"...die letzten Schranken fallen lassen": Studien zur Universität Greifswald im Nationalsozialismus 9783412217860, 9783412223984

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"...die letzten Schranken fallen lassen": Studien zur Universität Greifswald im Nationalsozialismus
 9783412217860, 9783412223984

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Dirk Alvermann (Hg.)

„... die letzten Schranken fallen lassen“ Studien zur Universität Greifswald im Nationalsozialismus

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung durch die Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Redaktion: Tina Kröger, Jan Mittenzwei

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Universitätsgebäude und Domkirche St. Nikolai, 1937

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Anja Borkam, Jena Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Bettina Waringer, Wien Reproduktionen: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22398-4

Inhalt

Dirk Alvermann

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mathias Rautenberg

Politische Herrschaft – Ressourcenkonstellationen – Anspruch akademischer Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Gabriele Förster

Bildung und Erziehung im Nationalsozialismus an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Stephanie-Thalia Dietrich

Die Studierenden der Universität Greifswald im Nationalsozialismus – quantifizierende Analysen mit besonderer Berücksichtigung des Frauenstudiums . . . . . . . . . . . . . . . 70 Jan Mittenzwei

„Dem Führer entgegenarbeiten“ – NSD-Studentenbund und NSD-Dozentenbund in Greifswald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Ulrike Michel

Zur Berufungspolitik der Greifswalder Medizinischen Fakultät zwischen 1933 und 1935 . . . . . . . . . . . . . . 129 Ekkehard Henschke

Junge Akademiker, völkische Ideologie und was daraus wurde: Greifswalder Biographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Tina Kröger

Aspekte des Ausländerstudiums an der Universität Greifswald 1933 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Klemens Grube

Das Stettiner Oder-Donau-Institut im Spannungsfeld von Wirtschaftsinteresse, Wissenschaft und Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

6 Marco Nase

Forscher – Diplomaten – Spione. Die Nordischen Auslandsinstitute der Ernst-Moritz-Arndt-Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Sascha Barz

Zwangsarbeit an der Universität Greifswald und auf den Universitätsgütern 1939 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Vladimir Vsevolodov

Unterlagen in russischen Archiven zur Untersuchung der sowjetischen Militärkommission im Anatomischen Institut der Universität Greifswald 1947 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Britta Holtz

Protokoll der gerichtsmedizinischen Untersuchung der im Keller des Anatomischen Instituts der Universität Greifswald vorgefundenen Leichen, 13.–15. November 1947 . . . . . . . . . . . . . . .291 Dirk Alvermann

„Praktisch begraben“ – NS-Opfer in der Greifswalder Anatomie 1935 bis 1947 . . . . . . . . . . . .311 Nils Hansson

Begeisterung – Skepsis – Distanz: Schwedisch-deutsche Verbindungen in der Medizin 1933 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .351 Andreas Pehnke und Ulrich Wiegmann

Walther Schulze-Soelde (1888–1984): „Wüßten wir doch, was kommen muß!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400

Vorwort

Dirk Alvermann „Wir wollen die letzten Schranken, die zwischen der geistigen Haltung der Partei und unserer Hochschule noch stehen, fallen lassen.“1 – Diesen Aufruf richtete der neu ernannte Rektor, Karl Reschke, 1935 an die Mitglieder der Universität Greifswald. Seine Antrittsrede, aus der diese Worte stammen, hatte programmatischen Charakter. Sie definierte Universität und Akademiker als Teile der Volksgemeinschaft, die „mit besonderer Verantwortung für die geistige und körperliche Gesundheit ihres Volkes belastet“2 seien. „Mancher sieht die Universität als einen in sich geschlossenen Körper an, fürchtet das Eindringen der Partei, fürchtet für die Vorrechte der Hochschulen und für die Freiheit der Wissenschaft. Das Dritte Reich wird uns die Rechte, die für das Fortbestehen der Hochschule notwendig sind, nicht nehmen. Und andere Sonderrechte wollen wir nicht. Die Wissenschaft ist im Dritten Reiche frei. Nur Lehren und Lehrer, die der Jugend und dem Volke schaden, werden unterdrückt. Denn wir sind kein in sich ruhendes Gebilde, nur ein verschwindend kleiner Teil des Großen Ganzen.“3 Zwei Jahre später konnte der Gauschulungsleiter von Pommern zufrieden feststellen, daß die Universität nun eingefügt sei, in die „Totalität eines kämpferischen Deutschland“4, der Gauleiter lobte sie als „geistige Waffenschmiede“, ja sogar „wertvolle Zelle der nationalsozialistischen Bewegung“5 und der Reichserziehungsminister konnte sich persönlich davon überzeugen, daß die Universität ein Ort war, „wo deutsches Leben und wissenschaftliche Forschung total zusammenfallen“6. Die hier formulierten gegenseitigen Erwartungen und Ansprüche zeichnen das Bild einer in den NS-Staat integrierten und für seine Bedürfnisse und Ziele nutzbar gewordenen Lehr- und Wissenschaftseinrichtung, das bisher keiner umfassenden und systematischen historischen Überprüfung unterzogen worden ist. Die Gründe dafür sind unterschiedlicher Art. Die politische Systemkonfrontation in der Ära deutscher Zweistaatlichkeit mit ihren ideologischen Postulaten und den von ihnen abhängigen 1 Karl Reschke, Arbeit und Haltung des Studenten (Greifswalder Universitätsreden 43), Greifswald 1935, S. 5. 2 wie Anm. 1, S. 13f. 3 wie Anm. 1, S. 4. 4 Greifswalder Zeitung (künftig: GZ) vom18.06.1937 – Rede des Gauschulungsleiters Eckardt. 5 GZ vom 15.11.1937 – Rede des Gauleiters Schwede-Coburg. 6 Rede des Reichserziehungsministers Rust in Greifswald, vgl. GZ vom 02.06.1938.

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Dirk Alvermann

methodischen Zugängen zu einer solchen Aufarbeitung sind als Ursachen vielfältig benannt worden.7 In Greifswald kamen besondere Umstände hinzu. Die kampflose Übergabe der Stadt an die Rote Armee und die Beteiligung der Universität daran vermochten lange Zeit den Blick auf den Alltag der Diktatur im Universitätsleben von 1933–45 zu verstellen. Man hatte ja eben im entscheidenden Moment das Richtige getan. Die Rettungstat8 prägte gewissermaßen das Schlusskapitel einer historischen Erzählung, die ein besonderes Selbstverständnis begründen half. Die kampflose Übergabe der Stadt Greifswald an die Rote Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde zum Mythos, der eine wichtige Legitimationsfunktion für die Wiedereröffnung und später für die „antifaschistische Erneuerung“ der Universität9 nach dem Modell der sowjetrussischen Hochschulen besaß. Er prägte auch die historische Perspektive ganz grundsätzlich. So wurde über die NS-Zeit vorwiegend in Zusammenhängen reflektiert, die sich mit der Wiedereröffnung der Universität und der Entnazifizierung des Lehrkörpers beschäftigten und die Themenkomplexe retrospektiv ineinander verschränken konnten.10 Manche Dimension wurde dabei ausgeblendet.11 Es ist bezeichnend, dass der entsprechende Zeitabschnitt in einem umfassenden und übergreifenden Beitrag zur politischen Geschichte der Universität in der 1956 7

Vgl. stellvertretend den methodengeschichtlichen Abriss bei Uwe Hoßfeld, Jürgen John, Rüdiger Stutz, „Kämpferische Wissenschaft“: Zum Profilwandel der Jenaer Universität im Nationalsozialismus, in: Uwe Hoßfeld, Jürgen John, Oliver Lemuth, Rüdiger Stutz (Hg.), „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Weimar 2003, S. 23–121, hier S. 25–31. 8 Helge Matthiesen, Das Kriegsende 1945 und der Mythos von der kampflosen Übergabe, in: Horst Wernicke (Hg.), Greifswald. Geschichte der Stadt, Greifswald 2000, S. 135–140. Dort auch ältere Literatur. Zuletzt vgl. Uwe Kiel, April 2011 – Gedenktafelenthüllung für die Retter Greifswalds. Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte der kampflosen Übergabe der Stadt an die Rote Armee 1945, in: Zeitgeschichte Regional. Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern (künftig: ZGR), 15 (2011) Heft 2, S. 99–101; Uwe Kiel, Das Buch „Gewissen in Aufruhr“ von Rudolf Petershagen. Entstehungsgeschichte und gesellschaftspolitische Funktion eines „Bestsellers“ und seiner Verfilmung, in: ZGR, 11 (2007) Heft 1, S. 45–55; Irmfried Garbe, Die Greifswalder Stadtübergabe 1945 und ihre unmittelbaren Folgen. Eine Quellensynopse aus Anlass eines neuen Fundes, in: ZGR, 11 (2007) Heft 1, S. 79–87. 9 Zu den Quellen v.a. Agneta Schönrock, Zur antifaschistisch-demokratischen Umgestaltung der Universität Greifswald (Mai 1945 – Ende 1946), Phil. Diss. Greifswald 1981 (Ms. unveröffentlicht). 10 Vgl. Agneta Schönrock (wie Anm. 2); Gabriele Langer, Die Greifswalder Studentenschaft während der antifaschistisch-demokratischen Umgestaltung des Hochschulwesens (1945 bis 1949), Phil. Diss. 1986 (Ms. unveröffentlicht). 11 Vgl. Mathias Rautenberg, Universitätsangehörige zwischen Erneuerung, Beharrungsstreben und Anpassungsdruck – einige Aspekte der Entnazifizierung am Beispiel der Greifswalder Universität, in: ZGR, 10 (2006) Heft 1, S. 35–45.

Vorwort

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veröffentlichten Festschrift zu ihrer 500-Jahr-Feier lediglich in Form eines Ausblicks zwischen Kapp-Putsch und Bodenreform auf drei Seiten abgehandelt wurde.12 Größere Aufmerksamkeit wurde der NS-Zeit in der Festschrift zur 525-Jahr-Feier der Universität (1981) gewidmet, wobei auch unterschiedliche Aspekte, von der Berufungspolitik über das Lehrprogramm bis hin zur Einbindung in die militärische Auftragsforschung, thematisiert wurden.13 Die Geschichte der Universität im Nationalsozialismus hat überhaupt zwischen 1980 und 1984 eine Phase des intensiven Forschungsinteresses erlebt. An der damaligen Sektion Geschichtswissenschaft wurden in diesen Jahren allein fünf umfangreiche Diplomarbeiten verteidigt, die sich mit dem Thema beschäftigten.14 Ihr Wert liegt insbesondere darin, dass sie das seinerzeit zugängliche Quellenmaterial, insbesondere die Überlieferung im Universitätsarchiv und die regionalen Tageszeitungen sichteten und ein Faktengerüst für weiter ausgreifende Forschungen lieferten.15 Eine irgendwie geartete Zusammenfassung oder Fortführung haben diese Forschungen nicht erfahren, so dass Heiber 1994 zu Recht einen völlig unbefriedigenden Forschungsstand konstatieren durfte.16 Trotz z.T. beeindruckender Vorarbeiten in der Mitte der 1980er Jahre fand eine systematische Aufarbeitung der NS-Hochschul- und Wissenschaftsgeschichte in Greifswald auch nach 1990 nicht statt. Stattdessen entstanden einige umfangreiche biographische Darstellungen, die zwangsläufig auch dem Zeitgeschehen an der Uni12 Hans Schröder, Zur politischen Geschichte der Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald, in: Ernst-Moritz-Arndt-Universität (Hg.), Universität Greifswald: Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald, 17.10.1956, Bd. 1, Greifswald 1956, S. 53–156, hier S. 140–142. 13 Wolfgang Wilhelmus u.a., Universität Greifswald. 525 Jahre, Berlin 1982, S. 36–48. 14 Sie sind sämtlich durch die Oberseminare zur Universitätsgeschichte von Wolfgang Wilhelmus angeregt und auch von ihm betreut worden: Ludwig-Andreas Klöckner, Die Auswirkungen der faschistischen deutschen Hochschulpolitik auf die Greifswalder Studentenschaft in den ersten Jahren der faschistischen Diktatur, Diplomarbeit Greifswald 1980; Heinz Malchow, Die ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald im II. Weltkrieg, Diplomarbeit Greifswald 1982; Gabriele Förster, Die Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald während des Zweiten Weltkrieges 1939–1945, Diplomarbeit Greifswald 1984; Birgit Ahrendt, Die faschistische Hochschulpolitik am Beispiel der Ernst-Moritz-Arndt-Universität im Zeitraum 1936–39, Diplomarbeit Greifswald 1984; Elke Ostermann, Die faschistische Hochschulpolitik im Zeitraum 1933–1935 am Beispiel der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Diplomarbeit Greifswald 1984. Alle diese Arbeiten liegen als Typoskripte vor. Vorläufer war gewissermaßen die Studie von Helga Korf, Die Universität Greifswald von der Errichtung der faschistischen Diktatur bis zur Wiedereröffnung am 15. Februar 1946, Diplomarbeit Greifswald 1973. 15 Als letzten Ausläufer dieser Bemühungen kann man eine aus den Quellen erarbeitete Chronik der Studentenschaft von 1933–39 ansehen, die 1992 publiziert wurde. Vgl. Herold Busch, Chronik der Greifswalder Studentenschaft 1933 bis 1939, Greifswald 1992. 16 Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Teil II, Die Kapitulation der Hohen Schulen. Das Jahr 1933 und seine Themen, Bd. 2, München 1994, S. 370f.

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Dirk Alvermann

versität im Nationalsozialismus größeren Raum geben.17 Die Personalgeschichte der Universität ist nichtsdestotrotz, abgesehen von der Frühphase nationalsozialistischer Herrschaft, der „Gleichschaltung“ des Lehrkörpers zwischen 1933 und 1936, noch immer ungenügend erforscht.18 Einzelne Themen, wie sie etwa eine Senatskommission zur Untersuchung der zwischen 1933 und 1945 erfolgten Aberkennungen von Doktorgraden vertiefte, haben Impulse setzen können.19 Jüngere Forschungen haben Restriktionen gegen Angehörige des Lehrkörpers und auch die Geschichte des Antisemitismus20 an der Universität nochmals aufgegriffen und in mancher Hinsicht neue Einblicke verschafft.21 Das als Grundlagenforschung in diesem Bereich angelegte Greifswalder Professorenlexikon ist aber leider Fragment geblieben.22 Auch grund17 Stellvertretend seien genannt: Jan Armbruster, Edmund Robert Forster (1878–1933): Lebensweg und Werk eines deutschen Neuropsychiaters, Husum 2005; Hartwig Frank, Carola Häntsch (Hg.), Günther Jacoby (1881–1969): Zu Werk und Wirkung (= Wissenschaftliche Beiträge der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald), Greifswald 1993; Andreas Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, Tübingen 2004; Wolfgang Otto (Hg.), Freiheit in der Gebundenheit. Zur Erinnerung an den Theologen Ernst Lohmeyer, Göttingen 1990; Günter Mangelsdorf (Hg.), Zwischen Greifswald und Riga, Auszüge aus den Tagebüchern des Greifswalder Rektors und Professors für Ur- und Frühgeschichte Dr. Carl Engel, vom 1. November 1938 bis 26. Juli 1945, Stuttgart 2007; Christian Witte, „Ungestört wissenschaftlich weiterarbeiten…“ Der Pharmakologe Peter Holtz (1902–1970), Med. Diss. Greifswald 2006 (urn:nbn:de:gbv:9-000060-0); Thomas Zwilling, Leben und Werk des Anatomen Georg Wetzel, 1871–1951, Med. Diss. Greifswald 2004 (urn:nbn:de:gbv:9-200433-5). 18 Leider ebenfalls ungedruckt die bislang unerreichte Darstellung von Mathias Rautenberg, Die Angehörigen der Universität Greifswald in der faschistischen „Gleichschaltung“ (1933 bis 1936), Diplomarbeit Universität Leipzig 1990 (Ms. unveröffentlicht). 19 Dirk Alvermann, Die Aberkennungen akademischer Grade an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald während der NS-Zeit und ihre Aufhebung 1945–1966, in: ZGR, 7 (2003) Heft 2, S. 14–23. 20 Eva-Maria Auch, Die Verfolgung jüdischer Hochschullehrer in Greifswald, in: Margret Heitmann, Julius H. Schoeps (Hg.), „Halte fern dem ganzen Lande jedes Verderben…“ Geschichte und Kultur der Juden in Pommern (= Haskala; Bd. 15), Hildesheim/Zürich/New York 1995, S. 429–437, dies., Zum Wirken jüdischer Hochschullehrer an der Universität Greifswald, in: Der faschistische Pogrom vom 9./10. November 1938. Zur Geschichte der Juden in Pommern (= Wissenschaftliche Beiträge der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald), Greifswald 1989, S. 59–64. 21 Maud-Antonia Viehberg, Restriktionen gegen Greifswalder Hochschullehrer im Nationalsozialismus, in: Werner Buchholz (Hg.), Die Universität Greifswald und die deutsche Hochschullandschaft im 19. und 20.  Jahrhundert. Kolloquium des Lehrstuhls für Pommersche Geschichte der Universität Greifswald in Verbindung mit der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (= Pallas Athene; 10), Stuttgart 2004, S. 271–308 und Ines Oberling, Gelehrte aus jüdischen Familien an der Universität Greifswald im 19. Jahrhundert, ebenda, S. 145–168. 22 Werner Buchholz (Hg.), Lexikon Greifswalder Hochschullehrer 1775 bis 2006, Bd. 3 (1907– 1932), Bad Honnef 2004. Der einzige erschienene Band erfasst immerhin einen gewissen Teil des während der NS-Zeit anwesenden Lehrkörpers.

Vorwort

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legende Studien auf diesem Gebiet, die sich etwa der Berufungspolitik widmen, sind kaum in Angriff genommen worden.23 Im Gegensatz dazu zog die Geschichte der Studentenschaft schon vor 1990 große Aufmerksamkeit auf sich. Es wurden die Tätigkeit des Nationalsozialistischen Studentenbundes in Greifswald,24 die Auswirkungen der NS-Hochschulpolitik auf die Studentenschaft,25 die soziale Situation der Studierenden26 und auch die nationalsozialistische Verfolgung jüdischer Studenten27 beleuchtet. Hierhin gehören auch die in den letzten Jahren mehrfach thematisierten Bücherverbrennungen in Greifswald.28 23 Peter Schneck, Die Berufungs- und Personalpolitik an der Greifswalder Medizinischen Fakultät zwischen 1933 und 1945, in: Günter Grau, Peter Schneck (Hg.), Akademische Karrieren im Dritten Reich. Beiträge zur Personal- und Berufungspolitik an Medizinischen Fakultäten, Berlin 1993, S. 51–62 sowie Stephan Töpel, Frank Tost, Augenheilkunde im Nationalsozialismus – das Greifswalder Berufungsverfahren 1938, in: Klinische Monatsbläter für Augenheilkunde, 230 (2013) Heft 11, S. 1146–1153. Für die Juristische und die Theologische Fakultät wurden Fragen der Berufungspolitik im größeren Rahmen gestreift, aber nicht systematisch erforscht. Irene Vorholz, Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Von der Novemberrevolution 1918 bis zur Neukonstituierung der Fakultät 1992 (= Greifswalder Rechtswissenschaftliche Reihe; 9), Köln 2000 und Irmfried Garbe, Martin Onnasch, Die Theologische Fakultät Greifswald 1815–2004, in: Dirk Alvermann, Karl-Heinz Spieß (Hg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456–2006, Bd. 1, Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006, S. 11–164. 24 Herold Busch, Greifswalds Studentenschaft in der Apologie der Herrlichkeit der Monarchie, ihre politische Haltung als „Akademische Schutztruppe“ gegen den bürgerlich-parlamentarischen Staat der Weimarer Republik. Greifswalds Studenten im Sog des Nationalsozialistischen Studentenbundes, Studie zur politischen Geschichte der Greifswalder Studentenschaft in der Weimarer Republik, 1990 (Ms. unveröffentlicht). 25 Ludwig-Andreas Klöckner, Die Auswirkungen der faschistischen deutschen Hochschulpolitik auf die Greifswalder Studentenschaft in den ersten Jahren der faschistischen Diktatur, Diplomarbeit Greifswald 1980 (Ms. unveröffentlicht). 26 Kerstin Müller, Die Entwicklung der Wohnsituation für Studenten der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald in der Zeit von 1850 bis 1945 – Schwerpunkt 1870 und 1922, Diplomarbeit Greifswald 1986 (Ms. unveröffentlicht). 27 Eckhard Oberdörfer, Jüdische Studentenverbindungen und akademischer Antisemitismus an der Universität Greifswald, in: Margret Heitmann, Julius H. Schoeps (Hg.), „Halte fern dem ganzen Lande jedes Verderben…“ Geschichte und Kultur der Juden in Pommern (= Haskala; Bd. 15), Hildesheim/Zürich/New York 1995, S. 439–452 und ders., Zum Antisemitismus Greifswalder Studenten von 1919 bis zur Auflösung der Verbindungen, in: Der faschistische Pogrom vom 9./10. November 1938. Zur Geschichte der Juden in Pommern (= Wissenschaftliche Beiträge der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald), Greifswald 1989, S. 69–75. 28 Karl-Heinz Borchardt, Die Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 und die Aktion „Für den deutschen Geist“ der Greifswalder Studenten, in: Pommersches Jahrbuch für Literatur, 2 (2007), S. 153–183; Dirk Mellies, Karl-Heinz Borchardt, Greifswald – 10. Mai 1933 auf dem Marktplatz, in: Julius H. Schoeps, Werner Treß (Hg.), Orte der Bücherverbrennung in Deutschland

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Dirk Alvermann

Bezeichnenderweise hat sich das Interesse an der Erforschung des Frauenstudiums in Greifswald aber nicht auf die NS-Zeit erstreckt.29 Im Hinblick auf die Geschichte einzelner Fakultäten oder Institute während der NS-Zeit ist – von gelegentlichen Ausweitungen abgesehen – der Forschungsstand der 1950er Jahre sehr unterschiedlich weiterentwickelt worden.30 Lediglich die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät kann auf neuere und komplexere Darstellungen – auch zur NS-Zeit – zurückgreifen.31 Am häufigsten hat die Geschichte der Institute und Kliniken der Medizinischen Fakultät im Rahmen von Jubiläumsschriften Berücksichtigung gefunden, die den Schwerpunkt der Darstellung aber nur in Ausnahmefällen auf die NS-Zeit legten32 oder diese ganz übergehen.33 Eine Ausnahme bilden die Forschungen

1933 (= Wissenschaftliche Begleitbände im Rahmen der Bibliothek verbrannter Bücher; 1), Hildesheim u.a. 2008, S. 392–409. 29 Britta Herrmann, Karin Ritthaler, 90 Jahre Frauenstudium in Greifswald, Greifswald 1999, S. 58f.; die umfassendere Studie von Julia Pieper, Grypswaldia, du magst ruhig sein, denn die Studentin zieht jetzt ein. Die Anfänge des Frauenstudiums in Greifswald 1873 bis 1925, Greifswald 2007, leistet wichtige Grundlagenforschung für eine Weiterführung der Fragestellung in die NS-Zeit hinein. 30 Das betrifft auch die den historischen Wissenschaften nahe stehenden Institute der Philosophischen Fakultät, mit Ausnahme des Historischen Instituts, vgl. Der Rektor der Ernst-MoritzArndt-Universität Greifswald (Hg.), 125 Jahre Historisches Seminar, Sektion Geschichtswissenschaft der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 1988. Kolloquium am 29. November 1988 in Greifswald (= Wissenschaftliche Beiträge der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald), Greifswald 1990; Paul Hauck, Die Geschichte der Geographie an der Universität Greifswald von der Gründung der Hochschule 1456 bis zur Befreiung vom Nationalsozialismus 1945 in Beziehung zur Entwicklung der Geographie im deutschsprachigen Raum (= Greifswalder Geographische Arbeiten; Bd. 44), Greifswald 2009; Ute Bräunlich, Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft von 1933 bis 1945 an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Diplomarbeit Greifswald 1984 (Ms. unveröffentlicht). 31 Irene Vorholz, Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Von der Novemberrevolution 1918 bis zur Neukonstituierung der Fakultät 1992 (= Greifswalder Rechtswissenschaftliche Reihe; 9), Köln 2000 und mehrere Beiträge von Hans-Georg Knothe, zuletzt ders., Die äußere Geschichte der Greifswalder Juristischen Fakultät von 1815–1945, in: Joachim Lege (Hg.), Greifswald – Spiegel der deutschen Rechtswissenschaft 1815–1945, Tübingen 2009, S. 17–58. 32 Die von Siegfried Wirsbitzky und Otto-Andreas Festge herausgegebene Festschrift 100 Jahre Kinderklinik Greifswald 1896–1996, Greifswald 1997, S. 33ff. geht verhältnismäßig ausführlich auf den Alltag während der NS-Zeit ein. Die inzwischen in zweiter Auflage erschienene Geschichte der Inneren Medizin an der Universität Greifswald. Herausbildung und Entwicklung von 1456 bis 1990, hg. v. Ralf Ewert, Günter Ewert, Markus M. Lerch, Greifswald 2009 reflektiert Probleme der NS-Zeit eher sparsam. 33 100 Jahre Studiengang Zahnmedizin an der Universität Greifswald, Greifswald 2000.

Vorwort

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zur Universitätsnervenklinik,34 zur Universitätshautklinik35 und zur Universitätsaugenklinik.36 Die Festschrift zur 550-Jahr-Feier der Universität (2006) hat schließlich den bis dahin erreichten Forschungsstand im Hinblick auf die Fakultäten weitgehend zusammengefasst und z.T. auch erheblich erweitert.37 Allerdings wurde dabei nicht die Universität als Ganzes und die NS-Zeit im Besonderen in den Blick genommen, sondern die Aufmerksamkeit auf die zäsurübergreifende Entwicklung der Fakultäten gerichtet. Angesichts des Umstands, dass die Universität einen „Ort“ in der sie umgebenden Gesellschaft hat, ist auch ihrer Vernetzung in den Milieus (Stadt, Kirche, Militär) einige Aufmerksamkeit gewidmet worden.38 Nach der Musterung des vorhandenen Forschungsstandes und unter dem Eindruck der wiederholten anlassbezogenen Thematisierung der NS-Vergangenheit der Universität beschloss das Rektorat der Ernst-Moritz-Arndt-Universität im Mai 34 Zum Fragenkreis der Euthanasie vgl. Thomas Bady, Manfred Blütgen, Wolfgang Fischer, Analyse von Gutachten zur Zwangssterilisation 1933–1945 an der Universitäts-Nervenklinik, in: Wolfgang Fischer, Heinz-Peter Schmiedebach (Hg.), 160 Jahre Hochschulpsychiatrie Greifswald (= Wissenschaftliche Beiträge), Greifswald 1997, S. 54–76. Zur Institution Arne Pfau, Die Entwicklung der Universitäts-Nervenklinik (UNK) Greifswald in den Jahren 1933 bis 1955 (= Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften; 101), Husum 2008 sowie auch Jan Armbruster, Edmund Robert Forster (1878–1933). Lebensweg und Werk eines deutschen Neuropsychiaters, Husum 2005. 35 Tabea Kapp, Die Entwicklung der Universitäts-Hautklinik Greifswald in der Zeit des Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung von Patientenakten mit den Diagnosen Syphilis und Gonorrhoe. Med. Diss. Greifswald 2011 (urn:nbn:de:gbv:9-000985-1). 36 Stephan Töpel, Die Universitätsaugenklinik Greifswald im Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung ihres ärztlichen Personals, Med. Diss. Greifswald 2013. 37 Dirk Alvermann, Karl-Heinz Spieß (Hg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald , Bd. 1, Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006. 38 Wertvolle Grundlagen dafür sind in der im Jahr 2000 erschienenen Studie von Helge Matthiesen zum konservativen Greifswalder Milieu zwischen 1900 und 1990 gelegt worden: Helge Matthiesen, Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu im Kaiserreich, in Demokratie und Diktatur 1900–1990 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; 122), Düsseldorf 2000. Die gleiche Beobachtung gilt im Übrigen auch für das Verhältnis von Universität, insbesondere Theologischer Fakultät, und Landeskirche, die in Ansätzen von Werner Klän mit aufgearbeitet wurde, oder auch die Verbindung zwischen Universität und Militär. Vgl. Werner Klän, Die evangelische Kirche Pommerns in Republik und Diktatur: Geschichte und Gestaltung einer preußischen Kirchenprovinz 1914–1945, Köln/Weimar/Wien 1995 und Ralf Scheibe, Universität und Militär in Greifswald in der Mitte des 20. Jahrhunderts, in: Dirk Alvermann, Karl-Heinz Spieß (Hg.), Bausteine zur Greifswalder Universitätsgeschichte. Vorträge anlässlich des Jubiläums „550 Jahre Universität Greifswald“ (= Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald; 8), Stuttgart 2008, S. 151–178.

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Dirk Alvermann

2011 ein Forschungsprojekt zu initiieren, dessen Aufgabe die möglichst umfassende und systematische Erforschung und Darstellung der Geschichte der Universität während der Jahre 1933 bis 1945 beinhaltet. In der Folgezeit wurden von Mitarbeitern des Projektes eine Reihe von Studien in Angriff genommen, deren Ziel es war, Forschungsdefizite auszugleichen und den Kenntnisstand in verschiedenen Themenbereichen so zu vertiefen, dass die Zusammenschau von Ergebnissen eine geplante und bereits im Entstehen begriffene Gesamtdarstellung sinnvoll unterstützen kann. Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Disziplinen innerhalb und außerhalb der Universität haben diese Bemühungen mit eigenen Beiträgen unterstützt, die im April 2013 auf einem Workshop in Greifswald vorgestellt werden konnten. Die Aufsätze des vorliegenden Bandes gehen auf diesen Workshop und die anschließenden Diskussionen zurück.

Politische Herrschaft – Ressourcenkonstellationen – Anspruch akademischer Freiheit1 Mathias Rautenberg

Vorbemerkungen

Dieser Beitrag folgt einer Einladung des Herausgebers, für die an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Es handelt sich dabei um den Rückgriff eines Gelegenheitshistorikers auf Forschungen zum Themenkomplex, die im Wesentlichen mehr als zwanzig Jahre zurück liegen. Mit meiner damaligen Diplomarbeit untersuchte ich das Wechselverhältnis zwischen Universitätsangehörigen und ihrem Umfeld vor und nach der Zäsur von 1933. Insbesondere versuchte ich, das Verhalten dieses Personenkreises in der Konfrontation mit dem neuen Herrschaftssystem zu erfassen und zu analysieren, um davon aus­gehend Kontinuitäten, Brüche und Alternativen in dieser Entwicklung herausarbeiten zu können. Zur Bearbeitung schien mir die Eingrenzung auf eine kleine, überschaubarere, eben die Greifswalder Universität angemessen. Ursprünglich hatte die Aufgabe im Vergleich einer zentralen, großen Universität wie der Berliner mit einer kleinen wie der Greifswalder bestehen sollen. Ich konnte meinen damaligen Lehrer, Werner Bramke, davon überzeugen, dass ich mit der Bearbeitung der Greifswalder Verhältnisse vollauf ausgelastet war. Diese Entscheidung war der Ausgangspunkt für eine bis heute bestehende Bindung an Greifswald und seine Universität.2 Aus einem an die Diplomarbeit anschließenden, jedoch nicht zum Abschluss gebrachten Dissertationsprojekt, das die Greifswalder Universität und ihre Angehörigen vor dem Hintergrund der Zäsur von 1945 und ihrer Folgen untersuchte, sind zumindest einzelne Aufsätze, u.a. zur sogenannten Entnazifizierung3 und biografische

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Dieser Beitrag basiert im Wesentlichen auf dem Inhalt meiner 1990 verteidigten Diplomarbeit „Die Angehörigen der Universität Greifswald in der faschistischen „Gleichschaltung“ (1933 bis 1936)“. 2 Eckhard Oberdörfer, Von der Wiege bis zur Bahre ist doch Gryps das einzig Wahre, Schernfeld 1993. 3 Mathias Rautenberg, Universitätsangehörige zwischen Erneuerung, Beharrungsstreben und Anpassungsdruck – Einige Aspekte der Entnazifizierung am Beispiel der Greifswalder Universität, in: Zeitgeschichte regional. Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern (künftig: ZGR), 10 (2006) Heft 1, S. 35–45.

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Skizzen über Ernst Lohmeyer,4 Franz Wohlgemuth,5 zuletzt über Carl Engel,6 die in einem vom Stadtarchiv Greifswald geplanten Sammelband über die Retter Greifswalds 1945 erscheinen soll, hervorgegangen. Ich bin mir nur zu bewusst, dass seither die Zeit in Greifswald nicht nur nicht stehen geblieben ist. Die Zahl der jüngeren wissenschaftlichen Veröffentlichungen zur deutschen Zeitgeschichte, selbst zu einem Spezialgebiet wie den Universitäten, ist Legion. Auch für Greifswald haben Forschungen zur Stadtgeschichte,7 zur Geschichte der Universität8 oder zu einzelnen Persönlichkeiten9 in den vergangenen Jahren viele Leerstellen füllen und das Bild facettenreicher gestalten können. An das Greifswalder Hochschullehrerlexikon bis 1932 war vor zwanzig Jahren noch nicht zu denken.10 Diese Aufzählung kann nicht vollständig sein, sondern soll das Selbstverständnis dieses Beitrages deutlich machen: ein selbst Geschichte gewordener kleiner Schritt zum heute erreichten Stand der Geschichtsschreibung über die Universität Greifswald in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die im zurückliegenden Jahrzehnt geführten Debatten um die Benennung der Universität Greifswald nach Ernst Moritz Arndt11 zwischen 1933 und 1945 sowie seit 1954 haben den Anstoß gegeben, die Forschungen zur Geschichte der nationalsozialistischen Herrschaft in Greifswald zu intensivieren. Dieser Beitrag soll allenfalls eine Stichprobe für den vor nahezu einem Vierteljahrhundert erreichten Forschungsstand sein und sich als Anknüpfungs4 Mathias Rautenberg, Das vorzeitige Ende der demokratischen Erneuerung im „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“, in: ZGR, 3 (1999) Heft 1, S. 55–61 sowie Mathias Rautenberg, Der Tod und die SED. Zum 65. Todestag Ernst Lohmeyers, in: ZGR, 15 (2011) Heft 2, S. 20–33. 5 Mathias Rautenberg, Franz Wohlgemuth – „Wie sieht sein wahres Gesicht aus?“, in: ZGR, 4 (2000) Heft 1, S. 49–59. 6 Mathias Rautenberg, Die Zäsur von 1945 und ein gescheitertes Leben? Biografischer Versuch über Carl Engel (1895–1947) (in Vorbereitung). 7 Horst Wernicke (Hg.), Greifswald: Geschichte einer Stadt, Schwerin 2000. 8 Dirk Alvermann, Karl-Heinz Spieß (Hg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456–2006, 2 Bände, Rostock 2006. 9 Eckhard Oberdörfer, Noch 100 Tage bis Hitler. Die Erinnerungen des Reichskommissars Wilhelm Kähler, Schernfeld 1993; Irmfried Garbe, Theologe zwischen den Weltkriegen: Hermann Wolfgang Beyer (1898–1942): Zwischen den Zeiten, konservative Revolution, Wehrmachtseelsorge (= Greifswalder Theologische Forschungen; 9), Frankfurt/M. 2004. 10 Werner Buchholz (Hg.), Lexikon Greifswalder Hochschullehrer 1775 bis 2006, Bd. 3: Lexikon Greifswalder Hochschullehrer 1907 bis 1932, Bad Honnef 2004. 11 Einen Überblick über die Diskussion bieten: Dirk Alvermann, Zwischen Pranger und breitem Stein. Die Namensgebung der Universität Greifswald und die aktuelle Diskussion, in: ZGR, 5 (2001) Heft 2, S. 43–51 sowie Eckhard Oberdörfer, Ein Mann für alle Jahreszeiten – der Streit um Ernst Moritz Arndt geht weiter, in: ebd., S. 52–56; Eckhard Oberdörfer, Die Universität Greifswald wird weiter den Namen Ernst Moritz Arndt tragen, in: ZGR, 14 (2010) Heft 1, S. 39–55.

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punkt für die neueren Forschungen anbieten. Ob die damaligen Fragestellungen und Schlussfolgerungen noch Relevanz haben, kann vielleicht durch die anderen Tagungsbeitragenden bzw. im Rahmen des Greifswalder Forschungsprojektes12 beantwortet werden. Für mich war die Institution Universität als Schnittstelle interessant, an der gesellschaftliche Verhältnisse und das Agieren von Lehrenden und Studierenden vermittelt werden. Es ging mir darum, die Hochschullehrer in der Differenziertheit ihres Arbeitsumfeldes innerhalb der Hochschule und der daraus resultierenden Einflüsse zu betrachten, nicht um eine Geschichte der Institution. Die Stellung von Hochschullehrern und Studenten im Spannungsverhältnis von passivem Erdulden und aktiver Gestaltung als konstitutive Momente des Prozesses, der in meiner damaligen Themenstellung mit dem Begriff „Gleichschaltung“ gefasst wurde, sollte im Mittelpunkt der Arbeit stehen. Termini wie „Gleichschaltung“ oder „Machtergreifung“, zumeist Wortschöpfungen der Akteure jener Zeit, wurden durch Anführungsstriche als Zitat gekennzeichnet, um einerseits Distanz auszudrücken, andererseits schwierige, den Sinn u.U. verzerrende Umschreibungen zu vermeiden. Gleichwohl kann nicht genug auf die Gefahr auch dieses Vorgehens hingewiesen werden, die mit der Fortschreibung solcher Ideologeme bzw. Propagandabegriffe in wissenschaftlichem Kontext verbunden sind. Spätestens wenn die Anführungszeichen verschwunden sind, ist auch die kritische Distanz zum historischen Gegenstand in Gefahr. Letztlich geht es doch darum, die historische Realität hinter solchen Begriffen so deutlich wie möglich herauszuarbeiten. In dem Zusammenhang muss ich wohl auch kurz mein Verhältnis zu den zentralen Begriffen, die jene Zeit gemeinhin charakterisieren sollen, erörtern: Ich komme aus einer Schule, die dem Begriff „Faschismus“ in diesem Kontext eine grundlegende Rolle zuwies, ihn quasi als Gattungsbegriff in Beziehung zu vergleichbaren politischen Bewegungen und Herrschaftsformen setzte. Der „Faschismus“ hatte als zuerst zur Herrschaft gekommenes Phänomen die Diskussion um das Wesentliche dieser politischen Äußerung stark bestimmt, wohingegen mit dem deutschen „Nationalsozialismus“ in der marxistisch (oder marxistisch-leninistisch) attribuierten Lesart immer auch der das herrschaftssichernde Wesen verschleiern sollende Propagandacharakter dieser Bezeichnung hervorgehoben wurde.13 Die folgende Anekdote mag Elemente illustrieren, die die Herausbildung dieser Sichtweise unterstützt haben: Im Frühjahr

12 Die Universität Greifswald in der NS-Zeit. Vgl. http://www.uni-greifswald.de/informieren/ universitaet-im-nationalsozialismus.html. (letzter Abruf 11.4.2013) 13 Das Faschismusverständnis, von dem aus diese Untersuchungen geführt wurden, findet sich u.a. in den folgenden Schriften wieder: Joachim Petzold, Faschismus. Regime des Verbrechens, Berlin (O.) 1984 bzw. Reinhard Opitz, Faschismus und Neofaschismus, Berlin (O.) 1984.

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1986 trat – kurz vor seinem Tod – Richard Scheringer,14 einer der sogenannten Ulmer Reichswehrleutnants, die 1930 den Anlass zu Hitlers Legalitätseid vor dem Reichsgericht gegeben hatten, in der Leipziger Moritzbastei auf. Die Pointe seiner Erzählung über die Geschichte seines Überganges von den Nationalsozialisten zu den Kommunisten im Jahr 1931 war mit der Geschichte seines Besuchs bei Hitler und Goebbels in München während eines Urlaubs von der Festungshaft verbunden: Befragt nach dem Gehalt des sogenannten 25-Punkte-Programms der NSDAP, insbesondere zur „Brechung der Zinsknechtschaft“ soll Goebbels Scheringer geantwortet haben: „Brechen muss nur der, der diesen Federschen Unsinn liest.“ Erlebnisse wie diese wirkten nachhaltig beeindruckend und meinungsbildend. Bis heute halte ich diese Perspektive für berechtigt. Nicht von ungefähr ist diese Bezeichnung „Nationalsozialismus“ unter dem Eindruck der Angst vor, in Konfrontation mit der Erwartung einer „Weltrevolution“ entstanden. Er stellte ein geschicktes Eingehen auf ein unabweisbar geäußertes Bedürfnis nach einem in der Terminologie der Zeit „Sozialismus“ genannten gesellschaftlichen Korrektiv dar. Auch heutige vergleichbare Bewegungen sind vielfach dort erfolgreich, wo sie auf ein diffuses Verlangen nach einem Volkstribun Bezug nehmen. Die NSDAP konnte sich als Volkstribun inszenieren und in dieser Rolle in dem Maße reüssieren, wie es anderen Kräften nicht gelang, über ihre Partikularinteressen bedienenden Zusammenhänge hinauszugehen. Vor dem Hintergrund weit zurückreichender obrigkeitsstaatlicher Traditionen und Illusionen (das in der Barbarossa-Legende ausgedrückte Hoffen auf den „guten König“) konnte dieser „Tribun“ erfolgreich die Idee eines „Führerprinzips“ gegen Gleichheitswerte in Stellung bringen. Die Macht des Faktischen – nicht zuletzt die Revolutionserfahrungen am Ende des Ersten Weltkrieges – führte dazu, dass „Nationalsozialismus“ neben die Inszenierung die praktische Wahrnehmung der Rolle des Volkstribuns treten lassen musste. Mit „Hitlers Volksstaat“ (Götz Aly)15 nahm diese Form von Herrschaftsausübung über Korrumpierung durch Eröffnung von Handlungsfreiräumen und materieller Absicherung – zulasten Dritter – nachgerade idealtypische Gestalt an. Diese „Ermöglichungsdiktatur“ (Jörg Baberowski)16 sorgte für Faszination und Engagement selbst da, wo die Illusion gepflegt wurde, zum politischen System auf Distanz zu sein. Damit wären wir bereits mitten im Thema. 14 Scheringer, Richard (1904–1986), in: Hermann Weber, Andreas Herbst, Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 22008, S. 718. 15 Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; Bd. 487), Bonn 2005. 16 Der Begriff wird hier in Anlehnung an Jörg Baberowski, Zivilisation der Gewalt. Die kulturellen Ursprünge des Stalinismus, Antrittsvorlesung am Institut für Geschichtswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin am 10.7.2003 gebraucht. Vgl. http://edoc.hu-berlin.de/humboldtvl/136/baberowski-joerg-3/PDF/baberowski.pdf (letzter Abruf 11.4.2013).

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Eckhard Oberdörfer zitierte 1991 in einem Aufsatz den Psychiater Oswald Bumke, zu Beginn der 1930er Jahre Vorstandsmitglied im Verband der deutschen Hochschulen: „[…] ahnungslos sind ich und sehr viele gewesen. Erst das Ermächtigungsgesetz hat uns die Augen geöffnet, der 30. Juni 1934 hat die letzte Hoffnung auf einen deutschen Rechtsstaat zerstört. Schritt für Schritt ist das Verhängnis weiter gegangen, und schließlich sind wir in den Abgrund gestürzt […] Die meisten haben nach außen den Schein gewahrt, wie wenn sie zum Dritten Reich gehörten. In Wirklichkeit haben sie von den uns überkommenen Gütern so viele wie möglich zu bewahren versucht und zuweilen ist ihnen das auch in erheblichem Maße gelungen. Natürlich zu einem guten Teil deshalb, weil die neuen Gewalthaber, überheblich, ungebildet und dumm, gar nicht bemerkt haben, dass die Universitäten auf vielen Gebieten weitergearbeitet haben wie früher und dass diese Professoren nur deshalb ihre Schriftstücke mit Heil Hitler! unterschrieben und das gräßliche Horst-Wessel-Lied sangen, um ungestört durch die Partei ihr geistiges Erbe still zu erhalten und wenn möglich mit diesem Pfund zu wuchern. Freilich, um darüber zu urteilen, muss man die deutsche Universität schon ziemlich genau kennen. Dass die Dinge von außen häufig anders ausgesehen haben, gebe ich zu.“17 Diese – nachträgliche – Charakterisierung der „neuen Gewalthaber“ ist m.E. in vieler Hinsicht beispielhaft. Jedoch sahen die Dinge nicht nur von außen anders aus: Das oben beschriebene Verhalten war wesentlich für das Funktionieren der deutschen Gesellschaft bis 1945 (auch vorher oder später – aber das ist ein anderes Thema). Dieser Bericht ist nicht nur eine retrospektive Inszenierung, sondern gibt auch die zeitgenössischen Selbstbeschwichtigungsmuster, die Versuche „kognitive Dissonanz“ (Harald Welzer)18 zu überbrücken, wieder. Zu solchen Mustern gehört „Schlimmeres zu verhindern“ oder das „kleinere Übel“ wählen zu wollen. Auch das scheinbar unpolitisch-objektive „Von innen verstehen“-Wollen hat offenbar eine lange Tradition. In Greifswalder Universitätsreden jener Zeit finden sich Belege dazu.19 Jenes von Bumke beschriebene Funktionieren funktionierte deshalb, weil zu jenen „Gewalthabern“ eben nicht wenige – dann auch „überhebliche“, „ungebildete“ und „dumme“ – akademische Mandarine (Theodor Vahlen, Johannes Stark – um nur zwei mit 17 Oswald Bumke, Erinnerungen und Betrachtungen. Der Weg eines deutschen Psychiaters, München 1953, S. 139; 150, nach Eckhard Oberdörfer, Der Verband der deutschen Hochschulen und der Braunschweiger Hochschulkonflikt, in: Geschichte und Gegenwart. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Gesellschaftsanalyse und politische Bildung, 10 (1991) Heft 2, S. 155. 18 Der Begriff wird eingesetzt von Sönke Neitzel, Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt/M. 2011, S. 254, 278, 281, 389, 463, insbesondere S. 464f. 19 Der Nationalökonom Prof. Dr. Friedrich Hoffmann wird mit einer 1933 gehaltenen Rede später von mir in diesem Sinne zitiert. Vgl. Anm. 85.

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Greifswaldbezug zu nennen) bzw. ihre Schüler gehörten, die sich über ihre Rolle und ihren Anteil keine oder kaum Rechenschaft ablegten. Um ein besonderes Beispiel zu nennen: Das spätere Reichssicherheitshauptamt war mit hochgebildeten und -motivierten deutschen Juristen Staats- und Geisteswissenschaftlern besetzt.20 Meine Bildungssozialisation war von der Einsicht geleitet: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“21 Dieser Satz, aus dem Kontext der frühen historisch-materialistischen Einlassungen von Karl Marx ist für mich bis heute so bestandskräftig, wie ich ihn als Binsenweisheit ansehe. Die darin formulierte Erkenntnis gehört zu den Grundlagen, von denen aus ich vor etwa 25 Jahren meine Untersuchungen zum Verhalten von Greifswalder Akademikern im Umfeld der Zäsur von 1933 begonnen habe. Die historischer (und dialektischer) Materialismus genannte philosophische Grundlage hat mich bei meinen Untersuchungen seiner Zeit inspiriert und tut es noch heute. Was in diesem Ansatz steckt, wenn er aus dem teleologischen Gefängnis einer Heilslehre befreit ist, hat in jüngerer Zeit Ian Morris mit seiner Geschichte der Menschheitsentwicklung unter dem Titel „Why the West Rules – for Now“ (deutsch erschienen unter: „Wer beherrscht die Welt“) in – zumindest mich – beeindruckender Weise gezeigt.22 Neben ihrem direkten Eingreifen in gesellschaftliche Prozesse hat die Hochschul­ intelligenz aufgrund ihres zusammengefassten Potentials und ihrer besonderen Stellung im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess als Schaltstelle in der sozialen ­Hierarchie einen nicht unwesentlichen mittelbaren Einfluss ausgeübt. Die Errichtung faschistischer Herrschaftsverhältnisse gestaltete sich m.E. zu der Zeit notwendig aus der dominanten Ablehnung einer bürgerlich-pluralistischen Gesellschaftsverfassung heraus. Die Vorstellung vom „Führerstaat“ setzte sich durch, weil er die konsequenteste und effektivste Aufhebung der aus den überkommenen Verhältnissen erwachsenen Widersprüche versprach. Ich habe den Begriff „Gleichschaltung“ sowohl zeitlich als auch inhaltlich als umfassenderen Prozess behandelt, als er im historischen Kontext gebraucht wurde. „Gleichschaltung“ und „Machtergreifung“ stehen dabei in einem engen Zusammenhang. So viel wie letzterer Begriff in Bezug auf den 30. Januar 1933 20 Michael Wildt, Generation des Unbedingten: Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2003, S. 846–854. Zum „Täterbild“ darüber hinaus: Wildt auf S. 15–23, insbesondere auf S. 21 mit dem Hinweis, „daß ein Gutteil der (Mit-)Täter der ‚Endlösung‘ aus den akademischen Eliten kam“. 21 Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (1852), in: Marx-Engels Werke, Bd. 8, Berlin 1960, S. 115. 22 Ian Morris, Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden, Frankfurt/M. 2011.

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verschleiert, so sehr hat er seine Berechtigung für die Entwicklungen mit der Zäsur vom 27. Februar 1933, als es in der Tat um offene Eroberung ging, die von der Durchsetzung und Ausgestaltung – auch im Sinne einer (nennen wir es) Selbstverständnisklärung – des Machtmonopols begleitet wurde. An der Greifswalder Universität zog sich nach meiner Lesart dieser Prozess bis in das Jahr 1936. Die „Gleichschaltung“ vollzog sich zunächst auf der personalen Ebene als Inbesitznahme des Staatsapparates durch die Einsetzung von Vertrauensleuten der „Nationalsozialisten“ und die Übernahme politisch zumindest als loyal erachteter Fachleute von oben her bei gleichzeitiger Ausschaltung des alternativen Gegenpols der Faschisten, der Arbeiterbewegung sowie demokratisch-republikanischer Kräfte außerhalb derselben. Parallel dazu wurde mit der Schaffung neuer, auf Legitimation und Machtsicherung gerichteter juristischer Normative begonnen. Dies wurde zumeist von den NS-Organisationen politisch vorbereitet. In der nächsten Phase erfolgte die Unterwerfung der Kräfte, die den Weg der „Nationalsozialisten“ an die Macht mit eigenen Konzepten begleitet hatten, indem diese zur Aufgabe ihrer Eigenständigkeit gezwungen wurden. Sie hatten sich, ohne es zu begreifen, selbst den Boden entzogen. Politischer Absolutismus duldet auch im eigenen Lager keinen organisierten Pluralismus. Mit der Errichtung des Macht-, Organisations- und Medienmonopols wurde die Ausgestaltung zentralistisch-hierarchischer Herrschaftsstrukturen verbunden. Auf dieser Stufe erfolgte dann, als ein bestimmtes Effizienzniveau erreicht war, der Umschlag zur Reproduktion dieser Funktionen. Die „Gleichschaltung“ hatte, wo es möglich war, ihr Ziel erreicht. Jedoch blieb die „gleichgeschaltete“ Gesellschaft im Spannungsverhältnis von Mittel und Selbstzweck ein mühsam ausbalancierter Interessenkompromiss. Die vielen vertikalen und horizontalen Kompetenzüberschneidungen und -streitigkeiten auf der Grundlage einer nur am Ergebnis für den faschistischen Staat kontrollierten Macht schufen Möglichkeiten für Freiräume einerseits, aber auch für Willkür, die den Einzelnen potentiell letztlich zum Spielball werden lassen konnte. Dabei wurde die Stabilität dieser einmal in Gang gekommenen Entwicklung durch grundlegende menschliche Bedürfnisse gesichert, was unter den gegebenen Voraussetzungen bedeutete, dass die Menschen sich dieser Entwicklung ergaben und die Sicherung ihrer individuellen Existenz durch die jeweils als optimal empfundene Anpassung suchten. Faschistische Herrschaft strebte, wo sie nicht Selbstzweck war, dies zu fördern. Neben der Suche nach Ursachen sollte aus der heutigen Kenntnis der Folgen dieser Entwicklung auch nach der Verantwortung des Einzelnen gefragt werden, wobei ich den Versuch unternommen habe, einer moralisierenden Wertung möglichst aus dem Wege zu gehen. Mir scheint das unter der folgenden Prämisse durchaus möglich zu sein: Menschen können objektiv ihre Selbstbezogenheit nur im Verhältnis zu anderen Menschen er- und ausleben. Das ruft eben jene gesellschaftlichen Widersprüche her-

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vor, die wiederum unabhängig von deren Willen der höchsten Zuspitzung als Voraussetzung einer Lösung zustreben. Kein Mensch kann nur rationaler Egoist sein, wie jüngst auch Frank Schirrmacher erkannt hat.23 Selbstbehauptungsstreben und Kampf um Ressourcen – ob gegen „oben“ oder als Konkurrenzen etwa im Kollegenkreis – sehe ich immer in einem dialektischen (!) Zusammenhang mit notwendigen Solidarisierungen, altruistischen Bewegungen. Die sind m.E. notwendig, ob sie eingestanden werden, ins Konzept passen oder nicht. Menschlicher Altruismus ist jedoch m.E. mitnichten selbstlos – was nur nicht reflektiert wird. Wir tun Gutes, um Gutes, Selbstbestätigung zu erfahren oder um uns gut zu fühlen. Menschen können in der ignoranten Richtung konditioniert werden – wie die Geschichte zeigt –, jedoch nicht straflos, weder für sich noch für die Gesellschaft. „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“24 Der daraus entstehende – nicht nur – seelische Schaden ist ein schon Jahrtausende altes Thema. Die von Mitchell Ash in den 1990er Jahren entwickelte Perspektive auf Konzepte der Ressourcenmobilisierung, exemplifiziert am Beispiel des Psychologen Kurt Gottschald, dessen Karriere durch fünf deutsche Regime verfolgt wurde, scheint mir ein hilfreicher Ansatz zu sein.25 Der Begriff „Ressource“ lässt sich u.a. mit Kapital oder Energie übersetzen. Gerade in Bezug auf den hier verhandelten Gegenstand scheint mir, hat der differenzierte Kapitalbegriff von Pierre Bourdieu einiges zu bieten, spielen doch hier z.B. symbolisches und kulturelles Kapital eine wichtige Rolle.26 Schon längere Zeit treibt mich um, aus den Naturwissenschaften (v.a. Physik) entlehnte Begriffe, Konzepte (Energieerhaltungssatz, Trägheitsgesetz, Entropie, um nur einige zu nennen) zur Erhellung historischer gesellschaftlicher Phänomene heranzuziehen. Ian Morris’ Ergebnis bestätigt mich in diesem Ansinnen. Die historische „Einheit der Welt […] in ihrer Materialität“,27 ausgedrückt in Energiebilanzen zu erklären, macht – selbst, wenn von weltanschaulichen Übersetzungsschwierigkeiten abgesehen wird – das Erzählen von Geschichte auf den ersten Blick sicher nicht leichter, vielleicht sogar abschreckender, für mich jedoch aufschlussreicher. 23 Frank Schirrmacher, Ego. Das Spiel des Lebens, München 2013. 24 Matthäusevangelium, Kapitel 16, Vers 26a. 25 Das Konzept der Ressourcenmobilisierung ist skizziert bei Mitchell Ash, Verordnete Umbrüche – Konstruierte Kontinuitäten. Zur Entnazifizierung von Wissenschaftlern und Wissenschaften nach 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 43 (1995), S. 903ff. 26 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 658), Frankfurt/M. 1987. 27 „Die wirkliche Einheit der Welt besteht in ihrer Materialität, und diese ist bewiesen nicht durch ein paar Taschenspielerphrasen, sondern durch eine lange und langwierige Entwicklung der Philosophie und der Naturwissenschaft.“ Nach: Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: Marx-Engels Werke, Bd. 20, Berlin 1962, S. 41.

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Umfeld und Rahmenbedingungen

Helge Matthiesen hat vor mehr als zehn Jahren die Tragfähigkeit der Begriffe „Konservatismus“ und „Milieu“ am Greifswalder Beispiel untersucht und dabei Kontinuitätslinien herausgearbeitet.28 In meiner Arbeit hatte ich für wesentlich erachtet, dass sich „diese Pommern“ mit einem provinziellen Traditionalismus und einem historisch zu spät befriedigten und deshalb trotzig behaupteten Nationalstolz in die Nationalgeschichte integriert hatten. Diese Faktoren führten zu einem Denken, das in Konflikt mit der sich real vollziehenden Internationalisierung des Lebens geraten musste. An der Universität selbst zeigte sich dies in der Verehrung der Pommernherzöge als Stifter und Wohltäter sowie Heinrich Rubenows als Gründer der Universität und der Berufung auf die älteste preußische Universität deutlich.29 Sie war durch Schenkung des letzten Pommernherzogs mit 14.000 Hektar Landbesitz auch die größte pommersche Grundeigentümerin nach dem Fiskus und einzige deutsche Universität mit einem solchen Vermögen, in dessen Verfügung sie im behandelten Zeitraum stark eingeschränkt war.30 Daneben war für die an die Enge ihres alltäglichen Lebens gebundenen Menschen der mögliche Verweis auf aus ihrem Kreis hervorgegangene bzw. hier tätig gewesene Persönlichkeiten (Ulrich v. Hutten, Caspar David Friedrich, Philipp Otto Runge, Friedrich Ludwig Jahn, Ernst Moritz Arndt, Otto v. Bismarck)31 von einer das Selbstbewusstsein aufwertenden Bedeutung. Jene historischen regionalen Besonderheiten verbanden sich mit den entsprechend gewachsenen Bedingungen, die Stadt und die Provinz den Hochschullehrern und Studenten für die Gestaltung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen boten, zu dem, was die Eigenart der Greifswalder Universität ausmachte. Meine Schlussfolgerungen dazu basierten hauptsächlich auf der Auswertung der zahlreichen unveröffentlichten studentischen und akademischen Qualifikationsschriften über diese Region und ihre Universität, die bis in die 1980er Jahre hinein hier entstanden waren. Durch die Grenzziehung nach dem Versailler Vertrag war Pommern Grenzprovinz geworden, ein Umstand, der den Universitätsangehörigen hautnah die vermeintli-

28 Helge Matthiesen, Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu in Kaiserreich, Demokratie und Diktatur 1900–1990 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; 122), Düsseldorf 2000. 29 475-Jahrfeier der Universität Greifswald, in: Greifswalder Zeitung (künftig: GZ) vom 13. und 14.11.1931. 30 Fritz Curschmann, Überblick über die Verwaltung des Vermögens der Universität Greifswald, Greifswald 1925. 31 Universität Greifswald (Hg.), Auf zur deutschen Ostsee!, Greifswald 1933; Theo Malade, Aus einer kleinen Universität, Greifswald 1938.

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che Notwendigkeit einer Vertragsrevision deutlich machte.32 Die Provinz Pommern war, abgesehen vom Zentrum Stettin, eine von Landwirtschaft dominierte Region. In Vorpommern konzentrierten sich Großgrundbesitz und alte Adelssitze in einem für Deutschland überdurchschnittlichen Maße.33 Als sich in dieser vergleichsweise wirtschaftlich schwach entwickelten Region permanente Landwirtschafts- und Weltwirtschaftskrise verbanden, schnellten die Zahlen zusammenbrechender Landwirtschaften und der Arbeitslosen sprunghaft in die Höhe.34 In dieser Situation feierte die NSDAP auf einem von deutschnationalen und „mittelständischen“ Denktraditionen bereiteten Boden eine reiche Ernte, die weit über dem Reichsdurchschnitt lag.35 In diesem Umfeld lag Greifswald, eine Stadt mit etwa 30.000 Einwohnern, deren ökonomische Struktur von Klein- und Mittelbetrieben, von Handel und Handwerk bestimmt wurde.36 Die Stadt war so wirtschaftlich ihrer durch Großgrundbesitz und die Universität dominierten Umgebung angepasst. Die große wechselseitige ökonomische Abhängigkeit von Universität und Stadt zeigte sich u.a. darin, dass zahlreiche Gewerbe ihre Existenz nur durch eine entsprechende Frequentierung, insbesondere durch Studenten, sichern konnten, wie auch der Universitätsbetrieb ohne diese Voraussetzungen nicht nur unattraktiv, sondern unmöglich gewesen wäre. Also war die Stadt an einer durch die Universität florierenden Wirtschaft interessiert, was von Seiten der Universität wiederum genutzt werden konnte.37 Neben den engen ökonomi32 Wolfgang Köstler, Die „Ostarbeit“ der Universität Greifswald 1919–1945, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 18 (1969) Nr. 3/4, S. 273ff. 33 Joachim Copius, Die Auswirkungen der ökonomischen und politischen Krise des deutschen Imperialismus auf Vorpommern und der Kampf der Werktätigen unter der Führung der KPD gegen den drohenden Hitlerfaschismus, unveröff. phil. Diss. Greifswald 1966, S. 25; Uwe Schröder, Zur faschistischen Kriegsvorbereitung im Regierungsbezirk Stettin 1935 bis 1939, unveröff. phil. Diss. Greifswald 1985, Anlage 12. 34 Copius (wie Anm. 33), S. 15, 29, 35; Steffi Räth, Demagogie und Wirklichkeit der Agrarpolitik des deutschen Faschismus von 1928 bis 1934 unter besonderer Berücksichtigung der pommerschen Landwirtschaft, Greifswald 1986, S. 8–15; Statistisches Reichsamt (Hg.), Volks-, Berufsund Betriebszählung vom 16.6.1933 (Statistik des deutschen Reiches; Bd. 454/5), Berlin 1936, S. 36; GZ Jg. 1933. 35 Räth (wie Anm. 34), S. 27–46; Landesarchiv Greifswald (künftig: LAGw), Rep. 60, Nr. 483, Pommern S. 370; Marianne Jülich, Studien zur Geschichte der Stadt Greifswald während der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1932, Greifswald 1982, S. 4, 11, 15, 16, 21, Anlage 1; GZ vom 6. und 13.3.1933. 36 Branchenverzeichnisse der Stadt Greifswald 1928, 1930, 1933, in: Einwohner- und Geschäftshandbuch der Stadt Greifswald, Greifswald 1929 sowie Greifswalder Adreßbuch mit den Vororten Eldena, Ladebow, Neuenkirchen und Wieck, Greifswald 1931 und 1934. 37 Stadtarchiv Greifswald (künftig: StAGw), Rep. 3, Nr. 150, Nr. 151; Rep. 5 (6), Tit. 95, Nr. 9516, Bl. 11; Nr. 9618, Bl. 1–64; Nr. 9704, Bl. 63–87; Acc. I/73. 35, Bl. 3–4; Bundesarchiv Berlin (künftig: BArch), R 4901/1820, Bl. 59–70.

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schen Bindungen waren es auch kulturell-musische und mentale Momente, die den „ausgesprochene[n] Charakter einer kleinen Universitätsstadt deutlich“38 ausprägten. Das geistig-kulturelle Leben der Stadt wurde neben den zahlreichen studentischen Verbindungen auch durch eine Reihe wissenschaftlicher und kultureller Vereine bzw. Gesellschaften bereichert, die wesentlich von Angehörigen der Universität inspiriert und mitgetragen wurden.39 Die für das Erscheinungsbild der Stadt bestimmende Rolle der Universität zeigte sich auch in der lokalen Sozialstruktur. Bis 1933 stellten die Universitätsangehörigen etwa zehn Prozent der Einwohnerschaft Greifswalds. Die Bevölkerungsstruktur war eindeutig von Klein- und Mitteleigentümern, Beamten und Angestellten bestimmt. Der Anteil reiner Lohnarbeit in der Berufsstruktur belief sich auf etwa ein Drittel der Greifswalder „Erwerbspersonen“. Der Wirtschaftsbereich öffentliche Dienste und private Dienstleistungen wies dagegen den höchsten Beschäftigtenanteil auf.40 Das soziale Gefälle in der Stadt war dergestalt, dass nach einem Eingeständnis des Oberbürgermeisters bereits 1929 25 Prozent der Einwohnerschaft vom Wohlfahrtsamt betreut worden sein sollen.41 Schon 1926 hatte die Stadt eine Arbeitslosenrate von vier Prozent aufzuweisen. Auf dem Tiefpunkt der Krise zu Beginn des Jahres 1932 war mehr als ein Drittel der Greifswalder „Erwerbspersonen“ ohne Arbeit.42 In der politischen Konsequenz dessen gewann die relativ kleine Ortsgruppe der KPD bis 1933 besonders unter den Arbeitslosen und Wohlfahrtsempfängern stetig an Einfluss, ohne jedoch die SPD überflügeln zu können. Das von den Kommunisten zu jener Zeit herausgegebene Blatt „Der Hungrige“ kann in verschiedener Hinsicht als sinnbildlich angesehen werden. Beider Parteien bis dahin in den Wahlergebnissen ausgewiesener Einfluss entsprach etwa dem Anteil der lohnabhängigen Bevölkerungsgruppen der Stadt.43 Beherrscht wurde Greifswald – und die ländliche Umgebung noch weit stärker, wie das Gefälle in den Wahlergebnissen zeigte – eindeutig von den die Weimarer Republik ablehnenden bürgerlichen Parteien. Eine Quelle für diesen politischen Konservatismus ist m.E. in einer im Vergleich zu den Zen38 StAGw, Rep. 5 (6), Tit. 95, Nr. 9704, Bl. 104. 39 Taschenbuch der Universität Greifswald, Greifswald 1931, S. 237–243; StAGw, Rep. 5 (6), Tit. 95, Nr. 9704, Bl. 88–90, 109, 132. 40 Ute Ledder, Studien zur Geschichte der Stadt Greifswald 1933 bis 1939, unveröff. Diplomarbeit Greifswald 1982, S. 7; Statistisches Reichsamt, Volks-, Berufs- und Betriebszählung (wie Anm. 34), S. 42; Einwohner- und Geschäftshandbuch der Stadt Greifswald, Greifswald 1929. 41 Greifswalder Volkszeitung (künftig: GVZ) vom 14.12.1929. 42 StAGw, Acc. I/73. 35, Bl. 3–4; Ledder, Studien (wie Anm. 40), Chronik. 43 Wilhelm Oehlke, Der Kampf um die Aktionseinheit der Arbeiterklasse während der Weltwirtschaftskrise im Kreise Greifswald, unveröff. Staatsexamensarbeit Greifswald 1962; Silvia Rudolph, Stadtgeschichte Greifswalds von 1927 bis 1929 unter besonderer Berücksichtigung der revolutionären Arbeiterbewegung, unveröff. Diplomarbeit Greifswald 1986, S. 42; Vgl. auch Anm. 35 und 40.

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tren zurückgebliebenen, vielleicht mit dem Begriff „Provinzialismus“ zu fassenden politsch-kulturellen Verfasstheit44 zu suchen. Hier entwickelt sich die von Heinrich Mann so eindringlich geschilderte konservativ-machtanbetende Untertanenmentalität, die aus der Unterordnung die Zugehörigkeit zu einer Macht ableitete und dadurch eine Aufwertung des Selbstbewusstseins erreichte.45 Nach einem ähnlichen Muster funktioniert m.E. auch Nationalismus, u.a. durch provinzielle Enge gefördert, als Vehikel der Selbstaufwertung. Neben der Denunziation jeglicher Internationalität im Denken war hier auch im kulturellen Bereich der Konservatismus stärker verwurzelt, da hier im Gegensatz zu geistig-kulturellen Zentren eine kulturelle Avantgarde als Korrektiv weitgehend fehlte. Die politische Dominanz der DNVP in der Greifswalder Stadtverwaltung und im „Bürgerschaftlichen Kollegium“ fügte sich in dieses Bild ein. Andere bürgerliche Gruppierungen spielten eine vergleichsweise geringe Rolle. Das parlamentarische Bild Greifswalds wandelte sich in den Jahren der Weltwirtschaftskrise. Die NSDAP konnte, nachdem sie 1929 die ersten Abgeordneten in das Stadtparlament gesandt hatte, die kleinen politischen Gruppierungen gleichsam aufsaugend, durch Demagogie und skrupellose Konsequenz die DNVP im Sommer 1932 aus ihrer Führungsposition verdrängen, ohne aber wirksam in das Wählerreservoir der Arbeiterparteien einbrechen zu können. Jedoch deutete der Wechsel von ca. 2.000 NSDAP-Wählern zur DNVP im November 1932 auf das große Beharrungsvermögen des konservativen Milieus in dieser Region hin.46 Universitätsangehörige Hochschullehrer

Diese grobe Skizze des ökonomischen Umfeldes und geistig-kulturellen Klimas in dem die Menschen lebten, als Beschreibung für die Grundlage eines bestimmten Mi44 So meine Diktion von 1989/90. Vergleiche dazu das von Matthiesen, Greifswald in Vorpommern (wie Anm. 28), S. 15–29 entwickelte Konzept des konservativen Milieus unter Bezugnahme auf den Begriff des „sozialmoralischen Milieus“ von M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Wilhelm Abel (Hg.), Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Friedrich Lütge, Stuttgart 1966, S. 371–393. 45 Heinrich Mann, Der Untertan. Roman, Berlin (O.) 1960; beispielhaft S. 451: „Solange wir solche Herren haben, werden wir der Schrecken der ganzen Welt sein!“ Die Forschungen Theodor Adornos bzw. der sogenannten Frankfurter Schule zum „autoritären Charakter“ zu verarbeiten, war mir im Rahmen der Diplomarbeit bis 1990 nicht mehr möglich. Vgl. z. B., Theodor W. Ador­no, Studien zum autoritären Charakter (= Suhrkamp Taschenbuch 107), Frankfurt/M. 1973. 46 Vgl. Anm. 41.

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lieus ist m.E. eine notwendige, jedoch keine hinreichende Erklärung für ein Bestehen oder Versagen in Entscheidungssituationen. Deshalb wurden Herkunft und lebensbestimmende Momente, also soziale, politische, mentale und kulturelle Vorprägungen sowie die lebensbestimmende Tätigkeit betrachtet. Dabei offenbarten sich Beziehungen zwischen den Arbeits- und Lebensbedingungen und dem gesellschaftlichen Verhalten. Die beamtete Professur und der damit verbundene, mehr oder weniger gesicherte Lebensstandard waren an eine bestimmte, von der für die Hochschullehrer verbindlichen Laufbahnordnung beeinflussten Altersgrenze (primär nach unten) gebunden. Bedeutsam war, ob die Herkunft problemlos die doch recht kostenaufwendige Laufbahn ermöglichte oder nicht. Solche Umstände hatten gleichzeitig eine selektive Wirkung auf den Bewerberkreis. Auf dem Weg zur Professur gebrachte Opfer konnten sicher auch Einstellungen begünstigen. Greifswalder Hochschullehrer waren in ihrer übergroßen Mehrheit durch ihre berufliche Entwicklung in die Stadt gelangt. Sie folgten damit der existentiellen Notwendigkeit, dem Angebot einer Hochschule zu folgen, die ihnen die aktuell besten Entwicklungschancen bot. Für einen Teil von ihnen war Greifswald darum auch nur Zwischenstation auf dem Wege zu einer angestrebten ordentlichen, beamteten Professur oder einer anderen attraktiven Position.47 Trotz der Fluktuation bildete sich auch in Greifswald ein fester Stamm insbesondere solcher Hochschullehrer, die den Beamtenstatus bzw. einen Lehrstuhl erreicht hatten, heraus. Dies trug zur wissenschaftlichen Profilierung bei, die nach 1918 u.a. durch das Nordische Institut, die Palästinaforschung von Professor Gustaf Dalman oder die Diabetesforschung unter Professor Gerhard Katsch gefördert wurde.48 Die Greifswalder Alma Mater war bis 1945 immer die kleinste preußische Universität, die sich im Reichsmaßstab mit Rostock um das Schlusslicht „stritt“. Für die Greifswalder Hochschulintelligenz war in den 1920er und 1930er Jahren charakteristisch, dass sie – von Ausnahmen abgesehen – bemüht war, sich sowohl mit der faschistischen Bewegung als auch mit dem faschistischen Herrschaftssystem zu arrangieren, sofern sie nicht ohnehin ein Teil davon war. Vor 1933 bekam diese v.a. von Studenten und jungen Wissenschaftlern repräsentierte Bewegung49 auf der Grundlage eines nationalistischen, teils chauvinistischen Konsenses die Möglichkeit, sich weitgehend in das gesellschaftliche Leben der Universität zu integrieren und bei 47 Thomas Ellwein, Die deutsche Universität vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Königstein/Taunus 1985, S. 237. 48 Wolfgang Wilhelmus u.a., Universität Greifswald. 525 Jahre, Berlin 1982, S. 38ff.; Ernst-MoritzArndt-Universität (Hg.), Universität Greifswald: Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald, 17.10.1956, Bd. 2, Greifswald 1956. 49 Universitätsarchiv Greifswald (künftig: UAG), Kurator K 718.

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offiziellen Veranstaltungen der Universität öffentlich aufzutreten.50 Die gemeinsame Liste von NSDStB-Hochschulgruppe und Korporationen zur AStA-Wahl 1932,51 die verständnisvolle Haltung des Senats gegenüber der Verrufskampagne gegen die republikanischen Hochschullehrer Fritz Klingmüller und Konrat Ziegler im Sommer 193152 sowie die Solidaritätsbekundungen der Repräsentanten der Universität mit den SA-Studenten anlässlich der Ereignisse des „Greifswalder Blutsonntags“ am 17. Juli 1932,53 markierten die Höhepunkte dieser Entwicklung vor 1933. Im Frühjahr 1933 stieg auch die Zahl der NSDAP-Mitglieder der „Märzgefallenen“ im Lehrkörper sprunghaft an.54 Die seit der „Urkatastrophe“ des Jahrhunderts55 aus dem gesellschaftlichen Gefüge geworfene Untertanenmentalität fand mit der Machtübernahme der NSDAP offenbar ihr Gleichgewicht wieder. Der nicht zu Differenzierungen fähigen Ablehnung der Republik von Weimar folgte nun vorauseilende Dienstbereitschaft. Die vom akademischen Senat getragene Initiative des Theologen und Kreisführers des Stahlhelm, Bund deutscher Frontsoldaten, Walter Glawe, zur Benennung der Universität nach Ernst Moritz Arndt vom Frühjahr 193356 gehört für mich dazu. Der von Heinrich Mann gegeißelte Untertan hatte sich historisch reproduziert und empfahl sich u.a. durch seinen von „alten Kämpfern“ zwar höhnisch belächelten, aber doch rechtzeitigen Beitritt zur NSDAP als eben jener „kleine Teil des Großen Ganzen“,57 der das Funktionieren des Faschismus wesentlich sichern half. Zum Zeitpunkt ihres Parteieintritts war das zeitweilige Nebeneinander von Schwarz-Weiß-Rot und Hakenkreuz des „nationalen Aufbruchs“ am „Tag von Potsdam“ bereits einer 50 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (künftig: GStA PK), Rep. 76, Va, Sekt. 7, Tit. I, Nr. 2, Bd. IV, Bl. 656–657; Schreiben des Kurators an den Minister vom 29. 11.1932, in: UAG, Kurator K 1826. 51 Greifswalder Hochschulzeitung, Nachrichtenblatt der Freien Studentenschaft der Universität Greifswald, 7 (1932) Nr. 2, S. 25, 57–58. 52 UAG, Kurator K 1755; Senatsprotokolle vom 2. und 13.7.1931, in: UAG, Altes Rektorat R 2200; GZ vom 2., 3. und 9.7.1931. 53 Senatsprotokoll 18.7.1932, in: UAG, Altes Rektorat R 2200. 54 UAG, Kurator K 718. Danach waren 1933 neun ordentliche, elf außerordentliche nichtbeamtete Professoren, zwölf Privatdozenten, vier Assistenten und ein weiterer Lehrer Mitglied der NSDAP geworden. Zur Bezeichnung „Märzgefallene“ vgl. u.a. Jürgen W. Falter, Die „Märzgefallenen“ von 1933. Neue Forschungsergebnisse zum sozialen Wandel innerhalb der NSDAPMitgliedschaft während der Machtergreifungsphase, in: Geschichte und Gesellschaft, 24 (1998), S. 595–616. 55 Kritisch zum Begriff u.a. Aribert Reimann, Der Erste Weltkrieg – Urkatastrophe oder Katalysator?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 29–30 (2004), S. 30–38. 56 Schreiben Prof. Dr. Walter Glawe an den Rektor v. 4.4.1933, in: UAG, Kurator K 1165, Bd. 4; Senatsprotokoll v. 5.4.1933, in: UAG, Altes Rektorat R 2200. 57 Karl Reschke, Arbeit und Haltung des Studenten (= Greifswalder Universitätsreden; 43), Greifswald 1935, S. 4–5.

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eindeutigen Dominanz der NSDAP gewichen. Jedoch vermied diese einen abrupten Übergang. Viele sich an ihr konservatives Selbstverständnis klammernde Ordinarien blieben ihrem Konservatismus so sehr verhaftet, dass sie ihre Vorstellungen für die Realität halten wollten, die Veränderungen nicht oder zu spät bemerkten. Ablehnende Meinungen wurden allenfalls noch in privaten Gesprächen oder als Kritik an einzelnen Aspekten geäußert, für die bewusste antifaschistische Motivation nicht zu belegen war.58 1945 wurden etwa zwei Drittel der in Greifswald verbliebenen Hochschullehrer – das war allerdings in wesentlichen Teilen ein anderer Lehrkörper als zehn Jahre zuvor – als politisch kompromittiert entlassen. Auch die restlichen Dozenten konnten lediglich auf ein geringeres Maß an Exponiertheit bzw. als mildernde Umstände gewertete, zumeist jedoch nicht selbst herbeigeführte Konflikte mit dem NS-Regime verweisen.59 Dieses Verhalten war m.E. durch die aus der Herkunft ableitbaren Faktoren: die persönliche Entwicklung außerhalb des Elternhauses, die jeweilige Stellung im sozialen Gefüge einer sich wandelnden deutschen Gesellschaft sowie das aus der territorialen Einbindung resultierende kulturelle und mentale Umfeld und die davon überdeckten ursprünglichen Lebensbedürfnisse zwar nicht determiniert, aber wesentlich gefördert. Akademischer Nachwuchs

Die ehedem materiell relativ gesicherten akademischen Karrieren für Söhne aus bürgerlichen Mittelschichten waren nach 1918 so nicht mehr zu realisieren.60 Dem gerade in diesen Kreisen verbreiteten nationalen, romantisch verklärten Hochgefühl sowie dem Siegfriedensdenken der Kriegszeit folgte der Absturz, ausgelöst bzw. begleitet von der Entwertung der für absolut gehaltenen Wertvorstellungen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Durch die relative Verelendung im Gefolge des Krieges wurde dieser Absturz umso stärker erlebt. Die Verflechtung der Entstehungsgeschichte 58 UAG, PA 487 (Edmund Forster); UAG, PA 421 (Paul Merkel); UAG, PA 269 (Clemens Thaer); UAG, Universitätsgericht 225, Strafliste unter den Rektoraten Meisner u. Reschke; GStA PK, Rep. 76, Va, Sekt. 7, Tit. IV, Nr. 21, Beiheft II, Bl. 1–59; Nr. 20, Bd. IX, Bl. 204–210. 59 UAG, Altes Rektorat R 502. 60 GStA PK, Rep. 76, Sekt. 7, Tit. IV, Nr. 15, Bd. VII; Nr. 19, Bd. X, Bl. 171–173, 177/78, 190–197; Nr. 23, Bd. II, Bl. 156; Nr. 31, Bd. III; Rep. 77, Tit. 46, Nr. 50, Bd. I, Bl. 72/73, 84, 93–116; Rep. 151, Ic, Bd. 4, Nr. 6780, Bl. 5, 38–42; BArch, R 4901/1815, Bl. 25, 47–48, 50–51, 54, 60–61, 68; UAG, PA 266 (Wolfgang Stammler); StAGw, Rep. 5, Tit. 95, Nr. 7291; Chronik der Preußischen Universität Greifswald, 38 (1932/1933), S. 114; STAGw, Rep. 5 (6), Tit. 95, Nr. 9457; Nr. 9704, Bl. 63–87; UAG, Kurator K 1825; Vgl. auch Anm. 37.

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der Weimarer Republik mit dem für Deutschland ungünstigen Kriegsende (Versailler Vertrag), der Novemberrevolution und ihrer persönlichen, als desolat empfundenen Lage denunzierte dieses „System“ in den Augen vieler v.a. jüngerer Dozenten und Studenten, was sie bei vielen Anlässen, auf Kundgebungen, in Universitätsreden zum Ausdruck brachten.61 Dem entsprach das von einer ausgeprägten politischen „Rechtslastigkeit“ geprägte politische Klima in Greifswald und an der Greifswalder Universität zwischen 1918 und 1933, die Wolfgang Koeppens „Jugend“ eindrücklich schildert.62 Dies äußerte sich u.a. in einer militanten Intoleranz selbst gegen die wenigen bürgerlich-republikanischen Kräfte an der Universität: 1919 gegen Professor Karl Polenske,63 1920 gegen Professor Max Semrau,64 1930/31 gegen das Republikanische Studentenkartell und die Professoren Klingmüller und Ziegler.65 Viele Greifswalder Hochschullehrer sahen seit 1918 ihre Aufgabe darin, alte Gesellschaftsstrukturen zu erhalten und gesellschaftliche Veränderungen zu begrenzen bzw. zu verhindern.66 Dahingehend wurden sie u.a. über Parteien wie die DNVP (Wilhelm Kähler und Friedrich Pels-Leusden) in den Parlamenten aktiv67 oder bestärkten die Studenten bei deren Aktivitäten in Freikorps und Zeitfreiwilligenverbänden.68 Die das akademische Leben und damit auch das politische Klima innerhalb des Lehrkörpers bestimmenden Ordinarien, d.h. vor allem Rektor, Prorektor, Dekane, Senats- und Fakultätsmitglieder, gehörten einer Generation an, die noch während des Kaiserreiches in das bewusste gesellschaftliche Leben eingetreten war und ihre akademische Laufbahn begonnen hatte.69 Für eine große Anzahl von ihnen kam es darauf an, „vertrauensvolle Fühlung mit der Studentenschaft zu halten“, was eingestandenermaßen „nur möglich [war], wenn man rechtsradikalen Gedankengängen 61 Anhaltspunkte finden sich in vielen der Greifswalder Universitätsreden, Alte Reihe Nr. 1–35. Darüber hinaus vgl. GStA PK, Rep. 76, Va, Sekt. 7, Tit. I, Nr. 1, Bd. V, Bl. 319; Nr. 2, Bd. IV, Bl. 656–659. 62 Wolfgang Koeppen, Jugend. Erzählung, Berlin (O.) 1978. 63 UAG, PA 427 (Karl Polenske). 64 Hans Schröder, Zur politischen Geschichte der Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald, in: Ernst-Moritz-Arndt-Universität (Hg.), Universität Greifswald: Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald, 17.10.1956, Bd. 1, Greifswald 1956, S. 53–155, hier S. 139. 65 Vgl. Anm. 51. 66 Kalender der Reichsdeutschen Universitäten und Hochschulen, 113 (1933); Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1933, Greifswald 1933. 67 Schreiben des Kurators an den Preußischen Kultusminister von 19.1.1932, in: UAG, Kurator K 1826. 68 Schröder, Zur politischen Geschichte (wie Anm. 64), S. 126–129, 139; Wilhelmus, Universität Greifswald (wie Anm. 48), S. 31; Köstler, „Ostarbeit“ (wie Anm. 32), S. 277. 69 Schröder, Zur politischen Geschichte (wie Anm. 64), S. 130–133; Wilhelmus, Universität Greifswald (wie Anm. 48), S. 36–39.

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ein großes Stück entgegenkam“. Dafür wurde der von 1931 bis 1933 als Rektor wirkende Theologe Professor Dr. Kurt Deißner während der Universitätsfeier zum „Reichsgründungstag“ 1932 von einem großen Teil seiner Kollegen gefeiert, da man seinen Aktivitäten verdankte, „dass zwischen Lehrkörper und Studenten ein stark betont gutes Einvernehmen“ herrschte.70 Die problematische Stellung der Hochschulintelligenz als einer Schaltstelle im Sozialgefüge und ihre auch im Selbstverständnis verwurzelte Rolle als Dienstleistungsschicht für den bürgerlichen Staat sowie ihr auf die Mittelschichten konzentriertes Rekrutierungsfeld förderten in dieser Situation die einseitige Polarisierung. Die nach 1918 wirksam werdende Liberalisierung des Bildungswesens hatte zu einer gewissen sozialen Öffnung des Hochschulzuganges nach „unten“ geführt, so dass in starkem Maße – zumindest in Greifswald in den von mir untersuchten frühen 30er Jahren – auch Kinder aus unteren Angestellten- und Beamtenschichten diesen als Aufstiegsmöglichkeit begriffenen Bildungsweg gingen. Sie stellten im Verhältnis zur Gesamtzahl der in den 30er Jahren jeweils in Greifswald Immatrikulierten den größten Anteil der Studenten – ein Umstand, der durch den unglücklichen Zusammenfall von zyklischer „Überfüllung“71 und Weltwirtschaftskrise die ohnehin desolate wirtschaftliche Situation der Universität noch verschärfte. Die nächstgrößeren Rekrutierungsgruppen der Greifswalder Studentenschaft waren Kinder aus Familien von kleinen Gewerbetreibenden und Händlern sowie Lehrern und evangelischen Geistlichen.72 Die Integration der Universität in die neuen Herrschaftsverhältnisse wurde 1933 deshalb nicht zufällig insbesondere von ihren jüngeren Angehörigen im Lehrkörper, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die akademische Laufbahn in Angriff genommen bzw. sie nach der kriegsbedingten Unterbrechung in einem frühen Stadium weitergeführt hatten, und den durch die Auswirkungen der Nachkriegskrise und der Weltwirtschaftskrise politisierten und radikalisierten Studenten getragen. Die Greifswalder Studentenschaft war neben der Erlanger 1930 als erste vom NSDStB dominiert.73 1932 war sie infolge der weitgehenden Unterwanderung der Korporationen durch NSDStB-Mitglieder und die relative Bedeutungslosigkeit alternativer Kräfte bereits weitgehend im Sinne des „Nationalsozialismus“ ausgerichtet.74 In diesem Prozess 70 Schröder, Zur politische Geschichte (wie Anm. 64), S. 137ff. 71 Das die Zeitgenossen um 1930 umtreibende Problem der „Überfüllung“ akademischer Lehreinrichtungen hatte ich mir s.Z. auf der Grundlage des Entwurfs zum Kapitel „The Breakdown of liberal Professionalism“ von Konrad H. Jarausch erschlossen. Vgl. Konrad H. Jarausch, The Unfree Professions. German Lawyers, Teachers and Engineers. 1910–1950, New York 1990. 72 UAG, Matrikel, Bd. XVI (1931–1940). 73 BArch, R 1501/126108, Bl. 40, 100, 108, 122; Ellwein (wie Anm. 47), S. 263; GZ vom 27.1.1931. 74 Vgl. Anm. 52.

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spielte der spätere NSDAP-Gauleiter von Pommern (1933/34), Wilhelm Karpenstein, der frühzeitig zur „Bewegung“ gestoßen war, in der Nachkriegszeit in Greifswald Jura studiert, sich danach als Rechtsanwalt in der Stadt niedergelassen hatte, eine große Rolle. Mit dem politischen Einfluss, den er auf die nachfolgenden Studentengenerationen nahm, hatte er wesentlichen Anteil an der frühzeitigen Dominanz der NS-Studentenschaft im Greifswalder AStA.75 Nur zwei Studenten wurden 1933 wegen „kommunistischer Betätigung“ relegiert.76 Die faschistisch radikalisierte Studentenschaft blieb zunächst auch nach der Machtübernahme der Hitlerregierung der Motor für die Umwälzungen an der Universität. Es offenbarten sich jedoch – in Pommern besonders – bereits vorher angelegte Tendenzen sich verselbständigender Bestrebungen innerhalb dieser Bewegung.77 So hatten diese Studenten durch Denunziation und inszenierten politischen Druck den größten Anteil an der Vertreibung suspekter Hochschullehrer. Dabei war in den Fällen der Professoren Gustav Braun, Edmund Forster und Fritz Wrede persönliche Rache das wesentliche Handlungsmotiv, das politisch verbrämt administrative und politische Entscheidungsgremien gegen die Opfer einnahm bzw. Handlungsbedarf signalisierte.78 Gerade unter den Studenten, die die Machtübernahme der NSDAP an der Greifswalder Universität aktiv unterstützt hatten, wehrten sich viele dagegen, in ihren Ämtern ein sich selbst genügendes Dasein zu fristen. Sie sorgten auch in den Jahren nach 1933 noch für Unruhe. Ein exemplarischer Fall dafür war der über verschiedene Ämter 1934/35 zum „Führer der Greifswalder Studentenschaft“ avancierte Manfred Pechau, der aus m.E. überwiegend nationalromantischen Motiven zur NSDAP gestoßen war, sich nun um seinen vermeintlichen Sieg betrogen sah und das Potential verstärkte, das die „Fortsetzung der Revolution“ forderte.79 Es handelte sich hier anscheinend um Erfahrungen, die offenbar alle mit einer „heroischen Illusion“ zu gesellschaftlichen Umwälzungen angetretenen Kräfte an einem bestimmten Punkt der von ihnen in Gang gesetzten Entwicklung machen mussten bzw. müssen. Pechau repräsentierte somit einen Anspruch, der sich in das „nationalsozialistische“ Herrschaftskonzept nur dadurch einordnen ließ, dass er als ideelles Vehikel zu des75 Greifswalder Universitätszeitung (künftig: GUZ), 9 (1934) Nr. 3, S. 3. 76 Senatsprotokoll 13.7.1933, in: UAG, Altes Rektorat R 2200; UAG, Kurator K 1755. 77 Gemeint sind hier auf sozialen Ausgleich gerichtete Bestrebungen innerhalb der „nationalsozialistischen“ Bewegung, wie sie 1932 in einer Argumentation des „Hochschulgruppenführers“ des NSDStB in Greifswald zum Wohnungsproblem in der Stadt zum Ausdruck kamen, in: Greifswalder Hochschulzeitung, Nachrichtenblatt der Freien Studentenschaft der Universität Greifswald, 7 (1932), Nr. 2, S. 49. 78 UAG, PA 24 (Gustav Braun); UAG, PA 421 (Paul Merkel); UAG, PA 605 (Fritz Wrede); vgl. auch Anm. 56. 79 GUZ 10 (1935) Nr. 1, S. 2–3; GUZ 10 (1935) Nr. 2, S. 19; GUZ 10 (1935) Nr. 3, S. 3; GUZ 10 (1935) Nr. 4, S. 1–2.

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sen Absicherung und Durchsetzung beitragen konnte. Die von „Romantikern“ angestrebte Verwirklichung von egalitären Volksgemeinschaftsideen stand dem jedoch entgegen, so dass die Autorität der hierarchischen Ordnung mit Hilfe der eher konservativen Kräfte aus dem Lehrkörper gewahrt werden musste. Das kam zwangsläufig dem Beharrungsvermögen traditionell bürgerlicher Wertvorstellungen entgegen. Die Denunziation des Zahnmediziners Professor Friedrich Proell im Interesse der Karriere eines „Nationalsozialisten“ im Jahre 1935 markierte einen endgültigen Wendepunkt. Diese Aufforderung zu einer Personalveränderung stellte eine Herausforderung an die neuen Herrschaftsprinzipien dar und rief sowohl den Unwillen der Gauleitung als auch des Reichserziehungsministeriums hervor. Es sollte Ruhe einkehren. Die Studentenführung unter Manfred Pechau hatte nicht begriffen, dass sie ihre Rolle bei der Etablierung des faschistischen Herrschaftssystems gespielt hatte und nun nur funktionieren sollte.80 Spätestens 1935/36 waren die letzten öffentlichen Möglichkeiten selbständiger, als „nationalsozialistisch“ begriffener bzw. deklarierter Politik für die Studenten weitgehend ausgeschaltet.81 Die Funktionsträger unter den Hochschullehrern wurden gegenüber den Studentenvertretern wieder deutlich aufgewertet; sichtbar u.a. an dem Bemühen, die studentischen Ämter so zu besetzen, dass bei der Ausgestaltung der hierarchischen Strukturen peinlich darauf geachtet wurde, dass der Führungsanspruch des Rektors gewahrt blieb.82 Die weniger „nationalsozialistisch“ politisierten Studenten reagierten auf die Einschränkung ihrer Freiräume mit dem Versuch, sich zu entziehen oder, wie in den Akten mehrfach belegt, durch verschiedene Formen von „Resistenz“.83 80 UAG, PA 2702 (Friedrich Proell). 81 Nach einer Anordnung des „Führers“ des NSDStB Albert Derichsweiler durfte seit 1935 kein Mitglied des NSDStB mehr einer Korporation angehören. Vgl. Herbert Michaelis, Ernst Schraepler, Günther Scheel (Hg.), Das Dritte Reich: innere Gleichschaltung; der Staat und die Kirchen; Antikominternpakt – Achse Rom-Berlin; der Weg ins Großdeutsche Reich (= Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart; Bd. 11), Berlin (W.) 1966, S. 90; Paul Wentzke (Hg.), Geschichte und Mitgliederverzeichnisse burschenschaftlicher Verbindungen in Straßburg, Gießen und Greifswald 1814 bis 1936 (= Burschenschafterlisten. Geschichte und Mitgliederverzeichnisse burschenschaftlicher Verbindungen im großdeutschen Raum 1815–1936; Bd. 2), Görlitz 1942, S. 180–181; Verfahren gegen die Burschenschaft „Germania“, 2.11.1935, in: UAG, Universitätsgericht UG 225; Rundschreiben des Rektors vom 14.1.1938 in Bezug auf den Erlaß des Ministers über das Verbot der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung bzw. –Studentinnen Bewegung vom 9.10.1937, in: UAG, Kurator K 1764; GZ vom 14.11.1935. 82 BArch, R 4901/1054, Bl. 10–15. 83 Von den etwa 1.700 Greifswalder Studenten im Sommersemester 1934 hatten sich lediglich 210 bis 220 Studenten in die sogenannten Kameradschaftshäuser einquartiert. Vgl. Liste studentischen Verbindungen Greifswalds und ihrer Häuser vom Juni 1934, in: UAG, Kurator K

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Erklärungsversuche

Von den Greifswalder Hochschullehrern war 1933 kaum Widerstand gegen die „Gleichschaltung“ zu erwarten. Ein wesentlicher, ihre Vereinnahmung fördernder Faktor war die schon durch die Arbeitsorganisation bedingte traditionelle Individualisierung. Dazu kam die auf einem abstrakten Wertverständnis beruhende Unterwerfung unter verabsolutierte Begriffe, die mit der von nahezu allen etablierten Greifswalder Hochschullehrern vertretenen Vorstellung einer sich selbst verpflichteten Wissenschaft korrespondierte. Die durch den Mangel an Pluralismus während der Zeit der Republik in Greifswald geförderte Befangenheit in ihrer Ideologie machte viele Lehrkräfte weitgehend blind für die aus deren Widersprüchen resultierenden Gefahren. Eine Verkennung von Wesen und Ziel der faschistischen Bewegung, wie sie im Hochgefühl des „nationalen Aufbruchs“ in den Reden des Rektors Deißner zum „Volkstrauertag“ und zum „Tag von Potsdam“ im März 1933 zum Ausdruck kam,84 war die Folge. Der schon erwähnte Professor Dr. Friedrich Hoffmann hatte in seiner Festrede zur Feier der Universität anlässlich des „Reichsgründungstages“ am 18. Januar 1933 in seinem Stolz „nicht auf ein einziges politisches Dogma eingeschworen“ zu sein – denn: „Nur wer von innen her versteht, kann wahrhaft urteilen, wenn er es nötig und gut befindet, richtig leiten.“–,85 gleichsam symptomatisch die Tragik vieler Kollegen seiner Generation offenbart. Er wurde 1880 geboren. Objektivität war als Selbstzweck zu einer die gesamte Lebenshaltung bestimmenden Norm geworden. Die daraus erwachsende Vorstellung einer „unvoreingenommenen“ Beobachterrolle, die eigene Bindungen an gesellschaftliche Entwicklungen nicht mehr wahrnehmen konnte, machte seinesgleichen zum Objekt der Entwicklung, von der sie meinten, dass sie in ihrem Sinne wäre. In ihrem Bewusstsein hatte sich der Widerspruch zwischen dem Streben nach adäquater Wahrnehmung der objektiven Realität durch möglichst unbeeinflusste Beobachtung und den beschränkten subjektiven Möglichkeiten dergestalt gelöst, dass die ihnen mögliche Erkenntnis zur einzig möglichen wurde; Ausdruck eines an sich verständlichen Strebens menschlicher Psyche, mit 1764; des Weiteren, UAG, Universitätsgericht 225, Strafliste unter den Rektoraten Meisner und Reschke; BArch, R 4901/1054, Bl. 7–8; GUZ 9 (1934) Nr. 8, S. 1–2; GUZ 9 (1934) Nr. 9, S. 5–6; GUZ 10 (1935) Nr. 1, S. 3; Reschke, Arbeit und Haltung (wie Anm. 57), S. 10–13; Hans Wehrli, Die Falle. Die Geschichte eines Studentenlokals, in: Ernst-Moritz-Arndt-Universität (Hg.), Universität Greifswald: Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald, 17.10.1956, Bd. 1, Greifswald 1956, S. 293–295, hier S. 294. 84 GZ vom 13.3. und 22.3.1933. 85 Friedrich Hoffmann, Die bündisch-revolutionäre Ideologie in der deutschen politischen Gegenwart: Rede, gehalten zur Feier des 18. Januar (= Greifswalder Universitätsreden; 35), Greifswald 1933, S. 20–21, 25, 29, 42.

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sich und der Umwelt in Einklang zu leben, kognitive Dissonanzen zu überbrücken. Zudem sahen sich die Hochschullehrer einer Reihe aus ihrer spezifischen Situation resultierenden Zwängen ausgesetzt, die ihre Selbstdisziplinierung beförderten. Das hohe Maß der Identifikation mit ihrem Beruf bzw. die große Bedeutung, die eine wissenschaftliche Arbeit für viele Hochschullehrer hatte, förderte bei ihnen die Bereitschaft zu Kompromissen mit dem Regime. Beispiele der 1945 bei der „Entnazifizierungskommission“ an der Universität eingereichten Erklärungen weisen deutlich in diese Richtung.86 Die Erfahrung mit Kampagnen faschistisch radikalisierter Studenten gegen unliebsame Hochschullehrer sowie die durch Terror, Denunziation und Willkür geschaffene Rechtsunsicherheit erhöhten die Hemmschwelle für Nonkonformität zusätzlich. Ein auffälliges Phänomen war, dass besonders die durch Restriktionen bedrohten bzw. betroffenen Hochschulangehörigen sich durch Unterwerfungsgesten bzw. Bezugnahmen auf von den Faschisten gesetzte Codes bemühten, den Drohungen zu entgehen. Die Sicherung physischer und psychischer Grundbedürfnisse dürfte m. E. hierfür den Hintergrund gebildet haben.87 Ein Beispiel jenseits der Klischees von Opfer, Mitläufer, Täter bietet hier der Philosoph Günther Jacoby, der 1937 als „Vierteljude“ in den Ruhestand versetzt wurde, sich aber unter Betonung seiner antibolschewistischen Haltung mit Gnaden- und – durchaus anbiedernd zu nennenden – Rehabilitations(!) Gesuchen an den „Führer und Reichskanzler“ in seiner Position zu verteidigen versuchte.88 Nach 1945 ist ihm dieser Vorgang gleichwohl zugutegekommen. An der Greifswalder Universität wurde das faschistische System mit einer (mir bekannt gewordenen) Ausnahme89 in keiner Phase seiner Herrschaft verbal oder praktisch 86 Erklärung Prof. Dr. Hermann Lautensachs über sein Verhältnis zur NSDAP vom 18.8.1945, in: UAG, Altes Rektorat R 2269, Bl. 46. 87 Meine Nachforschungen ergaben, dass bis 1939 mindestens 25 Universitätsangehörige Verfolgungen bzw. Restriktionen ausgesetzt waren. Vgl. UAG, PA 24 (Gustav Braun); UAG, PA 487 (Edmund Forster); UAG, PA 421 (Paul Merkel); UAG, PA 586 (Wilhelm Steinhausen); UAG, PA 269 (Clemens Thaer); UAG, Kurator K 1755; GStA PK, Rep. 76, Va, Sekt. 7, Tit. IV, Nr. 21, Beiheft II, Bl. 39; Nr. 36, Bl. 12–16; Nr. 36, Bl. 50, 54, 76–80, 82–86, 100–102, 119–121, 136–153, 161, 165. 88 Insbesondere Christian Tilitzki, Günther Jacoby im Dritten Reich – Randnotizen des Greifswalder Philosophen zum Zeitgeist nach 1933, in: Baltische Studien. Pommersche Jahrbücher für Landesgeschichte, Bd. 86 N.F. (2000), S. 107–114, insbesondere S. 113, leider ohne Quellenhinweis. Siehe insbesondere Abschriften der Gnadengesuche an Hitler v. 1.9.1938 u. 20.11.1939, in: UAG, PA 1255 (Günther Jacoby). 89 Wenn von der besonderen Situation am Ende des Krieges im Angesicht des bevorstehenden Einmarsches der Roten Armee abgesehen wird, bleibt nur: Franz Herberhold, Alfons Maria Wachsmann: Ein Opfer des Faschismus, Leben und Tod des Greifswalder Pfarrers Dr. Alfons Maria Wachsmann, Leipzig 1963.

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grundsätzlich in Frage gestellt. So reichte das Spektrum der Verhaltensweisen von aktiver Mitgestaltung über karrieristischen Opportunismus, existentiell bedingte Anpassung bis hin zu Mitläufern aus Gleichgültigkeit bzw. Gedankenlosigkeit. Alle trugen jedoch – ich verweise auf meine eingangs gemachte Bemerkung zu Oswald Bumkes Rechtfertigungsversuch –, sei es im Bemühen um eine seriöse Wissenschaft oder durch direkte Beteiligung an Aggressionen und Verbrechen, zum Funktionieren dieses Herrschaftssystems bei. Selbstbeschwichtigungsmuster wie die Entschuldigung mit unumgänglichen Zwängen oder die Wahl eines vermeintlich „kleineren Übels“ halfen, die Unfähigkeit, Konsequenzen etwaiger Nonkonformität tragen zu können, zu verdrängen, und trugen zudem systemstabilisierenden Charakter, da viele durch Mittun integriert werden konnten. Viele Greifswalder Lehrkräfte bedienten sich dieser Selbstentlastung etwa beim Eintritt in eine der NS-Organisationen. Sie erklärten, „Schlimmeres verhindern“ zu wollen.90 Sicher ist dem von Wolfgang Fritz Haug zitierten Professor Kotter zuzustimmen, dass „der deutsche Professor nicht schlechter und nicht besser als der deutsche Bürger“ war.91 Dabei sollte jedoch beachtet werden, dass deutsche Hochschullehrer aus ihrer gesellschaftlichen Stellung und der damit verbundenen Verantwortung heraus eher prädestiniert waren, zu den „rühmlichen Ausnahmen“ oder „abschreckenden Beispielen“ zu gehören. Nun ist es eine Tatsache, dass jene „rühmlichen Ausnahmen“ im Gegensatz zu den „abschreckenden Beispielen“ wirklich nur Ausnahmen blieben. Da bei jungen Intellektuellen aufgrund der größeren Bereitschaft, vorgefundene Verhältnisse kritisch aufzuheben, in größerem Maße vorhanden war, lag bei diesen auch die Hemmschwelle, bis zur letzten Konsequenz zu gehen, häufig niedriger. Die geistige Krise hatte ihr praktisches Gegenstück. Die im Gewalterleben der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts erfahrene Entwertung menschlichen Lebens führte zu Enthemmung auf der einen Seite. Dazu kam ein romantisierter bzw. irrational auf die Spitze getriebener Dienst an einem fetischisierten Pflichtbegriff. Das Ergebnis war eine seit dem Ersten Weltkrieg zu beobachtende, zunehmende Erosion bis dahin hochgehaltener moralischer Ansprüche, die dem gleichzeitig erhobenen Zivilisationsanspruch hohnsprach. Hochschulangehörigen, denen andere ethische Maßstäbe und charakterliche Prinzipienfestigkeit nicht gegeben waren, drohte als Ersten die Gefahr, auf offen verbrecherische Weise mit humanistischer Verpflichtung der Wissenschaft in Widerspruch zu geraten. Dabei sollte für sie wie für die vielen Abstufungen bis hin zum „Mitläufer“ das von Haug in seinem Buch „Der hilflose Antifaschismus“ mit dem Satz: „In-der-Ideologie-Sein, heißt blind für sie sein.“,92 gefasste Moment – mit unterschiedlicher Nuancierung 90 Senatsprotokoll 31.10.1933, in: UAG, Altes Rektorat R 2200; UAG, PA 327 (Walter Glawe). 91 Wolfgang Fritz Haug, Der hilflose Antifaschismus, Köln 1977, S. 13. 92 Haug, Antifaschismus (wie Anm. 91), S. 8.

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zwar – unbedingt in Rechnung gestellt werden. Nur so wird m.E. das allein als kollektive Gewissenlosigkeit erscheinende Verhalten verständlicher. Die „Freiheit der Wissenschaft“ ist – wie der Freiheitsbegriff – immer in der Gefahr instrumentalisiert zu werden, erscheint zudem im alltäglichen Umgang als eine Gefühlskategorie. Freiheit ist jedoch immer konkret – von etwas bzw. für etwas – und ist in dieser Konkretheit immer an ein Austauschverhältnis gebunden: Faust verkauft dem Teufel bzw. Mephistopheles seine Seele und erhält dafür die Freiheit zu erfahren, was die Welt im Innersten zusammenhält. Anders ausgedrückt ist diese Freiheit immer abhängig von den verfügbaren Ressourcen bzw. von denen, die über diese Ressourcen verfügen sowie von der Beteiligung und der Qualität der Kommunikation über die Ressourcenverteilung.93 Hierin drückt sich m.E. Herrschaft aus. Von daher erscheint dann auch die Herrschaftsaffinität von Wissenschaft erklärbar, ist die oben beschriebene Anpassung die zu erwartende Entwicklung, wie sich Metallspäne an magnetischen Feldlinien ausrichten. Mit allen Hochschulen hatte die Greifswalder Universität zunächst gemeinsam, dass hier nach 1918 ein großes konservatives Potential konzentriert war, das, ohnehin in Frontstellung zur Arbeiterbewegung, mit dem Hervortreten der kommunistischen Bewegung einen Antikommunismus entwickelte, der die Anlagen zu dem, was später Faschismus – Nationalsozialismus genannt wurde, in sich trug. Mein damaliger Leipziger Lehrer, Werner Bramke, vertrat s.Zt. die Ansicht, dass die Intelligenz auf keiner Seite entscheidend, auf demokratischer jedoch auffälliger war.94 Das habe ich damals (und tue es bis heute) mehr als nur relativiert. Gerade an den Universitäten fand der deutsche Faschismus ein frühes Rekrutierungsfeld, ohne dass ihm nennenswerter Widerstand entgegengesetzt worden wäre. Jugendlicher Drang nach Infragestellen traditioneller Wertvorstellungen und Aktivismus führte zu einer radikalen Aufhebung des bis dahin dominierenden konservativ-obrigkeitsstaatlichen Denkens. Unter diesen Verhältnissen trat die von den „Nationalsozialisten“ dominierte deutsche Studentenschaft früh als Exponent der faschistischen Bewegung in Erscheinung.95 In Greifswald zeichnete sich bei zwei Altersgruppen eine Affinität zu dieser Bewegung ab. Hier hatten bereits in den nachrevolutionären Auseinandersetzungen der frühen Weimarer Republik gestandene Wissenschaftler wie der Mathematiker Theodor Vahlen, der erster NSDAP-Gauleiter in Pommern und einer der ersten Hochschullehrer

93 Vgl. Anm. 25. 94 Werner Bramke, Intelligenz zwischen Faschismus und Widerstand im Deutschland der dreißiger Jahre, in: Bulletin des Arbeitskreises „Zweiter Weltkrieg“, 21 (1984) Nr. 1–4, S. 63/64. 95 Vgl. Greifswalder Hochschulzeitung, Nachrichtenblatt der Freien Studentenschaft der Universität Greifswald, 7 (1932) Nr. 2, S. 72–74.

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in der Partei war,96 der Physiker Johannes Stark oder der Jurist Carl Schmitt den Übergang von monarchistischen, völkischen und philosophisch idealistischen Positionen zur frühen Nazibewegung vollzogen, sie übernahmen eine Vordenkerrolle und waren nach 1933 eifrige Verfechter dieser Politik. Daneben gehörten die um die Jahrhundertwende und in den ersten Jahren danach geborenen Studenten – die „Generation des Unbedingten“ (Michael Wildt) – in der Weimarer Republik, insbesondere in ihren letzten Jahren, zu den Aktivisten, die die Machtübernahme der NSDAP von unten mit vorbereiteten.97 Auffällig war die Frühzeitigkeit, mit der sich diese Entwicklung in Greifswald vollzog. Das war m.E. der Dominanz eines Milieus in der Region98 geschuldet, das sich an der Greifswalder Universität in konzentrierter Intoleranz äußerte, da alternative Strömungen in dieser Region ohnehin verkümmert und die Studentenzahlen zu gering waren,99 als dass sie hier eine Basis hätten finden können, um sich zu behaupten. Mit mehr als einem Drittel – bei steigender Tendenz – stellten die Pommern den größten Anteil der an der Greifswalder Universität Studierenden.100 Das Wahlverhalten in Pommern zugunsten der NSDAP lag bis 1933 über dem Reichsdurchschnitt. Die geistig-kulturelle Pluralität auf der Grundlage eines ausgewogeneren Sozialgefüges fehlte hier. Die Greifswalder Besonderheit zeigte sich m.E. gerade darin, dass die in ganz Deutschland wirkenden und weithin als Krise begriffenen Momente einer längerfristigen gesamtgesellschaftlichen Veränderung hier durch eine mangelnde Vielfalt konkurrierender Einflüsse ungleich stärker wirken konnten. Sicher wirkte im Bewusstsein der meisten Greifswalder Universitätsangehörigen das Moment des Konservativen im Sinne eines auf überkommenen Wertvorstellungen basierenden Beharrungsstrebens als – für sich genommen – durchaus positiver Faktor. Dies erhielt aber durch den vergleichsweise geringen Zwang zur Auseinandersetzung mit alternativen Auffassungen sowohl im akademischen als auch im regionalen Umfeld einen Zug, den ich – wiederholt – nur als „reaktionär“ bezeichnen kann. Sicher auch deshalb ist in Greifswald ein Umschlag des Konservatismus in Widerstandsbereitschaft kaum bzw. erst erfolgt, als die eigene Existenz in Frage stand. Der wichtigste Grund dafür war m.E. das bereits beschriebene Streben, die notwendigen 96 Wolfgang Schlicker, Josef Glaser, Tendenzen und Konsequenzen faschistischer Wissenschafts­ politik nach dem 30. Januar 1933, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 31(1983), S. 883. 97 Wildt, Generation des Unbedingten (wie Anm. 20), S. 847–850. 98 Vgl. Anm. 43. 99 UAG, Matrikel, Bd. XVI (1931–1940). 100 In den Jahren der „Überfüllung“ verzeichnete die Greifswalder Universität mit weit über 2.000 Studenten die bis dahin höchsten Besucherzahlen, blieb aber trotzdem u.a. neben der Rostocker die kleinste deutsche Universität. Siehe UAG, Kurator K 1770, Statistik; Taschenbuch der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Greifswald 1935, S. 42.

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Ressourcen für physisches und psychisches Wohlbefinden zu sichern. Das Versagen oder Bestehen vor einer als Bewährungssituation verstandenen gesellschaftlichen Konstellation leitet sich letztlich allein daraus ab.101 Deutlich wurde am Beispiel der Universitätsangehörigen auch, dass Selbstverwirklichung an adäquate Hilfsmittel gebunden ist. Die Konzentration auf deren Vervollkommnung führt notwendig dazu, diese Vervollkommnung als persönliche Selbstverwirklichung zu begreifen. Das bedeutete im konkreten Fall, gesellschaftliches Handeln an verabsolutierten abstrakten Werten auszurichten. Der Dienst an solchen Fetischen richtete sich letztlich gegen die Menschen. Diese Umwälzung realisierte sich umso leichter, als sich der größte Teil der Hochschulintelligenz an einen Obrigkeitsstaat gebunden begriff, so dass er sich mit den Verhältnissen des Weimarer „Systems“ nicht abfinden wollte und konnte. So mussten sie von Beginn an den Zusammenbruch dieser ungeliebten Republik betreiben oder eine derartige Haltung unterstützen bzw. tolerieren. Diejenigen, die rational den Übergang von 1918 nachvollziehen wollten, hatten gerade darum keine wirkliche Verwurzelung in der Weimarer Republik finden können. Sie waren, weil sie die Tatsachen als notwendig akzeptierten, umso eher anfällig für einen Kniefall vor der NSDAP-Herrschaft.102 Thomas Mann hat in „Mario und der Zauberer“ „diese Negativität der Kampfposition“ in die Weltliteratur eingeführt.103 Der Eid auf den „Führer und Reichskanzler“ seit dem Sommer 1934 war – trotz oder wegen – des 30. Juni 1934 folgerichtig. Auf einer schiefen Ebene ist unter den uns bestimmenden entropischen Verhältnissen nur eine Bewegung möglich: nach unten.

Schlussbemerkungen

Ich hatte das Glück, das Verhalten von Menschen in gesellschaftlichen Umwälzungen wie denen zwischen 1918 und 1945 in Deutschland zu untersuchen, als die Zeitläufe mich 1989/1990 plötzlich in eine vergleichbare Lage versetzten und mir als Akteur der Spiegel vorgehalten wurde. Es war für mich, als würde die historische Distanz zum Untersuchungsgegenstand relativiert; eine zentrale Lebenserfahrung. Das Erlebnis, bisher gläubig, naiv vertretene Werte innerhalb kurzer Zeit ihrer Grundlagen 101 Morris, Wer regiert die Welt? (wie Anm. 22), S. 34–37 verdichtet die Triebkräfte auf „Faulheit, Angst und Habgier“ und nimmt dazu auf S. 36 Bezug auf Robert Heinlein, Das Leben des Lazarus, München 1977, S. 57. 102 Kurt Sontheimer, Die Haltung der deutschen Universitäten zur Weimarer Republik, in: Universitätstage 1966, Veröffentlichung der Freien Universität Berlin, Berlin (W.) 1966, S. 24–42. 103 Thomas Mann, Mario und der Zauberer, Leipzig 1973. Die Niederlage des „Herrn aus Rom“ wegen der „Negativität seiner Kampfposition“ wird auf S. 52 geschildert.

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entleert zu sehen bzw. sie in ihrer Fiktionalität erkennen zu müssen, machten mir die Haltlosigkeit der jungen Akademiker und der Folgen, die das nach 1918 hatte, verständlicher. Das unmittelbare Erleben der Spannung zwischen rationalen Einsichten in die Notwendigkeit des Erlebten, ohne dass die emotionale Lösung von der Vergangenheit damit Schritt gehalten hätte bzw. halten konnte, war für mich – nicht nur in Bezug auf diese Forschung – von unschätzbarem Wert. Dass dieser Eindruck eminenter Bedeutung unmittelbarer, empirischer Erfahrung für den Erkenntnisprozess schon lange als teilnehmende Beobachtung beschrieben war, habe ich erst später gelesen. Eigenes zeitgeschichtliches Erleben ließ mir auch die Motive der das Weimarer „System“ ablehnenden und bekämpfenden Kräfte u.a. als Ausdruck eines Wechselverhältnisses erkenntnismäßiger und psychologischer Grenzen deutlicher sichtbar werden. Eine wesentliche persönliche Schlussfolgerung war, das als Gegenstück zum verabsolutierten Objektivitätsanspruch bzw. zur bürgerlichen und nazistischen Parteilichkeit entstandene „marxistische“ Parteilichkeitsdogma aufzuheben, um zu einem Selbstverständnis zu gelangen, das sich in seinem Erkenntnisstreben seiner Subjektivität bewusst wird und jede andere Meinung für sich als durch ihre Existenz hinreichend begründet akzeptiert und die notwendige Auseinandersetzung zu einer Vervollkommnung der eigenen Position nutzt. Die Verabsolutierung des eigenen Standpunktes, in der menschlichen Individualität begründet, hat in der Endkonsequenz notwendig die Negierung von Andersartigkeit zur Folge. Das Infragestellen der Existenzberechtigung der so von der „Norm“ Abweichenden ist dann wiederum nur die letzte Konsequenz dessen. Geistige Provinzialität ist ihr wesentlicher Nährboden.

Bildung und Erziehung im Nationalsozialismus an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Gabriele Förster

Facetten der nationalsozialistischen Hochschulpolitik1

In Diktaturen haben Universitäten im Sinne der jeweiligen Machthaber im Wesentlichen folgende Funktionen: Sie sind nicht nur die potentiellen Träger und Multiplikatoren der herrschenden Ideologie, sondern zugleich auch Ausbildungsstätte für die zukünftigen Funktionseliten. Daneben verfügen sie über ein Forschungspotential, welches von großem Nutzen für die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Ziele einer Diktatur sein kann. Letztendlich besteht das Ziel jeder Diktatur in der Kontrolle der Universitäten, wofür insbesondere die folgenden fünf Wege die dafür notwendigen Voraussetzungen schaffen sollten:2 1. Die Ausrichtung der Forschung und Lehre im Sinne der Machthaber

Bereits bestehende Institute und Lehrstühle mussten ideologiekonform ihre Arbeit fortsetzen, was sie größtenteils auch wollten. Hinzu kam, dass insbesondere durch die Einrichtung neuer Institute, Studiengänge und Vorlesungen, die im Nationalsozialismus vordergründig die Rassenhygiene, Volkskunde, Wehrwissenschaft und Vorgeschichte betrafen, die nationalsozialistische Ideologie in den Universitäten Einzug halten sollte.3 1

Eine Reihe von Historikern ist der Meinung, dass eine nationalsozialistische Hochschulpolitik überhaupt nicht existierte, aber meines Erachtens trifft die Feststellung von Grüttner hier eher zu, der folgenden Standpunkt vertritt: „Auch wenn es keine zentrale Steuerung von Hochschule und Wissenschaft gegeben hat, so lässt sich doch nicht bestreiten, dass das Gesicht der deutschen Universitäten seit 1933 durch hochschulpolitische Maßnahmen, die sich an den Grundprinzipien der NS-Ideologie orientierten, so tiefgreifend verändert wurde wie nie zuvor seit mehr als einem Jahrhundert. Ich sehe keinen Grund, warum man die Summe dieser Maßnahmen nicht als nationalsozialistische Hochschulpolitik bezeichnen sollte“, Michael Grüttner, Die deutschen Universitäten unter dem Hakenkreuz, in: John Connelly, Michael Grüttner (Hg.), Zwischen Autonomie und Anpassung: Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Paderborn 2003, S. 67–100, hier S. 79. 2 Vgl. Michael Grüttner, Schlussüberlegungen: Universität und Diktatur, in: John Connelly, Michael Grüttner (Hg.), Zwischen Autonomie und Anpassung: Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Paderborn 2003, S. 265–276, hier S. 265. 3 Vgl. Grüttner, Schlussüberlegungen: Universität und Diktatur (wie Anm. 2), S. 265.

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Vor diesem Hintergrund wird hier stellvertretend die „Rassenhygiene“ betrachtet, deren Anfänge als Wissenschaftsdisziplin allerdings schon auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurückgehen und die während der Zeit der Weimarer Republik eine zunehmende akademische Etablierung erfuhr – in Greifswald insbesondere durch den zur Philosophischen Fakultät gehörenden Zoologen Günther Just (1892–1950). Dieser hatte bereits 1923 nach seiner Habilitation einen Lehrauftrag für Allgemeine Biologie und Vererbungslehre erhalten. Als außerordentlicher Professor konnte er 1929 eine eigene Abteilung für Vererbungswissenschaft, zugehörig zum Zoologischen Institut, einrichten, welche dann kurze Zeit nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, am 12. Dezember 1933, in das Institut für menschliche Erblehre und Eugenik umgewandelt wurde. 1936 erfolgte die Umbenennung in das Institut für Vererbungswissenschaft. Trotz der sichtbaren Aufwertung dieses Faches in Greifswald hatte Just nicht die uneingeschränkte Akzeptanz von Seiten der Medizinischen Fakultät.4 So unternahm er als maßgeblicher Lehrer auf diesem Gebiet 1939 den Versuch, die Verantwortung für die Prüfungen aller Medizinstudenten in der Rassenhygiene übertragen zu bekommen, was am Widerstand der Medizinischen Fakultät scheiterte. Als Nichtmediziner durfte er zwar die Prüfungen in der Erbbiologie, Vererbungslehre, Rassenkunde und Bevölkerungspolitik abnehmen, aber nicht in der Rassenhygiene und menschlichen Erblehre.5 Nachdem Just im Januar 1943 seine Berufung nach Würzburg annahm, beantragte der Dekan der Medizinischen Fakultät beim Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung erfolglos die Einrichtung einer außerplanmäßigen Professur für menschliche Erblehre und Rassenhygiene an seiner Fakultät. „Trotz des Umstands, dass der Unterricht in menschlicher Erblehre und Rassenhygiene keine Absicherung in Form einer eigenen Professur an der Medizinischen Fakultät besaß, wurden entsprechende Inhalte in Lehre und Alltagspraxis des Fakultätsbetriebes umgesetzt. Abgesehen von Just beteiligte sich auch eine Reihe medizinischer Ordinarien an rassenhygienisch orientierten Vorlesungen, die im Rahmen der Fächer Hygiene, Psychiatrie und Gerichtsmedizin, Anatomie und Frauenheilkunde abgehalten wurden.“6

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Trotzdem schritt Justs Karriere weiter voran, indem er beispielsweise zum Oberregierungsrat sowie Mitglied des Reichsgesundheitsamtes in Berlin ernannt wurde und dort bald die Leitung eines erbwissenschaftlichen Forschungsinstituts übernahm. Vgl. Hans-Peter Schmiedebach, Die Medizinische Fakultät Greifswald in den letzten 200 Jahren – Akademische Tradition und gesellschaftliche Anforderungen, in: Dirk Alvermann, Karl-Heinz Spieß (Hg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456–2006, Bd. 1, Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006, S. 289–370, hier S. 326. Schmiedebach, Die Medizinische Fakultät (wie Anm. 4), S. 326f. Schmiedebach, Die Medizinische Fakultät (wie Anm. 4), S. 326f.

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Erwähnt werden soll an dieser Stelle noch, dass in der Physik eine Abteilung für angewandte und Wehrphysik geschaffen wurde. Daneben gab es Bemühungen des Physikers und Nobelpreisträgers Johannes Stark (1874–1957) um die Durchführung einer rassisch orientierten Lehre im Rahmen der „Deutschen Physik“, die aber im Lehrkörper kaum auf Resonanz stieß.7 2. „Säuberung“ des Lehrkörpers und der Studentenschaft aufgrund ideologischer Kriterien

Aus politischen Gründen verloren an der Greifswalder Universität bis zum April 1936 14 Hochschullehrer ihre Stelle. Das entsprach 9,7 Prozent des Lehrpersonals von 1932/33. Mit dieser Relation befand sich Greifswald beim Vergleich aller deutschen Universitäten auf dem 14. Rang.8 Insgesamt gab es im Zeitraum von 1933 bis 1945 18 Entlassungen.9 In Bezug auf die Studentenschaft traf es vor allem Studierende „nichtarischer“ Herkunft, die aufgrund ideologischer Kriterien am Studium gehindert werden sollten. Reichsweit wurde mit dem Gesetz zur Überfüllung der deutschen Hochschulen und Schulen vom 24. April 1933 sowie einem Ministerialerlass vom 16. Juni 1933 die Anzahl der Neuimmatrikulationen von Studierenden nichtarischer Herkunft auf 1,5 Prozent sowie ihr Anteil bei bereits eingeschriebenen Studenten auf 5 Prozent begrenzt. Da 1933 davon in Greifswald lediglich drei Kommilitonen, darunter zwei zukünftige Mediziner und ein Student der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, betroffen waren − lediglich 0,15 Prozent der Studentenschaft − wurde dieser Wert vor Ort als neue Höchstgrenze festgelegt. Diese wenigen Studierenden wurden dann nach dem neuen Studentenrecht vom 12. April 1933 von der Mitgliedschaft in der Deutschen Studentenschaft ausgeschlossen, was gleichzeitig weitere Sanktionen 7

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Vgl. Lothar Kämpfe u.a., Die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät – Kontinuität und Wandel, in: Dirk Alvermann, Karl-Heinz Spieß (Hg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456–2006, Bd. 1, Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006, S. 481–560, hier S. 489f. Vgl. Hartmut Titze, Wachstum und Differenzierung der deutschen Universitäten 1830–1945. Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1, Hochschulen, 2. Teil, Göttingen 1995, S. 245. Vgl. auch Grüttner, Die deutschen Universitäten (wie Anm. 1), S. 83. Der Durchschnitt bei den Entlassungen an deutschen Hochschulen lag bei 16,3 %. Führend waren dabei die Universitäten in Berlin mit 32,4 %, Frankfurt/M. mit 32,3 % und Heidelberg mit 24,3 %. Die Schlusslichter bildeten Rostock mit 4,2 % und Tübingen mit 1,6 %. Vgl. Michael Grüttner, Die „Säuberung“ der Universitäten: Entlassungen und Relegationen aus rassistischen und politischen Gründen, in: Joachim Scholtyseck, Christoph Studt (Hg.), Universitäten und Studenten im Dritten Reich. Bejahung, Anpassung, Widerstand, Berlin 2008, S. 23–40, hier S. 30.

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nach sich zog wie z.B. Verweigerung des Zugangs zur Mensa, zu Wohnheimplätzen und von Ansprüchen auf Gebührenerlasse oder Stipendien.10 3. Politische Kontrolle des Zugangs zum Studium

Hierbei sollte der akademische Nachwuchs verstärkt nach politischen Gesichtspunkten für ein Studium zugelassen werden. Zum Zweck der Immatrikulation mussten die sogenannten Inländer bis zum Sommersemester 1938 folgende Nachweise einreichen:11 • Reifezeugnis, • Abgangszeugnisse früher besuchter Universitäten, • polizeiliches Führungszeugnis, falls seit Abgang von der zuletzt besuchten Universität mehr als ein Vierteljahr vergangen ist.12 Nach einem Ministerialerlass vom 23. April 1938 durfte an einer deutschen Hochschule nur noch immatrikuliert werden, wer die „arische Abstammung“ nachweisen konnte. Das bedeutete endgültig ein Verbot des Studiums für Juden.13 Diese Ausgrenzung widerspiegelte sich ab dem Wintersemester 1938/39 in den Immatrikulationsbestimmungen derart, dass die folgenden Unterlagen vorzulegen waren: • Geburtsschein mit Ahnennachweis bzw. Ahnenpass (bei Verheirateten auch für den Ehepartner), • Reifezeugnisse und Abgangszeugnisse, • Zeugnisse über praktische Tätigkeiten, • polizeiliches Führungszeugnis, • bei Zugehörigkeit zur NSDAP oder NS-Verbänden: Nachweis der gegenwärtigen oder früheren Mitgliedschaften, • Bescheinigungen über abgeleisteten Arbeits- und Landdienst, Landhilfe oder studentischen Ausgleichsdienst und Wehrdienst, • Meldebogen.14 10 Protokoll der Besprechung der Dekane mit den Führern der Studentenschaft v. 7.7.1933, in: Universitätsarchiv Greifswald (künftig: UAG), Altes Rektorat R 376, Bl. 90. 11 Mit Erlass (des RMinAmtsBl. Dtsch. Wiss. von 1935, S. 69) vom 9. Februar 1935 wurde zum Hochschulstudium nur zugelassen, wer außerdem nach dem Erwerb des Reifezeugnisses an einer deutschen höheren Schule das Arbeitsdiensthalbjahr abgeleistet hatte. 12 Personal- und Vorlesungsverzeichnisse der Universität Greifswald Wintersemester 1932/33 bis Sommersemester 1938, Greifswald 1932–1938, Rubrik „Mitteilungen für Studierende“. 13 Vgl. http://www.ns-zeit.uni-greifswald.de/index.php?id=46&tx_ttnews[tt_news]=91&cHash=e 88d7fdc3a4583e1fb d6229a80ec9cf9 (Stand: 4.7.2013). 14 Personal- und Vorlesungsverzeichnisse der Universität Greifswald Wintersemester 1938/39 bis Sommersemester 1945, Greifswald 1938–1945, Rubrik „Mitteilungen für Studierende“.

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Noch deutlicher wurde der zunehmende politische Druck auf die Studierenden, wenn es um die Gewährung von Erlassen oder Ermäßigungen von Studien- und Vorlesungsgebühren ging. Waren bis zum Sommersemester 1933 derartigen Gesuchen nur die Nachweise über die wirtschaftliche Lage der Studierenden und deren Eltern, zwei Fleißzeugnisse sowie das ausgefüllte Anmeldebuch beizufügen, so kamen mit dem Wintersemester 1934/35 noch Dienstzeugnisse über das Werkhalbjahr bzw. den Arbeitsdienst sowie Dienstzeugnisse des Wehrverbandes bzw. SA-Hochschulverbandes hinzu. In großem Umfang erfuhren diese Bestimmungen mit dem Wintersemester 1938/39 Erweiterungen, indem diese Ermäßigungen neben den schon erwähnten Erklärungen und Nachweisen an folgende hinzukommende Voraussetzungen geknüpft wurden: „Die Vergünstigung ist an die Erfüllung folgender Bedingungen geknüpft: 1. gute wissenschaftliche Leistungen in dem gewählten Studienzweig, geistige Reife und Begabung sowie fleißiges Studium; 2. körperliche und geistige Gesundheit, charakterliche und politische Zuverlässigkeit. Dazu gehört insbesondere: a) allgemein gesunde und körperliche Veranlagung. Deren Annahme wird z.B. durch das Vorliegen von nicht vererbbaren körperlichen Schäden (Verlust von Gliedmaßen infolge von Verkehrsunfällen usw.) dann nicht ausgeschlossen, wenn die geistige Leistungsfähigkeit dadurch nicht beeinträchtigt ist. b) Einsatzbereitschaft für den nationalsozialistischen Staat und sein Grundsätze, c) offenes und ehrliches, kameradschaftliches, vom Gemeinschaftssinn getragenes, Zucht und Ordnung wahrendes Verhalten.“15 Mit dem Wintersemester 1943/44 trat eine weitere Möglichkeit in Kraft, um einen Gebührenerlass zu bekommen. Dieser wurde „Kriegsteilnehmern, die über 2 Jahre Wehrdienst, davon mindestens ½ Jahr während des Krieges geleistet haben“16 gewährt. Die Höhe hing von der Dauer des Wehr- und Kriegsdienstes ab. 4. Beseitigung der Selbstverwaltung der Hochschulen

Hierbei ging es darum, die freie Wahl der Rektoren und Dekane faktisch abzuschaffen, um zu gewährleisten, dass die Führung der Hochschulen im Sinne der nationalsozialistischen Machthaber erfolgte.17 Gesetzliche Verankerung fand dies im Erlass des Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbil15 Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1938/39, Greifswald 1938, S. 28. 16 Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1943/44, Greifswald 1943, S. 26. 17 Grüttner, Schlussüberlegungen (wie Anm. 2), S. 266.

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dung vom 28. Oktober 1933, in dem die Organisation der preußischen Hochschulen nach dem Führer- und Gefolgschaftsprinzip erfolgen sollte. Endgültig wurde die demokratische Selbstverwaltung der Universitäten zugunsten einer monokratischen und autoritären Struktur nach den reichsweiten Richtlinien vom 1. April 1935, die den eben genannten Erlass präzisierten, beseitigt. In ihnen wurde unter anderem festgelegt: „3. Führer der Hochschule ist der Rektor. Er untersteht dem Reichswissenschaftsminister unmittelbar und ist ihm allein verantwortlich. 4. Der Leiter der Dozentenschaft wird nach Anhören des Rektors und des Gauführers des NS-Dozentenbundes vom Reichswissenschaftsminister ernannt. Er untersteht dem Rektor. 5. Der Leiter der Studentenschaft wird nach Anhören des Rektors und des Gauführers des NS-Studentenbundes vom Reichswissenschaftsminister ernannt. Er untersteht dem Rektor. 6. Der Prorektor und die Dekane werden auf Vorschlag des Rektors vom Reichswissenschaftsminister ernannt.“18 Wilhelm Meisner (1881–1956), Karl Reschke (1886–1941), Kurt Wilhelm-Kästner (1893–1976) und Carl Engel (1895–1947) leiteten in dieser Reihenfolge in ihrer Funktion als Rektor die Arbeit an der Greifswalder Universität. 5. Einschränkung internationaler Kontakte

Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Hochschulpolitik auf die internationalen Wissenschaftskontakte der Greifswalder Universität können hier nicht ausgeführt werden. Hingewiesen sei aber in diesem Zusammenhang auf die Arbeit der Nordischen Auslandsinstitute der Universität, auf deren Tätigkeit während des Untersuchungszeitraums Marko Nase in diesem Band ausführlicher eingeht.

Auswirkungen der nationalsozialistischen Hochschulpolitik auf die universitäre Bildung und Erziehung

Im Mittelpunkt der Bildung und Erziehung sollte nicht das Individuum an sich, sondern dessen Nützlichkeit für die Volksgemeinschaft stehen. Es lässt sich dabei ein 18 Richtlinien zur Vereinheitlichung der Hochschulverwaltung vom 1.4.1935, in: UAG, Kurator K 72, Bl. 52.

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durchaus „antiintellektueller Grundzug“ des Nationalsozialismus feststellen.19 Dieser wurde unter anderem in Hitlers zwischen 1924 und 1926 niedergeschriebenem Werk „Mein Kampf“ deutlich, wenn dort zu lesen ist: „Der völkische Staat hat in dieser Erkenntnis [dass nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohne, Anm. d. Verf.] seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten. Hier aber wieder an der Spitze die Entwicklung des Charakters, besonders die Förderung der Willens- und Entschlusskraft, verbunden mit der Erziehung zur Verantwortungsfreudigkeit, und erst als letztes die wissenschaftliche Schulung. Der völkische Staat muss dabei von der Voraussetzung ausgehen, dass ein zwar wissenschaftlich wenig gebildeter, aber körperlich gesunder Mensch mit gutem, festem Charakter, erfüllt von Entschlussfreudigkeit und Willenskraft, für die Volksgemeinschaft wertvoller ist als ein geistreicher Schwächling.“20 In logischer Konsequenz forderten die Nationalsozialisten einen völlig neuen Studententypus, der sich als opferbereit und ideologisch sattelfest präsentiert, „kein Streber und Bücherwurm, sondern physisch abgehärtet und sportlich“.21 Vor diesem Hintergrund erwies sich allerdings die Frage nach der Gewichtung der fachlichen Ausbildung versus politischen Erziehung der Studierenden als ständiger Konfliktherd, denn das Reichserziehungsministerium neigte dazu, fachliche Aspekte zu betonen, da das Regime für die Lebensfähigkeit des Industriestaates qualifizierte Akademiker benötigte, wohingegen die Partei ideologischen Aspekten den Vorrang gab. Letztendlich waren sich alle zeitgenössischen Fachleute darin einig, dass ein Rückgang des fachlichen Niveaus in allen Fakultäten auszumachen war.22 Zum Zweck der Einbindung Studierender in das nationalsozialistische System gab es einen ganzen Maßnahmenkatalog, der unter anderem Folgendes umfasste: • Politisierung von Studieninhalten, • Wohnpflicht in Kameradschaftshäusern bzw. Wohnkameradschaften für Studienanfänger, • Bekämpfung der bürgerlichen und damit überlebten Korporationen, • Durchführung von Schulungslagern (zum Teil gemeinsam mit Hochschullehrern), • Verankerung des politischen Erziehungsmonopols beim NS-Studentenbund (NSDStB) bzw. der Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Studentinnen (ANSt), vormilitärische Erziehung durch die SA, 19 Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), Paderborn 1995, S. 159. 20 Zit. nach Christian Zentner, Adolf Hitlers „Mein Kampf“, München 1974, S. 103f. 21 Grüttner, Die deutschen Universitäten (wie Anm. 1), S. 92. 22 Vgl. Grüttner, Die deutschen Universitäten (wie Anm. 1), S. 92f.

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Arbeitseinsätze in Fabriken und der Landwirtschaft, Durchführung des Reichsberufswettbewerbs der deutschen Studentenschaft, Durchführung von Feiern, Kundgebungen und Appellen, Relegation jüdischer und politisch missliebiger Studierender.23

Es würde den Rahmen dieser Darstellung sprengen, auf alle diese Maßnahmen detaillierter einzugehen. Deshalb können im Folgenden nur ausgewählte Aspekte verdeutlichen, wie an der Greifswalder Universität die Studierenden in das nationalsozialistische System eingebunden werden sollten.

Politisierung von Studieninhalten

Zur Politisierung von Studieninhalten wurden beispielsweise Studienordnungen neu erlassen, die eine starke Regelung des Studienaufbaus vorschrieben. Je nach Fachrichtung wurden „völkische Grundlagen“ obligatorisch wie z.B. Wehrwissenschaften, Vor- und Frühgeschichte, Volkskunde oder Luftschutz. In den Fällen, wo bisher Philosophie als Pflichtfach bestand, wie z.B. bei Promotionen, wurde sie durch Weltanschauung und Politik ersetzt.24 Als wenig erfolgreich erwiesen sich die Versuche, das Studium durch den Besuch fachfremder Lehrveranstaltungen nationalsozialistischer Prägung zu politisieren, weil die Studierenden darauf häufig mit Desinteresse reagierten, die Lehrveranstaltungen nur widerwillig besuchten oder ihnen gänzlich fernblieben. Als später der zunehmende Mangel an akademischem Nachwuchs es erforderlich machte, eine Kürzung des Studiums vorzunehmen und Studienpläne zu straffen, kam das Reichserziehungsministerium nicht umhin, dieses Konzept zu revidieren, was auch dazu führte, dass in den während des Krieges erlassenen Studienordnungen die politischen Vorlesungen stark reduziert oder sogar gänzlich gestrichen wurden.25 Für Studierende aller Fakultäten gab es in Greifswald, wie an anderen Universitäten auch, fachübergreifende Vorlesungen. Von 1933 bis 1945 umfassten diese durchschnittlich 15 Vorlesungen pro Semester, wobei sie sich auf die einzelnen Semester 23 Peter Chroust, Universität und Studium, in: Klaus-Peter Horn, Jörg-W. Link (Hg.), Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011, S. 205–230, hier S. 210f. 24 Philipp Eggers, Bildungswesen, in: Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl, Georg-Christoph von Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band IV/2: Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, München 1985, S. 966–988, hier S. 983. 25 Vgl. Grüttner, Studenten (wie Anm. 19), S. 198.

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bzw. Trimester26 sehr unterschiedlich verteilten. Waren im Sommersemester 1933 erst 18 Vorlesungen hierfür vorgesehen, so stieg ihre Anzahl auf 34 im Wintersemester 1933/34. Einbrüche gab es im Wintersemester 1938/39 und Sommersemester 1939 mit nur acht Angeboten. Für das Wintersemester 1942/43 war noch einmal ein starker Anstieg an derartigen Lehrangeboten zu verzeichnen, der insgesamt 28 Vorlesungen umfasste. Allerdings ist es fraglich, ob diese Veranstaltungen kriegsbedingt überhaupt stattfinden konnten. Exemplarisch sollen an dieser Stelle die Vorlesungen des Wintersemesters 1933/34 vorgestellt werden. Jeweils am Dienstag von 20 bis 22 Uhr fanden Vorlesungen zur politischen Gemeinschaftsbildung statt, konkret zu folgenden Themen: • Rasse – Heimat – Geschichte, • Sprache und Volkstum – Dichtkunst – Bildende Kunst, • Volksgesundheit – Arbeit – Staat und Recht, • Geistesart – Staat und Recht – Kirche. Des Weiteren hatten Studierende die Möglichkeit, an drei wehrwissenschaftlichen Vorlesungen teilzunehmen: • Wehrwissenschaftliche Tagesfragen, Pazifismus, Führertum, Grundbegriffe der Kriegsführung (Sonnabend 8 bis 9 Uhr), • Wehrgeographie (Donnerstag 18 bis 19 Uhr), • Gaskampf und Gasschutz (Freitag 20 bis 21 Uhr). Unter den angebotenen 27 sonstigen Vorlesungen fanden sich 13 mit einer vom Titel ausgehenden nationalsozialistischen Prägung wie z.B.: • Der nationalsozialistische Staat (Freitag 19 bis 20 Uhr), • Nationalsozialismus und Strafrecht (Montag 16 bis 17 Uhr), • Das neue Deutschland (Mittwoch 11 bis 12 Uhr), • Europäische Vorgeschichte und Rassengeschichte (Donnerstag 18 bis 19 Uhr), • Erbpflege und Bevölkerungspolitik (Freitag 19 bis 20 Uhr).27

26 Am 7. September 1939 befahl der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung die Schließung der Universität Greifswald, um sofort alle Reserven für den Blitzkrieg nutzen zu können. Am 8. Dezember 1939 bekam der Rektor dann die Mitteilung, dass zu Beginn des kommenden Trimesters im Januar 1940 die Wiedereröffnung geplant ist. Es gab dann 1940 bis 1941 insgesamt vier Trimester, bevor mit dem Sommersemester 1941 zur ursprünglichen Einteilung des Studiums zurückgekehrt wurde. Vgl. Gabriele Förster, Die Ernst-Moritz-ArndtUniversität während des Zweiten Weltkrieges 1939–1945, unveröffentlichte Diplomarbeit Greifswald 1984, S. 36 und S. 43. 27 Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1933/34, Greifswald 1933, S. 46f.

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Über die Auslastung dieser Vorlesungen können allerdings zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine Aussagen getroffen werden. Auffällig sind hingegen die Termine, die zum größten Teil die Abendstunden oder den Sonnabendvormittag betrafen, um damit den Studierenden neben ihrem Fachstudium die Teilnahme an diesen zusätzlichen Lehrangeboten zu ermöglichen. Trotzdem legt die spätere Reduzierung dieser speziellen Lehrangebote die Vermutung nahe, dass die verordnete Politisierung von Studierenden an der Greifswalder Universität genauso wenig effektiv war wie an anderen deutschen Hochschulen, was durch zahlreiche interne Berichte des NSDozentenbundes sowie NS-Studentenbundes belegt werden konnte.28

Studentische Selbsterziehung

Nicht nur im Rahmen der Lehre versuchten die nationalsozialistischen Machthaber Einfluss auf die Bildung und Erziehung des akademischen Nachwuchses zu nehmen, sondern insbesondere auch durch die Unterstützung der studentischen Selbsterziehung. Schon am 25. April 1933 genehmigte der Senat die Satzung der Greifswalder Studentenschaft, mit der „langjährige und schwierige Kämpfe der Studenten um ihre staatliche Anerkennung ihr Ende gefunden“ hätten.29 Diese begrüßte der damalige Rektor Kurt Deißner u.a. mit folgenden Worten: „Im Vertrauen auf den guten Geist unserer Studentenschaft dürfen wir zuversichtlich hoffen, dass unsere Studenten gemeinsam mit den Dozenten immerdar dem Ziel der nationalen Erneuerung unseres Vaterlandes zustreben.“30 Obwohl in der Satzung betont wurde, dass die Studentenschaft über den Parteien und Konfessionen stehe und damit parteipolitische und konfessionelle Bestrebungen ausgeschlossen seien, gab es in ihr aber auch schon Aussagen, wie die Studenten den Nationalsozialismus unterstützen sollen, wenn zu ihren dort aufgeführten Aufgaben solche zu finden waren wie „e) Erziehung der Studenten zur Wehrhaftigkeit und zur Einordnung in die Volksgemeinschaft durch Wehr- und Arbeitsdienst und Leibesübungen“ und „h) [m]aßgebliche Mitarbeit an den sozialen und wirtschaftlichen Einrichtungen zur Erziehung eines geistig und menschlich hochstehenden Nachwuchses (insbesondere innerhalb des Wirtschaftskörpers)“.31 In erster Linie war das politische Erziehungsmonopol jedoch beim Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund verankert, was der Obersturmbannführer Gerhard Adam, der Führer der Greifswalder Studentenschaft, 1934 ausdrücklich begrüß28 Vgl. Chroust, Universität und Studium (wie Anm. 23), S. 227. 29 Satzung der Studentenschaft der Universität Greifswald, Greifswald 1933, S. 3. 30 Satzung der Studentenschaft der Universität Greifswald, Greifswald 1933, S. 3. 31 Satzung der Studentenschaft der Universität Greifswald, Greifswald 1933, S. 5.

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te: „Mit der feierlichen Verkündung des neuen Studentenrechts am 7. Februar 1934 ist den nationalsozialistischen Vorkämpfern in der Deutschen Studentenschaft vom Staat der Dank für die vergangenen Kampfjahre abgestattet worden. […] Durch das neue Studentenrecht erhält die Studentenschaft das Recht der Selbsterziehung. Wir sind damit nicht mehr, wie früher, bloß eine Organisation an der Hochschule, sondern ein Teil dieser selbst. Damit erwächst uns aber auch die Pflicht, in unserer Selbsterziehung den deutschen politischen Menschen zu verwirklichen, um mit ihm und durch ihn eine neue Hochschule zu schaffen, die Schule der werdenden Führer des Volkes, der volksverbundenen und wesenstreuen Kämpfer zur Selbstbehauptung des deutschen Lebens und des deutschen Geistes in der Welt.“32 Zur Verwirklichung der studentischen Selbsterziehung bediente sich der NSDStB zweier verschiedener Organisationsformen, der Kameradschaften und der Fachgruppen. Die Arbeit der Kameradschaften schilderte 1938 der Greifswalder Kameradschaftsführer und Student der Medizin Siegfried Wetzel sehr detailliert: „In der Kameradschaftserziehung, die etwas durchaus Neues darstellt, ohne ältere Werte zu verkennen, wird der Student auf die Fragen hingewiesen, deren Lösung völkisch am dringendsten ist. […] Unerläßlich hierzu ist eine straffe körperliche Betätigung. Die Teilnahme an der dreisemestrigen Grundausbildung ist Pflicht. Im Rahmen der Grundausbildung Abbildung 1: Obersturmbannwird geturnt, geboxt, Leichtathletik und Wassersport führer Gerhard Adam betrieben und Kampfspiele ausgetragen. Darüber hinaus ist jedes Mitglied der studentischen Kameradschaften verpflichtet, mit dem leichten Säbel zu fechten, zunächst als Sport. Dem Rufe Greifswalds als Universitätsstadt mit günstiger Wassersportgelegenheit folgend, wird im Sommersemester viel gerudert. In steigendem Maße wird auch das Segeln zum Sportprogramm der Kameradschaften gehören; denn es gibt nichts Schöneres und nichts, was enge Kameradschaften schafft, als gemeinsame Erlebnisse. […] Die im kommenden Sommersemester erstmalig veranstalteten Reichswettkämpfe der ­Kameradschaften betonen noch ganz besonders 1. die Notwendigkeit, Sport zu treiben und 2. den Gemeinschaftssport. […] Neben dem Sport bildet der Einsatz im Landdienst oder im Fabrikdienst die Grundlage der Kameradschaftserziehung. Sämtliche Greifswalder Kameradschaften werden an Ostvorpommerns Grenze eingesetzt. 32 Taschenbuch der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Greifswald 1934, S. 205f.

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Es gibt wohl kein besseres Erziehungsmittel als den Landdiensteinsatz. […] Es gibt in Greifswald bisher drei Kameradschaften, deren jede sich – über die allgemeinen Aufgaben hinaus – mit einem Sondergebiet beschäftigt. So pflegt eine Kameradschaft die Verbindung mit den skandinavischen Staaten, eine Aufgabe, die sich aus der Blickrichtung unserer Hochschule nach dem Norden ergibt. Die zweite sucht die Fragen des Auslandsdeutschtums zu erarbeiten, während die dritte sich mit den Aufgaben, die sich aus Deutschlands Stellung in Osteuropa ergeben, beschäftigt. Es werden Referate von Kameraden, um so zugleich die Redekunst zu üben, und von Fachleuten gehalten. Die Kameradschaften bemühen sich, tiefer in ihre Aufgabengebiete vorzustoßen. Fahrten geben den lebendigsten Anschauungsunterricht. […] Das sechste der Gesetze, die uns der Reichsstudentenführer gegeben hat, ist richtungsweisend für die Kameradschaftserziehung: ‚Zum Nationalsozialisten wird man geboren, noch mehr wird man dazu erzogen, am meisten erzieht man sich selbst dazu.‘“33 Die Kameradschaften sollten in eigenen Kameradschaftshäusern untergebracht werden. Im November 1933 konnte in Greifswald ein erstes derartiges Haus eröffnet werden. Nachdem im Wintersemester 1933/34 die Studentenverbindungen ihre Häuser ebenfalls für diesen Zweck bereitstellten, wohnten im Juni 1934 ca. 200 Studenten in 18 Kameradschaftshäusern. Nach einer Anweisung des Reichsstudentenführers vom 20. September 1934 sollten Studenten des ersten und zweiten Semesters in diesen Einrichtungen gemeinsam leben und sogar eine einheitliche Uniform tragen. Dagegen protestierten allerdings die Kooperationen, so dass ein weiterer Erlass des Kultusministers diese Anweisung in Freiwilligkeit umwandelte.34 Zu Beginn der nationalsozialistischen Machtübernahme gab es übrigens noch 21 Korporationen und acht akademische Vereine in Greifswald. Allerdings wurden die traditionellen Studentenverbindungen im Sinne der Gleichschaltung ab 1934 von den Nationalsozialisten zunehmend unter Druck gesetzt. Mitgliedern des NSDStB wurde die gleichzeitige Mitgliedschaft in studentischen Verbindungen im März 1936 verboten. Als letzte Greifswalder Burschenschaften lösten sich 1936 die Germania und die Rugia auf. Ein Jahr später folgte das Verbot der christlichen Studentenvereinigungen, der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (DCSV) und der Deutschen Christlichen Studentinnen-Bewegung (DCSB).35

33 Siegfried Wetzel, Die Kameradschaften des NSDStB, in: Taschenbuch der Ernst-Moritz-ArndtUniversität, Greifswald 1938, S. 46–51. Die Hervorhebung wurde aus dem Original übernommen. 34 Unter http://www.ns-zeit.uni-greifswald.de/index.php?id=65 (Stand: 4.7.2013). 35 UAG, Kurator K 1764, Bl. 53.

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Allerdings erwies sich eine derartige studentische Selbsterziehung der Studienanfänger als wenig erfolgreich. Beispielsweise halbierte sich schon 1934/35 die Anzahl der Bewohner im Kameradschaftshaus des NSDStB auf etwa 24, sank 1935 sogar so weit ab, dass dieses Haus geschlossen werden sollte. 36 Über die Gründe der geringen Akzeptanz dieser Einrichtung berichtete die Greifswalder Studentenschaft am 20. Februar 1935: „Gegen Ende des Sommersemesters 1933 befasste sich die Greifswalder Studentenschaft mit dem Gedanken, ein Kameradschaftsheim zu gründen. Das Kuratorium der Greifswalder Universität erklärte Abbildung 2: Das Kameradschaftshaus der Greifswalder Studentenschaft sich nach längeren Verhandlungen bereit, das ihr gehörige Grundstück, Moltkestr. 13, zur Verfügung zu stellen, die notwendigen baulichen Veränderungen vorzunehmen und das Haus der Studentenschaft vorläufig mietfrei zu überlassen. Ferner wurde ein Vorschuss in Höhe von 5000,– RM für die Inventarbeschaffung gewährt, der in zehn Semesterraten in Höhe von je 500,– RM zu tilgen ist. So konnten Einrichtungen zur Aufnahme von 50 Kameraden geschaffen werden. Die wirtschaftliche Verwaltung übernahm das Studentenwerk. Es setzte den Unkostenbeitrag für den Einzelnen mit 55,– RM fest. Am 1. November 1933 wurde das Haus mit einer Belegschaftsstärke von 30 Mann eröffnet. […] Im Sommersemester 1934 stieg die Belegschaftsstärke auf 46 Mann, da die Korporationen, um die Anerkennung ihrer Wohnkameradschaften zu erlangen, ihre Vertreter in das Kameradschaftshaus schickten. Die übermässige Beanspruchung durch das SA-Hochschulamt ließ indessen in diesem Semester keine erfolgreiche Arbeit innerhalb des Kameradschaftshauses zustande kommen. – Wenn in den beiden Semestern, in denen das Kameradschaftshaus der Studentenschaft unterstand, ein letzter Erfolg versagt blieb, so lag dies nicht zuletzt an den ausserordentlichen Bege36 Ludwig-Andreas Klöckner, Die Auswirkungen der faschistischen deutschen Hochschulpolitik auf die Greifswalder Studentenschaft in den ersten Jahren der faschistischen Diktatur, Diplomarbeit (masch.) Greifswald 1980, S. 45.

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benheiten, die eine Mannschaft in unserem Heim vorfindet. Das Haus selbst ist keineswegs für die Durchführung eines Kameradschaftslebens geeignet. Obendrein wird noch das Mittag- und Abendessen in der 15 Minuten entfernten Mensa eingenommen, wodurch neben dem großen Zeitverlust auch das Gemeinschaftsleben selbst erheblich gestört wird. Endlich führt die abgetrennte wirtschaftliche Verwaltung durch das Studentenwerk dazu, dass dem Kameradschaftsführer auch nicht die geringsten Mittel für die jederzeit notwendigen kleinen Ausgaben zur Verfügung stehen.“37 Abbildung 3: Im Kameradschaftshaus

Auch wenn ein Teil der benannten Probleme, wie beispielsweise die Esseneinnahme, für das Gelingen der Kameradschaftserziehung wenig ausschlaggebend sein konnte, sah es so aus, dass 1938 lediglich noch vier Kameradschaften existierten, so dass schlussendlich resümiert werden kann, dass die Greifswalder Kameradschaften ihren Erziehungsauftrag nicht realisieren konnten.38 Über solche Schwierigkeiten hinsichtlich der verordneten Politisierung der Studenten klagten allerdings NSDStB-Funktionäre und Kameradschaftsführer deutschlandweit.39 Vorgesehen war, dass sich ein Student in den ersten zwei Semestern zu „bewähren“ habe, bevor ihn der Kameradschaftsführer zur Berufung in den NSDStB vorschlug. Nach einem weiteren Semester überwies er ihn einer sogenannten Gliederung. Gleichzeitig sollte er in einer Fachgruppe bzw. Fachschaft des NSDStB erfasst werden. Die Kameradschaftserziehung diente letztendlich der weltanschaulichen Posi37 Bundesarchiv (künftig: BArch), NS 38/2445. 38 Birgit Ahrendt, Die faschistische Hochschulpolitik am Beispiel der Ernst-Moritz-Arndt-Universität im Zeitraum 1936–39, Diplomarbeit (masch.) Greifswald 1984, S. 31. 39 Vgl. Chroust, Universität und Studium (wie Anm. 23), S. 218.

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tionierung, wohingegen die Fachgruppe für die Wissenschaftsarbeit verantwortlich zeichnete.40 Hierzu hieß es im Greifswalder Jahrbuch für Studierende 1939: „Die Arbeitsgemeinschaften führen ihn an Forschungsgebiete heran, die vordringlich zu lösen sind und zeigen ihm, wie man solche Aufgaben als Nationalsozialist zu lösen hat. Mußte sich der Student in den ersten drei Semestern im Landdienst bewähren, so ist jetzt die große Leistungsprobe der Reichsberufswettkampf der Studenten. Hier tritt er in seinem eigensten Studiengebiet zu dem großen Wettkampf an. – Beide Organisationsformen, sowohl die Kameradschaften wie die Fachgruppen des NSDStB, haben nicht den Sinn, ein Eigenleben um ihrer selbst zu führen. Beide sind ihrer Aufgabe gemäß nur Erziehungsformen, den nationalsozialistischen Wissenschaftler heranzuziehen und auf diese Weise von innen heraus die deutschen Hoch- und Fachschulen zu revolutionieren.“41 In diesem Zusammenhang wurde schon auf den Reichsberufswettbewerb und seine Stellung im Rahmen der Einbindung der Studierenden in das nationalsozialistische System verwiesen. Darauf soll im Folgenden detaillierter eingegangen werden.

Reichsberufswettbewerb

Der Reichsberufswettbewerb richtete sich von 1934 bis 1940 hauptsächlich an junge Erwachsene, die sich in der Ausbildung befanden.42 Bei diesem Wettbewerb wurden wissenschaftliche Aspekte mit der nationalsozialistischen Weltanschauung sowie sportlicher Ertüchtigung verknüpft. Eine Teilnahmevoraussetzung war das Ableisten des SASportabzeichens, was folgendermaßen begründet wurde: „‚Zu einem gesunden Geist gehört ein gesunder Körper.‘ Dieser Leitsatz unserer Weltanschauung bildet das Fundament unseres Reichsberufswettkampfes. Die Ablegung und Erfüllung der sportlichen Anforderungen ist die Voraussetzung für die Teilnahme. Sinn dieser sportlichen Prüfung ist, die körperliche Tüchtigkeit der einzelnen Kameraden unter Beweis zu stellen.“43 Innerhalb dieses Reichberufswettbewerbs wurde 1935 erstmalig ein Leistungskampf für Studierende veranstaltet. Den Aufruf zum 1. Studentischen Reichsleis40 Vgl. Jahrbuch für Studierende, Greifswald 1939, S. 43. 41 Jahrbuch für Studierende, Greifswald 1939, S. 43. 42 Vgl. Martin Stahlmann, Jürgen Schiedeck, „Erziehung zur Gemeinschaft – Auslese durch Gemeinschaft“. Zur Zurichtung des Menschen im Nationalsozialismus, Bielefeld 1992, S. 55. Ab 1940 wurde der Reichsberufswettbewerb als Kriegsleistungskampf weitergeführt. Vgl. Juliane Deinert, Die Studierenden der Universität Rostock im Dritten Reich, Rostock 2010, S. 173. 43 Reichsstudentenführung, Reichswettkampfleitung (Hg.), Der 3. Reichsberufswettkampf der deutschen Studenten, in: UAG, Altes Rektorat R 365, Bl. 56.

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tungskampf machte der damalige Greifswalder Rektor Karl Reschke am 15. November 1935 bekannt.44 Ihm wurden daraufhin 152 Studierende gemeldet,45 die sich gruppenweise folgenden Themenschwerpunkten zuwandten: I. Das deutsche Dorf46 Thema 1. Der stammliche Charakter Pommerns • Der stammliche Charakter Pommerns in der Forschung der Vorgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des Kreises Bütow • Der stammliche Charakter Pommerns in der Forschung der Volkskunde • Der stammliche Charakter Pommerns in der Forschung der Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Kolonisation • Die geschichtliche Entwicklung des Grenzverhältnisses PolenDeutschland • Die Kaschubenfrage im Kreise Bütow (in Verbindung mit anderen Hochschulen) • Literatur und Mundart Pommerns unter besonderer Berücksichtigung des polnischen Einflusses Schulzahnpflege auf dem Dorfe Eine Feierabendgestaltung

Gruppenstärke 9

5 8 14 25 5 7 15 Gesamt: 88

44 UAG, Altes Rektorat R 365a, Bl. 3. 45 UAG, Altes Rektorat R 365a, Bl. 5–7. Insgesamt waren im Wintersemester 1935/36 an der Greifswalder Universität 980 Studierende eingeschrieben. Vgl. Carsten Woigk, Die Studierenden der Universität Greifswald 1808–2006 – Eine statistische Übersicht, in: Dirk Alvermann, KarlHeinz Spieß (Hg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456–2006, Bd. 1, Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006, S. 561–583, hier S. 573. 46 UAG, Altes Rektorat R 365a, Bl. 5–7.

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II. Die völkische Idee als kulturell-gestaltende Kraft Thema 1. Das Problem von Führer und Gefolgschaft in der deutschen Dichtung der Gegenwart 2. England und die Weltanschauungspolitik

Gruppenstärke 9 14

3. Die national-politischen Verhältnisse im Memelland nach Versailles

9

4. Die Freimaurerfrage

7

5. Wege zur politischen Leibeserziehung

8

6. Die alte und moderne Olympiade 7. Aufgabe und Gemeinschaftsform des studentischen Wettkampfwesens

3 4 Gesamt: 54

Weitere zehn Studierende nahmen an diesem Reichsleistungskampf zum Thema „Der Betrieb als Einheit“ teil. Die Übergabe der Anerkennungs- und Siegerurkunden an die Studierenden der Hoch- und Fachschulen erfolgte reichseinheitlich am 20. Mai 1936.47 Der örtliche Wettkampfleiter des Reichsleistungskampfes und die Mitglieder des Bewertungsausschusses ermittelten die zehn Sieger der Greifswalder Universität, denen zusätzlich am 22. Mai 1936 die von Rektor Reschke gestifteten Buchpreise in feierlicher Form übergeben wurden. Die Auszeichnung als beste Gruppenarbeit bekamen die Darstellungen zum Thema „Der stammliche Charakter Pommerns“.48 Zum Vergleich soll an dieser Stelle auf den vierten Reichsberufswettkampf an der Greifswalder Universität während des Sommer- und Wintersemesters 1938/39 eingegangen werden. Das große Rahmenthema bildete „Die Gestaltung der Lebensordnung Großdeutschlands“, zu dem studentische Wettkampfmannschaften mit jeweils fünf bis zehn Teilnehmern wissenschaftliche Probleme bearbeiteten. Allerdings konnten durch die geringe Beteiligung von etwa zehn Prozent von der Gesamtstudierendenzahl 47 Die Wettkampfbestimmungen wurden in der Folgezeit leicht geändert. So erfolgte im Juni die Themenverkündung durch den Reichsstudentenführer, so dass im Sommersemester mit den Vorarbeiten begonnen werden konnte. Im folgenden Wintersemester wurden die wissenschaftlichen Arbeiten fertig gestellt und zur Gaubewertung vorgelegt. Diese wiederum sandte dann ausgewählte Arbeiten an die Reichswettkampfleitung, durch die die Reichssieger und Reichsbesten der einzelnen Sparten für die Siegerehrung durch den Führer ermittelt wurden. Vgl. Georg Rolke, Der Reichsberufswettbewerb Greifswalder Studenten, in: Jahrbuch für Studierende, Greifswald 1939, S. 50–54, hier S. 52. 48 UAG, Altes Rektorat R 365a, Bl. 11f.

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nur vier Wettkampfmannschaften gebildet werden.49 Von diesen bearbeiteten zwei Themen die Fachgruppe Medizin, zwei weitere die Fachgruppe Kulturwissenschaft. Im Detail sahen die Wettkampfleistungen so aus: „Die Mediziner beschäftigten sich mit dem Thema ‚Dorfuntersuchungen‘. Es behandelt die Ernährungsfrage und die sozialen Verhältnisse der Engelswachter Bauern und Siedler. Die erforderlichen Erhebungen wurden mit Hilfe der von der Reichsfachgruppe zur Verfügung gestellten Fragebogen getätigt. In systematischer Kleinarbeit wurde hier das Material zusammengetragen, das Aufschluß gibt über den Gesundheitszustand und die Lebensweise der Bewohner, über die soziale Lage und über die hygienischen Verhältnisse. Baupläne und Hausbeschreibungen zeigen oft die vollkommen unzureichenden Raumverhältnisse mancher kinderreicher Familien. Daneben galt es festzustellen, ob die Ernährung ausreichend ist. Neben der kalorienmäßigen Ermittlung wurden Untersuchungen über die Vitaminfrage vorgenommen. Besonderen Wert legte man auch auf die Untersuchungen der Zähne sämtlicher Kinder dieses Bezirks. – Die Medizinstudentinnen beschäftigten sich mit dem Thema: ‚Erbwert und soziale Tüchtigkeit des unehelichen Kindes‘, dargestellt auf Grund der Lebensschicksale und der beruflichen und charakterlichen Entwicklung. Berücksichtigt wurden bei den Ermittlungen die Jahrgänge 1900–1912. Die Entwicklung der Einzelnen wurde mindestens bis zur Großjährigkeit verfolgt. Um zu dieser Frage Stellung nehmen zu können, wurden insgesamt 400 Fälle bearbeitet. Die nicht immer leichten Nachforschungen erforderten Ausdauer und Geschick. – Von Studenten der Fachgruppe Kulturwissenschaft wurde das Thema: ‚Die Wikinger in Pommern‘ bearbeitet. Neben der Geschichte der Wikinger behandelten sie die wikingischen Bodenfunde in Pommern. Als Ergänzung wurden Grabungen in Menzlin unternommen, die ein aufschlußreiches Bild über die Bestattung der Wikinger gaben. Man fand neben vielen Urnen und Brandgruben Bestattungsbeigaben in Form von Schwertern, eisernen Gürtelhaken und Bruchstücken der bekannten ‚Pommerschen Fibel‘, die siedlungsgeschichtlich von besonderer Bedeutung sind. – Studenten derselben Fachgruppe beschäftigten sich mit dem Thema ‚Englands Stellung zu den deutschen Kolonialforderungen‘ (nach englischen Zeitungen). Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Darstellung der verschiedenen Stellungnahmen englischer Parteien und Politiker in der englischen Presse zu den deutschen Kolonialforderungen.“50 49 Im Beitrag von Rolke, Der Reichsberufswettbewerb (wie Anm. 47), S. 52, wurde dies folgendermaßen erklärt: „Dieser geringe Satz erklärt sich vor allem aus der verhältnismäßig kleinen Zahl der Studenten, die überhaupt an dem Wettkampf teilnehmen können. Ausgeschlossen sind die 1. bis 3. Semester, nicht mehr in Frage kommen Examenssemester. Es bleiben also praktisch nur die Studenten der 5. bis 7. Semester übrig. Da die Fachschaften auch sehr klein sind, so lassen sich Wettkampfmannschaften nur schwer zusammenstellen.“ 50 Rolke, Der Reichsberufswettbewerb (wie Anm. 47), S. 52ff.

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Neben dem Reichsleistungskampf gab es innerhalb der Greifswalder Universität anfangs noch die Preisaufgaben. Hierfür wurden jährlich am 15. Mai fünf Preisaufgaben für Studierende gestellt, zwei von der Philosophischen und jeweils eine von den übrigen Fakultäten. Die öffentliche Themenbekanntgabe erfolgte am sogenannten „Schwarzen Brett“. Bis zum 1. April des Folgejahres reichten die Teilnehmer ihre Manuskripte mit einem Kennwort und dem versiegelten Namen des Verfassers im Universitätssekretariat ein. Am 15. Mai bestand eine der ersten Amtshandlungen des neuen Rektors darin, die Namen der Preisträger zu verkünden.51 Am 30. Juni 1937 richtete sich die Reichsstudentenführung mit der Bitte an den Rektor, die Preisarbeiten mit in die Reichsberufswettkämpfe der deutschen Studentenschaft einzugliedern. Dabei stand folgender Vorschlag zur Debatte: „1. Die Themen der Preisaufgaben für 1937/38 werden in Besprechung mit dem Studentenführer und dem Wettkampfleiter der Studentenführung festgelegt. 2. Sie werden anlässlich der Eröffnung des studentischen Reichsberufswettkampfes nach Semesterbeginn Anfang November 1937 in feierlicher Form bekanntgegeben. 3. Die erste Bewertung erfolgt nach den Richtlinien der Reichswettkampfleitung des Reichsberufswettkampfes anschließend an die Abgabe der Arbeiten am 15. Februar 1938 durch die Fakultäten. 4. Anschließend daran werden die Arbeiten zur Reichswertung an die Reichswettkampfleitung eingereicht.“52 Allerdings gab es seitens der Greifswalder Professoren Widerstand gegen den beabsichtigten stärkeren Einbezug der Reichsstudentenführung. So lehnte der Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät dieses Ansinnen völlig ab.53 Der Dekan der Medizinischen Fakultät wandte hierzu ein: „Die Fakultät [muss] fordern, dass ihre Selbstständigkeit bei dieser Funktion gewahrt bleibt und muss die Einbeziehung von ausserhalb der Fakultät stehenden parteiamtlichen Stellen der Studentenführung ablehnen. […] Es dürfte sich also als nicht nützlich erweisen, wenn man bei der Auswahl von Themen für die Preisarbeiten mit der schematischen Forderung ‚gegenwartsnaher‘ Themen den Fakultäten entsprechende formale Beschränkungen auferlegen würde, zumal wenn dabei das Urteil jugendlicher, unerfahrener, studentischer ‚Berater‘ Gewicht erhalten würde.“54 Der Dekan der Theologischen Fakultät empfahl eine Festlegung der Themen für die jährlichen Preisaufgaben nach Besprechungen mit dem Studentenführer und dem Wettkampfleiter der Studentenführung, meinte 51 52 53 54

Vgl. Taschenbuch der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Greifswald 1933, S. 125. UAG, Altes Rektorat R 365a, Bl. 59–60. UAG, Altes Rektorat R 365a, Bl. 62. UAG, Altes Rektorat R 365a, Bl. 63f.

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aber zugleich, „daß grundsätzlich die Selbstständigkeit der Fakultäten bei Stellung und Beurteilung der Preisaufgaben verbleiben soll.“55 Sehr facettenreich äußerte sich der Dekan der Philosophischen Fakultät zu dem Anliegen der Reichsstudentenführung. Wie schon sein Kollege aus der Medizin begrüßte er zwar eine gewisse Parallelität zwischen der Aufgabenbearbeitung und dem Reichsberufswettbewerb, wollte aber unbedingt die Eigenständigkeit der Fakultät hinsichtlich Themengestaltung und Beurteilung der Preisaufgaben erhalten. Daneben schien ihm eine Zentralisierung der Preisaufgabenstellung bei der Reichsstudentenführung in München nicht realisierbar, da die Preisaufgaben im Allgemeinen aus der wissenschaftlichen Arbeit der einzelnen Institute erwuchsen. Allerdings sah er folgende Möglichkeit des Einbezugs der Studentenschaft in die Wettkampfausrichtung als machbar an: „Die Fakultät begrüßt dagegen freudig die Anregung des Herrn Ministers, dass die Themengestaltung möglichst im Benehmen mit dem örtlichen Wettkampfleiter der Studentenschaft erfolgen soll. Denn dadurch wird es möglich, daß eine akademische Preisaufgabe gleichzeitig als Leistung des Reichsberufswettkampfes bewertet wird.“56 Wie diese Debatte letztendlich ausging, lässt sich aus den Worten von Heinz Krüger, dem Leiter des Amtes Wissenschaft und Facherziehung der Gaustudentenführung Pommern und Gauwettkampfleiter des Reichsberufswettkampfes, entnehmen, der im Taschenbuch der Universität Greifswald von 1938 darüber informierte, dass „zwei gestaltende Formen […] von der Studentenschaft auf die Hochschule getragen worden [sind]: die wissenschaftliche Facharbeit und der wissenschaftliche Leistungskampf“.57 Dabei gestaltete sich die studentische Wissenschaftsarbeit, so die offizielle Bezeichnung, jetzt folgendermaßen: Studierende ab dem vierten Semester hatten die Möglichkeit, aber auch die Aufgabe, sich in dieser Wissenschaftsarbeit zu bewähren. Dabei fungierten die einzelnen Fachgruppen der Studentenführung, die jeweils alle Studierenden eines bestimmten Fachgebietes an einer Hochschule zusammenfassten, als deren Träger.58 Geleitet wurden sie jeweils von einem Fachgruppen- bzw. Fachschaftsleiter.59 In Greifswald gab es folgende Fachgruppen mit ihren Fachschaften: 1. Fachgruppe Kulturwissenschaft a. Fachschaft Geschichte 55 56 57 58

UAG, Altes Rektorat R 365a, Bl. 67f. UAG, Altes Rektorat R 365a, Bl. 66. Taschenbuch der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Greifswald 1938, S. 56. Fachschaften und Fachgruppen gab es allerdings schon seit den 1920er Jahren. Sie spielten aber im hochschulpolitischen Leben der Studierenden eine untergeordnete Rolle, was sich auch nach einem Erlass des Reichserziehungsministeriums von 1935, der eine Aufwertung dieser Art der studentischen Erziehung anstrebte, wenig änderte. Vgl. Deinert, Die Studierenden der Universität Rostock (wie Anm. 42), S. 173. 59 Taschenbuch der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Greifswald 1938, S. 56.

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b. Fachschaft Neue Sprachen c. Fachschaft Deutsch- und Volkskunde d. Fachschaft Leibesübungen 2. Fachgruppe Naturwissenschaften a. Fachschaft Mathematik und Physik b. Fachschaft Chemie c. Fachschaft Biologie 3. Fachgruppe Medizin a. Fachschaft Medizin b. Fachschaft Zahnheilkunde c. Fachschaft Pharmazie 4. Fachgruppe Rechts- und Staatswissenschaft 5. Fachgruppe Theologie.60 Die studentische Wissenschaftsarbeit sollte das eigentliche Studium nicht ersetzen, sondern „als eine Art nationalsozialistisches Begleitstudium“61 ergänzen: „Ihre Aufgabe ist es vielmehr, den Studenten im mittleren und höheren Semester schon während seines Studiums zur Lösung von Fragen heranzuziehen, die aus den Anforderungen des täglichen Lebens unseres Volkes erwachsen. Das schon vorhandene Wissen und Können der Studenten wird so zur Bearbeitung und Lösung von Aufgaben eingesetzt, die im Rahmen des allgemeinen Unterrichts an der Universität naturgemäß nicht voll berücksichtigt werden können. So bearbeiten die Studenten, die aus dem Landdiensteinsatz zurückkehren, Fragen des Grenz- und Auslanddeutschtums. Die Naturwissenschaftler werden eingesetzt zur Bearbeitung von Fragen, die im Rahmen des Vierjahresplanes liegen. Ein Student, der in den Semesterferien einem Arbeitskameraden eines Industriewerkes zusätzliche Ferientage durch seinen freiwilligen Einsatz verschaffte, wird sich auch in seiner Semesterarbeit mit den Sorgen dieser Volksgenossen befassen. Arbeitsrecht, Arbeitsschutz, Arbeitersiedlung und ähnliche Fragen werden ihn besonders beschäftigen.“62 Für die studentische Wissenschaftsarbeit wurden dann Arbeitsgemeinschaften gebildet, deren Leitung ältere Studenten oder junge Wissenschaftler übernahmen. Jeder Student trug allerdings für sein Gebiet die alleinige Verantwortung. In einer Arbeitsgemeinschaft konnten, sofern das Thema es erforderlich machte, auch Vertreter verschiedener Fachgebiete zusammenarbeiten. Als Endergebnis sollten in den Arbeitsgruppen die Arbeiten entstehen, die zum Reichsberufswettkampf eingereicht 60 Jahrbuch für Studierende, Greifswald 1939, S. 60f. 61 Zit. nach Deinert, Die Studierenden der Universität Rostock (wie Anm. 42), S. 173. 62 Jahrbuch für Studierende, Greifswald 1939, S. 44.

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werden konnten.63 Genaue Zahlen für diese Art der studentischen Arbeit müssen für Greifswald noch erhoben werden, aber mit großer Wahrscheinlichkeit wird auch für diese Universität gelten, was für andere Hochschulen schon konstatiert werden konnte: Das Gros dieser Arbeitsgemeinschaften verfügte nur über eine kleine Zahl enthusiastischer bzw. überzeugter Studierender, so dass es den Fachschaften noch weniger als den Kameradschaften gelang, „die Masse der Studentenschaft einzunehmen und hochschulpolitisch zu formen“.64 Ein besonderer erzieherischer Aspekt der Kameradschafts- sowie Fachgruppenarbeit wird im Folgenden gesondert herausgestellt, nämlich die Verantwortung des Einzelnen für die Gemeinschaft, die durch die schon beschriebene Arbeitsweise gefördert werden sollte: „Eine sozialistische [!] Gemeinschaft teilt nicht jedem das Gleiche zu, sondern das Seine. Das ist der Leitstern unserer Arbeit: der Einzelne hat sich zu bewähren innerhalb einer Gemeinschaft. – Innerhalb dieser Gemeinschaft tritt nun die Eigenarbeit hervor. Sie muß sich nur an den Rahmen der Mannschaft halten, an das Thema, das der Mannschaft zur Bearbeitung gestellt ist. Dabei ist nicht gesagt, daß die Einzelarbeit die Arbeit der Gemeinschaft nicht überragen und überflügeln darf. In diesem Falle wird sie stets unter Beweis stellen, daß aus der Gemeinschaft heraus, wachsend, eine solche Arbeit entstehen konnte, daß die Gemeinschaftsarbeit überhaupt Grundlage dieser Einzelarbeit wurde. Denn von der Gemeinschaft ging die Themenstellung aus. In der Gemeinschaft wurden die ersten Anfänge getan, geschah der weitere Aufbau. Die Gemeinschaft hat sich als förderndes und bildendes Moment erwiesen.“65 An dieser Stelle wird wieder einmal deutlich, dass ein Grundsatz der Erziehung im Nationalsozialismus darin bestand, dass nicht das Individuum an sich, sondern dessen Nützlichkeit für die Volksgemeinschaft im Mittelpunkt der pädagogischen Grundsätze stand.66 Zur Gemeinschaftserziehung sollten aber nicht nur die studentische Wissenschaftsarbeit oder auch die studentische Selbsterziehung beitragen, sondern genauso die Leibeserziehung, auf die im Folgenden spezieller eingegangen wird. Hier spielte ebenfalls nicht nur die individuelle Ausbildung eine große Rolle, sondern darüber hinaus waren Mannschaftswettkämpfe bedeutsam.67 63 Jahrbuch für Studierende, Greifswald 1939, S. 44f. 64 Deinert, Die Studierenden der Universität Rostock (wie Anm. 42), S. 174. 65 Taschenbuch der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Greifswald 1938, S. 58. 66 Vgl. Zentner, Adolf Hitlers „Mein Kampf“ (wie Anm. 20), S. 103. 67 In einer zeitgenössischen Quelle heißt es hierzu beispielsweise: „Im Abschlußsemester der Grundausbildung sind die einfachsten, darum auch schwersten und härtesten nationalsozialistischen Forderungen gestellt: Mannschaft und Einsatz fürs Volk! In der spielerischen Form des Kampfes wird das eherne Gesetz der Mannschaft erprobt!“ zit. nach Ulrich von Hehl, Franz Häuser, Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 3, Leipzig 2010, S. 281.

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Leibeserziehung

Hitler hatte Erziehungsziele formuliert, in denen die Leibeserziehung eine herausragende Rolle spielte: „Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewaltige, herrische, unerschrockene Jugend will ich. Jugend muss das alles sein. Schmerzen muß sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. Ich werde sie in allen Leibesübungen ausbilden lassen. Ich will eine athletische Jugend. Das ist das erste und wichtigste.“68 Schon 1934 fand sich im Taschenbuch der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald ein ausführlicher Bericht über die umfangreichen sportlichen Möglichkeiten in Greifswald, so dass die Leibeserziehung auf vielerlei Art verwirklicht werden konnte: „Es ist heute mehr denn je Pflicht jedes Studenten, im Sport Körper und Geist zu stählen und so zur Erfüllung der Aufgaben vorzubereiten, die Wissenschaft und Volk von ihm fordern. Dank der Bestrebungen unserer Universitätsverwaltung ist im Laufe der Jahre in Greifswald eine vorbildliche Anzahl von sportlichen Übungsstätten geschaffen worden, die den Anforderungen der Gegenwart vollauf Genüge leisten. Der Ausbau des Instituts für Leibesübungen ist nahezu vollendet. Jedem Studierenden ist Gelegenheit gegeben, alle Sportarten – bis auf das sportliche Schwimmen – im Sommer und Winter zu betreiben. – Im Sommer liegt der Nachdruck auf dem Wassersport, den leichtathletischen Übungen und den Spielen. Fast jede Korporation hat ihr eigenes Segelboot; wer einer Korporation nicht beitreten will, findet Aufnahme im Akademischen Segler-Verein. […] Der Rudersport kommt von Jahr zu Jahr mehr zu seinem Recht. Ein neues Bootshaus, das dem Direktor des Instituts für Leibesübungen untersteht, ist errichtet worden; es birgt reichliches Bootsmaterial. […] Im Stadion – an der Eldenaer Chaussee – besitzt Greifswald einen vortrefflichen Sportplatz. Die neben der Kampfbahn neu angelegten Tennisplätze stehen den Studierenden gegen mäßiges Entgelt in den Vormittagsstunden zur Verfügung. […] Wer dem Reitsport huldigen oder das Reiten erlernen will, hat auf der Reitbahn (Schützenwall) bei mäßiger Preissetzung dazu Gelegenheit. – Soweit es das Wetter erlaubt, wird die Kampfbahn auch im Winter für die drei großen Kampfspiele Fuß-, Hand- und Stockball benutzt. Die Geräteturner haben Gelegenheit, in der Universitätsturnhalle zu üben. Gymnastik für Studentinnen, Leichtathletik und Tennis, Boxen und JiuJitsu, bei schlechtem Wetter auch Handball und andere Spiele, werden in der großen 68 Zit. nach Konrad Krause, Alma mater Lipsiensis: Geschichte der Uni Leipzig von 1409 bis zur Gegenwart, Leipzig 2003, S. 281.

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Abbildung 4: Die Universitätskampfbahn

Leichtathletikhalle (in den ehemaligen Eisenbahnwerkstätten in der Bahnhofstraße) betrieben. Auch der Ruderer braucht den Winter nicht mehr ungenutzt verstreichen zu lassen; ein neuzeitliches Winterruderbecken ist in der alten Mensa in der Stralsunder Straße errichtet worden.“69 Im Laufe der Zeit kamen weitere Sportangebote dazu. Beispielsweise wird im Jahrbuch für Studierende 1939 auch noch auf den Universitätsfechtboden in der Universitätsturnhalle in der Lönsstraße 11 verwiesen sowie auf die Möglichkeit, sich im Segelflug ausbilden zu lassen, nachdem eine Abteilung Luftfahrt geschaffen wurde.70 Dadurch bestanden für alle Studierenden weitaus mehr Möglichkeiten zum Sporttreiben, als es durch die obligatorischen Leibesübungen vorgeschrieben war. Diese sahen beispielsweise im Sommersemester 1933 für die Studenten des ersten und zweiten Semesters folgende Angebote vor: • Turnen, Leichtathletik, Schlagball, Faustball, Fußball, Handball, • Rudern, • Turnen der Korporationen. Studentinnen trafen unter folgenden Möglichkeiten ihre diesbezügliche Wahl: • Turnen, Leichtathletik, Spiele, • Körperschule, • Rudern, • Gymnastik. 69 Friedrich Rödiger, Die Pflege der Leibesübungen an der Universität Greifswald, in: Taschenbuch der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Greifswald 1934, S. 164f. 70 Heinz Deckwerth, Leibesübungen an der Universität Greifswald, in: Jahrbuch für Studierende, Greifswald 1939, S. 179–186, hier S. 183.

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Philologen mussten darüber hinaus noch obligatorische Vorlesungen besuchen, deren Titel in diesem Semester folgendermaßen aussahen: • Allgemeinen Physiologie, • Einfluss von Leibesübungen auf die Körperbildung mit Demonstrationen, • Methodik und Systematik der Leibesübungen, • Geschichte und Organisation der körperlichen Erziehung.71 Allerdings war die Beteiligung der Studierenden an den Leibesübungen nicht zufriedenstellend. So ist im Jahresbericht des Instituts für Leibesübungen für das Sommersemester 1933 und das Wintersemester 1933/34 zu lesen: „Infolge der starken Beanspruchung der Studenten durch den Wehrsport war die Beteiligung an den Leibesübungen im Sommersemester sehr gering. Im Gegensatz dazu ist die Beteiligung der Studentinnen an den Leibesübungen in beiden Semestern bemerkenswert. Im Wintersemester 1933/34 stieg die Teilnahme an den Leibesübungen bei den Studenten dadurch erheblich, dass die Studentenstürme unter der Leitung von Assistenten des Instituts für Leibesübungen pflichtgemäß 2 Stunden die Woche Leibesübungen durchführten. – Auch das Wettkampfwesen lag im Sommersemester 1933 sehr danieder. Lediglich die Hochschulmeisterschaften in der Leichtathletik und im Faustball der Korporationen wurden durchgeführt. Zahlenmässig und auch hinsichtlich der Leistungen ist hier deutlich ein Rückschritt zu bemerken.“72 Die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nach 1933 hatten auch Einfluss auf das akademische Leben an der Greifswalder Universität. Die wehrsportlichen Übungen konnten eine wachsende Teilnehmerzahl verzeichnen, darunter die Schießausbildung und das wiederbelebte Wehrturnen. Daneben interessierten sich Studierende vermehrt für die akademischen Abbildung 5: Greifswalder Studierende beim Reiten Fliegergruppen und den Reitunterricht.73 71 Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1933, Greifswald 1933, S. 48. 72 Jahresbericht des Instituts für Leibesübungen für das SS 1933 und WS 1933/34, in: Chronik der Universität Greifswald 1933–34, S. 131. 73 Gerhard Grasmann, Eberhard Jeran, Eleonore Salomon, Von der Gründung des Instituts bis zum Kriegsende (1925 bis 1945), in: Peter Hirtz u.a. (Hg.), Zur Geschichte des Greifswalder Sport-

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Mit dem Sommersemester 1934 gab es weitere Veränderungen. So leitete jetzt das SA-Hochschulamt die obligatorischen Leibesübungen für die ersten zwei bzw. ab Wintersemester 1934/35 für die ersten drei Semester. Vorlesungen waren für Philologen nicht mehr obligatorisch.74 Am 30. Oktober 1934 erließ das Reichserziehungsministerium eine Hochschulsportordnung. Alle Studenten mussten während der ersten drei Semester die Grundausbildung durchlaufen. Diese bestand aus der allgemeinen Körperbildung, zu der die Körperschule, das Geräteturnen, Boxen, Gymnastik und Tanz gehörten, sowie der Leichtathletik, dem Kleinkaliberschießen, Rettungsschwimmen und in den Mannschaftsspielen wie Hand- und Fußball. In der Leichtathletik musste der Fünfkampf mit einer Leistungsüberprüfung abgeschlossen werden, die bei den Frauen den Hundertmeterlauf, Hochsprung, Weitsprung, Kugelstoßen und den Zweitausendmeterlauf, bei den Männern den Hundertmeterlauf, Weitsprung, Kugelstoßen, Keulenwerfen und den Dreitausendmeterlauf umfasste. Diese Sportangebote dienten in erster Linie der Wehrertüchtigung der männlichen Studierenden zur Ausbildung soldatischer Voraussetzungen wie Schnelligkeit, Ausdauer, Kraft und Zielgenauigkeit, wohingegen sie für die weiblichen Studierenden als positiv für ihre zukünftige Rolle als Ehefrau und Mutter und die damit verbundene körperliche Gesundheit und Belastbarkeit angesehen wurden.75 Nach der abgeschlossenen Grundausbildung durften die Studierenden dann freiwillige Sportangebote wahrnehmen. Zu diesen gehörten beispielsweise im Sommersemester 1935 Schwimmen, Wasserspringen, Wasserball, Rudern, Tennis, Handball, Fußball, Sportschießen, Wandern und Lagerführung, im Wintersemester 1935/36 ein allgemeiner Körperschulungskurs, Turnen, Fechten, Boxen, Handball, Fußball und Skilauf.76 Auch während des Krieges wurden derartige Angebote vorgehalten, die beispielsweise im Sommersemester 1942 die Leichtathletik, das Schwimmen, Wasserspringen, Wasserball, Rudern, Tennis, Handball, Sportschießen, Fechten, Reiten und Segeln, im Wintersemester 1942/43 Turnen in der Halle, Handball, Federball, Fußball (auch für Studentinnen!), Boxen, Reiten, Fechten (nur für männliche Studenten), Gymnastik und Tanz (nur für Studentinnen) sowie Skilauf betrafen.77 Wenn 1933 noch äußerst wenige Wettkampfaktivitäten beklagt wurden, sah das wenige Jahre später schon ganz anders aus. So ist im Tätigkeitsbericht des Instituts instituts, Greifswald 2013, S. 25–40, hier S. 32. 74 Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1934, Greifswald 1934, S. 46. 75 Vgl. von Hehl/Häuser, Geschichte der Universität Leipzig (wie Anm. 67), S. 282f. 76 Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1935, Greifswald 1935, S. 47f. und Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1935/36 und das Sommersemester 1936, Greifswald 1935, S. 49f. 77 Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1942, Greifswald 1942, S. 51f. und Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1942/43, Greifswald 1942, S. 50.

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für Leibesübungen in der Chronik der Universität Greifswald von 1937 bis 1939 diesbezüglich Folgendes nachzulesen: „In der Zeit vom 22. bis 23. Januar 1938 wurden in Greifswald die Deutschen Hochschulmeisterschaften im Geländelauf, Fechten, Turnen und Boxen vom Amt für körperliche Ertüchtigung in Zusammenarbeit mit dem Hochschulinstitut für Leibesübungen durchgeführt. Die Veranstaltung war ein starker organisatorischer und leistungsmässiger Erfolg und hatte für die Universität und Stadt Greifswald eine bedeutende Werbekraft. Die Vertretung der Universität Greifswald bei den Deutschen Studentenmeisterschaften in Mannheim am 17. Juni 1938 errang durch ihren 3. Platz in der Gesamtwertung aller Hochschulen einen bemerkenswerten Achtungserfolg. Durch die Teilnahme einer Mannschaft der Universität Lund an den örtlichen Hochschulmeisterschaften im Sommer-Semester 1938 wurden die sportlichen Beziehungen zwischen der Universität Greifswald und den nordischen Staaten aufgenommen. Ihr weiterer Ausbau ist beabsichtigt.“78 Derartige Erfolgsmeldungen ließen sich für die nachfolgenden Jahre in dem Maße nicht mehr finden. Mit dem Kriegsausbruch nahmen auch die Probleme hinsichtlich der Leibeserziehung zu. So musste im Bericht des Instituts für Leibeserziehung für den Zeitraum 1. Januar bis 31. Dezember 1940 konstatiert werden: „Die Arbeit des Hochschulinstituts für Leibeserziehung gestaltete sich im Berichtszeitraum zunächst insofern schwierig, als mit Kriegsausbruch die Diensträume des Instituts für die Unterbringung von Tuberkulösen und die Hallen zur Lagerung von Getreide bzw. Heeresproviant beschlagnahmt worden waren und der größte Teil der Lehrkräfte sowie des übrigen Personals bei der Wehrmacht stand. Nach erfolgter uk-Stellung übernahm der Direktor des Instituts mit Beginn des ersten Trimesters 1940 wieder die Amtsgeschäfte. […] Es gelang, die Diensträume, Sportheim und Turnhalle wieder für die Arbeit des Instituts freizubekommen, so dass die sportliche Grundausbildung und der freiwillige Übungsbetrieb planmässig durchgeführt werden konnten. […] Von besonderen sportlichen Veranstaltungen ist eine in Verbindung mit dem N.S.R.L. durchgeführte Sportwoche, als deren Abschluss die örtlichen Kameradschafts- und Juniorenmeisterschaften stattfanden, zu erwähnen. Im Herbsttrimester wurden eine GeländelaufMeisterschaft mit starker Beteiligung und Wettspiele gegen Greifswalder Vereine und auswärtige Gegner durchgeführt.“79 Im Bericht des Instituts für Leibeserziehung für die Universitäts-Chronik vom 29. Juni 1942 findet sich zum Wettkampfwesen nur noch der lapidare Satz, dass in Zusammenarbeit mit dem NS-Reichsbund für Leibesübungen und der Hitlerjugend Greifswald das „Institut mit grösseren sportlichen Ver78 Tätigkeitsbericht des Instituts für Leibeserziehung, in: Chronik der Universität Greifswald 1937–1939, S. 133f. 79 Tätigkeitsbericht des Instituts für Leibeserziehung, in: Chronik der Universität Greifswald 1939–1940, S. 118.

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anstaltungen vor die Öffentlichkeit“80 trat. Unter den freiwilligen Angeboten zur Leibeserziehung soll der Segelsport besonders hervorgehoben werden. Im Jahrbuch der Universität von 1939 ist nachzulesen, dass Greifswald „die Segeluniversität in Deutschland“ ist.81 Das hing zum einen mit der günstigen Lage, die eine Voraussetzung für die gründliche Ausbildung war, zum anderen mit der guten Ausstattung an Segelbooten zusammen. Von hier aus konnten die Studenten die Ausbildungen für alle Segelbereichszonen absolvieren. Für die Grundausbildung und die damit verbunAbbildung 6: Eine Segeljacht des Akademidene Jollenführerprüfung eigneten sich der schen Segler-Vereins Hafenbereich und die Dänische Wiek, für die Steuermannsprüfung der Greifswalder Bodden. Aber sogar für die Schifferprüfung, die das Hochseesegeln erfordert, ist Greifswald durch den Zugang zur Ostsee ein idealer Ausgangspunkt. Für die Ausbildung und den Segelsport standen vier Yachten, von der Übungsjolle bis zum zweimastigen Hochseeschoner, zur Verfügung. Der Akademische Seglerverein, der dem nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen angehörte, arbeitete eng mit dem Institut für Leibesübungen zusammen und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, „die großen erzieherischen Werte des Segelsports in den Dienst der sportlichen Gesamtausbildung der Universität zu stellen“.82

Resümee

Hochschulpolitische Maßnahmen während der Zeit des Nationalsozialismus führten an der Greifswalder Universität zu einer Reihe von Veränderungen, die die Lehre und Forschung gleichermaßen betrafen. Hinsichtlich der Bildung und Erziehung stand nicht mehr das Individuum an sich im Vordergrund, sondern der Nutzen des Ein80 Tätigkeitsbericht des Instituts für Leibeserziehung, in: Chronik der Universität Greifswald 1941, S. 151f., hier S. 152. 81 Jahrbuch für Studierende, Greifswald 1939, S. 259. Die Hervorhebung wurde aus dem Original übernommen. 82 Jahrbuch für Studierende, Greifswald 1939, S. 260.

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zelnen für die Volksgemeinschaft. Das Ziel bestand darin, einen völlig neuen Studententypus zu schaffen, der in erster Linie körperlich abgehärtet und sportlich gestählt sein sollte. Erst danach stand die Einflussnahme auf die Charakterbildung im Vordergrund, bevor es um die wissenschaftliche Schulung ging, was letztendlich zu einem Rückgang der Fachlichkeit in allen Fakultäten führte.83 Zum Zweck der Einbindung der Studierenden in das nationalsozialistische System gab es eine Reihe von Maßnahmen. Diese betrafen beispielsweise die Politisierung von Studieninhalten, die studentische Selbsterziehung, den Reichsberufswettbewerb sowie die Leibeserziehung. Daneben spiegelte sich die nationalsozialistische Ideologie in einer Reihe von Studienordnungen wider, die noch genauer analysiert werden müssen. Beispielsweise änderten sich 1935 die Bestimmungen für das Studium der Rechtswissenschaft mit dem Ziel: „Die deutsche Rechtswissenschaft muss nationalsozialistisch werden.“84 1939 wurde auch das Medizinstudium neu geordnet, was insgesamt eine Zeitersparnis von eineinhalb Jahren mit sich brachte und wo es galt, „einen praktisch, wissenschaftlich und charakterlich hochwertigen Arzt der Allgemeinpraxis heranzubilden“,85 was unter anderem durch neu in den Studienplan aufgenommene Fächer verwirklicht werden sollte. Daneben forderte 1938 ein Runderlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung die stärkere Beachtung von chemischen Kampfstoffen und Kampfstofferkrankungen im Lehrplan der Universitäten und Hochschulen, was nicht nur für die Ausbildung der Mediziner, sondern ebenso weiterer Professionen bedeutsam war und somit tiefgreifender Betrachtungen bedarf.86 Wenn letztendlich in entsprechenden Fachpublikationen resümiert wird, dass es den Nationalsozialisten im Bereich der Hochschulpolitik nicht gelang, einen neuen Studententyp zu schaffen, weil diese die ihnen auferlegten Schulungsmaßnahmen und studentischen Einsätze als große Belastung empfanden und darauf mit wenig Einsatzbereitschaft bis hin zu stillschweigender Verweigerung reagierten, gilt es, diesen Aspekt für die Greifswalder Studentenschaft noch umfassender nachzuweisen.87

83 Vgl. Grüttner, Die deutschen Universitäten (wie Anm. 1), S. 92f. 84 Richtlinien für das Studium der Rechtswissenschaft 1935, in: UAG, Kurator K 1833, Bl. 209. 85 Jahrbuch für Studierende, Greifswald 1939, S. 92. 86 Ministerialerlass v. 12.4.1938, in: UAG, Kurator K 548, Bl. 5. 87 Grüttner, Studenten im Dritten Reich (wie Anm. 19), S. 357; Deinert, Die Studierenden der Universität Rostock (wie Anm. 42), S. 178.

Die Studierenden der Universität Greifswald im Nationalsozialismus – quantifizierende Analysen mit besonderer Berücksichtigung des Frauenstudiums

Stephanie-Thalia Dietrich

Einführung

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Analyse der Besucherfrequenz der Universität Greifswald während des Nationalsozialismus. Den Grundstein dieser Arbeit bilden die Immatrikulationseinträge der Matrikelbücher der Universität Greifswald, welche in eine Datenbank eingepflegt wurden. Obwohl die erfassten Neuimmatrikulationen nur einen Teil der tatsächlich anwesenden Studierendenschaft abbilden,1 habe ich mich bewusst für die Erfassung und Analyse der Immatrikulationsdaten entschieden, weil anhand dieser Daten statistische Veränderungen der Besucherfrequenz schneller und unverfälschter nachgewiesen werden können als z.B. auf Grundlage der Gesamtstudierendenzahlen. Da die Anzahl von Immatrikulationseinträgen aus der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft (1933–1945) für die Erfassung zu groß gewesen wäre, beschränkte ich mich auf die stichprobenartige Erfassung einzelner Semester. Um die sogenannten Segelstudenten2 auszuschließen, wurden nur Wintersemester erfasst. Die Auswahl der erfassten Semester folgt zum größten Teil einem Fünfjahresrythmus: 1927/28, 1932/33, 1937/38, 1942/43, 1944/45, 1949/50.3 Die Wintersemester 1927/28 und 1949/50 dienen als statistische Vergleichssemester vor und nach der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Das Wintersemester 1944/45 wurde 1 Carsten Woigk, Die Studierenden der Universität zu Greifswald 1808–2006 – eine statistische Übersicht, in: Dirk Alvermann, Karl-Heinz Spieß (Hg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456–2006, Bd. 1, Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006, S. 561–583, hier S. 561. 2 Als „Segelstudenten“ werden Studenten bezeichnet, welche sich nur für das Sommersemester bei der Universität Greifswald einschreiben um neben dem Studium das Segelangebot der Universität nutzen zu können. Der Begriff Studenten wird im vorliegenden Text geschlechtsneutral verwendet. 3 Das Wintersemester 1939/40 konnte nicht erfasst werden, da die Universität Greifswald in diesem Wintersemester zum Teil geschlossen blieb. Die Wintersemester 1940/41 und 1941/42 konnten ebenfalls nicht erfasst werden, da zwischen 1940 und 1942 das akademische Jahr in Greifswald in Trimester eingeteilt wurde.

Die Studierenden im Nationalsozialismus

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aufgrund seiner historischen Signifikanz – das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft – ebenfalls aufgenommen. Folgende Angaben aus den Immatrikulationseinträgen wurden in die Datenbank übernommen: Matrikelnummer, Immatrikulationsdatum, ggf. Name (Eintrag normalerweise anonym, außer bei ausländischen Studierenden oder Namensauffälligkeiten), Geschlecht, Beruf des Vaters inklusive Zuordnung zu einer sozialen Gruppe, Herkunft des Vaters (nach Region), Geburtsherkunft (nach Region), Geburtsdatum, Reifeprüfungsdatum, Konfession, Studienfachrichtung (Zuordnung zu einer Fakultät), ggf. Voruniversität, ggf. Exmatrikulationsdatum. Bei unvollständigen Immatrikulationsangaben wurde ein Nullwert für die jeweils fehlenden Daten eingegeben. Zusätzliche Informationen, wie z.B. Kommentare zur Exmatrikulation, wurden in einem Feld „Bemerkungen“ separat erfasst, dienen jedoch nicht als Grundlage der vorliegenden statistischen Auswertung. Insgesamt wurden 1.994 Immatrikulationseinträge in die Datenbank eingepflegt. Nicht alle der erfassten Daten konnten aufgrund ihrer Menge für die vorliegende Arbeit ausgewertet werden. Somit bietet dieser Beitrag lediglich eine erste statistische Auswertung und versucht, soweit möglich, die erhobenen Daten in ihren historischen Kontext einzuordnen. Entwicklung der Immatrikulationszahlen 500 450 400 350 300 250 200

Anzahl der Immatrikulationen

150 100 50 0 1927/28

1932/33

1937/38

1942/43

1944/45

1949/50

Grafik 1: Entwicklung der Immatrikulations- und Studierendenzahlen

Vom Wintersemester 1932/33 bis zum Wintersemester 1937/38 ist eine deutliche Abnahme von neu immatrikulierten Studenten zu verzeichnen. Diese deutliche Abnahme der Immatrikulationen legt den Schluss nahe, dass sie eine Reaktion auf das am 25. April 1933 erlassene „Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen

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und Hochschulen“4 und die entsprechenden Durchführungsverordnungen gewesen ist. Das Gesetz beschränkte die Hochschulzulassung für „nichtarische“ Studenten auf 1,5 Prozent. Mit einer neuen Verordnung vom Dezember 1933, welche im Januar 1934 in Kraft trat, sollten außerdem nur 15.000 der Abiturienten5 des Jahrgangs 1934 die Hochschulreife erhalten.6 Da jedoch die Hochschulkommission der NSDAP einen künftigen Nachwuchsmangel befürchtete, entschied sich das Reichserziehungsministerium im Februar 1935 dazu, auf einen Hochschulreifevermerk zu verzichten und allen Abiturienten wieder den Zugang zum Studium zu ermöglichen.7 Aus der kurzen Gültigkeit der Zulassungsbeschränkung folgert Grüttner deshalb, dass das Gesetz und seine Durchführungsverordnungen einen geringeren Einfluss auf die Entwicklung der Immatrikulations- und Studierendenzahlen hatten als bisher angenommen. 8 Laut Grüttner waren sechs weitere Faktoren für den Rückgang der Immatrikulations- und Studierendenzahlen zwischen 1933 und 1939 ausschlaggebend: die Abnahme der Studienbereitschaft, die demographischen Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges, die Attraktivität anderer Berufsfelder, die Einführung der Arbeitsdienstpflicht und der allgemeinen Wehrpflicht, die nationalsozialistische Minderbewertung akademischer Berufe und die Vertreibung der Juden.9 Welche dieser Faktoren nun zur Abnahme der Immatrikulationszahlen an der Universität Greifswald geführt haben, lässt sich aufgrund der erhobenen Daten nicht genau feststellen. Ersichtlich ist nur, dass sich dieser Trend deutschlandweit zeigte. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges mit dem deutschen Angriff auf Polen am 1. September 1939 scheint, gemessen an den erhobenen Daten, mittelfristig an der Universität Greifswald keine negativen Auswirkungen auf die Immatrikulationszahlen gehabt zu haben. Die Zahl der Immatrikulationen erhöhte sich sogar vom Wintersemester 1937/38 bis zum Wintersemester 1942/43 leicht.10 Vom Wintersemester 1942/43 zum Wintersemester 1944/45 ist dann ein deutlicher Anstieg zu erkennen. Das Wintersemester 4

Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen vom 25. April 1933, in: Reichsgesetzblatt (künftig: RGBl.) 1933, I 225. 5 Der Begriff Abiturienten wird im vorliegenden Text geschlechtsneutral verwendet. 6 Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), Paderborn 1995, S. 102. 7 Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 103. 8 Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 103; Claudia Huerkamp, Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900–1945 (= Bürgertum; Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte; Bd. 10), Göttingen 1996, S. 82. 9 Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 104ff. 10 Um die Auswirkungen des Beginns des Krieges auf die Immatrikulationszahlen genauer betrachten zu können, würde es sich anbieten, das Sommersemester 1939 ebenfalls zu erfassen, was im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden konnte.

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1944/45 verzeichnete die höchste Anzahl von Immatrikulationen für alle erfassten Semester und überstieg damit auch die Zahl der neu immatrikulierten Studierenden im Wintersemester 1927/28. Grüttner führt diese Zunahme von Immatrikulationen an den deutschen Universitäten insgesamt auf einen seit 1939 zu verzeichnenden Anstieg von Abiturienten zurück. Durch deren gewachsenes Interesse am Hochschulstudium und eine veränderte Arbeitsmarktlage entschieden sich wieder weit mehr Abiturienten für ein Hochschulstudium als noch 1939.11 Zum Wintersemester 1949/50 nimmt die Zahl der Immatrikulationen an der Universität Greifswald jedoch wieder ab und erreicht damit ungefähr die Anzahl vom Wintersemester 1927/28. Entwicklung der Immatrikulations- und Studierendenzahlen im Vergleich

2000 1800 1600 1400 1200 1000 800 600 400 200 0 1927/28

AZ Imm. AZ Stud. 1932/33

1937/38

1942/43

AZ Stud. AZ Imm. 1944/45

1949/50

Grafik 2: Entwicklung der Immatrikulations- und Studierendenzahlen im Vergleich

Vergleicht man die Greifswalder Immatrikulations- mit den Studierendenzahlen,12 erkennt man einen fast parallelen Entwicklungsverlauf von Zu- und Abnahme für die erfassten Semester. Die Immatrikulations- und die Studierendenzahlen steigen vom Wintersemester 1927/28 zum Wintersemester 1932/33 zunächst an. So verzeichnet die Universität Greifswald im Wintersemester 1932/33 die höchste Studierendenzahl 11 Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 106. 12 Aufstellung der Studierendenzahlen für die Universität Greifswald bei Hartmut Titze, Wachstum und Differenzierung der deutschen Universitäten 1830–1945. Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1, Hochschulen, 2. Teil, Göttingen 1995, S. 252–261 und Woigk, Die Studierenden (wie Anm. 1), S. 565–576.

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von allen betrachteten Semestern. Erst zum Wintersemester 1937/38 ist eine Abnahme sowohl der Immatrikulations- als auch der Studierendenzahlen zu erkennen. Im Wintersemester 1937/38 studieren an der Universität Greifswald immerhin 1.302 Studierende weniger als im Wintersemester zuvor. Vom Wintersemester 1937/38 bis zum Wintersemester 1944/45 steigen sowohl die Immatrikulations- als auch die Studierendenzahlen wieder an. Obwohl die Immatrikulationszahlen nach dem Wintersemester 1944/45 wieder rückläufig waren, stiegen die Studierendenzahlen weiter an, was u.a. durch die aus dem Krieg wiederkehrenden Studierenden erklärt werden kann.

Entwicklung der Immatrikulationszahlen innerhalb der Fakultäten und Fachrichtungen

Für die statistische Auswertung wurden die Daten der neu immatrikulierten Studierenden zunächst den Fakultäten der Universität Greifswald zugeordnet: Theologische Fakultät, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Medizinische Fakultät, Philosophische Fakultät und Landwirtschaftliche Fakultät. Die Unterteilung in Fachrichtungen erfolgte nur für die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät (Recht, Wirtschaft und Staat), für die Medizinische Fakultät (Medizin, Zahnmedizin) und für die Philosophische Fakultät (Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften). War eine Zuordnung zu einer bestimmten Fachrichtung nicht möglich, wurde lediglich die Fakultät in die Datenbank eingetragen. Eine weitere Spezifizierung der jeweils studierten Fächer war aufgrund fehlender Informationen bei den Immatrikulationsangaben nicht möglich. Da die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät nach Wiedereröffnung der Universität Greifswald 1946 bis 1992 geschlossen blieb, waren keine Immatrikulationen für das Wintersemester 1949/50 zu verzeichnen. Einen Sonderfall bildet außerdem die Zuordnung von neu immatrikulierten Studierenden zur Landwirtschaftlichen Fakultät. Diese neue Fakultät wurde am 12. Dezember 1946 eröffnet und am 30. September 1950 schon wieder geschlossen. So finden sich nur Immatrikulationen für die Landwirtschaftliche Fakultät für das Wintersemester 1949/50 unter den erhobenen Daten. Von den insgesamt 1.994 in die Datenbank aufgenommenen Immatrikulationen konnte nur ein neu immatrikulierter Student keiner Fakultät zugeordnet werden. Die Immatrikulationszahlen schwankten zwischen den einzelnen Fakultäten deutlich. Insbesondere an der Theologischen und der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zeigen sich im Schnitt eher rückläufige Tendenzen – ein Be-

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Entwicklung der Immatrikulationszahlen innerhalb der Fakultäten 100% 90% 80% 70% Phil. Fak.

60%

Med. Fak.

50%

Jur. Fak.

40%

Theol. Fak.

30%

Landw. Fak.

20% 10% 0% 1927/28

1932/33

1937/38

1942/43

1944/45

1949/50

Grafik 3: Entwicklung der Immatrikulationszahlen innerhalb der Fakultäten

deutungsverlust, der im gesamten Deutschen Reich zu beobachten war.13 Bei der Theologischen Fakultät mag das an der allgemeinen Tendenz zur Diskriminierung der Theologiestudenten und der angespannten politischen Lage gelegen haben.14 Darüber hinaus gab es auch andere Gründe. Sowohl an der Theologischen als auch an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät immatrikulierten sich außerdem hauptsächlich männliche Personen. Frauen durften per Gesetz nicht den Beruf des Richters oder Staatsanwalts ergreifen, was das Studium der Rechtswissenschaften an der Juristischen Fakultät aufgrund der mangelnden Berufschancen für Frauen unattraktiv machte.15 Beim Vergleich der Fachrichtungen innerhalb der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zeigt sich für alle erfassten Semester die Dominanz der Fachrichtung Recht (bzw. Jura). Der Einzug der männlichen Studenten zum Kriegsdienst ließ die ohnehin geringen Immatrikulations- und Studierendenzahlen weiter sinken und trug so zum Bedeutungsverlust der Theologischen und der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät bei.16 Dieses Phänomen betraf nicht alle Fakultäten. So waren rückläufige Tendenzen an der Medizinischen Fakultät in den Wintersemestern 1942/43 und 1944/45 nicht 13 14 15 16

Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 126. Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 127, S. 130ff. Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 133f. Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 132f.

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zu verzeichnen. Im Gegenteil: Die Immatrikulationen stiegen auf bis zu 56 Prozent an. Dieser Anstieg lässt sich ebenso reichsweit beobachten.17 Obschon die Universität Greifswald vor der NS-Zeit als „herausragende Medizineruniversität“18 galt, lässt sich dieser „Medizinerboom“ in erster Linie auf die durch den Krieg gestiegene Nachfrage an Ärzten erklären. Innerhalb der Fakultät war die Fachrichtung Medizin dominant, nur wenige schrieben sich für das Studium der Zahnmedizin ein. Diese Fachrichtung hat überhaupt vom Wintersemester 1927/28 bis zum Wintersemester 1949/50 deutlich an Studieninteressenten verloren. Die Immatrikulationen bei der Philosophischen Fakultät blieben bis zum Wintersemester 1944/45 relativ stabil. Im Wintersemester 1949/50 schrieben sich über fünfzig Prozent bei der Philosophischen Fakultät ein, während sich nur noch zwanzig Prozent an der Medizinischen Fakultät immatrikulierten. Damit war der „Medizinerboom“ vorerst beendet. Entwicklung der Immatrikulationszahlen innerhalb der Fachrichtungen der Philosophischen Fakultät 140 120 100 80

AZ Mat. Nat.

60

AZ Phil.

40 20 0 1927/28 1932/33 1937/38 1942/43 1944/45 1949/50

Grafik 4: Entwicklung der Immatrikulationszahlen innerhalb der Fachrichtungen der Philosophischen Fakultät

In der Philosophischen Fakultät lässt sich eine deutliche Verschiebung innerhalb der Fachrichtungen erkennen. Es ist insgesamt ein Anstieg der Immatrikulationen für die naturwissenschaftlichen Fächer zu beobachten. Er kann durch eine Veränderung der 17 Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 128–130. 18 Titze, Wachstum (wie Anm. 12), S. 244.

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Arbeitsmarktlage erklärt werden. Die nationalsozialistische Aufrüstungspolitik führte zu einem größeren Bedarf an Arbeitskräften mit einer technischen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Ausbildung.19 Der Anteil der Immatrikulationen an der Landwirtschaftlichen Fakultät blieb im Wintersemester 1949/50 mit knapp 13% dagegen eher gering. Das Verhältnis von Immatrikulations- und Studierendenzahlen innerhalb der Fakultäten weist keine signifikanten Unterschiede auf.

Konfessionen Entwicklung der Konfessionszugehörigkeit 100% 90% 80% 70% 60%

sonst.

50%

kat.

40%

evg.

30% 20% 10% 0% 1927/28

1932/33

1937/38

1942/43

1944/45

1949/50

Grafik 5: Entwicklung der Konfessionszugehörigkeit

Durchschnittlich für alle erfassten Semester gehörten 80 Prozent aller neu immatrikulierten Studenten der evangelischen und 15 Prozent der katholischen Konfession an. Die große Anzahl der neu immatrikulierten Studenten mit evangelischer Konfession erklärt sich dadurch, dass die bis 1945 existierende Provinz Pommern Teil Preußens war und dessen Bevölkerung überwiegend der evangelischen Konfession angehörte. Im Vergleich der erfassten Semester untereinander bleibt die Gruppe der neu immatrikulierten Studenten mit evangelischer Konfession dominant. Unter den fünf Prozent der neu immatrikulierten Studenten, die weder der evangelischen noch die katholischen Konfession angehörten, findet sich ein breites Spektrum an Angaben zur Konfession. Im Wintersemester 1927/28 waren zwei Studenten griechisch-orthodox, einer islamisch, einer mosaisch und ein weiterer freireligiös. Im Wintersemester 1937/38 gab ein Student die methodistische, im Wintersemester 19 Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 107.

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1942/43 gaben zwei Studenten die griechisch-orthodoxe, im Wintersemester 1944/45 ein Student die islamische und ein Student die mennonitische, im Wintersemester 1949/50 ein Student die mormonische Konfession an. Insgesamt erklären bei der Immatikulation 57 Studenten, dass sie „gottgläubig“ seien. 31 Studenten machten keine Angabe. Im Wintersemester 1927/28 als auch im Wintersemester 1932/33 bekannte nur ein Student konfessionslos zu sein. Auffällige Veränderungen in der Konfessionsverteilung lassen sich für die Wintersemester 1942/43 und 1944/45 feststellen. In diesen Semestern sank die Zahl der neu immatrikulierten Studenten mit evangelischer Konfession um zehn Prozent und wurde durch Studenten mit katholischer oder einer sonstigen Konfession ersetzt. Dieser Rückgang korreliert mit der in diesen Semestern beobachteten Abnahme der Immatrikulationen an der Theologischen Fakultät. Gerade die Anzahl der Studenten, die sich als „gottgläubig“ bezeichneten nahm jetzt stark zu. Fanden sich im Wintersemester 1927/28 und 1932/33 noch keine „gottgläubigen“ Studenten, so stieg ihre Zahl seit dem Wintersemester 1937/38 von vier auf dreißig im Wintersemester 1944/45 stark an. Im Wintersemester 1949/50 finden sich dann wieder nur sechs Studenten mit einer entsprechenden Konfession. Die fehlende Angaben zur Konfession in den Wintersemestern 1927/28 und 1932/33 sowie ihr starker Anstieg vom Wintersemester 1937/38 bis zum Wintersemster 1944/45 erklärt sich durch die offizielle Einführung des Terminus „gottgläubig“ am 26. November 1936 durch einen Erlass des Reichministers des Inneren.20 Gottgläubig galt nun als „amtliche Bezeichnung für das neue arteigene Bekenntnis der aus den christlichen Kirchen Ausgetretenen“.21 Die Anzahl der neu immatrikulierten Studenten, welche keine Angabe zu ihrer Konfession machten blieb im Grunde vom Wintersemester 1927/28 bis zum Wintersemester 1944/45 mit durchschnittlich 3,6 stabil und stieg erst im Wintersemester 1949/50 auf 13 stark an.

Soziale Zugehörigkeit

Der „sozioökonomische Status der Eltern bzw. die soziale Herkunft (also der ‚zugeschriebene‘ Status) [ist] die beste Voraussagevariable (Prädikator), für die soziale Position, die die Kinder einnehmen werden”.22 Mit der Angabe des Berufs des Vaters, der Mutter oder des Vormunds wurde versucht, deren sozioökonomischen Status zu er20 Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 2007, S. 281ff. 21 Schmitz-Berning, Vokabular (wie Anm. 20), S. 281. 22 Peter A. Berger und Claudia Neu, Sozialstruktur und soziale Ungleichheit, in: Hans Joas (Hg.), Lehrbuch der Soziologie, Frankfurt a.M. 32007, S. 241–246, hier S. 242f.

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fassen und somit die soziale Zugehörigkeit der neu immatrikulierten Studenten bestimmen zu können. Der Beruf des Vaters, der Mutter oder des Vormunds wurde folgenden sozioökonomischen Gruppen zugeteilt: Hochadel, Führungskräfte, Berufssoldaten, akademisch gebildete Funktionseliten, Beamte und Angestellte, Verwaltung, Dienstleistungsberufe (Gastwirte, Kleinhändler etc.), Fischer, Bauern, Handwerker, Facharbeiter, ungelernte Arbeiter, Waisen, Rentner. Es war mir bewusst, dass es innerhalb der einzelnen Berufsgruppen soziale und finanzielle Unterschiede gegeben hat, jedoch konnte aufgrund der fehlenden Informationen zu Einkommen, finanziellen Verhältnissen, Milieu oder Lebensstil keine genauere Zuteilung der neu immatrikulierten Studenten vorgenommen werden. Bei sechs Prozent der erfassten Immatrikulationen konnte aufgrund von fehlenden Angaben überhaupt keine Zuordnung vorgenommen werden. Fünf Prozent fallen unter die Gruppe „Waisen“. Diese Zuordnung erfolgte nur, wenn neben der Information „Vater/Eltern verstorben“ nicht der Beruf des Vaters, der Mutter oder des Vormunds angegeben war. Ungelernte Arbeiter 1%

Art der sozialen Zugehörigkeit

Hochadel 0%

Rentner 1%

Berufssoldaten 2% Facharbeiter 2%

Waisen 5%

Akademisch gebildete Funktionseliten 32%

Keine Angabe 6%

Führungskräfte 8%

Beamte und Angestellte, Verwaltung 23%

Grafik 6: Art der sozialen Zugehörigkeit

Fischer, Bauern, Handwerker 11% Dienstleistungsberufe (Gastwirte, Kleinhändler etc.) 9%

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Die größte Anzahl der neu immatrikulierten Studenten kann mit 32 Prozent der Gruppe der akademisch gebildeten Funktionseliten zugeordnet werden. Innerhalb dieser Gruppe finden sich Musiker, Architekten, Journalisten und Schriftsteller, Apotheker, Rechtsanwälte, Hochschullehrer und Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker, Pastoren, Ärzte und Lehrer. Letztere stellten mit 44 Prozent den mit Abstand größten Berufszweig innerhalb der Gruppe. Geht man von einem einkommensorientierten Schichtenmodell aus, kann die Mehrheit der neu immatrikulierten Studenten zum Mittelstand gezählt werden. Dabei zeigen sich innerhalb der erfassten Semester keine Unterschiede. Im Vergleich zur Weimarer Republik hat keine Veränderung der sozialen Zugehörigkeit von Studenten stattgefunden. Von einer „Öffnung der Hochschulen“ für Kinder aller Schichten während des Nationalsozialismus kann in Bezug auf Greifswald keine Rede sein.23

Regionale Herkunft

Die Immatrikulationseinträge beinhalten sowohl Angaben zum Geburtsort, als auch zum Wohnort des Vaters, der Mutter oder des Vormunds. In nur wenigen Fällen wurde der Wohnort der Ehefrau oder der eigene Wohnsitz angegeben. Die angegebenen Orte wurden den entsprechenden Regionen zugeordnet. Aufgrund von mehreren territorialen Veränderungen in den Jahren 1933 bis 1945 bezieht sich die Regionszuteilung vornehmlich auf die des Deutschen Reiches von 1918 bis 1933. Territoriale Veränderungen wurden gesondert erfasst. Dazu zählt z.B. die Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren, da diese Region von 1939 bis 1945 offiziell zum (Groß-) Deutschen Reich gehörte und die aus diesem Gebiet stammenden Studenten als „Angehörige einer nationalen Minderheit“ keinen offiziellen Ausländerstatus hatten. Auch Österreich wurde in den Wintersemestern 1942/43 und 1944/45 nicht unter Ausland, sondern als Teil des (Groß-)Deutschen Reiches erfasst. Obwohl der Geburtsort separat erfasst wurde, sind die Angaben über die Herkunft des Vaters, der Mutter, des Vormunds, der Ehefrau oder des eigenen Wohnsitzes für die Auswertung im Sinne der regionalen Herkunft von größerer Bedeutung. Denn sie stellten den mutmaßlichen Lebensmittelpunkt des neu immatrikulierten Studenten dar, von dem aus er nach Greifswald gekommen war. Eine Analyse der beiden Herkunftsangaben ergab außerdem, dass sich die Kategorien nur gering unterschieden. Abweichungen sind hauptsächlich auf fehlende Angaben zum Ort zurückzuführen. So wurde in nur zwei Fällen kein Geburtsort angegeben, während bei 154 Studenten (acht Prozent) 23 Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 136ff.

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die Angabe des Wohnorts des Vaters fehlte. In den meisten Fällen kann das Fehlen der Angabe mit dem Tod des Vaters erklärt werden.

Entwicklung der Herkunft des Vaters, der Mutter oder des Vormunds 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%

Preußische Provinzen Andere Länder Keine Angabe Ausland

1927/281932/331937/381942/431944/451949/50

Grafik 7: Entwicklung der Herkunft des Vaters, der Mutter oder des Vormunds (Quelle: Universitätsmatrikel)

Mit durchschnittlich 72 Prozent gaben die meisten neu immatrikulierten Studenten aller erfassten Semester als Wohnort des Vaters, der Mutter oder des Vormunds eine der preußischen Provinzen an. Nur 16 Prozent stammten aus einem der anderen Länder des Deutschen Reiches und nur 4 Prozent aus dem Ausland. Gravierende Unterschiede bei der Herkunftsverteilung für alle erfassten Semester lassen sich nicht feststellen. Im Wintersemester 1942/43 zeigt sich lediglich eine Verschiebung hin zur Herkunft aus den anderen deutschen Ländern. In diesem Semester fiel die Anzahl der neu immatrikulierten Studenten, die aus einer der preußischen Provinzen stammten auf 65 Prozent und die Anzahl derer, die aus einem der anderen deutschen Ländern stammten, stieg auf 25 Prozent an. Dies kann u.a. dadurch erklärt werden, dass die neu immatrikulierten Studenten aus dem Protektorat Böhmen und Mähren und aus Österreich nun als reichsangehörige Studenten gezählt werden. Im Vergleich innerhalb der Gruppe der preußischen Provinzen ist Pommern mit durchschnittlich 44 Prozent die mit Abstand häufigste Herkunft. Im Semestervergleich zeigt sich nur im Wintersemester 1944/45 eine auffällige Verschiebung, die sich als Reaktion auf den Kriegsverlauf und die Schließung zahlreicher Hochschulen Ende 1944 erklären lässt. In diesem Semester kommen nur 23 Prozent der neu immatrikulierten Studenten aus Pommern, jedoch 20 Prozent aus Ostpreußen. Im Wintersemester 1942/43 hatte sich nur ein einziger Student aus Ostpreußen an der Uni-

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Stephanie-Thalia Dietrich Aufteilung der preuβischen Provinzen bei der Herkunft des Vaters, der Mutter oder des Vormunds Hannover Hessen-Nassau Niederschlesien 2% 2% 3% Oberschlesien 3%

PosenWestpreuβen 3%

Schleswig-Holstein 3% Rheinprovinz 5% Pommern 44% Ostpreuβen 5% Westfalen 6%

Berlin 9%

Brandenburg 9%

(Prov.) Sachsen 6%

Grafik 8: Aufteilung der preußischen Provinzen bei der Herkunft des Vaters, der Mutter oder des Vormunds

versität Greifswald eingeschrieben, im Wintersemester 1944/45 jedoch insgesamt 62. Auffällig ist auch die Verteilung der Herkunftsländer im Wintersemester 1949/50. Im Wintersemester 1949/50 kamen rund 88 Prozent der neu immatrikulierten Studenten aus einem der DDR zugehörigen Ländern. Bei der Herkunftsangabe „Berlin“ in diesem Semester konnte aufgrund der mangelnden Informationen nicht zwischen Ost- und Westberlin unterschieden werden. Die Anzahl der neu immatrikulierten ausländischen Studenten ging in diesem Semester gegen Null. Nur ein einziger Student aus Finnland hat sich im Wintersemester 1949/50 an der Universität Greifswald eingeschrieben.

Voruniversitäten

Insgesamt gaben rund 70 Prozent der Studenten an, mindestens eine Universität vor ihrer Immatrikulation an der Universität Greifswald besucht zu haben. Rund 41 Pro-

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zent von ihnen hatten bereits an zwei, 17 Prozent an drei und 5 Prozent an vier Voruniversitäten studiert. Fünf oder sechs Voruniversitäten hatten nur noch etwas mehr als 1 Prozent besucht. Für 30 Prozent der neu immatrikulierten Studenten war somit Greifswald die erste Universität, an der sie studierten. Hinzu kommen etwa 9 Prozent Wiederkehrer, welche als Erstuniversität Greifswald angaben, zwischenzeitlich aber an mindestens einer anderen Universität studierten, um sich später wieder in Greifswald zu immatrikulieren. Somit ist Greifswald für fast 40 Prozent der neu immatrikulierten Studenten aller erfassten Semester die Erstuniversität. Berlin wurde mit knapp 10 Prozent als zweithäufigste und Königsberg mit knapp 5 Prozent als dritthäufigste Erstuniversität angegeben. Alle anderen Erstuniversitäten liegen einzeln betrachtet unter 5 Prozent. Fasst man die Erstuniversitäten bezüglich ihrer regionalen Zuordnung zusammen, so zeigt sich, dass 35 Prozent24 vor Greifswald eine Einrichtung besuchten, die zu Preußen gehörte.

Anzahl der neu immatrikulierten Studenten mit mindestens einer Voruniversität in % 100 80 60 Anzahl %

40 20 0 1927/28 1932/33 1937/38 1942/43 1944/45 1949/50

Grafik 9: Anzahl der neu immatrikulierten Studenten mit mindestens einer Voruniversität in Prozent

Betrachtet man die erfassten Semester einzeln, ergibt sich, dass die Angabe von mindestens einer Voruniversität vom Wintersemester 1927/28 bis zum Wintersemester 1944/45 immer deutlich über 50 Prozent lag. Nur im Wintersemester 1949/50 sank die Angabe einer Voruniversität auf 15 Prozent. Trotz dieser Abweichung kann insgesamt von einer hohen Mobilität von Studierenden in der NS-Zeit gesprochen werden, die auch kaum durch den Krieg eingeschränkt war. 24 Davon ausgenommen sind die Wiederkehrer und die neu immatrikulierten Studenten, welche keine Voruniversität angegeben haben.

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Frauenstudium

Für den betrachteten Zeitraum lässt sich ein Frauenanteil unter den Studierenden von insgesamt 26 Prozent errechnen. Der Anteil der sich neu immatrikulierenden Frauen divergiert jedoch innerhalb der erfassten Semester stark. So immatrikulierten sich im Wintersemester 1927/28 zunächst nur 9 Prozent Frauen. Zwar schien sich schon in der Weimarer Republik der Durchbruch des Frauenstudiums anzubahnen,25 jedoch herrschte in der Gesellschaft eine eher ablehnende Grundstimmung gegenüber studierenden Frauen vor.26 Auch die Nationalsozialisten förderten zunächst das Bild der idealen „deutschen“ Frau als verheiratete und kinderreiche Mutter, die als „Hüterin der Rasse“ ihrer „natürlichen Bestimmung“ folgend freiwillig ihre Arbeit und Gebährfähigkeit in den Dienst der „Volksgemeinschaft“ stellte.27 Dieses von den Nationalsozialisten propagierte Frauenbild hatte erheblichen Einfluss auf das universitäre Studium und die Berufsperspektiven von Frauen.28 So regelten das „Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen“ und dessen Durchführungsverordnungen auch, dass nur zehn Prozent von den 15.000 zum Studium zugelassenen Abiturienten weiblich sein durften. Die Zehn-Prozent-Hürde für weibliche Erstsemester wurde jedoch ebenfalls im Februar 1935 zurückgenommen.29 Jedoch mussten ab 1935 alle studierwilligen Abiturienten vor der Aufnahme des Studiums einen Arbeitsdienst ableisten, um überhaupt zugelassen zu werden.30 Konnte der Arbeitsdienst aus gesundheitlichen Gründen nicht geleistet werden, trat Ausgleichsdienst an dessen Stelle.31 Somit stand im Grunde die Aufnahme eines Studiums allen Abiturienten wieder offen.32 Zwischen 1935–1944 gab es keine weiteren nennenswerten Einschränkungen für das Frauenstudium.33 Aufgrund des 25 Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 111; Titze, Wachstum (wie Anm. 12), S. 42. 26 Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 112; Huerkamp, Bildungsbürgerinnen (wie Anm. 8), S. 78f.; Waldemar Krönig, Klaus-Dieter Müller, Nachkriegssemester. Studium in Kriegs- und Nachkriegszeit, Stuttgart 1990, S. 45. 27 Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin und Projektgruppe Edition Frauenstudium (Hg.), Störgröße „F“. Frauenstudium und Wissenschaftlerinnenkarrieren an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin – 1892 bis 1945. Eine kommentierte Aktenedition, Berlin 2010, S. 291. 28 Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (Hg.), Störgröße (wie Anm. 27), S. 291. 29 Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 116; Huerkamp, Bildungsbürgerinnen (wie Anm. 8), S. 82. 30 Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (Hg.), Störgröße (wie Anm. 27), S. 292; Huerkamp, Bildungsbürgerinnen (wie Anm. 8), S. 83; Krönig/Müller, Nachkriegssemester (wie Anm. 26), S. 46 und S. 48. 31 Huerkamp, Bildungsbürgerinnen (wie Anm. 8), S. 83. 32 Huerkamp, Bildungsbürgerinnen (wie Anm. 8), S. 83. 33 Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 116.

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sich anbahnenden Akademikermangels34 begannen die Nationalsozialisten ab 1937, entgegen ihrer ursprünglichen Überzeugung, verstärkt auch bei Frauen für eine höhere Schulbildung und ein Studium zu werben.35 Der von Grüttner beschriebene allgemeine Rückgang des Frauenanteils bis zum Kriegsbeginn 1939 lässt sich weder für die erhobenen Immatrikulations- noch für die Studierendenzahlen der Universität Greifswald nachweisen.36 In den Wintersemestern 1932/33 und 1937/38 blieb der Anteil an Frauen bei den Neuimmatrikulationen bei 16 Prozent gleich. Der enorme reichsweite Anstieg der Frauenquote bei den Neuimmatrikulationen nach 1940 zeigt sich auch für die Universität Greifswald.37 Zum Wintersemester 1942/43 stieg der Anteil der Studentinnen an der Universität Greifswald sogar auf 34 Prozent an. Im Wintersemester 1944/45 erreichte der Frauenanteil mit 40 Prozent einen Spitzenwert. Der enorme Zuwachs, den das Frauenstudium ab 1940 erfuhr, lässt sich u.a. auf den Einzug männlicher Studenten zum Wehrdienst zurückführen.38 Der Krieg, der Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt bewirkte und zu einem sich verstärkenden Akademikermangel führte, trug maßgeblich zum Aufschwung des Frauenstudiums bei.39 Einige Frauen immatrikulierten sich außerdem, um einem Arbeitseinsatz bzw. der Dienstverpflichtung zu entgehen,40 was von Grüttner gar als regelrechte „Flucht [der Frauen] in die Hörsäle“41 bezeichnet wird. Beweggründe für die Immatrikulation an der Universität Greifswald lassen sich anhand der erhobenen Daten leider weder für Frauen noch für Männer erfassen. Jedoch ging der Anteil der neu immatrikulierten Frauen im Wintersemester 1949/50 wieder auf 34 Prozent zurück. Der Frauenanteil blieb damit aber deutlich über dem Vorkriegsniveau. Dieser Rückgang war u.a. bedingt durch die Vergabe von Studienplätzen zugunsten von Kriegsrückkehrern.42 Betrachtet man nun die Frauenquote innerhalb der einzelnen Fakultäten der Universität Greifswald, fällt auf, dass Frauen weder in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen noch in der Theologischen Fakultät eine signifikante Rolle bei den Immatrikulationen gespielt haben. Dies ist verständlich, da ein Studium an diesen Fakultäten für 34 Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (Hg.), Störgröße (wie Anm. 27), S. 340. 35 Huerkamp, Bildungsbürgerinnen (wie Anm. 8), S. 88; Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (Hg.), Störgröße (wie Anm. 27), S. 295 und S. 339. 36 Vgl. Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S.116; Studierendenzahlen nach Woigk, Die Studierenden (wie Anm. 1), S. 572–574. 37 Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S.106 und S. 119; Huerkamp, Bildungsbürgerinnen (wie Anm. 8), S. 89. 38 Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 199. 39 Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 120f. 40 Huerkamp, Bildungsbürgerinnen (wie Anm. 8), S. 90. 41 Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 122f. 42 Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 126.

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Frauen keine Berufsperspektive bot.43 Außer in den Wintersemestern 1932/33 (3 Prozent) und 1949/50 (immerhin 19 Prozent) finden sich keine Frauen unter den neu immatrikulierten Studenten an der Theologischen Fakultät. An der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät schrieben sich in den Wintersemestern 1932/33 und 1944/45 nur 10 Prozent Frauen ein. Bei der Landwirtschaftlichen Fakultät, für die ja nur für das Wintersemester 1949/50 Daten vorliegen, ist der Frauenanteil mit 34 Prozent sogar recht hoch.

Entwicklung des Geschlechterverhältnisses innerhalb der Philosophischen Fakultät 100% 90% 80% 70% 60% 50%

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Grafik 10: Entwicklung des Geschlechterverhältnisses innerhalb der Philosophischen Fakultät

Am häufigsten wurde die Philosophische Fakultät der Universität Greifswald von Frauen frequentiert. Die „Vorliebe für den Beruf der Lehrerin sowie das Streben nach einer vertieften Allgemeinbildung“44 führten wohl allgemein zu einer steigenden Frauenquote bei der Philosophischen Fakultät. So stiegen die Immatrikulationen vom Wintersemester 1927/28 (abgesehen von einem geringen Rückgang um ca. 10 Prozent im Wintersemester 1932/33) bis zum Wintersemester 1942/43 auf 74 Prozent an. In den Wintersemestern 1944/45 und 1949/50 sank die Frauenquote zwar wieder, der Anteil der Frauen blieb jedoch bei über 60 Prozent. Somit entschieden sich vom Wintersemester 1942/43 bis zum Wintersemester 1949/50 weit mehr Frauen als 43 Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 119f. 44 Huerkamp, Bildungsbürgerinnen (wie Anm. 8), S. 92.

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Männer für ein Studium an der Philosophischen Fakultät, welche für den gesamten Zeitraum die höchste Frauenquote überhaupt aufweist. Betrachtet man die Fachbereiche der Philosophischen Fakultät getrennt, so zeigt sich, dass sich der Frauenanteil in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern von 24 Prozent in den Wintersemestern 1927/28 und 1932/33 im Wintersemester 1937/38 geradezu verdoppelte. In den folgenden Semestern stieg der Frauenanteil hier auf über 50 Prozent. Erst im Wintersemester 1949/50 schrumpfte die Frauenquote wieder auf 24 Prozent. Bei den geisteswissenschaftlichen Fächern stieg der Frauenanteil vom Wintersemester 1927/28 bis zum Wintersemester 1937/38 von 26 Prozent auf 29 Prozent an und explodierte dann förmlich im Wintersemester 1942/43 mit 79 Prozent. Dieser hohe Frauenanteil hielt sich mit 80 Prozent im Wintersemester 1944/45 und sank dann im Wintersemester 1949/50 wieder auf 45 Prozent ab. Damit blieb der Frauenanteil in den geisteswissenschaftlichen Fächern insgesamt jedoch weiterhin relativ hoch. Entwicklung des Geschlechterverhältnisses innerhalb der Medizinischen Fakultät 100% 90% 80% 70% m

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Grafik 11: Entwicklung des Geschlechterverhältnisses innerhalb der Medizinischen Fakultät

Zwar ist auch ein Anstieg der Frauenquote bei den Immatrikulationen an der Medizinischen Fakultät zu beobachten, jedoch nicht ansatzweise so exorbitant wie an der Philosophischen Fakultät. Der Anteil der Frauen, die sich für ein Medizinstudium immatrikulierten, verdoppelte sich mit 10 Prozent im Wintersemester 1927/28 auf 22 Prozent Wintersemester 1942/43. Erst im Wintersemester 1944/45 stieg der Frau-

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enanteil auf 40 Prozent stark an. Der Mangel an Medizinern,45 welcher kriegsbedingt war, schien durch eine erhöhte Anzahl von Frauen, die das Medizinstudium antraten, ausgeglichen zu werden. Die Zunahme der Zahl der Medizinstudentinnen wurde von der Reichsärzteführung ausdrücklich begrüßt, da gerade im Krieg Ärztinnen einen Ersatz für die eingezogenen männlichen Ärzte darstellten.46 Das Bestreben der Nationalsozialisten, möglichst viele Medizinerinnen auszubilden, schien also an der Universität Greifswald erreicht worden zu sein.47 Im Wintersemester 1949/50 nahm der Anteil der Frauen nur geringfügig um 9 Prozent ab und blieb mit 31 Prozent deutlich über der Frauenquote des Wintersemesters 1927/28. Betrachtet man die Immatrikulationen der Zahnmedizin separat, ergibt sich im Vergleich ein größerer Anstieg des Frauenanteils als beim Studium der Humanmedizin. War der Frauenanteil bei den Immatrikulationen für die Zahnmedizin vom Wintersemester 1927/28 bis zum Wintersemester 1937/38 noch relativ gering, stieg er jedoch in den Wintersemestern 1942/43 und 1944/45 stark an. So waren im Wintersemester 1942/43 drei von sieben neu immatrikulierten Studenten der Zahnmedizin Frauen. Im Wintersemester schrieben sich sogar 24 Frauen und nur 6 Männer für dieses Studienfach ein. Huerkamp spricht sogar von einer reichsweiten „Feminisierung“48 des Zahnarztberufs, welcher durch die vermehrte Hinwendung der männlichen Abiturienten zum Studium der Allgemeinmedizin erklärt werden kann.49 Bei der Untersuchung der Konfession, regionalen Herkunft und sozialen Zugehörigkeit konnten keine gravierenden Unterschiede zwischen Frauen und Männern beobachtet werden. Nur bei der Angabe der Voruniversitäten lässt sich ein Unterschied feststellen. Rund 76 Prozent der neu immatrikulierten Studenten, welche mindestens eine Voruniversität besucht hatten, waren männlich und nur 24 Prozent weiblich. Das spricht für eine höhere Mobilität der männlichen Studenten.

Zusammenfassung

Greifswald war eine Einstiegsuniversität mit deutlich regionalem Schwerpunkt im Besucherprofil. Fast vierzig Prozent der zwischen 1927 und 1949 neu immatrikulierten Studenten begannen ihr akademisches Studium in Greifswald, der überwiegende Teil von ihnen kam aus Pommern oder angrenzenden preußischen Provinzen, waren 45 46 47 48 49

Grüttner, Studenten (wie Anm. 6), S. 107. Huerkamp, Bildungsbürgerinnen (wie Anm. 8), S. 106. Huerkamp, Bildungsbürgerinnen (wie Anm. 8), S. 106. Huerkamp, Bildungsbürgerinnen (wie Anm. 8), S. 106. Huerkamp, Bildungsbürgerinnen (wie Anm. 8), S. 109.

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evangelischer Konfession und entstammten mehrheitlich dem Mittelstand, woran auch der politische und gesellschaftliche Umbruch von 1933 nichts änderte. Die Mobilität der Studenten blieb – betrachtet man die Studienortswechsel – während des „Dritten Reiches“ ähnlich hoch wie in der Weimarer Zeit. Wie an vielen deutschen Hochschulen brachen die Immatrikulationszahlen in Greifswald nach 1933 signifikant ein, erholten sich aber Anfang der 1940er Jahre wieder. Während die Zahl der Neuimmatrikulationen nun das Niveau der späten Weimarer Republik wieder erreichte, blieb die Zahl der insgesamt anwesenden Studenten deutlich dahinter zurück. An dieser Erholung partizipierten nicht alle Fächer gleichermaßen. Während die Theologische Fakultät – gemessen an den Immatrikulationszahlen – bis 1945 fast zur Bedeutungslosigkeit herabsank und sich an der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät erst spät und verlangsamt eine Trendwende abzeichnete, erlebte die Medizinische Fakultät im gesamten Zeitraum von 1933 bis 1945 einen regelrechten Immatrikulationsboom. Die Studierendenzahlen der Philosophischen Fakultät blieben im gleichen Zeitraum weitgehend stabil. Dabei verschob sich allerdings die Verteilung der Studenten im Fächerspektrum zum Ende des Krieges stark zugunsten der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer. Für den auffälligsten sozialen Wandel im Bild der Universität Greifswald zwischen 1927 und 1949 sorgte die Entwicklung des Frauenstudiums. Der Anteil der weiblichen Studierenden an den Neuimmatrikulationen verdoppelte sich von 1932 bis 1942 und erreichte 1944/45 mit 45 Prozent einen Spitzenwert. Die Frauen nutzten vor allem das Lehrangebot der Philosophischen Fakultät. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung machte der Frauenanteil an den Immatrikulationen in den geisteswissenschaftlichen Fächern 80 Prozent und in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern 50 Prozent aus. Auch an der Medizinischen Fakultät vervierfachte sich der Frauenanteil unter den Studierenden von 1927 bis 1944. Zur Erklärung dieser und anderer anhand des statistischen Materials gemachten Beobachtungen lassen sich allgemeine Entwicklungen und Trends der Hochschullandschaft während der nationalsozialistischen Herrschaft und rechtliche Rahmenbedingungen (Zulassungspolitik) wie auch äußere, insbesondere aus den Kriegsverhältnissen nach 1939 resultierende, Verhältnisse heranziehen. Eine Betrachtung möglicher Auswirkungen der beobachteten Trends auf das Selbstverständnis und die Profilbildung der betroffenen Fächer muss späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.

„Dem Führer entgegenarbeiten“ – NSD-Studentenbund und NSD-Dozentenbund in Greifswald

Jan Mittenzwei Die Geschichte der nationalsozialistischen Parteiorganisationen an der Universität Greifswald, dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) und dem Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbund (NSDDB), sind bisher nicht umfassend erforscht worden. Vorangegangene Untersuchungen konzentrierten sich vornehmlich auf die Geschichte der Studierenden in Greifswald.1 Detaillierte Analysen zum Wirken des NSDStB an der Hochschule finden sich dagegen hauptsächlich für die Phase zwischen „Machtergreifung“ und „Gleichschaltung“. Eine zusammenhängende Darstellung der Geschichte des NSDStB in Greifswald liegt somit noch nicht vor. Dies gilt insbesondere für die zweite offizielle Parteigliederung, dem NSD-Dozentenbund, dessen Geschichte in Greifswald nahezu unerforscht ist. Der folgende Beitrag bemüht sich daher – im Rahmen der Möglichkeiten –, einige inhaltliche Lücken zu schließen und die Funktion und Arbeitsweise dieser beiden offiziellen Parteiorganisationen an der Universität näher zu charakterisieren. Dabei soll insbesondere auch auf Verbindungen zu regionalen und überregionalen Institutionen und Netzwerken der NSDAP eingegangen werden.2 1

2

Vgl. Herold Busch, Greifswalds Studentenschaft in Apologie der Herrlichkeit der Monarchie, ihre politische Haltung als „Akademische Schutztruppe“ gegen den bürgerlich-parlamentarischen Staat, der Weimarer Republik, Greifswalds Studenten im Sog des Nationalsozialistischen Studentenbundes. Studie zur politischen Geschichte der Greifswalder Studentenschaft in der Weimarer Republik in 3 Teilen, Greifswald 1990. Der Beitrag stützt sich für den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund mehrheitlich auf Quellen aus dem Bestand Reichsstudentenführung/Nationalistischer Studentenbund (NS 38) im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde sowie auf Überlieferungen aus dem Universitätsarchiv Greifswald. Leider existieren für die Zeit zwischen 1939 und 1945 nur wenige Quellen, so dass dieser Untersuchungszeitraum gegenwärtig ausgeklammert werden muss. Noch schwieriger gestaltete sich die Quellenlage für den Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbund, da hierfür eine umfangreiche Überlieferung im Bundesarchiv fehlt. Wesentliche Erkenntnisse stammen aus dem Universitätsarchiv Greifswald sowie aus den Beständen für das Reichserziehungsministerium (REM) (R 4901), dem Bestand des „Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“ (NS 15), dem Bestand des ehemaligen Berlin Document Centers und dem Archiv des Instituts für Zeitgeschichte in München.

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Frühe Nationalsozialisten: Studenten in der NSDAP in Pommern und der NSDStB Greifswald

In der preußischen Provinz Pommern waren Studenten der Universität Greifswald bereits früh nationalistisch und antisemitisch radikalisiert.3 In der Greifswalder Studentenschaft dominierte bis 1924 der völkische Hochschulring Deutscher Art, der bei den ASTA-Wahlen sämtliche Sitze gewinnen konnte.4 Auch bei der Gründung der NSDAP in Pommern waren Studenten prominent vertreten. Bereits 1922 formierte sich in Greifswald eine Gruppe Studenten mit dem Ziel, „die völkische Bewegung im Geiste ihres Begründers und Führers, Adolf Hitler, auch in Pommern zum Leben zu erwecken“.5 Beteiligt an dieser Gruppe waren der Philosophiestudent Joachim Haupt sowie die Jurastudenten Reinhard Sunkel, Wilhelm Karpenstein und Gerhard Wendt.6 Eine feste Organisation entstand jedoch erst, als sie den Rektor der Universität Greifswald, Karl Theodor Vahlen, für ihre Pläne gewinnen konnten. Die Gründung der NSDAP in Greifswald erfolgte schließlich im Jahr 1923. Dem „Gründungsmythos“ der NSDAP in Pommern zufolge war das auslösende Ereignis ein Besuch der Studenten Haupt und Sunkel im Büro des neuen Rektors der Universität Greifswald. Vahlen, der 1933 gebeten wurde, die Anfänge der Nationalsozialisten in Pommern zu erläutern, beschrieb die Vorgänge wie folgt: „‚Wann und warum wurden Sie Nationalsozialist?‘ Ich war Rektor und saß auf meinem Amtssessel, als eines Tages der Rat Giesler hereinkommt und sagte, draußen ständen zwei Studenten mit Schillerkragen, die gäben an, Nationalsozialisten zu sein, und wollten mich sprechen.‘ Rat Giesler meinte: ‚Die lassen wir wohl gar nicht erst rein.‘ ‚Na‘, sagte ich, ‚Lassen Sie sie mal vor.‘ Es waren die beiden damaligen Studenten, heutigen Ministerialräte im Kultusministerium, Haupt und Sunckel. Sie baten, Anschläge machen und Vorträge über Nationalsozialisten veranstalten zu dürfen. Mit ihnen und später dem jetzigen Gauleiter Karpenstein zusammen begründeten wir den Gau Pommern der NSDAP.‘“7 Auch in der Folgezeit machten die nationalsozialistischen Studenten in Greifswald auf sich aufmerksam. Insbesondere an den gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei im Zusammenhang mit dem geplanten Besuch des französischen 3

Vgl. Mathias Rautenberg, Die Angehörigen der Universität Greifswald in der faschistischen „Gleichschaltung“ (1933 bis 1936), Diplomarbeit Universität Leipzig 1990, S. 39. 4 Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich, Paderborn 1995, S. 26. 5 Kyra T. Inachin, Die Entwicklung Pommerns im Deutschen Reich, in: Werner Buchholz, Hartmut Boockmann (Hg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas, Berlin 1999, S. 447–508, hier S. 491. 6 Inachin, Entwicklung Pommerns (wie Anm. 5), S. 491. 7 Pommersche Zeitung vom 14. Mai 1933, zitiert nach: Kyra T. Inachin, Der Aufstieg der Nationalsozialisten in Pommern, Schwerin 2002, S. 12.

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Kommunisten Henry Barbusse am 4. August 1924 in Greifswald, dem sogenannten Franzosenmontag,8 waren die Studenten maßgeblich beteiligt. Nach den „Franzosenmontag“ wurde es jedoch ruhig um die nationalsozialistischen Studenten in Greifswald. Neue Impulse zu einem stärkeren organisatorischen Zusammenschluss gingen erst von der Gründung des NSDStB durch Wilhelm Tempel im Jahre 1926 aus. Auf Anregung des nationalsozialistischen Aktivisten Artur von Behr aus Berlin bat die Reichsleitung des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes am 1. November 1927 Heinz Baethge, auch in Greifswald eine Hochschulgruppe zu gründen.9 Ihr Brief schloss mit der Formulierung: „Was wo anders möglich war, wird sich auch in Greifswald ermöglichen lassen. Wir hoffen, in absehbarerer Zeit von Ihren Erfolgen zu hören!“10 Wenige Tage später wurde auf einer Postkarte an den Reichsführer Wilhelm Tempel die Gründung der Greifswalder Hochschulgruppe des NSDStB im theologischen Studienhaus11 bekannt gegeben.12 Bereits am 16. November 1927 konnte die NS-Hochschulgruppe über ihre ersten Schritte berichten.13 Dem Rektor der Universität hatte man ein Gesuch zur Genehmigung der Hochschulgruppe am 10. November 1927 eingereicht, um „dann die Studentenschaft etwas mehr in der Öffentlichkeit bearbeiten [zu können]“.14 Weiterhin wurde vermeldet, dass nur vier der Mitglieder in der Lage seien, Mitgliedsbeiträge zu zahlen und dass man sich mit den „weltanschaulichen und politischen Grundlagen“ befassen werde. In diesem Zusammenhang bat man die Reichsleitung um Redner für eine geplante Studentenversammlung im Januar 1928. Die NS-Hochschulgruppe dachte hierbei an Dr. Joseph Goebbels und Ernst Graf zu Reventlow, „um dann die Studenten ordentlich aufzurütteln“.15 Am 18. November 1927 konnte die Greifswalder Gruppe berichten, dass sich im „Kampf der deutschen Studenten8

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Vgl. dazu Helge Matthiesen, Greifswald in Vorpommern: Konservatives Milieu in Demokratie und Diktatur ; 1900–1990 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 122), Düsseldorf 2000, S. 134f. Vgl. Reichsleitung NSDStB an Heinz Baethge vom 1.11.1927, in: Bundesarchiv (künftig: BArch), NS 38/3629. Vgl. Reichsleitung NSDStB an Heinz Baethge vom 1.11.1927, in: BArch, NS 38/3629. Vgl. Semesterbericht WS 1937/38, in: Mitteilungen für die ehemaligen Mitglieder des theologisch. Studienhauses Greifswald, 8 (1938) Nr. 15/16, S. 11–14. Die „Mitteilungen“ befinden sich im Archiv des Theologischen Studienhauses Greifswald. Für den Hinweis danke ich Klemens Grube (Greifswald). Vgl. Postkarte NS-Hochschulgruppe Greifswald an Wilhelm Tempel vom 9.11.1927, in: BArch, NS 38/3629. Vgl. Heinz Baethge an Wilhelm Tempel vom 16.11.1927, in: BArch, NS 38/3629. Heinz Baethge an Wilhelm Tempel vom 16.11.1927, in: BArch, NS 38/3629. Heinz Baethge an Wilhelm Tempel vom 16.11.1927, in: BArch, NS 38/3629.

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schaft gegen den preußischen Minister Becker […] eine Anzahl nationalsozialistischer Studenten an der Universität Greifswald [veranlasst gesehen hat,] sich in der Hochschulgruppe des N.S.D.St.B. zusammenzuschließen“.16 Tatsächlich blieb es in den folgenden Monaten aber bei den acht Mitgliedern des Greifswalder NSDStB. Darüber hinaus wurden interne Gegensätze deutlich, so dass sich Heinz Baethge am 30. Januar 1928 veranlasst sah, die Führung der Hochschulgruppe Greifswald niederzulegen und vorläufig den Philosophiestudenten Gerhard Krüger mit der Führung derselben zu beauftragen. Als Grund für seinen Rücktritt nannte er „Mißstimmigkeiten mit einigen [Parteigenossen] der [Ortsgruppe] Greifswald“ sowie das mangelnde Vertrauen von Seiten des Gauleiters Walther von Corswant.17 Schon im Mai 1928 berichtete der neue Hochschulgruppenführer Gerhard Krüger, der zusammen mit seinem Bruder Kurt die Führung der NS-Hochschulgruppe übernommen hatte, der Reichsleitung über die Entwicklungen in Greifswald.18 Er vermeldete, dass sich das Verhältnis zu der NSDAP-Ortsgruppe insofern verbessert hätte, als dass die NS-Studentenschaft die Ortsgruppe im Reichstagswahlkampf „nach Kräften unterstützen“19 und sich regelmäßig mit sieben bis acht Mitgliedern an den Anfahrten der SA beteiligen würde. Zugleich behauptete der Greifswalder Hochschulgruppenführer, dass es dem NSD-Studentenbund gelungen sei, „eine Wahlschiebung für die Kammer zu vereiteln“.20 16 Vgl. Heinz Baethge an die Reichsleitung NSDStB vom 18. November 1927, in: BArch, NS 38/3629. 17 Vgl. Heinz Baethge an die Reichsleitung NSDStB vom 30.1.1928, in: BArch, NS 38/3629. Der Rücktritt blieb auch bestehen, obwohl die Reichsleitung des NSDStB diesen nicht bestätigten wollte. In einem Brief vom 3.2.1928 wies die Reichsleitung darauf hin, dass „der Hochschulführer […] bezüglich der Hochschulgruppe und des Kampfes an der Hochschule von der örtlichen Parteileitung wie auch der Gauleitung vollkommen unabhängig“ sei. Vgl. Reichsleitung NSDStB an Heinz Baethge vom 3.2.1928, in: BArch, NS 38/3629. Gleichzeitig übersandte die Reichsleitung einen beiliegenden Brief an den Gauleiter Walther von Corswant. Ob dieser Brief den Gauleiter jemals erreicht hat, lässt sich nicht klären. Angesichts der Tatsache, dass Walther von Corswant die pommersche NSDAP von seinem Gut in Kuntzow aus mit harter Hand führte und auch im Folgenden darauf bedacht war, seine Macht gegenüber konkurrierenden Parteistellen durchzusetzen, musste eine gütliche Verständigung zugunsten Heinz Baethges zumindest unrealistisch erscheinen 18 Vgl. Gerhard Krüger an Reichsleitung NSDStB vom 15.5.1928, in: BArch, NS 38/3629. 19 Gerhard Krüger an Reichsleitung NSDStB vom 15.5.1928, in: BArch, NS 38/3629. 20 Laut Aussage Gerhard Krügers hatten sich der Hochschulring und die nationale Finkenschaft für die Wahl der sogenannten Freien Studentenschaft auf eine Einheitsliste geeinigt in der Hoffnung, dass dies der einzige Wahlvorschlag bleiben würde. Dem stand die NS-Hochschulgruppe gegenüber, die sich ebenfalls an der Wahl beteiligen wollte. Um einen Wahlkampf im nationalen Lager zu verhindern, bot man den nationalsozialistischen Studenten ein bis zwei Plätze auf der

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Das Ergebnis der Wahl zur Kammer der Freien Studentenschaft brachte dem NSDStB in Greifswald den ersten Erfolg. Im Gegensatz zum desaströsen Ergebnis der pommerschen NSDAP bei der Reichstagswahl am 20. Mai 1928, bei der die Partei mit 1,5 Prozent sogar noch unter dem Reichsdurchschnitt von 2,6 Prozent geblieben war, konnten die nationalsozialistischen Studenten sofort 18 Prozent der Stimmen gewinnen.21 Dies ermöglichte dem NSDStB, zwei Vertreter in die Kammer der Freien Studentenschaft zu entsenden. Kurt Krüger wurde 3. Vorsitzender und ein weiteres Mitglied der NS-Hochschulgruppe Leiter des Kulturamtes.22 Die NS-Hochschulgruppe war sich ihres Erfolgs durchaus bewusst. In seinem Brief an die Reichsleitung bat Kurt Krüger, Adolf Hitler, der Ende Juli 1928 an der Universität in Berlin sprechen sollte, davon zu überzeugen, auch vor der Greifswalder Freien Studentenschaft eine Rede zu halten.23 Als Begründung gab er hierfür an, dass der NSDStB bei den Wahlen den höchsten Stimmenanteil an allen deutschen Hochschulen erreicht habe und dass „eine Rede Hitlers […] unter diesen Umständen eine wertvolle Propaganda für unsere Idee bedeuten“ würde.24 Bezüglich der Organisation hätte man schon Kontakt zur örtlichen Polizei aufgenommen, die wiederum die Erlaubnis erteilt hätte. Darüber hinaus war der Greifswalder NSDStB optimistisch, dass bei einer solchen Veranstaltung von 1.073 Mitgliedern der Freien Studentenschaft „sicherlich 700 erscheinen werden“.25 Die gewünschte Anerkennung durch einen Besuch Hitlers blieb aber aus.26 Stattdessen kam es in Greifswald im Anschluss an die Kammerwahlen zu einem Konflikt zwischen dem NSDStB und dem Hochschulring. Wie der Greifswalder NS-Hochschulgruppenführer Gerhard Krüger an den neugewählten Reichsleiter des

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Einheitsliste an. Der Greifswalder NSDStB wollte diesem Vorschlag auch zustimmen. Allerdings erhoben nun Vertreter des Hochschulringes Widerspruch, da man bezweifelte, dass die NS-Hochschulgruppe die für die beiden Sitze notwendige Stimmenzahl erreichen würde. Letztendlich einigten sich die Vertreter des Hochschulringes, der nationalen Finkenschaft und des NSDStB auf einen gemeinsamen Wahlausschuss, in den je ein Vertreter entsandt werden sollte und welcher sich bis zur Kammerwahl um die Geschäfte kümmern sollte. Vgl. Gerhard Krüger an Reichsleitung NSDStB vom 15. Mai 1928, in: BArch, NS 38/3629. Vgl. Kurt Krüger an Reichsleitung NSDStB vom 7.7.1928, in: BArch, NS 38/3629. Vgl. Gerhard Krüger an Reichsleitung NSDStB vom 18.7.1928, in: BArch, NS 38/3629. Vgl. Gerhard Krüger an Reichsleitung NSDStB vom 18.7.1928, in: BArch, NS 38/3629. Gerhard Krüger an Reichsleitung NSDStB vom 18.7.1928, in: BArch, NS 38/3629. Gerhard Krüger an Reichsleitung NSDStB vom 18.7.1928, in: BArch, NS 38/3629. Die Greifswalder NS-Hochschulgruppe bemühte sich in der Folgezeit immer wieder um Redner aus der Parteileitung, ohne dass diese Bemühungen erfolgreich waren. Hochrangige Parteimitglieder, wie der brandenburgische Gauleiter Wilhelm Kube, lehnten es ab vor der Freien Studentenschaft zu sprechen und wollten ihre Reden nur vor Parteiveranstaltungen halten. Vgl. Wilhelm Kube an Reichsleitung NSDStB vom 14.11.1928, in: BArch, NS 38/3629.

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NSDStB, Baldur von Schirach berichtete, hatte der Hochschulring „auf Grund des Wahlkampfes gegen den Hochschulring […] sämtliche Mitglieder des Studentenbundes aus seinen Kreisen ausgeschlossen“.27 Dies hatte insofern Relevanz, als in Greifswald sämtliche Korporationen dem Hochschulring angehörten und die Mitglieder des örtlichen NSDStB nun einen Ausschluss aus ihren Korporationen befürchten mussten.28 Die Lösung bestand schließlich darin, dass sich die zehn Aktivisten der NS-Hochschulgruppe in Korporationen betätigten, in denen sie sich, wie in der Burschenschaft Arminia, in der Überzahl wähnten.29 Auch in dem Verein deutscher Studenten oder der Verbindung Wartburg mussten sie durch ihre NSDStB-Mitgliedschaft keinen Ausschluss befürchten.30 Bei den Kammerwahlen des Jahres 1929 konnte der Greifswalder NSDStB sein Ergebnis steigern. Wenngleich die Wahlbeteiligung aus Sicht der NS-Hochschulgruppe, trotz des Einsatzes von 1.500 Flugblättern,31 enttäuschend gewesen war, waren nunmehr drei NSDStB-Mitglieder in der Kammer vertreten.32 Darüber hinaus hatte man noch einen Sitz in der Lesehallenkommission erhalten. Nach Aussagen des neuen NSHochschulführers Kurt Schmidt waren insgesamt 16 Mitglieder im örtlichen NSDStB organisiert. Hinsichtlich der zukünftigen politischen Arbeit führte er aus: „Da wir hier an der Hochschule, wie überhaupt in ganz Pommern auf ziemlich reaktionärem Boden zu kämpfen haben, planen wir, das vom Objektivitätsfimmel besessene Studikerspießertum zunächst mit drei großen sog. wissenschaftlich-politischen Diskussionsabenden, in denen voraussichtlich Pg. Hr. Karpenstein, Rechtsanwalt Dr. Jarmer und ein dritter noch zu bestimmender nacheinander sprechen werden, zu kitzeln.“33 In der Folgezeit kam es zu ständigen Wechseln in der Führung der Greifswalder NS-Hochschulgruppe.34 Diese scheinbare Instabilität der NS-Hochschulgruppe 27 Gerhard Krüger an Reichsleitung NSDStB vom 18.7.1928, in: BArch, NS 38/3629. 28 Vorläufig war davon allerdings nur ein Mitglied der NS-Hochschulgruppe betroffen, dem die Sängerverbindung Gotia jede Mitarbeit im NSDStB verbot, ihm allerdings eine Mitgliedschaft innerhalb der NSDAP freigestellt hatte. Vgl. Gerhard Krüger an Reichsleitung NSDStB vom 18.7.1928, in: BArch, NS 38/3629. 29 Vgl. Gerhard Krüger an Reichsleitung NSDStB vom 21.6.1929, in: BArch, NS 38/3629. 30 Vgl. Gerhard Krüger an Reichsleitung NSDStB vom 21.6.1929, in: BArch, NS 38/3629. 31 Vgl. unsignierter Brief an Reichsleitung des NSDStB von 1929, in: BArch, NS 38/3629. 32 Vgl. Kurt Schmidt an Reichsleitung NSDStB vom 12.5.1929, in: BArch, NS 38/3629. 33 Kurt Schmidt an Reichsleitung NSDStB vom 12.5.1929, in: BArch, NS 38/3629. 34 Auf Gerhard Krüger, der an die Universität Leipzig gewechselt war, folgte der bereits erwähnte Kurt Schmidt als Führer der Greifswalder NS-Hochschulgruppe. Dieser wurde am 3. Mai 1929 von der Reichsleitung bestätigt. Wenige Monate später bat Schmidt die Reichsleitung des NSDStB, ihn zum 1. Januar 1930 von seinem Amt zu entlassen und schlug Karl Königstein als Nachfolger vor. Dieser gab in seinem Brief an von Schirach vom 11. Januar 1930 vollmundig an, dass er seine „ganze Kraft in den Dienst der Bewegung stellen [werde] und daß [er sich] be-

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verdeckt allerdings die Tatsache, dass sich zwischen 1929 und 1930 der eigentliche Aufstieg des NSDStB in der Greifswalder Studentenschaft vollzog. In diesem Sinne berichtete Karl Königstein im Mai 1930, dass bei einer Rede Wilhelm Karpensteins auf einer Studentenversammlung bereits 400 Studenten anwesend gewesen seien.35 Schließlich hatten die AStA-Wahlen36 im Februar 1930 der NS-Hochschulgruppe ein fulminantes Ergebnis beschert. Bei dieser Wahl hatte der NSDStB 8 der 15 Sitze errungen.37 Zusätzlich dazu war ein Vertreter des Hochschulrings zu der Fraktion des NSDStB übergetreten und ein weiteres Kammermitglied war NSDAP-Parteimitglied geworden.38 Somit verfügte die NS-Hochschulgruppe bereits 1930 über eine Zweidrittelmehrheit in der Kammer. Als Reaktion auf den Wahlerfolg der nationalsozialistischen Studenten traten die Vertreter des Hochschulrings Deutscher Art aus der Kammer der Freien Studentenschaft aus und überließen dem NSDStB die Vertretung studentischer Interessen. Als Grund für diesen Schritt gaben sie an, dass die NS-Hochschulgruppe „die Arbeitsgebiete der Studentenschaft lediglich als Propagandafeld für parteipolitische Zwecke“39 betrachte. Angesichts dieses Erfolgs radikalisierte sich die nationalsozialistische Studentenschaft in Greifswald zunehmend. So berichtete der Greifswalder Hochschulgruppenführer Karl Königstein, dass ein großer Teil der Hochschulgruppe der SA angehörte und man sich bereits am 19. Mai 1930 an einer Saalschlacht in Anklam beteiligt hatte.40 Das wirkte sich natürlich auf das Klima an der Hochschule aus. Schon 1930 riet der Universitätskurator dem preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker von Besuchen in Greifswald ab, da „die Greifswalder Studentenschaft […] überwiegend nationalsozialistisch radikalisiert“41 sei.

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mühen werde hier oben in Pommern ein zweites Erlangen zu schaffen“. Nur vier Monate später bat auch Königstein die Reichsleitung, sein Amt aufgrund der Arbeitsbelastung niederlegen zu dürfen. Vgl. Reichsleitung NSDStB an Kurt Schmidt vom 3.5.1929; Kurt Schmidt an Reichsleitung NSDStB vom 12.12.1929; Karl Königstein an Baldur von Schirach vom 11.1.1930; Karl Königstein an Reichsleitung NSDStB vom 25.5.1930, alle in: BArch, NS 38/3629. Vgl. Karl Königstein an Reichsleitung NSDStB vom 25.5.1930, in: BArch, NS 38/3629. Vgl. Karl Königstein an Baldur von Schirach vom 11.1.1930, in: BArch, NS 38/3629. Vgl. Bericht des Landrates von Greifswald vom 8.7.1930, in: Landesarchiv Greifswald (künftig: LAGw), Rep. 65c Nr. 974, Bl. 189. Vgl. Karl Königstein an Baldur von Schirach vom 11.1.1930, in: BArch, NS 38/3629. Erklärung Hochschulring Deutscher Art vom 30.5.1930, in: Universitätsarchiv Greifswald (künftig: UAG), Med. Fak. I-122, Bl. 250r. Vgl. Karl Königstein an Reichsleitung des NSDStB vom 25.5.1930, in: BArch, NS 38/3629. Zitiert nach Dirk Mellies, Karl-Heinz Borchardt, Greifswald – 10. Mai 1933 auf dem Marktplatz, in: Julius H. Schoeps (Hg.), Orte der Bücherverbrennungen in Deutschland 1933 (= Wissenschaftliche Begleitbände im Rahmen der Bibliothek verbrannter Bücher; Bd. 1), Hildesheim 2008, S. 392–409, hier S. 393.

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Diese Radikalisierung innerhalb der NS-Hochschulgruppen führte allerdings auch zu einem Konflikt mit der Reichsleitung des NSDStB und dessen Reichsleiter. Baldur von Schirach verfolgte im Kampf um die Vorherrschaft in der deutschen Studentenschaft eine weniger konfrontative Politik als die Mehrzahl der NS-Hochschulgruppen, so dass es zwischen 1930 und 1931 zum offenen Konflikt zwischen Reichsleitung und NS-Hochschulgruppen kam.42 Den Anfang machte Reinhard Sunkel, der 1930 auf Vorschlag des Greifswalder NS-Hochschulgruppenführers Karl Königstein43 die Führung der Hochschulgruppe in Erlangen übernommen hatte. Dort rief er anlässlich der Einweihung des Denkmals für die gefallenen Studenten des Ersten Weltkrieges zum radikalen Umsturz der Weimarer Republik auf: „[…] der heutige Staat hat es verschmäht, sich auf die männlichen und heroischen Kräfte des Krieges und des Volkes zu gründen. Er verschmäht es, die Ehre der Nation zu vertreten; und darum sagen wir, die wir im Feuer jener Ideen leben, für die 2 Millionen Deutsche starben, daß die Beseitigung des derzeitigen Staates oberstes Gebot für jeden bewußten Deutschen ist.“44 Innerhalb der radikalen NS-Hochschulgruppen konnte sich Reinhard Sunkel damit profilieren. Als der Vorstand des NSDStB zum Entsetzen der NS-Hochschulgruppen auf dem Breslauer Studententag im Juli 1930 die Deutsche Studentenschaft unterstützte, gehörte Sunkel zu denjenigen, die ein Beschwerdeschreiben an die Parteiführung aufsetzten.45 Die NS-Hochschulgruppen forderten nun die Absetzung von Schirachs und die Einsetzung Reinhard Sunkels als künftigen Führer des NSDStB. Von Schirach reagierte auf diese Fundamentalopposition, indem er Sunkel zu seinem Stellvertreter machte.46 Dieser scheinbare Frieden dauerte allerdings nur wenige Monate. Im Februar 1931 brach der Konflikt erneut auf, als von Schirach Sunkel suspendierte und ihn aus dem NSD-Studentenbund warf.47 Sunkel wiederum versandte an alle NS-Hochschulgruppen Denkschriften, denen er eine Austrittserklärung beifügte. Bis Ende März 1931 unterzeichneten 31 Hochschulgruppen, zwei Studentenschaften und drei NSDStB-Kreisleitungen diese Erklärung.48 Zu den Unterzeichnern gehörte auch die Greifswalder Hochschulgruppe. Sie weigerte sich auch auf Druck der NSDStB-Reichsleitung, ihre Erklärung zurückzuneh42 Vgl. Anselm Faust, Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund, Bd. 1, Düsseldorf, München 1973, S. 154. 43 Vgl. Karl Königstein an Reichsleitung NSDStB vom 25.5.1930, in: BArch, NS 38/3629. 44 Auszug aus der Rede von Reinhard Sunkel am 1.7.1930, zitiert nach: Manfred Franze, Die Erlanger Studentenschaft 1918 – 1945, Würzburg 1972, S. 120. 45 Vgl. Faust, Studentenbund (wie Anm. 42), S. 154. 46 Vgl. Faust, Studentenbund (wie Anm. 42), S. 159. 47 Vgl. Faust, Studentenbund (wie Anm. 42), S. 160. 48 Vgl. Denkschrift Ernst Anrich und Reinhard Sunkel vom März 1931, in: BArch, NS 22/421. Vgl. dazu auch: Faust, Studentenbund (wie Anm. 42), S. 161.

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men. Daraufhin löste der zuständige NSDStB-Kreisleiter die NS-Hochschulgruppe Greifswald auf.49 Der Greifswalder Hochschulgruppenführer Finke wollte diesen Angriff parieren, indem er versuchte, die NS-Hochschulgruppe der Organisation der pommerschen NSDAP zu unterstellen.50 Dieser Versuch wurde allerdings vom Reichsorganisationsleiter Gregor Strasser unterbunden.51 Am 2. Mai 1931 beendete Adolf Hitler den Konflikt innerhalb des NSDStB, indem er sich auf die Seite von Schirachs stellte. Daraufhin gab auch die Greifswalder NS-Hochschulgruppe ihren Widerstand52 auf und unterstellte sich erneut der NSDStB Reichsleitung.53 Anfang 1931 nahm die NS-Studentenschaft an den Ausschreitungen gegen die Greifswalder Professoren Konrat Ziegler und Fritz Klingmüller teil.54 Der Anlass zu diesen Protesten war eine Einladung zu einer Veranstaltung des Republikanischen Studentenbundes für Neuimmatrikulierte, auf der Ziegler und Klingmüller sprechen sollten. Diese Einladung wurde vom Greifswalder Theologiestudenten und Stahlhelm-Mitglied Alfred Lubbe mit der Begründung abgelehnt, der Republikanische Studentenbund und seine Redner seien Personen, die „für ausländisches Geld mein Vaterland verraten haben und meine engere Heimat Ostpreußen vernichten wollen“.55 Aufgrund dieser Äußerungen beantragte der Vorstand des Republikanischen Studentenbundes ein Disziplinarverfahren gegen Lubbe, welches am 7. März 1931 in einer Bestrafung Lubbes mündete. Darüber hinaus hatten Konrat Ziegler, Fritz Klingmüller und der Landrat Werner Kogge eine Privatklage vor dem Amtsgericht in Greifswald gegen Lubbe eingereicht. Daraufhin protestierte der Großteil der Greifswalder Studenten vor dem Universitätsgebäude. Unterstützung erhielten die Studenten vom Rektor und dem Senat, die „volles Verständnis für die Erregung der Studentenschaft“56 bekundeten. Tage später wurden bei Ziegler die Fenster einge49 Vgl. Rudolf Schultze an NSDStB-Hochschulgruppe Greifswald vom 23.4.1931, in: BArch, NS 22/421. 50 Vgl. Finke an Strasser vom 25.4.1931, in: BArch, NS 22/421. 51 Vgl. Faust, Studentenbund (wie Anm. 42), S. 163. 52 Der Widerstand der Greifswalder Hochschulgruppe ist auch von Bedeutung, wenn man bedenkt, dass sich zur gleichen Zeit die pommersche NSDAP durch die Stennes-Revolte in einer schweren politischen Krise befand. 53 Vgl. Finke an Reichsleitung NSDStB vom 7.5.1931, in: BArch, NS 38/3629. 54 Vgl. dazu ausführlich Maud Antonia Viehberg, Restriktionen gegen Greifswalder Hochschullehrer im Nationalsozialismus, in: Werner Buchholz (Hg.), Die Universität Greifswald und die deutsche Hochschullandschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Kolloquium des Lehrstuhls für Pommersche Geschichte der Universität Greifswald in Verbindung mit der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (= Pallas-Athene; 10), Stuttgart 2004, S. 271–308, hier S. 286–292. 55 Zitiert nach Viehberg, Restriktionen (wie Anm. 54), S. 287. 56 Zitiert nach Viehberg, Restriktionen (wie Anm. 54), S. 288.

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worfen und es kam zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.57 Der Konflikt endete erst, als sich das preußische Kultusministerium einschaltete und ein Disziplinarverfahren verlangte. Lubbe widerrief seine Äußerungen zunächst vor den Universitätsbehörden und anschließend vor Gericht und wurde aus diesem Grund nicht bestraft. Das Verhalten von Rektor und akademischem Senat im Fall Lubbe blieb kein Einzelfall. Stattdessen wurde in der Folgezeit deutlich, dass die Hochschulleitung wenig geneigt war, sich gegen die nationalsozialistischen Studenten zu stellen. Wie ein Bericht des Universitätskurators nahelegt, bemühte sich der Rektor Kurt Deißner vielmehr aktiv darum, die nationalsozialistischen Studenten für sich zu gewinnen: „Der Rektor Deißner war unmittelbar vor dieser Kundgebung auf einem von ihm und dem Senat veranstalteten Herrenessen von dem Bataillonskommandeur wegen seiner ganz besonderen Verdienste gefeiert worden, deren Bedeutung man erst in 10 Jahren erkennen werde, wenn man mehr Abstand von der Zeitströmung gewonnen habe. Beide Herren arbeiten systematisch daran, Lehrkörper und Garnison in vertrauensvoller Fühlung mit der Studentenschaft zu halten. In den besonderen politischen Verhältnissen Greifswald’s [sic!] und Pommerns ist diese Politik natürlich nur möglich, wenn man rechtsradikalen Gedankengängen ein großes Stück entgegenkommt. Der Rektor Deißner wird von dem Teil seiner Kollegen, der nach außen hin hier eine Rolle spielt, laut als der Mann gefeiert, dessen Aktivität es zu danken sei, daß zwischen Lehrkörper und Studenten ein stark betontes gutes Einvernehmen herrsche.“58 Gegen Ende der Weimarer Republik wurden die Mitglieder des Greifswalder NSD-Studentenbundes immer häufiger zu den gewalttätigen Aktionen der SA herangezogen. Höhepunkt dieser Entwicklung bildete der sogenannte Greifswalder Blutsonntag am 17. Juli 1932. Nach einem SA-Aufmarsch war es hierbei zu einer Straßenschlacht in einer von Kommunisten bewohnten Gegend gekommen, bei der 27 Personen verletzt wurden und drei Nationalsozialisten ihr Leben verloren.59 Da einer der toten Nationalsozialisten, Bruno Reinhard, Student der Universität gewesen war, hielt Rektor Deißner eine Rede, in der er Reinhard würdigte, der „in treuer Pflichterfüllung für seine Überzeugung von des Vaterlandes Größe, Macht und Freiheit“60 gefallen sei. Die aufgewühlte nationalistische Stimmung in der Stadt führte auch an der Universität zu gewaltsamen Ausschreitungen. Einen Tag nach den blutigen Er57 Vgl. „Greifswalder Universitätskrach“, in: Burschenschaftliche Blätter, 45 (1931), in: BArch, NS 38/2284. 58 Kurator an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 19.1.1932, in: UAG, Kurator K 1826, Bl. 29. 59 Vgl. Matthiesen, Greifswald (wie Anm. 8), S. 275. 60 Greifswalder Zeitung (künftig: GZ) vom 22.7.1932, zitiert nach: Matthiesen, Greifswald (wie Anm. 8), S. 275.

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eignissen berichtete die Greifswalder Zeitung, dass nationalsozialistische Studenten einen Kommilitonen verprügelt hätten, weil dieser angeblich an der Schießerei beteiligt gewesen sei.61 Die Polizei musste eingreifen. Nachdem sich die nationalsozialistischen Studenten darüber beschwert hatten, dass einer ihrer Kommilitonen von einem Polizeibeamten mit dem Gummiknüppel geschlagen worden war, versprach Rektor Deißner ihnen „volle Unterstützung bei Vertretung der studentischen Belange“.62 Für die NS-Hochschulaktivisten markierte der Greifswalder Blutsonntag den Höhepunkt ihrer „Kampfzeit“. Sie bezogen sich in späteren Jahren häufig auf dieses Ereignis. So wurde im Herbst 1933 dem Kameradschaftshaus des NSDStB der Name „Reinhardhaus“ verliehen und auf einem Ehrenmal in der Universität der Greifswalder „SA-Gefallenen“ gedacht. Der spätere Führer der Deutschen Dozentenschaft, Heinz Lohmann, verherrlichte die Ereignisse in seinem Buch „SA räumt auf“. 63 Auch die pommersche NSDAP nutzte den Tod für ihre Propaganda. Dabei wurde auch deutlich, wie stark die Verbindung zwischen NSDAP und NSD-Studentenbund in Greifswald war. Bei der Trauerfeier für Reinhard sprach nicht nur der pommersche Gauleiter Wilhelm Karpenstein. Auch der neue Führer der Deutschen Studentenschaft und ehemalige Führer der NS-Hochschulgruppe Greifswald, Gerhard Krüger, war anwesend.64

Die Machtübernahme der nationalsozialistischen Studenten an der Hochschule

Mit dem 30. Januar sahen die nationalsozialistischen Studenten ihre Chance zur radikalen Umgestaltung der Hochschule gekommen. Sie vollzog sich zunächst im Kampf gegen die vermeintlichen Gegner. Als am 25. April 1933 das Reichskabinett das „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ verabschiedete, das die Zulassung jüdischer Studenten zum Studium beschränken sollte, drängte der Führer der Greifswalder Studentenschaft, Karl Heinrich Koepke, auf eine Verschärfung dieser Bestimmungen. Ursprünglich war vorgesehen, dass die Zahl der jüdischen Studenten an den einzelnen Fakultäten höchstens 5, die der Neuimmatrikulationen nur 1,5 Prozent betragen sollte. Da sich aber in Greifswald unter den rund 61 Vgl. Beitrag „Schon wieder Unruhen“, in: GZ vom 18.7.1932, in: UAG, Kurator K 1826, Bl. 48. 62 Beitrag „Schon wieder Unruhen“, in: GZ vom 18.7.1932, in: UAG, Kurator K 1826, Bl. 48. 63 Vgl. Heinz Lohmann, SA räumt auf! Aus der Kampfzeit der Bewegung. Aufzeichnungen, Hamburg 1933. 64 Vgl. Greifswalder Universitätszeitung – Nachrichtenblatt der Studentenschaft der Ernst-MoritzArndt-Universität, 8 (1933) Gedenkheft, S. 13.

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2.000 Studenten nur drei jüdische Studierende65 nachweisen ließen, beschlossen die Dekane in einer Besprechung mit dem Greifswalder Studentenführer, die Höchstgrenze um das Zehnfache herabzusetzen, nicht zuletzt um den befürchteten Zuzug jüdischer Studenten im nächsten Semester zu verhindern.66 Auch gegen die politischen Gegner innerhalb der Studentenschaft gingen die NSAktivisten vor. Mit dem Erlass des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 29. Juni 1933 wurde beschlossen, dass alle „Studierenden an Preußischen Hochschulen, die sich in den letzten Jahren nachweislich im kommunistischen Sinne betätigt haben […], mit sofortiger Wirkung vom Universitätsstudium auszuschließen“67 seien. Zur schnellen Feststellung sollte hierbei auf die Mitarbeit der örtlichen Studentenschaften zurückgegriffen werden. Von diesem Erlass betroffen waren die beiden Greifswalder Studenten Walter Orloff und Peter Adler, die wegen Hochverrat verhaftet und anschließend vom Studium relegiert wurden.68 Walter Orloff, der Bürger der Vereinigten Staaten war, wurde vorgeworfen, sich kommunistisch betätigt zu haben. Peter Adler dagegen soll an Sitzungen der Internationalen Arbeiterhilfe und an Gewerkschaftsveranstaltungen teilgenommen haben. Darüber hinaus wurde Adler die Nähe zu den Ereignissen des „Greifswalder Blutsonntags“69 unterstellt.70 Zumindest Walter Orloff bestritt den Vorwurf vehement. Trotz der Intervention der amerikanischen Botschaft musste Orloff einen Monat in Schutzhaft verbringen, bevor ihm die Ausreise in die Vereinigten Staaten gestattet wurde. Es ist anzunehmen, dass die Verhaftung und Relegation der beiden Studenten aufgrund 65 Wolfgang Wilhelmus, Juden in Vorpommern (= Beiträge zur Geschichte Mecklenburg-Vorpommern; Nr. 8), Schwerin 2007, S. 75. 66 Vgl. Wolfgang Wilhelmus u.a., Universität Greifswald. 525 Jahre, Berlin 1982, S. 41. 67 Erlass des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 29.6.1933, in: UAG, Kurator K 1760, Bl. 55. Dieser Erlass wurde am 9.8.1933 auf diejenigen ausgeweitet, „die sich in den letzten Jahren nachweislich in marxistischem (kommunistischem oder sozialdemokratischen [sic]) oder sonst antinationalem Sinne aktiv betätigt haben“. Erlass des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 9.8.1933, in: UAG, Kurator K 1760, Bl. 56. 68 Vgl. Sitzung des akademischen Senats am 13. Juli 1933, in: UAG, Altes Rektorat R 2200, Bl. 77–78; Rektor an Kurator vom 21.9.1933, in: UAG, Kurator K 1760, Bl. 57. 69 Die Begründung wurde auch von der NSDAP in Greifswald zum Anlass genommen, vermeintliche Gegner in Schutzhaft nehmen zu lassen. In den Schutzhaftlisten für Greifswald finden sich Namen von sechs Personen, die Anfang März auf „Antrag der Führer der N.S.D.A.P. in Schutzhaft genommen“ wurden. Als Grund wurde hierbei immer die Beteiligung am „Greifswalder Blutsonntag“ angegeben. Vgl. Oberbürgermeister Greifswald an Staatspolizeistelle Stettin vom 28.9.1933, in: Russisches Staatliches Militärarchiv (künftig: RGVA), Fond 503, Opis 1, Akte 414, Bl. 56–61. 70 Vgl. Beschluss des akademischen Senats gegen Peter Adler vom 13.7.1933, in: UAG, Kurator K 1755, Bl. 211.

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von Denunziationen aus der nationalsozialistischen Greifswalder Studentenschaft erfolgte.71 Der Führer der Greifswalder Studentenschaft, Manfred Pechau, verweigerte Peter Adler später im Namen der Studentenschaft die Wiederzulassung zum Studium. Dieses Votum nutzte auch Rektor Wilhelm Meisner, um sich gegen die Wiederaufnahme Adlers auszusprechen. Wie das Beispiel der Studentin Helene Tietz zeigt, waren Denunziationen unter Studenten nicht unüblich. Helene Tietz wurde nach der „Machtergreifung“ von einer Mitstudentin als Kommunistin denunziert. Bei einem Disziplinarverfahren wurde sie zwar freigesprochen, die ANSt-Hochschulgruppenführerin Ruth Feldmann wollte sich mit dieser Entscheidung allerdings nicht zufrieden geben. In einem Bericht an die Deutsche Dozentenschaft beklagte sie sich nun über den medizinischen Fachschaftsleiter Waldemar Schumann, der Helene Tietz bei der Untersuchung geschützt haben soll. Ihre Ausführungen schloss sie mit der Bemerkung: „In meiner Eigenschaft als Hochschulgruppenführerin im Nat.-Soz. Studentenbund habe ich Herrn Sch. wiederholt darauf hingewiesen, dass es seine Pflicht sei dafür zu sorgen, dass Frl. Tietz aus der Klinikerschaft ausgeschlossen werde.“72 Wie stark der Anspruch der nationalsozialistischen Studenten auf eine führende Rolle bei der Umgestaltung der Hochschule war, zeigte sich auch an der Forderung der Greifswalder Studentenschaft, Theodor Vahlen nach Greifswald zurückzuberufen. In einem Telegramm an den preußischen Kultusminister Bernhard Rust forderten sie die Wiedereinsetzung Vahlens. Zur Begründung hieß es in der Greifswalder Hochschulzeitung, dass „das preußische Kultusministerium durch Denunziationen aus hiesigen Professorenkreisen zu seinem unglaublichen Vorgehen gegen Professor Vahlen veranlaßt worden war“.73 Dieser Vorwurf bezog sich auf die Professoren Konrat Ziegler und Fritz Klingmüller, die bereits im Fall Lubbe Position gegen die nationalsozialistischen Studenten bezogen hatten. Die Greifswalder Studentenschaft versuchte, die Unterstützung der Deutschen Studentenschaft für einen Boykott gegen Klingmüller und Ziegler zu erhalten.74 Zu diesem offiziellen Boykott scheint es allerdings nicht mehr gekommen zu sein. Bereits am 2. Mai 1933 wurden die beiden Hochschulleh71 An der Sitzung des akademischen Senats, in der über den Ausschluss von Studierenden wegen kommunistischer Betätigung verhandelt wurde, nahm auch der Führer der Greifswalder Studentenschaft Jürgen Soenke teil. Vgl. Sitzung des akademischen Senats am 13. Juli 1933, in: UAG, Altes Rektorat R 2200, Bl. 77–78. 72 Ruth Feldmann, Ergänzung zum Schreiben an die Deutsche Dozentenschaft vom 14.7.1934, in: BArch, NS 38/4129. 73 Vgl. Aufruf für die Rückberufung von Prof. Vahlen, in: Greifswalder Hochschulzeitung – Nachrichtenblatt der Freien Studentenschaft der Universität Greifswald, 8 (1933) Nr. 2, S. 24–25. 74 Vgl. Hauptamtsleiters des Amtes Wissenschaft der Deutschen Studentenschaft an Führer der Universität Greifswald vom 10.5.1933, in: BArch, NS 38/2019.

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rer auf Grundlage des Gesetzes über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums durch das preußische Kultusministerium beurlaubt.75 Dies genügte dem pommerschen NSDAP-Gauleiter und ehemaligen Greifswalder Studenten Wilhelm Karpenstein jedoch nicht, der erfolgreich deren Entlassung einforderte.76 Am 12. Mai 1933 wurde Karl Theodor Vahlen von der Greifswalder Studentenschaft gemeinsam mit SA, Korporationen und Stahlhelm unter Jubel am Bahnhof empfangen. Darüber hinaus waren die NS-Studenten maßgeblich an weiteren Entlassungen beteiligt. Am 1. April 1933 erschienen der Lektor Hermann Brüske, NSDAPKreisleiter Fritz Hube, SA-Standartenführer Arwed Theuermann und die NSDStBMitglieder Jürgen Soenke77 und Pfaff beim Kurator der Greifswalder Universität Dr. Hermann Sommer, um die Entlassung des jüdischen Assistenzarztes Dr. Julius Zádor einzufordern.78 Zádor bat noch am selben Tag um seine Beurlaubung.79 Tage später, am 5. April 1933, forderte Hermann Brüske zusammen mit dem NSDStB die Entziehung der Ehrendoktorwürde für den Konsul Arthur Kunstmann und die Entziehung der Ehrensenatorenwürde für den ehemaligen pommerschen Oberpräsidenten Julius Lippmann. Am 10. Mai 1933 wurde der Lektor für schwedische Sprache, Dr. Stellan Arvidson, entlassen. Gegen ihn hatte der Leiter des Nordischen Amtes der Studentenschaft, Günther Falk, Material gesammelt, welches er an das Preußische Kultusministerium weitergab.80 Falk war ebenfalls mitverantwortlich für die Entlassung der norwegischen Lektorin, die er als „Halbjüdin“ denunzierte.81 Eine weitere studentische Denunziation betraf den Professor Fritz Wrede.82 Höhepunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme an der Universität war die Bücherverbrennung auf dem Greifswalder Marktplatz. Bereits am 8. April 1933 wurde die Greifswalder Studentenschaft über die geplante Aktion informiert. Ver75 Vgl. Sitzung des akademischen Senats am 11. Mai 1933, in: UAG, Altes Rektorat R 2200, Bl. 71–72; Wilhelmus, Universität Greifswald (wie Anm. 66), S. 41. 76 Vgl. Viehberg, Restriktionen (wie Anm. 54), S. 291. 77 Jürgen Soenke trat 1929 in SA und NSDStB ein. Seit 1931 war er Mitglied bei der SS und wurde Schriftleiter der Greifswalder Universitätszeitung. Seit dem 1.11.1932 war Soenke Führer der NSDStB-Hochschulgruppe Greifswald. Am 28.4.1933 wurde er zum Führer der Greifswalder Studentenschaft und am 15.9.1933 zum stellvertretenden Führer der deutschen Studentenschaft ernannt. Vgl. Lebenslauf Jürgen Soenke vom 13.10.1933, in: UAG, Kurator K 1933, Bl. 115– 116. 78 Vgl. Erklärung Brüske, Hube, Theuermann, Soenke, Pfaff an Kurator vom 1.4.1933, in: UAG, Kurator K 718, Bl. 27r. 79 Zador an Kurator vom 1.4.1933, in: UAG, Kurator K 718, Bl. 28r. 80 Beitrag „Was ist mit Lektor Arvidson?“, in: Greifswalder Universitätszeitung – Mitteilungsblatt der Studentenschaft an der Universität Greifswald, 8 (1933) Nr. 3, S. 36–37. 81 Undatierter Tätigkeitsbericht Günther Falk, in: BArch, NS 38/2476. 82 Rautenberg, Die Angehörigen (wie Anm. 3), S. 58–60.

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antwortlich für die Durchführung in Greifswald war der Leiter des Amtes Propaganda der Greifswalder Studentenschaft Ernst Lange.83 Lange wandte sich am 26. April 1933 mit einem Aufruf der Greifswalder Studentenschaft an die Bevölkerung und forderte sie auf, ihre „Bücherbretter“ von den „Feinden deutschen Geistes“ zu reinigen und die Bücher bis zum 1. Mai in das Studentenhaus zu bringen.84 Am 10. Mai versammelten sich schließlich „studentische Vereine und Korporationen, der Stahlhelm in geschlossener Front und SA“85 auf dem Marktplatz, in dessen Mitte ein Holzstoß aus beschlagnahmten sozialdemokratischen und kommunistischen Transparenten, Fahnen und Flugblättern errichtet worden war. Nach einer Rede eines Vertreters der nationalsozialistischen Studenten wurden anschließend die abgelieferten Bücher ins Feuer geworfen.86 Damit wollten sich die Vertreter der Greifswalder NSStudentenschaft jedoch nicht begnügen. Im Anschluss an die Bücherverbrennung begannen sie mit einer „Aktion für den deutschen Geist“, die unter den Ereignissen der reichsweiten Bücherverbrennung eine Besonderheit darstellte. Begründet wurde dieser Schritt wie folgt: „Wir wollen jedoch nicht negativ bleiben und werden anschließend an die Verbrennung eine Aktion der positiven Werbung für echte, volksverbundene Literatur veranstalten. Männer und Bücher, die man bisher totgeschwiegen hat, werden wir vierzehn Tage lang in der hiesigen Presse in einem täglichen Artikel unter der Überschrift ‚Für den deutschen Geist‘ besprechen und empfehlen“.87 Die Besprechungen wurden in der Pommerschen Zeitung, der parteiamtlichen Zeitung der NSDAP in Pommern, veröffentlicht und durch theoretische Einführungsartikel ergänzt. Die gesammelten 14 Artikel erschienen anschließend in Form einer Broschüre. Unter der Ägide von Manfred Pechau folgten dieser Broschüre noch drei weitere Hefte.88 Die Publikationen beeindruckten schließlich auch die Führung der Deutschen Studentenschaft in Berlin, die einige Exemplare anforderte.89 83 Vgl. Mellies/Borchardt, Greifswald (wie Anm. 41), S. 394. 84 Vgl. „Unser Kampf wider den undeutschen Geist – Aufruf der Greifswalder Studentenschaft an die Greifswalder Bevölkerung“, in: Greifswalder Universitätszeitung – Mitteilungsblatt der Studentenschaft an der Universität Greifswald, 8 (1933) Nr. 3, S. 31–32. 85 Mellies/Borchardt, Greifswald (wie Anm. 41), S. 395. 86 Vgl. Mellies/Borchardt, Greifswald (wie Anm. 41), S. 395–396. 87 „Unser Kampf wider den undeutschen Geist – Aufruf der Greifswalder Studentenschaft an die Greifswalder Bevölkerung“, in: Greifswalder Universitätszeitung – Mitteilungsblatt der Studentenschaft an der Universität Greifswald, 8 (1933) Nr. 3, S. 31f. 88 Die zweite Broschüre wurde den Kriegsgefallenen des Ersten Weltkriegs gewidmet. Das dritte Heft thematisierte eine vom Kultusministerium geförderte Ausstellung zu zeitgenössischer Bildender Kunst, die außerdem vom pommerschen Gauleiter Wilhelm Karpenstein unterstützt wurde. Das vierte Heft wiederum behandelte das „Deutsche Theater“. 89 Vgl. Mellies/Borchardt, Greifswald (wie Anm. 41), S. 396–399.

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Die Gleichschaltung der Greifswalder Studentenschaft

Im Laufe des Jahres 1933 setzte innerhalb der SA und des NSDStB ein Massenzustrom ein. Dies hatte zur Folge, dass im Sommer 1933 der Großteil der Greifswalder Studenten im NSDStB organisiert war. Auf einer namentlichen Liste, die der NSDStB-Reichsleitung am 5. August 1933 zuging, wurden 670 NSDStB-Mitglieder in Greifswald aufgeführt.90 Die Mehrheit der Mitglieder war im Mai 1933 dem ­NSDStB beigetreten. Wie aus Stärkemeldungen an den NSDStB-Kreisleiter hervorgeht, erreichte die Mitgliedszahl im August 1933 ihren Höchststand. Demnach waren in Greifswald 1.039 NSDStB-Mitglieder gemeldet.91 Auch bei der ANSt setzte ein Zustrom an Mitgliedern ein. Im Februar 1934 waren von 193 Studentinnen 33 (17,1 Prozent) Mitglied bei der ANSt.92 Die Greifswalder NS-Hochschulaktivisten bemühten sich seit dem Sommer 1933, die Gunst der Stunde zu nutzen und den Studenten ihre Vorstellungen von nationalsozialistischer Politik näherzubringen. Um diese Bemühung auch institutionell zu verankern, forderte der Vertreter des NSDStB im Akademischen Senat, Koepke, dass ab dem folgenden Semester an allen Fakultäten politische Vorlesungen gehalten werden sollten.93 Unterstützt wurden die NS-Hochschulaktivisten durch alte Parteigenossen, wie den Lektor Hermann Brüske, sowie durch prominente Vertreter der NSDAP. So hielt der gebürtige Greifswalder Achim Gercke, der seit Mai Sachverständiger für Rassefragen im Reichsministerium des Innern war, einen Vortrag über die „Lösung der Judenfrage“, der anschließend in der Greifswalder Universitätszeitung abgedruckt wurde.94 Die Forderungen nach institutionellen Veränderungen stießen an der Hochschule keineswegs auf taube Ohren. Rektor Deißner bewilligte finanzielle Unterstützung für die Wehrsportübungen.95 Darüber hinaus beauftragte der Senat den Studienreferendar Gerhard Haasler mit der wehrsportlichen Ausbildung der Studenten.96 Auch in organisatorischer Hinsicht kam man der Studentenschaft entgegen. Bitten der 90 Vgl. Namentliche Mitgliedsliste des NSDStB Greifswald vom 5.8.1933, in: BArch, NS 38/3834. 91 Vgl. NSDStB Greifswald an Kreisleitung Nord des NSDStB vom 7.11.1933, in: BArch, NS 38/3834. 92 Vgl. Grüttner, Studenten (wie Anm. 4), S. 277. 93 Vgl. Sitzung des akademischen Senats am 15. Juni 1933, in: UAG, Altes Rektorat R 2200, Bl. 75–76. 94 Vgl. „Lösung der Judenfrage“, in: Greifswalder Universitätszeitung – Mitteilungsblatt der Studentenschaft an der Universität Greifswald, 8 (1933) Nr. 5, S. 63f. 95 Vgl. „Weg und Ziel aller Wehrarbeit“, in: Greifswalder Universitätszeitung – Mitteilungsblatt der Studentenschaft an der Universität Greifswald, 8 (1933) Nr. 3, S. 35–36. 96 Vgl. Kurator an Gerhard Haasler vom 22.6.1933, in: UAG, Altes Rektorat R 977, Bl. 209.

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Studentenschaft nach Überlassung von Diensträumen97 wurden vom Kurator ohne vorhergehende Rücksprache mit dem Ministerium gebilligt.98 Nur selten bestanden zwischen Universitätsleitung und dem NSDStB unterschiedliche Vorstellungen, wie im Fall der Besetzung eines Postens im Vermögensrat der Studentenschaft.99 Auch in der Frage der veränderten politischen Lehrinhalte100 an der Hochschule konnten sich die NS-Hochschulaktivisten durchsetzen. So gab es in Greifswald „ein besonders reichhaltiges Angebot an politisch relevanten Lehrveranstaltungen“.101 Die Studenten konnten Vorlesungen und Seminare über „Nationalsozialismus und Strafrecht“, „Nordische Führergestalten“ „Politische Psychologie“, „Rassenhygiene und Erziehung“, „Wehrgeografie“, „Besprechungen über Therapie bei Kampfgaserkrankungen“ und über „Heeresphysik in praktischen Übungen“ besuchen.102 Bei Generalmajor a.D. Walther Wendorff, der mit der Wahrnehmung eines Lehrauftrages für das Fach Wehrwissenschaft103 betraut worden war, konnten sich die Studierenden zudem zum Thema „Wehrwissenschaftliche Tagesfragen, Pazifismus, Führertum, Grundbegriffe der Kriegsführung“ sowie in einem „Wehrpolitischem Seminar“ unterrichten lassen.104 Dennoch sollte die Begeisterung für die nationale Revolution schon bald nach97 In den folgenden Monaten wurde den Wünschen der nationalsozialistischen Parteiorganisationen nach Versammlungsräumen an der Universität wiederholt Rechnung getragen. Die Studentenschaft reklamierte für sich einen großen Hörsaal als Radioraum. Darüber hinaus benötigten die SA-Stürme jeden Tag drei bis vier Hörsäle für Unterrichtszwecke. Die Fachschaften sowie der Führer der Studentenschaft brauchten mehrmals im Monat Hörsäle als Versammlungsraum. Auch die Dozentenschaft beanspruchte drei bis vier Mal im Monat einen Hörsaal. Vgl. Rektor an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 25.4.1934, in: UAG, Kurator K 159, Bl. 31r. 98 Vgl. Kurator an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 24.6.1933, in: UAG, Kurator K 1887, Bl. 44r. 99 Der Senat hatte für diesen Posten den Rittergutsbesitzer Ruge-Ranzin vorgeschlagen. Ruge-Ranzin wurde von der Studentenschaft und dem Kurator aufgrund seiner vermeintlich reaktionären Gesinnung abgelehnt und stattdessen der Greifswalder Sozius des pommerschen Gauleiters, Wilhelm Karpenstein, vorgeschlagen. Vgl. Kurator Greifswald an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 13.7.1933, in: UAG, Kurator K 1887, Bl. 52. Das Ministerium stimmte schließlich dem Vorschlag der Greifswalder Studentenschaft zu. Vgl. preußischer Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Universitätskurator Greifswald vom 12.8.1933, in: UAG, Kurator K 1887, Bl. 59. 100 Vgl. dazu den Beitrag von Gabriele Förster (Greifswald) in diesem Band. 101 Grüttner, Studenten (wie Anm. 4), S. 168. Vgl. dazu auch Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1933/34, Greifswald 1933, S. 46. 102 Vgl. Grüttner, Studenten (wie Anm. 4), S. 168. Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1933/34, Greifswald 1933, S. 46. 103 Die Idee zur Einrichtung des Faches Wehrwissenschaften scheint einer Denkschrift des Stahlhelm-Studentenring-Langemarck zu entstammen. Vgl. Leiter des Studentenamtes StahlhelmStudentenring-Langemarck an Rektorat vom 11.2.1933, in: UAG, Altes Rektorat R 977, Bl. 151. 104 Vgl. Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1934, Greifswald 1934, S. 44.

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lassen. Dazu trug zum einen die Radikalität der Studentenführer bei.105 Zum anderen wirkten sich aber auch der wachsende zeitliche Aufwand, den die Studenten für derartige Aktivitäten betreiben mussten, aus. Derartige Belastungen wurden durch konkurrierende Ansprüche anderer nationalsozialistischer Organisationen im universitären Umfeld noch gesteigert. So existierte neben dem NSDStB auch noch die Deutsche Studentenschaft, die seit 1932 unter nationalsozialistischer Führung stand. Darüber hinaus wurde mit der Gründung des SA-Hochschulamtes106 am 9. September 1933 eine weitere Institution geschaffen, die sich um die Ausbildung der Studierenden im nationalsozialistischen Sinne kümmern sollte.107 Konkret bedeutete dies, dass ab dem Wintersemester 1933/34 die „wehrsportliche Erziehung108 der Studenten an die S.A. [überging]“.109 Institutionelles Gewicht erhielt das SA-Hochschulamt zudem durch die Tatsache, dass deren Führer seit dem 9. Dezember 1933 im Senat der Universität vertreten war.110 Die politische Ausbildung der Studierenden dagegen sollte weiterhin in den Händen des NSDStB liegen. Diese gesamte Ausbildung war äußerst zeitintensiv. Neben den Lehrveranstaltungen, den wöchentlichen Vorträgen zum politischen Geschehen und dem Wehrsport111 waren bereits in der vorlesungsfreien Zeit vor dem Wintersemester die 1. bis 4. Semester zum Arbeitsdienst in das Lager nach Lubmin gezogen.112 Einen vorläu105 So schlug die ANSt-Führerin Käthe Nehring vor, zukünftige Erstsemester-Studentinnen auf ihre Jungfernschaft zu untersuchen. Vgl. Bericht Kreisleiterin Nord der ANSt vom 12.12.1933, in: BArch, NS 38/4129. 106 Aufgabe des SA-Hochschulamtes war es, „die Studenten durch die Verpflichtung zum S.A.Dienst und Arbeitsdienst zu ehrbewußten und wehrhaften deutschen Männern und zum verantwortungsbereiten selbstlosen Dienst in Volk und Staat zu erziehen“. Vgl. Taschenbuch der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Greifswald 1934, S. 199. 107 Das SA-Hochschulamt ersetzte außerdem das Wehramt der Studentenschaft. Vgl. Rektor an Kurator vom 21.9.33, in: UAG, Altes Rektorat R 977, Bl. 245. 108 Hierbei sollten die SA-Hochschulämter mit SA-Wehrsportlehrern besetzt werden, wohingegen nur etwa ein Drittel der bisherigen Wehrsportlehrer übernommen werden sollte. Vgl. preußischer Minister für Wissenschaft, Kunst und Kultur an Universitätskuratoren vom 27.9.1933, in UAG, Altes Rektorat R 977, Bl. 247. 109 Preußischer Minister für Wissenschaft, Kunst und Kultur an Universitätskuratoren vom 27.9.1933, in UAG, Altes Rektorat R 977, Bl. 247. 110 Erlass des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 15.12.1933, in: UAG, Kurator K 159, Bl. 272. 111 Der Turnwart des ATV berichtete, dass die Mitglieder des ATV jeden Mittwoch zur Wehrsportausbildung nach Helmshagen marschierten. Darüber hinaus hätten jeden Freitagvormittag Schießausbildungen stattgefunden. Vgl. Bericht Turnwart ATV über die erste Hälfte des Sommersemesters 1933, in: UAG, ATV 88, Bl. 7. 112 Vgl. „Universitätsarbeitsdienstlager Lubmin“, in: Greifswalder Universitätszeitung – Mitteilungsblatt der Studentenschaft an der Universität Greifswald, 8 (1933) Nr. 3, S. 36–37.

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figen Höhepunkt erreichten die Belastungen gegen Ende des Jahres 1933, als die Fakultäten in Fachschaften zusammengefasst wurden und jeden Mittwoch politische Schulungen stattfanden.113 Zusätzlich wurden vom SA-Hochschulamt alle Studierenden des 1. und 2. Studienjahres in einem besonderen Lehrgang zusammengefasst.114 Dieser SA-Dienst fand fünf Mal in der Woche statt.115 Insbesondere die Korporationen, die diese Veränderungen zunächst begrüßt hatten,116 beklagten sich nun, da sie ihren Korporationsbetrieb eingeschränkt sahen.117 Bei all diesen Beanspruchungen ist davon auszugehen, dass bis zur Mitte des Jahres 1934 für die Studierenden von einem normalen Studium nicht mehr die Rede sein konnte. Die Belastungen endeten erst, nachdem in Folge des „Röhm-Putsches“ die SA-Hochschulämter aufgelöst wurden. Schließlich wurde auf Anordnung des Reichserziehungsministeriums (REM) auch die Fachschaftsarbeit auf freiwillige Grundlagen gestellt.118 Nachdem sich in der ersten Hälfte des Jahres 1933 alle politischen Studentenverbindungen mit Ausnahme des NSDStB auflösten bzw. verboten wurden, bestanden die Korporationen auch weiterhin. Am 29. Mai 1933 existierten noch 28 Verbindungen, die in der Bündischen Kammer vertreten waren.119 Ab dem Sommer 1933 113 Vgl. Bericht Akademische Turnverbindung Greifswald vom 14.12.1933, in: UAG, ATV 88. 114 Vgl. Bericht Akademische Turnverbindung Greifswald vom 14.12.1933, in: UAG, ATV 88. Diese Sonderausbildung sollte „zeitlich und mit Rücksicht auf die körperliche und geistige Spannkraft sorgfältig der Inanspruchnahme angepaßt werden, die durch die von der Universität gebotenen wissenschaftlichen Unterricht und die von der Studentenschaft gebotene politische Ausbildung geschieht“. Um dies zu erleichtern, wurde „das Greifswalder SA-Hochschulamt angewiesen, mit allem Nachdruck die Bereitstellung und Einrichtung eines Universitäts-Gelände­ sportlagers zu betreiben. In ihm sollen die Studenten zwei Semester je eine Woche und während der dazu gehörigen Universitätsferien zweimal drei Wochen, in diesem einen Jahr also zusammen 8 Wochen, zusammengezogen werden.“ Gefunden wurde ein solches Gelände in Lubmin. Die Universität wurde vom Reichs-SA-Hochschulamt gebeten, das Lager zu erwerben und zu vermieten. Der Kaufpreis sollte nicht mehr als 27.000 RM betragen. Vgl. Kurator, Güterdirektor und Führer des SA-Hochschulamtes Greifswald an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 30.11.1933, in: UAG, Altes Rektorat R 977, Bl. 265–269. 115 Um die wehrsportliche Ausbildung zeitlich zu gewährleisten, hatte das preußische Kultusministerium angeordnet, dass ab dem Wintersemester 1933/34 an Mittwoch- und Sonnabendnachmittagen keine Übungen und Vorlesungen stattfinden sollten. Vgl. Erlass des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 28.7.1933, in: UAG, Kurator K 194, Bl. 117. 116 Vgl. Bericht ATV „Im Zeichen der Eingliederung in der Kameradschaft“, in: UAG, ATV 88, Bl. 21–22. 117 Der ATV vermerkte, dass das Sommersemester 1933 im Zeichen des Wehrsportes stand. Dies hätte einen geringeren Besuch der Turnstunden zur Folge gehabt. Vgl. Bericht des Turnwarts über das Sommersemester 1933, in: UAG, ATV 88, Bl. 8. 118 Vgl. Grüttner, Studenten (wie Anm. 4), S. 260. 119 Vgl. Stellvertretender Führer der Greifswalder Studentenschaft an Deutsche Studentenschaft vom 27.5.1933, in: BArch, NS 38/2184.

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begann allerdings auch bei den Korporationen ein Prozess der Selbstgleichschaltung. Den Anfang machte der Greifswalder Akademische Turnverein (ATV), der geschlossen der SA beitrat.120 Im Juni folgte die Burschenschaft Germania zu Greifswald, die sich ebenfalls mit allen Mitgliedern der SA anschloss.121 Damit wollten sich die Vertreter des NSDStB jedoch nicht begnügen. Schrittweise sollten die Korporationen ihre Eigenständigkeit verlieren. Jeder Student wurde dazu verpflichtet, zwei Semester lang die Erziehung in den Kameradschaftshäusern zu durchlaufen. Alternativ bestand auch die Möglichkeit, drei Semester in den Wohnkameradschaften der Verbindungen zu verbringen.122 Darüber hinaus erhielten die Verbindungen Auflagen für die politische Schulung. Studierende, die bis Ablauf des 4. Semesters keine dementsprechende Bescheinigung vorweisen konnten, wurden vom Studium ausgeschlossen.123 Diese Entscheidungen hatten gravierende Folgen für das studentische Leben an der Universität. Zum einen sollten damit, wie vom NSDStB beabsichtigt, die Freistudenten verschwinden, die nun in den Kameradschaftshäusern des NSDStB geschult wurden. Des Weiteren wurde damit die Eigenständigkeit der Korporationen eingeschränkt, da sie, im Gegensatz zu den Bewohnern des Kameradschaftshauses, keine Vergünstigungen erhielten.124 Ein weiterer Schritt zur Entmachtung der Korporationen erfolgte Ende Januar 1934, als der Führer der Greifswalder Studentenschaft, Gerhard Adam, sämtliche Korporationen in politischen und hochschulpolitischen Angelegenheiten den nationalsozialistischen Hochschulorganisationen unterstellte.125 In der Folgezeit richteten

120 Vgl. Bericht des Sprechers der ATV über die erste Hälfte des Sommersemesters 1933, in: UAG, ATV 88, Bl. 2–4. 121 Vgl. Rautenberg, Die Angehörigen (wie Anm. 3), S. 92. 122 Beitrag E. Maskow, Kameradschaftshaus und Wohnkameradschaft, in: Taschenbuch der ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald, Greifswald 1934, S. 213ff. 123 Beitrag E. Maskow, Kameradschaftshaus und Wohnkameradschaft, in: Taschenbuch der ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald, Greifswald 1934, S. 213ff. 124 Der Universitätskurator erklärte sich bereit, versuchsweise ab Wintersemester 1933/34 Vorschläge für die finanzielle Unterstützung „entgegenzunehmen und vorzugsweise zu berücksichtigen, die für in das Kameradschaftshaus aufgenommene im ersten und zweiten Semester stehende Studenten […] gemacht werden“. Vgl. Kurator an Führer der Studentenschaft Greifswald vom 29.7.1933, in: UAG, Kurator K 1933, Bl. 87. Darüber hinaus beantragte der Führer der Greifswalder Studentenschaft für sich und seine Amtswalter zusätzliche Mittel (10 RM) für die Verpflegung während der Semesterferien. Vgl. Karl Heinrich Koepke an Kurator vom 27.9.1933, in: UAG, Kurator K 1933, Bl. 96–97. 125 Vgl. „Die studentischen Verbände dem Führer der Studentenschaft unterstellt!“, in: Greifswalder Universitätszeitung – Mitteilungsblatt der Studentenschaft an der Universität Greifswald, 9 (1934) Nr. 1, S. 1.

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die Verbindungen im Sommer 1934 eine Reihe von Wohnkameradschaften ein.126 Das Ende der Korporationen konnten sie durch diese Unterstellung jedoch nicht aufhalten. Am 16. Juli 1934 stellte zunächst die Burschenschaft Arminia, aus deren Reihen einige der frühen Vertreter des NSDStB in Greifswald stammten, ihre Tätigkeit ein. Am 27. Oktober 1935 wurden weitere Korporationen aufgelöst. Am 13. November 1935 übernahm der NSDStB schließlich auch die Wohnkameradschaft der Turnerschaft Cimbria. Die Cimbria unterstellte sich dem NSDStB.127

Der NSDStB Greifswald im Dritten Reich

In den folgenden Semestern gingen die Studierendenzahlen in Greifswald drastisch zurück. Von ehemals 2.157 Studierenden im Sommersemester 1933 waren im Wintersemester 1937/38 nur noch 497 Studierende in Greifswald immatrikuliert.128 Damit verbunden war auch, dass die Zahl der NSDStB-Mitglieder rückläufig war. Darüber hinaus lässt sich die geringe Mitgliederzahl auch auf die Auflösung und Neuordnung des NSDStB unter dem neuen NSDStB-Führer Albert Derichsweiler zurückführen. Derichsweiler war von Rudolf Heß angewiesen worden „aus dem ­NSDStB endlich die gewünschte Eliteorganisation zu formen, der nicht mehr als 5 Prozent der Gesamtstudentenschaft angehören dürften“.129 Wenngleich die Mitgliedsbeschränkungen durch den neuen Reichsstudentenführer Gustav Adolf Scheel wieder aufgehoben wurden,130 waren im WS 1937/38 nur 19,5 Prozent der Studierenden im NSDStB organisiert.131 Im Vergleich mit anderen Hochschulen lag Greifswald zu diesem Zeitpunkt somit deutlich unter dem reichsweiten Schnitt von 40,2 Prozent bei den NSDStB-Mitgliedschaften. Dieser niedrige Organisationsgrad sowie die dramatisch einbrechenden Studierendenzahlen sind erklärungsbedürftig, zumal Michael Grüttner in seiner Darstellung zu Recht angemerkt hat, dass gerade „die vier kleinsten Universitäten (Greifswald, Gießen, Halle, 126 Insgesamt existierten neben dem Kameradschaftshaus noch 19 Wohnkameradschaften der Verbindungen. Vgl. Verzeichnis über studentische Gewerkschaftshäuser, in: UAG, Kurator K 1764, Bl. 50r. 127 Vgl. Rautenberg, Die Angehörigen (wie Anm. 3), S. 96. 128 Vgl. Grüttner, Studenten (wie Anm. 4), S. 502. 129 Anselm Faust, Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund, Bd. 2, Düsseldorf, München 1973, S. 129. 130 Vgl. Grüttner, Studenten (wie Anm. 4), S. 324. 131 Die absolute Zahl der NSDStB-Mitglieder bei den männlichen Studenten in den Kameradschaften des NSDStB betrug in Greifswald zu diesem Zeitpunkt nur noch 97, was einem prozentualen Wert von 19,5 % entspricht. Vgl. Grüttner, Studenten (wie Anm. 4), S. 502.

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Erlangen) alle überproportional vom allgemeinen Rückgang der Studierendenzahlen betroffen“132 waren. Bereits im Dezember 1934 hatte der spätere Gaustudentenführer Manfred Pechau festgestellt, dass der Grund für die Tatsache, dass sich viele Studierende nun für ein Studium in der Großstadt entschieden, darin bestünde, dass man sich in der Großstadt leichter um „seine Pflichten gegenüber Staat und Bewegung herumdrücken“133 könne. Als Reaktion kündigte er einen intensiven Einsatz von Studenten und Professoren bei der geplanten Wissenschaftsarbeit im pommerschen Hinterland an.134 Um mehr Studierende für Greifswald zu gewinnen, versuchte die Studentenschaftsführung zudem, für Greifswald den Status einer „Ostuniversität“135 zu erhalten. Auch der Hauptamtsleiter des Amtes Wissenschaft der Greifswalder Studentenschaft, Karl Arnold, konstatierte, dass die „Greifswalder Studentenschaftsarbeit, insbesondere die Fachschaftsarbeit in diesem Semester […] grosse Schwierigkeiten bezüglich der Aktivierung der Studenten zu überwinden“136 hätte. Die Gründe hierfür sah er allerdings in der Tatsache, dass Greifswald Sommer- und Examensuniversität sei.137 Trotzdem forderte auch Arnold zur Lösung des Problems die Wissenschaftsarbeit zu forcieren. Diese sei zwar „bis zum Wintersemester 1934/35 ein Fehlschlag gewesen“.138 Dennoch hätte man dabei „hier in Greifswald die grosse Chance, im Umbau der deutschen Hochschule mit an vorderster Stelle stehen zu können“.139 132 133 134 135

Grüttner, Studenten (wie Anm. 4), S. 274. Bericht Manfred Pechau vom 17.12.1934, in: BArch, NS 38/3702. Vgl. Bericht Manfred Pechau vom 17.12.1934, in: BArch, NS 38/3702. Um diesen Status zu erhalten, baute die Greifswalder Studentenschaft auf ehemalige Greifswalder, die sich nun in verantwortlichen Stellen in der NS-Wissenschaftspolitik befanden. Karl Theodor Vahlen, der zu diesem Zeitpunkt Ministerialdirektor im Amt Wissenschaft des Reichserziehungsministeriums war, wurde mehrfach um Unterstützung gebeten. Auch auf die Unterstützung des Führers der Dozentenschaften, Heinz Lohmann, schien man zu zählen. Vgl. Karl Arnold an Leiter des Hauptamtes Wissenschaft der Deutschen Studentenschaft vom 9.1.1935, in: BArch, NS 38/3702. Dazu kam es trotz der Bemühungen der Greifswalder Studentenschaft jedoch nicht. In einem Brief an den Reichsschaftsführer der Deutschen Studentenschaft, Andreas Feickert, beklagte sich der Leiter des Hauptamtes Wissenschaft, Karl Arnold, über die Nichtberücksichtigung Greifswalds. Vgl. Arnold an Feickert vom 8.2.1935, in: BArch, NS 38/2149. Mit dem Erlass des Reichserziehungsministers vom 25. März 1937 wurde schließlich festgestellt, dass Greifswald nicht Ost- und Grenzlanduniversität sei. Vgl. Reschke an Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 27.4.1937, in: UAG, Kurator K 159, Bl. 173. 136 Bericht Hauptamtsleiter für Wissenschaft Greifswald vom 16.1.1935, in: BArch, NS 38/2557. 137 Vgl. Bericht Hauptamtsleiter für Wissenschaft Greifswald vom 16.1.1935, in: BArch, NS 38/2557. 138 Bericht Hauptamtsleiter für Wissenschaft Greifswald vom 16.1.1935, in: BArch, NS, 38/2557. 139 Bericht Hauptamtsleiter für Wissenschaft Greifswald vom 16.1.1935, in: BArch, NS, 38/2557.

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Wie sollte nun diese geplante Wissenschaftsarbeit aussehen? Dies sollte zunächst durch die Arbeit in den Fachschaften sowie durch den Wissenschaftsdienst im Kameradschaftshaus gewährleistet werden.140 Darüber hinaus hatte am 16./17. Januar 1935 in Greifswald eine Tagung der Deutschen Studentenschaft stattgefunden.141 In diesem Zusammenhang wurde an der Universität ein Hochschulkreis ins Leben gerufen.142 Geleitet und finanziell unterstützt wurde dieser durch den pommerschen Provinzialhauptmann, Dr. Jarmer, einem alten NSDAP-Parteimitglied und Vertrauten des ehemaligen Gauleiters Karpenstein. Das Ziel des Hochschulkreises bestand darin, die bestehende „fruchtbringende Wechselbeziehung zwischen Landschaft und Universität […] [durch] diese Zusammenarbeit zu unterstützen und sie irgend wie organisatorisch zusammenzufassen“.143 Einem Bericht Karl Arnolds zufolge hatten sich bereits 25 Professoren und Dozenten dem Hochschulkreis angeschlossen.144 Weiterhin sollten Studenten, die gewillt wären, sich an der Wissenschaftsarbeit zu beteiligen, die Möglichkeit erhalten, an Arbeitsgemeinschaften und Wissenschaftslagern teilzunehmen.145 Die Themenstellung sollte durch die Provinzialverwaltung erfolgen, die auch finanzielle Unterstützung für zukünftige Promotionen in Aussicht stellte.146 In der Folge wurden zunächst Vorschläge für die zukünftige Arbeit gesammelt. Dabei wurde deutlich, dass zwischen den wissenschaftlichen Einrichtungen und den staatlichen Stellen, wie der Provinzialverwaltung, unterschiedliche Zielvorstellungen existierten.147 Mit der Gründung der pommerschen Landesplanung und dem Erlass zur Gründung der Hochschularbeitsgemeinschaften für Raumforschung scheint die Arbeit des Greifswalder Hochschulkreises von der Hochschularbeitsgemeinschaft für Raumforschung übernommen worden zu sein. Die Hochschularbeitsgemeinschaft 140 Vgl. „Heraustreten zum Wissenschaftsdienst“, in: Greifswalder Universitätszeitung – Mitteilungsblatt der Studentenschaft an der Universität Greifswald, 9 (1934) Nr. 8, S. 1. 141 „DSt.-Tagung in Greifswald“, in: Greifswalder Universitätszeitung – Mitteilungsblatt der Studentenschaft an der Universität Greifswald, 10 (1935) Nr. 1, S. 7. 142 Vgl. Karl Arnold an Leiter Hauptamt Wissenschaft der Deutschen Studentenschaft vom 9.1.1935, in: BArch, NS 38/3702. 143 Karl Arnold, „Ist Greifswald Ostuniversität?“, in: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, BArch, NS 38/3702. 144 Karl Arnold, „Ist Greifswald Ostuniversität?“, in: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, BArch, NS 38/3702. 145 Karl Arnold, „Ist Greifswald Ostuniversität?“, in: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, BArch, NS 38/3702. 146 Karl Arnold, „Ist Greifswald Ostuniversität?“, in: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, BArch, NS 38/3702. 147 Während die wissenschaftlichen Institutionen an Einführungskurse und Praktika dachten, waren die staatlichen Institutionen eher an konkreten wirtschaftlichen und geopolitischen Vorschlägen interessiert. Vgl. dazu die Vorschläge in: BArch, NS 38/2557.

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stand nun unter dem Vorsitz von Professor Hermann Lautensach. In der Folgezeit bemühten sich die Vertreter der Hochschularbeitsgemeinschaft verstärkt, den staatlichen Vorstellungen zu entsprechen.148 Der Halbjahresbericht der Landesplanungsgemeinschaft Pommern vermerkte für den Zeitraum vom 1. April 1938 bis zum 30. September 1938 eine Reihe von Arbeiten der Greifswalder Hochschularbeitsgemeinschaft, die diesen Vorstellungen nominell entsprachen. So beteiligte sich Professor Serge von Bubnoff an „bevölkerungs- und erbbiologische[n] Untersuchungen über Altersschichtung, Familiengröße und konstitutionelle Merkmale der pommerschen Bevölkerung“149 und Professor Theodor Oberländer150 steuerte eine Untersuchung zur Landflucht in Pommern bei.151 Das Amt Wissenschaft der Greifswalder Studen148 Auf der 1. Sitzung der Hochschularbeitsgemeinschaft wurde nun von einer Dreiteilung der Aufgaben gesprochen. Die Hochschularbeitsgemeinschaft sollte sich kümmern um: „1. Allgemeine landeskundliche Aufgaben nach den von der Reichsarbeitsgemeinschaft aufgestellten Richtlinien für eine Landschaftsmonographie. 2. Aufgaben, die von der politischen Führung gestellt und zentral vergeben werden. 3. Arbeiten, die sich aus der Zusammenarbeit mit den Landesplanungsbehörden ergeben.“ Vgl. 1. Sitzung der Hochschularbeitsgemeinschaft für Raumforschung am 18. Juni 1936, in: UAG, Med. Fak. I-151, Bl. 10–11. 149 Halbjahresbericht der Landesplanungsgemeinschaft Pommern für den Zeitraum vom 1.4.1938– 30.9.1938, in: BArch, R 113/48. 150 Am 23.2.1937 berichtete Rektor Reschke, dass er in Übereinstimmung mit dem pommerschen Gauleiter Schwede-Coburg und in Gemeinschaft mit den Studenten des Grenzlanddienstes und einem Kreis der Greifswalder Dozenten die Absicht hätte, „die wissenschaftliche Arbeit der Universität in denjenigen Fächern, die dafür in Frage kommen, mehr und mehr in den Dienst der Grenzlandarbeit zu stellen“. Deshalb wurde mit Prof. Oberländer beschlossen, eine wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft für Grenzlandfragen zu bilden. Diese Arbeitsgemeinschaft sollte alle Fragen wissenschaftlich bearbeiten, „die mit unseren an dem Korridor grenzenden Landesteilen zusammenhängen; sie soll weiterhin den Studenten die wissenschaftliche Vorbildung und Weiterbildung geben, so in polnischer Sprache, in der Geschichte des Deutschen Ostens, Kulturgeschichte, Volkswirtschaft und allem was dazu gehört“. Vgl. Rektor an Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 23.2.1937, in: UAG, Kurator K 159, Bl. 167–169. Besonders interessant ist die Tatsache, dass die Arbeitsgemeinschaft als Vorstufe zu einem Grenzlandinstitut der pommerschen Landesuniversität gedacht war. Darüber hinaus hieß es: „Es soll dem zu erwartenden Gau-Grenzlandamt der N.S.D.A.P., Gau Pommern sachlich unterstellt sein. Die Träger des Instituts sollen nicht Professoren alten Stils sondern Dozenten und Studenten sein.“ Die Themenstellung sollte nur durch Vertreter der Partei erfolgen. Die Aufgabe der Arbeitsgemeinschaft bestand neben der Ausbildung junger Studenten auch in der Ausbildung von Lehrern, der Herausgabe von internen Benachrichtigungsblättern und Schulungsheften, der Herausgabe einer mehrsprachigen, wissenschaftlich-propagandistischen Schulungsreihe und der Überwachung des deutschen Schrifttums in Bezug auf dessen propagandistische Auswirkung auf die Grenzbevölkerung. Vgl. Bericht über Aufbau und Zielsetzung der Arbeitsgemeinschaft, in: UAG, Kurator K 159, Bl. 171–172. 151 Vgl. Halbjahresbericht der Landesplanungsgemeinschaft Pommern für den Zeitraum vom 1.4.1938–30.9.1938, in: BArch, R 113/48.

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tenschaft beteiligte sich unter der Leitung von Dr. Heinz Krüger mit einer Arbeit über den Typus des ostpommerschen Grenzlanddorfes.152 Darüber hinaus wurden von Oberländer fünf Doktorarbeiten betreut, die sich konkreten wirtschaftlichen Fragen widmeten.153 Die Frage, wie sich die Wissenschaftsarbeit auf die Mobilisierung der Studierenden für die Arbeit an den Zielen des NSDStB auswirkte, lässt sich nur schwer beantworten. Nachweislich beteiligten sich Studenten an der Wissenschaftsarbeit. Daraus Rückschlüsse über die Art der Motivation der Beteiligten zu ziehen, erscheint allerdings wenig ratsam. Tatsächlich sah sich Manfred Pechau in seinem Tätigkeitsbericht für das Sommersemester 1935 gezwungen, „auch für Greifswald von einer starken Interesselosigkeit der Studenten für politische Arbeit zu berichten“.154 Darüber hinaus erklärte er, „dass die Beteiligung an den Veranstaltungen [des NSDStB] ausser der Schulung155 nur unter Aufwendung grösster Mühen zahlreich gestaltet werden konnte“.156 Das mangelnde Engagement der Studierenden betraf jedoch nicht nur die unmittelbaren Veranstaltungen des NSDStB. Auch in anderen Bereichen der nationalsozialistischen Hochschule machte sich ein gewisses Desinteresse bemerkbar. Im Dezember 1935 beklagte sich Generalmajor a.D. Walther Wendorf157 beim Rektor Karl 152 In diesem Zusammenhang kam es auch zu Reibungen zwischen den Vertretern der Studentenschaft und Prof. Oberländer. Nach Aussagen von Gaustudentenführer Falk war auf Anregung der Studentenführung ein wissenschaftlicher Arbeitskreis zu Ostpommern eingerichtet worden. Diesen Arbeitskreis übernahm Theodor Oberländer, wogegen von der Reichsstudentenführung Bedenken angeführt wurden. Diese führten zum Konflikt zwischen Prof. Oberländer und der Greifswalder Studentenschaft und konnten nur durch Rektor Reschke und Reichsstudentenführer Scheel behoben werden. Vgl. Gaustudentenführer Falk an Reichsstudentenführer Dr. Scheel vom 13.5.1938, in: BArch, NS 38/3636. 153 Vgl. Halbjahresbericht der Landesplanungsgemeinschaft Pommern für den Zeitraum vom 1.4.1938–30.9.1938, in: BArch, R 113/48. 154 Tätigkeitsbericht der Gaustudentenbundsführung Pommern für das Sommersemester 1935, in: BArch, NS 38/3654. 155 In seinem Bericht musste der Gauschulungsreferent auch Probleme bei der Mobilisierung der Studierenden für die Schulungen konstatieren. Vgl. Bericht über die politische und weltanschauliche Lage der Studenten im Gau Pommern, in: BArch, NS 38/3654. 156 Bericht über die politische und weltanschauliche Lage der Studenten im Gau Pommern, in: BArch, NS 38/3654. 157 Nachfolger für den verstorbenen Wendorff sollte Hauptmann Erich Murawski vom Oberkommando der Wehrmacht werden. Dieser hatte sich der Unterstützung des stellvertretenden Gauleiters versichert und sich um einen Lehrauftrag bemüht. Vgl. Erich Murawski an Reschke vom 23.3.1938, in: UAG, Altes Rektorat R 977, Bl. 375. Für diesen Lehrauftrag war allerdings bereits ein Oberleutnant Boehm-Tettelbach vorgesehen. Vgl. Reschke an Gauleitung Pommern vom 26.8.1938, in: UAG, Altes Rektorat R 977, Bl. 378. Daraufhin bat der stellvertretende Gauleiter von Pommern, Paul Simon, Reschke den ersten, Boehm-Tettelbach betreffenden An-

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Reschke über die mangelnde Beteiligung der Studentenschaft an seinen Vorlesungen zur Kriegsgeschichte.158 Daraufhin sah sich der Reschke genötigt, die Studierenden auf die Veranstaltungen hinzuweisen.159 Im Wintersemester 1935/36 beteiligten sich von 152 gemeldeten Studierenden160 nur 37 Studierende am Reichsleistungskampf.161 Für den Reichsberufswettkampf 1937 wurden aus Greifswald lediglich von acht Mannschaften Arbeiten gemeldet.162 Nicht zuletzt der Ernteeinsatz in Ostpommern erfreute sich keiner großen Beliebtheit. Das mag angesichts des angemeldeten Bedarfs von 1.500 Studenten für die Erntehilfe im Frühjahr 1937 wenig überraschen.163 Dabei machten die verantwortlichen staatlichen Stellen dem Gaueinsatzreferenten klar, dass „der Einsatz der Studenten im Sommer einen der wichtigsten Faktoren in der Einbringung der Ernte darstellen werde“.164 Letztlich blieb die Resonanz auf den studentischen Arbeitsdienst in Ostpommern so gering, dass die Reichsstudentenführung 1938 die Universität Greifswald als „Versager“ beim Einsatz bezeichnete.165 trag an das Ministerium zurückzuziehen. Vgl. Simon an Reschke vom 30.8.1938, in: UAG, Altes Rektorat R 977, Bl. 379. Dem entsprach Rektor Reschke, indem er in seinem Schreiben den Reichserziehungsminister bat, dass Erich Murawski die Vorlesungen für Wehrwissenschaft abhalten solle. Vgl. Reschke an Reichserziehungsminister vom 6.9.1938, in: UAG, Altes Rektorat R 977, Bl. 380. 158 Vgl. Wendorff an Reschke vom 16.12.1935, in: UAG, Altes Rektorat R 977, Bl. 353. 159 Reschke an Wendorff vom 17.12.1935, in: UAG, Altes Rektorat R 977, Bl. 354. 160 Vgl. Wettkampfleiter Karl-Heinz Schumacher an Reschke vom 29.1.1936, in: UAG, Altes Rektorat R 365a, Bl. 4–7. 161 Vgl. Stammrollen Reichsleistungskampf 1935/36 Greifswald, in: BArch, NS 38/4366. 162 Vgl. Eingangsbestätigung für Arbeiten des Reichsberufswettkampfs von der Reichsstudentenführung, Reichsberufswettkampf an den Wettkampfleiter der Studentenführung Greifswald vom 22.3.1937, in: BArch, NS 38/4438. Angesichts niedriger Teilnehmerzahlen wurde durch ein Schreiben des Reichserziehungsministers vom 24.5.1937 empfohlen, dass auch akademische Preisarbeiten zeitlich möglichst an den Reichsberufswettkampf anzupassen seien. Vgl. Reichsund Preußischer Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 24.5.1937, in: UAG, Kurator K 159, Bl. 147; Dekan der Theologischen Fakultät an Reschke vom 12.7.1937, in: UAG, Altes Rektorat R 365a, Bl. 67–68. Der Dekan der Medizinischen Fakultät begrüßte zwar die Entscheidung, wandte sich allerdings scharf dagegen, dass die Studentenführung bei der Themenstellung beteiligt würde. Vgl. Dekan Medizinische Fakultät an Reschke vom 14.7.1937, in: UAG, Altes Rektorat R 365a, Bl. 63. Auch der Dekan der Philosophischen Fakultät begrüßte zwar den Vorschlag, wollte die akademischen Preisarbeiten allerdings beibehalten. Vgl. Lautensach an Reschke vom 15.7.1937, in: UAG, Altes Rektorat R 365a, Bl. 64–66. 163 Vgl. Gaustudentenführung Pommern an Reichsstudentenführung vom 28.4.1937, in: BArch, NS 38/3883. 164 Besprechung zwischen Oberregierungsrat Dr. Holst, Landesarbeitsamt Pommern, und Gaueinsatzreferenten Pommern, Marquardt vom 6.4.1939, in: BArch, NS 38/3929. 165 Vgl. Einsatzbericht „Pommern“ Amt Politische Erziehung der Reichsstudentenführung vom 1.8.1938, in: BArch, NS 38/4013.

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Innerhalb der Studentenschaft hatte der NSDStB nun zunehmend mit Widerstand zu kämpfen. So hatte Gaustudentenführer Helmut Kreul beim Semesterantrittsappell im Wintersemester 1936/37 verkündet, dass die Zeit kommen würde, in der sich die Studenten zwischen den Dogmen der Kirche und denen des Nationalsozialismus entscheiden müssten.166 Dies erzeugte naturgemäß Protest bei der Theologischen Fachschaft und führte dazu, dass sich drei Theologiestudenten direkt an Reichsstudentenführer Scheel wandten, um gegen die Ausführungen des Gaustudentenführers zu protestieren. Scheel war zunächst nicht geneigt, gegen Kreul vorzugehen,167 zumal dieser Rückendeckung vom pommerschen Gauleiter Franz Schwede-Coburg erhielt, der den Semesterantrittsappell kurzerhand als Veranstaltung des NSD-Studentenbundes und damit der NSDAP deklarierte.168 Kreul reagierte daraufhin mit der sofortigen Auflösung der theologischen Fachschaft und ging disziplinarisch gegen die Parteigenossen in der theologischen Fachschaft vor.169 Kritik an diesen Maßnahmen kam nun allerdings vom REM, als der Leiter des Amtes Wissenschaft, Otto Wacker, den Reichsstudentenführer bat, die Studentenführer darauf hinzuweisen, dass bei studentischen Veranstaltungen eine größere Zurückhaltung in religiösen Fragen geboten sei.170 Daraufhin lenkte die Greifswalder Studentenbundsführung ein. Auf Veranlassung von Gaustudentenbundführer Kreul und Studentenführer Falk wurde das Disziplinarverfahren gegen die Theologiestudenten zurückgezogen.171 Damit war der Konflikt offensichtlich noch nicht beendet. Am 14. Januar 1938 wurden die christlichen Studentenverbindungen als letzte eigenständige Organisationen neben dem NSDStB verboten.172 Auch danach begegneten die Vertreter des NSDStB den Theologiestudenten mit Misstrauen, da sie die Aufrichtigkeit der Theologiestudenten in Bezug auf den Nationalsozialismus anzweifelten.173 Hierbei ließen sie sich auch 166 Vgl. Theologische Fakultät an Reichserziehungsminister vom 3.12.1936, in: BArch, NS 38/3718. 167 Vgl. Anlage zum Schreiben Schliep, Struckmeier und Reffert an Scheel vom 29.1.1937, in: BArch, NS 38/3718. 168 Vgl. Schwede-Coburg an Helmut Kreul vom 7.12.1936, in: BArch, NS 38/3718. 169 Vgl. Schliep, Struckmeier und Reffert an Scheel vom 11.12.1937, in: BArch, NS 38/3718. 170 Vgl. Otto Wacker an Scheel vom 11.2.1937, in: BArch, NS 38/3718. 171 Vgl. Scheel an Studentenführer Greifswald, Lemke (undatiert), in: BArch, NS 38/3718. 172 Reschke an Kurator vom 14.1.1938, in: UAG, Kurator K 1764, Bl. 53. 173 So berichtete der Theologiestudent Johannes Schlobies, dass ihm vom Referenten für Kameradschaftserziehung, Arnold, vorgeworfen worden sei, käuflich zu sein. Schlobies hatte ein Stipendium für sein Theologiestudium erhalten. Deshalb wurde ihm von Arnold die Aufnahme in den Studentenbund bzw. das Kameradschaftshaus verweigert. Vgl. Darstellung Johannes Schlobies vom 14.12.1938, in: UAG, Kurator K 1826, Bl. 278r. Auch die politische Loyalität des Theologiestudenten Werner Brüsch wurde angezweifelt, nachdem er sich, aus Sicht des Studentenführers Feldmann, nicht energisch genug um die Aufnahme in die NSV bemüht hatte. Außerdem

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nicht durch die Beschwerde des Dekans der Theologischen Fakultät beeindrucken, der in einem Brief an das REM die Ablehnung des Gesuchs auf Gebührenerlass für zwei Theologiestudenten durch die Greifswalder Studentenschaft beklagte.174 Als sich 1937 das zehnjährige Jubiläum der Gründung der Greifswalder NS-Hochschulgruppe näherte, sollte dies in Greifswald gefeiert werden. Gauleiter SchwedeCoburg hatte „den Auftrag erteilt, die Feier namens der Gauleitung in grossem Stil aufzuziehen“.175 Eingeladen wurden neben dem Reichsstudentenführer auch eine Reihe von Gauleitern sowie der frühere Reichsstudentenführer Baldur von Schirach, Gerhard Krüger und Reichsminister Bernhard Rust. Kommen sollten auch alle Gründungsmitglieder und Kameraden, „die sich um die erste siegreiche Hochschulgruppe innerhalb Preussens vor der Machtergreifung verdient gemacht“176 hatten. Geplant waren für den 13. und 14. November 1937 verschiedene Tagungen, eine Großkundgebung sowie eine Gedenkveranstaltung mit Kranzniederlegung an den Gräbern der „gefallenen SA-Kameraden“.177

Karriereverläufe der studentischen NS-Aktivisten

Leider wissen wir quellenbedingt relativ wenig über die Tätigkeit des NSD-Studentenbundes für die Zeit zwischen 1939 und 1945. Es steht allerdings zu vermuten, dass sich einige der NS-Hochschulaktivisten aufgrund der geschilderten Schwierigkeiten an der Hochschule, der Kriegslage sowie der sich verändernden Studierendenstruktur neue Betätigungsfelder suchten. Von einigen ehemaligen Studentenführern wissen wir, dass sie sich um Arbeit bei anderen Reichsbehörden bemühten. Dabei konnten sie ihre Tätigkeit beim NSDStB als Sprungbrett für eine weitere Karriere im NS-Staat nutzen. Abschließend sollen daher einige Karriereverläufe skizziert werden.178

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warf Feldmann Brüsch die Abhaltung des Kindergottesdienstes vor. „Wenn Ihnen das natürlich mehr wert ist – Sie sind zunächst Student und haben sich politisch einzusetzen!“ Vgl. Darstellung Werner Brüsch vom 15.12.1938, in: UAG, Kurator K 1826, Bl. 279r. Vgl. Theologische Fakultät an Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 12.1.1939, in: UAG, Kurator K 1826, Bl. 277r. Gaustudentenführer Günther Falk an Scheel, vom 16.10.1937, in: BArch, NS 38/3822. Gaustudentenführer Günther Falk an Scheel vom 16.10.1937, in: BArch, NS 38/3822. Vgl. Programmentwurf der Reichsstudentenführung zur Feier des 10-jährigen Bestehens der Hochschulgruppe Greifswald des NSD-Studentenbundes, in: BArch, NS 38/3822. Weitere, ausführliche Karriereverläufe, u.a. zu Manfred Pechau, finden sich im Beitrag von Ekkehard Henschke (Berlin/Oxford) in diesem Band.

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Joachim Haupt179 ging 1924 nach Kiel und war an der Gründung der NSDAP in Schleswig-Holstein beteiligt. Außerdem gehörte er zu den Gründern des Kieler NSD-Studentenbundes, dem er zwischen 1926 und 1928 vorstand. 1933 wurde er Ministerialrat im Preußischen Kultusministerium. Anschließend war Haupt als Ministerialdirektor für die Dozentenschaft verantwortlich und wurde Inspektor für die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (NPEA). 1935 wurde er wegen Homosexualität aus der NSDAP ausgeschlossen. Während des Zweiten Weltkrieges diente er in der Wehrmacht. Nach 1945 übernahm er eine Lehrtätigkeit bei der Marinefachschule und der Bundeswehrfachschule. Reinhard Sunkel180 studierte seit 1925 Geschichte, Germanistik und Philosophie in Kiel, Zürich und Erlangen. Im selben Jahr wurde er erneut Mitglied der neugegründeten NSDAP. Seit 1927/28 war er Mitglied der Hochschulgruppe Kiel des NSDStB und wurde 1930/31 Kreisleiter X (Berlin) des NSDStB und Organisationsleiter. 1930/31 war Reinhard Sunkel Anführer einer Rebellion gegen Baldur von Schirach im NSDStB und wurde infolgedessen seiner Ämter im NSDStB enthoben und aus dem NSDStB ausgeschlossen. Anschließend war Sunkel Ortsgruppenleiter der NSDAP in Kiel, von April 1932 bis November 1933 Mitglied des Preußischen Landtages und seit 1933 im Preußischen Kultusministerium tätig, vermutlich durch Vermittlung von Karl Theodor Vahlen. 1933 berief Reichserziehungsminister Bernhard Rust Reinhard Sunkel zum Ministerialrat und zu seinem persönlichen Referenten (Adjutanten). 1934 wurde Sunkel zum Ministerialdirektor befördert und leitete zwischen August 1934 und April 1936 das Ministerbüro im REM. Seit 1936 war er zudem SA-Oberführer. Im selben Jahr endete die Karriere Sunkels abrupt. Der Vorschlag Bernhard Rusts im April 1937, Reinhard Sunkel zum Kurator der Berliner Universität zu ernennen, scheiterte am Votum Adolf Hitlers. Auch eine Ernennung zum Kurator in Greifswald scheiterte, nachdem Nachforschungen Sunkels „nichtarische“ Herkunft ergeben hatten. Sunkel diente anschließend in der Wehrmacht und beging am 8. Mai 1945 im lettischen Libau Selbstmord. Der zweite Greifswalder NS-Studentenführer Gerhard Krüger181 verließ bereits 1929 Greifswald, um sein Studium in Leipzig fortzusetzen. Im NSDStB stieg er 1930 179 Biografische Daten zu Joachim Haupt u.a. aus: Joachim Haupt, in: Ernst Klee, Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945 (= Die Zeit des Nationalsozialismus), Frankfurt am Main 2009, S. 201; Bernd-Ulrich Hergemöller, Mann für Mann. Biographisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mannmännlicher Sexualität im deutschen Sprachraum, Hamburg 1998, S. 590. 180 Biografische Daten zu Reinhard Sunkel, in: Michael Grüttner, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik (= Studien zur Wissenschaft und Universitätsgeschichte; Bd. 6), Heidelberg 2004, S. 172. 181 Biografische Angaben zu Gerhard Krüger, in: Grüttner, Biographisches Lexikon (wie Anm. 180), S. 100.

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zum Kreisleiter IV (Mitteldeutschland) auf. Darüber hinaus wurde Krüger 1931 zum zweiten nationalsozialistischen Vorsitzenden der Deutschen Studentenschaft gewählt. Unter seiner Führung erfolgte die nationalsozialistische Machtergreifung an den deutschen Hochschulen. Auch an der Vorbereitung und Durchführung der reichsweiten Bücherverbrennungen war Krüger maßgeblich beteiligt. Nach seiner Promotion 1934 und einer Reihe weiterer Parteiämter trat Krüger 1937 seine Tätigkeit als Legationsrat im Auswärtigen Amt an und war 1942 kurzzeitig Kulturattaché im besetzten Paris. Im selben Jahr wurde Krüger Mitarbeiter der kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes. Mehrfache Versuche, ihn auf eine Professur an einer deutschen Hochschule zu berufen, scheiterten. Nach dem Krieg war Gerhard Krüger in mehreren rechtsextremen Parteien involviert. Sein Bruder Kurt Krüger konnte nach seiner Großen Juristischen Staatsprüfung am 22. Februar 1934 schnell in der Danziger Justizverwaltung Fuß fassen und wurde mit Wirkung vom 26. Februar 1934 zum Danziger Regierungsrat ernannt.182 1935 wurde Kurt Krüger in das REM berufen. Nach einer Beförderung zum Oberregierungsrat 1937 wurde Krüger 1940 auf eine Planstelle des Stellvertreters des Führers übernommen, der am 19. September 1940 auch die Ernennung zum Ministerialrat folgte. Beim Stab Heß bzw. später bei der Parteikanzlei Martin Bormanns war Kurt Krüger als Leiter der Gruppe III D zuständig für Kirchenfragen, Erziehung, Schulen und Hochschulen.183 Damit oblag es ihm, die Ziele der Partei an den Hochschulen u.a. auch gegen das REM184 durchzusetzen. Gerhard Adam, der seit Oktober 1933 das Amt als Greifswalder Studentenführer ausübte, konnte ebenfalls schnell im NS-System aufsteigen. Bereits wenige Monate nach seiner Amtsübernahme wurde er zum Hauptleiter für Wirtschaftsfragen der Deutschen Studentenschaft und zum Landesführer Nord ernannt.185 Anschließend betreute er das Studentenwerk in Dresden.186 Nach einer leitenden Tätigkeit beim Reichsstudentenwerk machte Adam Karriere bei der SS und wurde 1941 Chef des Amtes II im Stab der Dienststelle des SS-Obergruppenführers Heißmeyer.187 In dieser Position war er für die SS-Mannschaftshäuser, also für die Herausbildung einer aka182 Vgl. Personalbogen Kurt Krüger, in: BArch, R 601/1813, Bl. 77. 183 Vgl. Anne Christine Nagel, Hitlers Bildungsreformer. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934–1945 (= Die Zeit des Nationalsozialismus; Bd. 19425), Frankfurt am Main 2012, S. 267. 184 Das Amt Wissenschaft wurde zu dieser Zeit von Rudolf Mentzel geleitet, einem weiteren NSWissenschaftsfunktionär mit Greifswalder Vergangenheit. 185 Vgl. Bericht Akademische Turnverbindung Greifswald vom 14.12.1933, in: UAG, ATV 88. 186 Vgl. Bericht Akademische Turnverbindung Greifswald vom 14.12.1933, in: UAG, ATV 88. 187 Vgl. Fragebogen zur Festsetzung der Besoldung von Gerhard Adam, in: BArch (ehem. BDC), PK, Adam, Gerhard, 23.11.1907.

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demischen SS-Elite, verantwortlich. 1942 wurde Adam schließlich zum SS-Standartenführer ernannt.188 Nachfolger Adams als Führer der Greifswalder Studentenschaft wurde 1934 Erhard Kiehl. Auch Kiehl verblieb nur wenige Monate in seinem Amt. Bereits Ende des Jahres189 wurde er nach Berlin berufen und war dort als Gaustudentenführer tätig.190 Darüber hinaus war Kiehl zwischen 1938 und 1940 Bezirksstadtrat in Berlin.191 Anschließend diente er in der Wehrmacht, wo er durch den „Ehrenschild des Komm. Generals u. Befehlshabers Luftgau Norwegen ‚Für besondere Leistung‘ Nr. 574.“ ausgezeichnet wurde.192 Karl-Heinz Bendt war als Vertrauensmann für die Kameradschaftshäuser193 und Stellvertretender Führer der Deutschen Studentenschaft in Greifswald tätig.194 Darüber hinaus wurde er 1933/34 auch Führer des SA-Hochschulamtes.195 In der SA stieg Bendt bis zum SA-Hauptsturmführer auf. Seit 1936 war er beim SD des ­SD-Oberabschnittes Nord in Stettin tätig, wo er die Hauptabteilung II des SD-Nord neu aufbaute und in kurzer Zeit einen V-Mann-Apparat installierte.196 Während seiner Tätigkeit als Hauptabteilungsleiter des SD-Oberabschnittes Nord bemühte sich der pommersche Gauleiter Franz Schwede-Coburg, Karl-Heinz Bendt als NSDAPKreisleiter zu gewinnen.197 Dazu kam es jedoch nicht. Stattdessen wurde Bendt 1941 zum Leiter des SD-Leitabschnittes Breslau berufen. In dieser Tätigkeit hielt Bendt seine schützende Hand über seinen Jugendfreund Berthold Beitz, als dieser 1942 denunziert wurde.198 1944 wurde Bendt Führer des SD-Leitabschnittes Düsseldorf. 188 Vgl. Fragebogen zur Festsetzung der Besoldung von Gerhard Adam, in: BArch (ehem. BDC), PK, Adam, Gerhard, 23.11.1907. 189 Vgl. Anlage zur Ausstellung des Mitgliedsbuches von Erhard Kiehl, in: BArch (ehem. BDC), PK, Kiehl, Erhard, 11.10.1906. 190 Vgl. Karteikarte zu Erhard Kiehl, in: BArch (ehem. BDC), PK, Kiehl, Erhard, 11.10.1906. 191 Vgl. Personalblatt von Erhard Kiehl, in: BArch (ehem. BDC), PK, Kiehl, Erhard, 11.10.1906. 192 Vgl. Personalblatt von Erhard Kiehl, in: BArch (ehem. BDC), PK, Kiehl, Erhard, 11.10.1906. 193 Vgl. Auflistung Ämter Deutsche Studentenschaft Greifswald 1933/1934, in: BArch, NS 38/2716. 194 Vgl. handschriftlicher Lebenslauf von Karl-Heinz Bendt vom 24.11.1936, in: BArch (ehem. BDC), SSO, Bendt, Karl-Heinz, 8.7.1908. 195 Vgl. Sitzung des akademischen Senats am 13. Juni 1934, in: UAG, Altes Rektorat R 2200, Bl. 88–89. 196 Vgl. Beurteilung zu Karl-Heinz Bendt, in: BArch (ehem. BDC), SSO, Bendt, Karl-Heinz, 8.7.1908. 197 Vgl. Leiter der Zentralabteilung I2, Klingemann an SS-Personalhauptamt vom 14.8.1939, in: BArch, (ehem. BDC), SSO, Bendt, Karl-Heinz, 8.7.1908. 198 Thomas Sandkühler, Berthold Beitz und die „Endlösung der Judenfrage“ im Distrikt Galizien,1941–1944, in: Gerhard Hirschfeld, Tobias Jersak (Hg.), Karrieren im Nationalsozialismus: Funktionseliten zwischen Mitwirkung und Distanz. Internationales Symposium vom 8. bis 10. November 2001 in Osnabrück, Frankfurt/Main 2004, S. 99–126, hier S. 112.

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Nach dem Krieg geriet er in Kriegsgefangenschaft und wurde als Zeuge während der Nürnberger Prozesse verhört. Werner Lottmann, der 1933/34 im Hauptamt I der Greifswalder Studentenschaft für „Rassefragen“ zuständig war, arbeitete nach seiner Zeit in Greifswald als „Rassenpolitischer Schuler der Standesbeamten im ganzen Reich“ und war als Lektor der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums tätig.199 Anschließend war er als Erbbiologe und Referent in der Abteilung Förderung des Reichsstudentenwerkes aktiv.200 Innerhalb der SS stieg Lottmann bis 1944 zum Obersturmbannführer auf.201 Die beiden Skandinavienexperten202 innerhalb der NS-Studentenschaft, Günther Falk und Heinz Krüger, blieben dagegen in Greifswald und machten beide Karriere beim SD. Günther Falk war bereits vor der „Machtergreifung“ als Führer der NSHochschulgruppen in Rostock203 und Greifswald204 aktiv. Sein Interesse galt schon zu dieser Zeit den skandinavischen Ländern. Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten wurde Falk mit dem Aufbau eines Nordischen Amtes bei der Deutschen Studentenschaft in Greifswald beauftragt.205 Aufgabe des Nordischen Amtes war es, Verbindungen zu studentischen Kreisen und Einzelpersonen in den skandinavischen Ländern herzustellen, einen Nachrichtendienst zu installieren und Informationen zu sammeln, die „dem Kampf gegen die Greuelpropaganda“ dienen sollten.206 Seit 1933 war Falk wissenschaftlicher Assistent bei den Nordischen Auslandsinstituten und beschäftigte sich im Auftrag der Parteiamtlichen Prüfungskommission mit dem politischen Schrifttum. Nach einer Tätigkeit als Vertreter der Deutschen Studentenschaft in Schweden kehrte er anschließend nach Greifswald zurück und war ab 1938/39 Gaustudentenführer in Pommern. Mit Kriegsbeginn war er „in Auslandsarbeit für das General-Kommando tätig“.207 Darüber hinaus war Falk 1940 als Sonderführer und Dolmetscher für nordische Sprachen im Luftgau Norwegen aktiv.208 Heinz Krüger engagierte sich zunächst als Gaufachredner für Hochschulpolitik. In 199 Vgl. handschriftlicher Lebenslauf, in: BArch (ehem. BDC), RS, Lottmann, Werner, 10.4.1909. 200 Handschriftlicher Lebenslauf, in: BArch (ehem. BDC), RS, Lottmann, Werner, 10.4.1909. 201 Vgl. SS-Karteikarte Werner Lottmann, in: BArch (ehem. BDC), SSO, Lottmann, Werner, 10.4.1909. 202 Vgl. dazu ausführlich auch der Beitrag von Marco Nase (Stockholm) in diesem Band. 203 Vgl. Brief an NS-Hochschulgruppenführer Königstein vom 28.1.1930, in: BArch, NS 38/3629. 204 Vgl. Falk an Baldur von Schirach vom 21.7.1930, in: BArch, NS 38/3629. 205 Vgl. Tätigkeitsbericht Günther Falk (undatiert), in: BArch, NS 38/2476. 206 Vgl. Tätigkeitsbericht Günther Falk (undatiert), in: BArch, NS 38/2476. 207 Amt für Lehrplanung an Reichsamtsleiter Scheidt vom 4.4.1941, in: Institut für Zeitgeschichte (künftig: IfZ), MA 129, Bd. 3. 208 Vgl. Amt für Lehrplanung an Reichsamtsleiter Scheidt vom 4.4.1941, in: IfZ, MA 129, Bd. 3.

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der Greifswalder Studentenschaft hatte er die Leitung des Amtes für Presse sowie des Amtes Weltanschauung und Kultur inne.209 Seit 1. März 1937 war Krüger wissenschaftlicher Assistent am Schwedischen Institut210 und wurde 1941 mit den Geschäften der Pressestelle der Universität beauftragt.211 Im selben Jahr wurde er durch den Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Stettin zur „langfristigen Notdienstleistung“ einberufen.212 Seit dem 30. Januar 1942 war Heinz Krüger zusätzlich mit der Leitung der NSDAP Ortsgruppe Greifswald-Ost beauftragt.213

Der NSD-Dozentenbund

Mit der Machtübernahme bemühten sich die Nationalsozialisten nun auch, die Bereiche der Hochschulen für sich zu gewinnen, die ihnen bisher in weiten Teilen verschlossen gewesen waren, z.B. die Hochschullehrerschaft. Zwar hatte es während der Weimarer Republik auch Parteimitglieder und Sympathisanten unter den Hochschullehrern gegeben, einen umfassenden Zugriff der Partei auf die Masse der Hochschullehrer war aber im Gegensatz zu den Studenten nicht festzustellen. In der Folge bemühten sich daher eine Reihe von Parteistellen und das zuständige Ministerium darum, die Auswahl, ideologische Kontrolle und Berufung der Hochschullehrer unter die eigene Kontrolle zu bekommen. Nachdem zunächst die bisherigen Hochschullehrervertretungen ausgeschaltet waren, wurde von Seiten des Preußischen Kultusministeriums am 11. Oktober 1933 die sogenannten Dozentenschaften an allen preußischen Universitäten eingeführt.214 Den Dozentenschaften gehörten obligatorisch alle Nichtordinarien und Assistenten an.215 Den Ordinarien wurde die Mitgliedschaft freigestellt. In der Folge wurden in anderen deutschen Ländern ebenfalls Dozentenschaften installiert. Mit der Gründung des Reichserziehungsministeriums wurden schließlich die Dozentenschaften zentral von Berlin aus geleitet. Darüber hinaus existierte seit 1929 noch der NS-Lehrerbund, in dem die Hochschullehrer in einer eigenen Fachschaft organisiert waren. Am 18. November 1933 wurden an die Spitze der Fachschaften des NS-Lehrerbundes die jeweiligen Ministerialdirektoren 209 210 211 212

Vgl. Amt für Lehrplanung an Reichsamtsleiter Scheidt vom 4.4.1941, in: IfZ, MA 129, Bd. 3. Vgl. Amt für Lehrplanung an Reichsamtsleiter Scheidt vom 4.4.1941, in: IfZ, MA 129, Bd. 3. Vgl. Rektor an Kurator vom 16.5.1941, in: UAG, Altes Rektorat R 339, Bl. 120. Vgl. Inspekteur Sicherheitspolizei und SD (Stettin) an Kurator vom 11.11.1941, in: UAG, PA 4229 (Krüger), Bl. 76. 213 Heinz Krüger an Rektor vom 25.1.1943, in: UAG, Altes Rektorat R 338, Bl. 96. 214 Vgl. Nagel, Bildungsreformer (wie Anm. 183), S. 258. 215 Vgl. Erlass des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 11.10.1933, in: UAG, Altes Rektorat R 771, Bl. 1–2.

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des Reichserziehungsministeriums gestellt. Verantwortlicher Ministerialdirektor im REM wurde Joachim Haupt, der für die Dozentenschaften, die Auswahl der Dozentenschaftsführer sowie die Reichsfachschaft-Hochschullehrer im NS-Lehrerbund verantwortlich war.216 Zum Führer der Deutschen Dozentenschaft ernannte Haupt 1934 den ehemaligen Greifswalder Medizinstudenten Heinz Lohmann.217 Gleichzeitig kamen, neben den Genannten, auch zwei weitere Gründungsmitglieder der pommerschen NSDAP zu hohen Positionen im Ministerium. Reinhard Sunkel wurde persönlicher Referent von Bernhard Rust und ab 1934 Ministerialdirektor und Leiter des Ministerbüros.218 Der ehemalige pommersche Gauleiter und Rektor der Universität Greifswald, Karl Theodor Vahlen, wurde ebenfalls Ministerialdirektor und war als Leiter des Amtes Wissenschaft im REM bis 1936 maßgeblich an der Umgestaltung der Hochschulen beteiligt.219 Schließlich war mit Professor Werner Jansen, der als Referent das Sachgebiet Medizin betreute,220 ein weiterer ehemaliger Greifswalder im REM vertreten. Eigene hochschulpolitische Ambitionen verfolgte auch Rudolf Heß, der „Stellvertreter des Führers“. Dieser hatte in seinem Stab eine Hochschulkommission ins Leben gerufen, die sich um Habilitationen, Ernennungen und Überwachungen der Hochschulen kümmern sollte. Ihr Leiter wurde Professor Franz Wirz aus München.221 Wirz schien jedoch kein Interesse zu haben, mit den vom REM geführten Dozentenschaften zusammenzuarbeiten und griff stattdessen auf das System der Vertrauensmänner an den Medizinischen Fakultäten zurück, welches der Reichsärzteführer Gerhard Wagner installiert hatte.222 Das REM bemühte sich daher in der Folgezeit, den Einfluss der Hochschulkommission in Berufungsangelegenheiten zu begrenzen. Als 1935 der Konflikt zwischen REM und Hochschulkommission schließlich offen ausbrach, wurde er auf einer persönlichen Ebene eröffnet – im Kern ging es aber um die Macht an den Hochschulen. Zunächst reichte Wirz vor dem Obersten Parteigericht eine Verleumdungsklage gegen Heinz Lohmann ein.223 Er beschuldigte ihn, das Gerücht verbreitet zu haben, dass er (Wirz) einen Juden begünstigt hätte. 216 Vgl. Reece Conn Kelly, National Socialism and German University Teachers, Seattle 1973, S. 178. 217 Vgl. Kelly, University Teachers (wie Anm. 216), S. 179. 218 Vgl. Grüttner, Biographisches Lexikon (wie Anm. 180), S. 172. 219 Vgl. Nagel, Bildungsreformer (wie Anm. 183), S. 109. 220 Vgl. Nagel, Bildungsreformer (wie Anm. 183), S. 266. 221 Vgl. Nagel, Bildungsreformer (wie Anm. 183), S. 265. 222 Vgl. Kelly, University Teachers (wie Anm. 216), S. 187. 223 Vgl. Antrag Prof. Franz Wirz auf Eröffnung eines Parteigerichtsverfahrens gegen Heinz Lohmann an das Oberste Parteigericht vom 18.5.35, in: BArch (ehem. BDC), OPG-Akten, Lohmann, Heinz, 10.9.1907.

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Darüber hinaus warf er Lohmann vor, systematische Hetze gegen die Vertrauensmänner betrieben, verschiedentlich gelogen, sich parteischädigend gegenüber Dozentenschaftsführern verhalten und selbst vom jüdischen Professor Wilhelm Steinhausen aus Greifswald Geld angenommen zu haben. Weiterhin wurde ihm die Berufung des Greifswalder Professors Gottfried Ewald nach Göttingen gegen den Willen der Hochschulkommission vorgeworfen. Schließlich behauptete Wirz, dass Lohmann seine Rolle während der Kampfzeit in Greifswald in seinem Buch „SA räumt auf“ maßlos übertrieben habe.224 Einer der Belastungszeugen, die Wirz gegen Lohmann anführte, war der ehemalige Greifswalder Dozentenführer Hermann Brüske. Brüske rühmte sich, als einziger Greifswalder Hochschullehrer während des Beamtenverbotes Mitglied der NSDAP gewesen zu sein und diese aktiv unterstützt zu haben.225 Für seine Verdienste um die Partei war Brüske mit einer Honorarprofessur und dem Amt des Dozentenschaftsführers belohnt worden.226 In seiner Funktion als Dozentenschaftsführer war Brüske zudem im akademischen Senat vertreten.227 In den Monaten nach der „Machtergreifung“ hatte Brüske jedoch zunehmend querulatorische Züge gezeigt und wurde beschuldigt, Gelder aus der Kasse der Dozentenschaft unterschlagen zu haben.228 Daraufhin war er von Lohmann am 17. Februar 1935 von seinem Amt als Dozentenschaftsführer enthoben worden.229 Auch eine weitere Verwaltung des polnischen Lektorats wurde ihm vom REM nicht mehr genehmigt.230 Das dürfte der Grund dafür gewesen sein, dass Brüske sich nun als 224 Vgl. Antrag Prof. Franz Wirz auf Eröffnung eines Parteigerichtsverfahrens gegen Heinz Lohmann an das Oberste Parteigericht, vom 18.5.35, in: BArch (ehem. BDC), OPG-Akten, Lohmann, Heinz, 10.9.1907. 225 Vgl. Hermann Brüske an Prof. Franz Wirz vom 25.5.1935, in: BArch, NS 15/196. 226 Vgl. Sitzung des akademischen Senats am 31. Oktober 1933, in: UAG, Altes Rektorat R 2200, Bl. 81–82. 227 Vgl. Sitzung des akademischen Senats am 1. Februar 1934, in: UAG, Altes Rektorat R 2200, Bl. 86–87. Vorgänger im Amt des Führers der Dozentenschaft in Greifswald war Dr. Lange. Dieser hatte in der Sitzung des akademischen Senats aufgrund des Erlasses des Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 28. Oktober 1933 den Antrag gestellt, dass zukünftig die Vertreter der Dozentenschaft an den Senatssitzungen teilnehmen. Diesem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. Sitzung des akademischen Senats am 2. November 1933, in: UAG, Altes Rektorat R 2200, Bl. 83. 228 Vgl. Heinz Lohmann an NSDAP-Gau-Gericht Berlin vom 27.8.1935, in: BArch (ehem. BDC), OPG-Akten, Lohmann, Heinz, 10.9.1907 229 Vgl. Führer Greifswalder Dozentenschaft an Reichswissenschaftsminister vom: 24.6.1935, in: UAG, Altes Rektorat R 771, Bl. 72. 230 Vgl. Reichs- und Preußischer Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an Kurator vom 16.4.1935, in: BArch, NS 15/196.

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Zeuge gegen Lohmann zur Verfügung stellte.231 Zugleich bemühte er sich, seine Amtsenthebung bei Wirz und in Briefen an das REM rückgängig zu machen. Gegenüber dem Ministerium berief er sich auf Karl Theodor Vahlen, der ihm zugesagt habe, seine Tätigkeit fortsetzen zu können.232 Dabei unterschätzte er jedoch, dass Vahlen in der machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen Ministerium und Hochschulkommission keinerlei Interesse haben konnte, Brüske weiter zu stützen, insbesondere nachdem dieser sich gegen Lohmann gestellt hatte. Welche Bedeutung das Ministerium dem Ausgang des Parteiverfahrens und damit der Frage der persönlichen Integrität der beteiligten Kontrahenten zumaß, wird an dem Umstand erkennbar, dass Vahlen, als Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Lohmanns goldenem Parteiabzeichen aufkamen, sich bereit erklärte, die ausstehenden Mitgliedsbeiträge Lohmanns aus eigenen Mitteln zu begleichen.233 Im April 1935 zeigte der Konflikt zwischen Lohmann und Wirz auch Auswirkungen an der Universität Greifswald. In einem an Lohmann gerichteten Bericht beklagte sich Gaustudentenführer Manfred Pechau, dass an der Universität „eine fortlaufende Beunruhigung infolge der Gegeneinanderarbeit verschiedener Kreise“234 eingetreten sei. Darüber hinaus würden diese Kreise gegen den Studentenbund arbeiten. Verantwortlich hierfür machte Pechau sowohl Otto Stickl, den Vertrauensmann der Hochschulkommission, als auch Hermann Brüske.235 Hinsichtlich der Person Brüskes vermutete Pechau sicherlich nicht zu Unrecht, dass dieser nach seiner Entlassung als Dozentenschaftsführer „gegen Lohmann und damit gegen das Kultusministerium eine Hetze in Szene setzte“.236 Der Greifswalder NSD-Studentenbund237 stellte sich in der Folgezeit auf die Seite des REM und sandte der Deutschen Dozentenschaft Berichte von angeblichen Äußerungen, die Stickl und Brüske über die ehemaligen Greifswalder Lohmann und Jansen getätigt haben sollten. Insbesondere die vermeintlichen Äußerungen über Vahlen schienen die NS-Studentenfunktionäre zu irritieren. Das REM nutzte diese Vorlage und ordnete Vernehmungen der Professoren Brüske,

231 Vgl. Hermann Brüske an Prof. Franz Wirz vom 25.5.1935, in: BArch, NS 15/196. 232 Vgl. Hermann Brüske an Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 25.4.1935, in: BArch, NS 15/196. 233 Vgl. Schreiben an Gauschatzmeister Berlin vom 8.7.1936, in: BArch (ehem. BDC), PK, Lohmann, Heinz, 10.9.1907. 234 Manfred Pechau an Heinz Lohmann vom 30.4.1935, in: BArch, R 4901/621, Bl. 38–40. 235 Vgl. Manfred Pechau an Heinz Lohmann vom 30.4.1935, in: BArch, R 4901/621, Bl. 38–40. 236 Manfred Pechau an Heinz Lohmann vom 30.4.1935, in: BArch, R 4901/621, Bl. 38–40. 237 Als Zeugen stellten sich neben dem Gaustudentenführer Manfred Pechau auch der ehemalige Führer des SA-Hochschulamtes, Karl-Heinz Bendt, und der Fachschaftsleiter der Medizinischen Fachschaft, Hellmut Vieweg, zur Verfügung.

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Stickl238 und Hartnack an, denen man „Bestrebungen [vorwarf ], das Vertrauen in einzelne Referenten des Ministeriums zu untergraben“.239 Die Beschuldigten bestritten die Vorwürfe. Ob es zu weiteren Konsequenzen seitens des Ministeriums kam, ließ sich bisher nicht ermitteln. Es ist jedoch anzunehmen, dass das REM die Beendigung des Konflikts mit der Hochschulkommission durch das laufende Parteigerichtsverfahren anstrebte. Nichtsdestotrotz scheint sich das Eintreten des Greifswalder NSD-Studentenbundes positiv zugunsten Lohmanns ausgewirkt zu haben. In der Auseinandersetzung vor dem Parteigericht gelang es Lohmann schließlich, die Vorwürfe zu entkräften. So präsentierte er für die Beurteilung seiner Rolle beim „Greifswalder Blutsonntag“ eine Reihe von Entlastungszeugen aus der Greifswalder Kampfzeit, die entweder zugunsten Lohmanns aussagten240 oder erstaunliche Erinnerungslücken aufwiesen.241 Zu diesen Zeugen gehörten auch Greifswalder NS-Hochschulaktivisten wie Manfred Pechau. Am 19. März 1936 wurde das Verfahren schließlich vom Gaugericht Berlin eingestellt.242 Wenngleich es dem REM somit gelang, im Fall Lohmann einen Sieg zu erringen, gewann die Hochschulkommission zunächst die machtpolitische Auseinandersetzung. Am 24. Juli 1935 wurde der aus dem NS-Lehrerbund neugegründete NSDDozentenbund der Partei unterstellt. Der NSD-Dozentenbund war somit neben dem NSD-Studentenbund die zweite Parteigliederung an den Universitäten. Das REM willigte ein und löste die Deutsche Dozentenschaft auf Reichsebene auf.243 An den Universitäten blieben die Dozentenschaften allerdings bestehen. Gleichzeitig wurden auf lokaler Ebene NSD-Dozentenbundführer und auf regionaler Ebene Gau238 Prof. Stickl wurde dennoch am 27.11.1935 als Mitglied des akademischen Senats aufgenommen. Vgl. Sitzung des akademischen Senats am 27. November 1935, in: UAG, Altes Rektorat R 2200, Bl. 105–106. 239 Vgl. Schreiben zwischen Kurator und Reichs- und Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 31.5.1935, in: BArch, R 4901/621, Bl. 54 und vom 19.6.1935, in: ebd., Bl. 60–61. 240 Vgl. Bescheinigung Manfred Pechau vom 4.4.1935, in: BArch (ehem. BDC), OPG-Akten, Lohmann, Heinz, 10.9.1907. 241 Vgl. Bericht Werner Gehrke vom 6.5.1935, in: BArch (ehem. BDC), OPG-Akten, Lohmann, Heinz, 10.9.1907. 242 Vgl. Aktenvermerk über Spruchsitzung des Obersten Parteigerichts am 10.11.1938 vom 12.1.1939, in: BArch (ehem. BDC), OPG-Akten, Lohmann, Heinz, 10.9.1907. 243 In dem Erlass des REM vom 18.7.1935 heißt es dazu: „Zugleich wird die Stellung eines ‚Führers der Deutschen Dozentenschaft‘, sowie die bisherige Geschäftsstelle ‚Deutsche Dozentenschaft‘ mit Wirkung vom 1. November 1935 aufgehoben.“ Vgl. Erlass des Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 18.7.1935, in: UAG, Altes Rektorat R 771, Bl. 76–77.

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dozentenbundführer eingeführt. Um Konflikte zwischen der alten Institution des Dozentenschaftsführers und des neuen NSD-Dozentenbundführers zu vermeiden, wurde zudem 1936 von Reichsminister Bernhard Rust und dem neuen Reichsdozentenbundführer Walter Schultze beschlossen, beide Ämter in Personalunion zu vergeben.244 Von einer Beilegung des Konflikts zwischen Hochschulkommission bzw. NSD-Dozentenbund auf der einen Seite und dem REM auf der anderen Seite konnte aber im weiteren zeitlichen Verlauf nicht die Rede sein. Das Ministerium bemühte sich weiterhin, den Einfluss der Parteistellen zu unterbinden. Dies geschah zunächst mit der Gründung des von Heinz Lohmann geführten Reichsdozentenwerks und anschließend in der Auseinandersetzung um die Funktion des Gaudozentenbundführers. Dieser wurde vom Reichsdozentenbundsführer ernannt, unterstand aber disziplinarisch dem jeweiligen Gauleiter.245 Er war für die Ernennung der lokalen Dozentenbundführer, die einheitliche Wissenschaftsarbeit im Gau, die ideologische Kontrolle sowie die Nachwuchsförderung verantwortlich und hatte ein Mitspracherecht bei Berufungen.246 Dieses weite Spektrum an Zuständigkeiten konnte dem REM nicht gefallen, da ja auf der staatlichen Ebene bereits die jeweiligen Rektoren als „Führer“ an den Hochschulen eingesetzt waren. Insbesondere in der Frage der Berufungen bemühte sich das REM, den NSD-Dozentenbund herauszuhalten und seine Tätigkeit auf die politische Beurteilung der Hochschullehrer zu beschränken. Im Wesentlichen gelang es dem REM schließlich, seine Vorstellungen durchzusetzen. Berufungsvorschläge wurden zunächst von den Fakultäten erstellt und über den Rektor an das Ministerium weitergeleitet. Erst dann wurden vom Stab Heß politische Gutachten vom NSD-Dozentenbund, der SS oder den Gauleitungen eingeholt. Damit besaß die Partei zwar ein Vetorecht, war aber im Zweifelsfall auf die politischen Gutachten des örtlichen Dozentenbunds angewiesen.247 Leider fehlt es an Quellen, um das weitere Wirken des NSD-Dozentenbundes in Greifswald zu dokumentieren. Anhand der vorhandenen Akten können zwar die einzelnen Dozentenbundführer benannt werden. Darüber hinaus lassen sich kaum detaillierte Aussagen über die weitere Tätigkeit des NSDDB treffen. Eine Bewertung der Rolle des lokalen NSD-Dozentenbundes hinsichtlich der Erstellung politischer Gutachten ist aufgrund der geringen Zahl überlieferter Gutachten ebenfalls nicht 244 Vgl. Erlass des Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 24.4.1936, in: UAG, Altes Rektorat R 771, Bl. 105. 245 Vgl. NSDAP Reichsleitung zur Einrichtung der Dienststelle Gaudozentenbundsführer, in: BArch, NS 22/139. 246 Vgl. NSDAP Reichsleitung zur Einrichtung der Dienststelle Gaudozentenbundsführer, in: BArch, NS 22/139. 247 Vgl. Kelly, University Teachers (wie Anm. 216), S. 330–340.

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möglich. Es wurde zwar deutlich, dass es in diesen Gutachten einen relativ breiten Ermessungsspielraum gab, wobei, in Abhängigkeit von der zu beurteilenden Person, die politische Einstellung gegenüber der wissenschaftlichen Leistung unterschiedlich stark gewichtet wurde. Für eine abschließende Bewertung erscheint es jedoch dringend erforderlich, die Quellenbasis weiter zu vergrößern.248 Bis dahin muss das Wirken des NSD-Dozentenbundes in Greifswald ein Forschungsdesiderat bleiben.

Zusammenfassung

Die Rolle der studentischen NS-Vertreter ist für das Verständnis der Greifswalder Universitätsgeschichte im Nationalsozialismus in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Zum einen geht die Gründung der NSDAP in Pommern auf ihre Initiative zurück. Zum anderen gehörten die frühen studentischen NS-Vertreter aus Greifswald später zu den bedeutenden NS-Aktivisten innerhalb des deutschen Reiches und waren an den Gründungen weiterer Parteiorganisationen ebenso maßgeblich beteiligt, wie an der Erringung der Vorherrschaft der NSDAP innerhalb der deutschen Studentenvertretungen. Nach der „Machtergreifung“ waren die NS-Hochschulaktivisten federführend an der Umgestaltung der Universität im nationalsozialistischen Sinne beteiligt. Im Falle der Universität Greifswald ist hervorzuheben, dass einige dieser studentischen Vertreter nach der „Machtergreifung“ nicht nur eine exponierte Funktion innehatten, sondern auch der Hochschulpolitik verhaftet blieben und diese in den ersten Jahren in Schlüsselstellungen des Regimes kontrollierten. Ihre frühen Erfolge basierten auf der Ausbildung überregionaler Netzwerke, die es wiederum ihren Nachfolgern erleichterten, die Posten in der NS-Studentenschaft als Sprungbrett für eine weitere Karriere im NS-Staat zu nutzen. Auch an der machtpolitischen Auseinandersetzung im Zusammenhang mit der Gründung des NSD-Dozentenbundes waren ehemalige Angehörige der Greifswalder Universität maßgeblich beteiligt. Im Konflikt um die Vorherrschaft an den Hochschulen standen sie auf Seiten des Reichserziehungsministeriums. Der Konflikt auf Reichsebene zwischen Hochschulkommission und REM führte auch zu Divergenzen zwischen den nationalsozialistischen Vertretern an der Universität Greifswald, an denen sich die örtliche Studentenführung maßgeblich beteiligte. Das weitere Wirken des Greifswalder NSD-Dozentenbundes lässt sich darüber hinaus nur bruchstückhaft nachvollziehen. 248 Vgl. dazu auch: Lothar Mertens, „Nur politisch Würdige“. Die DFG-Forschungsförderung im Dritten Reich 1933–1937, Berlin 2004, S. 17–28.

Zur Berufungspolitik der Greifswalder Medizinischen Fakultät zwischen 1933 und 1935 Ulrike Michel Die Berufungspolitik der deutschsprachigen Universitäten zur Zeit des Nationalsozialismus ist ein beachtenswertes Thema: Beinhalteten die Besetzungsvorgänge zum einen die Möglichkeit, wissenschaftlich angesehene Professoren zu berufen, waren sie zugleich machtvolles Instrument der nationalsozialistischen Hochschulpolitik. Verschiedene Einflussfaktoren auf die Neubesetzungen vakanter Lehrstühle in den Jahren von 1933 bis 1935 sollen am Beispiel der Medizinischen Fakultät Greifswald dargestellt werden. Dafür lohnt sich zunächst ein Vergleich mit den Berufungen in dem Zeitraum zwischen 1930 bis 1932, als es in drei Fällen zu Neubesetzungen vakanter Lehrstühle kam. Die Gründe hierfür waren zum einen der Wechsel des Lehrstuhlinhabers an eine andere Universität (1930: Pathologie; 1932: Pädiatrie) und zum anderen der Tod des Lehrstuhlinhabers (1932: Gynäkologie). Zwischen 1933 und 1935 wurden in 14 Fällen Ordinariate neu besetzt. In neun Fällen handelte es sich um einen Wechsel der Lehrstuhlinhaber an andere Universitäten (1934: Hygiene, Gerichtliche Medizin, Psychiatrie, Gynäkologie; 1935: Chirurgie, Augenheilkunde, Dermatologie, Pädiatrie). Außerdem führten der Freitod eines Ordinarius (1933: Psychiatrie) sowie Emeritierungen aufgrund des Altersgrenzengesetzes (1934: Chirurgie; 1935: Anatomie) zu Vakanzen an der Medizinischen Fakultät. In zwei weiteren Fällen wurden Ordinarien aufgrund von Initiativen der Studentenschaft beurlaubt und/oder versetzt (1934: Physiologische Chemie; 1935: Zahnmedizin). Im Vorfeld der Besetzungen der Jahre 1930 bis 1932 wurde üblicherweise eine sogenannte Engere Fakultät, bestehend aus dem Dekan der Fakultät, dem ausscheidenden Ordinarius sowie meist zwei weiteren Fakultätsmitgliedern, gewählt, die eine Liste mit drei Vorschlägen zur Neubesetzung des vakanten Lehrstuhles an das Preußische Kultusministerium schickte. Oftmals wurden von der Engeren Fakultät zusätzlich Vorschläge von Universitäten in ganz Preußen eingeholt. Darüber hinaus sollte von den übrigen Professoren, Honorarprofessoren, außerordentlichen Professoren und den Privatdozenten ebenfalls eine Liste erarbeitet und verschickt werden.1 Die genannten Neubesetzungen jener Jahre decken sich mit den Vorschlägen der Greifswalder Medizinischen Fakultät. So wurden einmal der erst- und zweimal der 1

Gemäß III § 12 der Satzung der Medizinischen Fakultät zu Greifswald von 1932. Vgl. Universitätsarchiv Greifswald (künftig: UAG), Med. Fak. I-412, Nr. 2.

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drittgenannte Mediziner auf den Greifswalder Lehrstuhl berufen. Innerhalb der Fakultät kristallisierte sich bei den Diskussionen um die Listenvorschläge ein scheinbarer Trend zur Nationalisierung heraus.2 Mit dem Gynäkologen Bernhard Zondek und dem Pädiater Paul György fanden zwei vorgeschlagene jüdische Mediziner trotz internationalen Ansehens keine Berücksichtigung auf der Greifswalder Vorschlagsliste.3 Betrachtet man die Berufungsvorgänge von 1933 bis 1935, fällt die große Anzahl von Neubesetzungen ins Auge.4 Nach der „Machtergreifung“ Hitlers zogen vor al2

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Eine deutsch-nationale Einstellung und die Annäherung mancher Professoren an nationalsozialistische Positionen sind laut Schmiedebach im Lehrkörper der Medizinischen Fakultät Greifswald schon ab 1919 zu beobachten. Vgl. Heinz-Peter Schmiedebach, Die Medizinische Fakultät Greifswald in den letzten 200 Jahren. Akademische Tradition und gesellschaftliche Anforderungen, in: Dirk Alvermann, Karl-Heinz Spieß (Hg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald, Bd. 1, Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006, S. 289–370, hier S. 318. Bernhard Zondek (29.7.1891–15.11.1966), Gynäkologe und Endokrinologe, seit 1926 außerordentlicher Professor an der Universität Berlin, daneben 1929–1933 Leiter der gynäkologischgeburtshilflichen Abteilung des Krankenhauses in Spandau; 1933 als Jude seiner Stellungen enthoben, emigrierte er 1933 nach Schweden, 1934 nach Palästina; 1935–61 Professor für Gynäkologie und Geburtshilfe an der Hebräischen Universität Jerusalem. Vgl. Wolfgang Eckart, Christoph Gradmann (Hg.), Ärztelexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 22001, S. 342 und Institut für Zeitgeschichte München und Research Foundation for Jewish Immigration (Hg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Volume II, The Arts, Sciences and Literature, München 1999, S. 1282f. Paul György (7.4.1893–1.3.1976), Medizinstudium an der Budapest Medical School, Abschluss 1915, ab 1920 Assistent von Prof. Ernst Moro in Heidelberg, 1927 Ernennung zum Professor, aufgrund der politischen Lage 1933 Wechsel an die Universität von Cambridge, entdeckte dort das Vitamin B6, wurde 1937 zum Associate Professor an die Universität in Cleveland berufen, 1944 Wechsel an die Universität von Pennsylvania, wo er 1946 zum Professor ernannt wurde, wurde 1963 emeritiert, starb 1976. Vgl. L. A. Barness, R. M. Tonarelli, Paul György. A Biographical Sketch, in: Journal of Nutrition, 109 (1979), S. 19–23 und Wolfgang Eckart, Volker Sellin, und Eike Wolgast (Hg.), Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus, Heidelberg 2006, S. 893–908, hier S. 896. Im Zuge der „Machtergreifung“ Hitlers kam es zum Erlass vieler Gesetze, die entscheidenden Einfluss auf die Zusammensetzung der Lehrkörper der Universitäten in ganz Deutschland hatten. Durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7.4.1933 wurden alle Juden und „Nichtarier“ mit Ausnahme derer, die vor dem 1. August 1914 Beamte gewesen oder am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten oder Angehörige Gefallener waren, aus dem Dienst entlassen. Außerdem konnten „Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten“, in den Ruhestand versetzt werden. Im Rahmen der Durchsetzung dieses Gesetzes wurden Fragebögen an alle Mitglieder der Lehrkörper der Universitäten verschickt. Laut Rundschreiben des damaligen Kultusministers Rust an die Universitätskuratoren sollten vorsorglich alle „nichtarischen“ Lehrenden ihre Tätigkeit ruhen lassen, bis eine endgültige Entscheidung über die Rechtslage getroffen worden wäre (vgl. Verfügung des Kultusministers Rust an die Universitätskuratoren vom 26.4.1933, in:

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lem das 1933 erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, die „Reichsbürgergesetze“ und das „Gesetz über die Entpflichtung und Versetzung von Hochschullehrern aus Anlaß des Neuaufbaus des Deutschen Hochschulwesens“ im Jahr 1935 große Entlassungswellen nach sich. An drei ausgewählten Beispielen soll im Folgenden exemplarisch die Praxis der Besetzungspolitik dieser Jahre dargestellt werden.

Neubesetzung des Ordinariats für Hygiene 1934: Otto Stickl

Im März 1934 gab der Professor für Hygiene, Ernst Dresel, seine Versetzung nach Leipzig bekannt. Wie üblich wurden Vorschläge zur Neubesetzung des Lehrstuhls von Fachkollegen aus ganz Deutschland eingeholt. Bei Betrachtung der eingegangenen Briefe fällt auf, dass das Verhältnis der vorgeschlagenen Mediziner zum Nationalsozialismus und zur NSDAP neben oder mitunter sogar vor deren wissenschaftlichen und didaktischen Fähigkeiten ausschlaggebenden Einfluss hatte. So wurden langjährige Parteizugehörigkeit oder antisemitische Anschauungen als positive und karrierefördernde Eigenschaften herausgestellt. Missliebige Mediziner hingegen wurden



UAG, Med. Fak. I-84, Bl. 15v.). Das am 21. Januar 1935 in Kraft getretene „Gesetz über die Entpflichtung und Versetzung von Hochschullehrern aus Anlaß des Neuaufbaus des deutschen Hochschulwesens“ ermöglichte nicht nur eine Versetzung in den Ruhestand mit Erreichen des 65. Lebensjahres, sondern auch eine Versetzung an eine andere Universität, wenn es das „Reichsinteresse“ erforderte. Die 1935 erlassenen Verordnungen zum „Reichsbürgergesetz“ (erlassen am 15.9.1935) verboten jüdischen Ärzten die Ausübung ihres Berufes, alle „nichtarischen“ Beamten, die aufgrund des sogenannten Frontkämpferprivilegs noch tätig waren, wurden umgehend in den Ruhestand versetzt. Diese Aufhebung der auch „Hindenburgregelung“ genannten Ausnahmen zog nach dem Erlass des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ 1933 eine zweite große Entlassungswelle von Universitätsangehörigen im Jahr 1935 nach sich. Zu Entlassungen von Ordinarien aus „rassischen“ Gründen kam es in Greifswald nicht, da Greifswald neben Erlangen, Göttingen, Jena, Marburg und Leipzig zu den sechs deutschen Universitäten zählte, an denen am Ende der Weimarer Republik kein jüdischer Ordinarius lehrte. Vgl. Hans-Peter Kröner, Die Emigration deutschsprachiger Mediziner im Nationalsozialismus (= Berichte zur Wissenschaftsgeschichte; Sonderheft), Weinheim 1989, S. 7. Die Repressalien (Entlassung aus politischen und „rassischen“ Gründen), die diesem Gesetz folgten, waren zum großen Teil auf die Ebene der außerordentlichen Professoren, Privatdozenten und Assistenten beschränkt und zogen in Greifswald mit Ausnahme des Psychiaters Edmund Forster im Jahre 1933 keine Entlassungen von Ordinarien nach sich (der Psychiater Edmund Forster kam seiner politisch motivierten Entlassung zuvor und beging nach seiner beantragten Beurlaubung Selbstmord. Vgl. dazu auch Jan Armbruster, Edmund Robert Forster. Lebensweg und Werk eines deutschen Neuropsychiaters, Diss. Greifswald 1999). Dem Ordinarius für Physiologie Wilhelm Steinhausen wurde 1934 aus „rassischen“ Gründen das Prüfungsrecht entzogen. Vgl. UAG, PA 586, Bd. 3, Bl. 28 und UAG, PA 586, Bd. 5, Bl. 41.

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verleumdet und hatten wenig Aussicht, auf die Vorschlagsliste der Fakultät für das Ministerium zu gelangen.5 Nach Abstimmung innerhalb der Greifswalder Fakultät wurde eine Vorschlagsliste6 an das Ministerium geschickt, an deren erster Stelle Otto Stickl, der damalige Oberarzt des Hygienischen Institutes in Greifswald stand. Am 14. August 1934 ernannte das Ministerium Otto Stickl,7 der Ernst Dresel schon seit dem 1. Mai desselben Jahres vertreten hatte,8 mit Wirkung zum 1. September 1934 zum ordentlichen Professor und Direktor des Hygienischen Instituts der Universität Greifswald.9 Zum Zeitpunkt seiner Berufung war Stickl bereits Mitglied der NSDAP.10 Darüber hinaus war er bereits am 18. Januar 1934 zum Vertrauensmann der Reichsleitung der NSDAP der Medizinischen Fakultät in Greifswald berufen worden. Bei allen „wichtigen Angelegenheiten, vor allen solchen hochschulpolitischer Art“11 musste sich die Fakultät mit ihm in Verbindung setzen.12 Außerdem war Stickl in der Medizinischen Fakultät schon aus seiner Zeit als Oberassistent am Hygieneinstitut als überzeugter Nationalsozialist bekannt.13 So schrieb Dekan Rolf Hey am 7. Juli 1933 bei der Eingabe Stickls zum nicht beamteten außerordentlichen Professor an das Ministerium: „Seine politische Einstellung hat ihr Gepräge im Jahre 1919 bekommen, als er in das studentische Freikorps der Einwohnerwehr München eintrat. Schon in seiner Münchener Zeit gewann er enge Fühlung mit dem jungen Nationalsozialismus und war lange vor der nationalen Revolution, auch hier in Greifswald den Studenten, deren besonderes Vertrauen er genießt, und führenden Kreisen als Nationalsozialist bekannt, wenn er auch aus den bekannten äußeren Gründen erst später offiziell der Partei beitreten konnte“.14 5 6 7

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Vgl. UAG, Med. Fak. I-105, Bl. 2, 20, 23. Liste: 1. Stickl (Greifswald), 2. Weigmann (Kiel), 3. Grossmann (Göttingen); vgl. Protokoll der Fakultätssitzung vom 25.7.1934, in: UAG, Med. Fak. II-40, Bl. 290f. Otto Stickl (1897–1951), Promotion 1924 in München, Habilitation 1928 in Greifswald, Oberassistent am Hygieneinstitut. Vom 1.9.1934 bis 1.10.1936 als ordentlicher Professor in Greifswald, dann Ruf nach Tübingen. Lehrte dort von 1936–46 und von 1949–51 und hatte vom 1.11.1939 bis 7.5.1945 das Amt des Rektors inne. Vgl. UAG, Med. Fak. I-75. Vgl. Mitteilung des Kurators an den Dekan vom 14.8.1934, in: UAG, Med. Fak. I-75, Bl. 43. Vgl. Mitteilung des Kurators an den Dekan vom 24.8.1934, in: UAG, Med. Fak. I-75, Bl. 44. Vgl. UAG, Kurator K 718, Bl. 203f. Stickl trat am 1.3.33 in die NSDAP ein. Mitteilung der NSDAP (Stab Hess) an den Rektor vom 18.1.1934, in: UAG, Med. Fak. I-75, Bl. 41. In Ausübung dieser Funktion war er nicht nur bei allen Fakultäts- und Senatssitzungen anwesend, sondern musste auch zu allen Kommissionen, und dabei gerade den Berufungskommissionen der Medizinischen Fakultät hinzugezogen werden. Vgl. Michael Kater, Ärzte als Hitlers Helfer, München 2002, S. 195. Stickl wird dort als „strammer Nationalsozialist“ bezeichnet. Eingabe des Dekans Hey vom 7.7.1933, in: UAG, Kurator K 718, Bl. 203f.

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Dass für das Ministerium Stickls politische Zuverlässigkeit von großer Bedeutung war, zeigt deren Faktensammlung über Stickls parteipolitische Aktivitäten. So sind unter anderem Abschriften der Mitgliedsnummer der NSDAP,15 Informationen über seinen Einsatz als Kreiskulturwart16 und Leiter der Ortsgruppe Greifswald des Kampfbundes für Deutsche Kultur,17 seine Berufung zum Vertrauensmann der Reichsleitung der NSDAP der Medizinischen Fakultät Greifswald18 sowie ein Vortrag Stickls über Rassenhygiene19 in den Archiven gebündelt. Die Tatsache, dass Stickl als überzeugter Nationalsozialist anzusehen war, verbunden mit der Einschätzung des Dekans Hey, dass er „es ausgezeichnet versteht, Menschen zu behandeln und zu leiten“,20 hat ihn wohl auch für das Ministerium als geeigneten Kandidaten für den Greifswalder Lehrstuhl für Hygiene erscheinen lassen.21 Andererseits wird durch die Bemerkungen des Pathologen Hermann Loeschcke offenbar, dass auch Bedenken darüber geäußert wurden, einen dem Nationalsozialismus so nahestehenden Mediziner als Ordinarius fest in der Fakultät zu verankern: „Sehr guter Arbeiter! Persönliche Bedenken! Partei! “22

15 Vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (künftig: GStA PK), I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Universitäten Sekt. 7 Greifswald Tit. IV Nr. 21, Bd. 13, Bl. 208. 16 Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Universitäten Sekt. 7 Greifswald Tit. IV Nr. 21, Bd. 13, Bl. 209. 17 Vgl. Brief der Reichsleitung Kampfbund für Deutsche Kultur ans Ministerium, vom 25.8.1933, in: GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Universitäten Sekt. 7 Greifswald Tit. IV Nr. 21, Bd. 13, Bl. 211. 18 Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Universitäten Sekt. 7 Greifswald Tit. IV Nr. 21, Bd. 13, Bl. 210. 19 Vgl. Vortrag Stickls bei einer Tagung in Leipzig vom 5.–6.1.1934, in: GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Universitäten Sekt. 7 Greifswald Tit. IV Nr. 21, Bd. 13, Bl. 191–201. 20 Eingabe des Dekans Hey, Stickl zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor zu ernennen vom 7.7.1933, in: UAG, Med. Fak. I-75, Bl. 15–18. 21 An Fakultäten, an denen kein gesonderter Lehrstuhl für Rassenhygiene eingeführt wurde, wurden meist die Ordinarien der Hygiene zur Betreuung des Faches eingesetzt; so auch Stickl nach seinem Wechsel an die Universität Tübingen. Vgl. hierzu Kater, Ärzte (wie Anm. 13), S. 195ff. 22 Heys Protokollnotizen zur Erstellung der Fakultätsvorschlagsliste vom 25.7.1934, in: UAG, Med. Fak. I-105, Bl. 16. Hervorhebung in der Quelle.

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Neubesetzung des Ordinariats für Chirurgie 1935: Karl Reschke

Im März 1935 fand eine Fakultätssitzung zur Klärung der Nachfolge des nach Hamburg berufenen Chirurgen Georg Konjetzny23 statt. Die Vorschlagsliste24 der Kommission erntete zunächst die Zustimmung der anwesenden Professoren. Nach Verlesung einer zweiten Liste,25 die die Greifswalder Privatdozenten erstellt hatten, wurde diskutiert, die ursprüngliche Liste um die Namen Karl Reschke und Johann Karl Lehmann zu erweitern. Dekan Paul Wels berichtete, „daß ihm bei seiner letzten Rücksprache im Ministerium durch den Personalreferenten Prof. Jansen unmißverständlich angedeutet worden sei, daß Reschke der Kandidat des Ministeriums sei und daß das Ministerium wünsche, daß Reschke von der Fakultät auf die Liste gesetzt werde“.26 Daraufhin entwickelte sich ein regelrechter Streit um die Person Reschkes, der den Anwesenden durch seine Zeit an der Greifswalder Klinik (1919–1932) vertraut war. Während sich einige Professoren für Reschke einsetzten und dessen „unbedingte nationale Zuverlässigkeit“27 herausstellten, sprach sich der Pathologe Hermann Loeschcke gegen eine Aufstellung desselben aus. „Reschke habe zwar einiges Brauchbare geleistet, nach seiner Gesamtleistung biete er aber nicht die Gewähr für eine Förderung des Fachs durch eigene Produktion. Wenn die Fakultäten ihr Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen und sich dafür verantwortlich fühlen wollen, so müsse dieser Gesichtspunkt erneut und mit Nachdruck hervorgehoben werden“28, wird Loeschcke im Fakultätssitzungsprotokoll zitiert. Ähnliche Äußerungen sind auch von Otto Stickl, dem Vertrauensmann der NSDAP, protokolliert: „Die Fakultät müsse davon ausgehen, für ihre Lehrstühle die besten Dozenten auszusuchen, welche zu haben wären. Herr Reschke könne einen Vergleich mit den vorgeschlagenen Kandidaten nicht aushalten. Auf gar keinen Fall dürfe sich die Fakultät auf den Standpunkt stellen, dass die Universität Greifswald als kleine Fakultät sich für die Beset23 Bei der Berufung Konjetznys nach Hamburg war dessen Platzierung auf Platz eins der Hamburger Fakultätsliste zwar vom Reichsministerium vorgeschlagen worden, der Vorschlag fand aber die volle Zustimmung der Fakultät. Vgl. Hendrik van den Bussche (Hg.), Medizinische Wissenschaft im „Dritten Reich“. Kontinuität, Anpassung und Opposition an der Hamburger Medizinischen Fakultät (= Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte; Bd. 5), Berlin 1989, S. 80f. 24 Vorgeschlagen wurden hier die Professoren Rieder (Hamburg), Naegeli (Bonn) und Puhl (Kiel). Vgl. Protokoll der Fakultätssitzung vom 20.3.1935, in: UAG, Med. Fak. II-40, Bl. 303. 25 1. Reschke (Berlin), 2. Lehmann (Hannover), 3. Rieder (Hamburg). Vgl. Protokoll der Fakultätssitzung vom 20.3.1935, in: UAG, Med. Fak. II-40, Bl. 305. 26 Protokoll der Fakultätssitzung vom 20.3.1935, in: UAG, Med. Fak. II-40, Bl. 305. Gemeint ist Werner Jansen, seit 1934 Referent für die Medizinischen Fakultäten im Reichserziehungsministerium (REM), von 1935–37 auch Vizepräsident der DFG. 27 Protokoll der Fakultätssitzung vom 20.3.1935, in: UAG, Med. Fak. II-40, Bl. 304. 28 Protokoll der Fakultätssitzung vom 20.3.1935, in: UAG, Med. Fak. II-40, Bl. 304.

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zung ihrer Lehrstühle mit Dozenten begnügen könne, die keine Aussicht hätten, jemals einen Ruf an eine andere Universität zu bekommen. Greifswald würde dadurch sich selbst als Universität zweiter Klasse bezeichnen“.29 Interessant ist diese Aussage, wenn man Stickls damalige Position als Vertrauensmann der NSDAP berücksichtigt, kann sie doch als Kritik Stickls an den Vorgaben des Reichsministeriums gesehen werden. Nach eingehender Diskussion äußerte sich Dekan Paul Wels: „Die Fakultät könne sich weder durch diesen Wunsch des Ministeriums beeinflußen lassen, noch aber auch dadurch, daß sie durch einen Widerstand gegen die Wünsche des Ministeriums in den Augen anderer als besonders aufrechte Fakultät dastehen würde. Die Fakultät müsse vielmehr nach bestem Wissen und Gewissen ihre Entscheidungen bzgl. der Listenaufstellung treffen“.30 Auf der Fakultätssitzung vom 21. März 193531 wurde schließlich die ursprüngliche Liste ohne Reschke angenommen und an das Ministerium verschickt, gleichwohl übernahm Karl Reschke32 bereits ab dem 1. April 1935 vertretungsweise Konjetznys Stelle33 und wurde am 16. April 1935 zum ordentlichen Professor und zum Direktor der Chirurgischen Klinik und Poliklinik Greifswald ernannt.34 Zum Zeitpunkt seiner Berufung war auch Reschke Mitglied der NSDAP.35 Bei der Besetzung der Stelle des Direktors der Chirurgischen Klinik war es dem Ministerium sicherlich wichtig, einen Mediziner zu berufen, von dem keine Probleme bei der Umsetzung etwaiger Verordnungen oder Erlasse zu erwarten waren; so waren Sterilisationen im Rahmen des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ auch an der Chirurgischen Klinik Greifswald geplant.36 29 30 31 32

33 34 35 36

Protokoll der Fakultätssitzung vom 20.3.1935, in: UAG, Med. Fak. II-40, Bl. 305. Protokoll der Fakultätssitzung vom 20.3.1935, in: UAG, Med. Fak. II-40, Bl. 305. Vgl. Protokoll der Fakultätssitzung vom 21.3.1935, in: UAG, Med. Fak. II-40, Bl. 307. Karl Reschke, geb. 1886, 1913 Promotion in Berlin, 1921 Habilitation in Greifswald, 1926 Ernennung zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor, 1.10.1932 Chefarzt im Diakonissenhaus Bethanien in Berlin, ab 1.4.35 ordentlicher Professor in Greifswald, starb am 20.2.1941. Vgl. UAG, PA 563. Mitteilung des Kurators vom 28.3.1935, in: UAG, PA 563, Bd. 3, Bl. 54. Vgl. Ministerialerlass vom 11.4.1935, in: UAG, PA 563, Bd. 4, Bl. 23. Vgl. Mitgliederliste der NSDAP an der Universität von 1936, UAG, Kurator K 71, Bl. 203. Reschke trat zum 1.5.33 in die NSDAP ein. Vgl. Ministerialerlass vom 26.1.1934 und Antwort der Fakultät vom 16.2.1934, in: UAG, Med. Fak. I-106, Bl. 255–256 . Nach Thomas Bady, Manfred Blütgen, Wolfgang Fischer, Analyse der Begutachtungen im Rahmen des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ an der Universitäts-Nervenklinik Greifswald, in: Wolfgang Fischer, Heinz-Peter Schmiedebach (Hg.), 160 Jahre Hochschulpsychiatrie in Greifswald (= Wissenschaftliche Beiträge der Ernst-MoritzArndt-Universität), Greifswald 1997, S. 54–76, hier S. 57, können Sterilisierungen an der Chirurgischen Klinik Greifswald jedoch nur zwischen 1939 und 1945 nachgewiesen werden.

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Nach nur zweimonatiger Anwesenheit Reschkes wurde er am 23. Mai 1935 zum Rektor der Greifswalder Universität ernannt,37 was die Vermutung zulässt, dass er schon zum Zeitpunkt seiner Berufung als Nachfolger des Rektors Wilhelm Meisner feststand. Der Dekan der Medizinischen Fakultät, der Pharmakologe Paul Wels, trat infolgedessen von seinem Amt zurück. Er hatte sich bei der Diskussion um die Lehrstuhlbesetzung klar gegen Reschke ausgesprochen und diesen auch nicht in die Liste der Fakultät aufgenommen. Wels hatte Bedenken, dass diese „Stellungnahme, welche ich [Wels] nach wie vor aufrechterhalten muß, von dem neuen Rektor als eine Erschwerung seiner Zusammenarbeit mit der Medizinischen Fakultät empfunden werden könnte“.38 Die Verhandlungen, die der Berufung Reschkes vorausgegangen waren, hatten erstmals zu einem grundlegenden Konflikt über Berufungskriterien geführt, der die Medizinische Fakultät in zwei Lager spaltete. Einige Professoren stellten sich auf die Seite Reschkes und unterstützten den Wunsch des Reichsministeriums. Sie sahen nach eigener Aussage in Reschke einen guten Lehrer, Operateur und Arzt, einen offenen Charakter mit „unbedingter nationaler Zuverlässigkeit“,39 der bei Studenten beliebt sei.40 Ob ihre Haltung gegenüber Reschke sich lediglich auf ein positives fachliches Urteil gründete oder auch dem Bestreben geschuldet war, den Wünschen der vorgesetzten Behörde Folge zu leisten, um sich nicht den Ruf einer renitenten Fakultät einzutragen, lässt sich im Nachhinein nur schwer beurteilen. Für die Mehrheit der Fakultät, die sich den Professoren Hermann Loeschcke und Otto Stickl anschloss, waren solche Erwägungen offenbar nicht ausschlaggebend. Vor allem die Tatsache, dass Reschke nicht den wissenschaftlichen Anforderungen gerecht werde, die an einen Ordinarius der Chirurgie zu stellen seien, sei entscheidend dafür gewesen, ihn nicht auf die Vorschlagsliste für das Ministerium zu setzen. Klar betonte die Mehrheit der Fakultät, dass es ihre Aufgabe sei, trotz aller Vorgaben des Ministeriums auf die wissenschaftlichen Qualifikationen der Kandidaten besonderen Wert zu legen und so die eigene Zukunft wieder selbst in die Hand zu nehmen. Neubesetzung des Ordinariats für Pädiatrie 1935: Hans Bischoff

Im Sommer 1935 diskutierte die Fakultät über die Neubesetzung des pädiatrischen Lehrstuhls. Auch hier wurden Vorschläge von Universitäten im ganzen Land einge37 38 39 40

Vgl. Mitteilung des Kurators vom 3.6.1935, in: UAG, PA 563, Bd. 3, Bl. 56. Vgl. Wels an Rektor Meisner vom 1.4.1935, in: UAG, PA 563, Bd. 1, Bl. 7. Protokoll der Fakultätssitzung vom 20.3.1935, in: UAG, Med. Fak. II-40, Bl. 304. Aufgrund des immer größer werdenden Einflusses des NS-Studentenbundes war dies wichtig, wie die Fälle der Professoren Proell und Wrede veranschaulichen, die nach Initiativen der Studentenschaft ihrer Ämter entbunden wurden.

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holt. In einem Brief an die Fakultät machte sich der scheidende Pädiater Bernhard de Rudder bezüglich seines Nachfolgers vor allem für Joachim Ferdinand Brock aus Marburg stark und betonte dessen absolute Zuverlässigkeit in „menschlicher wie in politischer“ Hinsicht.41 Ähnlich äußerte sich Helmut Loebell aus Marburg, der Brocks Mitarbeit in der Dozentenschaft und der SA hervorhob.42 Völlig anders war die Meinung Wilhelm Stoeltzners aus Königsberg: „Trotz allem wundere ich mich, dass Brock genannt wird; denn meines Wissens ist er Jude. Ich habe ihn immer dafür gehalten; dem Namen und auch dem Aussehen nach. Es sollte mich für Brock43 freuen, wenn ich im Irrtum wäre; ich kann es mir aber kaum denken“.44

Bei der Fakultätssitzung am 11. September 1935 gab die Kommission schließlich ihre Liste bekannt, auf der Brock nicht berücksichtigt worden war.45 Stickl wurde diesmal (laut Dekan Alfred Linck auf Weisung des Ministeriums) als Vertrauensmann der NSDAP gar nicht erst zu den Kommissionssitzungen eingeladen. Wels bemerkte dazu ganz nüchtern, „daß die ausdrückliche Vorherbestimmung eines Kandidaten durch das Ministerium so auch diesmal wieder erfolgt sei – Herr Bischoff – Rostock, mit oder ohne Liebe der Fakultät“ und dass diese Tatsache „die Aufstellung einer Liste durch die Fakultät im Grunde überflüssig mache“.46 Der Dekan versuchte die aufgebrachte Fakultät damit zu besänftigen, dass die Aufgabe der Fakultät, das 41 Brief de Rudders an die Fakultät vom 22.7.1935, in: UAG, Med. Fak. I-185, Bl. 20v. 42 Vgl. Brief Loebells an die Fakultät vom 5.7.1935, in: UAG, Med. Fak. I-185, Bl. 59–60. 43 Wie aus einer Korrespondenz zwischen dem 18. und dem 20.12.1935 zwischen Brock und Dekan Linck hervorgeht, legte Brock nachdrücklich Einspruch gegen die Behauptung, er sei nicht „rein arisch“, ein. Daraufhin versicherte ihm Linck, „daß die Medizinische Fakultät bei der Aufstellung der Liste in keiner Weise durch andere, als durch rein sachliche Erwägungen geleitet wurde“. Vgl. UAG, Med. Fak. I-185, Bl. 7–8. Joachim Ferdinand Brock (1891–1969), 1927 PD für Kinderheilkunde in Marburg, 1933 nichtbeamteter außerordentlicher Professor, 1936 Arzt in Bad Dürrheim; 1933 SA Res. I, 1934 SA 94. Vgl. Anne Christine Nagel, Die PhilippsUniversität Marburg im Nationalsozialismus. Dokumente zu ihrer Geschichte, Stuttgart 2000, S. 521. 44 Brief Stoeltzners an die Fakultät vom 25.7.1935, in: UAG, Med. Fak. I-185, Bl. 48. Hervorhebung in der Quelle. 45 Die Vorschlagsliste führte die Mediziner Opitz (Berlin), Bischoff (Rostock) und Bamberger (Hamburg) sowie Wiskott (München) auf. Vgl. Protokoll der Fakultätssitzung vom 11.9.1935, in: UAG, Med. Fak. II-40 Bl. 313. 46 Protokoll der Fakultätssitzung vom 11.9.1935, in: UAG, Med. Fak. II-40, Bl. 314. Das Ministerium hingegen wollte zumindest offiziell nicht auf die Vorschlagslisten der Fakultäten verzichten und forderte diese wiederholt ein. Vgl. Verfügung des REM vom 18.6.1935 und 26.9.1935, in: UAG, Kurator K 189, Bl. 304 und 320.

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Ministerium über das große Material von den wissenschaftlich in Frage kommenden Kandidaten auf dem Laufenden zu halten, doch auch von einigem Wert sei.47 Die von der Kommission erarbeitete Vorschlagsliste, die den Kandidaten des Ministeriums Bischoff an zweiter Stelle aufführte, wurde eingereicht. Eine weitere Fakultätssitzung zu dieser Berufungsangelegenheit unterblieb „in Anbetracht der verminderten Bedeutung“.48 Daraufhin wurde Hans Bischoff49 zum 1. Oktober 1935 als ordentlicher Professor für Kinderheilkunde an die Universität Greifswald berufen.50 Anhand der Stellungnahmen zu Brock im Rahmen des Besetzungsverfahrens werden die damals alltäglichen Mechanismen der Diffamierung und Ausgrenzung deutlich. Obwohl Brock wissenschaftliches Ansehen genoss und von Professoren anderer Universitäten als Nachfolger de Rudders vorgeschlagen wurde, genügte die bloße Vermutung jüdischer Abstammung, um Brocks Namen nicht auf der Vorschlagsliste der Fakultät erscheinen zu lassen. Darüber hinaus zeichnete sich ein Konflikt zwischen Stickl und dem Reichsministerium ab, möglicherweise als Reaktion auf dessen Verhalten bei der Diskussion um die Besetzung des Lehrstuhls für Chirurgie einige Monate zuvor, bei der er nicht im Sinne des Ministeriums und der NSDAP die Ernennung Karl Reschkes unterstützt, sondern auf dessen wissenschaftliche Mängel hingewiesen und eine eigenständige Auswahl fachlich fähiger Aspiranten durch die Fakultät gefordert hatte.

Fazit zur Berufungspolitik an der Greifswalder Medizinischen Fakultät von 1930 bis 1935

Betrachtet man nun rückblickend alle Berufungsvorgänge an der Medizinischen Fakultät Greifswald zwischen 1930 und 1935, fällt zunächst die hohe Anzahl an Beset47 Protokoll der Fakultätssitzung vom 11.9.1935, in: UAG, Med. Fak. II-40, Bl. 314. 48 Protokoll der Fakultätssitzung vom 11.9.1935, in: UAG, Med. Fak. II-40, Bl. 314. 49 Hans Bischoff (1894–1943), Habilitation 1925 in Rostock, ab 1930 dort außerordentlicher Professor, ab 1.10.1935 in Vertretung de Rudders in Greifswald, 1936 Ernennung zum ordentlichen Professor, in Greifswald bis zu seinem Tod 1943 tätig. Vgl. UAG, PA 468 und Hans Mannkopf, Hubertus Brieger, Die Kinderheilkunde in Greifswald, in: Ernst Moritz Arndt-Universität (Hg.), Universität Greifswald: Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald, 17.10.1956, Bd. 2, Greifswald 1956, S. 400–406, hier S. 403. 50 Vgl. Brief des Ministeriums vom 27.9.1935, in: UAG, PA 468, Bd. 3, Bl. 42. Bischoff übernahm de Rudders Pflichten zunächst vertretungsweise. Nach positiven Berichten sowohl von Rektor Reschke (UAG, PA 468, Bd. 5, Bl. 14) als auch vom damaligen Führer der Dozentenschaft Joachim Brinck (ebd., Bl. 15) wurde er am 20.4.36 zum ordentlichen Professor ernannt (ebd., Bl. 21).

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zungen in den Jahren zwischen 1933 und 1935 ins Auge. Kam es in Tübingen, einer Medizinischen Fakultät, die im Wintersemester 1932/33 ebenso wie ihr Greifswalder Pendant über 16 Professuren verfügte, im Zeitraum von 1933 bis 1945 zu nur zehn Berufungen, so wurden in Greifswald allein zwischen 1933 und 1935 14 Lehrstühle umbesetzt.51 In den Jahren 1934 und 1935 wurde mit jeweils sechs Neuberufungen die Greifswalder medizinische Professorenschaft fast vollständig verändert. Betrachtet man die personelle Zusammensetzung der ersten und letzten Fakultätssitzung des untersuchten Zeitraumes zwischen 1930 und 1935,52 fällt auf, dass von 15 Ordinariaten und einem Extraordinariat nur noch 6 mit demselben Mediziner besetzt waren,53 zu Beginn des Jahres 1936 waren nur noch 4 der Professoren im Amt, die 1930 bereits in Greifswald gelehrt hatten.54 Bei einer Umstrukturierung dieses Ausmaßes sind kontinuierliche und wissenschaftlich anspruchsvolle Forschung und Lehre nur schwer vorstellbar. Die Berufungen der Jahre 1930 bis 1932 wurden von zwei Entscheidungsträgern geprägt, der Medizinischen Fakultät der Universität Greifswald auf der einen und dem Preußischen Kultusministerium auf der anderen Seite. Dabei war der Medizinischen Fakultät nicht nur wichtig, wie sich der zukünftige Ordinarius in die Fakultät und den Universitätsbetrieb einfügen würde, auch eine gewisse „Nationalisierung“ der Professorenschaft wurde angestrebt und von Professoren in ganz Deutschland betont. Auch an der Greifswalder Medizinischen Fakultät waren bereits vor 1933 antisemitische Tendenzen vorhanden,55 die jüdischen Gelehrten eine universitäre Laufbahn 51 Vgl. Urban Wiesing, Klaus-Rainer Brintzinger, Bernd Grün, Horst Junginger, Susanne Michl (Hg.), Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, Stuttgart 2010, S. 241. 52 Vgl. Fakultätssitzungen vom 19.2.1930 und vom 21.11.1935, in: UAG, Med. Fak. II-40, Bl. 320–323. 53 Es handelt sich um die Ordinariate für Anatomie (Prof. Karl Peter war allerdings bereits emeritiert und nur noch in Vertretung für Prof. August Hirt anwesend), Innere Medizin, HNO, Zahnmedizin (wobei Prof. Friedrich Proell schon seine Versetzung nach Bonn erhalten hatte), Physiologie und Pharmakologie. 54 Das Durchschnittsalter der Professoren bei der Fakultätssitzung am 19.2.1930 betrug 47,8 Jahre, das der Professoren der Sitzung am 21.11.1935 46,5 Jahre (berechnet mit den 15 Ordinariatsträgern und dem Extraordinariat Physiologische Chemie). Zu einer „Verjüngung“ des Lehrkörpers, wie es z.B. an großen Universitäten wie Berlin deutlich wird, kam es in Greifswald nicht. Dies ist wohl der Tatsache geschuldet, dass viele junge Ordinarien ihre teilweise erste Professur in Greifswald als eine Art Sprungbrett erhielten und nach einigen Jahren an eine größere Universität wechselten. Universitäten wie Berlin oder München galten als sogenannte Enduniversitäten, eine einmal dort erhaltene Professur würde bis zum Ausscheiden aus dem Beruf beibehalten werden. 55 So hatte der Ordinarius für HNO Alfred Linck gemeinsam mit den Hochschullehrern Leick und Brüske bereits am 5.11.1932 eine Erklärung deutscher Hochschullehrer für Adolf Hitler im Völkischen Beobachter unterzeichnet. Vgl. Wolfgang Wilhelmus, Universität Greifswald: 525

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Anatomie Innere Medizin Chirurgie Pädiatrie HNO Augenheilkunde

1930 Peter Katsch Pels-Leusden Degkwitz Linck Meisner

1931 = = = = = =

1932 = = = de Rudder = =

1933 = = = = = =

1934 = = Konjetzny = = =

Dermatologie

Schönfeld

=

=

=

=

Forster

=

=

Ewald

Jacobi

=

Dresel Hoehne Leupold, Pathologie Loeschcke Physiologie Steinhausen Pharmakologie Wels Gerichtsmedizin Hey Zahnheilkunde Proell

= =

= Runge

= =

Stickl Philipp

= =

=

=

=

=

=

= = = =

= = = =

= = = =

= = = Wustrow

Phys. Chemie

=

=

=

= = Goroncy = HoppeSeyler

Nervenheilkunde Hygiene Gynäkologie

Wrede

1935 Hirt = Reschke Bischoff = vom Hofe Hämel, Richter

=

Tabelle 1: Personelle Zusammensetzung der ersten und letzten Fakultätssitzung des untersuchten Zeitraumes zwischen 1930 und 1935 (Fakultätssitzungen vom 19.2.1930 bis 21.11.1935)

erschwerten. Das Preußische Kultusministerium wiederum nahm die Vorschlagslisten der Fakultät zur Neubesetzung der vakanten Lehrstühle zur Kenntnis, folgte ihnen aber nur bedingt. Die Berufungen der Jahre 1933 bis 1935 fanden unter veränderten Voraussetzungen statt. Im Zuge der Gleichschaltung der Hochschulen wurden die Positionen des Rektors und der Dekane der Universitäten nicht mehr in freier Wahl durch den Senat bzw. die Fakultät, sondern durch Weisung der vorgesetzten Behörde besetzt. Durch Bildung der NS-Dozentenschaften und der NS-Studentenschaften wurden universitäre Institutionen geschaffen, die bei vielen hochschulpolitischen Entscheidungen großen Einfluss nehmen konnten und nahmen. Durch die Reichsleitung der NSDAP wurden ab 1934 Vertrauensmänner der NSDAP in die Fakultäten berufen, die ebenfalls zu allen wichtigen Entscheidungen befragt werden mussten. Durch UmstruktuJahre Universität Greifswald, Berlin 1982, S. 40. Dieses Klima spiegelt auch die Ablehnung der Habilitation Zádors 1930 aus deutlich antisemitischen Gründen wider. Vgl. Armbruster, Edmund Robert Forster (wie Anm. 4), S. 50f.

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rierungen im Ministerium entstand unter Bernhard Rust das „Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“, das in Absprache mit der Reichsleitung der NSDAP Berufungsentscheidungen fällte und Vorschläge von Seiten der Fakultäten, wenn überhaupt, nur der Form halber akzeptierte. Durch diese vielfältigen Veränderungen in Universitäten und im Ministerium wurde die Stellung der Ordinarien empfindlich beschnitten, die Fakultäten wurden von sich selbst verwaltenden Institutionen zu beratenden Gremien degradiert. Bereits mit den ersten Besetzungen im Jahr 1933 an der Greifswalder Medizinischen Fakultät wird deutlich, dass ihre Möglichkeiten, Einfluss auf die Vergabe von Lehrstühlen zu nehmen, enorm geschrumpft war. Betrachtet man die 14 Berufungen dieses Zeitraums aus Sicht der Fakultät, wird klar, dass die Erstellung einer Vorschlagsliste durch die Professorenschaft immer mehr einer Farce glich. In vielen Fällen hatten die neuen Ordinarien bereits vor dem Berufungsvorgang eine Zusage des Ministeriums erhalten, teilweise die vakanten Lehrstühle schon vertretungsweise übernommen. Bis auf wenige Ausnahmen56 hielt sich die Fakultät an die Vorgaben des Ministeriums und der Reichsleitung der NSDAP und erstellte ihre jeweilige Vorschlagsliste nach deren Wünschen. Sie selbst sah ihre Aufgabe auf die Beurteilung der wissenschaftlichen Leistungen der Kandidaten beschränkt. Ihre Möglichkeiten zur Einflussnahme bei Neubesetzungen waren auf ein Minimum geschrumpft. Betrachtet man die Berufungen von 1935, so wurden diese meist gänzlich ohne Anhörung der Fakultät vorgenommen. Die Professorenschaft der Medizinischen Fakultät Greifswald sah sich nicht nur einem immer geringeren Mitspracherecht bei Neubesetzungen von Lehrstühlen ausgesetzt, auch innerhalb der Fakultät gab es erbitterte Diskussion um die Gewichtung von wissenschaftlichen Fähigkeiten und politischer Akzeptanz und Zuverlässigkeit der jeweils zu Beurteilenden.57 Die eigentlichen Entscheidungen über Neubesetzungen wurden im 1934 neugebildeten Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung58 gefällt. In Absprache mit der Reichsleitung der NSDAP wurden von vornherein nur Mediziner berufen, die dem damaligen politischen Klima entsprachen. Eine bejahende Einstel56 Bei der Besetzung des Lehrstuhls Chirurgie 1934 setzte die Fakultät Rieders Namen trotz anderslautender Anweisung des Ministeriums auf die Liste. Bei erneuter Vakanz dieses Ordinariats 1935 wurde Reschke nicht in die Liste aufgenommen, obwohl klar war, dass dieser den Ruf erhalten würde. 57 Vgl. auch die Diskussion innerhalb der Fakultät zur Eingabe von Richard Plötz zum außerordentlichen Professor 1935. Letztendlich wurde das Gesuch gegen den Willen einiger Professoren und der Studentenschaft abgelehnt. 58 Vgl. Anne Christine Nagel, Hitlers Bildungsreformer. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934–1945 (= Die Zeit des Nationalsozialismus; Bd. 19425), Frankfurt am Main 2012, S. 67.

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lung zum Nationalsozialismus und der Wille, Studenten in diesem Sinne zu erziehen, waren offenbar gewichtigere Argumente als die bisher erbrachten wissenschaftlichen Leistungen. Vielen Ordinariaten fielen neue Aufgaben im Rahmen der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik zu: So sollten die Direktoren der Chirurgischen Klinik, der Nervenklinik und der Frauenklinik die Sterilisationen im Rahmen des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ durchführen, das Amt des forensischen Gutachters für Greifswald und Umgebung wurde vom Inhaber des Ordinariats für Gerichtliche und Soziale Medizin übernommen und der Direktor der Frauenklinik wurde Vorsitzender des Erbgesundheitsobergerichts in Stettin. Die Besetzungen dieser Lehrstühle mit Medizinern, die diese Aufgaben zuverlässig ausführen würden, war für das Ministerium und die Partei von großer Bedeutung. Auch das nach der Gleichschaltung der Universitäten oft von Angehörigen der Medizinischen Fakultäten besetzte Amt des Rektors spielte bei der Vergabe von Professuren eine große Rolle, wie am Beispiel Reschke verdeutlicht wurde. Für einige Mediziner stellte Greifswald wohl ein berufliches Sprungbrett dar, nachdem sie hier einige Bewährungsjahre im Sinne der nationalsozialistischen Hochschulpolitik hinter sich gebracht hatten. So wurde Otto Stickl nach seinem Weggang nach Tübingen dort zum Rektor (1939–1945) ernannt. Neben dem Ministerium spielte die Reichsleitung der NSDAP die wichtigste Rolle bei den Berufungen von Hochschullehrern. Politisch nicht erwünschte oder diskreditierte Wissenschaftler wurden von vornherein als nicht geeignet betrachtet, ihr Fach in medizinischer oder lehrender Tätigkeit im Sinne des Nationalsozialismus auszuüben. Durch den seit 1934 eingesetzten, sogenannten Vertrauensmann der Reichsleitung der NSDAP in der Medizinischen Fakultät, in Greifswald war dies der Hygieniker Otto Stickl, war die Partei über alle wichtigen Vorgänge innerhalb der Fakultäten informiert. Die Fakultät wiederum wusste, welche Mediziner keine Chance hatten, einen Ruf an eine Universität zu erhalten. Innerhalb der Universitäten gab es zahlreiche Institutionen mit weitreichendem Einfluss. Zum einen ist der NS-Dozentenbund zu nennen. Als Vertretung der Nichtordinarien stand es ihm zu, eine eigene Vorschlagsliste zu jedem Berufungsvorgang an das Ministerium zu schicken. Im untersuchten Zeitraum zwischen 1930 und 1935 kam es in Greifswald jedoch zu keinen Folgen tragenden Auseinandersetzungen zwischen Fakultät und Dozentenbund. Anders stellt sich die Lage bei Betrachtung der Greifswalder Studentenschaft dar, aufgrund ihrer Interventionen wurden mit dem Zahnmediziner Friedrich Proell und dem Physiologen Fritz Wrede zwei Professoren beurlaubt bzw. an eine andere Universität versetzt.59 59 Beide verloren auf Betreiben der Studentenschaft ihren Lehrauftrag an der Universität Greifswald. Vgl. UAG, Med. Fak. I-73 und UAG, PA 605, Bd. 2.

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Insgesamt kann man feststellen, dass sich die im betrachteten Zeitraum von 1930 bis 1935 vollzogenen Berufungsvorgänge mit dem Jahr 1933 entscheidend änderten. Waren zuvor Fakultät und Ministerium wenn nicht gleichberechtigt, so doch zumindest am Meinungsaustausch interessiert, waren ab 1933 das Reichsministerium und die Reichsleitung der NSDAP die Entscheidungsträger. Die Fakultät war zu einer beratenden Institution degradiert worden, die faktisch keinen Einfluss auf Berufungen nehmen konnte, sich aber im Gegenzug vielfältigen und einflussreichen Interessenvertretungen, dem NS-Dozentenbund, dem Vertrauensmann der NSDAP innerhalb der eigenen Reihen und der immer machtvolleren Studentenschaft gegenübersah.

Junge Akademiker, völkische Ideologie und was daraus wurde: Greifswalder Biographien* Ekkehard Henschke

Die Situation in Greifswald

„Habe den Glauben an Adolf Hitler u[nd] an die Neuordnung Europas verloren, hiermit gebe ich meine Ehrenkreuze zurück mitsamt mein[em] Mitgliedsbuch.“1

Dieses Schreiben vom 4. Januar 1944, das an den stellvertretenden Gauleiter ging, stammte nicht von einem der Greifswalder Akademiker, die im Folgenden behandelt werden, sondern von einem einfachen Mann, einem Landarbeiter auf einem Hof in Schleswig-Holstein.2 Er war 1904 geboren worden, einst begeisterter SA-Mann und zu der Zeit seines Austritts aus der NSDAP Gefreiter in der deutschen Wehrmacht. Dieser mutige Mann überlebte den Zweiten Weltkrieg und starb friedlich 1982 in seinem Geburtsort in Schleswig-Holstein.3 Leider war er nur einer von Wenigen. Was aber war mit den Vielen, die dazu nicht den Mut hatten? Wie verhielten sich akademisch Gebildete? Kann man vom Versagen jener Generation von Akademikern sprechen, die zwischen 1905 und 1915 geboren wurden? Sie hatten nicht mehr am Ersten Weltkrieg teilgenommen. Trotz aller Wirren und Nöte der Weimarer Zeit hatten sie die Möglichkeit, zu studieren und damit ihren geistigen Horizont zu erweitern. Warum gelangten sie nicht einmal gegen Ende des NS-Regimes zu der Erkenntnis, die ein einfacher Landarbeiter aus Norddeutschland Anfang 1944 hatte? * 1

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Überarbeitetes Manuskript des Vortrags an der Universität Greifswald vom 13.4.2013. Für die kritische Durchsicht danke ich meiner Frau Helen Watanabe, Oxford, und Gerd Simon, Tübingen. Abschrift des Schreibens von Peter Kohl, Hollingstedt, vom 4. Januar 1944 (Anlage des Schreibens der NSDAP-Gauleitung Schleswig-Holstein vom 23.11.1944), Bundesarchiv Berlin (künftig: BArch), NS 6/370, Bl. 114–115. Vgl. die Korrespondenz zwischen dem NS-Führungsstab des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), dem stellvertretenden Gauleiter von Schleswig-Holstein, Wilhelm Sieh, und der Parteikanzlei in München von Ende 1944 und Anfang 1945, in: BArch, NS 6/370, Bl. 111–115. Kohl war auf einem Hof gewesen, der 1944 noch den Eltern des stellvertretenden Gauleiters von Schleswig-Holstein gehörte. 1943 war Kohl in einer Veterinärersatz- und Ausbildungsabteilung der Wehrmacht eingesetzt; Mitteilung der Deutschen Dienststelle an den Verfasser vom 29.4.2013. Laut Kopien der Geburts- und Todesurkunden für Peter Kohl des Standesamtes Hennstedt, Schleswig-Holstein, vom 22.2.1982.

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Dieser und den vielen anderen drängenden Fragen soll im Rahmen einer Kollektivbiographie nachgegangen werden, in der die äußeren und inneren Lebensläufe, d.h. sowohl die Ausbildungs- und Karriereverläufe als auch die intellektuellen und psychischen Entwicklungen, nachgezeichnet werden. Bei dieser Lokalstudie geht es um die Spuren von sechs Germanisten und Volkskundlern, die in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren im kleinstädtischen Milieu der alten Hansestadt Greifswald studierten und sich wenig später Hitlers Chefideologen Alfred Rosenberg anschlossen. Sie versteht sich insofern auch als ein Beitrag zur Täterforschung.4 Die nationalkonservative Einstellung des noch dominierenden, protestantischen Bürgertums in Greifswald, den Aufstieg des Nationalsozialismus und den folgenden Kirchenkampf haben ausführlich Helge Matthiesen und Irmfried Garbe geschildert.5 Deren Arbeiten ergänzen die Untersuchungen von Manfred Gailus zu den nationalprotestantischen Mentalitäten in Deutschland.6 Das Wort „Volk“ war in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ein zentraler politischer Begriff, der weit verbreitet war und oft eine antidemokratische Geisteshaltung erkennen ließ. Dessen Verwendung wies „auch auf das vor allem in der jüngeren Generation vorhandene Bedürfnis nach einer die Zerspaltung der Gesellschaft in ‚Klassen‘ überwindenden Kategorie jenseits der tradierten politischen Lager“7 hin. Dieses „völkische“ Denken war aber nicht nur klassenübergreifend, sondern bedeutete auch Ausgrenzung und Antisemitismus und war häufig bei Protestanten anzutreffen.8 4

Dazu zuletzt Christian Ingrao, Hitlers Elite. Die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmordes, Berlin 2010; Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt/Main 22008. 5 Vgl. Helge Matthiesen, Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu im Kaiserreich, in Demokratie und Diktatur; 1900 – 1990 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 122), Düsseldorf 2000; Irmfried Garbe, Evangelischer „Kirchenkampf“ und „Widerstand“ in Mecklenburg und Pommern während des Nationalsozialismus. Eine Problemskizze, in: Wolfgang Hoyer u.a. (Hg.), Widerstand gegen das NS-Regime in den Regionen Mecklenburg und Vorpommern (= Reihe Beiträge zur Geschichte Mecklenburg-Vorpommern; Nr. 12), Schwerin 2005, S. 52–62. 6 Vgl. als Pilotstudie über Berlin Manfred Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin (= Industrielle Welt; Bd. 61), Köln 2001; ferner den Sammelband zu deutschen Regionen: Manfred Gailus u.a. (Hg.), Nationalprotestantische Mentalitäten. Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; Bd. 214), Göttingen 2005. 7 Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 2001, S. 58. 8 Vgl. z.B. Manfred Gailus, Keine gute Performance. Die deutschen Protestanten im „Dritten Reich“, in: Manfred Gailus u.a. (Hg.), Zerstrittene „Volksgemeinschaft“. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011, S. 96–121, hier S. 108–111.

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Die Zeitereignisse und Denkweisen spiegeln sich auch in den schriftlichen Zeugnissen der traditionell nationalprotestantischen Familie meines Vaters wider, der einer von Rosenbergs Jüngern werden sollte. Die Familie lebte seit 1926 in Greifswald. Mein Großvater Wilhelm Henschke, ein Architekt in Staatsdiensten, war dort Ratsherr. Über das Jahr 1933 heißt es in der Familienchronik von Großmutter Susanne Henschke: „Ein Jahr großer geschichtlicher Bedeutung neigt sich dem Ende zu, das sicher in den Geschichtsbüchern kommender Geschlechter als Wende aufgezeichnet wird. Es bedeutet den Sieg des Nationalsozialismus, die nationale Revolution. […] Wenn auch durch den Siegergrößenwahn kleiner Geister manch Unheil u. Fehlgriff geschehen ist u. viele Einzelschicksale oft ungerecht zerschlagen sind, so ist doch auf ’s große Ganze gesehen unser Volk wieder zu neuem Leben erwacht […]. Durch die Erfassung der männlichen Jugend in der S.A. (= Sturm-Abteilung), im Arbeitsdienst u. Wehrsport ist mehr Zucht u. Haltung ins Volk gekommen“. Sie bedauerte ausdrücklich die Auflösung der Jugendbünde und deren Überführung in die Hitler-Jugend9 und wies ferner darauf hin: „Einen besonders schweren Kampf kämpft zur Zeit die Kirche, in die der Nationalsozialismus eingedrungen ist u. in der eine Gruppe der ‚deutschen‘ Christen die Politik in die Kirche bringen will. Viele reinen Kräfte der Kirche besinnen sich doch, daß die Verkündigung des Evangeliums wohl den Bedingungen unseres Volkes in unserer Zeit entsprechen aber doch unabhängig u. jenseits über aller Politik absolut geschehen muß“.10 Mit dem „Unheil“ und „Fehlgriff“ der „kleinen Geister“ spielte sie offensichtlich auf Angriffe von Nationalsozialisten auf Honoratioren und auf die Aktion „Wider den undeutschen Geist“ in Greifswald an.11 Dank der Festschrift zur 550-Jahr-Feier der Universität, aber auch dank der Forschungen von Matthiesen wissen wir um das konservative bis nationalistische Milieu, in dem auch die akademischen Lehrer, insbesondere die Professoren der Greifswalder Philosophischen Fakultät lebten und wirkten.12 Für die sechs Geisteswissenschaftler 9

Zur Auflösung des Großdeutschen Bundes, eines von Admiral von Trotha geführten Zusammenschlusses von Jugendbünden, zu Pfingsten 1933 siehe Werner Kindt, Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933: Die bündische Zeit (= Dokumentation der Jugendbewegung; Bd. 3), Düsseldorf 1974, S. 1234–1240 und 1880f. 10 Susanne Henschke, Silvester-Chronik 1928–1981, handschriftl. Manuskript 1981 (Privatbesitz), Eintrag für das Jahr 1933. 11 Vgl. Matthiesen, Greifswald (wie Anm. 5), S. 324f.; Karl-Heinz Borchardt, Die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 und die Aktion „Für den deutschen Geist“ der Greifswalder Studenten, in: Pommersches Jahrbuch für Literatur, 2 (2006), S. 153–176. 12 Zum Beispiel der Philosoph Günther Jacoby, der 1932 einen Aufruf zugunsten von Franz von Papen unterschrieb, vgl. dazu Thomas Stamm-Kuhlmann, Die Philosophische Fakultät vom Anschluss an Preußen 1815 bis zur deutschen Wiedervereinigung 1990, in: Dirk Alvermann, Karl-Heinz Spieß (Hg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Univer-

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sollten die Germanisten Wolfgang Stammler und Lutz Mackensen die größte Bedeutung bekommen. Daneben waren als Nebenfach-Dozenten der Nordist Leopold Magon, die Philosophen Hermann Schwarz und Hans Pichler sowie die Theologen Joachim Jeremias, Wilhelm Koepp und Friedrich Baumgärtel wichtig. Keiner von ihnen fiel durch seine Zuneigung für die junge Weimarer Republik auf. Schwarz war bereits 1923 der NSDAP beigetreten und hatte Entsprechendes geschrieben.13 Pichler war ein völkisch orientierter Philosoph aus Österreich, dem der Sicherheitsdienst der SS um 1940 bescheinigte: „[…] vor 1933 demokratisch eingestellt. nach 1933 nichts Nachteiliges bekannt, aber ohne besonderen positiven weltanschaulichen Einsatz“; ihm wurde als „Mischling II. Grades“ wegen seiner jüdischen Vorfahren später die Prüfungserlaubnis entzogen.14 Koepp engagierte sich während des Nationalsozialismus besonders stark in der germanischen Religionsgeschichte und wirkte im 1939 gegründeten antisemitischen „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ der Deutschen Christen mit.15 Der im Ersten Weltkrieg hochdekorierte Privatdozent Wolfgang Stammler (1886– 1965) gehörte in den Jahren 1919/20 dem Freikorps Hülsen an.16 Er wurde 1924 zum ordentlichen Professor für Germanische Philologie an die Universität Greifswald berufen und war sowohl Direktor des Germanischen Seminars als auch Vorstandsmitglied des Nordischen Instituts. 1931/32 war der Protestant Stammler Dekan der Philosophischen Fakultät und nahm zugleich eine Austauschprofessur in London, Oxford und Manchester wahr. In ebendiesem Jahr hielt Stammler eine Rede an der

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sität Greifswald 1456–2006, Bd. 1, Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006, S. 371–480, hier S. 403. Vgl. Hans Pichler, Volk und Menschheit (= Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus. Veröffentlichungen der Deutschen Philosophischen Gesellschaft; Beih. 4), Erfurt 1920, S. 12. Er wurde bereits 1933 emeritiert; Stamm-Kuhlmann, Philosophische Fakultät (wie Anm. 12), S. 389. Dazu George Leaman und Gerd Simon, SD über Philosophie-Professoren [ohne Ort; ca. 1995], S. 37, http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/philosophendossiers.pdf (letzter Zugriff am 17.8.2013); ferner Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Teil 1, Berlin 2002, S. 105ff.; Stamm-Kuhlmann, Philosophische Fakultät (wie Anm. 12), S. 389. Vgl. Irmfried Garbe und Martin Onnasch, Die Theologische Fakultät Greifswald 1815–2004, in: Dirk Alvermann, Karl-Heinz Spieß (Hg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456–2006, Bd. 1, Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006, S. 11–163, hier S. 88–97; zu dem „Institut“ und Koepps Mitarbeit vgl. Hans Prolingheuer, Das kirchliche „Entjudungsinstitut“ 1939 bis 1945 in der Lutherstadt Eisenach [überarb. Vortrag von 2009], S. 14 und 20, http://www.kirchengeschichten-imns.de/Das%20_Entjudungsinstitut_.pdf (letzter Zugriff am 17.8.2013). Artikel „Stammler“ in Werner Buchholz (Hg.), Lexikon Greifswalder Professoren 1775–2006, Bd. 3: Lexikon Greifswalder Hochschullehrer 1907 bis 1932, Bad Honnef 2004, S. 222f.

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Universität Greifswald mit dem vielsagenden Titel „Germanisches Führerideal“.17 Darin forderte er vor dem Hintergrund der damaligen politischen Zerrissenheit und der wirtschaftlichen Nöte einen „Führer“. Als Kenner der Geschichte der Germanen und der alten deutschen Literatur, aber auch als Gegner der Weimarer Republik wandte er sich an die Jugend, die seiner Meinung nach „vor einer Selbstentscheidung zurückweicht“ und nach einem „Führer“ verlangt, „der sie leiten, dem sie sich gehorchend beugen kann“.18 Bei der Suche nach dem „Führer“ mit den wünschenswerten Eigenschaften entdeckte er in der germanischen Vergangenheit schließlich Dietrich von Bern, d.h. den Ostgotenkönig Theoderich aus dem fünften Jahrhundert. In ihm glaubte der Literaturhistoriker Stammler, der 1931 immerhin 45 Jahre alt war, das Ideal des „Führers“ ausgemacht zu haben, den „das Band der inneren Treue, das Führer und Geführte miteinander verbindet.“19 Stammler plädierte nicht für eine demokratische Wahl, vielmehr indirekt für eine Auswahl aus einer aristokratischen Großbauernschicht. Die persönlichen Tugenden, die dieser „Führer“ haben sollte, waren „Mut, Todestrotz, Ehrgefühl, Selbstzügelung“.20 Stammler, der Mitglied eines studentischen Korps21 war, forderte von seinen Zuhörern diesen Geist, legte aber – wie er sagte – keinen Wert auf äußere Merkmale wie Schädelform und Haarfarbe. Diese Ausführungen nahmen geistig schon einiges vorweg, was nach der Gleichschaltung und mit der Einführung des sogenannten Führerprinzips auch an den deutschen Universitäten nur zwei Jahre später Realität wurde.22 Auch die Rede des Greifswalder Wirtschaftswissenschaftlers Friedrich Hoffmann am 18. Januar 1933, also wenige Tage vor Hitlers sogenannter Machtergreifung, ging in diese Richtung.23 Er hielt ein glühendes Plädoyer für jene Studenten in den „radikalen Jugendbünden“, die als Eliten quasi die Vorhut des Nationalsozialismus bilden würden. Was er nicht ahnte, war die Tatsache, dass zu Pfingsten desselben Jahres die neuen Machthaber der Selbständigkeit der Bünde – nicht ohne deren zumindest ideelle Unterstützung – ein Ende setzen sollten.24 17 Wolfgang Stammler, Germanisches Führerideal. Rede bei der 60. Reichs-Gründungsfeier der Universität Greifswald am 17. Januar 1931 (= Greifswalder Universitätsreden; Bd. 28), Greifswald 1931. 18 Stammler, Führerideal (wie Anm. 17), S. 3. 19 Stammler, Führerideal (wie Anm. 17), S. 13. 20 Stammler, Führerideal (wie Anm. 17), S. 11. 21 CORPS – das Magazin (Deutsche Corpszeitung), 110 (2008), S. 25. 22 Dazu Frank-Rutger Hausmann, Die Geisteswissenschaften im „Dritten Reich“, Frankfurt/Main 2011, S. 57f. 23 Friedrich Hoffmann, Die Bündisch-revolutionäre Ideologie in der deutschen politischen Gegenwart. Rede gehalten zur Feier des 18. Januar (= Greifswalder Universitätsreden; Bd. 35), Greifswald 1933. 24 Vgl. dazu Matthias von Hellfeld, Bündische Jugend und Hitlerjugend. Zur Geschichte von Anpassung und Widerstand 1930–1939, Köln 1987, S. 95–98.

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Wolfgang Stammler erkannte schnell die richtige Richtung: Er half als germanistischer „Fachberater“ den Studenten bei der Vorbereitung der Aktion „Wider den undeutschen Geist“, die mit der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 auf dem Greifswalder Marktplatz einen traurigen Höhepunkt erreichte.25 Einer der Hauptakteure war sein eigener Doktorand Manfred Pechau. Ab Mai 1933 gehörte Stammler dem NS-Lehrerbund an und wurde zudem SA-Mitglied. Aber wichtiger noch: Stammler wurde durch eine nicht unbeträchtliche Zahl von Promotionsverfahren ein einflussreicher Lehrer, zu dessen Schülern – neben Pechau – u.a. auch Karl Heinrich Henschke, mein Vater, und Werner Rittich gehören sollten. Allerdings lässt sich die Persönlichkeit Stammlers, der sich noch Anfang 1933 zusammen mit seinem Kollegen Leopold Magon und dem Philosophen Hans Pichler für die Verleihung der Ehrendoktorwürde für den bedeutenden jüdischen OstseeReeder Arthur Kunstmann eingesetzt hatte,26 trotz seiner Zugehörigkeit zum NSLehrerbund und seines Eintritts in die SA nicht leicht festlegen. Wenige Jahre später, 1937, verlor Stammler aus nicht ganz klaren Gründen seinen Lehrstuhl in Greifswald, war dann im Krieg bei der Luftwaffe in der Presse- und Propagandaabteilung in Norwegen eingesetzt.27 Er wurde in den Ruhestand versetzt und zog daraufhin als Privatgelehrter nach Berlin. Von 1951 bis zur Emeritierung im Jahre 1957 war Stammler ordentlicher Professor für Germanische Philologie in Freiburg/Schweiz. Ebenfalls bemerkenswert: Das Germanistische Seminar der Universität Greifswald, zu dem u.a. Stammler, der konservative und katholische Leopold Magon sowie der junge Karl Kaiser gehörten, wurde in den späten 1930er Jahren misstrauisch vom Sicherheitsdienst der SS beobachtet. In dem entsprechenden Bericht um 1938 hieß es: „Der Seminarbetrieb unter Professor Magon wird negativ beurteilt, bedarf dringend einer personellen Neuordnung.“28 Während die Germanistik als literatur- und sprachwissenschaftliche Disziplin längst etabliert war, stellte die sich daraus entwickelnde Volkskunde in Deutschland 25 Vgl. Borchardt, Bücherverbrennung (wie Anm. 11), S. 158. 26 Dazu Stamm-Kuhlmann, Philosophische Fakultät (wie Anm. 12), S. 406f. 27 Erhebliche Probleme im Privatleben vermuten Joachim Lerchenmüller und Gerd Simon, Im Vorfeld des Massenmordes. Germanistik und Nachbarfächer im 2. Weltkrieg, Tübingen 42009, S. 93f., http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/volltexte/2009/4008/ (letzter Zugriff am 24.6.2013); Gerd Simon und Ulrich Schermaul, Chronologie Stammler, Wolfgang [Tübingen 2006], S. 15–20, http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/ChrStammler.pdf (letzter Zugriff am 17.8.2013). Über eine NS-Intrige vgl. Artikel „Stammler“, in: Buchholz, Lexikon (wie Anm. 16), S. 222f. 28 Gerd Simon (Hg.), Germanistik in den Planspielen des Sicherheitsdienstes der SS, Bd. 1, Tübingen 22010, S. 189, http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/volltexte/2010/5139/pdf/Uli_Endf_Planspiele1.pdf (letzter Zugriff am 17.8.2013).

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eine relativ junge Wissenschaft dar. Sie hatte sich neben der populären Heimatkunde nach dem Ersten Weltkrieg zur wissenschaftlichen Disziplin entwickelt.29 Leonore Scholze-Irrlitz hat auf die Traditionslinien und die Ideologisierungsansätze seit dem Kaiserreich hingewiesen und von dem „Volk in seinen kulturellen Überlieferungen“30 gesprochen. Die volkskundliche Forschung an der Universität Greifswald gewann seit dem Ende der 1920er Jahre durch die beiden Germanisten Lutz Mackensen und Karl Kaiser an Bedeutung und fing an, auch stark überregional auszustrahlen.31 Lutz Mackensen (1901–1992) war von 1926 bis 1933 Mitglied der Greifswalder Philosophischen Fakultät.32 Geboren 1901 in Bad Harzburg, hatte er ab 1917 deutsche Philologie, Geschichte, Philosophie und Kunstwissenschaft in Berlin und Heidelberg studiert. Er promovierte 1922 bei Friedrich Panzer in Heidelberg und war wissenschaftliche Hilfskraft im Archiv des Deutschen Wörterbuchs in Göttingen. Mackensen habilitierte sich 1926 mit 25 Jahren für deutsche und nordische Philologie und Volkskunde an der Universität Greifswald. Dort gründete er die Volksliedsammelstelle des Deutschen Volksliedarchivs, die 1929 zum Volkskundlichen Archiv für Pommern ausgebaut werden konnte. Mackensen trat im selben Jahr in die 1928 gegründete Greifswalder Gelehrte Gesellschaft für Lutherforschung und neuzeitliche Geistesgeschichte ein und brachte das junge Fach Volkskunde mit ein.33 Dieser Gesellschaft gehörten Historiker, Juristen, Theologen wie Hermann Wolfgang Beyer, aber auch Germanisten wie Wolfgang Stammler an. Deren Glanzzeit ging allerdings mit der kirchenpolitischen Spaltung 1933/1934 zu Ende. Mackensen selbst wechselte 1933 als außerordentlicher Professor an das Herder-Institut in Riga und war seit Mitte der 1930er Jahre „Kontaktperson d[es] Amtes Rosenberg“.34 Er wurde in Riga als Mitglied der NSDAP auf der Liste der Greifswalder Hochschullehrer (nichtbeamtete außerordentliche Professoren) von Anfang Mai 1933 geführt.35 29 So Wolfgang Kaschuba (1999) in: Leonore Scholze-Irrlitz, Universitätsvolkskunde im Nationalsozialismus. Skizzen zur Fachetablierung und Öffentlichkeitsarbeit in Berlin, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.), Die Berliner Universität in der NS-Zeit, Bd. 2, Fachbereiche und Fakultäten, Stuttgart 2005, S. 133–147, hier S. 134. 30 Scholze-Irrlitz, Universitätsvolkskunde (wie Anm. 29), S. 134f. 31 Vgl. dazu den Überblick bei Kurt Dröge, Die Entwicklung der volkskundlichen Forschung in Pommern, in: Roderich Schmidt (Hg.), Tausend Jahre pommersche Geschichte (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern; Reihe V; Bd. 31), Köln, Weimar 1999, S. 343–367, bes. S. 358f. 32 Vgl. im Folgenden den Artikel „Mackensen“, in: Buchholz, Lexikon (wie Anm. 16), S. 150f. 33 Vgl. Irmfried Garbe, Theologe zwischen den Weltkriegen: Hermann Wolfgang Beyer (1898– 1942). Zwischen den Zeiten, konservative Revolution, Wehrmachtsseelsorge (= Greifswalder theologische Forschungen; Bd. 9), Frankfurt/Main 2004, S. 372. 34 Artikel „Mackensen“, in: Buchholz, Lexikon (wie Anm. 16), S. 151. 35 Vgl. Universitätsarchiv Greifswald (künftig: UAG), Kurator K 718, Bl. 203.

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In seinem Aufsatz über „Sprache und Rasse“, den er 1935 in den „Nationalsozialistischen Monatsheften“ veröffentlichte, versuchte Mackensen, das Jiddische zur Illustration dieses Verhältnisses heranzuziehen. Dabei dürfte er auf eigene Erfahrungen mit der jiddischen Kultur in Riga zurückgegriffen haben. Mackensens Sprache in den Veröffentlichungen vor und nach 1945 ist nachweislich von der NS-Terminologie geprägt; sein Weltbild ist als rassistisch zu bezeichnen.36 In Riga betreute er die Greifswalder Studenten Matthes Ziegler und Karl Heinrich Henschke sowie als Assistenten Heinz Diewerge in familiärer Weise.37 Mackensen regte die volkskundliche Dissertation von Henschke an, deren Betreuung in Greifswald als Erstgutachter Wolfgang Stammler und als Zweitgutachter Leopold Magon übernahmen.38 Desgleichen gab er den Anstoß zu der Dissertation von Matthes Ziegler, die Karl Kaiser als Erstgutachter Ende 1936 beurteilte.39 Zuvor war Mackensen – neben dem Zweitgutachter Wolfgang Stammler – der Betreuer der Dissertation von Karl Kaiser im Jahre 1928 gewesen.40 Wie Stammler so kann man auch Mackensen nicht einfach als „strammen Nationalsozialisten“ bezeichnen. Einerseits trugen seine negativen Gutachten zur Arbeit des Volkskundlers Richard Beitl, die er 1936 im „Völkischen Beobachter“ und in den „Nationalsozialistischen Monatsheften“ veröffentlichte, erheblich zu dessen Reglementierung bei.41 Andererseits wurde Mackensen 1937 bei seiner Bewerbung um den Greifswalder Lehrstuhl für Germanistik mit der Begründung abgelehnt, er hätte sich gegen (!) Antisemitismus engagiert und bei der jüdischen CV-Zeitung mitgearbeitet.42 Das SD-Urteil über ihn fiel Ende der 1930er Jahre, als er in Riga tätig 36 Vgl. die sprachwissenschaftliche Kritik an Mackensens Werken durch Helmut Henne, Schlag nach bei Mackensen! Er führt Dich, wohin Du nicht willst … , in: Sprachreport, 4 (2010), S. 2–6, http://pub.ids-mannheim.de/laufend/sprachreport/pdf/sr10-4a.pdf (letzter Zugriff am 17.8.2013); „Mackensen used Yiddish to illustrate a discussion of the relationship between race and language published in ‚Nationalsozialistische Monatshefte‘ (1935)“, Christopher Hutton, Linguistics and the Third Reich. Mother-Tongue Fascism, Race and the Science of Language (= Routledge Studies in the History of Linguistics; Bd. 1), London, New York 1999, S. 220. 37 Vgl. Briefe von Henschke aus Riga an Verwandte vom 14.9.1933 bis 11.5.1934 (Privatbesitz). 38 Vgl. die Promotionsakten zu Henschke, in: UAG, Phil. Diss. II-840 (Henschke). 39 Vgl. die Promotionsakten zu Matthes Ziegler, in: UAG, Phil. Diss. II-931 (Ziegler). 40 Vgl. die Promotionsakte zu Karl Kaiser, in: UAG, Phil. Diss. II-472 (Kaiser). 41 Vgl. Leonore Scholz-Irrlitz, Feldforschung in der Mark Brandenburg. Volkskundliche Wissens­ produktion in den 1930er Jahren in Berlin, in: Ina Dietsch, Wolfgang Kaschuba und Leonore Scholze-Irrlitz (Hg.), Horizonte ethnografischen Wissens. Eine Bestandsaufnahme, Köln, Weimar 2009, S. 113 Anm. 6. 42 Vgl. Eva-Maria Auch, Die Verfolgung jüdischer Hochschullehrer in Greifswald, in: Margaret Heitmann, Julius H. Schoeps (Hg.), „Halte fern dem ganzen Lande jedes Verderben …“ Geschichte und Kultur der Juden in Pommern (= Haskala; Bd. 15), Hildesheim, Zürich, New York

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war, ebenfalls wenig günstig aus: „Über M. gehen die Urteile sehr auseinander, seine weltanschauliche Einstellung wird als betont christlich geschildert; seine politische Haltung früher deutschnational konservativ. Die bisherigen Urteile sind eher negativ als positiv.“43 Mackensen war nach wie vor evangelisch, seine Frau und die Kinder jedoch katholisch. 1940 war er als Gastprofessor an der Universität Gent tätig, danach lehrte er bis Kriegsende als Professor an der sogenannten Reichs-Universität Posen,44 wo er in dem Philosophen Kurt Stavenhagen einen alten Bekannten aus Rigaer Tagen wiedertraf.45 Er konnte nach 1945 etwas schwerer als Stammler wieder in den Wissenschaftsbetrieb finden, wurde aber als Sprachforscher mit seinen Wörterbüchern sehr bekannt.46 Wir können Stammler ebenso wie Mackensen jener Gruppe von älteren deutschen Hochschullehrern zurechnen, die – wie Martin Heidegger in Freiburg, Carl Schmitt in Berlin und Frankfurt sowie Hans Freyer in Leipzig – als „Vordenker“47 des Nationalsozialismus zu wirken versuchten, aber letztlich persönlich in dieser Funktion scheiterten.

1995, S. 430; zur bürgerlichen, liberal-konservativen „C.V.-Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum. Organ des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens e.V. Allgemeine Zeitung des Judentums“ vgl. Compact memory. Internetarchiv jüdischer Periodika: http://www.compactmemory.de/index_p.aspx?ID_0=24 (letzter Zugriff am 17.8.2013). 43 Gerd Simon (Hg.), Germanisten-Dossiers [des Sicherheitsdienstes der SS um 1938], Tübingen 2003 [Fassung vom 7.9.2003], S. 46, http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/germanistendossiers.pdf (letzter Zugriff am 17.8.2013). 44 Mackensen war ab 1949 zunächst bei der Gesellschaft für Deutsche Sprache angestellt und leitete von 1957 bis 1966 das von ihm gegründete Institut für Deutsche Presseforschung in Bremen, vgl. Artikel „Mackensen“, in: Buchholz, Lexikon (wie Anm. 16), S. 151; Hans Bohrmann, Als der Krieg zu Ende war. Von der Zeitungswissenschaft zur Publizistik, in: Wolfgang Duchkowitsch, Fritz Hausjell und Bernd Semrad (Hg.), Die Spirale des Schweigens. Zum Umgang mit der nationalsozialistischen Zeitungswissenschaft (= Kommunikation. Zeit. Raum; Bd. 1), Wien 2004, S. 97–122. 45 Günter Mangelsdorf (Hg.), Zwischen Greifswald und Riga. Auszüge aus den Tagebüchern des Greifswalder Rektors und Professors der Ur- und Frühgeschichte, Dr. Carl Engel, vom 1. November 1938 bis 26. Juli 1945 (= Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald; Bd. 7), Greifswald 2007, S. 500, 537. 46 Vgl. Lutz Mackensen, Deutsches Wörterbuch, Leipzig 132006; Lutz Mackensen, Ursprung der Wörter, München 2013. 47 Dazu Michael Grüttner, Das Scheitern der Vordenker. Deutsche Hochschullehrer und der Nationalsozialismus, in: Heinz-Gerhard Haupt, Michael Grüttner und Rüdiger Hachtmann (Hg.), Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt/Main 1999, S. 458– 481.

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Alfred Rosenberg und sein Amt

Alfred Rosenberg (1893–1946), der 1946 in Nürnberg wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hingerichtet wurde, stammte aus Reval (heute Tallinn), der Hauptstadt Estlands. Als Antisemit, Gegner der Bolschewiki und Anhänger völkischer Ideen stieß er in den frühen 1920er Jahren zu dem Kreis um Adolf Hitler und wurde, u.a. als Chefredakteur des „Völkischen Beobachters“, zu einem seiner wichtigsten publizistischen Mitarbeiter vor Kriegsausbruch. Nach den Schilderungen seines Biographen Ernst Piper hat man Rosenberg keineswegs als einen „harmlosen Spinner“ oder „vergessenen Gefolgsmann“ Adolf Hitlers anzusehen, als den man ihn nach dem Zweiten Weltkrieg lange Zeit betrachtete.48 Rosenberg hieß seit seiner Ernennung durch Hitler im Januar 1934 „Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“. Er genoss – auch nach dem Krieg – die respektvolle Zuneigung vieler Mitarbeiter.49 Gegenüber NS-Größen wie Joseph Goebbels oder Heinrich Himmler konnte er sich allerdings selten durchsetzen. Seine zahlreichen Schriften, darunter berühmt-berüchtigt „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“50, wiesen ihn als rassistischen Philosophen und allgemein als einen Eklektiker aus, der sich seine Weltanschauung aus vielen Ecken zusammenklaubte. Als Chef des sogenannten Ostministeriums, „Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete“ seit dem Überfall auf die Sowjetunion 1941, fungierte er als zaghafter Pragmatiker, der sich vergeblich für eine menschlichere Behandlung der Völker im besetzten Osteuropa einzusetzen versuchte. Gleichwohl war er Mitwisser der vielen Morde, vor allem an den europäischen Juden. In den besetzten Westgebieten wetteiferte Rosenberg mit anderen NS-Größen beim Raub von Kulturgütern. Seine eigentliche Machtbasis war das verkürzt so genannte „Amt Rosenberg“ bzw. „Dienststelle Rosenberg“, eine von mehreren Parteiinstitutionen des Dritten Reiches, 48 Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005, S. 628. 49 Zum Beispiel Protokoll der Vernehmung von Werner Koeppen vom 29.5.1947, Interrogation Nr. 1299-B, Institut für Zeitgeschichte München (künftig: IfZ), ZS-959, Bl. 44, http://www. ifz-muenchen.de/archiv/zs/zs-0959.pdf (letzter Zugriff am 17.8.2013); ebenfalls apologetisch ein weiterer Mitarbeiter Rosenbergs: Heinrich Härtle, Deutsche und Juden. Studien zu einem Weltproblem, Leoni am Starnberger See 1976, S. 260f.; über Rosenbergs Fürsorge für die Familien seiner Mitarbeiter im Krieg vgl. z.B. Rosenbergs Brief vom 4.12.1942 an Bernhard Payr, in: BArch, NS 8/138, Bl. 181. 50 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1930. Die 1. Auflage kam 1930 heraus, und die Gesamtauflage steigerte sich bis Ende des Krieges auf über eine Million Exemplare, vgl. Piper, Rosenberg (wie Anm. 48), S. 179–201.

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die der Propagierung des Nationalsozialismus und der Beeinflussung der Deutschen auf allen Lebensgebieten dienten. In der polykratischen Struktur des Dritten Reiches hatte dieses Amt jedoch Konkurrenten. Die wichtigsten waren das erfolgreichere Propagandaministerium mit den nachgeordneten Einrichtungen (z.B. der Reichsschrifttumskammer51) von Joseph Goebbels, das Reichserziehungsministerium unter Bernhard Rust,52 die Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutz des NSSchrifttums unter Philipp Bouhler und nicht zuletzt Heinrich Himmlers SD.53 All diese Organisationen produzierten Listen oder Gutachten mit Verboten oder entsprechenden dringenden Empfehlungen, manchmal auch widersprüchlicher Art. Das Amt Rosenberg hatte als Vorläufer den Kampfbund für deutsche Kultur, der als parteiübergreifender Verein bereits 1923 gegründet worden war, dann aber bei den Bücherverbrennungen 1933 eine unrühmliche Rolle gespielt hatte,54 und das Außenpolitische Amt der NSDAP (seit 1933).55 Es entwickelte ab 1934 rasch bürokratische Strukturen, um im Namen der dominierenden NSDAP im deutschen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb Einfluss zu nehmen. Dies geschah vor Kriegsausbruch durch die Ausübung von Zensur auf dem Buchmarkt, durch eigene Zeitschriften und durch die Beeinflussung des Wissenschafts- und Forschungsbetriebes (zum Beispiel bei Berufungen oder in der Tätigkeit für die Deutsche Forschungsgemeinschaft). Forschungsprogramme, die innerhalb des Amtes Rosenberg aufgestellt worden waren, wurden – nicht zuletzt dank personeller Querverbindungen – von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert.56 Inhaltlich befassten sich viele der dortigen Akademiker mit Fragen der Rasseforschung, aber auch mit Volkskunde und Vor- und Frühgeschichte. Im Jahre 1939 waren im Amt Rosenberg 153 meist akademisch ausgebildete Referenten (insgesamt 304 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) tätig.57 Zu den wichtigsten Struktureinheiten, „Ämter“ bzw. „Hauptstellen“ genannt, gehörten das „Amt 51 Dazu ausführlich Jan-Pieter Barbian, Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Von der „Gleichschaltung“ bis zum Ruin, Frankfurt/Main 2010, S. 81–192. 52 Dazu Anne Christine Nagel, Hitlers Bildungsreformer. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934–1945, Frankfurt/Main 2012. 53 Barbian, Literaturpolitik (wie Anm. 51), S. 20f., 89, 96f. 54 Dazu Werner Treß, Die Orte der Bücherverbrennungen: Berlin, in: Julius Schoeps und Werner Treß (Hg.), Orte der Bücherverbrennungen in Deutschland 1933 (= Wissenschaftliche Begleitbände im Rahmen der Bibliothek verbrannter Bücher; Bd. 1), Hildesheim, Zürich, New York 2008, S. 47–142. 55 Vgl. Piper, Rosenberg (wie Anm. 48), S. 325ff. und die umfassende Darstellung von Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970, S. 27–55. 56 Siehe den Aktenvermerk über die Befragung von Ziegler am 17.3.1964, in: IfZ, ZS-1887, Bl. 1–11, http://www.ifz-muenchen.de/archiv/zs/zs-1887.pdf (letzter Zugriff am 17.8.2013). 57 Vgl. Bollmus, Amt (wie Anm. 55), S. 330.

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Schrifttumspflege“ und das „Amt Weltanschauliche Information“. Nach Kriegsausbruch wurden Mitarbeiter des Amtes Rosenberg, die immer wieder zum Kriegsdienst eingezogen wurden oder sich freiwillig meldeten, in den besetzten Westgebieten durch den „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ (ERR) bei Bibliotheks- und Kunstrauben, insbesondere von jüdischem Besitz, tätig. In Osteuropa geschah dies nach dem Überfall auf die Sowjetunion durch die Administration des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete, des sogenannten Ostministeriums. Darin arbeiteten wichtige Mitarbeiter des Amtes Rosenberg aus der Vorkriegszeit. Mitte der 1930er Jahre aber brauchte das Amt Rosenberg für die Fülle der geplanten Aufgaben sowohl die alten „Kämpfer“ der NSDAP aus den genannten Vorläuferorganisationen als auch neue, junge und vor allem wissenschaftlich ausgebildete Menschen. Diese boten sich zu dieser Zeit massenhaft auf dem Arbeitsmarkt für Akademiker an. Sechs von ihnen kamen aus der alten Hansestadt Greifswald. Dazu gehörten die Germanisten Werner Rittich (1906–1978) und Manfred Pechau (1909–1950) sowie die Volkskundler Matthes Ziegler (1911–1992), Karl Kaiser (1906–1940), Heinz Diewerge (1909–1939) und mein Vater Karl Heinrich Henschke (1910–1940).

Rosenbergs Jünger aus Greifswald

Bei dem Aufbau des Amtes Rosenberg Mitte der 1930er Jahre stießen zwei „reine“ Germanisten und vier Germanisten mit volkskundlicher Spezialisierung hinzu. Der eine Germanist war Werner Rittich, der 1906 in Berlin geboren wurde. Als einziger der sechs jungen Geisteswissenschaftler stammte er aus einem eher bescheidenen katholischen Milieu.58 1922 war er Mitglied des Deutschnationalen Jugendbundes geworden.59 Dieser Bund war nationalistisch, antirepublikanisch, straff auf Körperertüchtigung ausgerichtet und ging später unter dem ehemaligen Admiral Adolf von Trotha im Großdeutschen Bund auf.60 Sein Abitur bestand Rittich 1925 an der Oberrealschule in Berlin-Weißensee; eine Ergänzungsprüfung in Latein absolvierte er zwei Jahre später am Gymnasium in Greifswald. Er legte sein Studium – zunächst in Berlin, dann in Greifswald – breit an. Die Fächer Deutsch und Kunstgeschichte standen jedoch offensichtlich im Vordergrund. Vermutlich mehr aus finanziellen Gründen denn aus Abenteuerlust unterbrach Rittich für fast drei Jahre sein Studium und arbeitete als 58 Vgl. den Lebenslauf in Werner Rittich, Kunsttheorie, Wortkunsttheorie und lyrische Wortkunst im „Sturm“ (= Deutsches Werden; H. 2), zugl. phil. Diss. Greifswald 1933; Lebenslauf Rittichs, in: BArch, NS 15/12. 59 Vgl. Personalbogen vom 29.3.1939, in: BArch, NS 15/12. 60 Dazu Kindt, Jugendbewegung (wie Anm. 9), S. 471ff. und 1880f.

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Hauslehrer in Tetuan, damals Spanisch-Marokko. Im Lebenslauf seiner 1933 gedruckten Dissertation listete er als akademische Lehrer in der Hansestadt die Philologen Ludwig Heller, Lutz Mackensen, Leopold Magon, Wolfgang Stammler und Bruno Markwardt auf, aber auch die Philosophen Hans Pichler und Hermann Schwarz. Rittich promovierte bei Stammler mit der Dissertation „Kunsttheorie, Wortkunsttheorie und lyrische Wortkunst im ‚Sturm‘“.61 Die Dissertation hatte er am 18. November 1932 eingereicht.62 Das war, wie sich später herausstellen sollte, ein heißes Eisen, weil er sich intensiv und mit einer gewissen Sympathie mit dem Werk des avantgardistischen jüdischen Intellektuellen Herwarth Walden (Georg Levin)63 befasst hatte. In der mündlichen Philosophieprüfung hatte sich Rittich mit den jüdischen Philosophen Baruch Spinoza und Moses Mendelssohn auseinandergesetzt.64 Rittich dankte im Vorwort der Dissertation ausdrücklich den beiden wichtigsten Sturm-Künstlern Herwarth Walden und Lothar Schreyer sowie dem Erstgutachter Wolfgang Stammler mit der vieldeutigen Formulierung: „zeigte weitgehendes Interesse und Verständnis für diese Arbeit“.65 Rittich gab ferner zu verstehen, dass er der Kunstauffassung von Lothar Schreyer, dem zunehmend religiös und völkisch orientierten Avantgardisten,66 zuneigte: „Jedes Kunstwerk hat religiöse Bestimmung und nur aus den Kräften des Volkstums ist es gestaltbar.“67 Nach einer kurzen verlags- und drucktechnischen Ausbildung im Greifswalder Universitätsverlag Ludwig Bamberg war Rittich von 1934 bis 1937 in der NS-Kulturgemeinde als Redakteur von „Die Völkische Kunst“ und „Kunst und Volk“ tätig. Anschließend arbeitete er innerhalb des Amtes Rosenbergs im Amt Kunstpflege unter Robert Scholz für die maßgebliche NS-Zeitschrift „Die Kunst im Dritten Reich“68 und hatte nicht unwesentlichen Anteil an deren Erfolg: Ihre Auflage kletterte zwi-

61 Rittich, Sturm (wie Anm. 58). Die Arbeit hatte 117 Seiten. Siehe auch die Promotionsakten zu Werner Rittich, in: UAG, Phil. Diss. II-704 (Rittich). 62 Zweitgutachter war Leopold Magon; UAG, Phil. Diss. II-704 (Rittich). 63 Walden (1878–1941), Herausgeber der Zeitschrift „Der Sturm“ von 1910 bis 1932, verheiratet mit Else Lasker-Schüler, war 1919 in die KPD eingetreten, vgl. seine Kurzbiographie im Artikel der Bundesstiftung Aufarbeitung: http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-inder-ddr-%2363%3b-1424.html?ID=5364 (letzter Zugriff am 17.8.2013). 64 Vgl. UAG, Phil. Diss. II-704 (Rittich). 65 Rittich, Sturm (wie Anm. 58), S. 5. 66 Schreyer konvertierte noch 1939 zum Katholizismus, vgl. den Artikel in art Directory: http:// www.lothar-schreyer.de/ (letzter Zugriff am 17.8.2013); siehe auch Lothar Schreyer, Sinnbilder deutscher Volkskunst, Hamburg 1936. 67 Rittich, Sturm (wie Anm. 58), S. 93. 68 Vgl. Rittichs Lebenslauf vom 29.3.1939, in: BArch, NS 15/12; die Schreiben vom 2.11.1940, in: BArch, NS 8/139, Bl. 40–41.

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schen 1939 und 1943 von 52.000 auf 94.000 Exemplare.69 Die Vergangenheit holte ihn jedoch wieder ein: Propaganda-Ministerium, Reichserziehungsministerium und Sicherheitshauptamt befassten sich 1938 mit Rittichs Dissertation und erzwangen die Einstampfung der gesamten Auflage unter dem Hinweis darauf, dass die Zeitschrift „Der Sturm“ von dem jüdischen Publizisten Herwarth Walden herausgegeben worden war.70 Sein Chef Robert Scholz führte im Zweiten Weltkrieg als Leiter des Sonderstabes Bildende Kunst im ERR im besetzten Frankreich Kunstraubaktionen durch.71 1942 wurde Rittich von Rosenberg zur Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes II. Klasse vorgeschlagen und als Begründung u.a. seine Ausstellungstätigkeit in den besetzten Gebieten angeführt, in denen sich die NS-Kunst selbst darstellte.72 Er bat aber von sich aus im darauffolgenden Jahr, nicht in dem Sonderstab Bildende Kunst und auch nicht im Ostministerium eingesetzt zu werden.73 1944 schließlich ersuchte er Alfred Rosenberg um die Entlassung aus allen Ämtern und begründete dies insbesondere mit dem angeblich zerrütteten Verhältnis zu Robert Scholz. Aber Rittich beabsichtigte auch, im Frühjahr 1944 in das Ministerium von Albert Speer überzuwechseln, um dort die Leitung des Amtes Kunst zu übernehmen.74 Rittich hatte noch vor 1939 die katholische Kirche verlassen und sich ebenso wie seine Ehefrau als „gottgläubig“ bezeichnet. In die SA war er 1933, in die NSDAP erst 1937 eingetreten; über den Eintritt in die SS und den NS-Studentenbund gibt es keine genauen Angaben.75 Rittich publizierte in den 1930er und 1940er Jahren insbesondere über den NSKünstler Arno Breker und über Architektur,76 arbeitete auch in den NS-Monatsheften mit und berichtete darin z.B. 1940 in sehr lobender Weise über die Ausstellung „Danziger Maler“, die die Hauptstelle Bildende Kunst des Amtes Rosenberg im Berli69 Dazu Jonathan Petropoulos, The Faustian Bargain. The Art World in Nazi Germany, London 2000, S. 123. 70 Vgl. die Korrespondenz von 1938, in: BArch, RK (ehem. BDC), Z16, Rittich. 71 Ernst Klee, Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt 2009, S. 490. 72 Begründung zum Formblatt vom 15.7.1942, unterschrieben von Rosenberg, in: BArch, PK (ehem. BDC), 214, Rittich. Rittich erstellte z.B. den Katalog für die Ausstellung in Bratislava; Werner Rittich, Ausstellung „Deutsche Plastik der Gegenwart“ in Bratislava, Slovenska Univerzita, im September1942, Berlin 1942. 73 Schreiben Rittichs an Rosenberg vom 14.8.1943, in: BArch, NS 8/139, Bl. 42. 74 Schreiben Rittichs an Rosenberg vom 6.5.1944, in: BArch, NS 8/139, Bl. 51. 75 Vgl. Personalbogen vom 29.3.1939, in: BArch, NS 15/12. 76 Unter anderem Werner Rittich, Arno Breker, Köln 1943; Werner Rittich, Architektur und Bauplastik der Gegenwart, Berlin 31944.

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ner Künstlerhaus eröffnet hatte.77 Noch 1944 wurde er zum Kriegsdienst einberufen und diente in der SS-Standarte „Kurt Eggers“ als einfacher Schütze. Seine Entlassung aus Rosenbergs Diensten sollte nach Kriegsende wirksam werden.78 Werner Rittich überlebte Alfred Rosenberg und den Krieg und wurde schließlich Redakteur beim „Hamburger Abendblatt“.79 Er publizierte allerdings nicht mehr auf dem Gebiet der Kunstgeschichte. Seine Erlebnisse vom Kriegsende wurden nach seinem Tode herausgebracht.80 Er starb am 8. April 1978 in Hamburg. Weitaus aufregender gestaltete sich dagegen das Leben des Germanisten Manfred Pechau. Der 1909 in Halle an der Saale Geborene stammte aus einem protestantischen Elternhaus und besuchte die Schulen der pietistisch-christlich geprägten Franckeschen Stiftungen in Halle.81 Nach dem Abitur 1929 in Magdeburg studierte er Germanistik, Geschichte, Sport und Philosophie in Leipzig, Innsbruck und Greifswald. Nach eigenen Angaben war Pechau bereits seit 1930 politisch aktiv, als er zunächst in Leipzig in den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund eintrat, für den er bis 1938 tätig war. Als Mitglied der NSDAP und der SA (von 1931 bis 1939 in Greifswald) nahm er an mehreren Straßen- und Saalschlachten teil.82 Sein unrühmlichster Auftritt vor dem Krieg dürfte seine Beteiligung an der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 auf dem Greifswalder Marktplatz gewesen sein. Er hatte vor allem starken Anteil an der „Aktion für den deutschen Geist“, mit der die Greifswalder Studentenschaft „für echte, volksverbundene Literatur“ werben wollte, erklärtermaßen als Ergänzung zu der als negativ empfundenen Aktion „Wider den undeutschen Geist“.83 Als „Fachberater“ der Greifswalder Studentenschaft trat kein Geringerer als der Germanistikprofessor Wolfgang Stammler auf.84 Bei diesem promovierte der Gaustudentenführer Pechau 1934. Angesichts der nordeuropäischen Ausrichtung der Greifswalder Universität war es nichts Besonderes, dass als Zweit77 Vgl. Rittich und zahlreiche Abbildungen der Gemälde, in: Nationalsozialistische Monatshefte (künftig: NSMh), 11 (1940), S. 50f. 78 Schreiben W. Koeppens an Rittich vom 8.6.1944, in: BArch, NS 8/139, Bl. 53. 79 Klee, Kulturlexikon (wie Anm. 71), S. 445. 80 Werner Rittich, Kriegstagebuch: 17. Oktober 1944–28. April 1945, hrsg. von Katrin und Wolfgang Tarnowski, Hamburg 2002. 81 Vgl. Pechaus Lebenslauf vom 18.5.1940 und seine Sippenakte vom 5.7.1940 mit dem SS-Erbgesundheitsbogen, in: BArch, RS (ehem. BDC), EO 502, Pechau. 82 Vgl. seinen Lebenslauf vom 18.5.1940, in: BArch, SS-Führerpersonalakten (ehem. BDC), 368A, Pechau. 83 Dirk Mellies und Karl-Heinz Borchardt, Greifswald. 10. Mai 1933 auf dem Marktplatz, in: Julius Schoeps und Werner Treß (Hg.), Orte der Bücherverbrennungen in Deutschland 1933 (= Wissenschaftliche Begleitbände im Rahmen der Bibliothek verbrannter Bücher; Bd. 1), Hildesheim, Zürich, New York 2008, S. 392–409. 84 Mellies/Borchardt, Bücherverbrennung (wie Anm. 83), S. 397–401.

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gutachter der Skandinavist Leopold Magon tätig wurde, der bei der „Aktion für den deutschen Geist“ ebenso wie dessen Germanistik-Kollege Bruno Markwardt literarische Hilfsdienste leistete.85 In der Dissertation „Nationalsozialismus und deutsche Sprache“, die mit Hitler- und Rosenberg-Zitaten gespickt war, befasste sich Pechau mit den sprachwissenschaftlichen Aspekten der marxistischen und nationalsozialistischen Bewegungen, ein Thema, das ihm Wolfgang Stammler schon 1932 gestellt hatte. Er engagierte sich nach dem Studium weiter in der Pressearbeit der Studentenschaft und war bis 1939 im Amt Rosenberg unter Matthes Ziegler, einem anderen ehemaligen Greifswalder Studenten, für „Politischen Katholizismus“ zuständig.86 Pechau arbeitete an den NS-Monatsheften mit und rezensierte z.B. 1939 unter der Rubrik „Politik und Weltanschauung“ die weitverbreitete Arbeit von Dieter Schwarz über die Freimaurerei, für die Reinhard Heydrich das Vorwort geschrieben hatte.87 In Berlin legte er das zweite Staatsexamen 1937 ab und arbeitete dort als Studienassessor.88 Pechau plante in dieser Zeit sogar, sich in Greifswald zu habilitieren.89 Vielleicht war es in diesem Zusammenhang, dass sich der ehrenamtliche SD-Mitarbeiter Pechau90 auch als Denunziant von verstorbenen und lebenden jüdischen und nichtjüdischen Schriftstellern betätigte.91 Vermutlich gehörte er auch zu den Germanisten, die dem hauptamtlichen SD-Germanisten Hans Rössner für dessen umfangreichen Bericht „Lage und Aufgaben der Germanistik und deutschen Literaturwissenschaft“ von 1938 zuarbeiteten.92 85 Mellies/Borchardt, Bücherverbrennung (wie Anm. 83), S. 397ff. Siehe die Promotionsakten zu Manfred Pechau, in: UAG, Phil. Diss. II-806 (Pechau); ferner Manfred Pechau, Der Weg des NS.-Studentenbundes, in: Taschenbuch der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 1935, S. 243–249. 86 Im Amt „Weltanschauliche Information“, vgl. Amt Rosenberg Stellenplan für 1939, in: BArch, NS 8/287, Bl. 5. 87 Pechau, in: NSMh, 10 (1939), S. 172f. Die erste Auflage des kleinen Werkes (68 S.) erschien 1938, die 6. Auflage im Jahre 1944, dann aber mit einem Vorwort von Ernst Kaltenbrunner, Nachfolger von Heydrich, vgl. Dieter Schwarz, Die Freimaurerei. Weltanschauung, Organisation und Politik, Berlin 1938. 88 Vgl. seinen Lebenslauf vom 18.5.1940, in: BArch, SS-Führerpersonalakten (ehem. BDC), 368A, Pechau. 89 Gerd Simon, NS-Sprache aus der Innensicht. Der Linguist Manfred Pechau und die Rolle seines SS-Sonderkommandos bei dem Massenmord in den Sümpfen Weißrusslands, Tübingen 2003, S. 10, http://homepage.uni-tuebingen.de/gerd.simon/pechau.pdf (letzter Zugriff am 17.8.2012),. 90 Seit 1937 war er ehrenamtliches Mitglied beim SD, vgl. die Personalakte, in: BArch, RS (ehem. BDC), EO 502, Pechau. 91 Darunter waren u.a. Heinrich Heine, Thomas Mann, Franz Werfel und Georg Kaiser, vgl. Simon, NS-Sprache, (wie Anm. 90), S. 10. 92 Enthalten in Gerd Simon (Hg.), Germanistik in den Planspielen des Sicherheitsdienstes der SS,

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Seinen protestantischen Glauben hatte er spätestens mit dem Eintritt in die SS verloren. Als Konfession gab er 1940 ebenso wie seine Ehefrau „gottgläubig“ an.93 Der promovierte Germanist wurde zu dem Zeitpunkt im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) als SS-Hauptsturmführer geführt. Mitten im Krieg war er – ebenso wie Matthes Ziegler – auch damit beschäftigt, im Auftrag des RSHA eine Arbeit zum Thema „Katholizismus“ zu verfassen.94 Pechau, der sich als NS-Akademiker und ehemaliger Studentenführer 1935 bereits zur Elite gezählt hatte, half, auch im Krieg bei der SS die Führungskräfte auszubilden. Er unterrichtete SD-Angehörige, die die SS-Führerprüfung absolvierten.95 Nach entsprechender Vorbereitung wurde Pechau schließlich die Leitung des Einsatzkommandos 1b übertragen, das ab 25. August 1942 offiziell im „Partisanenkrieg“ in Weißrussland eingesetzt wurde. Unter dem Befehl des frisch beförderten SS-Sturmbannführers Pechau ermordete diese Truppe im Rahmen der Aktion „Sumpffieber“ allein am 2. und 3. September 1942 über 10.000 Menschen, darunter 8.350 Juden.96 1944 wurde er in den Auslandsnachrichtendienst des RSHA unter Walter Schellenberg versetzt. Pechau überlebte den Zweiten Weltkrieg. Über die Gründe für seinen Selbstmord fünf Jahre später kann man nur Vermutungen anstellen.97 Wie andere mörderische SS-Führer muss auch Manfred Pechau Slawen und Juden gleichermaßen als „Untermenschen“ gesehen haben, die es im Zusammenhang mit der brutalen „Ostpolitik“ zu eliminieren galt. Man muss zugleich mit dem Tübinger Historiker Gerd Simon fragen, wie stark in Pechaus Elitebewusstsein „ein Motiv für das Überspringen der Hemmschwelle zum Mord“98 lag. Denn er verfügte neben seinem rassistischen Verbalradikalismus in seinen publizistischen Äußerungen über eine persönliche Gewaltbereitschaft, die er als junger SA-Mann praktiziert hatte und auf die er 1935 so stolz gewesen war: „Und ein Weiteres ließ die Macht des Bundes [gemeint ist: des NSD-Studentenbundes, G.S.] wachsen: das war das gemeinsame Bd. 1, Tübingen 22010, http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/volltexte/2010/5139/pdf/Uli_Endf_ Planspiele1.pdf (letzter Zugriff am 17.8.2013), S. 154–304. 93 Vgl. den Fragebogen des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS (RuSHA) mit Lebenslauf und Sippenakte von 1940, in: BArch, RS (ehem. BDC), EO 502, Pechau. 94 Gerd Simon, Zur Wissenschaftspolitik des Sicherheitsdienstes der SS im Jahr 1942, Tübingen 2009; Text der beiden Niederschriften von SS-Sturmbannführer Paul Dittel von 1942, unter: http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/SDHSpol42.pdf (letzter Zugriff am 17.8.2013), S. 7, 21. 95 Vgl. Simon, NS-Sprache (wie Anm. 89), S. 9–15. Zur positiven Begründung des SS-Oberführers Naumann zum Protokoll vom 27.4.1940 für Pechaus Beförderung, siehe: BArch, SS-Führerpersonalakten (ehem. BDC), 368-A, Pechau. 96 Vgl. ausführlich Simon, NS-Sprache (wie Anm. 89), S. 3f. 97 Pechau starb am 18.3.1950, vgl. Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt/Main 2013, S. 452. 98 Simon, NS-Sprache (wie Anm. 89), S. 9.

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Erlebnis des Kampfes, des aktiven, angreifenden, blutigen Kampfes auf der Straße in der SA. Es war die glänzendste Voraussetzung für die Machtsteigerung des Bundes, dass hier nicht Leute zusammenkamen, die schwatzen wollten nach Art bürgerlicher Klubs, sondern Kämpfernaturen, die immer zur Tat bereit waren, die allein durch die Tat zusammenzuhalten waren“.99 Pechaus ehemaliger Vorgesetzter im Amt Rosenberg war der Germanist und Volkskundler Matthes Ziegler gewesen. In den Jahren 2006 und 2007 war der Name Matthes bzw. – nach dem Krieg – Matthäus Ziegler aus der Welt der Geschichts­ wissenschaft in die der bundesdeutschen Publizistik getreten, als der Berliner Historiker Manfred Gailus einen großen Artikel in der Wochenzeitschrift „DIE ZEIT“ über „Bruder Ziegler“ veröffentlichte.100 Er schilderte darin die Lebens- und Wirkungsgeschichte eines theologischen Wendehalses der 1930er und 1940er Jahre. Als Sohn eines Werkmeisters 1911 in Nürnberg geboren, entstammte Ziegler eher bescheidenen Verhältnissen inmitten des frommen, fränkischen, besonders völkisch ausgerichteten Protestantismus.101 Er war mit seiner Körpergröße von 187 cm zugleich ein dekorierter Sportler, der Anfang der 1930er Jahre auch an militärischen Reichswehrkursen teilnahm.102 Während des Besuchs des Nürnberger Real-Gymnasiums hatte er sich dem völkischen Jugendbund der Adler und Falken angeschlossen, dem u.a. ein so radikaler Antisemit wie der Jurist und Publizist Johann von Leers angehörte.103 Er leitete längere Zeit das Rasseamt des Gaues Franken der Adler und Falken und vertiefte sich in die Lektüre der entsprechenden Werke von Rassetheoretikern wie Hans Friedrich Karl Günther und Eugen Fischer.104 Im Rückblick stellte Ziegler 1986 fest: „Wir tauschten das graue Fahrtenhemd der bündischen Jugend mit dem schwarzen Rock der SS in dem Bewusstsein, einer neuen Elite anzugehören, – eingebettet in die große Volksbewegung.“105 Nach dem Abitur im Jahre 1930 studierte er drei Semester in Erlangen evangelische Theo99 Zitiert nach Simon, NS-Sprache (wie Anm. 89), S. 10. 100 Manfred Gailus, Bruder Ziegler, in: DIE ZEIT vom 15.2.2007, S. 92; zuvor veröffentlicht in: Manfred Gailus, Vom „gottgläubigen“ Kirchenkämpfer Rosenbergs zum „christgläubigen“ Pfarrer Niemöllers: Matthes Zieglers wunderbare Wandlungen im 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 11 (2006), S. 937–973. 101 Zur Jugendsozialisation vgl. Gailus, Kirchenkämpfer (wie Anm. 100), S. 938–943. 102 Vgl. SS-Stammrollen-Auszug von Ziegler von 1941, in: BArch, SS-Führerpersonalakten (ehem. BDC), 21C, Ziegler. 103 Vgl. Johann von Leers, Forderung der Stunde: Juden raus!, Berlin 41934. Zu von Leers’ (1903– 1965) kuriosem Lebensweg bis zur Konversion vom Protestantismus zum Islam, siehe Hermann Weiß (Hg.), Biographisches Lexikon zum Dritten Reich, Frankfurt/Main 2002, S. 294. 104 Vgl. den handschriftlichen Lebenslauf Zieglers ohne Datum (um 1934), in: BArch, RS (ehem. BDC), 5479, Ziegler. 105 Zitiert nach Gailus, Kirchenkämpfer (wie Anm. 100), S. 943 Anm. 17.

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logie, Philosophie und Germanistik und schloss sich dem NS-Studentenbund an.106 Ziegler trat im Folgejahr in die NSDAP und in die SA ein und wechselte an die Universität Greifswald.107 Dort änderte Ziegler seine Studienschwerpunkte zugunsten von Philosophie und Volkskunde, wenngleich er noch im fünften Semester alle theologischen Seminare absolvierte. Er gab dann aber „aus grundsätzlichen Erwägungen“ den Plan auf, Theologe zu werden und artikulierte diese Loslösung vom bisherigen protestantischen Glauben auch in Vorträgen bei dem Bund der Adler und Falken, sowohl auf der Führertagung zu Ostern 1932 als auch später in Ostpreußen.108 Er wandte sich nun vor allem der Volkskunde und Nordistik zu.109 Unter der beeindruckenden Zahl von 29 akademischen Lehrern, die Ziegler in dem Lebenslauf zu seiner späteren Dissertation aufführte, waren honorige Greifswalder Theologen wie Friedrich Baumgärtel und Joachim Jeremias,110 aber auch Wilhelm Koepp111. Wolfgang Stammler erwähnte Ziegler in seiner Aufstellung nicht, wohl aber den Indogermanisten Ludwig Heller, den Volkskundler Lutz Mackensen und den Philosophen Hermann Schwarz. In Greifswald war Ziegler mit dem Privatdozenten Lutz Mackensen in Kontakt gekommen, und er hatte mit den Vorarbeiten für eine Dissertation über „Die moralische Stellung der Frau im deutschen und skandinavischen Märchen“ begonnen. Dafür studierte er ab Herbst 1932 zwei Semester bei Mackensen in Riga, der an das Herder-Institut, die private Hochschule der deutschen Minderheit, gegangen war. Dort traf er auch die befreundeten Germanisten und Volkskundler Heinz Diewerge und Karl Heinrich Henschke aus Greifswald wieder.112 Im Jahre 1933 erschien Zieglers vielleicht wichtigstes Werk „Kirche und Reich im Ringen der jungen Generation“ als Bändchen der „Reden und Aufsätze zum nordi106 Der dortige NS-Studentenbund war der erste, der an einer Universität bei den AStA-Wahlen die absolute Mehrheit gewonnen hatte, vgl. Gailus, Kirchenkämpfer (wie Anm. 100), S. 939–943; siehe auch seinen Lebenslauf, in: Matthes Ziegler, Die Frau im Märchen (= Deutsches Ahnenerbe; 2. Abt.; Bd. 2), zugl. phil. Diss. Greifswald, Leipzig 1937 . 107 Ziegler war von 1931 bis 1933 in der SA, dann in die SS eingetreten, vgl. Zieglers SS-Stammrollen-Auszug von 1941, in: BArch, SS-Führerpersonalakten (ehem. BDC), 21C, Ziegler. 108 Vgl. den handschriftlichen Lebenslauf Zieglers (um 1934), in: BArch, RS (ehem. BDC), 5479, Ziegler. 109 Vgl. Zieglers Lebenslauf ohne Datum in den Promotionsakten von 1936/37, in: UAG, Phil. Diss. II-931 (Ziegler). 110 Garbe/Onnasch, Theologische Fakultät (wie Anm. 15), S. 85. 111 Vgl. Garbe/Onnasch, Theologische Fakultät (wie Anm. 15), S. 97; Mackensen beauftragte ihn auch mit der Bearbeitung entsprechender Stichwörter, in: Lutz Mackensen (Hg.), Handwörterbuch des deutschen Märchens (= Handwörterbücher zur deutschen Volkskunde; 2 Bde.), Berlin 1930–1940. 112 Vgl. die Briefe von Henschke aus Riga vom September 1933 bis Mai 1934 an Verwandte (Privatbesitz).

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schen Gedanken“, die von dem Nordisten und Hauer-Anhänger Bernhard Kummer in Gemeinschaft mit Mitarbeitern der „Nordischen Stimmen“ herausgegeben wurden.113 Zu Recht hat der Berliner Historiker Manfred Gailus dem Werk dieses 22-jährigen Studenten, das zwischen 1930 und 1932 entstanden war, widerwilligen Respekt gezollt.114 Die pointierten Kapitelbezeichnungen sprachen für sich.115 In seiner von theologischem Wissen getränkten Polemik setzte Ziegler der katholischen Dogmatik und auch der protestantischen dialektischen Theologie die Gesinnung der Jugendbewegung (Wandervogel) und des „Frontsoldatentums“, also des „jungen Nationalismus“, entgegen116 und kam zu dem Schluss: „Der Ganzheitsanspruch der Kirche und der Ganzheitsanspruch des totalen Staates schließen sich aus.“117 Den kirchlichen Feiern und Liturgien stellte er als angehender Volkskundler „die Feste des totalen Volkes“ entgegen, die „von dem ewigen Lebensgesetz des Stirb und Werde“ zeugten.118 Damit präsentierte sich Ziegler nicht nur als Vorreiter im folgenden Kirchenkampf, sondern gab auch schon die Blaupause für seine spätere NS-Volkskundearbeit kund. Im Juli 1933 schloss sich Ziegler mit anderen völkisch Gesinnten der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung des Indologen und jugendbewegten Jakob Wilhelm Hauer an, aus der zu Pfingsten des Folgejahres eine neue Konfession und – als angedachtes Ziel – eine Art Staatskirche des Dritten Reiches entstehen sollte.119 Hier traf Ziegler wieder auf Johann von Leers und den Baltendeutschen Lothar von Stengel von Rutkowski, beide Mitglieder im Bund Adler und Falken und rassistische Antisemiten. Er traf auch auf den Anthropologen und Rassismustheoretiker Hans 113 Matthes Ziegler, Kirche und Reich im Ringen der jungen Nation (= Reden und Aufsätze zum nordischen Gedanken; H. 6), Leipzig 1933; zu Bernhard Kummer und Jakob Wilhelm Hauer siehe Klee, Personenlexikon (wie Anm. 97), S. 232, 351f. 114 Gailus, Kirchenkämpfer (wie Anm. 100), S. 940ff. 115 „Dogma und Kirche“, „Das Papsttum und der römische Machtanspruch auf Deutschland“, „Protestantismus und Preußentum“, „Die Stellung der heutigen protestantischen Theologie zu Volk und Staat“, „Eine deutsche Kirche?“, „Eine Theologie des Nationalismus?“, „Unsere Aufgabe: Das Reich“, „Wege und Notwendigkeiten“, vgl. Ziegler, Kirche (wie Anm. 113), 1933, S. 3. 116 Ziegler, Kirche (wie Anm. 113), S. 47; zu dem Vorwurf des „politischen Messianismus“, den Richard Karwehl, dialektisch denkender evangelischer Pfarrer und Freund Karl Barths, 1931 erhoben hatte, vgl. Hans Otto Seitschek, Politischer Messianismus. Totalitarismuskritik und philosophische Geschichtsschreibung im Anschluß an Jacob Leib Talmon, Paderborn, München, Wien, Zürich 2005, S. 84. 117 Ziegler, Kirche (wie Anm. 113), S. 63. 118 Ziegler, Kirche (wie Anm. 113), S. 64. 119 Zu den anderen Unterstützern gehörten u.a. Hans F.K. Günther, Werner Hülle, Paul SchultzeNaumburg, Lothar Stengel; siehe den Artikel über Jakob Wilhelm Hauer, in: Ingo Haar und Michael Fahlbusch (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, München 2008, S. 231; Hauer war Mitglied des Bundes der Köngener, vgl. Kindt, Jugendbewegung (wie Anm. 9), S. 1767.

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Friedrich Karl Günther120 und auf Werner Hülle, den Ziegler später als Schüler des Prähistorikers Hans Reinerth im Amt Rosenberg wiedertreffen sollte.121 Diese Art Sekte von sogenannten Neuheiden hatte jedoch nur ein kurzes Leben. Im August 1935 untersagte die Gestapo alle weiteren öffentlichen Auftritte.122 Dies war genau in der Zeit geschehen, in der Ziegler seine Schrift über „Kirche und Reich im Ringen der jungen Nation“ herausbrachte, über die er in Riga 1933 auch mit Henschke diskutiert hatte.123 Bis September 1934 war Ziegler Protestant, danach bezeichnete er sich als „gottgläubig“.124 Es muss ein heftiger innerer Kampf gewesen sein, den Ziegler in dieser Zeit „zwischen christlich-protestantischer Elternhausprägung und der postprotestantisch-völkischen Rebellion gegen diese Traditionen“125 ausgefochten hat – ebenso wie sein Freund Henschke und viele andere. Zieglers polemische Schrift kam rechtzeitig zum Beginn des sogenannten Kirchenkampfes heraus. Es ist kein Wunder, dass Alfred Rosenberg, dessen Werk von katholischer Seite schon Anfang der 1930er Jahre heftig kritisiert worden war,126 auf die Schrift des jungen Matthes Ziegler zugriff. Rosenberg hatte ihn im Januar 1934 persönlich kennengelernt, nachdem Ziegler ihm zuvor sein Werk zugesandt hatte.127 Ziegler war zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr in Riga, wo er seine baltendeutsche Frau durch einen historisierenden „Brautraub“ heimgeholt hatte,128 sondern war bereits in den Stab des Reichsführers SS übernommen worden. Dort hatte er sich mit dem Aufbau der Abteilung nordisch-skandinavisches Bauerntum in Vergangenheit und Gegenwart beschäftigt.129 Der Balte Rosenberg fand Gefallen an dem jungen ehemaligen Theologiestudenten, der obendrein mit einer Landsmännin verbunden war. Er vertraute ihm noch 1934 das neu geschaffene Archiv für kirchenpolitische Fragen (ab 1937 Amt Weltanschauliche Fragen) und die Schriftleitung der „Nationalsozialistischen Monatshefte. Zentrale politische und kulturelle Zeitschrift der NS120 Weiß, Lexikon (wie Anm. 103), S. 169. 121 Vgl. Amt Rosenberg Stellenplan für 1939, in: BArch, NS 8/287, Bl. 12; Gerd Simon (Hg.), Vorgeschichtler-Dossiers, Tübingen 2006, http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/VorgeschDossiers.pdf (letzter Zugriff am 17.8.2013). 122 Dazu Kurt Nowak, Kirchen und Religion, in: Wolfgang Benz u.a. (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 52007, S. 213. 123 Brief von Henschke an den Vater vom 14.9.1933 sowie an die Eltern und Geschwister vom 26.9.1933 (Privatbesitz). 124 Zieglers SS-Stammrollen-Auszug von 1941, in: BArch, SS-Führerpersonalakten (ehem. BDC), 21C, Ziegler. 125 Gailus, Kirchenkämpfer (wie Anm. 100), S. 942. 126 Vgl. Piper, Rosenberg (wie Anm. 48), S. 184–188, 399–423 (Kirchenkampf ). 127 Gailus, Kirchenkämpfer (wie Anm. 100), S. 945f. 128 Vgl. Henschkes Briefe aus Riga an seine Eltern vom 19.1.1934 und Ostern 1934 (Privatbesitz). 129 Gailus, Kirchenkämpfer (wie Anm. 100), S. 944ff.

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DAP“ an.130 Zugleich erhielt Ziegler einen Dienstvertrag mit dem Parteiverlag Franz Eher in München, so dass sein Monatsgehalt 700 RM und bald 850 RM – mit einem 13. Monatsgehalt – ausmachte.131 Das war ein stattliches Salär, wenn man es mit dem seines Mitarbeiters und Freundes Henschke vom Jahre 1939 vergleicht.132 Ziegler gelang es, binnen eines Jahres die Auflage der Monatshefte von 17.000 auf 120.000 Exemplare zu steigern.133 Der erst 23-Jährige hatte nun eine feste Anstellung und konnte daneben seine nützlichen Verbindungen bei der SS weiterverfolgen. In kurzer Zeit waren ihm unglaublich große Karrieresprünge gelungen inmitten der sich etablierenden NS-Organisationen. Er fühlte sich als Anhänger des Nationalsozialismus nicht mehr in der Minderheit, vielmehr als Mitglied von dessen Elite, als ein kleiner „Führer“.134 Er war aber nicht nur ein Mitdenker Alfred Rosenbergs, sondern auch ideologischer Mitarbeiter Heinrich Himmlers, zu dessen Sicherheitsdienst Ziegler seit Ende 1934 gehörte.135 Angesichts seiner verschiedenen Verpflichtungen war es nicht verwunderlich, dass er die Promotion in Greifswald erst im November 1936 abschließen konnte. Die volkskundliche Dissertation „Die Frau im Märchen. Eine Untersuchung deutscher und nordischer Märchen“ war von dem befreundeten Karl Kaiser als Erstgutachter und von Leopold Magon als Zweitgutachter mit „gut“ beurteilt worden und erschien 1937 im Druck.136 Das kurze Geleitwort schrieb kein Geringerer als Heinrich Himmler. Der eigentliche Doktorvater war jedoch Lutz M ­ ackensen gewesen. Das Werk war Teil der „Fachwissenschaftlichen Untersuchungen“ der Reihe „Deutsches Ahnenerbe“, herausgegeben von Heinrich Himmlers Verein Das Ahnenerbe. Zieglers Quellen waren dänische, schwedische und norwegische Werke. Es ging ihm im „Lebensgesetz des Stirb und Werde“ um den Helden, der im deutschen und im nordischen Märchen eine Frau erkämpft, vor allem aber um die Heldin und die weiblichen Nebengestalten. Der Publizist und Organisator Ziegler stieg weiter auf. Im November 1937 wurde 130 Siehe auch Piper, Rosenberg (wie Anm. 48), S. 326. 131 Dazu Matthäus Ziegler, Von Rosenberg zu Niemöller, maschinenschriftl. Manuskript, ohne Ort 1986/87, S. 29, durch freundliche Vermittlung von Ernst Piper. 132 Henschkes monatliches Bruttogehalt betrug zunächst 380 RM und nach seiner Eheschließung im Mai 1939 450 RM, vgl. Karteikarte des Reichsschatzmeisters zu Henschke vom 24.10.1938, in: BArch, PK (ehem. BDC), 1040030/44, Henschke. 133 Ziegler, Rosenberg (wie Anm. 131), S. 32. 134 Vgl. im Vorwort: „Für sie [die Nationalsozialisten, Anm. d. Verf.] ist Gewissensfreiheit nicht das Recht des liberalen Menschen auf die eigene Persönlichkeit, sondern die größte Verpflichtung, die Führertum auferlegt“, Ziegler, Kirche (wie Anm. 113), S. 5. 135 Vgl. den SS-Stammrollen-Auszug von 1941, in: BArch, SS-Führerpersonalakten (ehem. BDC), 21C, Ziegler. 136 Vgl. die Gutachten vom 21.11.1936 in UAG, Phil. Diss. II-931 (Ziegler); ferner Ziegler, Frau (wie Anm. 106).

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der SS-Hauptsturmführer Ziegler zum angeblich jüngsten Reichsamtsleiter im Amt Rosenberg ernannt.137 Als festangestellter Mitarbeiter des Amtes Rosenberg entwickelte er sich in der Folgezeit zu einem NS-Publizisten, der, als er an der Weltkirchenkonferenz 1937 in Oxford teilnahm, auch gegen die Kirchen polemisierte und ihnen vorwarf, sie würden den neuen Glauben an die „bestimmenden Höchstwerte unseres Daseins, an Blut, Rasse, Volkstum und Ehre“138 denunzieren. Der evangelischen Kirche warf er vor: „Das Gesicht des gegenwärtigen Protestantismus wird bestimmt von einem geradezu selbstmörderischen Kampf gegen alle ‚Germanisierung‘ und dient allein einer erschreckend fortschreitenden geistigen Verjudung und sektenhaften Isolierung.“139 Natürlich leugnete er die Verfolgung der Kirchen durch den Staat. Als Organisator einer rassistischen Volkskunde hatte sich Ziegler bereits ein Jahr lang als Referent der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1935/36 betätigt, bevor er im Jahre 1937 die Geschäftsführung der neuen „Arbeitsgemeinschaft für Deutsche Volkskunde“ übertragen bekam. Sie war von den Reichsleitern Walther Darré, Heinrich Himmler, Konstantin Hierl, Baldur von Schirach und Alfred Rosenberg gegründet worden.140 Im folgenden Jahr spielte Ziegler als Organisator und Redner eine führende Rolle auf dem ersten deutschen Volkskundetag in Braunschweig und konnte einen weiteren Erfolg verbuchen, als er 1939 die Redaktion der neugegründeten Zeitschrift „Deutsche Volkskunde“ übernahm. Wenn man seinen späteren Aussagen trauen darf, so wollte er sich 1939 aus dem Tagesbetrieb aufgrund der Reibereien mit einzelnen Mitarbeitern des Amtes Rosenberg zurückziehen, um seinen religionswissenschaftlichen Neigungen nachkommen zu können. Ihm schwebte wohl vor, letztlich Professor an der von Rosenberg geplanten, aber nicht mehr realisierten Hohen Schule der NSDAP zu werden.141 Er blieb allerdings noch bis Mitte 1941 Schriftleiter der NS-Monatshefte, die danach von Eberhard Achterberg redigiert wurden.142 Als Katholizismusexperte und Mitarbeiter an Rosenbergs „Handbuch der Romfrage“, bezahlt im Rahmen eines Parteiauftrages, schöpfte Ziegler seinerzeit große Hoffnungen für die Zeit nach dem Krieg.143 Bei der feierlichen Amtseinführung von Papst Pius XII. im März 1939 hatte er in Rom noch in der Diplomatenloge gesessen.144 137 So noch im Alter mit Stolz: Ziegler, Rosenberg (wie Anm. 132), S. 43. Zum Datum vgl. SSStammrollen-Auszug von 1941 in; BArch, SS-Führerpersonalakten (ehem. BDC), 21C, Ziegler. 138 Zitiert nach Gailus, Kirchenkämpfer (wie Anm. 100), S. 948. 139 Zitiert nach Gailus, Kirchenkämpfer (wie Anm. 100), S. 949. 140 Gailus, Kirchenkämpfer (wie Anm. 100), S. 952f. 141 Er hatte Probleme mit Alfred Baeumler und Hans Hagemeyer, vgl. Ziegler, Rosenberg (wie Anm. 131), S. 45–48 und 57f.; Gailus, Kirchenkämpfer (wie Anm. 100), S. 959ff. 142 Vgl. NSMh, 12 (1941) bis 15 (1944). 143 Gailus, Kirchenkämpfer (wie Anm. 100), S. 961. 144 Ziegler, Rosenberg (wie Anm. 131), S. 47.

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Nach Kriegsausbruch wechselte er von der Wehrmacht im Frühjahr 1940 zur Waffen-SS und wurde Führer eines Kriegsberichterzuges der SS. In dieser Eigenschaft war er an der Ostfront eingesetzt und kehrte immer wieder zurück, um sich seinen „antikonfessionellen Arbeiten“ zu widmen.145 Zur moralischen Aufrüstung der deutschen Soldaten verfasste der Propagandist Ziegler im Jahre 1939 das 72-seitige Büchlein „Soldatenglaube, Soldatenehre. Ein deutsches Brevier für Hitler-Soldaten“. Es war in altertümlicher Schrift gedruckt und erschien ein Jahr später bereits in einer Gesamtauflage von rund 300.000 Exemplaren. Es wurde auch im Rahmen der Alfred-Rosenberg-Spende verteilt.146 Das kleine Werk wandte sich in der Du-Form an den kämpfenden Wehrmachts- und SS-Soldaten und enthielt sowohl entsprechend plakative Gedichte147 als auch Aussagen führender Nationalsozialisten.148 Zieglers Schrift wurde bis Ende 1944 millionenfach aufgelegt. Der Dank des RSHA für die Propagandatätigkeit und die „antikonfessionellen Arbeiten“ für Himmler blieb nicht aus: Zum 21. Juni 1944 wurde der inzwischen fünffache Familienvater, „SS-Sturmbannführer Dr. Ziegler, ein kompromißloser, weltanschaulich in jeder Richtung klarer Nationalsozialist“149 zum Obersturmbannführer befördert. Das Ende dieser Karriere war allerdings kläglich: Mitte Mai 1945 endete Zieglers Propagandazug in Österreich in englischer Gefangenschaft.150 Nach Internierung und Verurteilung als SS-Offizier wurde Ziegler im Dezember 1947 entlassen und kehrte mit Hilfe eines ehemaligen Lagerpfarrers, der Baltendeutscher und obendrein Mitglied der Bekennenden Kirche gewesen war, ins Zivilleben zurück. Dieser Pfarrer vermittelte Ziegler an den damaligen Kirchenpräsidenten der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Martin Niemöller. Das Gespräch zwischen Niemöller und Ziegler fand am 5. Januar 1948 in Wiesbaden statt und führte zu dessen Präsentation als „unser Bruder Ziegler“.151 Mit Unterstützung Niemöllers konnte Ziegler sein 1932 145 Gailus, Kirchenkämpfer (wie Anm. 100), S. 961. 146 Vgl. den Stempel auf dem Exemplar der Bibliothek des Bundesarchivs Berlin; Matthes Ziegler, Soldatenglaube, Soldatenehre. Ein deutsches Brevier für Hitler-Soldaten (= Nordland Bücherei; Bd. 10), Berlin 1939. 147 Unter anderem von Heinrich Spitta, Lothar Stengel von Rutkowski, Eberhard Wolfgang Möller, Herybert Menzel. 148 Unter anderem. von Heinrich Himmler, Alfred Rosenberg, Rudolf Hess, Baldur von Schirach, Hans Baumann, Adolf Hitler, Hermann Göring, Robert Ley. 149 Schreiben des Reichssicherheitshauptamtes (Durchschrift) vom [unleserlich] 1944 und weitere Unterlagen von 1943 und 1944, in: BArch, SS-Führerpersonalakten (ehem. BDC), 21C, Ziegler. 150 Gailus, Kirchenkämpfer (wie Anm. 100), S. 961f. 151 So Ziegler in seiner Autobiographie von 1986, zitiert nach Gailus, Kirchenkämpfer (wie Anm. 100), S. 965f.

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abgebrochenes Theologiestudium wiederaufnehmen und 1949 mit dem zweiten Examen abschließen. Die Ordination fand 1949 in der Kirche in Rimbach (Odenwald) statt. Warum Niemöller ausgerechnet diesem ehemaligen Kirchenkämpfer half, hing vermutlich mit dessen respektvoller Berichterstattung über den Niemöller-Prozess von 1938 zusammen.152 Der neue Lebensweg des bußfertigen Pfarrers Ziegler, der wieder den biblischen Namen Matthäus angenommen hatte und in den 1960er Jahren sogar als Katholizismusexperte der evangelischen Kirche am Zweiten Vatikanischen Konzil in Rom teilnahm, stellt wiederum ein Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte dar. Matthäus Ziegler starb friedlich im Jahre 1992 in dem oberbayerischen Ort Penzberg. Gar nicht so friedlich verliefen die Biographien der drei anderen Volkskundler aus Greifswald, die Freunde waren und zur gleichen Generation gehörten. Sie starben alle hintereinander in den ersten Monaten des Zweiten Weltkriegs. Dazu gehörte Karl Kaiser, geboren am 23. September 1906 im hessischen Bad Schwalbach.153 Der Vater war – nach heutigen Maßstäben – Beamter des gehobenen Dienstes. Der Sohn studierte nach dem Schulbesuch in seiner Geburtsstadt und in Wiesbaden und ab 1925 an den Universitäten Frankfurt/Main, Wien und Greifswald. Dazu gehörten in Frankfurt/Main u.a. der Germanist, Volkskundler und George-Anhänger Hans Naumann (1886–1951), der 1933 einer der Hauptakteure bei den Bücherverbrennungen war,154 der Germanist und Volkskundler Adolf Spamer (1883–1953),155 aber auch der Literaturhistoriker Martin Sommerfeld (1894–1939), der wegen rassistischer Verfolgung Deutschland verließ und als Professor in den USA wirkte.156 In 152 Zur innerkirchlichen Kontroverse siehe Hans Prolingheuer, Der Prozess gegen Martin Niemöller vor 70 Jahren. Nach dem Bericht Matthes Zieglers, des Kirchenreferenten im Amt Rosenberg, Manuskript vom November 2007, o.O., darin Abdruck des Ziegler-Berichts vom 10.2.1938, http://www.kirchengeschichten-im-ns.de/Zieglerbericht.pdf (letzter Zugriff am 21.6.2013); ferner: „Zu spät, zu unpolitisch, zu wenig“. Zur Debatte um Niemöller und die Nazi-Zigarren“ vom 24.1.2007 mit den Beiträgen von Wolfgang Weissgerber und Martin Stöhr, http://www. martin-niemoeller-stiftung.de/4/zumnachlesen/a104 (letzter Zugriff am 17.8.2013). 153 Vgl. im Folgenden seinen Lebenslauf vom 19.9.1938, in: BArch, DS (ehem. BDC), GO 124, Kaiser. 154 George L. Mosse, Die Bildungsbürger verbrennen ihre Bücher, in: Horst Denkler und Eberhard Lämmert (Hg.), „Das war ein Vorspiel nur …“. Berliner Colloquium zur Literaturpolitik im „Dritten Reich“ (= Schriftenreihe der Akademie der Künste; Bd. 15), Berlin 1985, S. 35–38. Vgl. auch den Eintrag „Hans Naumann“ in Neue Deutsche Biographie (künftig: NDB), 18 (1997), S. 769. 155 Auch Unterzeichner des „Bekenntnis[ses] der Professoren … zu Adolf Hitler …“ von 1933; Klee, Personenlexikon (wie Anm. 97), S. 589. Text des Bekenntnisses, in: http://archive.org/ details/bekenntnisderpro00natiuoft (letzter Zugriff am 17.8.2013). 156 Vgl. Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Bd. 19, Berlin 2012, S. 285–290; weitere Wissen-

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Greifswald schließlich, wo er ab Wintersemester 1926/1927 studierte, hörte Kaiser ein ganzes Dutzend Gelehrter, zu denen der politisch zurückhaltende Germanist Paul Merker (1881–1945)157 ebenso gehörte wie der historisch arbeitende Geograph und Nationalkonservative Fritz Curschmann (1874–1946),158 der u.a. später wegen einer jüdischen Großmutter gemaßregelt wurde.159 In Greifswald studierte Kaiser zudem ein Semester evangelische Theologie. Mit 24 Jahren promovierte er mit der Dissertation „Mundart und Schriftsprache“ an der dortigen Philosophischen Fakultät.160 Die Arbeit war von dem damaligen Privatdozenten Lutz Mackensen betreut worden; als Korreferent hatte Wolfgang Stammler fungiert. Kaiser war danach von 1929 bis 1931 Assistent am Volkskundlichen Archiv für Pommern in Greifswald und anschließend „Hilfsarbeiter in der Hauptstelle des Atlas der deutschen Volkskunde in Berlin“.161 Nach seiner Arbeit über „Das germanische Altertum und das Märchen“, mit der er sich Anfang 1933 habilitierte, arbeitete er als Dozent für Germanistik und Volkskunde in Greifswald. Er übernahm von Mackensen die ehrenamtliche Leitung des dortigen Volkskundlichen Archivs für Pommern sowie der angeschlossenen Landesstelle Pommern, kooperierte mit einer Vielzahl von pommerschen Heimatforschern und auch mit Heinz Diewerge, einem Volkskundler an der Hochschule für Lehrerbildung in Lauenburg (Pommern). Kaiser wurde finanziell lediglich durch ein Forschungsstipendium der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft unterstützt.162 schaftler, die Kaiser in Frankfurt/Main hörte, waren Mathias Friedwagner, Walter Platzhoff, Kurt Rheindorf, Schultz und Karl Vietor, vgl. den Lebenslauf in Karl Kaiser, Mundart und Schriftsprache. Versuch einer Wesensbestimmung in der Zeit zwischen Leibniz und Gottsched (= Form und Geist. Arbeiten zur Germanischen Philologie; H. 18), zugl. phil. Diss. Greifswald, Leipzig 1930. 157 Vgl. den Eintrag zu Paul Merker, in: NDB, 17 (1994), S. 155f. 158 Zu dem kuriosen Antrag, dem Großadmiral von Tirpitz im Jahre 1925 (!) den Ehrendoktor der Philosophischen Fakultät zu verleihen und Curschmanns Mitwirkung vgl. Stamm-Kuhlmann, Philosophische Fakultät (wie Anm. 12), S. 403. 159 Vgl. Stamm-Kuhlmann, Philosophische Fakultät (wie Anm. 12), S. 411f. sowie den Eintrag „Curschmann“ im Kulturportal Ost-West: http://kulturportal-west-ost.eu/biographies/curschmann-fritz-2/ (letzter Zugriff am 17.8.2013). Weitere akademische Lehrer waren – neben Lutz Mackensen und Wolfgang Stammler – der Historiker Hans Glagau, der Indogermanistikphilologe Ludwig Heller, der Mittelalterhistoriker Adolf Hofmeister, Eduard von Jan, der Romanist Erhard Lommatzsch, der Skandinavist Leopold Magon, der Historiker Johannes Paul, der Prähistoriker Wilhelm Petzsch, vgl. den Lebenslauf in Kaiser, Mundart (wie Anm. 156). 160 Kaiser, Mundart (wie Anm. 156). Die mündliche Prüfung fand bereits am 7.12.1928 statt, vgl. dazu und im Folgenden die Promotionsakten in UAG, Phil. Diss. II-472 (Kaiser). 161 Siehe den umfangreichen Nachruf auf Kaiser von Leopold Magon vom 17.7.1940, in: UAG, PA 80 (Karl Kaiser), Bd. 4; Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender auf das Jahr 1940/41, Bd. 1, A–K, Berlin 1941, S. 855. 162 Vgl. die Biographie von Kurt Dröge, „…weil die Ungewissheit nicht länger zu ertragen ist. Eine

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Seit Mitte der 1930er Jahre war er freier Mitarbeiter im Amt Rosenberg und wurde dann Erstgutachter im Promotionsverfahren von Matthes Ziegler.163 Als GermanistikPrivatdozent an der Universität Greifswald blieb er der wissenschaftlichen Volkskundearbeit verbunden, allerdings unter neuen Vorzeichen, wie er 1939 formulierte: „Bis zur Nationalsozialistischen Revolution konnte die volkskundliche Forschungsarbeit als eine gelehrte Beschäftigung gelten. […] Die Bewegung hat […] sie zu einer der Grundwissenschaften des deutschen Volks erhoben“; die Volkskunde sollte „ihre Zeugnisse überall sammeln, von allen Entstellungen und Verzerrungen reinigen und für die praktische Volkstumsarbeit zur Verfügung halten“.164 Deutlicher konnte dieser junge Wissenschaftler den Wechsel von der vorurteilsfreien Wissenschaft zur Indienstnahme der Volkskunde durch die NS-Ideologie nicht aussprechen. Sein opportunistischer Eintritt in die SA 1933 und später in die NSDAP vermochten jedoch seine wirtschaftliche Notlage als Germanist und Volkskundler in den folgenden Jahren nicht lindern. Der junge Familienvater war lediglich auf Stipendien angewiesen.165 1936 verhalf ihm Matthes Ziegler, der auch in der Notgemeinschaft, der Vorläuferin der DFG, arbeitete, zu kurzfristigen finanziellen Hilfen. In dieser Zeit geriet Kaiser als Wissenschaftler in die Auseinandersetzungen zwischen dem Reichserziehungsministerium und dem Amt Rosenberg, die er als deutschnationaler Beamtensohn ebenso wenig wie den faschistischen Totalitätsanspruch zu überblicken vermochte. Die finanziellen Probleme Kaisers hatten vermutlich ihren Ausgang in der schlechten Beurteilung über die Teilnahme am NSDozentenlager im Jahre 1935 genommen und seine Verbeamtung verhindert.166 Von Greifswald aus arbeitete Kaiser am „Atlas der Deutschen Volkskunde“, wofür er von vielen Kollegen Anerkennung erhielt. Darunter waren der bereits erwähnte Heinz Diewerge sowie der renommierte Volkskundler John Meier aus Freiburg/ Breisgau. Im Sommer 1936 erschien Kaisers Opus magnum, der „Atlas der Pommerschen Volkskunde“.167 Das wissenschaftlich anspruchsvolle Werk basierte auf umbiographische Skizze zu Karl Kaiser und der Volkskunde in Pommern, in: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde, Bd. 36 (1993), S. 27–60. Das Stipendium betrug monatlich für den verheirateten, ansonsten unbezahlt arbeitenden Kaiser 275 RM. 163 Zweitgutachter war Leopold Magon. Dazu im einzelnen Hannjost Lixfeld, Matthes Ziegler und die Erzählforschung des Amts Rosenberg. Ein Beitrag zur Ideologie der nationalsozialistischen Volkskunde, in: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde, 26 (1985/1986), S. 51. 164 Zitat Kaisers bei Dröge, Kaiser (wie Anm. 162), S. 32. 165 Dröge, Kaiser (wie Anm. 162), S. 36f. 166 Dröge, Kaiser (wie Anm. 162), S. 43, vgl. das von universitärer Seite unterstützte, umfangreiche Schreiben des Gaudozentenbundführers Karl Reschke, des ehemaligen Rektors, an den Reichserziehungsminister vom 8.5.1939, in: UAG, PA 80 (Karl Kaiser), Bd. 4. 167 Karl Kaiser, Atlas der Pommerschen Volkskunde (= Pommernforschung: II. Reihe, Veröffentlichungen des Volkskundlichen Archivs für Pommern; Bd. 4), Greifswald 1936.

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fangreichen standardisierten Umfragen und der Mitarbeit von zahlreichen Lehrern der Region. Weder im Vorwort noch in den Abhandlungen oder den Zusammenfassungen kann der kritische Leser Spuren der NS-Ideologie entdecken. Kaiser war auch nicht bereit, bei der Formulierung seines programmatisch angelegten Aufsatzes über „Pommern im Lichte der volkstumsgeographischen Forschung“ auf inhaltliche Änderungsvorschläge aus dem Amt Rosenberg einzugehen.168 Einerseits kam er gelegentlich sprachlich der NS-Ideologie entgegen, andererseits wagte er es noch 1936 in seinem genannten Werk, jüdische Wissenschaftler zu zitieren. Im Herbst 1937 kulminierte der Streit um Kaiser.169 Er erhielt die „schärfste Missbilligung“ des Reichserziehungsministers wegen eines wissenschaftlichen Aufsatzes, die auch schriftlich an die Universität Greifswald ging. Es gelang 1938 auf unterer Ebene – durch den befreundeten Karl Heinrich Henschke –, Kaiser wenigstens mit einem Forschungsstipendium der DFG für volkskundliche Forschungen in Pommern über Wasser zu halten.170 Allerdings beeinflussten ihn auch die Freunde und Rosenberg-Mitarbeiter Ziegler und Henschke weiter ideologisch, was mehrere Aufsätze Kaisers in den Jahren nach 1936 und seine Mitarbeit an dem nationalsozialistischen Leitfaden „Deutsche Volkskunde im Schrifttum“171 bezeugen. Dennoch blieb Kaiser bei seiner Linie, in den Publikationen auch andere als nationalsozialistische Meinungen zu Wort kommen zu lassen. Das wurde ihm wohlwollend 1939 von seinem Freund Henschke in den NS-Monatsheften bescheinigt.172 Der Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS notierte im Jahre 1938: „K. gilt als Wissenschaftler ohne besondere Bedeutung und eigene schöpferische Kraft. K. vertritt zusammen mit Prof. Magon, der ausserordentlich negativ beurteilt wird, den Standpunkt der objektiven, reinen und unabhängigen Wissenschaft“.173 Trotz breiter Unterstützung von Seiten der Freunde und der Universität kapitulierte Kaiser schließlich angesichts der unzureichenden finanziellen Absicherung seiner Familie und meldete sich 1939 freiwillig zur Wehrmacht. Im Dezember erhielt er den Bescheid, dass er als beamteter „Staatsdozent“ eingestellt worden war. Greifswalder 168 Zum Beispiel 1937 Vorschläge des mit ihm befreundeten Karl Heinrich Henschke, vgl. Dröge, Kaiser (wie Anm. 162), S. 47ff. Henschke versuchte in der Folgezeit vergeblich, innerhalb der Notgemeinschaft wenigstens Kaisers Existenz durch Stipendienanträge zu sichern. 169 Zit. in Dröge, Kaiser (wie Anm. 162), S. 50. 170 Dröge, Kaiser (wie Anm. 162), S. 51. 171 Deutsche Volkskunde im Schrifttum. Ein Leitfaden für die Schulungs- und Erziehungsarbeit der NSDAP, hg. von der parteiamtlichen Arbeitsgemeinschaft für Deutsche Volkskunde in Verbindung mit dem Amt Schrifttumspflege. Vorrede Matthes Ziegler, Berlin 1938. 172 Karl Heinrich Henschke, in: NSMh, 10 (1939), S. 572, über Karl Kaiser, Lesebuch zur Geschichte der Deutschen Volkskunde (= Volkskundliche Texte; H. 10), Dresden 1939. 173 Simon, Germanisten-Dossiers (wie Anm. 43), S. 37.

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Kollegen schilderten Kaiser als einen engagierten Wissenschaftler und zugleich wenig zugänglichen Menschen, der bei seinen Studenten beliebt war und viele freiwillige Mitarbeiter bei den Umfragen für den „Atlas“ zu motivieren vermochte.174 Der Tod ereilte Karl Kaiser am 22. Juni 1940 in Frankreich.175 Am selben Tag fiel – ebenfalls in Frankreich – sein Freund Karl Heinrich Henschke. Henschke, am 16. Oktober 1910 im westpreußischen Meseritz geboren, entstammte ebenfalls einer protestantischen Familie. Der Vater Wilhelm Henschke, ein ausgebildeter Architekt, war als „Feldbauinspektor“ 1902 freiwillig nach China gegangen und hatte im Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz I. Klasse erhalten. 1926 war er an das Hochbauamt in Greifswald versetzt worden, wo er 1930 zum Ratsherrn ernannt wurde und bis zu seiner frühzeitigen Pensionierung 1933 blieb.176 Wilhelm Henschke war bereits 1929 für die DNVP in den Greifswalder Gemeinderat gewählt worden,177 gehörte also zu den Honoratioren der Hansestadt. Sein Sohn Karl Heinrich Henschke blieb wie die ganze Familie bis zu seinem Lebensende Protestant. Er machte am humanistischen Gymnasium in Greifswald 1929 das Abitur und studierte anschließend in Freiburg/Breisgau, Berlin, Riga und Greifswald. Die in Meseritz geschlossenen Freundschaften hielten ein Leben lang. Sie mündeten auch in den völkisch orientierten Großdeutschen Jugendbund des republikfeindlichen Admirals Adolf von Trotha, dem Karl Heinrich Henschke freundschaftlich verbunden war.178 Der Mittelpunkt der Meseritzer Gruppe dieses Jugendbundes blieb bis zu ihrem Tode im Jahre 1982 seine Mutter, Susanne Henschke.179 Das gesamte Familienleben wurde von der bündischen Tradition geprägt, wozu die „jugendbewegte“ Kleidung ebenso gehörte wie Heimabende, Wanderungen und Liedersingen am Feuer.180 Der junge Henschke entwickelte sich in diesem Jugendbund zu dessen Landesführer für Pommern, strebte aber auch ins Ausland. So leitete er parallel zum Studium 1933/34 ein freiwilliges Arbeitslager im lettischen Riga. Seine Schwerpunktfächer im Studium waren Germanistik, evangelische Theologie, Volkskunde und Sport. Ebenso wie seine 174 Vgl. die Nachrufe von Robert Holsten und Leopold Magon von 1940, in: UAG, PA 80 (Karl Kaiser), Bd. 4. 175 Dröge, Kaiser (wie Anm. 162), S. 54. 176 Vgl. im Folgenden Henschke, Silvester-Chronik (wie Anm. 10), u.a. Familienpapiere (Privatbesitz). Die Pensionierung zum 1.4.1933 wurde finanzpolitisch begründet. 177 Vgl. Matthiesen, Greifswald (wie Anm. 5), S. 174, Anm. 60. 178 Vgl. Kondolenzbrief von Trothas an Ruth Henschke vom 5.7.1940 (Privatbesitz). 179 Dazu im Folgenden auch Ekkehard Henschke, Jugendbewegung in Deutschland vor 1933: Biografische Skizzen, in: Helmut Arnold und Gert Schäfer (Hg.), „Dann fangen wir von vorne an“. Fragen des kritischen Kommunismus. Theodor Bergmann zum 90. Geburtstag, Hamburg 2006, S. 108–113. 180 Dazu im Einzelnen Henschke, Jugendbewegung (wie Anm. 179), S. 98–117.

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Freunde hörte er auch andere Vorlesungen, so in Freiburg ein Semester lang Martin Heidegger und den Historiker Gerhard Ritter, in Berlin u.a. Eduard Spranger. In Greifswald waren seine Lehrer die Germanisten Lutz Mackensen, Wolfgang Stammler und Leopold Magon, der Indogermanist Ludwig Heller, die Geographen Wilhelm Hartnack und Gustav Braun sowie der Theologe Hermann Wolfgang Beyer.181 Neben dem Studium ließ sich Henschke im Jahre 1931 militärisch weiter in der sogenannten schwarzen Reichswehr schulen, angetrieben von den Erlebnissen in Berlin und den Studentenunruhen in dem sonst friedlichen Greifswald. Bei der Gelegenheit beteiligte er sich an der Ausbildung einer Studentenkompanie und nahm 1931 am Bundestag in Rudolstadt teil. In Riga traf er 1933/34 neben seinem künftigen Doktorvater Lutz Mackensen seine Freunde Matthes Ziegler und Heinz Diewerge wieder. Henschke war bereits 1933 in die SA eingetreten, hatte am Nürnberger Parteitag teilgenommen und die Aufnahme in die NSDAP beantragt.182 Im ausländischen Riga trat er gelegentlich mit Imponiergehabe in SA-Uniform auf und war stolz darauf, dass er im Arbeitslager angeblich mehrere Sozialisten zum Nationalsozialismus „bekehren“ konnte. Zusammen mit Matthes Ziegler und dessen Braut besuchte er dort u.a. das jüdische Theater, in dem er das Drama „David Golder“ nach dem Erfolgsroman Irène Némirowskys sah. Seine schriftlichen Berichte ließen ebenso wenig antisemitische Ressentiments erkennen wie zuvor seine Studienarbeit über „Die Judasgestalt in der neuesten Deutschen Dichtung“ von 1932.183 Dagegen berichtete er aus Riga über Alfred Baeumlers Nietzsche-Buch184 und die Gespräche über Nietzsche mit Ziegler, der ihm sein Buch „Kirche und Reich im Ringen der jungen Nation“ gegeben hatte. Henschke, der schon – wie die ganze Familie zuvor – Hans Grimms „Volk ohne Raum“185 gelesen hatte, war so davon beeindruckt, dass er halbironisch bemerkte: „Ein halber Heide bin ich schon!“186 – wahrscheinlich eine Anspielung auf die kurzlebige Sekte der Deutschen Glaubensbewegung des völkischen Religionswissenschaftlers und Indologen Jakob Wilhelm Hauer mit seinem „Neuheidentum“. Henschke 181 Vgl. den Lebenslauf in der Promotionsfassung von Karl Heinrich Henschke, Pommersche Sagengestalten, Greifswald 1935; Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das SS 1931, Greifswald 1931, S. 11; zu Beyer siehe Garbe/Onnasch, Theologische Fakultät (wie Anm. 15), S. 86–91. 182 Eintrag für 1933 in Henschke, Silvester-Chronik (wie Anm. 10). 183 Darin wird die einschlägige Literatur der Nachkriegsjahre referiert, vgl. Karl Heinrich Henschke, Die Judasgestalt in der neuesten Deutschen Dichtung, Handschriftliches Manuskript von 1932, 68 S. (Privatbesitz). 184 Alfred Baeumler, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931. 185 Hans Grimm, Volk ohne Raum, München 1926. 186 Vgl. Briefe von Karl Heinrich Henschke an den Vater vom 14.9.1933 sowie an die Eltern und Geschwister vom 26.9.1933 (Privatbesitz). Siehe auch den Artikel über Hauer, in: Haar/Fahlbusch (Hg.), Handbuch (wie Anm. 119), S. 231.

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befasste sich in Riga als angehender Volkskundler nicht nur mit der „Edda“ und dem „Heliand“, sondern setzte sich auch mit den Schriften konservativer Publizisten wie Hermann Wirth und Mathilde Ludendorff auseinander. Er las den Mystiker Meister Eckart, informierte sich über die Deutschen Christen und besuchte Bibelstunden. Ganz in bündischer Tradition beteiligte er sich auch an der Stefan-George-Feier, die Anfang 1934 am Rigaer Herder-Institut stattfand.187 In der Berliner Zeit hörte er Ende 1935 auch politische und theologische Vorträge, u.a. von Jakob Wilhelm Hauer. Er zitierte in dem Zusammenhang Arthur Moeller van den Bruck, den Autor des Buches „Das Dritte Reich“ von 1923: „Wir müssen die Kraft haben, in Gegensätzen zu leben!“188 Henschke erlebte auch den NS-kritischen Martin Niemöller von der Bekennenden Kirche und bekam hautnah die „schwierigen Auseinandersetzungen“ des neuen Regimes mit dem deutschen Katholizismus mit.189 Ebenso wie seine Freunde rang er als Nationalsozialist um seinen christlichen Glauben. Nach dem ersten Staatsexamen und der kurz danach bestandenen Doktorprüfung, beides 1935 in Greifswald, begann Henschke als Lehrer an der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt Köslin190 in halbmilitärischer Weise seinen Vorbereitungsdienst, der durch Wehrübungen unterbrochen wurde. Wenige Monate später, im November 1935, unterbrach er die Ausbildung, um durch Zieglers Vermittlung im Amt Rosenberg und in der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums als dessen Stellvertreter Lektoratsaufgaben auf dem Gebiet der Volkskunde zu übernehmen. Zudem wurde er Referent für Volkskunde in der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Karl Kaiser sollte ebenfalls hinzukommen. Henschkes Meinung zu seiner Arbeit: „Man will alles Gute auf diese Weise fördern und an Partei und Organisationen empfehlen, alles Überflüssige zurückdrängen und das Schlechte zurückhalten.“191 Er war von der besonderen Position Zieglers beeindruckt und sich im Klaren, dass „die Arbeit […] 187 Feier am 1.2.1934 im Herder-Institut laut Brief Henschkes vom 31.1.1934 an seine Eltern. Stefan George war am 4.12.1933 in der Schweiz gestorben. Zu der vergeblichen Einvernahme durch die NS-Führung und seine lange Nachwirkung vgl. Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 22010, S. 33–40. 188 Brief Henschkes vom 20.11.1935 (Privatbesitz). 189 Brief Henschkes vom 20.1.1936 (Privatbesitz). 190 Zu den 1933 von Kultusminister Rust gegründeten Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (Napolas), in denen Jungen im „Geiste Spartas“ erzogen werden sollten, siehe Helen Roche, Sparta’s German Children. The Ideal of Ancient Sparta in the Royal Prussian Cadet Corps 1818–1920, and in National Socialist Elite Schools (the Napolas) 1933–1945, Swansea 2013, S. 181–237. 191 Vgl. Brief von Henschke aus Berlin an die Eltern vom 15.11.1935 (Privatbesitz); Personalblatt A für (Ober)-Studien-Direktoren, (Ober-)Studienräte, Studienassessoren und Studienreferendare, Köslin vom 7.11.1935, http://bbf.dipf.de/kataloge/archivdatenbank/digiakt.pl?id=p97895 (letzter Zugriff am 17.8.2013).

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nicht leicht werden [wird], denn eigentlich gehört lange Erfahrung und viel verstandesmäßige Klugheit dazu, die ich durch Fleiß ersetzen muß. Es fehlen überall Leute, die wissenschaftlich und politisch ganze Nationalsozialisten sind, und so müssen wir Jungen herhalten, in die Bresche springen und es wagen, eine ganze Wissenschaft wie die deutsche Volkskunde neu aufzubauen.“192 Rasch wurde für ihn „wegen der Einheitlichkeit“ die Aufnahme in die SS beantragt, die jedoch nicht mehr realisiert werden konnte. Für die Aufnahme in die NSDAP, die wegen des Aufenthalts in Riga nicht möglich gewesen war, sollte ebenfalls gesorgt werden.193 Die Ansichten seines Freundes und Vorgesetzten Matthes Ziegler über „nordische Frömmigkeit“, vermutlich dessen erste Überlegungen, pseudoreligiöse Feiern anstelle der kirchlichen zu schaffen, sah Henschke kritisch. Er beschloss, sich auf die Volkskunde zu beschränken und „auf die andern Dinge“194 sich noch nicht einzulassen. Er schrieb in der Folgezeit Rezensionen zu volkskundlichen Arbeiten in den NSMonatsheften, interessanterweise keine Aufsätze mit politischem oder theoretischem Inhalt.195 In dieser umtriebigen Zeit konnte Henschke dennoch seine Studienreferendarausbildung in Berlin fortsetzen,196 und seine mit „gut“ beurteilte Dissertation197 für den Druck vorbereiten. Sie erschien 1936 unter dem Titel „Pommersche Sagengestalten“ in Greifswald.198 Da der eigentliche Doktorvater, Lutz Mackensen, weiterhin am Rigaer Herder-Institut tätig war, hatten Wolfgang Stammler das Erstgutachten und Leopold Magon das Zweitgutachten übernommen.199 Im Frühjahr 1937 wechselte er als Referent an die wissenschaftliche Abteilung der neugegründeten Arbeitsgemeinschaft für Deutsche Volkskunde, in der auch Heinz Diewerge, ein weiterer Jugendfreund und Volkskundler aus Greifswalder Zeiten, tätig war. 1938 half Henschke Matthes Ziegler, den ersten deutschen Volkskundetag in Braunschweig zu organisieren. Im folgenden Jahr heiratete er eine BDM-Führerin. Jedoch ließ sich das Ehepaar trotz starken familiären Drucks auf Wunsch der jungen Frau hin nicht kirchlich trauen. Das Hochzeitsfoto zeigt Henschke vielmehr in SAUniform. Er war schließlich Mitarbeiter im Amt Weltanschauliche Information unter 192 Brief Henschkes vom 15.11.1935 (Privatbesitz). 193 Er bekam verspätet 1938 die hohe Mitglieds-Nr. 5.804.535, vgl. Kriegshinterbliebenenversorgungsakten, in: BArch, PK (ehem. BDC), EO 143, Henschke. 194 Brief Henschkes an seine Eltern vom 20.11.1935 (Privatbesitz). 195 Vgl. z.B. NSMh, 10 (1939), S. 572ff.; 11 (1940), S. 185f., 508f.. 196 Am Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster und am Arndt-Gymnasium, vgl. die Jahre 1936 und 1937, in: Henschke, Silvester-Chronik 1928–1981 (wie Anm. 10). 197 Vgl. die Promotionsurkunde vom 8.6.1936, in: UAG, Phil. Diss. II-840 (Henschke). 198 Henschke, Sagengestalten (wie Anm. 181). 199 Vgl. Promotionsakten, in: UAG, Phil. Diss. II-840 (Henschke).

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Ziegler geworden.200 Wenige Monate später meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht, um – wie es hieß – Familie und Heimat zu „verteidigen“. Ein Vierteljahr nach der Geburt seines Sohnes fiel er im Frankreichfeldzug am 22. Juni 1940. Seine letzten Rezensionen zu volkskundlichen Arbeiten in den NS-Monatsheften erschienen im selben Heft wie die Todesanzeige und ein Gedicht, das ein Freund aus der Arbeitsgemeinschaft für Deutsche Volkskunde über ihn verfasst hatte.201 Der letzte der sechs Greifswalder Akademiker ist Heinz Diewerge. Er wurde am 14. Januar 1909 in ein protestantisches Elternhaus in Stettin hineingeboren. Der Vater war Mittelschullehrer und später Rektor.202 1927 machte der Sohn am Gymnasium in Stargard das Abitur. Anschließend studierte er zunächst in Jena, je ein Semester in Tübingen und in Dijon, danach bis zum Wintersemester 1931/32 in Greifswald. Im Wintersemester 1932/33 hörte er am Herder-Institut in Riga bei dem Germanisten Oskar Masing203 und dem Philosophen Kurt Stavenhagen, der vom SD als politisch „indifferent“ eingeschätzt wurde.204 Diewerge, der in Jena der Burschenschaft Germania beigetreten war,205 studierte ebenfalls recht breit, wenn man die von ihm belegten Fächer Deutsch, Französisch, Englisch, Volkskunde und Philosophie betrachtet. Zu seinen akademischen Lehrern in Greifswald gehörten Ludwig Heller, Lutz Mackensen, Leopold Magon, Bruno Markwardt, Wolfgang Stammler sowie Hans Pichler.206 Als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter war er früh am Volkskundlichen Archiv für Pommern tätig, das Lutz Mackensen 1929 gegründet hatte.207 1934 promovierte Diewerge mit der volkskundlichen Arbeit „Jacob Grimm und das Fremdwort“208 in Greifswald. Der Erstgutachter war Lutz Mackensen, Zweitgut-

200 Vgl. Amt Rosenberg, Stellenplan für 1939, in: BArch, NS 8/287. 201 Vgl. NSMh, 11 (1940), S. 487 (Gedicht von Thilo Scheller) S. 508f. 202 Vgl. im folgenden Alexander Hesse, Die Professoren und Dozenten der preußischen Pädagogischen Akademien (1926–1933) und Hochschulen für Lehrerbildung (1933–1941), Weinheim 1995, S. 235f.; Lebenslauf in Heinz Diewerge, Jacob Grimm und das Fremdwort (= Form und Geist; Bd. 34), zugl. phil. Diss. Greifswald 1934, Leipzig 1935; Personalbogen für die Mitarbeiter in der Reichsführung der Deutschen Studentenschaft vom 8.10.1936, in: BArch, PK (ehem. BDC), BO 320, Diewerge. 203 Vgl. den Artikel „Masing“, in: Baltisches Biographisches Lexikon, S. 491, http://www.bbl-digital.de/eintrag/Masing-Oskar-Hugo-Georg-1874-1947/ (letzter Zugriff am 17.8.2013). 204 Vgl. den Artikel „Stavenhagen“, in: Baltisches Biographisches Lexikon, S. 760, http://www.bbldigital.de/seite/760/ (letzter Zugriff am 17.8.2013); zur Einschätzung Stavenhagens, 1942 ordentlicher Professor in Posen, durch den SD vgl. Leaman/Simon, SD (wie Anm. 14), S. 10. 205 Hesse, Professoren (wie Anm. 202), S. 236. 206 Vgl. Personalverzeichnis 1931 (wie Anm. 182), S. 11ff. 207 Hesse, Professoren (wie Anm. 202), S. 236. 208 Diewerge, Grimm (wie Anm. 202).

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achter Wolfgang Stammler.209 Diewerge hatte seit 1932/1933 zuerst als Assistent von Lutz Mackensen in Riga, wo er stellvertretender Presseamtsleiter der Deutschen Studentenschaft war, dann in Berlin als wissenschaftlicher Assistent gearbeitet.210 Er gehörte seit dem 1. April 1934 der NSDAP, Landesgruppe Lettland, an und engagierte sich in Riga schon als HJ-Führer. Diewerge ging 1936/37 als wissenschaftlicher Mitarbeiter zum Zentralarchiv für deutsche Volkserzählung der Deutschen Forschungsgemeinschaft nach Berlin und war dort auch in der Reichsführung der Deutschen Studentenschaft aktiv (seit 24. September 1936 Reichsfachabteilungsleiter in der Abteilung Volkskunde). Zum 1. April 1937 wurde er als Dozent für Volkskunde an die Hochschule für Lehrerbildung in Lauenburg, Pommern, berufen, wo er sich im NSDozentenbund und in der dortigen NSDAP-Ortsgruppe als Schulungsleiter engagierte.211 Im Amt Rosenberg war Diewerge als Lektor für Volkskunde im Rahmen des Amtes Schrifttumspflege, aber auch in der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums tätig. In der von Rosenberg gegründeten Arbeitsgemeinschaft für deutsche Volkskunde saß er als Beauftragter des Reichsstudentenführers. Diewerge wurde auch noch Mitglied der Landesgruppe Mecklenburg-Pommern des Wissenschaftlichen Arbeitskreises im Bund Deutscher Osten (BDO), dem bis dahin der später an die Universität Greifswald versetzte Juraprofessor – und spätere bundesrepublikanische Bundesvertriebenenminister – Theodor Oberländer vorgestanden hatte.212 Diewerge beabsichtigte, sich in Riga zu habilitieren, was ihm aber nicht mehr gelang.213 In dem Zusammenhang hatte er noch im Frühjahr 1939 wegen eines Forschungsprojekts Kontakt mit der Forschungsstätte für Volkserzählung, Märchen und Sagenkunde in Himmlers Ahnenerbe aufgenommen.214 Er publizierte neben seiner umfangreichen Dissertation und kürzeren Abhandlungen allgemeinverständliche, kleinere Werke zur Volkskunde, aber auch in den „Nationalsozialistischen Monatsheften“.215 209 Hesse, Professoren (wie Anm. 202), S. 236. 210 Vgl. die Personalakten, in: BArch, PK (ehem. BDC), B0 320, Diewerge; zur Arbeit Diewerges in Riga bei Mackensen vgl. Henschke im Brief aus Riga an seine Mutter vom 13.10.1933 (Privatbesitz Henschke). 211 Hesse, Professoren (wie Anm. 202), S. 236. 212 Der BDO wurde ab 1938 von der SS beherrscht, vgl. dazu und zu Oberländer Klee, Personenlexikon (wie Anm. 97), S. 441. 213 Vgl. Hesse, Professoren (wie Anm. 202), S. 236; Brief Henschkes an die Eltern vom 27.1.1936 (Privatbesitz). 214 Schriftwechsel zwischen Diewerge und dem Ahnenerbe vom Frühjahr 1939, in: BArch, DS (ehem. BDC), GO 115, Bl. 114, 119. 215 Dazu gehörten u.a.: Lutz Mackensen (Hg.), Bibliographie zur deutsch-baltischen Volkskunde

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Seit August 1939 als Rekrut bei der Wehrmacht erlitt Heinz Diewerge im Polenfeldzug eine Verletzung, an der er am 15. Oktober 1939 starb.216 Henschke, sein Freund aus Greifswalder und Rigaer Zeiten, widmete ihm, dem Volkskundler, Mitarbeiter im Amt Rosenberg und engagierten Parteigenossen, einen umfangreichen Nachruf.217 Sein älterer Bruder Wolfgang Diewerge, der eine große Karriere im Reichspropagandaministerium machte, überlebte dagegen den Zweiten Weltkrieg.218

Was bleibt?

Es bleibt der Eindruck, dass – abgesehen von den drei zu Kriegsbeginn Gefallenen – diese jungen Akademiker bis zum Ende nicht zu den Einsichten gelangten, zu denen der eingangs erwähnte einfache Landarbeiter gekommen war. Keiner von ihnen hatte den Glauben an Hitler verloren und sein Parteibuch zurückgegeben. Im Gegenteil: Sie waren während der Kriegsjahre noch radikaler geworden. Bereits aus den Biographien dieser sechs jungen Rosenberg-Mitarbeiter und ihrer akademischen Lehrer lassen sich für die Hansestadt Greifswald und ihre Universität folgende Eindrücke filtern: 1. Die Sozialisation, die diese sechs Männer durch ihre Elternhäuser, Schulen, Buchlektüren, Jugendbünde und/oder studentische Korporationen sowie durch ihre akademischen Lehrer erfuhren, mündete scheinbar zwangsläufig in ein Engagement im Nationalsozialismus. Antidemokratische Verhaltensweisen und die Entwicklung zu „Führer“-Persönlichkeiten wurden in den Bünden und Korporationen antrainiert, in SA-Aktivitäten verstärkt und auch von den akademischen Vordenkern nicht in Frage gestellt. Ihr Engagement für den Nationalsozialismus reichte von opportunistischem Verhalten (Kaiser, Rittich) über Begeisterung (Diewerge, Henschke) bis hin zu sich steigerndem, rassistischem Verbalradikalismus (Ziegler) und mörderischer Täterschaft (Pechau). 2. Kameradschaft und Freundschaft stellten ein starkes Bindeglied zwischen den Mitgliedern dieser sehr jungen Generation dar, das auch offensichtliche Mei(= Veröffentlichungen der Volkskundlichen Forschungsstelle am Herderinstitut zu Riga; Bd. 4), Riga 1936; Heinz Diewerge, Der Alte Fritz im Volksmund. Geschichten und Schwänke (= Die kleine Bücherei; Bd. 208), München 1937; Heinz Diewerge, Burkard Waldis, ein deutscher Kämpfer des 16. Jahrhunderts, in: NSMh, 10 (1939), S. 629–645. 216 Hesse, Professoren (wie Anm. 202), S. 236. 217 Karl Heinrich Henschke, Heinz Diewerge, in: Deutsche Volkskunde, 1 (1939), S. 255ff. 218 Vgl. Klee, Kulturlexikon (wie Anm. 71), S. 101f., sowie Klee, Personenlexikon (wie Anm. 97), S. 111.

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nungsverschiedenheiten überbrückte und in Notlagen half (Kaiser-HenschkeZiegler). 3. Die Konfession, ob protestantisch oder katholisch, verlor durch die völkische und z.T. rassistische Prägung stark an Bedeutung. Ausgesprochen antisemitische Äußerungen oder Handlungen konnten bei Matthes Ziegler und Manfred Pechau festgestellt werden, für die die aktive Mitgliedschaft in der SS und dem SD besonders wichtig wurde. 4. Die junge Volkskunde geriet ebenso wie die Germanistik in den 1930er Jahren schnell in das ideologische Fahrwasser und wurde von „strammen Nationalsozialisten“ wie Matthes Ziegler bedenkenlos instrumentalisiert. Wissenschaftlich Engagierte unter ihnen – wie Karl Kaiser und Heinz Diewerge – waren trotz der Tätigkeit in der Partei um eine Art Qualitätssicherung bemüht. 5. Angesichts der Arbeitslosigkeit unter den jungen Akademikern bot sich nach 1933 die Tätigkeit in einer der Organisationen der NSDAP an. Darunter war auch das Amt Rosenberg. Die Mitarbeit dort verstärkte – trotz gelegentlicher Zweifel (Henschke, Kaiser) – die positive Einstellung zum Nationalsozialismus. Durchsetzungsfähige „Führer“-Persönlichkeiten wie Matthes Ziegler und Manfred Pechau ergriffen rasch die Aufstiegschancen.

Aspekte des Ausländerstudiums an der Universität Greifswald 1933 bis 1945 Tina Kröger

Bestandsaufnahme

Zwei Monate nach Kriegsausbruch, am 1. November 1939, erreichte die Rektoren deutscher Hochschulen ein Schnellbrief des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Bernhard Rust betonte in diesem Schreiben, dass ausländische Studenten keinesfalls gegenüber ihren deutschen Kommilitonen zu benachteiligen seien. Aus „außenpolitischen Gründen“ sei es „dringend erwünscht, diesen Ausländern weiterhin Gelegenheit zum Studium in Deutschland zu geben. Allein die Korrespondenz dieser Ausländer mit ihren Familien und Bekannten in ihrer Heimat trägt zur Verbreitung der Wahrheit über die Verhältnisse in Deutschland während des Kriegs wesentlich bei, da die Resonanz eines derartigen Briefwechsels erfahrungsgemäß weit über den Kreis der Empfänger hinausgeht. Daneben wird in vielen Fällen die Tatsache, daß der Ausländer während des Krieges in Deutschland lebt, ihn innerlich stärker an das Gastland binden, als dies in Friedenszeiten der Fall ist. Hierdurch würden für die Zukunft gerade besonders aktive Kräfte gewonnen werden.“1 Den heutigen Leser mag dieses Schreiben erstaunen, verträgt es sich doch schwer mit dem Bild vom nationalsozialistischen Deutschland, das die Minderwertigkeit, Unterdrückung und Verfolgung des „Fremdvölkischen“2 vehement propagierte und praktizierte. In der Tat aber genossen ausländische Studenten an deutschen Universitäten einen Sonderstatus und blieben bis 1940 von rassenpolitischen Regelungen aus „Gründen der außenpolitischen Rücksichtnahme“3 verschont. Sie waren nach 1 2

Universitätsarchiv Greifswald (künftig: UAG), Altes Rektorat R 389, Bl. 360f. Vgl. ausführlich zum Begriff, Status und Recht von „Fremdvölkischen“ im Nationalsozialismus: Diemut Majer, „Fremdvölkische“ im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernments, Boppard 1993. 3 Nicole Kramer, München ruft! Studentenaustausch im Dritten Reich, in: Elisabeth Kraus (Hg.), Die Universität München im Dritten Reich, Teil I, Aufsätze (= Beiträge zur Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München; Bd. 1), München 2006, S. 123–180, hier S. 163; ab dem 5. Januar 1940 mussten ausländische Studenten eine Erklärung abgeben, nichtjüdischer Abstammung zu sein, vgl. Schreiben des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 13. Februar 1940, UAG, Altes Rektorat R 389, Bl. 388.

Aspekte des Ausländerstudiums

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der Machtübertragung an die Nationalsozialisten im Jahr 1933 nicht nur geduldet, sondern erwünscht. Ihre Studienaufenthalte in Deutschland wurden im steigenden Maße finanziell gefördert.4 Dahinter verbargen sich pragmatische Ziele. Der Studentenaustausch sollte – wie in dem zitierten Schreiben deutlich erkennbar – den negativen Reaktionen auf das nationalsozialistische Deutschland im Ausland entgegensteuern.5 Auch wirtschaftliche Motive spielten eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ausländische Studenten „brachten Geld in die jeweiligen Hochschulstädte“6 und versprachen, bei Rückkehr in die Heimat für den Aufbau und die Pflege wirtschaftlicher Verbindungen nützlich zu sein. Holger Impekoven hat eindrücklich gezeigt, dass die Vergabe von Stipendien und Vergünstigungen eng mit dem jeweiligen Herkunftsland und der Eignung des Bewerbers, nach dem Deutschlandaufenthalt im Heimatland Karriere zu machen, korrelierte.7 Seine 2013 erschienene Monographie „Die Alexander von Humboldt-Stiftung und das Ausländerstudium in Deutschland“ stellt die bisher zum Ausländerstudium ausführlichste Arbeit dar.8 Ansonsten hat sich die kulturpolitische und wirtschaftliche Relevanz, die das NS-Regime dem Ausländerstudium zuschrieb, bisher nicht in einer intensiveren wissenschaftlichen Erforschung des Themas niedergeschlagen. Neuere Publikationen zur Universitätsgeschichte – sei es Berlin, Jena oder Heidelberg9 – ignorieren das Thema vollkommen oder reißen es nur am Rande an.10 Gerade diese Universitäten zählten aber zu den für ausländische Studenten attraktivsten Studienorten.11 Für die lokale Perspektive Greifswald existiert lediglich Jana Fietz’ Dissertation, die sich zwar mit nordischen Studenten in Greifswald beschäftigt, aber nicht über 1933 hinausgeht.12 4

Vgl. Holger Impekoven, Die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und das Ausländerstudium in Deutschland 1925–1945. Von der „geräuschlosen Propaganda“ zur „geistigen Wehr“ des „neuen Europa“, Göttingen 2013, S. 462–466. 5 Vgl. Kramer, München (wie Anm. 3), S. 145. 6 Kramer, München (wie Anm. 3), S. 146. 7 Diese Kriterien beim Auswahlverfahren wurden allerdings schon vor 1933 praktiziert, vgl. Impekoven, Ausländerstudium (wie Anm. 4), S. 118f., 122–127 u. S. 465. 8 Impekoven, Ausländerstudium (wie Anm. 4). 9 Rüdiger vom Bruch, Christoph Jahr (Hg.), Die Berliner Universität in der NS-Zeit, 2 Bde., Stuttgart 2005; Uwe Hoßfeld u.a. (Hg.), Kämpferische Wissenschaft. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln u.a. 2003; Wolfgang U. Eckart, Volker Sellin, Eike Wolgast (Hg.), Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus, Heidelberg 2006. 10 So gibt der Aufsatz von Werner Moritz, Außenbeziehungen der Universität, in: Wolfgang U. Eckart, Universität Heidelberg (wie Anm. 9), S. 147–172 Einblicke in die internationalen Kontakte Heidelberger Wissenschaftler; das Thema Ausländerstudium berührt er allerdings nur am Rande. Eine erfreuliche Ausnahme bildet allerdings der Aufsatz von Kramer, München (wie Anm. 3). 11 Das betraf allen voran Berlin, vgl. Impekoven, Ausländerstudium (wie Anm. 4), S. 27. 12 Jana Fietz, Nordische Studenten an der Universität Greifswald in der Zeit von 1815 bis 1933 (= Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald; Bd. 5), Stuttgart 2004.

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Insofern stützt sich der vorliegende Aufsatz fast ausschließlich auf die Quellen des Universitätsarchivs Greifswald, mit deren Hilfe erste Aussagen über die Quantität des Ausländerstudiums zwischen 1933 und 1945 getroffen werden können. Nur vereinzelt wird es möglich sein, vertiefend auf Motivationen, Erfahrungen und Karrierewege ausländischer Studenten einzugehen, da derartiges Quellenmaterial ausgesprochen rar ist. Dass es natürlich auch den beiderseitigen Austausch gab und deutsche Studenten aus Greifswald im Ausland studierten, lässt sich zweifelsohne belegen. Allerdings muss dieses Thema aufgrund der schwierigen Quellenlage und dem eng gesetzten Rahmen dieses Beitrags unberücksichtigt bleiben.13 Der vorliegende Aufsatz versteht sich daher als eine erste Bestandsaufnahme zum Ausländerstudium in Greifswald und greift nur einzelne Aspekte beispielhaft heraus.

Zahlen

Während der statistischen Erfassung der ausländischen Studenten an der Universität Greifswald zeigte sich schnell das Problem widersprüchlicher Zahlen. Titzes Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte weist unter der Rubrik „Anteil Ausländische Studenten“ große Lücken auf.14 Darüber hinaus stimmen seine Zahlen weder mit dem im Universitätsarchiv vorhandenen „amtlichen Studierendenverzeichnis“ noch mit den halbjährlichen Statistiken überein, die an das Preußische und Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung gesandt wurden.15 Die beiden letzteren sind allerdings nicht immer deckungsgleich. So werden beispielsweise in den halbjährlichen Meldungen an das Ministerium für das Wintersemester 1935/36 38 ausländische Studenten aus 9 verschiedenen Staaten erfasst, während 13 Zu einem ähnlichen Schluss bezüglich der schwierigen Quellenlage kommt Kramer, München (wie Anm. 3). Zum beiderseitigen Austausch vgl. u.a. die Bewerbungsunterlagen Greifswalder Studentinnen für Auslandsaufenthalte im Bestand: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (künftig: BArch), NS 38/2225. Außerdem finden sich Beiträge in der Greifswalder Zeitung (künftig: GZ), z.B. „Greifswalder Studentin über Englandfahrt“, in: GZ vom 12. Oktober 1937 und „Greifswalder Studenten in Dänemark“, in: GZ vom 10. Juni 1938. 14 Hartmut Titze, Wachstum und Differenzierung der deutschen Universitäten 1830–1945. Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1, Hochschulen, 2. Teil, Göttingen 1995, S. 250. Auch Carsten Woigks Statistik stimmt nicht immer mit den von mir ermittelten Zahlen überein und nennt gar keine Zahlen für ausländische Studenten zwischen dem WS 1932/33 und dem WS 1934/35, vgl. Carsten Woigk, Die Studierenden der Universität Greifswald 1808– 2006 – Eine statistische Übersicht, in: Dirk Alvermann, Karl-Heinz Spieß (Hg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald, Band 1, Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006, S. 561–583, hier S. 573f. 15 Vgl. UAG, Altes Rektorat R 749, Bd. 1 und UAG, Altes Rektorat R 314, Bd. 2.

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das Studierendenverzeichnis 39 ausländische Studenten aus 10 Nationen auflistet.16 Unter der letzteren Zahl befanden sich außerdem 24 handschriftlich gekennzeichnete „ADs“ – auslanddeutsche Studenten –, die in Greifswald bis zum Trimester 1941 nicht gesondert in den halbjährlichen Meldungen aufgeführt wurden.17 Kurzum: Nur über eine zeitaufwendige individuelle Erfassung der Namen ausländischer Studenten und einen Abgleich mit deren Semesterbegleitscheinen18 konnte eine Annäherung an die tatsächliche Anzahl gelingen. Doch auch die folgenden Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen: In den Semesterbegleitscheinen wurden in einigen Semestern zufällig baltendeutsche Studenten (handschriftlich mit „BD“ gekennzeichnet) gefunden, die überhaupt nicht im Studierendenverzeichnis aufgeführt waren.19 Nach aktueller Zählung studierten zwischen dem Wintersemester 1932/33 und dem Wintersemester 1944/45 insgesamt 229 ausländische Studenten an der Universität Greifswald, die aus 32 verschiedenen Ländern stammten. Die Mehrzahl von ihnen kam aus Norwegen (50), der Tschechoslowakei bzw. dem Protektorat Böhmen und Mähren (39), Schweden (25), Dänemark (12), England (11), der Schweiz (9) und Finnland (6).20 Vergleicht man die absoluten Zahlen ausländischer Studenten mit den großen, beliebten Universitäten im Reich, so war Greifswald weitaus weniger von fremden Nationen frequentiert. In München studierten beispielsweise in den 30er Jahren zwischen 400 und 500 Ausländer pro Semester.21 Auch die Zusammensetzung der Gruppe ausländischer Studenten in Greifswald unterschied sich deutlich von der anderer Universitäten. An den meisten deutschen Universitäten dominierten die US-Amerikaner. Sie stellten zumindest bis 1933 die größte Gruppe ausländischer 16 UAG, Altes Rektorat R 749, Bd. 1, Bl. 105–108; UAG, Amtliches Studierendenverzeichnis für das WS 1932/33, Typoskript ohne Sign. 17 Vgl. UAG, Amtliches Studierendenverzeichnis für das WS 1935/36, Typoskript ohne Sign. Laitenberger gibt allerdings an, dass die Hochschulstatistik, die vom Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung herausgegeben wurde, zwischen ausländischen und auslanddeutschen Studenten trennt. Vgl. Volkhard Laitenberger, Akademischer Austausch und auswärtige Kulturpolitik. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) 1923–1945, Göttingen u.a. 1976, S. 268. Dies geschah offenbar nicht in Greifswald – hier wurden die „Auslanddeutschen“ nur handschriftlich mit Bleistift im Studierendenverzeichnis vermerkt. 18 Semesterbegleitscheine sind von den Studenten handschriftlich ausgefüllte Nachweise über besuchte Lehrveranstaltungen und deren Gebühren. Sie enthalten außerdem Informationen zu Namen, Geburtsort oder -land und Wohnungsort. 19 So z.B. im 2. und 3. Trimester 1940. 20 Unter den 229 ausländischen Studenten konnte allerdings das Herkunftsland von elf Studenten nicht eindeutig geklärt werden. Dabei handelt es sich um Studierende, die zwar im Studierendenverzeichnis aufgeführt wurden, deren Semesterbegleitscheine aber fehlten. Ein Großteil von ihnen weist allerdings typische skandinavische Vor- und Nachnamen auf. 21 Vgl. Kramer, München (wie Anm. 3), S. 153.

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Studenten in Deutschland.22 In Greifswald waren es hingegen die skandinavischen Studenten, die schon in den Jahrzehnten vor 1933 zahlreich an die Universität geströmt waren.23 Auch nach 1933 sollten „im Rahmen der studentischen Auslandsarbeit möglichst vielseitige Verbindungen nach den skandinavischen Ländern hin“ aufgenommen werden. Damit war, so Günther Falk24 in seinem Bericht über den Aufbau des Nordischen Amtes in Greifswald, vor allem der „Kampf gegen die Greuelpropaganda“ gemeint, aber auch die Vermittlung von Studienplätzen und die Organisation von Studienreisen.25 Die zahlreichen tschechischen Studenten – bzw. sogenannte Protektoratsstudenten – bildeten eine Sondergruppe in Greifswald, auf die später noch näher einzugehen ist. Sie galten mit Erlass vom 15. Oktober 1941 als „Angehörige nationaler Minderheiten“ bzw. „reichsdeutsche Studenten nichtdeutschen Volkstums“, die gesonderte Hochschulnummern erhielten.26 Aus diesem Grund ist ihre Klassifikation als „ausländische Studenten“ durchaus diskussionswürdig. Noch mehr gilt dies für die „Auslanddeutschen“, „Volksdeutschen“ und „Baltendeutschen“,27 deren Anzahl die der Studierenden „fremder Volkszugehörigkeit“ in einigen Semestern deutlich überstieg.28 Auch auf sie trafen besondere Regelungen zu. Ihnen wurde u.a. in den meisten Fällen voller Gebührenerlass zuteil.29 Nach aktuellen Zahlen studierten zwischen dem Wintersemester 1932/33 und dem Wintersemester 1944/45 227 „Auslanddeutsche“ bzw. „Volksdeutsche fremder Staatszugehörigkeit“ an der Universität Greifswald. Die Mehrheit von ihnen stammte aus Polen, Lettland und Estland. Ihre Herkunft ließ sich nicht in allen Fällen eindeutig klären, da im Studierendenverzeichnis nur sporadisch und zum Teil nur handschriftlich Herkunftsländer vermerkt wurden. Diese Kennzeichnung war außerdem nicht stringent, sodass derselbe Student in einem Semester als „AD“ oder „BD“ mar22 Vgl. Kramer, München (wie Anm. 3), S. 155. 23 Vgl. Fietz, Nordische Studenten (wie Anm.12), S. 158–178. 24 Vgl. zu Günther Falk den Beitrag von Marco Nase in diesem Band. 25 Tätigkeitsbericht von Günther Falk, in: BArch, NS 38/2476. 26 Vgl. Schreiben des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an den Rektor der Universität in Rostock vom 19. Februar 1943, UAG, Altes Rektorat R 314, Bl. 251. 27 Zur Definition des „Volksdeutschen“, zum Themenkomplex „Eindeutschung“ und Umsiedlungsaktionen (allerdings mit Fokus auf das Generalgouvernment) vgl. Martin Broszat, „Erfassung“ und Rechtsstellung von Volksdeutschen und Deutschstämmigen im Generalgouvernment, in: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, Bd. 2, München 1963, S. 243–261. 28 Das gilt beispielsweise für das 2. und 3. Trimester 1940. 29 Das geht aus einem Schreiben des Studentenwerkes Greifswald an die Universität Greifswald vom 29. Mai 1940 hervor, das sich auf einen Ministerialerlass vom 20. Mai 1940 bezieht, vgl. UAG, Altes Rektorat R 749, Bl. 193.

Aspekte des Ausländerstudiums

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kiert, im nächsten Semester allerdings ohne Vermerk zu den deutschen Studenten gezählt wurde. Es ist also anzunehmen, dass die Zahl „auslanddeutscher“ Studenten an der Universität Greifswald weitaus höher war. Zum Teil kann die fehlende Markierung auch mit der Einbürgerung einiger „Auslanddeutscher“ begründet werden – in zwei Fällen lässt sich das durch die im Universitätsarchiv vorhandenen Studentenakten belegen.30 Die Medizinische Fakultät war die unter den ausländischen Studenten meist frequentierte Einrichtung. Das gilt für alle drei Gruppen von Studenten, für jene „fremder Volks- und Staatszugehörigkeit“, die „Protektoratsstudenten“ und die „Auslanddeutschen“. Allerdings lassen sich feine Unterschiede feststellen: Bei den ausländischen Studenten „fremder Volks- und Staatszugehörigkeit“ dominierte die Zahnmedizin als Studienfach, welches zu neunzig Prozent die skandinavischen Studenten studierten. Fietz hat in ihrer Arbeit gezeigt, dass die Ausländer bereits während der Weimarer Zeit die Zahl deutscher Zahnmedizinstudenten bei weitem übertrafen: Im Wintersemester 1924/25 stellten sie 86 Prozent in Greifswald; die Mehrzahl von ihnen kam aus Norwegen und Schweden.31 Die Nähe zu den skandinavischen Staaten und ein hoher Bedarf an Zahnärzten bei geringen Ausbildungskapazitäten in Norwegen und Schweden waren die Hauptgründe für die Beliebtheit der Greifswalder Universität.32 Während die skandinavischen Studenten fast ausschließlich die Zahnmedizin dominierten, studierte die Mehrheit der „Auslanddeutschen“ (85 von 227 in absoluten Zahlen) und der „Protektoratsstudenten“ (37 von 38) Humanmedizin, wobei Letztere explizit nur für dieses Fach rekrutiert wurden. Unter den „volksdeutschen“ Studenten war ein nicht geringer Anteil an der Theologischen Fakultät immatrikuliert (76 von 227) – ein Drittel von ihnen war polnischer Staatszugehörigkeit. Die elf Studenten aus England, um eine weitere Gruppe herauszugreifen, waren ausschließlich an der Philosophischen Fakultät angesiedelt; die meisten von ihnen studierten Kulturwissenschaften oder Germanistik. Die Studienfächer korrelierten folglich eng mit dem jeweiligen Herkunftsland, wobei die Medizinische Fakultät am meisten vom akademischen Austausch profitierte. Die bisherige Verwendung des generischen Maskulinums „Student“ verschweigt natürlich, dass es durchaus weibliche Studentinnen aus dem Ausland nach Greifswald zog. Allerdings war ihr Anteil recht gering. Die Frauenquote lag bei den ausländischen Stu30 So z.B. die Einbürgerung von Ernst Huhn aus Lettland und Nicolai Lemmerhirt, geboren in St. Petersburg und aufgewachsen in Tallin, vgl. UAG, Studentenakten I, Nr. 268 und 1542. Außerdem lässt sich in weiteren (mind.) acht Fällen nachweisen, dass es sich bei den Studenten um Umsiedler handelte, vgl. UAG, Studentenakten I, Nr. 449, 624, 1175, 1536, 1635, 1726, 1747, 1822. 31 Vgl. Fietz, Nordische Studenten (wie Anm. 12), S. 162. 32 Vgl. Fietz, Nordische Studenten (wie Anm. 12), S. 168–178.

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denten bei 19 Prozent (in absoluten Zahlen: 37 von 191), bei den „Auslanddeutschen“ bei 16 Prozent (37 von 227) und bei den „Protektoratsstudenten“ lediglich bei 13 Prozent (5 von 38). Bei einem durchschnittlichen Frauenanteil von 26 Prozent an der Gesamtstudierendenzahl in Greifswald lag er bei den Ausländern deutlich darunter.33

Verlauf

Um die Jahrhundertwende studierte die Hälfte aller sich im Ausland befindlichen Studenten an deutschen Universitäten.34 Ihr prozentualer Anteil an der Gesamtstudierendenzahl in Deutschland lag zwischen fünf und zehn Prozent, in Greifswald allerdings nur bei knapp über zwei Prozent.35 Die Beliebtheit deutscher Universitäten änderte sich grundlegend durch den Ersten Weltkrieg, den Hartmut Boockmann in Bezug auf die internationale Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Universitäten als „eine ungleich größere Katastrophe als de[n] Zweite[n]“36 bezeichnete. Bezieht man seine Aussage auf den prozentualen Anteil ausländischer Studenten an der Gesamtstudierendenzahl in Greifswald, behält er recht: Während des Ersten Weltkrieges sinkt er auf 0,3 Prozent im Wintersemester 1917/1918. Während des Zweiten Weltkrieges erreicht der Anteil ausländischer Studenten zwar einen Tiefstand von 0,9 Prozent im Sommersemester 1941, erholt sich danach aber auf Werte zwischen 5 und 6 Prozent (Grafik 1).37 Dass sich die Zahlen während der späten Kriegsjahre erhöhten, ja sogar im Wintersemester 1944/45 einen Höchststand von 53 ausländischen Studenten bzw. 5,4 Prozent (inkl. 27 „Protektoratsstudenten“) der Gesamtstudierendenzahl erreichten, ist sicherlich verblüffend. Die Zahl hätte sich noch auf 71 Studenten gesteigert, wären die Gesuche nicht aufgrund eines Geheimerlasses vom 11. Oktober 1944 abgewiesen worden.38 Es sei, so das Schreiben des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an die Rektoren sämtlicher deutscher Hochschulen „nicht mehr vertretbar, daß Angehörige verbün33 Vgl. den Beitrag von Stephanie-Thalia Dietrich in diesem Band. 34 Vgl. Impekoven, Ausländerstudium (wie Anm. 4), S. 43. 35 Diese Zahlen stammen allerdings von Titze, Datenhandbuch (wie Anm. 14), S. 250. 36 Hartmut Boockmann, Wissen und Widerstand. Geschichte der deutschen Universität, Berlin 1999, S. 225, zit. n. Impekoven, Ausländerstudium (wie Anm. 4), S. 51. 37 Rechnet man allerdings die Protektoratsstudenten und die „volksdeutschen“ Studenten aus den halbjährlichen Statistiken heraus, ergibt sich ein prozentualer Anteil von 0,5 % im SS 1941 und ein Wert zwischen 1,5 und 2,6 % an ausländischen Studenten nichtdeutscher Staatszugehörigkeit in den folgenden Semestern. 38 Vgl. Übersicht über genehmigte und abgelehnte Immatrikulationsgesuche, UAG, Altes Rektorat R 314, Bd. 2, Bl. 84.

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12,0

Prozentualer Anteil ausländischer Studenten an der Gesamtstudierendenzahl

10,0

Prozentualer Anteil Ausländischer Studenten ohne "volksdeutsche" Studenten und "Protektoratsangehörige" ab Sommersemester 1932

8,0

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4,0

2,0

SS 1921 WS 1921/22 SS 1922 Ws 1922/23 SS 1923 WS 1923/24 SS 1924 WS 1924/25 SS 1925 WS 1925/26 SS 1926 WS 1926/27 SS 1927 WS 1927/28 SS 1928 WS 1928/29 SS 1929 WS 1929/30 SS 1930 WS 1930/31 SS 1931 WS 1931/32 SS 1932 WS 1932/33 SS 1933 WS 1933/34 SS 1934 WS 1934/35 SS 1935 WS 1935/36 SS 1936 WS 1936/37 SS 1937 WS 1937/38 SS 1938 WS 1938/39 SS 1939 1. TM 1940 2. TM 1940 3. TM 1940 1. TM 1941 SS 1941 WS 1941/42 SS 1942 WS 1942/43 SS 1943 WS 1943/44 SS 1944 WS 1944/45

0,0

Grafik 1: Prozentualer Anteil ausländischer Studenten berechnet nach den halbjährlichen Meldungen an das Preußische und Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und dem Amtlichen Verzeichnis der Studierenden der Universität Greifswald. Gesamtstudierendenzahl nach Carsten Woigk.

deter Staaten an den wissenschaftlichen Hochschulen des Reiches studieren, die nach der Auffassung des deutschen Volkes ihre nationale und europäische Pflicht heute gleichfalls mit der Waffe oder im kriegswichtigen Arbeitseinsatz zu erfüllen haben.“ Aus „außenpolitischen Notwendigkeiten“ sollte aber eine „Beschränkung des Studiums der Angehörigen neutraler Länder“ nicht stattfinden, allerdings waren „politisch unerwünschte Ausländer […] von den Hochschulen zu entfernen“.39 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es keinen Erlass gegeben, der derartig weitreichende Beschränkungen des Ausländerstudiums in Deutschland vorsah.40 39 UAG, Altes Rektorat R 314, Bd. 2, Bl. 132f. Hervorhebung in der Quelle. 40 Ausgenommen das (geheime) Verbot des Studiums für Studenten „tschechischen oder polnischen Volkstums“ vom 28. Dezember 1939, vgl. Schreiben des Reichsministers für Wissenschaft,

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So waren beispielsweise mit dem Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen vom 24. April 1933, das die Zahl „nichtarischer“ Studenten auf 1,5 Prozent der Gesamtstudierendenzahl begrenzte, keine Einschränkungen für Studenten aus dem Ausland verbunden.41 Das NS-Regime war durchaus darauf bedacht, zwischen „nichtarischen“ und „fremdländischen“ Studenten zu unterscheiden. Das wird deutlich in einem Schreiben des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 14. August 1933: „An verschiedenen Hochschulen werden an jüdische Studierende deutscher Staatsangehörigkeit und an reichsausländische Studierende Ausweise in derselben Farbe ausgegeben. Diese Gleichfarbigkeit der Ausweise hat bei den ausländischen Studierenden zu der Vermutung Anlass gegeben, dass die Hochschulen eine ablehnende Haltung nicht nur gegenüber jüdischen, sondern überhaupt gegenüber fremdländischen Studierenden einnehmen“.42 Dieser Eindruck sollte vermieden werden. Den Ausländern wurden fortan nur blaue Studentenausweise ausgehändigt, während „nichtarische“ Studenten gelbe erhielten (Abbildung 1). Abbildung 1: Blauer Studentenausweis des Norwegers Harald Borna, der an der Universität Greifswald vom Sommersemester 1937 bis zum Sommersemester 1939 Zahnmedizin studierte.

Das Jahr 1933 war also in Bezug auf das Ausländerstudium keine tiefgreifende Zäsur. Es waren vor allem die langfristigen Folgen der Weltwirtschaftskrise, die die Zahlen der ausländischen Studenten – nicht nur in Deutschland sondern in Europa generell – bereits vor 1933 einbrechen ließen.43 An der Greifswalder Universität zeigt sich dieser Trend deutlich: Während der Anteil ausländischer Studenten seinen Höhepunkt im Erziehung und Volksbildung vom 30. November 1942, UAG, Altes Rektorat R 314, Bd. 2, Bl. 209. 41 Vgl. u.a. Impekoven, Ausländerstudium (wie Anm. 4), S. 227f. 42 UAG, Altes Rektorat R 389, Bl. 46. 43 Zum gleichen Schluss kommt Kramer, München (wie Anm. 3), S. 157.

Aspekte des Ausländerstudiums

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Wintersemester 1924/25 mit 11,4 Prozent (in absoluten Zahlen 104) erreichte, war er im Sommersemester 1932 bereits auf 2,5 Prozent (60) gesunken.44 Sinkende Zahlen waren auch in den folgenden Semestern zu beobachten, vor allem unter den schwedischen Studenten. Während im Wintersemester 1932/33 21 schwedische Studenten aufgeführt wurden, studierten nur noch 2 an der Universität Greifswald im Jahr darauf. Das war eine Reaktion auf die neuen politischen Verhältnisse, die sich in Greifswald bei keiner anderen Nation so deutlich zeigte. In Gesamtdeutschland waren es hingegen die Amerikaner, die am sensibelsten auf die neuen Machtverhätnisse reagierten.45 In der Mitte der 30er Jahre erholten sich die Zahlen ausländischer Studierender wieder, sowohl an der Universität Greifswald als auch im nationalen Rahmen.46 Wieder zeigt sich dies in Greifswald vor allem an einer Nation: Die Norweger lösten nun die Schweden buchstäblich ab. So studierten im Wintersemester 1932/33 lediglich 4 Norweger in Greifswald und im Sommersemester 1938 war ihre Zahl bereits auf 22 angestiegen. Der starke Andrang norwegischer Studenten ist im Übrigen nicht Greifswald-spezifisch, sondern ist für das gesamte „Dritte Reich“ erkennbar.47 Mit Beginn des Krieges änderte sich die Lage erneut und die Zahlen brachen dramatisch ein. Aber auch hier zeigte sich – wie nach 1933 – schnell eine Trendwende: Schon im dritten Trimester 1940 waren steigende Studentenzahlen zu verbuchen, die – wie bereits erwähnt – im Wintersemester 1944/45 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten. Die These von der Selbstabkopplung und Abschottung der deutschen Wissenschaft hält in Bezug auf das Ausländerstudium weder für das Jahr 1933 noch für 1939 stand. Im Gegenteil: In Anbetracht der (kriegerischen) Verhältnisse entwickelte sich eine „akademische Migration beträchtlichen Ausmaßes“.48 Diese Entwicklung 44 Basierend auf der halbjährlichen Statistik (UAG, Altes Rektorat R 749, Bd. 1 und UAG, Altes Rektorat R 314, Bd. 2), die mit dem SS 1921 beginnt und den Gesamtstudierendenzahlen nach Woigk, statistische Übersicht (wie Anm. 14), S. 573f. Eine andere Erklärung wäre, dass die Gruppe der norwegischen Zahnmedizinstudenten durch eine Neuregelung in Norwegen fast komplett wegbrach. Ab dem 1.1.1929 wurden im Ausland abgelegte Examen dort nicht mehr anerkannt und die zahnmedizinische Ausbildung ausschließlich auf die Osloer Hochschule beschränkt, vgl. Fietz, Nordische Studenten (wie Anm. 12), S. 174. 45 Impekoven, Ausländerstudium (wie Anm. 4), S. 163; Laitenberger, Akademischer Austausch (wie Anm. 17), S. 268f. 46 Vgl. Holger Impekoven, Deutsche Wissenschaft von außen beurteilt – Überlegungen zur Attraktivität deutscher Universitäten und Hochschulen für ausländische Wissenschaftler und Studenten (1933–1945), in: Joachim Scholtyseck, Christoph Studt (Hg.), Universitäten und Studenten im Dritten Reich. Bejahung, Anpassung, Widerstand, Münster 2008, S. 161–179, hier S. 166. 47 Vgl. Laitenberger, Akademischer Austausch (wie Anm. 17), S. 269, welcher sich auf die Zehnjahresstatistik des Hochschulbesuches und der Abschlussprüfungen beruft, die vom Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung herausgegeben wurde. 48 Impekoven, Deutsche Wissenschaft (wie Anm. 46), S. 167.

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korrespondierte mit dem außenkulturpolitischen Ziel des NS-Regimes, das Ausländerstudium zu erhalten und zu fördern. Die Nationalsozialisten, dies hat Impekoven eindrücklich gezeigt, übernahmen nicht nur das in der Weimarer Republik geschaffene System der Stipendienvergabe, sondern bauten es kontinuierlich aus, insbesondere nach dem 1. September 1939.49 Nach seinen Berechnungen erhielten bereits im 3. Trimester 1940 rund 35 Prozent aller ausländischen Studenten ein deutsches Stipendium.50 Ziel war es, die Eliten der Gastländer „von der kulturellen Überlegenheit Deutschlands“ zu überzeugen. Der Krieg sollte nicht nur militärisch, sondern auch auf „intellektuellem Terrain geführt und gewonnen“ werden.51

Erfahrungen

Warum kamen ausländische Studenten nach Greifswald? Wie erlebten sie den studentischen Austausch? Derartige Fragen sind natürlich in Retrospektive schwer beantwortbar, zumal persönliche Zeugnisse nur selten Eingang in Akten finden. Für jeden Studenten gab es außerdem individuell unterschiedliche push und pull Faktoren, die die Entscheidung, im nationalsozialistischen Deutschland zu studieren, beeinflussten. Ob Abenteuerlust, Interesse, politische Überzeugung oder Prestige (ein Studium an einer deutschen Universität war für viele Studenten aus dem Ausland immer noch ein unverzichtbarer Karrierebaustein)52 – die Gründe sind mannigfaltig und nicht monokausal erklärbar. Nur in seltenen Fällen waren völkisch-politische Affinitäten so präsent wie im Falle von Dr. Andries de Vos, der im akademischen Jahr 1933/34 an der Philosophischen Fakultät in Greifswald studierte. In seinem Abschlussbericht an die Alexander-vonHumboldt-Stiftung schrieb der Belgier: „Eins aber möchte ich nach Abschluss dieses Studienjahres besonders betonen. Ich habe in Greifswald in dem Kreise der nordischen Lektoren und ihrer deutschen Freunde als Niederländer – denn so fühle ich mich als Flame doch – eine äusserst herzliche Aufnahme gefunden. Und ich darf wohl sagen, dass das Leben in einem solchen Kreise in gewisser Hinsicht eine seltene Gelegenheit und Mittel ist, um den germanischen Menschen in sich weiter auszubilden […]. Dass es für mich im übrigen ein Erlebnis war, Zeuge zu sein des Wiederaufstands des deutschen Volkes, brauche ich Ihnen kaum zu sagen. Als Mensch und als Germane kann man sich nur freuen, dass das deutsche Volk sich selber wiederfindet. Ich habe mein ganzes Leben hindurch stets ein reges Interesse für Deutschland und 49 Vgl. Impekoven, Ausländerstudium (wie Anm. 4), S. 300. 50 Impekoven, Ausländerstudium (wie Anm. 4), S. 279. 51 Impekoven, Ausländerstudium (wie Anm. 4), S. 440. 52 Vgl. Impekoven, Ausländerstudium (wie Anm. 4), S. 250.

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das Schicksal des deutschen Volkes gehabt“.53 Voss war in der faschistischen Vereinigung Vlaamsch Nationaal Verbond aktiv, so wie alle belgischen Stipendiaten, die 1934/35 und 1935/36 ein Stipendium über die Alexander-von-Humboldt-Stiftung erhielten.54 Offenbar wollte er auch noch länger in Greifswald verweilen, da er sich für das Wintersemester 1934/35 bereits für Kurse – u.a. für „Deutschland und Skandinavien“ bei Prof. Leopold Magon, „Neuisländisch für Anfänger“ bei Eiður Kvaran und „Dänische Sprechübungen“ bei Helge Kjærgaard – eingeschrieben hatte.55 Eine „schwere Augenkrankheit“, so heißt es im Geschäftsbericht der Humboldt-Stiftung für die Jahre 1934–1936, führte aber zu seiner vorzeitigen Rückkehr in die Heimat. „Sobald er wieder hergestellt ist“, heißt es weiter, „wird er seine Arbeit fortsetzen. Nach Aussage des Nordischen Instituts ist er im Sommer 1936 kurze Zeit in Greifswald gewesen. Er hat sich auch wohl etwas zuviel zugemutet, da er gleichzeitig an die Erlernung der nordischen Sprachen ging. Ob es ihm gelingen wird, sein Ziel, einen Lehrstuhl für Nordistik an der Universität Löwen oder Gent zu erlangen, […] ist zweifelhaft“.56 Die Begutachtung der Studenten hinsichtlich ihrer karrierespezifiischen Tauglichkeit, aber auch die „deutliche Politisierung der Stipendienarbeit“ zeigen sich deutlich am „Fall de Vos“, dessen persönlicher Abschlussbericht allerdings, so Impekoven, hinsichtlich einer oft beobachtbaren Anbiederung an die Finanziers „über das Übliche und wohl auch Notwendige“ weit hinausging.57 Einen eindrücklichen Kontrast zu de Vos’ Schilderungen bietet der Erfahrungsbericht des britischen Studenten Wilfred Evans, der sich nach einem Semester an der Universität in Freiburg im Breisgau im Wintersemester 1937/38 an der Philosophischen Fakultät in Greifswald immatrikulierte. Seine Motivation, in Deutschland zu studieren, entsprang in erster Linie seinem wissenschaftlichen Interesse, da er zu jener Zeit an einer Doktorarbeit über die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die deutsche Sprache arbeitete. Evans war ein sehr gründlicher, zuweilen ironischer Beobachter, dem weder die Personalverschiebungen und die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die Wissenschaftskultur noch der provinziell-militärische Charakter Greifswalds entgingen: „For reasons ungiven the lectures of Traub, Hamel and Jacoby were withdrawn shortly after the term commenced and the three lecturers have since disappeared from the University staff. Such occurrences are still frequent after five years of ‚reorganisation‘ and the resultant scholarship in many departments is painfully mediocre. After Freiburg-im-Breisgau – the southermost University in 53 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (künftig: PAAA), RAV Peking II, 4216, Bl. 221f. 54 Vgl. Impekoven, Ausländerstudium (wie Anm. 4), S. 205f. 55 Vgl. Semesterbegleitschein von Andries de Vos für das WS 1935/36, Nr. 246. 56 PAAA, RAV Peking II, 4216, Bl. 7. 57 Impekoven, Ausländerstudium (wie Anm. 4), S. 205ff.

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Germany – Greifswald and its Menschenschlag naturally afford a great contrast. A mechanical dislike of the French is still very strong here and the Great War has not lost popularity as a dinner-table topic. The observer is also much more conscious of ‚political‘ Germany than in Baden. Apart from the omnipresent Hakenkreuz flags and uniforms, life in Freiburg proceeded at the same leisurely pace as it had done for generations – unperturbed by speeches, parades, collections and other more welcome characteristics of the Third Reich. […] Greifswald is much more conscientious. Scarcely a day passes without some parade. The most impressive is that of the Army and the most amusing the long ‚crocodile‘ of the Hitlerjugend – making the air hideous with impromptu efforts on an assortment of instruments. Tremendous barracks are being built on the outskirts of the town with day- and night-shiffts at works. Greifswald has assumed more the character of a garrison-town than of an university-town and is therfore bound to appear more ‚official‘.“58 Die Personalveränderungen, die Evans in seinem Bericht erwähnt, lassen sich zumindest im Fall von Professor Günther Jacoby und von Privatdozent Hans Traub nachvollziehen, denen beiden aufgrund ihrer Abstammung 1937 die Lehrbefugnis entzogen wurde.59 Evans Semesterbegleitschein (Dokument 1) bestätigt seine Aussagen: Bei Hamel wollte er eigentlich „Völkerrecht“, bei Traub über den „Charakter des ausländischen Zeitungswesens“ und bei Jacoby zur „Philisophie der Gegenwart“ hören, allerdings fielen diese Veranstaltungen aus.60 Interessant sind außerdem Evans Beobachtungen zur optischen Veränderung der Stadt Greifswald, nicht nur hinsichtlich der alltäglichen Paraden, sondern auch der zwei Kasernenkomplexe, die 1938 an der heutigen Hans-Beimler-Straße und der Franz-Mehring-Straße gebaut wurden.61 Im Übrigen beendete Evans seine geplante Doktorarbeit nicht. Er verstarb 1987 in England. Neben diesen Erfahrungsberichten bietet auch die Greifswalder Zeitung interessante Einblicke in den studentischen Austausch. Zwei Zeitungsartikel vom 6. und 7. 58 Der auf Englisch verfasste Bericht vom 28. Februar 1938 ist uns dankenswerterweise von seinem Sohn, Gerard Evans, zugesandt worden. Leider fehlen genaue Angaben zu den Adressaten, vermutlich aber war er für die Universität in Liverpool bestimmt. 59 Zu Jacoby vgl. Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Teil 1, Berlin 2001, 272–276 und S. 665f. Zu Traub vgl. Frank Biermann, Hans Traub (1901–1943), in: Arnulf Kutsch (Hg.), Zeitungswissenschaftler im Dritten Reich. Sieben biographische Studien, Köln 1984, S. 45–80. Zu Landgerichtsrat Walter Hamel vgl. Andreas Schwegel, Der Polizeibegriff im NS-Staat. Polizeirecht, juristische Publizistik und Judikative 1931–1944, Tübingen 2005, S. 82, Anm. 149. Warum allerdings Hamels Vorlesungen ausfielen, ließ sich nicht ermitteln. 60 Vgl. Semesterbegleitschein von Wilfred Evans für das WS 1937/38, Nr. 354. 61 Ralf Scheibe, Universität und Militär in Greifswald in der Mitte des 20. Jahrhunderts, in: Dirk Alvermann, Karl-Heinz Spieß (Hg.), Bausteine zur Greifswalder Universitätsgeschichte. Vorträge anlässlich des Jubiläums „550 Jahre Universität Greifswald“, Stuttgart 2008, S. 151–169, hier S. 157.

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Dokument 1: Semesterbegleitschein vom Wintersemester 1937/38, der die Veranstaltungen auflistet, die der Brite John Wilfred Evans besuchte. Die von Evans durchgestrichenen Vorlesungen von Traub und Jacoby fielen aus, da beiden die Lehrbefugnis aufgrund nichtarischer Abstammung aberkannt wurde.

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August 1935 widmen sich ausführlich einem mehrtägigen deutsch-französischen Studentenlager in Zempin auf Usedom, bei dem nicht nur Vertreter der Reichsstudentenführung (so z.B. Gustav Adolf Sonnenhol, damaliger Leiter der Auslandsabteilung des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes62), sondern auch der französische Botschafter François-Poncet anwesend waren.63 Greifswald wurde von 15 dieser französischen Studenten besucht, denen neben einer Universitäts- und Stadtführung auch ein Besuch in der Engelhardt-Brauerei geboten wurde. Im Kommentar zu dem „fröhlichen Umtrunk“ heißt es: „Diese französischen Studenten sind mit dem ernsten Willen nach Deutschland gekommen, um unser Land einmal so kennenzulernen, wie es in Wirklichkeit ist. Sie tragen alle den Willen der Verständigung und des Verstehens in sich und werden nach Frankreich vielleicht die fruchtbare Erkenntis mitnehmen, daß Deutschland tatsächlich ein anderes Land mit einem anderen Volk ist, als wie sie es zu Hause von gewissen Emigrantenblättern vorgesetzt erhalten. Diese Studentenlager sind vielleicht der einzige und beste Weg, die Jugend der betreffenden Länder einander näherzubringen, zuerst die Jugend, dann schließlich die Nationen.“64 In einem ähnlichen Tenor kommentiert die Greifswalder Zeitung einen Besuch von Engländern im Juni 1939. In einer Rede an die Gäste, so zitiert die Greifswalder Zeitung Professor Johannes Paul in seiner Funktion als Leiter der Akademischen Auslandsstelle, habe dieser „besonders den [sic!] Leiter der englischen Gruppe Reverend Smith dafür [gedankt], daß trotz aller politischen Schwierigkeiten dieser Austausch zustanden [sic!] gekommen ist. Herr Smith habe sich dafür eingesetzt, nach Deutschland zu fahren, um das neue Deutschland aus eigener Anschauung kennenzulernen. Das deckt sich völlig mit unserer Auffassung, und wir wünschen nur, daß möglichst viele Ausländer so denken mögen und handeln würden, dann könnten Pressehetze und Presselügen niemals das Verhältnis zwischen unseren Völkern trüben.“65 Die Rede von Völkerverständigung mag für den heutigen Leser makaber klingen angesichts des Überfalls auf Polen ca. zwei Monate nach Erscheinen des Artikels und der Kriegserklärung Großbritanniens am 3. September 1939. Allerdings war der Wunsch nach „Verstehen zwischen den Völkern“ nicht nur „rhetorische Kulisse“,66 sondern entsprang der Angst vor Isolierung und dem Ansehensverlust im internationalen Mächtekonzert. 62 Zu Sonnenhol vgl. Auswärtiges Amt, Historischer Dienst (Hg.), Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, Bd. 4, Paderborn u.a. 2012, S. 293. 63 „Frankreichs Botschafter im deutsch-französischen Studentenlager auf Usedom“, in: GZ vom 6. August 1935. 64 „Französische Studenten in Greifswald“, in: GZ vom 7. August 1935. 65 „Engländer besuchen unsere Universitätsstadt. Gäste aus West-Wickham, einem Vorort Londons, wollen Greifswald und Umgebung kennen lernen – Aus der Arbeit der Akademischen Auslandsstelle der Universität Greifswald“, in: GZ vom 28. Juni 1939. 66 Kramer, München (wie Anm. 3), S. 151.

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Es muss dennoch betont werden, dass klare Linien zwischen Ausländern und Einheimischen gezogen wurden, die entlang der völkischen Weltanschaunung verliefen. Trotz „der internationalen Begegnung [sollte] immer die Grenze zwischen dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Fremden‘ aufrecht erhalten bleiben“.67 Es war einmal mehr die paradoxe Gleichzeitigkeit von scheinbar unvereinbaren Dichotomien – Nationalsozialismus und Internationalität, völkisches Denken und erwünschtes Ausländerstudium –, die den eigentümlichen Charakter des NS-Regimes ausmachten.

Beobachtung

In diesem Sinne stand das „Fremde“ unter der kontinuierlichen und aufmerksamen Beobachtung seitens des NS-Regimes. In einem Schreiben des Reichsministers Rust vom 22. November 1941 erhielten die Universitäten im Reich den Auftrag, aufgrund von „Klagen über das Verhalten ausländischer Studenten“ Bericht zu erstatten über die folgenden Punkte: „a) kommunistische oder deutschfeindliche Einstellung, b) anmaßendes und undiszipliniertes Verhalten in den Hochschulen, c) Schuldenmachen bei Zimmervermieterin und Gastwirten, d) Verhalten der ausländischen Studenten zu deutschen Frauen und Mädchen“.68 Insbesondere der Kontakt zwischen ausländischen Studenten und deutschen Frauen war ein seit 1940 kontrovers diskutierter Punkt in den verschiedenen Parteiorganisationen und Ministerien des NS-Regimes.69 Der Vorwurf der „Rassenschande“ seitens des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, „dass jeder artfremde Student in Deutschland einen artfremden Mischling hinterlässt“ und „wir durch die Gewährung des Studiums artfremder Ausländer als Folge ein langsames Einsickern artfremden Blutes in unser Volk haben“70, vertrug sich allerdings nur schwer mit den kulturpolitischen Zielvorstellungen hinsichtlich des Ausländerstudiums und hatte letztlich keinen Einfluss auf Regelungen zum akademischen Austausch. Eine Umfrage in den Fakultäten der Greifswalder Universität ergab jedenfalls, dass „keinerlei Klagen über das Verhalten ausländischer Studenten zu verzeichnen“71 seien. Regelmäßig Bericht erstatten mussten die Greifswalder Dozenten auch über die besondere Gruppe der „Protektoratsstudenten“. Zunächst war das Studium für 67 Kramer, München (wie Anm. 3), S. 152. 68 UAG, Phil. Fak. I-439, Bd. 1, Bl. 36. 69 Vgl. Impekoven, Ausländerstudium (wie Anm. 4), S. 430–434. 70 PAAA, R 99175, Bl. 52, zit. n. Impekoven, Ausländerstudium (wie Anm. 4), S. 430. 71 UAG, Phil. Fak I-439, Bd. 1, Bl. 39.

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tschechische Studenten an deutschen Universitäten mit Geheimerlass vom 28. Dezember 1939 verboten worden.72 Außerdem wurden aufgrund von Arbeitsniederlegungen und des Boykotts von Vorlesungen im Spätherbst 1939, die sich infolge der Besetzung der „Rest-Tschechei“ und der Proklamation des Protektorats Böhmen und Mähren entfachten hatten, die tschechischen Universitäten geschlossen.73 Das Verbot des Studiums für tschechische Studenten im Seutschen Reich wurde aber im November 1941 aufgehoben – eine Neuregelung, die dem gestiegenen Bedarf des „Großdeutschen Reiches“ nach Ärzten und Ingenieuren entsprang.74 So konnten ausgewählte Hochschulen – darunter Rostock, Göttingen und Greifswald – versuchsweise tschechische Studenten zum Studium der Medizin und im Bereich der technischen Wissenschaften zulassen.75 Daraufhin wurden sieben tschechische Medizinstudenten nach einem strengen Auswahlverfahren beim Reichsprotektor im Wintersemester 1941/42 an der Universität Greifswald zugelassen.76 Ein Jahr später waren es bereits 27 (Tabelle 1). Semester WS 1941/42 SS 1942 WS 1942/43 SS 1944 WS 1943/44 SS 1944 WS 1944/45

„Protektoratsstudenten“ in absoluten Zahlen 7 7 27 28 24 27 21

Tabelle 1: Zahlen nach den halbjährlichen Meldungen an das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Die Universitäten wiederum wurden angehalten, jährlich Beurteilungsschreiben an das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung zu senden bezüglich des „Verhalten[s] der tschechischen Studierenden in deutscher Umgebung, 72 UAG, Altes Rektorat R 314, Bd. 2, Bl. 209. Vgl. auch Anm. 40. 73 Vgl. u.a. Jiří Pešek, Die „eigenen“ und die „fremden“ Studenten der Philosophischen Fakultät der Prager Deutschen Universität 1940–1945, in: Dieter Neumatz, Volker Zimmermann (Hg.), Die Deutschen und das östliche Europa. Aspekte einer vielfältigen Beziehungsgeschichte. Festschrift für Detlef Brandes zum 65. Geburtstag, Wetzlar 2006, S. 149–168. 74 Vgl. auch Impekoven, Ausländerstudium (wie Anm. 4), S. 444f. 75 UAG, Phil. Fak. I-439, Bd. 2, Bl. 73. 76 Vgl. der Hinweis zum Auswahlverfahren in einem Schreiben des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 13.10.1943, UAG, Altes Rektorat R 314, Bd. 2, Bl. 203.

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Einstellung zu den Einrichtungen des Deutschen Reiches, Studienerfolge an den Hochschulen“.77 In einem Bericht des Dekans der Medizinischen Fakultät vom 2. August 1943 heißt es dazu: „Am Schluß des Semesters wurde übereinstimmend von allen vorklinischen und klinischen Lehrern festgestellt, daß die tschechischen Hörer in ihrem Auftreten zu keinerlei Beanstandungen Anlaß gegeben haben, daß sie durchweg fleißig, ja mit besonderem Interesse an den Vorlesungen teilgenommen hätten. Es musste sogar festgestellt werden, daß sie in ihren Leistungen durchschnittlich besser als die deutschen Studenten waren.“78 Auch Professor Gerhard Jander, Leiter des chemischen Instituts, lobte den „besonderen Fleiss“, die „Regelmässigkeit des Besuchs“ und den „Eifer“ der Studenten.79 Einige tschechische Medizinstudenten, so geht es aus einem Beurteilungsschreiben des Dozenten Theodor Steche hervor, erhielten regelmäßig Deutschunterricht. Auf „Wunsch des Gauststudentenführers“, so Steche in seinem Bericht vom 6. Juli 1942, habe er „das Gespräch auf die Ermordung des stellv. Reichsprotektors Heydrich“ gelenkt, um den Studenten Informationen zu ihrer politischen Einstellung zu entlocken. Einer von ihnen habe sofort geantwortet: „‚Das waren nur ganz wenige Tschechen‘, und die andern stimmten in der Verurteilung des [sic!] Mordtat zu.“ Steche erwähnt außerdem, dass die Studenten beklagt hätten, „daß sie sechs immer nur untereinander seien, aber mit deutschen Studierenden keine Fühlung hätten und daher langsamer deutsch lernten“.80 Von der reinen Zulassung hin zu einer gewissen Integration war es ein weiter Weg und die Grenzen zwischen dem „Eigenen“ und „Fremden“ wurden scharf kontrolliert. Bei der Verwendung der (fremden) Muttersprache an der Universität wurde den Studenten mit drastischen Konsequenzen gedroht: „Ich habe den Studentenführer gebeten, sämtliche Studenten tschechischen Volksstums zusammenzuberufen und ihnen zu erklären, daß in einer deutschen Universität und ihren Instituten nur deutsch gesprochen wird. Sollte es sich noch einmal wiederholen, daß tschechische Studenten in der Universität und in den Instituten nicht deutsch sprechen, werde ich die Streichung unter Nichtanrechnung des Semesters im Hochschulstammbuch veranlassen.“81 Auch die im Herbst 1943 angedachte Steigerung der Zahlen tschechischer Studenten von 500 auf 1.000 „im Interesse der Erhaltung und Steigerung des 77 Vgl. vertrauliches Schreiben des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 30. November 1942, UAG, Phil. Fak. I-439, Bd. 2, Bl. 85. 78 UAG, Altes Rektorat R 314, Bd. 2, Bl. 206. 79 Vgl. Schreiben Janders an den Dekan der Philosophischen Fakultät vom 1. Juli 1942, UAG, Phil. Fak. I-439, Bd. 2, Bl. 76. 80 Steche an den Dekan der Philosophischen Fakultät vom 6. Juli 1942, UAG, Phil. Fak. I-439, Bd. 2, Bl. 79. 81 Engel an den Dekan der Medizinischen Fakultät vom 25. November 1943, UAG, Med. Fak. I-108, Bl. 79.

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Leistungsstandes der kriegswichtigen Wirtschaft“82 stieß auf Widerstand in Greifswald. Wegen „Mangel an Wohnungen“ wurde Einspruch gegen die Erhöhung eingelegt. Tatsächlich erhöhte sich die Zahl der „Protektoratsstudenten“ in Greifswald nicht, sondern blieb gleich bzw. sank im Wintersemester 1944/45 auf 21. Über den weiteren Verbleib der Studenten nach 1945, über ihre Rekrutierung, Karriere und ihre Erfahrungen in Greifswald ist noch sehr wenig bekannt. Eine vergleichende Analyse mit anderen Universitäten – ab 30. November 1942 konnten die Studenten an allen deutschen Universitäten studieren83 – würde mit Sicherheit zu weiteren interessanten Erkenntnissen führen.

Karrierewege

Im Fall von Josef Jeřábek, einem der 38 Medizinstudenten aus dem Protektorat Böhmen und Mähren, lassen sich allerdings nähere Informationen gewinnen.84 1915 in Politz a.d. Mettau (Police nad Metují) geboren, legte er seine Reifeprüfung am Gymnasium in Kolin a.d. Elbe ab. 1934 immatrikulierte er sich als Medizinstudent an der tschechischen Karls-Universität in Prag. Nachdem die Universität 1939 geschlossen wurde, musste Jeřábek sein Studium unterbrechen und arbeitete bis 1941 bei der Bezirkskrankenkasse in Kolin. Durch den Geheimerlass vom November 1941 war es ihm möglich, sein Studium als einer der ersten „Protektoratsstudenten“ an der Greifswalder Universität im Wintersemester 1941/42 fortzusetzen und im März 1942 zu beenden. Danach, so Jeřábek in seinem Lebenslauf, widmete er sich seiner Doktorarbeit. Das Thema „Rassenhygienische Untersuchungen über die Hilfsschüler in Stettin, Greifswald und Stralsund“ wurde ihm von Professor Günther Just, Direktor des Instituts für Vererbungswissenschaft in Greifswald, zugeteilt. Offenbar hatte das Greifswalder Institut bereits seit 1934 rassenhygienische und erbbiolgische Forschungen an Hilfsschülern in Pommern vorgenommen.85 Jeřábeks Arbeit sollte auf der Vorarbeit von Artur Schultze-Naumburg basieren, Sohn des bekannten Lebensreformers, Architekten und Rassentheoretikers Paul Schultze-Naumburg.86 Dieser hatte bereits 82 Schreiben des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 13. Oktober 1943, UAG, Altes Rektorat R 314, Bd. 2, Bl. 203. 83 Vgl. UAG, Altes Rektorat R 314, Bd. 2, Bl. 209. 84 Zum Lebenslauf vgl. UAG, Med. Diss. II-1352, unpag. 85 Vgl. Günther Just in seinem Gutachten zu Jeřábeks Doktorarbeit, UAG, Med. Diss. II-1352, unpag. 86 Zu Paul Schultze-Naumburg vgl. Christian Welzbacher, Schultze-Naumburg, Paul Eduard, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 23, Berlin 2007, S. 709ff.

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1935 über die soziobiologischen Verhältnisse von Pommerns Hilfsschülern promoviert.87 Jeřábek sollte nun dessen Ergebnisse hinsichtlich eines „möglichen Wandel[s] dieser Verhältnisse […] im Zusammenhang mit der Einführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ neu aufarbeiten.88 Nach eigenen Ausssagen sammelte er dazu mit Hilfe von Fragebögen Informationen zu Fruchtbarkeit, Kindersterblichkeit und „Schwachsinnsgrad“ bei 1.686 Hilfsschülern und deren Familien. Er habe u.a. festgestellt, dass die „erst mit dem Jahre 1934 einsetzende Fortpflanzungsbeschränkung dieser Erbuntüchtigen […] die durchschnittlich hohe Kinderzahl“ nicht vermindert hätte.89 Mit „großem Fleiß, großer Sorgsamkeit und erheblicher Selbständigkeit und demgemäß mit schönem Erfolg“ habe Jeřábek, so Just, seine Doktorarbeit gestaltet und erhalte daher das „Prädikat sehr gut“.90 Im Januar 1943 wurde ihm der Doktorgrad verliehen – dann konnte er, wie er es in der Anmeldung zur mündlichen Verteidigung schrieb, „bald in den Beruf übertreten […,] um dem Deutschen Reich zu dienen“.91 Wo er allerdings nach seinem Abschluss eingesetzt war, ist bisher ungeklärt. Der Fall Jeřábek hat nicht nur interessante Erkenntnisse zu den Forschungsaktivitäten am Institut für Verberbungswissenschaft im Rahmen von Erbgesundheitsgesetz und Zwangssterilisation erbracht, sondern zeigt auch die erfolgreiche Rekrutierung und Indienstnahme ausländischer Eliten; Jeřábeks Forschungen wurden noch 1944 in der Zeitschrift für Kinderforschung publiziert.92 Auch bei dem Ukrainer Andry (Andreas) Michael Bora lassen sich interessante Karrierewege verfolgen.93 1917 in dem ukrainischen Dorf Velyka Kopania geboren, begann er sein Studium 1937/38 an der Handelshochschule in Prag. Im April 1939 immatrikulierte er sich an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät in Greifswald mit einem Alexander-von-Humboldt-Stipendium. Während der vorübergehenden Schließung der Greifswalder Universität im Herbst 193994 studierte er in 87 Günther Just in seinem Gutachten zu Jeřábeks Doktorarbeit vom 12. Oktober 1942, UAG, Med. Diss. II-1352, unpag.; Arthur Schultze-Naumburg, Statistische Untersuchungen an den Hilfsschülern Pommerns, Univ. Diss. München 1935. 88 Günther Just in seinem Gutachten zu Jeřábeks Doktorarbeit vom 12. Oktober 1942, UAG, Med. Diss. II-1352, unpag. 89 Josef Jeřábek, Rassenhygienische Untersuchungen über die Hilfsschüler in Stettin, Greifswald und Stralsund, in: Zeitschrift für Kinderforschung, 50 (1944), S. 45–85, hier S. 84. 90 Günther Just in seinem Gutachten zu Jeřábeks Doktorarbeit vom 12. Oktober 1942, UAG, Med. Diss. II-1352, unpag. 91 Jerabek an den Dekan der Medizinischen Fakultät vom 22. Juni 1942, UAG, Med. Diss. II1352, unpag. 92 Jeřábek, Rassenhygienische Untersuchungen (wie Anm. 89). 93 Vgl. den handschriftlichen Lebenslauf, UAG, Jur. Diss. 3778, unpag. 94 Schreiben des Rektors an alle Dozenten, Lehrer und Lektoren der Universität vom 7. September 1939, UAG, Altes Rektorat R 988, Bl. 201.

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München, um im Januar 1940 wieder um Aufnahme in Greifswald zu bitten. „Herr Bora erfreut sich bei seinen Lehrern und soweit ich feststellen konnte, auch bei seinen studentischen Kameraden wirklicher Beliebheit und hat sich seinen Studien bisher mit großem Fleisse gewidmet“, befürwortete Johannes Paul in seiner Funktion als Leiter der Akademischen Auslandsstelle Boras Antrag.95 Seinen Diplomabschluss im Januar 1942 schaffte Bora zwar nur mit „noch ausreichend“,96 war aber anschließend bei Professor Heinz Seraphim als Assistent beschäftigt und schrieb seine Doktorarbeit zum Thema „Das Verkehrswesen der Ukraine“. Ohne Frage war Bora von großer Nützlichkeit für Seraphims Vorhaben, der Errichtung des Oder-Donau-Instituts.97 In einem Schreiben an die Gauwirtschaftskammer vom 16. Februar 1943 listete Seraphim seine künftigen Mitarbeiter auf, u.a. Bora: „Dipl. Volkswirt Bora, z.Z. mein Assistent in Greifswald, Ukrainer. Sprachkenntnisse: Russisch, Polnisch, Ungarisch. Kennt auch Ungarn und das Protektorat gut. Wissenschaftlich gut einsetzbar“.98 Boras Doktorarbeit harmonierte perfekt mit Seraphims Forschungsvohaben bezüglich des Oder-Donau-Instituts, das er 1943 folgendermaßen umriss: „Erforschung des südosteuropäischen Raums und der unmittelbar interessierenden Räume des Ostens und Nordeuropas, […] Vorschläge für die Rationalisierung des Wirtschafts- und Warenaustausches, insbesondere auf alle Verkehrsfragen“.99 Ab 1. Mai 1943 war Bora dann hauptamtlich als Assistent im neugegründeten Oder-Donau-Institut tätig und erhielt seine Promotionsurkunde im Juli 1943. Wie lange er am Institut arbeitete, ist allerdings nicht bekannt.100 Offenbar war er später als Oberlehrer in Druschkiwka (UdSSR, heute Ukraine) tätig, zumindest beweist dies ein Schreiben Boras an die Universität Greifswald vom 25. August 1957.101 Ausländer besaßen offenbar Schlüsselkompetenzen, die sie nützlich, wenn nicht gar „kriegswichtig“ für die Nationalsozialisten machten. Umgekehrt muss man natürlich auch von einer Selbstindienstnahme ausländischer Eliten sprechen. Sie nutzten nicht nur die Gelegenheit zum Studium, sondern konnten darüber hinaus Karriere machen – auch wenn sich bei den Beispielen von Bora und Jeřábek kaum Aussagen über deren beruflichen Werdegang nach Greifswald treffen lassen.

95 Schreiben von Johannes Paul an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 17. Januar 1940, UAG, Altes Rektorat R 749, Bl. 146r. 96 UAG, Staatsprüfung Volkswirte, Nr. 92, unpag. 97 Vgl. dazu den Beitrag von Klemens Grube in diesem Band. 98 Schreiben Seraphims an Dr. Schöne, UAG, Altes Rektorat R 479, Bl. 11r. 99 Schreiben Seraphims an Dr. Schöne, UAG, Altes Rektorat R 479, Bl. 13. 100 Vgl. die Arbeitsbescheinigung, ausgestellt vom Universitätsarchiv Greifswald vom 12. Juli 1965, UAG, Jur. Diss. 3778, unpag. 101 UAG, Jur. Diss. 3778, unpag.

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Ausblick

Die Aspekte, die hier angesprochen wurden, zeigen, dass das Potenzial des Themas Ausländerstudium im Nationalsozialismus längst nicht abgeschöpft ist. Viele Fragen bleiben offen: Wie genau kam wer nach Greifswald? Wie wurden ausländische Studenten angeworben? Aus welchen sozialen Milieus stammten sie, welche Universitäten besuchten sie vor oder nach Greifswald? Wie finanzierten sie ihr Studium? Was geschah nach ihrer Rückkehr ins Heimatland? Diese Fragen sind nur durch aufwendige Recherchen beantwortbar, bedürfen eines größeren Rahmens und lassen sich – wie an einigen Stellen deutlich wurde – meist nur anhand von Einzelschicksalen prüfen. Reizvoll wäre eine stärker vergleichende Berücksichtigung des Studiumsverhaltens vor und nach der Zeit des „Dritten Reiches“. Dann könnten längerfristige Trends besser beurteilt werden. Anhand der „Protektoratsstudenten“ und der „Volksdeutschen“ haben sich außerdem die Schwierigkeiten bei der Definition des „Ausländers“ und der statistischen Erfassung des Ausländerstudiums zwischen 1933 und 1945 gezeigt – Probleme, die nicht nur den Fall Greifswald betreffen können. Hier wäre eine bessere statistische Erhebung im Vergleich mit anderen deutschen Universitäten eine naheliegende und lohnenswerte Herausforderung.

Das Stettiner Oder-Donau-Institut im Spannungsfeld von Wirtschaftsinteresse, Wissenschaft und Krieg Klemens Grube

Einleitung

Dr. Adolf Leckzyck (1894–1969) war als einer der ehemaligen Geschäftsführer der Gauwirtschaftskammer Pommern für die Außenwirtschafts-, Hafen- und Verkehrsfragen zuständig.1 Im Rahmen der Ostdokumentation des Bundesarchivs erinnerte er sich 1965 wie folgt: „Von den deutschen Ostprovinzen war Pommern damals im Vergleich zu Mittel- und Westdeutschland am wenigsten industriell und gewerblich entwickelt, weshalb seine gesamtwirtschaftliche Struktur und seine Raumplanung bei einem Friedensschluß eine Neuordnung finden mußte.“ Am Ende dieser Neuordnung hatten Teile Mitteleuropas „zu einem einheitlichen ‚2. Ruhrgebiet‘ zusammengefasst [und] entwickelt werden“ sollen.2 Kernstück der Neuordnung war die Errichtung des Oder-DonauKanals gewesen. In der geplanten Verbindung von Oder und Donau hatte man eine „die Verkehrsstruktur Europas säkular umwandelnde Tatsache“ gesehen,3 von der auch der Gau Pommern profitiert hätte. Aus diesem Anlass wurde unter Federführung der Gauwirtschaftskammer Pommern und mit Hilfe der Universität Greifswald das OderDonau-Institut 1943 gegründet. Es sollte die wissenschaftliche Untermauerung für den Bau des Oder-Donau-Kanals liefern. Bei dieser Ausrichtung blieb es jedoch nicht, weckten die erstellten Expertisen doch das Interesse der deutschen Kriegswirtschaft. Der Beitrag soll ein möglichst getreues Bild des Oder-Donau-Instituts und des von ihm wahrgenommenen Aufgabenspektrums liefern. Erschwert wird dies jedoch durch den Verlust des Institutsarchivs und der Bibliothek.4 Daher fußt der Beitrag 1 2

Vgl. Osteuropa-Archiv 7 (1969), S. 152. Niederschrift eines Tonbandgesprächs vom 5.10.1965 über Planungen für eine Neuordnung der wirtschaftlichen Verhältnisse Pommerns in Verbindung mit einer mittel- und osteuropäischen Großraumplanung, Bundesarchiv (künftig: BArch), Ost-Dok 10/504, Bl. 5–6. Das Gespräch fand im Rahmen der Ostdokumentation zwischen Dr. Hopf vom Bundesarchiv und Dr. Leckzyck statt (Dank für diesen Hinweis an Jan Mittenzwei). 3 Peter-Heinz Seraphim, Die Bedeutung der Ostseehäfen für die Donauländer, in: Donaueuropa. Zeitschrift für die Probleme des europäischen Südostens, 4 (1944), S. 140–146, hier S. 144. 4 Der Verlust ereignete sich aber erst nach Kriegsende, denn noch im Sommer 1945 wurde die Bibliothek vom späteren Greifswalder Physikprofessor Hans-Georg Schöpf sortiert und neu verzeichnet. „Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die ganze Bibliothek im Laufe des Winters

Das Stettiner Oder-Donau-Institut

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auf den bisher nur wenigen Erwähnungen in der Fachliteratur,5 auf Beständen der mit dem Institut kooperierenden Institutionen und auf Veröffentlichungen des OderDonau-Instituts oder dessen Mitarbeiter. Institutioneller Überblick

Das Oder-Donau-Institut nahm seine Arbeit am 1. Mai 1943 in dem imposanten Regierungsgebäude an der Hakenterrasse 4 in Stettin auf. Eine 400 QuadratmeterDienstwohnung wurde zu diesem Zweck im ersten Obergeschoss des direkt an der Oder gelegenen Gebäudes bereitgestellt.6 Der Beginn der Tätigkeit wurde jedoch zunächst nur Wenigen publik gemacht, damit die Arbeiten ungestört anlaufen konnten. Die offizielle Gründung im Beisein des Gauleiters Franz Schwede-Coburg (1888– 1960) fand erst am 10. Januar 1944 statt. Man hatte bewusst ein Dreivierteljahr bis zur offiziellen Gründung des Instituts verstreichen lassen, damit „es nicht mit Zukunftsversprechungen über seine Arbeit aufwarten“ musste und erste Publikationen vorbereitet werden konnten.7 Damit sollte gezeigt werden, dass das Institut im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Einrichtungen in der Lage sei, zügig Ergebnisse zu liefern. Infolge der Bombenangriffe auf Stettin im August 1944 – bei denen das Institut keine besonderen Verluste erlitt – wurde es sicherheitshalber ins Kraft durch Freude-Bad Prora auf Rügen ausgelagert.8 Mitte März 1945 erschien der letzte Be45/46, sei es von den Russen, sei es von deutschen Flüchtlingen, die zeitweilig mit den Russen gleichzeitig in Prora untergebracht waren, verheizt worden.“ Vgl. Abschrift des Protokolls zum Verbleib der Bibliothek des Oder-Donau-Instituts vom 2.9.1946, Universitätsarchiv Greifwald (künftig: UAG), Kurator K 710, Bl. 4. 5 Sowohl Hans-Christian Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik. Eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim (1902–1979), Osnabrück 2007, S. 222–230, als auch Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999, S. 746ff., widmen sich dem Institut nur am Rande. Eine umfangreiche, aber an vielen Stellen irreführende Untersuchung nahm Hoffmann vor. Vgl. Hans-Dieter Hoffman, Das Institut Oder-Donau in Stettin. Eine spezielle Institution im Dienste des deutschen Imperialismus, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Bd. 18 (1969) Nr. 3/4, S. 289–296. 6 Rundschreiben des Universitätskurators vom 16.2.1943, UAG, Kurator K 710, Bl. 16; Aktenvermerk über die Besprechung betr. Gründung des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts Oder-Donau zu Stettin am 12.4.1943, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 119–122; Plan zur Teilung der Präsidialdienstwohnung im Regierungsgebäude Stettin vom Dezember 1934, UAG, Kurator K 710. 7 Peter-Heinz Seraphim, Das wirtschaftswissenschaftliche Oder-Donau-Institut zu Stettin, in: Die Donaubrücke, Bd. 2 (1944), S. 4ff., hier S. 6. 8 Schreiben Seraphim vom 29.9.1944, Landesarchiv Greifswald (künftig: LAGw), Rep. 96, Nr. 160, Bl. 32.

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richt des Instituts. Es stellte vermutlich kurz darauf seine Arbeiten ein. Das OderDonau-Institut existierte also nur zwei Jahre lang.

Abbildung 1: Organigramm des Oder-Donau-Instituts9

Die zunächst acht Mitglieder des Vorstandes wurden auf Vorschlag der Hauptträger des Instituts vom Gauleiter ernannt. Sie konnten von ihm aber auch jederzeit abberufen werden. Der Präsident der Gauwirtschaftskammer, der Stettiner Oberbürgermeister, der Landeshauptmann der Provinz Pommern, der Landesbauernführer und der Rektor der Greifswalder Universität saßen von Amts wegen im Vorstand. Somit gelangten neben dem Greifswalder Rektor Carl Engel auch politische Entscheidungsträger wie Landeshauptmann und SS-Obergruppenführer Emil Mazuw sowie Landesbauernführer und NSDAP-Parteifunktionär Wilhelm Bloedorn in den Vorstand des Instituts.10 Der Vorstand ernannte den Direktor, der die Gesamtleitung und die Geschäftsführung zu verantworten hatte, sowie die Mitglieder des Finanz- und Ar9

Entworfen nach: Schreiben Seraphims zur Arbeitsaufgabe, Aufbau und Organisation des OderDonau Instituts vom 5.12.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 146–150; ebenso BArch, ­­R  3101/9903, Bl. 77–81. 10 Aktenvermerk über die Besprechung betr. Gründung des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts Oder-Donau zu Stettin am 12.4.1943, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 119–122; Satzung des Oder-Donau-Instituts vom 10.1.1944, LAGw, Rep. 96, Nr. 160, Bl. 45–47; Einladung des Vorsitzers des Vorstandes Holtz des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts Oder-Donau zu Stettin vom 4.1.1944, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 112.

Das Stettiner Oder-Donau-Institut

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beitsausschusses (Abbildung 1). Der Arbeitsausschuss erstellte die Arbeitspläne und bestimmte somit die inhaltliche Ausrichtung mit.11

Wirtschaftsinteresse

Der Gauwirtschaftsberater Erwin Fengler12 hatte an einigen Tagungen der Südosteuropa-Gesellschaft13 teilgenommen und dort eine Unterrepräsentanz des Gaus Pommern festgestellt. Ihm war „deshalb der Gedanke gekommen, […] ein wissenschaftliches Institut zu errichten“, das „sich mit den Gesamtbeziehungen Pommerns und Stettins zum Südosteuropa- und Ostseeraum befassen“ sollte.14 „[D]enn es geht hier nicht nur um die Verkehrsbelange, sondern um die Erörterung der wirtschaftlichen Möglichkeiten und die Entwicklung der pommerschen Wirtschaft schlechthin. Selbstverständlich werden im Zusammenhang damit Verkehrsprobleme, insbesondere auch der [sic!] Verbindung der Oder mit der Donau einer eingehenden wissenschaftlichen Betrachtung unterzogen werden müssen.“15 Fengler sprach damit den seit Jahrzehnten geplanten und unmittelbar nach Kriegsbeginn 1939 begonnenen Bau des Oder-Donau-Kanals – dem Namensgeber des Instituts – an.16 Das Vorhaben sollte die beiden europäischen Ströme Oder (bei Cosel) und Donau (bei Wien/Preßburg) verbinden und somit eine durchgängig schiffbare 11 Satzung des Oder-Donau-Instituts vom 10.1.1944, LAGw, Rep. 96, Nr. 160, Bl. 45–47. 12 Fengler war zudem noch Präsident der Industrie- und Handelskammer Pommern. Bis zur Errichtung der Gauwirtschaftskammer Pommern zu Beginn des Jahres 1943 fungierte er in dieser Doppelfunktion, musste jedoch das Amt des Gauwirtschaftsberaters niederlegen, um zum Präsidenten der neuerrichteten Gauwirtschaftskammer ernannt zu werden. Vgl. Schreiben des Gauleiters Schwede-Coburg an Ministerialrat Haßmann vom Reichswirtschaftsministerium, BArch, R 3101/9903, Bl. 18. 13 Die Südosteuropa-Gesellschaft war eine „NS-Gründung, deren Präsident der Wiener ‚Reichsstatthalter‘ Baldur von Schirach war.“ Vgl. Oliver Rathkolb, Vorwort, in: Carl Freytag, Deutschlands ‚Drang nach Südosten‘ – Der Mitteleuropäische Wirtschaftstag und der „Ergänzungsraum Südosteuropa“ 1931–1945, Göttingen 2012, S. 11f., hier S. 12; vgl. Seraphim, Oder-DonauInstitut (wie Anm. 7), S. 4. 14 Schreiben Fengler an den Rektor vom 13.1.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 179. 15 Schreiben Fengler an den Rektor vom 13.1.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 179. 16 „Nach dem ersten Spatenstich durch den Stellvertreter des Führers am 8. Dezember 1939 hat seit mehreren Monaten trotz des Krieges mit dem Bau an verschiedenen Stellen begonnen werden können.“ Vgl. Rundschreiben des Reichsverkehrsministers vom 18.11.1940, BArch, R 3601/1690/0, Bl. 2. Bei einer Gesamtlänge von 322 km sollten sich die Baukosten für den Oder-Donau-Kanal auf etwa 305 Mio. RM belaufen. Vgl. Schreiben im Auftrag des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren an den Leiter der Reichsstelle für Raumordnung vom 30.1.1941, BArch, R113/2171, Bl. 148.

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Wasserstraße von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer schaffen. Mit Fertigstellung wäre eine auf einen Bruchteil verkürzte Strecke gegenüber der Umschiffung Westeuropas entstanden und hätte einen zunehmenden Handel zwischen Nord- und Südosteuropa nach sich gezogen.17 Aufgrund seiner verkehrsgeographischen Lage am Übergang von Oder und Ostsee wäre dieser Warenaustausch über den Seehafen Stettin abgewickelt worden, da die Wirtschaftsgüter von Binnen- auf Seeschiffe umgeschlagen werden mussten.18 Nach den Vorstellungen der Industrie- und Handelskammer „sollte Stettin eine Drehscheibe insbesondere für den Kohle- und Erzumschlag zwischen Nord und Süd werden, ebenso aber auch für Erdölerzeugnisse, Holz, Fischerei“.19 Aus diesem Grund trat sie gemeinsam mit der Breslauer Kammer und dem Pommerschen Binnenschifffahrtsverein immer wieder für den Bau des Oder-Donau-Kanals ein.20 Durch den Handelsaufschwung hätte der bis auf die Gauhauptstadt Stettin eher agrarisch geprägte Gau Pommern21 eine enorme Entwicklung erfahren. Mit einer verbesserten Verkehrsinfrastruktur war von einer zunehmenden und vielfältigeren Verfügbarkeit von Rohstoffen und Halbfabrikaten auszugehen. Aus diesem Grunde war eine vermehrte Ansiedelung von produzierendem und weiterverarbeitendem Gewerbe zu erwarten. 17 Rundschreiben des Reichsverkehrsministers vom 18.11.1940, BArch, R 3601/1690/0, Bl. 3. 18 Zu der Zeit diente der Seehafen Stettin vorrangig als Umschlagshafen für die Binnenschifffahrt über den Oder-Havel-Kanal nach Berlin und über die Oder ins oberschlesische Industriegebiet. 19 Niederschrift eines Tonbandgesprächs vom 5.10.1965 über Planungen für eine Neuordnung der wirtschaftlichen Verhältnisse Pommerns in Verbindung mit einer mittel- und osteuropäischen Großraumplanung, BArch, Ost-Dok 10/504, Bl. 10. Für diese Zwecke war unter anderem die Errichtung eines eigenständigen Ölhafens und eines Hüttenwerks geplant. 20 Elmar Schoene, Der Stettiner Seehandel nach 1813, in: Baltische Studien, Bd. 55 N.F. (1969), S. 75–110, hier S. 108. Laut Anmerkung zum Artikel war Schoene bis 1945 Syndikus der Industrie- und Handelskammer Stettin bzw. der Gauwirtschaftskammer Pommern. Schreiben an den Universitätskurator weisen ihn jedoch als Geschäftsführer der Abteilung Handel aus (vgl. Anm. 44), zudem wird er in den Akten der Gauwirtschaftskammer als Geschäftsführer geführt. Vgl. Geschäftsführer Gauwirtschaftskammer Pommern (Stettin), LAGw, Rep 58, Nr. 5, Bl. 53. Er hatte unter anderem an der konstituierenden Sitzung des Oder-Donau-Instituts teilgenommen. Den Beitrag hatte Schoene für die Festschrift zur 700-Jahr-Feier Stettins (1943) verfasst. Er wurde aber nicht mehr gedruckt und ist dann mit leichten Veränderungen posthum veröffentlicht worden. 21 Zum Stand der pommerschen Wirtschaft vor dem Zweiten Weltkrieg vgl. Uwe Schröder, Zur Entwicklung der pommerschen Wirtschaft in der Zeit des Nationalsozialismus (1933 bis 1939), in: Baltische Studien, Bd. 78 N.F. (1992), S. 82–94 sowie Petra Clemens, Kammern in Pommern: Stettin und Stralsund, in: Landesarbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern in Mecklenburg-Vorpommern (Hg.), „Zum mercklichen Vortheil des Publici …“ Aus der Geschichte der Industrie- und Handelskammern Neubrandenburg, Rostock und Schwerin, Rostock 2003, S. 97–120, hier S. 107ff.

Das Stettiner Oder-Donau-Institut

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Die angedachte Entwicklung deckte sich mit den Interessen der in Stettin ansässigen Gauwirtschaftskammer, zumal aufgrund des Krieges die Arbeiten am OderDonau-Kanal ins Stocken geraten waren. Gleichwohl versuchte das Reichsverkehrsministerium „diese Arbeiten im Rahmen der Dringlichkeitseinstufung […] schon in der Kriegszeit vorzutreiben“.22 Neben dem drohenden Stillstand des Projekts mussten die Pläne anderer Gaue und Seehäfen die Gauwirtschaftskammer zusätzlich beunruhigen, da sie die Alleinstellung Stettins als Zugang zur Wasserstraße nach Südosteuropa gefährdeten; so etwa die Idee der Erweiterung des Kanals mittels der Weichsel nach Danzig23 oder die Verbindung über den Elbe-Donau-Oder-Kanal nach Hamburg.24 Infolgedessen wollte Fengler den Interessen der Stettiner Wirtschaft mit Hilfe eines wissenschaftlichen Instituts Nachdruck verleihen und formulierte im Januar 1942 folgende Bitte an den Rektor: „Es wäre mir sehr erwünscht, […] mir eine geeignete Persönlichkeit namhaft zu machen, die bereit und in der Lage wäre, ein solches Institut aufzubauen und die wissenschaftliche Bearbeitung richtunggebend zu beeinflussen.“25 Als Volkswirt und Experte für Osteuropäische Wirtschaft war Peter-Heinz Seraphim (1902–1979)26 der ideale Kandidat. Er wurde 1941 als Nachfolger Theodor 22 Rundschreiben des Reichsverkehrsministers vom 18.11.1940, BArch, R 3601/1690/0, Bl. 2. So wurde im April 1941 die Verordnung über den Oder-Donau-Kanal erlassen. Vgl. RGBl. 1941, Nr. 15, S. 95–99. Die Detailplanungen für den Kanalbau wurden trotz des Krieges weiter betrieben. Vgl. Bericht für die 6. Tagung der Sachverständigenkommission für den Bau und Betrieb des Oder-Donau-Kanals vom Dezember 1941, BArch, R 2/23245. 23 Vgl. Protokoll der ersten Plenarsitzung der Expertise für die Fortsetzung der Kanalprojekte von Wien über Mährisch-Ostrau nach Krakau vom 6.5.1908, BArch, R 5/1601. Dementgegen steht die retrospektive Aussage Dr. Leckzycks. Demnach sollte eine Anbindung der Weichsel über ein Kanalsystem erfolgen, welches „bis zum Einzugsgebiet der Nebenflüsse des Dnjester und Dnjeper reichen und [um] so den Zugang zu den ukrainischen Erzfeldern“ zu ermöglichen. Vgl. Niederschrift eines Tonbandgesprächs (vom 5.10.1965) über Planungen für eine Neuordnung der wirtschaftlichen Verhältnisse Pommerns in Verbindung mit einer mittel- und osteuropäischen Großraumplanung, BArch, Ost-Dok 10/504, Bl. 9. 24 Julius Fiedler, Die Wasserwirtschaft des böhmischen Raumes, in: Raumforschung und Raumordnung. Monatsschrift der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, 5 (1941) Heft 10– 12, S. 566–572, hier S. 570. 25 Schreiben Fengler an den Rektor vom 13.1.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 179. 26 Der Deutschbalte Seraphim galt aufgrund seiner mehr als 700 Seiten umfassenden Arbeit „Das Judentum im osteuropäischen Raum“ (1938) als Experte der jüdischen Bevölkerung Osteuropas und nahm eine exponierte Stelle im Bereich der „NS-Judenforschung“ ein. Zudem war er Schriftleiter der vom Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt a.M. herausgegebenen Zeitschrift „Weltkampf – die Judenfrage in Geschichte und Gegenwart“. Zu Seraphim vgl. vor allem: Petersen, Seraphim (wie Anm. 5); des Weiteren: Alan E. Steinweis, Die Pathologisierung der Juden – Der Fall Peter-Heinz Seraphim, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur, 5 (2006), S. 313–325; Götz Aly und Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine europäische Ordnung, Frankfurt

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Oberländers nach Greifswald berufen „mit der Verpflichtung, die wirtschaftlichen Staatswissenschaften sowie die Nord- und Osteuropäische Wirtschaft in Vorlesungen und Übungen zu vertreten“.27 Aufgrund seiner Tätigkeiten am Institut für Osteuropäische Wirtschaft in Königsberg bzw. am Institut für Deutsche Ostarbeit in Krakau war er mit ähnlichen Aufgabenstellungen vertraut und somit bestens geeignet, ein solches Institut aufzubauen.28 Folglich wandte sich der Greifswalder Rektor an ihn: „Ich habe […] Herrn Präsident Fengler geschrieben, daß sie zweifellos für diese Angelegenheit der geeignete Mann seien. […] Ich persönlich muß sagen, daß ich als Rektor der pommerschen Landesuniversität an der Gründung eines solchen Institutes außerordentlich interessiert bin und daß ich es sehr begrüßen würde, wenn das Institut in engster Verbindung mit der Universität aufgezogen werden könnte; eventuell als eine Art Außeninstitut unserer Hochschule. Ich habe ja schon früher immer versucht, auch die Forschung unserer Universität nach dem Osten hin auszurichten.“29 Kurz darauf erklärte sich Seraphim bereit, die ihm anvertraute Aufgabe zu übernehmen.30 Nur vier Tage nach seiner Zusage hatte Seraphim bereits einen detaillierten Plan sowie eine Begründung zur Errichtung des wissenschaftlichen Instituts für Ostforschung in Stettin entworfen. Im Sinne des Generalplans Ost führte er aus, dass sich in Zukunft „europäische Großraumideen“ durchsetzen werden: „Pommern wird an erster Stelle der Ostseeraum zufallen, gleichzeitig aber die Vermittlerrolle zwischen dem europäischen Norden und dem Osten und Südosten“ einnehmen. Weiterhin sah er das Institut nicht nur als „Helfer einer großgedachten politischen Aufgabe“, son-

27

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a.M. 2004, S. 91–101; sowie Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland. Dokumentationszentrum der staatlichen Archivverwaltung der DDR (Hg.), Braunbuch – Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik, Berlin 1965, S. 341–343. Schreiben des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 25.7.1941, UAG, PA 433 (Seraphim), Bd. 1. Eine Abschrift der Ernennungsurkunde vom 10.7.1941 befindet sich in UAG, PA 433 (Seraphim), Bd. 3, Bl. 8. Mit Wirkung vom 1. Januar 1943 rückte Seraphim dann mit unverändertem Lehrauftrag auf die freigewordene ordentliche Professur von Wilhelm Preyer (1877–1959) auf. Vgl. Schreiben des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 10.3.1943, UAG, PA 433 (Seraphim), Bd. 3, Bl. 45 sowie: Schreiben des Universitätskurators vom 19.3.1943, UAG, PA 433 (Seraphim), Bd. 3, Bl. 46. Petersen, Seraphim (wie Anm. 5), S. 116–118. Schreiben des Rektors an Seraphim vom 22.1.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 175. Die Bestrebungen, sich stärker gen Osten auszurichten, wurden jedoch vom Reicherziehungsministerium gehemmt, da sich Greifswald mit den Nordischen Instituten dem Skandinavischen Raum zuwenden sollte. Zu einer etwas anderen Ansicht kommt: Wolfgang Köstler, Die „Ostarbeit“ an der Universität Greifswald 1919–1945, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Bd. 18 (1969) Nr. 3/4, S. 273–288. Schreiben Seraphims an den Rektor vom 25.1.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 173; Schreiben Seraphims an Fengler vom 25.1.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 174.

Das Stettiner Oder-Donau-Institut

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dern auch geeignet „für eine wissenschaftlich fundierte Schulungsarbeit in der Partei und ihren Gliederungen und in der Verwaltung“.31 Zu diesem Zwecke erachtete Seraphim die „enge Verbindung zur Parteiführung“ und die „Patronanz des Gauleiters […] als wesentliche Voraussetzung“. Darüber hinaus wünschte er engen Kontakt zu den „Pommerschen Wehrmachtsdienststellen“.32 In seiner weitergehenden Begründung gab Seraphim zudem vorwiegend negative Urteile zu den übrigen deutschen Instituten ab, die sich bereits weitgehend dem Osten bzw. Südosten Europas widmeten, aber seiner Ansicht nach nur eine geringe praktische Arbeit leisteten.33 Demgegenüber wollte er in Stettin „schnell und praktisch, zugleich wissenschaftlich gründliche Arbeit“34 leisten und sich vorwiegend dem Ostseeraum zuwenden. Das zu gründende Institut sollte Ostseeinstitut heißen und in die Nachfolge des Baltischen Instituts treten – einer ehemaligen polnischen Gründung in Gdynia (Gdingen).35 Seraphims Plan schloss mit Anforderungen zur räumlichen Unterbringung sowie zur finanziellen, personellen und sachlichen Ausstattung des Instituts.36 Nur vier Wochen nach Erstellung des Plans teilte Fengler Seraphim jedoch mit, dass die alleinige Ausrichtung auf die Ostsee ungünstig sei, da sich in Danzig bereits ein Ostsee-Institut für Wirtschaftsforschung in der Gründung befand. Daher schlug er den Namen Oder-Donau-Institut vor, wobei der „Begriff Oder-Donau […] durchaus nicht eng aufzufassen“ sei, denn der Oder-Donau-Kanal sei zweifelsohne künftig die wichtigste Verkehrslinie „Großdeutschlands und Europas“ und „verbindet zwei Räume, nämlich den Ostseeraum mit dem Südostraum/Schwarzmeerraum“.37 Seraphim war trotz des geänderten Schwerpunkts weiterhin bereit, an der Gründung des Instituts mitzuwirken. Er verwies aber nochmals auf die Absprachen, die er mit Fengler bei einem persönlichen Treffen vereinbart hatte. Dazu zählten die „Verbindung des Instituts mit den staatlichen und parteilichen Dienststellen der Pro31 Plan Seraphims zur Gründung eines wissenschaftlichen Instituts für Ostforschung in Stettin vom 29.1.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 167–172, hier Bl. 167. 32 Plan Seraphims zur Gründung eines wissenschaftlichen Instituts für Ostforschung in Stettin vom 29.1.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 167–172, hier Bl. 169. 33 Institut für Ostforschung (Königsberg), Institut für Rußland und die Oststaaten (Königsberg), Ostlandinstitut (Danzig), Ostinstitut (Posen), Institut für deutsche Ostarbeit (Krakau), Osteuropa-Institut (Breslau), Südostinstitut (Wien), Südosteuropa-Institut (Leipzig), Gesellschaft zum Studium Osteuropas (Berlin). 34 Plan Seraphims zur Gründung eines wissenschaftlichen Instituts für Ostforschung in Stettin vom 29.1.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 167–172, hier Bl. 168. 35 Plan Seraphims zur Gründung eines wissenschaftlichen Instituts für Ostforschung in Stettin vom 29.1.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 167–172, hier Bl. 168. 36 Plan Seraphims zur Gründung eines wissenschaftlichen Instituts für Ostforschung in Stettin vom 29.1.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 167–172, hier Bl. 169–170. 37 Schreiben Fengler an Seraphim vom 25.2.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 163.

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vinz Pommern“, ferner die „Verbindung mit der Wirtschaft […] und mit der pommerschen Landesuniversität Greifswald“ sowie „strenge Wissenschaftlichkeit der Forschungstätigkeit“.38 Zudem erarbeitete er erneut einen Vorschlag zur Gründung des Instituts, den er an die Vorgaben Fenglers anpasste und in dem er dessen Arbeitsfeld wie folgt umriss: „Das Oder-Donau-Institut hat die Aufgabe, die wirtschaftlichen Fragen, die mit der Verbindung der beiden großen europäischen Ströme Oder und Donau im Zusammenhang stehen, die Frage der Wirtschaftsstruktur des Raumes, der von dieser Verkehrslinie durchzogen wird, wissenschaftlich zu erforschen. […] Das Aufgabengebiet des Instituts wird weit aufgefaßt und beinhaltet auch die wirtschaftlichen Ausstrahlungen auf die beiden großen europäischen Meere, Ostsee und Schwarzes Meer, die durch diese Wasserstraßen verbunden sind.“39 Der Entwurf vom März 1942 blieb aufgrund der Kriegsereignisse zunächst unbeachtet. Erst im Oktober wurde er wieder aufgegriffen, als der Vizepräsident der Gauwirtschaftskammer Pommern, Gebhard Holtz (1897–1972), seine Pläne für das OderDonau-Institut offenbarte: „Das Institut soll […] ganz besonders auf die Belange des Außenhandels und der Verkehrswirtschaft Stettins ausgerichtet sein“.40 Die Aufzeichnungen des Vizepräsidenten führten zu einer für den Rektor bestimmten, vertraulichen Aktennotiz Seraphims: „Ich hatte den Eindruck als ob den Stettiner Herren an einem wirklich wissenschaftlichen Institut nicht grade allzuviel läge, dass aber die Unterbauung der wirtschaftlichen Verkehrsansprüche Stettins durch ein solches Institut mit wissenschaftlichem Gewand im Vordergrund des Interesses stehe. Ich habe dagegen grundsätzlich sehr erhebliche Bedenken.“41 Dem Verfasser ist kein anderes Dokument bekannt, in dem Seraphim jemals Zweifel am Oder-Donau-Institut aufkommen ließ oder gar Kritik übte. Lediglich in dieser Notiz schlug er solche Töne an. Jedoch vermochte Seraphim seine „erhebliche[n] Bedenken“ zu überwinden, da er sah, welches Potenzial – vor allem finanzieller und personeller Art – in diesem Institut steckte. Holtz hatte zunächst einen Jahresetat von 50.000 RM veranschlagt und zugesichert. Denn aufgrund „der Bedeutung des Instituts für die künftige Arbeit der Stettiner Seehafenwirtschaft, darüber hinaus aber auch der gesamten pommerschen Wirtschaft, dürfte dieser Etat mit Unterstützung der Provinz Pommern, der Stadt Stettin und der gewerblichen Wirtschaft des Gaues sichergestellt werden können.“42 38 Schreiben Seraphim an Fengler vom 2.3.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 164. 39 Anlage zum Schreiben Seraphim an Fengler vom 2.3.1942, Plan zur Gründung des Oder-Donau-Instituts in Stettin, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 165. 40 Schreiben des Vizepräsidenten der Gauwirtschaftskammer Pommern, Gebhard Holtz, vom 12.10.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 157–159, hier Bl. 157–158. 41 Vertrauliche Aktennotiz Seraphims vom 3.11.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 156. 42 Schreiben des Vizepräsidenten der Gauwirtschaftskammer Pommern, Gebhard Holtz, vom 12.10.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 157–159, hier Bl. 159.

Das Stettiner Oder-Donau-Institut

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Seraphim plante allein für das Personal schon mit einem jährlichen Etat von etwa 100.000 RM. Insgesamt bezifferte er den Personalbedarf des Instituts auf 27 Personen.43 Aber sowohl der von Holtz in Aussicht gestellte als auch der von Seraphim veranschlagte Etat wurde mit 144.000 RM weit überschritten (vgl. Tabelle 1).44 Diese großzügige finanzielle Ausstattung ermöglichte es dem Institut, nicht nur zahlreiche Fachkräfte zu beschäftigen, sondern auch innerhalb seiner kurzen Existenz eine Fachbibliothek mit etwa 4.000 Bänden aufzubauen.45 Seraphim kam in seiner unveröffentlichten Autobiographie zu der Erkenntnis: „Geld war reichlich vorhanden“.46 Hauptträger (Zusage für 10 Jahre) Gauwirtschaftskammer Pommern Stadt Stettin Provinzialverband Pommern Verband der landwirtschaftlichen Genossenschaften

Jahresbeitrag 75.000,– RM 25.000,– RM 25.000,– RM 10.000,– RM

Förderer (jährlich kündbar) Tetzlaff & Wenzel Rudolf Christian Gribel Hedwigshütte A.G. National-Versicherung Ferdinand Rückforth Nachf. A.G. J. Gollnow & Sohn Fritzen & Sohn Fabrikant Johannes Schäfer Stettiner Oelwerke

135.000,–RM

Jahresbeitrag 2.000, –RM 1.000,– RM 1.000,– RM 1.000,– RM 1.000,– RM 1.000,– RM 1.000,– RM 500,– RM 500,– RM 9.000,– RM

Tabelle 1: Jahresbeiträge der Hauptträger und Förderer des Oder-Donau-Instituts47 43 Schreiben Seraphims zur Arbeitsaufgabe, Aufbau und Organisation des Oder-Donau Instituts vom 5.12.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 146–150; ebenso BArch, R 3101/9903, Bl. 77–81. 44 Schreiben an den Universitätskurator von Dr. Schoene, Geschäftsführers der Abteilung Handel der Gauwirtschaftskammer Pommern, vom 16.1.1943, UAG, Kurator K 710, Bl. 18; Abschrift der konstituierenden Sitzung des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts Oder-Donau am 10.1.1944 in Stettin, LAGw, Rep. 96, Nr. 160, Bl. 41–44, hier Bl. 43. An dieser Stelle sei auf die fehlerhaften und somit verzerrten Angaben in: Hoffmann, Institut Oder-Donau (wie Anm. 5) hingewiesen. 45 Abschrift des Protokolls zum Verbleib der Bibliothek des Oder-Donau-Instituts vom 2.9.1946, UAG, Kurator K 710, Bl. 47; Aktenvermerk v. Hehn für Krallert vom 6.3.1944, BArch, R  58/101, Bl. 30–31. 46 Peter-Heinz Seraphim, Glieder einer Kette, 1980, S. 315, in: Stadtarchiv Bochum, T IIIa 108, Bd. 1. Ansonsten vertrat Seraphim die Meinung, dass das Institut nie wirklich gearbeitet hat. 47 Entworfen nach: Abschrift der konstituierenden Sitzung des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts Oder-Donau am 10.1.1944 in Stettin, LAGw, Rep. 96, Nr. 160, Bl. 41–44, hier Bl. 43. Alleine drei Förderer des Instituts waren Reedereien (Rudolf Christian Gribel, Hedwigshütte A.G., Fritzen & Sohn), wobei die Hedwigshütte A.G. zudem noch in der Montanindustrie tätig war.

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Seraphim stellte sich somit in den Dienst der Stettiner Wirtschaftsakteure und lieferte die gewünschten wissenschaftlichen Argumente für deren Interessen. Dies wird auch anhand von Vorträgen und Veröffentlichungen ersichtlich; so hielt er beispielsweise am 7. Juni 1944 einen Vortrag über „Die Handelsbeziehungen zwischen Nord- und Südosteuropa und die Mittlerrolle Stettins“.48 Zudem veranstaltete das Oder-Donau-Institut für „namhafte Persönlichkeiten“ geheime Informations- und Ausspracheabende, bei denen stets galt, dass die Teilnehmer „den vertraulichen Charakter der Informationen zu beachten“49 hatten. Bei einem dieser Treffen referierte Seraphim über „Die Konkurrenzverhältnisse und Möglichkeiten der deutschen Ostseehäfen“,50 während sein Bruder Hans-Jürgen Seraphim vom OsteuropaInstitut in Breslau bei einem anderen Treffen über „Die Stellung der Donau im europäischen Verkehrssystem“51 sprach. In dem 1944 erschienenen Beitrag „Die Bedeutung der Ostseehäfen für die Donauländer“ betonte er die Stellung Stettins: „Aber durch die natürliche Lage zum Hinterland und als Folge des Ausbaus der Oder-Wasserstraße und des Oder-Donau-Kanals wird aller Wahrscheinlichkeit nach der Stettiner Hafen doch eine ganz besondere Rolle im Rahmen dieses Neuverkehrs spielen.“52 Die Grenze zwischen den Wirtschaftsinteressen der Stettiner Wirtschaft und der Wissenschaftlichkeit Seraphims verlief fließend. Auf der einen Seite strebte er für das Institut die „strenge Wissenschaftlichkeit der Forschungstätigkeit“53 an und verlieh auf der anderen Seite den Ideen der Wirtschaft die vermeintlich wissenschaftliche Untermauerung. Sein Biograph Petersen resümierte: „Seraphim [hat] stets die ‚Wissenschaftlichkeit‘ seiner Studien unterstrichen und den Begriff der ‚Objektivität‘ für sie in Anspruch genommen. ‚Objektivität‘ war für ihn jedoch nicht gleichbedeutend mit dem Streben nach möglichster weltanschaulicher Neutralität: Die Bindung an das ‚deutsche Volk‘ als zentralem Wertmaßstab für das eigene Handeln war für ihn selbstverständlich und wurde nie hinterfragt.“54 Holtz als Vorsitzer des Vorstandes

48 49 50 51 52 53 54

Weiterhin gehörten Ferdinand Rückforth Nachf. A.G. sowie Tetzlaff & Wenzel zur Lebensmittelindustrie. Im Stahlbau betätigte sich J. Gollnow & Sohn, Fabrikant Johannes Schäfer besaß ein Schraubenwerk. Die Stettiner Oelwerke produzierten vor allem Speiseöle und Futtermittel auf Sojabasis. Schreiben der Reichswerke Aktiengesellschaft für Binnenschiffahrt „Hermann Göring“ an Seraphim vom 21.12.1944, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 88. Einladungsschreiben vom 29.1.1944, LAGw, Rep. 96, Nr. 160, Bl. 25. Einladungsschreiben vom 29.1.1944, LAGw, Rep. 96, Nr. 160, Bl. 25. Einladungsschreiben vom 8.7.1944, LAGw, Rep. 96, Nr. 160, Bl. 29. Seraphim, Ostseehäfen (wie Anm. 3), S. 146. Schreiben Seraphim an Fengler vom 2.3.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 164. Petersen, Seraphim (wie Anm. 5), S. 348.

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formulierte zusammenfassend: „Wirtschaft und Wissenschaft sind längst unzertrennliche Partner geworden. Beide haben der Nation zu dienen.“55

Wissenschaft

Neben der Person Seraphim sollte auch die Verbindung des Oder-Donau-Instituts zur Universität Greifswald den wissenschaftlichen Charakter des Instituts unterstreichen. Ursprünglich war es angedacht, das Institut als universitäres Forschungsinstitut zu gründen. Dies war jedoch nur mit Zustimmung des Reichserziehungsministeriums (REM) möglich. Allerdings bat das REM darum, die Gründung vorerst bis zum Kriegsende zurückzustellen, da sie „nicht unbedingt kriegswichtig“56 erschien. Da das Reichswirtschaftsministerium (RWM) sich zunächst dieser Einschätzung anschloss, drohte das Gründungsvorhaben zu scheitern. Es wurde daraufhin die Untersuchung einer Vielzahl von Lösungsstrategien angekündigt, die die bezweifelte Kriegswichtigkeit untermauern sollte. Dies reichte von „Lösungen“, die auf dem Interessengebiet der Stettiner Wirtschaft fußten, wie die Umstellung des Stettiner Hafens von einem Umschlaghafen vorwiegend für Erz, Kohle und Getreide auf eine nunmehr allgemeine Versorgungsfunktion, bis hin zu Studien zur Behandlung und Konservierung von Südostfrüchten zur „Schliessung der Obstlücke“.57 Den angekündigten Studien sollten, entsprechend der Ausrichtung des Instituts, vorwiegend wirtschaftswissenschaftliche Überlegungen zu Grunde liegen wie etwa die Untersuchung von Beförderungsmöglichkeiten, um durch effizientere Transportwege und Transportmittel möglichst Betriebsmittel und Betriebsstoffe einzusparen.58 Weiterhin wollte das Institut Wirtschafts- und Arbeitskräftereserven sowohl in Südosteuropa als auch im Norden und Osten für die Kriegsernährungs- und Wehrwirtschaft identifizieren und Vorschläge für die Rationalisierung des Wirtschafts- und Warenaustausches unterbreiten.59 Darüber hinaus wurden größere Studien in Aussicht 55 Schreiben des Vizepräsidenten der Gauwirtschaftskammer Pommern, Gebhard Holtz, vom 12.10.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 157–159, hier Bl. 157. 56 Schreiben Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an das Reichswirtschaftsministerium vom 9.2.1943, BArch, R 3101/9903, Bl. 99; Schreiben des Universitätskurators an den Rektor vom 16.2.1943, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 126. 57 Aktenvermerk über die Besprechung betr. Gründung des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts Oder-Donau zu Stettin am 12.4.1943, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 119–122, hier Bl. 120. 58 Aktenvermerk über die Besprechung betr. Gründung des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts Oder-Donau zu Stettin am 12.4.1943, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 119–122, hier Bl. 119. 59 Exposé Seraphims zur Kriegswichtigkeit der Arbeiten des Oder-Donau-Instituts, vermutlich Februar 1943, UAG, Altes Rektorat R 479, Bl. 13–15, hier Bl. 13.

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gestellt, wie etwa eine gesamtheitliche Betrachtung des Warenaustausches zwischen den nord- und südosteuropäischen Ländern während des Krieges und ob dies womöglich den Interessen Deutschlands entgegenstehe. Zudem sollten Planungen zur Herstellung synthetischen Benzins aus bulgarischer Kohle60 und die Erschließung von Erdölreserven in Rumänien vorangetrieben werden. Seraphim schlussfolgerte, dass „es bedauerlich [wäre], die praktisch gegebenen Arbeitsmöglichkeiten, die das OderDonau-Institut bieten kann, für die unmittelbar kriegswirtschaftlichen Aufgabenstellungen des deutschen Reiches nicht durch einen möglichst sofortigen Einsatz zur Wirkung zu bringen“.61 Gauwirtschaftspräsident Fengler stellte gegenüber dem RWM gar fest: „Es handelt sich bei dem zu gründenden Institut also nicht um eine Friedensplanung, sondern um eine unmittelbare kriegswirtschaftliche Notwendigkeit.“62 Zeitgleich zu den Bemühungen Seraphims und Fenglers intervenierte auch der Reichsverkehrsminister a.D. Dr. Rudolf Krohne (1876–1953)63 sowohl beim RWM als auch beim REM und bei der Vierjahresplanbehörde.64 Das RWM revidierte nun seine Haltung und stimmte der Gründung zu, da es „unter keinen Umständen auf die Arbeit eines solchen Instituts schon während des Krieges“65 verzichten könne. Be60 Im nördlich von Stettin gelegenen Pölitzer Hydrierwerk – einer gemeinsamen Gründung der I.G. Farben, der Rhenania-Ossag und der Deutsch-Amerikanischen Petroleum Gesellschaft – wurde bereits seit 1940 synthetisches Benzin auf Kohlebasis hergestellt. Vgl. Rainer Karlsch, Raymon G. Stokes, „Faktor Öl“ – Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1859–1974, München 2003, S. 193–197. Einer der zwei Direktoren, Herdin Duden, war am Aufbau des OderDonau-Instituts beteiligt sowie Mitglied des Vorstandes und des Finanzausschusses. Vgl. Abschrift der konstituierenden Sitzung des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts Oder-Donau am 10.1.1944 in Stettin, LAGw, Rep. 96, Nr. 160, Bl. 41–44, hier Bl. 41–42. Zudem war er seit dem Wintersemester 1943/44 Lehrbeauftragter an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Greifswald. Vgl. Schreiben des Universitätskurators an Duden vom 5.8.1943, UAG, PA 2591, Bl. 4. 61 Exposé Seraphims zur Kriegswichtigkeit der Arbeiten des Oder-Donau-Instituts, vermutlich Februar 1943, UAG, Altes Rektorat R 479, Bl. 13–15, hier Bl. 15. 62 Schreiben Fengler an den Reichswirtschaftsminister über die Reichswirtschaftskammer vom 5.1.1943, BArch, R 3101/9903, Bl. 73–74. 63 Krohne war der Berliner Vertreter der Gauwirtschaftskammer Pommern und Leiter des Vereins für die Wahrung der Oderschifffahrtsinteressen. Vgl. Schreiben Seraphim an Papritz vom 15.6.1944, BArch, R 153/1483 sowie Schreiben des Vizepräsidenten der Gauwirtschaftskammer Pommern, Gebhard Holtz, vom 12.10.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 157–159. Er erhielt monatlich 500,– RM von der Gauwirtschaftskammer und zählte somit zu den meistbedachten Empfängern. Vgl. Terminzahlungen der Gauwirtschaftskammer Pommern, LAGw, Rep 58, Nr. 5, Bl. 5. 64 Abschrift des Schreibens des Reichministers a.D. Krohne an Seraphim vom 29.3.1943, UAG, Kurator K 710, Bl. 23; ebenso: UAG, Altes Rektorat R 479, Bl. 3. 65 Schreiben Gauwirtschaftskammer Pommern an Reichswirtschaftsministerium vom 30.3.1943, BArch, R 3101/9903, Bl. 110.

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dingung war jedoch, dass das Institut nicht an der Universität Greifswald, sondern bei der Gauwirtschaftskammer in Stettin angesiedelt werde und dennoch unter der Leitung Seraphims stehe.66 Das REM zeigte sich darüber hinaus „[m]it der nebenamtlichen Tätigkeit des Prof. Dr. Seraphims in Greifswald für das Wirtschaftlichwissenschaftliche Institut in Stettin […] einverstanden.“67 Somit wurde die ursprüngliche Bitte des REM, die Gründung hinauszuzögern, umgangen und das Institut konnte seine Arbeit aufnehmen. Einigkeit herrschte darüber, dass „[d]as Institut zu gegebener Zeit, d.h. voraussichtlich nach Beendigung des Krieges, wie ursprünglich vorgesehen, in ein Institut der Universität Greifswald […] umgebildet“68 werde. Durch die Tätigkeit Seraphims, die Zugehörigkeit des Rektors zum Vorstand und die Beschäftigung ehemaliger Greifswalder Mitarbeiter am Institut war für Außenstehende schwer zu erkennen, dass es sich de jure nicht um eine universitäre Gründung handelte – de facto trat das Institut so auf. Parallel zu den Verhandlungen mit den Berliner Ministerien wandte sich Seraphim an Johannes Papritz (1898–1992), Leiter der Publikationsstelle Berlin-Dahlem (PuSte) und zugleich Geschäftsführer der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG), um ihn von den Gründungsplänen in Kenntnis zu setzen.69 Die PuSte bestand unter dem Dach der NOFG als Mittel- und Sammelpunkt aller in der Nord- und Ostarbeit stehenden Forscher und sollte die Ostforschung fördern.70 In dem Schreiben kommt der Geltungsdrang Seraphims zum Ausdruck: Er führte aus, „daß die Universität Greifswald sich hier in einer gewissen Zwangslage befand. Ein solches Institut wäre […] in jedem Falle geschaffen worden. Es handelte sich nur darum, ob mit oder ohne uns.“ Daher stimmte er mit dem Greifswalder Rektor überein und kam zu dem Schluss, „dann lieber die Sache selbst in die Hand zu nehmen und in eine uns genehme wissenschaftliche Richtung zu lenken“.71 In einem weiteren Schreiben versicherte Seraphim, 66 Schreiben Gauwirtschaftskammer Pommern an Reichswirtschaftsministerium vom 30.3.1943, BArch, R 3101/9903, Bl. 110. Zur Genehmigung durch das Reichswirtschaftsministerium vgl. Schreiben Reichswirtschaftsministerium an Gauwirtschaftskammer Pommern vom 3.4.1943, BArch, R 3101/9903, Bl. 111; Aktenvermerk Seraphims vom 3.4.1943, UAG, Altes Rektorat R 479, Bl. 1. 67 Schreiben des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 12.5.1943, UAG, PA 433 (Seraphim), Bd. 3, Bl. 47. Der Nachsatz zur Genehmigung: „Ich ersuche, mir jedoch noch mitzuteilen, um welche Art von Nebentätigkeit es sich hier handelt“, überrascht, da das REM informiert war, welche Funktion Seraphim im Oder-Donau-Institut einnahm, zumal es nur fünf Wochen vorher die sofortige Gründung ablehnte. 68 Schreiben an den Rektor von Dr. Schoene, Geschäftsführer der Abteilung Handel der Gauwirtschaftskammer Pommern, vom 6.4.1943, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 123. 69 Schreiben Seraphim an Papritz vom 16.1.1943, BArch, R 153/1483. 70 Fahlbusch, Wissenschaft (wie Anm. 5), S. 212–221. 71 Schreiben Seraphim an Papritz vom 16.1.1943, BArch, R 153/1483.

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dass es ihm „besonders daran liegt, die Arbeiten des neuen Oder-Donau-Instituts in engem Kontakt mit den Arbeiten der Publikationsstelle und denen der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft“72 vorzunehmen. Durch die Zusammenarbeit mit der PuSte bzw. der NOFG – „deren Tätigkeit nicht voneinander zu trennen ist“73 – vernetzte Seraphim das Institut weiter in den wissenschaftlichen Kreisen und gewann somit neben der Universität Greifswald auch andere gewichtige Fürsprecher. Jedoch begab sich das Institut damit auch erstmals in den Machtbereich des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), dem sowohl die PuSte als auch die NOFG unterstellt waren. Wie in Abbildung 1 verdeutlicht, wurde das Institut nicht in Sachreferate für einzelne Aspekte wie Landwirtschaft, Industrie oder Verkehr aufgegliedert, sondern in Länderreferate, die wiederum zu regionalen Hauptreferaten zusammengefasst waren. Dies wurde dahingehend begründet, dass „die Bearbeitung der Wirtschaftsfragen eines nichtdeutschen Landes entscheidend von der Beherrschung der Landessprache abhängig ist und von niemand erwartet werden kann, daß er ein halbes Dutzend und mehr fremder Sprachen beherrscht“.74 Aus diesem Grund hatte Seraphim für die Besetzung der Stellen vor allem Volkswirte mit vielseitigen Sprachkenntnissen in Aussicht genommen, unter anderem etwa seinen ehemaligen Greifswalder Assistenten Andreas Michael Bora.75 Der Ukrainer beherrschte sowohl Russisch als auch Polnisch und Ungarisch. Mit seinen Rumänischkenntnissen leistete Günter Zühlsdorf ebenso seinen Beitrag zur Institutsarbeit.76 Beide promovierten bei Seraphim. Sowohl die Dissertation von Bora zum Verkehrswesen der Ukraine als auch die von Zühlsdorf zur südosteuropäischen Landwirtschaft lassen einen direkten Zusammenhang zum Arbeitsfeld des Instituts erkennen.77 Weitere Unterstützung bekam das Institut durch 72 Schreiben Seraphim an PuSte vom 7.7.1943, BArch, R153/1483. 73 Rudi Goguel, Die Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft im Dienste der faschistischen Aggressionspolitik gegen Polen (1933 bis 1945), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 5 (1968), S.  663–674, hier S. 665. 74 Schreiben Seraphims zur Arbeitsaufgabe, Aufbau und Organisation des Oder-Donau Instituts vom 5.12.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 146–150, hier Bl. 147. 75 Was Bora veranlasste, 1965 eine Anfrage an den Rektor bzgl. einer Dienstbescheinigung (für die Rentenkasse) für die Zeit vom 1. Januar 1942 bis zum 31. August 1943 auf seinem Briefpapier des Oder-Donau-Instituts zu verfassen, muss leider unbeantwortet bleiben. Schreiben Bora an Rektor vom 1.5.1965, Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (künftig: BStU), Außenstelle Rostock, Leiter der BV, Nr. 112, Bl. 22. Das Schreiben an das Rektorat wurde von IM „Chrysantheme“ gemeldet und führte zu einer Nachfrage von Seiten des MfS (Dank für diesen Hinweis an Henry Leide). 76 Schreiben Seraphims an Dr. Schoene von der Gauwirtschaftskammer vom 16.2.1943, UAG, Altes Rektorat R 479, Bl. 11–12. 77 Günter Zühlsdorf, Grundlagen und ernährungswirtschaftliche Bedeutung der südosteuropäi-

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Praktikantinnen, die einen Verpflichtungsbescheid des Arbeitsamtes für ein Institutspraktikum in Stettin erhielten.78 Seraphim nutzte die Skandinavienbesprechung der NOFG in Greifswald im Dezember 1943, um den Fachvertretern die Gründung des Oder-Donau-Instituts noch vor der offiziellen Arbeitsaufnahme bekanntzugeben. In diesem Zusammenhang wies er, zu einer Zeit, in der für die „Kriegsführung ökonomische und rein militärische Aspekte […] in den Vordergrund“79 traten, „auf die Wichtigkeit wirtschafts-wissenschaftlicher Probleme und Fragen hin“.80 Ebenso verfuhr er Ende Februar 1944 auf der in Greifswald stattfindenden Skandinavientagung der NOFG, wo er den Teilnehmern das Institut als das „jüngste Mitglied“ der NOFG vorstellte. Am 1. März 1944 – also im Anschluss an die Tagung – lud er die Tagungsteilnehmer sowie seine Kollegen der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zu einem Tagesausflug nach Stettin ein. Der Ausflug beinhaltete eine Institutsbesichtigung und endete mit einem Vortrag Seraphims zu den Wirtschaftsbeziehungen Nord- und Osteuropas und einem Empfang.81 Diese Besichtigung sollte ein halbes Jahr später die Weiterarbeit des Instituts sichern,82 denn unter den Teilnehmern befand sich auch der SS-Untersturmführer und Historiker Jürgen von Hehn (1912–1983)83 von der Reichsstiftung für Länderkunde. Hinter der Reichsstiftung für Länderkunde verbarg sich die Gruppe VI/G, der „wissenschaftlich-methodische Forschungsdienst“ des RSHA.84 Der Gruppe VI/G schen Landwirtschaft, Greifswald 1944. Im Vorwort bedankt sich Zühlsdorf für die Möglichkeit, die Einrichtung des Oder-Donau-Instituts nutzen zu können. Zur Dissertation von Bora vgl. Anm. 91. 78 Schreiben an das Arbeitsamt Greifswald vom 13.9.1944, UAG, Jur. Fak. 70, Bl. 11. Nach der Diplomprüfungsordnung für Volkswirte vom 24.3.1937 war ein Praktikum obligatorisch vor der Abschlussprüfung abzulegen. 79 Rudi Goguel, Forschungsgemeinschaft (wie Anm. 73), S. 665. 80 Bericht Skandinavienbesprechung in Greifswald vom 14.12.1943, BStU, MfS HA IX/11, Nr. FV 143/69, Bd. 37, Bl. 38–41, hier Bl. 41. 81 Bericht über die am 28. und 29. Februar 1944 in Greifswald stattgefundene Skandinavientagung der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft vom 7.3.1944, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (künftig: PAAA), R 100449, Bl. 213–215; Programm für die Besichtigung Stettins und des Oder-Donau-Instituts vom 1.3.1944, PAAA, R 100449, Bl. 217; Schreiben Seraphims an Papritz vom 4.3.1944, BArch, R 153/1711. 82 Schreiben von Hehn an Seraphim vom 3.9.1944, BArch, R153/1072. 83 Jürgen von Hehn war Referent von Wilfried Krallert, dem Leiter der Gruppe VI/G des RSHA und unter anderem am Sonderkommando Künsberg beteiligt. Zudem verantwortete er im Namen der Gruppe VI/G zwischen 1943 und 1944 mehrere kleine und damit äußerst flexible Einsatzkommandos mit Angehörigen der Waffen-SS, die binnen 24 Stunden in den besetzten Gebieten zum Einsatz kamen. Vgl. Fahlbusch, Wissenschaft (wie Anm. 5), S. 738 bzw. S. 480–499. 84 Fahlbusch, Wissenschaft (wie Anm. 5), S. 738 u. 747. Laut Fahlbusch lautete seit Sommer 1944 der offizielle Name: Reichsführer-SS – Kuratorium für Volkstums- und Länderkunde. Gegen-

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waren neben den Forschungsgemeinschaften und Publikationsstellen auch ein Großteil der institutionellen Forschungseinrichtungen, wie etwa das Osteuropa-Institut in Breslau und das Wannsee-Institut bei Berlin, unterstellt.85 Darüber hinaus beteiligte sich die Gruppe VI/G an der Nachrichtenbeschaffung und war maßgeblich für die Planung des Raubs von Kulturgütern und wissenschaftlichen Bibliotheken in den besetzten Gebieten zuständig.86 Von Hehn dokumentierte seine Eindrücke wie folgt: „Der Gesamteindruck der neuen Forschungseinrichtung Oder-Donau-Institut war ein in jeder Hinsicht sehr guter. Unter schwierigen Verhältnissen ist es dort gelungen, ein arbeitsfähiges Institut mit den notwendigsten Arbeitseinrichtungen aufzubauen, auch einige geeignete Mitarbeiter zu gewinnen. Das war nur möglich, weil der Leiter des Instituts Professor Seraphim über genügend Regsamkeit und Initiative verfügt, die z.B. gerade den massgebenden Vertretern der Nordischen Auslandsinstitute in Greifswald fehlt. Es kann mit Sicherheit angenommen werden, dass vom Oder-Donau-Institut viel positive wissenschaftliche Arbeit in Bezug auf Skandinavien geleistet werden wird.“87 Aufgrund der Bombenangriffe auf Stettin und des proklamierten totalen Kriegseinsatzes befahl Gauleiter Schwede-Coburg – in seiner Funktion als Reichsverteidigungskommissar für Pommern – im August 1944 die Schließung des Instituts, um Personal für Wehrmacht und Rüstung freizustellen.88 Nun kam der Einfluss des RSHA zum Tragen, bestand doch schon frühzeitig von Seiten der Gruppe VI/G „an den Arbeiten des Oder-Donau-Instituts ein sehr starkes Interesse und durchaus der Wille, soweit irgend möglich, helfend zur Seite zu stehen“.89 Daher wandte sich der Leiter der Gruppe VI/G, Wilfried Krallert (1912–1969), an Schwede-Coburg und verhinderte die vollständige Schließung des Instituts: „An der Skandinavien-Arbeit des Institutes besteht hier ein sehr erhebliches Interesse, da das Institut in wirtschafts-

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über dem Oder-Donau-Institut trat man weiterhin als Reichsstiftung für Länderkunde auf. Zur Frage des Decknamens für die Gruppe VI/G vgl. Vermerk v. Hehn vom 15.6.1944, BStU, MfS HA IX/11, Nr. FV 143/69, Bd. 4, Bl. 47–48. Aufstellung der Forschungseinrichtungen, die dem RSHA Gruppe VI/G unterstellt waren, BStU, MfS HA IX/11, Nr. FV 143/69, Bd. 34, Bl. 4–6; sowie Fahlbusch, Wissenschaft (wie Anm. 5), S. 747. Fahlbusch, Wissenschaft (wie Anm. 5), S. 257. Zur Gruppe VI/G vgl. auch: Michael Fahlbusch, Reichssicherheitshauptamt Abteilung VI G (Reichsstiftung für Länderkunde), in: Ingo Haar, Michael Fahlbusch (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften, München 2008, S. 545f. Aktenvermerk v. Hehn für Krallert vom 6.3.1944, BArch, R 58/101, Bl. 30–31. Abschrift des Schreibens des Reichsverteidigungskommissar für den Reichsverteidigungsbezirk Pommern an das Oder-Donau-Institut vom 17.8.1944, BArch, R 153/1072; Schreiben Seraphims an Papritz von der PuSte vom 24.8.1944, BArch, R 153/1072. Schreiben von Hehn an Seraphim vom 5.7.1944, BArch, R 58/9110.

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politischen Fragen als Auskünfte und Gutachten gebende Stelle für den politischen und militärischen Nachrichtendienst herangezogen werden soll, zumal es im Reich keine andere wissenschaftliche Stelle gibt, die dazu in der Lage wäre und die über das nötige Material und die nötige Kenntnis verfügt. Gerade die heutige Entwicklung im Norden lässt es als unbedingt notwendig erscheinen, dass eine wissenschaftlich erfahrene Stelle vorhanden ist, die in der Lage ist, notfalls den politischen und militärischen Führungsstellen mit Unterlagen und Auskünften zu dienen.“90 Die Gruppe VI/G hielt das Oder-Donau-Institut somit im Vergleich zu den Nordischen Auslandsinstituten für die sachkundigere Einrichtung. Die Konzentration des Oder-Donau-Instituts auf Skandinavien entsprang rein praktischen Überlegungen. Durch den Kriegsverlauf und die in dem Zuge erlittenen Gebietsverluste war eine Untersuchung des Ostens und Südostens Europas obsolet geworden.91 Schweden fand vornehmlich Beachtung, da es das letzte politisch „neutrale“ Land in Nordeuropa war.92 Diese wissenschaftliche Ausrichtung gen Norden war wiederum für die Gruppe VI/G relevant, weshalb sie entscheidend dazu beitrug, dass das Institut nicht vollständig geschlossen wurde.93 Das Institut wiederum stellte seinen Arbeitsapparat für alle von der Gruppe VI/G gewünschten Aufgaben zur Verfügung.94 Im Gegenzug sicherte die Gruppe VI/G zu, die Hälfte des jährlichen Etats zu übernehmen und „beim Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar die Aufhebung der Stillegungsverfügung für das Institut herbeizuführen“.95 Von Hehn vermerkte: „Der Gruppe VI G ist es durch soeben abgeschlossene Verhandlungen 90 Schreiben von Krallert an Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar in Pommern vom 3.11.1944, BArch, R 58/126, Bl. 373. 91 So wurde beispielsweise von der Veröffentlichung der Dissertation vom Institutsmitarbeiter Andreas Michael Bora, die er im Rahmen „seiner vertraglichen Arbeitsleistung angefertigt hat“, aufgrund der militärischen und politischen Veränderungen abgesehen. Vgl. Schreiben Zühlsdorf an PuSte vom 9.11.1944, BArch, R 153/1072. Ein maschinenschriftliches Exemplar befindet sich im Bestand der Universitätsbibliothek Greifswald: Andreas Michael Bora, Das Verkehrswesen der Ukraine und seine volkswirtschaftliche Bedeutung für die Entwicklung der europäischen Großraumwirtschaft, Greifswald 1943. 92 Durch sukzessive Einordnung und Verzahnung mit dem deutschen Wirtschafts- und Rüstungssystem geriet Schweden ins NS-Rondell, öffnete sich aber zum Ende des Krieges vermehrt den Alliierten. Vgl. Claus Wohlert, Von der Co-operation zur Kollaboration – Schwedens Wirtschaftsweg ins NS-Rondell, in: Robert Bohn (Hg.), Neutralität und Aggression: Nordeuropa und die Großmächte im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1991, S. 301–309. 93 Schreiben v. Hehn an Oder-Donau-Institut vom 15.9.1944, BArch, R 58/126, Bl. 371; Schreiben von Krallert an Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar in Pommern vom 3.11.1944, BArch, R 58/126, Bl. 373. 94 Vermerk v. Hehn vom 3.11.1944, BArch, R 58/126, Bl. 374–376. 95 Vermerk v. Hehn vom 3.11.1944, BArch, R 58/126, Bl. 374–376, hier Bl. 376.

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gelungen, das von Prof. Dr. Seraphim, Greifswald, geleitete Oder-Donau-Institut als eigene Forschungsstelle für die wirtschaftswissenschaftliche Arbeit über Skandinavien, insbesondere Schweden, zu gewinnen. Dieses Institut steht damit über VI G für die Erfüllung aller Aufgaben, die von dort aus gestellt werden könnten, zur Verfügung.“96

Krieg

Um die kriegswirtschaftliche Notwendigkeit des Instituts zu unterstreichen, wurden Wirtschaftsberichte an Persönlichkeiten aus Partei, Staat, Wehrmacht und Wirtschaft herausgegeben. Dem Verfasser sind zehn solcher Wirtschaftsberichte bekannt, außerdem drei Sonderberichte, die Schweden betreffen.97 Gegliedert sind die Wirtschaftsberichte jeweils nach Ländern. Sie widmeten sich punktuell wirtschaftswissenschaftlichen Problemen sowie dem Warenaustausch mit dem Deutschen Reich und der damit verbundenen (gegenseitigen) Abhängigkeit. Der Umfang der einzelnen Untersuchungen reichte vom zehnzeiligen Artikel bis hin zum vierzigseitigen Sonderbericht. Insgesamt befassten sich mehr als die Hälfte der Artikel mit den Ländern Nordeuropas und das, obwohl sie nicht einmal im direkten Einzugsgebiet links und rechts von Oder, Donau oder deren geplanten Verbindung lagen (vgl. Abbildung 2). Eine genauere Betrachtung des Themenspektrums der Wirtschaftsberichte zeigt, dass sich nicht zufällig ein Großteil der Artikel den Fragen des Handels/Handwerks bzw. der Land- und Forstwirtschaft/Fischerei/Lebensmittel (vgl. Grafik 1) widmete. Dies waren auch die vorwiegenden Betätigungsfelder der pommerschen Wirtschaft. Außerdem wurden Daten zur Wirtschaftslage, Preisstabilität und Versorgungslage gesammelt, die ebenfalls für die Erschließung neuer Märkte von Interesse waren. So wurde, etwa im Falle der entlang des Einzugsgebietes von Oder und Donau gelegenen östlichen und südöstlichen Länder, ein Augenmerk auf ungenutzte wirtschaftliche Potenziale und den damit zu erwartenden Veränderungen im Zuge eines baldigen 96 Vermerk v. Hehn vom 19.12.1944, BArch, R 58/126, Bl. 380. 97 Wirtschaftsberichte: Nr. 1/44 (3.3.1944), Nr. 2/44 (1.4.1944), Nr. 3/44 (5.5.1944), Nr. 4/44 (26.5.1944), Nr. 5/44 (26.6.1944), Nr. 6/44 (13.7.1944), Nr. 7/44 (1.8.1944), Nr. 1/45 (1.2.1945), Nr. 2/45 (22.2.1945) und Nr. 3/45 (15.3.1945). Der große zeitliche Abstand zwischen dem Bericht Nr. 7/44 und Nr. 1/45 könnte sich durch den kriegsbedingten Umzug nach Prora/Rügen erklären lassen. Die Titel der drei Sonderberichte lauteten: „Die Versorgung Schwedens mit Mineralöl“ (21.2.1945), „Die Kohlenlage Schwedens“ (März 1945) und „Aussichten und Möglichkeiten der schwedisch-sowjetischen Handelsbeziehungen“ (18.3.1945). Die Berichte 2/44 und 1–3/45 sowie die beiden ersten Sonderberichte sind im UAG, Altes Rektorat R 334 zu finden. Die Berichte 1 und 3–7/44 sowie der Sonderbericht vom 18.3.1945 sind im Bestand der Deutschen Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften in Kiel.

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Abbildung 2: Länderspezifische Artikel in den Wirtschaftsberichten des Oder-Donau-Instituts (absolute Häufigkeit, 1944/45)

Kriegsendes gelegt.98 Dies deckt sich auch mit der Ansicht von Hehns, der bereits nach dem Besuch des Oder-Donau-Instituts feststellte, dass wirtschaftlich gesehen der „Südosten […] der natürliche Ergänzungsraum für den Norden“99 sei. Untersuchungen zum Bankwesen, zur Preisstabilität oder zur Landwirtschaft waren aber nicht nur für die pommersche Wirtschaft zur Identifizierung von Potenzialen von Interesse, sondern auch für die gesamte deutsche Kriegswirtschaft. Unverkennbar kriegswichtige Informationen lieferten die Sonderberichte zu Schweden. So war es Zweck eines solchen, „ein möglich [sic!] klares Bild der jetzigen Versorgungsla98 Vgl. etwa die Berichte zur Industriepolitik Ungarns (Nr. 1/44, S. 6–8), zur Versorgungslage der Slowakei (Nr. 2/44, S. 2–3) und zur Lage der rumänischen Wirtschaft (Nr. 2/44, S. 5–8). Vgl. Anm. 97. 99 Aktenvermerk v. Hehn für Krallert vom 6.3.1944, BArch, R 58/101, Bl. 30–31.

222

Klemens Grube

ge Schwedens und des jetzigen Verbrauchs von Mineralöl und dessen Ersatzstoffe zu gewinnen“.100 Der Sonderbericht sollte klären, inwieweit sich Schweden der Sowjetunion nach Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland annähern könnte, um seinen Mineralölbedarf zu decken. Zusätzlich wurde den „Aussichten und Möglichkeiten der schwedisch-sowjetischen Handelsbeziehungen“ noch ein mehr als vierzig Seiten langer Sonderbericht gewidmet. Er enthielt u.a. konkrete Empfehlungen, wie der Handel zwischen Schweden und der Sowjetunion einzuschränken sei, um somit die „eventuelle Bolschewisierung Schwedens“101 zu verhindern. Handel/Handwerk

21,98%

Land- und Forstwirtschaft/Fischerei/Lebensmittel

21,98%

Wirtschaftslage/allgemeine Berichte

10,34%

Industrie

8,19%

Preisstabilität

6,90%

Energie/Rohstoffe

5,60%

Banken/Währung

4,74%

Verkehrsinfrastruktur

3,88%

Arbeitsmarkt

3,88%

Versorgungslage

Sonstige

3,02%

9,48%

Grafik 1: Themenschwerpunkte von Artikeln der Wirtschaftsberichte des Oder-Donau-Instituts (relative Häufigkeit, 1944/45)102

Resümee

Das Oder-Donau-Institut sollte anfangs die wissenschaftliche Begründung für den Weiterbau des Oder-Donau-Kanals liefern. Dies war zumindest die Idee der Gauwirtschaftskammer Pommern, der treibenden Kraft hinter der Institutsgründung. Sie 100 Sonderbericht „Die Versorgung Schwedens mit Mineralöl“ vom 21.2.1945. Vgl. Anm. 97. 101 Sonderbericht „Aussichten und Möglichkeiten der schwedisch-sowjetischen Handelsbeziehungen“ vom 18.3.1945. Vgl. Anm. 97. 102 Die hier vorgenommene Einteilung hat sich vor dem Hintergrund der Fragestellung als zweckmäßig erwiesen.

Das Stettiner Oder-Donau-Institut

223

brachte mehr als die Hälfte des Institutsbudgets auf und bestimmte die Ausrichtung des Instituts entscheidend mit.103 Aber es blieb nicht bei dieser Ausrichtung. Unter Leitung von Peter-Heinz Seraphim – zu dessen Wesenszügen der „Versuch einer Legitimation durch Wissenschaftlichkeit“ und der „Wunsch, die Erkenntnisse der eigenen wissenschaftlichen Arbeit für die Politik nutzbar zu machen“104 zählten – stellte sich das Institut in den Dienst der deutschen Kriegswirtschaft. Seraphim richtete das Institut so aus, dass es in der Lage war, rasch Ergebnisse zu liefern und das „nicht in Form langer wissenschaftlicher Bücher, sondern in der Form knapper, wohl durchweg vertraulicher Denkschriften mit konkreten Anregungen für die Praxis und die in dieser Arbeit stehenden Dienststellen“.105 Abnehmer war ausgerechnet das RSHA, das „den konzeptionellen wie exekutiven Kern einer weltanschaulich orientierten Polizei [bildete], die ihre Aufgaben politisch verstand, ausgerichtet auf rassische ‚Reinhaltung‘ des ‚Volkskörpers‘ sowie die Abwehr oder Vernichtung der völkisch definierten Gegner“.106

103 Die Gauwirtschaftskammer zahlte 1943 Beiträge und Zuschüsse an insgesamt 44 Institutionen und Organisationen. Der größte Teil der 292.100 RM ging an die Reichswirtschaftskammer (ca. 47 %). Das Oder-Donau-Institut lag mit einem Anteil von etwas mehr als 25 % an zweiter Stelle und somit noch vor der Landesplanungsgemeinschaft (ca. 12 %) und der Werbegemeinschaft der pommerschen Wirtschaft (ca. 4 %). Dies lässt erkennen welchen Stellenwert das Institut für die Gauwirtschaftskammer einnahm. Vgl. Beiträge und Zuschüsse an andere Organisationen, LAGw, Rep. 58, Nr. 1, Bl. 19–20. 104 Steinweis, Seraphim (wie Anm. 26), S. 315. Dies deckt sich auch mit dem Verhalten Seraphims nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs. So flossen sowohl die Erkenntnisse aus der Tätigkeit des Oder-Donau-Instituts als auch die Früchte seiner eigenen Arbeit im August 1945 in den umfassenden Bericht „Agriculture in the Region East of the Elbe, Within the Jurisdiction of the USSR“ ein, den Seraphim als Kriegsgefangener in den USA verfasste. Vgl. Report on Interrogation of: P/W Seraphim, Peter, Gefr. 31G-3208983 vom 27.8.1945, National Archives and Records Administration, RG 165, Entry 179-B, Box 547, File Seraphim, Peter, Location 390. Aus dem antisemitischen Ostexperten war der antibolschewistische Ostexperte geworden: „Meine lebenslange Beschäftigung mit Ost- und Rußlandfragen, der Wunsch mitzuhelfen, die Amerikaner davon zu überzeugen, dass die Sowjetunion unser gemeinsamer Feind sei, haben letztlich meinen Entschluß bestimmt, mich Ihnen mit meinem Wissen zur Verfügung zu stellen.“ Seraphim, Glieder einer Kette (wie Anm. 46), S. 407. 105 Exposé Seraphims zur Kriegswichtigkeit der Arbeiten des Oder-Donau-Instituts, vermutlich Februar 1943, UAG, Altes Rektorat R 479, Bl. 13–15, hier Bl. 14. 106 Michael Wildt, „Voller Einsatz, höchste Intensität“ – Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, in: Hans Erler (Hg.), Erinnern und Verstehen. Der Völkermord an den Juden im politischen Gedächtnis der Deutschen, Frankfurt/M. 2003, S. 155–165, hier S. 156.

Forscher – Diplomaten – Spione. Die Nordischen Auslandsinstitute der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Marco Nase Die Nordischen Auslandsinstitute und deren Vorgängereinrichtung, das Nordische Institut, sind in zweierlei Hinsicht einer Betrachtung wert. Einerseits spiegelt sich in ihnen die besondere Beziehung Greifswalds und seiner Universität zu Nordeuropa, mit dem enge geographische und historische Verbindungen bestehen,1 die wiederum die Identität der Universität maßgeblich mitbestimmen. Andererseits steht uns mit den Auslandsinstituten eine Einrichtung gegenüber, die nicht nur als interdisziplinäre Forschungseinrichtung an der Greifswalder Universität, sondern auch als preußisches Zentralinstitut für die wissenschaftliche Erforschung Nordeuropas eine gewisse Einzigartigkeit reklamieren kann. Der folgende Beitrag will die Entstehung der für die Zeit des Nationalsozialismus maßgeblichen Organisationsform der Nordischen Studien in Greifswald darstellen und danach einige zentrale Entwicklungen nachzeichnen, die für eine Charakterisierung dieser Studien während des Nationalsozialismus notwendig scheinen. Neben der Frage nach der Entwicklung von Forschung und Lehre in dieser Zeit ist dies v.a. die Zu- bzw. persönliche Mitarbeit für staatliche, militärische und Parteistellen, insbesondere die Einbindung in den Arbeitskomplex der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft. Dabei werden viele Entwicklungen nur grob angerissen werden können.

Vorgeschichte

Wenngleich die Nordischen Auslandsinstitute in ihrer institutionellen Form und der speziellen Dynamik, die sie entfalten konnten, ein Produkt des Jahres 1933 und der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ sind, hat ihr wissenschaftliches Programm und große Teile ihres Personalbestandes seinen Ursprung im späten Kaiserreich und der Weimarer Republik. Der Gründung des Nordischen Instituts der Universität Greifswald liegt eine von Carl Heinrich Becker, damaliger Staatssekretär im Preußischen Kultusministerium, verfasste und im Januar 1917 vom preußischen Abgeordnetenhaus goutierte Denk1

Hierzu siehe z.B. Ivar Seth, Die Universität Greifswald und ihre Stellung in der schwedischen Kulturpolitik 1675–1815, Greifswald 1956.

Die Nordischen Auslandsinstitute

225

schrift zugrunde, in der die Einrichtung auslandskundlicher Forschungszentren an preußischen Universitäten angeregt wurde. Die Denkschrift schloss an Diskussionen um die Notwendigkeit einer staatlich geförderten Außenkulturpolitik an, die bereits seit den 1890er Jahren andauerten. Diese drehten sich vorrangig um die Frage, wie der gestiegenen wirtschaftlichen, militärischen und diplomatischen Bedeutung des Reiches eine entsprechende kulturelle Anziehungskraft hinzugefügt werden könne, wie sie etwa die britische oder französische Kultur ausübten. Darüber hinaus galt es, in der breiten Öffentlichkeit ein Interesse für Fragen des Auslandes zu wecken und zumindest den akademischen, gebildeten Schichten ein grundlegendes Verständnis ausländischer Belange und Befindlichkeiten zu vermitteln. Um ein möglichst breites Publikum zu erreichen, sah Beckers Denkschrift die Verteilung regionaler Schwerpunkte auf verschiedene Hochschulen vor.2 Dass als preußisches Zentrum für die Bearbeitung des nordeuropäischen Raumes ausgerechnet Greifswald ausgewählt wurde, hatte weniger mit einer bereits existierenden wissenschaftlichen Infrastruktur als eher mit der geographischen Lage und den historischen Verbindungen nach Skandinavien zu tun. So musste mit dem Sprachlektor Wolf von Unwerth und dem Geographen Gustav Braun erst qualifiziertes Personal berufen werden, bevor im Sommer 1918 eine offizielle Einweihung des Instituts erfolgen konnte. Dabei verfügte das Institut außer einem Assistenten über kein eigenes Personal, so dass nur solche Professoren in den Vorstand berufen werden konnten, die bereits an der Universität amtierten. Damit ergab sich aber eine Disparität zwischen jenen Mitgliedern, die sich genuin für nordische Themen interessierten, und solchen, die aufgrund ihrer Fachvertretung vom Ministerium zur Mitarbeit aufgefordert worden waren. Letztere ließen häufig neben elementaren Sprachkenntnissen auch jedes Interesse am Thema vermissen,3 was häufig zu Irritationen bei den 2

3

Zur Gründung des Nordischen Instituts siehe Rainer Höll, Die Nordeuropa-Institute der Universität Greifswald von 1918 bis 1945. Mit vergleichenden Betrachtungen zur Greifswalder Nordeuropaforschung nach 1945, Greifswald 1997, S. 4–7 sowie Marco Nase, Johannes Paul und das Schwedische Institut der Universität Greifswald 1933–1945, unv. Magisterarbeit Greifswald 2009 (eine Veröffentlichung ist geplant). Aktenmäßig dokumentiert ist diese Phase v.a. in: Universitätsarchiv Greifswald (künftig: UAG), Altes Rektorat R 186, sowie Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (künftig: GStA PK), Sekt. 7 Tit. X Nr. 58. In einem interdisziplinären Forschungszentrum ließ sich kaum so etwas wie eine Karrierestruktur aufbauen, da jede Weiterberufung die am Nordischen Institut erworbenen Meriten entwertete. Nur in wenigen Fächern, wie etwa Geschichte, Germanistik oder Geographie konnte eine derartige Spezialisierung zu einem Karrierevorteil werden. Dies spiegelt sich auch in Anzahl und Fächerwahl der Qualifikationsarbeiten, die zu nordeuropäischen Themen entstanden. Siehe die umfangreiche Übersicht in Fritz Meyen, Die nordeuropäischen Länder im Spiegel der deutschen Universitätsschriften 1885–1957 (= Bonner Beiträge zur Bibliotheks- und Bücherkunde; Bd. 4), Bonn 1958.

226

Marco Nase

„Experten“4 führte. Dass in den mageren Jahren nach dem verlorenen Weltkrieg die Mittel für das Greifswalder Projekt keineswegs reichlich flossen, verschärfte viele der vorhandenen Konflikte. Dies führte dazu, dass der seit 1921 amtierende Institutsdirektor Paul Merker5 1928 frustriert das Handtuch warf, nachdem alle seine Versuche, eine der Tätigkeit des Instituts angemessene Finanzierungsgrundlage zu schaffen, gescheitert waren.6 Einen anderen Ausweg aus der finanziellen Beschränkung fand der äußerst rührige Gustav Braun, der sich bereits 1921 mit einem Institut für Finnlandkunde selbständig gemacht hatte. Wiewohl an der Universität Greifswald angesiedelt, beruhte seine Tätigkeit primär auf Stiftungskapital aus der Wirtschaft, v.a. aus den Kreisen der Stettiner Reederschaft, was sich auch in den von ihm bearbeiteten Themen widerspiegelte.7 Merkers Nachfolger, der Germanist Leopold Magon, machte aus der finanziellen Not eine Tugend und beschränkte die Arbeit des Nordischen Instituts vorrangig auf ein akademisches Publikum. Den Bereich der Kulturpropaganda ließ er hingegen weitgehend unbearbeitet, was wiederum zu Auseinandersetzungen mit dem Assistenten des Instituts, dem Historiker Johannes Paul, führte. Paul hatte sich auf die kulturpolitische Bearbeitung Schwedens spezialisiert8 und 1927 einen Versuch gestar4

5

6

7

8

Hier sind neben dem bereits 1919 verstorbenen Wolf von Unwerth und Gustav Braun v.a. der Germanist Paul Merker und der Historiker Johannes Paul zu nennen, denen das wohlwollende Desinteresse ihrer Vorstandskollegen häufig Anlass zur Beschwerde gab. Als Nachfolger für den 1919 überraschend verstorbenen von Unwerth war der Philologe Werner Richter berufen worden, der sein Amt jedoch aufgrund seiner gleichzeitigen Tätigkeit im Kultusministerium in absentia ausübte. Merker war damit der erste Direktor des Nordischen Instituts, der tiefere Spuren hätte hinterlassen können. Für eine Übersicht über die Direktoren und Vorstandsmitglieder des Nordischen Instituts siehe Höll, Nordeuropa-Institute (wie Anm. 2), S. 31. Das anfänglich zugedachte Budget von 500 RM hatte sich von Anfang an als völlig unzureichend erwiesen, um etwa Korrespondenzen mit dem Ausland zu führen oder gar Auslandsreisen zuzulassen. Obwohl diese Summe peu à peu auf 2.000 RM erhöht wurde, wurde sie durch steigende Preise so schnell aufgefressen, dass von 1922 bis 1926 keine offizielle Dienstreise eines Vorstandsmitglieds in den Norden stattfinden konnte und häufig sogar der postalische Verkehr mangels Porto gefährdet war. Für eine Rekapitulation der desolaten Finanzlage siehe Merker an Rektor der Universität Greifswald vom 1.11.1927, in: UAG, Altes Rektorat R 186, Bl. 233–234. So beschäftigte sich Braun neben der Topographie des Ostseeraums vor allem mit wirtschaftsgeographischen Fragen. Für einen Überblick über die Entwicklung des Nordischen Instituts bis 1933 siehe Höll, Nordeuropa-Institute (wie Anm. 2), S. 7–19. Paul war durch verwandtschaftliche Beziehungen in Schweden über lange Zeit der einzige Vertreter des Nordischen Instituts, der Auslandsreisen nach Skandinavien durchführen konnte. Darüber hinaus verfügte er über ausgezeichnete Beziehungen v.a. zu konservativen Kreisen in Schweden. Auch in Greifswald war er im Sinne der schwedisch-deutschen Freundschaft tätig und gründete 1927 die Deutsche Vereinigung zum Studium Schwedens. Trotz seiner umfangreichen kulturpolitischen Arbeit, für die er 1928 den schwedischen Nordstjärna-Orden erhielt,

Die Nordischen Auslandsinstitute

227

tet, ein eigenes Schwedisches Institut auszugründen. Allerdings war er im Vorstand gestoppt worden9 und unter Magon waren derartige Vorstöße ohne Aussicht auf Erfolg. Wenngleich Erwägungen zum eigenen akademischen Fortkommen bei Paul sicher auch eine Rolle gespielt haben mögen, war die administrative Ausgestaltung auch immer an die Frage nach Sinn und Zweck des Instituts gebunden. Bereits in der Findungsphase des Instituts hatte Gustav Braun sich für eine Aufteilung des Instituts entlang der skandinavischen Ländergrenzen eingesetzt, während der damals amtierende Direktor, der Theologe Gustaf Dalman, eine Aufteilung, wenn überhaupt, nur anhand der akademischen Fächergrenzen akzeptieren wollte.10 Auf der einen Seite stand hier der außenkulturpolitische Auftrag, den zu erfüllen einfacher war, wenn man durch eigene Länderinstitute Rücksicht auf innerskandinavische Spannungen und natürlich auch auf die kleinen Eitelkeiten der einzelnen Länder nehmen konnte, zumal das Institut über weite Strecken auf skandinavische Spenden angewiesen war. Auf der anderen Seite stand der wissenschaftliche Auftrag, demgemäß die Einheit des Forschungsgegenstandes zu bewahren war. Entlang dieser Bruchlinie zwischen außenkulturpolitischer und wissenschaftsinterner Logik verlief auch der Graben zwischen Paul und Magon. Dass sich zwischen beiden auch noch konfessionelle Gegensätze auftaten11 und sich Pauls Aussichten auf eine akademische Karriere zunehmend verfinsterten, zerrüttete das Verhältnis endgültig.12

Die Einrichtung der Nordischen Auslandsinstitute

Als im Frühjahr 1933 mit der Reichskanzlerschaft Hitlers und dem Ermächtigungsgesetz die politische Bühne radikal im nationalsozialistischen Sinne umgestaltet wurde, führte dies auch in Greifswald zu einer fühlbaren Machtverschiebung. Die plötzgelang ihm jedoch bis 1933 kein nennenswerter akademischer Aufstieg. Siehe Nase, Johannes Paul (wie Anm. 2), S. 18–29. 9 Paul berichtet darüber in: Paul an Lundström vom 28.6.1927, Göteborgs Universitetsbibliotek (künftig GUB), handskriftavdelningen, 8:A:1:2–6 Vilhelm Lundströms brevsamling, unpag. 10 Siehe Höll, Nordeuropa-Institute (wie Anm. 2), S. 10. 11 Den Gipfelpunkt der Auseinandersetzung bildete die Einweihung des von Paul angeregten und von der Deutschen Gesellschaft zum Studium Schwedens zuwege gebrachten Gustav AdolfSteins in Peenemünde 1930. Als Katholik verweigerte Magon die Teilnahme an den Feierlichkeiten, brüskierte damit als Direktor des Nordischen Instituts aber auch seinen Assistenten. Siehe Nase, Johannes Paul (wie Anm. 2), S. 36f. 12 Paul war durch eine Gastprofessur in Riga 1930–1932 in den formellen Rang eines außerordentlichen nichtbeamteten Professors aufgestiegen, bekleidete aber nach wie vor die Stelle eines außerplanmäßigen Assistenten. Hierzu siehe Nase, Johannes Paul (wie Anm. 2), S. 29–42.

228

Marco Nase

liche Aufwertung der Nationalsozialisten, v.a. des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB), der in Greifswald die Studentenschaft spätestens seit 1930 dominierte,13 erlaubte der Studentenschaft für einige Zeit, die Personalpolitik auch auf der Ebene der Dozenten mitzubestimmen. Daher blieb es nicht ohne Folgen, dass Gustav Braun am 25. Februar 1933 den Antrag auf Verleihung der Ehrendoktorwürde an den Stettiner Reeder und Mäzen der Greifswalder Universität, Konsul Arthur Kunstmann, vor der Fakultät begründete. Kunstmann war ein wichtiger Förderer des Instituts für Finnlandkunde14 und, zum Verdruss der Studentenschaft, Jude. Wenngleich es den Studenten trotz lautstarker Einwürfe nicht gelang, Kunstmanns Ehrenpromotion zu verhindern, waren doch nun die Unterstützer der Initiative politisch suspekt.15 Braun, der an besonders exponierter Stelle für seinen Mäzen eingetreten war und sich durch seine selbstherrliche und autokratische Amtsführung weder unter seinen Untergebenen noch unter seinen Kollegen Freunde gemacht hatte,16 bekam den furor studenticorum als Erster zu spüren. Am 26. März 1933 erhob der Russischlektor Hermann Brüske Anschuldigungen gegen Braun, die ihm Untreue, Betrug, den Missbrauch von Institutseigentum und Devisenvergehen vorwarfen. Von studentischer Seite unterstützt und von Brauns Assistenten Wilhelm Hartnack mit Munition versorgt, brachen ihm diese Denunziationen das akademische Genick. Obwohl vor Gericht in zwei Instanzen freigesprochen, wurde er zum 28. Juli 1933 nach dem Berufsbeamtengesetz in den Ruhestand versetzt.17 Während Wilhelm Hartnack nunmehr als Professor das Geographische Institut übernahm, wurde das Institut für Finnlandkunde kommissarisch durch Brauns nichthabilitierten Assistenten Hans Grellmann vertreten. Dies schränkte die Wirkmöglichkeiten des Instituts erheblich ein. Auch Leopold Magon, der den Antrag zugunsten Kunstmanns lediglich unterschrieben hatte, blieb nicht verschont. Die Studentenschaft hatte bereits seit lan13 Als sich das Jahr 1933 anbahnte, stellte der NSDStB acht der dreizehn Mitglieder in der Kammer der Greifswalder Studentenschaft, die Stellenbesetzung innerhalb der Studentenschaft übernahm er mit seiner Zweidrittelmehrheit zur Gänze, siehe Herold Busch, Chronik der Greifswalder Studentenschaft 1933 bis 1939, Greifswald 1992, S. 2. 14 Siehe Liste der Stifter des Instituts für Finnlandkunde in Höll, Nordeuropa-Institute (wie Anm. 2), S. 34. 15 Siehe Thomas Stamm-Kuhlmann, Die Philosophische Fakultät von 1815 bis 1990, in: Dirk Alvermann, Karl-Heinz Spieß (Hg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456–2006, Bd. 1, Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006, S. 371- 473, hier S. 406ff. 16 Die Aktenbestände des Geographischen Instituts und des Instituts für Finnlandkunde dokumentieren Brauns regelmäßige Reibereien mit Kollegen und Untergebenen. 17 Siehe Stamm-Kuhlmann, Philosophische Fakultät (wie Anm. 15), S. 416f.

Die Nordischen Auslandsinstitute

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gem ein Interesse an nordischen Themen gezeigt und etablierte im Frühjahr 1933 ein Nordisches Amt der Studentenschaft, das seinen Dienstsitz im Obergeschoss des Nordischen Institutes hatte. Das Nordische Amt, unter Leitung des cand. phil. Günther Falk, verfügte auch über eine eigene Rubrik in der Greifswalder Universitätszeitung, die „Deutsch-Nordische Umschau“, die teilweise die Hälfte des Heftes ausmachte. Als nun der für das Wintersemester 1932/33 nach Schweden beurlaubte Schwedischlektor, der Sozialdemokrat Stellan Arvidson, sich in der Presse und bei öffentlichen Vorträgen kritisch gegenüber den Vorgängen in Deutschland aussprach, erzeugte dies ein Presseecho, das auch vom Nordischen Amt vernommen, gesammelt und Leopold Magon mit der Aufforderung zum sofortigen Handeln überreicht wurde. Magon, derart zur Jagd getragen, bat Arvidson um Stellungnahme zu dem Material, woraufhin dieser erklärte, er sähe keine Veranlassung mehr, seine Tätigkeit in Deutschland fortzusetzen. Dass das Kultusministerium ihm gleichzeitig die Kündigung aussprach, erledigte die Angelegenheit formell.18 Wenn Magon aber gehofft hatte, durch seine halbherzige Mitarbeit in der Causa Arvidson bereits rehabilitiert zu sein, irrte er. In der Ausgabe der Greifswalder Universitätszeitung vom 10. Mai 1933 erschien eine Zeitungsnotiz mit dem Titel „Was ist mit Lektor Arvidson?“, in der nur gering verhüllt Magon der Vorwurf gemacht wurde, von Arvidsons Ansichten gewusst und diese gebilligt zu haben. Gleichzeitig forderten die Autoren einen Führungswechsel an der Spitze des Nordischen Instituts.19 Der Artikel allerdings, der offenbar weitere Angriffe gegen Magon flankieren sollte, erschien zu spät. Bereits am 9. Mai hatte der Kurator Magon und den Vertreter der Studentenschaft, Jürgen Sönke, zu sich geladen, um eine Kompromisslösung wegen der Neubesetzung der Lektorenstelle auszuhandeln. Das erwies sich als schwierig, da Magon erklärte, am Vortage bereits telegraphisch einen neuen Lektor in Schweden angefordert zu haben. Auch Sönke konnte wenig Konstruktives zu einem Kompromiss beisteuern, da er tags zuvor in Berlin um die Versetzung Magons nach Kiel gebeten hatte. Als Alternative wünschte sich der NSDStB Johannes Paul, der wenige Tage zuvor auch in die SA eingetreten war. Auch der Kurator sah die Situation ähnlich wie die Studentenschaft. Schon wegen Magons katholischer Konfession habe man mit dessen Berufung einen „unbegreiflichen Missgriff“20 getan. Eine wichtige 18 Siehe Andreas Åkerlund, Mellan akademi och kulturpolitik. Lektorat i svenska språket vid tyska universitet 1906–1945 [Zwischen Akademie und Kulturpolitik. Lektorate der schwedischen Sprache an deutschen Universitäten 1906–1945] (= Studia Historica Uppsaliensis; Bd. 240), Uppsala 2010, S. 113–116. 19 „Was ist mit Lektor Arvidson?“, in: Greifswalder Universitätszeitung, 8 (1933), Nr. 3. 20 Bericht des Kurators an das Kultusministerium (betr. Magon) vom 11.5.33, UAG, Kurator K 628, Bl. 38.

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Verbindung mit dem Norden, die gemeinsame Religion, sei damit nicht nutzbar zu machen und das Institut während Magons Dienstzeit immer überraschend leblos gewesen. Dem Kurator gelang es, die veränderte politische Lage und deren Implikationen für die Greifswalder Nordeuropaforschung in einem einzigen Satz auf den Punkt zu bringen: „Wenn jetzt der nationalsozialistische Staat der Hochschularbeit über die scholastische Gelehrsamkeit hinaus weitergehende Aufgaben zuweist, wenn insbesondere das Nordische Institut nicht nur dem blutleeren Verkehr zwischen stillen Gelehrtenstuben in Greifswald und den nördlichen Nachbarländern dienen, sondern sein Direktor in Weltanschauungsgemeinschaft mit seinen Studenten auch auf lebendigste Fühlungnahme zwischen dem deutschen Volksleben und dem seiner nordischen Nachbarn hinarbeiten soll, wenn insbesondere in der gegenwärtigen Zeit wachsenden Auslandsmißtrauens gegen das neue Deutschland das Greifswalder Institut bei den vielen Freunden, die Deutschland in Schweden bisher hatte, für Verständnis und Freundschaft auch für dieses neue Deutschland werben soll, so ist, wie ich mich abschließend in den am 9. und 10. d.Mts. mit Professor Magon geführten Unterhaltungen überzeugte, Professor Magon für diese Aufgabe wohl nicht die geeignetste Persönlichkeit.“ 21

Diesem Votum, dem sich auch andere Hochschullehrer anschlossen,22 konnte Magon wenig entgegensetzen. Gleichzeitig musste jedoch der Eindruck einer rein politischen Personalrochade verhindert werden, zumal die Personalsituation in der Germanistik auch ein Ausscheiden Magons nicht wünschenswert erscheinen ließ. Am 15. Mai trafen sich Magon und Paul im Büro des Kurators, um über eine eventuelle Arbeitsteilung zu verhandeln. Am Ende dieses Prozesses stand die von Paul bereits seit langem ersehnte Aufteilung des Instituts entlang von Ländergrenzen. Die Nachfolge des Nordischen Instituts sollten hinfort das Schwedische, Dänische, Norwegische und Isländische Institut antreten. Ersteres sollte von Paul, die anderen von Magon geführt werden. Zusammen mit dem kommissarisch von Hans Grellmann geführten Institut für Finnlandkunde23 würden die fünf Institute als Nordische Auslandsinstitute der 21 Bericht des Kurators an Kultusministerium (betr. Magon) vom 11.5.33, UAG, Kurator K 628, Bl. 39. 22 Der Kurator nennt namentlich den Theologen Prof. Hermann Wolfgang Beyer, ohne hingegen zu erklären, weshalb dieser nun Pauls oder Magons Qualifikationen in irgendeiner Weise hätte bewerten können, siehe Bericht des Kurators an Kultusministerium (betr. Magon) vom 11.5.33, UAG, Kurator K 628, Bl. 39v. 23 Hans Grellmann blieb bis 1945 kommissarisch im Amt. Angesichts der Schwierigkeit, überhaupt Forscher zu finden, die sich mit Finnland befassten, war dies wenig überraschend.

Die Nordischen Auslandsinstitute

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Universität Greifswald firmieren. Diese Lösung hatte einerseits den Vorteil, der Personalsituation Rechnung zu tragen, da Magon weiterhin amtieren konnte, während Paul in eine verantwortliche Position gehievt wurde. Andererseits spielte die Umgestaltung auch der von ministerieller und studentischer Seite geforderten außenkulturpolitischen Ausrichtung des Instituts in die Hände. Der Vorstand,24 dessen Votum zu dieser Regelung zwar formal einholt wurde, dessen Stimme jedoch wenig Gewicht hatte, wurde auf Betreiben des Kurators aufgelöst und stattdessen durch einen geschäftsführenden Direktor ersetzt, der jährlich wechseln sollte.25 Tatsächlich war es mit der alternierenden Postenvergabe nicht weit her. Die Direktorenfrage, wiewohl untergeordnet, da die Institute weitgehend autonom agieren konnten, entwickelte sich zu einem Gradmesser der Machtverhältnisse an der Universität. Als der dienstältere der beiden in Frage kommenden Direktoren übernahm Magon als Erster den Direktorenposten und übergab ihn 1934 turnusgemäß an Paul. Danach kam nie wieder jemand auf die ursprüngliche Regelung zu sprechen. Erst im Dezember 1938 übernahm Magon wieder den Posten und behielt ihn bis 1945. Zuvor hatten sich Rektor Reschke und die Professoren Wilhelm-Kästner und Metzner beim Reichserziehungsministerium für Magon eingesetzt, mit dem Bemerken, frühere Vorwürfe gegen Magon wegen eventueller zentrumsmäßiger Betätigung seien haltlos: „Charakterlich ist Magon einwandfrei. Wissenschaftlich stehen seine Leistungen über Professor Paul‘s [sic!].“26 Trotz eines vorhergehenden negativen Votums vom Amt Rosenberg27 war die Versicherung einflussreicher Greifswalder Ordinarien hier offenbar gewichtiger als die Meinung des NS-Dozentenbundes. In der Situation von 1933 jedoch waren die Machtverhältnisse klar verteilt und spiegelten sich auch in der finanziellen Ausstattung der einzelnen Institute wider. 24 Zu diesem Zeitpunkt bestehend aus: Gustav Braun (Geographie), Wilhelm Kähler (Nationalökonomie), Hans Glagau (Geschichte), Adolf Hofmeister (Geschichte), Wolfgang Stammler (Germanistik), Friedrich Krüger (Physik), Sten Bodvar Liljegren (Anglistik) und Leopold Magon (Germanistik). 25 Der Kurator hatte angemahnt, ein kollegiales Gremium passe nicht mehr in die Zeit und wäre nur geeignet, die „Verantwortungsfreudigkeit“ der Institutsleitung zu lähmen; siehe Kurator der Universität Greifswald an Kultusministerium, betr. Vorschläge zur Neuregelung des Nordischen Instituts vom 15.6.1933, UAG, Kurator K 628, Bl. 45–46. 26 Rektor der UG Karl Reschke an das Reichserziehungsministerium (REM) vom 11.11.1938, UAG, Altes Rektorat R 190, Bl. 69. Die Tatsache, dass der Entschluss zur Ablösung Pauls in so kurzer Zeit gefasst worden ist (zwischen dem Brief des Rektors und der offiziellen Ablösung Pauls am 1.12.1938 vergingen nur zweieinhalb Wochen), lässt den Verdacht zu, dass konkrete Ereignisse eher als grundsätzliche Erwägungen eine Rolle gespielt haben. 27 Magon wurde vor allem vorgeworfen, ein Zentrumsmann zu sein und enge Verbindungen mit seinem Schwiegervater, Leo Schwering, zu halten. Siehe Hauptstelle Kulturpolitisches Archiv an NS-Dozentenbund vom 2.2.1938, BArch, NS 15/36.

232

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Wenn der Kurator Pauls finanzielle Forderungen als „nicht unbescheiden“28 bezeichnete, war dies noch wohlwollend formuliert. Obwohl er nur einem einzigen der Nordischen Auslandsinstitute vorstand, konnte Paul für sein Institut doch nahezu die Hälfte des nun auch noch erhöhten Gesamtetats reklamieren.29 An dieser Stelle sei ein kurzer Exkurs erlaubt, um die oben beschriebenen Vorgänge in den richtigen Kontext zu rücken: Das Gebäude des Instituts in der Stralsunder Straße 11, wo das Institut seit 1929 residierte, war schon seit einigen Jahren als ungenügend moniert worden, und 1933 erfolgte, pünktlich zur Aufspaltung der Institute, der Umzug in das Haus Ecke Roonstraße/Pommerndamm (heute: Ecke Breitscheidstraße/Rudolf-Petershagen-Allee, Sitz des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung). Das Gebäude war bis dahin der Wohnsitz des Theologieprofessors Theodor von der Goltz gewesen und wurde im Frühjahr des Jahres 1933 von der Universität angekauft. Der Grund hierfür lag in von der Goltz’ bedenklicher Überschuldung, die dem Ansehen der Universität zu schaden drohte. Im Winter 1932 schlug daher der Vorstand des Nordischen Instituts, vermutlich unter Federführung Gustav Brauns, vor, das für von der Goltz viel zu teure Haus aufzukaufen, ihn so von seinen Geldnöten zu befreien und für das Nordische Institut ein angemessen repräsentatives Gebäude zu beschaffen. Da andere Immobilienprojekte Vorrang hatten, war dieser Ankauf nur möglich, weil es Braun gelang, Arthur Kunstmann zur Übernahme des Großteils der Kaufsumme zu bewegen.30 Es ist ausgesprochen wahrscheinlich, dass der Antrag auf Verleihung der Ehrendoktorwürde an Kunstmann in direktem Zusammenhang mit dieser nicht unerheblichen finanziellen Beihilfe stand und damit indirekt zum Schicksal Brauns beitrug. Dass er selbst in Untersuchungshaft saß, während das Gebäude von seinen Nachfolgern bezogen wurde, darf als einer jener Treppenwitze vermerkt werden, von denen die Geschichte nicht frei ist.

28 Kurator der Universität Greifswald an Kultusministerium, betr. Vorschläge zur Neuregelung des Nordischen Instituts vom 15.6.33, UAG, Kurator K 628, Bl. 45f. 29 Der Gesamtetat betrug 2.300 RM, wovon Paul 600 RM plus die vom Ministerium extrabudgetär zugewiesenen 350 bis 400 RM erhielt. Hinzu kam eine weitere Schreibkraft für 1.200 RM, wie sie dem Institutsdirektor auch zustand, sowie weitere 700 RM für sächliche Aufwendungen und ein persönlicher Reisefond für Paul. Damit standen beiden Professoren jeweils 1.700 RM zur Verfügung. Dem Institut für Finnlandkunde verblieben seine bisherigen Bezüge und sein außerplanmäßiger Assistent. Siehe Kurator der Universität Greifswald an das Kultusministerium, betr. Vorschläge zur Neuregelung des Nordischen Instituts, 15.6.33, UAG, Kurator K 628, Bl. 45f. 30 Der Vorgang ist dokumentiert in UAG, Kurator K 1707, v.a. in Kurator der UG an Kultusminister, 28.12.1932, ebd. Bl. 12–15.

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Wie viel Paul selbst zum Sturz seiner verhassten Vorgesetzten Magon31 und Braun32 beigetragen hat, ist im Nachgang nicht zu klären. Den Verdacht, dass Paul tatsächlich der Drahtzieher hinter der Palastrevolte war, hatte bereits Magon geäußert.33 Jedenfalls verfügte Paul über die nötigen Verbindungen zur Studentenschaft, wo er Alter Herr des Vereins Deutscher Studenten war und Arbeitskreise zur Volkstumspolitik und zu nordischen Themen leitete. Auch dass er sich vor dem Ausbruch der eigentlichen Angriffe gegen Magon bereits gegenüber seinem Freund Vilhelm Lundström in kryptischen Referenzen erging, Magon sei hochschulpolitisch kaltgestellt,34 gibt klare Indizien, dass Paul genau wusste, was hinter den Kulissen vor sich ging. Dies nährt den Verdacht, er selbst sei daran nicht restlos unbeteiligt gewesen. Mit der Umgestaltung des Nordischen Instituts war ein wichtiger Schritt hin zu einer aktiven außenkulturpolitischen Arbeit getan. Einerseits war durch die institutionelle Autonomisierung der Länderabteilungen eine Einteilung des Forschungsgegenstandes geschehen, die sich an politischen Linien eher orientierte als an sprachlichen oder historischen. Andererseits war im Zuge des Umgestaltungsprozesses klar geworden, dass von ministerieller Seite aus wie auch von den lokalen NS-Organisationen, allen voran dem NSDStB, eine Abkehr von der reinen akademischen Beschäftigung mit dem Norden hin zu einer stärkeren politischen Rolle gewünscht und mandatiert war.

Forschung und Lehre an den Nordischen Auslandsinstituten

Der Bereich, in dem diese neue Rolle sich noch am wenigsten niederschlug, war der von Forschung und Lehre. Ein dramatischer Wandel in der Ausrichtung der Lehre ist 31 Noch aus dem Jahre 1938 ist ein Briefwechsel erhalten, in dem Magon und Paul am Rande eines Duells stehen. Die Abneigung zwischen beiden war offenbar sogar bis in die Familien durchgesickert; siehe Magon an Paul vom 10.2.1938 sowie Paul an Magon vom 20.2.1938, Deutsches Historisches Museum (künftig: DHM), Dokumentensammlung, Nachlass Johannes Paul. 32 Bis zum Umzug des Nordischen Instituts in die Stralsunder Straße 11 im Jahre 1928 musste Paul seine Assistententätigkeit in den von Braun verwalteten Räumen der Domstraße 14 verrichten, wo er hinreichend Gelegenheit hatte, sich mit dem in feudaler Manier regierenden Braun zu zerstreiten. Siehe etwa Schreiben der Privatdozenten Paul und Geisler an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 18.2.1922, DHM, Dokumentensammlung, Nachlass Johannes Paul. 33 Siehe Bericht des Kurators an Kultusministerium (betr. Magon) vom 11.5.33, UAG, Kurator K 628, Bl. 39v. 34 Unter anderem: „Jag blir, som du anar, antagligen ej tillfrågad av Magon; men han har f.t. ej mycket att såga [vermutlich: säga, Anm. d. Verf.]” („Ich werde, wie Du ahnst, wahrscheinlich nicht von Magon um Rat gefragt, aber der hat z.Zt. sowieso nicht viel zu sagen“; Paul an Lundström vom 26.4.1933, GUB, Vilhelm Lundströms brevsamling.

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so z.B. nicht zu konstatieren und angesichts der Quellenlage, die von Übungen und Vorlesungen nur den Titel dokumentiert, wäre es auch schwierig, hier weitgehende Schlüsse zu ziehen. Gleichwohl lässt sich zumindest ein gradueller Wandel der Vorlesungskultur am Vorlesungsverzeichnis ablesen.35 So plante Paul etwa bereits zum Wintersemester 1933/34 eine Vorlesung zu „Nordischen Führergestalten“, die allerdings ausfallen musste. Im darauffolgenden Semester versuchte sich der Theologe Wilhelm Koepp am Thema „Nordischer Glaube und deutscher Christenglaube“. Der Prähistoriker Wilhelm Petzsch bot die Veranstaltungen „Urgeschichte der Germanen“ und im Sommersemester 1937 „Die nordische Rasse als Gestalterin des deutschen Lebensraumes“ an. Der Trend, immer mehr Vorlesungen mit germanischen und altnordischen Themen zu halten, hat dabei noch gar nicht die Relevanz, die man ihm auf den ersten Blick zuschreiben würde. Da die Nordischen Auslandsinstitute nur in Form ihrer Direktoren und der Sprachlektoren über ein festes Lehrpersonal verfügten, war es schon früher üblich, dass Veranstaltungen anderer Hochschullehrer, sofern diese sich mit nordischen Inhalten befassten, im Vorlesungsverzeichnis des Nordischen Instituts und danach der Nordischen Auslandsinstitute auftauchten. Insofern mag diese „Aufnordung“ der Vorlesungsthemen eher eine Tendenz in anderen Instituten, hier v.a. der Ur- und Frühgeschichte, widerspiegeln, die ihre germanischen kurzerhand zu nordischen Themen umdefinierten. Auch Theologen und Juristen scheinen, soweit sich dies mit dem gegebenen Quellenmaterial nachvollziehen lässt, ein verstärktes Interesse an nordischen, v.a. aber germanischen Fragestellungen entwickelt zu haben, wenngleich das Auftauchen ihrer Veranstaltungen in den Plänen der Nordischen Auslandsinstitute stärkeren Schwankungen unterworfen ist als das der Prähistoriker. Bei dieser Diagnose bleibt jedoch auf die Unregelmäßigkeit der auswärtigen Lehrveranstaltungen hinzuweisen, weshalb sich eventuelle Trends nur sehr unscharf nachzeichnen lassen. Gleichzeitig lässt sich eine Bewegung erkennen, die eine dritte, für die Zeit des Nationalsozialismus spezifische, Interpretation des institutionellen Auftrags der Nordischen Auslandsinstitute anbot. In dieser Lesart stand nicht mehr die Erforschung und/oder Beeinflussung der skandinavischen Länder im Vordergrund, sondern die Beschäftigung mit dem Norden wurde zu einer affirmativen Selbstschau, zur Betrachtung des Nordens als das bessere 35 Für einen Überblick über die Lehrveranstaltungen im Rahmen des Nordischen Instituts/Nordische Auslandsinstitute siehe die verdienstvolle Arbeit von Höll, Nordeuropa-Institute (wie Anm. 2), S. 35–43. Neben den ganz klar als Veranstaltungen im Rahmen der Nordischen Auslandsinstitute markierten Vorlesungen und Seminaren werden in diesem Artikel natürlich auch Lehrveranstaltungen berücksichtigt, die von den Institutsdirektoren an ihren jeweiligen Instituten gehalten wurden. Diese finden sich in den Personal- und Vorlesungsverzeichnissen der Universität Greifswald 1933–45, aufbewahrt im UAG.

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Selbst der Deutschen, ein pädagogisches Objekt zur Erziehung eines neuen deutschen Nationalgefühls. Da diese Bewegung primär aus der Vor- und Frühgeschichte kam, blieb sie institutionell für die Nordischen Auslandsinstitute ohne Folgen, färbte aber durchaus auch auf dessen Aktivitäten ab.36 Eine eigenartige Entwicklung lässt sich verfolgen, wenn man in den Vorlesungsverzeichnissen nach Johannes Pauls Lehrveranstaltungen sucht. Wenngleich sich die Titel seiner Veranstaltungen in den ersten Jahren des Nationalsozialismus nicht wesentlich veränderten, scheint sich bei ihm der Hang zur Politisierung des Unterrichts ab 1937 endgültig Bahn gebrochen zu haben. Nach einer Vorlesung zum „Auslandsdeutschtum als politischem Faktor“ und einem Seminar zur Kolonialpolitik im Sommersemester 1937 begann er im Wintersemester 1937/38 eine Vorlesungsreihe namens „Feinde des Reiches“, die zum Wintersemester 1938/39 mit „Feinde des Reiches III (Juden und Freimaurer)“ abschloss. Auch in den folgenden Semestern setzte sich die Wahl politisch aufgeladener Vorlesungen fort. Titel wie „Ostseefragen der Gegenwart“ (Sommersemester 1939), „Einkreisungspolitik“ (Wintersemester 1939/40), „Das politische Kräftespiel in Nord- und Osteuropa seit dem Weltkrieg“, „See- und Handelsgeschichte im nordeuropäischen Raum“ (beide 1. Trimester 1940), „Deutschland und England“ (zusammen mit Hermann Christern) (2. Trimester 1940), „Die Staatenwelt des Ostseeraums seit dem Weltkrieg“ (1. Trimester 1941), „Geschichte des neugriechischen Staates“ (Sommersemester 1941) und „Kriegsvorbereitungen unserer Gegner“ (Wintersemester 1941/42)37 geben, selbst wo ein quellengestützter Blick in das direkte Seminargeschehen nicht möglich ist, einen Eindruck von der „politischen“ Lehre im Historischen Institut. Die meisten dieser Entwicklungen sind dabei keineswegs solche, die erst 1933 begannen. Pauls Angewohnheit, die politischen Fragen seiner Zeit – so wie er sie sah – in seiner Lehre mitzudenken, war lange etabliert.38 Auch die Teilnahme der Ur- und Frühgeschichte am Veranstaltungskalender des Nordischen Instituts wurde bereits in der Weimarer Zeit praktiziert, wenn auch hier die Frequenz deutlich gerin36 So kann hier etwa auf die Ausstellung schwedischer Volkskunst und altschwedischer Bauernutensilien in der Veranda der Nordischen Auslandsinstitute hingewiesen werden, deren akkadisches, Blut-und-Boden-seliges Bild von Schweden herzlich wenig mit der Realität des sozialdemokratischen Schwedens der 1930er und 40er Jahre zu tun hatte. Siehe „Geschenke aus dem Norden“, in: Greifswalder Zeitung vom 4.1.1936, UAG, Kurator K 636, Bl. 74. 37 Es darf aufgrund von Pauls Einberufung am 21.4.1941 (vgl. UAG, PA 248, Bl. 29) davon ausgegangen werden, dass dieses Seminar ausfiel. 38 Vgl. Nase, Johannes Paul (wie Anm. 2), S. 132–135 für eine Übersicht über Pauls Lehrveranstaltungen. Auch Pauls Reiseberichte an das Preußische Kultus-, und später das Reichserziehungsministerium sprechen Bände über sein politisches Bewusstsein; siehe Nase, Johannes Paul (wie Anm. 2), S. 26f.

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ger war, nicht zuletzt aufgrund der schwachen personellen Ausstattung dieses Faches vor 1933. Gerade im Bereich der Lehre lässt sich vielleicht am einfachsten zeigen, dass der Nationalsozialismus an den Hochschulen viele Entwicklungen eher ermöglicht und unterstützt als tatsächlich geschaffen hat. So lässt sich etwa bei Magon, der schon durch die Ereignisse von 1933 dem Nationalsozialismus mit einer gewissen Skepsis begegnete, eine ernsthafte Veränderung der Vorlesungskultur nicht erkennen. Der Versuch, die laufende Forschung an den Nordischen Auslandsinstituten nachzuvollziehen, sieht sich größeren Hindernissen gegenüber. Dies hat seinen Grund primär darin, dass die Akten der Nordischen Auslandsinstitute 1945 zum größten Teil einer „Kaminarchivierung“ unterzogen wurden.39 Wenngleich sich viele Vorgänge aus den Akten anderer Bestandsbildner, v.a. dem Kurator und Rektorat, nachvollziehen lassen, waren es gerade die Forschungsvorhaben, die nur in sehr geringem Umfang mit der Universitätsleitung abgestimmt wurden. Hinzu kommt, dass in den gängigen Bibliographien und Katalogsystemen v.a. Monographien, aber nur zu einem geringeren Teil Aufsätze in Sammelbänden erfasst sind. Da sich episodisch aus den Akten eine verstärkte Publikationstätigkeit in Zeitungen und Zeitschriften sowie eine ausgedehntere Vortragstätigkeit ablesen lässt, deren Umfang und genaue Zusammensetzung sich aber nicht ernsthaft bestimmen lässt, bleibt auch hier, wie im Fall der Lehre, eine umfängliche Grauzone bestehen, auf die es hinzuweisen gilt. Bei der Betrachtung der an den Nordischen Auslandsinstituten stattfindenden Forschung fallen dreierlei Entwicklungen ins Auge, die hier kurz skizziert seien: Die erste und vielleicht offensichtlichste ist das Ausbleiben größerer Publikationen von Seiten der Institutsdirektoren. Zwar gelang es Hans Grellmann zwischen 1933 und 1945, ein kleines Büchlein fertigzustellen,40 doch weder Magon noch Paul brachten während dieser zwölf Jahre eine nennenswerte eigenständige Monographie zustande. Dies lag, wie alle drei vor 1933 bewiesen hatten, nicht an ihrer mangelnden Fähigkeit, auch größere Arbeiten fertigzustellen. Vielmehr scheint es, dass ihre Publikationstätigkeit, wie oben angedeutet, sich auf unmittelbarere Publikationsformen wie Artikel und Vorträge verlagerte, die mit den gängigen Katalogsystemen schwer zu erfassen sind. Es lässt sich vermuten, dass diese Verschiebung auch einen Bedeutungswandel innerhalb der akademischen Zunft widerspiegelte. Eigenständige Monographien, die den Ertrag langjähriger Forschung einem Fachpublikum präsentierten, wurden zurückgestellt zugunsten der Beteiligung an fach- und allgemeinpolitischen Debatten einerseits, sowie der Information eines breiter gefassten, häufig auch nichtfachmännischen Publikums andererseits. 39 Magon hatte beim Anrücken der Roten Armee auf Anweisung von Rektor Engel die laufenden Akten der Nordischen Auslandsinstitute verbrannt, siehe Magon an Kurator der Universität Greifswald vom 3.12.1945, UAG, Kurator K 636, Bl. 531. 40 Hans Grellmann, Finnland (= Kleine Auslandskunde; Bd. 25/26), Berlin 1943.

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Die zunehmende Verschmelzung wissenschaftlicher und politischer Tätigkeit – vom Nationalsozialismus als „kämpferische Wissenschaft“ positiv umgedeutet – geschah noch deutlich stärker ausgeprägt beim wissenschaftlichen Nachwuchs. Dieser fand v.a. am Schwedischen Institut sein Betätigungsfeld, wo Johannes Paul etwa mit Günther Falk und Heinz Krüger über zwei Doktoranden verfügte, die als hochrangige NS-Studentenfunktionäre dieses Programm glaubwürdig vertreten konnten. Falk etwa plante, seine akademischen Meriten mit einer Arbeit zur Rezeption der nationalsozialistischen Machtergreifung in der schwedischen Presse zu verdienen – ein Projekt, das trotz seiner politischen Wichtigkeit nie fertig wurde.41 Auch das Promotionsvorhaben der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Rosemarie Schwarz über die schwedischen Jugendbünde, die sie als BDM-Führerin natürlich besonders interessierten, wurde durch die hohe Arbeitsbelastung nie beendet.42 Heinz Krügers Doktorarbeit über die Geschichte des Dorfes Groß Sabow, die immerhin eingereicht wurde, kam zwar etwas weniger tagespolitisch daher, schloss sich aber an das politische Programm der Volks- und Bodenforschung an, die ihr höchstes Anliegen darin sah, deutsche Ansprüche in Osteuropa wissenschaftlich zu untermauern.43 Eine dritte Entwicklung, die auf den ersten Blick etwas befremdlich anmuten mag, war eine verstärkte Hinwendung zur Pommernforschung, wobei sich die Signifikanz dieser Entwicklung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vollständig bestimmen lässt. Fest steht aber, dass etwa Leopold Magon zwischen 1934 und 1945 als Herausgeber der Zeitschrift „Pommernforschung“ fungierte, die die Vorarbeiten zu einem pommerschen Wörterbuch unterstützen sollten. Dieses Projekt ließ sich so gar nicht mit seinen vorhergehenden Forschungsinteressen in Deckung bringen. Viel eher war dies noch mit seiner Vortragsreihe zu Ernst Moritz Arndt möglich, die er zusammen mit Paul Hermann Ruth und Erich Gülzow durchführte und 1944 noch veröffentlichte.44 Gleichzeitig entdeckte auch Johannes Paul sein Interesse an seiner neuen Heimat: 1935 reichte er eine Projektskizze ein, die eine gemeinsam mit Volks- und Rassekundlern durchzuführende Untersuchung zur Geschichte Schwedisch-Pommerns anregte. 41 Falk erlitt, nachdem er sich 1939 aus der politischen Arbeit etwas zurückgezogen hatte, um sich seiner wissenschaftlichen Ausbildung zu widmen, einen Verkehrsunfall, der ihn für einige Zeit außer Gefecht setzte. Bis zum Ende des Krieges erhielt er die Doktorwürde nicht mehr. 42 Siehe Krüger an NOFG vom 26.8.1943, BArch, R 153/1185. 43 Heinz Krüger, Geschichte des Dorfes Groß Sabow. Das Schicksal eines ostdeutschen Kolonisationsdorfes (= Pommern einst und jetzt; Bd. 2), Greifswald 1938; zur Volks- und Bodenforschung siehe Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 143), Göttingen 2000. 44 Paul Herrmann Ruth, Leopold Magon, Erich Gülzow, Ernst Moritz Arndt. Ursprung, Wesen, Wirkung. Drei Vorträge an den Arndttagen der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald vom 19.–24. Juli 1943, Greifswald 1944.

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Im Mittelpunkt sollte die Frage stehen, wie viele Vorpommern schwedisches Blut in ihren Adern hätten, eine Erkenntnis, so Paul, die sicher auch in Schweden mit großem Interesse aufgenommen werden würde.45 Aus dem Projekt, das er zusammen mit dem Vererbungswissenschaftler Günther Just und dem Leiter des Volkskundlichen Archivs für Pommern, Karl Kaiser, eingereicht hatte, wurde zwar nichts, doch gab Paul noch einige Jahre später der schwedischen Presse zu wissen, der Anklamer Flugpionier Otto Lilienthal sei Nachfahre eines schwedischen Soldaten namens Liljedal gewesen.46 Das Institut für Finnlandkunde hingegen hatte bereits seit seiner Gründung, nicht zuletzt aufgrund seiner Finanzierung durch die Stettiner Kaufmannschaft, wirtschaftsgeographische Fragen des Ostseeraums und Pommerns behandelt. Wenn auch Grellmann diese Fragen als Literaturwissenschaftler nicht hinreichend bearbeiten konnte, so versicherte er doch dem Rektor, das Geographische Institut bei derartigen Arbeiten zu unterstützen.47 Woher dieses plötzliche Interesse an Pommern kam, das sich zumindest bei Paul zu einer lebenslangen Leidenschaft ausbildete,48 ist unklar. Ein Zusammenhang mit der 1936 auf Weisung des Reichsministers Kerrl eingerichteten Arbeitsgemeinschaft Raumforschung,49 in der in Greifswald vor allem pommersche Fragen zu behandeln waren, ist plausibel, aber unbewiesen.

Beziehungen zum Ausland

Im Rahmen des von Seiten des Ministeriums und der Universitätsleitung erteilten Mandats zur Ausweitung der kulturpolitischen Rolle der Institute – verbunden mit entsprechenden Erwartungen – rückten anstelle von Arbeiten zur akademischen Weiterqualifikation nun Tätigkeiten, die vorher entweder gar nicht oder nicht in dem Umfang in den Arbeitsbereich der Nordeuropaforscher gefallen waren. Diese Tätigkeiten spiegelten im Großen und Ganzen die selbstgewählte Rolle als Scharnier zwischen Skandinavien und dem Reich wider, wie sie das Nordische Institut auch schon vor 1933 für sich gesehen hatte. Dazu gehörte in erster Linie die 45 Siehe Brief von Paul an den Dekan (mit zweiseitigem Exposee) vom 6.6.1935, UAG, PA 248, Bd. 2, Bl. 31–33. 46 Siehe Übersetzung: „Flieger Lilienthal. Abkömmling des Soldaten Liljedahl?“, in: Stockholms Tidningen vom 23.7.1937, UAG, Kurator K 636, Bl. 186. 47 Siehe Grellmann an Rektor vom 3.3.1936, UAG, Institut für Finnlandkunde 118, Bl. 20. 48 Hierzu siehe Marco Nase, Paul, Johannes, in: Dirk Alvermann, Nils Jörn (Hg.), Biographisches Lexikon für Pommern, Bd. 1 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern; Reihe V: Forschungen zur pommerschen Geschichte; Bd. 48.1), Köln 2013, S. 212ff. 49 Rundschreiben des Rektors der Universität Greifswald vom 28.2.1936, UAG, Institut für Finnlandkunde 118, Bl. 19.

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Fühlungnahme mit nordischen Gelehrten, die besonders in den ersten Jahren des Nationalsozialismus eine wichtige Aufgabe darstellte, galt es doch, große Mengen zerbrochenen Porzellans zu kitten.50 Eine Art, das zu tun, bestand in der öffentlichen Auszeichnung von Forschern, die sich dem Nationalsozialistischen Deutschland, wenn schon nicht an-, so doch zumindest nicht verschlossen. Die Spielräume hierfür waren allerdings begrenzt. Immerhin hatten die neuen Machthaber ihre Abneigung gegen die Verleihungen von akademischen Titeln ehrenhalber klar bekundet, weshalb auch die Universitätsleitung und das Ministerium Pauls Ansinnen ablehnten, Ehrenmitgliedschaften an seinem Institut zu verleihen.51 Eine Möglichkeit, deutschlandfreundliche Schweden akademisch herauszuheben und damit in ihrem Engagement für Deutschland sowie in ihrer Position im innerschwedischen Kontext zu stärken, bestand in der Auslobung von Gastdozenturen. 1933 wurde so der schwedische Major Max Schürer von Waldheim der erste Gastdozent, dessen Vorlesungen zur Seekriegsgeschichte sich offenbar bei den wehrkundlich interessierteren Studenten großer Beliebtheit erfreuten. Ihm folgten der Theologe Sigfrid von Engeström, der Kunsthistoriker Helge Kjellin und 1936 der Sprachwissenschaftler Nils Törnquist. Zwar wurde 1937 noch eine Gastdozentur für den Altphilologen Vilhelm Lundström52 beantragt, diese kam jedoch nicht zustande. Der Plan, den für 1938 eingeplanten Ethnologen Waldemar Ljungman mit der Gründung eines Instituts für Vergleichende Deutsch-Schwedische Volkskunde zu binden, wurde vom Ministerium abgelehnt. Fortan fand diese Form des wissenschaftlichen Austausches in Greifswald auch nicht mehr statt, wobei zu vermuten ist, dass die mit 600 RM jährlich doch recht üppige Bezuschussung der Gastdozenturen durch das Ministerium einfach zu wenig konkrete Ergebnisse brachte. Zwar waren alle Gastdozenten deutschfreundlich, wenn nicht gar pronazistisch, doch ihre Hauptfunktion bestand in der Unterstützung 50 Zum für Greifswald bedeutsamen deutsch-schwedischen Verhältnis während des NS siehe Axel Huckstorf, Internationale Beziehungen 1933–1939. Schweden und das Dritte Reich (= Europäische Hochschulschriften; Reihe III; Bd. 748), Frankfurt a.M. 1997 sowie zur deutschen Außenkulturpolitik gegenüber Schweden Birgitta Almgren, Drömmen om Norden – nazistisk infiltration i Sverige 1933–1945 [Der Traum vom Norden – Nationalsozialistische Unterwanderung in Schweden 1933–1945], Stockholm 2005. 51 Paul hatte sich u.a. für die Ernennung von Major Max Schürer von Waldheim und Vilhelm Lundström eingesetzt, was von den zuständigen Stellen barsch abgelehnt wurde. Siehe Schriftwechsel zwischen Paul und Reichserziehungsministerium über den Kurator der Universität Greifswald vom 23.11.1933 sowie vom 9.12.1933, UAG, Kurator K 636, Bl. 7 und 9. 52 Lundström war neben seiner akademischen Tätigkeit v.a. Leiter der Riksförening för Svenskhetens bevarande i utlandet [Reichsvereinigung zur Bewahrung des Schwedentums im Ausland], einer privaten Vereinigung, die sich in der schwedischen Außenkulturpolitik engagierte und auch das Nordische Institut unterstützt hatte.

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wissenschaftlicher Vorhaben, v.a. von Pauls eigener Forschung. Ihre politische Rolle innerhalb Schwedens sollte allerdings nicht überschätzt werden.53 Waren die Gastdozenten noch wegen ihrer wissenschaftlichen Leistungen ausgewählt worden, trat der politische Charakter der an den Nordischen Auslandsinstituten gehaltenen Gastvorträge klarer zu Tage. Diese waren kostengünstiger zu organisieren und aufgrund ihres Eventcharakters auch für ein breiteres Publikum geeignet. Dabei wurde in zunehmendem Maße die politische und charakterliche Eignung der Referenten wichtiger als ihre wissenschaftliche. Die Veränderungen seit 1933 hatten es für viele skandinavische Wissenschaftler zu einer politischen Nagelprobe gemacht, sich öffentlich mit dem „neuen Deutschland“ assoziieren zu lassen, so dass sich nur wenige Wissenschaftler von Gewicht dazu bereitfanden, in Greifswald zu referieren. Diejenigen, die dennoch kamen, waren – mit Ausnahmen – entweder offen deutschfreundlich, wie der Historiker Gottfrid Carlsson54 und der Mathematiker Rolf Nevanlinna55, oder, besonders nach Kriegsausbruch, junge und/oder randständige Forscher, bei denen die Verlockung, im Ausland wahrgenommen zu werden, schwerer wog als die mögliche Isolation in der heimischen Forschergemeinde. Dabei standen Greifswald, trotz oder vielleicht gerade wegen der evidenten politischen Bedeutung derartiger Vorträge, ab 1935 kaum noch Mittel für deren Abhaltung zur Verfügung. Die zunehmende Notwendigkeit, Referenten an mehreren Orten auftreten und sie zuvor politisch überprüfen zu lassen, bedeutete, dass die Lübecker Nordische Gesellschaft und späterhin die Kongresszentrale immer mehr die Steuerung derartiger Besuche übernahmen und die Nordischen Auslandsinstitute wenig Einfluss auf die Auswahl ihrer Referenten hatten. Dies führte u.a. dazu, dass zunehmend populärwissenschaftliche Vorträge gehalten wurden. Daneben konnten auch prominente Persönlichkeiten wie die Aushängeschilder der schwedischen Nazibewegung Fanny von Willamowitz-Möllendorf und ihr Schwager Graf Eric von Rosen in Greifswald begrüßt werden, ebenso der weltberühmte Entdecker Sven Hedin. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung war auch die Übertragung der Tradition des Finnischen Jägerbataillons56 an das in Greifswald statio53 Für eine ausführlichere Diskussion der politischen Bedeutung dieser Personen siehe Nase, Johannes Paul (wie Anm. 2), S. 80–82. 54 Vorsitzender der Riksförening Sverige-Tyskland [Reichsverein Schweden-Deutschland] und einer der prominentesten schwedischen Wissenschaftler, die sich zu Deutschland bekannten. 55 Nevanlinna fungierte aufgrund seiner ausgesprochen deutschfreundlichen Haltung ab 1942 als Vorsitzender des SS-Freiwilligenkomitees. 56 Während des Ersten Weltkriegs war in Deutschland ein Bataillon aus Finnen ausgebildet worden, dass während des Finnischen Bürgerkrieges den Kern der Führungsschicht der weißen Truppen und später des finnischen Staates bildete. Dazu siehe Agilolf Keßelring, Des Kaisers „finnische Legion“. Die finnische Jägerbewegung im Ersten Weltkrieg im Kontext der deutschen Finnlandpolitik (= Schriftenreihe der Deutsch-Finnischen Gesellschaft; Bd. 5), Berlin 2005.

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nierte III. Bataillon des 92. Infanterieregiments, die am 1. April 1938 in Anwesenheit des Oberkommandieren der finnischen Armee, General Östermann, stattfand.57 Keiner dieser Vorträge und Besuche veränderte jedoch wesentlich das schwierige Verhältnis zwischen den skandinavischen Ländern und dem nationalsozialistischen Deutschland. Besonders nach der Invasion Dänemarks und Norwegens 1940 war eine gedeihliche Zusammenarbeit schwierig. Allerdings waren schon seit Mitte der 1930er Jahre viele Verbindungen abgerissen.58 So ließ etwa die Universität Lund die für 1938 turnusmäßig anstehende Greifswald-Lundenser Universitätstagung still entfallen, offenbar, weil auf schwedischer Seite der Wille fehlte, sich öffentlich mit einem bekennenden Nazi wie Johannes Paul einzulassen.59 Und während es für Leopold Magon immer schwieriger wurde, seine Kontakte in Skandinavien zu halten, zumal er auch noch vorrangig die Länder betreute, die von deutschen Truppen besetzt waren,60 hielt Paul traditionell vor allem mit konservativen Kreisen in Schweden Verbindung. Das machte ihn zu einem Gutteil für die allgemeine Stimmung in Schweden blind. So erscheinen in seinen Reiseberichten die Äußerungen der tonangebenden liberalen und sozialdemokratischen Presse als das Werk einiger weniger Juden ohne jeden Anspruch auf Repräsentanz.61 Auch seine regelmäßig unternommenen Reisen nach Schweden – Paul war aufgrund seiner verwandtschaftlichen Verbindungen nach Schweden nicht so stark auf Reisebeihilfen angewiesen wie andere Greifswalder Forscher – führten nur in seinen eigenen Augen zu Erfolgen. So brüstete sich Paul etwa gleich 1933 mit dem Erfolg einer offenbar arg propagandistisch gefärbten Vorlesung an der Stockholmer Universität,62 diese hatte jedoch den Effekt, dass der örtliche 57 Hierzu siehe den Bestand UAG, Institut für Finnlandkunde 66. 58 Siehe etwa Carl Nissen Roos an Magon vom 10.4.1933 in UAG, Nachlass Magon 48, Bl. 5f. 59 Die Universitätstagungen hatten bis dato 1925 und 1931 stattgefunden und waren von beiden Seiten als äußerst anregend empfunden worden. Nichtsdestotrotz ließ die Universität Lund 1937 die Gelegenheit verstreichen, eine Einladung auszusprechen und ein Besuch Pauls, der vorsichtig die Gründe eruieren und eine Tagung für 1938 anberaumen sollte, scheint die Situation schlimmer gemacht zu haben. Die Vorgänge sind dokumentiert in UAG, Altes Rektorat R 190. Es ist auch nicht unbillig anzunehmen, dass die Absetzung Pauls als geschäftsführendem Direktor 1938 mit seinem Auftritt in Lund in Zusammenhang steht. 60 So finden sich in den Akten mehrere Briefe, in denen v.a. dänische Wissenschaftler Magon erklären, seine Person zwar zu schätzen, nichtsdestotrotz aber Verbindungen nach Deutschland aus moralischen Gründen nicht mehr halten zu können. 61 Die Reiseberichte finden sich vorrangig in UAG, PA 248 und UAG, Kurator K 636. Einen Einblick in diese Logik gibt die im Bundesarchiv zu findende Akte BArch, R 153/902. Sie enthält eine von Hauptscharführer Hans Pahl (SD-Hauptamt, Abt. I.3 unter Franz Six) angefertigte Studie zur skandinavischen Presselandschaft, bei der v.a. die Ströme jüdischen Kapitals in den verschiedenen Verlagshäusern verfolgt werden. 62 „Als ich zur Verdeutlichung der Judenfrage die Frage stellte, was die Stockholmer sagen würden,

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Resident des Propagandaministeriums, der die Lage im Übrigen deutlich nüchterner einschätzte als sein akademischer Kollege, des Landes verwiesen wurde.63 Pauls Angewohnheit, seine schwedischen Ansprechpartner regelmäßig vor den Kopf zu stoßen, hörte aber auch nach diesen Erfahrungen nicht auf. So fasste der Greifswalder Jurist George Löning seine Eindrücke zusammen: „Sehr skeptisch stehe ich auf Grund jahrelanger Beobachtungen freilich der Art gegenüber, wie vom hiesigen Schwedischen Institut (Professor Paul) aus die Ausländerbehandlung betrieben wird. Wenn man von jedem Schweden sogleich ein unbedingtes Bekenntnis zu allen Zuständen in Deutschland erwartet und manchmal beinahe zu erpressen sucht, so ist das wohl zu viel verlangt und recht ungeschickt. Es ist auch wohl nicht wunderbar, daß der nun einmal sehr maßgebende Professor Ahnlund in Stockholm Paul und seine Art vollständig ablehnt. Ich habe es auch einmal erlebt, daß auf einer Versammlung vieler Ausländer der Vortrag eines Assistenten des Schwedischen Instituts, der die neue Deutsche Jugendorganisation zur Nachahmung anpries, mit peinlichem eisigem Schweigen, ja mit Protesten quittiert wurde.“64 Einfacher hatte es Hans Grellmann, dem die Interessengleichheit zwischen Deutschland und Finnland natürlich in die Hände spielte,65 doch im Gefolge des Winterkrieges rissen auch ihm viele Beziehungen ab, die er erst ab 1941 wieder anknüpfen konnte.66

Auftragsforschung für die Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NOFG)

Eine andere wichtige Aufgabe der Nordischen Auslandsinstitute war die Informationsbeschaffung über skandinavische Verhältnisse, sowohl im Detail wie auch im Überblick. Bereits vor dem Krieg hatte das Nordische Institut als Auskunftei für al-

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wenn bei ihnen eine zwar deutsch [gemeint ist vermutlich schwedisch, M.N.] sprechende, aber fremdrassische Bevölkerung, z.B. die Lappen, tonangebend wären, – und dann nannte ich die Verhältniszahl von Berlin,– da hatte ich einen Heiterkeitserfolg.“ – Reisebericht des Direktors des Schwedischen Instituts Prof. Dr. Johannes Paul, 2.11.1933, UAG, Kurator K 636, Bl. 4. Auch der Resident des DAAD in Stockholm kam durch Pauls ungestüme Art in den Verdacht gesetzwidriger Propagandatätigkeit und entging nur knapp seiner Ausweisung. Siehe Almgren, Drömmen (wie Anm. 50), S. 84ff. Spannenderweise fiel das von ihm zerschlagene Porzellan selten auf Pauls eigene Füße. So erhielt er selbst während des schwedischen Kulturboykotts Anfang 1944, als deutschen Wissenschaftlern allgemein die Einreise verweigert wurde, noch ein Visum. Siehe Übersetzung des Artikels „Das Datum des Inkrafttretens der restriktiven Visapolitik“, in: Dagens Nyheter vom 23.1.1944, UAG, Altes Rektorat R 387, Bl. 32. Löning an Brackmann vom 7.4.1941, BArch, R 153/1286. Siehe etwa Grellmanns Bericht über eine Finnlandreise Oktober 1936, UAG, Kurator K 640, Bl. 21–30. Siehe etwa Grellmann an Keese vom 26.6.1941, UAG Institut für Finnlandkunde 25, unpag.

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lerlei interessierte Personen gedient, nicht nur für Privatpersonen und Wissenschaftler, sondern auch für Behörden, die sich über kulturelle, sprachliche, juristische oder politische Eigenheiten der skandinavischen Länder informieren wollten.67 Doch mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten und der energischen Ausweitung der Arbeitsaufgaben seines Instituts durch Johannes Paul gewann die Auskunftsfunktion immer mehr an Bedeutung. Um die Flut der Anfragen bearbeiten zu können, legte Paul bereits relativ früh eine eigene Kartothek mit Informationen zur aktuellen politischen Haltung diverser Personen des öffentlichen Lebens in Schweden an.68 Dafür, dass diese Kartothek laufend aktualisiert wurde, sorgte ein anderes Projekt des Schwedischen Instituts. Paul scheint schon länger Lektürekurse mit einigen interessierten Studenten durchgeführt zu haben, doch im Sommersemester 1934 tauchte zum ersten Mal die sogenannte Arbeitsgemeinschaft Geistesleben und Politik im modernen Schweden im Vorlesungsverzeichnis auf. Die Idee hinter dieser Arbeitsgemeinschaft war, die Ergebnisse der Lektürekurse in Form eines Protokolls zusammenzufassen, interessierten Behörden zur Verfügung zu stellen und damit in einer sonderbaren Mischung akademisches Studium und Lehre unmittelbar auch für staatliche Stellen fruchtbar zu machen. Es ist unklar, wer die ursprünglichen Empfänger der Protokolle waren, doch der Empfängerkreis nahm im Laufe der Zeit massiv zu. Gingen die Protokolle etwa vor Kriegsausbruch noch an 30 bis 40 Staats- und Parteidienststellen, so vervierfachte sich die Auflage bis 1941 auf ungefähr 160.69 Zu diesem Zeitpunkt war der Aufwand für Anfertigung, Vervielfältigung und Versand der Protokolle so groß, dass Paul sich gezwungen sah, externe Hilfe zu suchen. Bereits seit 1935 bestand ein loser Kontakt mit der NOFG, von der Paul im Gegenzug für seine Protokolle die tschechischen, polnischen und baltischen Pressebeobachtungen erhielt, die dort durchgeführt wurden.70 Die NOFG war Ende 1933 gegründet worden und schaffte es unter ihrem Spiritus Rector, Albert Brackmann, sich zum zentralen Knotenpunkt der deutschen Ostforschung zu entwickeln. Ursprünglich als Forschungsverbund gegründet, hatte sie 1939, als ein engerer Kontakt mit Greifswald begann, bereits den Schritt zur Denkfabrik gemacht. Mit einem gewissen Anspruch auf ein Monopol in ihrem Fachbereich koordinierte sie die wissenschaftliche Arbeit und half, diese in praktische Politik umzusetzen.71 Da der NOFG und der mit ihr institutionell 67 Siehe Übersetzung „Die Lundenser nächstes Jahr als Gäste in Greifswald“, in: Svenska Dagbladet vom 30.8.1924, UAG, Kurator K 631, Bl. 14f. 68 Siehe Paul an REM vom 30.7.1936, UAG, Kurator K 628, Bl. 209. 69 Siehe Paul an REM vom 2.7.1941, UAG, Kurator K 636, Bl. 390 sowie Paul an Kurator der Universität Greifswald, vom 15.7.1941, UAG, Kurator K 636, Bl. 396. 70 Siehe Paul an Publikationsstelle Dahlem vom 25.6.1935 und 14.6.1935, BArch, R 153/659. 71 Zur NOFG siehe Ingo Haar, Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft, in: Ingo Haar,

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verschmolzenen Publikationsstelle Berlin-Dahlem (PuSte) nicht unerhebliche Mittel von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung standen, wandte Paul sich 1939 erneut an sie, um eine über den Schriftenaustausch hinausgehende Vernetzung zu erreichen, nicht ohne auf seine zahlreichen Projekte und natürlich auch auf seine Bekanntschaft mit Theodor Oberländer72 hinzuweisen.73 Paul hätte sich keinen günstigeren Zeitpunkt zur Kontaktaufnahme aussuchen können, denn in der NOFG, die auch das Auslandsdeutschtum in Nordschleswig betreute und damit am Rande bereits mit skandinavischen Fragen betraut war, war bereits der Ruf nach einer Umorientierung erschallt. Mit der Annexion Tschechiens und Polens und der „Heimkehr“ der Auslandsdeutschen ins Reich war ein wichtiger Arbeitsbereich weggefallen. So standen nicht nur Ressourcen zur Verfügung, die nun anderweitig verwandt werden konnten; für das institutionelle Überleben der NOFG war es auch wichtig, sich neue Arbeit zu suchen. So trommelte vorrangig der Kieler Historiker Otto Scheel für eine verstärkte Fokussierung auf den Ostseeraum und Nordeuropa, auch mit dem Verweis auf Interesse aus dem Auswärtigen Amt und dem Wissenschaftsministerium.74 Brackmann nahm den Vorschlag dankbar auf, es dauerte jedoch noch eine ganze Weile, ehe tatsächlich spürbare Mittel nach Greifswald flossen. Erst auf der Stralsunder Tagung der NOFG im Februar 1941 kam eine engere Kooperation zustande. Dies war auch bitter nötig, denn Vervielfältigung und Versand der Presseprotokolle drohten das Budget restlos zu sprengen.75 Für 1940 hatte die Wehrmacht noch finanziell und personell ausgeholfen,76 doch darüber hinaus mussten andere Finanziers gefunden werden. Die NOFG bot auf der Tagung nicht nur an, die Finanzierung der Mitarbeiter und die Deckung der Produktionskosten

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Michael Fahlbusch (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme –Stiftungen, München 2008, S. 432–443. Paul hatte im Sommer mit Oberländer zusammen eine Exkursion nach Schweden organisiert. Nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft war Oberländer, zu diesem Zeitpunkt Minister für Vertriebenenfragen, auch Pauls erster Ansprechpartner, um sich für seine Wiederverwendung im Wissenschaftsbetrieb einzusetzen. Siehe Oberländer an Paul vom 4.10.55 und Theodor Oberländers Bestätigung über Pauls Dienst in Greifswald vom 4.10.55, DHM, Dokumentensammlung, Nachlass Johannes Paul. Siehe Paul an Papritz vom 8.11.1939, BArch, R 153/1185. Siehe Scheel an Brackmann vom 22.1.1940, BArch, R 153/1626. Da von Seiten des Propagandaministeriums eine Ausnahmegenehmigung existierte, die auch die Auswertung eigentlich verbotener ausländischer Presseerzeugnisse erlaubte, mussten die nun als „Geheim“ und „Nur für den Dienstgebrauch“ deklarierten Protokolle per Einschreiben verschickt werden, was mit dem Dienstbriefmarkenbudget nicht mehr möglich war, siehe Paul an REM vom 2.7.1941, UAG, Kurator K 636, Bl. 390. Siehe Vertraulicher Bericht über die Arbeitszusammenkunft der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft in Stralsund am 1.–2.Februar 1941, BArch, R 153/1286.

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zu übernehmen, darüber hinaus einigte man sich auch auf eine Reihe anderer Forschungsprojekte, die am Schwedischen Institut von der NOFG finanziert werden sollten und die, so Paul, „wertvollste Waffen für die geistige Auseinandersetzung mit Skandinavien liefern“ könnten.77 Ein Blick in die Protokolle der Stralsunder Tagung enthüllt, dass weder Magon noch Grellmann auf der ursprünglichen Einladungsliste standen und in der finalen Version erst handschriftlich hinzugefügt wurden. Grellmann scheint zumindest in der persönlichen Fühlungnahme Interesse erweckt zu haben, musste der PuSte jedoch mitteilen, dass er aufgrund von Personalmangel kein den Schwedischen Presseprotokollen vergleichbares System würde aufbauen können.78 Zwar gab Grellmann zusammen mit Brackmann die Reihe „Das Reich und Nordeuropa“79 heraus und beschäftigte ab 1942 eine einzelne Übersetzerin zur Bearbeitung der finnischen Presse,80 die Zusammenarbeit blieb aber sporadisch. An Magon scheint die NOFG überhaupt nur einmal betreffend eines Gutachtens zu einem Buch über dänische Verhältnisse herangetreten zu sein. Die Zusammenarbeit zwischen der NOFG und Pauls Schwedischem Institut war jedoch beileibe nicht ohne Spannungen. Keine der Forschungsarbeiten, die von Dahlem aus finanziert wurden, führten zu Resultaten. Eine Untersuchung zum Schwedentum im Ausland wurde zwar fertiggestellt, jedoch wegen der wissenschaftlichen Ungeeignetheit des Bearbeiters als völlig unbrauchbar verworfen.81 Das Nachfolgeprojekt zur Entwicklung der schwedischen Jugendbünde kam nie zu einem Ergebnis, obwohl die Bearbeiterin, Rosemarie Schwarz, immerhin ein Semester in Uppsala verbringen konnte. Auch das Projekt über angelsächsische Einflüsse auf das schwedische Verfassungsleben blieb liegen, da der dafür zuständige Assistent Heinz Krüger anderweitig ausgelastet war.82 77 Siehe Paul an NOFG vom 27.2.1941, BArch, R 153/1185. So sollte am Schwedischen Institut eine Dissertation zu angelsächsischen Einflüssen auf das schwedische Verfassungsleben im 19. und 20. Jahrhundert sowie eine über das Schwedentum im Ausland angefertigt werden. Darüber hinaus war eine Fortführung der Reihe „Schweden und Nordeuropa“ geplant und eine neue Reihe „Quellen zur Geschichte des Ostseeraums“. 78 Siehe Aktennotiz Papritz über eine Unterredung mit Grellmann vom 4.2.1941 sowie Grellmann an Papritz vom 8.7.1941, BArch, R 153/688. Im deutschsprachigen Raum herrschte ohnehin ein Mangel an des Finnischen kundigen Akademikern. Darüber hinaus existierte auch im Auswärtigen Amt kein übertriebenes Interesse an einer Außenkulturpolitik gegenüber Finnland. 79 Nur zwei Bände 1941 und 1942. 80 Siehe Grellmann an Papritz vom 15.8.1942, BArch, R 153/1187. 81 Wolfgang Müller, der das Projekt übernommen hatte, war Gerichtsreferendar und offenbar eher enthusiastisch als kompetent. Krüger und Paul bewerteten seine Arbeit als weder veröffentlichungs- noch verbreitungswürdig, siehe Krüger an NOFG vom 26.1.1943, BArch, R 153/118. 82 Zu Heinz Krüger wird später noch zu kommen sein.

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Die Presseprotokolle, die während des Krieges das Hauptprojekt des Schwedischen Instituts blieben, waren ebenfalls Gegenstand von Auseinandersetzungen. Da die NOFG vom Innenministerium und dem Auswärtigen Amt finanziert wurde und Letzteres scharf auf der Einhaltung der Grenzen zwischen Außenpolitik und Außenkulturpolitik bestand, war die allumfassende Presseschau, wie Paul sie betrieb, unerwünscht. Das Auswärtige Amt bekam politische Nachrichten über seine Delegationen und Botschaften vor Ort und verlangte vom Schwedischen Institut eine Konzentration auf den kulturpolitischen Bereich. Da die Presseprotokolle jedoch seit längerem auch an Wehrmacht, Gestapo, SD und Partei gingen und diese über derartige Netzwerke nicht verfügten, ergab sich ein Konflikt zwischen alter und neuer Klientel. Dieser führte so weit, dass das Propagandaministerium zum 20. Februar 1942 die Verbreitung der Presseprotokolle komplett untersagte. Sie erschienen zwar weiterhin, wurden aber nur noch in zehn Exemplaren an das Propagandaministerium, die NOFG und das Preußische Staatsarchiv (zu dem auch die PuSte gehörte) verteilt.83 Abgesehen davon, dass das Greifswalder Personal ab diesem Zeitpunkt entweder auswärts eingesetzt oder mit anderen Aufgaben voll ausgelastet war, scheint Paul auch nie vollständig begriffen zu haben, wie sich seine Geldgeber die Presseprotokolle vorstellten. Im Jahre 1944 wurde die Kritik immer lauter, da die beiden Hauptbeschwerdeführer, Wilfried Krallert und Jürgen von Hehn, inzwischen nicht nur im Auswärtigen Amt, sondern auch im Reichssicherheitshauptamt tätig waren und entsprechend viel institutionelles Gewicht in die Waagschale werfen konnten. Paul stellte sich ahnungslos: „Früher gingen die Protokolle ja an einen größeren Kreis. Infolgedessen haben wir den Wünschen, die bald von militärischer, wissenschaftlicher, wirtschaftlicher, bald von polizeilicher oder sonstwie interessierter Seite hervorgebracht wurden, nachgegeben. Wenn jetzt der Bezieherkreis enger geworden ist, ist es erklärlich, dass die Wünsche dieses Kreises in den Vordergrund treten. Das Institut wird sich bemühen, die jetzigen Wünsche zu berücksichtigen. Wenn diese, soviel ich verstehe, in erster Linie den kulturpolitischen Dingen gelten, so wird in der Arbeitsweise der Teilnehmer sich nicht viel ändern, denn einmal kann man Kulturpolitik nicht getrennt von dem übrigen politischen Leben betrachten und zum andern sollen die studentischen Mitarbeiter durch die Arbeitsgemeinschaft ja gerade mit dem Gesamtgebiet des schwedischen Lebens vertraut werden, müssen also auch über wirtschaftliche und innenpolitische Entwicklungen Bescheid wissen.“84 Ob Paul an dieser Stelle nun das Primat seiner akademischen Lehrveranstaltungen verteidigte oder sich einfach keinen Reim darauf machen konnte, was von ihm ver83 Siehe Krüger an NOFG vom 26.1.1943, BArch, R 153/118. 84 Paul an PuSt vom 22.7.1944, BArch, R 153/1194.

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langt wurde, sei dahingestellt. Doch selbst wenn man in der NOFG mit den Presseprotokollen leidlich zufrieden war, so wuchs doch in den interessierten Behörden die Frustration über Paul und brach sich im Herbst 1944 Bahn. Hatten von Hehn und Krallert bis dahin noch auf eine Änderung der Protokolle gedrängt, so forderten sie nun, Paul komplett aus der Arbeit auszuschließen. „Eine Verwendung von hier, die sich gegen die Schließung des Schwedischen Instituts in Greifswald wendet, kommt nicht in Frage, da eine wirklich fruchtbare Arbeit dort so lange Prof. Paul Leiter des Instituts ist, kaum zu erwarten wäre. […] Vielmehr wird hier die Ansicht vertreten, dass wirklich positive Skandinavienarbeit viel besser mit einigen aus Greifswald abzuziehenden Kräften im Rahmen der Publikationsstelle geleistet werden könnte.“85 Tatsächlich begab sich Wilhelm Koppe, der Nordeuropaexperte der NOFG/PuSte, nach Greifswald, wo er als stellvertretender Direktor des Schwedischen Instituts auftrat und die Presseprotokolle abänderte. Mit diesen war man in Berlin nun auch zufrieden.86 Doch als Paul, der in der Zwischenzeit in Königsberg gewesen war,87 ins Institut zurückkehrte, setzte er die Presseprotokolle in seliger Unkenntnis nach seiner Art fort.88 Damit war das letzte Maß überschritten und das RSHA mahnte an, „bei der beabsichtigten Besprechung mit Prof. Paul ihm diesen Standpunkt eindeutig klarzumachen, d.h. ihn darauf hinzuweisen, dass die schwedischen Presseprotokolle hinfort kein Interesse mehr genießen werden und dass sie daher am besten ihr Erscheinen sofort einstellen, bevor andere Maßnahmen notwendig werden“.89 Angesichts der bedenklichen Nähe der Roten Armee fielen diese anderen Maßnahmen dann jedoch harmloser aus und bestanden v.a. darin, Rosemarie Schwarz, die die Presseprotokolle hauptsächlich bearbeitete, zur inzwischen nach Bautzen evakuierten PuSte zu beordern.

Der Krieg der Nordeuropaexperten

Zum Empfängerkreis der Presseprotokolle hatte bereits seit 1936 auch die Wehrmacht, deren Amt Abwehr, die Gestapo und der Sicherheitsdienst der SS (SD) gehört. Während sich die Zuarbeit an diese Institutionen im Rahmen der Pressebeobachtung noch als kulturpolitische Beratungsfunktion und damit als eine erweiterte akademi85 86 87 88 89

Krallert an PuSte vom 3.9.1944, BArch, R 153/1185. Siehe v. Hehn an PuSte vom 19.9.1944, BArch, R 153/1194. Hierzu siehe unten. Siehe Paul an PuSte vom 30.10.1944 und Paul an NOFG vom 4.10.1944, BArch, R 153/1185. Kuratorium für Volkstums- und Landesforschung beim Reichsführer SS an PuSte vom 14.11.1944, BArch, R 153/1185.

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sche Aufgabe subsummieren ließ, wurde das Bedürfnis dieser Stellen nach skandinavischer Kulturkompetenz im Verlaufe der 1930er Jahre größer. Bald kam das Institut nicht mehr umhin, auch direkt Personal an Partei-, Armee- und Geheimdienststellen abzugeben. Der erste Fachmann, der der Universität Greifswald verlustig ging, war der Germanist Otto Fingerhut. Fingerhut war als Institutsassistent von Magon eingestellt worden und beschäftigte sich vorwiegend mit der Altnordistik. Er hatte aber auf Anordnung Magons 1934 einen Auslandsaufenthalt in Dänemark absolviert, um sich eine gewisse Flüssigkeit in einer modernen skandinavischen Sprache anzueignen.90 Gleichzeitig hatte Fingerhut sich zusammen mit dem Isländischlektor Eiður Kvaran an die Herausgabe eines Isländischlehrbuchs gemacht,91 das sich einige Zeit einer gewissen Beliebtheit erfreute.92 Inwieweit sich Fingerhuts politisches Profil in das der anderen stramm nationalsozialistischen Assistenten an den Nordischen Auslandsinstituten einfügte, ist etwas unklar. Zwar war er aktives SA-Mitglied und als solches in die studentische Aktion Für den deutschen Geist eingebunden,93 andererseits erfolgte sein SA-Eintritt verhältnismäßig spät. Zwar arbeitete er mit dem überzeugten Rassisten und Nationalsozialisten Kvaran zusammen, scheint selbst aber zumindest bis 1935 nicht in die NSDAP eingetreten zu sein.94 Nichtsdestotrotz teilte er Neujahr 1937, offenbar auch für ihn überraschend, dem Kurator mit, er werde zum 4. Januar des Jahres eine neue Stelle bei der Forschungsabteilung des Reichsluftfahrtministeriums antreten.95 Eine gewisse Verwunderung über diesen plötzlichen Wechsel in eine fachfremde Forschungsstelle ist angebracht, verbirgt sich doch bei genauerem Hinsehen hinter der Bezeichnung nichts weniger als die Telefonabhörzentrale der Gestapo.96 Einen Monat später wechselte Richard Linder an dieselbe Einrichtung. Linder war vorher studentische Hilfskraft am Schwedischen Institut gewesen, hatte nach seinem Abschluss aber eine Stelle als Hilfsassistent am Historisch-Geographischen Institut annehmen müssen.97 Dass man bei der Gestapo offenbar dringend auf die Sprachkenntnisse der beiden Greifswalder angewiesen war, kam Paul gerade recht. Fingerhut, der damit aus der As90 91 92 93 94 95 96

Siehe Magon an REM vom 6.9.33, UAG, PA 46, Bl. 9. Eiður Sigurdson Kvaran, Otto Fingerhut, Lehrbuch der isländischen Sprache, Greifswald 1936. Es erfuhr 1940 eine zweite Auflage. Siehe Magon an REM vom 6.9.33, UAG, PA 46, Bl. 9. Siehe Personalbogen Otto Fingerhut, o.D., UAG, PA 46, Bl. 7. Siehe Fingerhut an Kurator der Universität Greifswald vom 1.1.1937, UAG, PA 46, Bl. 84. Zur Forschungsabteilung siehe Günther Gellermann, … und lauschten für Hitler. Geheime Reichssache. Die Abhörzentralen des Dritten Reiches, Bonn 1991. 97 Siehe Linder an Kurator vom 28.1.37, UAG, Kurator K 515, Bl. 104. Drei Jahre später taucht Linder als Mitarbeiter einer Bibliothek in Gera wieder auf. Siehe Paul an Wehrbezirkskommando Greifswald vom 6.2.40, UAG, Kurator K 635, Bl. 83.

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sistentenposition ausschied, war nicht seine Wahl gewesen und konnte ihm, bedingt durch seine fachliche und vielleicht auch politische Ausrichtung, keine ernsthaften wissenschaftlichen Hilfsdienste leisten. Ob der nun in die Assistentenstelle aufgerückte Günther Falk98 eine große Hilfe war, ist nicht ganz klar. Zwar hatte dieser bereits seit 1933 als Assistent am Schwedischen Institut gearbeitet, verfolgte aber nebenbei noch eine zweite Karriere als einer der ranghöchsten Studentenvertreter Pommerns. Neben seinen zahlreichen Funktionen im NSDStB99 war er zwischen 1937 und 1939 Gaustudentenführer Pommerns und Führer der Greifswalder Studentenschaft, ein Posten, den er erst aufgab, als sich herausstellte, dass seine politische Tätigkeit keine positiven Auswirkungen auf die Fertigstellung seiner Dissertation hatte. Dass er kurz darauf bei einem Autounfall schwer verletzt wurde, verzögerte seine wissenschaftliche Karriere weiter. Endlich genesen, wurde er vom 5. April bis zum 10. Mai 1940 von der Abwehrstelle des Wehrkreises II als Dolmetscher eingezogen.100 Falk schien Gefallen an der Arbeit gefunden zu haben, denn wenige Monate nach seiner Rückkehr nach Greifswald – zu wenige, um seine Doktorarbeit fertigzustellen – ereilte ihn der nächste Stellungsbefehl. Diesmal sollte er eine Vortragsreise im Luftgaukommando Norwegen durchführen.101 Dass er sofort im Anschluss „zur Erledigung von staatspolitisch besonders wichtigen Aufgaben aus dem Amtsbereich des Chefs der Sicherheitspolizei (SD)“ gleich für einen Zeitraum von sechs Monaten nach Norwegen einberufen wurde, war dann nur konsequent.102 Falk schien sich bewährt zu haben, da er noch vor Ende der sechs Monate bis auf weiteres zum SD abkommandiert und nach Oslo versetzt wurde.103 Die Zeugnisse über seinen weiteren Verbleib sind spärlich, lassen jedoch eine steile Karriere erkennen. Scheinbar war Falk noch im Sommer

98 Falk hatte 1933 als verantwortlicher Redakteur für das Nordische Amt der Studentenschaft fungiert und damit die Affäre Arvidsson und mittelbar die Affäre Magon ins Rollen gebracht. Insofern hat es einen gewissen konspirativen Charme, dass gerade er nun so privilegiert von der Gründung des Schwedischen Instituts profitierte. 99 Seit 1929 war Falk Mitglied in NSDAP und SA. Er hatte auch während seines Studiums in Schweden immer wieder „Vertrauensaufträge“ der Partei angenommen, wurde in „Vertrauensstellungen“ der Studentenschaft eingespannt, betreute die studentische Auslandsarbeit und war in der Zweigstelle des DAAD tätig. In der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums war er mit der Beobachtung des skandinavischen Schrifttums beauftragt, siehe Paul an Rektor der Universität Greifswald vom 5.1.1937, UAG, PA 44, Bl. 7. 100 Siehe Magon an Kurator der Universität Greifswald vom 1.6.40, UAG, PA 44, Bl. 35. Der Zeitpunkt legt einen Zusammenhang mit der gleichzeitig laufenden Operation Weserübung, der deutschen Invasion Dänemarks und Norwegens, nahe. 101 Siehe REM an Kurator der Universität Greifswald vom 25.10.40, UAG, PA 44, Bl. 42. 102 Anweisung Inspekteur SiPo/SD Stettin vom 26.11.40, UAG, PA 44, Bl. 43. 103 Siehe Inspekteur SiPo/SD Stettin an Falk vom 9.4.41, UAG, PA 44, Bl. 55.

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1941 als einfacher Übersetzer in Trondheim tätig,104 später schien sein Aufgabenbereich sich erweitert zu haben. Nach einer Gesprächsnotiz, die vermutlich von Hans Schwalm stammt, fungierte Falk im Herbst 1942 als Schrifttumsreferent des SD in Norwegen.105 Das Archivinventar Magne Skodvins führt Falk noch 1943 als Korrespondenzadresse des IIIc (Kulturelle Gebiete, SD) des Chefs SiPo/SD.106 Was aus Falk nach diesem Zeitpunkt wurde, ist leider unklar. Falks Nachfolger, Heinz Krüger, schaffte es immerhin, seine Dissertation abzuschließen, bevor seine Dienste anderweitig gefragt waren. Eine erste Einberufung zur Luftwaffe im November 1939 konnte die Universität noch mit einer u.k.-Stellung abwenden,107 doch auch er kam nicht umhin, wegen seiner Spezialfähigkeiten auch andernorts angefordert zu werden. Ende 1941 ereilte ihn die Aufforderung, sich zur „langfristigen Notdienstleistung“ beim Chef Sipo/SD in Stettin zu melden, freilich unter der Auflage, dass er weiterhin den schwedischen Presseprotokollen zur Verfügung stand.108 Dass unter dieser Doppelbelastung andere Projekte, wie etwa Krügers für die NOFG anzufertigende Arbeit zum schwedischen Reichsbegriff oder die Neuauflage des „Deutsch-Schwedischen Jahrbuchs“, zu leiden hatten, liegt auf der Hand. Beide genannten Projekte kamen über eine ausgedehnte Planungsphase nicht hinaus. Mit der sich verschlechternden Kriegslage wurde jedoch auch die Notwendigkeit einer starken kulturpolitischen und geheimdienstlichen Präsenz im Norden immer stärker und auch Krüger musste nun in den Außendienst. Im August 1943 musste er Greifswald verlassen, um seinen neuen Posten an der deutschen Gesandtschaft in Stockholm zu übernehmen. Wiewohl er auch als Leiter der Ortsgruppe der NSDAPAuslandsorganisation auftrat, scheint seine Hauptaufgabe im Amt VI des SD gelegen 104 Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD, Oslo, Tagesrapport Nr. 18 vom 22. Juli 1941, in Stein Ugelvik Larsen (Hg.), Meldungen aus Norwegen 1940–1945. Die geheimen Lageberichte des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD in Norwegen, Teilband 1 (= Texte und Materialien zur Zeitgeschichte; Bd. 6), München 2008, S. 344. Der Bericht gibt wieder, der Dolmetscher und Hilfspolizeibeamte Falk habe eine gewalttätige Auseinandersetzung mit norwegischen Protestierern verhindert, freilich unter Zuhilfenahme der norwegischen Polizei und der Abführung der entsprechenden Störer ins KZ. 105 Vermerk zu einem Gespräch mit SS-Hauptsturmführer Falk vom 19.10.1942, The Pennsiylvania Folklife Collection at Ursinus College, The Ahnenerbe Collection, Folder V. Dieselbe Notiz enthält auch den Hinweis, ein anderer ehemaliger Student Pauls namens Bischoff sei beim SD in Trondheim eingesetzt. Es ließe sich vermuten, dass es sich hierbei um Dr. Wilhelm Bischoff handelt, was aber aus dem vorliegenden Material nicht zu belegen ist. 106 Arkivrapport NHM8 unter www.mil.no/multimedia/archive/00093/Nhm8_93538a.rtf (letzter Zugriff am 11.4.2009). 107 Siehe Kurator der UG an Heinz Krüger vom 15.11.1939, UAG, PA 4229, Bl. 56. 108 Siehe Inspekteur SiPo/SD Stettin an Kurator der Universität Greifswald vom 11.11.1941, UAG, PA 4229, Bl. 76.

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zu haben, wo er die Arbeit des örtlichen Vertreters Dr. August Finke zu unterstützen hatte. Es ist anzunehmen, dass Krüger v.a. bei der kulturpolitischen Beobachtung Schwedens eingesetzt wurde, wenngleich die SD-Vertretung auch Aufgaben der Spionageabwehr und der konspirativen Informationsgewinnung wahrnahm.109 Auch Hans Grellmann konnte sich dem Sog der diplomatischen, konspirativen und v.a. militärischen Notwendigkeiten nicht entziehen. Spätestens seit Kriegsbeginn sah sich das Institut für Finnlandkunde mit einer wachsenden Anzahl von Anfragen konfrontiert. Vor allem Kartenmaterial und Übersetzungen waren es, die von Auswärtigem Amt, Luftwaffe,110 Marine111 und Heer112 angefragt wurde. Während des Winterkrieges stand das Institut fast ausschließlich dem stellvertretenden Generalkommando II zur Verfügung, das einen eigenen „Finnischen Fonds“ hatte, aus dem die Greifswalder Mehrarbeit kompensiert wurde.113 Nach dem Beginn des Russlandfeldzuges war es, nach Grellmanns Angaben, vor allem das Auswärtige Amt, das sich der Dienste des Finnland-Instituts versicherte. Zu dieser Zeit befanden sich der Institutsassistent, Fritz Keese, sowie die wissenschaftliche Hilfskraft bereits in Finnland im Wehrmachtsdienst.114 Im Sommer 1943 musste sich auch Grellmann nach Finnland begeben, um dort das Deutsche Wissenschaftliche Institut Helsinki aufzubauen. Dem Institut, das wie seine Schwestereinrichtungen in anderen europäischen Hauptstädten den wissenschaftlichen Austausch organisieren sollte, war jedoch kein großer Erfolg beschieden. Bereits im September 1944 musste es im Gefolge der finnischen Kapitulation wieder geschlossen werden. Nach Grellmanns Rückkehr nach Deutschland wurde er zur Infanterie eingezogen und verstarb am 8. April 1945 in einem sowjetischen Lazarett an den Folgen einer Verwundung.115 109 Siehe C.G. McKay, From Information to Intrigue. Studies in Secret Service Based on the Swedish Experience 1939–1945, New York 1993, S. 199 sowie Daniel B. Roth, Hitlers Brückenkopf in Schweden. Die deutsche Gesandtschaft in Stockholm 1933–1945 (= Nordische Geschichte; Bd. 8), Berlin 2009, S. 310f. 110 Siehe Grellmann an Reichsluftfahrtministerium vom 7.5.1941 sowie Auswärtiges Amt an Grellmann vom 23.5.1941, UAG, Institut für Finnlandkunde 118, Bl. 47–48. 111 Siehe Marineobservatorium an Grellmann vom 30.6.1944, UAG, Institut für Finnlandkunde 118, Bl. 66. 112 Siehe Grellmann an Major Graf Finckenstein (stv. Generalkommando II) vom 11.12.1939 sowie Grellmann an Major Graf Finckenstein (stv. Generalkommando II) vom 15.12.1939, UAG, Institut für Finnlandkunde 118, Bl. 42–43. 113 Siehe Grellmann an Kurator der Universität Greifswald vom 19.6.1940, UAG, Institut für Finnlandkunde 118, Bl. 44. 114 Siehe Grellmann an Kurator der Universität Greifswald vom 22.2.1943, UAG, Institut für Finnlandkunde 118, Bl. 62. 115 Zum Deutschen Wissenschaftlichen Institut Helsinki siehe Frank-Rutger Hausmann, „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht“. Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten

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Paul, der bereits vor dem Krieg aktiver Reserveoffizier gewesen war,116 erhielt seine erste Einberufung im Frühjahr 1940, die sich aufgrund einer eilig erteilten u.k.Stellung der Universität aber als kurzes Interludium herausstellte.117 Ein Jahr später, zum 21. April 1941, ereilte Paul erneut die Aufforderung, sich bei der Wehrmacht einzufinden,118 diesmal nicht bei der Infanterie, sondern beim Amt Abwehr. Die Abwehr hatte in Helsinki eine eigene Niederlassung gegründet, das sogenannte Büro Cellarius bei der HAPAG. Das Büro war ursprünglich in Stockholm angesiedelt, zog aber im Juli 1942 nach Helsinki, wo es neben der Spionageabwehr auch Diversantenangriffe gegen die Murmanskbahn durchführte und, so darf vermutet werden, ein wachsames Auge auf den finnischen Bundesgenossen hatte.119 Pauls Aufgabe, soweit sich dies rekonstruieren lässt, war der Aufbau eines Agentennetzes, das russische Infiltrationsversuche unterbinden helfen sollte. Die Informationen über seine dortige Tätigkeit sind spärlich und darüber hinaus nicht besonders zuverlässig. Es scheint aber zumindest so zu sein, dass Paul zwar das für einen Spion notwendige Misstrauen, nicht aber das Urteilsvermögen mitbrachte. Der finnische Agent Otto Kumenius120 etwa kolportiert die Geschichte, Paul sei auf einen Tripel-Agenten hereingefallen, der sowohl für den amerikanischen als auch den finnischen Nachrichtendienst arbeitete. Als Kumenius diesen Lapsus öffentlich machte, sei Paul aus Finnland weggelobt worden, auch weil er bereits vorher mehrmals völlig überzogen reagiert und damit das fragile Verhältnis zu den Waffenbrüdern belastet habe.121 Ob sich diese Episoden tatsächlich in der von Kumenius wiedergegebenen epischen Form abgespielt haben, sei dahingestellt, doch scheint es nicht restlos unwahrscheinlich, dass Paul tatsächlich wegen Inkompetenz aus dem Büro Cellarius ausschied. Seine vorgesehene VerWeltkrieg (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; Bd. 169), Göttingen 2002, S. 277–289. 116 Siehe Verfügung des Wehrersatzinspekteurs Stettin vom 24.5.1939, DHM, Dokumentensammlung, Nachlass Johannes Paul. 117 Siehe Paul an Kurator der Universität Greifswald vom 8.5.40, UAG, PA 248, Bl. 117. 118 Paul an den Rektor der Universität Greifswald vom 17.4.41 sowie der Rektor der Universität Greifswald an Kurator der Universität Greifswald vom 24.4.41, UAG, PA 248, Bl. 175f. 119 Siehe McKay, From Information to Intrigue (wie Anm. 109), S. 276 und 160f. 120 Kumenius selbst war nicht restlos unumstritten. Er hatte seine Kenntnisse über den finnischen Geheimdienst an mehrere andere Geheimdienste verkauft, und sah sich daher gezwungen, sich literarisch wieder ins rechte Licht zu rücken, siehe Mathew Aid, „Stella Polaris“ and the Secret Code Battle in Postwar Europe, in: Intelligence and National Security, Bd. 17 (2002) Heft 3, S. 17–86, hier S. 42f. 121 Siehe Pekka Salonen, Det spioneras i Helsingfors [In Helsinki wird spioniert], Stockholm 1945, S. 30–35, 40–45 und 90–98. Kumenius, der sich hinter dem Pseudonym Salonen verbarg, irrt zwar an einigen Stellen, scheint aber, soweit sich das überprüfen lässt, in groben Zügen wahrheitsgemäß zu berichten.

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setzung zur Infanterie könnte dies nahelegen.122 Nach seiner Rückkehr aus Finnland im Herbst 1943 nahm Paul, vielleicht auch um einem Fronteinsatz zu entgehen, eine Stelle beim Reichssender Königsberg an, wo einmal pro Woche schwedischsprachige Propagandasendungen in den Ostseeraum gefunkt wurden.123 Den beim Herannahen der Front erfolgten Umzug des Senders nach Oslo scheint Paul nicht mitgemacht zu haben. Stattdessen kehrte er im August 1944 nach Greifswald zurück, wo inzwischen alles Personal dienstverpflichtet war.124 Da die NOFG das Interesse an den Presseprotokollen verloren hatte, war Pauls Institut nicht mehr kriegswichtig und wurde entsprechend auch nicht nach Lübeck evakuiert.125 Der Institutsdirektor selbst, vom Heldenmut gepackt,126 schloss sich in den letzten Apriltagen dem Volkssturm an und geriet auf Rügen in russische Gefangenschaft,127 aus der erst 1955 zurückkehrte. Mit dem Ende des Krieges endete auch die Existenz der Nordischen Auslandsinstitute. Da Leopold Magon der einzige verbliebene Wissenschaftler vor Ort war, fielen die ausreichend diskreditierten Institute nun wieder in seine alleinige Zuständigkeit. Es dauerte bis in die 1950er Jahre, bis in ihnen wieder ein geregelter Lehrbetrieb stattfand.

Zusammenfassung

Die Aufspaltung in Länderinstitute, die aus dem Nordischen Institut des Jahres 1918 die Nordischen Auslandsinstitute des Jahres 1933 machte, hatte, wie sich zeigen ließ, ihren Hintergrund auf mehreren Ebenen. Zum ersten bestimmten persönliche Befindlichkeiten das Bild dieser Ereignisse. Der Sturz Gustav Brauns etwa, der sich noch Tage vor dem Beginn der Diffamierungen gegen ihn glaubwürdig positiv zum 122 Siehe Paul an Papritz vom 5.2.1944, BArch, R 153/1711. 123 Zu Radio Königsberg siehe Niklas Sennerteg, Tyskland talar. Hitlers svenska radiostation [Hier spricht Deutschland. Hitlers schwedischer Radiosender], Lund 2006. 124 Allein Magon, der in Greifswald stationiert war, und dessen Sekretärin waren noch vorhanden, siehe Paul an PuSte vom 24.8.1944, BArch, R 153/1185. 125 Siehe Anlage zu Philosophische Fakultät der EMAU an Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Unterricht vom 15.2.1945, BArch, R 4901/14767. 126 Pauls ansonsten sehr sanftmütige Mutter musste ihn maßregeln, denn Paul hatte sich offenbar mit Vorstellungen von wehrwolfartigen Guerillaoperationen gegen die Rote Armee getragen. Siehe Abschrift eines Briefes von Margarete Paul an Johannes Paul vom 24.4.45, DHM, Dokumentensammlung, Nachlass Johannes Paul. 127 Siehe Bericht Johannes Pauls an die Wissenschaftliche Kommission für die Dokumentation des Schicksals der deutschen Gefangenen des 2. Weltkrieges vom 6.1.1959, DHM, Dokumentensammlung, Nachlass Johannes Paul.

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Nationalsozialismus stellte,128 hatte keinen politischen Hintergrund, sondern lässt sich viel eher als Generationenkonflikt beschreiben. Auch Pauls Auseinandersetzung mit Magon war weniger politisch als konfessionell motiviert. Gleichzeitig überlagerte diese sich mit der Frage nach der weitgehend diffusen Position des Nordischen Instituts zwischen Wissenschaft und Politik, die während der Weimarer Republik, v.a. aufgrund eines Mangels an Ressourcen, weitgehend latent geblieben war. In der fließenden hochschulpolitischen Situation des Jahres 1933 gelang es allerdings Paul, einerseits eine Entscheidung zugunsten einer stärkeren Verlagerung auf den politischen Auftrag herbeizuführen und damit andererseits auch seine eigenen Aussichten auf ein akademisches Fortkommen zu verbessern. Abgesehen von den unmittelbaren Notwendigkeiten, die sich aus der angespannten Personallage ergaben, folgte die neue Aufteilung in Länderinstitute auch stärker der Logik einer starken außenkulturpolitischen Rolle der Nordischen Studien. Trotz der Entscheidung für eine stärkere politische Aktivität der Institute dauerte es bis etwa 1936, bis sich stabile Formen einer wissenschaftlichen Zuarbeit für außeruniversitäre Stellen etablierten. In den klassischen Bereichen der Forschung und Lehre, wo sich dies im Einzelnen nachvollziehen lässt, entwickelte sich die politische Tätigkeit langsam, ließ aber gleichzeitig, besonders beim jüngeren Personal, einen Fokus auf die unmittelbare Verwertbarkeit bzw. politische Relevanz wissenschaftlicher Arbeit erkennen. Dies geschah etwa in Form von Forschungsvorhaben, die direkt der Auslandspropaganda dienen sollten. Konkretere Zuarbeiten in Form etwa von Kartenmaterial, Übersetzertätigkeiten und Pressebeobachtung, die direkt von militärischen, staatlichen und Parteidienststellen abgefordert wurden, nahmen, wenngleich Präzedenzfälle bereits vorher existierten,129 erst mit Kriegsbeginn ein größeres Ausmaß an. Sie wurden aber bald so umfänglich, dass sie die sonstige Institutsarbeit 128 So schrieb er noch im März an den in Finnland weilenden Lektor Kivimaa: „Wie Sie wissen, wird Deutschland, dessen große Umwälzung in der Tat in aller Ruhe vor sich gegangen ist, vom Auslande her mit einer Fülle von Falschmeldungen überschüttet und wenn ich auch glaube, dass man sich in Finnland an diesen Dingen nicht beteiligt, weil man ja gerade in Finnland Deutschland besonders gut versteht, so würde ich sie doch bitten in der finnischen Presse – als Mitteilung des Instituts für Finnlandkunde – zu berichten, dass sich hier, und soweit ich beurteile überall in Deutschland, die Umwälzung ohne irgendwelche Störungen vollzogen hat. – Gerade in Greifswald geht die wissenschaftliche Arbeit der Universität unvermindert und hoffnungsfroh weiter und wir würden uns freuen, wenn Reisende aus Finnland Gelegenheit nähmen, Greifswald zu besuchen, um sich zu überzeugen, wie falsch und erlogen, die ganze Greuelpropaganda ist.“ Braun an Kivimaa, März 1933 (nach dem 11.), UAG, Institut für Finnlandkunde 55, unpag. 129 So lieferte Brauns Institut für Finnlandkunde bereits 1925 Kartenmaterial und seine (schmale) Pressekorrespondenz an die Reichswehr, siehe Reichswehrministerium an Braun vom 14.3.1925, Braun an Reichswehrministerium vom 28.3.1925, Braun an Reichswehrministerium vom 31.3.1925; vgl. UAG, Institut für Finnlandkunde 118, Bl. 11–13.

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lähmten. Besonders Pauls Presseprotokolle für die NOFG sind ein beredtes Beispiel für diese Art der Kooperation mit außeruniversitären Stellen. Sie demonstrieren gleichzeitig die Schwierigkeiten, die sich aus dem Konflikt zwischen akademischen und politischen Ansprüchen an sein Institut ergaben. Diese Schwierigkeiten wurden dadurch verschärft, dass besonders ab Kriegsbeginn immer mehr Nordeuropaforscher aufgrund ihrer speziellen Kenntnisse zu direkten Dienstleistungen herangezogen wurden. So versahen Greifswalder Nordisten Dienst bei der Gestapo, dem Auswärtigen Amt, bei SS und SD sowie bei der Wehrmacht, wenngleich mit wechselndem Erfolg. Wiewohl der Einfluss der Nordischen Auslandsinstitute nicht überschätzt werden darf, so zeigt sich hierin doch das große Bedürfnis nach nordeuropäischer Kulturkompetenz, das die Auslandsinstitute zu erfüllen zumindest teilweise fähig waren. Damit kam ihnen eine wichtige Rolle innerhalb vieler nationalsozialistischer Projekte zu, wenngleich sie diese auch nicht immer zur Zufriedenheit der Auftragsteller erfüllen konnten.

Zwangsarbeit an der Universität Greifswald und auf den Universitätsgütern 1939 bis 1945 Sascha Barz Die Geschichte der Zwangsarbeit an deutschen Universitäten während des Nationalsozialismus ist nach wie vor ein Desiderat der universitätsgeschichtlichen Forschung.1 In Bezug auf Greifswald, und besonders mit Fokus auf die Universität, blieb dieses Thema bisher weitgehend unbearbeitet. Zwar existiert bereits eine Studie2 zum Thema des Zwangsarbeitereinsatzes an der Reichsforschungsanstalt Insel Riems, allerdings ohne Berücksichtigung der Universität. Das mag auch der schwierigen Quellenlage geschuldet sein.

Quellenlage

Die wichtigsten historischen Überlieferungen zum Thema Zwangsarbeit an der Universität Greifswald befinden sich im zugehörigen Universitätsarchiv, dessen relevante Akten für die vorliegende Untersuchung systematisch ausgewertet wurden. Sie bieten Einsicht in die Güterverwaltung der Universität und der damit verbundenen Beschäftigung der Zwangsarbeiter auf den Gütern, vor allem zu Beginn des Zweiten Weltkrieges. Besonders umfangreich sind dabei die Akten des betriebseigenen Universitätsguts Koitenhagen. Da die übrigen Universitätsgüter verpachtet waren und von den Pächtern eigenverantwortlich geführt wurden, ist bei der Universität keine eigene Aktenüberlieferung über deren Wirtschaftsverwaltung und dem damit verbundenen Zwangsarbeitereinsatz entstanden. Die Universität war als Verpächterin aber für die Genehmigung von Bau- und Meliorationsmaßnahmen auf den Gütern zuständig und hat entsprechende Akten geführt. Die vorhandene Überlieferung betrifft dementsprechend weniger die Zwangsarbeiter selbst bzw. die Art ihres Einsatzes und ihre Versorgung als vielmehr überwiegend ihre Unterbringung und die damit verbundenen Kosten. Eine der wichtigsten Quellen stellen die sogenannten Kriegsstatistiken dar, die einen guten Überblick über die eingesetzten Zwangsarbeiter in den Einrichtungen der Universität bieten und somit erste Zahlen über den Umfang des Einsatzes 1 2

Vgl. das Plädoyer von Wolfgang Benz, Hitlers willige Professoren, in: Der Tagesspiegel vom 14.7.2013. Jan Ulrich Lichte, Die Forschung auf der Insel Riems von 1933 bis 1945 unter besonderer Berücksichtigung der NS-Zwangsarbeiter, Dissertation Greifswald 2011.

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liefern. Personalunterlagen zu Zwangsarbeitern besitzen allerdings Seltenheitswert. Der Umfang der im Universitätsarchiv erhaltenen Quellen zur Zwangsarbeit entspricht nicht den Erwartungen und muss als unbefriedigend bezeichnet werden. Neben der universitären Überlieferung konnten auch einige Artikel der Greifswalder Zeitung herangezogen werden, die den Zwangsarbeitereinsatz im Raum Greifswald beschreiben und so einen Einblick in die Wahrnehmung der Zwangsarbeit seitens der Bevölkerung und der nationalsozialistischen Publikationsorgane geben. Darüber hinaus wurden die sich im Landesarchiv Greifswald befindenden Hofkarten aller Güter der Universität ausgewertet. Quellen aus kommunalen Archiven in Vorpommern konnten leider nicht in die Untersuchung einbezogen werden, da hier keine relevante Überlieferung existiert. Dies trifft sowohl auf das Stadtarchiv Stralsund, das Kreisarchiv in Grimmen, das Kreisarchiv in Demmin, das Kreisarchiv in Hagenow als auch das Stadtarchiv in Greifswald zu. Ähnlich verhält es sich bei den zentralen Überlieferungen. So konnten weder in den Beständen des Bundesarchivs noch im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Angaben über den Zwangsarbeitereinsatz an der Universität ermittelt werden. Ergänzend zu den Nachforschungen in den Archiven wurde die Recherche daher auf andere Einrichtungen ausgedehnt. So wurden beispielsweise die Bestattungslisten des Alten Friedhofs in Greifswald auf Hinweise zu Zwangsarbeitern geprüft. Zwar bestätigen diese Unterlagen, dass Zwangsarbeiter auf dem Alten Friedhof beerdigt wurden, allerdings liefern sie keine Angaben zum Einsatzort der verstorbenen Arbeiter, sodass sie keinen Aufschluss über den Zwangsarbeitereinsatz an der Universität Greifswald geben können. Da Zwangsarbeiter versichert werden mussten und dementsprechend in den Akten der Rentenversicherung registriert waren, wurde auch das Hebekartenarchiv der Deutschen Rentenversicherung (Nord) mit geringem Erfolg gesichtet. Der Bestand der Rentenversicherung ist erst ab dem Jahr 1944 vorhanden und gestattet keine ausreichende Übersicht über den gesamten Untersuchungszeitraum. Ähnlich erfolglos verliefen Recherchen beim Internationalen Suchdienst (ITS) in Bad Arolsen. Hinsichtlich der wichtigsten und zum Thema auskunftsfähigen Provenienzen bleibt festzuhalten, dass weder umfassende Bestände zu den Arbeitsämtern in Greifswald und Umgebung noch zu dem Kriegsgefangenenlager in Greifswald, dem Stalag (Stammlager) II C, existieren.3 Da diese Einrichtungen für die Verteilung der Zwangsarbeiter auf die Güter und die Betriebe zuständig waren, stellt das völlige Fehlen der entsprechenden Überlieferung eine schwerwiegende Einschränkung für die Untersuchung dar. Nicht in die Untersuchung einbezogen wurden russische und französische bzw. belgische Archive. Ihre Auswertung muss künftigen Forschungen vorbehalten bleiben. 3

Nach jeweiliger Anfrage sowohl beim Stadt- als auch beim Landesarchiv Greifswald.

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Definition: Zwangsarbeiter

Die zeitgenössischen Quellen kennen den Begriff der Zwangsarbeit nicht. An seiner Stelle begegnen zahlreiche Synonyme,4 die es notwendig erscheinen lassen, zunächst den Begriff näher zu bestimmen. Bei „Zwangsarbeitern“ handelte es sich um keine homogene Gruppe. Vielmehr umfasst der Begriff Zwangsarbeiter Personen, die unter ganz unterschiedlichen Bedingungen zur Arbeit in Deutschland genötigt wurden.5 Bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Zwangsarbeit zum Gegenstand der Nürnberger Prozesse.6 Schon damals wurde der Begriff der Zwangsarbeiter nicht umfassend definiert, sondern der Fokus vor allem auf die zwangsdeportierten Zivilarbeiter aus den besetzten Gebieten und weniger auf Kriegsgefangene oder außerhalb Deutschlands eingesetzte Zivilarbeiter gelegt. Für eine systematische historische Betrachtung ist diese Einschränkung allerdings nicht zielführend. Der Historiker Ulrich Herbert geht dementsprechend von einem wesentlich weiter gefassten Begriff des Zwangsarbeiters aus, der v.a. nicht an den Einsatz in Deutschland gebunden ist. Unter die Zwangsarbeiter rechnet er: „1. Die Millionen von Bewohnern der von der Wehrmacht besetzten Länder und Gebiete, die in ihren Heimländern Zwangsarbeit für die Deutschen leisten mussten. 2. Diejenigen ausländischen Zivilarbeiter und Kriegsgefangene, die in einem anderen von den Deutschen besetzten Land zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden – wie etwa Tausende von sowjetischen Zivilarbeitern bei den militärischen Befestigungsanlagen an der französischen und norwegischen Westküste. 3. Die KZ-Häftlinge, die innerhalb der Lager oder in privaten Rüstungsunternehmen zur Zwangsarbeit herangezogen wurden. 4

5

6

Folgende Synonyme fanden in den Akten Verwendung: Wanderarbeiter, Saisonarbeiter, Ostarbeiter, Zivilarbeiter, Zivilangestellter, Hilfskraft, Kriegsgefangener, Ausländer (aller entsprechenden Nationalitäten). Ob weitere Bezeichnungen genutzt wurden, kann dabei nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Vereinzelt meldeten sich ausländische Arbeiter auch „freiwillig“ zur Arbeit. Diese offiziell propagierte „Freiwilligkeit“ stellt aber nur eine andere Form des „Zwangs“ dar. Zu diesem Problem äußerte sich der Historiker Ulrich Herbert wie folgt: „Der Begriff ‚Freiwilligkeit‘ hat insofern keinen präzise definierbaren materiellen Inhalt, er beschreibt ein Stück Menschenwürde, die verloren gehen kann. Nicht Herr seiner Entscheidungen zu sein, bedeutet, die Verhältnisse, seien sie gut oder schlecht, hinnehmen zu müssen, ohne aus eigener Kraft etwas daran ändern zu können. Insofern trifft für viele […] zu, dass sie lieber in Armut und Angst weiter in Polen […] blieben, als unter […] (vielleicht) erträglichen Bedingungen, aber gegen ihren Willen und rechtlos in Deutschland zu arbeiteten.“ Vgl. Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn ³1999, S. 96. Vgl. Annette Weinke, Die Nürnberger Prozesse, München 2006, S. 30, 55.

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4. Die Juden aus fast allen europäischen Ländern, die zunächst in ihren Heimatländern und dann nach ihren Deportationen vor allem in Polen – in den Gettos und Zwangsarbeiterlagern, für deutsche Rüstungsunternehmen, Wehrmachts- oder SS-eigene Betriebe-, dann ab 1944 auch im ‚Reich‘ Zwangsarbeit leisten mussten.“7

Mark Spoerer hat die Gruppen den Zwangsarbeiter nicht hinsichtlich der Einsatzorte, sondern unter dem Fokus der unterschiedlichen Existenzbedingungen definiert. „1. Freiwillige ausländische Zivilarbeiter. Sie konnten den ganzen Krieg hindurch Deutschland verlassen […]. Zu dieser Gruppe zählen Arbeiter aus den verbündeten Staaten Bulgarien, Italien (bis 1943), Kroatien, Rumänien, Slowakei und Ungarn, aus dem neutralen Spanien und aus dem besetzten Dänemark. Außerdem sind viele Arbeiter aus West- und Südeuropa zu ihnen zu rechnen, die in den ersten Kriegsjahren freiwillig nach Deutschland kamen. 2. Zwangsarbeiter mit etwas Einfluss auf ihre Existenzbedingungen und normaler oder nur geringfügig erhöhter Sterbewahrscheinlichkeit. Unabhängig davon, ob sie ursprünglich freiwillig oder durch Zwang nach Deutschland gekommen waren, unterlagen sie einer Dienstverpflichtung, hatten aber geringfügige Chancen, ihre Existenzbedingungen zu verbessern. Zu ihnen zählen Zivilarbeiter aus den besetzten Gebieten außerhalb Polens und der Sowjetunion, […] außerdem verschiedene Kriegsgefangene, vor allem aus Belgien, Frankreich, Großbritannien und Jugoslawien. 3. Zwangsarbeiter ohne nennenswerten Einfluss auf ihre Existenzbedingungen und mit deutlich überdurchschnittlicher Sterblichkeit. Zu ihnen zählen die Zivilarbeiter aus Polen und der Sowjetunion sowie die polnisch-nichtjüdischen und italienischen Kriegsgefangenen. 4. Zwangsarbeiter ohne jeglichen Einfluss auf ihre Existenzbedingungen und mit extrem hoher Sterblichkeit. Zu ihnen zählen die polnisch-jüdischen und sowjetischen Kriegsgefangenen, Häftlinge aus Konzentrationslagern und Arbeiterziehungslagern sowie ‚Arbeitsjuden‘ aus Zwangsarbeiterlagern und Ghettos.“8

Eine eher juristische Differenzierung und Definition von Zwangsarbeit wurde im Rahmen der Entschädigungsverhandlungen in den 1990er Jahren in der Bundesrepublik von politischer Seite vorgenommen. Nach langwierigen und kontroversen Verhandlungen konnte im Dezember 1999 das Gesetz zur Errichtung der Stiftung 7 Herbert, Fremdarbeiter (wie Anm. 5), S. 417. 8 Mark Spoerer, Zwangsarbeit unterm Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939–1945, Stuttgart/München 2001, S. 16f.

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„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ auf den Weg gebracht und im Juli des Folgejahres verabschiedet werden. In der Einleitung des Gesetzestextes wird dabei noch von „Sklaven- und Zwangsarbeitern“ gesprochen, denen „der nationalsozialistische Staat […] durch Deportation, Inhaftierung, Ausbeutung bis hin zur Vernichtung durch Arbeit und durch eine Vielzahl weiterer Menschenrechtsverletzungen schweres Unrecht zugefügt hat“.9 Das Wort „Sklaven“ wird im weiteren Verlauf nicht mehr benutzt. Stattdessen wurde eine Unterscheidung nach dem „Schädigungsgrad“ der Betroffenen vorgenommen, sodass die Leistungsberechtigten in drei Kategorien aufgeteilt wurden. Leistungsberechtigt nach dem Gesetz ist dementsprechend, wer: 1. in einem Konzentrationslager oder in einer anderen Haftstätte außerhalb des Gebietes der heutigen Republik Österreich oder einem Ghetto unter vergleichbaren Bedingungen inhaftiert war und zur Arbeit gezwungen wurde, 2. aus dem Heimatstaat in das Gebiet des Deutschen Reichs in den Grenzen von 1937 oder in ein vom Deutschen Reich besetztes Gebiet deportiert wurde, zu einem Arbeitseinsatz in einem gewerblichen Unternehmen oder im öffentlichen Bereich gezwungen und unter anderen Bedingungen als den in Nummer 1 genannten inhaftiert oder haftähnlichen Bedingungen oder vergleichbar besonders schlechten Lebensbedingungen unterworfen war, 3. im Zuge rassischer Verfolgung unter wesentlicher, direkter und schadensursächlicher Beteiligung deutscher Unternehmen Vermögensschäden im Sinne der Wiedergutmachungsgesetze erlitten hat (Enteignungen durch den NS-Staat).10 In diesem Gesetz blieben jedoch einzelne Gruppen von Zwangsarbeitern unberücksichtigt. Das betraf vor allem diejenigen, die in der Land-, Forst- und Hauswirtschaft beschäftigt waren. Ferner wurden Kriegsgefangene nicht als Zwangsarbeiter betrachtet, da sich deren Arbeitseinsatz im Rahmen der Regelungen des Genfer Kriegsgefangenenabkommens von 1929 bewegte.11 Ebenso fehlt ein Verweis auf solche Zwangs9

Präambel des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ vom 2.8.2000, Bundesgesetzblatt (künftig: BGBl.) 2000, I 1263. 10 Vgl. § 11 Leistungsberechtigte des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ vom 2.8.2000, BGBl. 2000, I 1267. 11 Am 27.6.2013 fand im Deutschen Bundestag eine Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der SPD und Bündnis 90/Die Grünen „Anerkennung der an den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen begangenen Verbrechen als nationalsozialistisches Unrecht und Gewährung eines symbolischen finanziellen Anerkennungsbetrages für diese Opfergruppe“ statt. Der Finanzausschuss empfahl dem Parlament, den Antrag abzulehnen, was schließlich auch geschah. Vgl. http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/17/17250.pdf, hier Tagesordnungspunkt 79ff. (letzter Zugriff: 24.5.2013).

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arbeiter, die nach Ulrich Herberts Unterteilung ihre Arbeit in ihrem Heimatland zu verrichten hatten und selbst nicht deportiert wurden.12 Für eine historische Betrachtung der Zwangsarbeit ist die Unterscheidung des Gesetzgebers nicht hilfreich. Im Rahmen dieser Fallstudie schließe ich insbesondere die Kriegsgefangenen in die Betrachtung „Zwangsarbeit“ ein, obwohl die Genfer Konvention aus dem Jahre 1929 ihren Einsatz zur Arbeit grundsätzlich erlaubte.13 Für dieses Vorgehen gibt es mehrere Gründe: 1. Sowjetische Kriegsgefangene sollten nach Meinung des NS-Regimes nicht nach den Richtlinien der Genfer Konvention behandelt werden, da die Sowjetunion die Genfer Konvention nicht unterzeichnet hatte.14 2. Während des Krieges wurden ehemalige polnische, französische und italienische Kriegsgefangene als „Zivilarbeiter“ deklariert, sodass eine klare Trennung zwischen Kriegsgefangenen und Zivilarbeitern nicht mehr nachvollzogen werden kann.15 3. Ausländische Kriegsgefangene durften, nach den Bestimmungen der Genfer Konventionen, nicht zu Arbeiten herangezogen werden, die in „unmittelbarer Beziehung zu den Kriegshandlungen stehen. Insbesondere ist es verboten, Gefangene zur Herstellung und zum Transport von Waffen oder Munition aller Art […] zu verwenden.“16 Da Kriegsgefangene während der Dauer des Krieges zu Zivilarbeitern erklärt, die sowjetischen Kriegsgefangenen nicht durchweg nach den Vorschriften der Genfer Konventionen behandelt und Kriegsgefangene auch in den Rüstungsbetrieben eingesetzt wurden, erweist sich eine formal begründbare Trennung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern als nicht haltbar. Als Zwangsarbeiter werden demnach im Rahmen dieser Untersuchung alle ausländischen Arbeitskräfte − Zivilarbeiter, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene nichtbefreundeter Staaten (Italien bis 1943) −, die im Auftrag des Deutschen Reiches im In- und Ausland arbeiten mussten, betrachtet. 12 Vgl. Bernhard Strebel, Jens-Christian Wagner, Zwangsarbeit für Forschungseinrichtungen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1939–1945. Ein Überblick, Berlin 2003, S. 8. 13 Vgl. Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen vom 27. Juli 1929, Dritter Abschnitt „Arbeit der Kriegsgefangenen“, Artikel 27 bis 35, in: Reichsgesetzblatt (künftig: RGBl.) 1934, II, 239–241. 14 Vgl. Alfred Streim, Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im „Fall Barbarossa“. Eine Dokumentation unter Berücksichtigung der Unterlagen deutscher Strafverfolgungsbehörden und der Materialien der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NSVerbrechen, Heidelberg/Karlsruhe 1981, S. 33. 15 Vgl. „Gefangene werden Zivilarbeiter“, in: Greifswalder Zeitung (künftig: GZ) vom 21.7.1943 und „Zunehmender Arbeitseinsatz der Franzosen“, in: GZ vom 28.7.1943. 16 Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen vom 27. Juli 1929, 3. Abschnitt „Arbeit der Kriegsgefangenen“, Artikel 31, in: RGBl. 1934, II, 240.

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Grundlegende Informationen zur Zwangsarbeit in Greifswald

Am 30. September 1944 zählten die Arbeitsämter der Region Pommern 225.190 registrierte Zwangsarbeiter. Auf Stettin entfielen dabei ca. 40.000, auf Stralsund ca. 33.000 und Greifswald zählte 14.714 zivile Zwangsarbeiter, die dem dortigen Arbeitsamt gemeldet waren und in der Umgebung eingesetzt wurden.17 Dabei nicht mit einberechnet waren die zahlreichen Kriegsgefangenen, welche in den Stammlagern untergebracht waren. Solche Stalags waren innerhalb kürzester Zeit nach Beginn des Krieges in Pommern, das zusammen mit Mecklenburg und Teilen Brandenburgs dem Wehrkreis II zugeordnet war, entstanden. In Greifswald wurde das Stalag II C eingerichtet, in dem vor allem französische, belgische und sowjetische Kriegsgefangene untergebracht wurden.18 Einer dieser Kriegsgefangenen war der belgische Unteroffizier Firmin Pierre Durieu, der 1940 nach dem Ende der Kämpfe um Belgien in das Stalag II C nach Greifswald kam. Durieu wurde in der Landwirtschaft in der Nähe der Stadt Grimmen eingesetzt. Ihm verdanken wir eine der wenigen Aufzeichnungen, die Einblick in das Alltagsleben im Stalag II C bieten.19 Das Stalag II C befand sich auf dem Gelände der Graf-von-Schwerin-Kaserne in Greifswald, die 1937 erbaut wurde und in der Nähe der heutigen Hans-BeimlerStraße (Ecke Karl-Liebknecht-Ring) gelegen war. Die Gefangenen waren in den Baracken und in den Garagen auf dem Gelände der Kaserne untergebracht. Sie mussten auf dreistöckig angeordneten Schlafpritschen schlafen. Die Räume waren für die große Zahl der Gefangenen zu klein, und Ungeziefer war, trotz umfangreicher Desinfektionsmaßnahmen eine ständige Plage.20 Die Versorgung mit Nahrungsmitteln beschreibt Durieu als „dürftig“, so bestanden die täglichen Rationen der Gefangenen nur aus „einem Viertel oder Fünftel Laib Brot, etwas Margarine, einem Stückchen 17 Vgl. Mark Spoerer, NS-Zwangsarbeit im Deutschen Reich. Eine Statistik vom 30. September 1944 nach Arbeitsamtsbezirken, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 4 (2001), S. 674. 18 Vgl. Florian Ostrop, Zum Einsatz und zu den Lebensbedingungen von ausländischen Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkrieges in Mecklenburg-Vorpommern, in: Martin Albrecht (Hg.), Rüstung und Zwangsarbeit im nationalsozialistischen Mecklenburg und Vorpommern (= Beiträge zur Geschichte von Mecklenburg-Vorpommern; 11), Schwerin 2005, S. 33f. 19 Vgl. Firmin Pierre Durieu, Erinnerungen an das Kriegsgefangenen-Stammlager II C in Greifswald, in: Heimathefte für Mecklenburg und Vorpommern, 14 (2004), S. 16–20. Auch die Greifswalder Zeitung widmete dem Kriegsgefangenenlager in Greifswald einen Artikel. Dabei bediente sich diese vor allem dem rassistischen Vorurteil des „dreckigen Russen“ und kann somit nur als Hetzschrift aufgefasst werden. Die Begebenheiten im Lager wurden sogar als normal und annehmbar bezeichnet. Vgl. „Hinter dem Stacheldraht eines Gefangenenlagers“, in: GZ vom 3.10.1942. 20 Vgl. Durieu, Erinnerungen (wie Anm. 19), S. 17. Die Ausführungen stimmen im Wesentlichen mit denen eines anderen Gefangenen überein; vgl. Louis Masset, L’odyssée du prisonnier de guerre 30362. Stalag 2C, Liège 1984, S. 59–83.

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Käse beziehungsweise zwei oder drei Scheibchen Wurst aus Pferdefleisch. Mittags gab es eine kraftlose Brühe oder Suppe mit Rüben oder Kohl. Manchmal erhielten wir drei bis vier Pellkartoffeln.“ Unter Arrest stehende Gefangene erhielten weit weniger. Durieu erklärte, dass ihm „die karge Beköstigung […] unvergesslich“ bleiben werde.21 Abhilfe schafften hin und wieder die „Liebesgaben-Pakete“ aus der Heimat, die westliche Gefangene erhalten durften. Darüber hinaus wurden die Gefangenen mit Nahrungs- und Genussmitteln des Roten Kreuzes versorgt. Dieses Zusatzangebot erleichterte das Leben im Lager etwas, da die Pakete bei den Deutschen sehr begehrt waren und somit Tauschgeschäfte ermöglichten. Zudem war es den westlichen Gefangenen erlaubt, Briefe an ihre Familien zu schreiben und Freizeitaktivitäten auf dem Gelände des Lagers nachzugehen wie Schach- oder Fußballspielen. Da auch einige Schauspieler unter den Lagerinsassen waren, wurden auch Lageraufführungen inszeniert. Laut Durieu konnten sich die Gefangenen auf diese Weise etwas von dem harten Alltag im Lager und den Arbeitseinsätzen in der Umgebung ablenken.22 Die Befreiung des Lagers erfolgte durch die Rote Armee am 30. April 1945, nachdem am Abend zuvor die kampflose Übergabe der Stadt vereinbart worden war. Die Kriegsgefangenen blieben anfangs noch kurze Zeit im Lager, ehe sie dieses am 2. Mai 1945 verließen. Das Lager selbst wurde kurz darauf geschlossen.23

Zwangsarbeit auf den Gütern der Universität Greifswald

Landwirtschaftliche Betriebe und Güter waren zu Beginn des Krieges die Haupteinsatzorte der ersten Zwangsarbeiter.24 Im agrarisch geprägten Pommern herrschte – seit dem Kriegsausbruch − vor allem in den landwirtschaftlichen Betrieben und angesichts der bevorstehenden Ernte ein großer Arbeitskräftemangel. Am 26. September 1939 erschien ein Artikel in der Greifswalder Zeitung, der das Arbeitskräfteproblem der Landwirtschaft umriss und die Grundzüge des bevorstehenden Kriegsgefangeneneinsatzes erläuterte: „Die Kriegsgefangenen werden von den Kriegsgefangenenstammlagern […] für den Arbeitseinsatz zur Verfügung gestellt. Bei welchen Arbeiten und in welchen Orten Kriegsgefangene einzusetzen sind, muß unter Berücksichtigung der allgemeinen Arbeitseinsatzlage und der besonderen Erfordernisse der Kriegswirtschaft entschieden 21 Durieu, Erinnerungen (wie Anm. 19), S. 17f. 22 Durieu, Erinnerungen (wie Anm. 19), S. 18ff. 23 Vgl. Durieu, Erinnerungen (wie Anm. 19), S. 20. 24 Vgl. Ostrop, Einsatz und Lebensbedingungen (wie Anm. 18), S. 37.

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werden. […] Mit Rücksicht auf die besondere ernährungswirtschaftliche Bedeutung der Landwirtschaft in Kriegszeiten, werden Kriegsgefangene in erster Linie der Landwirtschaft zur Verfügung gestellt. Der Kräftebedarf der Landwirtschaft ist im Hinblick auf die Hackfruchternte besonders groß und muss zunächst voll befriedigt werden. Betrieben können Kriegsgefangene erst zugewiesen werden, nachdem der Bedarf der Landwirtschaft gedeckt ist.“25

Die Universität Greifswald war mit über 14.000 Hektar Landbesitz eine der größten Grundbesitzerinnen der Provinz Pommern.26 Bereits mit der Übernahme des Amtes Eldena durch den damaligen Herzog von Pommern 1634 erhöhte sich die Größe des Landbesitzes immens und dehnte sich im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts weiter auf dreißig Ortschaften aus.27 Diese Besitzungen blieben der Universität bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhalten und machten sie zu einer der reichsten Universitäten in Deutschland.28 Der größte Teil des ländlichen Grundbesitzes wurde über mehrere Jahre hinweg an einzelne Landwirte verpachtet, sodass er sich auf ca. fünfzig Pachtgüter verteilte. Davon ausgenommen waren das seit 1937 betriebseigene Universitätsgut Koitenhagen und die Wälder des Universitätsforstamtes. Beide wurden von der Universität in Eigenregie bewirtschaftet.

Das Universitätsgut Koitenhagen

Das Universitätsgut Koitenhagen wurde seit 1937 nicht mehr verpachtet, sondern dem Landwirtschaftlichen Institut der Universität angeschlossen und – neben dem eigentlichen Wirtschaftsbetrieb − für entsprechende Forschungs- und Versuchszwecke genutzt. So wurden auf dem Gut selbst Versuche zur Steigerung der Ertragsleistung angestellt. Zugleich wurde so gewirtschaftet, dass das Gut landwirtschaftlich rentabel blieb.29 Als Eigenbetrieb hat sich zum Universitätsgut Koitenhagen eine dichte Aktenüberlieferung aus der NS-Zeit erhalten, dank derer wir den Einsatz von Zwangsarbeitern auf dem Gut vergleichsweise detailliert nachvollziehen können. 25 Zitiert nach: „Arbeitseinsatz von Kriegsgefangenen“, in: GZ vom 26.9.1939. Die Hervorhebungen wurden aus dem Original übernommen. 26 Vgl. Ivo Asmus, Die Universität Greifswald als Gutsherrin in der Frühen Neuzeit, in: Dirk Alvermann, Karl-Heinz Spieß (Hg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550- Jahrfeier der Universität Greifswald 1456–2006, Bd. 2, Stadt, Region und Staat, Rostock 2006, S. 86. 27 Vgl. Asmus, Die Universität als Gutsherrin (wie Anm. 26), S. 68–73. 28 Vgl. Asmus, Die Universität als Gutsherrin (wie Anm. 26), S. 85. 29 Vgl. Universitätsarchiv Greifswald (künftig: UAG), Kurator K 3450, Bl. 259.

Zwangsarbeit an der Universität

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Auf dem Universitätsgut Koitenhagen existierte bis zum Januar 1941 ein eigenes Gefangenenlager für die kriegsgefangenen Zwangsarbeiter.30 Nach der Auflösung des Lagers sollten die Zwangsarbeiter (sechs von insgesamt acht belgischen Kriegsgefangenen) ab Mai 1941 in einem Gasthof untergebracht werden. Allerdings kam es zum Streit der Universität mit dem Gastwirt des Gasthofes, da dieser einen höheren Preis verlangte, als die Universität veranschlagt hatte.31 Die Auseinandersetzung führte schließlich dazu, dass die Kriegsgefangenen ab Juni 1941 wieder auf dem Gut Koitenhagen untergebracht wurden.32 Durch die Schwierigkeiten bei der Unterbringung von Zwangsarbeitern blieb die Universität auf die dauernde Unterhaltung des Gefangenenlagers in Koitenhagen angewiesen. Da die Räumlichkeiten auf anderen Gütern ebenfalls knapp waren, wurden dort 1941 auch zwei kriegsgefangene belgische Zwangsarbeiter aus dem Hof Groß-Schönwalde untergebracht. Im Gegenzug musste Groß-Schönwalde einen einfachen deutschen Arbeiter als Wachmann abstellen.33 Genauere Angaben über die Anzahl der Zwangsarbeiter erhalten wir aus gelegentlichen Mitteilungen. Einem Schreiben von Ende April 1941 zufolge wurden dem Gut statt vier Wanderarbeitern acht Kriegsgefangene zugewiesen.34 1942 wurden zwei polnische Arbeiter und zwei Kriegsgefangene erwähnt.35 1943 befanden sich acht ausländische Arbeiter auf dem Gut.36 Für statistische Erhebungen eignen sich solche „Zufallsfunde“ jedoch kaum. Als Landwirtschaftsbetrieb besaß das Gut allerdings eine entsprechende Hofkarte, auf der alle Statistiken und Kennziffern des Hofes verzeichnet waren.37 Solche Hofkarten stellen die wichtigste Quelle für statistische Erhebungen zur Zwangsarbeit auf den Gütern dar. Ihrer Auswertung stellen sich allerdings Schwierigkeiten entgegen, die am Beispiel Koitenhagens kurz skizziert werden sollen. Die Hofkarte bietet – neben zahlreichen anderen Kategorien – zwei Spalten, in denen neben deutschen Arbeitskräften auch Zwangsarbeiter eingetragen werden konnten. Das betrifft die Gruppe der „nicht ständig Beschäftigten“ und die Gruppe der „sonstigen familienfremden Arbeitskräfte“, die zu den ständig Beschäftigten zählten. Auf der Hofkarte von Koitenhagen weisen die „sonstigen familienfremden Arbeits30 Vgl. UAG, Kurator K 3455, Bl. 203. 31 Vgl. UAG, Kurator K 3455, Bl. 198. 32 Vgl. UAG, Kurator K 3455, Bl. 205, 224. Der Streit mit dem Gastwirt dauerte noch bis Ende August desselben Jahres. 33 Vgl. UAG, Kurator K 3450, Bl. 297. 34 Vgl. Schreiben vom 26.4.1941, UAG, Kurator K 3450, Bl. 240. 35 Vgl. Schreiben vom 13.10.1942, UAG, Kurator K 3450, Bl. 275. 36 Vgl. UAG, Kurator K 3450, Bl. 238. 37 Vgl. Hofkarte des Guts Koitenhagen von 1941 bis 1943, UAG, Kurator K 3455, Bl. 218.

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kräfte“ meist eine niedrigere Zahl auf als die der „nicht ständig Beschäftigten“.38 In den Erläuterungen zur Hofkarte 1941/1944 heißt es zur Unterscheidung der beiden Gruppen: „Als ständig beschäftigte Familien- und Betriebsangehörige gelten alle die, die in der Regel das ganze Jahr über im Betriebe tätig sind. Als nicht ständige Arbeitskräfte sind die aufzuführen, die nicht während des ganzen Jahres, aber doch mindestens fünf Arbeitstage im Betrieb tätig sind. Arbeitskräfte, die weniger als fünf Arbeitstage im Betriebe arbeiten, die also nur Gelegenheits- und Aushilfsarbeiten verrichten, bleiben unberücksichtigt. […] Bei den beschäftigten Personen […] sind alle die aufzuführen, die in der Regel das ganze Jahr über vom Betrieb beschäftigt werden. […] Gelegentliche Beschäftigung von Erntehelfern, Besuchern usw. bleibt (in der Gruppe der ständig beschäftigten Betriebsangehörigen) unberücksichtigt.“ 39

Da die meisten Zwangsarbeiter vor allem zur Erntehilfe und bei Bauarbeiten eingesetzt wurden, also nicht das ganz Jahr auf dem Hof anwesend waren, können wir davon ausgehen, dass diese größtenteils unter die Rubrik der nicht ständig Beschäftigten fielen. Dies traf vor allem auf die Kriegsgefangenen zu. Zivile Zwangsarbeiter waren vereinzelt auf den Gütern tätig, dann allerdings entweder als Erntehelfer oder für das ganze Jahr auf dem Gut.40 Es ist sehr wahrscheinlich, dass Kriegsgefangene immer unter dem Punkt „nicht ständig Beschäftigte“ aufgezählt wurden und zivile Zwangsarbeiter in beiden Gruppen vorkamen. Andererseits ist auch nicht eindeutig auseinanderzuhalten, wie viele deutsche Arbeitskräfte sich innerhalb der beiden erwähnten Gruppen befanden. Wegen des allgemeinen Arbeitskraftmangels kann aber davon ausgegangen werden, dass zumindest die Gruppe der nicht ständig Beschäftigten zum größten Teil aus ausländischen Arbeitskräften bestand. Die Hofkarte des Gutes Koitenhagen weist 1941 elf, 1942 zwölf und 1943 elf nicht ständig Beschäftigte aus.41 Diese Gruppe ist nicht deckungsgleich mit der der zivilen oder kriegsgefangenen Zwangsarbeiter, welche in den oben erwähnten Korrespondenzen des Guts genannt werden. Sie stimmen auch nicht mit den Angaben der sogenannten Kriegsstatistiken für die Jahre 1941 bis 1943 überein, die die ge38 Dieser schwankt immer zwischen ein und drei Personen, vgl. Hofkarte Koitenhagen, UAG, Kurator K 3455, Bl. 218. 39 Erläuterung zur Hofkarte 1941/44, UAG, Kurator K 3455, Bl. 219–220. 40 So ist ersichtlich, dass die einzige weibliche ausländische Arbeitskraft auf dem Gut Koitenhagen als Magd tätig war und im Bereich der „sonstigen Arbeiter“ aufgezählt wurde, folglich zu den „ständig Beschäftigten“ zählte. 41 Vgl. Hofkarte Koitenhagen, UAG, Kurator K 3455, Bl. 218.

Zwangsarbeit an der Universität

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nauen Zahlen der Zwangsarbeiter melden. Hier werden für das Gut Koitenhagen 1941 neun, 1942 acht und 1943 zwölf42 Ausländer bzw. Kriegsgefangene angegeben. Außerdem darf nicht unerwähnt bleiben, dass generell von einer hohen Dunkelziffer der eingesetzten Zwangsarbeiter auf den Gütern ausgegangen werden muss, da viele Zwangsarbeiter weniger als fünf Tage beschäftigt waren und dadurch nicht auf den Hofkarten registriert wurden. Leider stehen Kriegsstatistiken nur für das Universitätsgut Koitenhagen, nicht aber für die Pachtgüter zur Verfügung, sodass für die Gewinnung von statistischen Annäherungswerten über den Einsatz von Zwangsarbeitern auf den Gütern lediglich auf die Hofkarten zurückgegriffen werden kann. Hierbei werden v.a. die Angaben über die nicht ständig Beschäftigten zugrunde gelegt. Aufgrund der oben geschilderten Ausgangslage kann nur mit Schätzungen gearbeitet werden.

Pachtgüter der Universität

Die Universität war Verpächterin von rund fünfzig Gütern im Raum Greifswald. Hinsichtlich des Einsatzes von Zwangsarbeitern auf den verpachteten Gütern der Universität Greifswald lassen sich zwei Bereiche deutlich voneinander abgrenzen: zum einen die landwirtschaftlichen Arbeiten (Aussaat, Ernte) und zum anderen Bauarbeiten. So wurden 1940, nachdem auf dem Gut Groß Kieshof Bombenabwürfe zu Übungszwecken stattgefunden hatten, zwölf Zwangsarbeiter zu Planierarbeiten eingesetzt.43 Auf den Universitätsgütern Boltenhagen, Levenhagen und Tremt wurden im selben Jahr insgesamt zwanzig Zwangsarbeiter zu Dränagearbeiten eingesetzt.44 Zusätzlich sollten zehn weitere Zwangsarbeiter für das Gut in Tremt abgestellt werden, um einen im Februar 1940 abgebrannten Viehstall wieder aufzubauen.45 Aufgrund der zur gleichen Zeit anlaufenden Ernte und des Mangels an Zwangsarbeitern – das Arbeitsamt in Stralsund konnte im Herbst des Jahres 1940 keine weiteren Zwangsarbeiter zur Verfügung stellen46 – mussten die Dränagearbeiten auf dem Gut Tremt zurückgestellt werden.47 42 UAG, Kurator K 5613, Bl. 38. 43 Vgl. UAG, Kurator K 3375, Bl. 118. Die Bombardierung des Hofes stellte sich als Irrtum der Luftwaffe heraus. Auf Druck der Universität wurde eine Entschädigung gezahlt und Zwangsarbeiter eingesetzt. Kurze Zeit später wurden die Bauarbeiten abgeschlossen, vgl. UAG, Kurator K 3375, Bl. 184. 44 Vgl. Mitteilung vom 7.6.1940, UAG, Kurator K 4231, Bl. 20. 45 Vgl. Mitteilung vom 23.8.1940, UAG, Kurator K 4223, Bl. 63. 46 Vgl. Mitteilung vom 14.10.1940, UAG, Kurator K 4231, Bl. 43. 47 Vgl. Mitteilung vom 7.10.1940, UAG, Kurator K 4231, Bl. 42.

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In allen oben skizzierten Fällen handelte es sich um Kriegsgefangene, die abgestellt werden sollten. Überhaupt scheinen vor allem Kriegsgefangene auf den Universitätsgütern als Zwangsarbeiter eingesetzt worden zu sein. Über die genaue Anzahl der zwischen 1939 und 1945 zu gelegentlichen Bauarbeiten auf den Gütern eingesetzten Zwangsarbeiter lassen sich anhand der Überlieferungen im Universitätsarchiv keine Angaben machen. Umfangreichere Angaben besitzen wir über die unmittelbar in der Landwirtschaft eingesetzten Zwangsarbeiter. Der Kriegsausbruch und die damit verbundenen Einberufungen führten Ende 1939 zu einem Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft, zumal im Oktober die Hackfruchternte anstand. Aus einer Anforderung der Pächter der ca. fünfzig Universitätsgüter von Anfang Oktober 1939 erfahren wir, dass der Arbeitskräftemangel durch den Einsatz von Kriegsgefangenen kompensiert werden sollte und dass ein Gesamtbedarf von 212 polnischen Kriegsgefangenen angemeldet worden war.48 Da die Bereitstellung der versprochenen Zwangsarbeiter für die Güter der Universität nicht fristgerecht erfolgte, wandten sich die Pächter an den Güterdirektor der Universität.49 Dieser richtete Bittschreiben an den Kreisbauernführer des Kreises Grimmen und an das Arbeitsamt in Greifswald, in denen er um polnische Kriegsgefangene für die Güter der Universität bat.50Als dies nicht geschah und nachdem auch Anfragen bei den Landräten der Kreise Greifswald und Grimmen, bei den Kreisbauernführern und beim Arbeitsamt erfolglos verlaufen waren,51 richtete die Universität entsprechende Benachrichtigungen an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Bildung, an den Regierungspräsidenten in Stettin, an den Landesbauernführer Bloedorn und an das stellvertretende Generalkommando des II. Armeekorps in Stettin: „Die Universität besitzt rund 50 Güter und Höfe, die fast sämtlich verpachtet sind. Die Pächter dieser Güter bedrängen mich immer mehr, dafür Sorge zu tragen, dass ihnen die nötigen Gefangenen zur rechtzeitigen Bergung der Hackfruchternte zugewiesen werden. Ohne Gefangenenhilfe sind sie dazu nicht in der Lage, weil viele ihrer Leute zur Wehrmacht einberufen sind und weil sie auch einen großen Teil ihrer Pferde abgeben müssen. Ihre Bemühungen sind bislang erfolglos geblieben, ebenso meine Bemühungen bei den örtlichen Dienststellen. […] Die Bergung der Hack48 Vgl. Mitteilungen ab dem 5.10.1939, UAG, Kurator K 2209, Bl. 105–120. 49 Vgl. Anfragen und Beschwerden an Güterdirektor Hoepner, UAG, Kurator K 2209, Bl. 122 und Rundschreiben der Universität an die Pächter vom 12.10.1939, UAG, Kurator K 2209, Bl. 121. 50 Vgl. Schreiben an den Kreisbauernführer und das Arbeitsamt Greifswald, UAG, Kurator K 2209, Bl. 121. 51 Vgl. Schreiben an diverse Ämter vom 18.10.1939, UAG, Kurator K 2209, Bl. 125–126 und Schreiben vom 15.10.1939, UAG, Kurator K 2209, Bl. 124 und UAG, Kurator K 3454, Bl. 23.

Zwangsarbeit an der Universität

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fruchternte liegt nun aber nicht nur im persönlichen Interesse der davon betroffenen einzelnen Landwirte […], sondern im noch höheren Maße im allgemeinen Interesse des deutschen Vaterlandes.“52

Das Regierungspräsidium in Stettin erklärte darauf, dass zwar die Kartoffelernte in Ost- und Mittelpommern bisher stärker berücksichtigt worden war, allerdings schon 26.000 neue polnische Kriegsgefangene in nächster Zeit für die gesamte Region Pommern erwartet werden konnten.53 Diese Mitteilung veranlasste den Universitätskurator dazu, alle Pächter aufzufordern, neue Anträge an die zuständigen Instanzen zu stellen.54 Beinahe gleichzeitig beruhigte das stellvertretende Generalkommando in Stettin den Kurator, dass die Verlegung von 40.000 Kriegsgefangenen bevorstünde, welche allerdings aufgrund der schwierigen Transportlage noch nicht einsatzfähig gemacht werden konnten. Allerdings wurde versichert, dass in den nächsten Tagen 2000 Gefangene für den Raum Greifswald und weitere 2.500 Gefangene für den Raum Stralsund bereitgestellt werden sollten.55 Kurz darauf vermochte ein Schreiben des Landesbauernführers, in dem er versicherte, dass die Probleme bald beseitigt sein würden und mit allen entsprechenden Ämtern zusammengearbeitet werden würde,56 die Spannung zu lösen. Einen ähnlichen Tenor hatte die Antwort des Präsidenten des Landesarbeitsamts Pommerns vom 30. Oktober 1939, der versicherte, dass mit den demnächst erfolgenden Zuweisungen alle Probleme beseitigt werden würden.57 Ein abschließendes Dankschreiben des Güterdirektors vom 3. November 1939 an die genannten Dienststellen lässt vermuten, dass schließlich alle Güter tatsächlich mit den 212 angeforderten Kriegsgefangenen versorgt werden konnten.58 Aus dem Jahr 1941 existiert eine ähnliche Bedarfsmeldung der Universität über einhundert sogenannte Wander- oder Saisonarbeiter, die zur Erntehilfe auf den Gütern eingesetzt werden sollten.59 Der Anfrage wurde allerdings nicht entsprochen und lediglich zehn Kriegsgefangene konnten in Aussicht gestellt werden.60 Ob und in wel52 Zitiert nach: Schreiben von Kurator Kolbe an das stellvertretende Generalkommando des II. Armeekorps vom 18.10.1939, UAG, Kurator K 2209, Bl. 126. 53 Vgl. Schreiben vom 24.10.1939 (Eingang: 25.10.), UAG, Kurator K 2209, Bl. 130. 54 Vgl. Schreiben vom 26.10.1939, UAG, Kurator K 2209, Bl. 131. 55 Vgl. Schreiben vom 24.10.1939 (Eingang: 26.10.), UAG, Kurator K 2209, Bl. 132. 56 Vgl. Schreiben vom 26.10.1939 (Eingang: 27.10.), UAG, Kurator K 2209, Bl. 134. 57 Vgl. Schreiben vom 28.10.1939 (Eingang: 30.10.), UAG, Kurator K 2209, Bl. 135. 58 Vgl. Dankschreiben vom 3.11.1939 an den Landesbauernführer in Stettin, den Regierungspräsidenten in Stettin sowie dem stellv. Generalkommando des 2. Armeekorps in Stettin, UAG, Kurator K 2209, Bl. 136. 59 Vgl. Anfrage des Güterdirektors vom 7.4.1941, UAG, Kurator K 3450, Bl. 234. 60 Vgl. Antwort vom 3.5.1941, UAG, Kurator K 3450, Bl. 236.

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cher Weise die fehlenden neunzig Arbeiter beschafft werden konnten oder nicht, lässt sich nicht feststellen. Die Vermutung liegt aber nahe, dass diese mit dem Ernteeinsatz von Studenten oder Soldaten ausgeglichen werden konnte. Für die Jahre 1939 bis 1944 werden insgesamt 1.159 „nicht ständig Beschäftigte“ in den Hofkarten der verpachteten Universitätsgüter aufgeführt: Jahr

1939

Anzahl der nicht ständig Beschäftigten 212

1940

1941

1942

1943

1944

112

204

213

239

179

Tabelle 1: Anzahl der nicht ständig Beschäftigten in den Hofkarten der Universitätsgüter

Wie hoch genau der Anteil der Zwangsarbeiter an dieser Gruppe der nicht ständig Beschäftigten ist, lässt sich nur schätzen. Er könnte aber bei gut achtzig Prozent61 gelegen haben. Zusätzlich müssen wir von einer recht hohen Dunkelziffer an beschäftigten Zwangsarbeitern ausgehen, da zu einigen Gütern keine Hofkarten gefunden werden konnten und eine eindeutige Zuweisung der Zwangsarbeiter in den Hofkarten nicht stattfand. Arbeiter, die weniger als fünf Tage auf einem Gut beschäftigt waren, wurden nicht gezählt und die Zahlen der Jahre 1939 und 1940 sind sehr ungenau. So sind die Zahlen von 1939 beispielsweise lediglich auf die Anfrage der Pächter aufgrund des Arbeitermangels zurückzuführen. Auch zu 1940 gibt es nur wenig belastbare Zahlen. Die angegebenen Beträge geben lediglich die Anzahl der angeforderten Arbeiter wieder, die für dringende Bauarbeiten oder andere Einsätze gebraucht wurden. Da zudem das Jahr 1940 die geringste Zahl aufweist, muss von einer recht hohen Dunkelziffer an Zwangsarbeitern ausgegangen werden. Über die Lebensverhältnisse der Zwangsarbeiter auf den Universitätsgütern sind wir nur indirekt durch die Bauakten der Güter informiert. Sie beinhalten vor allem Vorgänge zum Bau von Gefangenenbaracken.62 Der Bedarf an Zwangsarbeitern stieg während des Krieges weiter an (von 204 im Jahr 1941 auf 239 im Jahr 1943). Viele Zwangsarbeiter wurden in Baracken auf den Universitätsgütern untergebracht. Ne61 Die 80 % stellen eine grobe Schätzung dar nach einem Vergleich der in den Kriegsstatistiken angegebenen Anzahl von Zwangsarbeitern mit denen der Hofkarten zum Gut Koitenhagen und weiteren Quervergleichen zwischen den Hofkarten einzelner Güter und der in den Akten erwähnten tatsächlichen Anzahl von Zwangsarbeitern. Da jedoch die Akten keine durchgängige Auskunft zu jedem Jahr geben können und die Hofkarten andererseits zwar für jedes Jahr eine Übersicht über die Anzahl an eingesetzten Arbeitern bieten, allerdings keine genauen Angaben darüber geben, wie viele der eingesetzten Arbeiter auch Zwangsarbeiter waren, kann hier nur auf einen Schätzwert zurückgegriffen werden. 62 Vgl. UAG, Kurator K 3399, Bl. 6 und UAG, Kurator K 3106, Bl. 174 sowie UAG, Kurator K 3105, Bl. 25.

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ben dem Gut Koitenhagen wurden auch auf anderen Gütern Baracken nötig. So existiert ein Kostenanschlag über 6.000 RM für den Neubau einer Unterkunftsbaracke auf dem Gut Kessin zur Unterbringung von 16 Personen aus dem Jahre 1944. Die Forderung zum Bau der Baracke bestand jedoch bereits seit 1943.63 Ein weiterer Neubau für eine Unterkunftsbaracke sollte 1944 auch auf dem Gut Klein-Kieshof realisiert werden.64 Diese Baracken wurden jedoch nie fertiggestellt, da im Herbst 1944 das Preußische Staatshochbauamt I alle Bauten, die nicht bis zum 31. Dezember 1944 fertiggestellt werden würden, auf neun Monate sperren ließ.65 Die Unterbringung der Zwangsarbeiter erfolgte daher in vielen Fällen in den ursprünglich für Wander- bzw. Saisonarbeiter gedachten Unterkünften, die bereits vor dem Krieg bestanden hatten.66

Zwangsarbeit in den Einrichtungen der Universität Greifswald

Die Universität hat nicht nur auf den Universitätsgütern und in der Landwirtschaft Zwangsarbeiter eingesetzt, sondern auch in ihren Instituten und Einrichtungen selbst. Anhand der Kriegsstatistiken für die Jahre 1941 bis 1944 ist es möglich, einen groben Überblick über die Anzahl der eingesetzten Zwangsarbeiter zu erhalten. Ab 1941 mussten nunmehr auch alle Ausländer, Juden und Kriegsgefangenen in den Kriegsstatistiken separat aufgeführt werden. Für den Zeitraum von 1941 bis 1944 lassen sich also detaillierte Angaben machen. Insbesondere das Universitätsforstamt und das schon erwähnte universitätseigene Gut Koitenhagen stechen bei der Anzahl von eingesetzten Zwangsarbeitern besonders hervor: Einrichtung

1941

1942

1943

1944

Anatomisches Institut







1

Chirurgische Klinik







1

Eigenbetrieb Koitenhagen

9

8

12

18

Frauenklinik





1

1

Hautklinik

1



2

3

Kinderklinik

1





1

63 64 65 66

Vgl. UAG, Kurator K 3308, Bl. 210. Vgl. UAG, Kurator K 3399, Bl. 6. Vgl. UAG, Kurator K 3308, Bl. 210. Vgl. Skizze einer Unterkunftsbaracke auf dem Gut Hinrichshagen Hof III, UAG, Kurator K 3106, Bl. 174.

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Medizinische Klinik







1

Ohrenklinik Physiologisch-Chemisches Institut Psychiatrische und Nervenklinik







3







2

2

1



5

Romanistisches Seminar



1

1

1

Universitätsbibliothek



1





44

29





Zahnärztliches Institut

Universitätsforstamt





1



Zahnklinik







1

Zoologisches Institut







1

Tabelle 2: Eingesetzte Zwangsarbeiter in den Einrichtungen der Universität

Es ist ersichtlich, dass die Zahlen zu den einzelnen Instituten und Klinken relativ klein sind und selten durchgängig von 1941 bis 1944 Zwangsarbeiter in den entsprechenden Einrichtungen beschäftigt wurden. Es fällt allerdings auch auf, dass im Verlauf des Krieges die Zahl der Einrichtungen, die Zwangsarbeiter einsetzten, zunahm. Das lässt sich weitgehend auf den größeren Bedarf an ausländischen Arbeitskräften im Rahmen der totalen Mobilisierung zum Ende des Krieges zurückführen. Nun wurden verstärkt weibliche ausländische Arbeitskräfte in den Kliniken und auch in der Landwirtschaft als Pflege- und Hilfspersonal eingesetzt. Deren Zahl stieg von einer eingesetzten weiblichen Arbeiterin im Jahre 1941 auf 17 im Jahr 1944. Auch die wissenschaftlichen Institute erhielten ab 1944 Zwangsarbeiter als wissenschaftliche Hilfskräfte zugewiesen. In der Kriegsstatistik zum Universitätsforstamt werden mit 44 (1941) und 29 (1942) eingesetzten Kriegsgefangenen jeweils die höchsten Werte der gesamten Liste erzielt. Bemerkenswert ist, dass in den weiterführenden Kriegsstatistiken zum Universitätsforstamt ab 1943 keine weiteren Zwangsarbeiter aufgeführt werden. Dies kann mit der geringen Kriegswichtigkeit des Universitätsforstamtes zusammenhängen. Zudem waren in der Land- und Bauwirtschaft bereits viele Arbeitskräfte vonnöten, die nicht immer bereitgestellt werden konnten.67 Der Rückgang der eingesetzten Zwangsarbeiter durch das Universitätsforstamt führte auch zu einem Rückgang der Gesamt67 Beispielsweise konnte 1941 der Bau einer Koppeldränage auf dem Gut Levenhagen nicht durchgeführt werden, da ein großer Mangel an Arbeitskräften bestand und sich die Bauwirtschaft in einer schwierigen Lage befand. Diese Koppeldränage sollte allerdings schon 1940 gebaut werden. Dies geschah jedoch nicht, da zur Erntezeit alle verfügbaren Zwangsarbeiter gebraucht wurden, vgl. dazu: UAG, Kurator K 3608, Bl. 197, 198 und 206.

Zwangsarbeit an der Universität

273

zahl aller eingesetzten Zwangsarbeiter in den Einrichtungen der Universität ab 1941 bis 1943. Da vor allem Kriegsgefangene im Universitätsforstamt beschäftigt waren, führte dieser Rückgang dazu, dass ab 1943 nun fast ausschließlich zivile Zwangsarbeiter in den Einrichtungen der Universität beschäftigt wurden. Kriegsgefangene kamen nun nur noch vereinzelt vor, wie es aus der folgenden Tabelle zu entnehmen ist: Anzahl der eingesetzten Zwangsarbeiter in den Einrichtungen der Universität

1941

1942

1943

1944

Insgesamt

57

40

17

39

davon Kriegsgefangene

50

34

9

5

Tabelle 3: Anzahl der eingesetzten Zwangsarbeiter in den Einrichtungen der Universität und der Anteil an Kriegsgefangenen

Über den gesamten Zeitraum von 1941 bis 1944 können insgesamt 153 eingesetzte Zwangsarbeiter nachgewiesen werden. Dabei entfällt auf das Universitätsforstamt und das Universitätsgut Koitenhagen mit insgesamt 120 eingesetzten Zwangsarbeitern der größte Teil. Ob es sich dabei immer wieder um dieselben oder auch unterschiedliche Personen handelte, kann nicht bestimmt werden. 1941 stellten die 57 Zwangsarbeiter ca. fünf Prozent der gesamten Belegschaft an der Universität. Sie stellten also eine Gruppe dar, die man im Alltag nicht übersehen konnte.

Kliniken

Es waren vor allem die Kliniken und die medizinischen Institute (Zahnklinik, Zahnärztliches Institut, Psychiatrische und Nervenklinik, Ohrenklinik, Medizinische Klinik, Kinderklinik, Hautklinik, Frauenklinik, Chirurgische Klinik, Anatomisches Institut), die eine große Anzahl von Zwangsarbeitern benötigten. Von den 17 universitären Einrichtungen, die Zwangsarbeiter einsetzten, stechen sie mit 28 Nachweisen über den gesamten Zeitraum von 1941 bis 1944 besonders hervor.68 Dabei sind vor allem die Hautklinik mit sechs eingesetzten Zwangsarbeitern und die Psychiatrische und Nervenklinik mit acht eingesetzten Zwangsarbeitern zu erwähnen. Über die Art des Einsatzes der Zwangsarbeiter in den Kliniken ist nicht viel bekannt. Sie scheinen vor allem zu Hilfsarbeiten herangezogen worden zu sein. Wissenschaftli68 Mit Ausnahme des Universitätsforstamtes und des Universitätsguts in Koitenhagen, die beide zusammen auf 120 eingesetzte Zwangsarbeiter in dem genannten Zeitraum kommen.

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che Dienste im medizinischen Betrieb konnten nicht nachgewiesen werden. Während dadurch zumindest Zwangsarbeiter ausgeschlossen werden können, die als wissenschaftliche Hilfskräfte angestellt gewesen sind, trifft dies nicht explizit auf den Sanitätsdienst zu. Zwangsarbeiter wurden auch als Hilfskräfte zur Krankenbetreuung eingesetzt, zumal die Universitätskliniken mit Beginn des Krieges zahlreiche Lazarettbetten bereitstellen und eine erhöhte Anzahl von Kriegsversehrten versorgen mussten. Gleichzeitig war der Anteil männlicher Pfleger in den einzelnen Kliniken durch Wehrmachtseinberufungen erheblich zurückgegangen und konnte selbst mit einer höheren Zahl an weiblichen Beschäftigten nicht gänzlich ausgeglichen werden.69 Eine Vereinbarung zwischen der Wehrmacht und den Kliniken, dass das Personal zur Pflege der Lazarettpatienten auch vom Heer bereitgestellt werden sollte, konnte den Bedarf ebenfalls nicht immer decken.70 Da sich die schwierige personelle Lage der Kliniken bis 1944 weiter zuspitzte und ab 1944 auch die Zahl der Zwangsarbeiter stark zunahm, wurde eine Betreuung der Patienten durch Zwangsarbeiter denkbar. In einigen Fällen ist wenigstens nachweisbar, dass sowohl die Ohren- als auch die Hautklinik ausländische Arbeitskräfte als Pflegepersonal beschäftigten. Diese „ausländischen Pfleger und ausländischen Hausmädchen“ sollten vor allem die Betreuung der ausländischen Patienten übernehmen.71 Für die Unterbringung erkrankter Zwangsarbeiter wurde auf dem Gelände der Universitätshautklinik im Jahre 1942 eine eigene Baracke errichtet. Da diese bei weitem nicht ausreichte, wurde im selben Jahr der Bau von zwei weiteren Baracken für erkrankte Zwangsarbeiter geplant.72 Die behandelten Zwangsarbeiter mussten dabei nicht zwangsläufig auf dem Grundbesitz der Universität beschäftigt gewesen sein. So wurden beispielsweise von der Medizinischen Klinik im Dezember 1941 einige Zwangsarbeiterinnen vom Hof des Pächters Möller in Dargelin untersucht.73 Im selben Monat brach zudem in den Kriegsgefangenenlagern in Behrenhoff und Bandelin Fleckfieber aus. Es 69 Vgl. Heinz-Peter Schmiedebach, Die Medizinische Fakultät Greifswald in den letzten 200 Jahren, in: Dirk Alvermann, Karl-Heinz Spieß (Hg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550Jahrfeier der Universität Greifswald 1456–2006, Bd. 1, Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006, S. 289–370, hier S. 335. 70 Vgl. Schmiedebach, Die Medizinische Fakultät (wie Anm. 69), S. 335. 71 Vgl. UAG, Med. Fak. I-128, Bl. 172. 72 Eigentlich hatte das Landesarbeitsamt geplant die Baracken auf dem Gelände des Universitätskrankenhauses aufzustellen. Dieses lehnte einen entsprechenden Vorschlag allerdings mit der Begründung ab, dass es „an der Behandlung von Angehörigen der Feindstaaten, von polnischen und sowjetrussischen Arbeitern nicht interessiert“ sei, da die verfügbaren Arbeitskräfte bereits jetzt nicht mehr mit der hohen Belastung klarkommen würden. Nach einigem Schriftverkehr einigte man sich schließlich darauf, die Baracken auf dem Gelände der Hautklinik aufzustellen. Vgl. zum gesamten Vorgang: UAG, Med. Fak. I-128, Bl. 129 (Zitat), 137–138, 146 und 172. 73 Vgl. Landesarchiv Greifswald (künftig: LAGw), Rep. 66 Greifswald, Nr. 115b, Bl. 1.

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wurde sofort versucht, die Ausweitung des Fleckfiebers mithilfe der Medizinischen Klinik einzudämmen. Zugleich sollten nicht erkrankte Gefangene zeitweise im Stalag II C untergebracht werden, womit diese auch in den medizinischen Versorgungsbereich der Kliniken rückten.74 Allerdings blieb es nicht nur bei der medizinischen Versorgung von Zwangsarbeitern. Drei Jahre nach dem Krieg meldete sich der ehemalige Volontärassistent der Medizinischen Klinik, Hermann Betz, und beschuldigte Dr. Martin Gülzow und Professor Gerhardt Katsch, in der Zeit von 1941 bis 1943 an der Medizinischen Klinik an sogenannten Hungerversuchen mit russischen Kriegsgefangenen beteiligt gewesen zu sein.75 Tatsächlich wurden in den Jahren von 1941 bis 1943 insgesamt 16 russische Kriegsgefangene in der Medizinischen Universitätsklinik behandelt. Alle Gefangenen stammten aus dem Stalag II C und waren in Folge von Gefangenschaft und Unterbringung stark unterernährt. Die durchgeführte Behandlung hatte zum Ziel, die Gesundheit der unterernährten Kriegsgefangenen wieder herzustellen. Dabei wurden verschiedene Behandlungen mit variiertem Kaloriengehalt und unterschiedlichen Nährmitteln durchgeführt. Da ein stark unterernährter Körper langsam wieder an eine normale Ernährung gewöhnt werden muss, bekamen die Gefangenen rationierte Portionen mit reduziertem Kaloriengehalt, der bisweilen auch unter einer normalen Portion lag. Dieser Prozess wurde von Betz als „Hungerversuch“ bezeichnet, der das Ziel gehabt hätte zu testen, wie wenig Lebensmittel nötig wären, um einen Gefangenen so weit wieder herzustellen, dass er mit möglichst wenig Nahrung produktive Arbeit leisten könnte. Diese Anschuldigung wurde jedoch nach einer Untersuchung der sowjetischen Militäradministration als haltlos zurückgewiesen. Es stellte sich vielmehr heraus, dass der Kaloriengehalt der zugeführten Nahrungsmittel nicht so niedrig gewesen war, wie von Betz angenommen. Zudem war die Behandlung so erfolgreich, dass von 16 Kriegsgefangenen immerhin 13 gerettet werden konnten.76 Einige der genesenen Patienten wurden anschließend noch längere Zeit als Hilfskräfte an der Klinik beschäftigt.77

Wissenschaftliche Institute

Die wissenschaftlichen Institute außerhalb der Medizinischen Fakultät (Zoologisches Institut, Romanistisches Seminar, Physiologisch-Chemisches Institut) beschäftigten 74 Vgl. LAGw, Rep. 66 Greifswald, Nr. 115b, Bl. 13. 75 Vgl. UAG, Altes Rektorat R 808, Bl. 18. 76 Vgl. Bericht über die im Jahre 1941 bis 1943 durchgeführte Behandlung und Auffütterung von 16 russischen Kriegsgefangenen in der Medizinischen Universitätsklinik Greifswald, UAG, Altes Rektorat R 808, Bl. 7–18. 77 Vgl. Irmfried Garbe, Der Mensch, in: Dirk Alvermann, Irmfried Garbe, Manfred Herling (Hg.), Gerhardt Katsch: Greifswalder Tagebuch 1946–47, Kiel 2008, S. 44.

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unter allen Einrichtungen die geringste Anzahl an Zwangsarbeitern. Über den gesamten Zeitraum von 1941 bis 1944 lassen sich hier nur sechs Zwangsarbeiter finden, darunter allein drei im Jahr 1944. In der Mehrzahl ging es diesen Einrichtungen – im Unterschied etwa zu den Kliniken – um die Beschäftigung von hochqualifiziertem, akademisch vorgebildetem Personal. Das Zoologische Institut beschäftigte nur einen Zwangsarbeiter, zu dessen Arbeitsaufgaben leider keine Überlieferung existiert. Auch das Romanistische Seminar beschäftigte von 1942 bis 1944 einen Zwangsarbeiter. Im Februar des Jahres 1942 erklärte sich die Universität bereit, französische Kriegsgefangene zu betreuen. Die Aufgabe wurde dem Leiter des Romanistischen Instituts, Professor Petriconi, übertragen, der auch Vorträge in den Lageruniversitäten78 vor französischen Kriegsgefangenen halten sollte.79 Da die Betreuung der französischen Lagerstudenten zeitlich mit der Einstellung des Zwangsarbeiters 1942 zusammenfällt, kann davon ausgegangen werden, dass hier ein Zusammenhang besteht. Im August 1943 bemühte sich auch das Geologisch-Paläontologische Institut, hochqualifizierte, kriegsgefangene, französische Offiziere als Hilfskräfte einzustellen. Die beiden Professoren Balland und Beckhoutte lehnten jedoch eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität Greifswald ab.80 Das Physiologisch-Chemische Institut unter der Leitung von Professor HoppeSeyler beschäftigte im Jahr 1944 zwei Zwangsarbeiter. Über beide existieren vergleichsweise viele persönliche Angaben. Demnach war der Kriegsgefangene Jaques Fripiat Angestellter des Physiologisch-Chemischen Instituts.81 Fripiat war belgischer Kriegsgefangener und im Stalag II C untergebracht. Allgemein musste die Einstellung eines Kriegsgefangenen als Hilfskraft von der Heeresstandortverwaltung Greifswald – Abteilung Arbeitsvermittlung – vorgenommen werden, von wo aus die Kriegsgefangenen vermittelt wurden.82 Da das Physiologisch-Chemische Institut dringend Assistenten benötigte, bat Hoppe-Seyler um die weitere Anstellung Fripiats, sodass dieser bis zum Ende des Krieges im Institut verblieb. Fripiat blieb auch nach dem Krieg noch für eine kurze Zeit in Greifswald, um Hoppe-Seyler in Hinblick auf eventuelle Vorwürfe im Entnazifizierungsverfahren zu entlasten. Danach verliert sich seine Spur. Fripiat ist einer der wenigen Kriegsgefangenen, denen eine feste Anstellung als wis78 Alles Weitere zu den Lageruniversitäten der französischen Kriegsgefangenen findet sich bei: Laura Hannemann, Der entfesselte Geist. Die französischen Lageruniversitäten im Zweiten Weltkrieg, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, Bd. 33 (2006), S. 95–120. 79 Vgl. UAG, Altes Rektorat R 770, Bl. 3. 80 Vgl. UAG, Kurator K 603, Bl. 276–277. 81 Vgl. UAG, Kurator K 699, Bl. 179. 82 Vgl. UAG, Kurator K 700, Bl. 94.

Zwangsarbeit an der Universität

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senschaftliche Hilfskraft in einer Einrichtung der Universität nachgewiesen werden kann. Angestellte Kriegsgefangene wie Fripiat erhielten einen Lohn, der allerdings je Arbeitsstunde nur sechzig Prozent des deutschen Tariflohns betrug. Dazu konnten Zulagen kommen, die aber die Gesamtvergütung auf nicht mehr als achtzig Prozent des tariflichen Bruttolohns eines vergleichbaren deutschen Arbeiters steigen lassen durften. Diese Vergütung erhielt allerdings nicht der Kriegsgefangene, sondern der Zahlmeister des Stalag, der dem Gefangenen – nach Abzug aller „Aufwendungen“ – den Rest in Form von Lagergeld auszahlte.83 Ein Kriegsgefangener erhielt lediglich 0,70 RM je Arbeitstag ausgezahlt. Sowjetische Kriegsgefangene bildeten die Ausnahme. Sie bekamen aufgrund der unterschiedlichen Rechtsgrundlage nur 0,20 RM pro Arbeitstag und besaßen, anders als ihre Leidensgefährten, keine Möglichkeiten, ihr Gehalt durch „fleißiges Arbeiten“ aufzustocken.84 Auch der Niederländer Robert Jonckheer war als Hilfskraft am PhysiologischChemischen Institut beschäftigt. Anders als Fripiat war er kein Kriegsgefangener, sondern ein ziviler Zwangsarbeiter. Da sich für Jonckheer eine Personalakte erhalten hat, sind wir über dessen Werdegang an der Universität etwas umfassender informiert. Er wurde 1916 geboren und war zu Beginn des Krieges Student der Chemie in Delft. Bis 1943 verlangte das Deutsche Reich von allen niederländischen Studierenden eine Loyalitätserklärung. Etwa 3.000 von ihnen weigerten sich, darunter auch Jonckheer.85 Als Folge seiner Weigerung wurde er dienstverpflichtet und deportiert. Von Mai bis Dezember 1943 war er in der Zellstofffabrik Waldhof, Werk Johannesmühle, bei Bad Freienwalde eingesetzt. Seit Mitte 1943 hatte das Physiologisch-Chemische Institut gezielt nach zwangsverpflichteten niederländischen Studenten der Chemie mithilfe des Landesarbeitsamtes Brandenburg gesucht. Anfang 1944 erfolgte Jonckheers Umsiedlung nach Greifswald, um dort für die Dauer des Krieges als Laborant des Physiologisch-Chemischen Institutes zu arbeiten. Hier war er ab dem 1. Januar 1944 anfänglich bei einer Volontärassistentenvergütung von immerhin 200 RM im Monat beschäftigt. Drei Monate später wurde er – wie alle dienstverpflichteten niederländischen Studenten – als Kriegshilfsangestellter eingestuft, womit sich seine Einnahmen auf einen Schlag um fast dreißig Prozent reduzierten.86

83 „Kriegsgefangene in der Landwirtschaft“, in: GZ vom 26. April 1940. 84 Vgl. UAG, Kurator K 700, Bl. 98. 85 Vgl. Strebel/Wagner, Zwangsarbeit für Forschungseinrichtungen (wie Anm. 12), S. 49 und UAG, PA 2331 (Robert Jonckheer), Bl. 1–2. 86 Vgl. UAG, PA 2331 (Robert Jonckheer), Bl. 2–5.

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Zusammenfassung

Die Abhängigkeit der verpachteten Güter der Universität von den Zwangsarbeitern auf der einen und die niedrige Anzahl der Zwangsarbeiter in den Einrichtungen der Universität auf der anderen Seite ermöglichte eine differenzierte Betrachtung des Zwangsarbeitereinsatzes im Umkreis der Universität im Dritten Reich. Die Universität bemühte sich unmittelbar nach Beginn des Zweiten Weltkrieges um die Versorgung ihrer verpachteten Güter mit Zwangsarbeitern. Eine erste Anforderung umfasste 212 polnische Kriegsgefangene, die auf den Gütern zur Ernte eingesetzt werden sollten. Auch in den folgenden Jahren wurden auf den Gütern Zwangsarbeiter dauerhaft eingesetzt. Der durchschnittliche Bedarf an Arbeitern je Kriegsjahr konnte auf ca. 200 Zwangsarbeiter beziffert werden. Diese Zahl kennzeichnet allerdings nur eine vorläufige Bestandsaufnahme, tatsächlich kann von einer weit höheren Dunkelziffer ausgegangen werden. Während die verpachteten Güter der Universität zur Fortführung der Landwirtschaft auf die Zwangsarbeiter angewiesen waren, kann dies nicht im gleichen Maße von den Einrichtungen der Universität behauptet werden. Der höchste Anteil an Zwangsarbeitern als Beschäftigte der Universität wurde mit ca. 5 Prozent bereits 1941 erreicht, die Anzahl betrug in jenem Jahr 57 Zwangsarbeiter, die vor allem auf dem universitätseigenen Gut Koitenhagen und im Universitätsforstamt eingesetzt wurden. Danach sank die Zahl auf ein zwischenzeitliches Tief im Jahre 1943 mit 17 registrierten Zwangsarbeitern (ca. 1 Prozent aller Beschäftigten an der Universität). Die wissenschaftlichen Einrichtungen und Kliniken der Universität griffen erst ab 1944 verstärkt auf Zwangsarbeiter zurück, wodurch die Anzahl wieder auf 39 Zwangsarbeiter anstieg (ca. 3 Prozent), allerdings nicht die Höhe des Jahres 1941 erreichen konnte. Ausführlichere Auskunft geben die Quellen zu zwei Zwangsarbeitern, dem Niederländer Robert Jonckheer und dem belgischen Kriegsgefangenen Jaques Fripiat. Beide waren ab 1944 am Physiologisch-Chemischen Institut beschäftigt. Diese beiden stellen allerdings auch die einzigen Fälle dar, bei denen sowohl der Name als auch der Beschäftigungsort bestimmt werden konnten. Dass genauere Daten zu weiteren Zwangsarbeitern nicht ermittelt werden konnten, liegt zum einen daran, dass die meisten der eingestellten ausländischen Arbeitskräfte vor allem kleinere Hilfsarbeiten erledigten und nicht wissenschaftlich tätig waren. Zum anderen tauchten Zwangsarbeiter häufig nicht in den Akten auf, da sie letztlich nur eine geringe Zahl ausmachten und dementsprechend wenig Beachtung innerhalb des Schriftverkehrs der Universität fanden. Unbestritten ist jedoch, dass viele ausländische Arbeiter in den Kliniken und Krankenanstalten der Universität behandelt wurden, da diese mit dem Stalag II C zusammenarbeiteten und für die medizinische Versorgung der Region zuständig wa-

Zwangsarbeit an der Universität

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ren. Ausländische Patienten wurden häufig auch von ausländischen Pflegern und Hausmädchen gepflegt. Die Universität profitierte auf dem Gebiet der Forschung nur in einem geringen Maße von der NS-Zwangsarbeit in ihren Einrichtungen. Bei Hilfsarbeiten und vor allem in den Kliniken wurden jedoch häufiger ausländische Kräfte eingesetzt. Im landwirtschaftlichen Sektor profitierte die Universität Greifswald von Zwangsarbeit im besonderen Maße. Jüdische Zwangsarbeiter sind nach derzeitigem Stand nicht nachzuweisen.

Unterlagen in russischen Archiven zur Untersuchung der sowjetischen Militärkommission im Anatomischen Institut der Universität Greifswald 19471

Vladimir Vsevolodov Die vorliegenden Ausführungen stützen sich auf Dokumente, die der Arbeitsgruppe „Ehrenamtliche Kriegsgräberfürsorge“ vor genau einem Jahr zugänglich gemacht wurden. Diese Arbeitsgruppe, der auch ich angehöre, hat vor etwa zwei Jahren ihre Arbeit aufgenommen. Ihre Mitglieder vertreten Russland, die Ukraine und Deutschland. Die Gruppe besteht aus Menschen verschiedenen Alters. Einige sind historisch ausgebildet und bezeichnen sich in Deutschland als „Hobbyhistoriker“. Unsere Tätigkeit ist freiwillig.2 Basis unserer privaten Initiative sind Menschen, die sich mit der Erinnerung und den Grabstätten ehemaliger Sowjetbürger in Deutschland befassen. Wir sind vor allem von dem Wunsch angetrieben, die Erinnerung an den Krieg und an die Kriegsopfer zu bewahren. Außerdem wollen wir die Kommunikation zwischen den Generationen zu Fragen der Geschichte des Zweiten Weltkriegs stärken. Eine unserer Aufgaben ist es, Informationen über die Gräber und die Umbettung zu sammeln, Listen der Toten zu suchen, Fehler in der Schreibweise von Opfernamen zu korrigieren usw. Lassen Sie sich durch die Verwendung von pompösen Phrasen wie „die Erinnerung zu verewigen“ nicht verwirren. Für die Mitglieder unserer Gruppe geht es nicht nur um Worte. Es geht um Maßnahmen und greifbare Ergebnisse. Das sind die Namen von Opfern, die aus dem Nichts gehoben und auf den Steinen von Denkmälern und Obelisken festgehalten werden. Es ist nicht nötig zu betonen, dass wir bis heute weder die genaue Zahl der Kriegsopfer noch deren Namen kennen. Wir sind keine Konkurrenten der verschiedenen offiziellen staatlichen Stellen in Russland oder in Deutschland wie z.B. die „Russische Kriegsgräberfürsorge“ oder die „Sächsischen Gedenkstätten“. Wir sind Vertreter der Öffentlichkeit unserer Länder, die sich um unsere gemeinsame Vergangenheit kümmern. Für uns ist es wichtig, nicht nur neue, bisher unbekannte oder ungenutzte Dokumente zu finden. Am wichtigsten ist es für uns, Such- und Fundergebnisse zu veröf1 2

Leicht überarbeitete Fassung des Vortrags auf dem Greifswalder Workshop „Die Universität Greifswald im Nationalsozialismus“ am 12. April 2013. Ich nutze diese Gelegenheit, meinen Projektkollegen – Herrn Eduard Ptuchin (Berlin, Deutschland), Herrn Vladimir Sinjučenko (Odessa, Ukraine), Frau Ekaterina Kiseleva (Moskau, Russland) – hier herzlich zu danken.

Unterlagen in der sowjetischen Militärkommisssion im Anatomischen Institut

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fentlichen. Wir arbeiten auf einer breiten Basis aller zentralen staatlichen Archive in Moskau. Unter ihnen sind das Staatsarchiv der Russländischen Föderation (GARF), das Russische Staatliche Militärarchiv (RGWA) und das Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums (ZAMO). Diese Basis ermöglicht es uns, nicht nur unmittelbare, sondern auch indirekte Informationen zu unserem Thema zu erhalten. Wir prüfen die Dokumente und die Materialien der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, der Außerordentlichen Staatlichen Kommission für die Identifizierung und Untersuchung der Gräueltaten der Nazis sowie der erbeuteten Dokumente. Wer die Eigenarten der Archivarbeit kennt, kann den Umfang und die Schwierigkeiten unserer Forschung nachvollziehen. Die Entdeckung der Dokumente über das Anatomische Institut, die wir unter uns als „Fall Greifswald“ bezeichnen, stellt das Ergebnis eines glücklichen Umstandes dar. Auch mit derartigen zufälligen Fundergebnissen gehen wir sorgsam um und machen sie der Öffentlichkeit zugänglich. Unser erster Schritt im Zusammenhang mit dem Fund war die Kontaktaufnahme mit polnischen Partnern, die Informationen über die entsprechenden Dokumente an die Universität Greifswald weiterleiteten. Aber zuerst eine wichtige Bemerkung: Bis heute sind der Forschung in Russland viele Archivdokumente nicht zugänglich. Sie unterliegen der geheimen Lagerung oder wurden nachträglich wieder für geheim erklärt. Dank einer kurzen „Archivrevolution“ in Russland in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts kennen wir jedoch einige von ihnen und ihren Inhalt.

Hintergründe

Die Dokumente des Anatomischen Instituts wurden im Rahmen des Projekts „Stalag XI-A – Altengrabow“ gefunden. Um diese Verbindung verständlich zu machen, versuche ich kurz, die damaligen Vorgänge zu erläutern. Am 2. November 1942 wurde die Außerordentliche Staatliche Kommission für die Identifizierung und Untersuchung von Gräueltaten der Nazis (TchGK) gegründet. Die Aufgabe dieser Kommission bestand darin, eine völlige Bilanz der Gräueltaten der Nazis und der Schäden, die den sowjetischen Bürgern und dem sozialistischen Staat zugefügt wurden, zu erstellen und die NS-Verbrecher zu identifizieren.3 In den TchGK-Systemen befanden sich die operativen Gruppen, die in bestimmten Bereichen, auf bestimmten Territorien oder Objekten gearbeitet hatten. Die Dokumente, die von der Kommission gesammelt wurden, wurden veröffentlicht und dienten später faktisch als Grundlage für die 3 Unter http://libussr.ru/doc_ussr/ussr_4376.htm.

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Verurteilungen von NS-Verbrechern. Die TchGK-Materialien wurden in den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher und in anderen Prozessen in der UdSSR benutzt. Dazu gehören vor allem die öffentlichen Prozesse in verschiedenen sowjetischen Städten wie z.B. Charkov (Dezember 1943), Stalino, Sevastopol, Bobrujsk, Černigov, Poltava, Novgorod (Oktober-Dezember 1947).4 Für die Arbeit in der sowjetischen Besatzungszone wurde ein gemeinsamer Ausschuss aus Vertretern der TchGK und der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) geschaffen. Derartige Ausschüsse waren mit der Identifizierung von Grabstätten beschäftigt. Ihre Tätigkeit führte zu Umbettungen von Leichnamen sowie zu einer Ordnung von Gräbern und Friedhöfen. Ein solcher besonderer Ausschuss wurde nach dem Befehl des SMAD-Oberbefehlshabers, Marschall Vassilij Sokolovsky, vom 25. September 1947 mit der Nummer 0334 für die Arbeit im Stalag XI-A (Altengrabow) eingerichtet.5 Das Hauptziel dieser Gruppe war es, Grabstätten aufzufinden, zu registrieren, zu beschreiben und den Zusammenhang mit nationalsozialistischen Gräueltaten zu ermitteln. Die Arbeit war am 15. Oktober 1947 abgeschlossen und die Ergebnisse wurden Sokolovsky berichtet. Nach einem anderen Sokolovsky-Befehl (Nr. 0289)6, der ein wenig früher (am 20. August 1947) veröffentlicht worden war, sollte die Sowjetische Militäradministration in Deutschland bis Ende Oktober über vollständige Informationen über die Anzahl der Gräber sowie die Namen sowjetischer Bürger und Bürger anderer Nationen, die in der sowjetischen Besatzungszone begraben worden waren, verfügen. Es sei darauf hingewiesen, dass alle entsprechenden Aktionen, die Untersuchung von Grabstätten, die Zeugenbefragungen sowie die Exhumierungen binnen kurzer Zeit stattfanden. In Altengrabow dauerte dies z.B. nur knapp drei Wochen – von Ende September bis Mitte Oktober 1947. Alle diese Aktionen waren Teil des offiziellen sowjetischen Programms für die Umbettung von Überresten sowjetischer Soldaten, die im Kampf gefallen waren, sowie sowjetischer Kriegsgefangener und Zivilisten. Das Programm beabsichtigte auch die Anlage von Friedhöfen, was im Jahr 1945 begann und im Herbst 1947 endete. Laboratorium Nr. 63

Die Kommission, die in Altengrabow arbeitete, bestand aus einem Vertreter des Laboratoriums Nr. 63 des Ministeriums für die bewaffneten Streitkräfte. Die Laborato4 5 6

Vgl. dazu A. E. Epifanov, Organizacija i dejatel‘nost‘ Črezvyčajnoj gosudarstvennoj komissii po ustanovleniju i rassledovaniju nacistskich zlodejanij: diss. kand. jurid. nauk., M. 1996. Staatsarchiv der Russischen Föderation (künftig: GARF), Fond P-7317, Opis 7, Akte 49, Bl. 37–38. GARF, Fond P-7317, Opis 7, Akte 48, Bl. 293–296.

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riumsleiterin, Major der Medizin, Frau Anosova sowie der Militärarzt, Kapitän Serebrjanikov, waren zwei der Hauptakteure im „Fall Greifswald“.7 Vor Altengrabow hatten die Mitarbeiter dieses Laboratoriums in Sachsenhausen und in Zeithain gearbeitet, danach waren sie in Greifswald tätig. Diese Mitarbeiter sollten dort die Verfasser jener Dokumente werden, die wir in den TchGKBeständen im GARF gefunden haben.8 Es handelt sich um 17 Schreibmaschinenseiten. Im Komplex befinden sich drei seMajor Anosova und Kapitän Serebrjanikov bei der Unterparate Dokumente: suchung eines Skelettfundes ind Altengrabow

Dokument 1: „Begleitschreiben des hauptgerichtsmedizinischen Experten des Ministeriums für die bewaffneten Streitkräfte, Oberst Avdeev, zu den Dokumenten vom 5. März 1948 an den TchGKSekretär Bogojawlensky“. 7 8

Siehe: GARF, Fond P-7021, Opis 128, Akte 238, Bl. 17. (Foto Nr. 1). Signatur: GARF, Fond P-7021, Opis 115, Akte 5.

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Dokument 2: „Bericht über die Arbeit des gerichtsmedizinischen Laboratoriums Nr. 63 an den hauptgerichtsmedizinischen Experten des Ministeriums für die bewaffneten Streitkräfte, Oberst Avdeev, vom 26. Januar 1948 von der Laboratoriumsleiterin, Major der Medizin, Frau Anosova“.

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Dokument 3: „Beschluss der gerichtsmedizinischen Untersuchung von 69 Leichen, die im Keller des Anatomischen Instituts der Universität in Greifswald, Provinz Mecklenburg, gefunden wurden.“ Dem Beschluss liegen „Schlussfolgerungen der Kommission über die Ursachen des Todes“ bei. (siehe Dokument 4)

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Dokument 4: „Schlussfolgerungen der Kommission über die Ursachen des Todes“

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Das erste Dokument stellt eine bürokratische, aber sehr wichtige Einzelheit für uns dar. Es illustriert und bestätigt den Funktionsmechanismus der Außerordentlichen Staatlichen Kommission. Wie wir sehen, sind die TchGK und das Laboratorium Kettenglieder eines Systems. Die Informationen werden von unten nach oben übertragen und in der Zentrale zusammengefasst. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf einen Satz im Text lenken. Hier lesen wir, dass die Dokumente über den „Fall Greifswald“ schon seit Anfang März 1948 freigegeben waren.9 Durch das zweite Dokument erfahren wir, dass die Anosova-Gruppe über dreijährige Arbeitserfahrungen sozusagen als „TchGK-Bevollmächtigte in der SBZ“ verfügte. Wahrscheinlich musste sie bis zum 26. Januar 1948 ihre Arbeit nicht nur in Greifswald abschließen, sondern vielmehr ihre gesamte Aktivität beenden. Deshalb verfasste die Leiterin des Laboratoriums unserer Meinung nach einen allgemeinen Bericht über die Tätigkeit ihrer Gruppe und verband damit die beiden letzten Aktionen in Altengrabow und in Greifswald. Das Datum dieses Berichtes – 1948 – ist für seine Interpretation von besonderer Bedeutung. Denn in diesem Jahr begann die Zusammenstellung der offiziellen Geschichte der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland. Alle sowjetischen Behörden und Stellen in der sowjetischen Besatzungszone schrieben in diesem Jahr endgültige Berichte über ihre Tätigkeit. Das dritte Dokument, der „Beschluss der gerichtsmedizinischen Untersuchung von 69 Leichen …“, stellt das zentrale Dokument des Komplexes dar. Es umfasst 15 Seiten und ist in drei Abschnitte aufgeteilt. Jeder Abschnitt hat einen Untertitel: „Umstände des Falles“, „Gerichtsmedizinische Leichenuntersuchung“ und „Beschreibung der Leichen“. Dieses sehr spezifische Dokument ist das wichtigste in unserer Geschichte. Es dokumentiert nicht nur die Arbeit des Laboratoriums, sondern fixiert auch die Namen der Opfer. Der Beschluss und die Schlussfolgerung (Dokument 4) wurden von den Mitgliedern der Kommission unterschrieben. Die Kommission konnte aufgrund der verfügbaren Dokumente 32 von 69 Leichen identifizieren. Nach Ansicht der Kommission waren nicht weniger als zwölf Leichen die von sowjetischen und mindestens zwanzig die von polnischen Bürgern. 35 Leichen, einschließlich 5 weiblicher, blieben anonym. Sie machen fünfzig Prozent der Fälle aus. Die Kommission stellte fest, dass in den meisten Fällen der Tod durch Unterernährung verursacht wurde. Es handelt sich um 30 Fälle. In 28 Fällen war die Todesursache Erhängen.10 Die Tatsache, dass eine gerichtsmedizinische Gruppe an zwei verschiedenen Orten (Altengrabow und Greifswald) arbeitete, spielt eine entscheidende Rolle für die For9 GARF, Fond P-7021, Opis115, Akte 5, Bl. 51. 10 GARF, Fond P-7021, Opis 115, Akte 5, Bl. 64–67.

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mierung eines einzigen Bürovorgangs. Der Bericht der Kommission über den „Fall Greifswald“ wurde mit den Materialien des Stalag XI-A zusammengefasst und in der Sammlung der TchGK-Korrespondenz aufbewahrt. Wir hatten aber schon früher festgestellt, dass es z.B. Dokumente über den „Fall Altengrabow“ auch in anderen Archivakten gibt. Das gab Anlass zu der Vermutung, dass auch zum „Fall Greifswald“ ein separater und vollständiger Akt (oder Akten) mit Materialien – wie etwa fotografischer Dokumentation oder Protokollen – existieren könnte. Nach der Logik der damaligen Verwaltung mussten diese Materialien in den TchGK-Beständen gesammelt worden sein. Dies ergibt sich aus unserem Dokument Nr. 3 sowie einer Bemerkung, welche Frau Major Anosova gemacht hatte. Sie lautet so: „Die Kopie ist richtig“.11 Leider erbrachte unsere Überprüfung der TchGK-Bestände nur negative Resultate. Auf den „Fall Greifswald“ verweist keine Spur im Archiv. Über die Gründe dafür kann man nur Vermutungen anstellen. Das Fehlen eines vollständigen Dokumentenkomplexes zum „Fall Greifswald“ erklärt sich vermutlich vor allem – bitte entschuldigen Sie den Ausdruck – aufgrund seiner völligen Irrelevanz für die sowjetische und internationale Justiz. Lassen Sie mich daran erinnern, dass das Nürnberger Tribunal am 1. Oktober 1946 und der Prozess über die NS-Ärzte am 20. August 1947 abgeschlossen waren. Andererseits wurde die Untersuchung in Greifswald im November und im Dezember 1947 durchgeführt. Wahrscheinlich ist der „Fall Greifswald“ deshalb nicht in einem separaten Bürovorgang dokumentiert worden. Der zweite Grund, warum kein einziger Dokumentenkomplex über den „Fall Greifswald“ in den TchGK-Beständen und auch im GARF vorhanden ist – entschuldigen Sie bitte nochmals –, besteht in der Existenz eines ähnlichen, aber bedeutenderen Falles, dem die damaligen Ermittler besondere Aufmerksamkeit und Bedeutung beimaßen. Er ist bekannt als der „Fall der Leichenverwendung von Gefangenen und Ostarbeitern in der Medizinischen Akademie und in den Lagern in Danzig“. Im Gegensatz zum „Fall Greifswald“ ist der „Fall Danzig“ sehr grundlegend dokumentiert. Der „Danziger Komplex“ besteht in den TchGK-Beständen aus acht Akten und vier Fotoalben. Er umfasst insgesamt ca. 600 Seiten. Der dritte Grund ist mit der Geschichte der TchGK und ihrem Schicksal verbunden. Die Kommission ist auf Anordnung des Sowjetischen Ministerrates vom 9. Juni 1951 Nr. 9249r aufgelöst worden. Die TchGK hat ihre Materialien, Unterlagen, Karteikataloge, Fotoalben usw. an das Ministerium für Innere Angelegenheiten übergeben.12 11 Siehe: GARF, Fond P-7021, Opis 115, Akte 5, Bl. 63, 67 12 GARF, Fond P-7021, Opis 116, Akte 141, Bl. 81.

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Dokument 5: Die TchGK-Anordnung Nr. 6A vom 24. Juni 1951 über die Übergabe ihrer Unterlagen an das Ministerium für Innere Angelegenheiten.

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Wir wissen auch, dass auf Anordnung Nr. 9 des TchGK-Exekutivsekretärs Bogojawlensky vom 4. August 1951 in der Kommission eine besondere Gruppe gebildet wurde. Diese Gruppe sollte jene Materialien, die nicht aufbewahrt werden sollten, auswählen.13 Das Schicksal dieser Dokumente ist bekannt – sie wurden vernichtet. Befinden sich unter diesen vernichteten Materialien auch die Akten des „Falls Greifswald“? Wir wissen es nicht. Allerdings ist dies kein Grund, das Thema zu schließen. Es bedeutet vielmehr, dass unsere Recherchen und Analysen der Archivdokumente und die damit verbundenen Funde nur ein schwacher Abglanz des großen Greifswald-Komplexes sind. Dieser Komplex existierte auf jeden Fall und ich hoffe, er existiert bis heute. Verfügbare Informationen sagen uns, dass wir den Schwerpunkt auf die Suche nach Dokumenten der wichtigsten Teilnehmer der Aktion sowie der TchGK-Nachfolger legen sollten. Einer dieser TchGK-Nachfolger ist das FSB-Archiv. Mein Bericht definiert daher auch ein neues Suchfeld und neue Suchobjekte, die zuvor im Schatten verborgen waren. Da ist vor allem das gerichtsmedizinische Laboratorium Nr. 63, auf das wir die Suche konzentrieren sollten. Alle Opfer des Nationalsozialismus und auch die aus dem „Fall Greifswald“ sollten namentlich bekannt werden. Vielleicht lösen wir diese Aufgabe mit Hilfe des Leichenbuches des Anatomischen Instituts, das wir versuchen sollten zu finden. Zum Schluss möchte ich Folgendes sagen: Wie stark unsere individuellen und separaten Bemühungen auch sein mögen, ohne Kooperationen können wir kein vollständiges Mosaik zusammenfügen. Es ist zu hoffen, dass es uns gelingen wird, ein Mosaik der vergangenen Geschichte, von Fakten und Namen zu erstellen. Ich freue mich daher sehr, unseren Fund – die Dokumente des „Falls Greifswald“ – an unsere deutschen Kollegen von der Universität Greifswald übergeben zu können.

13 GARF, Fond P-7021, Opis 116, Akte 141, Bl. 84.

Protokoll der gerichtsmedizinischen Untersuchung der im Keller des Anatomischen Instituts der Universität Greifswald vorgefundenen Leichen, 13.–15. November 1947

Übersetzt und kommentiert von Britta Holtz Die vorliegende Übersetzung beruht auf dem der Ausfertigung des Protokolls des Laboratoriums Nr. 63 für die bewaffneten Streifkräfte, welches sich im Staatlichen Archiv der Russländischen Föderation (GARF), Nr. 7021, Opis 115, Akte 5, auf Blatt 53–67 befindet. Es ist Teil des im Beitrag von Vladimir Vsevolodov in diesem Band beschriebenen Dokumentenkomplexes.1 Das Typoskript besteht aus zwei, von der Laboratoriumsleiterin, Major Anosova, eigenhändig beglaubigten Abschriften. Es enthält das Protokoll der gerichtsmedizinischen Untersuchung (Bl. 53–63) und auswertende Schlussfolgerungen (Bl. 64–67) desselben. Sowohl das Protokoll als auch die Schlussfolgerungen sind undatiert. Beide Dokumente wurden am 26. Januar 1948 mit einem knappen Bericht über die Tätigkeit des Laboratoriums Nr. 63 an den gerichtsmedizinischen Hauptsachverständigen der bewaffneten Streifkräfte, Avdeev, übersandt. Dieser Bericht gestattet eine Einordnung des Greifswalder Untersuchungsauftrags der Anosova-Gruppe in die Gesamtbilanz ihrer Tätigkeit:

„Ich berichte, dass sich Mitarbeiter des Gerichtsmedizinischen Laboratoriums Nr. 63 im 4. Quartal des Jahres 1947 an der Untersuchung faschistischer Gräueltaten im „Stalag 11-A“2 der Siedlung Altengrabow Provinz Sachsen-Anhalt beteiligten und die Leichname von in der Gestapohaft verstorbenen Personen obduzierte, die als Material für studentische Übungen an die Greifswalder Universität überführt worden waren. Bei Ausgrabungen der Grabstätten des Stalag II-A wurden 3.229 Leichen sowjetischer Kriegsgefangener vorgefunden. Die Mehrzahl von ihnen starb an Infektionskrankheiten, nur in einigen Fällen wurden traumatische Verletzungen am Schädel festgestellt. Im Anatomischen Institut der Universität Greifswald wurden 68 Leichen sowjetischer Kriegsgefangener und polnischer Bürger aus Kübeln entnommen, auf einer Vielzahl der Leichen befanden sich Nummern, unter denen soziodemografischen Angaben der Person 1 2

Vgl. dazu den Beitrag von Vladimir Vsevolodov in diesem Band. Im Typoskript „Stalag II-A“. Im gesamten Text des Typoskripts wurde die arabische Ziffer 1 mit der Type I wiedergegeben, auch etwa bei den Jahreszahlen. In der Edition ist die Verwendung der Ziffern stillschweigend normalisiert worden.

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Britta Holtz

eingetragen wurden. Schlussfolgernd wurde festgestellt, dass die Universität von 1940 bis Oktober 1947 fortlaufend Übungen an Gestapo-Leichen sowjetischer Kriegsgefangener und polnischer Bürger durchgeführt hat. An vielen Körpern befanden sich Spuren von Gewalt und traumatische Verletzungen. Im ersten Quartal desselben Jahres nahm das Laboratorium an der Bearbeitung des Materials zum Lager Sachsenhausen teil, im Sommer wurden in derselben Angelegenheit Ausgrabungen von Grabstätten durchgeführt (1946). Im 4. Quartal des Jahres 1946 führte das Laboratorium Ausgrabungen in der Stadt Riesa, Provinz Sachsen, durch. Diese Begräbnisplätze gehörten zum Kriegsgefangenenlager der Gemeinde Zeithain. Insgesamt wurden die Leichen von schätzungsweise 40.000 sowjetischen Kriegsgefangenen freigelegt. In der Untersuchungskommission wirkten auch deutsche Ärzte mit.“3

Die Abfassung des Protokolls und der dazugehörigen Schlussfolgerungen liegt zwischen dem Ende der Untersuchungen in der Greifswalder Anatomie am 15. November 1947 und der Versendung des Berichts durch Major Anosova am 26. Januar 1948. Das Protokoll wurde außer von den verantwortlichen Angehörigen des Laboratorium Nr. 63 – die auch die Schlussfolgerungen unterzeichneten – auch vom zuständigen Militärarzt des Greifswalder Bezirks der SMAD unterzeichnet. In der fortlaufenden Übersetzung wurden polnische und russische Personennamen transliteriert, zum damaligen Zeitpunkt pommersche und preußische Ortsnamen wurden hingegen in ihrer deutschen Variante angeführt. Wechselnde sowie fehlerhafte Schreibvarianten wurden kommentiert. Des Weiteren wurden für die Sachkommentare zur Übersetzung, sofern vorhanden, die Angaben der Greifswalder Friedhofsregister (FrGw)4 herangezogen und vollständig wiedergegeben. Die im Protokoll vorhandenen Angaben konnten teilweise um das Datum der Beisetzung und die genaue Bezeichnung des Begräbnisplatzes ergänzt werden.5 Dabei wurden die in den Friedhofsregistern vorhandenen deutschen Schreibweisen der Personennamen unverändert übernommen. In einigen Fällen konnten Schreibungen von Personennamen mithilfe von Angaben des Vereins für Familienforschung in Westpreußen (Po3 4

5

Staatsarchiv der Russländischen Föderation (künftig: GARF), Fond P-7021, Opis 115, Akte 5, Bl. 52. Es handelt sich um das chronologisch geführte Register mit der Bezeichnung „Allgemeines Register U8, U15, Abt. 29 alt, Reihenstellen Abt. 30, 31, 32“ und das zeitgleich geführte alphabetische Register unter dem Titel „Allgemeines Register 1940–1954“. Beide befinden sich im Friedhofsamt Greifswald. Zur Widersprüchlichkeit der Angaben aus beiden Quellen vgl. den Beitrag von Dirk Alvermann in diesem Band.

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morskie Towarzystwo Genealogiczne, im weiteren Verlauf: PTG)6 korrigiert werden. Die Abschriften – vordergründig das zweite Dokument – weisen eine Vielzahl von Schreibfehlern auf. Die fehlerhaften Angaben des Protokolls wurden – sofern es sich um offensichtliche Fehler handelte – in eckigen Klammern korrigiert bzw. in den Sachkommentaren erläutert.

Protokoll

der gerichtsmedizinischen Untersuchung von 69 Leichen, die in den Kellern des Anatomischen Instituts der Greifswalder Universität in der Stadt Greifswald, Provinz Mecklenburg, aufgefunden wurden. Vom 13. bis 15. November 1947 wurden durch die ärztlichen Spezialisten mit der Feldpostnummer 07365 b, namentlich den Hauptmann des medizinischen Dienstes Serebrjannikov und den gerichtsmedizinischen Sachverständigen derselben Einheit und Arzt Simanskij, gerichtsmedizinische Leichenschauen zur Feststellung der Todesursachen auf Anfrage der Greifswalder Abteilung der SMAD7 durchgeführt. Die Untersuchung wurde im Anatomischen Institut der Greifswalder Universität in der Stadt Greifswald unter Anwesenheit eines Arztes des Greifswalder Bezirks der SMAD, Hauptmann des medizinischen Dienstes Ivinskij, durchgeführt. Umstände des Falles Aus dem vorliegenden Untersuchungsmaterial geht hervor, dass von 1940–1944 Leichen sowjetischer Kriegsgefangener und polnischer Staatsbürger aus der Gestapo, den Kriegsgefangenenlagern und Militärgefängnissen in das Anatomische Institut der Greifswalder Universität geliefert wurden, um mit Studenten praktische Übungen zum Studium der Anatomie durchzuführen. Folglich wurde festgestellt, dass die oben genannten Kriegsgefangenen und polnischen Staatsbürger in der Gestapo durch Erhängen und Erschießen getötet wurden bzw. teils durch Hunger und Erkrankungen umkamen. Bei Aufnahme ins Anatomische Institut wurden die Leichen durch Injizieren einer methanolhaltigen For6

7

Die polnischen Namen wurden anhand des russischen (und nunmehr in deutscher Übersetzung vorliegenden) Protokolls rekonstruiert, das dem PTG von Herrn Eduard Ptuchin – einem ehrenamtlichen Mitarbeiter der Kriegsgräberfürsorge in Berlin – zur Verfügung gestellt wurde. Vgl. dazu „Ciała polskich i radzieckich ofiar II Wojny Światowej znalezione w 1947 roku w piwnicach Wydziału Medycznego Uniwersytetu w Greiswaldzie (Niemcy)“, www.ptg.gda.pl/index. php/publisher/articleview/action/view/frmArticleID/217/ (letzter Zugriff am 12.4.2014). Sowjetische Militäradministration in Deutschland.

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malinlösungen in die Oberschenkelarterie, in einigen Fällen auch in die Halsschlagader, konserviert und in großen, mit Alkohollösungen gefüllten Bottichen gelagert. Des Weiteren wurden – zum anschaulicheren Studium der Anatomie – in einige der Körper farbige Substanzen eingeführt. Das Studium der Anatomie an Körpern sowjetischer Kriegsgefangener und polnischer Bürger durch Studenten dauerte bis über die Kapitulation des faschistischen Deutschlands hinaus an, konkret bis Oktober 1947, als dieser Fakt durch eine sowjetische Untersuchung ermittelt und die vorliegende Expertise veranlasst wurde. Gerichtsmedizinische Untersuchung der Leichen Die untersuchten Leichen liegen lose in speziellen, bis an den Rand gefüllten Bottichen, wodurch das weiche Gewebe, vor allem bei den tieferliegenden Leichen, im Gesicht und anderen Bereichen durch Druck gequetscht wurde. Die Leichen befinden sich in stark gegerbtem Zustand, die Haut ist fest, braun und pergamentähnlich, sie lässt sich nur mit Mühe einschneiden. Bei fast allen Körpern waren die Haare kurz geschnitten, an einigen Stellen ist der Schnitt außerdem nicht gleichmäßig. An jeder Leiche befinden sich Konservierungsspuren, entweder im Bereich der Oberschenkelarterie bzw. der Halsschlagader, die sich durch Haut- und Muskelrisse, unter denen man die durchtrennten und wieder zusammengebundenen Gefäße sieht, äußern. Die Augen sind eingefallen, die Hornhaut getrübt, die Pupillen und Iris schlecht erkennbar. Die feuchte Haut der Finger- und Fußknochen ist stark mazeriert und löst sich in Schichten ab. Alle feuchten Leichen sondern einen starken Geruch von Formalinlösung ab. Die inneren Organe sind fest und lassen sich nur schwer auslösen. In den Hohlräumen befindet sich Konservierungsflüssigkeit. An den Körpern wurden keine Verwesungsspuren festgestellt. Bevor wir zur Beschreibung der einzelnen Körper übergehen, soll Folgendes gesagt werden: An jeder der Leichen war, mit Ausnahme von zwei Personen ohne Totenzettel, am großen Zehenknochen ein hölzerner Totenzettel mit einer eingebrannten Nummer befestigt. Durch den Vergleich der Nummern auf dem Totenzettel und der Leichennummer in der zugehörigen Kartothek konnten in 32 Fällen zu den jeweiligen Körpern der Familienname, die Nationalität, das Alter, Geschlecht sowie die Beschäftigungsart ermittelt werden. In den übrigen 37 Fällen gelang dies aufgrund unvollständiger Karteikarten nicht. Die Untersuchung der Leichen wurde von uns in nummerischer Abfolge, in der Reihenfolge ihrer Anlieferung aus dem Leichenhaus zur Sektion, vorgenommen.

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Beschreibung der Leichen Leichnam [Nr. 5]: – Kolek Vladislav,8 23 Jahre, Pole, Landarbeiter. Der LeichPTG: Władysław Kołek.

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nam kam vom Bürgermeister des Ortes Katzow.9 Als Todesursache war Selbstmord vermerkt. Verstorben am 05. Mai 1940. Bei der Obduktion wurde festgestellt: männlicher Leichnam, dem Äußeren nach ca. 30 Jahre alt. Der Körper ist ein mit Haut überzogenes Skelett. Keine Anzeichen von Gewalt am Körper feststellbar. Die inneren Organe sind im Stadium der Atrophie. Die Magenhöhle ist leer. Im Darm wurde kein Stuhl vorgefunden. Fettgewebe im Omentum maius und Mesogastrium dorsale fehlt gänzlich. Leichnam Nr. 17 – eines unbekannten Mannes, dem Äußeren nach ca. 60 Jahre alt, in stark unterernährtem Zustand. Die Zähne fehlen. Die Alveolarknochen sind atrophiert. Die Bart- und Schnurrbarthaare sind grau. Am Körper keine Anzeichen von Gewalt feststellbar. Die inneren Organe befinden im Stadium der Atrophie. Magen und Darm sind leer. Leichnam Nr. 51 – Cedul’skij Gustav, 32 Jahre, Gefangener. Verstarb am 24.11.4110 an einer Infektion im Darmbereich. Die Leiche kam vom Magistrat des Ortes Gollnow.11 Bei der Obduktion wurde festgestellt: männlicher Leichnam, dem äußeren Anschein nach 30–35 Jahre alt, groß, unterernährt. Im Bereich des rechten Nackens befindet sich ein anatomischer Einschnitt, unter dem man die durchtrennte und mit groben Fäden wieder zusammengebundene Schlagader sieht. Auf der rechten Bauchseite befindet sich ein schiefer chirurgischer Schnitt mit einer Länge von 10 cm, der mithilfe einer Michel’schen Klammer zusammengehalten wird. Die Wundränder sind verklebt. Das Bauchfell ist entlang dem Einschnitt mit einem Seidenfaden vernäht. Der Appendix fehlt. Im Blinddarmbereich sind knotige Seidennähte. Der Blinddarm ist mit fibrinösen Belägen bedeckt, trübe. Leichnam Nr. 45 – eines unbekannten Mannes. Kam aus der Heilanstalt Meseritz12 am 24.[…].41.13 Bei der Obduktion wurde festgestellt: männlicher Leichnam, dem Äußeren nach ca. 50 Jahre alt, stark unterernährt. Alle Fußknochen sind amputiert. Die inneren Organe sind atrophiert. Subkutanes Fettgewebe fehlt gänzlich. Leichnam Nr. 56 – Golonskij Dominik, Pole. Die Leiche kam am 27. März 194114 aus der Gestapo Köslin.15 Bei der Obduktion wurde festgestellt: männlicher Leichnam, dem äußeren Anschein nach ungefähr 40 Jahre alt, ausreichend ernährt. Ein

9 Im Typoskript Kotcev. 10 FrGw 29-126/27, Gustav Tucholsky, Zuchthäusler, geb. 1.7.1908, gest. 25.11.1941 Gollnow, beigesetzt 7.4.1943. 11 Im Typoskript Gol’nov. 12 Im Typoskript Mezerec. 13 Die Monatsangabe fehlt im Typoskript und lässt sich anhand der Friedhofsregister nicht erschließen. 14 PTG: Dominik Gołoński. FrGw 29-118/29, Dominik Galonski, polnischer Kriegsgefangener, geb. 28.2.1907, gest. 27.3.1941, Ort unbekannt, beigesetzt 19.3.1942. 15 Im Typoskript Keslin.

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Teil der Zähne und der Oberkiefer fehlen. Das Gesicht ist geschwollen und zyanotisch. Am Hals befindet sich eine Strangmarke, die vom vorderen oberen Rand des Schildknorpels, an den Seiten – über die Kieferwinkel schräg nach oben bis zum Haaransatz verläuft. Das Mal ist nicht stark ausgeprägt. 6. Leichnam Nr. 47 – Vlašek Ferdinand,16 24 Jahre, Landarbeiter. Laut Karteiangaben verstarb er am 26. Januar 1941 an Lungenbrand. Die Leiche wurde aus dem Pathologisch-anatomischen Institut überstellt. Bei der Obduktion wurde festgestellt: männlicher Leichnam, kräftiger Körperbau, leicht unterernährt, dem Äußeren nach ca. 25–30 Jahre alt. Das Gesicht ist geschwollen. Am Hals ist eine schwache, zum Haaransatz hin ansteigende Strangmarke erkennbar. Die Lunge ist fest, oberhalb des Einschnittes tritt Schaum aus. Keine pathologischen Veränderungen der Lunge vorhanden. 7. Leichnam Nr. 1 – in der Kartothek keine Informationen zu dieser Leiche. Bei der Obduktion wurde festgestellt: unbekannter männlicher Leichnam, äußerlich ca. 35 Jahre alt, stark unterernährt. Der linke Lungenflügel ist verdichtet, luftleer und hat eine gräuliche Färbung. Auf der Pleura sind fibrinöse Beläge. 8. Leichnam Nr. 1-b – in der Kartothek keine Informationen zu dieser Leiche. Bei der Obduktion wurde festgestellt: unbekannter männlicher Leichnam, dem Äußeren nach 30–35 Jahre alt, unterhalb der Durchschnittsgröße, ausreichend ernährt. Ein Teil der Zähne in der Mundhöhle fehlt. Am Hals befindet sich eine nach hinten hin ansteigende Strangmarke. Auf die Brust ist ein Frauenkopf tätowiert. 9. Leichnam Nr. 8 – Kakircak Kazimir, Pole, 25 Jahre,17 aus der Gestapo Köslin,18 geliefert als Verurteilter zum Tode durch Erhängen. Der Tod trat am 2. Mai 1941 ein. Bei der Obduktion wurde festgestellt: männlicher Leichnam, dem äußeren Anschein nach ca. 30 Jahre alt, athletischer Körperbau, gut genährt. Am Hals befindet sich eine Strangmarke, die auf der Vorderseite oberhalb des Schildknorpels beginnt, auf der linken und rechten Seite im oberen Drittel des Musculus sternocleidomastoideus schräg nach oben verläuft und sich im behaarten Bereich des Kopfes verliert. Die Strangfurche beträgt in der Breite 0,5 cm, in der Tiefe 0,3 cm und ist hart. 10. Leichnam Nr. 44 – Nevoznak Vasilij, 27 Jahre, Landarbeiter, wurde mit der Diagnose Erschöpfung durch Hunger aus dem Greifswalder Lazarett eingeliefert. Verstarb am 18.11.1941.19 Männlicher Leichnam, dem Äußeren nach ungefähr 30 Jahre alt, stark unterernährt. Der untere rechte Lungenlappen ist fest und zeigt eine graurötliche Färbung. Die Pleura der Lunge ist trübe, mit fibrinösen Belägen. 16 PTG: Ferdynand Błaszek. 17 PTG: Kazimierz Kakircak. FrGw 29-118/29, Kasimir Kacprzak, polnischer Volkstumsangehöriger, geb. 24.8.1915, gest. 2.5.1941, Ort unbekannt, beigesetzt 19.3.1942. 18 Im Typoskript Keslin. 19 FrGw 29-124/25, Wasilij Nerosnak, Bauer, geb. 1914, gest. 18.11.1941 Greifswald, Stalag II-C, beigesetzt 23.2.1943.

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11. Leichnam Nr. 11 – Krekov Vladislav, 32 Jahre, geliefert aus der Polizeidienststelle der Stadt Stettin. Verstorben am 14. Mai 1941.20 Männlicher Leichnam, dem Äußeren nach ungefähr 35 Jahre alt, stark unterernährt. Am Hals eine schwach ausgeprägte, nach oben verlaufende Strangulationsmarke, die im behaarten Bereich des Hinterkopfes endet. 12. Leichnam Nr. 13 – Kubazik Vincajt,21 25 Jahre, Einwohner der Stadt Radom. Von der Gestapo Köslin22 als Gehängter am 22. Mai 1941 geliefert. Männlicher Leichnam mit kräftigem Körperbau, dem Äußeren nach ca. 35 Jahre alt. Ein Teil der vorderen Bauchwand fehlt. Die Wunde hat die Form eines Dreiecks, einen Umfang von 20 x 15 cm, keine Anzeichen von Blutungen. Im Grund der Wunde sind die Darmschleifen sichtbar. Am Hals des Körpers befindet sich eine Strangulationsmarke mit ansteigendem Charakter, die sich im behaarten Bereich des Kopfes, am Haaransatz, verliert. 13. Leichnam Nr. 18 – eines unbekannten Mannes, dem äußeren Anschein nach ca. 55 Jahre alt. Das Kopfhaar ist stellenweise ergraut. Die Zähne im Oberkiefer fehlen. Die Alveolarknochen sind atrophiert. Der Körper ist stark geschwächt. Zwischen der vierten Rippe rechts bis zur Axillarlinie befindet sich eine Öffnung, die in die Brusthöhle eindringt, mit einem Durchmesser von 1 cm und vernarbten Enden. Der rechte Lungenflügel ist extrem verdichtet. In der Pleurahöhle befinden sich auf der rechten Seite Reste eines eitrig fibrinösen Belags. 14. Leichnam Nr. 21 – Pavlovskij Feliks, 31 Jahre, Pole, Arbeiter. Eingeliefert am 23.7.1941 als Gehängter.23 Geboren in Klitkovo.24 Männlicher Leichnam, dem Äußeren nach ca. 30 Jahre alt in gutem Ernährungszustand. Am Hals befindet sich eine ansteigende Strangulationsmarke, die sich im Nackenhaar verliert. Die Furche ist dicht und mit stark ausgeprägten Blutungen am Rand des Wulstes. 15. Leichnam Nr. 22 – Pochil’skij Andrias, 26 Jahre, aus dem Dorf Modličevie,25 Landkreis Gniezno, Pole, Arbeiter.26 Kam aus Mariental als Gehängter. Männlicher Leichnam, ca. 35 Jahre alt, stark unterernährt. Am Hals befindet sich eine schwach ausgeprägte, schräg ansteigende Strangulationsmarke, die sich im Nackenbereich verliert. 16. Leichnam Nr. 23 – Celinskij Stanislav, geboren 1917, aus der Stadt Thorn, Pole.

20 PTG: Władysław Krekow. FrGw 29-118/29, Wladislaus Krekowa, Arbeiter, geb. 22.8.1915, gest. 15.8.1941 Stettin, beigesetzt 19.3.1942. 21 PTG: Wincent Kubazik. 22 Im Typoskript Keslin. 23 PTG: Feliks Pawłowski. FrGw 29-119/25, Felix Pawlowski, polnischer Arbeiter, geb. 22.2.1913, gest. 23.7.1941 Landdorf bei Triebsees, beigesetzt 3.8.1942. 24 Polnisch: Klitkowo. 25 Polnisch: Modliszewo. 26 PTG: Andreas Pochylski. FrGw 29-119/25, Andreas Pochylski, polnischer Arbeiter, geb. 12.11.1905, gest. 28.7.1941 Marienthal bei Anklam, beigesetzt 3.8.1942.

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Aus Stettin geliefert, erhängt am 1.8.41.27 Männlicher Leichnam, dem Äußeren nach ca. 30 Jahre alt, unterernährt. Von der Nasenhöhle zu den Ohren verläuft eine getrocknete Blutspur. Am Hals befindet sich eine schräg ansteigende Strangulationsmarke, die sich im Nackenbereich verliert. Leichnam Nr. 57 – Fedil’skij Stanislav, geboren 1912, aus Klein Chcenov, Landkreis Gordzig, Arbeiter, Pole.28 Aus der Polizeidienststelle Stolp29 geliefert, am 17.11.41 an einer Blutvergiftung gestorben. Männlicher Leichnam, dem äußeren Anschein nach 30 Jahre alt, mit einer stark ausgeprägten Ichthyose im Bereich der unteren Extremitäten, stark ausgezehrt. Fettgewebe fehlt gänzlich. Magen und Darm sind leer. Die inneren Organe sind atrophiert. Leichnam Nr. 55 – Lepustin Timofej, geboren 1920, Veterinär. Kam aus dem Lazarett für Kriegsgefangene in der Stadt Greifswald, starb am 06. Dezember 1941 an Hunger.30 Mann, dem Äußeren nach ca. 30 Jahre alt, stark unterernährt. Fettgewebe fehlt gänzlich. Atrophie der inneren Organe. Keine Spuren von Gewalt am Leichnam feststellbar. Leichnam Nr. 53 – Korl’janovskij Stepan, geboren 1910, Landarbeiter.31 Kam am 04. Dezember 1941 aus dem Lazarett für Kriegsgefangene in der Stadt Greifswald mit der Diagnose generelle Unterernährung. Ein ca. dreißigjähriger männlicher Leichnam mit starker Unterernährung. Der Kopf fehlt. An den Trennstellen sind keine Blutungen erkennbar. Der Kopf wurde mit dem ersten Halswirbel abgetrennt. Auf der Hüfte befinden sich keine Einschnitte zum Einführen von Konservierungsflüssigkeit. In den Gefäßen der Zwischenrippen, des Mesenteriums, des Herzens ist deutlich karminroter Farbstoff sichtbar. Die inneren Organe sind ohne besondere Veränderungen. Leichnam Nr. 52 – Jancangin Petr, 36 Jahre, Landarbeiter.32 Kam am 27. November 1941 aus dem Lazarett für Kriegsgefangene mit der Diagnose Hungertod. Männlicher Leichnam, dem Äußeren nach ca. 50 Jahre alt, stark ausgezehrt. Subkutanes Fettgewebe fehlt. Das Omentum ist ohne eine Spur von Fett und in Form einer dünnen und durchsichtigen Schicht. Die inneren Organe sind atrophiert. Spuren von Gewalt am Leichnam nicht feststellbar.

27 PTG: Stanisław Celiński. FrGw 29-119/25, Stanislaus Zelinski, polnischer Arbeiter, geb. 15.1.1917, gest. 1.8.1941 Pölitz bei Stettin, beigesetzt 3.8.1942. 28 PTG: Stanisław Fedylski. FrGw 29-130/31, Stanislaus Fiegilski, polnischer Arbeiter, geb. 19.11.1912, gest. 17.11.1941 Stolp, beigesetzt 20.12.1943. 29 Im Typoskript Štolc. 30 FrGw 29-126/27, Timofei Zepustin, Veterinär, geb. 2.1.1920, gest. 6.12.1941 Greifswald, Stalag II-C, beigesetzt 7.4.1943. 31 FrGw 29-126/27, Stepan Koriakowskij, Landarbeiter, geb. 1910, gest. 4.12.1941 Greifswald, Stalag II-C, beigesetzt 7.4.1943. 32 FrGw 29-126/27, Petr Jazandin, Bauer, geb. 24.12. [ohne Jahr], gest. 27.11.1941 Greifswald, Stalag II-C, beigesetzt 7.4.1943.

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21. Leichnam Nr. 49 – Štajakin Aleksej, kam am 23 November 1941 aus dem Lazarett für Kriegsgefangene in der Stadt Greifswald mit der Diagnose Hungertod.33 Männlicher Leichnam, dem Äußeren nach ca. 50 Jahre alt, stark unterernährt. Im Nackenbereich befindet sich eine Haut- und Muskelverletzung mit einer Größe von 2 x 1 cm, die bis an die Knochen durchdringt, ohne Blutungen am Einschnitt. Die Schädelknochen sind vollständig. Die Hirnmasse ist unauffällig. Die inneren Organe befinden sich im Stadium der Atrophie. Gänzliches Fehlen von Fettgewebe. 22. Leichnam Nr. 48 – Zadrevskij Stepan, 32 Jahre. Kam aus dem Lazarett in Greifswald mit der Diagnose Hungertod.34 Männlicher Leichnam, dem Äußeren nach ca. 35 Jahre alt, stark unterernährt. Dekubiti im Bereich des Kreuzbeins. Die Zähne sind komplett, Kauflächen stark abgenutzt. Die inneren Organe befinden sich im Stadium der Atrophie. Fettgewebe fehlt gänzlich. Keine Spuren von Gewalt am Leichnam feststellbar. 23. Leichnam Nr. 4735 – Nazarl’ev Petr, geboren 1913, Landarbeiter.36 Leiche wurde am 20. November aus dem Lazarett für Kriegsgefangene der Stadt Greifswald mit der Diagnose Hungertod überführt. Der Körper des 40-jährigen Mannes ist ein mit Haut überzogenes Skelett. Der Schädel wurde freigelegt. Das Gehirn fehlt. Die inneren Organe sind atrophiert. 24. Leichnam Nr. 7 – Milenčik Viktor, geboren 1905, polnischer Arbeiter, kam aus dem Gefängnis der Stadt Stettin mit der Diagnose Tuberkulose.37 Männlicher Leichnam, dem äußeren Anschein nach ca. 30 Jahre alt, unterernährt. An den inneren Organen keine Abweichungen von der Norm feststellbar. Aus den Körperhöhlen dringt ein starker Kampfergeruch. 25. Leichnam Nr. 29-A – Mivžekovskij Vatclav, geboren 1913, polnischer Arbeiter. Gehängter am 07.10.41 aus der Gestapo Köslin38 geliefert.39 Männlicher Leichnam, äußerlich ca. 35 Jahre alt, unterernährt. Im Bereich der Brust befindet sich ein Einschnitt in Form eines Dreiecks, ohne Blutungen ins benachbarte Gewebe. Am Hals befindet sich eine aufsteigende Strangulationsmarke, die sich im Nackenbereich verliert. 33 FrGw 29-126/27, Alexei Stajakin, Bauer, geb. 27.9.1901, gest. 23.11.1941 Greifswald, Stalag II-C, beigesetzt 7.4.1943. 34 Evtl. FrGw 29-126/27, Stepan Sochorewskji, geb. 10.6.1909, gest. 23.11.1941 Greifswald, Stalag II-C, beigesetzt 7.4.1943. 35 Leichnam Nr. 47 doppelt. Vgl. Eintrag Nr. 6: Vlašek bzw. Błaszek. 36 FrGw 29-126/27, Petr Nosarew, Bauer, geb. 21.9.1913, gest. 20.11.1941 Greifswald, Stalag IIC, beigesetzt 7.4.1943. 37 PTG: Wiktor Milęnčik. Evtl. FrGw 29-118/29, Viktor Milewczyk, polnischer Arbeiter, geb. 17.10.1905, gest. 24.4.1941 Zuchthaus Gollnow, beigesetzt 19.3.1942. 38 Im Typoskript Kreslin. 39 PTG: Wacław Niebrzekowski. FrGw 29-119/25, Waclaw Niebrzekowski, polnischer Zivilarbeiter, geb. 1.9.1913, gest. 7.10.1941 Klein Rackitt, Kr. Stolp, beigesetzt 3.8.1942.

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26. Leichnam Nr. 80 [54-A] – eines unbekannten Mannes, geliefert aus der Gestapo. Der Leichnam ist von athletischer Statur. Am Hals befindet sich eine Strangulationsmarke mit einer Breite von 1 cm und einer Tiefe von 0,5 cm. Die Ränder sind mit Blutungen versehen. Die Marke beginnt vorne über dem Schildknorpel, verläuft links und rechts über den unteren Kieferwinkel, bis sie sich hinten im Nackenbereich verliert.40 27. Leichnam Nr. 32 – eines unbekannten Mannes, ungefähr 50 Jahre alt. Stark unterernährt. Der Magen ist leer. Im Darm befindet sich eine unerhebliche Menge einer grünlichen, dichten Masse. Die inneren Organe sind stark atrophiert. 28. Leichnam Nr. 81 – unbekannter Mann, ca. 35 Jahre alt. Von der Gestapo der Stadt Greifswald geliefert. Von starker Statur, gut genährt. Am Hals befindet sich eine tiefe Strangulationsmarke mit einer Breite von 0,7 cm und einer Tiefe von 0,5 cm mit Blutungen an den Rändern. Die Marke ist ansteigend und verliert sich im behaarten Teil des Kopfes auf Nackenhöhe. 29. Leichnam Nr. 15 – Vizuevskij Ljudvig41 – 19 Jahre, polnischer Arbeiter, Erschossener aus der Gestapo Stralsund geliefert. Männlicher Leichnam, äußerlich ca. 20 Jahre alt, unterernährt. Im Bereich der rechten Schläfe befindet sich 2 cm vor dem oberen Ohrenrand eine runde Wunde mit 1 cm Durchmesser, die in die Schädelhöhle dringt. 2 cm vor dem oberen Ohrenrand befindet sich eine Schnittwunde mit einer Größe von 1 x 0,5 cm. Am rechten Os temporale befindet sich eine spaltförmige Verletzung mit einem Durchmesser von bis zu 1 cm, der sich in die Schädelhöhle ausdehnt, an den Seiten ist ein dunkler Rand (Ruß) mit einer Breite bis 0,2 cm. Am Os temporale rechts sind Blutreste. Die Sella turcica ist zertrümmert. Am Os temporale links ist ein Knochendefekt im Bereich der Pars squamosa mit einem Durchmesser von bis zu 1,5 cm, der nach außen hin größer wird. Die Schläfenlappen des Hirns sind zerschmettert. 30. Leichnam Nr. 12 – Vračevskij Adam, 33 Jahre, polnischer Arbeiter.42 Gehängter am 15.10.42 aus der Gestapo der Stadt Greifswald geliefert. Männlicher Leichnam, dem Äußeren nach ca. 30 Jahre alt, von kräftigem Körperbau, ausreichend ernährt. Am Hals befindet sich eine ansteigende Strangulationsmarke, die als Knoten im behaarten Kopfbereich endet. 31. Leichnam Nr. 12 – Krasnov Michail, 34 Jahre, Russe.43 Am 18. August 1942 aus der Gestapo der Stadt Greifswald geliefert, Tod durch Schädelwunde. Männlicher 40 Die ausführlicheren Beschreibungen der Leichname Nr. 27 und 28 wurden im Bericht nicht aufgeführt. 41 PTG: Ludwik Wizujewski. 42 PTG: Adam Wraczewski (Braczewski). FrGw 29-137, Adam Bartzewski, polnischer Arbeiter, geb. 31.3.1909, gest. 15.10.1942 Voigdehagen, beigesetzt 31.5.1944. 43 FrGw 29-134/36, Michael Krahsnow, russischer Arbeiter, geb. 7.6.1908, gest. 18.8.1942 Gribow, beigesetzt 3.4.1944.

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Leichnam, dem Äußeren nach ca. 40 Jahre alt, unterernährt. Auf dem linken Unterarm ist eine Tätowierung – das Wappen der Sowjetunion. Auf den rechten Unterarm und die Brust sind Schiffe tätowiert. Im rechten Nackenbereich befindet sich eine Wunde in Form eines unregelmäßigen Dreiecks mit einer Größe von 1,5 x 1 cm und unregelmäßigen Rändern, die nur bis zum Knochen reicht. Die Schädelknochen sind vollständig. Die Hirnmasse ist ohne Spuren von Einblutungen. Am Hals befindet sich eine schwach sichtbare, ansteigende Strangulationsmarke mit einem Knoten im Nackenbereich. Leichnam Nr. 16 – Japremko Vjačeslav, 27 Jahre, polnischer Arbeiter, Gehängter am 6. November 1942 aus der Gestapo Stralsund geliefert.44 Männlicher Leichnam, dem äußeren Anschein nach ca. 25 Jahre alt, von athletischer Gestalt, gut genährt, am Hals befindet sich eine harte Strangulationsmale, 0,5 cm breit, 0,3 cm tief, die vorne über dem Schildknorpel beginnt, links und rechts über die unteren Kieferwinkel verläuft und sich im behaarten Kopfbereich verliert. Leichnam Nr. 19 – Jalnatik Anna, geboren 1921, Ukrainerin. An Kohlenmonoxidvergiftung verstorbene Frau, am 31. Dezember 1942 geliefert. Weiblicher Leichnam, dem Äußeren nach ca. 20 Jahre alt, athletischer Körperbau, gut genährt. Die Haare auf dem Kopf sind kurz geschnitten, der Schambereich ist rasiert. Das Hymen ist ringförmig und unverletzt. Die Muskeln an der Schnittstelle sind mit einer deutlich sichtbaren rötlichen Färbung versehen. Die Organe an der Schnittstelle sind ebenfalls rötlich gefärbt. An den Organen sind keine Abweichungen von der Norm feststellbar. Leichnam Nr. 82 – Fol’tarec Foma, geboren 1908, aus Warschau.45 Am 13. März 1942 aus dem Gefängnis Gollnow geliefert. Männlicher Leichnam, dem Äußeren nach ca. 35 Jahre alt, ausreichend ernährt. Auf der Brust ist eine Frau eintätowiert, auf der rechten Hand – ein Schädel mit Knochen. Die Augenlider sind geschwollen. Die Lunge ist fest, luftleer. Im mittleren Teil des rechten Lungenflügels ist eine Höhle in der Größe eines Hühnereis und mit einer eitrigen Masse gefüllt. Im Lungengewebe befindet sich eine Vielzahl grauer Knoten. Leichnam [Nr. 76] – Vukovskij Pavel, 41 Jahre, Verstorbener am 29. Februar 1942 aus dem Gefängnis der Stadt Greifswald geliefert.46 Männlicher Leichnam, dem Äußeren nach ca. 45 Jahre alt, stark unterernährt. Der Körper ist ein mit Haut überzogenes Skelett. Die inneren Organe sind atrophiert. Keine Spuren von Gewalt am Körper feststellbar.

44 PTG: Wieńczysław Japremko. FrGw 29-137, Wieczyslav Jaremko, polnischer Arbeiter, geb. 20.1.1915, gest. 6.11.1942 Jakobsdorf, beigesetzt 31.5.1944. 45 PTG: Tomasz Foltarec. FrGw 29-134/35, Thomas Foltarz, Beruf unbekannt, geb. 1.10.1908, gest. 13.3.1942 Zuchthaus Gollnow, beigesetzt 17.3.1944. 46 PTG: Paweł Bukowski. FrGw 29-130/33, Paul Bukowski, geb. 22.6.1900, gest. 26.2.1942 Greifswald, beigesetzt 2.3.1944.

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Britta Holtz

36. Leichnam Nr. 36 – Travkin Michail, geboren 1924,47 Russe.48 Wurde aus dem Gefängnis der Stadt Gollnow49 geliefert, Tod durch Tuberkulose. Männlicher Leichnam, anscheinend ausreichend ernährt, ca. 20 Jahre alt. Brust- und Bauchhöhle sind geöffnet. Der 6. Brustwirbel ist komplett gebrochen. In der Bauchhöhle befindet sich viel trockene Blutmasse. Auf dem Rücken sind vom Schulterblatt bis zur Lende 9 Wunden, 4 von ihnen reichen bis in die Brusthöhle. Die Wunden sind rissig und von einer Größe zwischen 1,1 bis 4,3 cm. Nur eine von ihnen ist spindelförmig mit gleichmäßigen Rändern und scharfen Ecken. Sie befindet sich schräg unter dem linken Schulterblatt und dringt in die Brusthöhle ein. In der Brusthöhle sind 4 unregelmäßig geformte Öffnungen mit einer jeweiligen Größe von 3 x 2 cm. Links 2 auf Schulterblatthöhe zwischen der 11. und 12. Rippe, die Rippen sind an dieser Stelle gebrochen, und 2 zwischen der 9. und 7. Rippe. Die achte Rippe ist in Wirbelnähe gebrochen. Die übrigen Rippen sind auf Achselhöhe gebrochen. Die Organe der Brusthöhle fehlen. 37. Leichnam Nr. 50 – Novokovskij Boleslav, 28 Jahre, Pole, aus dem Magistrat Demmin geliefert, vergiftet durch Salzsäure.50 Mann äußerlich ca. 35 Jahre alt, stark ausgezehrt. Die inneren Organe sind atrophiert. Von Seiten der Schleimhaut der Speiseröhre, des Magens, Darms sind keine Abweichungen von der Norm erkennbar. Keine Anzeichen von Gewalt am Körper festgestellt. 38. Leichnam Nr. 43 – Šach Petr, geboren 1903, Ostarbeiter.51 Von den Besitztümern Heilgeisthof52 am 21. November 1944 geliefert, Tod durch Kohlenmonoxidvergiftung. Männlicher Leichnam, äußerlich ca. 40 Jahre alt, kräftiger Körperbau, ausreichend ernährt. Die inneren Organe und Muskeln mit ausgeprägt roter Färbung, ohne besondere Veränderungen. 39. Leichnam Nr. 40 – Gustin Genrich53 – geboren 1929, Pole. Laut Gestapo-Angaben an Lungentuberkulose verstorben. Männlicher Leichnam mit freigelegtem Gesicht. Die Bauchhöhle ist geöffnet. Reduzierte Nahrungszufuhr. In den Lungen fällt das Gewebe an etlichen Stellen auseinander, sie enthalten viele flache, gräuliche Ausstülpungen. Die Gefäße wurden mit einer karminroten Substanz gefüllt. 40. Leichnam Nr. 66 – Taranovskij Eduard, Pole, 20 Jahre.54 Erhängter am 23. Januar 47 Im Typoskript 1942. 48 FrGw 29-138, Michael Trawkin, Arbeiter, geb. 8.11.1924, gest. 15.7.1944 Zuchthaus Gollnow, beigesetzt 25.7.1944. 49 Im Typoskript Gal’nov. 50 PTG: Bolesław Nowakowski. FrGw 29-126/27, Boleslaw Nowakowski, polnischer Landarbeiter, geb. 18.12.1914, gest. 22.11.1941 Demmin, beigesetzt 7.4.1943. 51 FrGw 29-141, Peter Schach, Ostarbeiter, gest. 21.11.1944 Heilgeisthof, beigesetzt 11.12.1944. 52 Im Typoskript Chal’gasgof. 53 PTG: Henryk Gustyn. 54 PTG: Edward Tarnowski. FrGw 29-130/31, Eduard Jarnowski, geb. 25.6.1921, gest. 23.1.1942, Marlow bei Sargard (Rügen), beigesetzt 1.2.1944.

Protokoll der gerichtsmedizinischen Untersuchung

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42.

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48.

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1942 aus der Gestapo Greifswald geliefert. Männlicher Leichnam, ca. 25 Jahre alt, athletischer Körperbau, ausreichend ernährt. Am Hals befindet sich eine Strangulationsmarke, bis zu 1 cm breit und 0,5 cm tief. Die Marke steigt schräg an und endet im Bereich des Nackens. Leichnam Nr. 25 – eines unbekannten Mannes, äußerlich ca. 40 Jahre alt, stark unterernährt. Die inneren Organe sind atrophiert. Subkutanes Fettgewebe fehlt gänzlich. Im Kopfbereich befindet sich von einem Ohr zum anderen ein transversaler Schnitt, der mit einem starken Garn vernäht wurde, das Schädeldach ist geöffnet. Das Gehirn fehlt. Leichnam Nr. 27 – eines unbekannten Mannes von ca. 20 Jahren, drastisch unterernährt. Das Omentum maius ist ohne Fett, die inneren Organe sind atrophiert. Keine Spuren von Gewalt am Körper feststellbar. Leichnam Nr. 65 – unbekannter Mann, dem Äußeren nach ca. 40 Jahre alt. Die Kopf, Schnurrbart- und Barthaare sind grau. Das Herzklappensystem ist verhärtet. Die Herzhöhle ist stark aufgedehnt. Keine Spuren von Verletzungen am Körper festgestellt. Leichnam Nr. 70 – eines unbekannten Mannes, äußerlich ca. 60 Jahre alt, stark unterernährt. Auf dem linken Unterarm ist eine Tätowierung – ein junges Mädchen, das auf dem Erdball tanzt. Linksseitiger schiefer Leistenbruch von der Größe eines Kinderkopfes. Im Bruchsack liegen Dünndarmschlingen. Die inneren Organe sind atrophiert. Keine Spuren von Gewalt am Körper feststellbar. Leichnam Nr. 20 – eines unbekannten Mannes, ca. 40 Jahre alt, stark unterernährt. Die inneren Organe sind atrophiert. Keine Spuren von Gewalt am Körper feststellbar. Leichnam Nr. 69 – einer unbekannten Frau, dem Äußeren nach ca. 70 Jahre alt. Das Kopfhaar ist grau. Die Zähne in der Mundhöhle fehlen, die Alveolarknochen sind atrophiert. Nahrungszufuhr drastisch reduziert. Organe im Stadium der Atrophie. Keine Spuren von Gewalt am Körper feststellbar. Leichnam – eines unbekannten Mannes Nr. 16,55 dem Äußeren nach ca. 60 Jahre alt. Stark unterernährt. Keine Konservierungsspuren in der Leistengegend. Am Hals ist linksseitig ein Schnitt, in dessen Grund die abgebundenen Halsgefäße sichtbar sind. Die inneren Organe sind atrophiert. Fettgewebe fehlt gänzlich. Leichnam Nr. 54 – eines unbekannten Mannes von ca. 55 Jahren mit verminderter Nahrungszufuhr. Am Hals ist eine stark ausgeprägte, schräg ansteigende Strangulationsmarke, die sich im Bereich des Nackens verliert. Leichnam Nr. 53-B – eines unbekannten Mannes von ca. 60 Jahren, stark unterernährt. Die Bart- und Schnurrbarthaare sind grau/ die Zähne fehlen. Die Alveolarknochen sind atrophiert. Fettgewebe fehlt gänzlich. Keine Spuren von Gewalt am Körper festgestellt.

55 Leichnam Nr. 16 doppelt. Vgl. Eintrag Nr. 34: Japremko.

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Britta Holtz

50. Leichnam Nr. 25 – eines unbekannten Mannes, dem Äußeren nach ca. 50 Jahre alt. Stark unterernährt. Die inneren Organe sind atrophiert. Das Fettgewebe fehlt gänzlich. Keine Spuren von Gewalt an der Leiche vorgefunden. 51. Leichnam Nr. 77 – eines unbekannten Mannes, äußerlich ca. 65 Jahre alt, stark unterernährt. Die Zähne fehlen, die Alveolarknochen und inneren Organe sind atrophiert. Das Netz und Mesenterium sind ohne Fett. Keine Anzeichen von Gewalt am Körper vorgefunden. 52. Leichnam Nr. 10 – einer unbekannten Frau, dem äußeren Anschein nach ca. 60 Jahre alt. Das Kopfhaar ist grau. Der Körper ist stark ausgezehrt. Die inneren Organe sind atrophiert. Keine Spuren von Gewalt am Körper festgestellt. 53. Leichnam Nr. 58 – eines unbekannten Mannes, ca. 50 Jahre alt, stark unterernährt. Die inneren Organe sind atrophiert und ohne Spuren von Fett. Keine Verletzungen oder Spuren von Gewalt am Körper vorgefunden. 54. Leichnam Nr. 73 – eines unbekannten Mannes, dem Äußeren nach ca. 60 Jahre alt, stark unterernährt. Die inneren Organe sind atrophiert. Keine Verletzungsspuren am Körper vorgefunden. 55. Leichnam Nr. 78 – eines unbekannten Mannes. Äußerlich ca. 50 Jahre alt. Stark unterernährt. Die inneren Organe befinden sich im Stadium der Atrophie und sind ohne Spuren von Fett. Keine Anzeichen von Gewalt am Körper vorgefunden. 56. Leichnam Nr. 5256 – unbekannter Mann, ca. 60 Jahre alt, stark unterernährt. Die Zähne fehlen mit Ausnahme des Eck- und Weisheitszahns im Oberkiefer. Der Körper ist ein mit Haut überzogenes Skelett. Die inneren Organe befinden sich im Stadium der Atrophie. Keine Anzeichen von Gewalt am Körper festgestellt. 57. Leichnam Nr. 37 – eines unbekannten Mannes, ca. 20 Jahre alt, auf dem Rücken, vom Schulterblatt bis zur Leistengegend, befinden sich 8 Wunden mit unregelmäßig linearer Form und einer Größe von 1 x 0,5 cm bis 5 x 2 cm. Die Wundränder treffen teils mit Einschnitten zusammen. Die Wundwinkel sind flach und spitz. Das dazugehörige Gewebe ist von einer blutigen Masse durchtränkt. Brust- und Bauchhöhle sind geöffnet. Die inneren Organe fehlen. Auf Höhe des linken Schulterblattes zwischen der 4. und 5. Rippe befindet sich an der Thorax-Wand eine Wunde mit einer Größe von 3 x 2 cm. Auf derselben Linie ist zwischen der 10. und 12. Rippe eine weitere Wunde mit einer Größe von 4 x 3 cm. Die Rippe ist an dieser Stelle gebrochen. Rechts ist auf Höhe des Schulterblatts und zwischen der 9. und 10. Rippe eine Wunde von 2 x 2 cm. In der Bauch- und Brusthöhle befinden sich Reste einer blutigen Masse. 58. Leichnam Nr. 15 – eines unbekannten Mannes, offensichtlich jungen Alters, da der restliche Körper über stark entwickelte, elastische Muskeln verfügt. Im Bereich 56 Leichnam Nr. 52 doppelt. Vgl. Eintrag Nr. 20: Jancangin bzw. Jazandin.

Protokoll der gerichtsmedizinischen Untersuchung

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der Lendenwirbelsäule wurde der Körper zerteilt. Der obere Teil des Körpers fehlt. Keine Zeichen von Blutungen an der Trennstelle vorgefunden. Leichnam Nr. 30 – eines unbekannten Mannes, ca. 60 Jahre alt. Kopf-, Schnurrbart- und Barthaare sind grau. Die Zähne fehlen komplett. Der Körper ist stark unterernährt. Die inneren Organe sind atrophiert. Keine Verletzungsspuren am Körper vorgefunden. Leichnam Nr. 50 – eines unbekannten Mannes, ca. 30 Jahre alt, von starker Statur und ausreichend ernährt. Die rechte Lunge ist fest, luftfrei und von ziegelroter Farbe. Die linke ist von grau marmorierter Farbe, weichlich. Die übrigen Organe sind in konserviertem Zustand. Leichnam Nr. 75 – eines unbekannten Mannes, ca. 35 Jahre alt. Athletischer Körperbau, ausreichend ernährt. Am Hals befindet sich eine zirkuläre Strangulationsmarke mit einer Breite bis zu 0,5 cm und Tiefe bis zu 1 cm. Die Marke ist derb. Vorne verläuft sie vom oberen Rand des Schildknorpels, links und rechts an der Grenze des mittleren und unteren Drittels des großen Kopfwenders entlang bis zur hinteren Halsmitte. An den Rändern der Marke findet man in der Hautmenge Blutungen vor. Die Nasenlöcher sind mit Blut beschmutzt. Leichnam Nr. 71 – einer unbekannten Frau von ca. 65 Jahren, gut genährt. Die Haare auf [dem Kopf ] sind grau. Am Hals befindet sich links ein spindelförmiger Schnitt, in dessen Grund die abgebundenen Halsgefäße sichtbar sind. An der Lende gibt es keinen Einschnitt zur Konservierung. Auf der inneren Fläche der rechten Schulter ist ein ovaler Hautschnitt mit einer Größe von 5 x 2 cm und glatten Rändern. Die Unterschenkel sind geschwollen. Das Herz ist vergrößert, die Aortenund Herzklappen stark verdickt, milchweiß und mit warzigen Wucherungen. Die Muskeldicke der linken Herzkammer beträgt 2,5 cm, an der Innenwand der Aorta sind vielzählige gelbe Ablagerungen. Leichnam Nr. 74 – einer unbekannten Frau von ca. 40 Jahren, gut ernährt. Keine körperlichen Schäden festgestellt. Die linke Lunge ist in allen drei Lappen dicht und grau. Am Lungenfell sind viele eitrig-fibrinöse Beläge. Leichnam Nr. 2-A – eines unbekannten Mannes, dem Äußeren nach ca. 45 Jahre alt, stark unterernährt. Die Zehen des rechten Fußes sind amputiert. Die Wunde an dieser Stelle ist dicht und weiß. Der Körper ist ein mit Haut überzogenes Skelett. Die Organe sind atrophiert. Leichnam Nr. 2-B – einer unbekannten Frau, ca. 60 Jahre alt. Stark unterernährt. Die Zähne fehlen. Die Alveolarknochen sind atrophiert. Brust-, Bauch- und Schädelhöhle sind geöffnet. Die inneren Organe fehlen. Leichnam ohne Nummer – eines unbekannten Mannes, offensichtlich jungen Alters, die elastische Muskulatur ist gut entwickelt. Der Kopf, die linke obere Gliedmaße und linke untere Gliedmaße sowie die linke Hälfte des Thorax fehlen. An den Schnittstellen sind keine Blutungen. Brust- und Bauchhöhle sind geöffnet.

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Britta Holtz

Von den inneren Organen des Körpers ist lediglich die Leber übrig. Die Lendenwirbel sind herausgelöst. An den Sägestellen sind keine Blutungen sichtbar. 67. Leichnam ohne Nummer – unbekannter Mann, ca. 40 Jahre alt. Stark unterernährt, ohne Anzeichen körperlicher Schäden. Die inneren Organe sind atrophiert und ohne Spuren von Fettgewebe. Facharzt der Formation P. P. 07365-B Hauptmann des medizinischen Dienstes

/Serebrennikov/

Gerichtsmedizinischer Sachverständiger der Formation P. P. 07365 B Arzt /Simanskij/ Arzt des Greifswalder Bezirks der SMAD Hauptmann des medizinischen Dienstes Beglaubigte Kopie Major Anosova

/Ivinskij/.

Protokoll der gerichtsmedizinischen Untersuchung

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Schlussfolgerung Auf der Grundlage der gerichtsmedizinischen Untersuchung der Leichen und Umstände des Falles kommen wir zu folgender Schlussfolgerung: 1. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 17/durch Unterernährung. 2. Tod Krlek [Kołek]Vladislav/Leichnam Nr. 5/durch Unterernährung. 3. Tod Zedul’skij Gustav/Leichnam Nr. 51/durch Infektion im Darmbereich. 4. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 43/ durch Unterernährung. 5. Tod Golonskij Dominik/Leichnam Nr. 56/durch Strangulation. 6. Tod Blašek Ferdinand/Leichnam Nr. 47/durch Strangulation. 7. Leichnam eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 1/durch kruppöse Lungenentzündung. 8. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 1/durch Strangulation. 9. Tod Kakirzach [Kakirzac] Kazimir/Leichnam Nr. 8/durch Strangulation. 10. Tod Nevoznak/Leichnam Nr. 44/durch rechtsseitige kruppöse Pneumonie. 11. Tod Krekov Vladislav/Leichnam Nr. 11/durch Strangulation. 12. Tod Kuznjak [Kubazik]/Leichnam Nr. 13/durch Strangulation. 13. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 18/durch rechtsseitige kruppöse Pneumonie mit gleichzeitiger Unterernährung und Fistel auf der rechten ThoraxSeite. 14. Tod Feliks Pavlovskij/Leichnam Nr. 21/durch Strangulation. 15. Tod Andreas Pochil’skij/Leichnam Nr. 22/durch Strangulation. 16. Tod Stanislav Celinskij/Leichnam Nr. 23/durch Strangulation. 17. Tod Stanislav Fedil’skij/Leichnam Nr. 57/durch Unterernährung. 18. Tod Lapustin [Zepustin]/Leichnam Nr. 55/durch Unterernährung. 19. Bei Kirjakovskij [Koriakowskij]/Leichnam Nr. 53/aufgrund des fehlenden Kopfes ist die Todesursache nicht feststellbar. Fehlende Blutungen an der Trennstelle besagen, dass das Abtrennen nach Eintritt des Todes erfolgte. 20. Tod Jancangin/Leichnam Nr. 52/durch Unterernährung. 21. Tod Štajakin/Leichnam Nr. 49/durch Unterernährung. 22. Tod Stepan Zaderevskij [Zadrevskij]/Leichnam Nr. 48/durch Unterernährung. 23. Tod Nazarov [Nazarl’ev]/Leichnam Nr. 47/durch Unterernährung. 24. Tod Mel’niček [Milęcik] Viktor/Leichnam Nr. 7/womöglich durch Verabreichen einer hohen Dosis Kampfer, was der starke Kampfergeruch, der noch nach einigen Jahren im Körper erhalten ist, bezeugt. 25. Tod Nibžekovskij Vaclav [Niebrzekowski]/Leichnam Nr. 29-A/durch Strangulation. 26. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 54-A/durch unzureichende Herztätigkeit bei gleichzeitiger Unterernährung. 27. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 54-B/durch Strangulation.

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28. 29. 30. 31.

32. 33. 34. 35. 36. 37. 38.

39. 40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54.

Britta Holtz

Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 80/durch Strangulation.57 Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 32/durch Unterernährung. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 81/durch Strangulation. Tod Vizuevskij/Leichnam Nr. 15/aufgrund eines Durchschusses durch Schädel und Hirnmasse. Die Eintrittsöffnung befindet sich im Bereich der rechten Schläfe, die Austrittswunde auf der linken Schläfe. Der Schuss wurde von rechts nach links gerichtet, schräg von vorne nach hinten. Der Schuss kam aus nächster Nähe. Tod Baračevskij [Wraczewski/Braczewski/Bartzewski]/Leichnam Nr. 13 [Nr. 12]/ durch Strangulation. Tod Krasnov/Leichnam Nr. 12/durch Strangulation. Tod Japremenko/Leichnam Nr. 16/durch Strangulation. Tod Jalpatik [Jalnatik]/Leichnam Nr. 19/wahrscheinlich durch KohlenmonoxidVergiftung. Tod Pol’tarec Foma [Fol’tarec/Foltarec]/Leichnam Nr. 82/durch Lungentuberkulose. Tod Bukovskij/Leichnam Nr. 76/durch Unterernährung. Tod Travkin/Leichnam Nr. 36/durch Fraktur der Wirbelsäule und Schäden der Organe in der Brusthöhle, die mit einer stumpfen und scharfen Waffe herbeigeführt wurden. Tod Pobakovskij [Novokovskij]/Leichnam Nr. 50/durch Unterernährung. Tod Šach/Leichnam Nr. 43/offensichtliche Kohlenmonoxid-Vergiftung. Tod Gustin/Leichnam Nr. 40/durch Lungentuberkulose. Die Gefäßinjektion diente der anschaulicheren Ausbildung der Studenten. Tod Taranovskij/Leichnam Nr. 66/durch Strangulation. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 66 [Nr. 25]/durch Unterernährung. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 27/durch Unterernährung. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 65/durch unzureichende Herztätigkeit. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 70/durch Unterernährung. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 20/durch Unterernährung. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 69/durch Unterernährung. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 16/durch Unterernährung. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 54/durch Unterernährung. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 54 [Nr. 53-B]/durch Strangulation. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 25/durch Unterernährung. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 77/durch Unterernährung. Tod einer unbekannten Frau/Leichnam Nr. 10/durch Unterernährung.

57 Der Eintrag Nr. 28 enthält die Leichennummer aus Eintrag Nr. 26. Die Einträge 27 und 28 wurden in der Beschreibung der Leichen ausgelassen.

Protokoll der gerichtsmedizinischen Untersuchung

55. 56. 57. 58. 59.

60. 61. 62. 63. 64. 65. 66. 67. 68. 69.

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Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 58/durch Unterernährung. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 72 [Nr. 73]/durch Unterernährung. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 72 [Nr. 78]/durch Unterernährung. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 52/durch Unterernährung. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 37/durch Blutverlust infolge verletzter Organe in der Brust- und Bauchhöhle, die Verletzung wurde mit einer scharf schneidenden Stichwaffe verursacht. Todesursache eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 15/aufgrund fehlender Oberhälfte des Rumpfes nicht möglich. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 30/durch Unterernährung. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam Nr. 50/durch rechtsseitige kruppöse Pneumonie. Tod einer unbekannten Frau durch Erdrosseln/Leichnam Nr. 75. Tod einer unbekannten Frau/Leichnam Nr. 75 [Nr. 71]/durch unzureichende Herztätigkeit aufgrund einer verrukösen Endokarditis. Tod einer unbekannten Frau/Leichnam Nr. 74/durch rechtsseitige kruppöse Pneumonie. Tod einer unbekannten Frau/Leichnam Nr. 2-A/durch Unterernährung. Tod einer unbekannten Frau/Leichnam Nr. 2-B/offensichtlich durch Unterernährung. Todesursache einer unbekannten Frau/Leichnam ohne Nummer/durch Fehlen des Kopfes und der inneren Organe nicht feststellbar. Tod eines unbekannten Mannes/Leichnam ohne Nummer/durch Unterernährung.

Somit lässt sich sagen, dass die 69 Fälle sich anhand der Todesursachen folgendermaßen verteilen: 1. Tod durch Schusswunde am Kopf – 1 Fall 2. Tod durch Verletzungen mit scharf schneidenden Waffen/Stichverletzungen in Bauch- und Brusthöhle – 2 Fälle, wobei einer davon mit einem stumpfen Trauma kombiniert ist. 3. Tod durch Strangulation – 18 Fälle. 4. Tod durch Erdrosseln – 1 Fall. 5. Tod durch Intoxikation – 3 Fälle/zwei durch Kohlenmonoxid, eine offensichtlich mit Kampfer. 6. Erkrankungen – 11 Fälle, bestehend aus Erkrankungen an Herz und Lunge. 7. Tod durch Unterernährung – 30 Fälle. 8. Todesursache unbekannt – drei Fälle. Bei Fehlen des einen oder anderen Körperabschnitts. Folgende Nationalitäten wurden unter den aufgeführten Leichnamen bestimmt: Sowjetbürger nicht weniger als 12, Polen nicht weniger als 20.

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Britta Holtz

63 der Leichen sind männlich und 6 weiblich. Anhand des Alters: Unter 20 Jahren ..............10 Unter 30 Jahren ..............18 Unter 40 Jahren ..............19 Unter 50 Jahren ................7 Älter als 50 .....................15. Abschließend muss hinsichtlich der Todesursachen auf Abweichungen zwischen der Gestapo-Kartothek und den Ergebnissen der gerichtsmedizinischen Untersuchung hingewiesen werden: 1. Bei der Obduktion des Leichnams Nr. 5 wurde Unterernährung als Todesursache festgestellt, während in der Kartothek von Selbstmord die Rede ist. 2. Bei der Obduktion des Leichnams Nr. 47 wurde Tod durch Strangulation festgestellt, in der Kartothek steht aber Tod durch Lungenbrand. 3. Bei der Obduktion des Leichnams Nr. 36 wurden eine Wirbelsäulenfraktur sowie Stichwunden in der Brusthöhle nachgewiesen. In der Kartothek wurde als Todesursache Lungentuberkulose vermerkt. Die aufgezeigten Widersprüchlichkeiten zeugen von dem Vorhaben, die wahren Todesursachen sowjetischer und polnischer Bürger zu vertuschen und diese durch erfundene Diagnosen zu ersetzen. Facharzt der Formation P. P. 07365 B Hauptmann des medizinischen Dienstes

/Serebrennikov/

Gerichtsmedizinischer Sachverständiger der Formation P. P. 07365 B Arzt /Simanskij/ Beglaubigte Kopie Anosova

„Praktisch begraben“ – NS-Opfer in der Greifswalder Anatomie 1935 bis 1947 Dirk Alvermann

1. Der vergessene Skandal

Am 24. Oktober 1947 um 15.30 Uhr erschien im Anatomischen Institut der Kriminalbeamte Pilarski vom Greifswalder Kriminalamt K5 und forderte vom anwesenden Oberpräparator Julius Steinhauser Einsicht in das Leichenjournal. Als der herbeigerufene Direktor des Anatomischen Instituts, Professor Bernhard Lange die Herausgabe verweigerte, wurde ihm die umgehende Verhaftung angedroht. Schließlich gestattete der Kurator der Universität, Franz Wohlgemuth, die Abgabe des Leichenbuches an den K5-Beamten. Am Abend wurde Steinhauser von der Kripo verhaftet und erfuhr während seiner Vernehmung, dass Studierende in der Stadt das Gerücht gestreut hätten, im Anatomischen Institut befänden sich Leichen sowjetischer Kriegsgefangener, die bislang nicht bestattet wären. Anschließend wurde er über die Herkunft der Leichen befragt.1 Auch der Institutsdirektor, der erst am 5. Juli 1946 berufen worden war,2 wurde befragt, konnte aber keine Auskunft über die Herkunft der Leichen geben. Der Problematik war er sich immerhin bewusst, denn bei seinem Amtsantritt hatte er den Oberpräparator angewiesen, „alle Leichen, deren Tod auf gewaltsame Art in der Nazizeit festgestellt worden sei, zu beerdigen (auch die Angehörigen fremder Nationen)“.3 Angesichts der seit Kriegsende schwierigen Versorgungslage der Anatomie mit Leichen – das Institut hatte nach Wiedereröffnung der Universität (1946) lediglich zwei Leichen erhalten, die noch dazu vorher in der Pathologie seziert worden waren4 –, hatte der Oberpräparator die Anweisung des Direktors ignoriert.

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Der Hergang geht aus einer Mitteilung Prof. Langes an den Kurator v. 25. Oktober 1947 hervor, Universitätsarchiv Greifswald (künftig: UAG), Universitätsverwaltung Nr. 9, Bl. 27. UAG, PA 1421 (Bernhard Lange), Bd. 1. Vertrauliche Mitteilung des Kurators Wohlgemuth an die Landesregierung v. 3. November 1947, UAG, Universitätsverwaltung Nr. 9, Bl. 28. Schreiben Prof. Langes an die Landesregierung v. 8. August 1947, UAG, Universitätsverwaltung Nr. 9, Bl. 9.

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Im Zuge der späteren Ermittlungen stellte sich heraus, dass Steinhauser das Leichenjournal manipuliert hatte. Die Leichen waren dort zwar als beerdigt ausgetragen, aber weiterhin im Institut aufbewahrt worden.5 In den Augen der Ermittler hatte „man im Institut offenbar die Entdeckung der Leichen von Antifaschisten gefürchtet und durch falsche Eintragungen zu verschleiern versucht.“6 Ein knapper Bericht des Untersuchungsbeamten Pilarski fasst die ersten Ermittlungsergebnisse wie folgt zusammen: „Im Oktober des Jahres 1947 wurden auf Grund von Gerüchten, die in Greifswald kursierten und das Anatomische Institut zum Gegenstand hatten, durch mich Ermittlungen eingeleitet. Nach Fühlungnahme mit den Sektionsdienern des Instituts wurde mir durch diese bestätigt, dass im Verlaufe des Naziregimes Opfer desselben anatomisch verarbeitet wurden. Man verwies mich an den Oberpräparator Steinhauser, der etwa 40 Jahre am Institut tätig war und die Registrierung der dem Institut zugeführten Leichten tätigte. Steinhauser gestattete mir einen Einblick in das Leichenjournal, und ich konnte auf den ersten Blick feststellen, dass etwa seit dem Jahre 1942 laufend Leichen von durch die Gestapo hingerichteten Deutschen, Polen, Russen, Jugoslaven sowie auch Leichen in Kriegsgefangenschaft verhungerter Russen und in Militärgefängnissen hingerichteter deutscher Soldaten lastwagenweise dem Institut zugeführt wurden. Er selbst hat diese Erfassung der Leichen peinlichst genau durchgeführt. Im Leichenjournal waren angegeben: Name, Geburtstag und -ort, Todesursache und auf Grund wessen die Hinrichtung derselben erfolgt ist, sowie auch Tag und Stunde und Art der Hinrichtung. Nach Sicherstellung des Leichenjournals, bei derselben ich Widerstände seitens des Steinhauser, des Leiters des Instituts, Prof. Lange, und des Kurators der Universität zu überwinden hatte, erfolgte eine Überprüfung des vorhandenen Leichenbestandes. Im Gegensatz zu der im Leichenjournal vermerkten Beerdigung der Opfer des Naziregimes konnte festgestellt werden, dass die Angaben im Leichenjournal mit dem tatsächlichen Bestand der Leichen nicht übereinstimmten. Es wurden vorgefunden: Eine Menge von Leichen, an denen das Strangmal unzweideutig festgestellt werden konnte. An den Nummern, mit der jede Leiche gezeichnet war, konnte festgestellt werden, dass es sich hierbei um polnische und andere Staatsangehörige handelte, die von der Gestapo durch den Strang hingerichtet worden waren. Insgesamt wurden etwa 78 vollständige Leichen im Leichenkeller vorgefunden und ausserdem mehrere Bottiche mit Rümpfen, Köpfen und Gliedmassen, die aber nicht besonders erfasst worden sind. Der Oberpräparator Steinhauser, zu diesen Gegensätzlichkeiten 5 6

Vertrauliche Mitteilung des Kurators Wohlgemuth an die Landesregierung v. 3. November 1947, UAG, Universitätsverwaltung Nr. 9, Bl. 28. Bericht des Kurators an das Ministerium für Volksbildung v. 18. April 1948, UAG, Universitätsverwaltung 9, Bl. 45f.

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in seinem Leichenjournal befragt, gab an, dass er als langjähriger Angestellter bestrebt gewesen sei, das Material für das Anatomische Institut zu erhalten, da es sich bei den Leichen jedoch [sic!] um nach Recht und Gesetz abgeurteilte Verbrecher handelte.“7 An diesem Punkt der Ermittlungen übergab das K5 den Fall an die Sowjetische Militäradministration (SMA). Am 30. Oktober wurden die Professoren Lange und Abbildung 1: Das Anatomische Institut der UniversiDragendorff, der Oberpräparator tät Greifswald, ca. 1930 Steinhauser und die Anatomiediener Spiering und Päpke durch die Besatzungsbehörde verhaftet. Das Anatomische Institut wurde durch Posten der Roten Armee besetzt und gesperrt. Der Vorlesungsbetrieb wurde zunächst ausgesetzt und später durch einen Assistenten (Joachim Lewke) wieder aufgenommen.8 Während Bernhard Lange sehr rasch auf freien Fuß gesetzt wurde, blieben Dragendorff und Steinhauser bis zum 31. Mai 1948 in sowjetischer Untersuchungshaft und wurden anschließend ohne Urteil entlassen.9 Am 22. oder 23. November 1947 flüchtete Lange mit seiner Familie und in Begleitung eines Volontärassistenten aus der Sowjetischen Besatzungszone.10 Diese Flucht erregte Aufsehen. Der Telegraf berichtete wiederholt über die „Flucht aus SEDistan“. Unter den Studenten entstand viel Unruhe. So sah sich der Kurator am 27. November 1947 genötigt, eine besondere Erklärung abzugeben, in der er auch eine erste Interpretation der Ereignisse lieferte: „Was liegt hier eigentlich vor?“, fragte er. „Im Institut befinden sich Leichen, die vor dem Schluss des Krieges hereingekommen sind. Es handelt sich um Leichen von Angehörigen anderer Nationen aus den Stammlagern der Umgebung, die durch Hunger umgekommen sind oder erhängt waren. Für den Anatomen ist die Leiche zwar Ma7

Abschrift eines Berichtes des K5-Beamten Pilarski v. 12.3.1948, UAG, Universitätsverwaltung 9, Bl. 38. 8 Vertrauliche Mitteilung des Kurators Wohlgemuth an die Landesregierung v. 3. November 1947, UAG, Universitätsverwaltung 9, Bl. 28. 9 Steinhauser an Kurator v. 1. Juni 1948, UAG, PA 2283 (Steinhauser), Bd. 3, Bl. 5. 10 Lewke an Kurator v. 25. November 1947, UAG, Universitätsverwaltung 9, Bl. 29; UAG, PA 1421 (Lange), Bd. 1, Bl. 1–2.

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terial, aber so viel menschlichen Takt hätte ein Anatomisches Institut haben müssen, dass es diese Leichen nach Kriegsende beerdigte, da sie gegen jedes Menschenrecht zu Tode gekommen waren und in ein solches Institut geliefert wurden.“11 Er betonte in diesem Zusammenhang auch die Notwendigkeit einer Untersuchung der Vorgänge am Institut. Die Arbeit daran war zu diesem Zeitpunkt allerdings schon beendet.12 Vom 13. bis 15. November 1947 hatten Spezialisten des gerichtsmedizinischen Laboratoriums Nr. 63 der Roten Armee im Anatomischen Institut eine eingehende Untersuchung der vorhandenen Leichen durchgeführt.13 Ihnen stand dabei offenbar nicht das Leichenjournal, sondern lediglich eine unvollständige Kartei zur Verfügung, die – durch Vergleich mit den an den konservierten Körpern angebrachten Nummern – eine Identifikation der Leichen erlaubte. Die Militärärzte identifizierten unter den im Anatomischen Institut vorgefundenen Körpern 69 Leichname als Opfer des Faschismus. Sie wurden am 6. Januar 1948 auf dem Bezirksfriedhof der Roten Armee in Greifswald beigesetzt.14 Neben den offiziellen Opfern des Faschismus hatte die sowjetische Kommission weitere 16 Leichen, die sich auf dem Präparierboden des Anatomischen Instituts für die Übungen des laufenden Semesters befanden, registriert und sofort freigegeben.15 Sechs Leichen, die für die Operationskurse in der Chirurgie verwendet wurden, entgingen der Aufmerksamkeit der Kommission. Nicht in die Untersuchung einbezogen wurden 36 Kinderleichen (nach späteren Angaben Früh- und Totgeburten aus der Frauenklinik)16 und die unvollständigen Leichname, darunter allein 122 Köpfe.17 11 Erklärung des Universitätskurators am 27. November 1947 vor den Hörern der Anatomie, UAG, Universitätsverwaltung 9, Bl. 30. 12 „Diese Vorgänge müssen untersucht werden. Es muss festgestellt werden, wo und wie diese Leichen umgekommen sind. Dagegen wird sich niemand ernsthaft wehren.“ UAG, Universitätsverwaltung 9, Bl. 30. 13 Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Vsevolodov und die Edition von Holtz in diesem Band. 14 Solche Bezirksfriedhöfe waren aufgrund des Befehls 117 des Oberbefehlshabers der SMAD vom 15. April 1946 an zentralen Orten (in Schwerin, Güstrow, Greifswald, Potsdam, Eberswalde, Cottbus, Magdeburg, Halle, Gotha, Weimar, Chemnitz und Dresden) eingerichtet worden. In Greifswald wurden dann tatsächlich drei solcher Friedhöfe anstelle eines geschlossenen Bezirksfriedhofs angelegt. Der Bezirksfriedhof Nr. 1 sollte ursprünglich ein Ehrenmal für die Gefallenen der Roten Armee mit nur fünf Bestattungen sein, entwickelte sich dann aber aufgrund seiner zentralen Lage zu einem Offiziersfriedhof. Der Bezirksfriedhof Nr. 3 wurde zuletzt angelegt. Die Anatomieleichen sind die erste Belegung, die auf diesem Friedhof stattfand. Vgl. Stadtarchiv Greifswald (künftig: StAGw), Acc. 14/01, Nr. 32, Bl. 120 und StAGw, Rep. 79, Nr. 309, Bl. 3. 15 Bericht des Anatomischen Instituts an den Kurator v. 12. Dezember 1947, UAG, Anatomisches Institut 119, Bl. 241. 16 Aktenvermerk des Anatomischen Instituts v. 4. Februar 1948, UAG, Anatomisches Institut 119, Bl. 237. 17 Die Zahl stammt aus einer Mitteilung des Instituts an den Kurator v. 13. Januar 1948 und wird

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Auch diese Leichen und Leichenreste wurden später im Beisein eines Militärarztes der sowjetischen Kommandantur eingesargt. Die Arbeit wurde anscheinend von einer operativen Gruppe des NKWD dokumentiert.18 Anschließend wurden die sterblichen Überreste dieser 180 Menschen am 4. Februar 1948 neben den 69 als Opfer des Faschismus identifizierten Personen auf dem Bezirksfriedhof der Roten Armee beigesetzt. Am Ende der Untersuchungen blieben viele Fragen offen. Die sowjetische Spezialkommission hatte bei der Untersuchung der 69 Leichname insgesamt 32 Personen mit Namen identifizieren können. Sie gehörten überwiegend polnischen Zwangsarbeitern und sechs sowjetischen Kriegsgefangenen. Ihre Liste überreichte die Kommission der sowjetischen Kommandantur. Nach der am 4. Februar 1948 erfolgten Beisetzung der übrigen noch in der Anatomie verbliebenen Leichen und Leichenteile aus der Zeit des Nationalsozialismus übergab die Militärkommandantur ihrerseits dem Friedhofsamt eine Liste mit Namen, die auf den zu errichtenden Grabsteinen stehen sollten.19 Diese Liste wich stark vom Untersuchungsbericht des gerichtsmedizinischen Laboratoriums ab. Sie enthielt nämlich 48 Namen, wobei aber auch fünf Namen (alles polnische Zwangsarbeiter) der früheren Liste fehlten und durch andere ersetzt worden waren. So waren insgesamt 21 neue Namen hinzugekommen.20 Sie gehörten fast ausschließlich Personen polnischer und russischer Nationalität, deren Leichen zwischen 1941 und 1944 in die Anatomie gelangt waren. Wie diese Liste zustande kam, auf welcher Grundlage die Namen ermittelt wurden, kann heute nicht mehr mit Sicherheit erschlossen werden. Sicher ist nur, dass der Kommandantur, anders als den Gerichtsmedizinern, das Leichenjournal der Anatomie zur Verfügung stand, das inzwischen vom K5 übergeben worden war.21 Die Besatzungsbehörde hat die Aufklärung des Falles nach 1948 nicht weiter betrieben. Die bestehenden Widersprüche, aber auch die größtenteils ungeklärte Identität der 1947 im Anatomischen Institut vorgefundenen sterblichen Überreste von 249 Personen sind in der Nachkriegszeit und auch während der DDR-Zeit nicht mehr als unmittelbare Herausforderung zur Nachforschung aufgefasst worden. später nicht mehr genannt. UAG, Anatomisches Institut 119, Bl. 239. 18 Notiz auf der Rückseite des Aktenvermerkes von Wohlgemuth, undatiert (vor dem 30. Januar 1948), UAG, Anatomisches Institut 119, Bl. 238r. 19 Friedhofsverwaltung an Bauamt vom 5. Februar 1948, StAGw, Acc 14/01 Nr. 32, Bl. 92. 20 Die Liste entspricht den zweisprachigen Einträgen, die sich heute im Register des Bezirksfriedhofs Nr. 3 der Roten Armee in Greifswald finden. 21 Der Umstand kann aus einer Anfrage des Anatomischen Instituts geschlussfolgert werden, das zur Identifizierung später aufgefundener Leichen um die Erlaubnis der Kommandantur bittet, das Leichenjournal einsehen zu dürfen. Vgl. Anatomisches Institut an Kurator v. 12. Dezember 1947, UAG, Anatomisches Institut 119, Bl. 241.

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Lediglich die Zentralverwaltung für Volksbildung verfolgte die Angelegenheit aufgrund einer Anfrage des Generalsekretariats der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) im April 1948 kurzzeitig weiter.22 Dabei ging es auch um die Aufklärung von eventuell noch vorhandenen Präparaten, die in der Zeit von 1933 bis 1945 am Anatomischen Institut angefertigt wurden.23 Die VVN war es auch, die aufgrund der Greifswalder Vorkommnisse die Frage der Anatomieleichen in größerem Rahmen weiterverfolgte. Dabei stand das Anatomische Institut der Universität Rostock im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Landesforschungsstelle der VVN in Mecklenburg initiierte ab Juni 1948 unter Leitung von Fanny Mütze-Specht Ermittlungen über die in die Rostocker Anatomie zwischen 1933 und 1945 eingelieferten Leichen, vor allem aus dem Zuchthaus Bützow-Dreibergen.24 Bereits im März/April 1947 hatte eine Kommission der SMA die Rostocker Anatomie besucht, „alle Räume, Leichenteile, Präparate, Leichen und das Leichenbuch überprüft und keine Beanstandungen festgestellt“.25 Mütze-Specht erreichte nun, nachdem sie die Einlieferung von 62 Leichen aus Bützow-Dreibergen, wahrscheinlich Hingerichteter, nachweisen konnte,26 dass eine offizielle Untersuchung durch das Ministerium vorgenommen wurde, die aber – wie der verharmlosende Abschlussbericht auf geradezu entlarvende Art zeigt – völlig dilettantisch durchgeführt wurde.27 Mütze-Specht ließ sich nicht entmutigen und rief zur Bildung einer Arbeitsgemeinschaft der ehemaligen Häftlinge in Bützow, Dreibergen und Gollnow zur Klärung des Schicksals der Rostocker Anatomieleichen auf.28 Ihre Bemühungen waren allerdings vergeblich. Bis heute gibt es für Rostock ebenso wie für Greifswald keine historische Untersuchung zu den Leichenlieferungen während der NS-Zeit.

22 Schreiben des VVN an den Präsidenten der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung v. 2. April 1948, UAG, Universitätsverwaltung 9, Bl. 37. 23 Dazu Bericht des Kurators an das Ministerium für Volksbildung Mecklenburg v. 18. April 1948, UAG, Universitätsverwaltung 9, Bl. 45f. 24 Bericht Fanny Mütze-Spechts über die Nachforschungen in Bützow-Dreibergen vom 23. Juni 1948, Bundesarchiv (künftig: BArch), DO 1/32536, Bl. 16–17. Für den Hinweis auf den Vorgang danke ich Jan Mittenzwei (Greifswald). 25 Vgl. Bericht des Ministeriums für Volksbildung des Landes Mecklenburg über eine Revision des Anatomischen Instituts der Universität Rostock vom 17. Juni 1948, BArch, DO 1/32536, Bl. 243f. 26 Die Namensliste in BArch, DO 1/32536, Bl. 238. 27 Bericht des Ministeriums für Volksbildung des Landes Mecklenburg über eine Revision des Anatomischen Instituts der Universität Rostock vom 17. Juni 1948, BArch, DO 1/32536, Bl. 243f. 28 Fanny Mütze-Specht, Aus dem antifaschistischen Widerstandskampf in Mecklenburg gegen das Naziregime, Schwerin 1948, S. 77.

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2. Hintergründe a) Rechtlicher Rahmen

Die gesetzlich sanktionierte Ablieferung von Leichen an die Anatomischen Institute zu Lehr- und Forschungszwecken ist beinahe so alt wie die Disziplin selbst.29 Sie ist in Preußen 1889 umfassend rechtlich geregelt worden.30 Die einheitliche rechtliche Regelung war nötig geworden, weil die Versorgungssituation der Anatomien mit Leichenmaterial im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer angespannter geworden war. Der Bedarf für Lehrzwecke ließ sich gleichwohl vor dem 1. Weltkrieg kaum decken. Danach stiegen die Studentenzahlen der Medizinischen Fakultäten enorm an, was den Bedarf an Leichen für die Präparierübungen der Vorkliniker nochmals erhöhte. Diesem erhöhten Bedarf stand ein stagnierendes Angebot gegenüber. Es wurden nicht mehr Leichen in die Anatomien geliefert als zuvor – eher weniger. Die Anatomischen Institute reagierten darauf in unterschiedlicher Weise, vor allem durch Aufklärung der Öffentlichkeit. Im Einzelfall wurden sogar Zeitungsinserate geschaltet.31 Der Gedanke der Überlassung der Leiche für anatomische Zwecke durch die Angehörigen gewann an Gewicht. Doch der steigende Bedarf der Anatomien blieb weiterhin unbefriedigt. Über die Ursachen des Rückgangs machte man sich auch auf politischer Ebene Gedanken. Die Medizinalabteilung des Reichsministeriums des Inneren räumte Anfang 1935 ein „daß die Angehörigen der Toten, die früher für anatomische Zwecke zur Verfügung gestellt wurden, auf Grund der Untersuchung der Leiche Maßnahmen auf dem Gebiete der Erbgesundheitspflege gegen sich befürchten“.32 Man prognostizierte zwar, dass aufgrund der neuen Studienzulassungsbedingungen die Zahl der Studierenden und damit auch der Bedarf der Anatomien an Leichen zurückgehen würde, dennoch wurde schon ab 1933 die Lösung des Problems auf juristischem Wege verfolgt.33 Die unter29 Vgl. den Überblick bei Sabine Hildebrandt, Capital Punishment and Anatomy: History and Ethics of an Ongoing Association, in: Clinical Anatomy, 21 (2008), S. 5–14. 30 Michael Viebig, Zu Problemen der Leichenversorgung des Anatomischen Institutes der Universität Halle vom 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts, in: H.-J. Rupieper (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Martin-Luther-Universität 1502–2002, Halle 2002, S. 117–146, hier S. 134ff. 31 Viebig, Leichenversorgung (wie Anm. 30), S. 139. 32 Aus der Stellungnahme des Abteilungsleiters III (Kempe) im Reichsjustizministerium v. 26. Januar 1935, BArch, R 3001/21478, Bl. 13v. 33 Vgl. den Überblick bei Michael Viebig, „…the Cadaver Can Be Placed at Your Disposition Here.“ – Legal, Administrative Basis of the Transfer of Cadavers in the Third Reich, Its Traces in Archival Sources, in: Annals of Anatomy, 194 (2012), S. 267–273. Das in § 454 Abs. 5 StPO geregelte Recht der Angehörigen zur einfachen Beisetzung des Leichnams wurde durch die

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schiedlich weitreichenden Überlegungen zu dieser Frage sollen hier etwas ausführlicher dargestellt werden, weil sie primär von den seit 1933 von den Anatomischen Instituten gebenüber der Politik formulierten Ansprüchen ausgingen.34 Zunächst wurde im Oktober 1933 die Überlassung von Leichen Hingerichteter für wissenschaftliche und Lehrzwecke an das jeweils nächstgelegene Anatomische Institut in Preußen grundsätzlich bekräftigt bzw. neu geregelt.35 Die Leichen Hingerichteter sollten fortan, sofern die Angehörigen nicht widersprachen, dem Anatomischen Institut der jeweils nächstgelegenen Universität überstellt werden. Daran schloss sich eine Diskussion über die Änderung oder gänzliche Abschaffung des § 454 Abs. 5 StPO an. Diese Norm, die das Recht der Angehörigen zur einfachen Beisetzung der Leichname von Hingerichteten garantierte, stand den Ansprüchen der Anatomien entgegen und warf für die Strafanstalten ein rechtliches Dilemma auf. Wurde nach der Dienst- und Vollzugsordnung von 1933 (DVO § 111) verfahren, dann mussten die Angehörigen zunächst auf ihr Recht verzichten, bevor die Anatomen zum Zuge kommen konnten. Dadurch verlor der Leichnam für die Anatomie aber an Wert, da sie vor allem am „lebensfrischen Material“ interessiert war und die Körper der Hingerichteten unmittelbar nach Einritt des Todes für ihre Zwecke verwerten wollte. Folgerichtig schlug der Strafanstaltsoberdirektor von Plötzensee, Paul Vacano, Ende 1934 vor, den § 454 Abs. 5 StPO kurzerhand abzuschaffen. „Gerade nach nationalsozialistischen Gedankengängen aber dürfte es durchaus sittliche Berechtigung haben, wenn ein der Todesstrafe würdiger Übeltäter nicht nur seine Tat mit dem Leben sühnt, sondern wenn auch durch seinen Tod der Menschheit, an der er sich so schwer vergangen hat, dadurch ein Nutzen, der vielleicht zum Teil ein vernichtetes Menschenleben wieder aufwiegt, erwächst, daß sein Leichnam der dem Wohle der Menschheit dienenden ärztlichen Wissenschaft von Gesetzes wegen für verfallen erklärt wird.“36 Der Rundverfügung des Reichsministers der Justiz vom 22. Oktober 1935, § 4 Abs. 1; aufgeweicht, vgl. Faksimileabdruck, in: Nationalsozialistische Justiz und Todesstrafe. Eine Dokumentation zur Gedenkstätte in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel, Braunschweig 1991, S. 8. 34 Vgl. Sabine Hildebrandt, Anatomy in the Third Reich: An Outline, Part 1. National Socialist Politics, Anatomical Institutions, and Anatomists, in Clinical Anatomy, 22 (2009), S. 883–893, hier S. 886. Auf breiter Quellenbasis nachgezeichnet sind die Forderungen der Anatomen gegenüber der Politik bei Thomas Waltenbacher, Der Vollzug der Todesstrafe in Deutschland von 1937–45. Scharfrichter im Dritten Reich, Berlin 2008, S. 211–224. 35 Runderlass des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 6. Oktober 1933. Danach standen die Leichen Hingerichteter aus den Landgerichtsbezirken Greifswald, Köslin, Stargard, Stettin und Stolp dem Anatomischen Institut der Universität Greifswald zu. Vgl. BArch, R 3001/21478, Bl. 10. 36 Der Vorschlag aus Plötzensee wird referiert in einem Bericht des Generalstaatsanwalts beim Kammergericht Berlin an den Reichsminister der Justiz vom 8. Januar 1935. Vgl. BArch, R 3001/21478, Bl. 6v.

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Leichnam wurde damit juristisch gewissermaßen zur Sache erklärt, was Fragen der Pietät obsolet erscheinen ließ. Solche Gedanken widersprachen durchaus der damals noch herrschenden Vorstellung von der Wahrung der Totenruhe oder von Sühne und Versöhnung und fanden im deutschen Strafprozessrecht keinerlei Parallele. Der Generalstaatsanwalt beim Berliner Kammergericht Friedrich Walter Jung schloss sich dennoch diesem Vorschlag an und trug ihn 1935 dem Reichsminister der Justiz vor.37 Betrachtet man die wesentlichen Gründe, die darüber hinaus für die Abschaffung des § 454 Abs. 5 ins Feld geführt wurden – Interesse der Wissenschaft, Vermeidung politisch unliebsamer Vorkommnisse bei Beerdigungen, vereinfachte Beseitigung der Leiche und Ausgestaltung der Sektion als Nebenstrafe – so stand das Interesse der Anatomien durchaus in Beziehung zu dem der NS-Justiz – sie ergänzten einander nahezu ideal und standen sichtbar (nicht nur argumentativ) in einem reziproken Mobilisierungsverhältnis zueinander.38 Die Pflicht zur Befragung der Angehörigen wurde 1935 in eine behördliche Ermessensentscheidung umgewandelt.39 Der Auslieferung von Leichen Hingerichteter an die Anatomischen Institute stand damit kaum noch ein Hindernis im Wege. Verbote der Überführung von Leichen Hingerichteter, von Leichen ausländischer Arbeiter und politischer Häftlinge gestatteten ab 1942 den Ortspolizeibehörden auch deren Übergabe ohne Zustimmung der Angehörigen an die Anatomien.40 Vertrauliche Runderlasse des Reichsministers der Justiz an die OLG-Präsidenten und die Generalstaatsanwälte ordneten Ende 1942/Anfang 1943 an, dass die Leichen Hingerichteter überhaupt nicht mehr überführt werden durften. Ausgenommen waren die Überführungen an die Anatomischen Institute der Universitäten, die zwischen Reich37 BArch, R 3001/21478, Bl. 8v. 38 Zum Begriff vgl. Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander, in: Rüdiger vom Bruch, Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2002, S. 32–51. 39 Rundverfügung des Reichsministers der Justiz vom 22. Oktober 1935 über die Vollziehung der Todesstrafe, § 4, Faksimiledruck in Justiz und Todesstrafe (wie Anm. 33), S. 7–14. Vgl. zu den Entwürfen BArch, R 3001/21314, Bl. 72–82. 40 Vgl. Rundverfügung des Reichsministers der Justiz vom 15. Juli 1942, dass die Leichen polnischer Hingerichteter nicht zur Bestattung durch Angehörige freigegeben werden, BArch, R 3001/ 21317, Bl. 13. Runderlass des Reichsministers der Justiz mit dem allgemeinen Verbot zur Beförderung von Leichen Hingerichteter vom 23. Oktober 1942, BArch, R 3001/ 21317, Bl. 81. Ein Überführungsverbot für Leichen ausländischer Arbeitskräfte bestand durch Runderlass des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz v. 20. Juli 1942. Für diese wurden grundsätzlich keine Leichenpässe ausgestellt (Zusammenfassung einer interministeriellen Besprechung zum Erlass eines allg. Leichenüberführungsverbots v. 12. April 1943, BArch, R 3001/21477, Bl. 26).

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serziehungsministerium und Reichsministerium des Innern gesondert geregelt wurden. Leichen Hingerichteter sollten generell nicht zur Bestattung freigegeben werden, und wenn doch, dann nur unter der Maßgabe, dass die Beisetzung am Vollzugsort stattfinden könnte. Die Leichen von verstorbenen Zuchthausgefangenen, die wegen Hochverrats, Landesverrats oder aus politischen Beweggründen begangener Verbrechen verurteilt wurden, sollten ebenso behandelt werden wie die Leichen der Hingerichteten.41 Damit war ab 1942/43 der Kreis der potentiell für die Anatomischen Institute zur Verfügung stehenden Leichen noch einmal erheblich erweitert worden. b) Institutionelle und personelle Voraussetzungen

Wenn man den Status eines Instituts am Grad seiner materiellen und personellen Ausstattung im Vergleich mit anderen definiert, dann kommt man nicht umhin, für das Ende der Weimarer Republik und die frühe NS-Zeit von einer Krise des Greifswalder Anatomischen Instituts zu sprechen. Eine erste Schwächung erfuhr das Institut 1931, als die seit 1924 dort gesondert vertretene Entwicklungsmechanik sich mit einer eigenen Institutsgründung unter Georg Wetzel von der Anatomie trennte.42 Der Mittelbedarf des neuen Instituts entwickelte sich rasch zu einer unliebsamen Konkurrenz. Eine ganz anders geartete Konkurrenz, vor allem in der Lehre, erwuchs der Anatomie durch das im Mai 1933 eingerichtete Institut für menschliche Erblehre und Eugenik unter Günther Just, das aus einer entsprechenden Abteilung des Zoologischen Instituts als Teil der Philosophischen Fakultät hervorgegangen war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Anatomie den anthropologisch-rassenkundlichen Unterricht, der ja nun eine starke Konjunktur erlebte, durchgeführt. Unter den gegebenen Umständen hatte Wilhelm Pfuhl,43 Prosektor und Oberassistent am Anatomischen Institut, sich bemüht, eben mit Hilfe dieses Ausbildungszweiges nicht nur den politischen Stellenwert des Instituts, sondern auch die entsprechenden Mittelzuweisungen zu vermehren. Er stellte dabei insbesondere die Bedeutung des rassenkundlichen Unterrichts am Anatomischen Institut als Voraussetzung für die erfolgreiche Beschäftigung mit der Rassenhygiene heraus, die „für den Aufbau des 41 Runderlasse des Reichsministers der Justiz vom 5. November 1942, vom 26. November 1942 und vom 10. März 1943. Vgl. BArch, R 3001/ 21477, Bl. 23 und Bl. 26. 42 Zur Person des Direktors Georg Wetzel vgl. Thomas Zwilling, Leben und Werk des Anatomen Georg Wetzel (1871–1951). Diss. Greifswald (http://d-nb.info/972334181/34). 43 Vgl. seine Personalakte UAG, PA 549 (Pfuhl) und vgl. Werner Buchholz (Hg.), Lexikon Greifswalder Professoren 1775–2006, Bd. 3: Lexikon Greifswalder Hochschullehrer 1907 bis 1932, S. 181f.

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neuen Deutschlands von grundlegender Wichtigkeit“44 sei. Dabei traf er auf den entschiedenen und letztlich erfolgreichen Widerstand Justs, der sein junges Institut durch diesen Abgrenzungsstreit gefährdet sah.45 Schließlich erhielt Pfuhl 1934 einen Ruf nach Frankfurt am Main. Nachdem Karl Peter46 als Direktor des Anatomischen Instituts 1936 emeritiert worden war, gingen die Verteilungskämpfe in eine neue Phase über. Just bemühte sich, das Machtvakuum in der Anatomie ausnutzend, um die Eingliederung der Entwicklungsmechanik in sein inzwischen umbenanntes Institut für Vererbungswissenschaft.47 Peters Nachfolger als Institutsdirektor, der 1936 berufene August Hirt,48 war allerdings eine stärkere Persönlichkeit als sein Vorgänger. Er machte geltend, dass die Entwicklungsmechanik als Wissenschaftszweig organisch zur Anatomie gehöre und erreichte, dass der Dekan der Medizinischen Fakultät der Abgabe des Instituts an die Philosphische Fakultät seine Zustimmung verweigerte.49 Stattdessen wurde es 1937 – nach der Emeritierung Wetzels – wieder der Anatomie als Abteilung angegliedert. Neben der baulichen Modernisierung der Anatomie, insbesondere durch den Neubau der Prosektur und den Umbau des Leichenkellers nach neuen Standards,50 bemühte Hirt sich in den knapp zweieinhalb Jahren seines Direktorats insgesamt um die Verbesserung der technischen Ausstattung und der Lehrmittel. Vor allem aber personell strebte Hirt schnell Veränderungen an. Bei seinem Dienstantritt am Institut fand er den Extraordinarius und Abteilungsvorsteher Otto Dragen44 Pfuhl an den Preuß. Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung v. […] Juni 1934, UAG, Kurator K 307, Bl. 87v. 45 Eine Einigung zwischen Pfuhl und Just kam durch Vermittlung des Ministeriums im Juni 1934 zustande, vgl. UAG, Kurator K 307, Bl. 89–94. 46 Zu Carl Peter vgl. Wilhelm Pfuhl, Karl Peter, in: Anatomischer Anzeiger, 102 (1955), S. 224– 244 und UAG, PA 545 (Peter). 47 Vgl. die eingehende Begründung Justs und Wetzels vom 10. September 1936 für die Fusionierung, UAG, Kurator K 696, Bl. 195ff. 48 Vgl. seine Personalakte, UAG, Med. Fak. I-88. Auf der Vorschlagsliste der Fakultät für die Nachfolge Peters’ fand sich Hirts Name nicht. Von der Fakultät vorgeschlagen wurden: 1. Hertwig (Rostock), 2. Spanner (Kiel), 3. Dragendorff (Greifswald) und Zeiger (Frankfurt a.M.). Der erstplatzierte Hertwig erhielt von der Rostocker Dozentenschaft allerdings ein vernichtendes Urteil, das seine Berufung ausschloss. Vgl. UAG, Kurator K 5978, Bl. 4–16. 49 Schreiben des Dekans v. 15. Januar 1937, UAG, Kurator K 969, Bl. 219. 50 Richard N. Wegner, Die Geschichte des Anatomischen Instituts und Museums der Universität Greifswald, in: Ernst-Moritz-Arndt-Universität (Hg.), Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald, 17.10.1956, Bd. 2, S. 282–295, hier S. 293. Insbesondere der Keller war laut Hirt „in seinem jetzigen Zustand einfach als katastrophal und als ein den einfachsten hygienischen Anforderungen ins Gesicht schlagender Stall zu bezeichnen“, Hirt an Kurator v. 11. Dezember 1936, UAG, Kurator K 1521, Bl. 222–224.

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dorff vor, der seit 1919 dem Institut angehörte.51 Die Stelle des Oberassistenten hatte, nach Pfuhls Fortberufung, seit 1935 Otto Popp bekleidet. Noch unmittelbar vor Hirts Dienstantritt versuchten Peter und Dragendorff die Fakultät zur Annahme von Popps Habilitation zu bewegen. Die Fakultätsmehrheit hielt die Substanz der Arbeit aber für unzureichend und lehnte es ab, den neuen Ordinarius „neben einem älteren Abteilungsvorsteher einen in wissenschaftlichen Arbeiten unzureichenden und […] unfruchtbaren Habilitierten vorfinden“ zu lassen.52 Das ganze Verfahren scheiterte dann an der entschiedenen Ablehnung Hirts.53 Das durch die gescheiterte Habilitation ohnehin belastete Verhältnis verschärfte sich noch durch eine von Popp lancierte Denunziation gegen Hirt, die ihre Kreise bis zur Gaustudentenbundsführung und ins Ministerium zog.54 Popp wurde beurlaubt und verließ das Institut bereits im Juni 1937. An Popps Stelle trat – zunächst kommissarisch – Hermann Sommer. Sommer war Hirt schon länger bekannt (beide stammten aus Mannheim) und war im Oktober 1936, dank einer von Hirt geschaffenen Hilfsassistentenstelle, von Heidelberg nach Greifswald gekommen. Zunächst hatte er Hirt im Rahmen von dessen bereits in Heidelberg begonnenen Karzinomforschungen55 bei der Intravitalmikroskopie am Luminiszenzmikroskop als außerplanmäßiger Assistent unterstützt.56 Nach Popps Beurlaubung blieb er dann Hirts kommissarischer Oberassistent bis zum Ende von dessen Greifswalder Zeit. Er hat sich wissenschaftlich vor allem mit vitalmikroskopischen und histologischen Untersuchungen am Sympathicus beschäftigt. Sommer setzte auch in seiner neuen Stellung die Karzinomforschungen, nun mit Untersuchungen am Patienten, fort, während Hirt für die tierexperimentellen Untersuchungen und die Luminiszenzmikroskopie im Juni 1937 Karl Wimmer57 einstellte. 51 Vgl. Buchholz, Lexikon (wie Anm. 43), S. 47f. 52 Stellungnahme des Dekans zum Habilitationsgesuch v. 17. Januar 1736, UAG, Med. Fak. II-40, Bl. 322v. 53 Vgl. die Fakultätsratsprotokolle v. 17. Februar 1936 und 26. April 1936 in UAG, Med. Fak. II40, Bl. 322–333. 54 Zur Untersuchung der Affäre durch das Kuratorium vgl. UAG, Med. Fak. I-107, Bl. 84–120. 55 Eine knappe Darstellung der wissenschaftlichen Zielsetzung (Methode zur Therapie von Oberflächentumoren) findet sich in Hirts Antrag auf eine Assistentenstelle v. 10. September 1936, vgl. UAG, Anatomisches Institut 53, Bl. 26. 56 Hermann Sommer war seit 1931 Mitglied der NSDAP und der SA, seit 1933 auch der SS, UAG, PA 575 (Sommer), Bl. 2; UAG, Anatomisches Institut 48, Bl. 14. Er promovierte 1935 in München und war anschließend Assistent an der chirurgisch-gynäkologischen Abteilung des evangelischen Krankenhauses Saarbrücken und ab 1936 am Pathologischen Institut in Heidelberg, vgl. eigenhändigen Lebenslauf Sommers, UAG, PA 575 (Sommer), Bl. 18. Zur Übertragung der Oberassistentenstelle vgl. Hirts Antrag v. 16. Juni 1937, UAG, Anatomisches Institut 48, Bl. 30. 57 Karl Wimmer (1910–1946), war 1935 in München promoviert worden (bei Lanz zur Anatomie

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Neben den intravitalmikroskopischen Arbeiten begann Wimmer auf Anregung Hirts hier mit Untersuchungen über die funktionelle Struktur der Dura mater und der Hirnveneneinmündungen in die Sinus durae matris.58 Die Hilfsassistentenstelle des Instituts nahmen nacheinander Georg Rhein und Horst Wolf wahr.59 Besondere Unterstützung ließ Hirt Anton Kiesselbach60 zukommen. Kiesselbach wurde als außerplanmäßiger Assistent des Instituts für Entwicklungsmechanik nach Hirts Ankunft mitsamt der nunmehr entwicklungsmechanischen Abteilung in das Anatomische Institut integriert. Die endgültige Übernahme machte Hirt aber von einem ergänzenden Medizinstudium Kiesselbachs (der eigentlich Zoologe war) abhängig, dem er sich auch unterzog. 1938 habilitierte Kiesselbach sich mit öffentlicher Lehrprobe vor der Philosophischen und der Medizinischen Fakultät.61 Trotz der durchaus bestehenden wissenschaftlichen Möglichkeiten war Hirt in Greifswald unzufrieden. Das lag wenigstens teilweise an der schlechten Dotierung seiner Stelle. Erst Ende 1937 wurde ihm ein planmäßiges Ordinariat verliehen und damit sein Gehalt entsprechend aufgestockt.62 Spätestens im April 1938 bemühte sich Hirt um einen neuen Wirkungskreis. Dabei kam ihm der Wunsch Pfuhls, der in Frankfurt a.M. an schweren gesundheitlichen Beschwerden litt, nach einer Rückkehr nach Greifswald entgegen. Beide fädelten einen Stellentausch ein, der im Juni 1938 von den Fakultäten gebilligt und vom Ministerium zum 1. Oktober 1938 genehmigt wurde.63 Der Wechsel von Hirt zu Pfuhl stand unter einem schlechten Stern. Pfuhl selbst war gesundheitlich angeschlagen. Der inzwischen 61-jährige Dragendorff erklärte Pfuhl gegenüber, dass er an den Vorlesungen und Präparierübungen nicht mehr teil-

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und Physiologie der Nebenhoden), danach Assistent am Stubenrauchkreiskankenhaus BerlinLichterfelde. Vgl. eigenhändigen Lebenslauf v. 28.4.1937 in UAG, PA 2161 (Wimmer), Bl. 7. Seit 1933 Mitglied der SA und Parteianwärter, UAG, PA 2161 (Wimmer), Bl. 18. Vgl. Chefgutachten Dragendorffs v. 8. September 1937 zu einem Stipendienantrag Wimmers, UAG, Anatomisches Institut 53, Bl. 37. Georg Rhein war 1936/37 Hilfsassistent, Horst Wolf 1937/38. Zu Rhein vgl. UAG, Med. Diss. I-957. Wolf war Mitglied der NSDAP und SS, vgl. UAG, Kurator K 718, Bl. 303. Anton Kiesselbach (1907–1984) hatte sich 1934 in Köln mit einem zoologischen Thema promoviert und war Anfang 1935 zunächst als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, dann als außerplanmäßiger Assistent an das Institut für Entwicklungsmechanik gekommen. Er gehörte seit Juli 1933 der SA und seit Mai 1937 der NSDAP an. Vgl. Lebenslauf vom 8. Juli 1938 in UAG, PA 90 (Kiesselbach), Bl. 48f. Vgl. Antrag des Dekans der Medizinischen Fakultät vom 15. September 1938 und Bericht des Prorektors v. 28. Dezember 1938, in UAG, PA 90 (Kiesselbach), Bl. 57 und 65. Vgl. Mitteilung des Kurators v. 5. Januar 1938, UAG, Med. Fak. I-88, Bl. 8. Vgl. Stellungnahme der Fakultät v. 23. Juni 1938 und Mitteilung des Kurators vom 6. September 1938. Vgl. UAG, Med. Fak. I-88, Bl. 15f.

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nehmen wolle und beantragte die Emeritierung.64 Zugleich verlor das Institut alle erfahreneren Assistenten. Sommer war im Juli 1938 auf eine planmäßige Assistentenstelle an die Universitätsfrauenklinik nach Rostock gewechselt. 65 Auf eine Wiederbesetzung der Stelle hatte man angesichts des bevorstehenden Ordinarienwechsels verzichtet. Wimmer stellte bereits im September den Antrag, mit seinen Stipendienmitteln nach Frankfurt a.M. versetzt zu werden.66 Angesichts dieser Situation ließ Dragendorff sich umstimmen und stellte sich dem Institut weiterhin als Abteilungsvorsteher zur Verfügung. Pfuhl brachte von Frankfurt a.M. zunächst seinen Assistenten Ernst-Helmut Kühtz mit, der eigentlich in die Chirurgie wechseln wollte, aber bis Ostern 1939 die Oberassistentenstelle wahrnehmen sollte, damit die Aufrechterhaltung des Lehrbetriebs überhaupt möglich wäre.67 Da auch Kiesselbach im Januar 1939 seine Umhabilitierung nach Frankfurt a.M. beantragte, blieb die Situation angespannt.68 Pfuhl und Hirt hatten allerdings neben dem eigenen Stellentausch auch den ihrer Assistenten verabredet, so dass im April 1939 Pfuhls ehemaliger Frankfurter Assistent, Werner Groth, in die Greifswalder Oberassistentenstelle einrücken konnte und damit Kühtz ablöste, während Kiesselbach auf Groths frei gewordene Stelle nach Frankfurt wechseln konnte.69 Groth hatte seine Laufbahn 1934 unmittelbar nach der Promotion als außerplanmäßiger, ab 1935 als planmäßiger Assistent bei Stieve am AnatomischBiologischen Institut in Berlin begonnen und war 1938 zu Pfuhl nach Frankfurt a.M. gewechselt.70 Die erhoffte rasche Habilitation konnte Groth noch bei Hirt in Frankfurt einreichen, während er die Lehrprobe im Mai 1939 in Greifswald ablegte.71 In Kiesselbachs freiwerdende Greifswalder Stelle rückte gleichzeitig ein anderer Frankfurter Schüler Pfuhls ein – Hermann Ebert.72 Die Stelle des Volontärassisten64 Vgl. Schriftwechsel zwischen Pfuhl und dem Dekanat der Medizinischen Fakultät in Greifswald vom September 1939 in UAG, PA 549 (Pfuhl), Bd. 5, Bl. 5–7. 65 Hirt an Kurator v. 29. Juni 1938, UAG, PA 575 (Sommer), Bl. 33. 66 Antrag Wimmers an das Ministerium vom 5. September 1938 in UAG, PA 2161 (Wimmer), Bl. 41. 67 Ernst-Helmut Kühtz war zu dem Zeitpunkt weder Mitglied der SA noch der NSDAP. Vgl. Antrag Pfuhls vom 14. September 1938, UAG, PA 525 (Kuehtz), Bl. 5. 68 Antrag Kiesselbachs an das Ministerium v. 10. Januar 1939 in UAG, PA 90 (Kiesselbach), Bd. 2, Bl. 67. 69 Die entsprechenden Verabredungen werden in Pfuhls Antrag zur Übertragung der Oberassistentenstelle an Groth v. 5. Dezember 1938 geschildert; vgl. UAG, Anatomisches Institut 33, Bl. 42f. 70 Werner Groth (1908–1943), seit 1937 Anwärter der NSDAP. Über Groths Laufbahn und Motive des Wechsels vgl. den handschriftlichen Lebenslauf und den Antrag Pfuhls v. 18. Januar 1938 sowie Stellungnahme Hirts v. 28. November 1938, in UAG, PA 1125 (Groth), Bd. 1, Bl. 44 und 49. 71 Bericht des Rektors an den Minister v. 26. Mai 1939, in UAG, PA 1125 (Groth), Bd. 2, Bl. 61. 72 Hermann Ebert war 1938 in Köln promoviert worden und seit 1933 Mitglied der SA. Vgl. seinen handschriftlichen Lebenslauf und Personalbogen in UAG, PA 2594 (Ebert), Bl. 1–2.

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ten konnte kurz darauf mit Maximilian Walla besetzt werden.73 Eine nennenswerte Tätigkeit konnten weder Ebert noch Walla in Greifswald entfalten. Ebert wurde im August 1939 zur Wehrmacht eingezogen und Walla im Monat darauf mit einer Praxisvertretung in Hinterpommern beauftragt. Beide sollten, von kurzen Aufenthalten abgesehen, nicht mehr an das Institut zurückkehren. Auch Werner Groth wurde Ende August 1939 eingezogen und erst im Mai 1940 wieder entlassen. Pfuhl bemühte sich, auf Wallas freie Stelle Horst Fleischer zu verpflichten, der von Dezember 1938 bis Mai 1939 bereits als Medizinalpraktikant am Institut beschäftigt war und schon zuvor unter Hirt seine Dissertation über das Ganglion trigemini accessorium begonnen hatte.74 Ab Januar 1940 rückte Fleischer in Wallas Volontärassistentenstelle ein und hatte ab Anfang 1941 auch die Aufgaben des abwesenden planmäßigen Assistenten zu versehen. Doch Mitte April 1941 wurde auch Fleischer zum Heeresdienst eingezogen und anschließend an das Anatomische Institut in Rostock abkommandiert.75 Das Anatomische Institut arbeitete also seit dem Kriegsbeginn 1939 lediglich mit der Hälfte der regulären Besetzung. Ab diesem Zeitpunkt gab es im Grunde nur noch das Bemühen, die Lehre notdürftig zu gewährleisten. Es wurden keine Präparate für die Sammlungen gefertigt und wissenschaftliche Institutsprojekte sind aus dieser Zeit nicht bekannt. Dragendorff konnte aufgrund einer Formalinempfindlichkeit keine Präparationskurse geben, sondern war auf die mikroskopische Anatomie beschränkt. Pfuhl selbst musste aufgrund seines Gesundheitszustandes seit 1940 immer wieder länger beurlaubt werden. Im Grunde war es Werner Groth, der versuchte, die Arbeit am Institut am Laufen zu halten. Ohne die vier Famuli auf dem Präparierboden hätten die Kurse nicht abgehalten werden können.76 Doch im Mai 1942 erkrankte Groth schwer und verstarb im darauffolgenden Februar, ohne seinen Dienst wieder angetreten zu haben. Die Wiederbesetzung der durch Fleischers Einberufung freien Volontärassistentenstelle durch Olga Biermann ab April 1942 konnte den Ver-

73 Maximilian Franz Walla, seit 1934 SA-Mitglied. Vgl. UAG, PA 606 (Walla), Bl. 4. 74 Horst Fleischer, Über ein regelmäßig vorhandenes Ganglion accessorium trigemini und seine Lage im Cavum trigemini, in: Zeitschrift für Anatomie und Entwicklungsgeschichte, 111 (1941), S. 755–766. Die Anregung durch Hirt geht aus der Arbeit selbst und einer Stellungnahme Pfuhls v. 7. April 1943 hervor. UAG, PA 1032 (Fleischer), Bd. 2, Bl. 74. 75 Pfuhl an Dekan der Medizinischen Fakultät vom 20. Juni 1941, UAG, Med. Fak. I-107, Bl. 76. Fleischer hat die Rostocker Assistentenstelle bei Neubert nie angetreten, da er weder entlassen, beurlaubt noch u.k. gestellt wurde. 76 Vgl. Pfuhl an Fleischer v. 27. November 1941, UAG, Anatomisches Institut 32, Bl. 66. Die Famuli waren Strecker, Lewke, Bezold und Urbschat. Vgl. Pfuhl an Kurator v. 17. Januar 1943, 18. Januar 1944 und 18. Januar 1945, UAG, Kurator K 313, Bl. 199–201.

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lust keineswegs ausgleichen.77 Pfuhl versuchte nun, Fleischer vom Heeresdienst zu reklamieren und in die Stelle des Oberassistenten einrücken zu lassen, aber das geschah letztlich nur auf dem Papier, da die UK-Stellung Fleischers bis Kriegsende nicht durchgesetzt werden konnte. Nachdem das Anatomische Institut ab April 1943 demzufolge ganz und gar ohne Assistenten auskommen musste, verschlechterte sich Pfuhls Gesundheitszustand zusehends. Im Juli 1943 schied er krankheitshalber aus und konnte seine Lehrtätigkeit bis zum Wintersemester 1944/45 nicht wieder aufnehmen. Dragendorff, der sich eigentlich schon vor Jahren emeritieren lassen wollte, stand ab dem Wintersemester 1943/44 völlig allein da. Wie auch schon in früheren Semestern sprang der 74-jährige Karl Peter ein, um den Lehrbetrieb überhaupt aufrechterhalten zu können. In dieser Situation erhielt das Institut Unterstützung durch Ernst Rolshoven.78 Rolshoven war 1931 in Köln promoviert worden und hatte anschließend als Assistent bei Stieve in Halle (1932–33), dann unter Becher erst in Gießen (1933–36), wo er seit 1934 Oberassistent war, Marburg (1936–40) und Münster (1941–43) gewirkt. Im November 1943 erhielt er den Vertretungsauftrag für Greifswald.79 Als Pfuhl im April 1944 in sein Amt zurückkehrte, änderte das nichts. Er selbst war nur eingeschränkt arbeitsfähig, Karl Peter zog sich nun endgültig zurück und Dragendorffs Gesundheitsszustand hatte sich verschlechtert. Sämtliche Assistenten waren eingezogen. Pfuhl beantragte daher, Rolshoven zum beamteten außerordentlichen Professor zu ernennen und seine Versetzung nach Greifswald zu erwirken, was zum Wintersemester auch geschah.80 Bei Kriegsende arbeitete das Institut in dieser ungewöhnlichen Konstellation weiter, wobei Rolshoven 1945 vor dem Einmarsch der Roten Armee verschwand. 1948 wurde er der erste Lehrstuhlinhaber der Anatomie an der Universität des Saarlandes. c) Infrastruktur

Das Anatomische Institut war 1853–55 erbaut worden. Hörsaal und Seziersaal wurden 1897– 1899 angebaut.81 Danach waren bis 1917 noch unwesentliche, kleinere 77 Olga Biermann, geb. Dörr, seit Mai 1937 Mitglied der NSDAP, war bis Ende März 1943 in der Anatomie beschäftigt, vgl. UAG, PA 474 (Biermann), Bd. 2, Bl. 18 und Bd. 1, Bl. 3. 78 UAG, Anatomisches Institut 43 und UAG, PA 2711 (Rolshoven). 79 In Münster hatte er zuvor 1941 zwei Trimester vertreten dürfen. Vgl. Lebenslauf v. 7. Juli 1944 in UAG, PA 2711 (Rolshoven), Bd. 1, Bl. 6f. 80 Antrag Pfuhls vom 10. Juli 1944 in UAG, PA 2711 (Rolshoven), Bd. 1, Bl. 3; Ernennungsurkunde Rolshovens v. 10. Oktober 1944, in UAG, Anatomisches Institut 43, Bl. 4. 81 Das Anatomische Institut, in: Michael Lissok, Bernfried Lichtnau (Hg.), Das steinerne Antlitz der Alma Mater. Die Bauten der Universität Greifswald 1456–2006, Berlin 2006, S. 168–170.

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bauliche Veränderungen erfolgt. Hirt verfolgte seit seiner Ankunft in Greifswald mit großer Energie eine Modernisierung der Einrichtungen des Instituts, ja sogar eine Aufstockung des Gebäudes.82 Letzten Endes waren diese Vorstellungen nicht durchsetzbar. Er erreichte aber den Neubau einer Prosektur, der mit einer Erweiterung des Leichenkellers einherging. Der Neubau zog sich von 1937 bis 1939 hin und wurde durch den Kriegsbeginn weiter verzögert. 1939 musste der Leichenkeller geräumt und an anderer Stelle provisorisch eingerichtet werden. Ab Oktober 1939 war er wieder benutzbar.83 Vor dem Umbau hatte der Leichenkeller etwa einhundert Leichen aufnehmen können. Für die Zeit nach der Erweiterung fehlen konkrete Angaben. Die benötigten Leichen für die Präparierübungen gelangten spätestens seit 1918 durch ein System von Leichentransportkästen, die an Orten, von denen öfter Leichen geliefert wurden, stationiert waren, in das Anatomische Institut.84 Allein in der Provinz Pommern waren das 23 Orte und 11 weitere in den angrenzenden östlichen Provinzen.85 Das waren überwiegend Krankenhäuser, Heil- und Pflegeanstalten, Gefängnisse und Ortspolizeibehörden. Dieses Transportkästensystem stellte über lange Zeiträume hinweg die wichtigste Transportinfrastruktur des Anatomischen Instituts für die Belieferung mit Leichen dar. In der Friedenszeit, bis 1939, soll das Institut auf diesem Wege jährlich vierzig bis fünfzig Leichen erhalten haben.86 Nach anderen Angaben sollen es sogar sechzig bis siebzig Leichen jährlich gewesen sein.87 Die Leichen aus entfernteren Orten wurden überwiegend per Bahn als Eilstückgut transportiert. Leichentransporte per Auto aus der näheren Umgebung waren bis Kriegsbeginn durch einen privaten Fuhrunternehmer erfolgt,88 mussten aber ab 1939 eingestellt werden. Das Institut verlegte sich nun 82 Hirt fasst sämtliche Mängel in einer Eingabe an den Kurator vom 11. Dezember 1936 zusammen, UAG, Kurator K 1521, Bl. 222–224. Danach mussten der Sezierraum vollständig erneuert und der Mazerationsraum mit einer Entlüftung versehen werden. Eine entsprechende Baubeschreibung vom 27. Februar 1937, UAG, Kurator K 1521, Bl. 328–235. 83 Staatshochbauamt an Kurator vom 11. Oktober 1939, UAG, Kurator K 1521, Bl. 281. 84 Das Verzeichnis der stationierten Leichentransportkästen findet sich in UAG, Anatomisches Institut 118, Bl. 1. 85 Von West nach Ost: Stralsund, Demmin, Greifswald, Altentreptow, Anklam, Pasewalk, Ueckermünde, Garz/O., Stettin, Pyritz, Stargard, Naugard, Treptow/Rega, Dramburg, Körlin, Belgard, Köslin, Neustettin, Schlawe, Stolp, Lauenburg. Außerhalb Pommerns: Prenzlau, Schneidemühl, Fordon, Nakel, Bromberg, Hohensalza, Rawitsch, Crone, Bojanowo, Gnesen, Argenau, Pakosch, Mogilno, Landsberg a.d. Warthe. 86 Kurator an Oberbürgermeister in Greifswald v. 30. Mai 1940, UAG, Kurator K 307, Bl. 257. 87 Pfuhl an Kurator v. 28. September 1940, UAG, Kurator K 308, Bl. 38. 88 Kurator an Oberbürgermeister von Greifswald v. 30. Mai 1940, UAG, Kurator K 307, Bl. 257. Nach diesen Angaben wurden jährlich 20–30 Leichen durch einen Fuhrunternehmer im Anhänger seines Fahrzeuges transportiert.

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vollkommen auf die Transporte per Bahn.89 Ab 1941 traten dabei allerdings kriegsbedingte Verzögerungen auf, so dass Transporte aus Stettin, Schneidemühl oder Stolp mitunter bis zu zehn Tage in Anspruch nahmen und die Körper aufgrund der fortgeschrittenen Verwesung für die Zwecke der Anatomie nicht mehr verwendbar waren.90 Diese Umstände grenzten das Einzugsgebiet des Anatomischen Institutes nach 1941 dramatisch ein. Aus entfernteren Orten konnten überhaupt keine Leichen mehr herangeführt werden, aus den Kreisen des ehemaligen Regierungsbezirkes Stralsund nur noch in den Wintermonaten.91 Die Verteilung der Leichentransportkisten 1944 auf nur noch 13 von ehemals 34 Orten darf als Ergebnis dieser Entwicklung angesehen werden.92 Fast alle hinterpommerschen Standorte waren fortgefallen, die außerhalb der Provinz gelegenen erst recht. Unter den Standorten der Transportkästen wurden nun ausdrücklich auch Sitze von Militärgerichten und Gestapodienststellen aufgeführt.93 Es ist anzunehmen, dass die eingeschränkten Möglichkeiten, regelmäßig eine ausreichende Anzahl von Leichen für die Präparierübungen zu erhalten, die wichtigsten Gründe für die Erweiterung des Leichenkellers und die Erhöhung des Leichenvorrats des Instituts darstellten. Die Durchführung der Kriegstrimester, die einerseits von einem höheren jährlichen Durchlauf von Studenten in den vorklinischen Semestern, andererseits von Abbildung 2: Präpariersaal des Anatomischen Instituts einer Erhöhung der Studierendender Universität Greifswald zahlen insgesamt begleitet wurde, verschärfte das Problem noch. Konkrete Zahlen der Anatomie zum statistisch festgestellten „Medizinerboom“ dieser Jahre94 vermögen eine klare Vorstellung zu liefern. 89 Pfuhl an Kurator vom 27. Mai 1940, UAG, Kurator K 307, Bl. 256. 90 Pfuhl an Kurator vom 11. Juni 1941 und Kurator an Reichserziehungsministerium vom 5. August 1941, UAG, Kurator K 308, Bl. 46 und 21v. 91 Dragendorff an Kurator vom 22. März 1944 und an das Oberpräsidium der Provinz Pommern v. 22. März 1944, UAG, Kurator K 308, Bl. 69 und 72. 92 Von West nach Ost: Stralsund, Demmin, Greifswald, Bergen, Altentreptow, Anklam, Pasewalk, Ueckermünde, Swinemünde, Stettin, Gollnow, Pyritz, Stargard. 93 Pfuhl an Kurator vom 27. November 1944, UAG, Kurator K 308, Bl. 76. 94 Vgl. den Beitrag von Stephanie-Thalia Dietrich in diesem Band.

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Im zweiten Trimester 1940 nahmen 92 Studenten an den Präparierübungen teil.95 Im Sommersemester 1941 wurden 493 Medizinstudenten eingeschrieben, davon waren 270 Vorkliniker, für die Präparierübungen abzuhalten waren.96 Diese Verdreifachung der Teilnehmerzahlen stieß nicht nur an personelle Belastungsgrenzen bei den Lehrenden (wie oben gezeigt), sondern auch auf praktische Hindernisse. Die Institutsgehilfen mussten seit 1939 auf dem Präparierboden täglich bis zu 25 Leichen auflegen und wieder abräumen.97 Entsprechend hoch war der Verbrauch für die Übungen, der allein im ersten Trimester 1940 bei 41 Leichen lag.98 Doch die Besorgung des Leichenmaterials war nicht das einzige Problem des Instituts. Die Überreste der Anatomieleichen wurden auf dem Greifswalder städtischen Friedhof beigesetzt. Seit 1940 forderte das Friedhofsamt, dass für die Anatomieleichen vollständige Personalangaben zu machen seien, die auch Angaben über die Todesursache enthalten mussten.99 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Anatomische Institut häufig nur den Namen und den Sterbeort angegeben und wünschte auch strikt bei dieser Praxis zu bleiben. Pfuhl forderte vom Kurator, notfalls eine Entscheidung des Ministeriums herbeizuführen: „Sie wissen, wie heikel und schwierig die Beschaffung von Anatomieleichen ist. Wir erhalten sie zwar ausschließlich von Behörden, welche über die Leichen verfügen dürfen (Polizeibehörden und Anstaltsleitungen), doch wird bei der Ablieferung der Leichen meist mit einer gewissen Heimlichkeit verfahren, damit das Gerede von Leuten, die kein Verständnis für die Notwendigkeit des Anatomieunterrichts haben, vermieden wird. Einen Totenschein erhalten wir nur sehr selten, die Personalangaben sind fast stets unvollständig. Es besteht die Meinung, dass die Leiche praktisch begraben ist, sobald die Anatomie sie übernommen hat. Diese Ansicht ist vielfach die Voraussetzung für die Überlassung der Leichen an die Anatomie. Wir müssen befürchten, dass die Behörden, die über die Ablieferung der Leichen zu entscheiden haben, eine Beerdigung am Sterbeort vorziehen, wenn ihnen von uns Scherereien gemacht werden.“100 Die Auseinandersetzung wurde nicht bis zum Ende ausgetragen. Man einigte sich auf einen Kompromiss und ließ die Beschwerden im Sande verlaufen. Diesem Kompromiss verdanken wir die einzige heute für die Forschung noch verfügbare Quelle zur Ermittlung der Identität und Anzahl der während der Jahre 1935 bis 1945 in das Greifswalder Anatomische Institut gelieferten Leichen. 95 Pfuhl an Kurator vom 31. Mai 1940, UAG, Kurator K 307, Bl. 251. 96 Über die Hälfte davon (170) waren abkommandierte Wehrmachtsangehörige. Vgl. Kurator an Reichserziehungsministerium v. 30. Juni 1941, UAG, Med. Fak. I-107, Bl. 78. 97 Pfuhl an Kurator v. 23. März 1939, UAG, Kurator K 307, Bl. 211. 98 Pfuhl an Kurator v. 3. Juli 1940, UAG, Kurator K 307, Bl. 258. 99 Friedhofsamt an Anatomisches Institut vom 12. Juli 1940, UAG, Kurator K 308, Bl. 24. 100 Pfuhl an Kurator vom 28. September 1940, UAG, Kurator K 308, Bl. 38.

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3. Statistische Annäherungen a) Bestand und Verbrauch

Fasst man alle Einzelbeobachtungen und gelegentlichen Zahlenangaben über Anatomieleichen zusammen, die sich verstreut in den Verwaltungsakten der Universität finden, dann kann man bei vorsichtiger Schätzung davon ausgehen, dass der Verbrauch des Anatomischen Instituts für Präparierübungen bei etwa fünfzig Leichnamen pro Jahr lag. Damit dürfen wir für den Zeitraum 1933 bis 1945 mit etwa sechshundert Leichen rechnen, die in der Anatomie für Präparierkurse verwendet wurden. Gemessen an der Anzahl und Qualität der ursprünglich vorhandenen Unterlagen, die eine Verifizierung dieser Schätzung ermöglicht hätten, ist die heutige Quellenlage entmutigend. Daran konnten auch umfangreiche Recherchen in deutschen und russischen Archiven nichts ändern. Das Leichenjournal des Instituts, welches vom K5 beschlagnahmt und später der SMA übergeben wurde, gilt als verschollen. Auch die Kartothek, mit deren Hilfe die sowjetischen Gerichtsmediziner 1947 noch einige Leichen identifizieren konnten, ist unauffindbar. Die Leichenakten des Anatomischen Instituts101 sowie mehrere Akten und ein Einäscherungsbuch des städtischen Friedhofs102 wurden Ende 1947 von einer Untersuchungskommission der Roten Armee beschlagnahmt und sind seither nicht wieder aufgetaucht. Alle diese Unterlagen stehen der Forschung nicht zur Verfügung.103 Die einzigen Quellen, die diesen Verlust wenigstens teilweise ausgleichen können und systematische Erhebungen gestatten, sind die Bestattungsbücher des Greifswalder Friedhofs.104 In ihnen sind auch die Erdbestattungen von Anatomieleichen ab 101 Der Fakt wird so in einem Schreiben des Anatomischen Instituts an die Hauptabteilung Gesundheitswesen bei der Landesregierung v. 23. Januar 1948 angegeben, vgl. UAG, Anatomisches Institut 119, Bl. 234. 102 Am 20. November 1947 wurden zwei Akten, die das KZ Ravensbrück (wohl Außenlager Karlshagen), eine das Stalag II-C betrafen sowie zwei Einäscherungsregister und eine Feuerbestattungsakte von einer sowjetischen Kommission beschlagnahmt. Vgl. Aktenvermerk der Friedhofsverwaltung v. 20. November 1947, StAGw, Acc. 14/01, Nr. 32. 103 Es existieren allerdings spätere Listen, die z.T. auf Grundlage der verlorenen Originalverzeichnisse angefertigt sein könnten, so bspw. eine Liste der eingeäscherten sowjetischen Kriegsgefangenen aus Karlshagen in: BArch, DP 3/1983. 104 Es konnten nur Erdbestattungen von Anatomieleichen festgestellt werden. Die Einäscherungsregister des Friedhofs wurden 1947, ebenso wie das Leichenjournal, beschlagnahmt. Es handelt sich um das chronologisch geführte Register mit der Bezeichnung „Allgemeines Register U8, U15, Abt. 29 alt, Reihenstellen Abt. 30, 31, 32“ und das zeitgleich geführte alphabetische Register unter dem Titel „Allgemeines Register 1940–1954“. Beide Bücher befinden sich noch heute

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1938 akribisch vermerkt worden. Insgesamt weisen die Friedhofsregister 396 Anatomieleichen105 aus, die zwischen 1938 und 1947 bestattet wurden und deren Sterbedaten zwischen 1935 und 1944 liegen.106 Für die folgende Auswertung kommen noch sechs Leichname hinzu, deren Einlieferung in die Anatomie aus anderen Quellen erschlossen wurde und die nicht in den Friedhofsregistern auftauchen. Von ihnen sind lediglich die Sterbedaten bekannt. Aus dem Bericht des gerichtsmedizinischen Laboratoriums Nr. 63107 und dem Bestattungsbuch des Bezirksfriedhofs Nr. 3 der Roten Armee108 konnten Angaben über weitere neun Personen entnommen werden. Dazu kommen die Leichen von 19 unbekannten Polen und einem Tschechen, zu denen weder Personalien noch Sterbedaten bekannt sind. Insgesamt lassen sich auf diese Art zwischen 1935 und 1944 432 Leichenlieferungen an die Anatomie erschließen. Der detaillierten Auswertung dieses Befundes stehen vielfältige Schwierigkeiten entgegen, die sich aus der Unvollständigkeit und teilweisen Widersprüchlichkeit der Daten ergeben.109 Unter diesem Vorbehalt ist aber zumindest eine begründete statistische Annäherung möglich. Anhand des im Friedhofsregisters regelmäßig angegebenen Beisetzungsdatums lässt sich eine Aussage über den jährlichen Leichenverbrauch des Anatomischen Instituts treffen, während der Zeitpunkt der Einlieferung der Leiche, der sich aus den überlieferten Sterbedaten grob erschließen lässt, quantifizierende Angaben über die Versorgung des Instituts mit „Leichenmaterial“ gestattet. In der zeitlichen Verteilung für die Jahre 1935 bis 1947 ergibt sich dabei folgendes Bild:

105

106

107 108

109

in der Greifswalder Friedhofsverwaltung. Für die Möglichkeit der wiederholten Einsichtnahme in die Register und zahlreiche Hinweise danke ich der Leiterin Ruth Buchheim. Zehn Leichname stammen aus der Chirurgischen Klinik. Es handelt sich aber mit hoher Wahrscheinlichkeit um Leichen aus der Anatomie, die für Operationskurse zur Verfügung gestellt wurden. Die Namen von sechs Personen sind dabei doppelt aufgeführt. Die Anatomie hatte ganz offensichtlich Schwierigkeiten, die bestatteten Körperteile der abpräparierten Leichen einzelnen Personen zuzuordnen. Jedenfalls unterliefen dabei Fehler. Vgl. die Edition von Holtz in diesem Band. Das Register befindet sich Friedhofsamt Greifswald unter dem Titel „Russischer Bezirksfriedhof Greifswald“. Die Eintragungen zu den „Anatomieleichen“ finden sich dort zweisprachig unter Reihe 9. Die Sterbedaten für Anatomieleichen sind im Friedhofsregister erst ab 1940 regelmäßig angegeben. Für die Jahre davor musste für die Auswertung in vielen Fällen eine Schätzung auf der Grundlage der durchschnittlichen Liegezeit der Leichen auf der Anatomie (18–24 Monate zwischen Einlieferung und Beisetzung) vorgenommen werden. Für insgesamt 21 Personen war das nicht möglich. Darüber hinaus konnte für 15 Personen keine Beisetzung nachgewiesen werden.

1935 1936 27 Tabelle

Einlieferungen Beisetzungen

332

1937 29 27

70

63

58

60

45

50 30

1939 24 29

1940 31 63

1941 67 40

1942 46 46

Dirk Alvermann

80

40

1938 58 45

29 27

27

67 59 40

24

29

46 46

44

31

31

26

22

20 10

19

26

0

0 1935

1936

1937

1938

1939

1940

1941

1942

Einlieferungen

1943

1944

1945

1946

1947

Beisetzungen

Grafik 1: eingelieferte und bestattete Leichen 1935 bis 1947

Es zeigt sich, dass die Versorgungslage des Anatomischen Instituts – anders als die ständigen Klagen der Institutsleitung vermuten lassen – ausreichend war. Bis 1939 überstieg die Zahl der Einlieferungen immer den Verbrauch. Bei Kriegsbeginn verfügte das Anatomische Institut über einen Vorrat von 99 Leichen. Es kam 1939/40 sogar zu einer Überversorgung, da die Zulieferung von Leichen seitens des Instituts nicht ohne weiteres reguliert werden konnte.110 Selbst der außerordentlich hohe Verbrauch von Leichen während der Kriegstrimester 1940 wurde durch eine Verdoppelung der Zulieferungen im Folgejahr kompensiert. Das Institut konnte 1941 sogar die Anfrage, ob es nicht bei dem „großen Anfall von Leichen in der Strafanstalt in Posen […] größere Mengen als bisher“ abnehmen könnte, verneinen. Im August des Jahres hatte man bereits einen ausreichend großen Leichenvorrat für zwei Semester allein aus den Eingängen der näheren Umgebung aufgebaut.111 c) Herkunft der Leichen

Das Anatomische Institut erhielt zwischen 1935 und 1944 Leichen aus über siebzig verschiedenen Orten, fast ausschließlich aus der Provinz Pommern. Besondere Schwerpunkte bildeten dabei die Landesheil- und Pflegeanstalten, allen voran Ueckermünde mit 122 Einlieferungen, aber auch Lauenburg und Treptow an der Rega. Neben den Heil- und Pflegeanstalten belieferten aber auch Zuchthäuser und andere Strafanstalten, allein aus dem Zuchthaus Gollnow kamen fünfzig Leichen, das Insti110 Pfuhl an Kurator vom 10. Januar 1940, UAG, Kurator K 307, Bl. 242. „Ich habe zwar die Anstalten, die uns regelmäßig mit Leichen belieferten, gebeten, vorläufig von der Zusendung abzusehen. Wir können aber nicht verhindern, daß irgendwelche Magistrate oder Polizeibehörden, ohne vorher anzufragen [!], uns Leichen zusenden.“ 111 Reichsminister für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung an Kurator v. 19. Juli 1941 und Anatomisches Institut an Kurator v. 2. August 1941, UAG, Kurator K 308, Bl. 20 und 21.

1943 22 31

NS-Opfer in der Greifwalder Anatomie

333

tut. Örtliche Schwerpunkte lassen sich in den nahegelegenen größeren Städten ausmachen, so etwa Stettin mit den Krankenhäusern in Kolbitzow und Frauendorf, mit zusammen 44 Einlieferungen, aber auch Demmin (13) und Stralsund (16). Dabei handelte es sich nicht nur um die örtlichen Magistrate, sondern – insbesondere nach 1940 – auch um Gestapo-Dienststellen. Auch Wehrmachtsbehörden und Standorte der Militärgerichtsbarkeit wie das Stalag II-C in Greifswald, das Wehrmachtsgefängnis Anklam oder die Marinegerichte in Stralsund und Swinemünde belieferten das Anatomische Institut. Nicht alle Leichen lassen sich bestimmten Herkunftsgruppen zuordnen. In einigen Fällen geben die Friedhofsregister neben dem Ort auch die einliefernde Behörde, beispielsweise „Zuchthaus“, „Militärgefängnis“, „Heil- und Pflegeanstalt“, „Stalag II-C“ oder „Krankenhaus“, an. In anderen Fällen werden die Personen, als „Ostarbeiter“, „Kriegsgefangener“, „polnischer Zivilarbeiter“, „Strafanstaltinsasse“ u.Ä. bezeichnet. Aufgrund solcher Indizien erfolgte die Zuordnung. In wenigen Fällen kann sie durch die Beiziehung weiterer Quellenüberlieferung verifiziert und ergänzt werden. In der folgenden Übersicht sind die auf solche Art bestimmbaren Gruppen – PatiAndere enten aus Heil- und Pflegeanstalten, Zuchthausgefangene, Kriegsgefangene, ZwangsLandes‐, Heil‐  Gefangene arbeiter, Kriegsgefangene Wehrmachtssoldaten – von einer Gruppe „Andere“ – das sind vor allem LeiZwangsarbeiter chen aus Krankenhäusern – abgesetzt. Wehrmacht 1935

1936

1937

1938

1942

1943

14

27

17

32

7

16

4

7

5

10

18

12

22

1939 15

1940 10

1941 14

17

3

1944 8

3

2

4

2

4

10

5

6

24

7

16

1

22

6

4

3

2

16

Grafik 2: Herkunft der Leichen 1935 bis 1944

70

60 4

22 16

50 2 3

22

4

40 18

16

30

4 2

12 10 32 27

13

24

5

3 20

13

10

10

2 6

17

15

6

14

10

17

14

16 7

4

0 1935

1936

1937

1938

1939

1940

1941

Wehrmacht

Zwangsarbeiter

Kriegsgefangene

Gefangene

Landes‐, Heil‐ und Pflegeanstalten

Andere

7

5

1942

1943

70

60 4

22 16

50 2 22

8

3

3

7 1944

334

Dirk Alvermann

Bis 1940 erhielt das Anatomische Institut Leichen fast ausschließlich von örtlichen Magistraten und Krankenhäusern bzw. von den Landesheil- und Pflegeanstalten. Ab 1940 änderten sich die Bezugsquellen des Instituts grundlegend. Schon 1941 machten die Leichen aus Krankenhäusern und Heil- und Pflegeanstalten nicht einmal mehr ein Drittel der Einlieferungen aus. Ihr Anteil sank bis zum Kriegsende auf ein Viertel. Über die Hälfte der eingelieferten Leichen stammten schon 1941 von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Der Anteil der Strafgefangenen stieg stark an und erreichte, ebenso wie der der Wehrmachtsangehörigen, seinen Höhepunkt 1944. Für diesen grundlegenden Wandel lassen sich vielfältige Ursachen und Motive anführen, wie sie teilweise schon bei der Diskussion der rechtlichen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen diskutiert wurden. Im Folgenden sollen diese Überlegungen für die einzelnen Opfergruppen erneut aufgegriffen und auch mit Hilfe konkreter Beispiele und Einzelschicksale kontextualisiert werden. Leichname aus Heil- und Pflegeanstalten/Euthanasieopfer Heil- und Pflegeanstalten hatten, seit sie bestanden, einen außerordentlich hohen Anteil an den Leichenlieferungen an die deutschen Anatomischen Institute. Für Greifswald kamen die Anstalten Stralsund, Lauenburg, Treptow a.d. Rega und Ueckermünde, in gewissem Sinne auch Kückenmühle bei Stettin und die Pflegeabteilung des Krankenhauses in Stettin-Kolbitzow potentiell in Frage. Alle diese Anstalten, mit Ausnahme von Kückenmühle, haben die Greifswalder Anatomie mit Leichen beliefert. Sie stellten gewissermaßen den Sockel der Leichenversorgung dar. Gesichert wurde diese Rolle bereits durch einen Runderlass vom Jahre 1926, in dem die Oberpräsidenten aufgefordert wurden, auf die Vorstände der Landesheil- und Pflegeanstalten in Preußen einzuwirken, dass alle in Frage kommenden Leichen den Anatomien überlassen würden.112 Die Räumung der Anstalten Stralsund, Treptow und Lauenburg im Rahmen der Patientenmordaktionen in Pommern ab 1939 ließen die Belieferung der Anatomie aus diesen Einrichtungen enden. Aber sie hatten auch zuvor nur eine geringe Rolle gespielt. Aus der Landesheil- und Pflegeanstalt Ueckermünde gelangten zwischen 1935 und 1944 122 Leichen in das Anatomische Institut, also über ein Viertel aller festgestellten Eingänge überhaupt.113 Ein merklicher Anstieg in den Zahlen ist 112 Runderlass des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung v. 27. Mai 1936, UAG, Kurator K 300, Bl. 5. Ebenso ein Runderlass des Ministers des Innern v. 4. Mai 1927, ebd., Bl. 6. 113 Die Landesheil- und Pflegeanstalt Ueckermünde nahm auch Gefangene aus den Gerichtsgefängnissen Greifswald, Stettin, Stargard, Köslin und Stolp als Arbeitshausverwahrte auf, die die 2.000 Morgen große Landwirtschaft der Anstalt zu versorgen hatten. Vgl. Landesarchiv Greifswald (künftig: LAGw), Rep. 75, Nr. 160, Bl. 129v–130v und Bl. 185. Es ist möglich, dass sich

NS-Opfer in der Greifwalder Anatomie

335

von 1938 bis 1942 zu verzeichnen.114 Bei der Interpretation dieses Ergebnisses sind auch die Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, die durch die verschiedenen Facetten der NS-Euthanasiepolitik geschaffen wurden. Heike Bernhardt hat in ihrer Studie zur Euthanasie in Pommern einen merklichen Anstieg der Sterblichkeitsrate in Ueckermünde nach 1940 konstatiert.115 Ab 1941 starben in der Anstalt mehr Menschen als in der gesamten Stadt. Die Untersuchungen von Bernhardt deuten darauf hin, dass dieser Anstieg auf die Beteiligung der Anstalt an der Durchführung der dezentralen „Euthanasie“ zurückgeführt werden muß und dass „in der Ueckermünder Anstalt die Patienten vor allem an Hunger, der gezielt zum Töten eingesetzt wurde, starben“.116 Ab 1943 gingen die Lieferungen aus Ueckermünde stark zurück. Das mag auch darauf zurückzuführen sein, dass die verstorbenen Patienten in Ueckermünde schon seit 1940 auf dem anstaltseigenen Friedhof beigesetzt wurden, nachdem sie zuvor im eigens errichteten Krematorium eingeäschert wurden.117 Insgesamt besteht der dringende Verdacht, dass die Greifswalder Anatomie Leichen von Patienten aus Ueckermünde erhalten hat, die im Rahmen der sogenannten dezentralen „Euthanasie“ getötet worden sind. Leichname von Hingerichteten/Opfer der NS-Strafjustiz Im Oktober 1933 legte ein preußischer Ministerialerlass fest, dass die Leichen Hingerichteter – sofern sie nicht von den Angehörigen beansprucht wurden – den Anatomischen Instituten der jeweils nächstgelegenen Universität zum Zweck der wissenschaftlichen Forschung und des Unterrichts zu überlassen wären.118 Dem Greifswalder Institut wurden durch diesen Runderlass die Leichen Hingerichteter aus dem Oberlandesgerichtsbezirk Stettin mit den Landgerichtsbezirken Greifswald, Köslin, Stargard, Stettin und Stolp zugewiesen. Von dieser Möglichkeit hat das Instiunter der Gesamtzahl der aus Ueckermünde eingelieferten Leichen auch die von Gefangenen befanden. 114 1935: 6, 1936: 13, 1937: 8, 1938: 25, 1939: 14, 1940: 10, 1941: 13, 1942: 17, 1943: 3, 1944: 8. Leider ist gerade die Zuordnung zahlreicher Personenangaben auf die Jahre 1936–39 unsicher, da das Friedhofsregister hier keine Sterbedaten angibt. Eine Einzelfallüberprüfung anhand der Totenbücher und Krankenblätter in Ueckermünde war nicht systematisch möglich. Die mutmaßlichen Sterbedaten mussten unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Liegezeit der Leichen auf der Anatomie (18–24 Monate) im Einzelfall errechnet werden. Auf mögliche statistische Unschärfen, die sich daraus ergeben können, sei ausdrücklich hingewiesen. 115 Heike Bernhardt, Anstaltspsychiatrie und „Euthanasie“ in Pommern 1933 bis 1945. Die Krankenmorde an Kindern und Erwachsenen am Beispiel der Landesheilanstalt Ueckermünde, Frankfurt/M. 22010, S. 77–80. 116 Bernhardt, Anstaltspsychiatrie (wie Anm. 115), S. 80. 117 Bernhardt, Anstaltspsychiatrie (wie Anm. 115), S. 85f. 118 Runderlass des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung v. 6. Oktober 1933, UAG, Kurator K 308, Bl. 8.

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tut in einigen Fällen Gebrauch gemacht. 1933 erhielt die Anatomie eine Leiche aus Stargard, 1936 zwei Leichen aus Stettin und Köslin.119 Diese Situation änderte sich grundlegend, als Ende 1936 elf zentrale Hinrichtungsstätten eingerichtet wurden120 und die bis dahin übliche Hinrichtung im zuständigen Gerichtsbezirk121 endete. Keine dieser zentralen Hinrichtungsstätten lag in Pommern oder im Einzugsgebiet des Instituts. Alle im OLG-Bezirk Stettin verhängten Todesurteile wurden ab Anfang 1937 in Plötzensee vollsteckt, ab Mitte 1940 dann in Brandenburg/Görden und ab Januar 1945 in Bützow-Dreibergen bzw. in Danzig und Posen.122 Vielleicht erklärt dieser Umstand, warum sich für die Greifswalder Anatomie 1937 und 1938 keine Leichen von Hingerichteten aus dem NSStrafvollzug nachweisen lassen. Erst Anfang 1939 wurde die Verteilung der Leichen auf die Anatomischen Institute im Reich neu geregelt.123 Die Greifswalder Anatomie sollte künftig, gemeinsam mit dem Anatomisch-Biologischen Institut der Universität Berlin, die Leichen der in Plötzensee hingerichteten Personen erhalten. Das Institut hat davon nachweislich dreimal Gebrauch gemacht und in den Jahren 1939 bis 1941 vier Leichen aus Plötzensee übernommen.124 119 Vgl. Peters an Kurator vom 14. September 1933, UAG, Kurator K 307, Bl. 72 – Abholung durch den Sektionsgehilfen; Hirt an Kurator vom 22. April 1936, ebd., Bl. 127 – Abholung durch Hirt, Dragendorff, Popp und den Sektionsgehilfen; Hirt an Kurator vom 14. Dezember 1936, ebd., Bl. 134 – Abholung durch Dragendorff, Sommer und den Sektionsgehilfen. 120 Rundverfügung des Reichsministers der Justiz vom 28. Dezember 1936, BArch, R 3001/21314, Bl. 194–196. 121 Rundverfügung des Reichsministers der Justiz vom 22. Oktober 1935, Faksimiledruck in Justiz und Todesstrafe (wie Anm. 33), S. 7–14. 122 Schon im August 1938 gab es erste Überlegungen, Plötzensee zu entlasten, indem man die Hinrichtungen aus Pommern, Mecklenburg und der Grenzmark auf eine andere Richtstätte zuwies. Doch noch fielen die Hinrichtungen aus diesen Gebieten kaum ins Gewicht, so dass keine nennenswerte Entlastung dadurch entstünde (BArch, R 3001/ 21315, Bl. 83). Im Runderlass des Reichsministers der Justiz vom 12. Juni 1940 wurde schließlich Brandenburg-Görden als Vollstreckungsort für den OLG-Bezirk Stettin festgesetzt. Am 12. August 1940 teilte der Generalstaatsanwalt eine Ausnahmeregelung für verurteilte Frauen mit, die weiterhin in Plötzensee hingerichtet werden sollten. Vgl. LAGw, Rep. 75, Nr. 160, Bl. 43–44 und Bl. 53. Diese Regelung wurde am 2. November 1942 erneut bestätigt; vgl. ebd., Bl. 214. Mit einer Rundverfügung des Ministers der Justiz vom 17. Januar 1945 wurden als Hinrichtungsstätten für Verurteilte aus dem OLG-Bezirk Stettin Bützow-Dreibergen (für Todesurteile aus den Landgerichten Greifswald, Stargard und Stettin), Danzig (für Todesurteile aus den Landgerichten Köslin und Stolp) und Posen (für Todesurteile aus dem Landgericht Schneidemühl) festgesetzt – vgl. BArch, R 3001/21319, Bl. 8v, 74v. 123 Vertrauliches Rundschreiben des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 18. Februar 1939, BArch, R 3001/21478, Bl. 32. 124 Die erste stammt aus einer Hinrichtung vom 14. März 1939, 6.00 Uhr (Dragendorff an Kurator

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Die Leichname Hingerichteter waren für die anatomische Forschung nicht nur schwer zu erhalten, sondern auch von besonderem Wert. Er bestand in der Möglichkeit, unmittelbar nach der Hinrichtung „lebenswarmes Material“ wissenschaftlich zu untersuchen oder doch so zu behandeln, dass hochwertige wissenschaftliche Ergebnisse ermöglicht würden.125 Wilhelm Pfuhl, der spätere Direktor der Greifswalder Anatomie hat diesen Umstand schon 1927 hervorgehoben.126 Die wissenschaftliche Verwertung von Leichen Hingerichteter ist also durchaus kein Phänomen, das auf die NS-Zeit beschränkt wäre. Aber der Nationalsozialismus hat den Anatomen auf diesem Gebiet Möglichkeiten eröffnet, die im Hinblick auf den Umfang und die Art der Auswertung beispiellos sind. In den letzten Jahren der Weimarer Republik waren Hinrichtungen selten geworden. Die gerichtliche Verfolgung von Kapitalverbrechen hatte während der gesamten Weimarer Zeit zu insgesamt 941 Todesurteilen geführt. Nur etwa 14 Prozent davon (184) wurden tatsächlich vollstreckt.127 1929 wurde aufgrund einer breitgeführten öffentlichen Debatte über ihre Abschaffung die Vollstreckung von Todesstrafen sogar ganz ausgesetzt. Die empfundene Mangelsituation sollte sich nach 1933 grundlegend ändern. Im „Dritten Reich“ wurde die Todesstrafe in 16.800 Verfahren durch ordentliche Gerichte verhängt.128 Das verhundertfachte Töten ist auf die Verschärfung des vom 14. März 1939, UAG, Kurator K 307, Bl. 210 – Abholung durch Groth und Kühtz), die zweite aus einer Hinrichtung am 30. Mai 1940, 6.00 Uhr (Pfuhl an Kurator vom 3. Juli 1940, UAG, Kurator K 307, Bl. 258 – Abholung durch Groth und Fleischer). Zwei weitere Leichen stammen von einer Hinrichtung am 14. Januar 1941 (Pfuhl an Kurator vom 17. Januar 1941, UAG, Kurator K 308, Bl. 2 – Abholung durch Groth). Eine genaue Identifikation der Opfer ist nicht möglich, da zu den angegebenen Zeiten jeweils mehrere Hinrichtungen stattfanden – für die Überprüfung und Mitteilung danke ich Prof. Dr. Johannes Tuchel, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin-Tiergarten. 125 Vgl. Sabine Hildebrandt, Research on Bodies of the Executed in German Anatomy: An Accepted Method That Changed During the Third Reich. Study of Anatomical Journals from 1924 to 1951, in: Clinical Anatomy, 26 (2013), S. 304–326, hier S. 308ff. 126 „Die Beschaffung von richtig vorbereitetem menschlichen Material hat große Schwierigkeiten. Lebenswarme Organe sind nur vom Hingerichteten zu erhalten.“ Wilhelm Pfuhl, Form und Lage der Sternzellen in der Leber eines 22jähren gesunden Mannes, in: Zeitschrift für Mikroskopisch-Anatomische Forschung, 10 (1921), S. 207–224, hier S. 209, nachgewiesen bei Hildebrandt, Research (wie Anm. 125), S. 308f. 127 Zu den Zahlen vgl. Alexander Elster, Heinrich Lingemann (Hg.), Handwörterbuch der Kriminologie und der anderen strafrechtlichen Hilfswissenschaften, Bd. 2, Berlin und Leipzig 1936, S. 811. 128 Vgl. Viebig, Transfer of Cadavers (wie Anm. 33), S. 269. Häufiger wird die geringere Zahl von 16.000 angegeben, vgl. Rainer Möhler, Strafvollzug im „Dritten Reich“: Nationale Politik und regionale Ausprägung am Beispiel des Saarlandes, in: Heike Jung, Heinz Müller-Dietz (Hg.), Strafvollzug im „Dritten Reich“, Baden-Baden 1996, S. 9–256, hier S. 59. Die seit Februar 1945 vermehrt verhängten standgerichtlichen Urteile sind hier nicht mit einbezogen.

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Strafrechts zurückzuführen. Die Zahl der todwürdigen Straftatbestände stieg von 3 im Jahre 1933 auf 46 im Jahr 1945.129 Die Verurteilten waren selten Kapitalverbrecher, vielmehr Opfer eines gnadenlosen Strafsystems. Die deutschen Anatomischen Institute im „Dritten Reich“ haben die Möglichkeiten, die die Verschärfung des Strafrechts und des Strafvollzugs ihnen eröffneten, in vielen Fällen aktiv mitgestaltet und genutzt.130 Auch das Greifswalder Institut hat sich aktiv um die Leichen Hingerichteter zu Forschungszwecken bemüht. Als der Direktor des Greifswalder Instituts 1939 beim Justizministerium gegen die bevorzugte Berücksichtigung Berlins bei den Zuweisungen von Leichen aus Plötzensee protestierte und eine angemessenere Beteiligung forderte, unterstrich er den Bedarf für Forschungszwecke.131 Als eigenen Bevollmächtigten für die „wissenschaftliche Ausnutzung von Hinrichtungen“ setzte Pfuhl seinen Oberassistenten Groth ein, der „durch seine frühere Assistententätigkeit in Berlin […] mit den Verhältnissen sehr gut vertraut“ sei.132 Der Leichenvorrat des Instituts belief sich damals auf 99 Leichen.133 Für die Präparierübungen der Studenten benötigte man etwa 50 Leichen pro Jahr. Den Bedarf für reine Lehrzwecke konnte das Institut hier also nicht im Blick haben – der war mehr als gesichert. Das Interesse an den Leichen aus Plötzensee war wissenschaftlicher Natur. Das anfänglich große Interesse des Anatomischen Instituts erlahmte jedoch schnell. Siebenmal schlug die Greifswalder Anatomie in den folgenden Monaten Angebote aus, Leichen von Hingerichteten aus Plötzensee zu übernehmen.134 1941 129 Möhler, Strafvollzug (wie Anm. 128), S. 60. 130 Hier sei nur stellvertretend auf die Ergebnisse des von der Anatomischen Gesellschaft 2010 durchgeführten Symposiums zur Geschichte der Anatomie im „Dritten Reich“ hingewiesen, die 2012 publiziert wurden und den jüngeren Forschungsstand vorstellen. Vgl. Annals of Anatomy 194 (2012), S. 225–313. 131 Pfuhl an Kurator vom 22. Juli 1939, UAG, Kurator K 307, Bl. 227. Pfuhl bat um die Überweisung weiterer Leichen, „da wir, sowohl für den Unterricht als auch für wissenschaftliche Zwecke, das unmittelbar nach dem Tode konservierte menschliche Material dringend benötigen“. 132 Pfuhl an Kurator vom 22. Juli 1939, UAG, Kurator K 307, Bl. 229. Groth hatte bei Stieve, dessen skrupellose Ausbeutung der Hinrichtungen bekannt ist, entsprechende Erfahrungen sammeln können. Vgl. Udo Schagen, Die Forschung an menschlichen Organen nach „plötzlichem Tod“ und der Anatom Hermann Stieve (1886–1952), in: Rüdiger vom Bruch, Christoph Jahr, Rebecca Schaarschmidt (Hg.), Die Berliner Universität in der NS-Zeit, Bd. 2, Fachbereiche und Fakultäten, Stuttgart 2005, S. 35–54. Vgl. auch Sabine Hildebrandt, The Women on Stieve’s List: Victims of National Socialism Whose bodies Were Used for Anatomical Research, in: Clinical Anatomy, 26 (2013), S. 3–21. 133 Nach einem Bericht Pfuhls an den Kurator vom 21. September 1939 waren im Herbst 1939 trotz der Bauarbeiten am Leichenkeller 99 vollständige Leichen und 100 einzelne Glieder provisorisch untergebracht. Vgl. UAG, Kurator K 307, Bl. 230. 134 Vgl. Pfuhl an Kurator vom 3. Juli 1940, UAG, Kurator K 307, Bl. 258.

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lehnte es auch die Übernahme von Leichen Hingerichteter aus der Strafanstalt Posen ab. Die Gründe dafür sind oben schon diskutiert worden. Sie lagen zum einen in den Transportschwierigkeiten begründet, dürften sich aber auch mit nachlassenden wissenschaftlichen Ambitionen aufgrund der personellen Misere ab Ende 1939 erklären lassen. Nichtsdestotrotz hat wissenschaftliche Forschung an Leichen Hingerichteter am Greifswalder Anatomischen Institut stattgefunden. Das zeigen in erster Linie die Publikationen der Institutsangehörigen.135 So hat Horst Fleischer das Material für seine 1941 publizierten Forschungen von mindestens einem Hingerichteten gewonnen.136 Seine Studie wurde bereits im Dezember 1939 als Dissertation an der Medizinischen Fakultät angenommen und war von August Hirt angeregt worden.137 1942 legte Rudolf Strecker eine unter Pfuhls Anleitung angefertigte Dissertationsschrift vor, die auf der Untersuchung dreier Leichen von Hingerichteten fußte.138 Eine umfassende und systematische Auswertung der Dissertationen der Medizinischen Fakultät zwischen 1933 und 1945 im Hinblick auf das verwendete Untersuchungsmaterial wäre sicher wünschenswert, kann hier aber nicht geleistet werden. Es sei immerhin betont, dass sich die wissenschaftliche Verwertung von Hinrichtungen nicht auf das Anatomische Institut beschränkte. Schon 1934 hatte Gerhardt Will am Physiologischen Institut eine Untersuchung an „lebendfrischen Präparaten von Hingerichteten“ durchgeführt.139 Am Pathologischen Institut hatte Otto Krüger 1936 im Rahmen seiner Dissertation die Leichen zweier männlicher Hingerichteter für seine Untersuchungen 135 Die Methode der systematischen Auswertung von Fachzeitschriften ist von Sabine Hildebrandt zuerst erfolgreich angewandt worden. Vgl. Hildebrandt, Research (wie Anm. 125). Danach wird die Nutzung von Körpern Hingerichteter nur in 2 % der zwischen 1933 und 1938 erschienenen Artikel erwähnt. 1939 bis 1945 waren es dann bereits 7 %. Für Greifswald konnte Hildebrandt in diesem Zeitraum zwei Fälle (Fleischer und Krüger, siehe unten) ermitteln. Zwangsläufig unberücksichtigt bleiben bei der Auszählung veröffentlichter Fachartikel die zahlreichen Dissertationen, die aufgrund der Kriegswirtschaftsordnung nach 1943 nicht mehr gedruckt wurden und heute größtenteils als Typoskripte in den Promotionsakten erhalten sind. 136 Fleischer, Ganglion (wie Anm. 74), S. 766. Er erwähnt das Material von einem Hingerichteten im Zusammenhang mit der Zellzählung. 137 UAG, Med. Diss. II-1064 und Horst Fleischer, Über ein regelmäßig vorhandenes Ganglion accessorium trigemini und seine Lage im Cavum trigemini, in: Zeitschrift für Anatomie und Entwicklungsgeschichte, 111 (1941), S. 755–766, hier S. 755. 138 Rudolf Strecker, Morphologische und funktionelle Analyse der langen Zehenstrecker, Typoskript, Greifswald 1942, in: UAG, Med. Diss. II-1349 (Strecker). Strecker verwendete Material eines „26jährigen kräftigen Hingerichteten“. Als Vergleichsmaterial gibt er an: „28jähriger muskulöser Exekutierter“ und „35jähriger kleinwüchsiger Hingerichteter“, ebd., S. 1. 139 Gerhardt Will, Über die Größe, Form und Beweglichkeit der Cupula in den Bogengangsampullen des inneren Ohres des Menschen, in: Zeitschrift für Laryngologie, Rhinologie, Otologie und ihre Grenzgebiete, 25 (1934), S. 293–304, hier S. 296.

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zur Fixierung funktionsfähiger Nieren verwendet.140 1937 hat auch Heinrich Krümmel an der Augenklinik an Material von einem Hingerichteten, das August Hirt ihm überlassen hatte, geforscht.141 Bei der Aufklärung der hier angesprochenen Fälle ist die Quellenlage äußerst unbefriedigend. Alle aufgrund unsystematischer Quellenrecherche belegbaren Fälle sind in den Friedhofsunterlagen nicht nachgewiesen. Damit ist offensichtlich, dass diese Leichen bei der Bestattung nicht – wie die übrigen Anatomieleichen – registriert wurden. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass wir mit einer größeren Dunkelziffer gleichartiger Fälle rechnen müssen. Zwangsarbeiter Hinrichtungen fanden während der NS-Zeit, vor allem nach 1939, nicht ausschließlich aufgrund von Urteilen ordentlicher Gerichte statt. Für die Greifswalder Anatomie lassen sich dank der Forschungen von Vladimir Vsevolodov eine vergleichsweise hohe Zahl von Leichen hingerichteter Zwangsarbeiter nachweisen. Die von der Gestapo durchgeführten Exekutionen von polnischen Zwangsarbeitern wurden im NS-Sprachgebrauch als „Sonderbehandlung“ bezeichnet. Sie erfolgten ohne vorhergehendes Gerichtsverfahren in aller Regel durch Erhängen. Die Untersuchungen wurden durch die örtlichen Gestapo-Stellen geführt und deren Ergebnisse mit einem sogenannten Sonderbehandlungsvorschlag an das RSHA (Polenreferat IV D 2) zugestellt. Die Vorgänge wurden bis November 1942 dem Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei zur unmittelbaren Entscheidung vorgelegt. Später wurden die Entscheidungsbefugnisse auch innerhalb des RSHA delegiert. Delikte, die eine „Sonderbehandlung“ nach sich zogen, waren in den sogenannten Polen-Erlassen vom März 1940 und der späteren „Polenstrafrechtsverordnung“ von 1941 definiert. Auf Anordnung Himmlers waren seit März 1940 „Zivilarbeiter und Zivilarbeiterinnen polnischen Volkstums, die mit Deutschen Geschlechtsverkehr ausüben, oder sich sonstige unsittliche Handlungen zuschulden kommen lassen, […] sofort festzunehmen und 140 Otto Krüger, Versuche zur Fixierung des Funktionszustandes der Hauptstücke der menschlichen Niere und zur Bedeutung der Kuppenbläschen der Epithelien, in: Zeitschrift für MikroskopischAnatomische Forschung, 41 (1937), S. 453–468, hier S. 454. Die Nieren waren 10 Minuten nach der Hinrichtung entnommen und gespült worden. 141 Heinrich Krümmel, Die Nerven des menschlichen Ciliarkörpers. Ein Beitrag zur Neurohistologie der glatten Muskulatur, in: Albrecht von Graefes Archiv für Ophthalmologie, 138 (1938), S. 845–865. „Das Material dieser Untersuchung entstammt zum Teil dem Auge eines Hingerichteten, dessen Gewebe unmittelbar nach der Enthauptung von der Carotis her blutleer gespült und mit Formalin fixiert wurden.“ Den Hinweis verdanke ich Stephan Töpel; vgl. Stephan Töpel, Frank Tost, Vom Auge eines Hingerichteten, in: Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde, 230 (2013) Heft 12, S. 1259–1262.

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dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD zur Erwirkung einer Sonderbehandlung fernschriftlich zu melden“.142 Insgesamt erhielt die Greifswalder Anatomie zwischen 1941 und 1944 46 Leichen von Zwangsarbeitern. 1940 war es noch lediglich eine, 1941 bereits 22 (die größte Opfergruppe dieses Jahres) und 1942 13. Danach ging die Zahl auf 6 bzw. 4 zurück. Über die Todesursachen geben die Friedhofsregister, die die Erhebung dieser Zahlen gestatten, keine Auskunft. Dafür lassen sich aus dem Bericht des gerichtsmedizinischen Laboratoriums Nr. 63, der Ende 1947 entstand, allein in zwölf Fällen von Zwangsarbeitern der Tod durch Strangulation feststellen.143 Man muss in diesen Fällen davon ausgehen, dass sie Opfer von „Sonderbehandlungen“ waren. Die Quellenlage gestattet diesen Zusammenhang zumindest an einigen konkreten Beispielen nachzuweisen. Am 23. Juli 1941 wurde die Leiche des polnischen Zwangsarbeiters Feliks Pawłowski aus Landdorf bei Tribsees in die Greifswalder Anatomie eingeliefert. Die Leiche wies die für Erhängte typische Strangulationsmarke auf.144 Über die Hintergründe erfahren wir lediglich aus einer Verhandlung der Zivilkammer des Greifswalder Landgerichts vom Sommer 1941 mehr. Im April desselben Jahres hatte eine deutsche Landarbeiterin, Helene Wulf, einen Sohn zur Welt gebracht, für den ihr Ehemann die Vaterschaft anzweifelte. Die Ehe war bereits im Juni 1941 geschieden worden. In diesem Zusammenhang hatte Helene Wulf gestanden, dass sie das Kind von einem polnischen Zwangsarbeiter empfangen habe. Während sich der Ehemann noch darum bemühte, dass das „Polenkind“ nicht seinen Namen trug, wurde Helene Wulf im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück inhaftiert. Hier wurde sie abermals vernommen und gab auch im Februar 1942 den Namen des Vaters, Feliks Pawłowski, preis.145 Zu diesem Zeitpunkt war er allerdings bereits hingerichtet worden. Über das weitere Schicksal von Helene Wulf ist nichts bekannt. Sehr ähnlich gelagert ist der Fall des polnischen Zwangsarbeiters Wacław Niebrzekowski aus dem Dorf Klein Rackitt (Kreis Bütow),146 dessen Leiche am 7. Oktober 142 Schnellbrief Himmlers (Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei) v. 8. März 1940 (IV D 2-382/40), zitiert nach Wiedergabe in BArch, B 162/18853, Bl. 513. 143 Vgl. in diesem Band, S. xxx 144 Vgl. Edition, S. xxx, Nr. 14. 145 Alle vorstehenden Angaben sind der entsprechenden Verfahrensakte der Zivilkammer entnommen. Für den Hinweis auf diese Quelle danke ich Sabine Eckardt (Landesarchiv Greifswald). Vgl. LAGw, Rep. 76, Nr. 4206. 146 Die deutschen Strafverfolgungsbehörden (Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg) und die polnische Bezirkskommission zur Untersuchung von NS-Verbrechen in Koszalin (Köslin) haben zwischen 1970 und 1984 umfangreiche Ermittlungen in dem Fall unternommen, auf deren Ergebnissen die nachstehende zusammenfassende Darstellung beruht. Die

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1941 von der Gestapo Köslin in der Greifswalder Anatomie eingeliefert wurde. Sie wies die bekannte Strangulationsmarke auf.147 Niebrzekowski hatte ein Verhältnis mit einer Deutschen, Elfriede Schöwe, der Tochter des Landwirtes, bei dem er eingesetzt war, unterhalten. Im Frühjahr 1941 wurde das Paar denunziert. Niebrzekowski wurde durch die Gestapo in Stolp verhaftet und vernommen.148 Elfriede Schöwe wurde im Sommer von einer Tochter entbunden und anschließend inhaftiert.149 Am 7. Oktober 1941 wurden alle polnischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter der näheren Umgebung in einem Wald bei Klein Rackitt zusammengetrieben, um der Hinrichtung Niebrzekowskis „aufgrund einer Entscheidung des Chefs der deutschen Polizei“ beizuwohnen.150 Der Denunziant hat sich und seine Familie im März 1945 beim Anrücken der Roten Armee getötet. Elfriede Schöwe erhielt, als ihre Familie 1947 Klein Rackitt verlassen musste, aufgrund der Abstammung ihrer Tochter (die als polnische Staatsbürgerin angesehen wurde) keine Ausreisegenehmigung.151 Sie starb 1950, gerade 30-jährig, in Stolp (Słupsk). Etwas anders gelagert ist der Fall des polnischen Zwangsarbeiters Stanisław Celiński, dem am 1. Juni 1941 mit seinem deutschen Mitgefangenen Heinrich Bortz die Flucht aus dem Polizeigefängnis Stettin glückte. Die Gestapo-Leitstelle in Stettin löste daraufhin eine Fahndung in Vorpommern und Rügen aus.152 1965 erkannte der inzwischen in Hamburg lebende Heinrich Bortz den Gestapo-Mann, der ihn in Stettin gepeinigt hatte, wieder und machte in seiner Aussage auch Angaben zu seiner Flucht mit Celiński. Beide waren schon am 4. oder 5. Juni in Malchin wieder festgenommen und nach Stettin zurückgebracht worden.153 Zwei Monate später wurde Celińskis Leichnam von der Greifswalder Anatomie übernommen. Das Friedhofsregister gibt an, er sei aus Pölitz (bei Stettin) eingeliefert worden, dem Bericht der sowjetischen Gerichtsmediziner zufolge wies seine Leiche das Strangmal auf.154 In

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entsprechenden Berichte und Zeugenvernehmungen sind enthalten in BArch, 162/18853, Bl. 300–542. Für den Hinweis auf die Quelle danke ich Jan Mittenzwei (Greifswald). Vgl. Edition Holtz in diesem Band, Nr. 25. BArch, B 162/18853, Bl. 308f. Es ist von einer Strafanstalt in Berlin-Oranienburg die Rede, möglicherweise KZ Sachsenhausen. BArch, B 162/18853, Bl. 317. Nach anderen Aussagen soll sie in Stolp inhaftiert gewesen sein, vgl. ebd., Bl. 370 und Bl. 375, wieder andere geben das KZ Ravensbrück an, vgl. ebd., Bl. 392. Die Angaben zur Dauer der Inhaftierung schwanken zwischen fünf Monaten und zwei Jahren. BArch, B 162/18853, Bl. 371, Bl. 363f. BArch, B 162/18853, Bl. 320v. Vgl. Fahndungsmeldung der Gestapo Stettin v. 3. Juni 1941, LAGw, Rep. 38b, Nr. 2264, Bl. 37. Vernehmungsniederschrift Bortz v. 29. Juni 1965, BArch, B 162/6708, Bl. 4. Für den Hinweis auf die Quelle danke ich Jan Mittenzwei (Greifswald). Vgl. Edition Holtz in diesem Band, Nr. 23.

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Pölitz bestand ein sogenanntes Arbeitserziehungslager, später auch eine Außenstelle des KZ Stutthof. Bortz erinnerte sich noch später: „Während meiner Haftzeit habe ich beobachten können, wie mehrfach polnische Inhaftierte nach Pölitz in dieses Lager gebracht worden sind, wo sie von anderen Polen, es soll sich dabei um Insassen des Lagers Pölitz gehandelt haben, durch den Strang hingerichtet worden sind […]. Mir ist bekannt, daß das gesamte Lager der Hinrichtung beiwohnen und zusehen mußte.“155 Wehrmachtsangehörige/Opfer der Militärgerichtsbarkeit Nach 1943 lassen sich erstmals Leichen hingerichteter Wehrmachtsangehöriger in der Greifswalder Anatomie nachweisen.156 1944 stellen sie – nach den Zuchthausgefangenen – die zweitgrößte Opfergruppe dar. Ihre Identifikation wurde zunächst durch die Nennung der Einlieferungsorte ermöglicht, sofern diese als Standorte der Militärgerichtsbarkeit bekannt waren. Es ist aber nicht auszuschließen, dass Exekutionen von Wehrmachtsangehörigen auch an zivilen Hinrichtungsstätten stattfanden.157 In solchen Fällen konnte mit den Leichen ebenso verfahren werden, wie es für Hingerichtete aus dem zivilen Strafvollzug vorgeschrieben war. Erst 1940 hat das Oberkommando der Wehrmacht verbindlich angeordnet, dass die Leichen von innerhalb des Reiches hingerichteten Wehrmachtsangehörigen dem nächstgelegenen Anatomischen Institut zu Zwecken der Forschung und Lehre überlassen werden könnten.158 1940 war in Vorpommern das Wehrmachtsgefängnis Anklam als Vollstreckungsort für Verurteilte aus den Wehrkreisen I, II und XX, den Luftgauen I und XI, dem Ostseebereich der Marine, der Heeresgruppe Nord und dem Wehrmachtsbefehlshaber Ost-Ostland sowie Nordeuropa in Betrieb genommen worden. Nach Anklam kamen Untersuchungshäftlinge, Häftlinge, die bereits von Feldgerichten abgeurteilt waren und zum Tode Verurteilte aus Marine, Luftwaffe und Heer. Die Todesurteile an den dort einsitzenden Häftlingen wurden in Anklam seit 1941 vollstreckt.159 Anklam war 155 Zeugenvernehmung Bortz v. 26. November 1965, BArch, B 162/6708, Bl. 87. 156 Erste Hinweise dazu sind bereits 1962 gemacht worden. Insgesamt wurden damals fünf hingerichtete Wehrmachtsangehörige ermittelt, deren Leichen an das Anatomische Institut geliefert wurden. Vgl. Ulrich Schulz, Stephan Tanneberger, Das ehemalige Wehrmachtsgefängnis Anklam. Fakten und Zeitzeugenberichte, Anklam 2012, S. 26. 157 Viebig, Transfer of Cadavers (wie Anm. 33), S. 269. 158 Viebig, Transfer of Cadavers (wie Anm. 33), S. 269, mit Verweisen auf die Befehle des OKW vom 24. April 1940 und 7. August 1940. Die Vordrucke einiger im Einzelfall überprüfter Verlustmeldungen weisen bereits ein eigenes Feld für die entsprechende Überlassungseintragung auf, die die Angabe der Grablage überflüssig machte – vgl. Deutsche Dienststelle (künftig: WASt), N 4201/41 K. 159 Eine Übersicht zur Geschichte des Wehrmachtsgefängnisses, Listen der Hingerichteten und eine

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allerdings nicht alleiniger Hinrichtungsort für die Verurteilten. Auch in Graudenz und Stettin wurden Urteile vollstreckt.160 Zwölf Leichname aus der Anatomie weisen lediglich den Sterbeort „Anklam“ im Friedhofsregister auf. Für sie alle konnte die erfolgte Hinrichtung in Anklam anhand der Akten ihres ehemaligen Offizialverteidigers nachgewiesen werden.161 Ein weiterer in Stettin exekutierter Wehrmachtssoldat wurde aus der gleichen Quelle ermittelt. Weitere acht Leichen von hingerichteten Wehrmachtsangehörigen wurden aus Stralsund162 bzw. Swinemünde163 an das Anatomische Institut übergeben.164 Sie waren dort zuvor vor der Zweigstelle des Gerichts des 2. Admirals der Ostseestation bzw. vor dem Gericht des Künstenbefehlshabers westliche Ostsee verurteilt worden. Diese Urteile wurden nicht in Anklam, sondern an den Standorten vollstreckt. In allen Fällen, in denen die Anklage bzw. Urteilsbegründung festgestellt werden konnte, lauteten sie „Fahnenflucht“. Die Begleitumstände mögen dabei sehr verschieden gewesen sein. Ein wiederkehrendes Element lässt sich aber in der wachsenden Sorge um das Schicksal der eigenen Angehörigen gegen Ende des Krieges und mit Beginn der alliierten Luftangriffe erkennen. Stellvertretend kann hier der Fall des Schützen Anton Rutkowski angeführt werden. Er hatte sich Anfang 1944 von der Truppe entfernt, nachdem er von der Ausbombung seiner Familie und vom Tod zahlreicher Verwandter während eines Luftangriffes erfahren hatte. Er wurde gefasst und am 14. März 1944 nach Anklam gebracht, Dokumentation mit Zeitzeugen- und Erinnerungsberichten findet sich in: Schulz/Tanneberger, Anklam (wie Anm. 156). Vgl. auch die Darstellung bei Andreas Wagner, „In Anklam aber empfängt mich die Hölle…“ Dokumentation zur Geschichte des Wehrmachtsgefängnisses Anklam 1940–1945, Schwerin 2000. 160 Schulz/Tanneberger, Anklam (wie Anm. 156), S. 23. 161 Die listenmäßigen Nachweise auf der Grundlage der Akten des Rechtsanwalts G. Neumann wurden 1962 durch eine Arbeitsgruppe des Deutschen Kulturbundes Anklam unter Leitung von Ulrich Schulz erstellt. Sie sind jetzt abgedruckt in: Schulz/Tanneberger, Anklam (wie Anm. 156), S. 52–61. Die Akten befanden sich 1949 noch im Besitz des Kreissekretariats der VVN Anklam (Vgl. BArch, DY 55/V 278/4/20, ohne Blattzählung), gelangten dann an den Landesausschuss der VVN, der sie wiederum der Bezirksstaatsanwaltschaft Schwerin übergab. Von dort wurden sie im Juni/Juli 1961 an das deutsche Zentralarchiv in Potsdam abgegeben. Dort wurden sie zuletzt für die Erstellung der Listen eingesehen. Heute befinden sich diese Unterlagen vermutlich im Bundesarchiv, Militärarchiv Freiburg, Bestand I 10-Ost Spezial, Wehrmachtsgerichtliche Unterlagen. 162 Zweigstelle des Gerichts des 2. Admirals der Ostseestation. 163 Gericht des Küstenbefehlshabers westliche Ostsee. 164 Die Personenangaben des Friedhofsregisters mit der Provenienz Stralsund und Swinemünde wurden gezielt mit den bei der Deutschen Dienststelle (WASt) vorhandenen Unterlagen verglichen. In allen Fällen wurde die Hinrichtung am Einlieferungsort festgestellt. Zu Stralsund als Marinestandort vgl. auch Horst Auerbach, Die Kriegsmarine und Stralsund, Stralsund 1996.

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wo am 31. März das Todesurteil gefällt wurde. Das Gnadengesuch seiner Ehefrau wurde abgelehnt. Als sie persönlich in Anklam erschien, war ihr Mann bereits hingerichtet und in die Greifswalder Anatomie überführt worden.165 Kriegsgefangene Es steht außer Frage, dass das Anatomische Institut unmittelbar nach Kriegsbeginn aktiv neue Quellen erschließen wollte, die sich durch die geänderten Verhältnisse anboten. So bat der Institutsdirektor im Sommer 1940 die Heeresstandortkommandantur, „daß die Leichen solcher Kriegsgefangener, welche wegen eines Vergehens füsiliert werden und auf ein Soldatengrab keinen Anspruch haben, dem anatomischen Institut zur Verwertung im Unterricht überlassen werden“.166 Der Antrag wurde abgelehnt. Erst 1941 erhielt das Anatomische Institut die Leichname von 14 sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem Stalag II-C in Greifswald. Sie starben alle zwischen dem 10. November und dem 6. Dezember 1941, wahrscheinlich an Hunger. Sofern ihre Personalkarten ermittelt werden konnten, ergibt sich aus ihnen, dass sie das Stalag selten länger als vier bis sechs Wochen überlebten.167 Das Friedhofsregister verzeichnet zwischen Oktober 1941 und Januar 1942 über dreihundert Bestattungen aus dem Stalag II-C. Auch aus anderen Überlieferungen ist die hohe Sterberate unter den sowjetischen Kriegsgefangenen im Winter 1941/42 belegt.168 Es ist auffällig, dass sich für das Anatomische Institut, angesichts der Nähe des Kriegsgefangenenlagers, nur einmalig und nur wenige Zugänge von Leichen verstorbener Kriegsgefangener nachweisen lassen. Das Institut für Pathologie hat im Vergleich dazu zwischen 1941 und 1945 kontinuierlich mindestens einhundert Leichen aus dem Stalag II-C und etwa ebenso viele aus Stalags und Oflags der Umgebung obduziert.169 Strafgefangene Ebenfalls 1941 stieg die Anzahl der in die Anatomie eingelieferten Leichname aus Gefängnissen und Haftanstalten. Bis 1940 waren nur selten Leichname aus Haftan165 Vgl. die Notiz von Pfarrer Biela in Schulz/Tanneberger, Anklam (wie Anm. 156), S. 88. 166 Pfuhl an Kurator v. 19. Juni 1940, Kurator an Heeresstandortkommandantur Greifswald v. 22. Juni 1940, Stellvertretendes Generalkommando II (Stettin) an Kurator v. 19. September 1940, UAG, Kurator K 307, Bl. 272–277. 167 Für die Überlassung von Kopien der PK1 für Aleksej Štajakin, Stepan Zacharevskij, Petr Nozarew, Petr Jazandin, Timofej Lepustin, Stepan Koriakowskij danke ich Eduard Ptuchin (Berlin). 168 Vgl. die Ausführungen von Barz in diesem Band zu den „Auffütterungsversuchen“ an sowjetischen Kriegsgefangenen an der Medizinischen Klinik. 169 Die Zahlen stützen sich auf die Auswertung der Sektionsprotokolle der Pathologie aus dem entsprechenden Zeitraum im Universitätsarchiv Greifswald.

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stalten überwiesen worden, weil sie grundsätzlich zur Bestattung durch Angehörige freizugeben waren. Dass sie auch für die Überlassung an Anatomien in Frage kamen, hatte die Dienst- und Vollzugsordnung für die preußischen Strafanstalten im August 1933 (§ 111) geregelt. Mit der Strafvollzugsordnung des Reiches von 1940 (§ 210) wurden die Rechte Angehöriger weiter eingeschränkt. Ihnen wurde es nahezu unmöglich gemacht, ihre im Zuchthaus verstorbenen Verwandten selbst zu bestatten. Seit 1941 war zudem wiederholt ein Leichenüberführungsverbot für verstorbene Zuchthausgefangene, die wegen Hochverrats, Landesverrats oder wegen aus politischen Beweggründen begangener Verbrechen verurteilt waren, erlassen worden.170 Die verstärkten Leichenlieferungen aus Gefängnissen und Zuchthäusern fallen zeitlich mit dieser Erweiterung der Rechtsgrundlagen zusammen. Allein 1941 waren das zehn Personen. Der höchste Zugang von Leichnamen verstorbener Zuchthausgefangener in der Greifswalder Anatomie ist mit 24 Personen im Jahr 1944 zu verzeichnen. Die Leichen von Strafgefangenen, die sich in der Greifswalder Anatomie sicher nachweisen lassen, stammen überwiegend (51 von 60) aus dem Zuchthaus Gollnow. Nur in wenigen Fällen sind die Todesursachen für die Häftlinge bekannt. Sie dürften aber im Zusammenhang mit den Haftbedingungen gestanden haben. Die 1947 vorgenommene Untersuchung hatte als Todesursachen bei den identifizierten Zuchthausgefangenen zumeist eine Form der Tuberkulose oder schwere Infektionen feststellen können.171 In Gollnow waren 1933 die Schutzhäftlinge – dabei handelte es sich zumeist um politische Gefangene – aus dem Regierungsbezirk Stettin zusammengeführt und später in das KZ Sonnenburg verlegt worden.172 Die Anstalt Gollnow, der auch eine kriminalbiologische Forschungsstelle angeschlossen war, blieb bis 1942 der zentrale Vollstreckungsort in Pommern für Zuchthausstrafen und ab 1942 auch zentraler Einweisungsort für Zuchthausgefangene mit anschließender Sicherungsverwahrung.173 Eine Ausnahme bildeten jüdische und polnische Zuchthausgefangene, für die ab 1942 ein besonderes Straflager in der Haftanstalt Köslin eingerichtet wurde.174 Bis zum Kriegsende wurden in Gollnow auch zahlreiche tschechische Untersuchungsgefangene inhaftiert.175 Die Gefangenenakten, die eine Aufklärung von Einzelschick170 Vgl. oben. 171 Vgl. Edition Holtz in diesem Band, Nr. 3, 24, 36, 38, 41. 172 Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 2, Frühe Lager, Dachau, Emslandlager, München 2005, S. 102ff. 173 LAGw, Rep. 76, Nr. 712, Bl. 88. 174 Dennoch wurden auch weiterhin in Gollnow Polen inhaftiert. Schon 1940 war eine besondere Abteilung in Köslin geschaffen worden, die die polnischen Gefangenen von den übrigen trennte, die Einrichtung des Straflagers erfolgte am 15. Oktober 1942. Vgl. LAGw, Rep. 75, Nr. 160, Bl. 61 und LAGw, Rep. 76, Nr. 712, Bl. 85. 175 Das geht aus dem Lagebericht des Generalstaatsanwaltes im OLG-Bezirk Stettin, Otto Stäcker,

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salen ermöglichen könnten, sind wohl bei der Räumung des Zuchthauses 1945 oder kurz danach vernichtet worden. Nur in wenigen Fällen lassen sich Biographien rekonstruieren. Stellvertretend sei hier Walter Schiering genannt, dessen Leichnam 1937 in die Anatomie gelangte. Er war ein ehemaliger Plättner-Aktivist, dessen politische Heimat sich auf dem äußerst linken, politisch radikalen Flügel der Arbeiterbewegung befand und der sich auch im Mitteldeutschen Aufstand engagiert hatte. Nach seiner Freilassung aufgrund der Amnestie für politische Gefangene 1928 setzte er sich aktiv für die Freilassung seiner KAPD-Genossen ein. Er ist 1932 in Greifswald wegen mehrerer Diebstähle und Raubüberfälle zu einer hohen Zuchthausstrafe verurteilt und in das Zuchthaus Gollnow eingewiesen worden.176 Bilanz Das Anatomische Institut der Universität Greifswald hat zwischen 1935 und 1945 nachweislich 432 Leichen erhalten und für Zwecke von Forschung und Lehre genutzt. Lag der Anteil der Krankenhäuser und Heil- und Pflegeeinrichtungen an den jährlich gelieferten Leichen bis 1939 noch bei etwa neunzig Prozent, so sank dieser Anteil ab 1941 bis unter dreißig Prozent. Während sich das Einzugsgebiet für die Leichenlieferungen rapide verringerte, stiegen die Leichenlieferungen aus Gefängnissen, Kriegsgefangenenlagern, Dienststellen der Gestapo und Standorten der Militärgerichtsbarkeit stark an. Unter den 432 ermittelten Anatomieleichen befanden sich 132 Leichen aus den Landesheil- und Pflegeanstalten, vorwiegend aus Ueckermünde, die wahrscheinlich zum Teil als Opfer von „Euthanasie“-Verbrechen anzusprechen sind. Darüber hinaus erhielt die Anatomie 46 Leichen von Zwangsarbeitern, von denen mindesten 12 hingerichtet wurden. Bei weiteren 21 Leichen handelt es sich um hingerichtete Wehrmachtsangehörige. Die Leichen von 16 sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem Stalag II-C in Greifswald starben wahrscheinlich an Entkräftung. Ab 1941 stieg auch die Zahl der aus Gefängnissen und Zuchthäusern gelieferten Leichen stark an. Insgevom 10. Februar 1945 hervor. Die tschechischen Untersuchungsgefangenen sind bei der Auflösung des Zuchthauses im Februar 1945 als Erste verlegt worden. Während die Untersuchungshäftlinge nach Neubrandenburg kamen, wurde ein Teil der Gefangenen entlassen, ein weiterer im Fußmarsch nach Bützow-Dreibergen verlegt. Der Lagebericht befindet sich in BArch, B 162/8380 und ist ediert bei Jolanta Adamska, Organizacja więzień sądowych na terenach Polski w latach 1939–1945. Wybór dokumentów, in: Zeszyty Majdanka, 12 (1987), S. 255–292, hier S. 287–292. Ergänzend dazu der spätere Untersuchungsbericht der VVN Mecklenburg v. 23. Juni 1948, BArch, DO 1/32536, Bl. 16. 176 Sein Anwalt in Greifswald war Hans Litten. Vgl. Knut Bergbauer, Sabine Fröhlich, Stefanie Schüler-Springorum, Denkmalsfigur. Biographische Annäherungen an Hans Litten 1903–1938, Göttingen 2008, S. 125.

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samt wurden bis 1945 60 Leichen von Gefangenen, vorwiegend aus dem Zuchthaus Gollnow, in die Greifswalder Anatomie geliefert. Diese Leichen sind überwiegend für Zwecke der Lehre (Präparierkurse) eingesetzt worden. In einigen Fällen lassen sich auch wissenschaftliche Forschungen an den Leichen Hingerichteter nachweisen, um die sich das Institut bis 1940 aktiv bemühte.

4. Ethik, Gedenkkultur und Opferkonkurrenz

Es besteht kein Zweifel, dass sich die Angehörigen des Anatomischen Instituts über die Herkunft der Leichen im Klaren waren. Es steht auch außer Frage, dass es für sie einsehbar war, dass ein Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit ihres „Materials“ und der verschärften NS-Strafjustiz, den Polen-Erlassen und den rassenhygienischen und erbbiologischen Prämissen der NS-Politik bestand. Es ist belegt, dass sie sich um die Nutzung der sich daraus ergebenden Möglichkeiten aktiv bemühten. Es ist nicht überliefert, dass sie in dieser Hinsicht Skrupel formuliert hätten. Sie glaubten, sie wären im Recht. Ihre ethischen Grundsätze waren an einer propagierten Volksgesundheit ausgerichtet, die alles „Minderwertige“ ausschloss.177 Als die Überreste der 249 Personen, die dem Anatomischen Institut während der NS-Zeit zu Lehrzwecken gedient hatten, 1948 beigesetzt worden waren, kam der akademische Senat zu einer Sitzung zusammen, auf der er die Ereignisse im Anatomischen Institut abschließend diskutierte. Im Protokoll wurde festgehalten: „Es herrscht Einigkeit in der Auffassung, dass den Vorkommnissen ein Versäumnis, aber kein moralischer Defekt zu Grunde liegt.“178 Über den Särgen der Opfer resümierte der damalige Rektor über deren Schicksal: „Man hat sie nicht nur in den Gefangenenlagern getötet, man hat sich auch nicht gescheut, dann die Toten hier wie in anderen Städten, den Anatomischen Instituten zu übergeben. Wenn die menschlichen Körper dort auch zu ernsten Zwecken der Forschung benutzt werden und dem Leben dienen, weil nur so die künftigen Mediziner lernen können, was sie brauchen, ist und bleibt es doch ein unserem Gefühl widerstrebender Gedanke, dass diese Toten – die fern von ihrer Heimat und gewaltsam sterben mussten – nicht in würdiger Form der Erde übergeben worden sind“.179 Öffentlich bekannt geworden sind 1948 nur die 69 Opfer des Faschismus aus der 177 Sabine Hildebrandt, Anatomy in the Third Reich: An Outline, Part 3. The Science and Ethics of Anatomy in National Socialist Germany and Postwar Consequences, in: Clinical Anatomy, 22 (2009), S. 906–915, hier S. 908f. 178 Protokoll der Senatssitzung vom 12. Januar 1948, UAG, Rektorat N.F. 83, Bd. 1, Bl. 180v. 179 UAG, Universitätsverwaltung 9, Bl. 35.

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Greifswalder Anatomie. Die Ermittlungen wurden unter klaren Prämissen geführt. Zunächst standen die Leichname von Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern oder denen, die unter dem Sammelbegriff der Opfer des Faschismus zusammengefasst waren, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Sie sollten nicht nur aus Gründen der Pietät, sondern auch des Respekts und der öffentlichen Mahnung zum Gedenken ehrenvoll beigesetzt werden. Mit ihrer Hilfe konnte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ganz unmittelbar auf die Verbrechen des Nationalsozialismus gelenkt und Aufklärungsarbeit geleistet werden. Dabei gerieten den Verantwortlichen aber jene Personen, die damals nicht als offensichtliche Opfer angesprochen werden konnten oder sollten – die Patienten aus Ueckermünde, hingerichtete Wehrmachtssoldaten, Gefangene aus den Zuchthäusern –, aus dem Auge. Die SMA bzw. die Stadtkommandantur hatte die Beisetzung der Leichen auf dem neueingerichteten Bezirksfriedhof Nr. 3 der Roten Armee in Greifswald angeordnet, der einen Teil des Gräberfeldes (Abteilung 29) einschloss auf dem zuvor laufend Anatomieleichen und Kriegsgefangene bestattet worden waren. Diese Bezirksfriedhöfe waren nach dem Befehl Nr. 117 des Oberbefehlshabers der SMAD ausschließlich der Bestattung von Bürgern der UdSSR vorbehalten.180 Die Gestaltung des Friedhofs, die Errichtung eines Denkmals, der Grabsteine und die Ausführung der kyrillischen Inschriften, zog sich bis 1949 hin. Die sterblichen Überreste der 249 im Anatomischen Institut aufgefundenen Personen waren so Bestandteil einer Gedenkstätte geworden, die eng mit dem Tag der Befreiung und des Sieges der Roten Armee verknüpft war, der einen festen Platz im offiziellen Gedenken der DDR einnahm. Das blieb nicht ohne Folgen. Die tatsächliche Herkunft der Leichen, ihre Geschichte und das Unrecht, mit dem ihr Tod verknüpft war, gerieten bald in Vergessenheit. Nichts an diesem Ort erinnert daran. Über dem Grab von 19 unbekannten Polen aus der Anatomie, das im Friedhofsregister ausgewiesen wird, errichtete man einen Stein für 19 „unbekannte Soldaten“. Die sterblichen Überreste der 180 Personen, die am 4. Februar 1948 beerdigt wurden, erhielten keinen eigenen Stein. Wer heute über den Friedhof geht, muss annehmen, dass es sich um ein Gräberfeld für gefallene Rotarmisten handelt. Doch die Namen, die man noch heute auf den 1949 dort errichteten Grabsteinen lesen kann, stehen – wenn wir ihnen ihre Geschichte wiedergeben – stellvertretend für alle Opfer. Wir finden hier die Namen der polnischen Zwangsarbeiter Feliks Pawłowski und Stanisław Celiński, 180 Vgl. Befehl des Oberbefehlenden der Sowjetischen Militäradministration – des Oberkommandierenden des Sowjetischen Okkupationsheeres in Deutschland, Nr. 117, v. 15. April 1946, Berlin – Über die Einrichtung von Friedhöfen ausschließlich für die Bürger der UdSSR (der Angehörigen der Roten Armee und der Zivilisten) in der Sowjetischen Okkupationszone Deutschlands, in: StAGw, Rep. 79, Nr. 309, Bl. 3.

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deren Schicksal oben erwähnt ist, ebenso wie den des deutschen Marinesoldaten Anton Rutkowski, hingerichtet in Anklam wegen Fahnenflucht, oder Aleksej Štajakin, ein sowjetischer Kriegsgefangener, verhungert im Stalag II-C. Man vermutet nicht, sie hier zu finden, gemeinsam unter dem Obelisken mit dem roten Stern. Mit dem Wissen um die Schicksale der Opfer, um die Verdrängung ihrer Geschichte und schließlich des Vergessens erlangt dieser Ort eine besondere Bedeutung. Er ist im Grunde ein Ort des Gedenkens an Menschen, die Opfer des Krieges, einer pervertierten Justiz, einer fragwürdigen medizinischen und wissenschaftlichen Ethik und schließlich der Inanspruchnahme für eine staatliche Gedenkkultur wurden, mit deren Untergang auch sie in Vergessenheit zu geraten drohen. Dieser Ort ist auch ein Symbol für die Art, wie eine Gesellschaft sich der Geschichte stellt oder es eben unterlässt. Es ist sicher von Wert, diese Geschichte zu erforschen. Noch wertvoller aber wäre es, wenn es gelänge, eine Kultur des Gedenkens an diesem Ort zu etablieren, die dem Schicksal aller dort ruhenden Opfer gerecht würde.

Begeisterung – Skepsis – Distanz: Schwedisch-deutsche Verbindungen in der Medizin 1933 bis 1945 Nils Hansson Es war im Mai 2012, als die Bundesärztekammer zum ersten Mal eine offizielle Entschuldigung an alle Opfer, die direkt oder indirekt von den Verbrechen der deutschen Ärzteschaft 1933 bis 1945 betroffen waren, formulierte.1 Dazu zählte sie die Ermordung von ca. 260.000 Patientinnen und Patienten und die Unfruchtbarmachung von über 350.000 Menschen in Krankenhäusern. Das Schreiben sorgte für großes Auf­ sehen. Sowohl internationale medizinische Fachzeitschriften als auch die Tagespresse berichteten darüber.2 Das Thema Medizin im Nationalsozialismus hat Konjunktur: In der aktuellen bioethischen Debatte über Pränataldiagnostik und Sterbehilfe wird oft Bezug auf die „negative Eugenik“ in der NS-Diktatur genommen. An fast jeder deutschen Universität gibt es für Medizinstudentinnen und Medizinstudenten jedes Semester Seminare über „Euthanasie“, Zwangssterilisierungen oder Humanexperimente und regelmäßig werden Forschungsergebnisse über das Verhalten medizinischer Gesellschaften im Nationalsozialismus präsentiert.3 Auch wenn in der deutschen Medizingeschichte nichts so genau untersucht worden ist wie die Zeit des Nationalsozialismus, gibt es trotz intensiver 30-jähriger Beschäftigung mit dem Thema wichtige Forschungsdesiderate. Eines davon möchte ich in diesem Beitrag umreißen, nämlich die Beziehungen zwischen der NS-Diktatur und Schweden in der Medizin 1933 bis 1945. In meiner Dissertation habe ich ei1

Nürnberger Erklärung: Deutscher Ärztetag bittet Opfer der NS-Medizin um Verzeihung. Pressemitteilung der Bundesärztekammer, http://www.bundesaerztekammer.de/page. asp?his=0.2.8678.10302.10342 (aufgerufen am 28.7.2013). Sämtliche schwedische Dokumente wurden im Aufsatz vom Verfasser übersetzt. 2 Stephan Kolb u.a., Apologising for Nazi Medicine: A Constructive Starting Point, in: The Lancet, 380 (2012), S. 722f.; Guido Boshem, Ärzteschaft bittet um Verzeihung, in: Süddeutsche Zeitung vom 24.5.2012, http://www.sueddeutsche.de/wissen/aerztetag-in-nuernberg-aerzteschaft-bittetum-verzeihung-1.1365156 (aufgerufen am 28.7.2013); Schmuel Reis, In Remembrance of the Victims of Nazi Medicine (Petition), and Nuremberg Declaration of the German Medical Assembly 2012, in: The Israel Medical Association Journal, 14 (2012), S. 529f.; Gabriel Vorobiof, Daniel A. Vorobiof, Apologising for Nazi Medicine: Too Little too Late, in: The Lancet, 380 (2012), S. 1472. 3 Beispielsweise Hans-Ulrich Steinau und Hartwig Bauer (Hg.), Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1933–1945. Die Präsidenten, Heidelberg 2011; Matthis Krischel u.a., Urologen im Nationalsozialismus. Zwischen Anpassung und Vertreibung, Berlin 2011. Sabine Hildebrandt, Christoph Redies, Special Issue: Anatomy in the Third Reich, in: Annals of Anatomy, 194 (2012), S. 225ff.

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nige Verbindungen zwischen deutschen und schwedischen Ärzten in diesen Jahren beleuchtet.4 Mein Hauptmotiv war es zu untersuchen, wie der Nationalsozialistische Deutsche Ärztebund (NSDÄB)5 versucht hat, die Beziehungen mit schwedischen Medizinern zu etablieren und zu stärken. Es handelte sich dabei nicht um eine einseitige Kommunikation: Auch von schwedischen Ärzten gab es Ambitionen, eine solide Zusammenarbeit mit Deutschland aufzubauen. In diesem Beitrag will ich über den Rahmen meiner Promotion hinausgehen, indem ich drei Kontaktzonen in der Medizin zwischen Schweden und Deutschland, mit besonderem Fokus auf Norddeutschland, beleuchte. In der ersten Kontaktzone geht es um einen medizinischen Knotenpunkt, den der NSDÄB in Mecklenburg geschaffen hat, um u.a. Kontakte mit ausländischen Ärzten aufzunehmen, und in der zweiten um nationalsozialistische Vereine in Schweden. Als dritten Punkt werde ich die ausschlaggebenden Kriterien präsentieren, weshalb (oder weshalb nicht) schwedische Ärzte als Kandidaten für Ehrenpromotionen in Greifswald im Jahr 1944 infrage kamen. Anhand eines repräsentativen Einzelfalles werde ich die wichtigsten deutschschwedischen Verbindungen rekonstruieren. Um das Jahr 2000 begannen schwedische Historiker, sich verstärkt für die akademischen Beziehungen zwischen Schweden und Deutschland in den Jahren 1933 bis 1945 zu interessieren. Diese Forschungen legten offen, dass die nationalsozialistische Regierung Deutschlands ein großes Interesse daran hatte, wissenschaftliche Verbindungen mit Schweden aufrechtzuerhalten. Offizielle Vertreter der NS-Diktatur arbeiteten aktiv daran, vielversprechende Beziehungen zu Schweden, die in den Bereichen Kultur, Journalismus und Bildung bestanden, zu pflegen. Meiner Meinung nach galt dies nicht nur in den Geisteswissenschaften, sondern auch in der Medizin. Die deutsch-schwedischen Verbindungen in der Medizin 1933 bis 1945 sind bisher nicht eingehend untersucht worden. Das ist bemerkenswert, da Mediziner einen nicht geringen Teil der Mitglieder nationalsozialistischer Vereine in Schweden ausmachten. Eine Übersicht aktueller Forschung über diese Verbindungen wurde im Rahmen des Symposiums „Medicine Under Ideological Pressure – Swedish-German Contacts in Medicine 1933–45“ in Lund 2010 gegeben.6 4 Nils Hansson, Entusiasm – skepsis – distans. Studier i svensk-tyska förbindelser inom medicinen 1933–1945. [Enthusiasmus – Skepsis – Distanz. Studien über schwedisch-deutsche Verbindungen in der Medizin], Lund 2013. 5 Der NSDÄB wurde am 3. August 1929 gegründet. Zwei der Repräsentanten im Vorstand sollten wichtig für die Kontakte mit Schweden werden: Gerhard Wagner (1888–1939) und Leonardo Conti (1900–1945). Sie besuchten beide mehrmals Schweden (Wagner 1935 und Conti 1939/1941), um stark nationalsozialistisch geprägte Vorträge zu halten. 6 Peter M. Nilsson, Nils Hansson, Gunnar Broberg (Hg.), Medicine Under Ideological Pressure – Swedish-German Contacts in Medicine 1933–1945, Lund 2010.

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Zu den dort besprochenen Themen gehörte das weltweit erste staatliche rassenbiologische Institut, das bereits 1922 in Uppsala gegründet worden war und als Vorbild des Kaiser-Wilhelm-Instituts diente, das fünf Jahre später in Berlin eingeweiht worden war. Herman Lundborg (1868−1943), Direktor des Instituts in den Jahren von 1921 bis 1936, war Professor für Psychiatrie in Uppsala Abbildung 1: Führerschule der Deutschen Ärzteschaft in und erhielt die Heidelberger EhAlt Rehse rendoktorwürde im Jahr 1936 anlässlich des 550-jährigen Jubiläums der Universität Heidelberg. Das Institut war ein wichtiger Akteur in der internationalen Eugenikbewegung, die eine wissenschaftliche Grundlage für Sterilisierungsgesetze schuf. Solche Gesetze wurden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts rund um den Globus verabschiedet: in den USA, Russland, Brasilien, China, Japan und in mehreren europäischen Ländern. Schweden stellte keine Ausnahme dar. Ein Jahr nachdem das deutsche Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses 1934 in Kraft trat, wurde ein Sterilisierungsgesetz im schwedischen Riksdag erlassen.7 Erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre schlug man in Deutschland mit der „Euthanasie“ eine extreme rassenhygienische Entwicklungslinie ein. Ein besonderer Schwerpunkt des Symposiums war die Führerschule der deutschen Ärzteschaft in Alt Rehse – ein norddeutsches Zentrum der NS-Medizin. Im Jahr 1937 fuhr die schwedische Autorin Lilian von Rosen im Auftrag des Riksföreningen Sverige-Tyskland nach Berlin, um den Reichsärzteführer Gerhard Wagner (1888−1939) zu interviewen. Sie wollte einen Artikel über die deutsche Medizin schreiben. Wagner schickte Lilian von Rosen nach Alt Rehse – dort könne sie die moderne Medizin wirklich kennenlernen.8 7

Auch wenn das deutsche Gesetz im Gegensatz zum schwedischen Sterilisierungsgesetz Zwangsmaßnahmen explizit erlaubte, wurden in Schweden prozentual gesehen mehr Menschen sterilisiert (0,8 % der Bevölkerung im Vergleich zu 0,4 % in Deutschland), jedoch über einen längeren Zeitraum hinweg (1935–1975). Unter den Sterilisierungspatienten in Schweden waren Frauen deutlich überrepräsentiert (90 %), wobei sie in Deutschland in etwa gleich zwischen den Geschlechtern verteilt waren; vgl. Peter Weingart, Science and Political Culture: Eugenics in Comparative Perspective, in: Scandinavian Journal of History, 24 (1999), S. 163–177. 8 Lilian von Rosen, Tillbaka till husläkaren [Zurück zum Hausarzt], in: Sverige-Tyskland, 2 (1938), S. 16–19.

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Alt Rehse ist ein kleiner idyllischer Ort am Tollensesee in Mecklenburg-Vorpommern, nur 80 Kilometer von Greifswald entfernt. Dort wurde 1935 die Führerschule der deutschen Ärzteschaft gegründet. Der Zweck dieser Schule wurde 1934 im Deutschen Ärzteblatt auf den Punkt gebracht: „Hier, in der strikt organisierten Volksgemeinschaft, werden junge Ärzte ausgebildet, um nationalsozialistische Führer zu werden.“9 Vermutlich wurden zwischen 1935 und 1943 bis zu 10.000 Personen in Alt Rehse ausgebildet. Diese relativ hohe Zahl ist insofern nicht überraschend, als ungefähr die Hälfte aller deutschen Ärzte NSDAP-Mitglieder waren.10 Die meisten Kurse dauerten drei bis vier Wochen und befassten sich hauptsächlich mit Rassenhygiene und NS-Propaganda, aber auch mit Medizingeschichte. Letztere war ein wichtiges Propagandamittel, um die historische und angeblich auch gegenwärtige Größe der deutschen Wissenschaft zu vermitteln. In Alt Rehse unterrichteten führende Ärzte wie Kurt Blome (1894−1969) und Heinrich Grote (1888−1945) sowie Politiker wie Heinrich Himmler (1900−1945) und Alfred Rosenberg (1893−1946). Diese Auswahl an Lehrern macht deutlich, welch große Bedeutung dieser Institution beigemessen wurde. Vor und nach den Kursen gab es ein straffes Programm, das Sport, Gesang, landwirtschaftliche Arbeit und Flaggenhissung beinhaltete. In den letzten Jahren wurden zwei Dissertationen und eine Forschungsübersicht über Alt Rehse veröffentlicht,11 aber vieles ist trotzdem wegen der mangelhaften Quellenlage noch unbekannt. Materialien wie Teilnehmerlisten und Dokumente über Kursinhalte sind verschollen. Deshalb ist es teils schwierig zu rekonstruieren, wer Alt Rehse besuchte und was genau dort vor sich ging. Ich habe ein Gästebuch aus Alt Rehse einsehen dürfen, das in der Forschung bisher nicht berücksichtigt worden ist. Es befindet sich im Familienarchiv des Sohnes des ersten Rektors der Schule. Aus dem Gästebuch geht hervor, dass auch medizinisches Personal aus dem Ausland in Alt Rehse zu Gast war, und zwar aus 45 Ländern, unter ihnen besonders viele Schweden. Einige davon waren auch Kursteilnehmer. Weitere Forschungen sollen der Frage nachgehen, inwieweit diese ausländischen Ärzte von ihrem Besuch beeinflusst wurden und Konzepte in ihre Heimatländer mitbrachten. 9 Anonym, Richtfest in Alt-Rehse, in: Deutsches Ärzteblatt, 64 (1934), S. 1018f. 10 Michael H. Kater, Ärzte als Hitlers Helfer, Hamburg/Wien 2000. 11 Thomas Maibaum, Die Führerschule der deutschen Ärzteschaft Alt-Rehse, Münster/Ulm 2011; Wilhelm Boes, Zur Person und Bedeutung des Arztes Dr. Hans Deuschl (1891–1953) unter besonderer Berücksichtigung seiner Karriere in der Zeit des Nationalsozialismus, Berlin 2011; Rainer Stommer (Hg.), Medizin im Dienste der Rassenideologie – Die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ in Alt Rehse, Berlin 2008. In Kürze wird Anja K. Peters am Greifswalder Institut für Geschichte der Medizin ihre Dissertation zur Biographie der „Reichshebammenführerin“ Nanna Conti einreichen. Die Hebammenkurse in Alt Rehse und die guten Kontakte der Reichshebammenschaft nach Skandinavien werden darin thematisiert.

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Abbildung 2a/b: Seiten aus dem Gästebuch der Führerschule Alt Rehse

Der Reichsverein Schweden-Deutschland et consortes

Um die nationalsozialistischen Strömungen in der schwedischen Ärzteschaft 1933 bis 1945 beschreiben zu können, soll zunächst ihr Anteil in den nationalsozialistischen Vereinen Schwedens untersucht werden. In den 1930er Jahren gab es mehrere sogenannte deutschfreundliche Vereine, die besonders die akademischen Beziehungen zwischen Deutschland und Schweden förderten, sowohl in deutscher als auch in schwedischer Regie. Zur letzteren Kategorie gehörten Riksföreningen Sverige-Tyskland (RST, gegründet 1937), Samfundet Manhem (gegründet 1934) und SvenskTyska Föreningen12 (gegründet 1913). Es gab vermutlich verschiedene Motive, aus 12 Svensk-Tyska Föreningen sollte nicht mit Riksföreningen Sverige-Tyskland verwechselt werden. Letztere Vereinigung wurde 1913 auf Initiative des Politikers Sven Palme (1854–1934) gegründet und existiert bis dato. Laut der Homepage (http://www.svensk-tyskaforeningen.com, aufgerufen am 6.8.2013) ist der Zweck des Vereins der kulturelle und ideelle Austausch zwischen Schweden und Deutschland. Zwischen den Jahren 1933 und 1945 hat der Verein folgende deutsche Mediziner und Wissenschaftler zu einem Gastvortrag eingeladen: den Chirurg Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) am 8. November 1934 („Möglichkeit und Grenzen der Chirurgie“), den Reichsärzteführer Gerhard Wagner (1888–1939) am 4. März 1935 („Das Nativitätsproblem“), den Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti (1900–1945) am 21. April 1941 („Deutsche Gesundheitsführung im Krieg“) und den Arzt und Psychotherapeuten Matthias Heinrich Göring (1879–1945) am 1. Februar 1943 („Grundlagen der Psychotherapie“).

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denen heraus sich verhältnismäßig viele schwedische Ärzte in diesen Vereinen engagierten. Einige kannten Deutschland von Studienreisen und suchten den geistigen Austausch über die deutsche Kultur, andere traten aus politischen Gründen ein.13 Die Gründung des RST erfolgte 1937 durch einen Aufruf, den 407 Schweden unterschrieben, darunter viele Theologen, Offiziere, Juristen, Lehrer und Journalisten.14 Davon waren 38 Mediziner. Die meisten von ihnen waren in den 1880er oder in den 1890er Jahren geboren, aber im Mitgliederverzeichnis findet man sowohl junge Mediziner als auch Ärzte im fortgeschrittenen Alter.15 Im RST waren im Vergleich zu anderen nationalsozialistischen Vereinen besonders viele Ärzte organisiert. Das Ziel des Vereins war es, ein Forum zu schaffen, um über „das neue Deutschland“ zu diskutieren. Mit dem neuen Deutschland war nicht etwa Goethes, Schillers oder Lessings Deutschland gemeint, sondern das „Dritte Reich“. Das wird deutlich, wenn man die Vereinszeitschrift „Sverige-Tyskland“ durchblättert, deren Herausgabe die zentrale Aufgabe des Vereins war. In ihr wurde die „Kristallnacht“ verharmlost und die Vorgänge in Alt Rehse sehr wohlwollend beschrieben.16 Die ersten drei RST-Präsidenten kamen aus Lund: der Genetiker Herman NilssonEhle (1873−1949, Präsident 1937−1939, er schied beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges aus), der Philosoph Efraim Liljeqvist (1865−1941, Präsident 1939−1941) und der Theologe Hugo Odeberg (1898−1973, Präsident 1941−1945).17 Betrachtet man die Mitgliederzahlen, so erreichte der Verein 1942 den Höhepunkt seiner Wirksamkeit. Zu dieser Zeit gab es 5.600 Mitglieder. Ab 1943 sank die Zahl stetig. Zwischen 1937 und 1945 gab es ca. 200 Ärzte im Mitgliederverzeichnis, darunter nur eine Frau. Allgemeinärzte waren unter ihnen überrepräsentiert, die meisten von ihnen wohnten im Süden Schwedens.18 Viele der RST-Ärzte waren auch Mitglieder im Verein Samfundet Manhem, 13 Studienreisen von schwedischen Ärzten nach Deutschland in den Jahren 1933–1945 werden thematisiert in: Gunnar Richardson, Beundran och fruktan. Sverige inför Tyskland 1940–1942 [Bewunderung und Furcht. Schweden und Deutschland 1940–1942], Stockholm 1996 und Nils Hansson, Tre svenska läkares resor till Tredje Riket: kontexter, kontakter, konsekvenser [Die Reisen von drei schwedischen Ärzten nach Deutschland: Kontexte, Kontakten, Konsequenzen], in: Medicinhistorisk Tidskrift, 16 (2012), S. 69–89. 14 Sverige-Tyskland, 1 (1938). 15 Das Mitgliederverzeichnis wird in Lunds Universitätsbibliothek (Professor Hugo Odebergs arkiv) aufbewahrt. 16 Lilian von Rosen, Tillbaka till husläkaren (wie Anm. 8), S. 16–19. 17 Die Daten, die ich hier präsentiere, basieren auf einer Auswertung des Odeberg-Nachlasses in der Universitätsbibliothek Lund (Sammlung Hugo Odeberg). 18 Nils Hansson, Peter M. Nilsson, Läkarmedlemmar i Riksföreningen Sverige-Tyskland 1937– 1945. Vilka och varför? [Ärzte im RST 1937–1945. Welche und warum?], in: Svensk Medicinhistorisk Tidskrift, 11 (2007), S. 151–164.

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der den Hauptsitz in Stockholm hatte. Manhem wurde gegründet, um „Studium und Ausbildung in verschiedenen Gebieten nordischer Kultur und Gesellschaft mit besonderem Fokus auf der Ausbildung in einer evangelischen nordischen Lebensperspektive”19 zu fördern. Am 17. September 1934, dem Gründungstag Manhems, wurden 14 Ärzte als Mitglieder aufgeführt.20 Die Ärzte Ernst Bernhard Almquist (1852−1946) und Gösta Häggqvist (1891−1972) wurden in den Vorstand berufen. Wie im RST gab es auch in Manhem nationalsozialistische Ideenströmungen. 1939 schenkten Manhem, die Svensk-tyska föreningen und „enskilda svenska folkkamrater”“ [„einzelne schwedische Volkskameraden“] Adolf Hitler zum 50. Geburtstags eine Bronzefigur des schwedischen Königs Karl XII. (1672−1718). Dem schwedischen Historiker Sverker Oredsson zufolge war Karl XII. ein wichtiges Bindeglied zwischen Schweden und dem nationalsozialistischen Deutschland21 und darüber hinaus symbolisierte er die Feindschaft gegenüber Russland. Deshalb war er auch für die deutschen Nationalsozialisten eine Heldenfigur. Ernst Bernhard Almquist, Professor für Hygiene in Stockholm, unterschrieb die dazugehörige Glückwunschkarte: „Dem Führer Adolf Hitler am 20. April 1939. Schwedische Männer und Frauen, die in dem deutschen Führer und Volkskanzler Adolf Hitler den Retter Europas sehen, wollen hiermit ihrer tiefempfundenen Hochachtung und Dankbarkeit Ausdruck verleihen. Wir verbinden mit diesem Gruß eine Erinnerung an unseren großen König Karl XII., der in seinem schweren historischen Kampf von demselben Geist beseelt war, den wir Schweden unsererseits in Ihrem weltgeschichtlichen Einsatz für die Gründung Großdeutschlands und die Aufrechterhaltung Europas wahrnehmen.“22

Als Pendant zu den erwähnten schwedischen Organisationen gab es deutsche Initiativen, die gezielt akademische Verbindungen mit Schweden pflegten, darunter die Nordische Gesellschaft (NG) und das Deutsche Wissenschaftliche Institut (DWI) in Stockholm. Inwiefern NG und DWI mit schwedischen prodeutschen Vereinen kooperierten, ist noch wenig untersucht. Über die Schlüsselrolle der NG bei der ideologischen Infiltration des Nordens, die ihren Hauptsitz in Lübeck hatte und unter der 19 Manhems Folkbibliotek, Opolitiskt samfund för svenskhetens bevarande i Sverige. Stiftelseurkund fastställd den 17 september 1934 [Manhems Volksbibliothek, unpolitischer Verein für das Bewahren der schwedischen Sitten in Schweden], Stockholm 1936. 20 Erik Ahlqvist, Ernst Bernhard Almquist, Åke Berglund, Sune Crona, Leif Ekblom, Gunnar Frostell, Gösta Häggqvist, Martel Johansson, Dag Knutson, Bror Köhlberg, Edmond Lindholm, Einar Lindström, Walter Risinger und John Oscar Thorsson. 21 Sverker Oredsson, Schwedische Könige als Bindeglied. Zur versuchten Vereinnahmung Gustav II. Adolf und Karl XII. in nationalsozialistische Ideologie in Schweden und Deutschland, in: Frank-Michael Kirsch, Birgitta Almgren, Sprache und Politik im skandinavischen und deutschen Kontext 1933–1945, Aalborg 2003, S. 189–198, hier S. 193. 22 Oredsson, Schwedische Könige als Bindeglied (wie Anm. 21), S. 193.

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besonderen Schirmherrschaft von Alfred Rosenberg (1893−1946) stand, ist bereits an anderer Stelle aus schwedischer Perspektive ausführlich geschrieben worden.23 Hierbei wurden Fragen zur Sprache und Politik beleuchtet. Es wurde konstatiert, dass Begriffe wie nordisch/Norden und Aufnordung mit rassenbiologischen Konnotationen in Verbindung gebracht wurden und eine Schicksalsgemeinschaft der nordischen Völker insinuierten. Der Norden galt „als germanische Urheimat“ und „wurde zum Projektionsraum deutscher Sehnsüchte nach Schönheit und Stärke“.24 Diese „ideologische Polysemie“25 wurde verwendet, um die historische und gegenwärtige Nähe zwischen Deutschland und den nordischen Ländern zu untermauern. Das DWI in Stockholm bestand vom 1. September 1943 bis zum 8. Mai 1945 unter der Leitung des Agrikulturchemikers Fritz Giesecke (1896−1958). Dort wurden vor allem naturwissenschaftliche und medizinisch geprägte Aktivitäten verfolgt, „as the Swedes would have been suspicious and the Germans would not have expected success, if there had been German guest professors in such fields as history, social sciences and journalism“.26 Die schwedische Regierung hat die Arbeit des DWI deutlich erschwert, indem sie im Januar 1944 mitteilte, dass deutsche Wissenschaftler nicht mehr nach Schweden einreisen durften. Franz Alfred Six (1909−1975), seit 1942 Leiter der kulturpolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt und Mitglied der SS, nannte dies „Kultur-Boykott“ und stellte fest, dass Deutschland sich nun auf einige wenige Schweden fokussieren sollte, die noch zu Deutschland halten würden, statt zu versuchen, die großen Massen zu beeinflussen.27 Die prodeutsche Tendenz lässt sich als ein Phänomen dieser Zeit deuten. Deutschland war für die meisten Schweden das wichtigste Bezugsland: Deutsch war nicht nur die Wissenschaftssprache in Schweden, sondern auch (bis 1946) die erste Fremdsprache in der Schule. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Englisch abrupt die Lingua franca in der schwedischen Wissenschaft und zugleich erste Fremdsprache 23 Birgitta Almgren, Drömmen om Norden, nazistisk infiltration i Sverige 1933–1945 [Der Traum vom Norden – Nationalsozialistische Unterwanderung in Schweden 1933–1945], Stockholm 2005; Birgitta Almgren, Jan Hecker-Stampehl, Ernst Piper, Alfred Rosenberg und die Nordische Gesellschaft. Der „nordische Gedanke“ in Theorie und Praxis, in: NORDEUROPAforum, 2 (2008), S. 7–51. 24 Charlotta Brylla, Der semantische Kampf um den Begriff des Nordens in Schweden zur Zeit des Nationalsozialismus, in: Jan Hecker-Stampehl, Hendriette Kliemann-Geisinger (Hg.), Facetten des Nordens: Räume – Konstruktionen – Identitäten, Berlin 2009, S. 159–174, hier S. 161. 25 Brylla, Der semantische Kampf (wie Anm. 24), S. 159. 26 Frank-Rutger Hausmann, „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht“. Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2001. 27 Rainer Höll, Die Nordeuropa-Institute der Universität Greifswald von 1918 bis 1945. Mit vergleichenden Betrachtungen zur Greifswalder Nordeuropa-Forschung nach 1945, Greifswald 1997.

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in der Schule. Der Stockholmer Professor für Pharmakologie, Göran Liljestrand (1886−1968), deutet jedoch an, dass die Sprachumstellung – zumindest für Mediziner – nicht ganz so dramatisch war, sondern Teil eines längeren Prozesses, den man als Gegenbewegung zu den nationalsozialistischen Vereinen verstehen kann. Schon in den 1930er Jahren wurden in Stockholm am Karolinska Institut mehr Dissertationen auf Englisch als auf Deutsch veröffentlicht.28 Zeitschriften wurden umbenannt und kaum mehr von deutschen Verlagen betreut, um eine Distanz zu Deutschland zu manifestieren. So wurde beispielsweise die Zeitschrift „Skandinavisches Archiv für Physiologie“, die vor 1939 in Leipzig gedruckt wurde, ab 1940 unter dem Namen „Acta Physiologica Scandinavica“ in Stockholm herausgegeben.29 Nach 1939 nahm auch die Anzahl der Studienreisen nach Deutschland ab. Deutsche Ärzte, denen man eine Verstrickung in NS-politische Aktivitäten nachsagte, durften in den ersten Nachkriegsjahren nicht mehr an schwedischen Konferenzen teilnehmen. Gunnar Dahlberg (1893−1956), der Nachfolger Herman Lundborgs als Direktor des Rassenbiologischen Instituts in Uppsala, schrieb 1947 an den deutschen Arzt Otmar von Verschuer (1896−1969): „Zu dem im nächsten Jahr in Stockholm tagenden Kongress werden Einladungen an Erblichkeitsforscher, die politisch nicht blamiert sind, ergehen.“30 Ein brauner Lorbeerkranz? Ehrendoktornominierungen schwedischer Ärzte in Greifswald 1943/44

1944 sollte – neben anderen Kandidaten – ein schwedischer Mediziner die Ehrendoktorwürde in Greifswald erhalten. Es war üblich, dass eine solche Auszeichnung im Zusammenhang mit größeren Feiern oder Zeremonien verliehen wurde. So sollte es auch 1944, bei dem 25-jährigen Jubiläum des Schwedischen Instituts, geschehen. Überraschenderweise erhielt jedoch keiner der dafür vorgeschlagenen schwedischen Ärzte die Greifswalder Ehrendoktorwürde, denn: „[D]as Ministerium [hat] in der gegenwärtig gespannten deutsch-schwedischen Situation davon abgesehen, das in Aussicht genommene Jubiläum der hiesigen nordischen Institute zu begehen und deshalb auch die Frage der Ehrenpromotion fallen lassen.“31 28 Göran Liljestrand (Hg.), Karolinska Mediko-kirurgiska Institutets historia 1910–1960 [Die Geschichte des Karolinischen Medikochirurgischen Instituts 1910–1960], Bd. I, Stockholm 1960, S. 442–482. 29 Einige medizinische Zeitschriften wurden auch nach 1945 umbenannt von „Nordic“ zu „Scandinavian Journals“, um ihr damit einen angloamerikanischen Klang zu verleihen. 30 Brief von Gunnar Dahlberg an Otmar von Verschuer vom 8. August 1947, Archiv der MaxPlanck-Gesellschaft (AMPG), III. Abt., Rep. 86A, Nr. 217. 31 Stoeckel an Schultze vom 8.11.1943, Universitätsarchiv Greifswald (künftig: UAG), Med. Fak. I-565, Bl. 41.

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Aus diesem Grund wurden insgesamt nur zwei skandinavische Ehrendoktoren an der Universität Greifswald von 1933 bis 1945 ernannt, davon allerdings keiner aus Schweden.32 Dennoch ist es interessant, die Nominierungen zu untersuchen, um zu klären, nach welchen Kriterien der Dekan und die Medizinische Fakultät in Greifswald Kandidaten auswählten. Die Ehrenpromotion gibt es in Deutschland seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Der Titel Doctor honoris causa ist eine akademische Würde und kein akademischer Grad. Deshalb gibt sie dem Träger keine Lehrbefugnis und keine sonstigen akademischen Rechte. Die Entscheidung, wem diese Ehre erwiesen werden sollte, wurde damals von den jeweiligen Fakultäten gefällt. Ab den 1. April 1938 musste die Ehrenpromotion nicht nur vom Rektor genehmigt werden, sondern zusätzlich auch vom Reichs- und Preußischen Kultusminister.33 Am 22. März 1938 wurden dazu „Richtlinien für die Verleihung des Grades und der Würde eines Ehrendoktors“ für alle Universitäten in Deutschland erlassen.34 Als erster Punkt (1a) wurde dabei angeführt: „Voraussetzung für die Verleihung des Grades und der Würde eines Doktors oder Lizentiaten ehrenhalber sind hervorragende eigene wissenschaftliche Leistungen“. Weiterhin wurde erläutert, dass auch Parteimitglieder der NSDAP diese Auszeichnung bekommen können (1b), dass der Dekan der Fakultät mit Genehmigung des Rektors diesen Beschluss fasse (2a) und dass die Diplome in deutscher Sprache abgefasst sein sollen (2b). Sofern es sich um deutsche Staatsbürger handele, solle geprüft werden, „ob die für die Ehrung in Aussicht genommene Persönlichkeit bezw. deren Ehegatte deutschen oder artfremden Blutes [ist], und ob sie unter Berücksichtigung der früheren politischen Einstellung die unbedingte Gewähr dafür bietet, daß sie jederzeit rückhaltlos für den Nationalsozialismus eintritt (Punkt II)“.35 Die Ehrenpromotionen von Ausländern bedurften der expliziten Genehmigung des Ministers (Punkt III). Besondere Voraussetzungen waren hier nicht formuliert. In der Realität wurden die für die deutschen Kandidaten geforderte Gesinnungsprüfung aber auch hier angewandt. Die Greifswalder Medizinprofessoren schlugen schwedische Ärzte vor, die in ihren jeweiligen Fachgebieten tonangebend waren. So nominierte beispielsweise der Greifswalder Ophthalmologe Karl Velhagen (1897−1990) am 2. September 1943 seinen schwedischen Kollegen Johan Wilhelm Nordenson 32 Rolf Gelius, Ehrendoktoren und Ehrensenatoren der Universität Greifswald 1815–2005, in: Dirk Alvermann, Karl-Heinz Spieß (Hg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456–2006, Bd. 2, Stadt, Region, Staat, Rostock 2006, S. 291–330, hier S. 303. Die Norweger Vilhelm Friman Bjerknes (Philosophische Fakultät) und Claus Gustav Hansen (Medizinische Fakultät) wurden 1938 bzw. 1944 zu Ehrendoktoren ernannt. Vgl. UAG, Phil. Fak. II-110 sowie UAG, Altes Rektorat R 371a und UAG, Kurator K 130, Bl. 62. 33 Vgl. Gelius, Ehrendoktoren (wie Anm. 32), S. 303. 34 UAG, Altes Rektorat R 804, Bl. 145–150. 35 Universitätsarchiv Göttingen, Ordner Jur. 0256.

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(1883−1965): „Nordenson ist in unserem Fach der bedeutendste Vertreter in Schweden und erfreut sich auch in Deutschland und auch in der ganzen Welt eines großen Ansehens durch seine Arbeiten, namentlich auf dem Gebiete der physiologischen Optik. Er hat regelmäßig die Kongresse der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft besucht, dazu gelegentlich auch noch einen Assistenten mitgebracht. Auch in schweren Zeiten hat er zu uns gehalten, z.B. sich mit seiner ganzen Autorität dafür eingesetzt, daß der 1939 nach Wien geplante internationale Kongreß dort stattfinden sollte, trotzdem die feindlichen Länder mit allen Mitteln dem entgegen arbeiteten. […] Heil Hitler, Ihr sehr ergebener Velhagen [Unterschrift]“.36 Der Dekan der medizinischen Fakultät, Günther K.F. Schultze, erbat in einem Schreiben vom 29. September 1943 weitere Unterlagen zu folgenden Kandidaten: dem Chemiker Hans von Euler-Chelpin (1873−1964), Nobelpreisträger für Chemie 1929 („Er hat meines Wissens schon zahlreiche deutsche Ehrungen“), dem Physiologen Thorsten Thunberg (1873−1952) („Bei ihm kommt mir vor allem darauf an, seine Stellung zu Deutschland zu erfahren und sein Ansehen in schwedischen Kreisen“), dem Chemiker Theodor Svedberg (1884−1971), Nobelpreisträger für Chemie 1926, („Auch bei ihm interessiert mich vor allem seine Stellung zu Deutschland, seine Anerkennung in Schweden und event. schon verliehenen Ehrungen“) und dem Ophthalmologen Johan Wilhelm Nordenson (1883−1965) („Es interessiert mich seine Beurteilung durch die dortigen deutschen Kreise“), aber nicht zum Radiologen Gösta Forssell (1876−1950) („Seine Nennung habe ich schon fallen lassen, da mir Nachrichten zugingen, dass er sich antideutsch eingestellt habe“).37 Schultzes eigene Nominierung fiel zunächst auf den Gynäkologen Erik EssenMöller (1870−1956). Bevor er diese mit Nachdruck verfolgen wollte, holte er jedoch eine zweite Meinung von Walter Stoeckel (1871−1961) ein, dem Berliner Geheimrat und Direktor der Universitätsfrauenklinik in Berlin. Die Antwort war positiv im Sinne Schultzes: Stoeckel befürwortete sowohl Essen-Möller als auch seinen Nachfolger Axel Westman (1894−1960).38 Alle Nominierungen wurden danach an die deutsche Gesandtschaft in Stockholm geschickt, um dort weiter ausgewertet zu werden. Von dort kamen aus der Feder Heinz Krügers am 18. Oktober 1943 zunächst negative Beurteilungen: Von Euler sei „bereits soviel geehrt worden“, Thunberg sei, genau wie Essen-Möller, zu alt, Svedberg sei „dem Reich gegenüber scharf ablehnend eingestellt“ und Nordenson würde eine

36 UAG, Med. Fak. I-565. 37 Gutachten Schultze vom 29.9.1943, UAG, Med. Fak. I-565, Bl. 33. 38 Brief an Stoeckel vom 29.9.1943, UAG, Med. Fak. I-565, Bl. 34. Antwort erhalten am 5.10.1943, ebd., Bl. 35.

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solche Ehrung ablehnen.39 Hier stellt sich die Frage, ob das Alter insofern eine Rolle spielte, als man sich längerfristig wissenschaftliche Autoritäten als Multiplikatoren von NS-Propaganda wünschte. Als mögliche Kandidaten blieben zunächst nur Forssell und Westman. Die Kulturabteilung der Gesandtschaft war jedoch nicht zufrieden und beschloss nun ihrerseits, einen anderen Kandidaten vorzuschlagen.40 Die deutsche Gesandtschaft in Stockholm hatte zu diesem Zeitpunkt bereits viele Informationen über die politische Einstellung einzelner schwedischer Ärzte gesammelt. 1942 ließ sie eine Liste mit den Namen derjenigen schwedischen Ärzte erstellen, die sich eindeutig gegen Deutschland positioniert hatten. Zu diesen gehörten Gunnar Dahlberg (1893−1956) und Israel Holmgren (1871−1961).41 Holmgren war der wichtigste NS-Kritiker in der schwedischen Ärzteschaft. In seinem Buch „Nazisthelvetet“ [„Die Nazihölle“] schrieb er, dass er sich der Versuche der Deutschen, Schweden auf ihre Seite ziehen zu wollen, bewusst gewesen sei: „In allen Ländern, die von Deutschland besetzt sind, haben die Versuche der Nazis, das Land zu untergraben, die Basis für die Besatzung gelegt. Solche Aktivitäten sind in der ganzen Welt im Gange, auch hier in Schweden. Schweden kann insofern mit der Schweiz verglichen werden. Von dort hört man, dass die landesverräterischen Aktivitäten der Schweizer Nazis von Monat zu Monat größer werden, aber in der Schweiz behandeln sie die Nazis viel strenger als wir es hier tun.“42 Wegen dieses Buches wurde Holmgren mit der Begründung verurteilt, dass es den Grundsatz der schwedischen Neutralität verletze. Holmgren wurde jedoch begnadigt und veröffentlichte kurz darauf eine neue Ausgabe mit einem neuen – ironischen – Titel: „Nazistparadiset“ [„Das Naziparadies“]. So wenige kritische Stimmen es bei den schwedischen Medizinern auch gab, so niedrig war gleichzeitig die Anzahl derjenigen Ärzte, die das Hitler-Regime offiziell und ohne jede Einschränkung befürworteten. Die Stockholmer Gesandtschaft ließ 1942 auch eine Liste mit prodeutschen Schweden erstellen.43 Zu den zuverlässigsten schwedischen Nationalsozialisten wurden die Mediziner Gösta Häggqvist und Folke Henschen (1881−1977) gezählt. Wir fassen zusammen: Der optimale Greifswalder Ehrendoktor 1944 sollte wissenschaftlich anerkannt sein, bereit sein, nach Deutschland zu fahren, um den Preis entgegenzunehmen und – nicht zuletzt – offiziell positiv gegenüber der nationalsozialistischen Regierung eingestellt sein. Der Kulturabteilung der Gesandtschaft zufolge gab es einen 39 UAG, Med. Fak. I-565. 40 UAG, Med. Fak. I-565, Bl. 36–38. 41 Almgren, Drömmen om Norden (wie Anm. 23), S. 67–70. 42 Israel Holmgren, Nazistparadiset, Stockholm 1943, S. 24–25. 43 Almgren, Drömmen om Norden (wie Anm. 23), S. 67–70.

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Abbildung 3: Nachweiskarte über Gösta Häggqvist aus der Personenkartei der Nordischen Auslandsinstitute der Universität Greifswald

schwedischen Arzt, der sowohl in medizinischer als auch politischer Hinsicht positiv evaluiert wurde, und den sie deshalb mit Nachdruck nominierte: der Stockholmer Histologe Gösta Häggqvist, Professor für Histologie am Karolinska Institut und Mitglied der schwedischen nationalsozialistischen Partei Nationalsocialistiska Blocket. Ferner gehörte er zu den ärztlichen RST- und Manhem-Mitgliedern, die mit besonderem Engagement durch öffentliche Vorträge nationalsozialistische Propaganda in Schweden verbreiteten. In deutschen Medizinerkreisen war er bekannt, da er die Einladung des Reichsgesundheitsführers Leonardo Conti im Jahr 1943 angenommen hatte, als Experte die Massengräber in Winniza (Ukraine) zu begutachten. Dort wurden Tausende von Menschen in den Jahren 1937/38 durch Angehörige des sowjetischen Geheimdienstes NKWD erschossen. Häggqvist wurde Mitautor eines Gutachtens, das anschließend für Propagandazwecke des NS-Regimes genutzt wurde. In einem Brief an den Anatomen Ivar Broman (1868−1946) aus Lund vom 19. August 1943 schrieb Häggqvist: „Die Erlebnisse in Winniza waren furchtbar. Leider muss man annehmen, dass es in Russland hunderte von solchen Mordplätzen gibt, und was aus Europa werden würde, wenn die Bolschewiken regieren würden, das kann man sich gut vorstellen.“44 Ungefähr zur gleichen Zeit, im Jahr 1944, wurde Häggqvist als Gastdozent zum Thema „Faseranalyse des Nervensystems und einige damit erreichte Resultate“ nach Greifswald eingeladen – eine Reise, die er jedoch in letzter Sekunde aus logistischen Gründen absagen musste. Da Häggqvist der bedeutendste Mediziner in Schweden 44 Brief von Häggqvist an Broman, Lunds universitet, Universitetsbiblioteket, Sammlung Ivar Broman.

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war, der sich für das „Dritte Reich“ einsetzte, sollen im Folgenden seine wichtigsten Kontakte in Deutschland während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erläutert werden.

Der Brückenkopf Gösta Häggqvist mit besonderem Fokus auf seinen Kontakt zu Hermann Stieve

1942 wurde im Rahmen des fünfjährigen Jubiläums des RST ein Tagungsband herausgegeben. In diesem widmete Häggqvist seinen Beitrag der „fruchtbaren Zusammenarbeit deutscher und schwedischer Anatomen im 20. Jahrhundert“.45 Zu dieser zählte er sowohl hervorragende deutsche Anatomen jüdischer Herkunft wie Robert Remak (1815−1865)46 als auch zeitgenössische deutsche Anatomen wie Hermann Stieve (1886−1952).47 Untersucht man die anatomischen Verbindungen Häggqvists, war der Kontakt mit Hermann Stieve von zentraler Bedeutung. Stieve war ein wichtiges Bindeglied in der anatomischen Zusammenarbeit zwischen Schweden und Deutschland und laut Häggqvist „ein großer Schwedenfreund“.48 Stieve sprach Schwedisch49 und hatte durch seinen Bruder Friedrich Stieve (1884−1966), der im Ersten Weltkrieg als Presseattaché in der deutschen Gesandtschaft in Stockholm gearbeitet hatte und darüber hinaus mit einer Schwedin verheiratet war, Verwandte in Schweden. Hermann Stieve war Herausgeber der „Zeitschrift für mikroskopisch-anatomische Forschung“ und des „Morphologischen Jahrbuchs“. In diesen Foren ließ er regelmäßig Resultate schwedischer Anatomen veröffentlichen. 1953, nach dem Tod Stieves, veröffentlichte Häggqvist einen Nachruf auf

45 Sverige-Tyskland festskrift utgiven med anledning av femårsdagen för Riksföreningen SverigeTysklands grundande 14 dec. 1937 [RST-Festschrift am fünften Jahrestag], Lund 1942, S. 41. Stieve war 1921–1935 Professor für Anatomie an der Martin-Luther-Universität Halle. 1935– 1952 war er Direktor am Anatomischen Institut an der Charité. 46 Im Gegensatz zu anderen in Deutschland verfassten medizinhistorischen Übersichten, wo Wissenschaftler jüdischer Herkunft nicht erwähnt wurden wie beispielsweise: Bernward Gottlieb, Alexander Berg, Das Antlitz des germanischen Arztes in vier Jahrhunderten, Berlin 1942. 47 Hermann Stieve, Die Forschung an menschlichen Organen nach „plötzlichem Tod“ und der Anatom Hermann Stieve (1886–1952), in: Rüdiger vom Bruch (Hg.), Die Berliner Universität in der NS-Zeit, Bd. 2, Fachbereiche und Fakultäten, Stuttgart 2005, S. 35–54. 48 Svenska akademiens årsbok för år 1953 [Jahrbuch der Schwedischen Akademie], Stockholm 1953. 49 Stieve publizierte selber auch in schwedischen Zeitschriften, er beherrschte die schwedische Sprache recht gut, zumindest wenn man sich auf seine Briefkorrespondenz mit schwedischen Kollegen beruft.

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ihn im „Jahrbuch der schwedischen Wissenschaftsakademie“.50 Stieve, „ein großer und kräftiger Mann mit eiserner Physis“,51 so Häggqvist, sei einer der wichtigsten Forscher zur Reproduktionsmedizin in Deutschland gewesen. Häggqvist bewahrte während des Krieges Stieves „wichtigsten [histologischen] Präparate“ bei sich in Stockholm auf.52 Stieves Arbeit und Beziehung zum Nationalsozialismus wurden von Medizinhistorikern in Deutschland und in den USA eingehend beleuchtet. Bis heute werden seine Tätigkeiten kontrovers diskutiert.53 Häggqvist zufolge war Stieve Hitler gegenüber immer sehr kritisch (und war tatsächlich auch nie Mitglied der NSDAP). Das sei auch der Grund, weshalb er nie Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin wurde. Ohne Zweifel hat Stieve das juristische System im „Dritten Reich“ für seine Forschungen ausgenutzt. In einem Beitrag von Andreas Winkelmann und Udo Schagen wird die Forschung Stieves ethisch bewertet.54 Sie weisen nach, dass Stieve aus dem PlötzenseeGefängnis Leichen kurz nach der Hinrichtung erhalten und teilweise für Forschung und Lehre genutzt hat. Allerdings wurden Leichen Hingerichteter schon lange vor der NSZeit, als aufgrund der großen Zahl alle (!) deutschen Anatomischen Institute solche Leichen erhielten, und auch noch nach 1945 für Lehr- und Forschungszwecke verwendet. Am 15. Mai 1940 teilte Henning Pleijel (1873−1962), Professor für Elektrotechnik und Sekretär des Royal Swedish Academy of Sciences, Hermann Stieve mit, dass man ihn aufgrund seiner „leitenden Arbeiten auf dem Gebiete der Anatomie“ zum ausländischen Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Stockholm ernannt habe.55 Die anatomischen Studien waren jedoch nicht der einzige Grund, weshalb drei Stockholmer Professoren (Gösta Häggqvist, Gösta Forssell und Göran Liljestrand) Hermann Stieve nominiert hatten.56 Stieve habe sich den Nominatoren zufolge auch aktiv für eine starke Kooperation zwischen deutschen und schwedischen Anatomen eingesetzt, nicht zuletzt durch die Veröffentlichung zahlreicher Artikel schwedischer Anatomen in der „Zeitschrift für mikroskopisch-anatomische Forschung“. 50 Svenska akademiens årsbok (wie Anm. 48). 51 Svenska akademiens årsbok (wie Anm. 48). 52 Svenska akademiens årsbok (wie Anm. 48). 53 Andreas Winkelmann, Udo Schagen, Hermann Stieve’s Clinical-Anatomical Research on Executed Women During the „Third Reich”, in: Clinical Anatomy, 22 (2009), S. 163–171. 54 Andreas Winkelmann, Wann darf menschliches Material verwendet werden? Der Anatom Hermann Stieve und die Forschung an Leichen Hingerichteter, in: Sabine Schleiermacher, Udo Schagen (Hg.), Die Charité im Dritten Reich. Zur Dienstbarkeit medizinischer Wissenschaft im Nationalsozialismus, Paderborn 2008, S. 105–120. 55 Henning Pleijels Letter to Stieve, The Archive of the Royal Swedish Academy of Sciences, Letters From the Secretary 1940. 56 Henning Pleijels Letter to Stieve, The Archive of the Royal Swedish Academy of Sciences, Letters From the Secretary 1940.

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Die Freundschaft zwischen Häggqvist und Stieve beruhte auf gegenseitiger Wertschätzung. Drei Jahre später, 1943, wurde Gösta Häggqvist dank einer Nominierung Hermann Stieves als Mitglied in die Kaiserlich Leopoldinisch-Carolinische Deutsche Akademie der Naturforscher Halle (Saale) aufgenommen. Als Grund für die Nominierung führte Stieve zahlreiche anatomische Arbeiten Häggqvists auf. Darüber hinaus fügte er in seiner Nominierung vom 30. Januar 1943 hinzu: „Ganz abgesehen von seinen wissenschaftlichen Leistungen, die allein schon Grund genug wären, um HÄGGQVIST zum Mitglied der Kaiserlich Leopoldinisch-Carolinisch Deutschen Akademie der Naturforscher zu ernennen, darf ich aber noch folgendes hervorheben. HÄGGQVIST ist ganz ausgesprochen deutschfreundlich gesinnt und äußert diese seine Gesinnung bei jeder Gelegenheit, auch in der Jetztzeit, wo eine ganze Reihe von Schweden sehr englandfreundlich eingestellt sind und ihren Landsleuten, die die deutsche Gesinnung äußern, unter Umständen unfreundlich entgegentreten. HÄGGQVIST ist Mitglied der Anatomischen Gesellschaft und hat eine große Zahl ihrer Tagungen, die in Deutschland stattfanden, besucht, auch sonst hat er Deutschland mehrfach bereist. […] Im Jahre 1937 wurde in Schweden eine deutsch-schwedische Vereinigung57 gegründet, an der Professor HÄGGQVIST regelmäßig mitarbeitet. Sie dient gerade jetzt im Kriege dazu, die gute Beziehung zwischen Deutschland und Schweden aufrechtzuerhalten und zu festigen.“58 Ein Gutachten zu Häggqvist wurde durch das Senatsmitglied Albert Hasselwander (1877−1954) angefertigt, in dem der Erlanger Anatom die Nominierung unterstützte. Sie wurde ebenfalls von der deutschen Gesandtschaft in Stockholm und vom Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung befürwortet.59 Der Kontakt zwischen den beiden Anatomen blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg bestehen. 1951 nominierte Stieve Häggqvist sogar für den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Das war nicht das erste Mal, dass Stieve persönlich vom Stockholmer Nobelkomitee aufgefordert wurde, einen Mediziner für den Preis vorzuschlagen.60 Stieves Nominierung von Häggqvist an das Nobelkomitee 1950/51 für 57 58 59 60

Hiermit ist Riksföreningen Sverige-Tyskland gemeint. Häggqvists Nominierung durch Stieve, Leopoldina-Archiv, M 4697. Gutachten von Hasselwander über Häggqvist, Leopoldina-Archiv, M 4697. 1923/1924 wurde Stieve von dem Breslauer Anatomen Wilhelm Lubosch (1875–1938) nominiert: ”Die interessanten durchaus neue Wege gehenden und hochbedeutenden Untersuchungen St.’s dürfen mit Recht dem Nobelkomitee zur Prüfung auf Ihre Preiswürdigkeit hin vorgeschlagen werden.” Damit meinte Wilhelm Lubosch die Untersuchungen des Keimdrüsengewebes mit Fokus auf den Zwischenzellen und den generativen Zellen, ihren Einfluss auf die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale und ihre Veränderungen unter dem Einfluss äußerer Reize. Für die Möglichkeit der Einsichtnahme in das Archivmaterial der Nobel Archive (künftig: NA) danke ich Frau Ann-Mari Dumanski am Nobel Committee for Physiology or Medicine, Medicinska Nobelinstitutet, Nobels Väg 1, Solna.

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die „höchste Auszeichnung, die einem Forscher zuteil werden kann“,61 lautete: „Unter allen diesen [morphologischen] Arbeiten des Jahres 1950 nehmen zweifellos die Untersuchungen des schwedischen Histologen Professor Dr. G. Häggqvist in Stockholm einen ganz hervorragenden Platz ein, und ich gestatte mir deshalb, ihn für den Nobelpreis 1951 vorzuschlagen. Häggqvist hat die hierher gehörenden Untersuchungen schon vor drei Jahren begonnen. […] Ohne auf die Einzelheiten der Untersuchungsergebnisse einzugehen, sie wurden in der Arbeit ‚Studies in triploid rabbits produced by Colchicine‘ in Hereditas, Band 36 (1950) veröffentlicht, darf ich hier bloss über die wichtigsten Ergebnisse der Beobachtungen berichten, über die Häggqvist auf der Anatomentagung, die im August 1950 in Kiel stattfand, vorgetragen hat. […] Die Beobachtungen, über die Häggqvist berichtete, haben ungeheures Aufsehen erregt. Alle Anatomen, die an der Kieler Tagung teilnahmen, waren sich darüber einig, dass die Mitteilung von Häggqvist mit Abstand der wichtigste Vortrag der ganzen Tagung war. Das Wesentliche an seinen Untersuchungen ist die Tatsache, dass es ihm als ersten gelungen ist, bei Säugetieren polyploide Nachkommen zu erzielen und dadurch unmittelbar in den Erbgang dieser Tiere einzugreifen. […] Wie die weiteren Versuche auch ausfallen mögen, es steht jedenfalls ausser allem Zweifel, dass Häggqvist durch seine mühsamen und sorgfältig ausgeführten Beobachtungen der Forschung ganz neue Wege eröffnet hat, und dass er es deshalb wohl verdient, den Nobelpreis zu erhalten.“62 Das Nobelkomitee beauftragte den Stockholmer Genetiker Gert Bonnier (1890−1961), ein Gutachten über die Forschung Häggqvists zu schreiben.63 Bonnier war der Ansicht, dass Häggqvists Colchicin-Experimente zwar von großer Bedeutung seien, aber da auch andere vor Häggqvist zu ähnlichen Ergebnissen gekommen wären, könne ein Nobelpreis nicht infrage kommen. Dass Häggqvist und Stieve einander für die Jahre 1937 bis 1945 für den Nobelpreis nicht nominiert haben, mag an politischen Faktoren gelegen haben. Am 30. Januar 1937, exakt vier Jahre nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten in Deutschland, trat ein Erlass des „Führers und Reichskanzlers“ in Kraft, nach dem deutschen Bürgern die Annahme eines Nobelpreises „für alle Zukunft untersagt“ wurde. Als Alternative zum Nobelpreis schuf Hitler den Deutschen Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft. Es ist bemerkenswert, dass − trotz seiner offiziellen nationalsozialistischen Haltung − keine deutliche Zäsur in Häggqvists Karriere nach 1945 festzustellen ist. Nach dem 61 NA 1951 Gruppe 1 (Stieve). 62 NA 1951 (Stieve). In diesem Jahr wurde Häggqvist auch von dem Münchener Anatomen Benno Romeis (1888–1971) nominiert. 63 Gutachten von Gert Bonnier über Gösta Häggqvist, Stockholm am 24. März 1951, NA 1951, Avd. II:9.

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Krieg bekleidete Häggqvist wichtige Positionen: Von 1944 bis 1959 konnte er als Teil des Lehrerkollegiums am Karolinska Institut die Vergabe der Nobelpreise beeinflussen. Er war Präsident des Schwedischen Ärztebundes in den Jahren 1951/1952 und in Deutschland war er 1953 bis 1954 Präsident der Anatomischen Gesellschaft.64 Das ist auffällig, wenn man die Karrieren anderer bekannter Schweden, die gute Verbindungen mit der NSDAP hatten, beleuchtet: Für viele von ihnen scheinen derartige Kontakte negative Konsequenzen gehabt zu haben. Dies gilt beispielsweise für den Literaturwissenschaftler Fredrik Böök (1883−1961), für den Geographen Sven Hedin (1865−1952) und für die Sängerin Zarah Leander (1907−1981). Dass dies bei Medizinern nicht der Fall war, kann damit zusammenhängen, dass es schwierig war, eindeutig zu benennen, was genau „nationalsozialistische Medizin“ war. Schließlich gab es in Schweden auch moralisch anstößige Humanexperimente und, wie bereits erwähnt, bis 1975 auch strenge Sterilisierungsgesetze.

Ausblick

Es ist bekannt, dass das im Zweiten Weltkrieg offiziell neutrale Schweden NSDeutschland als Eisenerzlieferant, als Transitland für deutsche Truppen und als Handelspartner unterstützte. Aber wie sahen die Beziehungen in der Medizin zwischen den Ländern in den Jahren von 1933 bis 1945 aus? Es ist nicht überraschend, dass im Schweden der 1930er und 1940er Jahre das Interesse an deutscher Medizin groß war. Über Jahrhunderte hinweg wurden schwedische Ärzte durch die medizinischen Fortschritte in Deutschland beeinflusst, besonders in der Mitte des 19. Jahrhunderts während des goldenen Zeitalters der Bakteriologie und der Chirurgie. Seit dieser Zeit schrieben viele schwedische Ärzte ihre Dissertationen und wissenschaftlichen Artikel auf Deutsch. Die Begeisterung für die deutsche Wissenschaft sollte jedoch nicht konstant bleiben. Der schwedische Diplomat Torsten Örn schrieb über das Verhältnis der Länder im 20. Jahrhundert: „Schwedens Beziehung zu Deutschland ist von einem stärkeren Auf und Ab geprägt als jene zu anderen Ländern“.65 Der Schwedische Ärztebund (SLS) wurde besonders in den 64 Die Anatomische Gesellschaft wurde 1886 in Leipzig gegründet. Zu den schwedischen Ehrenmitgliedern gehörten Gustaf Retzius (1842–1919) und Carl-Magnus Fürst (1854–1935). Winkelmann zeigt, dass es 13 schwedische Mitglieder in den Jahren 1932–1950 gab. 1930 war der Anatom Torsten J:son Hellman (1878–1944) im Vorstand. Vgl. Andreas Winkelmann, The Anatomische Gesellschaft and National Socialism: A Preliminary Analysis Based on the Society Proceedings, in: Annals of Anatomy, 194 (2012), S. 243–250, hier S. 245. 65 Torsten Örn, Politiska relationer mellan Sverige och Tyskland under 1900-talet [Politische Be-

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Kriegsjahren zunehmend skeptischer gegenüber der deutschen Regierung. 1943 protestierte der SLS offiziell in einem Schreiben, nachdem norwegische Studenten und Dozenten in Internierungslager geschickt worden waren.66 In diesem Beitrag wurden drei Knotenpunkte in den deutsch-schwedischen Verbindungen in der Medizin von 1933 bis 1945 benannt: die Führerschule der deutschen Ärzteschaft in Alt Rehse, Ärzte in schwedischen, nationalsozialistischen Vereinen und die geplante – und primär politisch begründete – Ehrenpromotion Gösta Häggqvists in Greifswald 1944. Dem Gießener Medizinhistoriker Volker Roelcke zufolge hat sich die Forschung zur Medizin im Nationalsozialismus bisher auf vier Themenbereiche konzentriert: erstens auf die politisch bedingten Entlassungen und Umstrukturierungen nach 1933, zweitens auf die rassenhygienisch oder ökonomisch motivierten Maßnahmen, drittens auf die medizinische Forschung an rassisch oder erbgesundheitlich als „minderwertig“ eingestuften Menschen und viertens auf Zwangsarbeit in den medizinischen Institutionen.67 Ich bin der Meinung, dass man eine transnationale Perspektive als fünften Punkt hinzufügen sollte, in dem Deutschlands Beziehungen in der Medizin zu seinen Nachbarländern in der Zeit zwischen 1920 und 1960 stärker beleuchtet werden sollten, um thematische, strukturelle und personelle Kontinuitäten zu untersuchen.

ziehungen zwischen Schweden und Deutschland im 20. Jahrhundert], in: Judith Black (Hg.), Tyskland och Sverige: möten och impulser [Deutschland und Schweden: Begegnungen und Impulse], Borås 1999, S. 104–114. 66 Svenska Läkaresällskapets Förhandlingar, 7/12 (1943), S. 857. 67 Volker Roelcke, Medizin im Nationalsozialismus. Historische Kenntnisse und einige Implikationen, in: Sigrid Oehler-Klein (Hg.), Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. Personen und Institutionen, Umbrüche und Kontinuitäten, Stuttgart 2007, S. 13–32.

Walther Schulze-Soelde (1888–1984): „Wüßten wir doch, was kommen muß!“ Der Opportunismus eines Geisteswissenschaftlers und seine erziehungswissenschaftliche Revisionskompetenz1 im Zeitenwandel

Andreas Pehnke und Ulrich Wiegmann In der (alt-)bundesdeutschen Auseinandersetzung um das Verhältnis von Pädagogik/ Erziehungswissenschaft und Nationalsozialismus seit den 1980er Jahren − mit dem 12. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft im März 1990 in Bielefeld2 als vorläufigem Höhepunkt − ist immer wieder und gleichsam wortführend von Wolfgang Keim3 auf Affinitäten und Schnittmengen, aber auch auf Differenzen der deutschen Pädagogik vor 1933 zur nationalsozialistischen Ideologie aufmerksam gemacht worden. Antidemokratische Potenziale in der Erziehungswissenschaft wurden vor allem der geisteswissenschaftlichen Pädagogik und speziell ihren Repräsentanten Eduard Spranger und Wilhelm Flitner, aber auch Herman Nohl an1

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Der Begriff „Revisionskompetenz“ wird von uns im Sinne der Fähigkeit bzw. des Vermögens gebraucht, wissenschaftliche Standpunkte, Meinungen, Auffassungen, Bekenntnisse und dergleichen derart umzudeuten oder vollkommen neu bis entgegengesetzt zu vormalig vertretenen Standpunkten etc. zu interpretieren, dass die als Korrektur, Änderung bzw. Neupositionierung verstandene Revision plausibel erscheint, folglich möglichst geringe, d.h. das Ansehen der Person nicht nachhaltig schädigende Spuren hinterlässt und den gesellschaftlichen Status als Wissenschaftler über gesellschaftsgeschichtliche Zäsuren hinweg sichert oder gar befördert. Die Kompetenz, wissenschaftliche Auffassungen etc. zu revidieren, ist u.E. ebenso Bedingung der Revision wie die Bereitschaft dazu. Beides zusammen charakterisiert den Typus des an wechselnde Herrschaftsverhältnisse oder (grundlegend) veränderte soziale Verhältnisse erfolgreich angepassten Wissenschaftlers. Vgl. Dietrich Benner, Volker Lenhart, Hans-Uwe Otto (Hg.), Bilanz für die Zukunft: Aufgaben, Konzepte und Forschung in der Erziehungswissenschaft. Beiträge zum 12. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vom 19. bis 21. März 1990 in der Universität Bielefeld (Zeitschrift für Pädagogik; 25. Beiheft), Weinheim u. Basel 1990, S. 93–122. Vgl. bes. Wolfgang Keim (Hg.), Pädagogen und Pädagogik im Nationalsozialismus. Ein unerledigtes Problem der Erziehungswissenschaft, Frankfurt am Main u.a. 1988; Wolfgang Keim (Hg.), Erziehungswissenschaft und Nationalsozialismus - Eine kritische Positionsbestimmung (Forum Wissenschaft; Studienheft 9), Marburg 1990; Wolfgang Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur, Bd. 1, Antidemokratische Potentiale, Machtantritt und Machtdurchsetzung, Darmstadt 1995; Wolfgang Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur, Bd. 2, Kriegsvorbereitung, Krieg und Holocaust, Darmstadt 1997.

Walter Schulze-Soelde (1888–1984)

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gelastet.4 Spranger und Flitner bekundeten in der Zeitschrift „Die Erziehung“ 1933 eine Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus, die durch eine Gemengelage aus Zustimmung und Vorbehalten, Affinität und Differenz charakterisiert war.5 Der nicht weniger namhafte Theodor Litt hingegen ließ sich wegen seiner Abneigung gegenüber den braunen Machthabern bekanntlich am Ende der Konsolidierungsphase des Regimes vorzeitig in den Ruhestand versetzen. Der in Greifswald habilitierte Walther Schulze-Soelde gehört nicht in diese erste Reihe namhafter geisteswissenschaftlicher Pädagogen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.6 Karl Christoph Lingelbach rechnet ihn jener Gruppe geisteswissenschaftlicher Pädagogen zu, die von der Machtübertragung an Hitler profitierten.7 Unter Bezugnahme auf Lingelbachs Studie nennt Wolfgang Keim folgende Hochschullehrer, die – neben den maßgeblichen Nazipädagogen Ernst Krieck und Alfred Baeumler – noch vor der sogenannten Machtergreifung ideologisch und politisch mit der „nationalen Bewegung“ sympathisierten und nach der Machtübertragung an Hitler vollends in die Linie „nationalsozialistischer Erziehungswissenschaft“ einschwenkten: Oswald Kroh in Tübingen, Gerhard Pfahler in Gießen und später in Tübingen, Rudolf Lochner in Breslau, Georg Stickler in Freiburg, Gustav Deuchler in Hamburg, Hans Volkelt in Leipzig, Otto Schultze in Königsberg, Oskar Kutzner in Bonn und eben auch Walther Schulze-Soelde in Greifswald.8 4

Vgl. zum Verhältnis geisteswissenschaftlicher Pädagogik/Pädagogen zum Nationalsozialismus auch Heinz-Elmar Tenorth, Pädagogisches Denken, in: Dieter Langewiesche, Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. V, Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 111–153. 5 Die Artikel von Eduard Spranger „März 1933“ und Wilhelm Flitner „Die deutsche Erziehungslage nach dem 5. März 1933“ erschienen im Aprilheft des 8. Jahrgangs (1932/33) der Zeitschrift „Die Erziehung“, S. 401–408 u. S. 408–416. Adalbert Rang deutet die Stellungnahmen beider namhafter geisteswissenschaftlicher Pädagogen als ein „Ja, aber“ zur nationalsozialistischen „Machtergreifung“. Vgl. Adalbert Rang, Spranger und Flitner 1933, in: Keim (Hg.), Pädagogen und Pädagogik im Nationalsozialismus. Ein unerledigtes Problem der Erziehungswissenschaft, Frankfurt am Main u.a. 1988, S. 65–78; Ulrich Herrmann, „Die Herausgeber müssen sich äußern“. Die „Staatsumwälzung“ im Frühjahr 1933 und die Stellungnahmen von Eduard Spranger, Wilhelm Flitner und Hans Freyer in der Zeitschrift „Die Erziehung“. Mit einer Dokumentation, in: Ulrich Herrmann, Jürgen Oelkers (Hg.), Pädagogik und Nationalsozialismus, Weinheim und Basel 1989, S. 281–325. 6 Vgl. Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Teil 1, Berlin 2002, S. 164. 7 Vgl. Karl Christoph Lingelbach, Erziehung und Erziehungstheorien im nationalsozialistischen Deutschland. Ursprünge und Wandlungen der 1933–1945 in Deutschland vorherrschenden erziehungstheoretischen Strömungen, ihre politische Funktion und ihr Verhältnis zur außerschulischen Erziehungspraxis im „Dritten Reich“, Frankfurt am Main 21987, S. 153f., 330 und 364. 8 Vgl. Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 388, Anm. 47 sowie

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Andreas Pehnke und Ulrich Wiegmann

In der Tat berief sich Schulze-Soelde erziehungswissenschaftlich bzw. pädagogisch im Besonderen auf die Kulturpädagogik Eduard Sprangers und Theodor Litts. Wie HeinzElmar Tenorth in seiner Rezension der „Pädagogik in Österreich“ von Wolfgang Brezinka schreibt, lehrte Schulze-Soelde in seiner Innsbrucker Zeit „Pädagogik und Philosophie aus seinem eigenen Verständnis einer legitimen NS-Erziehungsideologie“ heraus.9 Ein wenig an eigensinniger Differenz zur nationalsozialistischen Weltanschauung schwingt in dieser Formulierung mit, wenngleich Brezinka eigentlich keinen Anlass für einen solchen Zweifel an der unbedingten NS-Konformität des pädagogischen Denkens Schulze-Soeldes als Lehrstuhlinhaber in Innsbruck gibt. Gleichwohl schürt Tenorth die Erwartung, bei Schulze-Soelde so etwas wie Nähe und Distanz gegenüber der nationalsozialistischen (Erziehungs-)Ideologie entdecken zu können, und zwar erst recht in seinen Veröffentlichungen von vor 1933. Vor dem Hintergrund des durch den Greifswalder Universitätsarchivar Dirk Alvermann initiierten und 2011 durch das Rektorat der Universität beschlossenen Forschungsprojektes zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit der Universität Greifswald ist es uns ein Anliegen, Schulze-Soeldes Leben und Werk in den gesellschaftlichen Umbrüchen während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts näher zu beleuchten. In der Quintessenz – das sei vorab bereits gesagt – werden wir zeigen, dass die Zuordnung Schulze-Soeldes zu den Sympathisanten der sogenannten nationalsozialistischen Bewegung vor 1933 schwerlich haltbar ist und selbst die Zuschreibung als Nutznießer der braunen Diktatur zu undifferenziert erscheint.10 Allein seine Anpassungsbereitschaft an die Politik und Ideologie der Nationalsozialisten nach 1933 steht außer Frage. Aber auch hier lohnt es sich, seine Motive sozial- und lebensgeschichtlich zu beleuchten.

Leben und Werk in den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts

Wir werden Schulze-Soelde zunächst berufsbiografisch vorstellen. Dabei sollen die zwei Dekaden seiner Greifswalder Jahre (seit 1919) im Mittelpunkt stehen. Nach ersten Konflikten im Kontext seines Habilitationsverfahrens, die sich im Rahmen seiner Ernennung zum unbezahlten außerordentlichen Professor noch verschärften, wurde früh absehbar, dass er kaum eine Berufungschance auf ein Ordinariat erhalten Lingelbach, Erziehung und Erziehungstheorien (wie Anm. 7), S. 153f. 9 Heinz-Elmar Tenorth, Rezension Wolfgang Brezinka: Pädagogik in Österreich, Band 2, in: Zeitschrift für Pädagogik, 50 (2004) Nr. 6, S. 933–936, hier S. 934. 10 Im Übrigen ist Keims Bezug auf Lingelbach insofern fragwürdig, als dieser auf Schulze-Soeldes nationalsozialistische Aktivitäten erst seit (!) 1933 Bezug nimmt.

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würde. Mit lediglich zwei Lehraufträgen an der Philosophischen und der Rechts- und Staatwissenschaftlichen Fakultät hielt er seine Familie mit zwei Kindern über Wasser.11 Ideologisch folgte er 1933 – getrieben von einem geradezu ungehemmt wirkenden Karrierismus − seinem Greifswalder Förderer Hermann Schwarz, der sich mit völkischem Gedankengut zu profilieren suchte. Schulze-Soelde diente sich in der Folge enthusiastisch den Nationalsozialisten an. 1939 schließlich bekam er doch noch einen Ruf auf einen Lehrstuhl an der Universität Innsbruck. Abbildung 1: Walther Schulze-Soelde (ca. 1930)12

Nach 1945 knüpfte er an seine Auffassungen aus der vorfaschistischen Zeit an und fiel überdies durch seine hervorgekehrte Abneigung gegenüber totalitären Radikalismen auf.13 Da war Schulze-Soelde in Innsbruck bereits wieder entlassen worden, weil er zu jenen Professoren gehörte, die unter deutscher Herrschaft aus dem „Altreich“ berufen worden waren. Er zog sich nach München zurück und erhielt dort ab 1950 einen Lehrauftrag für Philosophie an der Universität. Ein weiterer kam 1956 an der Technischen Hochschule hinzu. Zum 1. Dezember 1964 wurde ihm der Rechtsstatus eines emeritierten ordentlichen Professors der Universität München verliehen.14 Am 24. Juli 1984 vollendete sich sein langes Leben. Geboren wurde Walther Schulze-Soelde am 26. April 1888 als Sohn eines Oberstaatsanwalts und späteren Generalstaatsanwalts in Dortmund. Hier besuchte er auch die Schule und bestand 1907 die Reifeprüfung. Nach einem längeren Kuraufenthalt im Schwarzwald begann er 1908 mit dem juristischen Studium in Freiburg. Vor dem Examen, das er 1911 in Münster ablegen wollte, zwang ihn ein neuerlicher Krank11 Zur Familie Schulze-Soelde, die zunächst in der Stralsunder Straße 16aII und sodann in der Greifswalder Bahnhofstr. 33 wohnte, gehörten – neben dem Vater – die Ehefrau Helene, geb. Cremer (Jg. 1889), Sohn Joachim Friedrich (Jg. 1924) und Tochter Dagmar (Jg. 1929). 12 Wolfgang Brezinka, Pädagogik in Österreich. Die Geschichte des Faches an den Universitäten vom 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Bd. 2, Pädagogik an den Universitäten Prag, Graz, Innsbruck, Wien 2003, S. 908. 13 Vgl. Walther Schulze-Soelde, Erneuerung des politischen Denkens aus dem Geist des Humanismus, Meisenheim a. Glan 1971 sowie Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie (wie Anm. 6), S. 163ff. 14 Vgl. Brezinka, Pädagogik in Österreich (wie Anm. 12), S. 445.

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heitsausbruch, nach Süddeutschland zurückzukehren und seine Interessen auf die Philosophie zu verlegen. Nach seiner Promotion zum Dr. jur. mit einer Dissertation über ein zivilprozessuales Thema (Heidelberg 1912)15 und einem kurzen Aufenthalt in London nahm er bei Wilhelm Windelband ein Philosophiestudium in Heidelberg auf. Abgestoßen vom „einseitigen Kantianismus“, studierte er beispielsweise im Wintersemester 1914/15 auch bei Hermann Cohen und Paul Natorp. Nach Windelbands Tod schloss sich Schulze-Soelde Hans Driesch an. „Voller Entrüstung“, so Schulze-Soelde rückblickend, „über die unheilbare Zersplitterung der deutschen Philosophie der Gegenwart, suchte ich nochmals bei den Klassikern, insbesondere bei den Philosophen Plato, Spinoza, Kant, Fichte und Hegel neue Kraft für eigenes Schaffen.“16 1916 promovierte er bei Driesch in Heidelberg mit magna cum laude über „Die Methode Spinozas im Lichte Kants“.17 Er trat in engeren Kontakt zum gerade nach Heidelberg berufenen Heinrich Rickert, hörte in Erlangen bei Richard Falckenberg und Paul Hensel sowie im Sommersemester 1917 bei Heinrich Maier und Georg Elias Müller in Göttingen. In dieser Zeit entstand unter Rickerts Einfluss eine Arbeit über die Grundlagen der historischen Erkenntnis.18 Als Landsturmmann im Bürodienst nahm Schulze-Soelde vom Herbst 1917 bis zum Januar 1919 am Ersten Weltkrieg teil.19 Die Greifswalder Jahre

Anfang 1919 siedelte er nach Greifswald über, um weltanschauliche Affinitäten zu den Arbeiten der Ordinarien Johannes Rehmke und Hermann Schwarz für seine akademische Karriere auszunutzen.20 Er schrieb: „Infolge der politischen Umwälzungen wurden meine geschichtsphilosophischen Bemühungen ausschließlich auf die Frage

15 Die Dissertation wurde im darauffolgenden Jahr veröffentlicht: Walther Schulze-Soelde, Rechtsoder Tatsachenanführung in der Klagebegründung, Borna bei Leipzig 1913. 16 Zit. n. Hochschullehrerkartei Schulze-Soelde, Bundesarchiv Berlin (künftig: BArch), R 4901/13276. Vgl. insgesamt auch Universitätsarchiv Greifswald (künftig: UAG), PA 1993 (Schulze-Soelde). 17 Vgl. Walther Schulze-Soelde, Die Methode Spinozas im Lichte Kants. Eine Studie über Dogmatismus und Kritizismus, Hamm (Westf.) 1916. 18 Walther Schulze-Soelde, Geschichte der Wissenschaft, Berlin 1917. 19 Vgl. Hochschullehrerkartei Schulze-Soelde, BArch, R 4901/13276 sowie UAG, PA 1993 (Schulze-Soelde). 20 Rehmke und Schwarz, beide ordentliche Professoren für Philosophie, leiteten seit Dezember 1911 das Philosophische Seminar der Universität Greifswald als gleichberechtigte Direktoren. Für unseren Untersuchungszusammenhang ist es bedeutsam, dass Schwarz zum 1. April 1933 aus Altersgründen emeritiert wurde, aber im darauffolgenden Sommersemester 1933 noch Vorlesungen hielt.

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der Wertgemeinschaft und des Staates eingestellt.“21 Die Ergebnisse seiner Forschung legte er 1920 mit dem Titel „Der Einzelne und sein Staat“22 der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald als Habilitationsschrift vor. Gegen den Widerstand von Ernst Bernheim, einem renommierten Methodologen der Geschichtswissenschaften und – gemeinsam mit seinem Greifswalder Kollegen Hans Schmidtkunz – Begründer der Gesellschaft für Hochschulpädagogik, beschlossen Rehmke und Schwarz, den Bewerber, dessen Kolloquiumsleistung mit dem Titel „Die Form des Gesetzes in der Geschichte und Natur“ wiederum Bernheims Kritik herausforderte, dennoch zu habilitieren. Schulze-Soelde erhielt 1920 die venia und 1922 einen Lehrauftrag für Ethik und Ästhetik.23 Das Frühwerk

In seiner Analyse der deutschen Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich zählt Christian Tilitzki Schulze-Soelde – neben Julius Stenzel und Reinhard Kynast (beide Breslau), Oskar Becker (Freiburg), Eugen Herigel und Erich Frank (beide Heidelberg), Helmuth Plessner und Ernst Barthel (beide Köln), Johannes Tyssen (Bonn), Fritz Heinemann (Frankfurt am Main) sowie Gerhard Stammler (Halle an der Saale) – zu einer Gruppe von liberalen Wissenschaftlern, die sich zu Beginn der ersten deutschen Republik habilitiert hatten.24 Während der gesamten Weimarer Republik blieb Schulze-Soelde im Bann seines Lehrers Driesch, der 1921 nach Leipzig berufen wurde. Drieschs Philosophie lässt sich nur schwerlich einer der bekannten Strömungen der Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zuordnen. Er machte sie für eine humanistische Ethik fruchtbar, die eng mit seinem politischen Engagement als linksliberaler Intellektueller zur Ächtung von Kriegen, des Nationalismus und Chauvinismus, Rassismus, Antisemitismus und Kolonialismus in Verbindung stand. Drieschs öffentliche Kritik an nationalsozialistischen Ausschreitungen brachte ihm 1933 die vorzeitige Emeritierung durch die Nazis ein. Schulze-Soelde nahm 1927 den 60. Geburtstag seines Lehrers Driesch, den er respektvoll einen „Vorkämpfer demokratisch-pazifistischer Ideen“ nannte, zum Anlass, eine Würdigung zu publizieren, in der er die Grundzüge von dessen Werk erläuterte.25 21 Hochschullehrerkartei Schulze-Soelde, BArch, R 4901/13276 sowie UAG, PA 1993 (SchulzeSoelde). 22 Vgl. Walther Schulze-Soelde, Der Einzelne und sein Staat, Leipzig, Berlin 1922. 23 Vgl. UAG, Phil. Fak. I-359, Bd. 3, Dekanat Hans Glagau. Offiziell habilitierte Schulze-Soelde bei Johannes Rehmke. 24 Vgl. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie (wie Anm. 6), S. 164f. 25 Vgl. Walther Schulze-Soelde, Hans Driesch. Zum 60. Geburtstag (28. Oktober 1927), in: Neue

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Inspiriert durch Driesch, wandte sich Schulze-Soelde auch in weiteren Arbeiten gegen eine „falsche Idealisierung der Machtpolitik“ und der damit im Zusammenhang stehenden „Geringschätzung der Persönlichkeit“. Weil für Schulze-Soelde die „Persönlichkeit“ das „regulative Prinzip für die Gesellschaft“ blieb und der Staat keinesfalls von vornherein höhere Rechte gegenüber dem Individuum beanspruchen dürfe, sollten Staat und Staatengemeinschaft der „sittlichen Beurteilung“ nach Maßgabe einer überzeitlichen Idee der Gerechtigkeit unterliegen.26 Deutschland habe die Wahl zwischen „Befreiungskrieg oder Paneuropa“, resümierte Schulze-Soelde. Seine Ausführungen über den angeblich natürlichen, unausrottbaren Trieb zwischenmenschlicher Vereinheitlichung und den damit ganz unvermeintlich heraufkommenden „Staatenstaat“ legen es nahe, dass er – noch immer unter dem Einfluss seines pazifistischen Lehrers Driesch stehend – bei aller politischen Unentschlossenheit für „Paneuropa“ votierte; zumal, so Schulze-Soelde, die fortschreitende Vermenschlichung des Staates, der Sieg der Rechtsordnung und die allmähliche Abschaffung der Kriege erstrebenswerte „Geschichtsziele“ seien.27 Mit seiner Idee des „Staatenstaats“ als völkerrechtliche Form staatlicher Konföderation, auf die wir bei der Analyse seiner Erziehungsauffassung noch einmal zurückkommen werden, nahm Schulze-Soelde innerhalb der Deutschen Philosophischen Gesellschaft während der Zwischenkriegszeit eine Minderheitsposition ein.28 An der Kulturphilosophie von Eduard Spranger und Theodor Litt zog ihn besonders an, dass dort die Teilhabe am „ewigen Wertgehalt“ das Individuum befähige, sich den völkisch bedingten Kulturwerten und anderen zeitlichen, staatlich-gesellschaftlichen Bindungen zu entziehen, um daran zu arbeiten, eine „produktiv selbständige Persönlichkeit“ zu werden.29 In den zu Beginn der ersten deutschen Republik geführten Debatten zur Einheitsschulfrage oder zur Universitätsausbildung für alle Volksschullehrer zeigte sich Schulze-Soelde – obwohl er selbst nie eine Lehramtsprüfung abgelegt hatte und auch Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendkunde, 3 (1927), S. 704–718 sowie Walther SchulzeSoelde, Hans Driesch im Lichte der Philosophiegeschichte, in: Philosophie und Leben, 3 (1927), S. 311–317. 26 Vgl. Walther Schulze-Soelde, Über die Möglichkeit der Schuld eines Staates, in: Blätter für Deutsche Philosophie, 2 (1929), S. 290–301 sowie Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie (wie Anm. 6), S. 165. 27 Vgl. Walther Schulze-Soelde, Pädagogische Untersuchungen, Breslau 1930, S. 168, 251 und 257 sowie Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie (wie Anm. 6), S. 445. 28 Vgl. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie (wie Anm. 6), S. 504. 29 Vgl. Walther Schulze-Soelde, Über die moderne Kulturpädagogik, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendkunde, 5 (1929), S. 216–220 und Walther Schulze-Soelde, Rezension zu W. Schönfeld, Die Revolution als Rechtsproblem, in: Blätter für Deutsche Philosophie, 2 (1929), S. 395–401 sowie Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie (wie Anm. 6), S. 165.

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nie im Schuldienst tätig wurde – auf der Höhe der liberalen und demokratischen Schulreformforderungen in der Nachkriegszeit. Allerdings fanden sich bekanntlich seinerzeit weder politische Mehrheiten für eine gemeinsame Schule für alle Schüler/innen noch für eine reichsweite universitäre Volksschullehrerausbildung. Letztere wurde lediglich in regional begrenzten Modellprojekten seit 1923 an der Technischen Hochschule Dresden und im darauffolgenden Jahr an den Universitäten in Jena und Leipzig in Angriff genommen.30 Demgegenüber wurde in Preußen durch die Einrichtung Pädagogischer Akademien eine Kompromissvariante zwischen der historisch überholten seminaristischen und der seit Beginn der Weimarer Republik favorisierten universitären Volksschullehrerausbildung ansatzweise realisiert. Schulze-Soelde verfolgte die Entwicklung der Pädagogischen Akademien mit regem Interesse.31 Kontroversen um die Ernennung zum außerordentlichen Professor

Am 2. August 1926 übermittelte der Philologe Konrat Ziegler32 als Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald einen Antrag zur Ernennung SchulzeSoeldes zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor an den zuständigen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. Darin heißt es u.a.: „Schulze-Soelde hat sich hierselbst im Oktober 1920 habilitiert auf Grund einer Arbeit ‚Der Einzelne und sein Staat‘, die er, stark erweitert, 1922 veröffentlicht hat. Seitdem hat er noch zwei wissenschaftliche Werke erscheinen lassen, ‚Das Gesetz der Schönheit‘ (1925) und ‚Metaphysik und Erkenntnistheorie bei Aristoteles‘ (1926), ferner hat er zu der wichtigen praktischen Frage der Lehrerbildung mit einem Aufsatz ‚Über die Errichtung pädagogischer Akademien‘ (Deutsche Schule, 1925) Stellung genommen. In seiner erfolgreichen Lehrtätigkeit bevorzugte er Gegenstände aus der Geschichte der Philosophie und die Gebiete der praktischen Philosophie, 30 Vgl. stellvertretend Jutta Frotscher, Volksschullehrerausbildung in Dresden 1923–1931, Köln, Weimar, Wien 1997. 31 Vgl. Walther Schulze-Soelde, Über die Errichtung Pädagogischer Akademien, in: Die Deutsche Schule, 29 (1925), S. 265–272. 32 Ziegler avancierte im darauffolgenden Jahr zum 327. Rektor der Universität Greifswald. 1933 wurde er aus politischen Gründen – er war u.a. 1929 zum Vorstandsmitglied im Verein zur Abwehr des Antisemitismus gewählt worden – entlassen und erhielt Schreibverbot. Weil er vielen bedrängten jüdischen Bürgern half, wurde er 1939 wegen der Unterstützung jüdischer Freunde bei der illegalen Auswanderung und Devisenvergehens zu einer eineinhalbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Am 8. Juni 2001 wurde er von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem für die Hilfe und den Schutz, den er jüdischen Menschen während der Zeit des Naziregimes geboten hatte, als Gerechter unter den Völkern posthum geehrt; vgl. UAG, PA 196.

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einschließlich Pädagogik. Am 25. März 1922 erhielt er einen Lehrauftrag für Ethik und Ästhetik. Über diesen hinaus hat er sich auch der Rechtsphilosophie angenommen und damit nicht nur sehr verdienstlich eine Lücke im Lehrbetrieb der Philosophischen Fakultät ausgefüllt, sondern auch Bedürfnissen der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät entsprochen, auf deren schwarzem Brette seine von Winter zu Winter wiederkehrenden rechtsphilosophischen Vorlesungen regelmäßig angezeigt werden. Alle Arbeiten von Schulze-Soelde zeigen ihn als einen originellen Denker, dessen Ideenreichtum auch von denjenigen Kritikern geschätzt wird, die der begrifflichen Entfaltung seiner Gedankenwelt nicht ganz beizustimmen vermögen. Die Vorliebe für selbständige Wege verbindet sich bei ihm mit gutem Verständnis für die Philosophen der Vergangenheit. Wohl vertraut ist ihm zumal die Philosophie des deutschen Idealismus, deren Wesen und Gehalt er seinen Hörern lebendig zu vermitteln weiß. Wie wenig er daneben die griechische Philosophie vernachlässigt, zeigt die Studie über Aristoteles, die u.a. das günstige Urteil des vortrefflichen hiesigen Kenners der alten Philosophie, Geheimrat Prof. Dr. Schmekel, gefunden hat. Nach allem ergänzen sich bei Schulze-Soelde die wissenschaftliche und die lehrende Tätigkeit in erfreulicher Weise. Die Grundlage, ihn die Ernennung zum nichtbeamteten a.o. Prof. würdig erscheinen zu lassen, ist hiermit gegeben. Die Fakultät hat nicht versäumt, die Urteile von Fachkollegen auch anderer deutscher Universitäten einzuholen, nämlich der o. Professoren Bauch (Jena), Driesch (Leipzig), Groos (Tübingen), Hartmann (Köln) und Heinrich Maier (Berlin) und fand ihr eigenes Urteil vollauf bestätigt. Dementsprechend hat sich die Fakultät einmütig dahin entschieden, mit dem vorliegenden Antrag Herrn Schulze-Soelde für die Ernennung zum n.b.a.o. Prof. zu empfehlen. – gez. Ziegler, Dekan“.33

Ziegler erfuhr sodann am 25. November 1926 bei einem routinemäßigen Treffen im Ministerium, dass „das Schicksal dieses Antrages noch ungewiss sei, da die Voten der Fachleute widersprechend lauteten“. Und tatsächlich reichen die Urteile der Ordinarien über Schulze-Soeldes Publikationen von „ganz vortrefflich“ bei Driesch bis hin zu „etwas dünn an gedanklichem Gehalt“ bei Bauch (Jena). Driesch schrieb am 18. Juni 1926: „Herr Dr. Schulze-Soelde war von Anfang an ein ernster, gewissenhafter Denker. Schon seine Doktorarbeit über Spinoza, die ich seinerzeit in Vertretung des erkrankten Windelband zu beurteilen hatte, zeigte das. 33 UAG, Phil. Fak I-368, Bd. 2, Dekanat Konrat Ziegler, Fasz. 49 – Auch die nachfolgenden Zitate dieses Abschnittes beziehen sich auf diesen Standort.

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Sehr gefallen hat mir sodann sein Buch ‚Der Einzelne und sein Staat‘. Aber die beiden neuesten Schriften sind wohl noch reifer. Das ‚Gesetz der Schönheit‘ ist eine ausgezeichnete Arbeit. Ich sage das, obwohl ich nicht im Einzelnen überall mitgehe; auch wo ich das nicht kann, zum Beispiel bei seiner Lehre von der Empfindung, schätze ich die Art seines Denkens. Ganz vortrefflich ist alles, was er über den Künstler sagt. Ich weiß, dass Schulze-Soeldes Ästhetik auch anderen viel gegeben hat. Sehr gut gefallen hat mir auch die Schrift über Aristoteles […]. Schulze-Soelde ist kein Schriftsteller, der glänzen will. Er ist so recht der Typus des gediegenen wissenschaftlichen Philosophen. Keine bloß klingenden Worte, keine Zeile, die nicht sorgfältig überlegt ist und dahin gehört, wo sie steht.“ Bruno Bauch begründete seine verhaltene Skepsis am 17. Juni 1926: „Ich kenne dessen von Ihnen genannten Schriften. Eine wirklich hervorragende philosophische Kraft offenbaren sie zwar nicht, sie scheinen mir eher etwas dünn an gedanklichem Gehalt zu sein. Trotzdem würde ich kein Bedenken tragen, Ihren Vorschlag zur Verleihung des Titels zuzustimmen. Denn die Arbeiten zeugen doch davon, dass Schulze-Soelde seine wissenschaftliche Aufgabe ernst nimmt und gewissenhaft an ihr arbeitet. Sowenig ich nun auch die bloße Titelverteilung von unseren Fakultäten zu leicht genommen sehen möchte, so braucht man dafür ja auch nicht gleich umwälzende wissenschaftliche Ergebnisse zur Bedingung zu machen. Aber entscheidend scheint mir dafür zu sein, dass der Privatdozent seit seiner Habilitation wirklich wissenschaftlich weitergearbeitet hat. Und das ist ja bei Schulze-Soelde ohne Bedenken zu bejahen. Selbstverständlich ist dabei auch die wissenschaftliche Gesamtpersönlichkeit zu berücksichtigen. Soweit ich diese aus den Schriften beurteilen kann, habe ich davon einen guten Eindruck. Es hat ja wohl mancher schon den Titel bekommen, der wissenschaftlich hinter Schulze-Soelde zurücksteht.“ Heinrich Maier (Berlin) urteilte mit Datum vom 25. Juni 1926: „Herrn SchulzeSoelde kenne ich seit einer Reihe von Jahren, sowohl persönlich als auch aus seinen literarischen Arbeiten. Und ich halte ihn für einen begabten, strebsamen, in verschiedenen Gebieten der Philosophie bewanderten Fachgenossen, der nicht bloß fremde Ansichten wiederzugeben vermag, sondern auch eigene Gedanken hat. Vielleicht darf ich auch anfügen, dass der verstorbene E. Troeltsch sich für seine geschichtsphilosophische Schrift sehr interessiert hat. Wenig geglückt allerdings ist seine letzte Arbeit über Aristoteles. […] Das Ganze ist im Grunde verfehlt: Das Werk ist in das Material nicht genügend eingedrungen und hat darum den Schlüssel zum Verständnis der aristotelischen Metaphysik nicht gefunden. Aber dieser eine Missgriff ist ja von keiner entscheidenden Bedeutung.“

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Andreas Pehnke und Ulrich Wiegmann Dokument 1: Original des Gutachtens von Nicolai Hartmann34

Der Kölner Nicolai Hartmann35 schrieb in seinem Gutachten vom 28. Juni 1926: „Das ‚Gesetz der Schönheit‘ ist von einem wahren Kunstverständnis getragen und zeigt eine gewisse Ideensuche, zumal in der Auswertung von Anschauungen älterer philosophischer Schriften. Mit dem Grundgedanken, dass es sich überhaupt um ein einheitliches Gesetz handelt, kann ich mich zwar nicht recht befreunden, auch glaube ich, dass man der Sache von der Analyse des Schaffenden oder Schauenden Aktes aus nicht näher kommt. – Dieser Weg ist oft beschritten worden, und er hat m.E. immer nur dazu beigetragen, dass die Gegenstandsanalyse fehlte, und dass bei ihr die eigentlichen Aufschlüsse zu ziehen sind. […] Nun das mag private Ansicht sein. Was sich auf dem eingefahrenen Gleise zeigen konnte, zeigt sich immerhin plastisch in Schulze-Soeldes Buch. Wichtiger scheint mir seine Aristoteles-Studie, von der ich nur bedauere, dass sie nicht ausführlicher ist. […] Die eigentliche Interpretationsweise freilich wird nicht klar. So kommt es, dass die Arbeit methodologisch undurchlässig bleibt. Fraglich ist mir auch, ob das Verhältnis des Aristoteles zu Platonischen Thesen richtig gesehen ist […]. Aber das fordert mich nicht, die Arbeit doch als unwertvoll zu besprechen. Und ich glaube, dass sich auf Grund dessen der Vorschlag zur Ernennung des Verfassers zum nichtbeamteten a.o. Prof. schon rechtfertigen ließe.“

34 UAG, Phil-Fak I-368, Bd. 2, Fasz. 49. 35 Hartmanns (1882–1950) Entwurf eines realistischen Weltsystems, in dem er als einer der ersten die Verantwortung der Menschen für zukünftige Generationen betonte, hat bis in unsere Tage eine enorme Bedeutung und ist bislang mit seinem Gesamtwerk eher stiefmütterlich rezipiert worden.

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Ziegler ergänzte daraufhin in seinem Schreiben vom 10. Dezember 1926 an das Ministerium seinen ursprünglichen Antrag vom 2. August dahingehend, „dass Herr Schulze-Soelde das Unglück gehabt hat, mehrere seiner Lehrer und Gönner durch den Tod zu verlieren, sodass er nun ziemlich vereinsamt, ohne Patrone und SchulAnschluss, dasteht, und dass er (wie mir gesagt wird) gerade durch die Selbständigkeit und Ausgeprägtheit seiner Gedanken naturgemäß auch starke Ablehnung seitens anders Gerichteter hervorruft. Zur Vervollständigung des Bildes seiner Persönlichkeit füge ich (in Abschrift) Äußerungen zweier Verstorbener, Troeltsch und Natorp, bei, die natürlich um eine Reihe von Jahren zurückliegen. Der allgemeine Eindruck, den man in unserer Fakultät (also abgesehen von den Gutachten der Fachvertreter) von Herrn Schulze-Soelde hat, ist der, dass er durchaus als reif für die Ernennung zum a.o. Prof. gilt.“ Die nachdrückliche Fürsprache durch das Dekanat von Konrat Ziegler führte schließlich am 18. Februar 1927 zur Ernennung von Walther Schulze-Soelde zum nichtbeamteten (d.h. auch nichtbesoldeten) außerordentlichen Professor. Schulze-Soelde „unterm Hakenkreuz“

Am 1. Mai 1933 wurde Schulze-Soelde Mitglied der NSDAP; seine Mitgliedsnummer lautete 2.147.331 (Gau Pommern). Außerdem trat er dem Nationalsozialistischen Lehrerbund (Mitgliedsnummer 248546) bei. Er avancierte zum Ortsgruppenschulungsleiter der NSDAP, Greifswald-Stadt und war als Lektor in der Parteiamtlichen Prüfungsstelle zum Schutze des NS-Schrifttums tätig. Des Weiteren wurde er Mitglied des NS-Schulungsstabes und stieg schließlich zum Leiter des Amtes für Ahnenforschung bei der Kreisleitung der NSDAP Greifswald-Stadt auf.36 Neben seinem ständigen Lehrauftrag zur „Ethik und Ästhetik“ aus dem Jahre 1922 erhielt er am 7. Februar 1935 einen weiteren Lehrauftrag durch die Philosophische Fakultät zum Themengebiet „Politische Pädagogik“. Schließlich übernahm Schulze-Soelde ab Sommersemester 1937 auch die Vorlesungsreihe „Rechts- und Staatsphilosophie“ in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät.37 Im Universitätsarchiv finden sich zahlreiche Belege dafür, dass Schulze-Soelde immer wieder sein Engagement als NS-Schulungsleiter zur Begründung für seine Forderung nach einer höheren finanziellen Vergütung hervorhob. So argumentierte er am 36 Vgl. Hochschullehrerkartei Schulze-Soelde, BArch, R 4901/13276 sowie Werner Buchholz, Lexikon Greifswalder Hochschullehrer 1775 bis 2006, Bd. 3, Lexikon Greifswalder Hochschullehrer 1907 bis 1932, bearbeitet von Meinrad Welker, Bad Honnef 2004, S. 213. – Tätigkeitsberichte über diese politischen Arbeitsfelder konnten bislang nicht ermittelt werden. 37 UAG, PA 1993 (Schulze-Soelde), Bl. 11.

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15. Dezember 1935: „Mein Lehrauftrag für ‚Politische Pädagogik‘ […] brachte keine Erhöhung der Vergütung. Da er jedoch eine ungewöhnlich starke Bücheranschaffung aus dem Schrifttum der Gegenwart erforderlich macht, fehlen mir die hierfür notwendigen Mittel.“38 Bei seinen neuen Parteifreunden wie dem Universitätskurator Friedrich Kolbe39 fand er dafür Unterstützung. In einem Schreiben der Universitätsleitung vom 8. Juni 1938 heißt es: „An der Universität Greifswald sind eine Anzahl älterer, verheirateter Dozenten als n.b.a.o. Professoren tätig, die bisher ein Ordinariat nicht erreicht haben, obgleich ihre wissenschaftlichen Verdienste durchaus auf der Höhe anderer Wissenschaftler stehen, denen dieses zuteil geworden ist. Für diese [13, Anm. d. Verf.] Männer bemühen wir uns schon seit langer Zeit, eine Versorgung in dem Sinne zu erreichen, dass sie in ein beamtetes Verhältnis überführt werden, damit auch ihre Familien von der schweren Sorge um die Zukunft befreit werden.“ Außerdem wird in der Kurzbiografie des 50-jährigen Schulze-Soelde betont: „Er hat einen Lehrauftrag für ‚Politische Pädagogik‘, ist Pg., ist in der Partei als Ortsgruppenschulungsleiter tätig und seine Arbeit wird dort sehr anerkannt.“40 Immerhin wurde dem „politisch engagierten“ Schulze-Soelde daraufhin der achtfache (!) Grundbetrag für seine Lehrtätigkeit zugebilligt.41

Zwischen erziehungswissenschaftlicher Nähe und Distanz zur Ideologie und Pädagogik im Nationalsozialismus

Für unsere Untersuchung zum Verhältnis seiner erziehungswissenschaftlichen respektive pädagogischen Auffassungen zur nationalsozialistischen „Weltanschauung“ vor der Machtübertragung an Hitler und zum Wandel seiner Positionen im Zeichen nationalsozialistischer Herrschaft legte Schulze-Soelde gleichsam zur rechten Zeit eine systematische Darstellung seiner Pädagogik vor. Das Buch erschien 1930 unter dem Titel „Pädagogische Untersuchungen“42 bei Ferdinand Hirt. Die Weltwirtschaftskrise hatte gerade mit Wucht eingesetzt; die politische Krise der parlamentarischen Re38 UAG, PA 1993 (Schulze-Soelde), Bl. 14. 39 Kolbe, Jg. 1878, schied 1941 auf eigenen Wunsch wegen Krankheit aus dem Staatsdienst aus und verzog nach Berlin, vgl. UAG, PA 669. 40 Gesprächsprotokolle mit dem Minister (Juni/Juli 1938), UAG, Kurator K 6055, Bl. 15. 41 Hochschullehrerkartei Schulze-Soelde, BArch, R 4901/13276. 42 Schulze-Soelde, Pädagogische Untersuchungen (wie Anm. 27), S. 344. Im Folgenden wird das Werk von Schulze-Soelde referiert. Die Seitenangaben zu den Zitaten werden der Einfachheit halber in runden Klammern in den laufenden Text eingefügt.

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publik von Weimar konnte von den Zeitgenossen noch nicht sicher als Anfang vom Ende der Demokratie vorhergesehen werden, und eine Reichskanzlerschaft Hitlers war schon gar nicht wahrscheinlich. Opportunistische Konzessionen an den Nationalsozialismus in der Erwartung künftiger persönlicher Karrierevorteile können daher in diesem beinahe 350 Seiten umfassenden Werk mit ziemlicher Sicherheit ausgeschlossen werden, zumal die Zeit des Schreibens und der Herstellung des Buches die historische Distanz zur Errichtung der Diktatur weiter vergrößert. Anstatt sich Hitler anzudienen, hielt Schulze-Soelde 1930 die Zeit reif, „Hegels Geistesphilosophie auch für die moderne Pädagogik fruchtbar zu machen“ (S. 7). „Hegels Methode“, so betonte Schulze-Soelde in der Einleitung seiner „Pädagogischen Untersuchungen“, gebe zwar „keine Anweisungen, sondern sucht die geistigen Erscheinungen zu beschreiben und in ihrem Wesen zu ergründen“. Doch beabsichtige er, „dieses Verfahren in möglichst allseitiger Weise auch auf die Erziehungserfahrung anzuwenden“ (S. 7). Angesichts des ihn leitenden Bekenntnisses zur „Hegelschen Philosophie“ nimmt es nicht wunder, dass Hegel mit 26 Verweisen das Namensregister anführt, gefolgt von Kant mit 16, Spranger mit 15, Schulze-Soelde mit 14, Fichte mit 12 und Litt mit 11 Einträgen. Die meisten anderen der insgesamt 140 aufgelisteten Namen und Bezeichnungen haben nur einen, wenige wie Rousseau oder Platon vier bis sieben Einträge. Da ist es eigentlich schon müßig zu erwähnen, dass etwa der für die Erziehungspraxis im Nationalsozialismus maßgebliche pädagogische Dilettant Hitler nirgends erwähnt wird. Auch Alfred Baeumler oder Ernst Krieck, zwischen 1933 und 1945 namhafte Größen der pädagogischen/erziehungswissenschaftlichen Szene im Nazideutschland, spielen keine oder so gut wie keine Rolle in Schulze-Soeldes Buch. Auf Kriecks erziehungswissenschaftliches Hauptwerk verwies er nur ein einziges Mal kommentarlos in einer Fußnote, und zwar im Zusammenhang mit der ihn bewegenden Frage nach der Bedeutung der Erziehung „in dem Entwicklungsprozeß der Menschengeschichte“ (S. 153). Ebenso vermied er interessanter- wie unverständlicherweise jeglichen Hinweis auf das in Kriecks „Philosophie der Erziehung“43 (1922) entwickelte „urfunktionale“ Verständnis von Erziehung. Baeumler wurde überhaupt nicht erwähnt. Stattdessen sind Namen gelistet, die nicht nur bekennende Nationalsozialisten, sondern auch mehrheitlich völkisch-nationalistische Konservative in ähnlicher Lage gern mieden, beispielsweise die jüdischen Deutschen Ernst Cassirer (1874–1945), Jonas Cohn (1869–1947) und Richard Hönigswald (1875–1947), die allesamt 1933 in die 43 Vgl. Ernst Krieck, Philosophie der Erziehung, Jena 1922. Im selben Jahr, in dem Schulze-Soeldes „Pädagogische Untersuchungen“ erschienen, waren bereits 6.000 Exemplare von Kriecks „Philosophie der Erziehung“ auf dem Markt.

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Emigration getrieben wurden. Außerdem verwies Schulze-Soelde auf den 1933 verhafteten Sozialisten und entschiedenen Schulreformer Siegfried Kawerau (1886–1936) und den religiösen Sozialisten Paul Tillich (1886–1965), der ebenfalls 1933 emigrierte. Schulze-Soelde demonstrierte in seinem pädagogischen Werk offenkundig zurzeit der Weimarer Republik keine dumpfen völkisch-nationalistischen oder politisch-erzkonservativen Vorbehalte im Umgang mit prominenten Geistern seiner Zeit und Zunft. Im Folgenden soll zunächst Schulze-Soeldes Verhältnis zur nationalistischen Ideologie auf den Prüfstand gehoben, sodann mögliche Affinitäten zum pädagogischen Mainstream im Nationalsozialismus untersucht und schließlich seine Revisionsbereitschaft geprüft werden. Schulze Soelde 1930: Nähe und Distanz zur NS-Ideologie

Die diffuse Gemengelage nationalsozialistischer Weltanschauung aus militantem Antimarxismus bzw. -kommunismus, Militarismus und Revanchismus, völkischem Nationalismus und nationalem Chauvinismus, Biologismus, Rassismus, Sozialdarwinismus und vor allem Antisemitismus, einem politisch nur allzu oft zur Schau gestellten Antiintellektualismus und Führer-Gefolgschafts-Ideologie macht es nicht gerade leicht, Schulze-Soeldes Denken in Beziehung zu diesem, zu allem Überfluss auch noch instabilen Konglomerat zu setzen. Das ist vor allem deshalb sogar recht schwierig, weil er in seinen „Pädagogischen Untersuchungen“ einer vollkommen anderen, überwiegend betont wissenschaftlichen Logik folgte. Es muss gleichsam nach Hinweisen gefahndet werden, um einen Abgleich mit der NS-Weltanschauung überhaupt bewerkstelligen zu können. Eine antimarxistische oder antibolschewistische Haltung lässt sich nirgends indizieren. Das allein schon wiegt schwer angesichts der Tatsache, dass sich Schulze-Soelde damit nicht zu einem zentralen Bestandteil der NS-Weltanschauung positionierte. Antiintellektualismus kam für einen bekennenden Hegelianer erst gar nicht in Frage. Die Haltung zum Weltkrieg, zur deutschen Niederlage sowie zu den bedrückenden und mehrheitlich nicht zu Unrecht als diskriminierend empfundenen Bedingungen des Versailler Vertrags ist bekanntermaßen für die nationalsozialistische Ideologie ebenso zentral wie für den politischen Werdegang der NSDAP bis zum Wahlsieg 1933. Vieles deutet darauf hin, dass auch Schulze-Soelde dem Weltkrieg eine herausragende Bedeutung für die pädagogische Bewegung der damaligen Gegenwart zuerkannte. Wie die bekennenden Nationalsozialisten band auch er die Erwartung an das vergangene Ereignis, dass die Deutschen zu ihrer „wesenhaften Bestimmung“ zurückfinden würden (S. 167). Vollkommen anders als die Naziideologen und viele völkische Eiferer jedoch meinte er, dass „der Krieg […] entfesselt [wird], damit der

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Mensch sein eigenes Werk zerstört, um, wenn er müde geworden ist von der Zerstörungsarbeit, zur Besinnung zu kommen über die Nichtigkeit und Vergänglichkeit alles Irdischen“ (S. 207). Das ist kein heldisches Pathos. Da rasseln auch keine gezückten Säbel. Es glänzen keine verklärten Augen angesichts der Erinnerung an das angeblich kameradschaftliche Massensterben. Krieg, so erklärte Schulze-Soelde unmissverständlich, ist „die Geißel der Menschheit“ (S. 207).44 Anstatt auf Rachegefühle im Angesicht der Kriegsniederlage oder Eitelkeit ob des Sieges setzte Schulze-Soelde auf das Bekenntnis zur Schuld an der Katastrophe. Leider irrte er, als er weissagte: „So leicht werden die europäischen Staaten nicht wieder eine kriegerische Politik treiben. Noch lastet das Schuldgefühl zu stark auf den Völkern“ (S. 288). Ehre der Nation auf Grund eines Sieges im Krieg zu erreichen, schien ihm nach der Erfahrung des Weltkriegs ausgeschlossen, aber auch umgekehrt „Schmach oder Schande“ ob der Niederlage zu ernten. „Wie die Marterinstrumente des Mittelalters schließlich beseitigt wurden, […] so wird sich auch mit der allmählichen Beseitigung der Kriege durch den Sieg der Rechtsordnung die Übung der Tugenden überleben, die sich nur im Kriege bewähren können“ (S. 296). „In einer Zeit, […] in der der Krieg immer außergewöhnlicher, seine maschinellen Zerstörungen immer sinnlos mörderischer werden, verliert auch das Heldentum des Kriegers seinen Sinn“ (S. 290). Geradlinig schien ihm dieser damalige Selbstentfaltungsstatus des Weltgeistes indessen wohl nicht. Abgesehen von dem unterstellten Scharfsinn behielt SchulzeSoelde jedenfalls trotz des schon knapp eine Dekade später entfesselten nächsten Weltkriegs sogar Recht mit seiner Voraussicht: „Für die Gegenwart [ist] wenigstens diese Tatsache festzustellen, daß es immerhin als unehrenhaft einer Nation angesehen wird, den Krieg zu beginnen. Deshalb wird der Scharfsinn der gesamten Diplomatie aufgewendet, um die Verantwortung dem Gegner zuzuschieben“ (S. 290). Es ist kaum zu glauben, dass Schulze-Soelde sich schon drei Jahre nach der Veröffentlichung seines Buches ohne wirkliche Not und Scham mit dem Parteiabzeichen der NSDAP in das politische Rampenlicht der kleinen Universitätsstadt Greifswald wagte. Er muss damit gerechnet haben, dass sein pädagogisches Werk nicht zur Kenntnis genommen wurde. Andererseits suchte sein Partei- und Staats-„Führer“ so kurz nach der Machtübertragung auch noch, die Nation und die Welt in der Rolle des Friedenskanzlers zu täuschen. Bezogen auf eine eventuelle Affinität zum nationalsozialistischen Rassismus fällt der in dem Buch einmal benutzte Begriff „Eugenik“ (S. 122) ins Auge. Hier erör44 Andererseits gab sich Schulze-Soelde nicht frei von einem verklärenden Rückblick auf kriegerische Heldentaten. Sicher sei, dass die nachwachsenden Generationen „niemals das voraufgegangene Geschlecht an heldischen Taten zu überbieten imstande sein würden“. Schulze-Soelde, Pädagogische Untersuchungen (wie Anm. 27), S. 169.

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terte Schulze-Soelde das Problem, welchen Nutzen Erziehung habe, „wenn die aufwachsende Generation schon von Natur mit Schäden behaftet ist“ (S. 122). Die im zeitlichen Umfeld des Erscheinens seines Buches auch öffentlich viel diskutierte Eugenik umschrieb er als „Vorsorge“, als „pädagogische Prophylaxe“ und „Dienst“ an „der Entfaltung gesunder Naturanlagen“. Eugenik entlaste „künftige körperliche Erziehung“. Man müsse „dann […] nicht erst Schäden einer durch Menschenschuld verdorbenen Natur heilen“. Eugenik schiebe „Degenerationserscheinungen möglichst weit hinaus“ (S. 122). Diese Haltung wirkt im Zeitgeist befangen. Nationalsozialistischer Rassismus ist das nicht, wenngleich Anschlussmöglichkeiten bestehen. Menschenzüchtung wies er zurück, weil zwar „ein rationales System über die körperliche Erziehung […] möglich“, „aber nicht ein solches System einer vorsätzlichen Menschenzüchtung durchführbar“ sei. Fortpflanzung sei Angelegenheit der „Natur im Menschen“, bestimmt vom „Zeugungstrieb“, der sich gegen „Gewalteingriffe“ sträube. „Eine künstliche Regulierung“ im Sinne eines „verzweifelte[n] Versuche[s] als Reaktion gegen Entartung und Naturentfremdung eines Volkes“ sei „nur bis zu einem gewissen Grade möglich“ (S. 122f.). Menschenzüchtung scheitere notwendig „an den Grenzen der Menschenweisheit“. Der „Zeugungstrieb“ nehme „keine Rücksicht […] auf ursprüngliche Offenbarungen einer elementaren Liebe und die Stimme der Natur. Deshalb haben sich alle menschlichen Eingriffe darauf zu beschränken, die erwachsene Generation über die Verantwortung aufzuklären […] und sie darauf hinzuweisen, daß sie sich von der organischen Natur selbst über diese Dinge belehren lassen und sich ihr anvertrauen müssen“ (S. 123). Differenz zur nationalsozialistischen Rassenideologie Hitler’scher Prägung sowie zur rassenpolitischen Praxis in den ersten Jahren nach der Machtübertragung bestand hier offenkundig mindestens in zweierlei, auf den gesamten Zeitraum der NS-Diktatur gesehen, in dreierlei Hinsicht. Zum einen wurden, wie bekanntlich Hitler in „Mein Kampf“ forderte, seit 1933 nicht nur Erwachsene, sondern Kinder und Jugendliche vor dem Ende ihrer Schullaufbahn über ihre angebliche rassenhygienische Verantwortung bei der künftigen Gattenwahl belehrt.45 Diese Verschiedenheit wiegt nicht gerade schwer. Zum anderen waren nationalsozialistische Rassenideologen bemüht, ihre vorgeblich „rationale Denkweise“ (S. 123) naturgesetzlich zu rechtfertigen. Diese Möglichkeit war Schulze-Soelde nicht in den Sinn gekommen. Und schließlich wurde elitäre nationalsozialistische Menschenzüchtung z.B. im Lebensborn,46 als „nordrassische“, 45 Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1933, S. 476. 46 Dorothee Schmitz-Köster, Tristan Vankann, Lebenslang Lebensborn. Die Wunschkinder der SS und was aus ihnen wurde, München 2012.

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„arische“ „Aufartung“ und Euthanasie tatsächlich praktiziert. Was hätte er dieser Kraft des Faktischen (späterhin) noch spekulierend entgegensetzen können? Schulze-Soelde hielt Menschenzüchtung nicht für möglich, schloss aber eben diese Möglichkeit mit Einschränkungen dennoch nicht aus. Er hatte kein vernünftiges und auch kein ethisches Argument parat, das er dem Umschlag von der Idee zur Tat hätte entgegensetzen können. Vor allem sein ausgesprochen schwacher Widerspruch gegen die Idee der Menschenzüchtung, sie sei lediglich möglich, aber dennoch nicht durchführbar, weil es „an rationalen Maßstäben für die Zuchtwahl“ fehle (S. 123), widerlegten nationalsozialistische Rassenideologen schon wenig später vollkommen unbekümmert und ohne Probleme auf der Basis sozialdarwinistischer Logik. Selbstherrlicher Nationalismus in Form dumpfer, völkischer Ideologie wiederum war Schulze-Soelde 1930 fremd. Allerdings ging auch er von der Existenz einer bestimmten Volksart aus. Selbst der Begriff „Deutschtum“ (S. 174) fiel. Die damalige Gegenwart beschrieb er als Zeit einer „nahen Epoche […], die dem Gesetz der Entfaltung des deutschen Wesens entspricht“ (S. 172). Was dieses deutsche Wesen ausmache, entwickelte er nicht. Es war ihm anscheinend auch nicht wichtig, zumindest unbedeutender als die, wie er sie nannte, „kosmopolitische Situation der Gegenwart“ (S. 295). Schulze-Soelde indizierte diese gewissermaßen kosmopolitische Tendenz − man ist geneigt, sie mit dem modernen Begriff „Globalisierung“ zu übersetzen − anhand der Herausbildung der „Weltwirtschaft“ und der „technischen Überwindung großer Entfernungen“ (S. 295). Da in seinem Sinne die Selbstentfaltung des Weltgeistes und Erziehung zur Harmonie drängen (vgl. S. 60), hielt er die „Erziehung des nationalen Menschen zu einer weltbürgerlichen Gesinnung und zu einer vorurteilslosen grundsätzlichen Bejahung der fremden Nation [für] erforderlich“. Er ergänzte: „Eine systematische Erziehung zum Haß gegen andere Völker ist nur eine künstliche Institution, die insbesondere dem deutschen Wesen nicht entspricht“ (S. 60). In den Augen der Nationalsozialisten wären diese Sätze, wenn sie denn wahrgenommen worden wären, sicher schwer erträglich gewesen. Allerdings hielt sich Schulze-Soelde auch hier einen Rückzug offen, indem er schrieb: „Haß kann vor dem Wertgesetz nur gerechtfertigt werden, wenn er von sittlicher Empörung über das Böse, Niedrige und Gemeine begleitet ist“ (S. 60). Das ließ sich bekanntlich ab 1933 mühelos erziehungsideologisch einrichten. Was für den weltanschaulichen Abgleich bleibt, ist seine Haltung zur Führer-Gefolgschafts-Ideologie der Nationalsozialisten. Beinahe in der Mitte seines Buches kam Schulze-Soelde auf „zeitgemäße Erziehung“ zu sprechen. Das sei eine Erziehung, die mit dem Geschichtsverlauf, d.h. dem sich verwirklichenden Weltgeist Schritt hält. Hier klagt er geradezu inbrünstig: „Wüßten wir doch, was kommen muß! […] solch

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zeitgebundene Erziehung […] wäre erreicht durch das Wissen von der naheliegenden Zukunft […] sowie durch die Kraft, nach diesem Wissen erzieherisch zu handeln. Ein großer Staatsmann, Philosoph oder Erzieher müßte mit diktatorischer Konzentration […] bis ins kleinste erklären, wohin die Richtung geht, und dann müßte das Volk nach den spezifizierten Anweisungen zu diesem ganz bestimmten Aufgaben erzogen werden. Jede Mutter und jeder Lehrer müßten es den Kindern von klein auf einprägen, so daß ihr Denken sich zu einem unbeugsamen Willen verfestige und das ganze Volk sich in bestimmten Zielen einig wäre. […] Ein solches Volk würde mit überlegener Sicherheit gegenüber dem unsicheren Tasten der anderen Völker an der Spitze sämtlicher Nationen stehen“ (S. 173). Man möchte fragen, warum Schulze-Soelde 1930 nicht schon einsehen mochte, dass Hitler genau mit diesem Anspruch des großen Staatsmannes und Visionärs zur Macht drängte. Davon unabhängig wiegt seine Sehnsucht nach einem nationalen Geistesdiktator von übernationaler Bedeutung schwer, zumal dieser Wunsch sich sonst nur mühsam mit seinen 1930 publizierten pädagogischen Auffassungen vertrug. Erziehung und Pädagogik

Schulze-Soeldes Erziehungs- und Pädagogikbegriff soll hier nicht systematisch dargestellt, sondern lediglich in der Beziehung zum nationalsozialistischen Erziehungsverständnis bedacht werden – soweit dies überhaupt möglich ist. Zwar gärte manche Erziehungsidee im nationalsozialistischen Ungeiste, eine konsensfähige Klärung gelang indessen bis auf einige pragmatische Grundsätze intentionaler Erziehung nicht.47 Mit Termini wie Ausrichtung, Formierung, Verführung48 oder Indoktrination hat Schulze-Soeldes Erziehungsbegriff jedenfalls nichts gemein. Als Gradmesser muss ein wissenschaftlicher Anspruch gelten, nicht der des autoritativen, in der eigenen Erziehungserfahrung verkümmerten Laien. Gefragt ist ein Maßstab, wie er etwa auch für Ernst Krieck und dessen Erziehungsphilosophie von 1922 angemessen ist, die doch eher eine Erziehungssoziologie ist und später der nationalsozialistischen Ideologie angepasst wurde. Wie Krieck fasste Schulze-Soelde Erziehung als eine ewige „geistige Verrichtung“. „Die Jugend wächst der älteren Generation in leibhaftiger Nähe entgegen. Die Erwachsenen reagieren auf die Lebensäußerung der Kinder“ (S. 118). Das liest sich so oder ähnlich bei ihm wie bei vielen anderen Erziehungswissenschaftlern seiner Zeit, 47 Vgl. auch Tenorth, Pädagogisches Denken (wie Anm. 4), S. 111–153, bes. S. 139. 48 „So sind Erziehen und Verführen zweierlei. Daß jemand junge Menschen zu Schlechtigkeiten erzieht, ist […] eine ganz ungewöhnliche Erscheinung und seltene Ausnahme. Meistens handelt es sich um Verführung.“ Schulze-Soelde, Pädagogische Untersuchungen (wie Anm. 27), S. 309.

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auch etwa bei dem Marxisten und Freudianer Siegfried Bernfeld, der Erziehung als gesellschaftliche Reaktion auf die Entwicklungstatsache begriff.49 Auch für Schulze-Soelde war Erziehung nicht nur deshalb ewig, weil sie in der Natur des Menschen gründe, sondern er führte sie ebenso auf einen „sozialen Trieb“ zurück, der darauf aus sei, „den Jüngeren innerhalb derselben Art und Gattung zu Wohl und Entwicklung [zu] verhelfen“ (S. 126f.). Das sah er bei Tieren nicht anders. Den Menschen als soziales Wesen interpretierte er ausdrücklich mit Spranger. Wichtig dabei ist, dass Schulze-Soelde die Wirkung der Gesellschaft bzw. von Gemeinschaften auf den Menschen betonte und z.B. mit Krieck, aber ohne ausdrückliche Berufung auf ihn, erklärte: „Das stärkste erzieherische Mittel, das der Gesellschaft zur Verfügung steht, ist die unbewußte Anpassung der Zöglinge […] durch Eingewöhnung“ (S. 128f.). „Die Bildungskraft des Sozialen beruht auf dem Zwang, sich anzupassen. […] Überhaupt haben große gesellschaftliche Verbände eine uniformierende Erziehungstendenz“ (S. 129). Krieck referierte in diesem Zusammenhang über Erziehung zum Gemeinschaftstypus durch die Wirkung von Gemeinschaften verschiedenster Art. Schulze-Soelde unterschied sodann eine „persönliche“ von der „dingliche[n] Erziehung“, Letztere z.B. als „Sacherziehung“ durch die Natur (S. 16). Anders als Krieck legte er wenig Wert auf die Unterscheidung von funktionaler und intentionaler Erziehung. Denn, so der bekennende Hegelianer, „in der Weise, wie erzogen wird, steckt mehr Vernunft als eine normative Pädagogik […] wahrhaben möchte“ (S. 39). Eine „ungewollte“ und „unbewußte“ Erziehung nahm er dennoch an, und zwar als Wirkung „natürliche[r], historische[r], psychologische[r], soziologische[r], klimatische[r], anthropologische[r], milieuhafte[r] Ursachen“ (S. 53). Interessant, wenngleich nicht unmittelbar thematisch von Bedeutung, sind seine knappen Überlegungen zum Subjekt der Erziehung, die seinerzeit gewöhnlich nur in der Richtung des Erziehers auf das Kind angestellt wurden. Schulze-Soelde schrieb: „Das vorzüglichste Beispiel für wechselseitige Erziehung in der reinen Natur ist das Verhältnis von Mutter und Kleinkind […]. Die Natur im werdenden Kinde macht sie [die Mutter, Anm. d. Verf.] erst stark zur Erziehung des Kindes“ (S. 121). Ideelle Erziehung galt ihm als Ausdruck menschlichen Gestaltungswillens. Sie sei, egal ob z.B. mit Bernfeld oder mit Krieck gesprochen, intentionale Erziehung, aber wurde von ihm − anders als bei diesen − nicht explizit als Spezialfall50 von Erziehung charakterisiert. Das die Erziehung leitende Bildungs(!)ideal sah er durch den „Zeit49 Siegfried Bernfeld, Sisyphos oder Die Grenzen der Erziehung, Leipzig u.a. 21928, S. 49. 50 Bernfeld, Sisyphos oder Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 49), S. 50; vgl. auch: „Planmäßige Erziehung […] kann stets nur das vollenden, ergänzen, spezialisieren, was die urfunktionale Erziehung und Entwicklung schon angebahnt haben“. Ernst Krieck, Philosophie der Erziehung, Jena 51930, S. 13.

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geist“ – im Sinne des „Geist[es] in der Zeit“ − bestimmt (S. 54). Erziehungsideale hielt er dann für wahr, „wenn sie mit den objektiven Gesetzen in Einklang sind, die das metaphysische Wesen der geistigen Menschheit entfalten“ (S. 72). Der Geschichte sei kein Bildungsideal aufgegeben, denn sie sei nichts anderes als Bildungsvollzug (S. 158). Die Folgen für Erziehung wären dann − so gesehen − allerdings gravierend. Schulze-Soelde scheute sich nicht, diesen Gedanken konsequent weiter zu verfolgen: „Wer die Geschichte auf lange Sicht […] übersieht, wird das plötzlich Eintretende und Unvorhergesehene […] als ein notwendiges Glied in den Gang der Menschengeschichte einreihen“ (S. 165). Kurzfristig bzw. in zeitlich begrenzten politischen Epochen könnten allerdings z.B. die „Zustände“ des Staates samt deren Einfluss auf „die daraus herzuleitenden Erziehungsmaßnahmen“ variieren (S. 165). Hier öffnete er ein Einfallstor für die eigene Akzeptanz des (temporären) Bruches mit den republikanischen Erziehungsverhältnissen von Weimar. Vergleichbar gravierende Veränderungen hielt er nicht für ungewöhnlich, denn „ganz elementare historische Ereignisse, die in das Leben einer Nation tief eingreifen, […] pflegen eine starke nationale Reaktion hervorzubringen“, auch für die Erziehung. Dann werde „in einem Staate mit einer Verfassungsform, welche das Schwergewicht auf den Gedanken einer autoritativen Obrigkeit legt, […] die Erziehungstendenz auf Gehorsam und Pflichterfüllung der Untertanen gerichtet sein. Die Kinder werden absolute Hingabe an den Staat bis zur Selbstverneinung lernen müssen. In einem liberalen Staat wird die Freiheit der Person und ihrer Überzeugungen in der Erziehung eine stärkere Berücksichtigung finden“ (S. 164f.). Entscheiden mochte sich Schulze-Soelde hier zur Zeit des für ihn noch nicht absehbaren Endes der Weimarer Republik nicht, wohl weil er nicht wusste, „was kommen muß“ (S. 173). Zur Wahl stand eine Erziehung „zur haßerfüllten Rache“ oder „zu einem höheren und vollkommeneren Typus des Zivilmenschen“. Politische Einigkeit in dieser Frage zu erzielen, hielt er nicht für möglich. Doch gab es Hoffnung: „Der Gang der Dinge [erzwingt wiederum] die Einheit. […] Die Spannungen lassen nach, sobald ihre produzierende Kraft erschöpft ist“ (S. 169f.). Letzten Endes sei die Selbstentfaltung des Weltgeistes nicht aufhaltbar; das Sittengesetz erfüllt sich. „Es geht um die Einheit des Menschengeschlechts“ (S. 272). „Selbst welthistorische Schäden einzelner böser Menschen sind unbedeutend, weil von kurzer Dauer“ (S. 151). „Zeitlich beschränkte Rückschläge [werden] in Ansehung des Ganzen unwesentlich“ (S. 289). Angesichts unseres Wissens um die weltgeschichtlichen Konsequenzen der nicht viel länger als eine Dekade währenden Nazidiktatur wirken Schulze-Soeldes Sätze geradezu naiv. Doch wusste er nicht, was wir Nachfahren wissen. Zumindest das aber wusste er: „Die Entscheidung ist erst gefallen, wenn die Zukunft Vergangenheit ge-

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worden ist“ (S. 169). Man kann ihm jedoch zum Vorwurf machen, die mögliche Nachhaltigkeit weltgeschichtlicher Ereignisse von nur kurzer Dauer und dennoch katastrophaler Bedeutung nicht im Mindesten erwogen zu haben. Die Erfahrung des Genozids – z.B. an den Armeniern − und des weltumspannenden Völkerschlachtens im Krieg hatte es längst als menschheitliche Erfahrung gegeben. Die Erziehung der Persönlichkeit bot ihm die Lösung. Denn, so Schulze-Soelde, „Persönlichkeit stellt […] sittliche Staatengemeinschaft her“ (S. 272). Seine Begründung im Geiste Hegels soll hier nicht weiter nachvollzogen werden. Wichtig ist letzten Endes seine hergeleitete Überzeugung, dass der „Endzweck des Menschengeschlechts“ es sei, „seine Einheit herzustellen“.51 „Alle vernunftgemäße Erziehung ist an Gesetze gebunden“ (S. 297). Von Unvernunft, Völkerhass, Rassenwahn, Revanchegelüsten und Eroberungswut, Erziehung zu Krieg und Völkermord scheint ihm im Kontext der totalhistorischen Tendenz und mit verschlossenen Augen vor der damaligen, der Katastrophe zusteuernden Gegenwart nicht weiter die Rede nötig gewesen zu sein. Stattdessen prophezeite er über kurz oder lang eine aktuell sehr genehme Perspektive: „Vornehmlich im Sittlichen gilt das Gesetz der Wesensdifferenzierung der Personen. […] Werde, was Du bist.“ „Die metaphysische Wesensidentität der Person“ dürfe nicht angetastet werden; „Achtung vor dem Wesen des Anderen“. „Die Unterweisung des jungen Menschen geht dahin, daß er sich in den Wertgesetzmäßigkeiten des geistigen Daseins zurechtfinde, daß er lerne, auf sich selbst gestellt und doch auch wieder durch sein individuelles Gesetz gebunden zu sein“. „Ein jeder Mensch vereinigt in sich eine Anzahl“ von verschiedenen Eigenschaften und „Charaktertypen“. „Aber ihre Mischung ist jeweils einzig […]. Die Mischung selbst ist das im Zentrum der Person ruhende irrationale Geheimnis. […] Jede Persönlichkeit [hat wohl] ihre inneren Widersprüche; trotzdem ist keine unsittlich, weil jede eine Synthese aus der Wirkung des Sittengesetzes ist. Das […] bildende synthetische Prinzip ist zugleich dasselbe, welches aus ihr fortwirkend die sittliche Einheit der Persönlichkeiten untereinander bedingt“ (S. 297–304). Persönlichkeit wiederum „konstituiert […] den Staat und befähigt ihn zur Ermöglichung des Staatensystems […]. Es handelt sich um den Anfang einer Entwicklung, als deren wesentlichstes Resultat die Beseitigung des Krieges anzusehen ist“ (S. 288f.). 51 „So treten in unserer Zeit die dialektischen Spannungen in Erscheinung, deren Auflösung die endgültigen sittlichen Entscheidungen zur Folge haben. Die drei schon bestehenden oder noch nicht bestehenden Ganzheiten: Person, Nationalstaat und Staatenstaat (kosmopolitische Idee einer Rechtsgemeinschaft der Staaten) sollen in eine harmonische Beziehung zueinander gebracht werden, ohne daß eine dieser Faktoren seine Daseinsberechtigung verlöre oder sich auf Kosten des anderen in seiner Existenz über seine Berechtigung hinaus bereichere.“ Schulze-Solde, Pädagogische Untersuchungen (wie Anm. 27), S. 255.

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Im Unterschied zum Begriff „Erziehung“ war für Schulze-Soelde Pädagogik in etwa das, was Krieck „Erziehungswissenschaft“52 nannte, nämlich eine Wissenschaft „vom Menschen, welche einzig und allein durch das erzieherische Moment spezifiziert, das heißt näher charakterisiert ist“ (S. 21). Pädagogik sei keine „angewandte“, sondern eine „selbständige Wissenschaft“ (S. 29 und 32). Erziehung sei die Praxis, Pädagogik die Wissenschaft. Pädagogisches Wissen sei „nicht die letzte Entscheidungsinstanz für den tatsächlichen Vollzug praktischer Erziehung“ (S. 36). „Es gibt vielmehr untheoretische Prinzipien, Impulse und Forderungen des Lebens selbst, aus denen heraus die unmittelbare Erziehungsbemühung der Menschen in der Geschichte sich fortzeugend entwickelt“ (S. 36). Allerdings trennte Schulze-Soelde Erziehung als Geschehen und Wissenschaft von der Erziehung weniger rigoros als z.B. Krieck. Doch war es für ihn „zum mindesten […] doch eigentlich selbstverständlich […], daß ein gewissenhaftes Beschreiben und Erklären der Zustände und Bewegungen einer Untersuchung darüber, wie etwa eine Änderung herbeizuführen sei, voranzugehen habe“ (S. 37). „Pädagogik ist weniger eine gesetzgebende als vielmehr ein gesetzfeststellende Disziplin“ (S. 38). Ganz in Hegels Sinne kürte er „zur letzten Aufgabe“ der Pädagogik als Wissenschaft von der Erziehung, „die positive Beschreibung der erfahrbaren Erziehungstätigkeit mit dem positiven Ablauf der Erziehungsgeschichte, ja der Menschheitsgeschichte überhaupt und ihren metaphysischen Gründen in Einklang zu bringen“ (S. 47). Auch hier eröffnete sich die Möglichkeit zur Anpassung an die kurzfristigen Wendungen der Geschichte: „Alles kommt darauf an, daß ein der gegenwärtigen Zeit entsprechendes System“ konstruiert würde, das „dem Sachverhalt des historischen Entwicklungsverlaufes entspricht“ (S. 60). Doch wie kommt der Pädagoge „aus der Schlinge des zeitbedingten Relativismus wieder heraus“? Die Gegenwart in ihrer „engen Beziehung der aktuellen Zeit auf die totale Zeit“ bietet sich ihm gleichsam vermittelnd an zwischen den „totalhistorischen Prinzipien“ bzw. der Substanz oder dem metaphysischen Wesen einerseits und dem temporären Charakter resp. der zeitlichen Begrenztheit bestimmter Erziehung andererseits (S. 60f.). Es wird sich zeigen, ob Schulze-Soelde willens und fähig war, nach 1933 die Substanz seines pädagogischen Ideengebäudes trotz der Anpassung an die damalige Gegenwart zu wahren. Revisionskompetenz

Schulze-Soelde legte nach 1933 keine revidierte Fassung seines pädagogischen Hauptwerks vor. Das zeichnet ihn formal gegenüber manch anderem Erziehungswissenschaftler oder Pädagogen seiner Zeit aus. Die eigene Prophezeiung erfüllte er 52 Vgl. Krieck, Philosophie der Erziehung (wie Anm. 50), S. 45f.

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dennoch − bezogen auf das eigene Verhalten und speziell das Ausmaß seiner Anpassungsbereitschaft − keineswegs. Allerdings ist man genötigt, sich bei der Analyse seiner (veröffentlichten) Pädagogik nach 1933 mit dem Wenigen und thematisch Begrenzten zu bescheiden, das er in der Zeitschrift „Die Erziehung“ in zwei Folgen 1942 unter dem Titel „Volk und Bildung“53 publizierte. Die durch ihn hier geforderte „Überprüfung der bisher üblichen Auffassung“ (S. 1) entpuppt sich als nationalsozialistische Akzentverschiebung eigener Überzeugungen bis hin zur strikten Absage an frühere Positionen. Während ihn 1930 der Zusammenhang von Persönlichkeit, Staat und Staatengemeinschaft bewegte, interessierte er sich 1942 vor allem für die „geheimnisvollen Zusammenhänge, welche zwischen der Spaltung der Seele und der Spaltung des Volkes bestehen“. Ursache sei die „Verbildung der Seele durch überfremdendes Wissen“ (S. 3). Inmitten des Zweiten Weltkriegs sinnierte er anstatt über eine künftige friedliche Welt über die seinerzeit angeblich aktuelle „Renaissance des deutschen Menschen“ als Antwort auf die „westische Idee der Menschengleichheit“. Lediglich an der ursprünglichen Auffassung hielt er fest, dass es bei der Erziehung „auf die Unversehrtheit des seelischen Anlagebestandes“ ankäme (S. 3). Es irritiert, dass er nun Bildung nicht als „Besitz von irgendwelchem beziehungslosen Wissen“ verstanden wissen wollte, sondern „von Wissen und Können getragene Berufstüchtigkeit“ (S. 3). Damit hatte er sich auf das herrschende pragmatische Bildungsverständnis herabgelassen, wenn auch nicht voll und ganz. Denn Schulze-Soelde glitt im Anschluss an seinen ursprünglichen Bildungsbegriff noch weiter in die geistigen Untiefen nationalsozialistischer Weltanschauung hinab, indem er sogar den „nach dem überwundenen intellektualistischen Maßstab als ‚ungebildet‘ Gekennzeichneten“ unter Umständen „echte Bildung“ zugestand. Unverzichtbar dazu war allerdings die zügellose Geistesakrobatik eines opportunistischen Begriffsverdrehers bzw. – neutraler − Begriffsauslegers. Bildung mache „Treue des Menschen gegen sich selbst aus“. Solche Bildung könne „jeder […] erfüllen“, wodurch denn auch die „Spaltung der Gemeinschaft durch Bildungsunterschiede nicht mehr möglich“ sei (S. 4). Der gemeine ungebildete und intelligenzfeindliche Nationalsozialist wird dies gern vernommen, wenn auch – bis auf die Zensoren der Zeitschrift − wohl nicht gelesen haben. Schulze-Soelde offenbarte hier eine eklatante Schwäche seines Bildungsbegriffs, auf dessen Grundlage er im Extremfall z.B. einem sadistischen Aufseher in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern oder einem mordlüsternen Anstifter von 53 Walther Schulze-Soelde, Volk und Bildung, in: Die Erziehung, 18 (1942) Teil 1, S. 1–17, Teil 2, S. 48–64. – Im Folgenden werden die Quellennachweise zu dieser Publikation der Einfachheit halber in Klammern in den laufenden Text eingefügt.

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Massenerschießungen im okkupierten Osten Bildung hätte bescheinigen müssen, sofern der seine psychopathologischen‚ quasi „wesensidentischen“ Neigungen bis zur sadistischen Persönlichkeit entfaltet hatte und ungehemmt unter den Bedingungen des Krieges gleichsam „wurde, was er ist“. Da hilft denn angesichts der brachial rücksichtslosen, vor der Vernichtung ihrer ausgesuchten Gegner nicht zurückscheuenden Entwicklung des eigenen Volkes zu Kriegern, Eroberern und Unterdrückern anderer Völker auch nicht, dass er den „ehernen Gang des Volkes […] zum Maßstab für alle Bildung“ (S. 48) erhob. Dieses Volk war gerade dabei, durch Menschentötung in einer bis dahin ungekannten Dimension nachhaltig unermessliche Schuld auf sich zu laden. Schulze-Soeldes Erziehungs- und Bildungsverständnis ist in einer derart interpretationsoffenen Varianz nichts wert. Die Anpassung seines Bildungsbegriffs an die nationalsozialistische Weltanschauung brachte ihn nun ebenfalls dazu, sich als Antimarxisten zu positionieren und auf dem Wege der Auseinandersetzung mit dem Materialismus die Rassenideologie und -politik des Nationalsozialismus zu verteidigen. So entstünden nach Schulze-Soelde „Haß und Mißgunst in den Klassen“ nicht etwa als Reaktion auf die im „‚Kommunistischen Manifest‘ vom Jahre 1848“ aufgeführte Tatsache sozialer Ungleichheit, sondern durch die Schuld des Marxismus, der „den Sachverhalt der Volksspaltung in arm und reich benützte, um den Bürgerkrieg zu eröffnen und Versöhnung zu verhindern“ (S. 50). Falsch sei vor allem die marxistische Auffassung, dass „der Grad des Eigentums […] den Grad der Bildung [bestimme]“ (S. 51). „Bedeutsamer ist die durch Vererbung bedingte Existenz des Menschen. Seine Erbmasse bleibt wesentliche Voraussetzung, Bildung zu erwerben“ (S. 51). Nach wie vor plädierte er für „eine Konformität der Bildung mit der Beschaffenheit des Menschen“. Nun aber deutete er die These derart, dass „wegen der engen Verbindung der seelischen Beschaffenheit mit der leiblichen Gestalt“ angenommen werden dürfe, „daß eine Vererbung seelischer Eigenschaften nur auf dem Wege leiblicher Erbvorgänge möglich ist“. Die von ihm 1930 noch zurückgewiesene Menschenzüchtung wurde zum Bestandteil von Bildung, denn, so Schulz-Soelde 1942, „wenn nun die Frage nach der Bildung gestellt wird, besinnen wir uns auf jene Mächte, von denen wir ungewollt und unbewußt erfaßt werden, und nehmen sie als Bildungskräfte in unsere Bemühungen auf“ (S. 52, Hervorhebung d. Verf.). Nicht minder bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die rassenideologische Umdeutung seiner ursprünglichen Auffassung von der wachsenden Bedeutung von Individualität und Persönlichkeit, die noch 1930 in weltgeschichtlicher Tendenz eine friedliche Staatengemeinschaft hervorbringen sollte. 1942 liest sich der vorgebliche Entwicklungsverlauf so: „Nur der Mensch hat Geschichte im eigentlichen Sinne, aber ebensosehr gehört er auch der Natur an […]. Im biologischen Entwicklungsgesche-

Walter Schulze-Soelde (1888–1984)

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hen kann man eine wachsende Differenzierung individueller Gestalten feststellen […]. Eine niedrige Rasse hat stark angeglichene Individuen. Eine höhere Rasse zeigt stärker sich voneinander abhebende Personen. […] Im welthistorischen Geschehen steigert sich die Bedeutung der Individualität“ (S. 58). Was Schulze-Soelde in diesem Kontext bewegt, ist die Frage, wie solche individuell variierende deutsche „‚Nationalpersönlichkeit‘ möglich“ werde (S. 58). Kriecks Antwort war ihm nicht recht, der Individualität auf der Basis von Typenerziehung durch Gemeinschaften, aber als Ergebnis von Selbsterziehung über den Typus hinaus deutete. Schulze-Soelde erklärte stattdessen: „Persönlichkeit […] ist gebildet bei Bildung der Gemeinschaft durch sie […]. Die Größten […] wirken typenbildend, indem eine Anzahl von Menschen in ihren Bann schreitet. Dann werden sie zu mythischen Gestalten, wie Platon, Friedrich der Große oder Goethe. Es kommt zu einer plastischen Konkretisierung der Volksseele“ (S. 59). Die gewissermaßen hier und da − und in diesem Fall sogar gegenüber einem nationalsozialistischen Chefpädagogen − beanspruchte eigensinnige Differenz störte seiner Meinung nach die Volkseinheit nicht, selbst wenn sie speziell gegenüber dem in relative Ungnade gefallenen Ernst Krieck sich seinerzeit möglicherweise leichter beanspruchen ließ als gegenüber mächtigeren Autoritäten: „Denn die weitgespannte Freiheit der Nation in ihrer Denkeinheit“ sei „der Maßstab für die Gedankenfreiheit der Person“ (S. 63). Hinsichtlich der Sehnsucht nach einem „Führer“ musste Schulze-Soelde keine Revisionskompetenz nachweisen. Er zitierte sich 1942 nahezu selbst: „Das Volk bedarf des Führers […]. Er weiß, was er will, meistert die Klarheit seines Entschlusses […]. In ihm ist der Wille des Volkes schon vorgewollt […]. Die Gefolgschaft geht mit“ (S. 62f.). Man könnte, wenn man es denn unbedingt wollte, den Revisionstext auch ein wenig nachsichtiger lesen, etwa als Plädoyer für den nachhaltigen Wert humanistischer Bildung. Immerhin behauptete er: „Unsere Orientierung an der Antike kann nicht abgeschlossen sein. Sie bleibt eines der wertvollsten Stücke unserer Nationalbildung“ (S. 16). Allerdings müsste man sich dazu der substanzverdrehenden Methode bedienen, wie sie Schulze-Soelde 1942 vorexerzierte. Denn „das Humanitätsideal“ der Antike, so warnte er, berge die Möglichkeit, eigene Menschenart aufzugeben zugunsten „menschliche[r] Weitherzigkeit“ (S. 15). Doch, so Schulze-Soelde weiter, „wir vertragen nicht mehr eine sentimentale Humanität. […] Es müßte schon eine solche sein, die aus dem Leiden die höchste Kraft gewinnt und hart wird“ (S. 15). Auch solcher Gewinn sei möglich. Denn „das rein Menschliche am Griechentum“ war „ganz intensiv griechisch“. Nach diesem griechischen Vorbild „können wir […] unsere Menschlichkeit intensivieren“ (S. 16), was denn bedeuten sollte, eigensinnig und selbstbezo-

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gen den „spezifisch völkischen Charakter“ (S. 15) der Deutschen auszubilden, von dem er 1930 anscheinend noch nicht allzu viel wusste.

Fazit

Es ist beinahe schon müßig zu fragen, ob es die Schnittmengen seiner geisteswissenschaftlichen Pädagogik mit den im Nationalsozialismus zur Herrschaft gelangten pädagogischen Ideen waren, die Schulze-Soelde die Anpassung seines Theoriegebäudes an die nationalsozialistische Weltanschauung erleichterten oder nicht. Dagegen spricht, dass sich in seinen „Pädagogischen Untersuchungen“ von 1930 im Wesentlichen Diskrepanz zur nationalsozialistischen Propagandalehre Hitlers offenbart. Tatsächliche Berührungen und Anknüpfungsmöglichkeiten zerrütten die Einheit in der Vielfalt seines 1930 veröffentlichten pädagogischen Denkens nicht, auch wenn die Schnittmengen nicht gerade unerheblich sind. Seine 1933 durch den Beitritt zur NSDAP demonstrierte und 1942 durch die Veröffentlichung in der Zeitschrift „Die Erziehung“ bekräftigte Revisionsbereitschaft wirkt derart maßlos, dass ihr ohnehin kaum eine Theorie oder politische Überzeugung widerstanden hätte. Es war offenkundig purer Opportunismus, der ihn dazu trieb, den ursprünglichen Entwurf seiner „Pädagogik“ ebenso „weltanschaulich“ zu opfern wie seine durchscheinenden politischen Ansichten. Doch vielleicht war ja auch sein ursprüngliches Werk schon nichts weiter als ein in den erziehungswissenschaftlichen Mainstream am Ausgang der Weimarer Republik gebetteter geistiger Gewaltakt eines Karrieristen. Diesen Zweifel muss sich Walther Schulze-Soelde gefallen lassen. Ein glückliches Timing gelang ihm − wie schon 1930 − allerdings nicht. Erneut stand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines zweiteiligen Aufsatzes mit der nahenden Wende des Krieges auch jene „Zeitenwende“ bevor, die ihn von seinem Lehrstuhl in Innsbruck wieder vertrieb. Auf den war er letzten Endes 1939 nicht einmal vordergründig wegen nachgewiesener Anpassungsbereitschaft, sondern auf Empfehlung Eduard Sprangers und auf Grund einer besonderen Interessenlage der Fakultät berufen worden.54

54 Brezinka, Pädagogik in Österreich (wie Anm. 12), S. 435ff.

Abbildungsverzeichnis Beitrag Förster: Abbildung 1: Obersturmbannführer Gerhard Adam (Quelle: Jahrbuch für Studierende 1934, o.S.) Abbildung 2: Das Kameradschaftshaus der Greifswalder Studentenschaft (Quelle: Jahrbuch für Studierende 1934, o.S.) Abbildung 3: Im Kameradschaftshaus (Quelle: Jahrbuch für Studierende 1934, o.S.) Abbildung 4: Die Universitätskampfbahn (Quelle: Jahrbuch für Studierende 1937, o.S.) Abbildung 5: Greifswalder Studierende beim Reiten (Quelle: Jahrbuch für Studierende 1937, o.S.) Abbildung 6: Eine Segeljacht des Akademischen Segler-Vereins (Quelle: Jahrbuch für Studierende 1934, o.S.) Beitrag Dietrich: Grafik 1: Entwicklung der Immatrikulations- und Studierendenzahlen (Quelle: Universitätsmatrikel) Grafik 2: Entwicklung der Immatrikulations- und Studierendenzahlen im Vergleich (Quelle: Universitätsmatrikel) Grafik 3: Entwicklung der Immatrikulationszahlen innerhalb der Fakultäten (Quelle: Universitätsmatrikel) Grafik 4: Entwicklung der Immatrikultationszahlen innerhalb der Fachrichtungen der Philosophischen Fakultät (Quelle: Universitätsmatrikel) Grafik 5: Entwicklung der Konfessionszugehörigkeit (Quelle: Universitätsmatrikel) Grafik 6: Art der sozialen Zugehörigkeit (Quelle: Universitätsmatrikel) Grafik 7: Entwicklung der Herkunft des Vaters, der Mutter oder des Vormunds (Quelle: Universitätsmatrikel) Grafik 8: Aufteilung der preußischen Provinzen bei der Herkunft des Vaters, der Mutter oder des Vormunds (Quelle: Universitätsmatrikel) Grafik 9: Anzahl der neu immatrikulierten Studenten mit mindestens einer Voruniversität in Prozent (Quelle: Universitätsmatrikel) Grafik 10: Entwicklung des Geschlechterverhältnisses innerhalb der Philosophischen Fakultät (Quelle: Universitätsmatrikel) Grafik 11: Entwicklung des Geschlechterverhältnisses innerhalb der Medizinischen Fakultät (Quelle: Universitätsmatrikel) Beitrag Kröger: Grafik 1: Prozentualer Anteil ausländischer Studenten berechnet nach den halbjährlichen Meldungen an das Preußische und Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (UAG, R 749 Bd. 1 und R 314 Bd. II.) und dem Amtlichen Verzeichnis der Studierenden der Universität Greifswald (UAG, Typoskript ohne Signatur). Gesamtstudierendenzahl nach Carsten Woigk, Die Studierenden der Universität Greifswald 1808-2006 – Eine statistische Übersicht, in: Dirk Alvermann, Karl-Heinz Spiess (Hg), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald. Band I. Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Leipzig 2006, S. 561-583, hier S. 573f. Abbildung 1: Blauer Studentenausweis des Norwegers Harald Borna, der an der Universität Greifswald vom Sommersemester 1937 bis zum Sommer-

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semester 1939 Zahnmedizin studierte (UAG, Studentenakten I, Nr. 68) Dokument 1: Semesterbegleitschein vom Wintersemester 1937/38, der die Veranstaltungen auflistet, die der Brite John Wilfred Evans besuchte. Die von Evans durchgestrichenen Vorlesungen von Traub und Jacoby fielen aus, da beiden die Lehrbefugnis aufgrund nichtarischer Abstammung aberkannt wurde (UAG, Semesterbegleitschein für das Wintersemester 1937/38, Nr. 354) Tabelle 1: Zahlen nach den halbjährlichen Meldungen an das Preußische und Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (UAG, R 749 Bd. 1 und R 314 Bd. II.) Beitrag Grube: Abbildung 1: Organigramm des Oder-Donau-Instituts (Quelle: Entworfen nach Schreiben Seraphims zur Arbeitsaufgabe, Aufbau und Organisation des Oder-Donau Instituts vom 5.12.1942, UAG, Altes Rektorat R 334, Bl. 146–150; ebenso BArch, R 3101/9903, Bl. 77–81) Tabelle 1: Jahresbeiträge der Hauptträger und Förderer des Oder-Donau-Instituts (Quelle: Entworfen nach Abschrift der konstituierenden Sitzung des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts Oder-Donau am 10.1.1944 in Stettin, LAGw, Rep. 96, Nr. 160, Bl. 41–44, hier Bl. 43) Abbildung 2: Länderspezifische Artikel in den Wirtschaftsberichten des Oder-Donau-Instituts (absolute Häufigkeit, 1944/45) Grafik 1: Themenschwerpunkte von Artikeln der Wirtschaftsberichte des Oder-Donau-Instituts (relative Häufigkeit, 1944/45) Beitrag Barz: Tabelle 1: Anzahl der nicht ständig Beschäftigten in den Hofkarten der Universitätsgüter (Quelle: LAG, Rep. 66 Greifswald, Nr. 509–521) Tabelle 2: Eingesetzte Zwangsarbeiter in den Einrichtungen der Universität (Quelle: UAG, K 5612/13, Kriegsstatistik) Tabelle 3: Anzahl der eingesetzten Zwangsarbeiter in den Einrichtungen der Universität und der Anteil an Kriegsgefangenen (Quelle: UAG, K 5612/13, Kriegsstatistik) Beitrag Vsevolodov: Abbildung 1: Major Anosova und Kapitän Serebrjanikov bei der Untersuchung eines Skelettfundes in Altengrabow (Quelle: GARF, Moskau) Dokument 1: „Begleitschreiben des hauptgerichtsmedizinischen Experten des Ministeriums für die bewaffneten Streitkräfte, Oberst Avdeev, zu den Dokumenten vom 5. März 1948 an den TchGK-Sekretär Bogojawlensky“. (Quelle: GARF, Moskau) Dokument 2: „Bericht über die Arbeit des gerichtsmedizinischen Laboratoriums Nr. 63 an den hauptgerichtsmedizinischen Experten des Ministeriums für die bewaffneten Streitkräfte, Oberst Avdeev, vom 26. Januar 1948 von der Laboratoriumsleiterin, Major der Medizin, Frau Anosova“ (Quelle: GARF, Moskau) Dokument 3: „Beschluss der gerichtsmedizinischen Untersuchung von 69 Leichen, die im Keller des Anatomischen Instituts der Universität in Greifswald, Provinz Mecklenburg, gefunden wurden.“ (Quelle: GARF, Moskau) Dokument 4: „Schlussfolgerungen

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der Kommission über die Ursachen des Todes“ (Quelle: GARF, Moskau) Dokument 5: „Die TchGK-Anordnung Nr. 6A vom 24. Juni 1951 über die Übergabe ihrer Unterlagen an das Ministerium für Innere Angelegenheiten“ (Quelle: GARF, Moskau) Beitrag Alvermann: Abbildung 1: Das Anatomische Institut der Universität Greifswald, ca. 1930 (Quelle: Universitätsarchiv Greifswald) Abbildung 2: Präpariersaal des Anatomischen Instituts der Universität Greifswald (Quelle: Universitätsarchiv Greifswald) Tabelle 1: eingelieferte und bestattete Leichen 1935 bis 1947 Tabelle 2: Herkunft der Leichen 1935 bis 1944 Abbildungen Hansson: Abbildung 1: Führerschule der Deutschen Ärzteschaft in Alt Rehse (Quelle: Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse e.V.) Abbildung 2a/b: Seiten aus dem Gästebuch der Führerschule Alt Rehse (Quelle: Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse e.V.) Abbildung 3: Nachweis über Gösta Häggqvist aus der Personenkartei der Nordischen Auslandsinstitute der Universität Greifswald (Quelle Universitätsarchiv) Beitrag Pehnke/Wiegmann: Abbildung 1: Walther Schulze-Soelde (ca. 1930) (Quelle: Wolfgang Brezinka, Pädagogik in Österreich. Die Geschichte des Faches an den Universitäten vom 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Bd. 2, Pädagogik an den Universitäten Prag, Graz, Innsbruck, Wien 2003, S. 908) Dokument 1: Original des Gutachtens von Nicolai Hartmann (UAG, PhilFak I-368, Bd. 2, Fasz. 49)

Personenregister Achterberg, Eberhard 166 Adam, Gerhard 50, 51, 109, 119, 120 Adler, Peter 101, 102 Ahlqvist, Erik 357 Ahnlund, Nils 242 Almquist, Ernst Bernhard 357 Anosova, 283, 284, 287, 288, 291, 292, 306, 310, 398 Arndt, Ernst Moritz 16, 23, 28, 237 Arnold, Karl 111, 112, 116 Arvidson, Stellan 103, 229 Avdeev, 283, 284, 291, 398 Baethge, Heinz 92, 93 Baeumler, Alfred 166, 173, 371, 383 Balland, 276 Bamberger, Philipp 137 Barbusse, Henry 92 Barthel, Ernst 375 Bauch, Bruno 378, 379 Baumann, Hans 167 Baumgärtel, Friedrich 147, 162 Becher, Hellmut 326 Becker, Carl Heinrich 93, 96, 224, 225 Becker, Oskar 375 Beckhoutte, 276 Behr, Artur, von 92 Beitl, Richard 151 Beitz, Berthold 120 Bendt, Karl-Heinz 120, 125 Berglund, Åke 357 Bernfeld, Siegfried 389 Bernheim, Ernst 375 Betz, Hermann 275 Beyer, Hermann Wolfgang 150, 173, 230 Bezold, Karl 325

Biermann (geb. Dörr), Olga 325, 326 Bischoff, Hans 136, 137, 138, 140 Bismarck, Otto, von 23 Bjerknes, Vilhelm Friman 360 Błaszek, Ferdynand 296, 299, 307 Bloedorn, Wilhelm 204, 268 Blome, Kurt 354 Boehm-Tettelbach, Arthur 114 Bogojawlensky, 283, 290, 398 Bonnier, Gert 367 Böök, Fredrik 368 Bora, Andreas Michael 199, 200, 216, 217, 219 Bortz, Heinrich 342, 343 Bouhler, Philipp 154 Brackmann, Albert 243, 244, 245 Braun, Gustav 32, 173, 225–228, 231–233, 253, 254 Breker, Arno 157 Brinck, Joachim 138 Brock, Joachim Ferdinand 137, 138 Broman, Ivar 363 Brüsch, Werner 116, 117 Brüske, Hermann 103, 105, 124, 125, 139, 228 Bubnoff, Serge, von 113 Bukowski, Paweł 301, 308 Bumke, Oswald 19, 36 Carlsson, Gottfrid 240 Cassirer, Ernst 383 Celiński , Stanisław 297, 298, 307, 342, 349 Cohen, Hermann 374 Cohn, Jonas 383 Conti, Leonardo 352, 355, 363 Conti, Nanna 354 Corswant, Walther, von 93

Personenregister

Crona, Sune 357 Curschmann, Fritz 169 Dahlberg, Gunnar 359, 362 Dalman, Gustaf 27, 227 Darré, Walther 166 Degkwitz, Rudolf 140 Deißner, Kurt 31, 34, 50, 99, 100, 105 Derichsweiler, Albert 33, 110, Deuchler, Gustav 371 Diewerge, Heinz 151, 155, 162, 169, 170, 173, 175, 176, 177, 178, 179 Dragendorff, Otto 313, 321, 322, 323, 324, 325, 326, 328, 336 Dresel, Ernst 131, 132, 140 Driesch, Walther 374, 375, 376, 378 Durieu, Firmin Pierre 262, 263 Ebert, Hermann 324, 325 Ekblom, Leif 357 Engel, Carl 10, 16, 46, 97, 204, 236 Engeström, Sigfrid, von 239 Essen-Möller, Erik 361 Euler-Chelpin, Hans, von 361 Evans, Wilfred 191, 192, 193, 398 Ewald, Gottfried 124, 140 Falckenberg, Richard 374 Falk, Günther 103, 114, 116, 121, 184, 229, 237, 249, 250 Fedylski, Stanisław 298, 307 Feickert, Andreas 111 Feldmann, Harald 116, 117 Feldmann, Ruth 102 Fengler, Erwin 205, 207, 208, 209, 210, 214 Fichte, Johann Gottlieb 374, 383 Fingerhut, Otto 248 Finke, 98 Finke, August 251 Fischer, Eugen 161 Fleischer, Horst 325, 326, 337, 339 Flitner, Wilhelm 370, 371

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Foltarec , Tomasz 301, 308 Forssell, Gösta 361, 362, 365 Forster, Edmund Robert 32, 131, 140 François-Poncet, André 194 Frank, Erich 375 Freyer, Hans 152 Friedrich, Caspar David 23 Friedrich der Große 395 Fripiat, Jaques 276, 277, 278 Frostell, Gunnar 357 Fürst, Carl-Magnus 368 George, Stefan 168, 174 Gercke, Achim 105 Giesecke, Fritz 358 Goebbels, Joseph 18, 92, 153, 154 Goethe, Johann Wolfgang, von 356, 395 Gołoński , Dominik 295, 307 Goltz, Theodor, von der 232 Göring, Hermann 167 Göring, Matthias Heinrich 355 Goroncy, Kurt 140 Gottschald, Kurt 22 Grellmann, Hans 228, 230, 236, 238, 242, 245, 251 Gribel, Rudolf Christian 211 Grimm, Hans 173 Groos, Karl Theodor 378 Grossmann 132 Grote, Heinrich 354 Groth, Werner 324, 325, 337, 338 Gülzow, Erich 237 Gülzow, Martin 275 Günther, Hans Friedrich Karl 161, 163, 164 Gustyn, Henryk 302, 308 György, Paul 130 Haasler, Gerhard 105 Häggqvist, Gösta 357, 362, 363, 364, 365, 366, 367, 368, 369, 399

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Personenregister

Hamel, Walter 191, 192 Hämel, Josef 140 Hansen, Claus Gustav 360 Hartmann, Nicolai 378, 380, 399 Hartnack, Wilhelm 126, 173, 228 Hasselwander, Albert 366 Hauer, Jakob Wilhelm 163, 173, 174 Haupt, Joachim 91, 118, 123 Hedin, Sven 240, 368 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 374, 383, 391, 392 Hehn, Jürgen, von 217–219, 221, 246, 247 Heidegger, Martin 152, 173 Heinemann, Fritz 375 Heller, Ludwig 156, 162, 169, 173, 176 Henschen, Folke 362 Henschke, Karl Heinrich 149, 151, 155, 162, 164, 165, 171–175, 178, 179 Henschke, Susanne 146, 172 Henschke, Wilhelm 146, 172 Hensel, Paul 374 Herigel, Eugen 375 Hertwig, Günther 321 Heß, Rudolf 110, 123 Hey, Rolf 132, 133, 140 Heydrich, Reinhard 159, 197 Hierl, Konstantin 166 Himmler, Heinrich 153, 154, 165–167, 177, 340, 341, 354 Hirt, August 139, 140, 321–325, 327, 336, 339, 340 Hitler, Adolf 18, 47, 63, 91, 94, 98, 118, 130, 139, 144, 145, 148, 153, 159, 167, 178, 227, 357, 365, 367, 371, 382, 383, 386, 388, 396 Hoehne, Ottmar 140 Hoepner, Georg 268 Hoffmann, Friedrich 19, 34, 148 Hofmeister, Adolf 169, 231

Holmgren, Israel 362 Holtz, Gebhardt 210–212 Hönigswald, Richard 383 Hoppe-Seyler, Felix Adolf 140, 276 Hube, Fritz 103 Hülle, Werner 163, 164 Hutten, Ulrich, von 23 Ivinskij 293, 306 Jacobi, Walter 140 Jacoby, Günther 35, 146, 191–193, 398 Jahn, Friedrich Ludwig 23 Jan, Eduard, von 169 Jander, Gerhard 197 Jansen, Werner 123, 125, 134 Japremko, Wieńczysław 301, 303, 308 Jarmer, Ernst 95, 112 Jazandin, Petr 298, 304, 307, 345 Jeřábek, Josef 198–200 Jeremias, Joachim 147, 162 Johansson, Martel 357 Jonckheer, Robert 277, 278 Jung, Friedrich Walter 319 Just, Günther 42, 198, 199, 238, 320, 321 Kähler, Wilhelm 30, 231 Kaiser, Georg 159 Kaiser, Karl 149–151, 155, 165, 168, 169–172, 174, 178, 179, 238 Kakircak , Kazimierz 296, 307 Kant, Immanuel 374, 383 Karpenstein, Wilhelm 32, 91, 95, 96, 100, 103, 104, 106, 112 Katsch, Gerhardt 27, 140, 275 Kawerau, Siegfried 384 Keese, Fritz 251 Kerrl, Hanns 238 Kiehl, Erhard 120 Kiesselbach, Anton 323, 324 Kivimaa, Arvi 254 Kjærgaard, Helge 191

Personenregister

Kjellin, Helge 239 Klingmüller, Fritz 28, 30, 98, 102 Knutson, Dag 357 Koepke, Karl Heinrich 100, 105 Koepp, Wilhelm 147, 162, 234 Koeppen, Wolfgang 30 Kogge, Werner 98 Kohl, Peter 144 Köhlberg, Bror 357 Kolbe, Friedrich 382 Kołek, Władysław 294, 307 Königstein, Karl 95–97 Konjetzny, Georg 134, 135, 140 Koppe, Wilhelm 247 Koriakowskij, Stepan 298, 307, 345 Kotter, Ludwig 36 Krahsnow, Michael 300, 308 Krallert, Wilfried 217, 218, 246, 247 Krekow , Władysław 297, 307 Kreul, Hellmut 116 Krieck, Ernst 371, 383, 388, 389, 392, 395 Kroh, Oswald 371 Krohne, Rudolf 214 Krüger, Friedrich 231 Krüger, Gerhard 93–95, 100, 117–119 Krüger, Heinz 60, 114, 121, 122, 237, 245, 250, 251, 361 Krüger, Kurt 93, 94, 119 Krüger, Otto 339 Krümmel, Heinrich 340 Kubazik, Wincent 297, 307 Kube, Wilhelm 94 Kühtz, Ernst-Helmut 324, 337 Kumenius, Otto 252 Kummer, Bernhard 163 Kunstmann, Arthur 103, 149, 228, 232 Kutzner, Oskar 371 Kvaran, Eiður 191, 248 Kynast, Reinhard 375

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Lange, Bernhard 311–313 Lange, Ernst 104 Lange, Siegfried 124 Lanz, Titus, von 322 Lautensach, Hermann 113 Leander, Zarah 368 Leckzyck, Adolf 202, 207 Leers, Johann, von 161, 163 Lehmann, Johann Karl 134 Lessing, Gotthold Ephraim 356 Leupold, Ernst 140 Lewke, Joachim 313, 325 Ley, Robert 167 Lilienthal, Otto 238 Liljeqvist, Efraim 356 Linck, Alfred 137, 139, 140 Linder, Richard 248 Lindholm, Edmond 357 Lindström, Einar 357 Lippmann, Julius 103 Litt, Theodor 371, 372, 376, 383 Litten, Hans 347 Ljungman, Waldemar 239 Lochner, Rudolf 371 Loebell, Helmut 137 Loeschcke, Hermann 133, 134, 136, 140 Lohmann, Heinz 100, 111, 123–127 Lohmeyer, Ernst 16 Lommatzsch, Erhard 169 Löning, George 242 Lottmann, Werner 121 Lubbe, Alfred 98, 99, 102 Lubosch, Wilhelm 366 Ludendorff, Mathilde 174 Lundborg, Herman 353, 359 Lundström, Vilhelm 233, 239 Mackensen, Lutz 147, 150–152, 156, 162, 165, 169, 173, 175–177 Magon, Leopold 147, 149, 151, 156, 159, 165, 169–173, 175, 176, 191,

404

Personenregister

226–231, 233, 236, 237, 241, 245, 248, 249, 253, 254 Maier, Heinrich 374, 378, 379 Mann, Heinrich 26, 28 Mann, Thomas 39, 159 Markwardt, Bruno 156, 159, 176 Mazuw, Emil 204 Meisner, Wilhelm 29, 34, 46, 102, 136, 140 Mendelssohn, Moses 156 Mentzel, Rudolf 119 Menzel, Herybert 167 Merker, Paul 169, 226 Metzner, Paul 231 Milęnčik, Wiktor 299, 307 Möller, Eberhard Wolfgang 167 Müller, Georg Elias 374 Müller, Wolfgang 245 Murawski, Erich 114, 115 Mütze-Specht, Fanny 316 Naegeli, Theodor 134 Natorp, Paul 374, 381 Naumann, Hans 168 Nehring, Käthe 107 Némirowsky, Irène 173 Nerosnak, Wasilij 296, 307 Neubert, Kurt 325 Neumann , G. 344 Nevanlinna, Rolf, 240 Niebrzekowski, Wacław 299, 307, 341, 342 Niemöller, Martin 167, 168, 174 Nilsson-Ehle, Herman 356 Nohl, Herman 370 Nordenson, Johan Wilhelm 360, 361 Nosarew, Petr 299, 307, 345 Nowakowski, Bolesław 302, 308 Oberländer, Theodor 113, 114, 177, 208, 244 Odeberg, Hugo 356

Opitz, Hans 137 Oredsson, Sverker 357 Orloff, Walter 101 Örn, Torsten 368 Östermann, Hugo 241 Pahl, Hans 241 Palme, Sven 355 Panzer, Friedrich 150 Päpke, Hermann 313 Papritz, Johannes 215 Papst Pius XII 166 Paul, Johannes 169, 194, 200, 226, 227, 229–248, 250, 252, 253, 254, 255 Pawłowski, Feliks 297, 307, 341, 349 Pechau, Manfred 32, 33, 102, 104, 111, 114, 117, 125, 126, 149, 155, 158–161, 178, 179 Pels-Leusden, Friedrich 30, 140 Peter, Karl 139, 140, 321, 322, 326 Petriconi, Hellmuth 276 Petzsch, Wilhelm 169, 234 Pfaff 103 Pfahler, Gerhard 371 Pfuhl, Wilhelm 320–326, 329, 332, 337, 338, 339 Philipp, Ernst 140 Pichler, Hans 147, 149, 156, 176 Pilarski 311, 312 Platon 374, 383, 395 Pleijel, Henning 365 Plessner, Helmuth 375 Plötz, Richard 141 Pochylski, Andreas 297, 307 Polenske, Karl 30 Popp, Otto 322, 336 Proell, Friedrich 33, 136, 139, 140, 142 Puhl, Hugo 134 Rehmke, Johannes 374, 375 Reinerth, Hans 164 Reinhard, Bruno 99, 100

Personenregister

Remak, Robert 364 Reschke, Karl 7, 46, 56, 57, 113–115, 134–136, 138, 140–142, 170, 231 Retzius, Gustaf 368 Reventlow, Ernst, zu 92 Rhein, Georg 323 Richter, Wilhelm 140 Rickert, Heinrich 374 Richter, Werner 226 Rieder, Wilhelm 134, 141 Risinger, Walter 357 Ritter, Gerhard 173 Rittich, Werner 149, 155–158, 178 Rolshoven, Ernst 326 Rosen, Eric, von 240 Rosen, Lilian, von 353 Rosenberg, Alfred 145, 146, 153, 157–159, 164–167, 177, 354, 358 Rössner, Hans 159 Rousseau, Jean-Jacques 383 Rudder, Bernhard, de 137, 138, 140 Ruge-Ranzin, 106 Runge, Hans 140 Runge, Philipp Otto 23 Rust, Bernhard 102, 117, 118, 123, 127, 130, 141, 154, 174, 180, 195, Ruth, Paul Hermann 237 Rutkowski, Anton 344, 350 Sauerbruch, Ferdinand 355 Schach, Peter 302, 308 Schäfer, Johannes 211, 212 Scheel, Gustav Adolf 110, 114, 116, Scheel, Otto 244 Schellenberg, Walter 160 Scheringer, Richard 18 Schiering, Walter 347 Schiller, Friedrich 356 Schirach, Baldur, von 95, 97, 98, 117, 118, 166, 167, 205 Schlobies, Johannes 116

405

Schmekel, August 378 Schmidt, Kurt 95 Schmidtkunz, Hans 375 Schmitt, Carl 38, 152 Schoene, Elmar 206 Scholz, Robert 156, 157 Schönfeld, Walther 140 Schöwe, Elfriede 342 Schreyer, Lothar 156 Schultze, Günther K. F. 361 Schultze, Otto 371 Schultze, Walter 127 Schultze-Naumburg, Arthur 198 Schultze-Naumburg, Paul 163, 198 Schulze-Soelde, Dagmar 373 Schulze-Soelde (geb. Cremer), Helene 373 Schulze-Soelde, Joachim Friedrich 373 Schulze-Soelde, Walther 370–396 Schumann, Waldemar 102 Schürer von Waldheim, Max 239 Schwarz, Dieter 159 Schwarz, Hermann 147, 156, 162, 373–375 Schwarz, Rosemarie 237, 245, 247 Schwede-Coburg, Franz 7, 113, 116, 117, 120, 203, 218 Semrau, Max 30 Seraphim, Hans-Jürgen 212 Seraphim, Peter-Heinz 200, 207–220, 223, 398 Serebrjanikov 283, 306, 398 Simanskij 293, 306, 310 Simon, Paul 114 Six, Franz Alfred 241, 358 Smith 194 Sochorewskji, Stepan 299, 307, 345 Soenke, Jürgen 102, 103 Sokolovsky, Vassilij 282 Sommer, Hermann (Kurator) 103

406

Personenregister

Sommer, Hermann (Anatom) 322, 324, 336 Sommerfeld, Martin 168 Sonnenhol, Gustav Adolf 194 Spamer, Adolf 168 Spanner, Rudolf 321 Speer, Albert 157 Spiering, Albert 313 Spinoza, Baruch 156, 374, 378 Spitta, Heinrich 167 Spranger, Eduard 173, 370–372, 376, 383, 389, 396 Stäcker, Otto 346 Štajakin, Aleksej 299, 307, 345, 350 Stammler, Gerhard 375 Stammler, Wolfgang 147–152, 156, 158, 159, 162, 169, 173, 175–177, 231 Stark, Johannes 19, 38, 43 Stavenhagen, Kurt 152, 176 Steche, Theodor 197 Steinhausen, Wilhelm 124, 131, 140 Steinhauser, Julius 311–313 Stengel von Rutkowski, Lothar, von 163, 167 Stenzel, Julius 375 Stickl, Otto 125, 126, 131–138, 140, 142 Stickler, Georg 371 Stieve, Friedrich 364 Stieve, Hermann 324, 326, 338, 364–367 Stoeckel, Walter 361 Stoeltzner, Wilhelm 137 Strasser, Gregor 98 Strecker, Rudolf 325, 339 Sunkel, Reinhard 91, 97, 118, 123 Svedberg, Theodor 361 Tarnowski, Edward 302, 308 Tempel, Wilhelm 92 Theuermann, Arwed 103

Thorsson, John Oscar 357 Thunberg, Thorsten 361 Tietz, Helene 102 Tillich, Paul 384 Törnquist, Nils 239 Traub, Hans 191–193, 398 Trawkin, Michael 302, 308 Troeltsch, Ernst 379, 381 Trotha, Adolf, von 146, 155, 172 Tucholsky, Gustav 295, 307 Tyssen, Johannes 375 Unwerth, Wolf, von 225, 226 Urbschat, Siegfried 325 Vacano, Paul 318 Vahlen, Karl Theodor 19, 37, 91, 102, 103, 111, 118, 123, 125 Velhagen, Karl 360, 361 Verschuer, Otmar, von 359 Vieweg, Hellmut 125 Volkelt, Hans 371 Vom Hofe, Karl 140 Vos, Andries, de 190, 191 Wacker, Otto 116 Wagner, Gerhard 123, 352, 353, 355 Walden, Herwath (Georg Levin) 156, 157 Walla, Maximilian 325 Weigmann 132 Wels, Paul 134–137, 140 Wendorff, Walther 106, 114 Wendt, Gerhard 91 Werfel, Franz 159 Westman, Axel 361, 362 Wetzel, Georg 320, 321 Wetzel, Siegfried 51 Wilhelm-Kästner, Kurt 46, 231 Will, Gerhardt 339 Willamowitz-Möllendorf, Fanny, von 240 Wimmer, Karl 322–324 Windelband, Wilhelm 374, 378

Personenregister

Wirth, Hermann 174 Wirz, Franz 123–125 Wiskott, Alfred 137 Wizujewski, Ludwik 300, 308 Wohlgemuth, Franz 16, 311 Wolf, Horst 323 Wraczewski , Adam 300, 308 Wrede, Fritz 32, 103, 136, 140, 142 Wulf, Helene 341 Wustrow, Paul 140 Zádor, Julius 103, 140 Zeiger, Karl 321 Zepustin, Timofei 298, 307, 345 Ziegler, Matthes 151, 155, 159–168, 170, 171, 173–176, 178, 179 Ziegler, Konrat 28, 30, 98, 102, 377, 378, 381 Zondek, Bernhard 130 Zühlsdorf, Günter 216, 217

407

HENRIK EBERLE

»EIN WERTVOLLES INSTRUMENT« DIE UNIVERSITÄT GREIFSWALD IM NATIONALSOZIALISMUS

Die Geschichte der Universität Greifswald in der Zeit des Dritten Reiches war geprägt von den Rahmenbedingungen, die die NS-Diktatur vorgab: Jüdische Dozenten wurden vertrieben, die Freiheit von Forschung und Lehre abgeschafft. Professoren beteiligten sich an der Ausformung der rassistischen Ideologie und arbeiteten für die Rüstungsindustrie. Die Entwicklung verlief nicht reibungslos, aber 1937 war die Universität zu einem »wertvollen Instrument« geworden, wie Pommerns Gauleiter Franz Schwede-Coburg zufrieden konstatierte. In diesem Umgestaltungsprozess mobilisierte sich die Hochschule und entwickelte ein eigenes Profi l. Durch das Einwerben von Drittmitteln trieben Naturwissenschaftler den Ausbau ihrer Disziplinen voran und verwandelten die Universität in ein Dienstleitungsunternehmen. 2015. CA. 528 S. CA. 50 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-22397-7

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