins und wird von ihm selber bei einem nächtlichen Aufenthalt auf der Bremer Dachterrasse erinnert. Dieser Umstand legt es nahe, diese Episoden des Romans im Sinne einer erlebten Erinnerungsstruktur zu deuten. Bei dieser Form von Erinnerung ist kein differenter Inhalt als Vergleich zu einer gegenwärtigen Wahrnehmung vorhanden; allgemeiner gesagt, ‚etwas erinnert mich an etwas anderes, z.B. diese Vase in einem Schaufenster der Stadt B. erinnert mich an eine Kanope aus dem archäologischen Museum von Thessaloniki‘. Vielmehr handelt es sich um eine ganzheitliche Empfindung, bei der gegenwärtige Wahrnehmung und erinnerte Szenerie, ähnlich wie bei einem Déjà-vu, zugleich erlebt werden und dadurch eine neue Qualität bekommen. 6
Erlebte Erinnerung und Synchronizität nach C.G. Jung
Dass es sich dabei, in Anlehnung an C.G. Jung, zudem um ein synchronistisches Phänomen handelt, ergibt sich meines Erachtens daraus, dass dieses Erleben mit dem Gefühl einer atmosphärisch dichten Bedeutsamkeit einhergeht. Es spielt dabei also das Gefühl einer Bedeutung, die sich kausal nicht völlig ergründen lässt, eine wichtige Rolle. Was damit gemeint ist, schildert Jung am Beispiel des Skarabäustraums, den eine junge Patientin ihm während der Behandlung erzählt hat.28 In dem Moment, als die Patientin davon berichtet, wie ihr im Traum ein goldener Skarabäus geschenkt wird, der bei den 24 25 26 27 28
Ebd., S. 278. Ebd. Ebd., S. 280. Ebd., S. 279. Zum Skarabäustraum vgl. C.G. Jung: Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge. In: Ders.: Synchronizität, Akausalität und Okkultismus. 3. Aufl. München: dtv 1994, S. 9–97, S. 26. Vergleichbare Koinzidenzen finden sich auch bei Paul Kammerer, auf den Jung sich in seinem Aufsatz über Synchronizität bezieht. Bei ihm bilden die koinzidierenden Mikroereignisse sogar richtige Serien, die etwa über identische Zahlenfolgen auf Eintrittskarten oder Fahrscheinen verknüpft sind. Kammerer spricht deshalb auch vom „Gesetz der Serie“. Vgl. ebd., S. 13f.
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Altägyptern die Bedeutung ‚Auferstehung und Leben‘ hatte,29 wird Jung auf ein Geräusch in seinem Rücken aufmerksam. Als er sich herumdreht, erkennt er, dass es sich um einen Käfer handelt, der gegen das geschlossene Fenster geflogen war. Er öffnet das Fenster und es gelingt ihm, den Käfer zu fangen, der sich als Blatthornkäfer entpuppt. Interessanterweise handelt es sich um eine sinngemäße Koinzidenz zu dem Inhalt des Traums, denn der Blatthornkäfer bildet, wie Jung schreibt, „die nächste Analogie zu einem goldenen Skarabäus, welche unsere Breiten aufzubringen vermochten“.30 Analog zu Jung koinzidieren nun im Roman das Bewusstsein, sich an einem bestimmten Ort zu befinden, nämlich auf der Dachterrasse in der Horner Straße, und zudem die Erinnerung an ein Landschaftselement ‒ den Dadajsee in Masuren ‒ aus Chopins Kindheit und Jugend, was wiederum indirekt mit den Daten aus der Biografie des Autors zusammenfällt. Die scheinbar objektiven Konstanten Raum und Zeit erweisen sich dabei im psychischen Erleben des Protagonisten als relativ, sogar beinah als austauschbar. Nun ist es zwar objektiv gesehen unmöglich, dass sich eine Person zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Schauplätzen befinden kann, doch die Wahrheit des Subjekts, mithin des erzählten Subjekts, ist, wie wir aus der Erzählforschung und der Psychologie wissen, eine andere. Für das Subjekt kommt es darauf an, wie es etwas wahrnimmt, fühlt oder interpretiert, sei es eine Lokalität, ein Bild oder ein anderes Subjekt. So kommt es, dass im Film, z.B. in Next (USA 2007) mit Nicolas Cage, oder in der Literatur, wie am Beispiel der Erzähltexte von Artur Becker deutlich wird, genau das möglich ist, was objektiv nicht geht: die Verdoppelung, ja Vervielfachung einer Person durch Duplikation des Abbildes oder, anders gesagt, die gleichzeitige Anwesenheit an zwei räumlich getrennten Orten, wie sie vom Subjekt während einer traumhaften Absence erlebt wird. 7
Migrationsgeschichte von Protagonist und Autor im Vergleich
Vergleicht man Beckers frühe Erzähltexte, sowohl die Erzählungen aus dem Band Die Milchstraße als auch die beiden Romane Der Dadajsee und Kino Muza, mit Chopins Geschichte, so fällt auf, dass der Lebensmittelpunkt der Hauptfigur, von dem her erzählt wird, sich nun im Westen befindet, in der Stadt Bremen, die auch für den Autor nach seiner Ausreise aus Polen zu einem 29 Vgl. Wikipedia, Artikel Skarabäus (https://de.wikipedia.org/wiki/Skarab%C3%A4us, zuletzt geprüft am 13.5.2019). 30 Jung: Synchronizität, S. 26.
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der ersten Anlaufpunkte in der BRD wird. Chopin ist also nicht mehr polnischer Gastarbeiter, der regelmäßig aus ökonomischen, erotischen oder familiären Gründen in seine Heimat zurückkehrt. Vielmehr ist er dauerhaft in der Bundesrepublik angekommen. Nach seiner turbulenten Ausreise im Jahr 1983 holt er in Bremen das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nach und beginnt dann ein Kriminalistik-Studium an der Hochschule in der Bremer Neustadt, das er jedoch Mitte der 1990er Jahre abbricht, um als Kompagnon in das lukrative Geschäft mit Gebrauchtwagen einzusteigen. Im Alltag meidet er den Kontakt zu polnischen Landsleuten, die er „in die Rolle des leidenden Immigranten und Klugscheißers“31 verdammt sieht. Sowohl seine Geschäftspartner Lukas und Volley als auch seine Geliebte Maria Magdalena, eine studierte Sozialpädagogin, die als Kindergärtnerin arbeitet, sind Deutsche. Sieht man sich an, was den Autor und die Hauptfigur Chopin verbindet, so findet man nicht nur Übereinstimmungen im Lebenslauf.32 Davon abgesehen, dass Becker zwei Jahre später als sein Held in die BRD ausreist, dass er Ende der 1980er Jahre sein Abitur in Verden/Aller nachholt und dann bis 1997 an der Bremer Universität, und dort nicht Kriminalistik, sondern Kulturgeschichte Osteuropas und Germanistik studiert, verrät die intime Kenntnis des Bremer Nachtlebens der 1980er Jahre eine weitgehende Vertrautheit mit den lokalen Verhältnissen. Diese erschöpft sich nicht in der städtischen Topografie, sondern erfasst auch die Mentalität der Stadtbewohner, die stellvertretend in den Charakterdarstellungen von Lukas und Volley, der Familie Sobotta mit Maria Magdalena sowie den zumeist ausländischen Kunden der Gebrauchtwagenhandlung zum Ausdruck kommt. Das wiederum spricht für eine weitgehende Integration des Autors in die Verhältnisse des Ziellandes. Wenn überdies Beckers Lebenspartnerin auch im wirklichen Leben Magdalena heißt und von Beruf Diplombehindertenpädagogin33 ist, kann man darin ein weiteres pikantes Detail erkennen, das die enge Wechselbeziehung zwischen literarischem Text und Autorvita zu bestätigen scheint.34 Dass dies nicht wie im Fall von Maxim Billers Esra (2003) oder auch Alban Nikolai Herbsts Roman 31 Becker: Das Herz von Chopin, S. 31. 32 Zu den biografischen Details von Artur Becker vgl. den Eintrag im Munzinger Archiv (https://www.munzinger.de/search/document?index=mol-00&id=00000026370& type=text/html&query.key=QBMQtpy9&template=/publikationen/personen/document .jsp&preview=, zuletzt geprüft am 13.5.2019). 33 Vgl. Munzinger Archiv (https://munzinger.stabi-hb.de/search/document?index=mol-00 &id=00000026370&type=text/html&query.key=pT51pMMB&template=/publikationen/ personen/document.jsp&preview=, zuletzt geprüft am 1.3.2019). 34 Auch in den folgenden Gedichten erscheint der Name Magdalena, teils in Form einer Preisung der erotischen Zuneigung des Autors zur geliebten Person. Artur Becker: Wir haben uns geliebt. In: Stint. Zeitschrift für Literatur 9, H. 18 (1995), S. 39; ders.: Schwarzer
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Meere (2003), wo sich jeweils die ehemalige Lebensgefährtin der Autoren von einer Figur im literarischen Text gemeint fühlte, zu juristischen Konsequenzen geführt hat,35 spricht für eine nicht konflikthafte Kopplung zwischen dem literarischen Text und bestimmten Umständen der Realität, die man als Kontext dazu lesen kann. 8
Autofiktionale Lesart
Dies alles zusammen führt dazu, dass man den Roman Das Herz von Chopin in vielen Hinsichten als Autofiktion verstehen kann. Dass dieser Ansatz bisher in der Forschung ausgeblieben ist, liegt meines Erachtens vor allem daran, dass die Kritik den Text aufgrund der erzählerischen Perspektive und der Tonlage, die ja von Situationskomik und slapstickhaften Elementen bis hin zu grotesken Über- und Untertreibungen voll ist, als Schelmenroman gelesen hat.36 Zudem wurde die Wahrnehmung der genannten Interdependenzen weitgehend auf die mit der Migrationssituation zusammenhängende Identitätsproblematik des Autors zurückgeführt, der das Leben in der neuen Heimat aus der Perspektive des benachteiligten, um gesellschaftliche Anerkennung kämpfenden Neuankömmlings schildert und weniger mit der für die Autofiktion typischen Kombination von fiktionalem und autobiografischem Pakt in Zusammenhang gebracht.37 Die Lesart der Autofiktion hat nun den Vorteil, dass sie die Entscheidung, wie der Text respektive bestimmte Episoden des Textes zu verstehen sind, in weiten Teilen dem Leser überlässt. Es werden ihm gleichzeitig ein fiktionaler und ein autobiografischer Pakt angeboten, wobei er auch spielerisch zwischen beiden Positionen hin- und herwechseln kann. Erleichtert wird ihm dieses Spiel sicher durch die humorvolle Art des Erzählers, die eine messerscharfe Entscheidung, ob nun bestimmte Elemente des Textes eine Entsprechung in der außertextuellen Realität haben, selbst in den Strudel der Komik hineinzuziehen scheint. Hinzu kommt, dass in dieser Lesart der Held Chopin identitätstheoretisch zu einer Art Variante des realen Autors im literarischen Gewand mutiert. Hier nun tun sich für den Literaturwissenschaftler jedoch weitere Fallstricke Fluss Magdalena. In: Stint. Zeitschrift für Literatur 5, H. 9 (1991), S. 33; ders.: Magdalena/ Der Brief an Magdalena. In: Stint. Zeitschrift für Literatur 4, H. 7 (1990), S. 85. 35 Vgl. dazu Hellmuth Karasek: Aus allen Poren. In: Der Tagesspiegel, 21.10.2003 (https:// www.tagesspiegel.de/kultur/aus-allen-poren/458254.html, zuletzt geprüft am 13.5.2019). 36 Vgl. Piontek: Zwischen B und B., S. 140. 37 Vgl. z.B. Krauze-Olejniczak: Nöte und Zäsuren, S. 164 f.
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auf, die mit der Frage nach der Referenz von fiktionalen literarischen Texten zusammenhängt. So hat sich der Mainzer Komparatist Frank Zipfel mit diesem Problem auseinandergesetzt und kommt über die Untersuchung von realen Entitäten in fiktiven Geschichten mit Gottfried Gabriel zu der Einsicht, dass der Anspruch auf Referenzialisierbarkeit für fiktionales Sprechen überhaupt aufgegeben werden müsse.38 Vielmehr lasse sich fiktionales Sprechen in Anlehnung an Gregory Currie besser als besondere Art von Sprechakt, nämlich als intentionale Sprachhandlung verstehen, mit der ein Autor die Absicht verfolgt, dass der Leser seinen Text aufgrund bestimmter Fiktionssignale in der Haltung des make believe rezipiert.39 9
Engführung von Erzähltheorie, Identitäts- und Erinnerungsdiskurs
Wie lässt sich nun aber sowohl dieses Resultat, als auch die Uneindeutigkeit generischer Zugehörigkeit sowie die mehr gefühlte als streng beweisbare Identität des Autors mit der Figur im Fall der Autofiktion damit in Einklang bringen, dass der literarische Text für AutorInnen der interkulturellen Literatur ein wichtiges Medium der Konsolidierung ihrer Identität darstellen soll? Wäre die Erzeugung von Identität als reales sozialpsychologisches Phänomen damit nicht gebunden an ein So-tun-als-ob und einen Verzicht auf eindeutiges Sprechen? Die Beantwortung dieser Frage ist sicher ganz davon abhängig, wie man Identität im Kontext der Produktion literarischer Texte des genannten Genres verstehen will. Ich möchte im Folgenden versuchen, über die Engführung zwischen dem scheinbaren Schwinden der Differenz von Fakt und Fiktion in der Autofiktion und dem Problem der Veridikalität von Erinnerung, das in vielen Kontexten, man denke etwa an den Fall Wilkomirski,40 seit Ende der 1990er Jahre eine wichtige Rolle gespielt hat, einer Antwort näherzukommen. Im Zentrum dieser Debatte, die in der narrativen Psychologie ihren Ur sprung hat, stand immer die Überzeugung, dass nicht nur Erinnerungen weitgehend auf narrativen Konstruktionen beruhen und damit anfällig sind für Täuschungen, false memories, Déjà-vus usw., sondern darüber hinaus auch die
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Vgl. Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt 2001, S. 195–203. 39 Vgl. ebd., S. 227f. 40 Zum Thema fingierter Erinnerungen in der gefälschten Autobiografie von Binjamin Wilkomirski vgl. Nadine Jessika Schmidt: Konstruktionen literarischer Authentizität in autobiographischen Erzähltexten. Göttingen: V & R unipress 2014, S. 196–201.
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personale Identität der Subjekte nichts anderes als eine narrative Konstruktion sei.41 Halten wir weiterhin fest, dass es aufgrund der Konstruktivität des autobiografischen Gedächtnisses streng genommen auch keine starre Referenzialisierbarkeit von Gedächtnisinhalten und vergangenen Ereignissen mehr gibt. Vielmehr werden Erinnerungen bei jeder Aktualisierung umgeschrieben und in neue Kontexte eingebettet.42 Dieser Prozess bildet nun auch das Modell für das, was ich am Beispiel von Wolfgang Hilbigs Erzählwerk als erlebte Erinnerungsstruktur bezeichnet habe. Es handelt sich dabei um Wiederholungen bzw. Variationen eines bereits einmal erzählten Geschehens, die sich eben analog zur Umschrift von Gedächtnisinhalten im Erinnerungsvorgang verstehen lassen.43 In Bezug auf Beckers Roman ist dies allerdings weniger ein Nacheinander als vielmehr, wie erläutert, ein Zugleich. Es findet dabei genau genommen auch keine Umschrift statt, sondern eine Art Delokalisation des Bewusstseins. So versteht sich, denke ich, die Rede von dem „unbekannten Kontinent auf dem Dach“, der sich „in einem anderen Raum, in einer anderen Zeit“44 befindet, analog zu einer tranceähnlichen, vielleicht sogar technisch vermittelten, medialen Übertragung, bei der Inhalte aus einer raumzeitlich entfernten Umgebung in die Gegenwart des Protagonisten übertragen werden. Dass diese Inhalte aus dem Gedächtnis des Erzählers respektive des Autors stammen, liegt, so meine ich, nahe, denn schließlich handelt es sich um wichtige topografische Topoi aus der Kindheit und Jugend von Artur Becker. Und dies gilt sicher nicht nur für die synchronistischen Erlebnisse und Träume auf der Dachterrasse,45 sondern weitgehend auch für das Geflecht der Beziehungen zwischen den Figuren und den topografischen Gegebenheiten des Ermlands, wie sie in den genannten Erzähltexten Beckers dargestellt sind.
41 Vgl. Donald E. Polkinghorne: Narrative Psychologie und Geschichtsbewußtsein. Beziehungen und Perspektiven In: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Erinnerung, Geschichte, Identität I. Hg. Jürgen Straub. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 12–45. 42 Vgl. Michael Lommel: Im Wartesaal der Möglichkeiten. Lebensvarianten in der Postmoderne. Köln: von Halem 2011, S. 13. Lommel weist zudem darauf hin, dass diese ältere Einsicht aus der psychologischen Gedächtnisforschung, siehe Freuds Begriff der Umschrift, durch aktuelle Erkenntnisse aus der neurowissenschaftlichen Hirnforschung bestätigt werden (vgl. ebd., S. 14, hier Anm. 3). 43 Vgl. Steiner: Das narrative Selbst, S. 16, 113, 171, 182, 189 und passim. 44 Becker: Das Herz von Chopin, S. 188. 45 Vgl. etwa den Traum, der Chopin an den Dadajsee versetzt, wo er von Maria Magdalena auf einer chinesischen Dschunke zu einer kleinen Insel mit riesigen Erdbeerfeldern gefahren wird (Becker: Das Herz von Chopin, S. 96f.).
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Virtuelle Biografien und aspirierte Identität
Wenn es sich bei den genannten Beispielen nicht um eine Referenzialisierbarkeit des literarischen Textes im strengen Sinn handelt, wie sie etwa für klassische Formen der Autobiografie maßgeblich ist, so korrespondiert das mit neueren Überlegungen zum Identitätsbegriff. Michael Lommel etwa versteht literarische Entwürfe und Filmplots, in denen das aufgrund von Entscheidungen und Zufällen im wirklichen Leben nicht Realisierte zur Sprache kommt, im Sinne von „Lebensvarianten“.46 Damit, so schreibt er, „sind keine Identitätswechsel und keine Seelenwanderungen gemeint, sondern Erweiterungen oder Vervielfachungen der Identität mit den Mitteln der Einbildungskraft.“47 Ganz ähnlich argumentiert Jürgen Straub, wenn er sozialpsychologisch auf ein dem Begriff innewohnendes Potenzial hinweist: „Identität meint aspirierte, angestrebte, imaginierte Identität und als solche trägt sie zur Konstitution des Handlungspotentials einer Person bei und motiviert sie zu bestimmten Verhaltensweisen.“48 In beiden Definitionen geht es also nicht um das faktisch bereits Realisierte im Leben einer Person, sondern um bisher nicht eingeholte bzw. nicht mehr einholbare Entwürfe, die in Form der Imagination unser Leben begleiten. Anhand dieser beiden Paradigmen lassen sich nun auch die Abweichungen zwischen der Vita des Autors, soweit diese dokumentiert ist, und der im literarischen Text erscheinenden Biografie des Protagonisten verstehen. Wenn Lommel von „virtuellen Biografien“49 spricht, die sich im Medium der künstlerischen Fantasie realisieren, so können sowohl Chopins als auch Antek Haacks abweichende berufliche Lebensläufe in diesem Sinn interpretiert werden. Während der eine als Student der Kriminalistik, Autohändler und Antiquitätenhändler in spe reüssiert, der andere als Angestellter in einem Kino namens Muza arbeitet, beginnt der Autor nach Abschluss seines Literaturstudiums an der Bremer Universität seit Anfang der 1990er Jahre in der Bremer Literaturzeitschrift Stint eigene literarische Texte, neben Lyrik auch Erzählungen, zu veröffentlichen. Darunter finden sich zwei Geschichten, die später als eigene Kapitel im Roman Der Dadajsee erscheinen.50 Damit beginnt nun die 46 Lommel: Im Wartesaal der Möglichkeiten, S. 10. 47 Ebd., S. 14. 48 Jürgen Straub: Identität. In: Handbuch der Kulturwissenschaften ‒ Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Hg. Burkhard Liebsch. Stuttgart: Metzler 2004, Bd. 1, S. 277–303, S. 280. 49 Lommel: Im Wartesaal der Möglichkeiten, S. 10. 50 Die erste Geschichte trägt den Titel Jurek. Sie steht als gleichnamiges Kapitel ganz am Anfang von Beckers erstem Roman Der Dadajsee (Artur Becker: Jurek. In: Stint. Zeitschrift für Literatur 9, H. 17 (1994), S. 60–96). Ebenso erscheinen die ersten Abschnitte
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Erfolgsgeschichte des Musik- und Filmliebhabers Artur Becker, der als Autor sein eigenes Leben in Form von abweichenden Varianten respektive virtuellen Biografien fortschreiben wird. 11
Substanzielle vs. narrative Identität
Es zeigt sich nunmehr, dass die mit den Begriffen der erlebten Erinnerungsstruktur, der Lebensvarianten sowie der aspirierten Identität umrissene Poetik mit einer stark veränderten Auffassung von personaler Identität zusammenhängt. Die vormoderne Vorstellung von Identität als Substanz bzw. Essenz, d.h. als innerer Kern einer Person bzw. eines Individuums, verschwindet zuguns ten eines Phänomens, das an mediale Formen wie dem literarischen und filmischen Erzählen im Sinne einer narrativen Identität gebunden ist. Dies ist sicher einmal mit der in alle gesellschaftlichen Bereiche vorgedrungenen Mediatisierung erklärbar. Zum anderen ist es auch abhängig von den im großen Maßstab veränderten politischen und wirtschaftlichen Bedingungen, die im öffentlichen Diskurs als Globalisierung begriffen werden. Nationalstaaten und -sprachen fransen an den Rändern aus. Die zwischen ihren Territorien wechselnden Individuen gehen neue Verbindungen ein und überschreiten dabei zuvor noch für unüberwindlich gehaltene Grenzen.51 12
Auswirkungen auf die Poetiken Artur Beckers und Wolfgang Hilbigs ‒ Ein Fazit
Es mutet daher kaum zufällig an, wenn etwa Piontek von einer Logik der Binarität als „poetologische[m] Organisationsprinzip“ und „Kodiermodus für die Identität der Protagonisten“ in den Romanen Das Herz von Chopin sowie Wodka und Messer spricht.52 Die damit benannten semantischen Verdoppelungen des Kapitels Onkel Herbert zunächst als Prosaerzählung Der Dadajsee im Stint (vgl. Artur Becker: Der Dadajsee. In: Stint. Zeitschrift für Literatur 11, H. 21 (1997), S. 7–29). 51 Parallel dazu hat sich mit zunehmender Digitalisierung der Gesellschaft in der Selbstwahrnehmung der Subjekte eine Art von Disruption ereignet. Damit einher gehen Phänomene wie Verlust von Weltvertrauen, Zunahme des Denkens in Möglichkeiten sowie von Trial-and-Error-Verfahren als heuristischer Methode der Problemlösung. Diese Erscheinungen machen ebenso wenig wie das Internet und die sich in ihm bewegenden virtuellen Identitäten vor staatlichen Grenzen halt. Vgl. dazu Jaron Lanier: Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Bischoff. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 198–204. 52 Vgl. Piontek: Zwischen B und B., S. 137f.
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wie Chopins Dachterrasse und der Dadajsee in Masuren, seine Heimatstadt B. (= Bartoczyce) und Bremen sowie seine Jugendliebe Jolka und die Bremer Geliebte Maria Magdalena können dabei sogar, wie Krause-Olejniczak gezeigt hat, konkrete Reihen bilden, deren Elemente mitunter durch Alliterationen verbunden sind.53 Wie ausgeführt, lassen sich diese Verdoppelungen auch im Sinne einer erlebten Erinnerungsstruktur deuten. Vor diesem Hintergrund scheinen die Koinzidenzen im Bewusstsein des Erzählers den paralogischen Serien koinzidierender Mikroereignisse ‒ identische Zahlenfolgen auf Eintrittskarten und Fahrscheinen ‒ bei Paul Kammerer analog zu sein. Hier wie dort findet man das gleiche Phänomen identischer bzw. ähnlicher Zeichen(-ketten) und ihrer Konnotate in verschiedenen Ereigniskontexten, nur dass die Bedeutung der Reihen im Fall der paralogischen Serien wesentlich rätselhafter zu sein scheint als in den genannten literarischen Texten. Legt man als Paradigma dieser Spiegelungen die digitale Mediatisierung zugrunde, könnte man auch von einer Logik der Simultaneität sprechen, die darin zum Ausdruck kommt. Schließlich ist, technisch gesehen, in der digitalen Wirklichkeit so etwas wie Gleichzeitigkeit im globalen Maßstab Realität geworden, auch wenn das subjektive Bewusstsein gegenüber diesen medial gegebenen Möglichkeiten zurückbleibt und in Erinnerungsvorgängen ‒ siehe Chopin ‒ retardiert. So arbeitet Chopin zwar schon mit einem Laptop und besitzt auch ein Handy, doch die in Frage stehende Erlebnisstruktur steht ‒ jedenfalls im Text ‒ nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Nutzung dieser digitalen Medien, sondern erscheint als Bewusstseins- bzw. Gedächtnis phänomen. Daher habe ich den Begriff des Simultanen vermieden und spreche stattdessen von Synchronizität.54 Zugestanden werden muss jedoch, dies sei noch einmal betont, dass der in den Erzähltexten von Wolfgang Hilbig, so etwa im Roman Eine Übertragung, enthaltene Modus erlebter Erinnerung in Form der Reinterpretation von bereits einmal erzählten Episoden,55 eher eine zyklische Struktur besitzt und damit nicht so offensichtlich wie bei Becker dem Gleichzeitigkeitsparadigma folgt. Zwar muss man sich das Erlebnis auf der Dachterrasse nicht als 53 Vgl. Krause-Olejniczak: Nöte und Zäsuren, S. 168f. 54 Auch Philipp Hubmann und Till Julian Huss stellen in ihrem Sammelband zur Simultaneität diese beiden Konzepte gegenüber. Sie betonen, dass Synchronizität eher mit „Homogenität und Universalismus“ eines komplexen zeitlichen Geschehens verbunden sei, während Simultaneität auf dessen „Pluralität, Heterogenität, Singularität und Fragilität abzielt“ (Philipp Hubmann und Till Julian Huss: Einleitung. Das Gleichzeitigkeitsparadigma der Moderne. In: Simultaneität. Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten. Hg. dies. Bielefeld: transcript 2013, S. 9–36, S. 27f.). 55 Vgl. Steiner: Das narrative Selbst, S. 189.
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einmaliges vorstellen. Es wiederholt sich natürlich auch, doch wird im Erzählen auf den Charakter der Wiederholung nicht weiter eingegangen. Noch etwas kommt hinzu: Die politischen Verhältnisse, die in den Texten vergegenwärtigt werden, sind weitgehend überwunden. Die Teilung Europas gehört durch die Verträge von Maastricht (1992) und Lissabon (2007), die den EU-Bürgern innerhalb der europäischen Union Freizügigkeit garantieren, der Vergangenheit an. Damit hat auch das Nicht-wieder-zurück-Können oder -Wollen, von dem ich zu Beginn als einer der Bedingungen der Werkgenese bei Hilbig und Becker gesprochen habe, seinen zwanghaften Charakter verloren. Die Zeiten der politischen Repression, der Gängelung, mit denen sowohl die Identitäten von C. in den Romanen Hilbigs als auch von Marek Blome, Antek Haack und Chopin bei Becker verbunden waren,56 sind vorbei und haben einer immer weiter um sich greifenden Liberalisierung Platz gemacht. Dies wiederum hat Auswirkungen darauf, wie die Menschen sich selber verstehen. Auch Artur Becker spricht in einem Interview mit Magdalena Kardach davon, dass 25 Jahre nach der demokratischen Wende in Polen die Menschen dort bereits globalisiert seien,57 dass also der Vorrang von Konsumismus und Individualismus die Identität der Menschen im ehemals kommunistischen Polen weitgehend verändert habe. Zugleich bedeutet dies, dass sich auch die privaten Biografien der beiden Autoren unter diesen veränderten Bedingungen weiterentwickelt haben, wenngleich dies, bedingt durch den frühen Tod von Wolfgang Hilbig im Jahr 2007, eher nur auf Becker zutreffen mag. So bestätigt Becker, dass die Thematisierung des politischen Wandels in seinen frühen Erzählungen bis hin zum Roman Das Herz von Chopin stattgefunden habe. Neuerdings stelle sich für ihn die Identitätsfrage neu.58 In Verlängerung seiner Definition von Migration als „universelle[r] Form zu existieren“59 fragt er im Kontext des neuen Essaybandes Kosmopolen (2016), ob er sich als „Kosmopole, Kosmodeutscher, 56 Ähnlich wie C. in Hilbigs Romanen Eine Übertragung und „Ich“ wird auch Antek Haack vom Staatssicherheitsdienst überwacht (vgl. Artur Becker: Kino Muza. Hamburg: Hoffmann und Campe 2003, S. 232–234, 330–332). 57 Vgl. 25 Jahre danach. Die Imponderabilien gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Wandlungsprozesse. Magdalena Kardach spricht mit den Schriftstellern Artur Becker und Dariusz Muszer über den demokratischen Wandel 1989 in Polen und Deutschland. In: Die ‚Wende‘ von 1989 und ihre Spuren in den Literaturen Mittelosteuropas. Hg. Alicja Krauze-Olejniczak und Sławomir Piontek. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2017, S. 237– 250, S. 249. 58 Vgl. ebd. 59 Krauze-Olejniczak: Nöte und Zensuren, S. 169.
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Kosmoeuropäer“60 verstehen solle. Rückblickend, so lässt sich abschließend feststellen, war der darin zum Ausdruck kommende Universalismus bereits in den Grenzgängerfiguren der frühen Texte mit ihrer Tendenz zur Befreiung von überkommenen, national kodierten Formen von Identität angelegt. 60
[Kardach, Becker, Muszer]: 25 Jahre danach, S. 249.
kapitel 13
Malenkaja Strana – Deutschland als Sehnsuchtsort in Lana Lux’ Kukolka Janine Ludwig 1
Inhaltlicher Abriss
Deutschland ist der utopische Fluchtpunkt des Debütromans Kukolka von Lana Lux.1 Er handelt von einem kleinen Mädchen in Dnepropetrowsk (Ostukraine), das davon träumt, ihrer einzigen Freundin Marina zu folgen, die von einem deutschen Paar adoptiert worden ist. Insofern ist Deutschland ein Sehnsuchtsort für die Protagonistin, eine imaginäre Zukunftsprojektion. Weitere Figuren des Romans äußern andere Vorstellungen von diesem Land oder haben andere Erfahrungen, sodass sich ein vielschichtiges Deutschlandbild ergibt, welches in diesem Aufsatz in kulturwissenschaftlicher Hinsicht vorgestellt werden soll. Damit zielt diese Erörterung auf eine unterliegende ‚Grundströmung‘ des Buches ab, das auf der Oberflächenebene die Entstehung und Funktionsweise von Zwangsprostitution herausarbeitet. Zuvor wird ein kurzer Abriss der Handlung gegeben, die dem Leser des Buches offensiv, brachial realistisch, in konkreter, parataktischer Sprache mit hohen Dialoganteilen präsentiert wird. Das Mädchen Samira flieht 1995 mit sieben Jahren aus dem Kinderheim und wird am Bahnhof von dem nach Schweiß und Zigaretten stinkenden, Alfa Romeo fahrenden Rocky aufgegabelt, der in einem heruntergekommenen Haus eine Kinderbande beherbergt, die er zum Betteln, Stehlen und Straßensingen anhält: Ein blinder Akkordeonspieler namens Ilja, zwei Jungs, die meist nur die Zwillinge genannt werden, die verschlossene, suizidale Dascha und die lebensfrohe Lydia, 15, so etwas wie die Herrin des Hauses und Geliebte von Rocky, sowie der gleichaltrige, hoffnungslos in sie verliebte Sergej. Samira erhält vom Bandenchef den Kosenamen „Kukolka“, „Püppchen“, und verbringt dort fünf Jahre in dem Glauben, er spare für sie Geld an, damit sie nach Deutschland reisen könne. Rocky ist parthenophil, d.h. er bevorzugt Mädchen, die schon pubertieren, jedoch noch keine erwachsenen Frauen sind. So behandelt er 1 Lana Lux: Kukolka. Berlin: Aufbau 2017. Im Folgenden werden alle Zitate aus dem Primärtext in Klammern im Fließtext angegeben.
© Koninklijke Brill NV, Leiden, 2021 | doi:10.1163/9789004466234_015
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Samira zunächst tatsächlich liebevoll wie seine „Püppi“, doch sobald sie ca. elf Jahre alt ist, lässt er sich von ihr „massieren“ bzw. masturbieren und nimmt sie als Animiermädchen mit zu zwielichtigen Herrenrunden. War er stets eine schillernde Figur zwischen väterlicher Fürsorge und Ausbeutung, zwischen Freundlichkeit und Brutalität, zwischen Großzügigkeit und Jämmerlichkeit, so verschiebt sich seine Rolle für Kukolka zunehmend zum Negativen. Zugleich zerfällt die Hausgemeinschaft: Die Zwillinge werden drogenabhängig; die anderen beiden Mädchen sterben: Dascha bei einem missglückten Diebstahl, Lydia an einer verpfuschten Abtreibung. Für die nunmehr zwölfjährige Samira geht die Phase einer beinahe harmonischen Scheinfamilie zu Ende, zumal sie nun von Rocky erfährt, dass sie es niemals nach Deutschland schaffen wird, allein schon, weil sie keinen Pass hat. Damit beginnt der zweite Teil des Buches, in welchem – am Frauentag, 8. März 2000 – als Retter ein blendender junger Mann namens Dima erscheint, der sie aus Rockys Haus befreit und zu sich in eine saubere, ordentliche Wohnung nimmt. Mit ihm erlebt sie ihren 13. Geburtstag, den ersten Sex und die erste große Liebe. Samira wähnt sich am Ziel all ihrer Träume, als er ihr gefälschte Papiere besorgt, um sie nach Deutschland mitzunehmen. Doch dem Leser ist längst klar, dass dieses Märchen kein Happy End haben wird. Kukolkas Ankunft in Berlin eröffnet den dritten Teil des Buches.2 Statt im Wunderland landet sie eingesperrt in Dimas Wohnung, erst auf Taschendiebstahltouren mitgenommen, bald an Freier verliehen, auf Drogen gesetzt und nach zwei Jahren und einem Tötungsdelikt schließlich, als halbes Gespenst, abgeschoben in ein Bordell, in dem sie gefangen ist und 30.000 € Schulden abarbeiten soll. Hier trifft sie dutzende Mädchen mit ganz ähnlicher Geschichte, allesamt dem Tod näher als dem Leben. Irgendwann gelingt es ihr, wegzulaufen und eine Zufallsbekanntschaft, eine Ukrainerin namens Olga, aufzusuchen, die sie zum Arzt und zur Polizei bringt und bei sich aufnimmt. 2 Ab hier wird die zeitliche Einordnung des Geschehens etwas schwierig: Laut den gefälschten Papieren mit dem Geburtsdatum 12.2.1984, die Samira kommentiert mit „Sie ist schon achtzehn“ (S. 268), müsste dies im Jahr 2002 sein, aber als Dima Samira erstmals zur Prostitution überredet, erwähnt er, dass diese in Deutschland „ab nächstes Jahr vollkommen legal ist“ (S. 299) – das Prostitutionsgesetz gilt jedoch seit dem 1.1.2002. Die Szene müsste folglich 2001 spielen; es soll jedoch Januar sein, was bedeuten würde, dass Samira schon 2000 eingereist wäre. Das wäre passend, denn sie hat Dima im Frühjahr 2000 kennengelernt, den 1.9. als Datum für ihren dreizehnten Geburtstag selbst gewählt und wäre demnach kurz darauf, noch im Spätherbst 2000, in Berlin angekommen. Nach dem Jahreswechsel in Berlin, im darauffolgenden September 2001, feiert sie ihren vierzehnten Geburtstag, am 1.9.2002 ihren fünfzehnten (S. 314). Samira müsste demnach Ende des Jahres 1987 geboren sein, denn kurz nach der Einschulung am 1.9.1995 verlässt sie das Kinderheim als Siebenjährige. Das Treffen mit Marina findet Ostern 2003 statt, noch bevor sie 16 Jahre alt geworden ist.
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Am Ende trifft sie sogar ihre Freundin Marina wieder, die sich jedoch kaum an sie erinnert. 2
Narratologisches
Die Geschichte wird von der Ich-Erzählerin Samira in subjektiver Erzählweise vorgetragen. Diese Erzählperspektive mit fester interner Fokalisierung (Genette) ist also homodiegetisch, sogar autodiegetisch – erzählendes und erzähltes bzw. erlebendes Ich fallen in der Hauptfigur zusammen.3 Dies bietet einen hohen Grad an Identifikation mit dieser Hauptfigur an, ist jedoch notwendig eine beschränkte Perspektive, auch Rollenprosa oder Figurenperspektive genannt, die nur das wiedergeben kann, was die Ich-Erzählerin wahrnimmt und versteht. Dies stellt eine Herausforderung dar, wenn es sich bei der Protagonistin um ein Kind handelt und eine doppelte, wenn sie Dinge erlebt, die den normalen Erfahrungshorizont eines Kindes übersteigen (sollten). Eine Spannungsebene ergibt sich daraus, dass der erwachsene Leser das Geschehen deutlich besser einordnen kann als das erzählende Kind, z.B. sofort versteht, mit wem es sich einlässt und wohin das führen wird. Die Protagonistin erzählt ihren Werdegang vom Alter von fünf Jahren bis etwa 15. Dies geschieht jedoch nicht als gleichzeitige Narration (‚in real time‘) oder mit einer Entwicklungsperspektive im Erzählstil, etwa, wenn sie Tagebuch geführt hätte, was ja bei einer eingangs Fünfjährigen sprachlich und praktisch nicht möglich wäre. Folgerichtig ist der Sprachstil gleichbleibend, die „spätere Narration“ im Präteritum gehalten, und durch einige proleptische Kommentare („ich hätte mir ja nicht vorstellen können, dass das einmal so werden würde“) wird bald deutlich, dass wohl das etwa 15-jährige, in Deutschland angekommene Mädchen diese Geschichte im Rückblick erzählt, jedoch noch ohne besondere Reflexionsebene. Gegen Ende des Buches, als die gerade aus dem Bordell geflohene Samira sich der Ärztin Dr. Müller anvertraut, wird deutlich, dass wohl genau hier die Erzählung stattfindet, weil sie ihren ‚Bericht‘ für die Ärztin fast exakt mit den Eingangsworten des Romans beginnt: „An den Anfang erinnere ich mich nicht. Ich erinnere mich erst, als ich so ungefähr fünf war. Es war 1993. Ich habe das Gefühl, in meiner Kindheit war nur Winter …“ 3 Matías Martínez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 8. Aufl. München: C.H. Beck 2009, S. 81; Fotis Jannidis, Uwe Spörl und Katrin Dennerlein: Erzähltextanalyse. In: LiGo – Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe online (2005) (http://www.li-go.de/defini tionsansicht/prosa/erzaehltextanalyse.html, zuletzt aktualisiert am 8.9.2005, zuletzt geprüft am 10.3.2019).
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(S. 342, vgl. S. 9; erzählte Zeit: zehn Jahre, Erzählzeit: eine Nacht). Somit sind die letzten 33 Seiten, die Eingewöhnung bei Olga und schlussendlich das Wiedersehen mit Marina, eine nachträgliche Ergänzung der Hauptgeschichte, die sich dementsprechend vom Sprachstil und der Reflexionsebene ein wenig von dieser unterscheidet, wenn auch nicht grundlegend. Obwohl grundsätzlich die Erzählhaltung und Sprache einer Teenagerin überzeugend eingenommen werden, wird diese schwierige narrative Konstruktion bisweilen an die Grenzen der Belastbarkeit getrieben. Dies ist strukturell unvermeidlich, wenn eine Fünfzehnjährige Erlebnisse einer Fünf-, Sieben- oder Zwölfjährigen mit dem jeweils entsprechenden Erfahrungshorizont schildert, den die Erzählerin selbst jedoch längst überwunden hat – beispielsweise wenn sie Rocky zum ersten Mal masturbiert und kaum versteht, was sie da tut, während die Fünfzehnjährige, die schon zwei Jahre Zwangspros titution erleben musste, dies sehr wohl weiß. Die Autorin versucht also hier etwas, das die moderne Erzähltheorie als problematisch oder gar unmöglich erkannt hat, nämlich Erzählperspektive und Figurenperspektive der Protagonistin autodiegetisch verschmelzen zu lassen. Denn ist der ‚fiktive Erzähler‘, selbst wenn er ein impliziter ist, „jene Instanz, die in der fiktiven dargestellten Welt als Urheber der Erzählung auftritt“,4 dann kann er eigentlich nicht mit einer Figur verschmelzen; vielmehr muss man statt Verschmelzung von einer „Doppelung“ oder „Subjektaufspaltung“ der erzählenden und erlebenden Hauptfigur sprechen.5 Dies gilt umso mehr, wenn ein Protagonist seine eigene Geschichte rückblickend erzählt (zumal, wenn dieser Erzählmoment im Roman markiert ist), denn dann liegen zwischen seiner Erzählposition und dem Erlebten Zeit, Erfahrung und eine herausgebildete Haltung. Diesem Problem, das besonders stark auftritt, wenn die erzählte Zeit größere Zeiträume umfasst, und das auch noch in einem Alter, in dem viel Entwicklung steckt, lässt sich sonst eigentlich nur auf zwei Weisen begegnen, indem man entweder konsequent „gleichzeitige Narration“ betreibt (was im Präsens leichter wäre und einer frei schwebenden, nicht verortbaren Erzählstimme bedürfte) und idealerweise die Entwicklung des Charakters erzähltechnisch mitvollzieht (was hier nicht möglich war) oder konsequent die Rückblicks-Position, mithin die Differenz zwischen erlebender und erzählender Protagonistin, ausweist. Lana Lux hat eine dritte Variante versucht und beschreibt ihre Entscheidung hinsichtlich 4 Wolf Schmid: Erzähltextanalyse. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Band 2: Methoden und Theorien. Hg. Thomas Anz. Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. 98–120. S. 109. 5 Natalia Igl: Erzähler und Erzählstimme. In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen. Hg. Martin Huber und Wolf Schmid. Berlin, Boston: de Gruyter 2018, S. 127–149, S. 141–43.
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der Erzählerposition und der Lösung des Problems dergestalt, dass die sich erinnernde und berichtende Protagonistin im Moment des Erzählens wieder in den früheren kindlichen Zustand ‚zurückfällt‘ und daher aus der jeweiligen altersgerecht beschränkten Perspektive erzählt, die sie unreflektiert durchlebt.6 Eine inkonsequent-gelegentliche Verwendung von Prolepsen macht dieses narrative Konstrukt jedoch brüchig, ebenso wie punktuelle ‚Ausbrüche‘ aus der Teenagersprache, wenn die künstlerische Erzählkraft einer erwachsenen Autorin auf einem gedanklichen Niveau durchschlägt, das ihre Heldin nicht haben kann. Bewundernswert ist jedoch, wie aus dieser beschränkten Figurenperspektive recht umfassende Beschreibungen von Wirklichkeit, auch der der anderen Figuren, generiert werden. Zunächst soll im Folgenden auf das Bild eingegangen werden, das vom Wunschland der Protagonistin gezeichnet wird. 3
Deutschlandbilder
Deutschland wird in diesem Roman im Wesentlichen aus fünf verschiedenen Perspektiven, in Ausschnitten, Teilwelten, präsentiert: 1. die Kinderperspektive Samiras 2. die Verbrecherperspektive Dimas 3. die traditionsbewusst-kritische Sicht Lionjas (Olgas Vater) 4. die ambige, zwischen beiden Kulturen stehende Haltung Olgas 5. die nur angedeutete, assimilierte Perspektive Marinas 1. Dominant ist zunächst die mythische Überhöhung Deutschlands als Sehnsuchtsort, als Heile-Welt-Fantasie der kindlichen Samira, die ihr Bild von diesem ‚gelobten Land‘ auf dünner Faktenbasis aufbaut, als das deutsche Ehepaar ins Kinderheim kommt, um ein Mädchen zu adoptieren. Die hervorstechendste Eigenschaft dieses Paares – und das wird in Samiras Vorstellungswelt fürderhin für Deutschland allgemein gelten (S. 38, 52, 77) – ist sein (unterstellter) Reichtum: „Er roch nach Seife und Minze und Parfum. Er roch reich.“ (S. 20) Außerdem sind Kleidung und Auftreten des Paares für das etwa sechsjährige Mädchen faszinierend: Die Deutschen waren ganz anders als die russischen Paare. Der Mann und die Frau sahen sich ähnlich. Sie hatten beide die gleichen Poloshirts an. Sie in hellem Grün, er in hellem Blau. Das Besondere war aber, dass 6 https://www.srf.ch/sendungen/52-beste-buecher/kukolka-von-lana-lux; zuletzt geprüft am 2.6.2019.
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beide einen Pullover über die Schultern trugen und die Ärmel vorne verknotet hatten. Ich dachte nur – Wow! Wer von denen adoptiert wird, hat es bestimmt noch besser als bei echten Eltern. (S. 18) Die Autorin Lana Lux hat in einem Workshop7 erläutert, dass diese Perspektive auf den Westen allgemein – reich, erstrebenswert, alles dort ist per se besser, klüger und schöner – in der Ukraine weit verbreitet war. Dies deckt sich mit Stimmungen in anderen Ostblockstaaten, auch der DDR, in der man mit einem gewissen Minderwertigkeitskomplex vom „Goldenen Westen“ sprach.8 Vielleicht kommt hinzu, dass ihre zukünftigen Adoptiveltern Marina bis zu ihrer Abholung ein halbes Jahr später jede Woche einen Brief und jeden Monat ein Paket schicken, sodass auch Elemente wie Zuverlässigkeit, Regelmäßigkeit, Fürsorge und Großzügigkeit das Bild des Kindes von deutschen Erwachsenen mitprägen. In erster Linie jedoch ist es der unglaubliche Inhalt der frappierend an die ‚Westpakete‘ in die DDR erinnernden Päckchen (Schokolade, flauschiger Jogginganzug, Barbiepuppe), der Marina zum beneideten Star des Heimes macht und das Deutschlandbild Samiras als ein Land des Luxus und Überflusses formt. Durch die Verbindung mit der emotional besetzten Vorstellung des Adoptiert-Werdens, des Aus-dem-Heim-geholt-Werdens, des Mit-Marina-Zusammenseins, mithin der Hoffnung auf Familie, Geborgenheit und Stabilität erhält das mythische Deutschland im Kinderkopf Samiras eine messianische Überhöhung, wird zur Projektion einer Erlösung. Als Marina einen Brief an Samira schickt, in welchem sie die Tatsache, dass die Eltern ein Gästebett angeschafft haben, „falls mal eine Freundin bei ihr schlafen wolle“ (S. 24), dahingehend interpretiert, dass sie ihre Freundin ebenfalls nachholen würden, ist die fixe Idee in Samiras Kopf geboren. Das ist natürlich eine Fehlinterpretation, eine Missdeutung kultureller Codes und Gebräuche, die sich gegen Ende nochmals wiederholen wird, als Samira, die Marina nach acht Jahren aufsucht, fest davon ausgeht, dass ihr angeboten werden 7 Der Workshop war Teil der Durden Dickinson Literary Series at Bremen #3 – Lana Lux, Kukolka, gehalten mit Studierenden des Dickinson College und der Universität Bremen am 9.11.2017, organisiert und geleitet von Janine Ludwig, im Rahmen der Konferenz Migrationsvordergrund – Provinzhintergrund. Deutschsprachige (Welt-)Literatur aus Osteuropa. 8 Ost und West werden später symbolisiert durch Kukolkas zwei Barbiepuppen: die „echte“, glamouröse deutsche und die „billige Kopie“ aus der Ukraine, die selbst mit den schönen Kleidern der anderen sich nicht in diese verwandeln kann – in einem symbolischen Akt lässt sie die ukrainische von einem Auto überfahren und enthaupten, um sie auf Lydias Grab zurückzulassen, während die deutsche Puppe weiterhin für ihr fernes Ziel steht (S. 216– 218). Die Puppen stehen stellvertretend für die Protagonistin selbst, deren Kosename ja „Püppchen“ ist.
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wird, dort zu übernachten; stattdessen wird sie nach Smalltalk und Kaffee hinauskomplimentiert. Ansonsten weiß Samira nichts über das Land ihrer Träume, fragt sich sogar, ob es dort wohl Krokodile gebe (S. 25f.). Sie projiziert es in eine märchenhafte Fantasie, wie sie in einem – der Realität entnommenen – Popsong des sowjetisch-ukrainischen Kinderstars Natascha Koroljowa ausgemalt wird: Malenkaja Strana9 („Kleines Land“). Dieses Lied, das Mitte der 1990er Jahre speziell bei Kindern sehr populär war, handelt in simpler Märchensprache von einem idyllischen kleinen Land voller Freude, Liebe und Licht, wo ein hübscher Junge auf einem goldenen Pferd wartet. Es wird zur poetischen Kern metapher des Buches. Hinter Wäldern, hinter Bergen, ist ein kleines Land, Dort sind die Menschen voller Freude, Das Leben und die Liebe vereint. Dort liegt der Wunder-See und glitzert, Dort gibts weder Böses noch Schmerz, Dort gibts ein Schloss und darin den Phönix, Er schenkt den Menschen Licht. Das kleine Land, Das kleine Land, Wer kann mir sagen, Wer verraten, Wo ich es finden kann? Dieses Land scheint für mich unerreichbar, Doch ich gebe die Hoffnung nicht auf. Denn dort wartet ER bereits auf mich, Ein schöner Junge auf goldenem Pferd. (S. 139f.) All das war nicht notwendigerweise mit Deutschland assoziiert, sondern allgemeiner Ausdruck des Fernwehs und Wegwollens beinahe einer ganzen Gesellschaft.10 Doch scheinbar war der Song nicht nur für die Autorin leicht auf ebendieses Land applizierbar, sondern auch für andere Ukrainer, wie die Performance von und mit Tamara Semzov, die im Jahr 2000 als Siebenjährige 9 https://www.youtube.com/watch?v=M82HpCBAjpA, zuletzt geprüft am 5.2.2019. 10 Auch dies beschrieb Lux als allgemeine Stimmung, die womöglich zur Popularität dieses Songs beigetragen hat.
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in die Bundesrepublik gekommen war, am Schauspielhaus Graz belegt.11 Der märchenhafte Ton mit mythischem Vokabular – „Hinter Wäldern, hinter Bergen“, „Wunder-See“, Schloss, Phönix, Licht – markiert das besungene Land als einen Phantasieort, einen Nicht-Ort (Utopia). Samira, die mit einer außergewöhnlichen Stimme begabt ist, schmettert das Lied für sich und auch gemeinsam mit dem blinden Ilja an öffentlichen Plätzen, mit Tränen in den Augen. Da der Weg in dieses utopische Land von einem Märchenprinzen gewiesen wird, erhält es wiederum eine messianische und nunmehr auch libidinöse Konnotation; anstelle der Errettung durch Adoptiveltern tritt die Hoffnung auf Befreiung durch einen männlichen Retter auf goldenem Pferd. Dass jener genau diese Vorstellung perfide ausnutzt, um das Mädchen zu einer Gelegenheitsgeliebten und dann zur Zwangsprostituierten zu machen, desavouiert das utopische Glücksversprechen (Land und Liebe) in doppelter Hinsicht. Die erste Beschreibung Deutschlands nach der Ankunft Samiras betrifft die Wohnung in Marzahn, in der sie für ein paar Tage eingesperrt ist. Sie ist beeindruckt von dem „tollen deutschen Essen“ (S. 285), weil Wurst und Käse in feinste Scheiben geschnitten sind, von den Chips, deren Tüte sie respektvoll hinterher auswäscht und von den High-Tech-Elektrogeräten, besonders der Mikrowelle. Diese mit kulturellen Lernvorgängen und slapstickartigen Einlagen gespickte Passage ist vielleicht die einzige des Buches, die als unbeschwert lustig zu bezeichnen ist. Dann lernt sie Deutschland nur in Form ihrer Freier kennen, die anfangs von ‚normal‘ bis freakig schwanken (S. 303), später im Bordell jedoch wahre Monster sind, schlimmer als die meist russischen Freier, an die sie Dima persönlich vermittelt hatte, weil sie vor allem die Macht genießen, sie gekauft zu haben und alles mit ihr tun zu können, was ihnen beliebt – eine perverse Überspitzung des das ganze Buch durchziehenden Waren- und Konsumprinzips. Nach ihrer Befreiung werden noch ein paar kurze Eindrücke vermittelt: der Unglaube, dass man in Deutschland der Polizei vertrauen kann, die Enttäuschung, dass diese ihre Peiniger jedoch nicht verhaftet, der Respekt vor westlichen Ärzten und Krankenhäusern etc. 2. Auch für Dima, der bereits seit fünf Jahren in Deutschland lebt, ist es ein verlockendes Land, allerdings eher für Straftäter, in dem man das schnelle Geld machen kann. Er handelt mit gestohlenen Autos und ist Zuhälter. Samira übernimmt rasch seinen kriminellen Blick, wenn beide durch Berlin streifen und hemmungslos stehlen: Die Deutschen sind für sie „echte Trottel“ (S. 291), weil sie nicht auf ihre Wertsachen aufpassen und viel zu sorglos sind. Ein 11 http://www.schauspielhaus-graz.com/play-detail/malenkaya-strana-kleines-land, zuletzt geprüft am 2.6.2019.
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liberales Land, das Sicherheit und Freiheit garantiert, gepaart mit Wohlstand („dort sind die Menschen voller Freude“, S. 139), könnte eigentlich Samira als Gegenbild zu der hochkriminellen Situation, aus der sie kommt, gefallen, und sie hat auch zunächst den Impuls, „so was nicht mehr machen zu wollen“ (291). Doch letztlich ist sie zu sehr an den Überlebenskampf gewöhnt und beweist ihrem Freund ihre Fähigkeit im Taschendiebstahl. Ihre moralische Perspektive ist längst verschoben. 3. Die dritte Perspektive auf Deutschland steuert Lionja bei, ein älterer Ukrainer, der mit ihr im Bus nach Berlin fährt und dessen Tochter Olga dort lebt. Er kann mit dieser „neuen Welt“ nichts anfangen: „Ich werde mich nie einfinden bei den Deutschen. Nie. Für mich ist es zu spät. Aber für meine Tochter ist es gut.“ (S. 271) Ihm fiel es schwerer, sein Zuhause zu verlassen, als den Jüngeren: „Kiew bleibt für immer meine Heimat […]. Ich kann nicht ohne Kiew. Aber Deutschland ist eben Deutschland. Sie verstehen schon.“ (S. 270) Die Sprachbarriere und sein nicht anerkannter Abschluss haben es ihm verunmöglicht, sich zu integrieren. Zudem pflegt er sehr traditionelle Haltungen. So hat es ihn, der aus einer ethnisch relativ homogenen Gesellschaft kommt, erschüttert, dass Berlin auf eine Weise multikulturell ist, die er ablehnt: „Dreckig und laut, und da, wo sie am Anfang gewohnt hat, war alles voller Türken und Araber. Jetzt hat sie eine Wohnung in Charlottenburg. Nur arrogante Russen und reiche Deutsche dort“ (S. 271). Auch sein Frauenbild ist reichlich konservativ – seine 30-jährige Tochter Olga ist in seinen Augen keine richtige Frau, weil sie noch immer keine Kinder hat. Er lässt sie als liebender Vater zwar gewähren und toleriert ihren Lebensstil, aber ihm etwas abgewinnen kann er nicht. Weiterhin verweist er – zum zweiten Mal in diesem Buch – auf die deutsche Nazivergangenheit, die hier als kleines, aber nie verschwindendes Puzzleteil im Deutschlandbild eine Rolle spielt. Zuvor hatte schon Rocky diese Vergangenheit bemüht, als er Kukolkas Traum von Deutschland platzen ließ und ihn ihr mit einer Warnung auszureden versuchte: Ich hab vor kurzem gelesen, dass ganz viele Kinder, die nach Amerika adoptiert wurden, jetzt tot sind. Weißt du, was mit denen passiert ist? Man hat sie dort umgebracht, und ihre Organe wurden den reichen amerikanischen Kindern eingepflanzt. Verstehst du, in was für einer kranken Welt wir leben? Und wenn das sogar in Amerika passiert, zu was sind dann erst die Deutschen fähig? Diese widerlichen Nazis. (S. 196) Lionja nun spielt auf eine subtilere Weise auf die deutsche Vergangenheit an, was die Dreizehnjährige gar nicht versteht: Er lobt den (falschen) jüdischen
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Namen in ihrem Pass, Rita Shvarts, „ein Supername für Deutschland“ (S. 272). Jüdische Migranten aus der Ukraine erhielten seit 1991 als Kontingentflüchtlinge einen erleichterten Visa-Zugang, und auch sonst scheint Lionja, selbst Jude, zu vermuten, dass sie aus dieser Herkunft in Deutschland Vorteile ziehen könne, auch wenn er selbst betont: „Mir ist es im Grunde gleich. Mensch ist Mensch, auf die Seele kommt es an.“ (Ebd.) 4. Lionjas Tochter Olga Pismena wiederum steht zwischen den Kulturen: Sie schätzt die Freiheit und die sich ihr bietenden Perspektiven in Deutschland, ist in gewisser Weise „angekommen“, hat jedoch auch Vorbehalte, wenn jemand „so furchtbar deutsch“ (S. 374) ist wie die Adoptivmutter Marinas mit dem sprechenden Namen Gräulich. Die kulturelle Bruchlinie versinnbildlicht Lux anhand ästhetischer Urteile am Schluss des Buches, dem Besuch bei Marina in Witten: Olga findet die in Orangetönen gehaltene Wohnung mit Mikro fasersofabezug und Couchtisch schrecklich spießig und hätte dasselbe wohl über die Unisex-Poloshirts mit den vor der Brust geknoteten Pullovern gesagt, die das kleine Mädchen vor Jahren so beeindruckt hatten. Dem kulturellen Heterostereotyp zufolge bevorzugen ‚osteuropäische‘ und russische Frauen weiblichere Kleidung und Erscheinungsformen, mit auffälligeren Farben, Schminke und Schmuck als die Deutschen. Diese wiederum begehen – zumindest in bestimmten soziokulturellen Gruppen und Schichten – modische ‚Verbrechen‘ wie Funktionskleidung, Partnerlook, Schwarz-, Weiß-, Grautöne und Schrankwände mit Fliesentisch, so das komplementäre Stereotyp.12 Und doch offenbart sich bei Olga eine gewisse bereits vollzogene Anpassung – oder Abnabelung von der Herkunftskultur – bzw. ein Zwischenden-Kulturen-Stehen, als sie an der Tankstelle einen Blumenstrauß kaufen will und alle hässlich findet. Sie sucht einen „schlichten“ (ein eher deutsches ästhetisches Ideal) und findet nur solche, die ihr zu „verschnörkelt“ oder „kitschig“ sind (S. 371) – Begriffe, die Samira gar nicht versteht. („Kitschig“ existiert als Lehnwort im Englischen und mittlerweile auch im Russischen). Schließlich sagte sie, dass man diese Sachen einer russischen Person nicht erklären kann. Russen haben eine andere Wahrnehmung von Schönheit. Sie erkennen keinen Kitsch, denn sie halten ihn für Luxus. Wenn sie sagte, dass etwas russisch ist, dann meinte sie es nie gut. Aber ich nahm es ihr nicht übel. Denn wenn sie sagte, dass etwas deutsch war, meinte sie es genauso wenig gut. (S. 372)
12 Zur Analyse solcher Stereotypen vgl. Ruth Florack: Bekannte Fremde: Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur. Berlin: de Gruyter 2007.
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Selbstverständlich referieren all diese – lediglich auf den ersten Blick rein ästhetischen – Klischees auf dahinterliegende soziokulturelle Phänomene. So korrelieren Farbvorlieben mit Emotionalität, Verschnörkeltes oder ästhetische Unauffälligkeit mit Impulsivität oder Beherrschtheit, Überbordendes/Luxus oder Understatement mit einer Haltung zu Geld oder dem Zurschaustellen desselben, also auch mit ökonomisch-sozialen Wertvorstellungen und Einstellungen zum Wirtschaftssystem. Konkret steht die fantasielose Wohnungseinrichtung der Gräulichs für eine gewisse Empathielosigkeit oder Ignoranz, mit der die Dame des Hauses auftritt: Sie lächelt bloß ausdruckslos, ist an ihrem jungen Gast gar nicht interessiert, redet von ihren Rassekatzen, die sie aus Bulgarien adoptiert hat – was im Zusammenhang mit ihrer ukrainischen Adoptivtochter, um die es bei diesem Besuch gehen soll, mindestens pietätlos, wenn nicht schauderhaft wirkt. (S. 374) 5. Marinas Deutschlandbild ist das am wenigsten ausgeführte; es wird nur angedeutet, da auch sie als Figur buchstäblich ‚im Dunkeln‘ bleibt. Ganz zu Anfang, in ihrem ersten Brief aus Deutschland an Samira, entspricht ihr Bild von diesem Land zunächst der materialistischen, konsumreichen Vorstellung, die auch ihre zurückgelassene Freundin hat. Sie lobt ihre neuen „Eltern“, denn die kaufen ihr „ganz viele Sachen“ und „erfüllen mir wirklich jeden Wunsch“ (S. 23f.) – was offenbar für beide Seiten einen Ausdruck von emotionaler Wertschätzung darstellt. Sie schwärmt von ihrem „coolen Rucksack“ von Scout, „[d]as ist hier wichtig“ – ein Verweis auf Markenidolatrie an deutschen Schulen, an der sich seit Florian Illies’ Generation Golf nichts geändert hat. Das beeindruckende Etui mit vielen Fächern und Schlaufen, „in die alles Mögliche, ganz ordentlich, reingesteckt werden kann“ (ebd.), verweist auf eines der typischsten Klischees über Deutsche (Ordnungsliebe), die Panik der Adoptivmutter, als sie in einen Radiergummi mit Geschmack beißt, weil sie ihn für ein Bonbon hält, auf das aufkommende Phänomen der sogenannten Helikoptereltern. Die 15-jährige Marina, die uns am Schluss vorgestellt wird, erinnert sich nur dunkel an Samira und spricht wenig. Doch wir erfahren immerhin von ihrer Mutter, dass sie kein Russisch mehr kann, aber dafür „unfassbar schnell Deutsch gelernt und sich gut integriert“ hat (S. 375). Man kann vielleicht von einer Überanpassung sprechen; die Gewöhnung an den Wohlstand wird mit ihrem rundlichen Körper angedeutet. Doch dass hinter dieser Erfolgsgeschichte eine vielleicht unverarbeitete Vergangenheit steht, dafür spricht ihr Gothic-/Emo-Outfit mit viel Kajal und schwarzgefärbten Haaren (während Samira die Sechsjährige mit den leuchtend roten Haaren als strahlend, fröhlich und alle bezaubernd in Erinnerung hat). Könnte man dies allein noch als typisch adoleszenten Habitus begreifen, so weist es im Zusammenhang mit einem von ihr (technisch perfekt) gemalten düsteren Ölbild, das sie selbst im
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schwarzen Kleid mit einem Raben und einer Ratte zeigt und überhaupt nicht in den Raum passt (S. 372), deutlich in diese Richtung. 4
Migration, Integration, Assimilation
All diese Figuren repräsentieren verschiedene Modelle von Migration und Ankunft im Zielland. Dima hat die Sonderrolle eines modernen, globalisierten Kriminellen inne, der zwischen beiden Ländern pendelt und für sein Zielland nur Verachtung übrighat, es nur zur schnellen Anhäufung von Geld benutzt und das idealisierte Bild, das Samira pflegt, zur Durchsetzung seiner Interessen ausnutzt. Dies wird untermauert durch Samiras Begegnung mit seiner Exfreundin, die er verlassen hat, denn er ist „mit seiner Familie nach Deutschland gegangen und hat sich für was Besseres gehalten“ (S. 252). Lionja ist ein mittelalter Einwanderer, der sich nicht von seiner Heimat lösen und in der neuen keine Wurzeln schlagen kann, zumal ihm der Spracherwerb nicht gelingen will und die Arbeitsaufnahme erschwert wird. Seine Tochter Olga hingegen ist eine erfolgreiche Mittlerin zwischen den Kulturen, die trotz vereinzelter Vorbehalte gegen ihre neue Heimat dort schon mehr ‚angekommen‘ bzw. integriert ist, als ihr bewusst sein mag. Zum Beispiel nutzt sie die Möglichkeit, aus der traditionellen Geschlechterrolle auszubrechen und kinderloser Single zu sein, was ihr nicht nur von ihrem Vater, sondern auch von einer ukrainischen Bekannten bei einer zufälligen Begegnung vorgehalten wird (S. 363 f.). Ihr Ärger darüber zeigt, wo auch sie noch mit den Bruchlinien zwischen Herkunfts- und Ankunftskultur, mit der Loslösung von der Vergangenheit hadert. Dennoch wird ihre reflektierte, ausgewogene Position dadurch bestätigt, dass sie die wohl positivste, empathischste und hilfsbereiteste Figur ist, der Samira in der ganzen Geschichte begegnet. Marina wiederum ist das Extrembeispiel einer scheinbar vollständigen Assimilation, deren Gelingen jedoch durch das erwähnte düstere Ölbild in Frage gestellt wird. Wie Samiras Leben in diesem neuen Land verlaufen wird, ist völlig offen. Ihre Perspektive ist zwar die umfangreichste, jedoch hauptsächlich als vormigrantische, also ihre idealisierende Vorstellung von einem Wunschland bei deutlich defizitärer Kenntnis desselben. Diese Perspektive ist nicht ungewöhnlich. Der historische Vergleich mit früheren Auswanderungsphänomenen, besonders dem zum Mythos „Amerika“ im 19. Jahrhundert, weist Parallelen auf und führt zu der Frage, ob Westeuropa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen zu einem neuen Auswandermythos werden oder geworden sind. Laut analytischer Kategorien der Migrationsforschung wie Push- und Pullfaktoren entstehen Massenbewegungen meist beim Zusammentreffen der beiden
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Phänomene eines reichen oder liberalen Landes, das Zugang gewährt, und eines destabilisierten Landes, aus dem viele weg wollen oder müssen. Als ein solches erscheint hier die Ukraine. 5
Ukrainebild
Das Bild von der Ukraine wird lediglich schemenhaft gezeichnet. Die kindliche Protagonistin weiß eigentlich fast nichts über ihr eigenes Land und verlässt es, ohne es wirklich zu kennen (S. 273). Denn sie hat dort nur am Rande, außerhalb der Gesellschaft gelebt, im Kinderheim und in der Bettelbande Rockys – so wie später auch in Deutschland nur in abgesperrten Zimmern und im Bordell. Dementsprechend unterkomplex und schematisch sehen beide Gesellschaften aus dem verengten Kinderblick aus: Deutschland (zunächst) als märchenhaftes Schlaraffenland, die Ukraine als Ort des Schreckens. Dies beginnt schon mit den Schilderungen des Kinderheims mit dem irreführenden Namen „Sonnenschein“ (S. 36, 46) als kaltem, aseptischen Horrorort, der von drakonischen Erzieherinnen unter strengsten Regeln geführt wird. Es setzt sich fort in den Erfahrungen in Rockys Bruchbude, die mit der unübersehbaren Parallele zu Oliver Twist den Pauperismus der Frühindustrialisierung aufruft, von dem Kukolka jedoch insofern abweicht, als die Hauptfigur keine idealisierte, unschuldige Heldin, sondern ein sich den Verhältnissen anpassendes, abstumpfendes, zu früh erwachsenes, schuldiges Opfer ist. Dies führt zu einem zunehmenden Selbsthass der Protagonistin, die irgendwann glaubt, nicht mehr wert zu sein als eine Kakerlake, die man „wegklatscht“ (S. 199), die es nicht verdient hat, die erhoffte Erlösung zu finden (S. 221). Die rassistischen Problemstellen der ukrainischen Gesellschaft decouvrieren sich mehrfach an dem Topos „Zigeunerin“, den Samira für sich selbst und als etwas Negatives akzeptiert hat, ohne konkret zu wissen, warum und was er beinhaltet – außer dass ihre Hautfarbe dunkler ist, ihre Haare schwarz und ihre Augen leuchtend türkisgrün sind.13 Mehrere Figuren bestätigen diese Ablehnung: Marina (S. 12f.), andere Kinder (S. 15f.), die Erzieherin Elena Wladimirowna (S. 13, 25) und Dima, der ‚Zigeuner‘ als „Abschaum“ (S. 269) bezeichnet. Samira lernt, dass ‚Zigeuner‘ unerziehbare Außenseiter seien und das Klauen „im Blut“ (S. 25) hätten, was sie anhand ihrer eigenen Diebeskarriere 13
Die Autorin Lux ist zu ihrer Figur nach eigenen Angaben beim Betrachten des berühmten Bildes des afghanischen Mädchens Sharbat Gula im National Geographic 1985 inspiriert worden (https://www.srf.ch/sendungen/52-beste-buecher/kukolka-von-lana-lux; zuletzt geprüft am 2.6.2019).
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bestätigt sieht und kaum in Frage stellt. Selbst als der blinde Ilja, der nicht weiß, wie ‚Zigeuner‘ aussehen sollen, Samiras kulturelle Klischees von langen Röcken, Hüfttüchern, Armbändern und Handleserei widerlegt, bleibt sie bei dieser internalisierten Selbstzuschreibung (S. 186f.), die sie schon als Sechsjährige akzeptiert hatte (S. 20). Auch Antisemitismus in der Ukraine mit dem klassischen Stereotyp des Reichtums und der Geldgier wird thematisiert, z.B. wenn Lydia über Juden herzieht (S. 222) oder wenn Lionja Samira, in dem Glauben, sie sei Jüdin, fragt, ob ihre Eltern in der Ukraine unter dem Antisemitismus gelitten hätten (S. 272). Die teils chaotischen Zustände des postsowjetischen Raumes werden aus der eingeschränkten Figurenperspektive angedeutet: sichtbare Bettelei und Diebstahl an (U-)Bahnhöfen und Plätzen, eine misstrauisch gewordene, zersplitterte, ökonomisch diversifizierte Bevölkerung, eine anarchische Stimmung zwischen Unzufriedenheit und Aufgekratztheit, zwischen Nostalgie und Kälte oder Verunsicherung. Einige Spezifika der Ukraine, wie die schon lange bestehende Spaltung in Ost- und Westteil, die Geschichte auf der Nahtstelle zwischen Russland und Europa, werden durch die Kinderperspektive nur vage angedeutet. Samira kann z.B. nur Russisch, kein Ukrainisch sprechen (S. 273), da sie im Ostteil des Landes aufgewachsen ist.14 Das andere Spezifikum ist die Ausreisebewegung aus der Ukraine, zeitweise nach Deutschland, was durch den sogenannten Volmer-Erlass verstärkt wurde. Er trat am 8.3.2000 in Kraft (an dem Tag, an welchem Samira Dima kennenlernt) und sah eine kulantere, unbürokratischere Vergabepraxis von dreimonatigen Visa vor; der Ermessensspielraum sollte eher breit ausgenutzt werden. 2004 wurde er durch einen neuen Erlass quasi zurückgenommen, da die Missbrauchsfälle sich gehäuft hatten. Damit wurde die Ausreise nach Deutschland stark beschränkt, blieb jedoch nach Polen oder in andere Länder hoch, und ist seit 2017 nach ganz Europa dramatisch angestiegen, sodass die Ukraine weiterhin ausblutet.15 Schon seit 1991 bestand eine Einreisemöglichkeit nach Deutschland für jüdische Kontingentflüchtlinge, die im Roman ebenfalls thematisiert wird, denn Dima lebt in einer von jüdischen Auswanderern verlassenen Wohnung in Dnepropetrowsk (S. 238). Lux erwähnte in dem Workshop ein ihr persönlich bekanntes Vorkommen von professionell organisiertem Passdiebstahl, eine Methode, mit 14 Das Buch verwendet entsprechend konsequent die russische Schreibweise „Dnepropetrowsk“ und nicht die ukrainische „Dnipropetrowsk“; 2016 hat die ukrainische Regierung den Namen offiziell in „Dnipro“ geändert. 15 Vgl. http://www.bpb.de/apuz/31012/die-ukraine-im-europaeischen-migrationssytem? p=all; https://www.zois-berlin.de/publikationen/zois-spotlight-2018/ukraine-migrations stroeme-im-wandel/; zuletzt geprüft am 2.6.2019.
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der auch Samira nach Berlin gelangt. Dima bringt es auf den Punkt: „Das halbe Land ist schon ausgewandert. Oder sagen wir, jeder, der konnte.“ (S. 239) Da der gegenläufige Sehnsuchtsort Deutschland jedoch am Ende komplett desavouiert wird – denn auch in diesem reichen, glücklichen Land gibt es offenbar schlimme Männer, die einer Minderjährigen brutalste Dinge antun, sodass ihre Vaginal- und Analverletzungen notoperiert werden müssen –, gibt der Roman letztlich ein dystopisches Bild ab. Lediglich das nicht optimistische, aber doch offene Ende lässt Spielraum für die zukünftige Erfahrung des Landes – vielleicht auch irgendwann ein Kennenlernen der ‚eigentlichen‘ Ukraine … 6
Genderperspektive
Ein besonderes Gewicht in diesem Roman haben Geschlechterkonstruktionen. Die weiblichen Rollenbilder sind fast alle konservativ (außer Olgas, die diese Position gegen ihren Vater behaupten muss), sei es die Erzieherin Elena Wladimirowna, die die Mädchen abrichtet, oder die Teenagerin Lydia, die selbst in einer kriminellen Bande versucht, eine Art Familienidylle aufrechtzuerhalten, mit den ihr anerzogenen Werten, die sie an Samira weitergibt: putzen, kochen, den Mann zufriedenstellen, schön sein, Kinder bekommen. Daran hat auch die im Sozialismus propagierte Gleichberechtigung nichts geändert, in der all diese Frauenfiguren noch aufgewachsen waren und die am „Internationalen Frauentag“ noch immer landesweit zelebriert wird, jedoch mit eher klassischen Weiblichkeitsvorstellungen: „Alle Frauen machen sich an diesem Tag besonders schick“ und „ziehen dünne Strumpfhosen an, egal, wie kalt es ist, hochhackige Schuhe, egal, wie tief der Schnee liegt, und schminken sich in den buntesten Farben, egal wie grau ihr Alltag ist.“ (S. 201) Die Geschichte wartet mit fast ausschließlich schrecklichen Männerfiguren auf, von denen eine schlimmer als die andere ist, von Rocky über den hinterhältigen Dima bis hin zu den ‚Monstern‘, die Samira am Ende im Bordell missbrauchen. Als Ausnahme mögen höchstens drei Figuren gelten: der blinde Ilja (der allerdings auch aufgrund seiner Behinderung nicht die Machtposition hat, die andere Männer so konsequent ausnutzen), der Junge Sergej, der Lydia wirklich zu lieben scheint und Rocky durchschaut wie auch kritisiert, und der gutmütige Lionja, trotz seiner konservativen Ansichten. Ganz entsprechend haben außer Samira auch alle anderen weiblichen Figuren (mit Ausnahme von Olga) sexuelle Missbrauchserfahrungen: Marina malt schon als Sechsjährige „immer wieder den gleichen nackten Mann mit
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Schnurrbart und großem Pimmel, der nach oben zeigte“ (S. 17), die tieftraurige Dascha wurde als Kind missbraucht und traumatisiert und wird bei einem missglückten Diebstahl von dem Bestohlenen mit vorgehaltener Waffe zur Fellatio gezwungen, wobei sie durch absichtliches Beißen wahrscheinlich ihre Erschießung selbst provoziert (S. 131). Lydia wird von Rocky geschlagen, wenn sie nicht pariert und zur Abtreibung gezwungen, an deren Folgen sie stirbt; zwei heroinabhängige Mädchen, die Rocky als Ersatz mit nach Hause bringt, nehmen sexuell ihre Stelle ein. Dieses Übermaß an sexueller Gewalt wirkt übertrieben, beinahe auf den Schock hingeschrieben und wurde vereinzelt kritisiert.16 Dies erinnert an Olga Grjasnowas dritten Roman Gott ist nicht schüchtern, dessen brachialer, konkreter Realismus meist als engagierte Literatur gewürdigt, jedoch vereinzelt auch als manipulativ, effekthascherisch bzw. „Gewaltporno“17 kritisiert wurde, was hier nicht weitergeführt werden soll. 7
Migrationsvordergrund
Abschließend wird eine kurze Einordnung des Romans Kukolka in die mittlerweile breit gefächerte Palette der sogenannten ‚Migrationsliteratur‘ vorgenommen (ohne diesen Terminus zu problematisieren, was in diesem Band an anderer Stelle geleistet wird). Der Roman transportiert anschaulich einige Topoi, die in der Literatur von Autoren aus Ländern des ehemaligen Ostblocks häufig vorkommen: Umbruch, schmerzhafte Transformationsprozesse nach 1989, eine durch den ungeregelten Wechsel zum Kapitalismus ins Chaos abgleitende, teilweise rechtsfreie, von Unsicherheit und darwinistischem Durchsetzungskampf geprägte Gesellschaft, zumindest im Großstadtmilieu. Insofern passt er in eine häufige Wahrnehmung migrantischer Autoren als Transformationsexperten, die zur Erklärung einer globalisierten Verunsicherung und Orientierungslosigkeit beitragen können. 16 Christoph Schröder: Das Püppchen, das vom Westen träumt. In: Süddeutsche Zeitung, 3.9.2017 (https://www.sueddeutsche.de/kultur/ukrainische-literatur-das-pueppchen-das -vom-westen-traeumt-1.3650924, zuletzt geprüft am 2.6.2019). 17 Tomasz Kurianowicz: Einfach zu gut. Olga Grjasnowas neuer Roman erzählt vom syrischen Bürgerkrieg. In: Die Zeit, 5.7.2017 (https://www.zeit.de/2017/28/gott-ist-nicht -schuechtern-olga-grjasnowa-syrien-buergerkrieg; zuletzt geprüft am 2.6.2019). Vgl. weiter zur Debatte: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article162867345/Wer -Syrien-verstehen-will-lese-dieses-Buch.html; https://www.fluter.de/gott-ist-nicht -schuechtern-olga-grjasnowa; zuletzt geprüft am 2.6.2019.
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Doch geht es im Text nicht nur um die Verhältnisse in der Ukraine, sondern vornehmlich um das Deutschlandbild. Die Ankunft der Protagonistin in diesem Land und das Problem der migrantischen Zwangsprostitution in Deutschland stehen deutlicher im Mittelpunkt. Wie viele solcher Texte befördert er bei der Leserschaft (nach Sichtung der Rezensionen und Leserkommentare) weniger ein Interesse am Herkunftsland als vielmehr eine (Selbst-)Reflexion der deutschen oder allgemein westlichen Gesellschaft und ihrer aktuellen Probleme, besonders da, wo er von Wunschvorstellung und realer Ankunft, also ‚von uns‘ handelt – eine Lesart, der auch der vorliegende Aufsatz gefolgt ist.
kapitel 14
„Der Geflüchtete ist eine eigene Kategorie Mensch.“ Narrative der Flucht bei Olga Grjasnowa und Ilija Trojanow Stephanie Catani „Italien droht mit Hafensperre für Flüchtlingsschiffe“1 titelte im Juni 2017 die ZEIT und thematisierte damit die Drohung der italienischen Regierung, künftig Booten von ausländischen Hilfsorganisationen die Einfahrt in italienische Häfen zu verweigern. Hintergrund dieser zugespitzten Grenzpolitik ist die geltende europäische Rechtsordnung, die den Personenstatus Geflüchteter und deren Recht auf Asyl an den Grenzübertritt koppelt. Die Sozialwissenschaftlerin Julia Schulze Wessel hat in ihrer im gleichen Jahr publizierten Habilitationsschrift zur politischen Theorie des Flüchtlings die Relevanz der Grenze für den rechtlichen Status Geflüchteter nachvollzogen. Mit Schulze Wessel werden an der Grenze Menschen zu Personen […], die Ansprüche an die Gesellschaft und den Staat stellen, an dessen Grenze sie stehen – sie bitten um die Möglichkeit der Grenzübertretung, um durch das Land zu reisen, um Aufnahme oder auch um rechtlichen Schutz. Die Öffnungsfunktion der Grenze bedeutet also das Sichtbarwerden von bestimmten Ansprüchen durch Nicht-Staatsbürger bzw. fremde Staatsbürger.2 Das Überschreiten der Grenze ändert die Rechtsbeziehung zwischen dem Staat und jener Person, die vorher kein Mitglied der geltenden Rechtsgemeinschaft war. „Durch den Grenzübertritt“, heißt es bei Schulze Wessel weiter,
1 Italien droht mit Hafensperre für Flüchtlingsschiffe. In: Die ZEIT, 29.6.2017, (https://www .zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-06/fluechtling-italien-hafensperre-abweisung, zuletzt geprüft am 24.4.2019). Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine inhaltlich überarbeitete Version meines Aufsatzes: Non‐Persons als Akteure der Grenze. Geflüchtete in der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Non-Person. Grenzen des Humanen in Literatur, Kultur und Medien. Hg. Stephanie Catani und Stephanie Waldow. Paderborn: Fink 2020, S. 95–109. 2 Julia Schulze Wessel: Grenzfiguren – Zur politischen Theorie des Flüchtlings. Bielefeld: transcript 2017, S. 92. © Koninklijke Brill NV, Leiden, 2021 | doi:10.1163/9789004466234_016
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„wird der vormals rechtlich Irrelevante zu einer rechtlich relevanten Person.“3 Diese rechtliche Relevanz des Geflüchteten zeigt sich an der italienischen Staatsgrenze und damit der europäischen Außengrenze dann, wenn ihm ein Recht nicht auf Asyl, aber auf ein Asylgesuch, also auf Überprüfung seines Flüchtlingsstatus zusteht. Die Rechtsgrundlage bilden hier das Genfer Abkommen von 1951 sowie dessen internationale Ausweitung, das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1967. Beide Vereinbarungen schreiben vor, dass kein Geflüchteter abgewiesen werden darf, ohne dass sein Asylgesuch vorher geprüft worden ist. Flüchtende befinden sich durch diese gesetzliche Grundlage nicht mehr in jener „Situation absoluter Rechtlosigkeit“, die Hannah Arendt in ihrem Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951 englisch, 1955 deutsch) anklagt, wenn sie darin das für alle Menschen geltende „Recht, Rechte zu haben“,4 einfordert. Arendts Überlegungen sind einzigartig in der politischen Theorie – das betont auch Schulze Wessel, wenn sie die Wirkungsmacht Arendts und ihren Einfluss auf den politischen, soziologischen und philosophischen Diskurs der Gegenwart nachweist, etwa auf Denkerinnen wie Seyla Benhabib, Giorgio Agamben oder Étienne Balibar. Dennoch ist es der aktuellen Studie Schulze Wessels zu verdanken, auf den Unterschied zwischen der Rechtslage Flüchtender vor dem Inkrafttreten der Genfer Konvention und der heutigen Situation aufmerksam gemacht zu haben. Dort, wo Arendt den Rechtsentzug anprangert, konstatiert Schulze Wessel einen Rechtsvorenthalt: Der Flüchtende lässt sich gegenwärtig nicht mehr als Rechtloser deuten, sondern als Figur, auf die das vorhandene Recht nur unzureichend angewandt wird. Der Rechtsvorenthalt, schlussfolgert Schulze Wessel, sei „das entscheidende Element, das das Verhältnis Europas zu undokumentierten Wandernden prägt.“5 Konkret bedeutet dies: Sein Leben sollte der Geflüchtete gerade nicht, wie es noch bei Arendt heißt, allein „der Mildtätigkeit privater oder der Hilflosigkeit öffentlicher Instanzen“6 verdanken, sondern durch einen Staat geschützt wissen, der an das geltende Gesetz gebunden ist, das Asylgesuch jedes Geflüchteten zu prüfen, bevor er ihn aus der staatlichen Rechtsordnung ausschließt. Die österreichische Autorin Elfriede Jelinek zollt gerade diesem Umstand Rechnung, wenn sie 2013 aus Aischylos’ Tragödie Die Schutzflehenden das Bühnenexperiment Die Schutzbefohlenen macht und ihrem wirkungsmächtigen Text damit nicht die Bitte um, sondern das Recht auf Asyl voranstellt. Auch 3 Ebd., S. 94. 4 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt a.M. 1955, S. 462. 5 Schulze Wessel: Grenzfiguren, S. 154. 6 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 443.
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Ilija Trojanows Band Nach der Flucht (2017), um den es im Folgenden unter anderem gehen wird, macht die Existenz des Geflüchteten zwischen Rechtsausschluss und Rechtsanspruch sichtbar, wenn es darin heißt: „Der Geflüchtete steht gemeinhin zwischen Tür und Angel. Tatsächlich kann man ihm die Tür, vor der er kehrt, nicht vor der Nase zuschlagen.“7 Dass neben Trojanow auch die Autorin Olga Grjasnowa in ihrem Roman Gott ist nicht schüchtern (2017) Narrative der Flucht in das Zentrum ihres Erzählens rückt, ist nicht nur der Brisanz aktueller politischer Diskurse geschuldet, sondern versteht sich als literarische Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie bzw. mit der Wahrnehmung dieser Biografie im Literaturbetrieb der Gegenwart. Grjasnowa emigriert mit ihren Eltern als Zwölfjährige aus Aserbaidschan nach Frankfurt am Main, während Trojanow, 1965 im sozialistischen Bulgarien geboren, als Sechsjähriger mit seinen Eltern zunächst politisches Asyl in Deutschland beansprucht, dann jahrelang in Kenia, Indien und Südafrika lebt, bevor er sich in Wien niederlässt. Beide Autoren vergegenwärtigen die ethnische Vielfalt des deutschsprachigen Literaturbetriebes, lassen sich jedoch nicht durch den Stempel einer so genannten Migrationsliteratur vereinnahmen. Vielmehr plädieren beide sowohl in ihren literarischen Texten als auch im Rahmen öffentlicher Auftritte für einen Verzicht auf identitätsstiftende Zuschreibungen wie Heimat oder Heimatland, die sie als prekäre Ausschlussmechanismen und/oder als sentimental überfrachtete, diskursiv erzeugte Konstruktionen entlarven. Die in solchen Konstruktionen deutlich werdende „aggressive Selbstbehauptung gegenüber anderen“8 (so jedenfalls lautet die Einschätzung Trojanows) wird in den hier behandelten Texten beider Autoren über das Narrativ der Flucht literarisch problematisiert und damit verbundene Ausgrenzungs- und Abschottungsprozesse gezielt auf die aktuelle politische Debatte bezogen. In Trojanows wie Grjasnowas Texten, so soll im Folgenden nachvollzogen werden, dominieren nicht ästhetisch imaginierte Opfernarrative, die immer auch die Gefahr bergen, einen trivialen Voyeurismus zu bedienen, sondern wird das Versagen staatlicher Ordnungen in der gegenwärtigen Flüchtlingspolitik eingefangen – ein Versagen, das nicht nur eine humanitäre Katastrophe, sondern eben auch den Bruch mit der geltenden Rechtsordnung sichtbar macht. 7 IIija Trojanow: Nach der Flucht. Frankfurt a.M.: Fischer 2017, S. 28. Nach dieser Ausgabe werden im Folgenden die Zitate mit Seitenangaben und der Sigle N direkt im Text nachgewiesen. 8 Alte Heimat, neue Heimat – das ist völliger Unsinn! Ilija Trojanow im Gespräch mit Gisa Funck. In: Deutschlandfunk, 27.06.2017 (https://www.deutschlandfunk.de/schriftsteller-ilija -trojanow-alte-heimat-neue-heimat-das.700.de.html?dram:article_id=389698, zuletzt geprüft am 25.10.2018).
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Wenn Eva Horn in ihrem luziden Essay zum Flüchtling als Grenzverletzer Hannah Arendts These von der absoluten Rechtlosigkeit Geflüchteter aufgreift und die Machtausübung staatlicher Ordnung darin sieht, den Flüchtling im Sinne Giorgio Agambens auf sein „nacktes Leben“ zu reduzieren und aus dem „Raum der Gesetze“9 auszustoßen, muss konkretisiert werden: Im Grenzraum ist der Flüchtling in den Raum der Gesetze eingeschlossen und zugleich ausgeschlossen, weil ihm die Anwendung der Gesetze versagt bleibt. Das Überschreiten einer nationalstaatlichen Grenze durch Geflüchtete markiert deren Eintritt in ein staatliches Rechtssystem, das sie zumindest temporär einschließt – so lange eben, bis es den temporären Einschluss dauerhaft macht oder die Abschiebung und damit die Exklusion aus der Rechtsbeziehung beschließt. Semantik wie Topografie dieser Grenzen innerhalb wie außerhalb Europas haben sich allerdings verändert: Scheint es zunächst so, als ob sie aufgrund wieder eingeführter oder angedrohter binneneuropäischer Kontrollen an Gewicht gewonnen haben, zeigt sich bei genauerer Prüfung, dass eine Internationalisierung der Grenzen jenseits nationalstaatlicher Begrenzungen stattfindet. Bekanntlich hat die nationalstaatliche Pflicht, Asylgesuche zu prüfen, durch das Schengener Abkommen und die Dublin-Verordnung eine Konkretisierung erfahren, die festhält, dass jener EU-Staat für den Asylantrag zuständig ist, in dem ein Flüchtling den EU-Raum erstmals betritt. Damit sind es EU-Außenländer wie Ungarn, Italien, Spanien und Griechenland, die mit dem größten Ansturm globaler Migrationsbewegungen konfrontiert sind. Als Konsequenz der sprunghaft angestiegenen Fluchtbewegungen im 21. Jahrhundert haben sich in der Folge jene Grenzkontrollen verschärft, die sich weniger an den Binnengrenzen orientieren als vielmehr an den Flüchtlingsrouten, die sich auf die EU-Außengrenzen hinbewegen. Gerade die Arbeit der europäischen Grenzschutzagentur Frontex zeugt von dieser Verlagerung der Grenzen: Frontex agiert längst nicht mehr an klar definierten nationalen Grenzen, sondern überwacht jene Bereiche, insbesondere Küstenregionen wie den Mittelmeerraum, die von starken Fluchtbewegungen geprägt sind – reagiert also flexibel auf die topografischen Verschiebungen der Fluchtrouten. Der Grenzschutz entfernt sich damit nicht allein von nationalstaatlichen Grenzen, sondern auch, insbesondere angesichts neu geschlossener Kooperationsvereinbarungen mit Ländern außerhalb der EU, von den europäischen Landesgrenzen.10 „The borderwork of Frontex produces a border that is no longer at the border“,11 9
Eva Horn: Der Flüchtling. In: Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten. Hg. Eva Horn, Stefan Kaufmann und Ulrich Bröckling. Berlin: Kadmos 2002, S. 23–40, S. 39. 10 Schulze Wessel: Grenzfiguren, S. 101. 11 Nick Vaughan-Williams: Borderwork beyond Inside/Outside? Frontex, the CitizenDetective and the War on Terror. In: Citizens and Borderwork in Contemporary Europe. Hg.
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konstatierte schon vor einigen Jahren Nick Vaughan-Williams, Professor für Internationale Sicherheitspolitik an der Warwick Universität. Und so stellt auch Schulze Wessel im Anschluss an Erkenntnisse der (critical) border studies die These auf, dass die Vorstellung einer eindeutig definierbaren Grenzlinie hinfällig geworden sei: „Vielmehr muss heute aus der Perspektive undokumentierter Migranten und der Kontrollen über sie von einem Grenzraum gesprochen werden.“12 Dieser Grenzraum, in dem die „Aushandlungskämpfe zwischen Einschluss und Ausschluss“ stattfinden“,13 macht eine reziproke Beziehung zwischen der Dynamik der Flucht und der Dynamik der Kontrollen sichtbar. Grenzen sind nun nicht mehr das Resultat einer einmaligen Grenzziehung, sondern werden durch das reziproke Verhältnis von Grenzschutz und Grenzüberschreitung „immer wieder an neuen Orten hervorgebracht […].“14 Undokumentierte Migranten, die mit ihren Fluchtbewegungen den Grenzraum und die Grenzkontrollen mitbestimmen, werden als Grenzgestalter sichtbar, sie können, mit Schulze Wessel, „als zentrale Akteure der Grenze bezeichnet werden.“15 Diese verstehen sich als Figuren der Kritik am Grenzraum, die ihn als von Gewalt, Willkür und Rechtsverletzungen dominierten Un-Ort problematisieren. Eben solche Figuren der Kritik imaginieren auch die Texte von Olga Grjasnowa und Ilija Trojanow: In einem flexibel gestalteten Grenzraum agieren ihre Figuren als Grenzfiguren par excellence – als Grenzgestalter, Grenzverletzer und Grenzbewohner bestimmen sie die Dynamik der Grenze und vollziehen die ihr inhärenten Machtprozesse literarisch nach. 1
Olga Grjasnowa: Gott ist nicht schüchtern (2017)
Grjasnowas Roman erzählt in unterschiedlichen Handlungssträngen, die sich mitunter kreuzen, von zwei Protagonisten, deren Alltag im syrischen Bürgerkrieg und schließlich ihrer Flucht nach Deutschland. Auf der einen Seite der syrische Arzt Hammoudi aus Deir az-Zour, der in Paris Medizin studiert hat und nach seiner erfolgreichen Facharztausbildung zum plastischen Chirurgen eine Anstellung in einem renommierten Pariser Krankenhaus erhält. Der Roman beginnt mit Hammoudis Rückkehr im Jahr 2011 nach Syrien, wo er seinen Pass verlängern möchte, eine, so heißt es, „rein formale Angelegenheit, Chris Rumford. London, New York: Routledge 2009, S. 63–79, S. 77; vgl. Schulze Wessel: Grenzfiguren, S. 103. 12 Schulze Wessel: Grenzfiguren, S. 104. 13 Ebd., S. 106f. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 111.
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von der seine Aufenthaltsgenehmigung in Frankreich abhing und deren Klärung er gerne mit einem Kurzurlaub verbinden wollte.“16 Doch die Passverlängerung erweist sich ebenso wenig als „rein formale Angelegenheit“ (G 13) wie der Syrien-Aufenthalt als Kurzurlaub. Grenzen, die Hammoudi zeitlebens überqueren konnte, werden plötzlich unüberwindlich: Ihm wird die Rückreise nach Paris verweigert, seine Aussicht auf eine verheißungsvolle Karriere zerschlägt sich ebenso wie die Beziehung zu seiner französischen Freundin Claire. Stattdessen findet er sich zwischen den Fronten des syrischen Bürgerkriegs wieder, arbeitet illegal als Arzt in einem Lazarett seiner Heimatstadt, deren Einwohner von Kämpfern des Assad-Regimes, der Freien Syrischen Armee und islamistischen Rebellen massakriert werden. Als Deir az-Zour vollständig vom IS eingenommen, die Scharia eingeführt und Hammoudi für vogelfrei erklärt wird, beginnt seine Flucht nach Europa, von der die letzten beiden Romanteile erzählen. Die zweite Protagonistin des Romans ist Amal, eine junge Schauspielerin, die als Tochter eines syrischen Vaters und einer russischen Mutter in Damaskus lebt und hier die Demonstrationen im Zuge des Arabischen Frühlings und das gewaltsame Einschreiten der Regierungsarmee miterlebt. Zunächst durch die politischen Kontakte ihres Vaters geschützt, gerät Amal aufgrund ihres politischen Engagements zunehmend in das Visier des syrischen Geheimdienstes. Nach einer ersten Inhaftierung, brutalen Misshandlungen und der sich anschließenden Dauerüberwachung flüchtet auch Amal über Libyen, die Türkei und Italien nach Deutschland. Dass Grjasnowas Roman in seinem ersten und umfangreichsten Teil in Syrien spielt, ist entscheidend: Nicht die Thematik der Flucht, sondern die Umstände, die dafür verantwortlich sind, rücken in das Zentrum der Handlung. Auch reduziert sich das Profil der beiden Protagonisten weder auf ihre nationale Herkunft noch auf ihre Fluchterfahrung, sondern definiert sich über jene biografischen, sozialen, beruflichen Komponenten, die jeden Identitätsentwurf erst ausmachen und die individuell verschieden ausfallen. Für Amal ist es weniger der Abschied von Syrien als jener von ihrer Heimatstadt Damaskus, der mit der Aufgabe ihres bisherigen Identitäts- und Lebensentwurfs gleichgesetzt wird. Nur hier, weiß Amal, kann sie „die richtige Version ihrer selbst“ (G 131) sein, weil sie nur hier über jene Dinge verfügt, die sie als Person ausmachen:
16 Olga Grjasnowa: Gott ist nicht schüchtern. Berlin: Aufbau 2017, S. 13. Nach dieser Ausgabe werden im Folgenden die Zitate mit Seitenangaben und der Sigle G direkt im Text nachgewiesen.
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Es ist der Ort, an dem sie ihren Beruf ausüben kann, an dem ihre Freunde und Familie sind, ein Ort, dessen Sprache sie spricht, dessen Geheimnisse und Bräuche sie kennt und an dem sie selbst eine Familie gründen möchte. (Ebd.) Anders sieht es bei Hammoudi aus, der seinem Herkunftsland aus der Perspektive eines distanzierten Betrachters begegnet und gerne, „doch stets unter Vorbehalt“ (G 11), in Syrien ist. Wo Amal befürchtet, mit Damaskus auch sich selbst zu verlassen, beginnt Hammoudis Identitätskonflikt erst in Syrien – einem Land, das ihm fremd geworden ist. Stattdessen, heißt es, sehnt er sich nach seiner nicht nur beruflichen, sondern inzwischen auch sprachlichen Heimat Frankreich, „nach der Sprache, in der er die Fachbegriffe präzise benennen kann […].“ (G 42) Hammoudis und Amals Fluchtgeschichten vergegenwärtigen eine Topografie des Grenzraums, die die Instabilität und Willkürlichkeit von Grenzverläufen und zugleich eine Dynamik der Grenze sichtbar macht, die den Flüchtenden als Grenzgestalter im Sinne Schulze Wessels ausweist. Amal, die über den Libanon ohne Grenzkontrollen in die Türkei gelangt, bereitet in Istanbul gemeinsam mit ihrem Freund Youssef die Flucht nach Europa vor. Zu dieser Vorbereitung gehört auch die Auseinandersetzung mit Erfahrungsberichten anderer Geflüchteter. „Amal und Youssef verbringen den Rest des Tages in einem Internetcafé […] und schauen sich auf Facebook Fotografien von Schiffen und Booten an. Sie vergleichen Preise und Erfahrungsberichte.“ (G 221) Die Fluchtnarrative anderer dokumentieren die Relativität der Grenzen bereits dort, wo sie zeigen, dass diese nicht für alle gelten – sondern mitunter schlicht von der Physiognomie abhängen. Ob sie mit einem gefälschten Reisepass für 600 Euro eine legale Einreise nach Europa möglich machen können, überlegt Amal. Youssef allerdings weiß: „Du vielleicht. Mein Teint ist eindeutig zu dunkel für die Grenzkontrolle.“ (G 222) Auf diese Dynamik der Grenzen, die sich in ihrer selektiven Gültigkeit bemerkbar macht, hat bereits 1993 der französische Philosoph Étienne Balibar in seinem Vortrag zu den Grenzen Europas verwiesen: „Die Grenzen geraten also in Fluss“, heißt es darin. „Das bedeutet, dass sie nicht mehr eindeutig zu lokalisieren sind. […] Es bedeutet schließlich, dass sie nicht mehr für alle ‚Personen‘ auf die gleiche Weise funktionieren, dass sie also nicht mehr für alle ‚gleich‘ sind.“17
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Etienne Balibar: Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität. Hamburg: Hamburger Edition 2006, S. 248.
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Auf den verschiedenen Stationen ihrer Flucht werden Amal und Youssef zu Expertinnen und Experten der Grenzverletzung – zu jenen von Schulze Wessel beschriebenen Akteuren der Grenze, die den Grenzraum durch das eigene Agieren darin mitproduzieren und die in ihm vollzogenen Rechtsverletzungen und Ausschlussverfahren umso sichtbarer machen. Grjasnowas Roman erzählt von einem spezifischen Grenzverletzerwissen etwa dort, wo Amal und Youssef mit jenen, die gemeinsam mit ihnen die Bootüberfahrt nach Italien wagen, „Anekdoten von anderen Überfahrten“ (G 239) austauschen. Da erzählt eine Englischlehrerin aus Aleppo, wie sie gemeinsam mit ihrem autistischen Sohn schon einmal die Reise nach Italien angetreten habe und nur knapp einem Massaker auf dem Schlepperboot entkommen sei. Zwei syrische Jungen berichten von ihrem letzten Fluchtversuch, bei dem sie mitten auf dem Meer ausgeraubt, in einem zerstörten Boot zurückgelassen und wieder in die Türkei zurückgebracht wurden (vgl. G 239). Diese fortwährende Wiederaufnahme der Wanderungen macht die Permanenz der Grenze für die undokumentierten Migranten sichtbar: Sie bewegen sich in einem undurchsichtigen Grenzraum, in dem sich neue Fluchtrouten und die ständige Angst vor Kontrollen und Zurückweisung gegenseitig bedingen. Die Dynamisierung und Exterritorialisierung der Grenzen führen zur Topografie eines Grenzraums, der auf die Wanderungen Flüchtender ausgerichtet bleibt und in dem diese „permanent mit der Grenze konfrontiert sind“, die ihnen „spontan und willkürlich entgegentritt“.18 Von dieser Willkür und der damit verbundenen Gewalt erzählt die Fluchtgeschichte Hammoudis, der, nachdem ihm die Überfahrt nach Griechenland gelungen ist, die westliche Balkanroute einschlägt. Auch diese Flucht ist geprägt von Fluchtnarrativen anderer, die als eine Art Fluchtreiseführer bei der Suche nach der erfolgversprechendsten Route helfen (vgl. G 267). Exemplarisch vergegenwärtigt der Roman, wie auf der Balkanroute nicht die einzelnen nationalstaatlichen Grenzen von Bedeutung sind, sondern ein Grenzraum entsteht, der ambivalent besetzt ist. Zum einen wird er, im Sinne Schulze Wessels, als Raum politischen Aufbegehrens Flüchtender „gegen das souveräne Verfügen über ihre Kontrolle, Abschiebung oder seine Abweisung“19 sichtbar. Zum anderen handelt es sich um einen konfliktreichen und von klaren Machtverhältnissen dominierten Raum, der eine massive Bedrohung darstellt für jene, die in ihm zu Grenzbewohnern geworden sind:
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Schulze Wessel: Grenzfiguren, S. 121. Schulze Wessel: Grenzfiguren, S. 118.
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Die Zeit wird für sie zu einer geographischen Angabe, lässt sich nur noch in der Strecke bis zur nächsten Grenze oder der nächsten Stadt ermessen. Sie verlieren den Überblick über die Wochentage, und wenn sie die Augen schließen, flirren die Routen von Google Maps vor ihren Lidern. Sie haben permanent Angst. Ihre Körper sind in ständiger Alarmbereitschaft. (G 267) Hier, in diesem undurchsichtigen Grenzraum, avancieren die Flüchtenden tatsächlich zu homo sacer-Figuren im Sinne Agambens – reduziert auf ihre nackten Körper, deren Verletzung und Auslöschung keine Sanktionen mehr nach sich zieht: „Es gibt hartnäckige Gerüchte von Verbrecherbanden, die sich in den Wäldern verstecken und die Flüchtlinge ausrauben und ihnen teilweise sogar die Organe entnehmen. Selbst Leid ist eine harte Währung.“ (G 268) Dort, wo in Grjasnowas Roman Amal und Youssef in Beirut getreten, bespuckt und in den Straßendreck geworfen werden, wo Hammoudi im Grenzwald zwischen Serbien und Ungarn zusammengeschlagen, ausgeraubt und ihm ins Gesicht uriniert wird – dort werden die Flüchtenden zu Repräsentanten eines, wie es bei Agamben heißt, „nicht opferbaren Lebens […], das dennoch in einem unerhörten Maß tötbar geworden ist.“20 2
Ilija Trojanow: Nach der Flucht (2017)
Ilija Trojanows ebenfalls 2017 erschienene Textsammlung Nach der Flucht setzt, so deutet bereits der Titel an, dort ein, wo Grjasnowas Roman endet – nach der Flucht eben. In zwei Teile gegliedert, lässt der Text jeweils 99 Kurztextformen (Zitate, Anekdoten, Aphorismen, sogenannte Dramolette, d.h. kurze dialogische Spielszenen, und autobiografische Erinnerungen) durchnummeriert, dabei in absteigender Reihenfolge, aufeinander folgen. In einer mit „Vorab“ überschriebenen Rahmung heißt es: „Der Geflüchtete ist eine eigene Kategorie Mensch.“ (N 9) Damit schließt der Text an Grjasnowas Roman an, der am Ende die Protagonistin Amal in Berlin ankommen lässt, wo ihr endgültig bewusst wird, dass „sie nicht mehr dazugehört.“ (G 281) „Die Welt“, muss Amal einsehen, „hat eine neue Rasse erfunden, die der Flüchtlinge, Refugees, Muslime oder Newcomer.“ (G 281) Erfunden, ja geschaffen hat die Welt diese „neue Kategorie von Menschen“, so lesen wir bei Seyla Benhabib, Professorin für Politische
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Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 124.
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Theorie und Philosophie an der Yale University, „durch ein aufgewühltes internationales Staatensystem“, das ihre „prekäre Lage“21 mitverantwortet. Wie Grjasnowas Roman ist auch Trojanows Text anschlussfähig für die Thesen Schulze Wessels zur politischen Theorie des Flüchtlings: Auch er diskutiert die Präsenz von Grenzen jenseits nationalstaatlicher Grenzverläufe und eindeutiger politischer Ordnungen und skizziert einen Grenzraum, der an die Figur der Flüchtenden gebunden bleibt: Die persönlichen Karten des Geflüchteten werden von Grenzen dominiert. Auf Reisen sucht er nach jeder Grenze, selbst nach abgeschafften oder versteckten Grenzen. Für ihn haben Grenzen schwere Konturen. Sie umfassen Fragwürdiges. Wo andere freie Fahrt erleben, erkennt er einen Grenzübertritt. (N 43) Als politische Figur mit subversivem Potential wird der Geflüchtete dort sichtbar, wo er Grenzen als überkommenes „Privileg der Ordnung und der Ordnungsgründung“22 entlarvt und jenen Akt der Grenzverletzung markiert, der sich über die Wahl neuer Fluchtrouten definiert – auch bei Trojanow wird der Geflüchtete zum Akteur der Grenze: „Flucht kann ein Akt des Widerstands sein. Eine Selbstermächtigung. Ein Aufbruch. Der Flüchtling kann ein Handelnder sein, ein Aktivist, ein Rebell […]. Die Einteilung in Unschuldige und Opfer verharmlost die Geschichte.“ (N 73) Freilich verschweigt auch Trojanows Text den Preis für diesen Widerstand nicht, wenn er die Radikalität und Unvorhersehbarkeit von Grenzkontrollen in den Anekdoten seiner Sammlung verarbeitet, deren erster Teil bezeichnenderweise „Von den Verstörungen“ heißt. Etwa, wenn der staatenlose Student auf seiner Rückreise von Italien nach Deutschland am Brenner aus dem Nachtzug geworfen wird, weil er über kein Transitvisum für Österreich verfügt. Einem LKW-Fahrer ist es zu verdanken, dass der Student illegalerweise die Grenze übertritt – eine Geste, deren Humanität gerade im Akt der Grenzverletzung begründet ist: „In einem System der Unmenschlichkeit ist der Verstoß gegen die Gesetze eine humane Maxime.“ (N 46) Einmal mehr reflektiert diese Anekdote den Geflüchteten als Akteur der Grenze, denn erst das Ausschlussverfahren macht die binneneuropäische Grenze (die für andere nicht evident ist) sichtbar – d.h. sie gewinnt an Präsenz durch die Figur des Flüchtenden, mit dem sie sich in ein reziprokes Wechselverhältnis begibt.
21 Seyla Benhabib: Kosmopolitismus ohne Illusionen. Menschenrechte in unruhigen Zeiten. Berlin: Suhrkamp 2016, S. 266. 22 Schulze Wessel: Grenzfiguren, S. 115.
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Trotz ihrer verbindenden Thematik unterscheidet sich Trojanows Text fundamental von dem Roman Grjasnowas. In letzterem erleben wir eine Protagonistin, die den Identitätsentwurf des Flüchtlings als gleichermaßen reduzierende wie diffamierende Fremdzuschreibung entlarvt, ja es hasst, „sich als Flüchtling durch die Stadt zu bewegen“ (G 281) – die besondere Aussagekraft des literarischen Textes liegt hier gerade darin, den Fluchtnarrativen einen biografischen Entwurf vor der Flucht vorauszuschicken. Trojanows Text hingegen nimmt die Flucht als identitätsstiftenden Katalysator ebenso ernst wie den Geflüchteten als aus Prozessen der Fremd- und der Selbstwahrnehmung resultierende politische Figur mit Emanzipationspotential. „Es gibt ein Leben nach der Flucht“, heißt es einleitend: „Doch die Flucht wirkt fort, ein Leben lang. Unabhängig von den jeweiligen individuellen Prägungen, von Schuld, Bewusstsein, Absicht, Sehnsucht.“ (N 9) Mit der identitätsstiftenden Dimension der Fluchterfahrung sind keinesfalls jene Fremdzuschreibungen, Traumatisierungen und Diffamierungen gemeint, die Grjasnowas Roman thematisiert und die auch Trojanow, gerade im ersten Teil seines Textes, nicht verschweigt. Doch er schreibt dem Status des Geflüchteten einen Mehrwert zu, der Entgrenzung und Heimatlosigkeit in ihrer Ambivalenz ausweist – sie nicht nur als Schicksal, sondern auch als Chance begreift. Paratextuell wird diese Aufwertung des Fluchtbegriffes durch die einleitende Widmung vergegenwärtigt und autobiografisch verankert: „Meinen Eltern, die mich mit der Flucht beschenkten.“ Und so geht es dem zweiten, bezeichnenderweise mit „Von den Errettungen“ überschriebenen Teil der Textsammlung um eine semantische Neubestimmung des Geflüchteten, der zu einer kulturkritischen Denkfigur avanciert, die sich von Monolingualismus und Monokulturalismus verabschiedet und den Kosmopolitismus als Überlebensprinzip jeder Gesellschaft in Aussicht stellt. Das vermeintliche Chaos, das im Kontakt von Fremdem und Eigenem entsteht, lässt sich allerdings als ordnungsstiftendes Prinzip allein dort fruchtbar machen, wo die ihm inhärenten Hierarchien verschwinden. „Das Chaos ist schön“, zitiert Trojanow den postkolonialen Theoretiker Édouard Glissant, „wenn man alle seine Bestandteile als gleich notwendig erachtet.“ (N 111) Diese weltbürgerliche Perspektive, die topologische wie topografische Grenzen zu überwinden sucht, schließt intertextuell an jenen Essay an, der in den letzten Jahren im Zuge der Auseinandersetzung mit Fluchtnarrativen eine Renaissance erfahren hat: Hannah Arendts Essay We refugees von 1943, der erst 1986 unter dem Titel Wir Flüchtlinge erstmals ins Deutsche übersetzt und 2016 neu aufgelegt wurde.23 In ihrem Essay prangert Arendt die Rechtlosigkeit der 23 Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge. Aus dem Englischen übersetzt von Eike Geisel. Mit einem Essay von Thomas Meyer. Stuttgart: Reclam 2016.
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ihrer Staatsbürgerschaft beraubten jüdischen Flüchtlinge an, die nach ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland im englischen, französischen oder amerikanischen Exil keinerlei rechtlichen Status mehr besaßen und denen die Aufnahme in die neue Gemeinschaft nur unter Aufgabe ihrer jüdischen Identität und aufgrund unterwürfiger Demutsgesten vorbehalten war. In ihrem Essay rechnet Arendt mit solchen identitätsberaubenden Assimilierungsprozessen ab, die sie, beißend ironisch, als falsch verstandenen Optimismus, als Akt der völligen Selbstverleugnung entlarvt: „[…] unter der Oberfläche unseres ‚Optimismus‘“, heißt es, „kann man unschwer die hoffnungslose Traurigkeit von Assimilanten ausmachen.“24 Ein subversives Potential, so lautet Arendts finaler Appell, könne die Exilierung nur dann freisetzen, wenn sie nicht in die Selbstaufgabe münde: „Die von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge repräsentieren die Avantgarde ihrer Völker – wenn sie ihre Identität aufrechterhalten.“25 Eben hier schließt Trojanows Text an, wenn er dem Geflüchteten einen Identitätsentwurf abverlangt, der sich den Fremdzuschreibungen und -erwartungen, den allseits imaginierten „Dankschulden“ (N 48) nicht ergibt, ebenso wenig wie jenen Definitionsversuchen, die ausschließlich an den Herkunftsort gebunden bleiben: „Erst wenn er sich von den Zuschreibungen der Herkunft und den Zumutungen der Ankunft losgelöst hat, ist der Geflüchtete wirklich frei“ (N 114), lautet der finale Aphorismus der Sammlung. Der problematischen Angst vor einem Kampf der Kulturen, wie Samuel Huntington ihn für das 21. Jahrhundert prognostizierte,26 setzt Trojanow das utopische Ideal einer entgrenzten „All-Welt-Kulturschaft“ (N 112), wie sie Glissant gefordert hatte,27 entgegen – ein kosmopolitisches Konzept, das kulturelle, sprachliche und religiöse Unterschiede nicht aufhebt, sondern in einem neuen, produktiven Konglomerat aufgehen lässt: Wer das Eigene in einer Nische zu konservieren versucht, verkleinert es, banalisiert es. Kulturkonservatismus ist weltfremd, begreift nicht die Dynamik von Verschmelzung und Vermischung, die seit je zu kultureller Neuerung geführt haben. (N 112) Im allegorisch gedeuteten Bild des sogenannten Encontro das Aguas wird dieses Ideal veranschaulicht – im Zusammenfließen des Rio Solimoes und des 24 Ebd., S. 29. 25 Ebd., S. 35. 26 Samuel Phillips Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München, Wien: Europa 1996. 27 Vgl. Édouard Glissant: Traité du Tout-Monde. Poétique IV. Paris: Gallimard 1997.
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Rio Negro im Bundesstaat Amazonas, Brasilien. „Zwei unterschiedliche Flüsse prallen aufeinander“ (N 107), heißt es bei Trojanow, „[e]ine scharf gezogene Grenze trennt beide.“ (N 107) Diese Grenze besteht in der unterschiedlichen Wassertemperatur, dem stark abweichenden pH-Wert und einer unterschiedlichen Fließgeschwindigkeit. Dort, wo die beiden Flüsse aufeinandertreffen, ist die Grenze zwischen beiden zunächst klar ersichtlich. „Doch keine zwanzig Kilometer später“, heißt es weiter, ist jeglicher sichtbare Hinweis auf die einstmalige Eigenständigkeit getilgt. Die Gewässer sind eins geworden, ein neuer Fluss ist entstanden, mit eigenem pH-Wert, mit spezifischer Temperatur und Geschwindigkeit, der sowohl Schlamm als auch Sand mit sich führt. Von nun an heißt er Amazonas. (N 107) Diese im Kontakt unterschiedlicher Flüsse entstehende neue Diversität zitiert unmissverständlich jenes Konzept der Hybridisierung, wie es Homi K. Bhabha in seinem Hauptwerk The Location of Culture (1994) stark gemacht hat. Bhabha postuliert einen Identitätsentwurf des Subjekts, der sich nicht abhängig zeigt von eindeutigen, meist binär strukturierten Zuschreibungen, sondern sich durch einen Zwischenraum kultureller Differenz konstituiert. Dieser nicht ins Außerhalb der Kultur verbannte, sondern in ihr selbst verortete Kontaktraum verschiedener kultureller Einflüsse wird zu einem Raum, in dem kulturelle Diversität neu produziert wird – die Grenze avanciert, mit Bhabha, zu einem Ort, „von woher etwas sein Wesen beginnt.“28 Diese positive Umdeutung der Fluchterfahrung zum einen und der Grenzsemantik zum anderen scheint angesichts der Entwicklungen der Gegenwart nicht unproblematisch – zu sehr ist der Alltag Geflüchteter in Europa von ungebrochenen Verfahren kulturellen Otherings, von sozialen, gesellschaftlichen und politischen Exklusionsprozessen dominiert, wie sie gerade Grjasnowas Roman offenlegt. Und so kommt auch Trojanow nicht umhin, vor voreiligen Schlüssen zu warnen: Vermessen hingegen ist es zu behaupten, alle Menschen wären inzwischen Exilanten, die Heimatlosigkeit Grundzustand in einer sich rasant verändernden, globalisierten Welt. […] So gleich sind wir noch nicht, dass die einen nicht spenden und die anderen nicht empfangen müssten. (N 89) 28 Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 7.
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Die bewusste Zumutung und Provokation von Nach der Flucht liegt mithin darin, die postkoloniale Vorstellung eines hybriden Grenzraums ebenso wie das kosmopolitische Ideal einerseits zu behaupten und andererseits auf den Prüfstand zu stellen – dort nämlich, wo sich ihre Gültigkeit an der Praxis der gegenwärtigen Grenzpolitik in und außerhalb Europas messen lassen muss.
Register Ackermann, Irmgard 2 Adelson, Leslie A. 93 Adorno, Theodor W. 63f., 145 Agamben, Giorgio 262, 264, 269 Aischylos 143, 262 Alexander I. 86 Allen, Woody 65 Améry, Jean 195, 204 Andre, Thomas 186 Arendt, Hannah 166, 187, 262f., 271f. Assheuer, Thomas 171 Assmann, Aleida 82 Assmann, Jan 82 Aurel, Marc 172 Ausländer, Rose 57 Ayata, Imran 49 Bachtin, Michail M. 37, 79 Bakić-Hayden, Milica 27 Balibar, Etiénne 262, 267 Balvin, Jaroslav 44 Bánk, Zsuzsa 77 Barbetta, María Cecilia 95 Barthes, Roland 8, 91 Baßler, Moritz 170f., 173f., 177, 179, 182, 188f. Batjuschkow, Konstantin 86 Becker, Artur 42, 226–243 Benhabib, Seyla 262, 269 Benjamin, Walter 82 Benn, Gottfried 58 Bergel, Hans 60 Bernhard, Stefan 113 Bhabha, Homi K. 46, 167f., 231, 273 Biller, Maxim 103f., 127f., 130, 167, 189, 235 Bodrožić, Marica 105 Böhme, Hartmut 168 Bourdieu, Pierre 110, 112 Brinkmann, Rolf Dieter 170 Bronfen, Elisabeth 110 Bronsky, Alina 7, 41, 105, 110, 115–123, 149, 160–165, 213, 224 Buber, Martin 68 Bürger-Koftis, Michaela 37 Cage, Nicolas 234 Cammann, Alexander 101
Canetti, Elias 63 Case, Laura Bohn 51f. Celan, Paul 57f., 60 Chamisso, Adelbert von 31 Charms, Daniil 78, 80, 83–85 Conrad, Sebastian 76 Cornejo, Renata 37, 45 Cotten, Ann 95 Currie, Gregory 237 Dalos, György 94 Deleuze, Gilles 108, 196f. Diederichsen, Diedrich 169, 173, 189 Dietrich, Anton Gotthelf 86 Dilthey, Wilhelm 47 Dinev, Dimitré 95 Dörr, Volker C. 108f. Drügh, Heinz 170, 173f., 177, 179, 182, 188f. Empson, William 139 Engelhardt, Dirk 190 Faktor, Jan 42, 190–205 Fauser, Jörg 170 Florescu, Catalin Dorian 97, 99, 100–103 Flusser, Vilém 34 Foucault, Michel 72 Frank, Anne 51 Franzos, Karl Emil 68 Gabriel, Gottfried 237 Galkina, Anna 8f. Ganzenmüller, Jörg 81 Geiser, Myriam 131 Genette, Gérard 246 Giese, Linus 115 Glissant, Édouard 271f. Goethe, Johann Wolfgang von 84f. Gorelik, Lena 9, 98, 117, 213 Grjasnowa, Olga 2, 7, 9, 42, 61, 77, 98, 105, 117, 164f., 213, 259, 263, 265–273 Guattari, Félix 108, 196f. Haderlap, Maja 97 Haines, Brigid 17–21, 32, 37, 43 Hall, Stuart 231
276 Hanekamp, Tino 172 Hansen Malloy, Tove 42 Haratischwili, Nino 7, 61, 78 Hašek, Jaroslav 44 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 23–26, 33, 36 Heidenreich, Elke 100 Henschel, Gerhard 172 Herbst, Alban Nikolai 235 Hielscher, Martin 97 Hilbig, Wolfgang 187, 189, 226–228, 238, 240–242 Hofmann, Michael 168 Hölderlin, Friedrich 86, 180 Horn, Eva 264 Hugo, Victor 65f. Hummel, Eleonora 117 Huntington, Samuel 272 Illies, Florian 254 Jäger, Christian 197 Jandl, Paul 9 Jelinek, Elfriede 2, 262 Joch, Markus 112 Jung, C.G. 233f. Kafka, Franz 50–52, 57f., 197 Kahane, Kitty 116 Kaminer, Wladimir 49 Kammerer, Paul 241 Kämmerlings, Richard 128 Kapitelman, Dmitrij 77 Kardach, Magdalena 242 Kaufmann, Kat 10 Kempowski, Walter 172 Kermani, Navid 5, 49f. Khider, Abbas 95 Kim, Anna 94 King, Vera 151 Kinsky, Esther 95 Klein, Christian 230 Kleist, Heinrich von 58 Knapp, Radek 93 Kordić, Martin 41, 77, 212–225 Koroljowa, Natascha 250 Krauze-Olejniczak, Alicja 226 Kurianowicz, Tomasz 42
Register Ledig, Gerd 81 Lehmann, Klaus-Dieter 104 Leskow, Nikolai Semjonowitsch 176, 180 Levi, Primo 195, 204 Lillge, Claudia 147 Link, Jürgen 224 Lommel, Michael 239 Lotman, Jurji M. 211, 223 Lubrich, Oliver 223 Luschina, Nadja 118 Lux, Lana 9, 41, 98f., 213, 244–260 Malitsch, Marina 80 Maljartschuk, Tanja 97 Mangold, Ijoma 104 Marković, Barbi 95 Martínez, Matías 229 Martynova, Olga 41, 78–87, 95, 97, 110, 117, 166, 174–181, 188 Mayer, Verena 99 Meizoz, Jérôme 114f. Meschendörfer, Adolf 60 Meuter, Norbert 229 Meyer, Anne-Rose 147 Michel, Sara 159 Moníková, Libuše 3, 40f., 49, 51 Mora, Terézia 3–6, 40f., 49–53, 61, 93f., 97, 110, 123, 213, 224 Mörike, Eduard 174, 180 Müller, Herta 3, 60f. Müller, Regula 46 Musil, Robert 58, 177 Nadj Abonji, Melinda 9, 97, 99, 101f., 105, 149–158, 161, 213 Nora, Pierre 59 Obermüller, Klara 101f., 107 Oliver, José F.A. 94f. Ondaatje, Michael 106 Otoo, Sharon Dodua 97 Özdamar, Emine Sevgi 38, 46, 93f., 96 Petrowskaja, Katja 41, 62–74, 97, 104 Piontek, Sławomir 45, 226, 229, 231f., 240 Poladjan, Katerina 213 Probst, Inga 192 Putin, Wladimir Wladimirowitsch 93
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Register Rabinovici, Doron 105 Rabinowich, Julya 61, 77, 117, 164, 213 Rakusa, Ilma 97, 101f. Randeria, Shalini 76 Randt, Leif 170, 172, 186 Rudiš, Jaroslav 43–45 Rygulla, Ralf-Reiner 170 Said, Edward 5, 102 Salzmann, Sasha Marianna 77, 213 Schami, Rafik 94, 106 Scherer, Marie-Luise 181 Schlatter, Eginald 60 Schmidt, Arno 49 Schmidt, Christopher 128 Schmidt-Wellenburg, Christian 113 Schmitz, Walter 109 Schöll, Julia 110 Schrott, Raoul 92 Schulze Wessel, Julia 261f., 265, 267f., 270 Schuster, Paul 60 Schweiger, Hannes 110 Sebald, W.G. 30f., 63, 81 Sellmer, Izabela 45 Semzov, Tamara 250 Sila, Tijan 77 Sorko, Katrin 5, 39 Spoerri, Bettina 100f., 150, 153 Spreckelsen, Tilmann 120 Stalin, Josef Wissarionowitsch 73 Stanišić, Saša 9, 41, 53f., 61, 77, 95, 103, 121, 127–146, 149, 155–161, 166f., 181–189, 213, 224 Stavarič, Michael 95 Straub, Jürgen 239 Tawada, Yōko 38 Terkessedis, Mark 16
Timm, Uwe 221 Tomaševskij, Boris 92 Tommek, Heribert 111, 122 Trojanow, Ilija 93, 94–96, 100f., 123, 263, 265, 269–273 Vachedin, Mitja 99 Varatharajah, Senthuran 95 Vaughan-Williams, Nick 265 Veremej, Nellja 21, 28–39, 41 Vergil 139 Vertlib, Vladimir 77 Veteranyi, Aglaja 95 Vlasta, Sandra 45 Vvedenskij, Aleksandr 80, 85 Wagner, Richard 92 Walcott, Derek 106 Weinberg, Manfred 129 Weinrich, Harald 108 Werner, Michael 76f., 81, 87 Wichner, Ernest 60 Wilk, Denise 117 Wilkomirski, Binjamin 237 Willms, Weertje 117 Winkler, Heinrich August 82 Wittgenstein, Ludwig 69 Wittstock, Joachim 60 Wolf, Norbert Christian 112 Wolf, Uljana 95 Wolff, Larry 22 Yildiz, Erol 132 Zaimoğlu, Feridun 38, 95, 100 Zanetti, Sandro 55 Zimmermann, Bénédicte 76f., 81, 87 Zipfel, Frank 237