"Anerkennung" als Prinzip der Kritischen Theorie 9783110255676, 9783110255669, 2010052993

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"Anerkennung" als Prinzip der Kritischen Theorie
 9783110255676, 9783110255669, 2010052993

Table of contents :
Einleitung
Teil I Probleme und Perspektiven der Kritischen Theorie
1 Zum Strukturwandel der Arbeitswelt
2 Die Arbeitswelt im Fokus der Philosophie
3 Die Kritische Theorie
4 Zwei Argumente zugunsten der Anerkennungstheorie
4.1 „Anerkennung“: ein leistungsstarkes Konzept
4.2 Habermas’ Theorie der Ökonomie: eine problematische Alternative
5 Nancy Frasers Kritik
6 Soziale Wertschätzung
6.1 Zwei Arten von Wertschätzung
6.2 Meritokratische Wertschätzung
6.2.1 Zum Verhältnis von Anerkennungs- und Selbstverhältnis
6.2.2 Zum Verhältnis von meritokratischer Wertschätzung und rechtlichem Respekt
6.3 Wertschätzung und Ideologie
7 Eine Zwischenbilanz
7.1 Sozialtheoretische Befunde
7.2 Zwei Anschlussfragen
7.3 Sozialkritische Perspektiven
Teil II Marx’ anerkennungstheoretische Kapitalismuskritik
1 Zur Renaissance der Marx’schen Theorie
2 Das Thema und die Ziele meiner Untersuchung
3 Marx’ Theorie der menschlichen Produktion
3.1 Die erste Form der Bejahung
3.2 Die zweite Form der Bejahung
3.3 Die dritte Form der Bejahung
3.4 Die vierte Form der Bejahung
4 Zusammenfassung und Weiterführung
5 Der Anti-Hegel: menschliche Produktion und personale Freiheit
6 Die Theorie der menschlichen Produktion als gesellschaftliches und volkswirtschaftliches Modell
7 Zurück zur Kritischen Theorie
8 Marx’sche Ressourcen einer aktuellen kritischen Gesellschaftstheorie
8.1 Noch einmal: die Bejahung der eigenen Individualität
8.2 Liebe
9 Ergebnis
Teil III Hegels kritische Gesellschaftstheorie
1 Der freie Wille als philosophisches Prinzip
1.1 Wollen und Denken
1.2 Struktur und Dasein des freien Willens
1.3 Willentliche Freiheit
1.4 Berechtigte Ansprüche
2 Die Grundzüge der Hegel’schen Staatstheorie
2.1 Substantielle Freiheit
2.2 Konkrete Freiheit
2.3 Zum Aufbau der weiteren Untersuchung
3 Personaler Respekt
3.1 Personsein und personaler Respekt
3.1.1 Personsein
3.1.2 Personaler Respekt
3.2 Das abstrakte Recht
3.3 Personaler Respekt und wirtschaftliche Kooperation
3.4 „Die höchste Zerrissenheit des Willens“
3.5 Aktuelle Perspektiven
4 Soziale Wertschätzung
4.1 „Bürgerliche Ehre“
4.2 Soziale Zugehörigkeit
4.3 Die besonderen Interessen und das abstrakte Recht
4.4 Die „Policey“
4.5 Die Korporation
4.5.1 Ökonomische und rechtliche Aspekte der Korporation
4.5.2 Korporative Beiträge zur Erfüllung der besonderen Interessen
4.5.2.1 „Standesehre“
4.5.2.2 Soziale Zugehörigkeit
4.6 Ergebnis
5 Eine Anerkennungstheorie der „Sucht des Gewinns“ und des „Luxus“
5.1 Zwei Annahmen
5.2 Beruflicher Erfolg und soziale Wertschätzung
5.3 Ergebnis
5.4 Zurück zur Kritischen Theorie
5.4.1 Sozialtheoretische Optionen
5.4.2 Sozialkritische Perspektiven
Ergebnis
Siglen
Literatur
I. Wissenschaftliche Veröffentlichungen
II. Zeitungsaufsätze
III. Online-Veröffentlichungen
Personenregister

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Hans-Christoph Schmidt am Busch „Anerkennung“ als Prinzip der Kritischen Theorie

Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante

Band 104

De Gruyter

„Anerkennung“ als Prinzip der Kritischen Theorie von

Hans-Christoph Schmidt am Busch

De Gruyter

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung.

ISBN 978-3-11-025566-9 e-ISBN 978-3-11-025567-6 ISSN 0344-8142 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Schmidt am Busch, Hans-Christoph. „Anerkennung“ als Prinzip der Kritischen Theorie / von HansChristoph Schmidt am Busch. p. cm. − (Quellen und Studien zur Philosophie) Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-025566-9 (hardcover : alk. paper) 1. Sociology − Philosophy. 2. Critical theory. 3. Recognition (Philosophy) I. Title. HM585.S356 2011 301.01−dc22 2010052993

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Teil I Probleme und Perspektiven der Kritischen Theorie 1 2 3 4 4.1 4.2 5 6 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.3 7 7.1 7.2 7.3

Zum Strukturwandel der Arbeitswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Arbeitswelt im Fokus der Philosophie . . . . . . . . . . . . . Die Kritische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Argumente zugunsten der Anerkennungstheorie . . . . „Anerkennung“: ein leistungsstarkes Konzept . . . . . . . . . . . Habermas’ Theorie der konomie: eine problematische Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nancy Frasers Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Wertschtzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Arten von Wertschtzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meritokratische Wertschtzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Verhltnis von Anerkennungs- und Selbstverhltnis . Zum Verhltnis von meritokratischer Wertschtzung und rechtlichem Respekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wertschtzung und Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialtheoretische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Anschlussfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialkritische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 20 23 28 28 30 39 43 43 46 47 49 57 62 62 66 67

Teil II Marx’ anerkennungstheoretische Kapitalismuskritik 1 2 3 3.1 3.2

Zur Renaissance der Marx’schen Theorie . . . . . . . . . . . . . . Das Thema und die Ziele meiner Untersuchung . . . . . . . . Marx’ Theorie der menschlichen Produktion . . . . . . . . . . . Die erste Form der Bejahung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die zweite Form der Bejahung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71 76 79 81 95

VI 3.3 3.4 4 5 6 7 8 8.1 8.2 9

Inhalt

Die dritte Form der Bejahung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die vierte Form der Bejahung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Weiterfhrung . . . . . . . . . . . . . . . . Der Anti-Hegel: menschliche Produktion und personale Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Theorie der menschlichen Produktion als gesellschaftliches und volkswirtschaftliches Modell . . . Zurck zur Kritischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marx’sche Ressourcen einer aktuellen kritischen Gesellschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Noch einmal: die Bejahung der eigenen Individualitt . . . . Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

104 112 115 120 131 138 140 141 144 151

Teil III Hegels kritische Gesellschaftstheorie 1 1.1 1.2 1.3 1.4 2 2.1 2.2 2.3 3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.3 3.4 3.5 4 4.1 4.2 4.3 4.4

Der freie Wille als philosophisches Prinzip . . . . . . . . . . . . . Wollen und Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Struktur und Dasein des freien Willens . . . . . . . . . . . . . . . Willentliche Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berechtigte Ansprche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Grundzge der Hegel’schen Staatstheorie . . . . . . . . . . Substantielle Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konkrete Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Aufbau der weiteren Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . Personaler Respekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personsein und personaler Respekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personaler Respekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das abstrakte Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personaler Respekt und wirtschaftliche Kooperation . . . . . „Die hçchste Zerrissenheit des Willens“ . . . . . . . . . . . . . . . Aktuelle Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Wertschtzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Brgerliche Ehre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Zugehçrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die besonderen Interessen und das abstrakte Recht . . . . . . Die „Policey“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157 158 160 163 167 171 172 175 179 181 182 182 186 187 193 197 204 210 212 220 226 228

Inhalt

4.5 4.5.1 4.5.2

Die Korporation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . konomische und rechtliche Aspekte der Korporation . . . Korporative Beitrge zur Erfllung der besonderen Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2.1 „Standesehre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2.2 Soziale Zugehçrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Eine Anerkennungstheorie der „Sucht des Gewinns“ und des „Luxus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Zwei Annahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Beruflicher Erfolg und soziale Wertschtzung . . . . . . . . . . 5.3 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Zurck zur Kritischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Sozialtheoretische Optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Sozialkritische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII 233 234 237 237 242 244 246 247 248 262 265 268 281

Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wissenschaftliche Verçffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zeitungsaufstze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Online-Verçffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

299 299 309 310

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

Einleitung Welche Anerkennungs- oder Wertschtzungserwartungen haben die Mitglieder moderner Gemeinwesen als Wirtschaftsbrger? Sind diese Erwartungen ethisch akzeptabel, und lassen sie sich erfllen? Welche (psychischen und sozialen) Auswirkungen hat ihre Nichterfllung? Ferner: Ist die Zugehçrigkeit zur Arbeitswelt fr die Mitglieder moderner Gemeinwesen allein unter monetren Gesichtspunkten wichtig? Oder ist sie auch eine Quelle von Selbstachtung oder Selbstwertschtzung? Schließlich: Wie sind wirtschaftliche Institutionen, Verhaltensweisen und Entwicklungen1 angemessen zu verstehen? Bedarf es hierzu einer nicht-normativen oder einer normativen Sozialtheorie? Und welche Formen von Anerkennung sind im vorliegenden Zusammenhang gegebenenfalls zu bercksichtigen? Fr die Politische und Sozialphilosophie der Gegenwart waren diese und hnliche Fragen lange Zeit von untergeordnetem Interesse. Hierfr war vor allem der in den vorliegenden Bereichen sehr starke thematische Einfluss der Rawls’schen Theorie der Gerechtigkeit und der Habermas’schen Theorie des kommunikativen Handelns verantwortlich. Whrend John Rawls die moderne konomie unter Anerkennungs- oder Wertschtzungsaspekten nicht thematisiert, stellt Jrgen Habermas die Relevanz dieser Gesichtspunkte hinsichtlich eines adquaten Verstndnisses wirtschaftlicher Gegebenheiten in Abrede. Rawls interessiert sich fr die konomie als Ort der Verteilung von Einkommen und Vermçgen. Die gerechtigkeitstheoretische Relevanz derselben ergibt sich fr ihn aus dem Umstand, dass Einkommen und Vermçgen gesellschaftliche Grundgter sind.2 Leitend fr seine Untersuchung ist die Annahme, dass jedweder Einfluss gesellschaftlicher und natrlicher „Zuflligkeiten“3 (soziale Herkunft, genetisch bedingte Fhigkeiten) auf die Einkommens- und Vermçgensverteilung moralisch problematisch und 1

2 3

Ich verwende den Term „wirtschaftlich“, um anzuzeigen, dass die fraglichen Institutionen, Entwicklungen und Verhaltensweisen dem gesellschaftlichen Bereich der Wirtschaft angehçren bzw. in ihm zu beobachten sind. Auch im Folgenden verwende ich „wirtschaftlich“ in diesem bereichsspezifischen Sinne. Vgl. Rawls (1979), 83. Rawls (1979), 94.

2

Einleitung

nach Mçglichkeit zu beseitigen ist.4 In den von ihm aufgestellten Gerechtigkeitsgrundstzen sieht Rawls die bestmçgliche Grundlage einer Milderung5 der Beeinflussung der gesellschaftlichen Verteilung von Einkommen und Vermçgen durch Faktoren der oben genannten Art. Demgegenber wird die Frage, ob die Zugehçrigkeit zur modernen Arbeitswelt auch unabhngig von ihren monetren Aspekten ein Gut ist, in Eine Theorie der Gerechtigkeit nicht zusammenhngend erçrtert. Wie mir scheint, lsst sich dieser Umstand mit Rawls’ gesellschaftlichen und çkonomischen Hintergrundannahmen erklren. Wie seiner Institutionentheorie zu entnehmen ist, teilt Rawls die berzeugung, dass die staatliche Administration auf eine unter Gerechtigkeitsaspekten akzeptable Art und Weise dafr Sorge tragen kçnne, „dass die Arbeitswilligen Arbeit finden kçnnen“,6 die ihren Qualifikationen entspricht.7 Ohne dies explizit zu machen8, begrndet Rawls diese Auffassung keynesianisch: Die oben genannte Steuerungsmçglichkeit bestehe deshalb, weil Regierungen durch die Schaffung einer „wirksame[n] Nachfrage“9 die Grçße und Zusammensetzung des Bruttoinlandsprodukts hinreichend beeinflussen kçnnen. Wenn nun aber tatschlich jeder Arbeitswillige eine seinen Qualifikationen gemße berufliche Beschftigung finden kann, ist es nachvollziehbar, dass unsere obige Frage (ob die Zugehçrigkeit zur modernen Arbeitswelt auch unabhngig von ihren monetren Aspekten ein Gut ist) im Rahmen einer liberalen Gerechtigkeitstheorie nicht nher untersucht wird. Unter jener Bedingung kçnnen die Menschen nmlich durch ihre Entscheidungen als Wirtschaftsbrger selbst die Frage beantworten, welchen Wert die Ausbung von gesellschaftlicher Arbeit und die eventuell mit dieser verbundene Wertschtzung fr sie haben. 4

5 6 7 8 9

Diese Position ist von non-egalitaristischen Gerechtigkeitstheoretikern kritisiert worden. Vgl. in diesem Zusammenhang z. B. die in Krebs (2000) versammelten Aufstze sowie die Beitrge des von S. Gosepath und A. Krebs betreuten Schwerpunktes „Wert der Gleichheit“ (Deutsche Zeitschrift fr Philosophie, 51, 2, 2003, 233 – 297). Egalitre Gerechtigkeitstheorien werden demgegenber in Gosepath (2004) und Hinsch (2002) verteidigt. Eine ethisch akzeptable Beseitigung des Einflusses gesellschaftlicher und natrlicher „Zuflligkeiten“ auf die Einkommens- und Vermçgensverteilung hlt Rawls demgegenber nicht fr mçglich. Vgl. z. B. Rawls (1979), 94. Rawls (1979), 310. Letzteres ist Rawls’ Hinweis auf „die freie Berufswahl“ zu entnehmen. Vgl. Rawls (1979), 310. Dieser Umstand ist ein Indiz fr die sehr große Akzeptanz des Keynesianismus zu jener Zeit. Rawls (1979), 310. Vgl. auch Rawls (1979), 306.

Einleitung

3

Interessanterweise ußert Rawls im Rahmen seiner Analyse der gesellschaftlichen Grundlagen von Selbstachtung – des „vielleicht wichtigste[n] gesellschaftlichen Grundgute[s]“10 – die Auffassung, dass Menschen als Inhaber spezifischer Fhigkeiten Wertschtzung erfahren mssen, um diese frei von „Selbstzweifeln“11 anwenden zu kçnnen. Allerdings ist der Erhalt dieser Art von Wertschtzung seines Erachtens nicht an die Zugehçrigkeit zur Arbeitswelt gebunden: „Gewçhnlich gengt es, wenn jeder wenigstens einer Gruppe angehçrt, in der die fr ihn vernnftigen Ttigkeiten von den anderen çffentlich gutgeheißen werden. Auf diese Weise bekommt man das Gefhl, das eigene tgliche Leben sei etwas wert. […] [I]n einer wohlgeordneten Gesellschaft gibt es die verschiedenartigsten Gruppen und Vereinigungen, deren Mitglieder ihre eigenen Ideale haben, die ihren Zielsetzungen und Fhigkeiten entsprechen.“12

Um einen (im Rawls’schen Sinne) vernnftigen Lebensplan13 ausbilden und unter Anwendung der entsprechenden Fhigkeiten verfolgen zu kçnnen, ist es vom Standpunkt der Theorie der Gerechtigkeit also nicht erforderlich, in einem gesellschaftlichen Sinne zu arbeiten. Folglich erfllen moderne Arbeitswelten hinsichtlich der Sicherung der gesellschaftlichen Grundlagen von Selbstachtung keine ihnen eigentmliche Funktion.14 In seinem sozialphilosophischen Hauptwerk, Theorie des kommunikativen Handelns, vertritt Jrgen Habermas die These, dass die moderne konomie eine „normfreie[]“15 soziale Sphre ist, in der Menschen unter rein strategischen Gesichtspunkten interagieren. Aus diesem Grunde ließen sich çkonomische Gegebenheiten mit den Mitteln der Systemtheorie adquat analysieren. Nach Maßgabe dieser Auffassung wrde Habermas bestreiten, dass es (sozialtheoretisch relevante) Anerkennungsrelationen zwischen wirtschaftlichen Akteuren gibt. Ferner wrde er behaupten, dass Anerkennungs- oder Wertschtzungserwartungen auf Seiten solcher Akteure ein Indiz eines inadquaten Verstndnisses der modernen Wirtschaft 10 11 12 13 14

Rawls (1979), 479. Rawls (1979), 479. Rawls (1979), 481. Vgl. zum Begriff des vernnftigen Lebensplans Rawls (1979), 445 ff. Es ist sogar fraglich, ob sie nach Rawls’ Auffassung berhaupt Sphren der Wertschtzung aufgrund spezifischer Fhigkeiten sind. Vgl. Rawls (1979), 344 – 350. – Vgl. demgegenber aber Rawls (1979), 105, wo wir lesen, dass die „Selbstverwirklichung in Form der Erfllung gesellschaftlicher Pflichten mit Kçnnen und Hingabe […] eine[] der Hauptformen des menschlichen Wohles“ sei. 15 Habermas (1988), Bd. 2, 275.

4

Einleitung

und der in ihr agierenden Menschen sind. Wenn die moderne konomie tatschlich ein normfreier Raum ist, dann kçnnen derartige Erwartungen in ihr keine Erfllung finden. Folgt man der Theorie des kommunikativen Handelns, dann sind also die meisten der eingangs gestellten Fragen sozialphilosophisch irrelevant, wenn nicht irrefhrend. Es ist offenkundig, dass Habermas ein anderes Ziel verfolgt als Rawls. Geht es diesem um die Ausarbeitung einer Theorie der Gerechtigkeit, so hat Habermas (unter anderem) den Anspruch, die Entstehung moderner Gesellschaften zu rekonstruieren und den Einfluss systemisch organisierter sozialer Sphren auf kommunikativ strukturierte Lebenswelten kenntlich zu machen und zu problematisieren. Whrend Eine Theorie der Gerechtigkeit also eine normative Untersuchung ist, versteht sich die in Theorie des kommunikativen Handelns vorgelegte Studie als eine sozialtheoretisch fundierte Gesellschaftskritik. Unbeschadet dieser Differenz lsst sich feststellen, dass in keinem jener Werke die moderne konomie unter Anerkennungs- oder Wertschtzungsaspekten thematisiert wird. Dass die eingangs gestellten Fragen fr die Politische und Sozialphilosophie der Gegenwart lange Zeit von untergeordnetem Interesse waren, drfte deshalb wesentlich mit dem starken thematischen Einfluss der Theorie der Gerechtigkeit und der Theorie des kommunikativen Handelns auf diese Disziplinen zusammenhngen.16 Bemerkenswerterweise wurden jene Fragen von fhrenden Reprsentanten der nachkantischen deutschen Philosophie und der franzçsischen Sozialphilosophie der ersten Hlfte des 19. Jahrhunderts extensiv und auf sehr produktive Weise erçrtert. Es ist nicht bertrieben zu behaupten, dass sie zentrale Untersuchungsgegenstnde der damaligen Politischen und Sozialphilosophie bezeichnen. Dies sei exemplarisch verdeutlicht. In Grundlage des Naturrechts von 1796/97 versucht Fichte zu zeigen, warum die Brger eines vernnftigen Staates einen rechtlichen Anspruch auf Ausbung einer existenzsichernden Arbeit haben.17 Der entsprechende Standpunkt ist auch fr seine politik- und çkonomietheoretischen berlegungen maßgeblich.18 Unter dem Eindruck seiner Rezeption der Theorie der Nationalçkonomie19 konzipiert Hegel in Jena eine Philosophie des 16 H. Mnkler sieht in diesen Werken „[die] letzten beiden Großtheorien der politischen Philosophie“. Zitiert nach: A. Cammann, „Normatives Telefonieren. Eine Berliner Diskussion ber politische Philosophie“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Mrz 2009, N4. 17 Vgl. Fichte (1971), § 18. 18 Vgl. Fichte (1971a). 19 Vgl. hierzu Priddat (1990), Riedel (1970) sowie Waszek (1988) und (2000).

Einleitung

5

Geistes, mit der er wirtschaftliche Institutionen (etwa Mrkte und berufliche Organisationen) als Willens- und Anerkennungsverhltnisse analysiert.20 Zudem befasst er sich von dieser Zeit an immer wieder mit der sozialpsychologischen und gerechtigkeitstheoretischen Relevanz der Ausbung von Erwerbsarbeit. In diesem Kontext interessiert sich Hegel insbesondere fr den Zusammenhang von gesellschaftlicher Arbeit, sozialer Wertschtzung und der Selbstachtung der Mitglieder moderner Gemeinwesen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts pldiert der franzçsische Sozialphilosoph Charles Fourier fr die Einfhrung eines unbedingten Grundeinkommens,21 und unabhngig von Fichte versucht er zu zeigen, dass es so etwas wie ein Menschenrecht auf Ausbung einer existenzsichernden Arbeit gibt.22 Wie auch Claude Henri de Saint-Simon und seine Schler befasst sich Fourier ausfhrlich mit den sozialen Bedingungen von individuell erfllender Arbeit. In diesem Zusammenhang betont er die Wichtigkeit der institutionellen Sicherung spezifischer Formen von Wertschtzung unter den Arbeitenden.23 In der Hegel-Schule wurden die fourieristischen und saint-simonistischen Ideen aufgegriffen und verarbeitet.24 Schließlich war es Marx, der in seinen Schriften von 1844 die These entwickelt, dass eine nicht-entfremdete Gesellschaft auf spezifischen Formen von Anerkennung bzw. Wertschtzung zwischen den Produzenten und zwischen den Produzenten und Konsumenten beruht. Diese Theorie bildet zugleich den Maßstab der Marx’schen Kapitalismuskritik aus dieser Zeit. Im Rahmen der vorliegenden Abhandlung ist es nicht mçglich, die realgeschichtlichen Faktoren zu identifizieren, welche die oben genannten Untersuchungen begnstigt haben. Unbestreitbar drfte indes sein, dass die politischen und sozioçkonomischen Umbrche, die in jene Zeit fallen, eine philosophische Auseinandersetzung mit Fragen der gesellschaftlichen Arbeit als wichtig erscheinen ließen. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise daran zu erinnern, dass unter dem Einfluss der Franzçsischen Revolution eine gesellschaftliche Neuausrichtung auf dem Gebiet der Gewerbefreiheit stattfand; dass, zunchst in England, mit der beginnenden Industrialisierung eine Arbeiterklasse entstand, deren Lebensbedingungen 20 21 22 23

Vgl. PhdG. Vgl. Fourier (1848). Fourier (1966 – 1968), Bd. 3, 177 – 187. Vgl. Fourier (1966 – 1968a), 1 – 8, 15 – 27 & 47 – 86. Vgl. zu Fouriers Philosophie und Gesellschaftstheorie auch Fourier (2011). 24 Vgl. hierzu die Beitrge aus Schmidt am Busch & Siep & Thamer & Waszek (2007).

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Einleitung

prekr waren; und dass infolge von erbrechtlichen Neuerungen eine nderung der lndlichen Eigentumsverhltnisse eintrat, die fr viele Menschen in materieller und sittlicher Hinsicht problematisch war.25 Dass diese Gegebenheiten auch fr die Politische und Sozialphilosophie eine Herausforderung waren, drfte ohne Weiteres verstndlich sein. Gegenwrtig lsst sich unter Philosophen und Sozialwissenschaftlern eine verstrkte Auseinandersetzung mit den eingangs genannten Fragen beobachten. Waren diese, wie bemerkt, aufgrund des thematischen Einflusses der Theorie der Gerechtigkeit und der Theorie des kommunikativen Handelns lngere Zeit von untergeordnetem Interesse, so stehen sie nun im Zentrum vieler philosophischer und sozialwissenschaftlicher Debatten.26 Hierfr sind verschiedene Faktoren verantwortlich.27 Erstens gibt es auf Seiten einer zunehmenden Zahl an Sozialwissenschaftlern (Soziologen und konomen) Bedenken gegenber der Habermas’schen Theorie der modernen konomie.28 In diesem Zusammenhang wird geltend gemacht, dass diese soziale Sphre kein „normfreie[r]“ Raum sei, und es wird die Ansicht vertreten, dass die im Bereich der konomie wirksamen Normen sozialtheoretisch bedeutsam seien. Zweitens hat sich in jngster Vergangenheit gezeigt, dass Anerkennungstheorien eine adquate Formulierung und fruchtbare Erçrterung vieler Fragen und Probleme ermçglichen, die von Moralphilosophen, Politischen und Sozialphilosophen, Sozialwissenschaftlern und Psychologen als wichtig angesehen werden.29 Angesichts dieser Forschung lsst sich heute so etwas wie ein Paradigma der Anerkennung konstatieren.30 Drittens leben wir in einer Zeit des wirtschaftlichen und sozialen Umbruchs, der fr viele Menschen problematisch ist und die Politische und Sozialphilosophie zum Teil mit anderen Fragen konfrontiert als zur Zeit der Entstehung von Eine Theorie der Gerechtigkeit und Theorie des kommunikativen Handelns. 31 Dieser Wandel hat zugleich einige 25 Der zuletzt genannte Umstand hat die Fourier-Rezeption in Deutschland stark begnstigt. Das belegen Schneider (1834) und Tappehorn (1834). 26 Siehe unten, Teil I, Kapitel 2 & 3. 27 Im Folgenden kçnnen nur einige der im vorliegenden Zusammenhang relevanten Faktoren genannt werden. 28 Exemplarisch seien hier Beckert (2007), Stehr (2007) und Voigt (2002) genannt. 29 Vgl. hierzu z. B. Schmidt am Busch & Zurn (2009). 30 Vgl. Zurn (2005) und (2009) sowie Fraser & Honneth (2003), 7. 31 Es ist natrlich nicht ausgeschlossen, dass sich diese Fragen mit den oder im Ausgang von den von Rawls oder Habermas zur Verfgung gestellten begrifflichen und theoretischen Mitteln philosophisch zufriedenstellend behandeln lassen. In diesem Zusammenhang ist etwa an gerechtigkeitstheoretische Begrndungen des sogenannten Rechts auf Arbeit oder eines unbedingten, existenzsichernden

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der gesellschaftlichen und çkonomischen Hintergrundannahmen von Rawls32 und Habermas33 in Zweifel gezogen oder unhaltbar gemacht. Die aktuelle Kritische Theorie trgt jedem dieser drei Faktoren Rechnung. In der Tat beansprucht sie, mittels einer normativ gehaltvollen Anerkennungstheorie 34 eine zufriedenstellende Analyse des und Kritik am zeitgençssischen Kapitalismus zu leisten. Ihr Anliegen ist es also, den Begriff der Anerkennung im Rahmen einer normativen Gesellschaftstheorie fruchtbar zu machen, welche der oben genannten Kritik an der Habermas’schen Theorie der konomie sowie den gegenwrtigen sozioçkonomischen Umbrchen Rechnung trgt. Auf diesem Wege versucht die aktuelle Kritische Theorie, „jene herkçmmlich getrennten Ebenen der Moralphilosophie, der Gesellschaftstheorie und der politischen Analyse in einer kritischen Theorie des Kapitalismus zusammenzufhren“35. Ist „Anerkennung“ ein geeignetes Prinzip der Kritischen Theorie? Lsst sich der zeitgençssische Kapitalismus auf der Grundlage einer normativ gehaltvollen Anerkennungstheorie zufriedenstellend analysieren und kritisieren? Und wie sind im Rahmen einer solchen Theorie unsere eingangs gestellten Fragen zu beantworten? Die Erçrterung dieser Fragen steht im Zentrum der vorliegenden Abhandlung. Ich beginne mit einer kritischen Bestandsaufnahme der aktuellen Kritischen Theorie (I.1 – I.5). Anhand der Schriften Axel Honneths werde ich die Grundzge dieser Theorie rekonstruieren und ihren moralphilosophischen, methodischen, sozialtheoretischen und sozialkritischen Anspruch herausarbeiten (I.3). Ich werde einerseits deutlich machen, warum das Vorhaben einer anerkennungstheoretischen Kritischen Theorie in der Tradition der Frankfurter Schule grundstzlich ein vielversprechendes Projekt ist (I.4). Andererseits werde ich zeigen, warum die Kritische Theorie in ihrer gegenwrtigen Gestalt die von ihr selbst gesetzten Ziele im Bereich der Sozialtheorie und -kritik nicht erreicht. Angesichts ihres oben genannten Anspruchs – mittels einer normativ gehaltvollen Anerkennungstheorie eine zufriedenstellende Analyse des und Kritik am zeitgençssischen Kapitalismus zu leisten – msste die Kritische Theorie zeigen, dass und in welchem Sinne die „Kerninstitutionen der kapitalis-

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Grundeinkommens zu denken, die sich in einem Rawls’schen framework bewegen. Siehe unten, Teil I, Kapitel 2. Das gilt beispielsweise fr Rawls’ (stillschweigenden) Keynesianismus. Siehe oben. Siehe unten, Teil I, Kapitel 1. Das gilt zumindest fr die von A. Honneth ausgearbeitete Kritische Theorie. Siehe unten, Teil I, Kapitel 3. Fraser & Honneth (2003), 10.

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tischen Gesellschaftsform“36 Institutionalisierungen von spezifischen Anerkennungsformen sind und wie zeitgençssische kapitalistische Marktwirtschaften mit anerkennungstheoretischen Mitteln kritisiert werden kçnnen. Da es ihr bisher nicht gelungen ist, diese Untersuchungsziele auf der Grundlage der von ihr eingefhrten Kategorien des rechtlichen Respekts und der sozialen Wertschtzung zu erreichen, ist es nicht berraschend, dass sie zum Teil vehemente Kritik hervorgerufen hat. Wie ich deutlich machen werde, folgt hieraus allerdings nicht, dass es unmçglich ist, den zeitgençssischen Kapitalismus anerkennungstheoretisch zu analysieren und zu kritisieren. Welche Erfolgsaussichten ein solches Unternehmen hat, ist vielmehr eine offene Frage (I.5). Auf der Grundlage dieser Bestandsaufnahme werde ich Honneths Theorie sozialer Wertschtzung analysieren, problematisieren und weiterentwickeln (I.6). Ich werde zeigen, dass diese Theorie ambivalent ist und zwei Formen von Wertschtzung beinhaltet, die im Interesse der Kritischen Theorie begrifflich zu unterscheiden sind: eine fhigkeiten- und eine nutzenbezogene („meritokratische“) Art von Wertschtzung. Wie ich dann darlegen werde, kann eine Wertschtzungspraxis der zuletzt genannten Art in einem marktwirtschaftlichen Kontext ein Streben nach mçglichst hohen Einknften und nach gesellschaftlicher Dokumentation monetrer beruflicher Erfolge motivieren. Dementsprechend ist eine Theorie dieser Praxis geeignet, charakteristische Aspekte des Verhaltens wirtschaftlicher Akteure sowie der Beschaffenheit wirtschaftlicher Institutionen im zeitgençssischen Kapitalismus zu erklren. Aus diesem Grunde vermag eine Theorie meritokratischer Wertschtzung einen wesentlichen Beitrag zur Behebung des sozialtheoretischen Defizits der aktuellen Kritischen Theorie zu leisten und einige grundlegende Einwnde gegen diese Theorie zu entkrften (I.7.1). Dieses – in sozialtheoretischer Hinsicht sehr wichtige – Untersuchungsergebnis wirft die Frage(n) auf, ob und, wenn ja, wie eine kritische Gesellschaftstheorie, welche zentrale Aspekte des zeitgençssischen Kapitalismus mithilfe des Begriffs der meritokratischen Wertschtzung erklrt, ihr Ziel einer Kritik an eben dieser wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung erreichen kann. Die Erçrterung dieser Frage bildet einen der Schwerpunkte der im Zweiten und Dritten Teil gefhrten Untersuchung. Im Zweiten Teil meiner Arbeit werde ich untersuchen, welche Beitrge Marx zu einer anerkennungstheoretischen Analyse des und Kritik am zeitgençssischen Kapitalismus leisten kann. Diese Untersuchung ist wie 36 UA, 164.

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folgt motiviert: In seinen Schriften aus dem Jahre 184437 entwickelt Marx eine Theorie der Anerkennung, mit der er kapitalistische Gesellschaften zu kritisieren beansprucht, und er beschreibt die Beziehungen zwischen den Mitgliedern solcher Gesellschaften als Verhltnisse „wechselseitiger Anerkennung“38. Demnach operiert seine Kapitalismusanalyse und -kritik aus jener Zeit mit derselben Art von Vokabular wie die heutige Kritische Theorie. Es ist also denkbar, dass sie Argumente entwickelt, die im Rahmen der Erçrterung der Fragen, ob Mrkte anerkennungstheoretisch analysiert und wie kapitalistische Gesellschaften anerkennungstheoretisch kritisiert werden kçnnen, wertvoll sind. Da Marx’ anerkennungstheoretische Kapitalismuskritik bisher noch nicht adquat analysiert worden ist, werde ich zunchst den Maßstab dieser Kritik rekonstruieren und so einer sachlichen Beurteilung zugnglich machen (II.1 – II.4). Ich werde dann den Standpunkt entwickeln, dass die Marx’sche Kapitalismuskritik von 1844 durch ihre anthropologischen Grundannahmen belastet wird und deshalb als ganze nicht geeignet ist, zur Erreichung der sozialtheoretischen und -kritischen Ziele der aktuellen Kritischen Theorie beizutragen (II.5 – II.7). Allerdings schließt dieser Befund nicht aus, dass einzelne Elemente der Marx’schen Theorie das Vorhaben einer zeitgençssischen Sozialkritik bereichern kçnnen. Diese Mçglichkeit werde ich anhand von Marx’ Theorie der Bejahung der eigenen Individualitt illustrieren (II.8). Der Dritte Teil meiner Abhandlung dient dem Nachweis, dass Hegels Politische und Sozialphilosophie entscheidende Beitrge zur Erreichung der sozialtheoretischen und -kritischen Ziele der Kritischen Theorie leisten kçnnen. Wie ich durch eine neue Interpretation der entsprechenden Passagen der Grundlinien der Philosophie des Rechts zeigen werde, macht Hegels Theorie des personalen Respekts verstndlich, warum Mrkte als Institutionalisierungen einer spezifischen Form von Anerkennung ausgewiesen werden kçnnen. Aus diesem Grunde ist sie im Rahmen einer anerkennungstheoretisch fundierten Sozialtheorie des gegenwrtigen Kapitalismus von grçßtem Interesse (III.3). Zudem enthalten Hegels Politische und Sozialphilosophie einige – von Hegel selbst nicht in einen systematischen Zusammenhang gebrachte – anerkennungstheoretische berlegungen, welche eine ernstzunehmende Perspektive fr eine sozialphilosophisch gehaltvolle Kritik am zeitgençssischen Kapitalismus erçffnen. Interessanterweise entwickelt Hegel nmlich – zumindest in Anstzen – die These, 37 Vgl. AJM & pM. 38 AJM, 460.

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dass das, was ich oben mit „meritokratische Wertschtzung“ bezeichnet habe, eine kompensatorische und defizitre Form von Anerkennung ist: kompensatorisch, weil sie nur dann auftritt, wenn eine spezifische andere Anerkennungserwartung der Brger moderner Gesellschaften nicht erfllt wird; defizitr, weil sie keine stabile Anerkennungspraxis zu begrnden vermag und ihrerseits den wechselseitigen Respekt der Menschen als Personen schwcht. Wie ich darlegen werde, erçffnen diese berlegungen die vom Standpunkt der Kritischen Theorie sehr attraktive Mçglichkeit, charakteristische Aspekte des Verhaltens wirtschaftlicher Akteure sowie der Beschaffenheit wirtschaftlicher Institutionen im zeitgençssischen Kapitalismus mithilfe des Begriffs der meritokratischen Wertschtzung sowohl zu erklren als auch zu kritisieren. Sie sind deshalb fr die aktuelle Kritische Theorie in sozialtheoretischer und -kritischer Hinsicht eine echte Bereicherung (III.4 – III.5). Mit meiner Abhandlung mçchte ich zeigen, warum „Anerkennung“ ein geeignetes Prinzip einer kritischen Gesellschaftstheorie in der Tradition der Frankfurter Schule ist. Mit den Mitteln einer Anerkennungstheorie lassen sich wesentliche Aspekte der institutionellen Verfasstheit moderner Gesellschaften sowie der normativen Erwartungen und des wirtschaftlichen Verhaltens der Mitglieder derartiger Ordnungen erklren. Zudem bietet ein anerkennungstheoretischer Ansatz eine ernstzunehmende Erklrung der Genese zentraler Bestandteile des „neuen Geistes des Kapitalismus“39. Aus diesen Grnden ist „Anerkennung“ ein geeignetes Prinzip einer zeitgençssischen Sozialtheorie – wenngleich es andererseits fraglich ist, ob eine solche Theorie allein mit anerkennungsbezogenen Grundbegriffen erfolgreich sein kann. Mit anerkennungstheoretischen Mitteln lsst sich ferner eine sozialphilosophisch gehaltvolle Kritik am zeitgençssischen Kapitalismus formulieren, die den methodischen Anforderungen der Kritischen Theorie gengt. Folglich eignet sich „Anerkennung“ auch als Prinzip einer Sozialkritik in der Tradition der Frankfurter Schule. *** Das vorliegende Buch ist aus einer Abhandlung hervorgegangen, die der Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Johann 39 Diesen Ausdruck bernehme ich von Luc Boltanski und ðve Chiapello. Vgl. Boltanski & Chiapello (2003).

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Wolfgang Goethe-Universitt in Frankfurt am Main im November 2009 als Habilitationsschrift angenommen hat. Ich danke den Gutachtern Axel Honneth, Barbara Merker, Michael Quante, Werner Plumpe und Ludwig Siep fr ihre Kommentare und Hinweise, auf die ich bei der Fertigstellung meines Buches zurckgreifen konnte. Bei der Bearbeitung des Forschungsprojekts, dessen Ergebnisse ich hiermit vorlege, wurde ich von vielen Kolleginnen und Kollegen untersttzt. Axel Honneth hat meine Forschung ber viele Jahre intensiv gefçrdert. Er hat mich dazu ermutigt, mein Forschungsprojekt zur Kritischen Theorie an der Johann Wolfgang Goethe-Universitt und am Institut fr Sozialforschung in Frankfurt am Main zu bearbeiten, und die Entstehung und Durchfhrung dieses Vorhabens auf vielfltige Weise untersttzt. Seiner Betreuung verdankt meine Arbeit viel mehr, als ich im Einzelnen kenntlich machen kann. Dieses Buch wre auch ohne Ludwig Siep und Michael Quante nicht zustande gekommen. Mein Verstndnis der Hegel’schen Philosophie und meine Auffassung davon, wie Hegel zu lesen ist, sind von Ludwig Siep und Michael Quante entscheidend beeinflusst worden. Im Rahmen von gemeinsam durchgefhrten Forschungsprojekten40 habe ich zudem viel ber die nachhegelsche Philosophie gelernt. Meine Zusammenarbeit mit Ludwig Siep und Michael Quante kam mir insbesondere bei der Bearbeitung des Zweiten und Dritten Teils des vorliegenden Buches zugute. Whrend der Ausarbeitung und Durchfhrung meines Forschungsprojekts entwickelte sich mit einer Reihe von Wissenschaftlern des Frankfurter Instituts fr Sozialforschung ein reger Gedankenaustausch, der mein Verstndnis der sozialtheoretischen Ambitionen der Kritischen Theorie gefçrdert hat. Ein Stipendium der Alexander von HumboldtStiftung ermçglichte es mir, meine berlegungen und Thesen an der Northwestern University, der Georgetown University und der Columbia University zur Diskussion zu stellen. In Gesprchen mit meinen Gastgebern Thomas McCarthy, Terry Pinkard und Frederick Neuhouser habe ich viel ber Hegel, Marx und die Kritische Theorie gelernt. Wertvolle Kommentare zu Entwrfen meiner Abhandlung und Vortragsfassungen einzelner Kapitel erhielt ich auch von Daniel Brudney, Andrew Buchwalter, Rainer Enskat, Martin Hartmann, Stefan Huster, 40 Hierbei handelt es sich zum einen um das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefçrderte Projekt „Hegels Sozialphilosophie“, zum anderen um das Forschungsprojekt „Soziale Ideen und Idealismus“, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Agence Nationale de la Recherche gefçrdert wird.

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Heikki Ikheimo, Mattias Iser, Hermann Kocyba, Birger P. Priddat, Emmanuel Renault, Erzsbet Rzsa, Birgit Schmidt am Busch, Stephan Voswinkel und Christopher F. Zurn. Beate Kotar und Norbert Mertens waren mir bei der Besorgung von Literatur behilflich. Sandra Bertels, Veit Friemert, Johanna Macher und Nicole Schlieper haben eine elektronische Fassung meines Buchmanuskripts erstellt. Ich mçchte allen Kolleginnen und Kollegen, die meine Arbeit an dem vorliegenden Buch begleitet und untersttzt haben, hierfr herzlich danken. Ich danke der Alexander von Humboldt-Stiftung fr ihre Fçrderung und dem Frankfurter Institut fr Sozialforschung fr seine Untersttzung meiner Forschung.

Teil I Probleme und Perspektiven der Kritischen Theorie

1 Zum Strukturwandel der Arbeitswelt Nach der Verçffentlichung seines Hauptwerks, Theorie des kommunikativen Handelns, wurde Jrgen Habermas vorgeworfen, er habe die Bedeutung der gesellschaftlichen Arbeit hinsichtlich der Mçglichkeit eines gelingenden menschlichen Lebens unterschtzt. Habermas begegnete diesem Vorwurf mit der Einschtzung, dass „die historische Entwicklung der Industriearbeit“, insbesondere „die Trends zur Verkrzung der Arbeitszeit und zu einer entsprechenden Abwertung der lebensweltlichen Relevanz der Arbeit“, der Position seiner Kritiker den Boden entziehen wrden.41 Angesichts der Entwicklung, welche die meisten westlichen Gesellschaften in den zurckliegenden 30 Jahren genommen haben, mutet Habermas’ ußerung an wie ein Satz aus einer vergangenen Welt. Es ist offenkundig, dass das Gegenteil dessen eingetreten ist, was Habermas prophezeit hat: In den meisten westlichen Gesellschaften ist sowohl die wçchentliche als auch die Lebensarbeitszeit gestiegen, ein Trend, der sich mçglicherweise fortsetzen wird.42 Da zudem die Erwerbsttigkeit von Frauen in diesen Gesellschaften grçßer ist als je zuvor, lsst sich ferner feststellen, dass der Umfang der gesamtgesellschaftlich geleisteten Arbeit deutlich zugenommen hat. Und schließlich gibt es gute Grnde fr die Annahme, dass zumindest in westlichen Gesellschaften die Teilnahme an gesellschaftlicher Arbeit hinsichtlich der Mçglichkeit eines gelingenden Lebens von großer Bedeutung ist: Wie soziologische Untersuchungen zeigen, ist das Ausben von Erwerbsarbeit fr eine große Mehrheit der Brger nicht nur unter Einkommensaspekten etwas sehr Wichtiges,43 und klarerweise ergibt sich der gesellschaftliche Status des Einzelnen nach wie vor primr aus seiner Zugehçrigkeit zur und Rolle innerhalb der Arbeitswelt. Als Habermas die oben wiedergegebene Prognose ußerte, war die Krise des Keynesianismus (der in Nordamerika und Westeuropa in den 41 Habermas (1996), 485. – Der vorliegende Erste Teil meiner Abhandlung wurde im Mai 2008 fertiggestellt. Forschungsliteratur, die seitdem erschienen ist, konnte nicht mehr bercksichtigt werden. 42 Das zeigt beispielsweise die zur Zeit in Deutschland gefhrte Diskussion ber die Anhebung des Renteneintrittsalters. 43 Vgl. z. B. Bourdieu et al. (1997), 370 u. 446 – 456 sowie Sennett (2000), 91.

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Teil I: Probleme und Perspektiven der Kritischen Theorie

Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg dominanten wirtschaftspolitischen Auffassung) bereits offenkundig geworden.44 Es ist im vorliegenden Zusammenhang nicht mçglich, eine eingehende Analyse derjenigen Maßnahmen vorzunehmen, mit denen versucht worden ist, dieser Krise zu begegnen; gleichwohl lassen sich wesentliche Aspekte derjenigen Wirtschaftspolitik, die in den zurckliegenden 30 Jahren zunchst in Großbritannien, den USA und Neuseeland und dann auch in Kontinentaleuropa praktiziert worden ist, anhand von vier Tendenzen beschreiben: denen (i) der Deregulierung bestehender Mrkte, (ii) der Bildung neuer Mrkte, (iii) der Flexibilisierung von Betriebsstrukturen sowie (iv) der Verringerung sozialstaatlicher Ansprche und Leistungen. Die Deregulierung von Arbeitsmrkten zeigt sich beispielsweise im Rckgang tariflich entlohnter Beschftigungen, der Lockerung von Kndigungsschutzbestimmungen sowie der Bildung von nicht sozialversicherungspflichtigen Beschftigungsverhltnissen im Niedriglohnsektor. Neue Mrkte sind entstanden durch die Privatisierung von staatlichen Betrieben (etwa im Verkehrs- und Kommunikationswesen) und die Bildung von Finanzmrkten im Zuge der Neuordnung des internationalen Whrungssystems (infolge des Zusammenbruchs des sogenannten Bretton-Woods-System). Bestandteile der Flexibilisierung von Betriebsstrukturen sind zunehmend individualisierte Beschftigungsverhltnisse und Lohnvereinbarungen, eine starke Zunahme von projektorientierten Teamarbeiten sowie die Ersetzung großer, pyramidenartiger Konzerne durch kleinere Unternehmungen, die juristisch selbstndig und netzwerkartig miteinander verknpft sind.45 Die Verringerung sozialstaatlicher Ansprche lsst sich beispielsweise an Neuregelungen von Bestimmungen zum Arbeitslosengeld oder zur Inanspruchnahme medizinischer Leistungen fr gesetzlich Versicherte erkennen. Ohne auf diese Faktoren und ihren Zusammenhang hier nher einzugehen, lsst sich zusammenfassend feststellen, dass eine weitreichende Vermarktlichung sowie eine Schwchung kollektiver beruflicher Reprsentationsorgane46 und sozialstaatlicher Sicherungssysteme Charakteristika der wirtschaftspolitischen Vernderungen, die sich seit ca. 30 Jahren beobachten lassen, sind.

44 Die Bildung des Terminus „Stagflation“ ist hierfr ein Beleg. 45 Vgl. Sennett (2000) und Sennett (2005). 46 Die oben genannte Individualisierung von Beschftigungsverhltnissen geht einher mit einem Verlust von Einfluss und Macht auf Seiten gewerkschaftlicher Organisationen.

1 Zum Strukturwandel der Arbeitswelt

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Es soll nicht ausgeschlossen werden, dass die oben skizzierte wirtschaftspolitische Neuausrichtung positive Auswirkungen gehabt hat (etwa hinsichtlich der Individualisierung von Lebensstilen); folgt man einschlgigen sozialwissenschaftlichen Studien, dann hat sie aber Beschftigungsstrukturen entstehen lassen, die fr sehr viele Menschen problematisch sind.47 Wie ich im Folgenden zeigen werde, sind hiervon sowohl Personen in gehobenen beruflichen Positionen als auch Menschen in prekren48 Lebensverhltnissen betroffen. Richard Sennetts Studien lsst sich entnehmen, dass flexible berufliche Strukturen hinsichtlich der Ausbildung eines positiven evaluativen Selbstverhltnisses auf Seiten der Beschftigten problematisch sind.49 Sennetts Untersuchungen konzentrieren sich auf Beschftigte im privatwirtschaftlichen Dienstleistungssektor, also auf Angehçrige der Mittelschicht. Fasst man seine berlegungen zusammen, dann lsst sich feststellen, dass das Leben dieser Personen durch eine Reihe von Diskontinuitten charakterisiert ist. Diese betreffen beispielsweise (i) die Personen, mit denen und fr die man arbeitet; (ii) das, was man tut; (iii) die Unternehmen, denen man angehçrt; und (iv) die Orte, an denen man lebt. Wie Sennett zeigt, sind viele berufliche Ttigkeiten und Karrieren im Dienstleistungsbereich durch ein sich schnell nderndes Geflecht an persçnlichen Beziehungen; durch hufige Berufs- und Betriebswechsel; durch kurzlebige, sich rasch entwertende fachliche Qualifikationen; durch relativ vage berufliche Aufgaben und Zustndigkeiten; und durch hufige Ortswechsel gekennzeichnet. Flexible berufliche Strukturen, die mit den oben genannten Diskontinuitten einhergehen, werden von den Beschftigten selbst als problematisch empfunden oder wahrgenommen. Sie seien hinsichtlich der Qualitt des eigenen Lebens vor allem deshalb beeintrchtigend, weil sie (i) die Ausbildung von stabilen, auf Vertrauen und Loyalitt beruhenden Arbeitsbeziehungen behinderten; (ii) die Mçglichkeiten von Wertschtzung aufgrund von spezifischen fachlichen Qualifikationen stark einschrnkten; (iii) eine Haltung der Indifferenz bezglich des Unternehmens, dem man angehçrt, befçrderten; und (iv) eine kontinuierliche Lebensfhrung erheblich erschwerten. Wie einige der von Sennett interviewten Personen angaben, sind berufliche Arbeiten, welche die oben 47 Vgl. die in Bude (2008), 44 f. genannten Daten. 48 Der Ausdruck „prekr“ wird weiter unten nher bestimmt. 49 Vgl. beispielsweise Sennett (2000) und Sennett (2005).

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Teil I: Probleme und Perspektiven der Kritischen Theorie

genannten Merkmale haben, der Ausbildung von „innerer Sicherheit“50, eines „stabilen Selbstwertgefhls“51 und von „Selbstachtung“52 abtrglich. Wenngleich nicht wenige dieser Arbeiten mit hohen Einkommen verbunden sind, scheinen sie die sie Verrichtenden tendenziell „in einen Zustand des Dahintreibens (drift)“53 zu versetzen. Aus diesen Grnden sind sie hinsichtlich der Ausbildung eines positiven evaluativen Selbstverhltnisses problematisch. Es gibt gute Grnde fr die Annahme, dass im Zuge der oben skizzierten wirtschaftspolitischen Vernderungen in den westlichen Gesellschaften eine neue Unterschicht entstanden ist.54 Die Lebensverhltnisse der ihr angehçrenden Personen lassen sich unter Verwendung eines von Robert Castel geprgten Begriffs als prekr bezeichnen.55 Die Prekaritt ihrer Lage ergibt sich aus dem Umstand, dass diese Menschen keine Aussicht auf ein dauerhaftes, subsistenzsicherndes Anstellungsverhltnis haben und auf instabile, schlecht entlohnte und vielfach rechtlich nicht geregelte Beschftigungen angewiesen sind. Aus dieser Bestimmung von „prekr“ ergibt sich, dass auch das berufliche Leben dieser Menschen von den weiter oben festgestellten Diskontinuitten (i), (ii), (iii) und (iv) betroffen ist. Wie beispielsweise die von Pierre Bourdieu und seinen Mitarbeitern durchgefhrten empirischen Untersuchungen zeigen, sind prekre Lebensverhltnisse eine Quelle von Leid und hinsichtlich der Ausbildung oder Wahrung eines positiven evaluativen Selbstverhltnisses ein sehr großes Problem. Folgt man der Studie Das Elend der Welt, dann leiden die in solchen Verhltnissen lebenden Menschen insbesondere (i) unter dem Eindruck, von der Gesellschaft nicht mehr gebraucht zu werden56 ; (ii) unter der Unmçglichkeit, ihr Leben auf der Grundlage eigener beruflicher Ttigkeit zu gestalten57; (iii) unter einer fortschreitenden Entwertung beruflicher Qualifikationen und Zugehçrigkeiten58 ; und (iv) unter einer weitreichenden Entsolidarisierung betrieblicher Beziehungen und einer Zunahme von In50 51 52 53 54 55 56 57 58

Sennett (2000), 22. Sennett (2000), 31. Sennett (2000), 38. Sennett (2000), 22. hnlich argumentiert Bude (2008), 31 f. Vgl. etwa den aktuellen Armutsbericht der Bundesregierung. Vgl. Castel (2000), 336 – 400 und Castel (2005), 33 – 53. Bourdieu et al. (1997), 317 u. 447. Bourdieu et al. (1997), 317 u. 447. Bourdieu et al. (1997), 330.

1 Zum Strukturwandel der Arbeitswelt

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differenz gegenber dem eigenen Arbeitsumfeld59. Aus der Existenz dieser Arten von Leiden ergibt sich ohne Weiteres, dass prekre Lebensverhltnisse die Mçglichkeit der Ausbildung eines stabilen positiven Selbstwertgefhls erheblich beeintrchtigen. Halten wir fest: Die als Reaktion auf die Krise des Keynesianismus praktizierte Wirtschaftspolitik hat Aspekte und Auswirkungen, die fr sehr viele Mitglieder dieser Gesellschaften problematisch sind.60 Die mit ihr einhergehenden Prozesse der Vermarktlichung einerseits und der Schwchung kollektiver beruflicher Interessenvertretungen und sozialstaatlicher Sicherungssysteme andererseits haben Beschftigungsstrukturen entstehen lassen, die der Ausbildung von Selbstachtung und Selbstwertschtzung auf Seiten vieler Berufsttiger abtrglich sind. Wie einschlgige sozialwissenschaftliche Untersuchungen deutlich machen, hngt dieses Problem nicht ausschließlich (und auch nicht primr) mit der Hçhe von Arbeitseinkommen zusammen; von sehr großer Bedeutung scheint im vorliegenden Zusammenhang vielmehr das Vorliegen von spezifischen Formen von Anerkennung und Wertschtzung zu sein.61

59 Bourdieu et al. (1997), 338 – 340. 60 Eine kenntnisreiche Diskussion der weltweiten Auswirkungen dieser Politik bietet Held (2004). 61 Wie gesehen, wird diese Einschtzung nahegelegt durch die im Rahmen meiner Diskussion von Sennetts Arbeiten herausgestellten Punkte (i) und (ii) sowie durch die Punkte (i), (ii), (iii) und (iv), die ich bezglich des Leidens unter prekren Lebensverhltnissen festgehalten habe.

2 Die Arbeitswelt im Fokus der Philosophie Aspekte der Arbeitswelt werden auch unter Philosophen erçrtert. Fragen, welche die Verteilung materieller Gter betreffen, sind traditionell Bestandteile von philosophischen Theorien sozialer Gerechtigkeit. In jngster Zeit werden zudem unter Gerechtigkeitsaspekten zwei Fragen diskutiert, deren Interesse sich klarerweise aus der Krise der Vollbeschftigungsgesellschaft ergibt: 1. Lsst sich ein unbedingtes, existenzsicherndes Grundeinkommen gerechtigkeitstheoretisch begrnden? 2. Gibt es so etwas wie ein Recht auf Arbeit? Unter einem unbedingten und existenzsichernden Grundeinkommen versteht man einen Geldbetrag, auf den jeder (erwachsene) Brger unabhngig davon, ob er erwerbsttig war oder ist, einen Anspruch hat und der zur Bestreitung eines in materieller Hinsicht menschenwrdigen Lebens ausreichend ist. Angesichts des Umstands, dass in vielen Gesellschaften Arbeitslosigkeit und Armut die sozialen Sicherungssysteme erheblich belasten, wchst die Zahl derer, die in der Institution des Grundeinkommens eine Antwort auf die Krise der Vollbeschftigungsgesellschaft sehen. Debatten ber dieses Thema sind nicht lnger auf den akademischen Raum beschrnkt, sondern werden – zumindest in Europa – auch in vielen politischen Parteien ausgetragen. Zur Begrndung des Grundeinkommens werden zum einen effizienztheoretische Argumente – etwa das folgende: Eine Ersetzung von adressatenspezifischen sozialen Maßnahmen (wie der der Arbeitslosenuntersttzung) durch ein unbedingtes Einkommen geht mit einem erheblichen Verwaltungsabbau und entsprechenden Kosteneinsparungen einher –, zum anderen gerechtigkeitstheoretische berlegungen angefhrt. In der aktuellen philosophischen Debatte haben einerseits links-libertre Argumentationen (mit denen das Grundeinkommen als Entschdigung fr die Nutzung materieller Ressourcen gerechtfertigt werden soll)62 und andererseits liberal-egalitre Theorien (die das Grundeinkommen letztlich mit dem gleichen Respekt gegenber den

62 Vgl. Vanderborght & Van Parijs (2005), 87 – 89.

2 Die Arbeitswelt im Fokus der Philosophie

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individuellen Lebensentwrfen der Menschen begrnden)63 erhebliche Resonanz erzeugt. Auch die Frage, ob es so etwas wie ein Recht auf Arbeit gibt, wird unter Gerechtigkeitstheoretikern mittlerweile extensiv diskutiert. Unter „Recht“ ist im vorliegenden Zusammenhang ein individueller Anspruch zu verstehen, der in einem wohlgeordneten Gemeinwesen die Form eines einklagbaren Individualrechts haben wrde. Auch mit Bezug auf das Recht auf Arbeit sind links-libertre64 und liberal-egalitre65 Begrndungen vorgelegt worden. Große Resonanz hat zudem der Versuch erzeugt, das Recht auf Arbeit im Rahmen einer non-egalitaristischen Gerechtigkeitskonzeption zu rechtfertigen; im Zentrum dieser Theorie stehen die Thesen, dass soziale Zugehçrigkeit ein Menschenrecht sei und dass sie im Fall von Arbeitsgesellschaften durch einen rechtlichen Anspruch auf Teilnahme an gesellschaftlicher Arbeit institutionalisiert werden msse.66 Es ist nicht meine Absicht, mich im vorliegenden Zusammenhang mit den verschiedenen Begrndungsversuchen des Grundeinkommens und des Rechts auf Arbeit nher auseinanderzusetzen;67 worauf ich hier aufmerksam machen mçchte, ist allein der Umstand, dass diese Theorien so gut wie keine argumentativen Bezge zu denjenigen sozialwissenschaftlichen Studien aufweisen, in denen der gegenwrtige Wandel der Arbeitswelt und seine Auswirkungen auf das Selbstverstndnis der Brger untersucht werden. So wird von links-libertren Denkern das Grundeinkommen letztlich mit relativ abstrakten eigentumstheoretischen Argumenten gerechtfertigt, whrend sich die liberal-egalitre Begrndung dieser Institution auf eine Konzeption von Respekt gegenber individuellen Lebensentwrfen sttzt, welche der Relevanz des Habens von Erwerbsarbeit in puncto gesellschaftliche Wertschtzung nicht angemessen Rechnung trgt.68 Auch der links-libertren Begrndung des Rechts auf Arbeit liegen allgemeine eigentumstheoretische berlegungen zugrunde, die nicht kulturspezifisch sind. Demgegenber anerkennen sowohl die non-egalitaristischen als auch die liberal-egalitren Befrworter dieses Rechts die 63 Der prominenteste Vertreter dieser Position ist Philippe Van Parijs. Vgl. Van Parijs (1997) und Vanderborght & Van Parijs (2005), 94 – 98. 64 Vgl. Steinvorth (1996) und Steinvorth (2000). 65 Vgl. Pfannkuche (1996). hnlich argumentiert Schlothfeldt (1996). 66 Vgl. Krebs (2002), 199 – 201. Vgl. auch Kambartel (1997). 67 Vgl. meine Diskussion der oben genannten Begrndungsversuche des Rechts auf Arbeit und des Grundeinkommens in Schmidt am Busch (2003), (2003a) und (2011). 68 Vgl. Krebs (2002), 218 – 235.

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Teil I: Probleme und Perspektiven der Kritischen Theorie

Bedeutung, welche die Teilnahme am System der gesellschaftlichen Arbeit in modernen (westlichen) Gesellschaften hinsichtlich der Ausbildung eines positiven individuellen Selbstverhltnisses hat; andererseits ignorieren sie diejenigen Probleme, welche der oben skizzierte Strukturwandel der Arbeitswelt gerade in dieser Hinsicht aufwirft.69 Angesichts dieser Befunde ist es zumindest fraglich, ob die in Rede stehenden Begrndungen theoretisch befriedigend sein kçnnen und ob diejenigen Institutionen, deren Rechtfertigung sie anstreben, die Krise der Arbeitsgesellschaft tatschlich berwinden wrden.

69 Vgl. Schmidt am Busch (2003), 956 – 967.

3 Die Kritische Theorie Die Kluft zwischen gerechtigkeitstheoretischer Argumentation und sozialwissenschaftlicher Forschung, welche im Fall der oben skizzierten philosophischen Begrndungsversuche des Grundeinkommens und des Rechts auf Arbeit festzustellen ist, versucht die aktuelle Kritische Theorie zu schließen.70 Ihr Ziel ist es, wie zwei ihrer wichtigsten Vertreter schreiben, „jene herkçmmlich getrennten Ebenen der Moralphilosophie, der Gesellschaftstheorie und der politischen Analyse in einer kritischen Theorie des Kapitalismus zusammenzufhren“71. Was damit in Aussicht gestellt wird, ist nichts weniger als eine moralphilosophisch gehaltvolle Analyse des und Kritik am zeitgençssischen Kapitalismus. Wie ist dieses Theorieprojekt nher beschaffen? Rekonstruiert man die Grundzge der aktuellen Kritischen Theorie anhand der Schriften Axel Honneths, dann lsst sich diese Frage wie folgt beantworten: In gesellschaftstheoretischer Hinsicht ist die Annahme grundlegend, dass die Kernbereiche von Gesellschaften „Institutionalisierungen“72 spezifischer Formen von Anerkennung sind. Nach dieser Auffassung wird jede Gesellschaft durch Interaktionsbeziehungen konstituiert, die „in unterschiedlichen Prinzipien der reziproken Anerkennung verankert sind“73. Eine so verstandene soziale Wirklichkeit ist durch eine „normativ gehaltvolle Gesellschaftstheorie“74 zu analysieren, deren Grundbegriffe auf eben diese Erwartungen zugeschnitten sind. Aus diesem Grunde sieht Honneth in der Kategorie der Anerkennung einen sozialontologischen „Schlsselbegriff“75. Vom Standpunkt der aktuellen Kritischen Theorie sind im Fall von brgerlich-kapitalistischen Gesellschaften die folgenden drei Anerkennungsrelationen konstitutiv: Liebe, Respekt und soziale Wertschtzung. 70 Mit dem Ausdruck „Kritische Theorie“ beziehe ich mich auf die Frankfurter Schule. Vgl. hierzu z. B. Hoy & McCarthy (1994) sowie Wiggershaus (1986). 71 Fraser & Honneth (2003), 10. 72 UA, 165. Vgl. auch UA, 161. 73 UA, 173. 74 UA, 160. 75 UA, 7.

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Teil I: Probleme und Perspektiven der Kritischen Theorie

Sie versteht Honneth wie folgt: Individuen, die in einer Liebesbeziehung stehen, bejahen einander als leiblich-bedrftige Wesen, Individuen, die sich respektieren, behandeln einander als Subjekte, denen „dieselbe Autonomie“ sowie „gleiche[] Rechte und Pflichten“ zukommen, und Individuen, die sich wertschtzen, begegnen einander als Inhaber von „Fhigkeiten und Talenten […], die von Wert fr die Gesellschaft sind“76. Gemß der oben genannten gesellschaftstheoretischen Grundannahme der Kritischen Theorie ist nun zu zeigen, dass sich die Kernbereiche brgerlichkapitalistischer Gesellschaften als Institutionalisierungen von Liebe, Respekt und sozialer Wertschtzung verstehen lassen. Genau diesen Nachweis beansprucht Honneth zu fhren. Das ist daran zu ersehen, dass er seine gesellschaftstheoretische Analyse explizit auf das bezieht, was er als die „Kerninstitutionen der kapitalistischen Gesellschaftsform“77 ansieht: die sozialen Sphren der modernen Familie, des demokratischen Rechtsstaats und der modernen Arbeitswelt. Nach Honneths Auffassung sind Familienund partnerschaftliche Beziehungen in der Moderne durch eine „liebevolle Sorge um das Wohlergehen des anderen im Hinblick auf seine individuelle Bedrfnislage“78 charakterisiert; ferner lasse sich der demokratische Rechtsstaat als eine „Institutionalisierung der Idee der rechtlichen Gleichheit“79 aller Brger verstehen; und schließlich sei die „kulturelle Leitidee der ,individuellen Leistung‘“, welche der Legitimierung der Ressourcenverteilung in modernen Arbeitswelten diene, eine Ausgestaltung der Anerkennungsform der sozialen Wertschtzung. Aus diesen Grnden lsst sich Honneth zufolge „die brgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform als eine institutionalisierte Anerkennungsordnung […] interpretieren“80. In moralphilosophischer Hinsicht ist fr die aktuelle Kritische Theorie die Annahme zentral, dass Menschen nur durch die Teilnahme an „Sozialbeziehungen, die Einstellungen wechselseitiger Anerkennung verlangen“81, ein positives evaluatives Selbstverhltnis ausbilden kçnnen. Allerdings ist diese These in dem Sinne formal, dass sie keine (nheren) Informationen bezglich der Ausgestaltung jener sozialen Beziehungen enthlt. In der Tat vertritt Honneth die Auffassung, dass die Teilnahme an den jeweils gesell76 UA, 168. – Im Rahmen der hier gegebenen Theorieskizze ist eine nhere Bestimmung dieser Anerkennungsformen nicht erforderlich. 77 UA, 164. 78 UA, 164. 79 UA, 165. 80 UA, 162. 81 UA, 169.

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schaftlich ausgebildeten Anerkennungsverhltnissen eine „notwendige Voraussetzung“82 fr die Ausbildung von Selbstachtung sei, dass der Inhalt dieser Verhltnisse bzw. die Art der gesellschaftlich ausgebildeten Anerkennungsrelationen aber geschichtlichen Vernderungen unterliege. Offenbar sind seines Erachtens qualitativ verschiedene Anerkennungskonstellationen, die sich im Verlauf der (menschlichen) Geschichte ausgebildet haben, gleichermaßen geeignet gewesen, zur Ausbildung von positiven individuellen Selbstverhltnissen beizutragen.83 In gesellschaftspolitischer Hinsicht besteht das Ziel der aktuellen Kritischen Theorie in der Ausarbeitung einer Kritik am zeitgençssischen „Neoliberalismus“84. Zentral sind in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Kapitalismus, einem „sozialdemokratischen“ und einem „neoliberalen“85, sowie die Behauptung, dass neoliberale, nicht aber sozialdemokratisch verfasste gesellschaftliche Ordnungen vom Standpunkt der Anerkennungstheorie problematisch seien.86 Whrend sozialdemokratische Kapitalismusvarianten durch weitgehend regulierte Mrkte, signifikante sozialstaatliche Leistungen und die Bereitschaft zu einer staatlichen Investitionspolitik gekennzeichnet seien, htten neoliberale Ordnungen die folgenden Merkmale: weitgehend deregulierte Mrkte, ein vergleichsweise niedriges sozialstaatliches Niveau sowie eine Unternehmenskultur, durch die die Interessen von Kapitaleigentmern begnstigt werden.87 In der nord82 UA, 209. 83 Honneth hat jngst berlegungen zu einer „robusten Fortschrittskonzeption“ angestellt, die es rechtfertigen wrde, „in den kulturellen Wandlungen der menschlichen Werteigenschaften eine gerichtete Entwicklung zu vermuten, die begrndete Urteile ber die transhistorische Geltung der jeweiligen Anerkennungskultur erlauben wrde“. (In: Honneth (2003), 324 f.) Wie Honneth selbst einrumt, handelt es sich bei diesen berlegungen allerdings lediglich um eine Theorieskizze. Folgt man Honneths Bewertung des bergangs vom sozialdemokratischen zum neoliberalen Kapitalismus (siehe unten), dann mssten im Rahmen der oben genannten Fortschrittskonzeption auch normative Rckschritte erklrt werden kçnnen. 84 Hartmann & Honneth (2006), 44. 85 Hartmann & Honneth (2006), 41 – 46. 86 Das ist zumindest die in Hartmann & Honneth (2006) vertretene Position. Vgl. zu Honneths Verstndnis und Bewertung des sozialdemokratischen Kapitalismus auch Renault (2009). 87 Die Frage, was unter einer neoliberalen Ordnung zu verstehen ist, wird unter Wissenschaftlern und in der ffentlichkeit kontrovers diskutiert. Angesichts dieses Umstands habe ich weiter oben darauf verzichtet, den Begriff „neoliberal“ zu verwenden (siehe Kapitel 1). Wie sein Gebrauch des Ausdrucks „neoliberale Revolution“ deutlich macht, bezeichnet Honneth hiermit diejenige Wirtschaftspo-

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amerikanischen und westeuropischen Geschichte seien sozialdemokratische Kapitalismusmodelle ungefhr zwischen 1945 und 1980 dominant gewesen, whrend seitdem eine „neoliberale Revolution“88 zu beobachten sei. In methodologischer Hinsicht stellt die aktuelle Kritische Theorie eine Kritik am Neoliberalismus in Aussicht, die in dem Sinne „internalistisch“89 ist, dass sie ihren Maßstab in genau jenen Anerkennungsrelationen hat, welche fr brgerlich-kapitalistische Gesellschaften konstitutiv seien. Honneth illustriert dieses Kritikmodell anhand von Verteilungskonflikten. Nach seiner Auffassung sind derartige gesellschaftliche Auseinandersetzungen wesentlich Kmpfe um Anerkennung, die in brgerlich-kapitalistischen Gesellschaften unter Geltendmachung der Prinzipien des Respekts und/oder der sozialen Wertschtzung ausgetragen werden (kçnnen). Forderungen nach Umverteilung von wirtschaftlichen Gtern werden hier mit gesellschaftlicher Zustimmung rechnen kçnnen, wenn sie sich auf den Nachweis sttzen, dass auf diesem Wege eine Verletzung von Ansprchen aufgehoben wird, die sich aus jenen Anerkennungsprinzipien ergibt. Die Aufgabe des Kritischen Theoretikers besteht im vorliegenden Zusammenhang darin, die fraglichen Nachweise zu fhren und die genannten Zusammenhnge explizit zu machen. Da er sich hierbei argumentativ auf Prinzipien sttzen msse, die fr brgerlich-kapitalistische Gesellschaften konstitutiv seien, betreibe er eine „internalistische“ Kritik in dem oben genannten Sinn.90 Erinnern wir uns: Die in den zurckliegenden 30 Jahren als Reaktion auf die Krise des Keynesianismus praktizierte Wirtschaftspolitik hat Beschftigungsstrukturen entstehen lassen, die nach Ansicht vieler Sozialwissenschaftler hinsichtlich der Ausbildung eines stabilen positiven Selbstwertgefhls auf Seiten der Berufsttigen problematisch sind. Wie die von mir bercksichtigten empirischen Studien nahelegen, ist die Wertschtzung/Nicht-Wertschtzung des Arbeitenden durch Andere (seine Kollegen, die Gesellschaft) im vorliegenden Zusammenhang von großem Interesse. Die aktuelle Kritische Theorie stellt eine systematische Rekonstruktion der in brgerlich-kapitalistischen Arbeitswelten relevanten Wertschtzungsformen und -erwartungen in Aussicht, und sie beansprucht, eine litik, die als Reaktion auf die Krise des Keynesianismus eingeleitet worden ist; und aus seiner Bestimmung von „neoliberal“ geht hervor, dass Honneth diese Wirtschaftspolitik in ihren Grundzgen so charakterisiert, wie ich dies in Kapitel 1 getan habe. 88 Hartmann & Honneth (2006), 44. 89 Honneth (2003), 334. 90 Siehe oben, Kapitel 1.

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anerkennungstheoretische Kritik an derjenigen Form von Kapitalismus zu leisten, die jene Beschftigungsstrukturen hervorgebracht hat (und die sie mit „Neoliberalismus“ bezeichnet). Angesichts ihres oben skizzierten methodischen Profils ist es offenkundig, dass die Kritische Theorie ihren Ausgang in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen der obigen Art nehmen muss. Aus diesem Grunde steht sie in einer anderen systematischen Beziehung zu ihnen als die weiter oben diskutierten gerechtigkeitstheoretischen Arbeiten.

4 Zwei Argumente zugunsten der Anerkennungstheorie Welche Erfolgsaussichten hat das im vorangehenden Kapitel skizzierte Theorieprojekt? Das Vorhaben, eine kritische Gesellschaftstheorie in Form einer normativen Anerkennungstheorie auszuarbeiten, ist aus verschiedenen Grnden attraktiv und erfolgversprechend. Unabhngig von Honneths oben skizzierten berlegungen verdient dieses Projekt vor allem deshalb Interesse, weil es an einen in sozialtheoretischer Hinsicht problematischen Ansatz der Kritischen Theorie nicht anschließt und sich seinerseits auf ein Konzept sttzt, das unter Moralphilosophen, Politischen Philosophen und Sozialphilosophen als leistungsstark gilt. Ich werde im Folgenden zunchst das zuletzt genannte Argument skizzieren (4.1) und dann nher auf diejenigen Probleme eingehen, welche die von Jrgen Habermas vertretene systemtheoretische Analyse der modernen konomie aufwirft (4.2).

4.1 „Anerkennung“: ein leistungsstarkes Konzept Der Begriff der Anerkennung ist in zahlreichen philosophischen Debatten von großer Wichtigkeit.91 Das Interesse, welches diese Kategorie unter Moralphilosophen, Politischen Philosophen und Sozialphilosophen gegenwrtig hervorruft, ist ein Indiz fr seine mçgliche Leistungsstrke auch im Kontext einer kritischen Gesellschaftstheorie. Nher wird diese Erwartung durch den Umstand genhrt, dass der Begriff der Anerkennung von vielen Denkern als geeignet angesehen wird, die philosophische und sozialwissenschaftliche Forschung auf den folgenden Feldern zu bereichern: (i) dem der Bestimmung der Begriffe menschlicher Freiheit und Rationalitt, (ii) dem der Analyse von rechtlichen Beziehungen und Formen von sozialer Wertschtzung als Bestandteilen eines gelingenden menschlichen Lebens sowie (iii) dem der Analyse und ethischen Beurtei91 In dieser Hinsicht sind Halbig (2002), Ikheimo & Laitinen (2007), Siep (2009), Zurn (2005) und Zurn (2009) informativ.

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lung von institutionellen Verhltnissen. Diese Punkte seien nun kurz erlutert. (i) Nach Ansicht einer Reihe von Philosophen sind (menschliche) Freiheit und (menschliche) Rationalitt anerkennungstheoretisch zu analysieren. Die Befrworter dieser These – zu denen Robert Brandom, Terry Pinkard und Robert Pippin gehçren92 – begrnden ihren Standpunkt mit den Argumenten, dass Rationaler-Akteur-Sein keine natrliche Eigenschaft, sondern ein normativer Status sei und dass die Zuschreibung dieses Status durch eine soziale Praxis wechselseitiger Anerkennung erfolge. Nach dieser Auffassung ist Anerkennung also nicht nur eine notwendige Bedingung der Ausbildung von Selbstbewusstsein – eine These, die auf Fichte zurckgeht93 –, sondern das Charakteristikum einer sozialen Praxis, in der allein Individuen so etwas wie rationale und freie Akteure sein kçnnen. Das Geben und Nehmen von Grnden, worin menschliche Freiheit bestehe, sei als eine Praxis wechselseitiger Anerkennung zu verstehen. (ii) In diesem Zusammenhang ist vor allem auf Honneths oben skizzierte Theorie sowie auf Charles Taylors berlegungen zum Multikulturalismus und der Politik der Anerkennung hinzuweisen. Whrend Honneths Aufmerksamkeit dem Zusammenhang von Liebe, Respekt und Wertschtzung einerseits und der Ausbildung eines mçglichst „intakten“94 individuellen Selbstverhltnisses andererseits gilt, interessiert sich Taylor fr die Relevanz der im Folgenden genannten Anerkennungsformen hinsichtlich der Mçglichkeit eines gelingenden Lebens unter modernen Bedingungen: (1) Anerkennung der eigenen menschlichen Wrde und (2) Anerkennung der eigenen „unverwechselbaren Identitt“95 durch die Gesellschaft. Nach Taylors Auffassung sind diese beiden Arten von Anerkennung im vorliegenden Zusammenhang bedeutsam, und sie sind in jeweils spezifischen Formen der Politik zu verwirklichen: (1) einer Politik der Gleichheit und des Universalismus einerseits und (2) einer „Politik der Differenz“ andererseits. Zwischen diesen beiden Politikformen sieht Taylor ein Spannungsverhltnis: Whrend eine Politik des Universalismus Grnde fr eine rechtliche Gleichbehandlung aller Brger zur Verfgung stellt, besteht die Funktion einer Politik der Differenz darin, traditionell diskriminierte gesellschaftliche Gruppen durch die Einrumung von Sonderrechten sozial aufzuwerten. 92 Vgl. z. B. Brandom (2004), Pinkard (1994), (2002) und (2009) sowie Pippin (2004) und (2004a). 93 Vgl. Fichte (1971). Vgl. hierzu nun auch Bernstein (2009). 94 UA, 209. 95 Taylor (1993), 28.

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Sowohl Taylors als auch Honneths berlegungen – die bekanntlich unter Philosophen und Sozialwissenschaftlern sehr große Resonanz erzeugt haben96 – legen es nahe, rechtliche Beziehungen und Formen sozialer Wertschtzung anerkennungstheoretisch zu analysieren. (iii) Anerkennungstheorien eignen sich nach Auffassung zahlreicher Sozialphilosophen zu einer Analyse und ethischen Beurteilung von institutionellen Verhltnissen. Dieser Standpunkt ist zunchst von Hegel vertreten und in seiner Jenaer Philosophie des Geistes begrndet worden.97 In jngster Zeit ist im Rahmen des unter (i) beschriebenen Theorieansatzes versucht worden, geschichtlich bedeutsame institutionelle Vernderungen anerkennungstheoretisch zu erklren und als Rationalittsfortschritt auszuweisen.98 Auf dem Gebiet der Sozialontologie ist die Kategorie der Anerkennung fr eine Analyse der Begriffe „institutionelle Tatsache“ und „politische Tatsache“ fruchtbar gemacht worden.99 Und schließlich ist in Auseinandersetzung mit Hegels oben genannter Schrift versucht worden, den Begriff der Anerkennung als ein Kriterium einer normativen Beurteilung der fr die westliche Moderne charakteristischen Institutionen und mithin als ein (mçgliches) Prinzip der Praktischen Philosophie zu etablieren.100

4.2 Habermas’ Theorie der konomie: eine problematische Alternative In Theorie des kommunikativen Handelns pldiert Jrgen Habermas fr eine systemtheoretische Analyse moderner Volkswirtschaften. Nach seiner Auffassung sind derartige gesellschaftliche Rume „normfreie“101 Kontexte, in denen menschliche Akteure allein unter „strategischen“102 Ge96 Das belegen z. B. Halbig & Quante (2004), van den Brink & Owen (2008), Schmidt am Busch & Zurn (2009), die in Taylor (1994) versammelten Beitrge sowie die Schwerpunkte zum Thema „Anerkennung“ in Theory, Culture & Society (18, 2 – 3, 2001), Inquiry (45, 4, 2002) und Deutsche Zeitschrift fr Philosophie (53, 3, 2005). 97 Vgl. PhdG. 98 Vgl. z. B. Pippin (2004), 76 – 79. 99 Vgl. Searle (2007), 79 – 109. 100 Vgl. Siep (1979) und Siep (2009). 101 TkH, Bd. 2, 231. 102 TkH, Bd. 2, 269. Zu Habermas’ Verstndnis von „strategisch“ vgl. TkH, Bd. 1, 384 f.

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sichtspunkten interagieren. Mit seiner systemtheoretischen Analyse der konomie beansprucht Habermas zu zeigen, dass und warum Volkswirtschaften unter Bedingungen der Moderne auf Lebenswelten bergreifen103 und die Entfaltung von deren Rationalittspotenzialen beeintrchtigen. Im Kontext der TkH sind Habermas’ oben referierte Thesen deshalb von erheblichem systematischen Interesse. Wie ich im Folgenden zeigen werde, ist Habermas’ Theorie der konomie nicht befriedigend. Die in der TkH vertretene These, moderne Volkswirtschaften seien normfreie gesellschaftliche Rume, ist intern problematisch und empirisch nicht zu belegen (i). Zudem wird in diesem Werk nicht gezeigt, wie und warum kapitalistische Mrkte systemtheoretisch zu analysieren sind. Aus diesem Grunde bleibt unklar, warum moderne Volkswirtschaften – wie von Habermas angenommen – die Tendenz haben, Lebenswelten zu kolonialisieren und deren Rationalittspotenziale zu beeintrchtigen (ii). Angesichts dieser Schwierigkeiten ist es berechtigt zu fragen, ob sich çkonomische Phnomene und Zusammenhnge im Rahmen einer gesellschaftlichen Anerkennungstheorie nicht besser (und angemessen) analysieren lassen. (i) Habermas entwickelt die These, dass moderne Volkswirtschaften normfreie Systeme seien, im Rahmen einer Theorie sozialer Evolution. Nach seiner Auffassung ist die „Rationalisierung“ vormoderner gesellschaftlicher Lebenswelten eine Bedingung der Mçglichkeit der Etablierung moderner Volkswirtschaften. Unter „Lebenswelt“ versteht Habermas „einen kulturell berlieferten und sprachlich organisierten Vorrat an Deutungsmustern, […] welche die Kommunikationsteilnehmer fr kooperative Deutungsprozesse benutzen“104. Allerdings bestehe eine Lebenswelt „keineswegs nur aus kulturellen Gewißheiten“, sondern „auch aus individuellen Fertigkeiten, dem intuitiven Wissen, wie man mit einer Situation fertig wird, und aus sozial eingelebten Praktiken, dem intuitiven Wissen, worauf man sich in einer Situation verlassen kann“105. Dementsprechend haben Lebenswelten drei „strukturelle[] Komponenten“: „Kultur, Gesellschaft und Person“106. Die Rationalisierung vormoderner Lebenswelten versteht Habermas als die „sukzessive Freisetzung des im kommunikativen Handeln ange103 Habermas spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“ durch systemisch strukturierte soziale Sphren. Vgl. TkH, Bd. 2, 476. 104 TkH, Bd. 2, 189. 105 TkH, Bd. 2, 205. 106 TkH, Bd. 2, 209.

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legten Rationalittspotentials“107. Damit ist im Wesentlichen Folgendes gemeint: Im Zuge der sozialen Evolution verringere sich der oben genannte Bestand an kulturellen, gesellschaftlichen und persçnlichen „Selbstverstndlichkeiten“, ein Vorgang, der vor allem an der Etablierung universalistischer, postkonventioneller Rechtssysteme und Moralvorstellungen festzumachen sei.108 Diese Entwicklung sei deshalb als eine „Rationalisierung der Lebenswelt“ zu verstehen, weil mit ihr „die allgemeinen Strukturen verstndigungsorientierten Handelns immer reiner hervortreten“109. Ohne auf die Frage einzugehen, worin diese Strukturen bestehen,110 lsst sich also feststellen, dass die oben skizzierte Entwicklung der Lebenswelt in der TkH nach Maßgabe von Habermas’ Begriff der kommunikativen Rationalitt als ein Fortschritt ausgewiesen wird. Die Etablierung moderner Volkswirtschaften erklrt Habermas nun wie folgt: Mit der oben skizzierten Rationalisierung der Lebenswelt „schrumpfen“ die „Zonen des Unproblematischen“, so dass der „Verstndigungsbedarf“ und das „Dissensrisiko“111 unter den Menschen zunehmen. Jener Bedarf und dieses Risiko lassen sich nach Habermas durch die Institutionalisierung von Medien verringern, die anstelle von Verstndigungsprozessen Handlungen koordinieren. Ein solches Medium ist Geld, das in einem privatrechtlich strukturierten gesellschaftlichen Kontext „Interaktionen in Raum und Zeit zu immer komplexeren Netzen“112 verknpft. In der Etablierung dieses „Entlastungsmechanismus“113 – und mithin von modernen Volkswirtschaften – sieht Habermas ein Charakteristikum moderner (westlicher) Gesellschaften. Wie aber begrndet Habermas die These, dass moderne Volkswirtschaften normfreie Systeme sind? Im Zuge der Rekonstruktion (und Prfung) seiner Argumentationen bietet es sich an, zwei lngere Passagen aus der ThK zu zitieren, von denen eine bereits in Auszgen wiedergegeben und erlutert worden ist. „Die kommunikative Alltagspraxis ist, wie wir gesehen haben, in einen lebensweltlichen Kontext eingebettet, der durch kulturelle berlieferungen, legitime Ordnungen und vergesellschaftete Individuen bestimmt ist. Die Interpretationsleistungen zehren von einem lebensweltlichen Kon107 108 109 110 111 112 113

TkH, Bd. 2, 232. Vgl. TkH, Bd. 2, 257 – 267. TkH, Bd. 2, 268 f. Vgl. TkH, Bd. 1, 15 – 203 u. 369 – 452. TkH, Bd. 2, 272. TkH, Bd. 2, 275. TkH, Bd. 2, 269.

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sensvorschuß. Nun wird das Rationalittspotential sprachlicher Verstndigung in dem Maße aktualisiert, wie Motiv- und Wertgeneralisierung fortschreiten und die Zonen des Unproblematischen schrumpfen. Der wachsende Rationalittsdruck, den eine problematisierte Lebenswelt auf den Verstndigungsmechanismus ausbt, erhçht den Verstndigungsbedarf, und damit nehmen der Interpretationsaufwand und das (mit der Inanspruchnahme von Kritikfhigkeiten steigende) Dissensrisiko zu. Diese Anforderungen und Gefahren sind es, die durch Kommunikationsmedien abgefangen werden kçnnen.“ Fr Medien wie Geld ist es charakteristisch, dass „sie die Handlungskoordinierung von sprachlicher Konsensbildung berhaupt abkoppeln und gegenber der Alternative von Einverstndnis oder fehlgeschlagener Verstndigung neutralisieren“114. Aus diesen berlegungen zieht Habermas folgenden Schluss: „Die Umstellung der Handlungskoordinierung von Sprache auf Steuerungsmedien bedeutet eine Abkoppelung der Interaktion von lebensweltlichen Kontexten. Medien wie Geld und Macht setzen an den empirisch motivierten Bindungen an; sie codieren einen zweckrationalen Umgang mit kalkulierbaren Wertmengen und ermçglichen eine generalisierte strategische Einflußnahme auf die Entscheidungen anderer Interaktionsteilnehmer unter Umgehung sprachlicher Konsensbildungsprozesse. Indem sie die sprachliche Kommunikation nicht nur vereinfachen, sondern durch eine symbolische Generalisierung von Schdigungen und Entschdigungen ersetzen, wird der lebensweltliche Kontext, in den Verstndigungsprozesse stets eingebettet sind, fr mediengesteuerte Interaktionen entwertet: die Lebenswelt wird fr die Koordinierung von Handlungen nicht lnger bençtigt.“115 Wie Habermas przisiert, betrifft dies die folgenden Aspekte der Lebenswelt: Medien wie Geld entkoppeln „die Interaktionen vom lebensweltlichen Kontext des geteilten kulturellen Wissens, geltender Normen und zurechenbarer Motivationen“116. Dadurch entstehen normfreie wirtschaftliche Systeme, nmlich „Bereiche organisationsfçrmiger und mediengesteuerter Sozialbeziehungen, die normenkonforme Einstellungen und identittsbildende soziale Zugehçrigkeiten nicht mehr zulassen“117. Demnach behauptet Habermas, dass Verstndigungsprozesse stets in einen lebensweltlichen, „normativen“118 Kontext eingebettet sind, und er 114 115 116 117 118

TkH, Bd. 2, 272. TkH, Bd. 2, 273 (meine Hervorhebung – SaB). TkH, Bd. 2, 273. TkH, Bd. 2, 231. TkH, Bd. 2, 231.

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folgert aus der Ersetzung verstndigungsorientierter durch geldgesteuerte Interaktionen, dass Letztere nicht in einen solchen Kontext eingebettet sind. Aus diesem Grunde fnden Interaktionen, die durch Geld koordiniert werden, in einem normfreien gesellschaftlichen Raum statt. Meines Erachtens ist diese Argumentation nicht haltbar. Warum bedrfen nicht auch Interaktionen, die durch Geld koordiniert werden, eines „Kontext[es] des geteilten kulturellen Wissens, geltender Normen und zurechenbarer Motivationen“? Warum – um bei Habermas’ Bild zu bleiben – ist die Beseitigung der Zonen des Problematischen (durch die Etablierung des Mediums Geld) zugleich eine Beseitigung der „Zonen des Unproblematischen“ (im wirtschaftlichen Raum)? Offenkundig bedarf eine Begrndung der entsprechenden These weiterer Argumente; aus Habermas’ obigen Annahmen lsst sich nicht ableiten, dass moderne Volkswirtschaften normfreie Kontexte sind. Wie verschiedentlich bemerkt worden ist, ist es zudem unplausibel zu behaupten, dass dieselben Personen als Angehçrige einer Lebenswelt einen bestimmten normativen Kontext teilen, als wirtschaftliche Akteure hingegen in einem vollstndig normfreien Raum agieren. (Damit wird nicht in Abrede gestellt, dass es so etwas wie beziehungs- oder bereichsspezifische Normen gibt.) Bezeichnenderweise wird das Konzept der Lebenswelt von Habermas anhand einer Begebenheit illustriert, die der modernen Arbeitswelt entstammt119 ; wie diese Passage zeigt, gibt es in der TkH selbst berlegungen, mit denen die These, dass moderne Volkswirtschaften normfreie Systeme bilden, in Frage gestellt werden kann.120 Unabhngig von Habermas’ Ausfhrungen ist in diesem Zusammenhang anzufhren, dass es innerhalb der konomie ein wachsendes Bewusstsein fr die Relevanz von Normen hinsichtlich des Verhaltens von wirtschaftlichen Akteuren gibt.121 Dieser Zusammenhang ist fr die Vertreter der sogenannten Neuen Institutionençkonomik von grundlegender Bedeutung. Nach ihrer Auffassung bedarf es einer expliziten Bercksichtigung von „Normen, Sitten, Traditionen und Gebruchen“122, um das 119 Vgl. TkH, Bd. 2, 182 – 192. 120 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die von Hugh Baxter formulierte Kritik an Habermas’ Unterscheidung von System und Lebenswelt sowie den dieser Unterscheidung zugrunde liegenden Kategorien des verstndigungs- und erfolgsorientierten Handelns. (In: Baxter (2002), 495 – 507 und 545 – 553.) 121 In dieselbe Richtung weisen aktuelle soziologische Untersuchungen. Vgl. z. B. Beckert (2007) und Stehr (2007). 122 Voigt (2002), 19.

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Verhalten von wirtschaftlichen Akteuren angemessen beschreiben und zuverlssig prognostizieren zu kçnnen: „Institutionençkonomen gehen davon aus, daß die Exaktheit von Prognosen, die auf Basis des einfachen çkonomischen Verhaltensmodells generiert werden, substantiell verbessert werden kann, wenn Restriktionen, die auf internen Institutionen beruhen – wie etwa Gewohnheiten, Traditionen, ethischen Regeln usf. – vollstndiger als bisher in Rechnung gestellt werden.“123

Aus institutionençkonomischer Sicht ist die Bercksichtigung der genannten „internen Institutionen“ nicht nur in theoretischer, sondern auch in praktischer Hinsicht bedeutsam. In der Tat lautet eine zentrale Annahme dieser Schule, dass „die Mçglichkeiten, wachstums- und entwicklungsfçrdernde Institutionen politisch durchsetzen zu kçnnen, […] durch die kulturelle Prgung der jeweiligen Gesellschaft beschrnkt“124 sind. Hieraus ergibt sich in wirtschaftspolitischer Hinsicht die Notwendigkeit einer Abstimmung mçglicher wachstumsfçrdernder Maßnahmen mit dem gesellschaftlich gegebenen Bestand an Normen, Sitten, Traditionen und Gebruchen. Halten wir fest: Die Annahme, dass moderne Volkswirtschaften normfreie gesellschaftliche Rume seien, wird in der TkH nicht zufriedenstellend begrndet. Wie aktuelle Entwicklungen auf dem Gebiet der çkonomischen Theoriebildung zeigen, ist eine Bercksichtigung von Normen hinsichtlich der Erklrung des Verhaltens wirtschaftlicher Akteure notwendig. (ii) In der TkH wird nicht deutlich gemacht, warum es einer systemtheoretischen Analyse çkonomischer Zusammenhnge bedarf. Eine Wirtschaft ist fr Habermas dann ein System (im Sinne der Systemtheorie), wenn sie sich „ber das eigene Medium“125 zu denjenigen sozialen Sphren, die dadurch zu ihren „Umwelten“126 werden, in Beziehung setzen kann. Zwar gab es bereits in vormodernen Gesellschaften marktwirtschaftliche Austauschprozesse; ein çkonomisches System (im oben genannten Sinne) bildet sich nach Habermas jedoch erst mit der kapitalistischen Wirtschaft aus.127 Entscheidend sei in diesem Zusammenhang die Etablierung von Geld als eines Steuerungsmediums:

123 124 125 126 127

Voigt (2002), 41. Voigt (2002), 19 f. TkH, Bd. 2, 476. TkH, Bd. 2, 476. Vgl. TkH, Bd. 2, 255 f.

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„Erst wenn Geld zu einem intersystemischen Austauschmedium wird, erzeugt es strukturbildende Effekte. Als ein monetr gesteuertes Subsystem kann sich die Wirtschaft nur in dem Maße konstituieren, wie sie den Austausch mit ihren sozialen Umwelten ber das Medium Geld regelt. Die komplementren Umwelten bilden sich dadurch, daß der Produktionsprozeß auf Lohnarbeit umgestellt und der Staatsapparat ber das Steueraufkommen der Beschftigten mit der Produktion rckgekoppelt wird.“128

Wie Habermas przisiert, tritt die kapitalistische Wirtschaft ber das Geldmedium in Beziehung zur Lebenswelt und macht diese dadurch zu einem „Subsystem“129. Dies geschehe durch den Tausch von Arbeitsleistungen gegen Arbeitseinkommen sowie von Gtern und Dienstleistungen gegen die Nachfrage der Konsumenten.130 Gleichzeitig etabliere sich die staatliche Verwaltung als ein System, das „Organisationsleistungen gegen Steuern (als Faktoreingabe) und politische Entscheidungen (als Ausgabe eigener Produkte) gegen Massenloyalitt“131 tauscht. Auf diese Weise sei „der Staatsapparat […] mit der Produktion rckgekoppelt“. Warum, so ist zu fragen, pldiert Habermas fr eine systemtheoretische Analyse der in Rede stehenden Beziehungen? Kein konom wrde bestreiten, dass moderne Verwaltungen steuerfinanzierte Anbieter von Organisationsleistungen sind und dass zwischen kapitalistischen Betrieben und privaten Haushalten die von Habermas angenommenen Tauschbeziehungen bestehen: Geld gegen Arbeitsleistungen sowie Gter gegen Geld. Warum also analysiert Habermas die Beziehungen zwischen der Wirtschaft, der Lebenswelt und der Verwaltung nicht mithilfe von Modellen, die beispielsweise in der Volkswirtschaftslehre verwendet werden?132 Welchen Erkenntnisgewinn erçffnet die in der TkH vorgeschlagene systemtheoretische Analyse? Meines Erachtens ist nicht ersichtlich, welche Vorteile Habermas’ Theorie im vorliegenden Zusammenhang bietet. Zu bemngeln ist, dass in der TkH nicht gezeigt wird, ob und, wenn ja, wie sich kapitalistische Mrkte mit dem in dieser Schrift verwendeten systemtheoretischen Vokabular analysieren lassen.133 Aus diesem Grunde ist ferner unklar, welchen Beitrag ein systemtheoretischer Ansatz zur Erreichung von Habermas’ Untersuchungszielen leisten kann. 128 129 130 131 132 133

TkH, Bd. 2, 256. TkH, Bd. 2, 258. Vgl. TkH, Bd. 2, 472. TkH, Bd. 2, 472. hnlich fragt Baxter (2002), 531. Genau genommen, wird diese Frage in der TkH nicht einmal thematisiert.

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Mit seiner Analyse der „Entkopplung von System und Lebenswelt“ beansprucht Habermas zu zeigen, dass und warum systemisch strukturierte soziale Sphren (also die moderne Wirtschaft und Verwaltung) auf die Lebenswelt bergreifen und die Entfaltung von deren Rationalittspotenzial beeintrchtigen. Diese Entwicklung macht Habermas beispielsweise an einer zunehmenden Verrechtlichung lebensweltlicher Zusammenhnge infolge von sozialstaatlichen Arrangements fest. Hierdurch wrden soziale Sphren verstndigungsorientierter Interaktionen beschdigt und Menschen zu „Klienten von den Verwaltungen des Sozialstaats“134 gemacht. Dass es zu einer solchen „Kolonialisierung der Lebenswelt“135 komme, erklrt Habermas im Wesentlichen damit, „daß die Probleme, die in der Arbeitswelt entstehen, aus den privaten in çffentliche Lebenssphren verschoben und dort unter Bedingungen konkurrenzdemokratischer Willensbildung in Legitimationshypotheken verwandelt werden. Die sozialen, und das heißt zunchst privaten Folgelasten des Klassenkonflikts lassen sich von der politischen ffentlichkeit nicht fernhalten. So wird der Sozialstaat zum politischen Inhalt der Massendemokratie.“136 Eine systemtheoretische Analyse der konomie msste die von Habermas genannten „Probleme“ spezifizieren und erklren, warum sie auftreten. Mehr noch: Da Habermas die Kolonialisierung der Lebenswelt durch systemisch strukturierte soziale Sphren als eine „unaufhaltsame“137 Entwicklung ansieht, msste im Rckgriff auf jene çkonomischen Probleme deutlich gemacht werden, warum diese Einschtzung richtig ist. Diesen Erfordernissen gengt die TkH nicht. Zwar przisiert Habermas, dass „Systemprobleme zunchst aufgrund eines krisenhaften Verlaufsmusters çkonomischen Wachstums entstehen“138 ; allerdings bietet er keine Erklrung fr das Auftreten von Krisen dieser Art. Genau genommen, unterstellt Habermas einfach, dass es einen zum „Selbstzweck gewordenen Akkumulationsproze[ß]“139 gibt, der mit „krisenhaften Verlaufsmustern çkonomischen Wachstums“ einhergeht.140 Aus diesem Grunde scheint es mir fraglich zu sein, ob in der TkH berhaupt so etwas wie eine systemtheoretische Erklrung von çkonomischen Krisen gegeben wird. Als Begrndung von 134 135 136 137 138 139 140

TkH, Bd. 2, 476. TkH, Bd. 2, 476. TkH, Bd. 2, 510. TkH, Bd. 2, 232. TkH, Bd. 2, 505. TkH, Bd. 2, 504. Zu dieser Einschtzung gelangt auch Thomas McCarthy. Vgl. McCarthy (2002), 206.

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Habermas’ These, dass die Kolonialisierung der Lebenswelt unaufhaltsam sei, sind seine obigen Annahmen jedenfalls unzureichend. Als Ergebnis der in diesem Kapitel gefhrten Untersuchung ist Folgendes festzuhalten: Die Auffassung, dass moderne Volkswirtschaften normfreie Kontexte seien, ist unplausibel. In der TkH wird nicht gezeigt, wie und warum kapitalistische Mrkte systemtheoretisch zu analysieren sind. Einerseits lsst dieser Umstand offen, ob eine solche Analyse mçglich ist;141 andererseits macht er verstndlich, warum es innerhalb der Kritischen Theorie Bemhungen gibt, çkonomische Phnomene und Zusammenhnge in einem anderen theoretischen Rahmen zu untersuchen.142 Angesichts der weiter oben angefhrten Argumente143 erscheint es lohnend zu fragen, welche Beitrge eine soziale Anerkennungstheorie zu einer solchen Untersuchung leisten kann.

141 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die in Baxter (2002) vorgeschlagene Weiterentwicklung von Habermas’ systemtheoretischem Ansatz. 142 Vgl. hierzu auch Deranty (2009). 143 Vgl. Kapitel 4.1.

5 Nancy Frasers Kritik Der Versuch, kapitalistische Arbeitswelten anerkennungstheoretisch zu analysieren, hat vehemente Kritik hervorgerufen.144 Eine Reihe von Kritischen Theoretikern hat die Befrchtung geußert, dass ein Festhalten an Honneths sozialtheoretischer Grundannahme – dass brgerlich-kapitalistische Gesellschaften institutionalisierte Anerkennungsordnungen seien – eine Analyse von kapitalistischen Mrkten unmçglich mache. Aus ihrer Sicht ist das Vorhaben einer anerkennungstheoretischen Analyse der „Kerninstitutionen“ brgerlich-kapitalistischer Gesellschaften deshalb zum Scheitern verurteilt. Trifft diese Einschtzung zu, dann ist ferner nicht ersichtlich, wie eine (in dem oben explizierten Sinne) „internalistische“ anerkennungstheoretische Kritik am gegenwrtigen, neoliberalen Kapitalismus aussehen kçnne. Folglich liefe die aktuelle Kritische Theorie Gefahr, sowohl ihre sozialtheoretischen als auch ihre sozialkritischen Ziele zu verfehlen. Auf welche Argumente sttzt sich die in Rede stehende Kritik an der Anerkennungstheorie? Und ist sie zutreffend? Diese Fragen werde ich nun im Ausgang von Nancy Frasers detaillierter – und einflussreicher – Kritik an Honneths Anerkennungstheorie untersuchen. Nach Frasers Auffassung ist die Frage, „wie die Kritische Theorie die Gesellschaftsstruktur des heutigen Kapitalismus (present-day capitalism) verstehen soll“145, von Honneth nur unzureichend beantwortet worden. Gemß der von ihm vertretenen Anerkennungstheorie werde „die Sphre der Arbeit vom Leistungsprinzip dominiert, das die Lohnhçhe danach bestimmt, wie wertvoll der jeweilige Sozialbeitrag einzuschtzen ist. Deshalb sind Auseinandersetzungen in Sachen Verteilung letztlich nur Auseinandersetzungen in puncto Anerkennung, die die kulturelle Interpretation von Leistung zu verndern suchen. […] Daraus mssen wir schließen, daß marktvermittelte gesellschaftliche Interaktionen keinen besonderen Status haben, weil sie wie alle anderen Interaktionen durch kulturelle Bewertungsschemata reguliert werden. Deshalb gibt es keinen Ansatzpunkt 144 Vgl. z. B. Fraser (2003), Renault (2004) und Zurn (2005a). Vgl. auch die kritische Diskussion dieser Positionen in Deranty (2009). 145 Fraser (2003), 242.

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Teil I: Probleme und Perspektiven der Kritischen Theorie

und sonst auch keinerlei Mçglichkeit dafr, spezifische çkonomische Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft begrifflich zu erfassen.“146 Diese Kritik przisiert Fraser wie folgt: „Diese berlegungen gelten erst recht fr die Arbeitsmrkte von kapitalistischen Gesellschaften. Hier wird die Vergtung von Arbeit eben nicht durch das Leistungsprinzip geregelt. […] [B]edeutsam sind [hier] politisch-çkonomische Faktoren wie das Angebot von und die Nachfrage nach unterschiedlichen Arbeitsleistungen; die Machtbalance zwischen Arbeit und Kapital; die Dichte und Konsequenz der Sozialgesetzgebung (einschließlich des Mindestlohns); die Verfgbarkeit und die Kosten produktionssteigernder Technologien; die Leichtigkeit, mit der die Konzerne ihre Ttigkeiten in Regionen verlegen kçnnen, in denen das Lohnniveau niedriger ist; die Kreditzinsen, die Außenhandelspolitik und schließlich die Wechselkurse zwischen den Lndern. In dieser heterogenen Mischung verschiedener Faktoren nehmen Ideologien von angemessenen Leistungen keineswegs einen herausragenden Platz ein. Vielmehr werden ihre Effekte durch das Wirken von unpersçnlichen Systemmechanismen vermittelt, die die Maximierung von Unternehmerprofiten an die erste Stelle setzen.“147 Frasers Schlussfolgerung lautet: Honneths oben skizzierte Anerkennungstheorie sei „von Natur aus blind fr solche Systemmechanismen, die nicht auf kulturelle Bewertungsschemata reduziert werden kçnnen“148. Mit der Annahme, „das Marktgeschehen sei gnzlich der Dynamik der Anerkennung unterworfen“149, habe Honneth eine Theorie vorgelegt, die als „beschrnkte[r] Kulturalismus“150 zu kritisieren sei. Frasers Argumentation lsst sich wie folgt zusammenfassen: Honneth behauptet, dass kapitalistische Arbeitswelten Institutionalisierungen des Anerkennungsprinzips der individuellen Leistung sind; wenn diese Behauptung richtig ist, ist die Hçhe von Arbeitseinkommen eine Funktion von kulturellen Annahmen bezglich des Werts der entlohnten Ttigkeiten; diese Schlussfolgerung ist jedoch falsch. Nach Frasers Auffassung ist es nmlich nicht mçglich, die hinsichtlich der Hçhe von Arbeitseinkommen relevanten Faktoren auf „kulturelle Bewertungsschemata“ bezglich des gesellschaftlichen Werts der fraglichen Ttigkeiten zurckzufhren.

146 147 148 149 150

Fraser (2003), 244. Fraser (2003), 246. Fraser (2003), 246. Fraser (2003), 248. Fraser (2003), 248.

5 Nancy Frasers Kritik

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Mit dieser berlegung beansprucht Fraser zu zeigen, dass sich kapitalistische Arbeitswelten anerkennungstheoretisch nicht analysieren lassen. Demnach bezieht sich ihre Kritik nicht nur auf die von Honneth vorgelegte Theorie, sondern grundstzlich auf eine bestimmte Art von Sozialtheorie. Dass Fraser diesen Anspruch erhebt, ist daran zu ersehen, dass sie glaubt, mit jener berlegung eine stringente Begrndung dafr gegeben zu haben, dass sich kapitalistische Arbeitsmrkte nur systemtheoretisch angemessen analysieren lassen.151 Sollten sich Frasers berlegungen als berechtigt erweisen, wre ferner das Vorhaben einer anerkennungstheoretischen Kritik am Neoliberalismus, die in dem oben explizierten Sinne „internalistisch“ ist152, preiszugeben. Falls die Distribution von Gtern und Einkommen in der Tat sehr stark durch „politisch-çkonomische Faktoren“ beeinflusst wird, die von den gesellschaftlich ausgebildeten Formen von Anerkennung unabhngig sind, mssten ungerechte Verteilungsstrukturen unter Bezugnahme auf jene Faktoren erklrt und durch eine (politische) Steuerung derselben modifiziert werden. Demgegenber wrde eine anerkennungstheoretische Kritik an wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten keine adquaten Maßnahmen zur Beseitigung derselben spezifizieren kçnnen. Sie wre deshalb theoretisch irrefhrend und politisch kontraproduktiv. Ist Frasers Kritik berechtigt? In diesem Zusammenhang ist zweierlei zu bemerken: Einerseits behauptet Honneth nicht – wie von Fraser unterstellt –, dass kapitalistische Arbeitswelten Institutionalisierungen von nur einer Form von Anerkennung sind. Vielmehr vertritt er explizit die These, dass fr diese soziale Sphre sowohl rechtlicher Respekt als auch soziale Wertschtzung konstitutive Anerkennungsprinzipien sind.153 Folglich ist es hinsichtlich einer Widerlegung von Honneths Anerkennungstheorie nicht ausreichend zu zeigen, dass Mrkte keine Institutionalisierungen von leistungsbezogener gesellschaftlicher Wertschtzung sind; vielmehr msste ferner der Nachweis erbracht werden, dass sie sich auch nicht als Institutionalisierungen von rechtlichem Respekt verstehen lassen. Dieses Erfordernis wird von Fraser aber nicht thematisiert, geschweige denn erfllt. Andererseits ist Honneth vorzuwerfen, dass er die begrifflichen Beziehungen von Respekt, sozialer Wertschtzung und wirtschaftlichen Vorgngen nicht ausreichend erhellt. Angesichts seines sozialtheoretischen 151 Fraser (2003), 245. 152 Vgl. Kapitel 3. 153 Siehe oben, Kapitel 3.

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Teil I: Probleme und Perspektiven der Kritischen Theorie

Anspruchs wre zu zeigen, dass und in welchem Sinne „die Kerninstitutionen der kapitalistischen Gesellschaftsform“ Institutionalisierungen von spezifischen Anerkennungsformen sind. In diesem Zusammenhang msste deutlich werden, warum neoliberale Mrkte anerkennungstheoretisch analysiert und kritisiert werden kçnnen. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe,154 hat Honneth bisher nicht dargelegt, wie sich die oben genannten Untersuchungsziele auf der Grundlage der von ihm eingefhrten Kategorien des rechtlichen Respekts und der sozialen Wertschtzung erreichen lassen. Allerdings folgt hieraus nicht – wie von Fraser unterstellt –, dass es unmçglich ist, neoliberale Mrkte anerkennungstheoretisch zu verstehen. Welche Erfolgsaussichten ein solches Unternehmen hat, ist vielmehr eine offene Frage.

154 Vgl. Schmidt am Busch (2008).

6 Soziale Wertschtzung Eine Diskussion von Honneths Konzeption sozialer Wertschtzung ist hinsichtlich der Klrung der Frage, ob sich die sozialtheoretischen und -kritischen Ziele der aktuellen Kritischen Theorie im Rahmen einer gesellschaftlichen Anerkennungstheorie erreichen lassen, ußerst aufschlussreich. Aus diesem Grunde werde ich im Folgenden einige Fragen und Probleme erçrtern, welche jene Wertschtzungskonzeption aufwirft. Ich werde mich in diesem Zusammenhang auf drei Punkte konzentrieren, die ich jeweils in einem eigenen Kapitel behandeln werde. Die Relevanz meiner berlegungen hinsichtlich der von Nancy Fraser und Anderen geußerten Kritik an der Anerkennungstheorie werde ich separat kenntlich machen.155

6.1 Zwei Arten von Wertschtzung Worauf bezieht sich soziale Wertschtzung? Welche moralphilosophische Relevanz hat diese Form von Anerkennung? Und welche institutionelle Gestalt hat soziale Wertschtzung in brgerlich-kapitalistischen Gesellschaften? Diese Fragen werden von Honneth (in der Regel)156 wie folgt beantwortet: Soziale Wertschtzung bezieht sich auf „Fhigkeiten und Talente“, deren Anwendung „von Wert fr die Gesellschaft“157 ist. Dementsprechend wird ein Mensch, der sozial wertgeschtzt wird, „als Person anerkannt, deren Fhigkeiten von konstitutivem Wert fr eine konkrete Gemeinschaft sind“158. Die moralphilosophische Relevanz von sozialer Wertschtzung besteht nach Honneth darin, dass diese Form von Anerkennung eine notwendige Bedingung fr die Ausbildung der berzeugung ist, „gute oder wertvolle Fhigkeiten zu besitzen“159, und dass diese berzeugung ein 155 156 157 158

Siehe unten, Teil I, Kapitel 7.1. In UA werden diese Fragen zum Teil anders beantwortet. Siehe unten, Kapitel 6.2. UA, 168. ZAK, 187. – Den von Honneth behaupteten „konstitutiven“ Aspekt (des Werts) der fraglichen Fhigkeiten lasse ich im Folgenden außer Acht. 159 ZAK, 183.

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Teil I: Probleme und Perspektiven der Kritischen Theorie

notwendiges Element von „Selbstschtzung“160 bzw. eines stabilen positiven „Selbstwertgefhls“161 ist. Menschen, die keinerlei soziale Wertschtzung erhalten, kçnnen also sich selbst nicht wertschtzen. Hinsichtlich der institutionellen Gestalt von sozialer Wertschtzung in brgerlich-kapitalistischen Gesellschaften stellt Honneth Folgendes fest: „Schon ein kurzer Blick in Untersuchungen, die die psychischen Folgen der Arbeitslosigkeit behandeln, fhrt unmißverstndlich vor Augen, daß der Erfahrung der Arbeit in dem sich abzeichnenden Konzept [von sozialer Wertschtzung – SaB] eine zentrale Stellung zukommen muß; denn mit der Chance, einer çkonomisch entlohnten und somit sozial geregelten Arbeit nachzugehen, ist auch heute noch der Erwerb jener Form von Anerkennung verknpft, die ich soziale Wertschtzung genannt habe.“162

Demnach vertritt Honneth die These, dass in brgerlich-kapitalistischen Gesellschaften das Haben oder Ausben von Erwerbsarbeit eine hinreichende Bedingung fr den Erhalt von sozialer Wertschtzung ist. Wie sein Hinweis auf die „psychischen Folgen der Arbeitslosigkeit“ nahelegt, scheint er zudem der Auffassung zu sein, dass die Teilnahme am System der Erwerbsarbeit fr die Mitglieder solcher Gesellschaften eine notwendige Bedingung fr den Erhalt von sozialer Wertschtzung ist. Angesichts der obigen Bestimmung der Hinsicht von sozialer Wertschtzung folgt hieraus, dass Menschen, die erwerbsttig sind, als Inhaber von spezifischen Fhigkeiten sozial wertgeschtzt werden und dass Menschen, die nicht erwerbsttig sind, in dieser Hinsicht nicht sozial wertgeschtzt werden. Folglich kçnnen jene, nicht aber diese Personen die berzeugung haben, „gute oder wertvolle Fhigkeiten zu besitzen“, und mithin ein positives „Selbstwertgefhl“ oder eine Haltung der „Selbstschtzung“ ausbilden. Tabellarisch lsst sich dieser Zusammenhang wie folgt darstellen: Tabelle 1 Selbstverhltnis

Anerkennungsverhltnis

institutionelle Gestalt

Wertschtzung als Inhaber spezifischer Fhigkeiten

soziale Wertschtzung als Inhaber gesellschaftlich wertvoller Fhigkeiten

Ausben von Erwerbsarbeit

160 ZAK, 209. 161 ZAK, 183. 162 SDM, 104.

6 Soziale Wertschtzung

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Meines Erachtens ist es im vorliegenden Zusammenhang wichtig, zwischen den folgenden beiden Hinsichten von Wertschtzung zu unterscheiden: 1. Wertschtzung als Inhaber von spezifischen Fhigkeiten; und 2. Wertschtzung als Erbringer von gesellschaftlich ntzlichen Leistungen. Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil es in brgerlich-kapitalistischen Gesellschaften Formen von Erwerbsarbeit gibt, die als gesellschaftlich ntzlich angesehen werden, aber nach allgemeiner Auffassung nicht die Aktualisierung von etwas beinhalten, was als eine nicht-triviale Fhigkeit163 oder als Talent gilt. Beispiele von solchen Arbeiten sind sogenannte Hilfsarbeiten oder Ttigkeiten in nach tayloristischen Prinzipien164 organisierten Betrieben. Es ist meines Erachtens nicht ersichtlich, wie die Ausbung von Arbeiten dieser Art auf Seiten des Berufsttigen zur Ausbildung der berzeugung beitragen kçnnte, „gute oder wertvolle Fhigkeiten zu besitzen“. Demgegenber scheint mir die Behauptung richtig zu sein, dass sich Menschen aufgrund der Verrichtung solcher Arbeiten als gesellschaftlich ntzliche Subjekte verstehen und schtzen kçnnen. Allerdings – so ist zu ergnzen – ist die moderne Arbeitswelt auch in puncto Wertschtzung als Inhaber spezifischer Fhigkeiten von grçßter Wichtigkeit. Zwar ist es denkbar, dass Menschen aufgrund von Fhigkeiten, die keine Anwendung in der Arbeitswelt finden, soziale Wertschtzung erfahren, und es ist auch mçglich, dass sie diese Fhigkeiten außerhalb der Arbeitswelt erworben haben; faktisch erfordert jedoch der Erwerb vieler Qualifikationen, die in Gesellschaften wie der unsrigen soziale Wertschtzung begrnden, eine (lange) Ausbildung in einem spezialisierten und technisierten beruflichen Umfeld. Allein aufgrund der zeitlichen Inanspruchnahme durch ihren Beruf 165 wre es zudem fr sehr viele Menschen schwierig, außerhalb der Arbeitswelt so etwas wie nichttriviale Fhigkeiten auszubilden und als Inhaber derselben Wertschtzung zu finden. 163 Dass Honneth nicht beliebige Ttigkeiten als Aktualisierungen von Fhigkeiten ansieht, folgt aus seiner Behauptung, dass „soziale Wertschtzung […] nur solchen Eigenschaften und Fhigkeiten gelten kann, in denen die Gesellschaftsmitglieder sich voneinander unterscheiden: als ,wertvoll‘ vermag eine Person sich nur zu empfinden, wenn sie sich in Leistungen anerkannt weiß, die sie gerade nicht mit anderen unterschiedslos teilt.“ (KA, 203) Sachlich scheint mir diese ußerung im vorliegenden Zusammenhang richtig zu sein. 164 Vgl. Taylor (1977). 165 Siehe oben, Kapitel 1.

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Teil I: Probleme und Perspektiven der Kritischen Theorie

6.2 Meritokratische Wertschtzung In seiner Kontroverse mit Nancy Fraser bestimmt Honneth die Hinsicht und die institutionelle Gestalt von sozialer Wertschtzung anders als in denjenigen Schriften, auf die ich mich bei meiner obigen Rekonstruktion gesttzt habe.166 In „Umverteilung von Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser“ behauptet er, dass sich soziale Wertschtzung auf Arbeitsleistungen „mit einem bestimmten quantifizierbaren Nutzen fr die Gesellschaft“ bezieht, und er vertritt die These, dass „die persçnliche erbrachte Leistung“ in brgerlich-kapitalistischen Gesellschaften festlegt, „wieviel Ressourcen die einzelnen Gesellschaftsmitglieder legitimerweise jeweils individuell zur Verfgung haben“.167 Der Sache nach wird damit behauptet, dass die Mitglieder moderner Gesellschaften sich als Erbringer mehr oder weniger gesellschaftlich ntzlicher Leistungen mehr oder weniger Wertschtzung entgegenbringen; soziale Wertschtzung bezieht sich hier also auf die zweite der oben von mir unterschiedenen Arten von Wertschtzung.168 Zwar ist die Arbeitswelt auch nach UA der Ort der Distribution von sozialer Wertschtzung; hinsichtlich des Mehr oder Weniger an sozialer Wertschtzung, auf das ein Einzelner Anspruch hat, ist nun aber die gesellschaftliche Ntzlichkeit der von ihm ausgebten Berufsarbeit entscheidend. Auf der Grundlage dieser graduellen Konzeption sozialer Wertschtzung behauptet Honneth, dass das Einkommen, welches dem gesellschaftlichen Nutzen der mit ihm entlohnten Ttigkeit angemessen ist, diejenige Institution sei, in der sich die Wertschtzung des Einzelnen durch die Gesellschaft „legitimerweise“ manifestiere. Und er ergnzt: Mit der Etablierung dieser Form von sozialer Wertschtzung htten brgerlichkapitalistische Gesellschaften die vormoderne, feudale Konzeption von Ehre „gewissermaßen ,meritokratisiert‘“169. Die in UA vertretene Konzeption sozialer (bzw. meritokratischer) Wertschtzung hat demnach die folgenden Komponenten:

166 167 168 169

Vgl. Kapitel 6.1. UA, 166 f. Vgl. Kapitel 6.1. UA, 166.

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6 Soziale Wertschtzung

Tabelle 2 Selbstverhltnis

Anerkennungsverhltnis

institutionelle Gestalt

Wertschtzung als Inhaber spezifischer Fhigkeiten

soziale Wertschtzung als Erbringer mehr oder weniger gesellschaftlich ntzlicher Leistungen

(Hçhe des) Arbeitseinkommen(s)

Meines Erachtens ist diese Konzeption sozialer Wertschtzung intern problematisch, und sie steht in einem Spannungsverhltnis zum Anerkennungsprinzip des rechtlichen Respekts (in Honneths Verstndnis) sowie zu einer Befrwortung von sozialstaatlichen Maßnahmen und Institutionen. Diese beiden Thesen werde ich im Folgenden jeweils in einem eigenen Kapitel erçrtern. 6.2.1 Zum Verhltnis von Anerkennungs- und Selbstverhltnis Die in UA vorgelegte Konzeption sozialer Wertschtzung ist hinsichtlich der Relation von Anerkennungs- und Selbstverhltnis problematisch. Wir sahen oben, dass das moralphilosophische Interesse von Honneths Konzeption sozialer Wertschtzung auf der Annahme beruht, dass das Vorliegen einer bestimmten Art von Anerkennung (nmlich: sozialer Wertschtzung als Inhaber spezifischer Fhigkeiten) eine notwendige Bedingung fr die Ausbildung einer bestimmten Art von individuellem Selbstverhltnis (nmlich: Selbstwertschtzung als Inhaber spezifischer Fhigkeiten) ist. Wie plausibel aber ist diese Annahme im vorliegenden Fall? In diesem Zusammenhang ist dreierlei zu bemerken: 1. Wie bereits geußert, ist es mçglich, gesellschaftlich ntzliche Leistungen zu erbringen, ohne etwas zu aktualisieren, was nach allgemeiner Auffassung eine (nicht-triviale) Fhigkeit oder ein Talent wre. Bezeichnungen wie „unqualifizierte Arbeit“ oder „Hilfsarbeit“ bringen diesen Zusammenhang zum Ausdruck. Selbst wenn solche Arbeiten einen sehr großen gesellschaftlichen Nutzen haben (was beispielsweise bei Naturkatastrophen oder in Kriegssituationen der Fall sein kann), also relativ große Wertschtzung durch die Gesellschaft begrnden, ist meines Erachtens nicht ersichtlich, weshalb sie dem Arbeitenden das Bewusstsein vermitteln kçnnen, wertvolle Fhigkeiten zu haben. (Denkbar ist es natrlich, dass die Bereitschaft, derartige Arbeiten etwa in Situationen der oben genannten Art auszuben, soziale Wert-

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schtzung begrndet; allerdings bezieht sich diese Form von Anerkennung wiederum auf das Ntzlich-Sein fr Andere bzw. die Gesellschaft, nicht aber auf die Art der ausgebten Arbeit.) 2. Die in Rede stehende Relation von Anerkennungs- und Selbstverhltnis ist in quantitativer Hinsicht problematisch. (Das folgt aus 1.) Auch im Fall von Arbeiten, die nach allgemeiner Auffassung eine Aktualisierung nicht-trivialer Fhigkeiten beinhalten, kann eine Steigerung (Verringerung) des gesellschaftlichen Nutzens durch Faktoren bedingt sein, welche die arbeitsrelevanten Fhigkeiten nicht betreffen, etwa durch eine nderung der Arbeitsintensitt, den Einsatz von anderen Werkzeugen und Maschinen oder eine nderung der Bedrfnisse der Konsumenten. Umgekehrt fhrt nicht jede Maßnahme der beruflichen Weiterbildung zu einer Steigerung des gesellschaftlichen Nutzens von Arbeitsleistungen; technologische Neuerungen oder nderungen der gesamtgesellschaftlichen Nachfrage kçnnen Wissensbestnde in dieser Hinsicht sogar berflssig machen. Weil also eine nderung der eigenen beruflichen Fhigkeiten weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung fr eine nderung des gesellschaftlichen Nutzens der eigenen Arbeit ist, erlaubt ein Mehr an sozialer Wertschtzung keinen Rckschluss auf ein Mehr an Fhigkeiten. 3. Angenommen, wir wrden in einer Welt leben, in der jede Steigerung des gesellschaftlichen Nutzens einer Arbeitseinheit auf eine quantitativ entsprechende Verbesserung der beruflichen Fhigkeiten des Arbeitenden zurckzufhren wre und in der jeder gemß dem gesellschaftlichen Nutzen seiner Arbeit entlohnt werden wrde. Mssten die in dieser Welt Lebenden aufgrund der von ihnen bezogenen Einkommen nicht die berzeugung ausbilden, mehr oder weniger wertvolle Fhigkeiten zu besitzen? Anders gefragt: Wrde der meritokratische Aspekt der in Rede stehenden Form von sozialer Wertschtzung nicht auch ihr individuelles Selbstverhltnis prgen? Und ist bezglich einer solchen Welt die Annahme plausibel, dass die Empfnger (sehr) niedriger Einkommen aufgrund ihrer beruflichen Ttigkeit die berzeugung ausbilden wrden, „gute oder wertvolle Fhigkeiten“ zu haben? Oder msste man nicht vielmehr vermuten, dass sie sich als Inhaber nahezu wertloser Fhigkeiten verstehen, also tendenziell ein negatives „Selbstwertgefhl“ ausbilden wrden?170 170 Vgl. in diesem Zusammenhang auch meine berlegungen in Schmidt am Busch

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6 Soziale Wertschtzung

Angesichts dieser berlegungen ist die in UA vorgelegte Konzeption sozialer Wertschtzung hinsichtlich der Relation von Anerkennungs- und Selbstverhltnis als problematisch anzusehen. Es ist in der Tat nicht ersichtlich, warum soziale Wertschtzung, die auf den gesellschaftlichen Nutzen der eigenen Arbeit bezogen ist, hinsichtlich der Ausbildung des Bewusstseins, nicht-triviale Fhigkeiten zu besitzen, wichtig ist, und welche Relevanz ein Mehr an sozialer Wertschtzung in diesem Zusammenhang haben kann. Um das von mir analysierte Problem zu beheben, kann man beispielsweise die Hinsicht des Selbstverhltnisses an die des Anerkennungsverhltnisses ,anpassen‘. In diesem Fall wird man behaupten, dass diejenigen Akteure, die an der in UA beschriebenen Praxis sozialer Wertschtzung partizipieren, sich nach Maßgabe der ihnen zuteil werdenden sozialen Wertschtzung als mehr oder weniger gesellschaftlich ntzliche Individuen verstehen und schtzen. Unter dieser Annahme ergibt sich die folgende Darstellung: Tabelle 3 Selbstverhltnis

Anerkennungsverhltnis

Wertschtzung als mehr oder soziale Wertschtzung als Erbringer mehr oder weniger weniger gesellschaftlich gesellschaftlich ntzlicher ntzliches Individuum Leistungen

institutionelle Gestalt (Hçhe des) Arbeitseinkommen(s)

Wie wir weiter unten sehen werden,171 ist es allerdings zweifelhaft, ob die mit dieser Tabelle skizzierte Anerkennungskonzeption fr die aktuelle Kritische Theorie ein attraktives Element sein kann. 6.2.2 Zum Verhltnis von meritokratischer Wertschtzung und rechtlichem Respekt Die in UA verteidigte Konzeption sozialer Wertschtzung steht in einem Spannungsverhltnis zum Anerkennungsprinzip des rechtlichen Respekts (in Honneths Verstndnis) und zu einer Befrwortung von sozialstaatlichen Maßnahmen und Institutionen. Um dieses Spannungsverhltnis (2004) sowie Honneths Auseinandersetzung mit ihnen (in: Honneth (2004a), 118). 171 Vgl. Teil I, Kapitel 6.3.

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analysieren zu kçnnen, ist es erforderlich, zunchst eine Reihe von Vorberlegungen anzustellen. Es ist selbstverstndlich mçglich, soziale Wertschtzung graduell aufzufassen und das Mehr oder Weniger dieser Form von Anerkennung, auf das der Einzelne Anspruch hat, an den gesellschaftlichen Nutzen von dessen Arbeit zu binden; und unter dieser Annahme ist es naheliegend, das jenem Nutzen gemße Einkommen als diejenige Institution zu verstehen, in der die Wertschtzung des Einzelnen durch die Gesellschaft zum Ausdruck kommt. Allerdings stellt sich dann die Frage, wie der gesellschaftliche Nutzen verschiedener Arbeiten sowie die Hçhe der ihnen entsprechenden Einkommen zu bestimmen sei. Unter der – in UA vertretenen – Annahme, dass meritokratische Wertschtzung ein Charakteristikum brgerlich-kapitalistischer Gesellschaften ist, liegt es nahe, hinsichtlich der Beantwortung dieser Frage grundstzlich zwischen den folgenden beiden Optionen zu unterscheiden: 1. Der Kritische Theoretiker, der an dem Konzept meritokratischer Wertschtzung festhalten mçchte, kann die Position vertreten, dass Mrkte grundstzlich geeignet sind, den relativen Nutzen von Arbeitsleistung zu bestimmen. In dem Fall msste er (i) spezifizieren, unter welchen Bedingungen Mrkte diese Funktion erfllen, und (ii) begrnden, warum er dieser Auffassung ist. 2. Der Kritische Theoretiker, der an dem Konzept meritokratischer Wertschtzung festhalten mçchte, kann die Position vertreten, dass Mrkte nicht geeignet sind, den relativen Nutzen von Arbeitsleistungen zu bestimmen.172 In diesem Fall msste er (iii) explizieren, wie der gesellschaftliche Nutzen verschiedener Arbeiten sowie die Hçhe der ihnen entsprechenden Einkommen zu bestimmen sind, und (iv) begrnden, warum er dieser Auffassung ist. Welche dieser beiden Optionen befrwortet Axel Honneth? Meines Erachtens gibt es sehr gute Grnde fr die Annahme, dass er ein Befrworter von Option 1 ist. Drei von ihnen seien im Folgenden genannt: 1. Weder in UA noch in einer anderen Schrift entwickelt Honneth eine marktalternative Konzeption der Bestimmung des gesellschaftlichen 172 Die Saint-Simonisten waren erklrte Befrworter dieser Position. Sie pldierten – in gesellschaftskritischer Absicht – fr eine Gterverteilung gemß dem Prinzip „ chacun selon sa capacit, chaque capacit selon ses oeuvres“ (Doctrine de SaintSimon. Exposition, 158 & 179), und sie hielten Mrkte fr ungeeignet, den tatschlichen Nutzen der verschiedenen „Werke“ zu bestimmen. Vgl. hierzu Schmidt am Busch (2007), 27 – 30 und Schmidt am Busch (2007a).

6 Soziale Wertschtzung

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Nutzens von Arbeitsleistungen und der Hçhe der ihnen gemßen Einkommen. Mehr noch: An keiner Stelle von Honneths Werk wird die Auffassung geußert, dass eine solche Konzeption im Rahmen einer kritischen Gesellschaftstheorie zu entwickeln wre. 2. In gesellschaftspolitischer Hinsicht besteht das Ziel der aktuellen Kritischen Theorie nicht in einer Kritik am Kapitalismus als solchem, sondern an dessen neoliberaler Spielart.173 Wie bereits geußert, ist Honneth grundstzlich der Auffassung, dass neoliberale, nicht aber sozialdemokratisch verfasste gesellschaftliche Ordnungen vom Standpunkt der Anerkennungstheorie problematisch sind.174 Da regulierte Mrkte Bestandteile der zuletzt genannten Ordnungen sind, wre es berraschend, wenn Honneth Mrkte generell fr ungeeignet hielte, den gesellschaftlichen Nutzen von Arbeitsleistungen zu bestimmen. 3. In UA betont Honneth gegenber marxistischen Positionen, dass die „moralischen Ordnungsprinzipien des Gleichheitsgrundsatzes des Leistungsprinzips“, also die Anerkennungspraktiken des rechtlichen Respekts und der sozialen Wertschtzung175, „der neu entstandenen Marktgesellschaft erst den legitimationswirksamen Rahmen verschafft“176 htten. Trifft diese Behauptung zu, dann eignen sich „personaler Respekt“ und „soziale Wertschtzung“ nicht als Grundlage einer Kritik an marktwirtschaftlichen Ordnungen als solchen. Demnach ist die Annahme gerechtfertigt, dass Honneth ein Befrworter von Option 1 ist. Es stellt sich also die – unter (i) genannte – Frage, unter welchen Bedingungen Mrkte geeignet sind, den gesellschaftlichen Nutzen von Arbeitsleistungen zu bestimmen. Honneths Antwort auf diese Frage lsst sich wie folgt zusammenfassen: Um diese Funktion angemessen zu erfllen, mssen Mrkte „sozialstaatlich eingehegt“177 und frei von ideologischen „Verzerrungen“178 sein. Sozialstaatliche Maßnahmen und Institutionen werden in UA mit dem Anerkennungsprinzip des rechtlichen Respekts erklrt: „Aber gerade dieses Prinzip der rechtlichen Gleichbehandlung ist es dann auch, welches in einer Vielzahl von sozialen Kmpfen und Auseinandersetzungen vor allem von der Arbeiterklasse soweit mobilisiert werden konnte, daß es zur […] 173 174 175 176 177 178

Siehe oben, Kapitel 3. Das ist zumindest die in Hartmann & Honneth (2006) vertretene Position. Siehe oben, Kapitel 3. UA, 178. UA, 176. UA, 183.

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Etablierung sozialer Rechte kommt; damit wird die Anerkennungssphre des Leistungsprinzips gewissermaßen sozialstaatlich eingehegt.“ Und Honneth przisiert: „[D]as normative Argument, mit dem die Durchsetzung sozialstaatlicher Absicherungen gewissermaßen ,rational‘ erzwungen wird, luft im Kern auf die schwer zu bestreitende Behauptung hinaus, daß die Gesellschaftsmitglieder nur dann von ihrer rechtlich garantierten Autonomie auch faktisch Gebrauch machen kçnnen, wenn ihnen erwerbsunabhngig ein Minimum an çkonomischen Ressourcen gesichert zur Verfgung steht.“179 Demnach gilt: Mitglieder einer Gesellschaft, welche einander als autonome Subjekte respektieren, rumen einander soziale Rechte bzw. einklagbare erwerbsunabhngige Ansprche auf gesellschaftliche Gter ein. Ideologische Verzerrungen liegen nach UA genau dann vor, wenn „reproduktionsnotwendige“180 Ttigkeiten nicht als gesellschaftliche Arbeiten anerkannt werden und/oder gesellschaftliche Arbeiten nicht unter alleiniger „Bezugnahme auf die tatschlichen Arbeitsinhalte“181 bewertet werden. Da ich mich weiter unten mit Honneths Ideologietheorie und -kritik eingehend befassen werde,182 werde ich diese beiden Punkte hier nicht nher erlutern. Ich begnge mich an dieser Stelle mit der Feststellung, dass Honneths ideologietheoretische berlegungen kein marktalternatives Kriterium oder Verfahren der Bestimmung des gesellschaftlichen Nutzens von Gtern und Leistungen spezifizieren. Wenngleich er unsere obige Frage (ii) nicht explizit behandelt, ist ersichtlich, dass Honneth die unter (i) angefhrten Argumente moralphilosophisch begrndet. Mrkte mssen deshalb „sozialstaatlich eingehegt“ sein, weil die Mitglieder der fraglichen Gesellschaft einander andernfalls nicht in vollem Umfang rechtlich respektieren wrden; und wenn sie einander nicht auf diese Weise anerkennen wrden, kçnnten sie nicht das Bewusstsein ausbilden, in vollem Umfang autonome Subjekte zu sein. Analog gilt: Mrkte mssen deshalb frei von ideologischen Verzerrungen sein, weil die Mitglieder der fraglichen Gesellschaft einander andernfalls nicht gemß dem gesellschaftlichen Nutzen ihrer Arbeitsleistungen wertschtzen wrden; und wenn sie einander nicht auf diese Weise wertschtzen wrden, kçnnten sie das Bewusstsein, wertvolle Fhigkeiten zu haben, nicht adquat ausbilden. 179 180 181 182

UA, 176 f. UA, 166. UA, 182. Vgl. Teil I, Kapitel 6.3.

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Vor dem Hintergrund dieser berlegungen lsst sich angeben, warum das Verhltnis zwischen meritokratischer Wertschtzung einerseits sowie rechtlichem Respekt (in Honneths Verstndnis) und einer Befrwortung von sozialstaatlichen Maßnahmen und Institutionen andererseits gespannt ist. Nach Maßgabe jener Anerkennungskonzeption sind die Mitglieder einer Gesellschaft gemß dem gesellschaftlichen Nutzen ihrer Arbeitsleistungen sozial wertzuschtzen; je grçßer der Nutzen meiner Arbeit ist, umso mehr Wertschtzung durch die Gesellschaft steht mir zu. Nun sind Mrkte Institutionen, die den gesellschaftlichen Nutzen von Gtern und Leistungen ermitteln, nicht aber zum Ausdruck bringen. In der Tat sind Marktpreise Aggregatsgrçßen, die durch die Koordinierung einer sehr großen Zahl an (im Prinzip) unabhngig voneinander getroffenen Entscheidungen zustande kommen. Weil das so ist, bringen Marktpreise keine unabhngig von ihnen vorgenommenen gesellschaftlichen Nutzenbewertungen zum Ausdruck. Hieraus folgt nun, dass individuelle Akteure in einem marktwirtschaftlichen Kontext anerkennungsbedingt einen Grund haben, nach einem mçglichst hohen Einkommen zu streben. Denn der Grad ihrer sozialen Wertschtzung wird ja durch die marktwirtschaftlich ermittelte Hçhe ihres Einkommens festgelegt. (Gbe es hingegen marktunabhngige gesellschaftliche Nutzenbewertungen, nach Maßgabe welcher die Angemessenheit der Hçhe von Arbeitseinkommen beurteilt werden kçnnte,183 kçnnten individuelle Akteure zumindest nicht aus Anerkennungs- bzw. Wertschtzungsgrnden nach einem mçglichst hohen Einkommen streben.) Dieser Gedanke lsst sich auch anders entwickeln, nmlich im Ausgang von einer Beobachtung des englischen konomen William Stanley Jevons. Jevons schreibt: „Der Preis eines Gutes ist der einzige Zeuge, welchen wir ber den Nutzen eines Gutes fr den Kufer besitzen.“184 Wenn Preise tatschlich die einzigen gesellschaftlichen Zeugen des gesellschaftlichen Nutzens von Gtern und Arbeitsleistungen sind und wenn die Menschen danach streben, als Erbringer mçglichst ntzlicher gesellschaftlicher Arbeiten sozial wertgeschtzt zu werden, dann werden sie nach einem mçglichst hohen Einkommen streben. Nun sind jene beiden Bedingungen im vorliegenden Fall erfllt. In der Tat bringen Marktpreise nichts zum Ausdruck, was unabhngig von ihnen fr die Mitglieder der Gesellschaft (oder der staatlichen Administration) feststellbar wre; und aufgrund ihrer Teilnahme an einer gesellschaftlichen Praxis meritokratischer Wertscht183 Solche Bewertungen kçnnten kardinale oder ordinale sein. 184 Zitiert nach: Reiß (1998), 204.

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zung sind die Menschen bestrebt, Arbeitsleistungen zu erbringen, die einen mçglichst großen gesellschaftlichen Nutzen haben. Folglich sind diese Menschen bestrebt, ein mçglichst hohes Einkommen zu erzielen. Unter welchem Aspekt aber sind Arbeitseinkommen fr die Verteilung von sozialer Wertschtzung maßgebend? Wie mir scheint, ist hinsichtlich des Mehr oder Weniger an sozialer Wertschtzung, das zwei Personen A und B erhalten, der relative gesellschaftliche Nutzen ihrer jeweiligen Arbeitsleistungen entscheidend; je grçßer also der gesellschaftliche Nutzen von A’s Arbeit im Vergleich zu dem von B’s Arbeit ist, umso mehr soziale Wertschtzung wird A im Vergleich zu B erhalten. (Diese Einschtzung wird von Honneths berlegungen nahegelegt,185 und sie ist meines Erachtens in sozialtheoretischer Hinsicht sinnvoll und aufschlussreich.186) Unter der obigen Annahme, dass Mrkte den gesellschaftlichen Nutzen von Gtern und Arbeitsleistungen ermitteln, folgt aus dem in diesem Absatz genannten Argument, dass das Mehr oder Weniger an sozialer Wertschtzung, das A und B erhalten, durch die Differenz zwischen ihren Einkommen festgelegt wird. Damit lsst sich im vorliegenden Zusammenhang Folgendes feststellen: In einer Gesellschaft, in der die Menschen sich gemß dem Nutzen ihrer Arbeitsleistung wertschtzen und in der dieser Nutzen marktwirtschaftlich ermittelt wird, ist ein Akteur in anerkennungstheoretischer Hinsicht besser gestellt, wenn sein Einkommen steigt und/oder das Einkommen von Anderen sinkt. Folglich hat ein solcher Akteur anerkennungsbedingt einen Grund, nach einer Verbesserung seines Einkommens zu streben und zu einer Verringerung des Einkommens der Anderen beizutragen. Mehr noch: Da im vorliegenden Zusammenhang keine Einkommensdifferenz als maximale ausgewiesen werden kann,187 hat jener Akteur kraft der gesellschaftlichen Praxis sozialer Wertschtzung einen Grund, stets erneut nach einer Verbesserung des eigenen Einkommens zu streben und zu einer immer weiteren Verringerung des Einkommens der Anderen beizutragen. Nehmen wir einmal an, dass die Mitglieder von Gesellschaften der oben beschriebenen Art keine anderen praktischen Grnde haben. Unter dieser Annahme werden sie aus Grnden der sozialen Wertschtzung einen egoistischen, nicht abschließend befriedigbaren Bereicherungswillen aus185 Vgl. UA, 168, wo Honneth von der „Konkurrenz um beruflichen Status“ spricht. 186 Siehe unten, Teil I, Kapitel 7.1. 187 Das folgt aus der Annahme, dass es keinen marktunabhngigen Maßstab der Beurteilung des relativen gesellschaftlichen Nutzens verschiedenartiger Arbeiten gibt. Siehe oben.

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bilden, und sie werden ferner aus eben diesen Grnden das Bedrfnis haben, gegebenenfalls zu dokumentieren, wie ntzlich die von ihnen erbrachten Leistungen fr die Gesellschaft (gewesen) sind. In einem solchen sozialen Kontext werden sich das Streben nach beruflichem Erfolg sowie nach persçnlichen Eigenschaften, welche diesen bedingen188, aber auch Phnomene wie ein ostentativer Konsum189 unter Bezugnahme auf die etablierte Praxis sozialer Wertschtzung erklren lassen. In Gesellschaften, in denen die Menschen sich gemß dem Nutzen ihrer Arbeiten wertschtzen und in denen dieser Nutzen marktwirtschaftlich bestimmt wird, besteht ein Spannungsverhltnis zwischen den Anerkennungsformen der sozialen Wertschtzung und des rechtlichen Respekts (in Honneths Verstndnis). Einerseits hat jeder Akteur hier kraft der gesellschaftlich etablierten Form sozialer Wertschtzung einen Grund, zu einer immer weitergehenden Verringerung des Einkommens der anderen Gesellschaftsmitglieder beizutragen; andererseits gibt ihm sein Respekt eben dieser Anderen einen Grund, sich fr ihre sozialen Rechte einzusetzen. Unter der Annahme, dass diese Rechte Ansprche auf materielle Gter im Fall des Bezugs von Arbeitseinkommen unterhalb einer bestimmten Schwelle beinhalten, htte jener Akteur also (1.) einen Grund, sich dafr einzusetzen, dass mçglichst viele seiner Mitbrger ein solches (unzureichendes) Einkommen beziehen, und (2.) einen Grund, die oben genannte sozialstaatliche Subventionierung der Empfnger solcher Einkommen zu befrworten. Weil das so ist, lsst sich bezglich Gesellschaften der oben beschriebenen Art ein Spannungsverhltnis zwischen den Anerkennungsformen der sozialen Wertschtzung und des rechtlichen Respekts (in Honneths Verstndnis) konstatieren. An dieser Stelle ist nun mit folgendem Einwurf zu rechnen: Das oben beschriebene Spannungsverhltnis ist weder in (intra)psychischer noch in gesellschaftlicher Hinsicht problematisch. Wenn nmlich die Mitglieder einer Gesellschaft kraft des Respekts, den sie freinander als autonome Subjekte haben, einander ein bestimmtes Set an sozialen Rechten einrumen, werden sie es befrworten, dass die entsprechenden Ansprche auf gesellschaftliche Gter befriedigt werden; unter dieser Annahme werden 188 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa die von Max Weber (in Weber (2006)) analysierten Elemente des „Geistes des Kapitalismus“. 189 Diese Art von Konsum ist von Thorstein Veblen eingehend untersucht worden. Vgl. Veblen (2006) und (2007). Hierauf werde ich weiter unten zurckkommen. Vgl. Teil III, Kapitel 5.2. Werner Sombart hat die Bedeutung konsumtiver und verschwenderischer Praktiken hinsichtlich der Entstehung brgerlich-kapitalistischer Gesellschaften herausgestellt. Vgl. Sombart (1996).

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sie ferner der Auffassung sein, dass genau derjenige Teil des Bruttoinlandsprodukts, der dann noch verbleibt, gemß dem Prinzip der sozialen Wertschtzung verteilt werden soll; folglich ist die ,Koexistenz‘ von rechtlichem Respekt und sozialer Wertschtzung weder in (intra)psychischer noch in gesellschaftlicher Hinsicht problematisch. Gewiss, es ist nicht logisch ausgeschlossen, dass die mit „rechtlicher Respekt“ und „soziale Wertschtzung“ bezeichneten Anerkennungsformen in einer Gesellschaft ,koexistieren‘. Denkbar ist es, dass die Mitglieder einer solchen Gesellschaft als Wirtschaftsbrger nach einem mçglichst hohen relativen Einkommen streben, whrend sie sich als Staatsbrger fr die Wahrung ihrer sozialen Rechte einsetzen. Erfahrungsgemß ist es jedoch fraglich, ob sich das von mir herausgestellte Spannungsverhltnis auf diese Weise dauerhaft entschrfen lsst.190 Das mag damit zusammenhngen, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit sich nicht in zwei verschiedene Bereiche ,departementalisieren‘ lsst, von denen der eine dem Prinzip der sozialen Wertschtzung und der andere dem des rechtlichen Respekts entsprche. Ein Unternehmer, der nach Maßgabe sozialer Wertschtzung besser gestellt wre, wenn er sich finanziell nicht an der Aufrechterhaltung eines çffentlichen Rentensystems beteiligen wrde, wird einen Grund haben, seine Befrwortung dieser Institution (sowie der entsprechenden sozialen Ansprche und Rechte) in Frage zu stellen; und ein Angestellter, der durch einen individuell ausgehandelten Arbeitsvertrag ein hçheres Einkommen erzielen kann als durch einen tariflich vereinbarten, wird einen Grund haben, an der Berechtigung tariflicher Vereinbarungen zu zweifeln. Wie diese Beispiele zeigen, ist es fraglich, ob eine auf den marktwirtschaftlich ermittelten gesellschaftlichen Nutzen von Arbeitsleistungen abstellende Praxis sozialer Wertschtzung tatschlich keine negativen Auswirkungen auf die gesellschaftliche Anerkennung von sozialen Rechten hat. Halten wir fest: Die in UA beschriebene Konzeption sozialer Wertschtzung steht in einem Spannungsverhltnis zu Honneths Konzeption des rechtlichen Respekts. In Gesellschaften, in denen die Menschen sich gemß dem Nutzen ihrer Arbeitsleistungen wertschtzen und in denen dieser Nutzen marktwirtschaftlich ermittelt wird, ist die Praxis der sozialen Wertschtzung hinsichtlich der Wahrung von sozialen Rechten tendenziell problematisch. 190 Das geht auch aus unseren berlegungen in Teil III, Kapitel 5.4 hervor. Siehe unten.

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6.3 Wertschtzung und Ideologie Honneth verbindet seine Analyse „der kulturellen Leitidee der ,individuellen Leistung‘“ mit ideologietheoretischen und -kritischen berlegungen. Weiter oben habe ich behauptet, dass seine ideologietheoretischen berlegungen kein marktalternatives Kriterium oder Verfahren der Bestimmung des gesellschaftlichen Nutzens von Gtern und Leistungen spezifizieren.191 Im vorliegenden Zusammenhang ist diese Behauptung zu berprfen. Ferner wird zu untersuchen sein, ob die von Honneth vorgeschlagene Art von Ideologiekritik vom Standpunkt der aktuellen Kritischen Theorie attraktiv ist. In UA lesen wir: „Natrlich ist diese letzte Art von sozialer Beziehung, die neben der Liebe und dem neuen Rechtsprinzip eine dritte Anerkennungssphre in der sich entwickelnden Gesellschaft des Kapitalismus darstellt, von Anfang an in einer Weise hierarchisch organisiert, die unzweideutig ideologischen Charakter trgt; denn was in welchem Maße als ,Leistung‘, als Kooperationsbeitrag zhlt, wird vor dem Hintergrund eines Wertmaßstabes definiert, dessen normativer Bezugspunkt die wirtschaftliche Ttigkeit des çkonomisch unabhngigen, mnnlichen Brgertums bildet. Das, was von nun an als ,Arbeit‘ mit einem bestimmten quantifizierbaren Nutzen fr die Gesellschaft ausgezeichnet wird, ist mithin das Resultat einer bloß gruppenspezifischen Wertsetzung, der dementsprechend ganze Sektoren von anderen, ebenso reproduktionsnotwendigen Ttigkeiten (wie etwa die Hausarbeit) zum Opfer fallen.“192 Demnach ist der hinsichtlich der Verteilung von sozialer Wertschtzung und materiellen Ressourcen zentrale Begriff der individuellen Leistung nur von einer gesellschaftlichen Gruppe bestimmt worden: dem „çkonomisch unabhngigen, mnnlichen Brgertum“. Mehr noch: Der bergang vom Feudalismus zur „brgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform“ ist geschichtlich nur durch diese „bloß gruppenspezifische Wertsetzung“ zustande gekommen. Aus diesem Grunde habe die Praxis der sozialen Wertschtzung „in der sich entwickelnden Gesellschaft des Kapitalismus“ einen „unzweideutig ideologischen Charakter“ gehabt. Treffen diese Argumente zu, dann stellt sich die Frage, ob ein so verstandener Begriff sozialer Wertschtzung – sowie eine ihm gemß strukturierte gesellschaftliche Praxis – berhaupt etwas sein kçnnen, worauf sich ein Kritischer Theoretiker affirmativ bezieht. Mssten sie nicht vielmehr 191 Siehe oben, Kapitel 6.2.2. 192 UA, 166.

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als (zentrale) Elemente einer gewaltsamen Aneignung gesellschaftlicher Gter durch das Brgertum kritisiert und verworfen werden? Auf diese Fragen gibt Honneth eine differenzierte Antwort: „Machen wir uns diese vielfltigen berlagerungen und Verzerrungen klar, die dem kapitalistischen Leistungsprinzip von Anfang an innewohnen, so fllt es schwer, darin berhaupt ein normatives Prinzip der wechselseitigen Anerkennung auszumachen; gleichwohl verlangt die soziale Praktizierung der neuen Idee, […] daß zumindest normativ der Anspruch aufrechterhalten wird, die ttigen Beitrge aller Gesellschaftsmitglieder gemß ihrer Leistung angemessen wertzuschtzen [und] damit eine gerechte Verteilung von Ressourcen [zu] garantieren.“193 Demnach stellen sich die folgenden Fragen: Was ist als ideologische „berlagerung“ und „Verzerrung“ des Leistungsprinzips anzusehen? Welche Elemente der gesellschaftlich praktizierten Form von sozialer Wertschtzung haben also „ideologischen Charakter“? Und warum? Hinsichtlich der Beantwortung dieser Fragen stellt UA die folgenden Argumente zur Verfgung. Ideologische Verzerrungen liegen genau dann vor, wenn (1) „reproduktionsnotwendige“194 Ttigkeiten nicht als gesellschaftliche Arbeiten anerkannt werden und/oder (2) gesellschaftliche Arbeiten nicht unter alleiniger „Bezugnahme auf die tatschlichen Arbeitsinhalte“195 bewertet werden. Honneth illustriert diese beiden Punkte (1) anhand der Nichtanerkennung von im Haushalt geleisteten Pflege- und Erziehungsttigkeiten als gesellschaftliche Arbeiten sowie (2) anhand des Umstandes, „daß jede verberuflichte Ttigkeit in der sozialen Statushierarchie automatisch an Wert verliert, sobald sie mehrheitlich von Frauen ausgebt wird, whrend es umgekehrt zu einem Statusgewinn des entsprechenden Ttigkeitsbereichs fhrt, wenn der entsprechende Geschlechterwechsel in die umgekehrte Richtung verluft“196. Demnach wird in UA eine hinreichende Bedingung dafr genannt, dass eine Ttigkeit Arbeit im gesellschaftlichen Sinne ist. Das entsprechende Argument lautet: Ist eine Ttigkeit hinsichtlich der Reproduktion der Gesellschaft notwendig, dann ist sie Arbeit im gesellschaftlichen Sinne. Das gesellschaftspolitische Interesse, welches der Formulierung jener Bedingung zugrunde liegt, besteht offenkundig darin, nicht-marktfçrmige Ttigkeiten als gesellschaftliche Arbeiten auszuweisen. Bedarf es zur 193 194 195 196

UA, 174 f. UA, 166. UA, 182. UA, 182.

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Identifizierung von ideologischen „Verzerrungen“ der unter (1) genannten Art also einer Beantwortung der Frage, ob bestimmte Ttigkeiten Arbeiten im gesellschaftlichen Sinne sind oder nicht, so bezieht sich Honneths zweiter Punkt auf die Hçhe von Arbeitseinkommen. Sein diesbezgliches Argument lautet: Wenn die Verteilung von sozialer Wertschtzung – und mithin von materiellen Gtern – durch arbeitsirrelevante Faktoren (wie das Geschlecht der Arbeitenden) bestimmt oder beeinflusst wird, wird das Leistungsprinzip bestenfalls verzerrt angewandt. Diese Kritik bezieht sich auf Ttigkeiten, die bereits als Arbeiten im gesellschaftlichen Sinne anerkannt sind und die im privatwirtschaftlichen oder çffentlichen Bereich angesiedelt sein kçnnen. Honneths berlegungen – so ist zu beachten – beziehen sich nicht auf die Frage, wieviel gesellschaftliche Wertschtzung eine bestimmte Arbeit (im Vergleich zu anderen Arbeiten) begrnden sollte. Wie bereits bemerkt, gilt das unter (1) genannte Kriterium allein der Frage, ob eine Ttigkeit gesellschaftliche Arbeit ist (und mithin soziale Wertschtzung begrndet/ begrnden sollte), und das unter (2) angefhrte Argument ist in dem Sinne formal, dass es lediglich eine ungleiche Wertschtzung (Entlohnung) gleicher Arbeiten als kritikwrdig ausweist, nicht aber Informationen zur Verfgung stellt, die hinsichtlich der Bestimmung der Hçhe von spezifischen Arbeiten relevant wren. Folglich wird im Rahmen von Honneths ideologietheoretischen berlegungen kein marktalternativer Maßstab der Bewertung des gesellschaftlichen Nutzens von Arbeitsleistungen spezifiziert. Deshalb enthalten diese berlegungen kein Argument, das meiner obigen Behauptung – dass Honneth ein Befrworter von Option 1 sei – zuwiderluft; meine berlegungen aus Kapitel 6.2 lassen sich mit Honneths Ideologietheorie und -kritik also nicht in Frage stellen. An dieser Stelle ist zu erwgen, ob Honneths grundstzliches Festhalten am Leistungsprinzip vom Standpunkt der aktuellen Kritischen Theorie gut begrndet ist. Ist es im Rahmen einer normativen Anerkennungstheorie, mit welcher der zeitgençssische Neoliberalismus kritisiert werden soll197, sinnvoll, im Begriff der meritokratischen Wertschtzung ein (zentrales) „normatives Prinzip der wechselseitigen Anerkennung“198 zu sehen? In diesem Zusammenhang ist an die oben herausgestellten beiden Probleme199 zu erinnern, welche die in UA vorgelegte nutzenbezogene Konzeption sozialer Wertschtzung aufwirft: 197 Vgl. Kapitel 3. 198 UA, 175. 199 Vgl. Kapitel 6.2.1 und 6.2.2.

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1. Die moralphilosophische Relevanz von sozialer Wertschtzung beruht auf der Annahme, dass diese Form von Anerkennung eine notwendige Bedingung von Selbstwertschtzung aufgrund von spezifischen Fhigkeiten ist.200 Wenn nun aber soziale Wertschtzung auf den gesellschaftlichen Nutzen von Arbeitsleistungen bezogen wird, ist die entsprechende Relation von Anerkennungs- und Selbstverhltnis problematisch. Zum einen nmlich ist die begriffliche Beziehung zwischen gesellschaftlich ntzlichen Arbeiten und Fhigkeiten-basierten Arbeiten kontingent,201 und zum anderen wrden in einer Welt, in welcher der gesellschaftliche Nutzen einer Arbeit in einem proportionalen Verhltnis zum Fhigkeitenniveau des Arbeitenden steht, diejenigen Menschen, deren Arbeiten nur von sehr geringem Nutzen fr die Gesellschaft sind, die berzeugung ausbilden mssen, nahezu wertlose Fhigkeiten zu haben. Hinsichtlich der Ermçglichung von Selbstwertschtzung aufgrund von spezifischen Fhigkeiten ist meritokratische Wertschtzung (in dem in UA spezifizierten Sinne) also bestenfalls von geringem Interesse; um ihre moralphilosophischen Ziele zu erreichen, ist es nicht erforderlich, dass die Kritische Theorie sich auf dieses Anerkennungskonzept sttzt. 2. Ein Festhalten am Begriff der meritokratischen Wertschtzung (so wie er in UA spezifiziert wird) wre angesichts der gesellschaftspolitischen Ziele der aktuellen Kritischen Theorie ohne Weiteres nicht verstndlich. Wie gesehen, ist es eines von Honneths Anliegen, mit anerkennungstheoretischen Argumenten so etwas wie einen „sozialdemokratischen“ Typ von Kapitalismus gegen die als Reaktion auf die Krise des Keynesianismus praktizierte Wirtschaftspolitik der Vermarktlichung einerseits und der Schwchung kollektiver beruflicher Reprsentationsorgane und sozialstaatlicher Sicherungssysteme andererseits zu verteidigen.202 Nun steht eine soziale Praxis meritokratischer Wertschtzung (so wie sie in UA verstanden wird) aber gerade in einem Spannungsverhltnis zu einer gesellschaftlichen Anerkennung sozialer Rechte. Aus diesem Grunde ist es berraschend, dass Honneth den Begriff der meritokratischen Wertschtzung als ein zentrales „normatives Prinzip der wechselseitigen Anerkennung“ ansieht und die Aufgabe der Gesellschaftskritik im vorliegenden Zusammenhang auf die

200 Siehe oben, Kapitel 6.2.1. 201 Siehe oben, Kapitel 6.2.1. 202 Siehe oben, Kapitel 3.

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Identifizierung von „berlagerungen und Verzerrungen“ des Leistungsprinzips beschrnkt.203

203 Meine berlegungen schließen selbstverstndlich nicht aus, dass es andere Arten meritokratischer Wertschtzung gibt, deren Befrwortung nicht in einem Spannungsverhltnis zur Erreichung der gesellschaftspolitischen Ziele der aktuellen Kritischen Theorie steht.

7 Eine Zwischenbilanz Welches Interesse haben meine bisherigen berlegungen hinsichtlich der Perspektiven einer gesellschaftlichen Anerkennungstheorie in der Tradition der Frankfurter Schule? Ich werde im Folgenden zunchst die sozialtheoretische Relevanz meiner Erçrterung von Honneths Konzeption sozialer Wertschtzung deutlich machen (7.1) und dann zwei Fragen identifizieren, die sich aus diesen berlegungen ergeben (7.2). Im Anschluss hieran werde ich erwgen, wie die sozialkritischen Ziele der Kritischen Theorie erreicht werden kçnnen (7.3).

7.1 Sozialtheoretische Befunde Meine obigen berlegungen zum Begriff der meritokratischen Wertschtzung sind in sozialtheoretischer Hinsicht von sehr großer Wichtigkeit. Wie gesehen, wird die Frage, „wie die Kritische Theorie die Gesellschaftsstruktur des heutigen Kapitalismus verstehen soll“204, gegenwrtig kontrovers diskutiert. In bereinstimmung mit der sozialontologischen Grundannahme seiner Theorie verfolgt Axel Honneth das Ziel, „die brgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform als eine institutionalisierte Anerkennungsordnung zu interpretieren“205. Demgegenber vertritt Nancy Fraser die These, dass eine solche Interpretation eine Analyse von kapitalistischen Mrkten unmçglich mache; sie sei deshalb theoretisch haltlos und politisch naiv. Wie auch Jrgen Habermas ist Fraser der Auffassung, dass kapitalistische Mrkte nur systemtheoretisch angemessen analysiert werden kçnnen.206 Nach meinen obigen berlegungen ist es mçglich, mithilfe des Begriffs der meritokratischen Wertschtzung Phnomene wie die im Folgenden genannten zu erklren: das Streben nach beruflichem Erfolg sowie nach 204 Fraser (2003), 242. 205 UA, 162. 206 Allerdings ist Fraser – anders als Habermas – nicht der Auffassung, dass die moderne konomie eine „normfreie“ (Habermas (1988), Bd. 2, 275) soziale Sphre sei. Vgl. Fraser (2003), 243 f.

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persçnlichen Eigenschaften, welche diesen bedingen (Disziplin, Arbeitseifer usw.); das Streben nach einem mçglichst hohen relativen Einkommen; das Bedrfnis, berufliche Erfolge gesellschaftlich zu dokumentieren (etwa durch ein spezifisches konsumtives Verhalten); sowie die Neigung, sozialstaatliche Maßnahmen und Einrichtungen in Frage zu stellen. Treffen diese berlegungen zu, dann ist es mçglich, Dispositionen und Verhaltensweisen, welche nach Ansicht vieler Sozialwissenschaftler zentrale Elemente des „neuen Geistes des Kapitalismus“207 sind, auf eine spezifische Anerkennungspraxis zurckzufhren: die der meritokratischen Wertschtzung in einem marktwirtschaftlichen Kontext.208 Das lsst sich auch anhand der von Fraser angefhrten Phnomene zeigen: So kann das Bestreben der „Maximierung von Unternehmerprofiten“209 grundstzlich unter Bezugnahme auf die von mir behandelte Praxis meritokratischer Wertschtzung analysiert werden, und klarerweise wrde eine solche Praxis „politisch-çkonomische Faktoren wie das Angebot von und die Nachfrage nach unterschiedlichen Arbeitsleistungen, die Machtbalance zwischen Arbeit und Kapital [sowie] die Dichte und Konsequenz der Sozialgesetzgebung“210 erheblich beeinflussen. Folglich ist es nicht richtig, aus der (unbestrittenen) gesellschaftlichen Relevanz dieser Faktoren im Rahmen zeitgençssischer kapitalistischer Arbeitswelten auf die Unmçglichkeit einer anerkennungstheoretischen Analyse derselben zu schließen. Wie meine berlegungen zeigen, muss das, was Fraser „die Gesellschaftsstruktur des heutigen Kapitalismus“211 nennt, nicht das Andere der Anerkennung sein. Nher ist dieser Befund aus den folgenden Grnden von Interesse: Erstens lsst sich auf der Grundlage meiner berlegungen erklren, warum Menschen nicht von Natur aus so etwas wie Gewinn- oder Profitmaximierer sind. Wenngleich diese Auffassung von kaum einem Theoretiker ausdrcklich vertreten wird, wird sie doch von vielen (volkswirtschaftlichen) Lehrbchern und Theorien nahegelegt212 – und offenbar von sehr vielen Menschen fr wahr gehalten. Wenn das Streben nach Gewinn und Profit jedoch als Element einer spezifischen sozialen Praxis 207 Diesen Ausdruck bernehme ich, wie bemerkt, von Luc Boltanski und ðve Chiapello. Vgl. Boltanski & Chiapello (2003). 208 Auf die mit „in einem marktwirtschaftlichen Kontext“ bezeichnete Voraussetzung werde ich weiter unten zu sprechen kommen. Vgl. Teil I, Kapitel 7.2. 209 Fraser (2003), 246. 210 Fraser (2003), 246. 211 Fraser (2003), 242. 212 Eine erhellende Ausnahme bildet Reiß (1998).

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ausgewiesen werden kann, ist es theoretisch in den Bereich des geschichtlich Wandelbaren (und politisch Beeinflussbaren) eingeordnet. Zweitens lsst sich mit meinen berlegungen erklren, warum es keine prinzipielle Differenz zwischen anerkennendem und egoistischem Verhalten gibt. Wenngleich dies von Honneth nicht behauptet wird, legen viele seiner Ausfhrungen diese Annahme doch nahe.213 (Mçglicherweise ist dies auf den Einfluss von Habermas’ strikter Unterscheidung zwischen kommunikativem und strategischem Handeln zurckzufhren.)214 Wenn meine berlegungen zutreffen, dann lassen sich Formen von wirtschaftlichem Egoismus mit der sozialen Praxis meritokratischer Wertschtzung erklren. Mit diesen berlegungen lsst sich drittens erklren, warum die Wirtschaft keine soziale Sphre bildet, die sich von anerkennungsbasierten gesellschaftlichen Praktiken (vollstndig) „entkoppelt“ und in einem nichtnormativen Vokabular zu analysieren wre.215 Selbstverstndlich wird damit nicht behauptet, dass eine soziale Praxis meritokratischer Wertschtzung keine (strukturellen) Effekte zeitigt, die mit volkswirtschaftlichen oder soziologischen Modellen beschrieben werden kçnnen.216 Wenn sich eine solche Praxis etabliert, wird sie im Gegenteil die Erfolgsbedingungen vieler Marktteilnehmer erheblich beeinflussen. Versucht ein erfolgreicher Unternehmer seine Gewinne durch die Umgehung arbeitsrechtlicher Verpflichtungen (etwa durch sogenanntes Outsourcing) zu steigern, dann mag es fr seine Konkurrenten aus Grnden der Sicherung der Existenz ihrer Unternehmen notwendig sein, hnliche Maßnahmen zu ergreifen. Folglich kçnnte ihr Verhalten ohne Bezugnahme auf wertschtzungsbezogene Motive beschrieben werden. Allerdings wre im vorliegenden Fall aus sozialtheoretischer Sicht zunchst zu erklren, warum es berhaupt zu einer Umgehung von bis dahin allgemein akzeptierten arbeitsrechtlichen Verpflichtungen durch einen erfolgreichen Unternehmer kommt.217 Whrend es meines 213 214 215 216

Vgl. beispielsweise Honneths berlegungen in AI. Vgl. TkH, Bd. 1, 384 – 397. Siehe oben, Kapitel 4.2. Aus diesem Grunde ist es nicht zutreffend, dass eine gesellschaftliche Anerkennungstheorie „von Natur aus blind“ ist fr çkonomische Prozesse, „die nicht auf kulturelle Bewertungsschemata reduziert werden kçnnen“ (Fraser (2003), 246). Siehe oben, Kapitel 5. 217 hnlich argumentiert Max Weber im Rahmen seiner Analyse der Entstehung dessen, was er mit „Geist des Kapitalismus“ bezeichnet. Weber schreibt: „Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung […] zwingt dem einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des Marktes verflochten ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf. Der Fabrikant, welcher diesen Normen dauernd entgegen-

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Erachtens fraglich ist, ob ein allgemeiner Verweis auf (vermeintliche) Systemzwnge in diesem Fall klrend wre,218 kçnnte das Verhalten jenes Unternehmers unter Bezugnahme auf die von uns explizierte Konzeption meritokratischer Wertschtzung angemessen erklrt werden.219 Hinzu kommt, dass so etwas wie ein ostentativer Konsum mit systemischen Zwngen der oben genannten Art nicht erklrt werden kann. Folglich ist es denkbar, dass „meritokratische Wertschtzung“ in sozialtheoretischer Hinsicht ein wichtiges Konzept ist. Demnach erçffnen meine berlegungen der Kritischen Theorie eine ernstzunehmende Perspektive fr eine anerkennungstheoretische Analyse der „Gesellschaftsstruktur des heutigen Kapitalismus“. Ob die eingangs skizzierten wirtschaftspolitischen und gesellschaftlichen Vernderungen220 sich auf dieser Grundlage tatschlich analysieren lassen, ist empirisch zu untersuchen. Die Relevanz von meritokratischer Wertschtzung im Kontext dessen, was mit „neoliberale Revolution“ bezeichnet worden ist, lsst sich letztlich nur sozialwissenschaftlich ermitteln.221

218

219 220 221

handelt, wird çkonomisch ebenso unfehlbar eliminiert, wie der Arbeiter, der sich ihnen nicht anpassen kann oder will, als Arbeitsloser auf die Straße gesetzt wird. Der heutige, zur Herrschaft im Wirtschaftsleben gelangte Kapitalismus also erzieht und schafft sich im Wege der çkonomischen Auslese die Wirtschaftssubjekte – Unternehmer und Arbeiter –, deren er bedarf. Allein gerade hier kann man die Schranken des ,Auslese‘-Begriffes als Mittel der Erklrung historischer Erscheinungen mit Hnden greifen. Damit jene der Eigenart des Kapitalismus angepaßte Art der Lebensfhrung und Berufsauffassung ,ausgelesen‘ werden, d. h.: ber andere den Sieg davontragen konnte, mußte sie offenbar zunchst entstanden sein, und zwar nicht in einzelnen isolierten Individuen, sondern als eine Anschauungsweise, die von Menschengruppen getragen wurde. Diese Entstehung ist also das eigentlich zu Erklrende.“ (Weber (2006), 79; meine Hervorhebung – SaB) Zur Begrndung dieser Einschtzung verweise ich auf die (durch aktuelle çkonomische und soziologische Forschungen herausgestellte) Relevanz von „Normen, Sitten, Traditionen und Gebruchen“ (Voigt (2002), 19) hinsichtlich des Handelns wirtschaftlicher Akteure. Siehe oben, Kapitel 4.2. In diesen Kontext fllt auch Max Webers Unterscheidung zwischen Unternehmen, die eine „,kapitalistische‘ Form der Organisation“ und einen „,traditionalistischen‘ Geist“ haben, sowie Unternehmen, die eine kapitalistische Organisationsform und einen kapitalistischen Geist haben. Vgl. Weber (2006), 87 – 90. Allerdings stellt sich dann die Frage, warum es berhaupt zur Ausbildung einer sozialen Praxis meritokratischer Wertschtzung kommt. Auf diese Frage werde ich weiter unten eine Antwort geben. Vgl. Teil III, Kapitel 5. Siehe oben, Kapitel 1. Ich werde hierauf weiter unten eingehen. Vgl. Teil III, Kapitel 5.4.

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7.2 Zwei Anschlussfragen Wie gesehen, ist es mçglich, einige Dispositionen und Verhaltensweisen, welche nach Ansicht vieler Sozialwissenschaftler zentrale Bestandteile des gegenwrtigen Geistes des Kapitalismus sind, auf eine spezifische Anerkennungspraxis zurckzufhren: die der meritokratischen Wertschtzung in einem marktwirtschaftlichen Kontext. Das Streben nach beruflichem Erfolg und einem mçglichst hohen Einkommen sowie das Bedrfnis, entsprechende Erfolge gesellschaftlich zu dokumentieren, kçnnen auf diese Weise erklrt werden. Demnach ist meritokratische Wertschtzung unter der Annahme, dass es einen marktwirtschaftlichen Kontext gibt, geeignet, das Vorkommnis der oben genannten Dispositionen und Verhaltensweisen zu erklren. Angesichts dieser Voraussetzung stellen sich die folgenden beiden Fragen: 1. Kçnnen Mrkte anerkennungstheoretisch analysiert werden? 2. Kann die Existenz von Mrkten anerkennungstheoretisch legitimiert werden? Wie bereits angedeutet, werden diese Fragen unter Kritischen Theoretikern kontrovers diskutiert. Jrgen Habermas ist der Auffassung, dass Mrkte nicht anerkennungstheoretisch analysiert werden kçnnen, und er hlt die Existenz von Mrkten allein unter funktionalistischen Gesichtspunkten fr legitimierbar.222 Demgegenber hat Axel Honneth eine Theorie ausgearbeitet, nach der die oben genannten beiden Fragen positiv zu beantworten sind. Wenn – wie Honneth behauptet – brgerlich-kapitalistische Gesellschaften „institutionalisierte Anerkennungsordnungen“223 sind, dann mssen sich Mrkte – als „Kerninstitutionen“224 von Gesellschaften dieser Art – anerkennungstheoretisch analysieren lassen; und wenn „die moralischen Ordnungsmchte des Gleichheitsgrundsatzes oder des Leistungsprinzips“ tatschlich „der neu entstandenen Marktgesellschaft erst den legitimationswirksamen Rahmen verschaff[t] haben“225, dann muss die Existenz von Mrkten anerkennungstheoretisch zumindest prima facie legitimiert werden kçnnen. Allerdings wird dieser Standpunkt von Honneth nicht zufriedenstellend ausgearbeitet und begrndet.226 Es wird 222 223 224 225 226

Vgl. z. B. TkH, Bd. 2, 476. UA, 162. UA, 164. UA, 178. Siehe oben, Kapitel 3.

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deshalb zu untersuchen sein, ob es tatschlich gute Argumente fr eine positive Beantwortung der oben genannten beiden Fragen gibt.

7.3 Sozialkritische Perspektiven Welches Interesse haben meine bisherigen berlegungen hinsichtlich der sozialkritischen Ambitionen einer normativen Gesellschaftstheorie in der Tradition der Kritischen Theorie? Welche Perspektiven erçffnen sie fr eine Kritik an denjenigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die als Reaktion auf die Krise des Keynesianismus ergriffen worden sind?227 Falls sich herausstellt, dass meritokratische Wertschtzung – oder eine Steigerung der gesellschaftlichen Relevanz derselben – ein kausal relevanter Faktor mit Bezug auf die eingangs beschriebenen Prozesse der Vermarktlichung und der Schwchung sozialstaatlicher Sicherungssysteme ist,228 wird zu berlegen sein, wie sich diese Wertschtzungspraxis sozialphilosophisch kritisieren lsst. In diesem Zusammenhang sollte meines Erachtens untersucht werden, 1. ob eine (entfesselte) Praxis meritokratischer Wertschtzung (strukturelle) Auswirkungen hat, welche die Mçglichkeit der Realisierung anderer Formen von Anerkennung, die fr die Mitglieder der fraglichen Gesellschaft wichtig sind, beeintrchtigen oder aufheben229 ; 2. ob eine (entfesselte) Praxis meritokratischer Wertschtzung (strukturelle) Auswirkungen hat, welche diese Praxis selbst destabilisieren; und 3. ob eine (entfesselte) Praxis meritokratischer Wertschtzung Aspekte hat, mit denen sich die moralphilosophische Relevanz derselben bestreiten lsst.230 Sollten sich diese Fragen – oder einige derselben – positiv beantworten lassen, kçnnten meritokratische Praktiken sozialer Wertschtzung auf eine Art und Weise kritisiert werden, die den methodischen Anforderungen der 227 Siehe oben, Kapitel 1. 228 Wie bemerkt, kann diese Annahme nur empirisch gerechtfertigt werden. Siehe oben, Kapitel 7.1. 229 In diesem Zusammenhang ist nicht nur die Beziehung von meritokratischer Wertschtzung und rechtlichem Respekt, sondern auch die von meritokratischer und Fhigkeiten-basierter Wertschtzung zu thematisieren. 230 Es sei hier daran erinnert, dass weiter oben bereits ein Argument expliziert worden ist, mit dem sich die moralphilosophische Relevanz von meritokratischer Wertschtzung bestreiten lsst. Vgl. Kapitel 6.3.

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Kritischen Theorie gengt.231 In diesem Fall wre die Erwartung begrndet, dass sich die sozialkritischen Ziele der gegenwrtigen Kritischen Theorie anerkennungstheoretisch erreichen lassen.

231 Siehe oben, Kapitel 3.

Teil II Marx’ anerkennungstheoretische Kapitalismuskritik

1 Zur Renaissance der Marx’schen Theorie 20 Jahre nach der Auflçsung des real existierenden Sozialismus erlebt „die marxsche Theorie eine Renaissance“ 232. Wurde Marx nach 1989 jahrelang als ein „toter Hund“ angesehen, lsst sich nun ein starkes Interesse an seinem Denken feststellen, und zwar sowohl unter Wissenschaftlern (Soziologen, konomen, Politologen, Philosophen) als auch in der Alltagskultur. Indikatoren der aktuellen wissenschaftlichen Beschftigung mit Marx sind (i) zahlreiche Neuverçffentlichungen seiner Schriften in leicht zugnglichen Editionen233, (ii) eine Reihe neuerer Einfhrungen zur und Kommentierungen der Marx’schen Theorie234, (iii) eine große Zahl an aktuellen Verçffentlichungen zu diesem Thema, die sich primr an eine wissenschaftliche Leserschaft wenden235, sowie (iv) eine erneute Auseinandersetzung mit Marx’ Denken im Rahmen des universitren Lehrbetriebs, aus dem er jahrzehntelang ,verbannt‘ zu sein schien. 236 Seit dem Ausbruch der Weltfinanzkrise im Herbst 2008 erfhrt Marx zudem einen sehr starken Aufmerksamkeits- und Wertschtzungszuwachs auf Seiten der ffentlichkeit. Das ist beispielsweise daran zu erkennen, dass sich ein fhrender Reprsentant der katholischen Kirche medienwirksam mit Marx auseinandersetzt237 und ihm „einen sachbedingten Res232 Rohbeck (2006), 7. 233 Vgl. z. B. Brunkhorst (2007), Negt (1998), Marx (2005), Quante (2008) und (2009) sowie Rohbeck & Breitenstein (2008). 234 Vgl. beispielsweise Berger (2003), Bluhm (2009), Iber (2005), Lohmann (2001), Rohbeck (2006) und Sieferle (2008). 235 Exemplarisch seien genannt: Elbe (2008), Gerhardt (2001), Heinrich (2006), Iorio (2003) und Reichelt (2008). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Schwerpunkte „Marx in der Diskussion“ (Deutsche Zeitschrift fr Philosophie, 3/ 2002, 393 – 444 sowie 2/2010, 193 – 287) sowie die Literaturberichte Hubmann (2002) sowie Quante (2002a) und (2006). 236 Das gilt zumindest mit Bezug auf das Studienfach Philosophie an deutschen Universitten. 237 Der Erzbischof von Mnchen und Freising, Reinhard Marx, hat 2008 ein Buch mit dem Titel Das Kapital. Ein Pldoyer fr den Menschen verçffentlicht. Vgl. Marx (2008). Diese Publikation hat selbst in der englischsprachigen Welt hohe mediale Wellen geschlagen. Vgl. P. Gumbel, „Rethinking Marx“, in: Time

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Teil II: Marx’ anerkennungstheoretische Kapitalismuskritik

pekt“238 bezeugt; dass sich die „Sddeutsche Zeitung“ auf einer kompletten Seite mit der Marx’schen Theorie befasst und hierfr den Tenor „Karl Marx ist aktuell: Er beschrieb die Gesellschaft, in der wir heute leben – die jetzige Finanzkrise eingeschlossen“ whlt239 ; dass das „Handelsblatt“ ausfhrlich ber die Arbeiten des konomen Daron Acemoglu berichtet, der seine „historische Analyse“ als „eine Vereinigung der marxistischen Theorie und der neoklassischen Betonung von Eigentumsrechten“ versteht240 ; dass im Leitartikel der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ die gegenwrtige Finanzkrise unter Bezugnahme auf die Marx’sche Theorie erçrtert wird241; dass Alexander Kluges Verfilmung von Das Kapital eine sehr große mediale Aufmerksamkeit erfhrt242 ; und dass in Fernsehtalkshows die Frage diskutiert wird, ob Marx nicht doch Recht gehabt habe.243 Angesichts dieser Ereignisse ist es gerechtfertigt, mit Allen W. Wood festzustellen, dass Marx (wieder) als ein „living thinker“244 angesehen wird. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Marx ist vielschichtig; sie hat theoriegeschichtliche und systematische Aspekte.245 In systematischer Hinsicht lassen sich die folgenden beiden Schwerpunkte unterscheiden: Angesichts aktueller wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen stellt sich erstens fr viele Autoren die Frage, ob die Marx’sche Theorie nicht doch ein sachliches Interesse hat. Ist nicht, so wird hier der Sache nach gefragt, die Welt des globalen Kapitalismus (genau) das, was

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Magazine, 22. Januar 2009 (http://www.time.com/time/specials/packages/ printout/0,29239,1873191_1873190_1873188,00. html). „konomische Freiheit ist nicht Gier!“ Gesprch mit R. Marx, gefhrt von M. Drobinski, H.-J. Jakobs & B. Oswald, in: Sddeutsche Zeitung, 26. November 2008, 26. Vgl. Sddeutsche Zeitung, 26. November 2008, 26. Vgl. N. Hring, „Rckkehr der herrschenden Klasse. Wie ein MIT-Professor die Theorien von Karl Marx mit der neoklassischen Volkswirtschaftslehre verheiratet“, in: Handelsblatt, 24. November 2008, 11. Vgl. F. Schirrmacher, „Was wird morgen sein?“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Oktober 2008, 1. Vgl. z. B. „Karl Marx ist der Dichter unserer Krise“ (Gesprch mit A. Kluge, gefhrt von S. Grissemann), in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Oktober 2008, 33 sowie D. Hakelberg, „Im Steinbruch der Geschichte“, in: Sddeutsche Zeitung, 12. November 2008, 13. „Marx hatte Recht! Gebt uns den Sozialismus zurck!“ In: „Menschen bei Maischberger“, 11. November 2008, ARD, 22.45 – 23.45 Uhr. Vgl. Brudney (1998), Einband. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Quante (2002a) und (2006).

1 Zur Renaissance der Marx’schen Theorie

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Marx mit seiner Kritik der politischen konomie analysiert (und prognostiziert) hat? Unter dieser Perspektive wird also erwogen, ob die Marx’sche Theorie nicht eine explanatorische Funktion hinsichtlich derjenigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen ausben kann, die ich eingangs skizziert habe.246 Diese Frage wird von einer grçßer werdenden Zahl von Theoretikern bejaht.247 Einer der entschiedensten (und prominentesten) Vertreter dieser Auffassung ist Oskar Negt. Negt, der seine wissenschaftliche Laufbahn bekanntlich als Assistent von Jrgen Habermas begann und noch heute sein Verstndnis von „Philosophie“ im Rckgriff auf Max Horkheimer beschreibt248, beginnt seine 2002 verçffentlichte Untersuchung Arbeit und menschliche Wrde mit der folgenden Einschtzung: „Wir sind Zeitzeugen eines Stcks mit dem Titel ,Ironie der Geschichte‘, das gegenwrtig auf der Weltbhne aufgefhrt wird: Gerade in dem Augenblick, da der Kapitalismus nicht enden wollende Triumphgesnge ber alles anstimmt, was auch nur den symbolischen Geruch von Sozialismus und Marxismus vermittelt, funktioniert das Kapital zum ersten Mal in seiner ganzen Entwicklungschronik genau so, wie Karl Marx es in seinem Kapital beschrieben hat. […] Als Wissenschaftler, der Marx ja in erster Linie sein wollte, kçnnte er […] mit Stolz darauf verweisen, dass sein Lebenswerk Das Kapital. Kritik der politischen konomie, an dem er sich buchstblich zu Tode gearbeitet hat, nicht nur die Geschichte des Kapitalismus mehr als hundert Jahre begleitet hat, sondern heute eine vçllig unerwartete Besttigung seines wissenschaftlichen Wahrheitsgehalts erfhrt.“249

Zweitens lsst sich ein sozialphilosophisches Interesse an den normativen und anthropologischen Aspekten des Marx’schen Denkens konstatieren, das sich tendenziell auf die Schriften des ,jungen‘ Marx bezieht.250 In diesem Zusammenhang stehen beispielsweise Martha Nussbaums Bezugnahme auf Marx’ Theorie des Menschen als bedrftiges Wesen251 und Andreas Wildts Erçrterung der Marx’schen Konzeption der Leiblichkeit252. Glaubt man dem Rawls-Schler Daniel Brudney, der einige stark beachtete 246 Vgl. Teil I, Kapitel 1. 247 Sehr energisch hat dies jngst C. Henning getan. Vgl. Henning (2005). Vgl. auch Postone (2003) und Bidet & Dumnil (2007). 248 Vgl. Negt (2003), 80. 249 Negt (2002), 30 und 32. 250 Die Fragen, ob diese Theorieelemente auch in den Schriften des ,reifen‘ Marx prsent sind und, wenn ja, welche Funktion sie in diesem Kontext ausben, seien hier nur genannt. 251 Vgl. z. B. Nussbaum (2006), 278. 252 Vgl. Wildt (1987) und (2002). Vgl. auch Wood (2004).

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Teil II: Marx’ anerkennungstheoretische Kapitalismuskritik

Studien zu Marx vorgelegt hat, dann sind die berlegungen des jungen Marx fr die heutige Sozialphilosophie anschlussfhig. Brudney schreibt: „More generally, I think that the abiding value of Marx’s work through (at least) The German Ideology is as a source for, or proto-image of, a nonmetaphysical humanism. […] The humanist Marx has been in the shadows. I think it time he is brought into the light.“253 Nher glaubt Brudney, dass Marx in seinen Schriften aus dem Jahre 1844 eine „Aktivitt gesellschaftlicher Anerkennung“254 konzeptualisiert habe, welche die Frage nach den gesellschaftlichen Grundlagen von Selbstachtung thematisiere und zufriedenstellend behandle. Aufgrund dieser Eigenschaft erflle die Marx’sche Anerkennungstheorie ein „Desiderat“255 der aktuellen Politischen Philosophie und sei als ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Modell zu betrachten. Vom Standpunkt der Kritischen Theorie sind die Ergebnisse der Forschung auf beiden der soeben genannten Gebiete relevant. Sollte Marx’ Hauptwerk Das Kapital. Kritik der politischen konomie tatschlich, wie von Oskar Negt vermutet, eine „Besttigung seines wissenschaftlichen Wahrheitsgehalts erf[ahren]“, dann htte dies erhebliche Auswirkungen auf die sozialtheoretischen und -kritischen Optionen der Kritischen Theorie. Seinem Anspruch nach ist Das Kapital nmlich eine nicht-normative, naturwissenschaftliche Theorie256, die den Nachweis anstrebt, dass brgerlich-kapitalistische Gesellschaften (tendenziell) sich selbst auflçsende Ordnungen sind. Sollte sich dieser Nachweis als richtig herausstellen, wre es offenkundig unangemessen, brgerlich-kapitalistische Gesellschaften als „institutionalisierte Anerkennungsordnung“257 zu analysieren; stattdessen msste sich der Sozialtheoretiker (primr) mit der çkonomischen Wertbildung und ihren Gesetzmßigkeiten auseinandersetzen, die, dem Bewusstsein der Menschen entzogen258, die Entwicklung und den Niedergang 253 Brudney (1998), 13. – Demgegenber betont M. Quante die metaphysischen Aspekte des Denkens des jungen Marx. Vgl. Quante (2009), 268 – 275. 254 Brudney (2009), 145. 255 Brudney (2009), 145. 256 Im „Vorwort“ zur ersten Auflage von Das Kapital stellt Marx fest, dass er „die Entwicklung der çkonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt“, und er przisiert: „Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist – und es ist der letzte Endzweck dieses Werks, das çkonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthllen –, kann sie naturgemße Entwicklungsphasen weder berspringen noch wegdekretieren.“ (Marx (1998), 16 f.) 257 UA, 162. 258 Vgl. insbesondere Marx (1998), 85 – 99.

1 Zur Renaissance der Marx’schen Theorie

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brgerlich-kapitalistischer Gesellschaften erklren kçnnen. Falls sich die im Kapital entworfene ,Katastrophentheorie‘ als zutreffend erweisen sollte, wre ferner die von der aktuellen Kritischen Theorie befrwortete Art der Gesellschaftskritik259 preiszugeben; im Rahmen der Marx’schen Kritik der politischen konomie wre nmlich allein eine nicht-normative, werttheoretisch fundierte Kritik an brgerlich-kapitalistischen Gesellschaften sinnvoll. Demgegenber begrndet die gegenwrtige sozialphilosophische Beschftigung mit den normativen und anthropologischen Aspekten der Marx’schen Theorie die Erwartung, dass die Kritische Theorie an berlegungen des jungen Marx in systematischer Hinsicht anschließen kann. In der Tat entwickelt Marx, wie von Brudney bemerkt, in seinen Schriften aus dem Jahre 1844260 eine Theorie sozialer Anerkennung, mit der er kapitalistische Gesellschaften zu kritisieren beansprucht, und er beschreibt auch die Beziehungen zwischen den Mitgliedern solcher Gesellschaften als Verhltnisse „wechselseitiger Anerkennung“261. Demnach scheint Marx’ Kapitalismusanalyse und -kritik aus jener Zeit mit demselben Vokabular zu operieren wie die heutige Kritische Theorie. Mçglicherweise stellt sie also Argumente zur Verfgung, die im Rahmen der Erçrterung der Fragen, ob Mrkte anerkennungstheoretisch analysiert und wie kapitalistische Gesellschaften anerkennungstheoretisch kritisiert werden kçnnen, wertvoll sind. (Demgegenber ist nicht zu erwarten, dass Marx berlegungen entwickelt, mit denen die Existenz von (nicht-kapitalistischen oder kapitalistischen) Mrkten prima facie legitimiert werden kann.) Mit anderen Worten: Es ist denkbar, dass die çkonomisch-philosophischen Schriften des jungen Marx die aktuelle Kritische Theorie in sozialtheoretischer und -kritischer Hinsicht bereichern.

259 Siehe oben, Teil I, Kapitel 3. 260 Hierbei handelt es sich um die folgenden beiden Manuskripte: Auszge aus James Mills Buch „lmens d’conomie politique“ (AJM) und konomisch-philosophische Manuskripte (pM). 261 AJM, 460.

2 Das Thema und die Ziele meiner Untersuchung Ich werde mich im Folgenden nicht mit dem Versuch auseinandersetzen, den „wissenschaftlichen Wahrheitsgehalt“ der Marx’schen Kritik der politischen konomie zu erweisen. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, wird die Marx’sche Werttheorie meines Erachtens durch grundbegriffliche Probleme belastet, die eine empirische berprfung ihres „Wahrheitsgehalts“ behindern, wenn nicht unmçglich machen.262 Trifft diese Einschtzung zu, dann ist die Kritik der politischen konomie nicht geeignet, die von der aktuellen Kritischen Theorie befrwortete Sozialtheorie und -kritik grundstzlich in Frage zu stellen, und kann im Rahmen unserer weiteren berlegungen deshalb außer Acht bleiben.263 Im Folgenden werde ich die Kapitalismuskritik des jungen Marx unter dem Gesichtspunkt ihres mçglichen Interesses fr die Kritische Theorie untersuchen. Meine Rekonstruktion des Maßstabs dieser Kritik sttzt sich primr auf Marx’ Kommentar von Auszgen aus James Mills Buch „lmens d’conomie politique“, bercksichtigt aber auch andere Schriften von Marx aus dieser Zeit, vor allem seine konomisch-philosophischen Manuskripte von 1844.264 Dieser methodischen Entscheidung liegt die folgende berlegung zugrunde: Das oben genannte Manuskript zu James Mill enthlt eine der sehr wenigen Stellen im gesamten Marx’schen Œuvre, an denen in zusammenhngender Form ausgefhrt wird, was Marx unter einer menschlichen Produktion bzw.265 einer nicht-entfremdeten gesellschaftlichen Ordnung versteht. Sehr viele Autoren haben die Wichtigkeit jener Textstelle hin-

262 Vgl. Schmidt am Busch (2002), 115 – 118. 263 Meine Kritik an der Marx’schen Werttheorie schließt selbstverstndlich nicht aus, dass Das Kapital Elemente enthlt, die von der Gltigkeit jener Werttheorie unabhngig sind und die aktuelle Kritische Theorie bereichern kçnnen. Leider kann ich dieses Thema im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht behandeln. 264 Das Manuskript Auszge aus James Mills Buch „lmens d’conomie politique“ wurde im Sommer und/oder Herbst 1844 geschrieben. Vgl. Marx/Engels Gesamtausgabe, IV.2, 758. 265 Die Richtigkeit von diesem „beziehungsweise“ muss sich aus unserer weiteren Untersuchung ergeben.

2 Das Thema und die Ziele meiner Untersuchung

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sichtlich der Kapitalismuskritik des jungen Marx herausgestellt.266 Andererseits gibt es nach meinem Wissen keine umfassende und grndliche Analyse dieses Textes, so dass Unklarheiten bezglich seines sachlichen Gehalts bestehen. Im Hinblick auf die hier angestrebte Explikation und Beurteilung der Marx’schen Kapitalismuskritik ist es deshalb sehr wichtig, die oben genannte Passage aus Auszge aus James Mills Buch „lmens d’conomie politique“ eingehend zu analysieren. Mit meiner Untersuchung verfolge ich drei Ziele: ein Marx-interpretatorisches (i), ein theoriegeschichtliches (ii) und ein systematisches (iii). Im Einzelnen ist Folgendes festzustellen: (i) Ich werde diejenige Textstelle, an der Marx in zusammenhngender Form ausfhrt, was er unter einem menschlichen Produktionsverhltnis bzw. einer nicht-entfremdeten Gesellschaft versteht, eingehend analysieren.267 Hierbei werde ich mich an der von Marx selbst vorgenommenen Gliederung seines Textes orientieren. Im Zuge dieser Textanalyse werde ich diejenigen Formen der „Bejahung“ (seiner selbst und/oder von Anderen), welche nach Marx fr menschliche Produktionsverhltnisse charakteristisch sind, explizieren. Es wird sich zeigen, dass Marx’ Theorie der menschlichen Produktion nicht, wie vielfach behauptet268, allein mit seinem Begriff der Arbeit als Vergegenstndlichung erklrt werden kann, sondern vielmehr aus zwei Komponenten besteht: zum einen eben diesem Arbeitsbegriff, zum anderen einer spezifischen Konzeption von Anerken-

266 Vgl. z. B. Brudney (1998), 169 – 191; KA, 232 – 233; Joas (1996), 138; Lange (1980), 110 – 111; und Quante (2009), 231 – 330, insbesondere 293 – 298. 267 Unter den vorliegenden Kommentierungen dieser Textstelle ragen diejenigen D. Brudneys und M. Quantes heraus. Allerdings konzentriert sich Quante auf eine Rekonstruktion und Erçrterung derjenigen Thesen und Themen, die seines Erachtens fr Marx’ Manuskripte von 1844 insgesamt zentral sind, und im Rahmen seiner Analyse der Mill-Exzerpte steht Marx’ Kritik an den Institutionen des Privateigentums und des Marktes im Vordergrund. Hinsichtlich des Verhltnisses von Brudneys und meinem Kommentar lsst sich vorab Folgendes feststellen: Es gibt erhebliche Differenzen bezglich der Bercksichtigung der von Marx thematisierten Bejahung der eigenen Individualitt (siehe unten, Teil II, Kapitel 3.1) sowie der Analyse der Marx’schen Theorie des Gemeinwesens (siehe unten, Teil II, Kapitel 3.3 & 3.4). Letzteres ist zum Teil mit meiner Bercksichtigung der Marx’schen Kritik an Hegels Begriff der personalen Freiheit (siehe unten, Teil II, Kapitel 5) zu erklren. In methodischer Hinsicht glaubt Brudney, anders als ich, dass Marx’ Gliederung seines Textes irrefhrend ist (vgl. Brudney (1998), 170 – 171). 268 Vgl. z. B. Habermas (1996), 484; KA, 231; Joas (1996), 107; Lange (1980), 110.

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nung, nmlich dem Bejahen seiner selbst und der Anderen als Gemeinwesen. (ii) Ich werde zeigen, dass jede der unter (i) genannten Komponenten der Theorie der menschlichen Produktion als ein transformiertes Element der Hegel’schen Philosophie beschrieben werden kann. In der Tat basiert Marx’ Konzeption der Bejahung der eigenen Individualitt durch Arbeit nach meiner Auffassung auf seiner Rezeption und Transformation des Hegel’schen Arbeitsbegriffs, whrend sich seine Theorie des Menschen als Gemeinwesen als eine Verallgemeinerung und ,Essentialisierung‘ einiger Kernelemente von Hegels Theorie der Liebe und der Familie verstehen lsst. (iii) Ich werde darlegen, warum die Marx’sche Theorie der menschlichen Produktion keinen geeigneten Maßstab einer zeitgençssischen Kapitalismuskritik zur Verfgung stellt. Wie ich zeigen werde, wird diese Theorie durch ihre anthropologischen Grundannahmen belastet und ist deshalb kein attraktives gesellschaftliches oder volkswirtschaftliches Modell. Aus diesen Grnden ist sie als ganze nicht geeignet, zur Erreichung der Ziele der aktuellen Kritischen Theorie einen Beitrag zu leisten. Allerdings schließt das nicht aus, dass einzelne Elemente der Theorie der menschlichen Produktion aus heutiger Sicht interessante Ressourcen sind. Diese Mçglichkeit werde ich anhand der Marx’schen Theorie der Bejahung der eigenen Individualitt erçrtern.

3 Marx’ Theorie der menschlichen Produktion Gegen Ende seines Kommentars von Auszgen aus James Mills Buch „lmens d’conomie politique“ schreibt Marx: „Gesetzt, wir htten als Menschen produziert: Jeder von uns htte in seiner Produktion sich selbst und den andren doppelt bejaht. Ich htte 1. in meiner Produktion meine Individualitt, ihre Eigentmlichkeit vergegenstndlicht und daher sowohl whrend der Ttigkeit eine individuelle Lebensußerung genossen, als im Anschauen des Gegenstandes die individuelle Freude, meine Persçnlichkeit als gegenstndliche, sinnlich anschaubare und darum ber allen Zweifel erhabene Macht zu wissen. 2. In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts htte ich unmittelbar den Genuß, sowohl des Bewußtseins, in meiner Arbeit ein menschliches Bedrfnis befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenstndlicht und daher dem Bedrfnis eines andren menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft zu haben, 3. fr dich der Mittler zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein, also von dir selbst als eine Ergnzung deines eignen Wesens und als ein notwendiger Teil deiner selbst gewußt und empfunden zu werden, also sowohl in deinem Denken wie in deiner Liebe mich besttigt zu wissen, 4. in meiner individuellen Lebensußerung unmittelbar deine Lebensußerung geschaffen zu haben, also in meiner individuellen Ttigkeit unmittelbar mein wahres Wesen, mein menschliches, mein Gemeinwesen besttigt und verwirklicht zu haben.“269

Dieser Text hat die Funktion, Marx’ Verstndnis von „menschliche Produktion“ zu explizieren. Offenbar lsst sich dieser Begriff anhand eines Produktionsverhltnisses bestimmen, das zwei Personen, A und B, umfasst. Wenn A und B „als Menschen produzier[en]“, behauptet Marx, „bejaht“ jeder von ihnen „in seiner Produktion sich selbst und den andren doppelt“. Die im Text enthaltene Aufzhlung (1., 2., 3., 4.) lsst vermuten, dass jeder dieser vier Punkte eine der Hinsichten der oben genannten Bejahung spezifiziert. Wie Marx’ Verwendung von „ich“ anzeigt, ist hier offenbar nur von derjenigen Bejahung die Rede, die eine der beiden Personen vornimmt. Demnach ist zu erwarten, dass Marx’ Ausfhrungen zu erkennen geben, in welchem Sinne A „in seiner Produktion sich selbst und den andren doppelt bejaht“. Diese Annahme wird auch dadurch gesttzt, dass Marx mit Bezug auf seine oben zitierten berlegungen feststellt: „Dies Verhltnis wird 269 AJM, 462.

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dabei wechselseitig, von deiner Seite geschehe, was von meiner gesch[ieht].“270 Allerdings ist die Gliederung des oben zitierten Textes nicht ohne Weiteres nachvollziehbar. Whrend es keine Schwierigkeiten bereitet, diejenigen Aussagen zu identifizieren, die zum ersten Punkt gehçren, ist die Abgrenzung der anderen drei Punkte voneinander nicht offensichtlich. Irrefhrend ist in diesem Zusammenhang zweierlei: Zum einen sind diejenigen Aussagen, die auf „3.“ und „4.“ folgen, Teile eines Satzes, der scheinbar den zweiten Punkt spezifiziert. Zum anderen findet sich innerhalb desjenigen Textstckes, das ohne Zweifel zu 2. gehçrt, der Ausdruck „sowohl“, der blicherweise im Verbund mit Ausdrcken wie „als auch“ auftritt271 und eine textgliedernde Funktion ausbt. Im Fall des vorliegenden Satzes begegnen wir aber keinem solchen Ausdruck, so dass unklar ist, warum Marx’ Text berhaupt den Ausdruck „sowohl“ enthlt. Die genannten Schwierigkeiten lassen sich meines Erachtens beheben. In diesem Zusammenhang ist grundstzlich in Rechnung zu stellen, dass der oben zitierte Text Teil eines unverçffentlichten, nicht publikationsfertigen Manuskripts ist. Verstndlich wird seine gedankliche Gliederung unter der Annahme, dass sich der Satz „In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts htte ich unmittelbar den Genuß“ auf jeden der Punkte 2, 3 und 4 bezieht. Offenbar um ihn nicht wiederholen zu mssen, schreibt Marx im Anschluss an diesen Satz „sowohl“, verwendet dann aber weiter unten anstelle des (oder der) zu erwartenden „als auch“ die Aufzhlungszeichen „3.“ und „4.“.272 Dementsprechend lsst sich Marx’ Text wie folgt in eine klarere Form bringen: 1. „Ich htte in meiner Produktion meine Individualitt, ihre Eigentmlichkeit vergegenstndlicht und daher sowohl whrend der Ttigkeit eine individuelle Lebensußerung genossen, als im Anschauen des Gegenstandes die individuelle Freude, meine Persçnlichkeit als gegenstndliche, sinnlich anschaubare und darum ber allen Zweifel erhabene Macht zu wissen.

270 AJM, 463. 271 Marx selbst verwendet in dem oben zitierten Text unter „1.“ den Ausdruck „sowohl … als …“. 272 Es sei hier angemerkt, dass die englische Standardbersetzung von Marx’ Text die auf „3.“ und auf „4.“ folgenden Satzteile als zwei ganze Stze behandelt. Vgl. MECW, Bd. 3, 227 – 228. Meines Erachtens wird damit ein adquates Verstndnis sowohl dieser Passagen als auch der Gliederung des Marx’schen Textes behindert.

3 Marx’ Theorie der menschlichen Produktion

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2. In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts htte ich unmittelbar den Genuß, [nmlich] des Bewußtseins, in meiner Arbeit ein menschliches Bedrfnis befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenstndlicht und daher dem Bedrfnis eines andren menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft zu haben. 3. In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts htte ich unmittelbar den Genuß, fr dich der Mittler zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein, also von dir selbst als eine Ergnzung deines eignen Wesens und als ein notwendiger Teil deiner selbst gewußt und empfunden zu werden, also sowohl in deinem Denken wie in deiner Liebe mich besttigt zu wissen. 4. In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts htte ich unmittelbar den Genuß, in meiner individuellen Lebensußerung unmittelbar deine Lebensußerung geschaffen zu haben, also in meiner individuellen Ttigkeit unmittelbar mein wahres Wesen, mein menschliches, mein Gemeinwesen besttigt und verwirklicht zu haben.“ Gemß der oben geußerten Vermutung spezifiziert jeder dieser Punkte eine der Hinsichten, in denen eine Person A, die Teil eines menschlichen Produktionsverhltnisses ist, „sich selbst und den andren“ bejaht. Da A, wie Marx betont, sich selbst und den Anderen „doppelt bejaht“, ist zu erwarten, dass zwei der obigen Punkte die Selbstbejahung von A und die anderen beiden Punkte die Bejahung des Anderen durch A thematisieren. Lsst sich diese Interpretationshypothese aufrechterhalten?

3.1 Die erste Form der Bejahung Punkt 1 spezifiziert eine der Hinsichten, in denen A sich selbst bejaht. Diese Form der Bejahung besteht darin, wie Marx schreibt, dass A „in [s]einer Produktion [s]eine Individualitt, ihre Eigentmlichkeit vergegenstndlicht“. Offenbar verwendet Marx den Ausdruck „Vergegenstndlichung“ sowohl im Ttigkeits- als auch im Resultatssinn, denn aus dem soeben zitieren Satz folgert er (was durch „daher“ angezeigt wird), dass A „sowohl whrend der Ttigkeit eine individuelle Lebensußerung genossen als im Anschauen des Gegenstandes die individuelle Freude, [s]eine Persçnlichkeit als gegenstndliche, sinnlich anschaubare und darum ber allen Zweifel erhabene Macht zu wissen“. Was ist hiermit gemeint? Unter Marx-Interpreten und Denkern in Marx’scher Tradition gibt es einen Konsens darber, dass Marx’ Begriff der Vergegenstndlichung in

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Teil II: Marx’ anerkennungstheoretische Kapitalismuskritik

Auseinandersetzung mit Hegels Begriff der Selbstentußerung gebildet worden ist.273 Demgegenber ist es umstritten, in welchem sachlichen Verhltnis diese beiden Begriffe stehen; was Marx genau mit „Vergegenstndlichung“ meint274 ; und schließlich, ob Marx’ Begriff der Vergegenstndlichung berhaupt ein verstndliches oder plausibles Konzept ist275. Meines Erachtens ist es unerlsslich, die Rede von der Vergegenstndlichung der eigenen Individualitt anhand von Marx’ Auseinandersetzung mit Hegels Arbeitsbegriff zu analysieren. Auf diesem Wege kçnnen wichtige Beitrge zu den oben genannten Diskussionen geleistet werden. Im Folgenden werde ich also zunchst darlegen, was Hegel unter „Selbstentußerung“ versteht (i) und worin das Eigentmliche von Marx’ Rezeption des und Kritik am Hegel’schen Arbeitsbegriffs besteht (ii). Vor diesem Hintergrund wird sich dann angeben lassen, was mit der Rede von der Vergegenstndlichung der eigenen Individualitt gemeint ist (iii). (i) Was er unter „Selbstentußerung“ versteht, fhrt Hegel zunchst in einer Schrift aus, die Marx (nach allem, was wir wissen) nicht gekannt hat: der Jenaer Philosophie des Geistes (PhdG), einem Vorlesungsmanuskript aus den Jahren 1805/6, das erst im 20. Jahrhundert publiziert wurde. Hegels Begriff der Selbstentußerung steht im Kontext seiner Willens- und Handlungstheorie.276 Allgemein gesprochen, ist fr Hegel eine Ttigkeit, in der ein menschliches Individuum einen von ihm selbst gesetzten Zweck planmßig (und erfolgreich) verwirklicht, ein Akt der Selbstentußerung dieses Subjekts. Die fragliche Ttigkeit ist in dem Sinne eine Entußerung, 273 Vgl. z. B. Gorz (2000), 9 – 11; Habermas (1996), 482 – 487; KA, 235; Joas (1996), 128 – 157; Lange (1980), 11 – 64; Quante (2009), 233 – 246; und Wildt (1987), 104 – 111. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Arndt (2003), 102 – 104. 274 Vgl. z. B. die zum Teil erheblich voneinander abweichenden Interpretationen dieses Begriffs in der in der vorangehenden Anmerkung genannten Literatur. 275 In diesem Zusammenhang ist vor allem auf E. M. Langes Analyse von und Kritik an dem (von ihm so genannten) Entußerungsmodell sowie auf A. Wildts Diskussion des Marx’schen Begriffs der Vergegenstndlichung hinzuweisen. Vgl. Lange (1980), 24 – 32 und 38 – 49; Wildt (1987), 104 – 111. Mit Langes Kritik am Entußerungsmodell habe ich mich an anderer Stelle auseinandergesetzt (vgl. Schmidt am Busch (2002), 40 – 46), auf Wildts Diskussion von Marx’ Begriff der Vergegenstndlichung werde ich im Verlauf dieses Abschnitts nher eingehen. Vgl. zu Langes Kritik auch Quante (2009), 233 – 246. A. Honneth, so sei angemerkt, interpretiert Marx’ Begriff der Vergegenstndlichung im Sinne E. M. Langes als ein nach außen Kommen eines zunchst innerlich Gegebenen, und er schließt sich auch Langes Kritik an diesem Begriff an. Vgl. KA, 235. Demgegenber erachtet H. Joas Langes Kritik an diesem Begriff als problematisch. Vgl. Joas (1996), 141. 276 Vgl. hierzu Quante (2004) und Schmidt am Busch (2010).

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dass sie von dem ttigen Individuum als Verwirklichung desjenigen Zwecks verstanden wird, den es mit ihr verwirklichen wollte. Sie ist zugleich ein Akt der Selbstentußerung, weil dieses Individuum weiß, dass es den fraglichen Zweck selbst gesetzt hat, und dementsprechend seine Ttigkeit als Verwirklichung nicht nur eines bestimmten Zwecks, sondern auch seiner selbst (als zwecksetzenden Subjekts) versteht. Hegel spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „sich zum Gegenstande machen“277 des handelnden Individuums. Es ist hinsichtlich einer sachlichen Beurteilung des Begriffs der Selbstentußerung von großer Wichtigkeit, dass Hegel den Ausdruck „Gegenstand“ im vorliegenden Zusammenhang nicht zur Bezeichnung von physischen Objekten oder Dingen verwendet. Das ist daran zu ersehen, dass er die Zwecksetzung (welchen die sprachliche Form „Ich will, dass ich X tue“ hat) als ein „diesseitiges sich zum Dinge machen“278 bezeichnet und so von der Verwirklichung des Zwecks als dem Sich-zum-Gegenstande-Machen terminologisch unterscheidet. Nher ist im vorliegenden Zusammenhang Folgendes herauszustellen: 1. Sowohl (eigene) Handlungen, die ein menschlicher Akteur als wichtig, als auch (eigene) Handlungen, die er als trivial ansieht, kçnnen Selbstentußerungen dieses Individuums sein. In der Tat kann ein Akteur einen Zweck setzen, dessen Verwirklichung er als unwichtig einstuft (z. B. ein Eis essen wollen), und er kann sich dazu entschließen, eine Handlung auszufhren, deren Unterlassung er als charakterliche Verfehlung erachten wrde (z. B. einen Freund außer Lebensgefahr bringen). In jedem dieser Flle kann er seine Ttigkeit als Verwirklichung eines von ihm selbst gesetzten Zweckes verstehen. 2. Sowohl Handlungen, die einen instrumentellen Charakter haben, als auch Handlungen, die um ihrer selbst willen ausgefhrt werden, kçnnen Selbstentußerungen des Akteurs sein. Die Ttigkeit des Klavierspielens etwa mag um ihrer selbst willen oder zur Erreichung eines anderen Ziels (z. B. dem des Erwerbs von Geld oder Ruhm) ausgebt werden – sofern der Pianist sie als eine von ihm gewollte Aktivitt versteht, fllt sie unter den Hegel’schen Begriff der Selbstentußerung. 3. Sowohl Ttigkeiten, mit denen die Herstellung eines materiellen Gegenstandes bezweckt wird, als auch Ttigkeiten, die einen anderen 277 PhdG, 205. 278 PhdG, 205.

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Zweck haben, kçnnen Selbstentußerungen des Akteurs sein. Dieser Punkt folgt ohne Weiteres aus unserer bisherigen Explikation von Hegels Verstndnis von „Selbstentußerung“; er bedarf hier also keiner eigenen Begrndung. 4. Bezglich des Verhltnisses von „Selbstentußerung“ und „Arbeit“ ist Folgendes festzustellen: Sowohl Dienstleistungen als auch Ttigkeiten, die im Kontext der Produktion von materiellen Gegenstnden stehen, kçnnen Selbstentußerungen menschlicher Akteure sein. (Das folgt wiederum aus unserer bisherigen Explikation von Hegels Begriff der Selbstentußerung.) Ferner kçnnen sowohl Ttigkeiten, die Arbeit in einem gesellschaftlichen Sinne sind, als auch Ttigkeiten, welche dies nicht sind, Selbstentußerungen menschlicher Akteure sein. Sowohl Ttigkeiten, die in einem institutionalisierten, vertraglich geregelten Zusammenhang stehen, als auch Ttigkeiten, bei denen dies nicht der Fall ist, kçnnen nmlich als Verwirklichung von selbstgesetzten Zwecken verstanden werden. Angesichts dieser Befunde ist zu fragen: Was heißt es, dass ein Individuum einen von ihm selbst gesetzten Zweck verfolgt? Welche Bedingungen mssen erfllt sein, damit derjenige Zweck, den ein Individuum verfolgt, der eigene Zweck dieses Individuums ist? In diesem Zusammenhang ist Hegels Analyse des Verhltnisses von „Herrschaft und Knechtschaft“ aus der fast zeitgleich mit der PhdG verfassten Phnomenologie des Geistes informativ. Ihr ist zu entnehmen, dass nur solche zweckgeleiteten Ttigkeiten, welche dem Selbstverstndnis des Akteurs nicht widersprechen, Selbstentußerungen dieses Individuums sein kçnnen, und dass (erfolgreich ausgefhrte) zweckgeleitete Ttigkeiten, welche Aspekte dessen, was ein Akteur zu sein beansprucht, besttigen („bewhren“279), in einem ausgezeichneten Sinne Selbstentußerungen dieses Individuums sind. (Dass Hegel diese Position vertritt, ist daran zu sehen, dass sowohl der Herr als auch der Knecht Zwecke einer bestimmten Art erfolgreich verwirklicht; dass die Handlungen des Herrn dessen Selbstverstndnis („Frsichsein“280) nicht entsprechen, die Handlungen des Knechts hingegen dessen Selbstverstndnis („Frsichsein“) besttigen; und dass in Hegels Urteil allein der Knecht „sein Frsichsein zum Gegenstande“281 macht.)282 Im vorliegenden 279 280 281 282

PhG, 149. PhG, 154. PhG, 154. Hierauf werde ich weiter unten nher eingehen. Vgl. Teil II, Kapitel 3.1, (ii), 2.

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Zusammenhang ist es nicht erforderlich, Hegels Begriff der Selbstentußerung nher zu bestimmen. (ii) Marx’ Rezeption und Kritik des Hegel’schen Arbeitsbegriffs lsst sich auf der Grundlage der konomisch-philosophischen Manuskripte rekonstruieren. Die folgenden Bemerkungen sind im vorliegenden Zusammenhang hinreichend: 1. Marx rezipiert Hegels Begriff der Arbeit primr anhand des Kapitels „Herrschaft und Knechtschaft“ der Phnomenologie des Geistes. 283 Fr Marx wird das, was Hegel unter „Arbeit“ versteht, an dieser Stelle seines Werkes dargelegt. Dieser Befund ist deshalb von großer Wichtigkeit, weil die Arbeit des Knechts einige Eigentmlichkeiten aufweist, die nach Hegels Auffassung keine Merkmale von „Arbeit“ im Allgemeinen sind, von Marx hingegen als Bestandteile des Hegel’schen Arbeitsbegriffs aufgefasst werden.284 2. Der Knecht ist ein menschliches Individuum, das sich als biologisches oder „Naturwesen“285 verneint. In diesem Zusammenhang ist herauszustellen, dass der Knecht – wie auch der Herr – ein Mensch ist, der zunchst286 auf dem Standpunkt der „Begierde“ oder des „Lebens“ steht, d. h. sich als ein natrliches Wesen bejaht und dementsprechend bestrebt ist, seine (leiblichen) Bedrfnisse zu befriedigen. Diese beiden Individuen treten dann287 in einen Kampf um Leben und Tod ein, in dem jedes von ihnen sich und dem Anderen zu zeigen beabsichtigt 288, dass es sich von seinem natrlichen Dasein distanzieren kann und aufgrund dieses Vermçgens „selbstndig“289 bzw. selbstbestimmt ist. Hegel schreibt: „Die Darstellung seiner aber als der reinen Abstraktion des Selbstbewußtseins besteht darin, sich als reine Negation seiner gegenstndlichen Weise zu zeigen, oder es zu zeigen, an kein bestimmtes Dasein geknpft, an die allgemeine 283 Siehe unten, Teil II, Kapitel 3.1, (ii), 3. 284 Erstaunlicherweise ist dieser Befund in der Forschungsliteratur zu diesem Thema nicht klar gesehen und sachlich ausgewertet worden. 285 pM, 578 f. 286 Vgl. PhG, 137 – 145. 287 Vgl. PhG, 145 – 150. 288 Weil sie diese Absicht verfolgen, lsst sich ihr Kampf als ein Anerkennungskampf verstehen. Dieser Aspekt ihrer Auseinandersetzung ist vor allem von A. Koj ve, L. Siep und A. Honneth herausgearbeitet und hervorgehoben worden. Vgl. KA, Koj ve (1986) und Siep (1974). Vgl. auch Ricœur (2004). 289 PhG, 145.

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Einzelheit des Daseins berhaupt nicht, nicht an das Leben geknpft zu sein. […] Und es ist allein das Daransetzen des Lebens, wodurch die Freiheit, wodurch es bewhrt wird, daß dem Selbstbewußtsein nicht das Sein, nicht die unmittelbare Weise, wie es auftritt, nicht sein Versenktsein in die Ausbreitung des Lebens das Wesen, – sondern daß an ihm nichts vorhanden, was fr es nicht verschwindendes Moment wre, daß es nur reines Frsichsein ist.“290

Demnach versucht jeder der beiden Akteure, sich als „reines Frsichsein“, nmlich als ein sich von sich als natrlichem Wesen distanzieren kçnnendes Individuum zu erweisen, und er tut dies, indem er das eigene Leben in einem Kampf gegen den Anderen aufs Spiel setzt. Das Verhltnis von Herrschaft und Knechtschaft kommt nun dadurch zustande, dass eines der beiden Individuen den oben genannten Kampf unter dem Eindruck der „Furcht des Todes“291 abbricht. Gemß seinem eigenen und dem Verstndnis des Anderen hat dieses Individuum sein Ziel, sich als „reines Frsichsein“ zu erweisen, verfehlt, whrend das andere Individuum durch das Riskieren des eigenen Lebens genau dieses Ziel erreicht hat. Aufgrund dieses Ergebnisses ihres Kampfes wird nun jenes Individuum der Knecht von diesem Individuum und muss fortan fr es, seinen Herrn, arbeiten. Hegels Analyse der Arbeit des Knechts dient dem Nachweis, dass dieses Individuum sich durch die Bearbeitung natrlicher Gegenstnde als „reines Frsichsein“ erweist. In dem „Formieren“292 von „Dingen“293 wird „das dienende Bewußtsein sich […] als reines Frsichsein zum Seienden“, es „setzt sich als ein solches in das Element des Bleibens und wird hierdurch fr sich selbst ein Frsichseiendes“.294 Wie Hegel betont,295 ist dies seines Erachtens nur mçglich, weil das arbeitende Individuum einem anderen Menschen dient, den es als Herrn ber das eigene Leben anerkennt. (Es ist fr die Zwecke unserer Untersuchung irrelevant, ob Hegels Argumentation plausibel ist oder nicht.) 3. Marx vertritt die These, dass Hegel unter „Arbeit“ solche Ttigkeiten versteht, mit denen ein menschliches Individuum, das sich unter dem Aspekt seiner Natrlichkeit und Leiblichkeit verneint, sein eigenes Fr290 291 292 293 294 295

PhG, 148 f. PhG, 153. PhG, 154. PhG, 151. PhG, 154. Vgl. PhG, 154.

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sichsein zum Gegenstande macht. Wie oben bemerkt,296 fasst Marx also einige Eigentmlichkeiten der Arbeit des Knechts als Bestimmungen des Hegel’schen Arbeitsbegriffs auf. Dementsprechend stellt er fest: „Das menschliche Wesen, der Mensch, gilt fr Hegel = Selbstbewußtsein.“297 „Die Arbeit ist das Frsichwerden des Menschen innerhalb der Entußerung oder als entußerter Mensch. Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige. Was also berhaupt das Wesen der Philosophie bildet, die Entußerung des sich wissenden Menschen oder die sich denkende entußerte Wissenschaft, dies erfaßt Hegel als ihr [d.h. der Arbeit – SaB] Wesen […].“298 „,Das absolute Wissen‘. Letztes Kapitel der ,Phnomenologie‘. Die Hauptsache ist, daß der Gegenstand des Bewußtseins nichts andres als das Selbstbewußtsein oder daß der Gegenstand nur das vergegenstndlichte Selbstbewußtsein, das Selbstbewußtsein als Gegenstand ist. (Setzen des Menschen = Selbstbewußtsein.)“299

Demnach behauptet Marx, dass Hegel den Menschen als „Selbstbewußtsein“ (und nicht als „menschliches Naturwesen“300) versteht; dass er die Arbeit des Menschen als eine „abstrakt geistige“ Ttigkeit, nmlich als „die Entußerung des sich wissenden Menschen“ bzw. als „das Frsichwerden“ des Menschen als „Selbstbewußtsein“301 auffasst; dass dementsprechend das Resultat der Arbeit fr Hegel „nur das vergegenstndlichte Selbstbewußtsein“ ist; und schließlich, dass nach Hegels Auffassung das Wesen der Arbeit und das Wesen der Philosophie identisch sind (da die Philosophie, in Hegels Version, gerade dem Nachweis diene, dass der Gegenstand des Bewusstseins „Selbstbewußtsein“ sei). 4. Aus den soeben referierten berlegungen folgert Marx, dass nach Hegels Verstndnis die Arbeit einen rein instrumentellen Charakter hat und unter „selbstischen“ oder egoistischen Motiven steht. Diese These leitet Marx offenbar aus den Annahmen ab, dass der Knecht (i) sich als Naturwesen

296 297 298 299 300 301

Vgl. Teil II, Kapitel 3.1, (ii), 1. pM, 575. pM, 574. pM. 575. pM, 579. Dieser Mensch ist nach Marx deshalb ein „entußerter“ oder entfremdeter Mensch, weil er sich als „Naturwesen“ verneint (siehe unten, Teil II, Kapitel 3.1, (iii), 1) und weil er „selbstisch“ oder egoistisch ist (siehe unten, Teil II, Kapitel 3.1, (ii), 4).

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verneint, also nicht gerne arbeitet, und (ii) nur deshalb arbeitet, um Gter konsumieren und so am Leben bleiben zu kçnnen.302 Marx schreibt: „Der Mensch wird = Selbst gesetzt. Das Selbst ist aber nur der abstrakt gefaßte und durch Abstraktion erzeugte Mensch. Der Mensch ist selbstisch. […] Das fr sich abstrahierte und fixierte Selbst ist der Mensch als abstrakter Egoist, der in seine reine Abstraktion zum Denken erhobne Egoismus.“303

5. Fr Marx reprsentiert Hegels Knecht die Lohnarbeiter seiner Zeit. In bereinstimmung mit dieser Annahme behauptet Marx, dass unter kapitalistischen Produktionsbedingungen „die Arbeit dem Arbeiter ußerlich ist, d. h. nicht zu seinem Wesen gehçrt, daß er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglcklich fhlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fhlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedrfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedrfnisse außer ihr zu befriedigen. Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, daß, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird.“304

Demnach vertritt Marx die Auffassung, dass ein Lohnarbeiter – gleich Hegels Knecht – (i) sich als leiblich-natrliches Individuum verneint und (ii) nur deshalb arbeitet, um Gter fr die Sicherung der eigenen Existenz zu erwerben. 6. Da auch die Nationalçkonomie – nach Marx’ Interpretation – den Arbeiter (in kapitalistischen Gesellschaften) als jemanden versteht, der nur deshalb arbeitet, um Konsumgter zu erwerben, bestehe eine Gemeinsamkeit zwischen ihr und der Phnomenologie des Geistes. Nach Marx’ berhmtem Diktum steht Hegel deshalb – mit seiner Charakterisierung des arbeitenden Knechts – „auf dem Standpunkt der Nationalçkonomie“305. (iii) Was genau meint Marx, wenn er behauptet, dass A „in seiner Produktion seine Individualitt, ihre Eigentmlichkeit vergegenstndlicht“? 302 Es ist im vorliegenden Zusammenhang irrelevant, ob diese These in Hegelinterpretatorischer Hinsicht richtig ist oder nicht. 303 pM, 575. 304 pM, 514. 305 pM, 574.

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Diese Frage lsst sich im Ausgang von unserer bisherigen Untersuchung beantworten. 1. In Abgrenzung von Hegel (so wie er ihn interpretiert) und unter dem Einfluss Feuerbachs behauptet Marx, dass der Mensch ein „menschliches Naturwesen“ ist. Hierunter versteht Marx Folgendes: „Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen. Als Naturwesen und als lebendiges Naturwesen ist er teils mit natrlichen Krften, mit Lebenskrften ausgerstet, ein ttiges Naturwesen; diese Krfte existieren in ihm als Anlagen und Fhigkeiten, als Triebe […].“306 „Aber der Mensch ist nicht nur Naturwesen, sondern er ist menschliches Naturwesen; d. h. fr sich selbst seiendes Wesen, […] als welches es sich sowohl in seinem Sein als in seinem Wissen besttigen und bettigen muß.“307

2. Marx vertritt implizit die These, dass sich ein Mensch nur dann angemessen vergegenstndlicht, wenn er sich als ein „menschliches Naturwesen“ vergegenstndlicht.308 Welche Bedingungen aber mssen zu diesem Zweck erfllt sein? Angesichts von Marx’ oben referierter Hegel-Kritik ist Folgendes zu erwarten: Als „menschliche Naturwesen“ werden Menschen sich zum einen unter dem Aspekt ihrer „natrlichen Krfte“ bzw. ihrer leibgebundenen „Anlagen und Fhigkeiten“, zum anderen unter dem Aspekt einer anderen Zielsetzung als der des „Eigennutzes“309 vergegenstndlichen. 3. Da Angehçrige von menschlichen Produktionsverhltnissen, wie Marx schreibt, „als Menschen produzieren“, ist zu vermuten, dass sie sich in ihrer Arbeit als „menschliche Naturwesen“ vergegenstndlichen. Unter dieser Annahme wrde ein Akteur A, der Teil eines solchen sozialen Kontextes ist, sich als ein „menschliches Naturwesen“ vergegenstndlichen, wenn er „in [s]einer Produktion [s]eine Individualitt, ihre Eigentmlichkeit“ verge306 pM, 578. 307 pM, 579. 308 Das belegt beispielsweise die folgende Stelle der pM: „Wenn der wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erde stehende, alle Naturkrfte aus- und einatmende Mensch seine wirklichen, gegenstndlichen Wesenskrfte durch seine Entußerung als fremde Gegenstnde setzt, so ist nicht das Setzen Subjekt; es ist die Subjektivitt gegenstndlicher Wesenskrfte, deren Aktion daher auch eine gegenstndliche sein muß.“ (pM, 577) Es ist im vorliegenden Zusammenhang nicht erforderlich, diese Textstelle zu analysieren. 309 AJM, 460.

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genstndlicht. Wird diese Annahme von Marx Charakterisierung menschlicher Produktionsverhltnisse besttigt? Offenbar ist Marx der Auffassung, dass A seine Individualitt vergegenstndlicht, indem er im Verlauf seiner Arbeit kçrperliche Krfte und technische Fhigkeiten, eventuell auch charakterliche Eigenschaften vergegenstndlicht. Das wiederum besagt, dass A im Verlauf seiner Arbeit bestimmte Vermçgen und Fhigkeiten aktualisiert, eventuell auch spezifische charakterliche Eigenschaften ußert; dass er sich unter diesen Aspekten im Resultat seiner Arbeit (X) anschaulich gegeben ist, also angesichts von X weiß, dass er jene Vermçgen, Fhigkeiten und Eigenschaften hat und dass ihre ußerung hinsichtlich der Produktion von X kausal relevant gewesen ist310 ; und schließlich, dass A die fraglichen Vermçgen, Fhigkeiten und Eigenschaften haben mçchte, dass es ihm wichtig ist, sie zu besitzen, zu ußern und eventuell zu entwickeln, und dass er sie deshalb als Elemente seiner Individualitt versteht.311 Diese Interpretation erçffnet die Mçglichkeit, dass einzelne Aspekte seiner Individualitt sich A erst im Verlauf seiner Arbeit und durch diese enthllen.312 So mag A auf diesem Wege erfahren, dass er ein bestimmtes technisches Geschick besitzt, aber auch, dass er bestimmte Interessen (hinsichtlich von Arbeitsprozessen) und charakterliche Eigenschaften (z. B. Umsicht oder Beharrlichkeit) hat.313 Gesttzt wird diese Interpretation zum einen durch Marx’ Charakterisierung von A’s Produktion mit „Lebensußerung“, zum anderen durch die folgende, auf A bezogene Behauptung: „In der Arbeit wre daher die Eigentmlichkeit meiner Individualitt, weil mein individuelles Leben bejaht.“314 In der Tat wre es unplausibel zu behaupten, dass das individuelle Leben von A nicht reichhaltiger wre als der (propositionale) Gehalt derjenigen Zwecke, die A jeweils in seiner Arbeit verwirklichen mçchte, und dass es folglich vollstndig zum Inhalt solcher Zwecke wird. 310 Diese beiden Punkte werden auch von A. Wildt genannt. Vgl. Wildt (1987), 107 f. 311 Nur unter dieser Annahme kann ein Mensch sich als ein „fr sich selbst seiendes Wesen […] besttigen“ (pM, 579). 312 Unsere berlegungen entkrften also A. Honneths Einwand, dass „[d]urch das Vergegenstndlichungsmodell der irrtmliche Eindruck erweckt [wird], als seien alle individuellen Eigenschaften und Fhigkeiten etwas innerpsychisch stets schon vollstndig Gegebenes, das dann erst sekundr im Vollzug des Produzierens zum Ausdruck gelangen kann“ (KA, 235). 313 Andererseits ist es natrlich mçglich, dass A, wissend, dass er eine Fhigkeit besitzt, diese nach Maßgabe einer expliziten Zwecksetzung anwendet. 314 AJM, 463.

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Die oben beschriebene Vergegenstndlichung von kçrperlichen Krften, technischen Fhigkeiten und charakterlichen Eigenschaften steht im Kontext einer „Produktion“, also eines Komplexes von Ttigkeiten, durch die Ziele verwirklicht werden sollen, die bereits vor der Aufnahme dieser Ttigkeiten festgelegt worden sind. Wenngleich A seine Arbeit mehr oder weniger detailliert geplant haben mag, wird er bei der Aufnahme derselben wissen, was fr ein Gut er herstellen und wie er dieses Gut verwenden mçchte. Es stellt sich also die Frage, ob diese Zielsetzung ein Aspekt der Vergegenstndlichung von A ist. Wenngleich Marx diese Frage nicht ausdrcklich behandelt, legen seine Ausfhrungen nahe, dass er diese Auffassung teilt. Fr diese Annahme sprechen erstens seine Behauptungen, dass „der Mensch […] nicht nur Naturwesen, sondern […] menschliches Naturwesen, d. h. fr sich selbst seiendes Wesen“315 ist und dass das „persçnliche[] Leben“ des Arbeiters in der ußerung seiner „physische[n] und geistige[n] Energie“316 besteht. Wie gesehen, vertritt Marx zweitens die Thesen, dass nach Hegels Philosophie „der Gegenstand nur das vergegenstndlichte Selbstbewußtsein“ ist und dass ein in einem marktwirtschaftlichen Kontext arbeitender Akteur „in seinem Produkt nur seinen vergegenstndlichten Eigennutz“317 sieht. Angesichts dieser ußerungen wre es in der Tat verwunderlich, wenn die Absicht, mit der A „als Mensch“ arbeitet, fr Marx kein Aspekt von dessen Vergegenstndlichung wre. Wie wir weiter unter sehen werden,318 beschreibt Marx drittens A’s Produktion in eben dieser Hinsicht unter Verwendung des Ausdrucks „vergegenstndlichen“. Aus diesen Grnden ist die Zielsetzung, mit der A arbeitet, als ein Aspekt seiner Vergegenstndlichung aufzufassen. Allerdings ist der Umstand, dass Marx diesen Aspekt von A’s Vergegenstndlichung nicht in demjenigen Textstck thematisiert, in dem es um die Vergegenstndlichung von A’s Individualitt geht, ein Indiz dafr, dass die Zielsetzung, mit der A ein Gut X produziert, kein Aspekt von A als Individuum, sondern als menschliches Wesen ist. Diese Vermutung wird sich im Verlauf unserer weiteren Untersuchung besttigen.319 Auch die Vergegenstndlichung von kçrperlichen Krften und technischen Fhigkeiten ist in Marx’ Verstndnis eine ußerung von A als „menschliche[m] Na315 316 317 318 319

pM, 579. pM, 515 (meine Hervorhebung – SaB). AJM, 460. Siehe unten, Teil II, Kapitel 3.2. Siehe unten, Teil II, Kapitel 3.2.

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turwesen“. Allerdings ist sie zugleich eine Anwendung spezifischer Vermçgen und Fhigkeiten, und unter diesem Aspekt lsst sie sich als Vergegenstndlichung von A’s „Individualitt, ihrer Eigentmlichkeit“ verstehen. (Dass ein Mensch kçrperliche Krfte und technische Fhigkeiten vergegenstndlicht, ist ein Aspekt seines Lebens als „menschliches Naturwesen“; welche Krfte und Fhigkeiten er vergegenstndlicht, und wie er dies tut, sind hingegen Aspekte seiner „Individualitt“.) Halten wir fest: Als Angehçriger eines menschlichen Produktionsverhltnisses vergegenstndlicht sich A als „menschliches Naturwesen“, indem er absichtlich ein Gut X produziert und im Zuge dieser Produktion kçrperliche Krfte, technische Fhigkeiten und eventuell charakterliche Eigenschaften (in dem oben explizierten Sinne) vergegenstndlicht. Aufgrund der Bestimmtheit dieser Krfte, Fhigkeiten und Eigenschaften ist dieser Vorgang zugleich eine Vergegenstndlichung von A’s Individualitt. 4. Legt man unsere bisherigen berlegungen zugrunde, dann ist Marx der Auffassung, dass sich die Vergegenstndlichung der Individualitt eines Menschen notwendigerweise im Kontext einer Auseinandersetzung mit materiellen Gegenstnden vollzieht. Diese These, so sei zunchst bemerkt, kann nicht aus Marx’ Verwendung von „gegenstndlich“ und „Gegenstand“ abgeleitet werden. Da ein Mensch nach Marx’ Ansicht etwas „theoretisch […] zu seinem Gegenstand“320 machen kann,321 wre es denkbar, dass er seine Individualitt im Zuge einer rein intellektuellen Ttigkeit vergegenstndlicht. So kçnnte ihm ein von ihm erbrachter mathematischer Beweis das Bewusstsein vermitteln, spezifische Fhigkeiten und Interessen vergegenstndlicht zu haben, und es ist denkbar, dass er diejenige Forschung, mit der er den fraglichen Beweis erbringt, als eine „Lebensußerung“ genießt. Die oben genannte These ergibt sich vielmehr aus Marx’ 320 pM, 515. Vgl. auch die folgenden Aussagen aus den pM, mit denen explizit behauptet wird, dass ein Mensch etwas auch willentlich zu seinem Gegenstande machen kann: „Der Mensch macht seine Lebensttigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewußtseins. […] Oder er ist nur ein bewußtes Wesen, d. h., sein eignes Leben ist ihm Gegenstand […].“ (pM, 516) 321 Dies wird von A. Wildt bersehen, wie seine folgende ußerung zeigt: „Die Verwirklichung von Zwecken besteht zwar darin, entsprechende Gegenstnde hervorzubringen. Aber der subjektive Zustand des Bezweckens wird dadurch nicht zu einem Gegenstand, und sogar das Bezweckte kann nicht eigentlich zu einem Gegenstand werden, da es ontologisch zur Gattung der Sachverhalte, nicht der Gegenstnde gehçrt.“ (Wildt (1987), 106 f.; meine Hervorhebung – SaB) Vgl. hierzu auch die erhellenden berlegungen in Quante (2009), 239 – 249.

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Annahme, dass „der Mensch“ ein „menschliches Naturwesen“ ist. Als Naturwesen kçnnen Menschen ihre Individualitt in der Tat nur vergegenstndlichen, wenn sie im Arbeitsprozess nicht nur ihre „geistige“, sondern auch ihre „physische Energie“322 ußern, und sie kçnnen ihre „Persçnlichkeit“ nur dann als eine „ber allen Zweifel erhabene Macht […] wissen“, wenn sie durch die Anwendung eigener kçrperlicher Krfte und technischer Fhigkeiten Teile ihrer Außenwelt ndern und jene Anwendung als die Ursache dieser nderungen verstehen.323 Die These, dass die Vergegenstndlichung der Individualitt eines Menschen notwendigerweise im Kontext einer Auseinandersetzung mit materiellen Gegenstnden steht, lsst sich also nicht aus dem Konzept der Vergegenstndlichung als solchem ableiten, sondern ergibt sich aus Marx’ anthropologischen Annahmen, dass Menschen „menschliche Naturwesen“ sind und sich als solche zu vergegenstndlichen haben. Allerdings steht die Vergegenstndlichung der Individualitt eines Menschen auch unter der anthropologischen Annahme, dass Menschen „menschliche Naturwesen“ sind, nicht notwendigerweise im Kontext der Herstellung materieller Gegenstnde. Auch im Fall von andersartigen Ttigkeiten (beispielsweise dem Transport oder der Zerstçrung solcher Gegenstnde324) kann ein Mensch nmlich unter Anwendung eigener kçrperlicher Krfte und technischer Fhigkeiten Teile seiner Außenwelt ndern und jene Anwendung als die Ursache dieser nderungen verstehen. Zwar mag Marx selbst der Auffassung gewesen sein, dass die in Rede stehende Vergegenstndlichung nur im Kontext der Herstellung von materiellen Gegenstnden stattfinden kçnne – seine Verwendung von „Produktion“ in „Ich htte in meiner Produktion meine Individualitt, ihre Eigentmlichkeit vergegenstndlicht“ legt dies nahe. Allerdings folgt dies weder aus seiner Verwendung von „gegenstndlich“ und „Gegenstand“ noch aus seiner Konzeption des Menschen als „menschliches Naturwesen“ – nach Maßgabe von Marx’ eigener Begrifflichkeit wre jene 322 pM, 515. 323 Unter dieser Perspektive ist die – auf Marx bezogene – Behauptung problematisch, dass „[u]nter ,Arbeit‘ allgemein die Erzeugung des gesellschaftlichen Reichtums zu verstehen [ist]. Auch geistige Ttigkeiten sind als Arbeit zu bezeichnen, so dass diese Kategorie mit der so genannten Wissensgesellschaft vereinbar ist.“ Vgl. Rohbeck (2006), 16. 324 Marx, so sei hier bereits angemerkt, zieht destruktive Handlungen im vorliegenden Zusammenhang vermutlich deshalb nicht in Erwgung, weil sie in puncto Zielsetzung nicht den Erfordernissen der Vergegenstndlichung eines Menschen als „menschliches Naturwesen“ entsprechen. Siehe unten, Teil II, Kapitel 3.2.

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These also falsch. (Da sehr viele Marx-Interpreten die Ansicht vertreten haben, dass der Begriff der Arbeit als Vergegenstndlichung nur auf handwerkliche Ttigkeiten bezogen werden kçnne, sind die angefhrten Argumente von großer Wichtigkeit.) 5. Die Auseinandersetzung mit materiellen Gegenstnden, in deren Kontext die Vergegenstndlichung der „Individualitt“ eines Menschen stattfindet, kann fr diesen Menschen instrumentell wertvoll sein. Das ergibt sich aus Marx’ weiteren berlegungen zur menschlichen Produktion,325 die deutlich machen, dass A materielle Gegenstnde produziert, um B den Konsum derselben zu ermçglichen. Andererseits darf jene Auseinandersetzung in Marx’ Verstndnis fr den Akteur nicht nur instrumentell wertvoll sein. Das folgt aus seiner oben besprochenen Hegel-Kritik und aus seiner These, dass A, sofern er sich angemessen vergegenstndlicht, die Herstellung von X als „eine individuelle Lebensußerung gen[ießt]“ und sich in ihr unter dem Aspekt seiner Individualitt bejaht. Im Kontext von menschlichen Produktionsverhltnissen ist die Arbeit als Ttigkeit also „die Befriedigung eines Bedrfnisses“326 des Arbeitenden, dessen sich dieser bewusst ist.327 Als Ergebnis unserer berlegungen ist Folgendes festzuhalten: Als Angehçriger eines menschlichen Produktionsverhltnisses vergegenstndlicht sich A als „menschliches Naturwesen“, indem er in seiner Arbeit kçrperliche Krfte, technische Fhigkeiten und eventuell auch charakterliche Eigenschaften (in dem oben explizierten Sinne) vergegenstndlicht. Aufgrund der Bestimmtheit dieser Krfte, Fhigkeiten und Eigenschaften ist dieser Vorgang zugleich eine Vergegenstndlichung von A’s Individualitt. Marx’ Auffassung, dass die Vergegenstndlichung der Individualitt eines Menschen notwendigerweise im Kontext einer Auseinandersetzung mit materiellen Gegenstnden steht, lsst sich nicht aus dem Konzept der Vergegenstndlichung als solchem ableiten, sondern ergibt sich aus Marx’ 325 Siehe unten, Teil II, Kapitel 3.2. 326 pM, 514. 327 Der Zusatz ist deshalb informativ, weil Marx den Ausdruck „Bedrfnis“ sowohl zur Bezeichnung von Bedrfnissen, deren das bedrftige menschliche Individuum sich bewusst ist, als auch zur Bezeichnung von Bedrfnissen, die einem solchen Individuum als Menschen zukommen, verwendet. In dem zuletzt genannten Fall ist es aber mçglich, dass das bedrftige Individuum sich des fraglichen Bedrfnisses nicht bewusst ist. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die erhellenden Unterscheidungen in Merker (2008).

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anthropologischen Annahmen, dass Menschen „menschliche Naturwesen“ sind und sich als solche zu vergegenstndlichen haben. Auch unter der Annahme, dass Menschen „menschliche Naturwesen“ sind, muss die Vergegenstndlichung der Individualitt eines Menschen nicht im Kontext der Produktion von materiellen Gegenstnden stehen; sie kann deshalb auch außerhalb von handwerklichen Herstellungsprozessen stattfinden. Unsere Analyse hat zweierlei deutlich gemacht: Erstens hat sich gezeigt, warum Marx’ Begriff der Arbeit als Vergegenstndlichung ein verstndliches Konzept ist. Weder Hegel noch Marx verwenden den Ausdruck „Gegenstand“ (in dem hier relevanten Zusammenhang) zur Bezeichnung von physischen Objekten oder Dingen, und aus diesem Grunde lsst sich die unter dieser Annahme formulierte Kritik am Entußerungs- oder Vergegenstndlichungsmodell entkrften. Zweitens ist deutlich geworden, dass die Vergegenstndlichung der eigenen Individualitt nach Marx’ eigener Begrifflichkeit nicht an den Vollzug handwerklicher Herstellungsprozesse gebunden ist. Aus diesem Grunde ist die – in der Sache von vielen Autoren geteilte – Auffassung, dass Marx ein „romantisch verklrtes Modell der Handwerksttigkeit“328 vertritt, das eine „produktionssthetische Aufwertung der industriellen Arbeit“ beinhaltet und deshalb „gegenstandslos“329 ist, zurckzuweisen.330 Es ist deshalb denkbar, dass die Konzepte der Selbstentußerung und Vergegenstndlichung auch im Kontext aktueller kritischer Gesellschaftstheorien wertvolle Ressourcen bilden.331

3.2 Die zweite Form der Bejahung Gemß der oben geußerten Interpretationshypothese spezifiziert Punkt 2 eine der Hinsichten, in denen A, sofern er einem menschlichen Produktionsverhltnis angehçrt, sich selbst oder einen Anderen bejaht. Lsst sich Marx’ Text auf eine dieser Annahme entsprechende Weise interpretieren? Es erleichtert die Nachvollziehbarkeit unserer berlegungen, wenn Marx’ Ausfhrungen zunchst noch einmal wiedergegeben werden: „2. In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts htte ich unmittelbar den Genuß, [nmlich] des Bewußtseins, in meiner Arbeit ein menschliches Bedrfnis befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenstnd328 329 330 331

Habermas (1996), 484. Habermas (1996), 485. Vgl. hierzu auch Schmidt am Busch (2010). Hierauf werde ich weiter unten zurckkommen. Vgl. Teil II, Kapitel 8.1.

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licht und daher dem Bedrfnis eines andren menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft zu haben.“

Meines Erachtens vertritt Marx mit dieser Behauptung die folgende These: Im Rahmen eines menschlichen Produktionsverhltnisses bejaht A durch die Herstellung entsprechender Konsumgegenstnde einen anderen Menschen als ein bedrftiges Individuum und mithin in seinem Menschsein. Wie er an einer anderen Stelle des Mill-Kommentars ausdrcklich feststellt, versteht Marx diese Form von Bejahung als ein Anerkennungsverhltnis einer bestimmten Art.332 Mit der folgenden Analyse des oben zitierten Textes soll gezeigt werden, worin die in Rede stehende Form der Bejahung/Anerkennung nach Marx genau besteht. Lsst man die – schwer verstndliche – Wendung „also das menschliche Wesen vergegenstndlicht“ zunchst außer Acht, dann behauptet Marx mit der obigen ußerung Folgendes: B’s Konsum („Genuß“ oder „Gebrauch“) des von A produzierten Gegenstandes (X) ist fr A „unmittelbar“ ein Genuss, und dieser Genuss besteht in dem Glauben („Bewußtsein“), einen Gegenstand hergestellt zu haben, mit dem ein anderer Mensch (B) eines seiner „menschlichen“ Bedrfnisse befriedigt. Mit Bezug auf die Absicht, mit der A, sofern er an einem menschlichen Produktionsverhltnis partizipiert, X hergestellt haben muss, stellen sich zunchst333 die folgenden Fragen: 1. Muss A X fr ein bestimmtes anderes Individuum, B, produziert haben? Muss A also die Absicht gehabt haben, X zu produzieren, um B den Konsum von X zu ermçglichen? Oder ist es hinreichend, dass A in dem Wissen, dass es andere Menschen gibt, die ein Bedrfnis nach X haben, X in der Absicht produziert hat, irgendeinem oder irgendwelchen von ihnen den Konsum von X zu ermçglichen? 2. Muss A X ausschließlich fr andere Menschen produziert haben? Oder ist es mçglich, dass A X in der Absicht produziert hat, einer Gruppe von Menschen, der er selbst angehçrt, den Konsum von X zu ermçglichen? 3. Muss A X berhaupt fr Andere produziert haben? Oder kçnnte A auch dann Teil eines menschlichen Produktionsverhltnisses sein, wenn dies nicht der Fall ist, X aber tatschlich von einem anderen Menschen konsumiert wird? 332 AJM, 460. 333 Die (sehr wichtige) Frage, was der von Marx hervorgehobene Term „unmittelbar“ in „In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts htte ich unmittelbar den Genuß“ besagt, wird weiter unten behandelt werden.

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Marx’ Ausfhrungen zu Punkt 2 sind hinsichtlich unserer ersten Frage klrend. Da Marx ausdrcklich davon spricht, dass sich A’s Genuss auf die Tatsache bezieht, „ein menschliches Bedrfnis befriedigt“ bzw. „dem Bedrfnis eines andren menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft zu haben“ (meine Hervorhebung – SaB), ist es hinreichend, dass A in dem Glauben, dass es andere Menschen gibt, die ein Bedrfnis nach X haben, X in der Absicht produziert, irgendeinem oder irgendwelchen von ihnen den Konsum von X zu ermçglichen. Um Teil eines menschlichen Produktionsverhltnisses zu sein, muss A X also nicht fr ein bestimmtes anderes Individuum produziert haben. Die fr die Beantwortung der ersten Frage zugrunde gelegte Textstelle ermçglicht auch eine Klrung unserer zweiten Frage. In der Tat ist es nicht notwendig, dass A X ausschließlich fr Andere produziert hat; vielmehr kann A auch dann, wenn er X in der Absicht hergestellt hat, einer Gruppe von Menschen, der er selbst angehçrt, den Konsum von X zu ermçglichen, „dem Bedrfnis eines andren menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft“ haben – dies ist dann der Fall, wenn dieses „menschliche Wesen“ derjenigen Gruppe, die X tatschlich konsumiert, angehçrt.334 Wenn A X nur fr sich produziert htte, wre es ohne Weiteres nicht verstndlich, warum der Konsum dieses Gegenstandes durch B ihm berhaupt Genuss bereiten sollte. Deshalb ist davon auszugehen, dass A, sofern er einem menschlichen Produktionsverhltnis angehçrt, X fr andere Menschen oder fr eine Gruppe von Menschen, der er selbst angehçrt, hergestellt hat. Zwar kçnnte es sein, dass A X zu einem Zeitpunkt t0 fr sich produziert und sich zu einem spteren Zeitpunkt t1 dazu entschließt, B diesen Gegenstand zu schenken; in diesem Fall wre es naheliegend, dass B’s Konsum von X auch A erfreut. Allerdings beinhaltet dieser Entschluss gerade eine Revision von A’s ursprnglicher Absicht, X selbst zu konsumieren. Er besttigt also unsere obige Behauptung, nach der A X fr andere Menschen oder fr eine Gruppe von Menschen, der er selbst angehçrt, produziert hat. Damit ist (vorlufig) Folgendes festzuhalten: Sofern A einem menschlichen Produktionsverhltnis angehçrt, produziert er X in der Absicht, einem anderen Menschen, einer Gruppe von anderen Menschen oder einer Gruppe von Menschen, der er selbst angehçrt, den Konsum dieses Gegenstandes zu ermçglichen. 334 Es wird hier unterstellt, dass X von mehreren Personen konsumiert werden kann.

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Was ist nun mit „unmittelbar“ in dem Satz „In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts htte ich unmittelbar den Genuß“ gemeint? Eine Klrung dieser Frage ist hinsichtlich der nheren Bestimmung der Absicht, mit der A, sofern er einem menschlichen Produktionsverhltnis angehçrt, X produziert (zu produzieren) hat, sehr wichtig. Zwar lsst sich diese Frage nicht allein auf der Grundlage von Marx’ Ausfhrungen zu dem uns hier interessierenden Punkt 2 erçrtern; allerdings ermçglicht die im Mill-Kommentar vorgenommene Abgrenzung der (von Marx so genannten) „menschlichen“ von der „eigenntzigen“ Produktion eine Beantwortung der Frage, was mit „unmittelbar“ im vorliegenden Zusammenhang gemeint ist. Nach Marx’ Verstndnis handelt in der Sphre der konomie „eigenntzig“, wer nur deshalb Gter produziert, um andere Gter (fr sich) zu erwerben und (als privates Eigentum) zu besitzen. Diese These ußert Marx im Zusammenhang mit seiner Bestimmung des Produktionszwecks in (kapitalistischen) marktwirtschaftlichen Ordnungen: „Der Zweck der Produktion ist das Haben. Und nicht nur hat die Produktion einen solchen ntzlichen Zweck; sie hat einen eigenntzigen Zweck; der Mensch produziert nur, um fr sich zu haben.“335

Demnach gilt: 1. A produziert X nur deshalb, um Y, einen von B produzierten Gegenstand, zu erwerben und (als privates Eigentum) zu besitzen. 2. B produziert Y nur deshalb, um X, einen von A produzierten Gegenstand, zu erwerben und (als privates Eigentum) zu besitzen. Ferner steht jeder dieser beiden Akteure nach Marx auf folgendem Standpunkt: „[D]ein Bedrfnis, deine Begierde, dein Wollen […] fr mein Produkt […] sind […] das Band, welches dich mir abhngig macht, weil sie dich in eine Abhngigkeit von meinem Produkt versetzen.“336 Mit anderen Worten: 3. B’s Bedrfnis nach X ist fr A allein im Hinblick auf den Erwerb von Y von Interesse. 4. A’s Bedrfnis nach Y ist fr B allein im Hinblick auf den Erwerb von X von Interesse.

335 AJM, 459. 336 AJM, 460.

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Weiter behauptet Marx: „[D]a unser Austausch ein eigenntziger ist, von deiner wie meiner Seite, [sucht] jeder Eigennutz den fremden zu berbieten […].“337 Das wiederum besagt: 5. A ist bestrebt, X gegen Y so zu tauschen, dass er fr eine Einheit von Y B mçglichst wenige Einheiten von X gibt. 6. B ist bestrebt, Y gegen X so zu tauschen, dass er fr eine Einheit von X A mçglichst wenige Einheiten von Y gibt. (Die zuletzt genannten beiden Thesen folgen aus den weiter oben genannten Behauptungen 1 & 2. Wenn A (B) nur deshalb X (Y) produziert, um Y (X) zu erwerben, ist sein Produzieren fr ihn nur instrumentell wertvoll. A und B werden folglich bestrebt sein, den Umfang dieser Ttigkeiten so gering wie mçglich zu halten.)338 Das hiermit rekonstruierte Produktions- und Distributionsverhltnis versteht Marx als eine Beziehung zweier menschlicher Akteure, die einander als bedrftige Wesen missachten. Im Mill-Kommentar lesen wir hierzu: „[D]u hast das Bedrfnis meines Produkts. Es ist daher fr dich als Gegenstand deiner Begierde und deines Willens vorhanden. Aber dein Bedrfnis, deine Begierde, dein Wollen sind ohnmchtiges Bedrfnis, Begierde, Wollen fr mein Produkt. […] Sie sind […] das Band, welches dich mir abhngig macht, weil sie dich in eine Abhngigkeit von meinem Produkt versetzen.“339

Hieraus zieht Marx folgenden Schluss: „Die gesellschaftliche Beziehung, in der ich zu dir stehe, meine Arbeit fr dein Bedrfnis ist daher auch ein bloßer Schein.“340

Halten wir fest: Wenn A ein eigenntziger Akteur ist, bereitet ihm B’s Konsum von X, des von A produzierten Gegenstandes, allenfalls mittelbar einen Genuss. Annahmegemß stellt A X nmlich nur deshalb her, um Y durch Tausch zu erwerben. B’s Konsum von X wird A also keinerlei Genuss bereiten, wenn jener Austausch eine einmalige Transaktion ist, und er wird 337 AJM, 460. 338 Es sei angemerkt, dass die neoklassische Unterscheidung von „Arbeit“ und „Freizeit“ auf genau diesem Verstndnis von „Arbeit“ beruht. Vgl. z. B. Hillebrand (1996), 60 – 63. Wie ich weiter oben dargelegt habe, ist das in Rede stehende Modell deshalb abstrakt, weil es der Relevanz von institutionalisierten und informellen Normen hinsichtlich des Handelns wirtschaftlicher Akteure nicht gerecht wird. Vgl. Teil I, Kapitel 4.2. Dies ist jngst auch von Institutionençkonomen geltend gemacht worden. Vgl. z. B. Voigt (2002). 339 AJM, 460. 340 AJM, 460.

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A mittelbar Genuss bereiten, wenn A und B regelmßig X und Y produzieren und tauschen (weil B’s Konsum von X dann zusammenfllt mit der Entstehung einer Nachfrage auf Seiten von B nach weiteren Gegenstnden dieser Art341). Hieraus folgt, dass A, sofern er Teil eines menschlichen Produktionsverhltnisses ist, kein eigenntziger Akteur in Marx’ Verstndnis sein kann (da B’s Konsum von X fr A ja „unmittelbar“ ein Genuss ist). An dieser Stelle ist Folgendes zu erwgen: Wie gesehen, agiert in Marx’ Verstndnis eigenntzig, wer nur deshalb Gter produziert, um andere Gter zu erwerben und (als privates Eigentum) zu besitzen. Was aber, wenn A mit der Absicht Gter herstellt, nur einen Teil von ihnen (bzw. die mit ihnen erworbenen Produkte) als privates Eigentum zu besitzen und den anderen Teil von ihnen (bzw. die mit ihnen erworbenen Produkte) zu verschenken, um dem Empfnger C dieses Geschenks den Konsum der fraglichen Gter zu ermçglichen? Genau genommen, fllt eine solche Absicht nicht unter den Marx’schen Begriff „Eigennutz“, so dass sich die Frage stellt, ob sie nicht mit derjenigen Bedingung, die in dem Satz „In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts htte ich unmittelbar den Genuß“ geußert wird, kompatibel ist. Meines Erachtens kann Marx nicht der Auffassung sein, dass dies der Fall ist. Auch durch das Verfolgen der zur Diskussion stehenden Absicht wrde A nmlich B als ein bedrftiges Wesen missachten – denn auch in diesem Fall wre B’s Bedrfnis nach X fr A ja (annahmegemß) allein im Hinblick auf den Erwerb von Y von Interesse. Folglich wre A’s „gesellschaftliche Beziehung“ zu B nach Marx auch dann „ein bloßer Schein“, wenn diese Beziehung fr A das Mittel der Verfolgung von (sogenannten) gemeinntzigen Zielen wre. Selbst in diesem Fall kçnnte A also die in dem Satz „In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts htte ich unmittelbar den Genuß“ genannte Bedingung nicht erfllen. Wie der im Folgenden zitierten Textstelle zu entnehmen ist, vertritt Marx in der Tat die Auffassung, dass A, sofern er einem menschlichen Produktionsverhltnis angehçrt, die Produktion von X mit keiner persçnlichen Erwerbsabsicht verbindet. Marx schreibt: „[D]ein Bedrfnis, deine Begierde und dein Wollen […] fr mein Produkt [sind] deine Macht, dein Eigentum an dieser Produktion.“342

341 Es wird hier unterstellt, dass B’s konsumtive Bedrfnisse konstant sind. 342 AJM, 460.

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Demnach ist eine rein bedrfnisbezogene Verteilung von Konsumgtern ein notwendiger Bestandteil eines menschlichen Produktionsverhltnisses. Sofern sie einem solchen Kontext angehçren, haben A und B also nicht aufgrund der Tatsache, dass sie X und Y hergestellt haben, einen Anspruch auf die Nutzung dieser Gegenstnde, sondern allein aufgrund des Vorkommnisses entsprechender konsumtiver Bedrfnisse. Aus dem Gesagten folgt ferner, dass die Art der Verwendung der im Rahmen eines menschlichen Produktionsverhltnisses hergestellten Gter bei der Aufnahme der Produktion feststeht und den Akteuren bekannt ist. X und Y sind Konsumgter;343 sie werden also hergestellt, damit sie von Menschen mit entsprechenden Bedrfnissen ge- oder verbraucht werden. Ausgeschlossen ist es demgegenber im vorliegenden Zusammenhang, dass X und Y anders, etwa als Tauschobjekte oder Kapitalanlagen, verwendet werden.344 Auf der Grundlage dieser berlegungen lassen sich die Absicht, mit der A als Angehçriger einer menschlichen Produktion X herstellt, sowie die Form der Bejahung, die A ausbt, genauer bestimmen. Es hat sich ergeben, dass A X produziert, um einem anderen Menschen, einer Gruppe von anderen Menschen oder einer Gruppe von Menschen, der er selbst angehçrt, den Konsum von X zu ermçglichen, und dass A keine persçnliche Erwerbsabsicht mit der Produktion dieses Gegenstandes verbindet. Indem er mit dieser Absicht X herstellt, bejaht A einen anderen Menschen als ein bedrftiges Individuum oder die Mitglieder einer Gruppe von Menschen als bedrftige Individuen. Im Rahmen unserer bisherigen berlegungen ist der Ausdruck „das menschliche Wesen vergegenstndlichen“ unbercksichtigt geblieben. Er ist, wie gesehen, Teil des folgenden Satzes: „In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts htte ich unmittelbar den Genuß, […] das menschliche Wesen vergegenstndlicht […] zu haben.“ Eine Klrung der Frage, was mit „das menschliche Wesen vergegenstndlicht“ gemeint ist, ist hinsichtlich der nheren Bestimmung der Hinsicht, in der A B bejaht345, aufschlussreich. Sie ist deshalb das Ziel der folgenden berlegungen.

343 Es ist offensichtlich, dass auch im Rahmen menschlicher Produktionsverhltnisse produktive Gter bençtigt werden. Allerdings wird dieser Punkt von Marx hier nicht thematisiert. 344 Vgl. hierzu auch Kambartel (1998). 345 Um unsere Diskussion nicht mit unnçtigen Unterscheidungen zu belasten, wird im verbleibenden Teil von Kapitel 3.2 unterstellt, dass A X fr B produziert.

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Den Schlssel zum Verstndnis des oben zitierten Satzes enthalten die folgenden beiden Stellen des Marx’schen Mill-Kommentars: „[D]as Bedrfnis nach einer Sache ist der evidenteste, unwiderleglichste Beweis, daß die Sache zu meinem Wesen gehçrt, daß ihr Sein fr mich, ihr Eigentum das Eigentum, die Eigentmlichkeit meines Wesens ist […].“346 „[D]ein Bedrfnis, deine Begierde und dein Wollen […] fr mein Produkt […] [d].h. also, dein menschliches und darum auf meine menschliche Produktion notwendig in innerlicher Beziehung stehendes Wesen, ist […] deine Macht, dein Eigentum an dieser Produktion, denn […] die Eigentmlichkeit, […] die Macht des menschlichen Wesens ist anerkannt in meiner Produktion.“347

Hiermit behauptet Marx Folgendes: 1. Wenn ein menschliches Individuum ein Bedrfnis nach einer Sache hat, ist diese Sache ein Aspekt des Wesens des fraglichen Individuums. 2. Wenn ein menschliches Individuum ein Bedrfnis nach einer Sache hat, ist die Befriedigung desselben („ihr [der Sache – SaB] Sein fr mich“) ein Aspekt des Wesens des fraglichen Individuums. 3. Konsumtive Bedrfnisse und ihre Befriedigung – zumindest im Rahmen von menschlichen Produktionsverhltnissen – sind Aspekte des „menschlichen Wesens“ sowie der Individualitt („Eigentmlichkeit“) von menschlichen Individuen. Offenbar ist Marx also der Auffassung, dass Menschen als Menschen bestimmte Bedrfnisse (z. B. ein Bedrfnis nach Nahrung) haben, dass sich diese Bedrfnisse aber im Kontext menschlicher Produktionsverhltnisse individuell unterschiedlich entwickeln (indem sie z. B. die Form von Bedrfnissen nach bestimmten Speisen annehmen) und deshalb auch Aspekte der Individualitt von Menschen bilden. 4. Im Zustand der menschlichen Produktion wissen die individuellen Akteure, dass ihre konsumtiven Bedrfnisse und ihre Befriedigung derselben Aspekte ihres „menschlichen Wesens“ sowie ihrer Individualitt sind – denn hier ist „die Eigentmlichkeit, […] die Macht des menschlichen Wesens […] anerkannt“. Bezieht man diese berlegungen auf Marx’ Charakterisierung von menschlichen Produktionsverhltnissen, dann ergibt sich Folgendes: Im Rahmen eines solchen Verhltnisses sind B’s (konsumtives) Bedrfnis nach X sowie B’s Konsum von X Aspekte sowohl der Individualitt als auch des 346 AJM, 452. 347 AJM, 460.

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menschlichen Wesens von B; sein Konsumieren-Wollen von X sowie sein tatschlicher Konsum dieses Gegenstandes sind Weisen der Realisierung der Individualitt und des Menschseins von B. Zudem weiß B hier, dass sein Bedrfnis nach X sowie sein Konsum dieses Gegenstandes Aspekte seines „menschlichen Wesens“ und seiner Individualitt bilden. Damit lsst sich die uns interessierende These („In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts htte ich unmittelbar den Genuß, […] das menschliche Wesen vergegenstndlicht […] zu haben.“) verstndlich machen. Wir haben gesehen, dass A X produziert, um B den Konsum dieses Gegenstandes zu ermçglichen. Zudem – so kçnnen wir nun ergnzen – hat A das „Bewußtsein“, dass B’s Konsum von X eine Weise der Realisierung des Menschseins von B ist, und er hat die Absicht, B mit dem Konsum von X eine Realisierung seines Menschseins zu ermçglichen. (Andernfalls wre es unverstndlich, warum B’s Konsum von X unter dieser Beschreibung – wie Marx ausdrcklich feststellt – fr A unmittelbar ein Genuss ist.) Dementsprechend ist X also nicht nur eine Vergegenstndlichung der Individualitt von A (nmlich von physischen Vermçgen und technischen Fhigkeiten dieses Menschen348), sondern auch der fr den Produktionsprozess als ganzen leitenden Absicht, mit X einen Gegenstand herzustellen, der B die Befriedigung eines konsumtiven Bedrfnisses sowie die Realisierung seines Menschseins ermçglicht.349 Als ein „menschliches Naturwesen“350 weiß A „im Anschauen des Gegenstandes“ also nicht nur, dass er X unter Aufwendung kçrperlicher Vermçgen und unter Anwendung spezifischer Fhigkeiten produziert hat, sondern auch, dass er mit dieser Ttigkeit die oben genannte Absicht verwirklichen wollte und, erfolgreichenfalls, verwirklicht hat. Schließlich ist Marx offenbar der Ansicht, dass A den Wunsch oder das Bedrfnis hat, dass B X konsumiert und damit sein Menschsein realisiert. Unter dieser Annahme ist es jedenfalls ohne Weiteres verstndlich, warum A die oben genannte Absicht verfolgt und warum B’s Konsum von X fr ihn „unmittelbar ein Genuß“ ist.

348 Siehe oben, Teil II, Kapitel 3.1. 349 Dieser Befund besttigt unsere obigen berlegungen zur Vergegenstndlichung von A als „menschliche[m] Naturwesen“. Siehe oben, Teil II, Kapitel 3.1, (iii), 3. 350 pM, 579.

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3.3 Die dritte Form der Bejahung Trifft unsere eingangs geußerte Vermutung zu, dann wird Marx auch unter „3.“ eine der Hinsichten explizieren, in denen A „sich selbst und den andren doppelt bejaht“. Lsst sich diese Vermutung durch eine Analyse des (im Folgenden zunchst noch einmal wiedergegebenen) Marx’schen Textes erhrten? „3. In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts htte ich unmittelbar den Genuß, fr dich der Mittler zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein, also von dir selbst als eine Ergnzung deines eignen Wesens und als ein notwendiger Teil deiner selbst gewußt und empfunden zu werden, also sowohl in deinem Denken wie in deiner Liebe mich besttigt zu wissen.“

Sofern A und B einem menschlichen Produktionsverhltnis angehçren, gilt nach Marx also Folgendes: Angesichts von B’s Konsum von X, des von A produzierten Gegenstandes, genießt es A unmittelbar, der Mittler zwischen B und der Gattung gewesen zu sein; von B („fr dich“) als dieser Mittler gewusst zu werden; von B als eine Ergnzung von B’s Wesen und als notwendiger Teil von B gewusst und empfunden zu werden; und in B’s Denken und Liebe sich besttigt zu wissen. Was ist hiermit gemeint? Betrachten wir die Situation von B, dann kçnnen wir Folgendes feststellen: 1. Es ist B wesentlich, Gattung zu sein (was immer dies genau ist), und unmçglich, allein durch eigene Ttigkeit Gattung zu sein. 2. B weiß, dass es ihm wesentlich und allein durch eigene Ttigkeit nicht mçglich ist, Gattung zu sein. 3. B kann das tatschlich sein, was er wesentlich ist, wenn er X, den von A produzierten Gegenstand, konsumiert. 4. B weiß, dass er auf die unter 3. genannte Weise das tatschlich sein kann, was er wesentlich ist. 5. B weiß, dass A X produziert hat. 6. B versteht A’s Produktion von X als eine notwendige Bedingung dafr, dass er, B, tatschlich das sein kann, was er wesentlich ist. (In diesem Sinne ist A fr B „eine Ergnzung [s]eines eignen Wesens und ein notwendiger Teil [s]einer selbst“ bzw. der Mittler zwischen ihm und der Gattung.) 7. B bejaht sich als ein Individuum, das Gattung ist. B versteht sich also nicht nur als ein solches Individuum, sondern mçchte auch tatschlich ein solches Individuum sein. Deshalb ist B A fr die Produktion von X dankbar – er besttigt A in seinem Denken und in seiner Liebe.

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Es ist offensichtlich, dass sich die diesen Aussagen zugrunde liegende Konzeption des menschlichen Wesens nicht mit Faktoren wie B’s jeweiligem konsumtiven Gterbedarf, B’s jeweiligen Produktionsmçglichkeiten, A’s jeweiligen Produktionsmçglichkeiten usw. erklren lsst. Dass A als Produzent von X eine Ergnzung von B’s Wesen ist, kann nicht darauf zurckgefhrt werden, dass B aufgrund von kontingenten Umstnden X nicht selbst herstellen kann. Es ist deshalb keine berraschung, dass von Faktoren wie den oben genannten im hier erçrterten Marx’schen Text gar nicht die Rede ist. Marx’ Konzeption des menschlichen Wesens lsst sich im Ausgang von einer Textstelle rekonstruieren, die uns bereits begegnet ist351 und den folgenden Wortlaut hat: „[D]as Bedrfnis nach einer Sache ist der evidenteste, unwiderleglichste Beweis, daß die Sache zu meinem Wesen gehçrt […].“

Angenommen, B htte das Bedrfnis, dass A fr ihn Gter produziert, deren er, B, bedarf. In diesem Fall, so ist der oben zitierten Textstelle zu entnehmen, wre A’s produktive Ttigkeit ein Teil des (menschlichen) Wesens von B. Nun behauptet Marx hier natrlich nicht, dass Bedrftigkeit eine notwendige, sondern lediglich, dass sie eine hinreichende Bedingung von Wesentlichkeit ist, und zwar im Fall von Menschen.352 Allerdings ist im vorliegenden Zusammenhang die Annahme plausibel, dass B tatschlich das Bedrfnis hat, dass A fr ihn Gter produziert, die fr ihn, B, einen Gebrauchswert haben. Unter dieser Annahme lsst sich nmlich erklren, warum B A dafr dankbar ist, dass er X fr B produziert hat. Es ist also festzuhalten, dass B, sofern er einem menschlichen Produktionsverhltnis angehçrt, das Bedrfnis hat, dass A fr ihn Gter produziert, deren er bedarf, und dass dieses Bedrfnis von B’s jeweiligen

351 Siehe oben, Teil II, Kapitel 3.3. 352 Genau genommen, sagt Marx lediglich, dass das Vorkommnis eines Bedrfnisses nach einer „Sache“ ein Beweis fr die Zugehçrigkeit dieser Sache zum Wesen des begehrenden menschlichen Individuums sei. Allerdings heißt es an einer anderen Stelle seines Mill-Kommentars: „[D]ein Bedrfnis, deine Begierde und dein Wollen […] fr mein Produkt […] [d].h. also, dein menschliches und darum auf meine menschliche Produktion notwendig in innerlicher Beziehung stehendes Wesen, ist […] deine Macht, dein Eigentum an dieser Produktion, denn […] die Eigentmlichkeit, […] die Macht des menschlichen Wesens ist anerkannt in meiner Produktion.“ (AJM, 460)

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Produktionsmçglichkeiten und dem Umfang seines Bedarfs an Konsumgtern353 unabhngig ist. Allerdings bedarf es einer Przisierung des Inhalts von B’s Bedrfnis. Wenn dieses Bedrfnis lediglich darin bestnde, Konsumgegenstnde zu erhalten, die von einem anderen Menschen hergestellt worden sind, kçnnte es nmlich auch durch marktwirtschaftliche Arrangements befriedigt werden, in deren Rahmen die Menschen „einen eigenntzigen Zweck“ verfolgen.354 Offenkundig ist Marx aber der Auffassung, dass das in Rede stehende Bedrfnis nur im Rahmen eines menschlichen Produktionsverhltnisses Erfllung finden kann. Angesichts unserer obigen berlegungen355 wird B also das Bedrfnis haben, dass A X produziert, um B den Konsum dieses Gegenstandes zu ermçglichen, und dass A mit dieser Ttigkeit keine persçnliche Erwerbsabsicht verbindet. Welchen Status aber hat dieses Bedrfnis? Nach unseren bisherigen berlegungen ist A’s Produktion von X deshalb ein Teil des Wesens von B, weil B das Bedrfnis hat, dass A X fr ihn produziert. Wrde Marx aber lediglich behaupten, dass A’s Produktion von X deshalb ein Teil des Wesens von B ist, weil B das oben genannte Bedrfnis hat, ließe sich einwenden, dass B’s Angewiesenheit auf A sich aus einem Faktor ergbe, der ebenso kontingent ist wie beispielsweise B’s konsumtiver Bedarf oder B’s Produktionsmçglichkeiten. Treffen unsere obigen berlegungen zu, dann kçnnte mit ihm nicht erklrt werden, warum A B’s Wesen komplettiert. Aber vielleicht vertritt Marx ja eine schwchere Konzeption des menschlichen Wesens als von uns unterstellt? Vielleicht teilt er tatschlich die oben genannte Auffassung, dass A’s Produktion von X genau dann ein Teil des Wesens von B ist, wenn B das Bedrfnis hat, dass A X fr ihn produziert. Mçglicherweise wrde eine solche Lesart die Attraktivitt der Marx’schen Theorie aus heutiger Sicht steigern;356 allerdings gibt es gute Grnde fr die Annahme, dass sie von Marx’ eigenen Ausfhrungen nicht gesttzt wird. Klarerweise verwendet Marx den Ausdruck „Wesen“ im Kontext seiner Charakterisierung menschlicher Produktionsverhltnisse zur Bezeichnung des menschlichen Wesens – das folgt zum einen aus seiner Behauptung, dass Individuen, die einem solchen Verhltnis angehçren, „als Menschen“ pro353 Es wird hier natrlich unterstellt, dass es auf Seiten von B einen solchen Bedarf gibt. 354 Vgl. Teil II, Kapitel 3.2. 355 Vgl. Teil II, Kapitel 3.2. 356 Diese Auffassung wird beispielsweise von D. Brudney geteilt. Vgl. Brudney (1998), 13.

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duzieren, zum anderen aus seiner expliziten und mehrfachen Qualifizierung von „Wesen“ mit „menschlich“ in eben diesem Zusammenhang.357 Nun wrde Marx aber nicht behaupten, dass diejenigen „Sachen“, nach denen Menschen in kapitalistischen Gesellschaften (in seinem eigenen Urteil) ein Bedrfnis haben (z. B. Geld), zum menschlichen Wesen dieser Individuen gehçren. Im Gegenteil kritisiert Marx diese Bedrfnisse und ihre Befriedigung ausdrcklich als eine Verfehlung des menschlichen Wesens.358 Hieraus folgt, dass Marx nicht einfach behaupten kann, dass A’s Produktion von X genau dann ein Teil des Wesens von B ist, wenn B das Bedrfnis hat, dass A X fr ihn produziert. Offenbar unterstellt Marx, dass die Menschen im Zustand der menschlichen Produktion Bedrfnisse nur nach solchen „Sachen“ haben, die zu ihrem Wesen „als Menschen“ gehçren. Unter dieser Annahme – und nur unter ihr – kann er dann behaupten, dass ein „Bedrfnis nach einer Sache […] der evidenteste, unwiderleglichste Beweis“ dafr ist, dass diese Sache einen Aspekt des menschlichen Wesens ausmacht. Unter dieser Voraussetzung bereitet nun Marx’ These, dass A’s Produktion von X eine Ergnzung von B’s menschlichem Wesen ist, keine Verstndnisschwierigkeiten. (Zugleich aber wirft sie die Frage auf, wie Marx’ Bestimmung der (seines Erachtens) Menschen wesentlichen Bedrfnisse gerechtfertigt werden kann. Hierauf werde ich weiter unten zu sprechen kommen.359) B’s Bedrfnis, dass A X produziert, um ihm, B, den Konsum dieses Gegenstandes zu ermçglichen, und dass A mit dieser Ttigkeit keine persçnliche Erwerbsabsicht verbindet, ist Teil seines Bedrfnisses, Gattung zu sein und damit tatschlich das zu sein, was B wesentlich ist. B mçchte Gattung sein und weiß, dass er dann Gattung ist, wenn die folgenden beiden Bedingungen erfllt sind: 1. A produziert X, um B den Konsum dieses Gegenstandes zu ermçglichen, und A verfolgt mit dieser Ttigkeit keine persçnliche Erwerbsabsicht. 2. B konsumiert X. B’s Bedrfnis, Gattung zu sein, liegt ein spezifisches Verstndnis seiner selbst und des Anderen zugrunde. Folgt man Marx’ Ausfhrungen, dann hlt B sich und A fr „ein totales Wesen“360, whrend ein Individuum C, das 357 Vgl. AJM, 462. Vgl. hierzu auch Quante (2009), 262 – 275. 358 Das zeigt beispielsweise seine oben referierte Kritik an dem (von ihm so genannten) „Eigennutz“. Vgl. Teil II, Kapitel 3.2. 359 Vgl. Teil II, Kapitel 6. 360 AJM, 452.

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einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung angehçrt, gerade die Auffassung vertrete, „dass er“ und D jeweils „das besondre Wesen“361 seien. Unter der mit „totales Wesen“ bezeichneten Perspektive (die, wie wir sehen werden, auch von A geteilt wird362) haben Menschen also offenbar deshalb ein unmittelbares Interesse am Wohl der Anderen, weil sie sich nicht als ,separate‘, sondern als wesentlich miteinander verbundene Individuen erachten. Da sie sich dessen bewusst sind, hat jeder von ihnen – wie im vorliegenden Fall B – das Bedrfnis bzw. die Erwartung, dass die Anderen fr ihn ttig sind, ohne persçnliche Erwerbsabsichten mit diesen Ttigkeiten zu verfolgen. Damit ist deutlich geworden, in welchem Sinne B A als eine Ergnzung seines Wesens sowie als einen Mittler zwischen ihm, B, und der Gattung versteht. Ferner ist verstndlich geworden, warum B A fr die Produktion von X dankbar ist. Offen geblieben ist demgegenber die (wichtige) Frage, warum B A als einen notwendigen Teil seiner selbst versteht. Sie wird weiter unten aufgegriffen werden. Betrachten wir zuvor die Situation von A. Was heißt es, dass A angesichts von B’s Konsum von X „unmittelbar den Genuß“ hat, fr B der Mittler zwischen diesem und der Gattung gewesen zu sein? Offenbar empfindet A diesen Genuss deshalb, weil er den Wunsch hatte, dass B Gattung wird, und weil er glaubt, dass B Gattung sein mçchte und dann Gattung ist, wenn die folgenden beiden Bedingungen erfllt sind: 1. A produziert X, um B den Konsum dieses Gegenstandes zu ermçglichen, und A verfolgt mit dieser Ttigkeit keine persçnliche Erwerbsabsicht. 2. B konsumiert X. Aufgrund der Tatsache, dass er Bedingung 1 bereits erfllt hat, empfindet A angesichts von B’s Konsum von X ohne Weiteres „Genuß“ – denn er ist der berzeugung, dass sich damit sein Wunsch, dass B Gattung ist, erfllt hat. Ferner glaubt A, dass er mit der Erfllung jener Bedingung B’s Wesen komplettiert, und er unterstellt, dass auch B dies weiß und dementsprechend ihm, A, fr die Produktion von X dankbar ist. Zudem hat A das Bedrfnis, dass B ihm hierfr dankt363 – weil dies so ist, genießt A es, in B’s 361 AJM, 452. 362 Siehe unten, Teil II, Kapitel 3.4. 363 Dies ist ein Indiz dafr, dass A nicht nur B, sondern auch sich selbst nicht als „das besondre Wesen“ bzw. als ein selbstndiges Individuum erachtet. Dass A vielmehr sich selbst und B als „ein totales Wesen“ versteht, wird weiter unten deutlich werden. Siehe Teil II, Kapitel 3.4.

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„Denken“ und in B’s „Liebe“ Besttigung zu finden. Offenbar glaubt A darber hinaus, dass er aufgrund der Produktion von X ein notwendiger Teil von B ist und dass B ihn als einen solchen anerkennt. Warum aber steht A auf diesem Standpunkt? Diese sowie die oben genannte Frage, warum B A als einen notwendigen Teil seiner selbst versteht, sollen nun erçrtert werden.364 Angesichts von Marx’ Darstellung menschlicher Produktionsverhltnisse ist seine Behauptung nicht berraschend, dass B A als einen notwendigen Teil seiner selbst versteht. In einem sozialen Raum, in dem es nur diese beiden Akteure gibt, kann die Produktion von X nur von A oder B (oder von beiden) ausgefhrt werden. Da nun B – um Gattung zu sein – darauf angewiesen ist, dass ein anderer Mensch fr ihn ein Gut X herstellt, ist B – unter der oben genannten Bedingung – darauf angewiesen, dass A X fr ihn produziert. Folglich ist A’s Produktion von X eine notwendige Bedingung dafr, dass B tatschlich Gattung ist. Da er diese berzeugung hat, wird B, sofern A tatschlich X fr ihn produziert, A als einen notwendigen Teil seiner selbst verstehen. Da auch A glaubt, dass B, um Gattung zu sein, darauf angewiesen ist, dass ein anderer Mensch fr ihn ein Gut X produziert, ist es nicht berraschend, dass A in einem sozialen Raum, in dem es nur A und B gibt, sich selbst als einen notwendigen Teil von B versteht, sofern er X tatschlich fr B produziert. Auch A’s Erwartung, von B als ein notwendiger Teil seiner selbst erachtet zu werden, bereitet unter jener Bedingung keine Verstndnisschwierigkeiten. Wie aber verhlt es sich in einem realen menschlichen Produktionsverhltnis? Lsst sich auch mit Bezug auf soziale Rume, welche die Grçße moderner Volkswirtschaften haben, die These verteidigen, dass jeder Mensch jeden anderen Menschen als einen notwendigen Teil seiner selbst sowie sich selbst als einen notwendigen Teil jedes anderen Menschen ver-

364 D. Brudney hat die These vertreten, dass im Verstndnis des Marx von 1844 die Mitglieder einer kommunistischen Gesellschaft ein Ziel verfolgen, das (i) „internally directed“ und (ii) „intertwined“ ist. Unter (i) versteht Brudney Folgendes: „Their shared end is simply to live in a society structured in a certain way. There is no further goal.“ Brudney bestimmt „intertwined“ in Abgrenzung von „overlapping“ wie folgt: „Persons for whom it is crucial that they help satisfy one another’s ends […] have intertwined ends.“ (Brudney (1998), 187 – 188) Meines Erachtens sind Brudneys berlegungen richtig und erhellend. Allerdings lsst sich mit ihnen nicht erklren, warum A und B, sofern sie einer nicht-entfremdeten, postkapitalistischen Gesellschaft angehçren, glauben, dass A ein notwendiger Teil von B ist.

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Teil II: Marx’ anerkennungstheoretische Kapitalismuskritik

steht? Marx’ Text suggeriert, dass dies so ist, bietet fr diese Annahme aber keine Begrndung an. Lsst sie sich begrnden? Meines Erachtens ist das nicht mçglich. In modernen Volkswirtschaften ist es trotz fortgeschrittener Arbeitsteilung365 nicht der Fall, dass jeder Brger fr jeden anderen Brger Gter produziert, also seinerseits Gter konsumiert, zu deren Produktion jeder andere Brger beigetragen hat, und es ist fraglich, ob es mçglich ist, eine Volkswirtschaft so einzurichten, dass sie jenem Kriterium gengt. Doch selbst wenn jeder Mensch das Bedrfnis htte, dass jeder andere Mensch fr ihn Gter produziert, und wenn diese Bedrfnisse durch volkswirtschaftliche Arrangements erfllt werden kçnnten, wre Folgendes der Fall: Wenn jeder Mensch jeden anderen Menschen als einen notwendigen Teil seiner selbst sowie sich als einen notwendigen Teil jedes anderen Menschen verstehen wrde, kçnnte keiner von ihnen „vollstndig“ bzw. das tatschlich sein, was er wesentlich ist, wenn auch nur einer von ihnen aufhçren sollte, Gter zu produzieren. Faktisch wrde dies darauf hinauslaufen, dass niemand von ihnen sein Bedrfnis, Gattung zu sein, adquat befriedigen wrde (weil Menschen sterblich sind). Schließlich ist es zwar nicht logisch ausgeschlossen, dass Menschen einen solchen Standpunkt vertreten, allerdings wrde seine Einnahme sie in psychischer Hinsicht berfordern. Nach allem, was wir diesbezglich wissen, ist es nicht vorstellbar, dass Individuen, die mit einer menschlichen Psyche ausgestattet sind, einander in dem genannten Sinne als notwendige Teile ihrer selbst ansehen.366 Marx’ Beschreibung des Verstndnisses, das A und B von sich selbst und dem Anderen haben, ist ein starkes Indiz fr die Richtigkeit meiner These, dass seine Konzeption des menschlichen Wesens nach dem Vorbild von Liebes- und Familienbeziehungen konstruiert worden ist. Mit Bezug auf Beziehungen dieser Art ist es in der Tat plausibel anzunehmen, dass jeder das Bedrfnis hat, dass die Anderen fr ihn ttig sind, ohne sich persçnlich bereichern zu wollen; dass jeder das Bedrfnis hat, fr die Anderen ttig zu sein, ohne sich persçnlich zu bereichern367; dass jeder die Anderen als notwendige, nmlich nicht ersetzbare368, Teile seiner selbst 365 Auf diesen Aspekt moderner konomien hat bekanntlich bereits Adam Smith nachdrcklich hingewiesen. Vgl. Smith (1999), Buch I, Kapitel 1. 366 Vgl. hierzu die erhellende Diskussion in Brudney (2009). 367 Fr intrafamilire Beziehungen scheint es zudem charakteristisch zu sein, dass ein Akteur A das Bedrfnis hat, dass die Akteure B und C auf diese Weise freinander ttig sind. 368 Auch A. Honneth teilt die Auffassung, dass Sich-Liebende einander als „unvertretbar“ ansehen. Siehe unten, Teil II, Kapitel 8.2.

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bzw. seines Wohls erachtet; und schließlich, dass jeder sich als einen notwendigen, nicht ersetzbaren Teil der Anderen bzw. von deren Wohl versteht. Dass Marx’ Konzeption des menschlichen Wesens als eine Verallgemeinerung eines solchen Liebesbegriffes verstanden werden kann, wird weiter unten nher ausgefhrt werden.369 Im vorliegenden Zusammenhang begnge ich mich mit dem Hinweis, dass es im Lichte dieser Interpretation kein Zufall ist, dass Marx den Ausdruck „Liebe“ im vorliegenden Zusammenhang verwendet, nmlich mit der Behauptung, dass A es genießt, in B’s „Denken“ sowie in B’s „Liebe“ sich besttigt zu wissen.370 Halten wir fest: In dem in diesem Kapitel analysierten Text thematisiert Marx die Bejahung von B als eines Individuums, das wesentlich Gattung ist. Im Rahmen eines menschlichen Produktionsverhltnisses wird B sowohl von A als auch von sich selbst in dieser Hinsicht bejaht. Auf Seiten von A ußert sich diese Bejahung in der Produktion von X mit der Absicht, B den Konsum dieses Gegenstandes zu ermçglichen, auf Seiten von B in dem Konsum von X, des von A produzierten Gegenstandes. Da in Marx’ Text also (unter anderem) eine der Hinsichten spezifiziert wird, in der A B

369 Siehe unten, Teil II, Kapitel 8.2. 370 F. von Magnis hat unter Bezugnahme auf Marx’ Beschreibung des „Verhltnis[ses] des Mannes zum Weibe“ (vgl. pM, 534) die Behauptung aufgestellt, dass Marx hierin „das normative Paradigma dafr [sieht], wie wahrhaft menschliche Verhltnisse sein sollten“ (von Magnis (1975), 148). Ich halte von Magnis’ Einschtzung in der Sache fr richtig und sehr wichtig. Allerdings hat von Magnis die Beschaffenheit des in Rede stehenden Liebesverhltnisses nicht nher untersucht, und er hat die – meines Erachtens problematische – These aufgestellt, dass Marx deshalb in dem Verhltnis von Mann und Frau das Paradigma wahrhaft menschlicher Beziehungen sah, weil er den folgenden Standpunkt vertrat: „,Es ist dem Menschen schlechthin unangemessen, als Mittel gebraucht zu werden.‘ Marx begrndet diese Norm damit, dass der Mensch ein freies, universal sich verhaltendes Wesen sei, als das er nur zu seiner Selbstbesttigung kommt, wenn er sich als solches, das heißt frei und autonom verhalten kann. Marxens Gesellschaftskritik wurzelt somit letztlich in der Achtung vor der Autonomie des Menschen als eines freien, sich selbst bestimmenden Wesens, wodurch Marx sich in eine große Tradition stellt, die sich ber Hegel, Fichte und Kant, das Mittelalter und Augustinus bis ins Neue Testament, wo der Mensch vor Gott nicht in seiner zuflligen Bestimmtheit als Jude oder Heide, Barbar, Freier oder Sklave, sondern eben als Mensch gilt, zurckverfolgen lßt.“ (von Magnis (1975), 887) Wie meine weiteren berlegungen deutlich machen (siehe unten, Teil II, Kapitel 5 & 6), teile ich diese Auffassung von Magnis’ nicht.

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bejaht, lsst sich unsere eingangs geußerte Interpretationshypothese bezglich der Gliederung371 dieses Textes aufrechterhalten.

3.4 Die vierte Form der Bejahung Wie eingangs dargelegt, behauptet Marx, mit seiner Charakterisierung von menschlichen Produktionsverhltnissen jeweils zwei Hinsichten zu spezifizieren, in denen A sich selbst und B bejaht. Angesichts der Ergebnisse unserer bisherigen berlegungen ist deshalb zu erwarten, dass Marx unter „4.“ eine der Hinsichten thematisiert, in denen A sich selbst bejaht. Ist diese Vermutung zutreffend? Auch im vorliegenden Fall sei Marx’ Text zunchst noch einmal wiedergegeben: „4. In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts htte ich unmittelbar den Genuß, in meiner individuellen Lebensußerung unmittelbar deine Lebensußerung geschaffen zu haben, also in meiner individuellen Ttigkeit unmittelbar mein wahres Wesen, mein menschliches, mein Gemeinwesen besttigt und verwirklicht zu haben.“

Als Angehçriger eines menschlichen Produktionsverhltnisses bejaht A sich mit der Produktion von X als Gemeinwesen. Dass diese These mit dem oben zitierten Text tatschlich aufgestellt wird und was unter ihr zu verstehen ist, soll im Folgenden gezeigt werden. Dass A’s Sich-Bejahen als Gemeinwesen das Thema des obigen Textes ist, ergibt sich zum einen aus den von Marx vorgenommenen Hervorhebungen, zum anderen aus der Tatsache, dass der Satzteil „in meiner individuellen Lebensußerung unmittelbar deine Lebensußerung geschaffen zu haben“ lediglich rekapituliert, was Marx bereits unter „1.“ und „2.“ ausgefhrt hat. Dass A „in [s]einer individuellen Lebensußerung“, lies: in der Produktion von X, „unmittelbar“ eine „Lebensußerung“ von B, nmlich dessen Konsum von X, schafft, besagt ja gerade Folgendes: A glaubt, dass B das Bedrfnis hat, X zu konsumieren, und er produziert X mit der Absicht, B diese „Lebensußerung“ zu ermçglichen. A’s Produktion von X erzeugt B’s Lebensußerung „unmittelbar“, weil A keine persçnliche Erwerbsabsicht mit seiner Ttigkeit verbindet, sondern B X ohne Weiteres zur Verfgung stellt. Aus diesem Grunde werden A’s Produktion und B’s Konsum von X nicht durch Tauschhandlungen oder Mrkte vermittelt.372 371 Vgl. Teil II, Kapitel 3. 372 Auf eine andere Form der Vermittlung – nmlich rechtliche Institutionen – werde ich weiter unten zu sprechen kommen. Vgl. Teil II, Kapitel 6.

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Demnach wird die Aussage „In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts htte ich unmittelbar den Genuß, […] in meiner individuellen Ttigkeit unmittelbar mein wahres Wesen, mein menschliches, mein Gemeinwesen besttigt und verwirklicht zu haben“ zu erkennen geben, worin die unter „4.“ thematisierte Form der Selbstbejahung von A besteht. Allerdings, so ist zunchst zu bemerken, wirft jene Aussage das folgende, sachlich relevante Problem auf: Wird der Satzteil „in meiner individuellen Ttigkeit unmittelbar mein wahres Wesen, mein menschliches, mein Gemeinwesen besttigt und verwirklicht zu haben“ (meine Hervorhebung – SaB) genau genommen, dann kann A sein Gemeinwesen allein durch eigene Ttigkeit verwirklichen. Wenn er X mit der Absicht produziert, B den Konsum dieses Gegenstandes zu ermçglichen, und wenn er keine persçnliche Erwerbsabsicht mit seiner Ttigkeit verbindet, dann – so lesen wir hier – verwirklicht er „unmittelbar“ sein Gemeinwesen. Demnach kçnnte A sich auch dann als Gemeinwesen bejahen, wenn weder B noch ein anderer Mensch X tatschlich konsumiert, denn hinreichend hierfr wre ja die unter einer bestimmten Absicht stehende Herstellung von X. Diese Interpretation wrde es aber unverstndlich machen, warum A, wie Marx ausdrcklich behauptet, angesichts von B’s Konsum von X „unmittelbar den Genuß“ hat, sich als Gemeinwesen verwirklicht zu haben – wre doch diese Selbstverwirklichung bereits in einem frheren Zeitraum, nmlich dem der Produktion von X, erfolgt. Meines Erachtens ist Marx der Auffassung, dass ein menschliches Individuum nicht allein durch eigene Ttigkeit Gemeinwesen sein kann. Zum einen wre andernfalls die am Ende des letzten Absatzes genannte Behauptung (nach der A angesichts von B’s Konsum von X „unmittelbar den Genuß“ hat, sich als Gemeinwesen verwirklicht zu haben) unverstndlich. Zum anderen wrde die These, dass A allein durch eigene Ttigkeit sein Gemeinwesen realisieren kann, dem von Marx unter „3.“ Geußerten widersprechen. Marx verwendet nmlich zumindest im MillKommentar die Ausdrcke „Gemeinwesen“ und „Gattungswesen“ synonym.373 Wie gesehen, geht aber das Bejahen von B als eines Individuums, dem es wesentlich ist, Gattung bzw. Gattungswesen zu sein, gerade einher mit einem Verstehen von B als eines Individuums, dem es nicht mçglich ist, allein durch eigene Ttigkeit das tatschlich zu sein, was es wesentlich ist. Aus diesem Grunde wre es verwunderlich, wenn Marx nun unter „4.“ behaupten wrde, dass ein menschliches Individuum allein durch eigene Ttigkeit sein Gemeinwesen realisieren kann. 373 Vgl. AJM, 450 f.

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Demnach ist zu fragen: Welche Bedingungen mssen erfllt sein, damit A Gemeinwesen ist? Wie Marx’ Text deutlich macht, handelt es sich bei ihnen um genau diejenigen Bedingungen, die erfllt sein mssen, damit B als Gemeinwesen wirklich ist. Es mssen also die folgenden beiden Stze wahr sein: 1. A produziert X, um B den Konsum dieses Gegenstandes zu ermçglichen, und A verfolgt mit dieser Ttigkeit keine persçnliche Erwerbsabsicht. 2. B konsumiert X. Wie sich Marx’ Text entnehmen lsst, gilt daneben mit Bezug auf A Folgendes: 1. Es ist A wesentlich und allein durch eigene Ttigkeit nicht mçglich, Gemeinwesen zu sein. 2. A weiß, dass es ihm wesentlich und allein durch eigene Ttigkeit nicht mçglich ist, Gemeinwesen zu sein. 3. A bejaht sich als Gemeinwesen. Er hat also das Bedrfnis, tatschlich Gemeinwesen zu sein. Hieraus folgt, dass A sich selbst und B als „ein totales Wesen“ (in dem oben explizierten Sinne) versteht. Auch fr ihn sind er und B nicht „besondere Wesen“, sondern wesentlich miteinander verbundene Individuen, welche ein unmittelbares Interesse am Wohl des Anderen haben und ohne persçnliche Bereicherungsabsichten freinander ttig sind. Mit diesen Annahmen lsst sich erklren, warum A angesichts von B’s Konsum von X „unmittelbar den Genuß“ hat, „in [s]einer individuellen Ttigkeit [s]ein wahres Wesen, [s]ein menschliches, [s]ein Gemeinwesen besttigt und verwirklicht zu haben“. Wenn B X konsumiert, sind smtliche Bedingungen erfllt, die erfllt sein mssen, damit A als Gemeinwesen wirklich ist; und da er dies weiß, empfindet A mit der Wahrnehmung von B’s konsumtiver Ttigkeit ohne Weiteres „Genuß“.

4 Zusammenfassung und Weiterfhrung Fassen wir die Ergebnisse unserer berlegungen zusammen, dann kçnnen wir Folgendes feststellen: In dem von uns analysierten Text lassen sich zwei Hinsichten spezifizieren, in denen ein Akteur A, der einem menschlichen Produktionsverhltnis angehçrt, sich selbst bejaht, und zwei Hinsichten, in denen A einen anderen Akteur, B, der seinerseits Teil dieses Produktionsverhltnisses ist, bejaht. Da Marx behauptet, dass das „Verhltnis“ von A und B „wechselseitig“ ist („von deiner Seite geschehe, was von meiner gesch[ieht]“374), werden von ihm acht Relationen der Bejahung genannt, die nach seinem Verstndnis fr menschliche Produktionsverhltnisse charakteristisch sind. Im Einzelnen hat sich Folgendes ergeben: 1. A bejaht sich als jemanden, der spezifische produktive Fhigkeiten und Macht ber die ußere Natur hat, sowie als jemanden, dessen Individualitt durch diese Eigenschaften bestimmt wird. 2. A bejaht B als ein Individuum, das ein Bedrfnis nach konsumtiven Gegenstnden hat und zu dessen Menschsein es gehçrt, ein Bedrfnis nach konsumtiven Gegenstnden zu haben. 3. A bejaht sich als Gemeinwesen. 4. A bejaht B als Gemeinwesen. 5. B bejaht sich als jemanden, der spezifische produktive Fhigkeiten und Macht ber die ußere Natur hat, sowie als jemanden, dessen Individualitt durch diese Eigenschaften bestimmt wird. 6. B bejaht A als ein Individuum, das ein Bedrfnis nach konsumtiven Gegenstnden hat und zu dessen Menschsein es gehçrt, ein Bedrfnis nach konsumtiven Gegenstnden zu haben. 7. B bejaht sich als Gemeinwesen. 8. B bejaht A als Gemeinwesen. Wenngleich Marx dies nicht ausdrcklich feststellt, wird er der Auffassung sein, dass A nicht nur B, sondern auch sich selbst in der unter 2. genannten Hinsicht bejaht und dass B nicht nur A, sondern auch sich selbst in der unter 6. genannten Hinsicht bejaht. Da im vorliegenden Zusammenhang besondere psychische Dispositionen von Marx nicht bercksichtigt wer374 AJM, 463.

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den, wre es in der Tat unverstndlich, warum A und B jeweils sich selbst, nicht aber den Anderen als Inhaber von konsumtiven Bedrfnissen bejahen sollten. Wenn A (B) der Meinung ist, dass die Befriedigung von konsumtiven Bedrfnissen einen Aspekt des Menschseins von B (A) ausmacht und deshalb zu befrworten ist, wird er eine entsprechende Auffassung auch mit Bezug auf sich selbst vertreten. Diese Annahme wird zudem durch die Tatsache gesttzt, dass A und B sich selbst und den Anderen als Gemeinwesen bejahen. Wie gesehen, ist nmlich der Konsum der von ihnen produzierten Gegenstnde eine Erfllungsbedingung dieser Art der Bejahung. Aus diesem Grunde wre es verwunderlich, wenn A und B nicht auch jeweils sich selbst in der oben unter 2. und 6. genannten Hinsicht bejahen wrden. Demnach bejahen A und B, sofern sie einem menschlichen Produktionsverhltnis angehçren, in zwei Hinsichten jeweils sich selbst und den Anderen: Jeder von ihnen bejaht sich und den Anderen als jemanden, der ein Bedrfnis nach konsumtiven Gegenstnden hat (und zu dessen Menschsein es gehçrt, ein solches Bedrfnis zu haben), und jeder von ihnen bejaht sich und den Anderen als Gemeinwesen. Daneben gibt es eine Hinsicht, in der A und B jeweils sich selbst bejahen: Jeder von ihnen bejaht sich als jemanden, der spezifische produktive Fhigkeiten und Macht ber die ußere Natur hat (und dessen Individualitt durch diese Eigenschaften bestimmt wird). Lassen sich Marx’ Ausfhrungen auch bezglich der zuletzt genannten Form der Bejahung so ergnzen, dass hier behauptet werden kann, dass A und B in der fraglichen Hinsicht sowohl sich selbst als auch den Anderen bejahen? Meines Erachtens ist dies nicht mçglich. Zwar ist die Annahme plausibel, dass A und B jeweils nicht nur sich selbst, sondern auch den Anderen als jemanden bejahen, der Macht ber die ußere Natur hat – da jeder von ihnen sich selbst als Inhaber dieser Eigenschaft wertschtzt, wre es in der Tat unverstndlich, warum er nicht auch den Anderen aufgrund dieser Eigenschaft wertschtzen sollte. Allerdings lsst sich bezglich der (weiteren) produktiven Fhigkeiten von A und B kein entsprechendes Argument anfhren. Das ist deshalb nicht mçglich, weil es denkbar ist, dass A und B unterschiedliche produktive Fhigkeiten als wichtig oder wertvoll erachten. Vielleicht erachtet A (B) diejenigen produktiven Fhigkeiten (oder einige derselben), die B (A) als Elemente seiner Individualitt ansieht, ja als trivial. Aufgrund dieser Mçglichkeit ist es unklar, ob A und B jeweils den Anderen als Inhaber spezifischer produktiver Fhigkeiten wertschtzen.

4 Zusammenfassung und Weiterfhrung

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Auf der Grundlage unserer berlegungen lsst sich die obige Ausfhrung wie folgt vervollstndigen: 1. A bejaht sich als jemanden, der spezifische produktive Fhigkeiten und Macht ber die ußere Natur hat, sowie als jemanden, dessen Individualitt durch diese Eigenschaften bestimmt wird. 2. A bejaht B als jemanden, der Macht ber die ußere Natur hat, sowie als jemanden, zu dessen Individualitt diese Eigenschaft gehçrt. 3. A bejaht sich als ein Individuum, das ein Bedrfnis nach konsumtiven Gegenstnden hat und zu dessen Menschsein es gehçrt, ein Bedrfnis nach konsumtiven Gegenstnden zu haben. 4. A bejaht B als ein Individuum, das ein Bedrfnis nach konsumtiven Gegenstnden hat und zu dessen Menschsein es gehçrt, ein Bedrfnis nach konsumtiven Gegenstnden zu haben. 5. A bejaht sich als Gemeinwesen. 6. A bejaht B als Gemeinwesen. 7. B bejaht sich als jemanden, der spezifische produktive Fhigkeiten und Macht ber die ußere Natur hat, sowie als jemanden, dessen Individualitt durch diese Eigenschaften bestimmt wird. 8. B bejaht A als jemanden, der Macht ber die ußere Natur hat, sowie als jemanden, zu dessen Individualitt diese Eigenschaft gehçrt. 9. B bejaht sich als ein Individuum, das ein Bedrfnis nach konsumtiven Gegenstnden hat und zu dessen Menschsein es gehçrt, ein Bedrfnis nach konsumtiven Gegenstnden zu haben. 10. B bejaht A als ein Individuum, das ein Bedrfnis nach konsumtiven Gegenstnden hat und zu dessen Menschsein es gehçrt, ein Bedrfnis nach konsumtiven Gegenstnden zu haben. 11. B bejaht sich als Gemeinwesen. 12. B bejaht A als Gemeinwesen. Es hat sich damit ergeben, dass Marx’ Theorie der menschlichen Produktion (in Habermas’scher Terminologie) sowohl ein Modell (menschlicher) Arbeit als auch ein Modell (menschlicher) Interaktion ist. Angesichts der oben herausgestellten Bejahungsarten ist es nicht mçglich, die Theorie der menschlichen Produktion als ganze mit Marx’ Konzeption der Arbeit als Vergegenstndlichung zu erklren.375 Ohne Frage spielt dieser 375 Diese These wird beispielsweise von E. M. Lange und H. Joas vertreten. Lange versteht Marx’ Begriff der Arbeit als Vergegenstndlichung als „die entscheidende begriffliche Ressource der Marxschen Kritik“ (Lange (1980), 9) und sieht dementsprechend in der Theorie der menschlichen Produktion „den schlagenden Beweis“ fr Marx’ Versuch, „die Einheitsidee (d. h. die Theorie einer postkapita-

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Begriff auch im Kontext jener Theorie eine wichtige Rolle – das zeigt Marx’ Konzeption der Bejahung der eigenen Individualitt.376 Allerdings lsst sich die fr menschliche Produktionsverhltnisse konstitutive Bejahung seiner selbst und der Anderen als Gemeinwesen nicht mit Hilfe des Begriffs der Arbeit als Vergegenstndlichung verstndlich machen. Wie weiter unten gezeigt werden wird, handelt es sich bei ihr vielmehr um eine Verallgemeinerung der Hegel’schen Theorie von Liebes- und Familienbeziehungen. Zur Vorbereitung unserer weiteren berlegungen bietet es sich an, die Ergebnisse unserer Analyse von Marx’ Theorie des Gemeinwesens kurz zusammenzufassen. Mit der Bejahung ihrer selbst als Gemeinwesen – so hat sich gezeigt – bejahen A und B sich als „ein totales Wesen“377 oder als ein Wir einer bestimmten Art. Dies ist wie folgt zu verstehen: A glaubt, dass er das, was er (wesentlich) ist, nur durch eine spezifische Kooperation mit B tatschlich sein kann. A glaubt also, dass er das, was er (wesentlich) ist, nicht allein durch eigene Ttigkeit tatschlich sein kann listischen, nicht-entfremdeten sozialen Ordnung – SaB) mit Hilfe des Entußerungsmodells des Handelns zu konstruieren“ (Lange (1980), 110). Joas interpretiert Marx’ Theorie der menschlichen Produktion als ein normatives Produktionsmodell, nmlich als eine Theorie, die angibt, in welcher Hinsicht Menschen in einer nicht-entfremdeten Welt durch die Bearbeitung der ußeren Natur ihre Wesenskrfte entußern. Seine Behauptung, dass Marx mit der Theorie der menschlichen Produktion „die Verschrnkung der produktiven Ttigkeit aller zu einem produzierenden und sich genießenden Gemeinwesen“ (Joas (1996), 138) thematisiert, scheint aber einen Hinweis darauf zu enthalten, dass Joas sich der Schwierigkeit bewusst ist, jene Theorie allein mit Hilfe des Begriffs der Arbeit als Produktion bzw. als Entußerung von Wesenskrften verstndlich zu machen. Auch A. Honneth behauptet, dass Marx „bereits zu Beginn seines Schaffens der problematischen Tendenz erlegen [sei], das Spektrum der Anerkennungsforderungen auf die Dimension der Selbstverwirklichung in der Arbeit zu reduzieren“ (KA, 231). Honneth kommt dann aber – im Zuge seiner Interpretation der Theorie der menschlichen Produktion – nicht umhin einzurumen, dass Marx „den Akt des Produzierens selbst als einen Prozeß der intersubjektiven Anerkennung konstruier[t]“ (KA, 232) hat. Dass Honneth – im Anschluss an Joas – die Theorie der menschlichen Produktion im Wesentlichen als ein Arbeits- oder Produktionsmodell auffasst, liegt meines Erachtens daran, dass er sich mit seiner Interpretation des Marx’schen Textes auf die Teile „1.“ und „2.“ desselben konzentriert und die Bejahung seiner selbst und des Anderen als Gemeinwesen nicht thematisiert. 376 Siehe oben, Teil II, Kapitel 3.1. 377 AJM, 452.

4 Zusammenfassung und Weiterfhrung

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und deshalb (wesentlich) ergnzungsbedrftig ist. Zudem hat A den Wunsch oder das Bedrfnis, tatschlich das zu sein, was er wesentlich ist. A glaubt, dass B das, was er (wesentlich) ist, nur durch eine spezifische Kooperation mit A tatschlich sein kann. A glaubt also, dass B das, was er (wesentlich) ist, nicht allein durch eigene Ttigkeit tatschlich sein kann und deshalb (wesentlich) ergnzungsbedrftig ist. Zudem glaubt A, dass B den Wunsch oder das Bedrfnis hat, tatschlich das zu sein, was er wesentlich ist. A glaubt, dass diejenige Kooperation, durch die er tatschlich das ist, was er wesentlich ist, dieselbe ist wie diejenige Kooperation, durch die B tatschlich das ist, was er wesentlich ist. A glaubt also, dass das, was er und B wesentlich sind, eine spezifische Kooperation von A und B oder ein spezifisches Wir ist. Zudem glaubt A, dass er und B eben dieses Wir sein mçchten. Die entsprechenden Argumente lassen sich im Fall von B anfhren. Dass B sowohl sich als auch A als Gemeinwesen bejaht, besagt also letztlich Folgendes: B glaubt, dass das, was er und A wesentlich sind, eine spezifische Kooperation von A und B oder ein spezifisches Wir ist, und B glaubt, dass er und A eben dieses Wir sein mçchten. Angesichts dieses Befundes ist es nicht berraschend, dass Marx den Ausdruck „Wesen“ im Singular verwendet, wenn er, bezogen auf die menschliche Produktion, die folgende Feststellung trifft: „Unsere Produktionen wren ebenso viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegenleuchtete.“378 Ist Marx’ Theorie der menschlichen Produktion ein attraktives gesellschaftstheoretisches oder volkswirtschaftliches Modell? Lsst sich mit ihm auf berzeugende Weise eine Kritik an kapitalistischen Marktwirtschaften begrnden? Bevor diese Fragen zufriedenstellend erçrtert werden kçnnen, ist es notwendig, einen Aspekt der Marx’schen Theorie zu betrachten, der bisher nicht in den Blick getreten ist: ihre Kritik an der Hegel’schen Theorie personaler Freiheit. Wie wir sehen werden, ist diese Hegelkritik ein zentrales Anliegen des Mill-Kommentars und hinsichtlich einer Beurteilung der Attraktivitt der Marx’schen Theorie der menschlichen Produktion von großer Bedeutung. 378 AJM, 463.

5 Der Anti-Hegel: menschliche Produktion und personale Freiheit In Marx’ Verstndnis ist ein menschliches Produktionsverhltnis mit der Existenz von personaler Freiheit im Hegel’schen Sinne inkompatibel. Das ist seinem Kommentar Auszge aus James Mills Buch „lmens d’conomie politique“ zu entnehmen. Ohne dies kenntlich zu machen, interpretiert Marx in dieser Schrift die basalen Elemente des Gegenstandes seiner Kritik, nmlich der Nationalçkonomie, unter Bezugnahme auf Hegels Theorie personaler Freiheit, die im Ersten Teil der Grundlinien der Philosophie des Rechts (GPhR) ausgearbeitet ist. Damit gibt Marx zu erkennen, dass er, gleich Hegel379, die Annahme vertritt, dass personale Freiheit sich in einem sozialen Kontext verwirklicht, in dem es die Institutionen des Privateigentums und des marktwirtschaftlichen Tausches gibt. Unter dieser Annahme kritisiert nun Marx personale Freiheit als etwas, was mit der Existenz eines menschlichen Produktionsverhltnisses nicht vereinbar ist. Im Folgenden sollen zunchst diejenigen Elemente von Hegels Theorie des abstrakten Rechts identifiziert werden, auf die sich Marx in seinem Mill-Kommentar stillschweigend bezieht (i). Es wird dann gezeigt werden, dass Marx das, was er fr die „Grundvoraussetzung“380 der Nationalçkonomie hlt, nach Maßgabe von Hegels Theorie personaler Freiheit charakterisiert (ii). Dass Marx Hegels Theorie personaler Freiheit zurckweist, ist im Mill-Kommentar seiner Kritik an der (hegelisch interpretierten) Nationalçkonomie zu entnehmen (iii). Es wird abschließend gezeigt werden, dass Marx’ Kritik an Hegels Theorie personaler Freiheit in einer Beziehung sachlicher bereinstimmung mit anderen seiner berlegungen aus dieser Zeit steht (iv). (i) Hegels Theorie personaler Freiheit wird im Ersten Teil der GPhR, „Das abstrakte Recht“, ausgearbeitet. Im Folgenden seien allein die uns hier interessierenden Teile dieser Theorie punktuell dargestellt.381 379 Siehe unten, Teil II, Kapitel 5, (i). 380 AJM, 459. 381 Mit Hegels Theorie personaler Freiheit werde ich mich weiter unten eingehend befassen. Vgl. Teil III, Kapitel 3.

5 Der Anti-Hegel: menschliche Produktion und personale Freiheit

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1. Die Kategorie der Persçnlichkeit ist der grundlegende Begriff von Hegels berlegungen in „Das abstrakte Recht“. Hegel versteht unter „Persçnlichkeit“ ein Willensverhltnis einer bestimmten Art. Ein menschliches Individuum ist fr Hegel genau dann eine Instantiierung der Struktur der Persçnlichkeit, wenn es sich als ein „abstrakte[s] Ich“382 versteht und bejaht. Diese Bedingung wiederum erfllt es genau dann, wenn es glaubt, unabhngig von Anderen entscheiden zu kçnnen, welche Zwecke es handelnd verfolgt, und ein Mensch sein mçchte, der in diesem Sinne autonom ist. Diesem volitionalen Selbstverhltnis liegt die berzeugung zugrunde, sich zu seinen Wnschen, Interessen und Absichten kritisch verhalten und sich von ihnen distanzieren zu kçnnen.383 Ein Individuum, das die Struktur der Persçnlichkeit instantiiert, ist fr Hegel eine Person. 2. Die Institutionen des Privateigentums und des (marktwirtschaftlichen) Tausches sind in Hegels Verstndnis soziale Verwirklichungen des Willensverhltnisses der Persçnlichkeit. Hegel vertritt die Thesen, dass „[d]ie Person sich eine ußere“, lies: gesellschaftliche, „Sphre ihrer Freiheit geben muß“384, und dass diese Sphre aus Entitten zu bestehen hat, zu denen die Person eine Beziehung unterhlt, die strukturell derjenigen Beziehung gleicht, in der sie als Persçnlichkeit zu sich selbst steht.385 Dieses Kriterium erfllen nach Hegels Auffassung die Institutionen des Privateigentums und des (marktwirtschaftlichen) Tausches.386 So wie eine Person sich als jemanden versteht, der sich von seinen Wnschen, Interessen und Absichten distanzieren und selbst entscheiden kann, welche Zwecke er verfolgt, versteht ein Privateigentmer sich als jemanden, der sich von den von ihm besessenen Dingen trennen und selbst entscheiden kann, welchen Gebrauch er von ihnen macht. Wie Hegel betont, sind Formen des gemeinschaftlichen Eigentums keine mçglichen Institutionalisierungen des Willensverhltnisses der Persçn382 383 384 385

GPhR, § 35, Anm. Vgl. GPhR, § 35. GPhR, § 41. „Die Person muß sich eine ußere Sphre ihrer Freiheit geben, um als Idee zu sein. Weil die Person der an und fr sich seiende unendliche Wille in dieser ersten, noch ganz abstrakten Bestimmung ist, so ist dies von ihm Unterschiedene, was die Sphre seiner Freiheit ausmachen kann, gleichfalls als das von ihm unmittelbar Verschiedene und Trennbare bestimmt.“ (GPhR, § 41) 386 „Es ist durch die Vernunft ebenso notwendig, daß die Menschen in Vertragsverhltnisse eingehen – schenken, tauschen, handeln usf. – als daß sie Eigentum besitzen.“ (GPhR, § 71, Anm.)

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lichkeit.387 Weil eine Person ihre Freiheit als die Berechtigung versteht, „als Einzelner“388 oder unabhngig von Anderen Entscheidungen zu treffen und auszufhren, kann die „ußere Sphre ihrer Freiheit“ als Person nach Hegels Auffassung nicht aus Gtern bestehen, die sich in gemeinschaftlichem Besitz befinden, deren Gebrauch also von den Eigentmern gemeinsam festzulegen ist.389 3. Die soziale Verwirklichung der Struktur der Persçnlichkeit versteht Hegel als die Etablierung eines spezifischen Anerkennungsverhltnisses. Indem menschliche Individuen einander als Personen „respektieren“390 oder rechtlich „anerkennen“391, errichten sie einen sozialen Raum, in dem sie berechtigt sind, Dinge als privates Eigentum zu besitzen und zu tauschen. Zur Bezeichnung dieses sozialen Raumes verwendet Hegel den Ausdruck „das abstrakte Recht“. 4. Personaler Respekt (der sich im abstrakten Recht verwirklicht) ist fr Hegel eine Form von Freiheit. Aus freiheitstheoretischer Perspektive besteht die Bedeutung von Eigentum deshalb nicht darin, Mçglichkeiten der Befriedigung von konsumtiven Bedrfnissen zu erçffnen: „Eigentum zu haben, erscheint in Rcksicht auf das Bedrfnis, indem dieses zum Ersten gemacht, als Mittel; die wahrhafte Stellung aber ist, daß vom Standpunkte der Freiheit aus das Eigentum, als das erste Dasein derselben, wesentlicher Zweck fr sich ist.“392 hnlich argumentiert Hegel mit Bezug auf vertraglich geregelte Transaktionen. Nach seiner Auffassung ist es aus freiheitstheoretischen Grnden „notwendig, daß die Menschen in Vertragsverhltnisse eingehen – schenken, tauschen, handeln usf. –, als daß sie Eigentum besitzen.“393 5. Um Missverstndnissen vorzubeugen, sei betont, dass personale Freiheit im Verstndnis der GPhR nur eine Form von Freiheit neben anderen ist. Da diese Arten von Freiheit jeweils eigene „ußere Sphren“ beanspruchen,394 kann sich menschliche Freiheit nach Hegel nicht 387 Vgl. GPhR, § 46. 388 GPhR, § 46, handschriftliche Bemerkung Hegels. 389 Das schließt nicht aus, dass die Existenz personaler Freiheit Formen von gemeinschaftlichem Besitz voraussetzt. Allerdings ußert sie sich nach Hegels Auffassung nicht in ihnen. 390 „Das Rechtsgebot ist daher: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.“ (GPhR, § 36) Vgl. auch GPhR, § 209 ff. 391 GPhR, § 71, Anm. 392 GPhR, § 45, Anm. 393 GPhR, § 71, Anm. 394 Siehe unten, Teil III.

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allein durch die rechtliche Sicherung der Institutionen des Privateigentums und des marktwirtschaftlichen Tausches verwirklichen. Andererseits ist personale Freiheit ein Aspekt von menschlicher Freiheit. Deshalb kann sich Freiheit in Hegels Verstndnis nur in Staaten verwirklichen, in denen es auch einen Schutz gewisser Arten von Privateigentum und Mrkten gibt. Hiermit ist eine der Funktionen genannt, die aus Sicht der GPhR die sogenannte brgerliche Gesellschaft zu erfllen hat. (ii) Dass Marx die Nationalçkonomie in ihren Grundzgen gemß der Hegel’schen Theorie des abstrakten Rechts beschreibt, ist den folgenden Stellen seines Mill-Kommentars zu entnehmen: „Die Nationalçkonomie – wie die wirkliche Bewegung – geht aus von dem Verhltnis des Menschen zum Menschen, als dem des Privateigentmers zum Privateigentmer. Wenn der Mensch als Privateigentmer vorausgesetzt wird, d. h. also als exklusiver Besitzer, der durch diesen exklusiven Besitz seine Persçnlichkeit bewhrt und sich vom andern Menschen unterscheidet, wie auf sie bezieht – das Privateigentum ist sein persçnliches, sein ihn auszeichnendes, darum sein wesentliches Dasein […].“395 „Der Mensch – dies ist die Grundvoraussetzung des Privateigentums – produziert nur, um zu haben. Der Zweck der Produktion ist das Haben. Und nicht nur hat die Produktion einen solchen ntzlichen Zweck; sie hat einen eigenntzigen Zweck; der Mensch produziert nur, um fr sich zu haben […].“396

Als Privateigentmer stehen Menschen in einer Beziehung „wechselseitiger Anerkennung“: „Das Maß der Macht, welche ich meinem Gegenstand ber deinen einrume, bedarf allerdings, um zu einer wirklichen Macht zu werden, deiner Anerkennung.“397 Demnach behauptet Marx, dass die Nationalçkonomie den Menschen als Privateigentmer versteht, nmlich als ein Individuum, das „seine Persçnlichkeit“ durch seinen „exklusiven Besitz […] bewhrt“. Dementsprechend sei das Privateigentum aus Sicht der Nationalçkonomie ein den Privateigentmer „auszeichnendes, darum sein wesentliches Dasein“. Unter diesen Annahmen ist es ohne Weiteres verstndlich, warum die Vertreter der Nationalçkonomie, wiederum nach Marx, der Auffassung seien, dass „der Mensch [nur] produziert, um fr sich zu haben“ – ist doch „das Haben“ als eine Verwirklichung der Struktur der Persçnlichkeit bzw. des „wesentlichen Dasein[s]“ der Menschen anzusehen. Schließlich be395 AJM, 452. 396 AJM, 459. 397 AJM, 460.

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schreibt Marx das Verhltnis der Privateigentmer zueinander als eine Beziehung „wechselseitiger Anerkennung“, durch die jeder „sich vom andern Menschen unterscheidet, wie auf sie bezieht“, und auch die Bildung von Preisen unter marktwirtschaftlichen Bedingungen („das Maß der Macht […]“) versteht er als einen Anerkennungsprozess. Nach meinem Wissen hat kein Vertreter der klassischen konomie die Institution des Privateigentums in der von Marx behaupteten Art und Weise charakterisiert oder bestimmt. Allgemein gesprochen, interessiert sich die Nationalçkonomie fr Gter unter den Gesichtspunkten ihres (konsumtiven, produktiven oder investiven) Gebrauchs, ihres Nutzens und ihres Wertes, und eigentumsrechtliche Fragen stellen sich fr sie im Kontext der Analyse von preislichen Entwicklungen.398 Dass Privateigentmer in ihrem jeweiligen exklusiven Besitz ihre Persçnlichkeit bewhren; dass sie zueinander in einer Anerkennungsbeziehung stehen; dass sie sich zugleich aufeinander beziehen und voneinander unterscheiden399 ; dass sie nur deshalb produzieren, um fr sich zu haben, sind demgegenber Aussagen Hegel’scher Herkunft. Indem Marx sie vertritt, folgt er im Wesentlichen der oben in den Punkten 1 bis 4 zusammengefassten Argumentation Hegels. Zwar behauptet Marx, dass Hegel auf dem Standpunkt der Nationalçkonomie steht, tatschlich vertritt er aber die Auffassung, dass die Nationalçkonomie auf dem Standpunkt der Hegel’schen Philosophie steht. Wie seinem (bisher noch nicht bercksichtigten) Einschub „wie die wirkliche Bewegung“ zu entnehmen ist, vertritt Marx ferner die Auffassung, dass die Realitt der brgerlich-kapitalistischen Gesellschaften der (in ihren Grundzgen hegelisch interpretierten) nationalçkonomischen 398 Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: In Der Wohlstand der Nationen erçrtert Adam Smith das Zunftwesen allein unter der Frage, welchen Einfluss Znfte auf die Hçhe von Arbeitslçhnen sowie der Preise von Gtern haben. Vgl. Smith (1999), 103 – 125. (Demgegenber interessiert sich Hegel fr Znfte und Korporationen primr unter dem Aspekt ihres Beitrags zur Etablierung sittlicher Verhltnisse. Vgl. GPhR, §§ 250 – 256.) 399 Mçglicherweise bezieht sich Marx mit dieser Formulierung auf § 182 der GPhR, der Hegels Analyse der brgerlichen Gesellschaft erçffnet. Er lautet: „Die konkrete Person, welche sich als besondere Zweck ist, als ein Ganzes von Bedrfnissen und eine Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkr, ist das eine Prinzip der brgerlichen Gesellschaft, – aber die besondere Person als wesentlich in Beziehung auf andere solche Besonderheit, so daß jede durch die andere und zugleich schlechthin nur als durch die Form der Allgemeinheit, das andere Prinzip, vermittelt sich geltend macht und befriedigt.“

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Theorie ,entspricht‘. Eine Kritik dieser Theorie ist deshalb fr Marx zugleich eine Kritik an jenen Gesellschaften.400 (iii) Welches sachliche Interesse hat der unter (ii) herausgearbeitete ideengeschichtliche Befund? Meines Erachtens gibt er zu erkennen, dass Marx die (von Hegel vertretene) Auffassung teilt, nach der sich personale Freiheit in einem sozialen Kontext verwirklicht, in dem es die Institutionen des privaten Eigentums und des marktwirtschaftlichen Tausches gibt. Da nun Marx diese Institutionen fr unvereinbar mit der fr menschliche Produktionsverhltnisse charakteristischen bedrfnisorientierten Gterverteilung hlt,401 ist es nur folgerichtig, dass er auch der Ansicht ist, dass personale Freiheit den Erfordernissen einer menschlichen Produktion widerspricht. Dass Marx diese Auffassung tatschlich vertritt, zeigt seine Kritik an der (hegelisch interpretierten) Nationalçkonomie, hinsichtlich derer der folgende Auszug des Mill-Kommentars entscheidend ist: „Wenn ich mehr produziere, als ich unmittelbar selbst von dem produzierten Gegenstand brauchen kann, so ist meine Mehrproduktion auf dein Bedrfnis berechnet, raffiniert. Ich produziere nur dem Schein nach ein Mehr von diesem Gegenstand. Ich produziere der Wahrheit nach einen andren Gegenstand, den Gegenstand deiner Produktion, den ich gegen dies Mehr auszutauschen gedenke, ein Austausch, den ich in Gedanken schon vollzogen habe. Die gesellschaftliche Beziehung, in der ich zu dir stehe, meine Arbeit fr dein Bedrfnis ist daher auch ein bloßer Schein, und unsere wechselseitige Ergnzung ist ebenfalls ein bloßer Schein, dem die wechselseitige Plnderung zur Grundlage dient. Die Absicht der Plnderung, des Betrugs liegt notwendig im Hinterhalt, denn da unser Austausch ein eigenntziger ist, von deiner wie meiner Seite, da jeder Eigennutz den fremden zu berbieten sucht, so suchen wir uns notwendig zu betrgen. Das Maß der Macht, welche ich meinem Gegenstand ber deinen einrume, bedarf allerdings, um zu einer wirklichen Macht zu werden, deiner Anerkennung. Unsere wechselseitige Anerkennung ber die wechselseitige Macht unserer Gegenstnde ist aber ein Kampf, und im Kampf siegt, wer mehr Energie, Kraft, Einsicht oder Gewandtheit besitzt. Reicht die physische Kraft hin, so plndere ich dich direkt. Ist das Reich der physischen Kraft gebrochen, so suchen wir uns wechselseitig einen Schein vorzumachen und der Gewandteste bervorteilt den andern. Wer den andern bervorteilt, ist fr das Ganze des Verhltnisses ein Zufall. Die ideelle, gemeinte bervorteilung findet auf beiden Seiten statt, d. h. jeder der beiden hat in seinem eignen Urteil den andren bervorteilt.“402

400 Allerdings wird das Verhltnis zwischen der nationalçkonomischen Theorie und der kapitalistischen Gesellschaftsordnung von ihm nicht explizit bestimmt. 401 Siehe oben, Teil II, Kapitel 3.2. 402 AJM, 460 f.

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Auch ohne eine eingehende Analyse dieser Textstelle lsst sich die ,Stoßrichtung‘ der Marx’schen Argumentation benennen. Offenbar versucht Marx zu zeigen, dass dasjenige Anerkennungsverhltnis, welches nach Hegel fr die Sphre des abstrakten Rechts konstitutiv ist, tatschlich nichts anderes als eine Konstellation des Kampfes egoistischer, ihre Macht mehren wollender Individuen sei und deshalb nicht wirklich – sondern nur scheinbar – einen normativen Gehalt habe. Diese Auffassung begrndet Marx mit der These, dass jede der an einem marktwirtschaftlichen Tausch beteiligten Personen „[d]ie Absicht der Plnderung, des Betrugs“ der jeweils anderen Parteien habe. Deshalb sei ihre „wechselseitige Anerkennung“ tatschlich nichts anderes als „ein Kampf, und im Kampf siegt, wer mehr Energie, Kraft, Einsicht oder Gewandtheit besitzt“. Dementsprechend sei die rechtliche Anerkennung der Tauschpartner als Personen eine (gesellschaftliche) Tuschung, mit der sie sich „wechselseitig einen Schein vorzumachen [suchen]“. Treffen diese Argumente zu, dann sind brgerlich-kapitalistische Gesellschaften ideologisch verblendete Hobbes’sche Naturzustnde: „Reicht die physische Kraft hin, so plndere ich dich direkt. Ist das Reich der physischen Kraft gebrochen, so suchen wir uns wechselseitig einen Schein vorzumachen und der Gewandteste bervorteilt den andern.“403

Demnach akzeptiert Marx Hegels These, dass marktwirtschaftliche Transaktionen spezifische Anerkennungsverhltnisse sind, und er kritisiert Hegel, indem er diese Anerkennungsverhltnisse als reine Machtverhltnisse zu ,dechiffrieren‘ versucht. Wie aber begrndet Marx diese Kritik? Genau genommen, sttzt er sich im vorliegenden Zusammenhang allein auf seine Kritik am „Eigennutz“, die sich ihrerseits aus seiner Konzeption des menschlichen Gemeinwesens ergibt.404 Nach Marx gilt: Wann immer Akteure ihren eigenen Vorteil bezwecken (und nicht das Wohl Anderer oder einer Gruppe von Menschen, der sie selbst angehçren), haben sie „[d]ie Absicht der Plnderung, des Betrugs“ der Anderen – „denn da unser Austausch ein eigenntziger ist, von deiner wie meiner Seite, da jeder Eigennutz den fremden zu berbieten sucht, so suchen wir uns notwendig zu betrgen“ (meine Hervorhebung – SaB). Und wann immer Akteure 403 Damit stellt Marx genau diejenige normative Differenz in Abrede, welche die aktuelle Forschung zwischen der Hegel’schen Anerkennungstheorie einerseits und der Hobbes’schen Anthropologie und Staatstheorie andererseits herausgestellt hat. Vgl. Siep (1974), KA und Ricœur (2004). 404 Siehe oben, Teil II, Kapitel 3.2.

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einander auf diese Weise „zu betrgen“ versuchen, ist ihre „wechselseitige Ergnzung“, die sie als Gemeinwesen zu leisten haben, „ein bloßer Schein“. Bei Anwendung dieses (nach Marx’ Auffassung anthropologischen) Maßstabs ist es in der Tat irrelevant, ob Menschen, die ihren eigenen Vorteil bezwecken, dies im Rahmen einer sozialen Praxis wechselseitiger personaler Anerkennung tun oder nicht. Nach Maßgabe dessen, was Marx als ihr („wahres“) Menschsein ansieht, wrden also die Angehçrigen eines Apartheid-Regimes ebenso wie die Mitglieder einer brgerlich-kapitalistischen Gesellschaft eine Verwirklichung ihres „menschlichen Wesens“ verfehlen. Marx-kritisch ist an dieser Stelle zweierlei zu bemerken: 1. Marx’ Kritik am „Eigennutz“ entspricht nicht den normativen Vorstellungen (der Mitglieder) moderner westlicher Gesellschaften. Wie etwa der grundgesetzlich verankerte Schutz der „Privatautonomie“ zeigt, wird das, was Hegel mit „personale Freiheit“ bezeichnet, in diesen Gesellschaften als ein wichtiges Gut angesehen.405 Wenngleich es auch unter dieser Perspektive sozial bedenkliche Formen von Eigennutz gibt,406 ist nicht jedes Verhalten, mit dem ein Akteur seinen eigenen Vorteil bezweckt, (gesellschaftlich und/oder anthropologisch) problematisch. Folglich sttzt sich Marx’ Kritik an Hegels Konzeption personaler Freiheit auf eine Theorie des Menschen (als Gemeinwesen), die von den Brgern moderner westlicher Gesellschaften nicht geteilt wird. 2. Marx’ Behauptung „Reicht die physische Kraft hin, so plndere ich dich direkt. Ist das Reich der physischen Kraft gebrochen, so suchen wir uns wechselseitig einen Schein vorzumachen und der Gewandteste bervorteilt den andern“ bedarf einer sozialwissenschaftlichen ,Absicherung‘. Es wre zu zeigen, dass die rechtliche Anerkennung der Menschen als Personen tatschlich etwas ist, was im Zuge der Ausbung von Macht etabliert und aufgehoben wird (werden kann). Ein solcher Nachweis kann sich aber nicht auf rein begriffliche Erwgungen – wie die von Marx angestellten – sttzen.407 Halten wir fest: Whrend personale Freiheit fr Hegel ein Aspekt menschlicher Freiheit ist (und folglich in einem „vernnftigen“, Freiheit realisierenden Gemeinwesen institutionalisiert sein muss), ist sie in Marx’ Verstndnis ein Ausdruck des Machtstrebens egoistischer Akteure und der 405 Hierauf werde ich zurckkommen. Vgl. Teil III, Kapitel 3.5. 406 Das zeigt z. B. die çffentliche Diskussion der gegenwrtigen Weltfinanzkrise. 407 Die Frage, ob Marx diesen Nachweis in einer spteren Schrift fhrt, muss hier offen bleiben.

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Verkennung des „wahren“ menschlichen Wesens. In puncto personale Freiheit steht die Marx’sche Theorie der menschlichen Produktion also in einer Beziehung der Diskontinuitt zur Hegel’schen Sozialphilosophie. (iv) Marx’ Zurckweisung von Hegels Theorie personaler Freiheit stimmt sachlich berein mit seiner Kritik an den 1793 erklrten Menschenrechten und der diesen zugrunde liegenden Freiheitskonzeption. Mit diesen Themen befasst sich Marx in dem Ende 1843 geschriebenen Manuskript Zur Judenfrage, einer Auseinandersetzung mit Bruno Bauers Abhandlung zu diesem Thema.408 Zur Begrndung der oben genannten These sei ein lngerer Auszug aus Marx’ Manuskript wiedergegeben. „Vor allem konstatieren wir die Tatsache, daß die sogenannten Menschenrechte, die droits de l’homme im Unterschied von den droits du citoyen, nichts anderes sind als die Rechte des Mitglieds der brgerlichen Gesellschaft, d. h. des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen. […] Worin besteht die libert? 409 […] Die Freiheit ist also das Recht, alles zu tun und zu treiben, was keinem andern schadet. Die Grenze, in welcher sich jeder dem andern unschdlich bewegen kann, ist durch das Gesetz bestimmt, wie die Grenze zweier Felder durch den Zaunpfahl bestimmt ist. Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurckgezogener Monade. […] [D]as Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen. Es ist das Recht dieser Absonderung, das Recht des beschrnkten, auf sich beschrnkten Individuums. Die praktische Nutzanwendung des Menschenrechtes der Freiheit ist das Menschenrecht des Privateigentums. Worin besteht das Menschenrecht des Privateigentums?410 […] Das Menschenrecht des Privateigentums ist also das Recht, willkrlich ( son gr), ohne Beziehung auf andre Menschen, unabhngig von der Gesellschaft, sein Vermçgen zu genießen und ber dasselbe zu disponieren, das Recht des Eigennutzes. Jene individuelle Freiheit, wie diese Nutzanwendung derselben, bilden die Grundlage der brgerlichen Gesellschaft. Sie lßt jeden Menschen im andern Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden.“411

408 Vgl. Bauer (1843). Vgl. zu Bauer auch Moggach (2003). 409 Marx bezieht sich hier auf den Artikel 6 der Verfassung von 1793, der den folgenden Wortlaut hat: „La libert est le pouvoir qui appartient l’homme de faire tout ce qui ne nuit pas aux droits d’autrui.“ (Zitiert nach: ZJ, 364.) 410 Marx bezieht sich hier auf den Artikel 16 der Verfassung von 1793; er lautet: „Le droit de proprit est celui qui appartient tout citoyen de jouir et de disposer son gr de ses biens, de ses revenus, du fruit de son travail et de son industrie.“ (Zitiert nach: ZJ, 365.) 411 ZJ, 364 f.

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Und Marx ergnzt: „Die Konstitution des politischen Staats und die Auflçsung der brgerlichen Gesellschaft in die unabhngigen Individuen – deren Verhltnis das Recht ist, wie das Verhltnis des Standes- und Innungsmenschen das Privilegium war – vollzieht sich in einem und demselben Akte.“412

Marx kritisiert die in der franzçsischen Verfassung von 1793 deklarierten Menschenrechte und die durch sie geschtzten Freiheiten, weil sie nicht „auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen“, sondern im Gegenteil „auf der Absonderung des Menschen von den Menschen“ beruhten. In Marx’ Verstndnis (und Terminologie) gelten sie also nicht dem Menschen als „Gemeinwesen“ oder „totale[m] Wesen“, sondern ihm als „besondre[m] Wesen“413. Das ist deshalb der Fall, weil sie dem einzelnen Menschen „das Recht [geben], willkrlich, ohne Beziehung auf andre Menschen, unabhngig von der Gesellschaft“ zu entscheiden, welche Zwecke er verfolgen mçchte – solange er die gleichen Rechte der anderen Menschen respektiert. Diese Form von Freiheit – die, wie gesehen, im Wesentlichen das ist, was Hegel mit „personale Freiheit“ bezeichnet – weist Marx als „die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurckgezogener Monade“ zurck. In seinem Urteil ist sie nmlich nichts anderes als „das Recht des Eigennutzes“ bzw. „des egoistischen Menschen“. Offenbar zieht Marx aus dieser berlegung den Schluss, dass die Etablierung individualrechtlicher Verhltnisse eine Realisierung des menschlichen Gemeinwesens unmçglich macht. Wenn die Menschen einander auf der Grundlage individueller rechtlicher Ansprche begegnen, so argumentiert Marx, bilden sie eine Gesellschaft, die in „unabhngige Individuen“ zerfllt.414 Eine solche Gesellschaft aber kçnne die Bedingungen der Verwirklichung des menschlichen Gemeinwesens nicht erfllen.415

412 ZJ, 369. 413 Siehe oben, Teil II, Kapitel 3.3. 414 Eine Prfung der Richtigkeit dieser These wrde eine Klrung der Frage voraussetzen, in welchem Sinne die Brger der von Marx kritisierten Gesellschaft unabhngig sind und/oder zu sein glauben. Sie liegt außerhalb der Grenzen der hier gefhrten Untersuchung. 415 Wenn „das Verhltnis des Rechts“ tatschlich eine Verwirklichung des menschlichen Gemeinwesens unmçglich macht, darf in einer gemß der Theorie der menschlichen Produktion eingerichteten Gesellschaft auch die Allgemeinheit/das Kollektiv/der Staat keine rechtlichen Ansprche gegenber dem Brger haben. In Marx’ Verstndnis wre die Existenz solcher Rechte nmlich eine hinreichende Bedingung der „Konstitution [eines] politischen Staates“, der von seinen Brgern

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Es hat sich gezeigt, dass Marx’ Kritik an den 1793 erklrten Menschenrechten sich sachlich in bereinstimmung mit seiner Kritik an der (hegelisch interpretierten) Nationalçkonomie befindet. Sowohl in seiner Schrift Zur Judenfrage als auch in seinem Mill-Kommentar weist Marx das, was Hegel mit „personale Freiheit“ bezeichnet, zurck, weil es mit der Realisierung des „wahren Wesens“ der Menschen unvereinbar sei.

„unabhngig“ ist. Wie soeben bemerkt, setzt eine Prfung der Richtigkeit dieser These eine genauere Bestimmung ihres sachlichen Gehalts voraus.

6 Die Theorie der menschlichen Produktion als gesellschaftliches und volkswirtschaftliches Modell Ist die Theorie der menschlichen Produktion in çkonomietheoretischer Hinsicht ein attraktives Modell? In diesem Zusammenhang ist zunchst zu klren, ob sie eine Beantwortung der im Folgenden genannten, volkswirtschaftlich grundlegenden416 Fragen ermçglicht: 1. Was soll produziert werden? 2. Fr wen soll produziert werden? 3. Wer soll produzieren? 4. Wie soll produziert werden? Sofern man von den – bereits oben417 als volkswirtschaftlich problematisch kritisierten – Thesen absieht, dass die Angehçrigen von menschlichen Produktionsverhltnissen einander als „notwendige Teile“ ihrer selbst ansehen, lassen sich die obigen vier Fragen mit den Mitteln der Theorie der menschlichen Produktion beantworten. Klarerweise ist Frage 1 auf der Grundlage der konsumtiven und produktiven Bedrfnisse418 der Angehçrigen menschlicher Produktionsverhltnisse zu beantworten; nach Marx’ Auffassung sind also diejenigen konsumtiven und produktiven Gter herzustellen, die eine optimale Befriedigung der (aktuellen und knftigen) konsumtiven und produktiven Bedrfnisse jener Menschen sicherstellen. Marx’ Konzeption der bedrfnisorientierten Gterverteilung ermçglicht ohne Weiteres eine Beantwortung von Frage 2; im Kontext einer menschlichen Produktion sind konsumtive Gter fr diejenigen Menschen zu produzieren, welche die entsprechenden (konsumtiven) Bedrfnisse haben. Da die Menschen hier zudem das Bedrfnis haben, freinander Gter herzustellen, und da menschliche Produktionsverhltnisse einer Erfllung auch dieser Bedrfnisse verpflichtet sind, lsst sich 416 Samuelson & Nordhaus (1987), Bd. 1, 59 f. 417 Vgl. Teil II, Kapitel 3.3. 418 Mit dem Ausdruck „produktives Bedrfnis“ beziehe ich mich auf das Bedrfnis der Mitglieder menschlicher Produktionsverhltnisse, ihr „menschliches Wesen“ und ihre „Individualitt“ in ihrer Arbeit zu verwirklichen. Siehe oben, Teil II, Kapitel 3.1.

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auch Frage 3 beantworten: In sozialen Kontexten der in Rede stehenden Art sind mçglichst alle Menschen an der Produktion der bençtigten Gter zu beteiligen. Darber hinaus ist deren Produktion so einzurichten, dass mçglichst viele Menschen in ihrer Arbeit ihre Individualitt vergegenstndlichen kçnnen; dieses Kriterium, das eine Beantwortung von Frage 4 ermçglicht, hat sich ja bereits im Zuge der Erçrterung von Frage 1 ergeben. Nun ist es denkbar, dass die Theorie der menschlichen Produktion unter Knappheitsbedingungen angewendet wird. Aufgrund der bestehenden Produktionsmçglichkeiten und/oder des bestehenden Gterbedarfs ist es beispielsweise419 mçglich, dass nicht alle konsumtiven Bedrfnisse befriedigt werden kçnnen; dass nicht alle Menschen ihre Individualitt in ihrer Arbeit vergegenstndlichen kçnnen; dass nicht alle Menschen sowohl ihre Individualitt vergegenstndlichen als auch ihre konsumtiven Bedrfnisse befriedigen kçnnen; oder dass nicht alle Menschen an der Produktion beteiligt werden kçnnen. Unter diesen Bedingungen stellen sich fr die Theorie der menschlichen Produktion die folgenden Verteilungsfragen: 1. Welche konsumtiven und produktiven Bedrfnisse sind durch entsprechende Gterproduktionen zu befriedigen? 2. Fr wen soll produziert werden? 3. Wer soll in seiner Arbeit die eigene Individualitt vergegenstndlichen? 4. Wer soll sich an der Produktion beteiligen? Wie die weiter unten wiedergegebenen berlegungen Engels’ aus dem Jahre 1847 belegen, waren Marx und Engels420 offenbar der Meinung, dass die oben genannten Fragen sich in einem postkapitalistischen, menschlichen Produktionszusammenhang nicht stellen wrden. Sie gingen offenbar davon aus, dass sich die Produktionsmçglichkeiten im Zustand der menschlichen Produktion so stark erweitern wrden, dass alle Menschen ihre konsumtiven Bedrfnisse vollstndig befriedigen und ihre Individualitt in ihrer Arbeit vergegenstndlichen kçnnen. Da sich hier auch die konsumtiven Bedrfnisse der Menschen mehren wrden, gebe es ferner keine Gefahr einer berproduktion bzw. einer Knappheit der zu befriedigenden konsumtiven Bedrfnisse.421 Engels schreibt: 419 Mit den folgenden Bemerkungen wird also nicht beansprucht, alle mçglichen Flle von Knappheit zu diskutieren. 420 Es wird hier unterstellt, dass auch Marx die von Engels geußerte Auffassung vertrat. 421 Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass Hegel einige Jahre zuvor die berproduktion als das Kardinalproblem der brgerlichen Gesellschaft aufgefasst hat. Vgl. GPhR, § 245.

6 Die menschliche Produktion als gesellschaftliches und wirtschaftliches Modell

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„Statt Elend herbeizufhren, wird die berproduktion ber die nchsten Bedrfnisse der Gesellschaft hinaus die Befriedigung der Bedrfnisse aller sicherstellen, neue Bedrfnisse und zugleich die Mittel, sie zu befriedigen, erzeugen. Sie wird die Bedingung und Veranlassung neuer Fortschritte sein, sie wird diese Fortschritte zustande bringen, ohne daß dadurch, wie bisher, jedesmal die Gesellschaftsordnung in Verwirrung gebracht werde. Die große Industrie, befreit von dem Druck des Privateigentums, wird sich in einer Ausdehnung entwickeln, gegen die ihre jetzige Ausbildung ebenso kleinlich erscheint wie die Manufaktur gegen die große Industrie unserer Tage. Diese Entwickelung der Industrie wird der Gesellschaft eine hinreichende Masse von Produkten zur Verfgung stellen, um damit die Bedrfnisse aller zu befriedigen. […] Auf diese Weise wird die Gesellschaft Produkte genug hervorbringen, um die Verteilung so einrichten zu kçnnen, daß die Bedrfnisse aller Mitglieder befriedigt werden. […] Ebenso wie die Bauern und Manufakturarbeiter des vorigen Jahrhunderts ihre ganze Lebensweise vernderten und selbst ganz andere Menschen wurden, als sie in die große Industrie hineingerissen wurden, ebenso wird der gemeinsame Betrieb der Produktion durch die ganze Gesellschaft und die daraus folgende neue Entwickelung der Produktion ganz andere Menschen bedrfen und auch erzeugen. Der gemeinsame Betrieb der Produktion kann nicht durch Menschen geschehen wie die heutigen, deren jeder einem einzigen Produktionszweig untergeordnet, an ihn gekettet, von ihm ausgebeutet ist, deren jeder nur eine seiner Anlagen auf Kosten aller anderen entwickelt hat, nur einen Zweig oder nur den Zweig eines Zweiges der Gesamtproduktion kennt. Schon die jetzige Industrie kann solche Menschen immer weniger gebrauchen. Die gemeinsam und planmßig von der ganzen Gesellschaft betriebene Industrie setzt vollends Menschen voraus, deren Anlagen nach allen Seiten hin entwickelt sind, die imstande sind, das gesamte System der Produktion zu berschauen. Die durch die Maschinen schon jetzt untergrabene Teilung der Arbeit, die den einen zum Bauern, den anderen zum Schuster, den dritten zum Fabrikarbeiter, den vierten zum Bçrsenspekulanten macht, wird also gnzlich verschwinden. Die Erziehung wird die jungen Leute das ganze System der Produktion rasch durchmachen lassen kçnnen, sie wird sie instand setzen, der Reihe nach von einem zum anderen Produktionszweig berzugehen, je nachdem die Bedrfnisse der Gesellschaft oder ihre eigenen Neigungen sie dazu veranlassen.“422

Demnach vertritt Engels in der Tat die These, dass die Menschen in einem postkapitalistischen, menschlichen Produktionszusammenhang sowohl gemß „ihren eigenen Neigungen“ arbeiten als auch ihre konsumtiven Bedrfnisse befriedigen kçnnen. Zudem wird es nach seiner Auffassung im Zustand der menschlichen Produktion keine berproduktion geben, weil die Menschen hier „neue Bedrfnisse“ und mithin einen Bedarf fr die von ihnen hergestellten Gter entwickeln werden. Unter diesen Annahmen 422 Engels (1985), 375 f.

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aber stellen sich die oben genannten Verteilungsfragen nicht,423 so dass eine Anwendung der Theorie der menschlichen Produktion unproblematisch wre. Allerdings, so ist hier einzuwenden, sind Engels’ berlegungen problematisch – was z. B. daran zu sehen ist, dass er Fragen, welche die Hçhe von Informations- und Transaktionskosten in einer „planmßig von der ganzen Gesellschaft“ eingerichteten Gesellschaft betreffen, gar nicht erçrtert, und dass er Annahmen bezglich der beruflichen „Erziehung“ der Menschen vertritt, die offenkundig unplausibel sind. Angesichts dieser Defizite ist zu fragen, ob die Marx’sche Theorie der menschlichen Produktion zufriedenstellende Antworten auf unsere obigen Verteilungsfragen geben kann. Zu diesem Zweck ist zunchst die Plausibilitt ihrer anthropologisch-essentialistischen Annahmen zu prfen. Wie wir sehen werden, sind es gerade diese Annahmen, welche eine praktikable und akzeptable Beantwortung jener Fragen behindern. Wie gesehen, zhlt Marx zu denjenigen Bedrfnissen, die seines Erachtens Bestandteile des menschlichen Wesens sind, die folgenden: das Bedrfnis, die eigene Individualitt im Rahmen von gesellschaftlicher Arbeit zu vergegenstndlichen; das Bedrfnis, von Anderen in einer bestimmten Absicht hergestellte Gter zu konsumieren; das Bedrfnis, fr andere Menschen in einer bestimmten Absicht Gter zu produzieren; sowie das Bedrfnis, mit beliebigen anderen Menschen ein Gemeinwesen zu bilden. Warum aber, so ist zu fragen, sind gerade diese Bedrfnisse und ihre Befriedigung Bestandteile des menschlichen Wesens? Soweit ich sehe, wird diese Frage von Marx weder gestellt noch beantwortet. Dieser Umstand ist deshalb besonders misslich, weil sich die These, dass die Menschen die oben genannten Bedrfnisse haben, nur zum Teil empirisch belegen lsst. Wohl niemand wrde bestreiten, dass die allermeisten Menschen ein Bedrfnis nach gesellschaftlich hergestellten konsumtiven Gtern haben, und auch fr die These, dass Menschen (zumindest in bestimmten geschichtlichen Epochen, beispielsweise der Moderne) das Bedrfnis haben, so etwas wie eine Individualitt zu entwickeln und zu ußern424, drften sich starke Belege anfhren lassen. Fragwrdig scheint demgegenber die 423 Vom Rawls’schen Standpunkt ist eine solche Gesellschaft deshalb „jenseits der Gerechtigkeit. Damit ist gemeint, dass die Verhltnisse, die das Problem der Verteilungsgerechtigkeit entstehen lassen, berwunden sind, so dass sich die Brger in ihrem Alltag nicht damit zu befassen brauchen und auch gar nicht dafr interessieren.“ (Rawls (2008), 464.) 424 Diesen Aspekt der Moderne hat Charles Taylor zu Recht herausgestellt. Siehe oben, Teil I, Kapitel 4.1, (ii).

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allgemeine Behauptung zu sein, dass Menschen das Bedrfnis haben, im Kontext einer Auseinandersetzung mit (oder sogar durch die Produktion von) materiellen Gegenstnden ihre Individualitt zu vergegenstndlichen – vermutlich werden einige Menschen der Meinung sein, ihre Individualitt auf diesem Wege nicht oder nur zum Teil verwirklichen zu kçnnen. Schließlich drfte sich die These, dass Menschen das Bedrfnis haben, durch eine spezifische wirtschaftliche Kooperation mit anderen Menschen ein Gemeinwesen zu bilden, empirisch kaum sttzen lassen. Letzteres gibt Marx selbst zu verstehen, wenn er behauptet, dass der „Eigennutz“ ein zentrales Element, ja, das Charakteristikum der (Motivationsstruktur der) Mitglieder von kapitalistischen Gesellschaften sei.425 Auch Engels’ These, dass eine postkapitalistische Gesellschaft „ganz andere Menschen […] erzeugen“ werde, ist ein starkes Indiz fr den utopischen Charakter des (vermeintlichen) menschlichen Bedrfnisses, mit beliebigen Anderen durch eine spezifische wirtschaftliche Kooperation ein Gemeinwesen zu bilden. Doch selbst wenn sich zeigen ließe, dass die von Marx genannten Bedrfnisse den Menschen tatschlich zukommen, wre (unter anderem) zu fragen, warum gerade sie (und nicht andere Bedrfnisse, welche diese Menschen ebenfalls haben) das menschliche Wesen ausmachen. Marx’ essentialistische Argumentation ist aus heutiger Sicht problematisch, weil sie unserem Selbstverstndnis als autonome Individuen nicht angemessen Rechnung trgt. Kraft dieses Selbstverstndnisses halten sich Menschen grundstzlich fr befhigt und berechtigt, sich zu ihren Bedrfnissen zu verhalten, sie zu bewerten und selbst zu entscheiden, welche von ihnen sie erfllen mçchten. In einem sozialen Raum, der gemß den Grundstzen der Theorie der menschlichen Produktion strukturiert ist, kçnnen die Menschen aber lediglich ußern, welche konsumtiven Bedrfnisse426 und produktiven „Neigungen“ sie haben und verwirklichen mçchten. Demgegenber haben sie, wie gesehen, keine rechtlichen Ansprche auf den Erwerb von Konsumgtern oder die Verwirklichung ihrer Individualitt, und sie haben auch keine institutionell gesicherte Mçglichkeit, sich kritisch zu denjenigen Bedrfnissen zu verhalten, die ihnen nach Marx wesentlich sind: das Bedrfnis, die eigene Individualitt durch die Verrichtung von gesellschaftlicher Arbeit zu entfalten; das Bedrfnis, fr Andere Gter zu 425 Siehe oben, Teil II, Kapitel 3.2. 426 Vor dem Hintergrund von Engels’ obigen Ausfhrungen, so ist zu beachten, wren asketische Lebensweisen in einer gemß den Grundstzen der Theorie der menschlichen Produktion strukturierten Gesellschaft problematisch.

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produzieren; und das Bedrfnis, mit beliebigen anderen Menschen ein Gemeinwesen zu bilden. Dass es sich hierbei nicht um ein Defizit handelt, das durch eine entsprechende Ergnzung der Marx’schen Theorie behoben werden kçnnte, macht Marx’ Kritik an Hegels Theorie personaler Freiheit deutlich. Wenn – wie Marx behauptet – die Anerkennung dieser Art von Freiheit, ja, die Zuschreibung individueller, einklagbarer Ansprche („Rechte“) mit der Realisierung des menschlichen Gemeinwesens unvereinbar ist, dann ist es in der Tat nicht mçglich, die Theorie der menschlichen Produktion so zu ,erweitern‘, dass sie unserem Selbstverstndnis als autonome Individuen entspricht. Vielmehr wrde eine solche Maßnahme eine substantielle Modifikation der Marx’schen Theorie des menschlichen Wesens erforderlich machen. Es ist nun mçglich, unsere Untersuchung des çkonomietheoretischen Gehalts der Theorie der menschlichen Produktion wieder aufzunehmen und abzuschließen. Wie gesehen, kçnnen auch in einem sozialen Raum, der gemß den Grundstzen dieser Theorie eingerichtet ist, Knappheitsprobleme auftreten. Folglich ist zu fragen, wie diese Probleme vom Standpunkt der Theorie der menschlichen Produktion gelçst werden kçnnen. Marx’ Theorie der menschlichen Produktion ermçglicht keine geregelte Behandlung der oben genannten Verteilungsfragen. Dieser Umstand ist auf Marx’ Kritik an dem „Verhltnis des Rechts“ zurckzufhren, die sich ihrerseits aus seinem Verstndnis des menschlichen Gemeinwesens ergibt. Teilt man die Auffassung, dass die Existenz von rechtlichen Ansprchen – auf Seiten der Brger oder des Staates – eine Verwirklichung des menschlichen Wesens unmçglich macht, und wnscht man eine Volkswirtschaft so einzurichten, dass sie dem menschlichen Wesen gemß ist, dann muss man offenbar darauf vertrauen, dass die Menschen von menschlichen Produktionsverhltnissen, geeint durch ihr Bedrfnis, Gemeinwesen zu sein, im Fall von Knappheitsproblemen auf harmonische Art und Weise Regelungen treffen, die zu ihrem Besten sind. Kritisch ist hier zweierlei zu bemerken: Selbst wenn jene Akteure sich als Gemeinwesen bejahen wrden, wre es angesichts der Grçße moderner Volkswirtschaften fraglich, ob Verteilungsfragen tatschlich auf dem oben skizzierten Wege beantwortet werden kçnnen – auch in diesem Zusammenhang ist z. B. daran zu erinnern, dass Informationen keine kostenlosen Gter sind. Ferner ist die Annahme, dass die Menschen in einer postkapitalistischen Gesellschaft frei von Egoismus sind, bestenfalls naiv – nach allem, war wir ber menschliches Verhalten wissen, wrde es sich bei solchen Akteuren

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tatschlich, in Engels’ Worten, um „ganz andere Menschen“ handeln. Folglich ist die Theorie der menschlichen Produktion aufgrund ihrer anthropologischen Annahmen ein volkswirtschaftlich problematisches Modell.

7 Zurck zur Kritischen Theorie In systematischer Hinsicht war fr die im II. Teil der vorliegenden Arbeit gefhrte Untersuchung die Frage leitend, ob Marx’ anerkennungstheoretische Kapitalismuskritik fr die aktuelle Kritische Theorie eine wertvolle Ressource ist oder nicht. Motiviert war diese Fragestellung durch den Befund, dass Marx in seinen Schriften von 1844 (i) die Beziehungen zwischen den Mitgliedern brgerlich-kapitalistischer Gesellschaft als Verhltnisse „wechselseitiger Anerkennung“427 beschreibt und (ii) eine Theorie sozialer Anerkennung entwickelt, mit der er eben diese Gesellschaften zu kritisieren beansprucht. Da die Marx’sche Kapitalismusanalyse und -kritik aus jener Zeit also mit demselben Vokabular operiert wie gegenwrtig die Kritische Theorie, erschien es mçglich, dass sie zur Erreichung von deren Zielen wichtige Beitrge leistet. Die entsprechende Erwartung konnte nicht besttigt werden. Wie aus meiner Analyse und Erçrterung der Theorie der menschlichen Produktion hervorgeht, sind Marx’ berlegungen in seinen Schriften von 1844 sowohl in sozialtheoretischer als auch in sozialkritischer Hinsicht problematisch. Zusammenfassend ist in diesem Zusammenhang Folgendes zu bemerken: (i) In sozialtheoretischer Hinsicht bernimmt Marx Hegels Thesen, dass die Mitglieder brgerlich-kapitalistischer Gesellschaften einander als Personen anerkennen und dass diese Form von Anerkennung ein konstitutives Element428 ihrer Beziehung ist. Allerdings interessiert sich Marx nicht fr die genaue Beschaffenheit dieses Anerkennungsverhltnisses. Welche rechtlichen Ansprche und Pflichten die wechselseitige Anerkennung der Menschen als Personen beinhaltet oder begrndet, sind Fragen, die Marx gar nicht untersucht. Wie gesehen, ist dies deshalb der Fall, weil Marx die Existenz von Individualrechten als mit der Realisierung des „wahren Wesens“ der Menschen unvereinbar ansieht. Hegel-kritisch versucht Marx zu zeigen, dass die wechselseitige Anerkennung der Menschen als Personen (1.) tatschlich ein reines Macht427 AJM, 460. 428 „Das Maß der Macht, welche ich meinem Gegenstand ber deinen einrume, bedarf allerdings, um zu einer wirklichen Macht zu werden, deiner Anerkennung.“ (AJM, 460)

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verhltnis ist und (2.) mit Bezug auf Letzteres eine verschleiernde Funktion ausbt. Trfen diese Argumente zu, dann wre es offenkundig verfehlt, brgerlich-kapitalistische Gesellschaften in einem anerkennungstheoretischen Vokabular zu analysieren. Eine Erreichung der sozialtheoretischen Ziele der aktuellen Kritischen Theorie wrde also eine nderung ihrer Grundbegriffe erforderlich machen. Allerdings ist Marx’ Begrndung der oben genannten beiden Behauptungen nicht zufriedenstellend. Dass die wechselseitige Anerkennung der Menschen als Personen ein reines Machtverhltnis sei, begrndet Marx in seinen Schriften von 1844 allein mit seiner Kritik am „Eigennutz“, die sich ihrerseits aus seiner Konzeption des menschlichen Gemeinwesens ergibt. Letztlich zeigt Marx in diesem Zusammenhang lediglich, dass die wechselseitige Anerkennung der Menschen als Personen eine Verwirklichung dessen, was er als ihr „wahres Wesen“ oder „Gemeinwesen“ ansieht, unmçglich macht. Dass eine gesellschaftlich etablierte Anerkennungspraxis einer von den Angehçrigen derselben nicht geteilten429 Konzeption ihres menschlichen Wesens nicht entspricht, ist aber kein Nachweis des (vermeintlichen) Umstands, dass jene Praxis keinen wirklichen normativen Gehalt habe. Folglich ist es auch angesichts der berlegungen des jungen Marx denkbar, dass sich brgerlich-kapitalistische Gesellschaften anerkennungstheoretisch analysieren lassen. Statt Hegels diesbezglichen Standpunkt zu widerlegen, motiviert Marx’ Kapitalismuskritik also vielmehr zu einer nheren Beschftigung mit demselben. (ii) Auch in sozialkritischer Hinsicht ist die Theorie der menschlichen Produktion als ganze430 fr die heutige Kritische Theorie nicht anschlussfhig. Das ist deshalb der Fall, weil sie den methodischen Erfordernissen der Kritischen Theorie nicht gengt. Marx sttzt sich in seinen Schriften von 1844 auf eine Konzeption des menschlichen Wesens, die, wie er selbst ußert, von den „eigenntzigen“431 Mitgliedern brgerlich-kapitalistischer Gesellschaften nicht geteilt wird. Demgegenber versucht die Kritische Theorie eine Sozialkritik zu begrnden, die ihren Maßstab in solchen Anerkennungsrelationen hat, die Bestandteile der normativen Infrastruktur brgerlich-kapitalistischer Gesellschaften sind.432 Aufgrund dieser Differenz leistet die Theorie der menschlichen Produktion aus Sicht der aktuellen Kritischen Theorie keine zufriedenstellende Kapitalismuskritik. 429 430 431 432

Siehe oben, Teil II, Kapitel 5. Siehe unten, Teil II, Kapitel 8. Vgl. AJM, 459. Siehe oben, Teil I, Kapitel 3.

8 Marx’sche Ressourcen einer aktuellen kritischen Gesellschaftstheorie Whrend die Theorie der menschlichen Produktion als ganze fr die heutige Kritische Theorie keine wertvolle Ressource ist, gilt das nicht notwendigerweise fr ihre Komponenten: die Bejahung der eigenen Individualitt durch die Verrichtung von Arbeit sowie die Bejahung seiner selbst und Anderer als Gemeinwesen. Anlsslich meiner Erçrterung der Marx’schen Konzeption der Bejahung der eigenen Individualitt habe ich festgestellt, dass diese Konzeption (i) verstndlich ist und (ii) nicht nur durch handwerkliche oder knstlerische Ttigkeiten erfllt werden kann.433 Wie ich im Folgenden zeigen werde, kçnnen Menschen im Marx’schen Sinne ihre Individualitt bejahen, ohne an einer sozialen Praxis teilzunehmen, die auch die anderen fr menschliche Produktionsverhltnisse charakteristischen Formen der Bejahung aufweist. Trifft diese Einschtzung zu, dann gibt es gute Grnde fr die Annahme, dass Marx’ Konzeption der Bejahung der eigenen Individualitt auch im Rahmen einer aktuellen kritischen Gesellschaftstheorie ein wichtiges Element bilden kann. Abschließend werde ich zeigen, dass sich Marx’ Theorie des Menschen als Gemeinwesen als eine Verallgemeinerung und ,Essentialisierung‘ einiger Kernelemente von Hegels Theorie der Liebe und Familie verstehen lsst und dass sie, in einer gleichsam rehegelianisierten Form, einen Bestandteil der von Axel Honneth vertretenen Anerkennungstheorie bildet. In diesem (schwachen) Sinne kann sie als ein Marx’sches Erbe der heutigen Kritischen Theorie angesehen werden.

433 Siehe oben, Teil II, Kapitel 3.1.

8 Marx’sche Ressourcen einer aktuellen kritischen Gesellschaftstheorie

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8.1 Noch einmal: die Bejahung der eigenen Individualitt Im Folgenden soll gezeigt werden, dass eine Bejahung der menschlichen Individualitt im Marx’schen Verstndnis434 auch unabhngig von den anderen Formen von Bejahung, die fr menschliche Produktionsverhltnisse charakteristisch sind, stattfinden kann. Marx selbst war offenbar der Auffassung, dass Menschen nur im Rahmen von menschlichen Produktionen ihre Individualitt adquat vergegenstndlichen kçnnen; jedenfalls versucht er mit seinen unten wiedergegebenen berlegungen zu begrnden, warum eine Vergegenstndlichung der menschlichen Individualitt in gesellschaftlichen Rumen, in denen es privates Eigentum und marktwirtschaftliche Tauschverfahren gibt, nicht mçglich sei. Marx schreibt: „In deinen Augen ist dein Produkt ein Instrument, ein Mittel zur Bemchtigung meines Produkts und daher zur Befriedigung deines Bedrfnisses. Aber in meinen Augen ist es der Zweck unsres Austauschs. Du giltst mir vielmehr als Mittel und Instrument zur Produktion dieses Gegenstandes, der ein Zweck fr mich ist, wie du umgekehrt in diesem Verhltnis zu meinem Gegenstand giltst. Aber 1. jeder von uns tut wirklich das, als was der andre ihn anschaut. Du hast wirklich dich zum Mittel, zum Instrument, zum Produzenten deines eignen Gegenstandes gemacht, um dich des meinigen zu bemchtigen; 2. dein eigner Gegenstand ist dir nur die sinnliche Hlle, die verborgne Gestalt meines Gegenstandes; denn seine Produktion bedeutet, will ausdrcken: den Erwerb meines Gegenstandes. Also bist du in der Tat fr dich selbst zum Mittel, zum Instrument deines Gegenstandes geworden, dessen Knecht deine Begierde ist, und du hast Knechtsdienste getan, damit der Gegenstand deiner Begierde nie wieder eine Gnade antue.“435

Demnach vertritt Marx die folgenden Thesen:436 1. Wenn A X „nur“ deshalb produziert, um X gegen Y, einen von B produzierten Gegenstand, zu tauschen, ist A „der Knecht“ von X; er kann durch die (Ttigkeit der) Produktion von X seine Individualitt nicht vergegenstndlichen und sich in dieser Hinsicht nicht bejahen. 2. Wenn B Y „nur“ deshalb produziert, um Y gegen X, einen von A produzierten Gegenstand, zu tauschen, ist B „der Knecht“ von Y; er kann durch die (Ttigkeit der) Produktion von Y seine Individualitt nicht vergegenstndlichen und sich in dieser Hinsicht nicht bejahen. Diese beiden Thesen sind richtig. Denn in Marx’ Verstndnis kann A durch die (Ttigkeit der) Produktion von X seine Individualitt nur dann beja434 Siehe oben, Teil II, Kapitel 3.1. 435 AJM, 462. 436 Im Folgenden soll allein Marx’ Hauptargument expliziert und diskutiert werden.

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hen, wenn ihm das, was er tut, wichtig ist.437 Annahmegemß ist diese Bedingung aber im vorliegenden Fall nicht erfllt – da X fr A „nur die sinnliche Hlle, die verborgne Gestalt“ von Y, des von ihm begehrten Gegenstandes, ist. (Analog gilt von B, dass ihm das Produzieren von Y nicht wichtig ist.) Aus der Richtigkeit der obigen beiden Thesen folgt allerdings nicht, dass A immer dann, wenn er einen von ihm produzierten Gegenstand X gegen einen von B hergestellten Gegenstand Y tauschen mçchte, X nur deshalb produziert, um Y zu erwerben. Es ist nmlich denkbar, dass A X gegen Y tauschen mçchte und die Produktion von X als etwas ansieht, wodurch er Aspekte seiner Individualitt entwickelt und ußert. So folgt aus dem Umstand, dass ein Tischler die von ihm hergestellten Gter verkaufen mçchte, nicht, dass es ihm nicht wichtig ist, diese Gter auf eine bestimmte Art und Weise herzustellen, und offensichtlich kann ein angestellter Informatiker die Ausbung seiner kognitiven Fhigkeiten in seiner Arbeit als Besttigung von Aspekten dessen erfahren, was er sein mçchte. Folglich kann ein Akteur A seine Individualitt (im Marx’schen Sinne) grundstzlich auch dann bejahen, wenn er einer Gesellschaft angehçrt, in der es privates Eigentum und marktwirtschaftliche Tauschverfahren gibt. Marx selbst vertrat in dieser Frage die entgegengesetzte Position. Nach seiner Auffassung gilt: Wann immer ein Akteur A einen Gegenstand X produziert, um X gegen einen von einem anderen Akteur B hergestellten Gegenstand Y zu tauschen, produziert A X nur deshalb, um Y zu erwerben. Folglich ist die Existenz der Institutionen des privaten Eigentums und des marktwirtschaftlichen Tausches fr Marx eine hinreichende Bedingung dafr, dass A (B) mit dem Produzieren von X (Y) die eigene Individualitt nicht bejaht. Was Marx meines Erachtens bersah, ist der Umstand, dass in erster Linie technische, nicht aber eigentumsrechtliche Aspekte des Produktionsprozesses darber entscheiden, ob A (B) sich durch das Herstellen von X (Y) bejahen kann oder nicht. Ist die Produktion von X (Y) beispielsweise nach tayloristischen Prinzipien strukturiert, also vollstndig in einfache, sich wiederholende Operationen ,zerlegt‘438, dann ist es sehr unwahrscheinlich, dass die an dem Produktionsprozess beteiligten Personen im Rahmen ihrer (ausfhrenden) Ttigkeiten ihre Individualitt vergegenstndlichen kçnnen. Ob die Produktion von X (Y) so eingerichtet ist oder 437 Siehe oben, Teil II, Kapitel 3.1. 438 Vgl. Taylor (1977).

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nicht, hngt aber nicht in erster Linie davon ab, ob sie in einem sozialen Raum stattfindet, in dem es privates Eigentum und marktwirtschaftliche Tauschverfahren oder gemeinschaftliches Eigentum und planwirtschaftliche Organisation gibt.439 Aus diesem Grunde ist es nicht mçglich, aus der Existenz der Institutionen des privaten Eigentums und des marktwirtschaftlichen Tausches auf die Unmçglichkeit einer Vergegenstndlichung der menschlichen Individualitt zu schließen. (Dass Marx die oben genannte Position vertrat, ist mçglicherweise mit seiner Rezeption des Hegel’schen Arbeitsbegriffs zu erklren. Wie gesehen, rezipiert Marx diesen Begriff anhand von Hegels Analyse des Verhltnisses von Herrschaft und Knechtschaft in der Phnomenologie des Geistes.440 Hegels Knecht hat (nach Marx’ Interpretation) die Eigenschaften, (i) sich als Naturwesen zu verneinen und (ii) „selbstisch“441 zu sein, also nur um des Erhalts von konsumtiven Gtern willen zu arbeiten. Offenbar sieht Marx in Hegels Knecht nicht nur einen Reprsentanten der Lohnarbeiter,442 sondern all derer, die in marktwirtschaftlichen Verhltnissen (seien diese kapitalistisch oder nicht) Gter produzieren. Hierfr spricht auch sein Gebrauch von „Knecht“ in dem oben zitierten Text.)443 Es hat sich damit ergeben, dass eine Bejahung der eigenen Individualitt (im Marx’schen Verstndnis) auch unabhngig von den anderen Formen von Bejahung, die fr menschliche Produktionsverfahren charakteristisch sind, stattfinden kann. Auch in gesellschaftlichen Rumen, in denen es privates Eigentum und marktwirtschaftliche Tauschverfahren gibt, ist es also grundstzlich mçglich, dass Menschen im Rahmen der Ausbung von gesellschaftlicher Arbeit ihre Individualitt bejahen. Da Marx’ Konzeption der Bejahung der eigenen Individualitt durch die Ausbung von Arbeit (i) verstndlich ist, (ii) nicht nur durch handwerkliche oder knstlerische Ttigkeiten erfllt werden kann und (iii) von der Existenz der anderen fr menschliche Produktionsverhltnisse charakteristischen Formen der Bejahung unabhngig ist, ist sie mçglicherweise auch im Rahmen einer kritischen Analyse zeitgençssischer Arbeitsverhltnisse eine wertvolle Ressource. 439 Andr Gorz hat hierauf immer wieder hingewiesen. Vgl. z. B. Gorz (1980), (1989) und (2000). Vgl. zu Gorz auch Schmidt am Busch (2001) und (2009b). 440 Siehe oben, Teil II, Kapitel 3.1, (ii). 441 pM, 575. 442 Siehe oben, Teil II, Kapitel 3.1, (ii), 5. 443 Eine alternative Deutung der Marx’schen Rezeption der Herr-Knecht-Dialektik aus Hegels PhG wird in Quante (2009), 291 f. vorgelegt.

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8.2 Liebe Sieht man von der Vergegenstndlichung der eigenen Individualitt durch Arbeit ab, dann lsst sich Marx’ Theorie der menschlichen Produktion als eine Verallgemeinerung und ,Essentialisierung‘ von einigen Kernelementen der Hegel’schen Konzeption des Liebes- und Eheverhltnisses rekonstruieren. Die Bejahung seiner selbst und der Anderen als Gemeinwesen, die Bejahung seiner selbst und der Anderen als Inhaber von konsumtiven Bedrfnissen sowie die bedrfnisbezogene Distribution der hergestellten Gter sind Elemente der Theorie der menschlichen Produktion, welche sich auf diese Art und Weise verstehen lassen. Der – im Folgenden erbrachte – Nachweis dieser These wird zugleich unsere obige Einschtzung besttigen, dass sich die Theorie der menschlichen Produktion aus zwei Quellen speist: Whrend die oben genannten Theorieelemente auf Hegels Konzeption der Liebe und Ehe zurckfhrbar sind, ist Marx’ Begriff der Vergegenstndlichung der menschlichen Individualitt als eine Transformation des Hegel’schen Begriffs der Selbstentußerung zu verstehen. Hegels Theorie der Liebe und Ehe ist ein Teil seiner Theorie der Familie. Sowohl in der Jenaer Philosophie des Geistes als auch in der Theorie des objektiven Geistes, die in der Enzyklopdie der philosophischen Wissenschaften und den Grundlinien der Philosophie des Rechts vorliegt, steht die Erçrterung des Eheverhltnisses in diesem Kontext.444 Hegels Theorie der Familie ist komplexer als Marx’ Theorie der menschlichen Produktion und kann hier als ganze nicht thematisiert werden. Zur Erreichung unseres Untersuchungsziels wird es hinreichend sein, diejenigen Elemente von Hegels Theorie zu analysieren, die von Marx (in einem zu erluternden Sinne) verallgemeinert und zu Wesensmerkmalen des Menschen erhoben werden. Es sei jedoch angemerkt, dass es sich bei ihnen um zentrale Bestandteile der Hegel’schen Konzeption der Familie handelt. Als Ehepartner verstehen und bejahen sich Menschen nach Hegels Auffassung als ein Wir einer bestimmten Art. Sie stehen zueinander in einer Liebesbeziehung,445 und deshalb hat jeder von ihnen, wie Hegel bemerkt, „das Bewußtsein […] der Einheit [s]einer mit dem anderen und des anderen 444 Es sei angemerkt, dass sich auch A. Honneth in seiner Rekonstruktion der Hegel’schen Anerkennungstheorie sowohl auf die GPhR als auch auf die Jenaer PhdG bezieht. Vgl. KA und LU. Vgl. zu Honneths Hegel-Interpretation auch Mesch (2005). 445 GPhR, § 158.

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mit [ihm]“446. Diese „Gesinnung“447 ußert sich zum einen darin, dass die Ehepartner einander448 nicht als selbstndige „Personen“ begegnen, welche legitime, durchsetzbare Ansprche („Rechte“) haben – im Gegenteil tritt „[d]as Recht“ nach Hegel „nur insofern in die Form Rechtens als des abstrakten Moments der bestimmten Einzelheit hervor, als die Familie in die Auflçsung bergeht und die, welche als Glieder sein sollen, in ihrer Gesinnung und Wirklichkeit als selbstndige Personen werden“449. Zum anderen besteht das oben genannte Bewusstsein der Einheit in dem Bewusstsein der „Gemeinsamkeit der ganzen individuellen Existenz“450. Was hiermit gemeint ist, erlutert Hegel mit den folgenden Bemerkungen: „Das erste Moment in der Liebe ist, daß ich keine selbstndige Person fr mich sein will und daß, wenn ich dies wre, ich mich mangelhaft und unvollstndig fhle.“451 „Ehe: (a) Identitt der Zwecke, Interessen – Bewußtsein der Einigkeit – Liebe – hebt nicht einen bestimmten Zweck heraus – (b) besondere Bestimmung – in dieser Einigkeit leben, alles teilen, gemeinschaftlich sorgen – sinnliche Seite, Genuß“452

Nher ußert sich das Bewusstsein der Einheit der Ehepartner in einer bedrfnisbezogenen Nutzung ihres Eigentums und Vermçgens. Diesen Aspekt ihrer Beziehung betont Hegel bereits in der Jenaer Philosophie des Geistes: „Es ist ein Familienbesitz, als Bewegung, Erwerb. Es ist hier erst das Interesse des Erwerbens, und bleibenden Besitzes, und der allgemeinen Mçglichkeit des Daseyns vorhanden. Hier tritt erst eigentlich die Begierde selbst als solche ein, nemlich als vernnftige, geheiligte wenn man so will; sie wird durch die gemeinschaftliche Arbeit befriedigt. Die Arbeit geschieht nicht fr die Begierde als einzelne, sondern allgemeine; der diß bearbeitet, verzehrt nicht gerade 446 GPhR, § 158, Zs. 447 GPhR, § 158. 448 Als Mitglieder einer „brgerlichen Gesellschaft“ und eines politischen „Staats“ sind diese Individuen als Personen anerkannt. 449 GPhR, § 159. 450 GPhR, § 163. 451 GPhR, § 158, Zs. – Im Lichte unserer These, dass Marx’ Theorie des Gemeinwesens auf Hegels Konzeption der Liebe und Ehe zurckfhrbar ist, ist die Verwendung von „unvollstndig“ im vorliegenden Zusammenhang bemerkenswert. In der Tat scheint dieser Ausdruck die Marx’sche Rede von der wechselseitigen Ergnzung von A und B vorwegzunehmen. Allerdings handelt es sich bei dem oben zitierten Satz um einen mndlichen Zusatz zu einem Paragraphen der GPhR. 452 GPhR, § 162, handschriftliche Notiz Hegels.

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dieses, sondern es kommt in den gemeinsamen Schatz, und aus diesem werden alle erhalten.“453

In den GPhR lesen wir hierzu: „Das im abstrakten Eigentum willkrliche Moment des besonderen Bedrfnisses des bloß Einzelnen und die Eigensucht der Begierde verndert sich hier in die Sorge und den Erwerb fr ein Gemeinsames, in ein Sittliches.“454

Auch ohne eine eingehende Analyse der hier zitierten Texte lsst sich angeben, inwiefern die Marx’sche Theorie der Bejahung als Gemeinwesen und als konsumtiv-bedrftiges Individuum als eine Verallgemeinerung und ,Essentialisierung‘ einiger Kernelemente von Hegels Theorie der Liebe und Ehe zu verstehen ist. Die folgenden Bemerkungen sind im vorliegenden Zusammenhang hinreichend: 1. Whrend Hegel das „Bewußtsein der Einheit“ verschiedener Menschen mit der Liebe derselben freinander erklrt und dementsprechend nur solchen Individuen zuschreibt, die durch Liebe miteinander verbunden sind, vertritt Marx die Thesen, dass jeder Mensch das Bedrfnis habe, mit beliebigen anderen Menschen „ein totales Wesen“455 oder ein Gemeinwesen zu bilden, und dass dieses Bedrfnis sowie die Befriedigung desselben Wesensmerkmale des Menschen seien. 2. Whrend Hegel der Auffassung ist, dass Individuen, welche zueinander in einer Liebesbeziehung stehen, sich „unvollstndig“ fhlen und unter diesem Aspekt bejahen, behauptet Marx, dass menschliche Individuen als solche ergnzungsbedrftig seien und dass ihr Sich-Bejahen in dieser Hinsicht ein Aspekt ihres Menschseins sei. 3. Whrend Hegel der Ansicht ist, dass jeder Ehepartner ohne persçnliche Bereicherungsabsicht („Eigensucht“) um eine Erfllung der Bedrfnisse des Anderen sowie ihrer gemeinsamen Bedrfnisse bemht sei, behauptet Marx, dass jeder Mensch das Bedrfnis habe, im Rahmen eines menschlichen Produktionsverhltnisses sich ohne persçnliche Bereicherungsabsicht („Eigennutz“) um eine Erfllung der Bedrfnisse beliebiger anderer Menschen sowie der gemeinsamen Bedrfnisse der Menschen zu bemhen, und dass dieses Bedrfnis und die Befriedigung desselben Wesensmerkmale des Menschen seien. 4. Whrend Hegel die Auffassung vertritt, dass eine bedrfnisorientierte Einkommens- und Vermçgensnutzung ein Charakteristikum von 453 PhdG, 211 f. 454 GPhR, § 170. 455 AJM, 452.

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ehelichen/familiren Gemeinschaften sei, sieht Marx in dieser Art der Distribution ein volkswirtschaftliches Prinzip, das zur Anwendung gelangen muss, wenn Menschen „als Menschen“ wirtschaften. Es hat sich ergeben, dass sich Marx’ Theorie der menschlichen Produktion, sieht man von der Bejahung der eigenen Individualitt durch Arbeit ab, als eine Verallgemeinerung und Essentialisierung einiger Kernelemente von Hegels Theorie der Liebe und der Familie verstehen lsst. Da die These, dass nicht-entfremdete gesellschaftliche Verhltnisse nach dem Muster von Liebesbeziehungen zu denken sind, aus heutiger Sicht kaum berzeugen drfte, sei darauf hingewiesen, dass sie in Marx’ geistigem Umfeld einige Befrworter hatte. So waren die Saint-Simonisten, mit deren Theorie sich Marx in seinem Kommentar von Auszgen aus James Mills Buch „lmens d’conomie politique“ ausfhrlich befasst456, der Auffassung, dass das Ziel der menschlichen Geschichte die Etablierung einer „association universelle“ sei, worunter sie einen von jeder Form von Ausbeutung freien gesellschaftlichen Zustand verstanden, in dem jeder Mensch „le sentiment, l’amour de tous“457 habe. hnlich lsst sich Feuerbach verstehen, wenn er davon spricht, dass „die Liebe verallgemeinert“458, und behauptet, dass sie „nichts anderes als die Verwirklichung der Einheit der Gattung auf dem Wege der Gesinnung“459 sei. Die Verallgemeinerung und Essentialisierung von Hegels Theorie der Liebe, welche Marx mit seiner Theorie der menschlichen Produktion vornimmt, lsst sich also mit Einflssen aus seinem geistigen Umfeld erklren.460 Ich werde meine Untersuchung zu Marx mit dem Nachweis beschließen, dass Axel Honneths Verstndnis des Anerkennungsverhltnisses der Liebe weitreichende inhaltliche Gemeinsamkeiten mit Marx’ Konzeption des menschlichen Gemeinwesens aufweist. Da „Liebe“ einer der drei Grundbegriffe von Honneths Anerkennungstheorie ist,461 lsst sich an ihm so etwas wie ein Marx’sches Erbe der heutigen Kritischen Theorie festmachen. Allerdings konzipiert Honneth die Beziehungen, welche die 456 Vgl. AJM, 447 – 450, wo Marx die saint-simonistische Theorie des Bankenwesens diskutiert. 457 Doctrine de Saint-Simon. Exposition, 251. – Mit dieser Schrift, dem Hauptwerk der Saint-Simonisten, setze ich mich in Schmidt am Busch (2007), 27 – 75 und Schmidt am Busch (2007a) auseinander. 458 WC, 369. 459 WC, 395. 460 Eine kenntnisreiche Diskussion des geistigen Kontextes, in dem die Marx’sche Theorie entstanden ist, bietet Breckman (1999). 461 Siehe oben, Teil I, Kapitel 3.3.

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Mitglieder brgerlich-kapitalistischer Gesellschaften als solche zueinander unterhalten, nicht als Anerkennungsverhltnisse der Liebe, und er wrde die essentialistischen Aspekte der Marx’schen Theorie sicherlich als problematisch ansehen. Aus diesen Grnden eignet er sich mit seiner Theorie des Anerkennungsverhltnisses der Liebe die Marx’sche Konzeption des menschlichen Gemeinwesens in einer gleichsam rehegelianisierten Form an. Wie gesehen, versteht Honneth unter „Liebe“ ein Anerkennungsverhltnis einer bestimmten Art. Er verwendet den Ausdruck „Liebe“ zur Bezeichnung von Beziehungen, die „mehr als nur das sexuell erfllte Verhltnis von Mann und Frau“462 beinhalten: „[U]nter Liebesverhltnissen sollen hier alle Primrbeziehungen verstanden werden, soweit sie nach dem Muster von erotischen Zweierbeziehungen, Freundschaften und Eltern-Kind-Beziehungen aus starken Gefhlsbindungen zwischen wenigen Personen bestehen.“463 Sofern sie eine Liebesbeziehung unterhalten, erachten A und B jeweils den Anderen „in dem Sinn als unvertretbar […], daß in ih[m] verschiedene Eigenschaften in schwer beschreibbarer, eben einzigartiger Gestalt zusammenspielen“464. Nher sind die „Bedrfnisse und Wnsche“ des jeweils Anderen fr sie „von einzigartigem Wert“465. Ihre reziproke Anerkennung besitzt deshalb nach Honneth „den Charakter affektiver Zustimmung und Ermutigung“466 und ußert sich in „Praktiken der wechselseitigen Zuwendung und Frsorge“467 bzw. in „einer liebevollen Sorge um das Wohlergehen des anderen“468. Wie Honneth przisiert, ist die hiermit bezeichnete Praxis als eine ttige „Sorge um das Wohlergehen des anderen um seiner oder ihrer selbst willen“469 zu verstehen. Auch ohne eine Erçrterung von Honneths Theorie der Liebe470 lsst sich der von mir angestrebte Nachweis fhren. Wenn A und B zueinander 462 463 464 465 466 467 468 469 470

KA, 153. KA, 153. LM, 222. ZAK, 187. KA, 153. UA, 168. UA, 164. ZAK, 187. Im Rahmen einer solchen Erçrterung wre beispielsweise zu fragen, ob nicht zwischen den von Honneth genannten Beziehungen („erotische Zweierbeziehung“, „Freundschaft“, „Eltern-Kind-Beziehung“) auch begrifflich zu unterscheiden wre. Wie Honneth selbst in anderem Zusammenhang zu verstehen gibt (vgl. KA, 153 – 172), werden einige seiner oben wiedergegebenen Kriterien nicht von allen diesen Beziehungen erfllt. Ein Kleinkind beispielsweise praktiziert in bezug auf

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in einer Liebesbeziehung stehen, ist nach Honneths Auffassung Folgendes der Fall: A hat den Wunsch/das Bedrfnis, fr B zu sorgen, das heißt ohne persçnliche Erwerbsabsicht um B’s Wohl bemht zu sein. A hat den Wunsch/das Bedrfnis, dass B fr ihn sorgt, das heißt ohne persçnliche Erwerbsabsicht um A’s Wohl bemht ist. B hat den Wunsch/das Bedrfnis, fr A zu sorgen. B hat den Wunsch/das Bedrfnis, dass A fr ihn sorgt. B hat den Wunsch/das Bedrfnis, fr A zu sorgen, das heißt ohne persçnliche Erwerbsabsicht um A’s Wohl bemht zu sein. B hat den Wunsch/das Bedrfnis, dass A fr ihn sorgt, das heißt ohne persçnliche Erwerbsabsicht um B’s Wohl bemht ist. A hat den Wunsch/das Bedrfnis, fr B zu sorgen. A hat den Wunsch/das Bedrfnis, dass B fr ihn sorgt. A und B sind einander emotional verbunden. A und B glauben, dass die oben genannten Wnsche/Bedrfnisse nur im Rahmen einer (gemeinsamen) Praxis erfllt werden kçnnen, in der A und B „unvertretbar“ sind. Marx’ Theorie der Bejahung als Gemeinwesen und Honneths Theorie der Liebe als Anerkennung stimmen insofern miteinander berein, als nach jeder dieser beiden Konzeptionen die Akteure A und B jeweils sich und den Anderen als notwendigen Bestandteil einer gemeinsamen Praxis erachten und bejahen und A und B im Rahmen dieser Praxis um das Wohl des jeweils Anderen ohne eigene Bereicherungsabsicht bemht sind. Wenngleich Honneth im Kontext seiner Analyse von „Liebe“ nicht explizit von konsumtiven Bedrfnissen spricht, ist es doch naheliegend, dass Bedrfnisse seine Mutter keine „Sorge um das Wohlergehen des anderen um seiner oder ihrer selbst willen“.

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Teil II: Marx’ anerkennungstheoretische Kapitalismuskritik

dieser Art eine Teilmenge derjenigen Bedrfnisse bilden, welche A und B als sich Liebende nach Honneths Auffassung zu befriedigen versuchen.471 Weil das so ist, steht Honneth der Sache nach auf dem Standpunkt, dass Menschen, die in einer Liebesbeziehung stehen, sich als Gemeinwesen (im Marx’schen Sinne) verstehen und bejahen.

471 Das lsst sich anhand von Honneths Bestimmung der Funktion und der Hinsicht von Liebe als Anerkennung zeigen. In persçnlichkeitstheoretischer Hinsicht besteht die Funktion von Liebe in der Etablierung von „Selbstvertrauen“ (ZAK, 182) auf Seiten des so Anerkannten. Hierunter versteht Honneth eine „Art von elementarer Sicherheit ber den Wert der eigenen Bedrftigkeit“ (ZAK, 182) oder „ein Vertrauen in den Wert der eigenen leibgebundenen Bedrfnisse“ (UA, 163). Klarerweise ist im vorliegenden Zusammenhang nicht ausschließlich und auch nicht primr von konsumtiven Bedrfnissen die Rede. Andererseits schließt das oben skizzierte Selbstverhltnis Bedrfnisse dieser Art ein. Aus diesem Grunde ist die Bejahung (seiner selbst und von Anderen) als konsumtiv bedrftige Individuen ein Aspekt von Honneths Theorie der Liebe.

9 Ergebnis Mit der in Teil II gefhrten Untersuchung wurden drei Ziele verfolgt: ein Marx-interpretatorisches (i), ein theoriegeschichtliches (ii) und ein systematisches (iii). Als Ergebnis dieser Untersuchung ist Folgendes festzustellen: (i) Es wurde gezeigt, dass Marx am Ende seines Manuskripts Auszge aus James Mills Buch „lmens d’conomie politique“ eine in sich geschlossene Theorie einer menschlichen Produktion bzw. einer nicht-entfremdeten Gesellschaft formuliert. Diese Theorie, die den Maßstab seiner Kapitalismus-Kritik aus dieser Zeit bildet, lsst sich auf der Grundlage von Marx’ eigener Gliederung seines Textes rekonstruieren. Es hat sich ergeben, dass eine menschliche Produktion bzw. eine nicht-entfremdete Gesellschaft in Marx’ Verstndnis zwei wesentliche Aspekte hat: eine spezifische Form von Arbeit und eine spezifische Form von Anerkennung. In der Tat bejahen die Mitglieder einer solchen Gesellschaft in ihrer Arbeit ihre Individualitt, und sie bejahen sich als „Gemeinwesen“, nmlich als durch Liebe miteinander verbundene bedrftige Menschen. Damit ist deutlich geworden, dass Marx’ Theorie der menschlichen Produktion nicht, wie gemeinhin angenommen, allein mit seinem Begriff der Arbeit als Vergegenstndlichung erklrt werden kann. (ii) Es wurde gezeigt, dass jede der unter (i) genannten beiden Komponenten der Theorie der menschlichen Produktion als ein transformiertes Element der Hegel’schen Philosophie beschrieben werden kann. Marx’ Konzeption der Bejahung der eigenen Individualitt durch Arbeit basiert auf seiner Rezeption und Transformation des Hegel’schen Arbeitsbegriffs, und seine Theorie des Menschen als Gemeinwesen ist als eine Verallgemeinerung und ,Essentialisierung‘ einiger Kernelemente von Hegels Theorie der Liebe und der Familie zu verstehen. (iii) Es wurde gezeigt, warum die Theorie der menschlichen Produktion aufgrund ihrer anthropologischen Annahmen kein attraktives gesellschaftliches Modell ist und als ganze keinen geeigneten Maßstab einer zeitgençssischen Kapitalismuskritik bildet. Das schließt allerdings nicht aus, dass einzelne Elemente der Theorie der menschlichen Produktion aus heutiger Sicht interessante Ressourcen sind. Diese Mçglichkeit wurde

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anhand der Marx’schen Theorie der Bejahung der eigenen Individualitt erçrtert.

Teil III Hegels kritische Gesellschaftstheorie

Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

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Welche Beitrge kçnnen Hegels Politische und Sozialphilosophie zur Ausarbeitung einer normativen Gesellschaftstheorie in der Tradition der Frankfurter Schule leisten? Diese Frage werde ich im Folgenden untersuchen. Ich werde mich hierbei an den Grundlinien der Philosophie des Rechts (im Folgenden: GPhR) orientieren, die eine nhere Ausarbeitung der enzyklopdischen „Philosophie des objektiven Geistes“ bieten und von Hegel selbst verçffentlicht worden sind. Im vorliegenden Zusammenhang werde ich zudem einige Mitschriften bercksichtigen, die von Vorlesungen Hegels zur Rechtsphilosophie angefertigt worden sind.472 Das Ziel meiner berlegungen ist der Nachweis, dass die GPhR eine aus Sicht der Kritischen Theorie attraktive Bearbeitung der am Ende des Ersten Teils meiner Arbeit genannten Fragen und Themen ermçglichen. Wie ich zeigen werde, ist dieses Werk geeignet, wesentliche Beitrge zur Erreichung der sozialtheoretischen und -kritischen Ziele der Kritischen Theorie zu leisten. In der Tat stellen die GPhR mit dem Begriff des personalen Respekts eine Ressource zur Verfgung, mit der Mrkte als Institutionalisierungen einer spezifischen Anerkennungsform ausgewiesen und legitimiert werden kçnnen. Damit ermçglichen sie eine Erçrterung der in Kapitel 7.2 des Ersten Teils genannten Fragen, die fr die aktuelle Kritische Theorie von grçßtem Interesse sind. Zudem enthalten die GPhR einige – von Hegel selbst nicht systematisch aufeinander bezogene – anerkennungstheoretische berlegungen, die hinsichtlich der von der Kritischen Theorie angestrebten Analyse des und Kritik am zeitgençssischen Neoliberalismus eine neue und ernstzunehmende Perspektive erçffnen. Die Rekonstruktion, Vervollstndigung und Erçrterung dieser berlegungen bilden den Schwerpunkt meiner Untersuchung in den Kapiteln 4 und 5 des vorliegenden Teils meiner Abhandlung. Um Hegels Beitrge zu einer normativen Gesellschaftstheorie in der Tradition der Kritischen Theorie verstndlich (und diskutierbar) zu machen, ist es notwendig, zunchst seine Willenstheorie in ihren Grundzgen zu rekonstruieren. In der Tat ist „der Wille, welcher frei ist“473, das Prinzip derjenigen sozialen und institutionellen Gegebenheiten, die in den GPhR analysiert und legitimiert werden.474 Allerdings ist Hegels Willenstheorie 472 Hierbei handelt es sich um Mit- oder Nachschriften von Vorlesungen zur Rechtsphilosophie, die Hegel zwischen 1817 und 1822 gehalten hat. Vgl. die entsprechenden Eintrge im Literaturverzeichnis. 473 GPhR, § 4. 474 Vgl. Schmidt am Busch (2007), 93 – 102 und Quante & Schmidt am Busch (2008).

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

sowohl aus sprachlichen als auch aus sachlichen Grnden schwer zugnglich. Aus diesem Grunde erstreckt sich meine Rekonstruktion der Grundzge dieser Theorie ber die beiden ersten Kapitel des vorliegenden Teils meiner Untersuchung. Ich mçchte betonen, dass ich mit meinen berlegungen keine Verteidigung von Hegels gesamter Politischer und Sozialphilosophie anstrebe. Wie bemerkt, geht es mir vielmehr darum, diejenigen Elemente dieser Theorie zu ,bergen‘, die das Projekt einer aktuellen kritischen Gesellschaftstheorie bereichern kçnnen. Angesichts dieser Zielsetzung ist es wichtig, die GPhR so zu lesen (um eine Formulierung Adornos zu bernehmen475), dass deutlich wird, welche Argumente Hegels nach den Maßstben der Kritischen Theorie unproblematisch sind und welche nicht. Auch zu diesem Zweck (nicht aber zur Verteidigung derselben) werde ich eventuelle spekulative Argumente im Rahmen meiner Interpretation der GPhR kenntlich machen.

475 Vgl. Adorno (1971), 326.

1 Der freie Wille als philosophisches Prinzip Der freie Wille ist das Prinzip von Hegels Rechtsphilosophie, Politischer Philosophie und Sozialphilosophie, die in der enzyklopdischen „Philosophie des objektiven Geistes“ und – nher ausgearbeitet – in den Grundlinien der Philosophie des Rechts vorliegen. In der „Einleitung“ der GPhR, in der die Grundlagen jener Disziplinen eingehend behandelt werden, lesen wir: „Der Boden des Rechts ist berhaupt das Geistige und seine nhere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist.“476

Wie dieser Textstelle zu entnehmen ist, hat Hegel ein weites Verstndnis von „Recht“.477 Er verwendet diesen Ausdruck nicht nur im „juristischen“ Sinne, sondern umfassender zur Bezeichnung des „Daseins aller Bestimmungen der Freiheit“478. Dementsprechend sind nicht nur privat-, familien- und staatsrechtliche Bestimmungen, sondern auch sittliche Verhltnisse und moralische Verpflichtungen Bestandteile des in den GPhR untersuchten „Rechtssystems“. Folglich bestehen „das Reich der verwirklichten Freiheit“ bzw. „die Welt des Geistes“, die der freie Wille hervorbringt, nicht allein aus rechtlichen Institutionen in einem uns gelufigen Verstndnis. Nach Hegels Auffassung bringt der freie Wille eine soziale Welt hervor, welche als „das Reich der verwirklichten Freiheit“ anzusehen ist. (Dies wird ja in dem oben zitierten Paragraphen behauptet.) Nun ist die Analyse der Struktur dieser Welt und ihrer Komponenten das Thema der in der GPhR gefhrten Untersuchung. Folglich sind fr Hegel zumindest diejenigen sozialen und institutionellen Verhltnisse, die in den GPhR behandelt werden, Willensverhltnisse. Aus diesem Grunde ist der freie Wille das

476 GPhR, § 4. 477 Vgl. hierzu auch Fulda (2003), 197 ff. 478 EphW3, § 486.

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Prinzip479 von Hegels Rechtsphilosophie, Politischer Philosophie und Sozialphilosophie. Um zu einem grçßeren Verstndnis des oben zitierten Paragraphen – und mithin der Grundzge von Hegels Rechtsphilosophie, Politischer Philosophie und Sozialphilosophie – zu gelangen, sind zunchst die folgenden Fragen zu erçrtern: 1. In welcher begrifflichen Beziehung stehen „das Geistige“ und „der Wille, welcher frei ist“? 2. Welche Struktur und welches Dasein hat der freie Wille? 3. Worin besteht die Freiheit des freien Willens? Diese Fragen werde ich jeweils in einem eigenen Kapitel erçrtern. Aufgrund der Komplexitt von Hegels Argumentation kçnnen sie in diesem Rahmen nicht erschçpfend behandelt werden; angesichts der Ziele unserer Untersuchung sind im vorliegenden Zusammenhang aber die folgenden berlegungen hinreichend.

1.1 Wollen und Denken Hinsichtlich der Beziehung des Geistigen und des freien Willens ist daran zu erinnern, dass die GPhR einen Teil von Hegels enzyklopdischem System bilden. Bekanntlich handelt es sich bei ihnen um eine nhere Ausarbeitung der Theorie des objektiven Geistes, welche – ebenso wie die Theorien des subjektiven und des absoluten Geistes – zur „Philosophie des Geistes“ der Enzyklopdie der philosophischen Wissenschaften (im Folgenden: EphW) gehçrt. Folglich sind die in den GPhR thematisierten Willensverhltnisse spezifische geistige Verhltnisse; zwischen dem Geistigen und dem freien Willen gibt es fr Hegel also keinen Gegensatz. Diese Gedanken fhrt Hegel in seiner Kommentierung des oben zitierten Paragraphen der GPhR nher aus: „Der Geist ist das Denken berhaupt, und der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch das Denken. Aber man muß sich nicht vorstellen, daß der Mensch einerseits denkend, andererseits wollend sei und daß er in der einen Tasche das Denken, in der anderen das Wollen habe, denn dies wre eine leere Vorstellung. Der Unterschied zwischen Denken und Willen ist nur der zwischen dem theoretischen und praktischen Verhalten, aber es sind nicht etwa zwei Vermçgen, sondern der Wille ist eine besondere Weise des Denkens […] Das 479 Eine hnliche Einschtzung wird in Emundts & Horstmann (2002), 99 und in LU, 22 geußert.

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Theoretische ist wesentlich im Praktischen enthalten: es geht gegen die Vorstellung, daß beide getrennt sind, denn man kann keinen Willen haben ohne Intelligenz. Im Gegenteil, der Wille hlt das Theoretische in sich: der Wille bestimmt sich; diese Bestimmung ist zunchst ein Inneres: was ich will, stelle ich mir vor, ist Gegenstand fr mich. […] Ebensowenig kann man sich aber ohne Willen theoretisch verhalten oder denken, denn indem wir denken, sind wir eben ttig. Der Inhalt des Gedachten erhlt wohl die Form des Seienden, aber dies Seiende ist ein Vermitteltes, durch unsere Ttigkeit Gesetztes.“480

Demnach sind Denken und Wollen Ttigkeiten, die sowohl theoretische als auch praktische Aspekte haben. Deshalb sei es falsch, Denken und Wollen als Aktivitten separater Vermçgen zu verstehen, wie dies die Rede von dem Verstand oder dem Willen suggeriert. Diesen Standpunkt begrndet Hegel wie folgt: Die Ttigkeit des Wollens beinhaltet, dass der Wille sich bestimmt, also auf etwas bezieht, was er will. Nun ist Hegel offenbar der Auffassung, dass eine solche willentliche Ttigkeit in einem Entschluss besteht, der einen propositionalen Gehalt hat, der sich wie folgt verallgemeinern lsst: Ich will, dass ich X tue. Nur unter dieser Annahme sind seine Behauptungen verstndlich (und plausibel), dass „der Wille das Theoretische in sich [hlt]“ und „[d]as Theoretische wesentlich im Praktischen enthalten“ ist. Umgekehrt sind auch Verhaltensweisen wie das Nachdenken ber etwas willentliche Ttigkeiten. Denn ein menschliches Individuum kann nur ber etwas nachdenken, wenn es dies tun will. Deshalb behauptet Hegel, dass menschliches Denken „ohne Willen“ unmçglich sei. Aus diesen Grnden sei es falsch, Denken und Wollen als Aktivitten separater „Vermçgen“ zu konzeptualisieren. Diese berlegungen sind auch in sozialphilosophischer Hinsicht aufschlussreich und wichtig. Wie gesehen, versteht Hegel die in den GPhR behandelten sozialen und institutionellen Verhltnisse als Willensverhltnisse. Wenn nun der freie Wille „eine besondere Weise des Denkens“ ist, folgt aus jener Auffassung, dass die von ihm hervorgebrachte soziale Welt ein ,Produkt‘ eben jenes Denkens ist. Aufgrund dieser Eigenschaft wird sie aber eine fr Menschen grundstzlich erkennbare, begrndungsfhige Realitt sein. Dass er diese Einschtzung teilt, macht Hegel selbst deutlich, wenn er, bezogen auf die „Freiheit, zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet“481,

480 GPhR, § 4, Zs. 481 EphW3, § 484.

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

behauptet, dass „sie und ihr Inhalt dem Denken angehçrt und das an sich Allgemeine ist“482.483

1.2 Struktur und Dasein des freien Willens Wie Hegel ausdrcklich feststellt, ist der freie Wille „nichts anderes als der Begriff selbst“484. Die Struktur des so verstandenen Willens expliziert Hegel in der „Einleitung“ der GPhR anhand der im Folgenden genannten drei „Momente“485 : 1. „Der Wille enthlt […] das Element der reinen Unbestimmtheit oder der reinen Reflexion des Ich in sich, in welcher jede Beschrnkung, jeder durch die Natur, die Bedrfnisse, Begierden und Triebe unmittelbar vorhandene oder, wodurch es sei, gegebene und bestimmte Inhalt aufgelçst ist; die schrankenlose Unendlichkeit der absoluten Abstraktion oder Allgemeinheit, das reine Denken seiner selbst.“486 2. „Ebenso ist Ich das bergehen aus unterschiedsloser Unbestimmtheit zur Unterscheidung, Bestimmen und Setzen einer Bestimmtheit als eines Inhalts und Gegenstands. – […] das absolute Moment der Endlichkeit oder Besonderung des Ich.“487 3. „Der Wille ist die Einheit dieser beiden Momente; – die in sich reflektierte und dadurch zur Allgemeinheit zurckgefhrte Besonderheit; – Einzelheit; die Selbstbestimmung des Ich, in einem sich als das Negative seiner selbst, nmlich als bestimmt, beschrnkt zu setzen und bei sich, d.i. in seiner Identitt mit sich und Allgemeinheit zu bleiben, und in der Bestimmung, sich nur mit sich selbst zusammenzuschließen. – Ich bestimmt sich, insofern es die Beziehung der Negativitt auf sich selbst ist; als diese Beziehung auf sich ist es ebenso gleichgltig gegen diese Bestimmtheit, weiß sie als die seinige und ideelle, als eine bloße 482 EphW3, § 485. 483 Es sei hier nur erwhnt, dass Hegel in der Wissenschaft der Logik den umfassenderen Nachweis zu fhren beansprucht, dass die Bestimmungen des (menschlichen) Denkens zugleich die Grundstruktur der Wirklichkeit ausmachen. Diese strukturelle Identitt von erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt ist dem „Geist“ auf der Stufe der „Vernunft“ gewiss. Vgl. EphW1, § 361. 484 GPhR, § 7, Anm. 485 GPhR, § 6. 486 GPhR, § 5. 487 GPhR, § 6.

1 Der freie Wille als philosophisches Prinzip

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Mçglichkeit, durch die es nicht gebunden ist, sondern in der es nur ist, weil es sich in derselben setzt.“488 Diese Bestimmungen und ihr Zusammenhang lassen sich letztlich nur in Auseinandersetzung mit Hegels Wissenschaft der Logik (im Folgenden: WL) verstndlich machen. In dieser Schrift beansprucht Hegel, die Struktur dessen, was er „den Begriff“ nennt, zu analysieren und den Zusammenhang zwischen dieser Kategorie und den anderen Bestimmungen des Denkens in methodisch kontrollierter Weise zu entwickeln. Es ist deshalb keine berraschung, dass Hegel im Rahmen seiner Erçrterung der Struktur des freien Willens verschiedentlich auf die (enzyklopdische) „Logik“ verweist.489 Aus Grnden, die ich weiter unten darlegen werde490, werde ich hier jedoch nicht versuchen, die oben bezeichneten drei Momente des (Hegel’schen) Begriffs im Rckgang auf die WL zu explizieren. Zugleich appelliert Hegel hinsichtlich des Verstehens der Struktur des freien Willens an die „Vorstellung“ seiner Leser; er schreibt: „In Ansehung der in diesem und in den folgenden Paragraphen der Einleitung angegebenen Momente des Begriffes des Willens […] kann sich brigens zum Behuf des Vorstellens auf das Selbstbewußtsein eines jeden berufen werden. Jeder wird zunchst in sich finden, von allem, was es sei, abstrahieren zu kçnnen, und ebenso sich selbst bestimmen, jeden Inhalt durch sich in sich setzen zu kçnnen, und ebenso fr die weiteren Bestimmungen das Beispiel in seinem Selbstbewußtsein haben.“491

Damit behauptet Hegel, dass volitionale Akte Instantiierungen der Begriffs- bzw. Willensstruktur sind. (Angesichts seiner oben erçrterten Kommentierung des § 4 der GPhR492 ist es nicht berraschend, dass Hegel diese Auffassung vertritt.) Im Fall volitionaler Akte ist das erste Moment der Struktur des freien Willens insofern gegeben, als das wollende Ich weiß, „von jeder Bestimmung, in der Ich mich finde oder die Ich in mich gesetzt habe, abstrahieren zu kçnnen“493 : „In diesem Elemente des Willens liegt, daß ich mich von allem losmachen, alle Zwecke aufgeben, von allem abstrahieren kann. Der Mensch allein kann alles fallen lassen, auch sein Leben: er kann einen Selbstmord begehen.“494 488 489 490 491 492 493 494

GPhR, § 7. Vgl. z. B. GPhR, § 7, Anm. und § 24, Anm. Vgl. Teil III, Kapitel 1.3. GPhR, § 4, Anm. Vgl. Teil III, Kapitel 1.1. GPhR, § 5, Anm. GPhR, § 5, Zs.

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

Das zweite Moment der Willensstruktur wird dadurch realisiert, dass das oben genannte Ich sich „einen Inhalt und Gegenstand“ gibt. In dem Wissen, an keine „Bestimmtheit“495 gebunden zu sein, distanziert es sich von seinen Zwecken; es macht diese zu mçglichen Bestimmtheiten bzw. zu Zwecken, die es sich geben kann, nicht aber muss. Deshalb ist dieses Ich zunchst, wie Hegel handschriftlich notiert, „die Richtung des Willens auf Etwas […] – Reflexion, – Wahl – Beim Whlen vor mir haben, dies und jenes“.496 Dieses Ich besondert sich, indem es sich einen Zweck gibt. Wie bereits bemerkt, hat diese Zwecksetzung die allgemeine sprachliche Form „Ich will, dass ich X tue“. Weil das, was das Ich zu tun beschließt, eine bestimmte Ttigkeit ist497, ist es gerechtfertigt, seine Zwecksetzung als einen Akt der Besonderung zu beschreiben. Das dritte Moment der Struktur des freien Willens ist „die Einheit“ der ersten beiden Momente. Es ist gegeben, insofern das wollende Ich die von ihm zu seinem Zweck gemachte Bestimmtheit „als die seinige und ideelle, als eine bloße Mçglichkeit [weiß], durch die es nicht gebunden ist, sondern in der es nur ist, weil es sich in derselben setzt“.498 Demnach sind volitionale Akte dann Instantiierungen der Begriffs- bzw. Willensstruktur, wenn das wollende Ich seinen Zweck als eine durch es selbst gesetzte Bestimmtheit, an die es nicht unwiderruflich gebunden ist, versteht. Zu beachten ist, dass der freie Wille kein rein intrapsychisches Phnomen ist. Hegel selbst deutet dies an, wenn er feststellt, dass „das Selbstbewußtsein eines jeden“ lediglich „das Beispiel“ der „Momente des Begriffes des Willens“ sei.499 Demnach ist er der Auffassung, dass volitionale Akte der oben beschriebenen Art nicht die einzigen mçglichen Instantiierungen der Struktur des freien Willens sind. 495 GPhR, § 7. 496 GPhR, § 6, Randbem. 497 „Ich will nicht nur, sondern will Etwas, d.i. ein Besonderes“ (GPhR, § 6, Randbem.) – In der Tat ist das, was das fragliche Ich zu tun beschließt, eine Ttigkeit einer bestimmten Art. 498 GPhR, § 7. 499 Dieser Gedanke ist im Rahmen der Hegel’schen Willenstheorie von grçßter Wichtigkeit. Meines Erachtens lsst sich Hegels Bestimmung desjenigen sozialen Kontextes, durch den der freie Wille adquat realisiert wird (siehe unten, Teil III, Kapitel 2), nicht nachvollziehen, wenn man diesen Willen als ein rein psychisches Phnomen ansieht. Gleichwohl wird dieser Standpunkt von vielen Hegel-Interpreten vertreten. Vgl. z. B. Franco (1999), 154 – 187. Auch R. Pippin scheint die „Einleitung“ der GPhR in diesem Sinne zu interpretieren. Vgl. Pippin (1997), insbesondere 51.

1 Der freie Wille als philosophisches Prinzip

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Auch dieser Standpunkt kann nicht berraschen. Wenn nmlich, wie Hegel annimmt500, zumindest soziale und institutionelle Verhltnisse einer bestimmten Beschaffenheit („die Welt des Geistes“) Willensverhltnisse sind, dann werden auch sie Instantiierungen der Struktur des freien Willens sein. Um Missverstndnissen vorzubeugen, sei betont, dass damit nicht behauptet wird, dass Institutionen unabhngig von der willentlichen Ttigkeit menschlicher Individuen die Struktur des freien Willens realisieren kçnnen. Im Gegenteil stellt Hegel ausdrcklich fest, dass „[der] einzeln[e] Wille das unmittelbare und eigentmliche Element“501 der Realisierung der Willensstruktur ist. Offenbar ist Hegel der Auffassung, dass der freie Wille durch einen Institutionenkomplex verwirklicht wird, dessen Existenz auf seinem „Anerkanntsein“ durch die Brger beruht.502 Das ist seiner im Folgenden wiedergegebenen ußerung zu entnehmen, die einen Teil der Einleitung zur enzyklopdischen Philosophie des objektiven Geistes bildet: „Die Freiheit, zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet, erhlt die Form von Notwendigkeit, deren substantieller Zusammenhang das System der Freiheitsbestimmungen und der erscheinende Zusammenhang als die Macht, das Anerkanntsein, d.i. ihr Gelten im Bewußtsein ist.“503

1.3 Willentliche Freiheit Hinsichtlich des Verhltnisses von Wille und Freiheit stellt Hegel Folgendes fest: 500 Vgl. GPhR, § 4. Siehe oben, Teil III, Kapitel 1. 501 EphW3, § 485. 502 Soweit ich sehe, wird die sozialontologische Frage, ob Institutionen ihre Existenz einer spezifischen willentlichen Ttigkeit menschlicher Individuen verdanken, von Hegel nicht im Allgemeinen erçrtert. Mit Bezug auf diejenigen Institutionen, durch die der freie Wille sich verwirklicht, ist Hegel der Auffassung, dass sie von den Brgern anerkannt sind oder werden. Damit ist (1.) gemeint, dass es diese Institutionen nur deshalb geben kann, weil ihre wesentlichen Bestimmungen (Rechte, Verpflichtungen etc.) von den Menschen verstanden und als geltend angesehen („anerkannt“) werden. Darber hinaus vertritt Hegel (2.) die These, dass diese Institutionen von den Menschen befrwortet, nmlich als Elemente einer sozialen Grundstruktur erachtet werden, die anderen mçglichen Grundstrukturen vorzuziehen ist und dem Selbstverstndnis dieser Menschen als Staatsbrgern entspricht. Auch zur Bezeichnung dieses Sachverhalts verwendet Hegel den Ausdruck „Anerkanntsein“. Auf den zuletzt genannten Aspekt des Anerkanntseins werde ich weiter unten nher eingehen. Vgl. Teil III, Kapitel 1.3 und 2. 503 EphW3, § 484.

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

„Die Freiheit des Willen ist am besten durch eine Hinweisung auf die physische Natur zu erklren. Die Freiheit ist nmlich ebenso eine Grundbestimmung des Willens, wie die Schwere eine Grundbestimmung der Kçrper ist. Wenn man sagt, die Materie ist schwer, so kçnnte man meinen, dieses Prdikat sei nur zufllig; es ist es aber nicht, denn nichts ist unschwer an der Materie: diese ist vielmehr die Schwere selbst. Das Schwere macht den Kçrper aus und ist der Kçrper. Ebenso ist es mit der Freiheit und dem Willen, denn das Freie ist der Wille. Wille ohne Freiheit ist ein leeres Wort, so wie die Freiheit nur als Wille […] wirklich ist.“504

Demnach gibt es keine Freiheit außerhalb von willentlichen Ttigkeiten und Verhltnissen, und umgekehrt ist jede willentliche Ttigkeit und jedes Willensverhltnis ein Vorkommnis von Freiheit: „das Freie“ und „der Wille“ sind fr Hegel gleichbedeutende Ausdrcke. Hieraus folgt, dass volitionale Akte der oben analysierten Art Vorkommnisse von Freiheit sind. Dass Hegel diese Auffassung in der Tat vertritt, zeigt sein im Folgenden zitierter Kommentar zu einem der Paragraphen der „Einleitung“ der GPhR: „Triebe, Begierden, Neigungen hat auch das Tier, aber das Tier hat keinen Willen und muß dem Triebe gehorchen, wenn nichts ußeres es abhlt. Der Mensch steht aber als das ganz Unbestimmte ber den Trieben und kann sie als die seinigen bestimmen und setzen. Der Trieb ist in der Natur, aber daß ich ihn in dieses Ich setze, hngt von meinem Willen ab, der sich also darauf, daß er in der Natur liegt, nicht berufen kann.“505

Die fragliche volitionale Ttigkeit ist deshalb ein Vorkommnis von Freiheit, weil das wollende Ich sich selbst bestimmt. Das wiederum ist deshalb der Fall, weil dieses Selbstbewusstsein „als das ganz Unbestimmte“ sich gegenber seinen Trieben, Begierden und Neigungen annehmend oder abweisend verhalten kann. Hierin also grndet nach Hegels Auffassung seine Freiheit. (Weil es frei ist, ist dieses Ich zugleich fr seine willentlichen Ttigkeiten verantwortlich; es kann sich in diesem Zusammenhang nicht auf seine „Natur“ oder „ußeres“ berufen, sondern muss sein Handeln gegebenenfalls anders rechtfertigen.)506 Allerdings, so ist zu beachten, vertritt Hegel die Auffassung, dass volitionale Akte der in Rede stehenden Art lediglich defizitre Vorkommnisse von Freiheit sind. Diese Annahme ist im Rahmen der in den GPhR ge504 GPhR, § 4, Zs. 505 GPhR, § 11, Zs. 506 Diesen Punkt haben R. Pippin und T. Pinkard zu Recht betont. Vgl. z. B. Pippin (2000), insbesondere 188 ff., Pippin (2004), insbesondere 74 sowie Pinkard (2002), insbesondere 280 – 286.

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fhrten Untersuchungen systematisch relevant. Fasst man Hegels diesbezgliche berlegungen aus der „Einleitung“ der GPhR zusammen, dann lassen sich im vorliegenden Zusammenhang zwei Defizite identifizieren: Defizit 1: Volitionale Akte der oben beschriebenen Art sind defizitr, weil das Gewollte nur Zweck ist, also keine von ihnen unabhngige Wirklichkeit hat.507 Defizit 2: Volitionale Akte der oben beschriebenen Art sind defizitr, weil das Gewollte nicht seinerseits die Struktur des freien Willens hat.508 Die Behebung dieser beiden Defizite ist fr Hegel eine notwendige und hinreichende Bedingung einer adquaten, nicht defizitren Realisierung von Freiheit. Diese Auffassung erklrt sich wiederum damit, dass Hegel die Freiheit mit dem Willen identifiziert509 und die Ansicht vertritt, dass die Struktur des freien Willens gerade durch die Behebung der oben genannten beiden Defizite adquat verwirklicht wird. Die zuletzt genannte These wird von Hegel mit dem (spekulativen) Argument begrndet, dass der freie Wille „fr sich“ werden msse, was er „an sich“ sei: der (Hegel’sche) Begriff.510 (In den GPhR wird diese – fr die Struktur der Hegel’schen Argumentation zentrale – Annahme vorausgesetzt; zu ihrer Rechtfertigung verweist Hegel auf die in der WL gefhrte Untersuchung.511 Da ich, wie bereits bemerkt, im vorliegenden Zusammenhang die Begriffsstruktur des freien Willens nicht im Rckgang auf die Hegel’sche Logik rekonstruiere, muss ich hier die Frage offenlassen, ob die These, die Behebung der oben genannten beiden Defizite sei hinsichtlich einer adquaten Realisierung von Freiheit notwendig und hinreichend, von Hegel letztlich zufriedenstellend begrndet wird.) Defizit 1 ist dann behoben, wenn das, was die Menschen bejahen, zugleich wirklich ist. In diesem Fall hat das, was sie bejahen (z. B. die Existenz einer Institution X), nicht nur die Form eines Gewollten, sondern zugleich – in Hegel’scher Terminologie – „Objektivitt“512. Das ist beispielsweise daran zu ersehen, dass X auch dann einen Bestandteil der so507 508 509 510 511 512

Vgl. GPhR, § 8. Vgl. GPhR, §§ 9 – 20. Siehe oben, Teil III, Kapitel 1.3. Vgl. GPhR, § 10. Siehe oben, Teil III, Kapitel 1.2. GPhR, § 26.

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

zialen Welt bildete, wenn ein bestimmtes Mitglied derselben aufhçren wrde, dies zu befrworten. Defizit 1 ist deshalb formal, weil es keine Kriterien enthlt, welche die Beschaffenheit der Institutionen betreffen, die in dem oben genannten Sinne gesellschaftlich objektiv sind. Demgegenber wird mit Defizit 2 ein inhaltliches Freiheitskriterium spezifiziert. Denn zu seiner Behebung ist es erforderlich, dass das, was gewollt wird, eine bestimmte Beschaffenheit – nmlich die Struktur des freien Willens – hat. Offenbar werden die Defizite 1 und 2 durch einen sozialen Kontext behoben, der die Struktur des freien Willens bzw. des Hegel’schen Begriffs aufweist und von den Menschen befrwortet wird. Wie seine im Folgenden wiedergegebenen berlegungen zeigen, ist Hegel in der Tat der Auffassung, dass der freie Wille in Gestalt eines solchen Kontextes „fr sich“ das ist, was er „an sich“ ist. „Erst indem der Wille sich selbst zum Gegenstande [handschriftlich: d.i. zum Inhalt und Zwecke] hat, ist er fr sich, was er an sich ist. […] Nur in dieser Freiheit ist der Wille schlechthin bei sich, weil er sich auf nichts als auf sich selbst bezieht, so wie damit alles Verhltnis der Abhngigkeit von etwas anderem hinwegfllt. – Er ist wahr oder vielmehr die Wahrheit selbst, weil sein Bestimmen darin besteht, in seinem Dasein, d.i. als sich Gegenberstehendes zu sein, was sein Begriff ist […].“513

Defizit 2 mutet schwer verstndlich, wenn nicht befremdlich an. Hegels These, dass Freiheit die Gestalt eines sozialen Kontextes haben msse, welcher der Struktur des freien Willens bzw. des Hegel’schen Begriffs gemß ist, scheint, wenn berhaupt, allein mit den spekulativen Annahmen der WL begrndet werden zu kçnnen. Es mag deshalb hilfreich sein, an Hegels obige Feststellung zu erinnern, dass jener Kontext (dessen Bestimmungen sich aus der Struktur des freien Willens ergeben) zugleich „der erscheinende Zusammenhang als die Macht, das Anerkanntsein, d.i. ihr Gelten im Bewußtsein ist“.514 Demnach wird die institutionelle Grundstruktur dieses Kontextes von den (ihm angehçrenden) Menschen befrwortet.515 Vor diesem Hintergrund ist zu vermuten, dass Hegel deshalb in der Behebung von Defizit 2 eine notwendige Bedingung der Verwirklichung von Freiheit sieht, weil er glaubt, dass die Menschen nur solche sozialen Kontexte befrworten werden, die der Struktur des freien Willens 513 GPhR, § 10 und § 23. 514 EphW3, § 484. 515 Siehe oben, Teil III, Kapitel 1.2. Hierauf werde ich im folgenden zweiten Kapitel nher eingehen.

1 Der freie Wille als philosophisches Prinzip

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bzw. des Hegel’schen Begriffs entsprechen. Trifft diese Vermutung zu, dann ist die Plausibilitt des Hegel’schen Standpunkts von der inhaltlichen Beschaffenheit der adquat realisierten Willensstruktur abhngig und ohne Rekurs auf die WL berprfbar. An dieser Stelle ist folgender Einwurf mçglich: Wenn der freie Wille, wie Hegel behauptet, nur durch einen sozialen Kontext adquat instantiiert werden kann, der die Struktur des Hegel’schen Begriffs hat, mssten wir dann nicht, um die Beschaffenheit jenes Kontextes zu ermitteln, die Struktur des Begriffs anhand der Hegel’schen Logik rekonstruieren? In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die WL die Bestimmungen des Denkens als solche behandelt, nicht aber ihr Gegebensein in spezifischen sozialen und institutionellen Verhltnissen. Aus diesem Grunde lsst sich der WL nicht entnehmen, wie der oben genannte Kontext beschaffen ist. Hinzu kommt, dass die Begriffsstruktur nach Hegels Auffassung im Verlauf der in den GPhR gefhrten Untersuchung eine inhaltliche ,Anreicherung‘ erfhrt516 ; deshalb ist es hinsichtlich der Bestimmung desjenigen Kontextes, durch den der freie Wille adquat instantiiert wird, wenig aufschlussreich, ja irrefhrend, die Begriffsmomente der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit in der oben (anlsslich der Erçrterung volitionaler Akte) explizierten Bedeutung zugrunde zu legen.517 Aus diesen Grnden habe ich in jenem Zusammenhang davon abgesehen, die Struktur des Hegel’schen Begriffs anhand der WL zu rekonstruieren.

1.4 Berechtigte Ansprche Hegel versteht die in den GPhR gefhrte Untersuchung zugleich als Ausarbeitung einer Theorie der Gerechtigkeit. Bereits in der ersten Auflage der EphW, in der er den Ausdruck „der Staat“ zur Bezeichnung des adquat realisierten freien Willens verwendet, stellt Hegel fest, dass das, „was die Gerechtigkeit an und fr sich sei sey […] nur in der objectiven Gestalt der Gerechtigkeit, nemlich der Construktion des Staates, also des sittlichen Lebens“518, expliziert werden kçnne. Welche berechtigten Ansprche menschliche Individuen und gesellschaftlich-staatliche Institutionen in gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht haben, hngt fr Hegel letztlich davon ab, ob und wie sie die Struktur des freien Willens realisieren. 516 Vgl. GPhR, § 31. 517 Vgl. Teil III, Kapitel 1.2. 518 EphW1, § 393, Anm.

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

Grundstzlich ist diesbezglich Folgendes festzustellen: 1. Nur solche Individuen und Institutionen, welche Instantiierungen des freien Willens sind, sind Trger berechtigter Ansprche. 2. Je vollkommener Individuen und Institutionen die Willensstruktur realisieren, umso umfassender sind ihre berechtigten Ansprche. Die begriffliche519 Entwicklung des „an sich“ freien Willens zum „an und fr sich“ freien Willen ist das Thema von Hegels Theorie des objektiven Geistes sowie der in den GPhR gefhrten Untersuchung.520 Wie bereits bemerkt, ist der an sich freie Wille zunchst dadurch charakterisiert, dass das, was er will, (i) lediglich ein Zweck ist und (ii) nicht die Struktur des freien Willens hat.521 Demgegenber bezieht sich der an und fr sich freie Wille nur auf sich selbst – denn das, was er will, hat die Struktur des freien Willens und die Gestalt einer sozialen Welt. Nun beansprucht Hegel, durch eine „immanente“522 Kritik an den (unvollkommenen) sozialen Gestalten des an sich freien Willens nachzuweisen, dass allein der an und fr sich freie Wille die Struktur desselben adquat realisiere. Zudem versucht er zu zeigen, dass jede dieser Gestalten eine vollkommenere Instantiierung der Willensstruktur ist als diejenigen Gestalten, aus denen sie durch eine immanente Kritik begrifflich hervorgegangen ist. Aus diesem Grunde haben die „Philosophie des objektiven Geistes“ und die in den GPhR gefhrte Untersuchung einen stufenfçrmigen Charakter. In gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht folgt hieraus, dass derjenige soziale Kontext, durch den der an und fr sich freie Wille instantiiert wird, (1) Trger berechtigter Ansprche ist und (2) umfassendere Ansprche hat als die weniger vollkommenen Realisierungen der Willensstruktur. Da zu diesen Gestalten auch diejenige der Wahlfreiheit gehçrt, die in volitionalen Akten der oben analysierten Art besteht,523 mutet Hegels gerechtigkeitstheoretische Position befremdlich an. Wird in den GPhR eine Theorie ausgearbeitet, welche die Ansprche menschlicher Individuen denjenigen sozialer Instanzen unterordnet?524 519 Es sei hier nur angemerkt, dass zwischen der begrifflichen Entwicklung des freien Willens und der geschichtlichen Realisierung seiner „Momente“ keine Parallelitt besteht. Vgl. GPhR, § 32. Vgl. hierzu auch Schmidt am Busch (2007), 100 f. 520 Vgl. GPhR, § 11. 521 Siehe oben, Teil III, Kapitel 1.3. 522 GPhR, § 31. Es kann hier offenbleiben, ob Hegels Politische und Sozialphilosophie diesen methodischen Anspruch tatschlich erfllen. 523 Siehe oben, Teil III, Kapitel 1.3. 524 Unter der entsprechenden Annahme sind Hegels Politische und Sozialphilosophie immer wieder kritisiert worden, etwa von K. R. Popper, nach dessen Ansicht der

1 Der freie Wille als philosophisches Prinzip

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In diesem Zusammenhang ist zweierlei zu beachten: 1. Derjenige soziale Kontext, durch den der an und fr sich freie Wille instantiiert wird, ist so beschaffen, dass er die weniger vollkommenen Gestalten des freien Willens – als „aufgehobene“ – integriert. Dementsprechend sind diese Gestalten integrale Bestandteile („Momente“) jenes Kontextes. (Fr Hegel folgt dies letztlich aus dem oben genannten Umstand, dass der an und fr sich freie Wille durch eine immanente Kritik aus den weniger vollkommenen Willensgestalten begrifflich hervorgeht.) Als Bestandteile jenes sozialen Kontextes sind aber auch die weniger vollkommenen Gestalten des Willens Trger spezifischer berechtigter Ansprche. Dies wird von Hegel ausdrcklich festgestellt: „Jede Stufe der Entwicklung der Idee der Freiheit hat ihr eigentmliches Recht, weil sie das Dasein der Freiheit in einer ihrer eigenen Bestimmungen ist.“525 Da zu den unvollkommenen Gestalten des freien Willens beispielsweise individuelle Grund- und Eigentumsrechte sowie eine staatlich geschtzte Privatsphre gehçren, kann ein sozialer Kontext, dem diese Elemente fehlen, die Willensstruktur nicht adquat realisieren. Staaten, die nach den Maßstben des 20. Jahrhunderts totalitr sind, also eine Missachtung der Ansprche ihrer Brger sowie nicht-staatlicher Institutionen praktizieren, sind nach Maßgabe der GPhR hçchst defizitre Gestalten des Willens.526 Sie kçnnen deshalb nicht diejenigen Ansprche reklamieren, welche sozialen Kontexten, durch die der an und fr sich freie Wille instantiiert wird, nach Hegels gerechtigkeitstheoretischen berlegungen zukommen. 2. Zwar ist der Geltungsgrund von in gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht berechtigten Ansprchen das spezifische Gegebensein des freien Willens (und nicht das (rationale) Votum der betroffenen menschlichen Individuen); allerdings ist derjenige Kontext, durch den der an und fr sich freie Wille gegeben ist, nach Hegels berzeugung so beschaffen, dass die Menschen seine institutionelle Grundstruktur befrworten. (Das folgt aus der Annahme, dass in ihm die oben geHegel’sche „Staat […] totalitr sein [muß]“. In: Popper (2000), Bd. 2, 76. Vgl. hierzu nun auch Kervgan (2008). 525 GPhR, § 30, Anm. 526 Es sei in diesem Zusammenhang an Hegels Kritik an der terreur der Franzçsischen Revolution erinnert, die fr ihn eine Realisierung von nur einem Moment des freien Willens, dem der Allgemeinheit, ist. Vgl. GPhR, § 5, Anm. Vgl. hierzu auch Franco (1999), 161.

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

nannten Defizite 1 und 2 behoben sind.)527 Es wird deshalb zu prfen sein, aufgrund welcher Annahmen Hegel der Auffassung ist, dass die Menschen die Institutionen desjenigen Kontextes, durch den der an und fr sich freie Wille realisiert wird, bejahen; mçglicherweise sind diese Annahmen (oder einige von ihnen) auch aus heutiger Sicht zustimmungsfhig.

527 Siehe oben, Teil III, Kapitel 1.3.

2 Die Grundzge der Hegel’schen Staatstheorie Der Staat ist derjenige soziale Kontext, in dem der an und fr sich freie Wille wirklich ist.528 Diese Auffassung wird von Hegel sowohl in der enzyklopdischen „Philosophie des objektiven Geistes“ als auch in den GPhR verteidigt. Im vorliegenden Zusammenhang ist zu beachten, dass Hegel zwischen „Staat“ und „politischer Staat“ unterscheidet. Er verwendet jenen Ausdruck zur Bezeichnung eines Gemeinwesens, das aus den Sphren der Familie, der brgerlichen Gesellschaft und des politischen Staates besteht. Unter einem politischen Staat versteht Hegel wiederum die Verfassungsund Regierungsorgane sowie die administrativen Institutionen eines Staates.529 Demnach verwirklicht sich der an und fr sich freie Wille nach Hegels Auffassung nicht (allein) in den politischen Strukturen eines Gemeinwesens, sondern in Gemeinwesen als ganzen, welche die oben genannten sozialen Sphren beinhalten (und die im Folgenden spezifizierten Bedingungen erfllen). Warum ist Hegel der Auffassung, dass Staaten adquate Realisierungen der Struktur des freien Willens sind? Dieser Frage werde ich im vorliegenden Kapitel nachgehen. Methodisch werde ich mich im Rahmen dieser Untersuchung an Hegels These orientieren, dass der an und fr sich freie Wille durch einen sozialen Kontext instantiiert wird, in dem das Gewollte (1.) zugleich gesellschaftlich wirklich ist und (2.) die Struktur des freien Willens hat. Demnach sind Staaten in willenstheoretischer Hinsicht dadurch charakterisiert, dass sie diejenigen beiden Defizite beheben, durch welche die in der „Einleitung“ der GPhR analysierte Gestalt des freien Willens belastet wird.530 Folglich werde ich zu untersuchen haben, aufgrund welcher Eigenschaften Staaten, so wie Hegel sie versteht, die unter (1.) und (2.) genannten Bedingungen erfllen. Mit dieser Untersuchung werde ich Hegels Staatstheorie in ihren Grundzgen analysieren.

528 Vgl. zu Hegels Theorie des Staates auch die erhellende Diskussion in Ameriks & Stolzenberg (2004), 1 – 334. 529 Vgl. GPhR, § 267. 530 Siehe oben, Teil III, Kapitel 1.3.

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

2.1 Substantielle Freiheit Im § 257 der GPhR lesen wir: „Der Staat ist […] der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Wille, der sich denkt und weiß und das, was er weiß und insofern er es weiß, vollfhrt. An der Sitte hat er seine unmittelbare und an dem Selbstbewußtsein des Einzelnen, dem Wissen und Ttigkeit desselben, seine vermittelte Existenz, so wie dieses durch die Gesinnung in ihm, als seinem Wesen, Zweck und Produkte seiner Ttigkeit, seine substantielle Freiheit hat.“531

Der substantielle Wille ist der freie Wille, der in Gestalt einer institutionellen Praxis existiert. Er wird von Hegel ausdrcklich von dem Willen des Einzelnen abgegrenzt.532 Anders als im Fall des in der „Einleitung“ der GPhR analysierten freien Willens hat das Gewollte in Gestalt des substantiellen Willens nicht nur Zweckform, sondern ist zugleich gesellschaftlich verwirklicht. In der Tat gibt es hier ein institutionelles Arrangement, das von den Mitgliedern der fraglichen sozialen Praxis grundstzlich befrwortet wird, und umgekehrt ist das, was diese Personen als Staatsbrger in institutioneller Hinsicht fr richtig erachten, im Wesentlichen gesellschaftlich verwirklicht: „Die Gesetze, die den Staat regieren, wissen die Individuen, die danach regiert werden, und sie wollen es.“533 In Gestalt eines Staates ist der substantielle Wille zugleich „der offenbare, sich selbst deutliche“ Wille, „der sich denkt und weiß“. Wie gesehen, ist der freie Wille „die Einheit des theoretischen und praktischen Geistes“534 ; seine Bestimmungen gehçren „dem Denken“535 an und sind deshalb grundstzlich erkennbar. In Form eines Staates gelangt der freie Wille nun zu einem (adquaten) Selbstverstndnis.536 Denn im Bewusstsein seiner Brger und institutionellen Akteure ist er auf diejenigen Bestimmungen bezogen, die ihm – kraft seiner „Verfassung“537 – wesentlich sind. Allerdings gelangt er auf diese Weise nicht nur zu einem Wissen seiner selbst; vielmehr ist der substantielle Wille dadurch charakterisiert, dass er „das, was er weiß und insofern 531 532 533 534 535 536

GPhR, § 257. Vgl. GPhR, § 258, Anm. PhR. 1821/22, § 257. EphW3, § 481. EphW3, § 485. Allerdings versteht er sich in Gestalt eines Staates nicht als adquat realisierter (Hegel’scher) Wille. Dieser Standpunkt ist nach Hegels Auffassung der des Philosophen. 537 GPhR, § 267.

2 Die Grundzge der Hegel’schen Staatstheorie

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er es weiß, vollfhrt“ (meine Hervorhebung – SaB). Demnach kennen die Brger und institutionellen Akteure nicht nur die wesentlichen Bestimmungen (bzw. die institutionelle Grundstruktur) des substantiellen Willens, sondern sie handeln bewusst („insofern“) in bereinstimmung mit ihnen. Weil das so ist, sind diese Bestimmungen, wie Hegel an anderer Stelle schreibt, etwas „allgemein Anerkanntes, Gewußtes und Gewolltes“.538 Aus dem Gesagten folgt, dass derjenige Staat, dessen Begriff in den GPhR expliziert wird, ein konstitutioneller ist. Staatliches Handeln und Handeln im Staat sind nicht willkrlich, sondern richten sich an der Verfassung und den Gesetzen aus – deshalb bestehen sie „der Form nach in einem nach gedachten, d. h. allgemeinen Gesetzen und Grundstzen sich bestimmenden Handeln“.539 Auf der Stufe des substantiellen Willens gibt es also Kriterien richtigen Handelns, welche allgemein bekannt und anerkannt sind und deshalb soziale Geltung haben. Wie Hegel betont, ist der substantielle Wille ein Freiheitsverhltnis.540 Da „die Freiheit“ und „der Wille“ fr ihn koextensionale Ausdrcke sind,541 ist es nicht berraschend, dass Hegel jenen Standpunkt vertritt. Diejenige Art von Freiheit, die sich mit dem substantiellen Willen verwirklicht, bezeichnet Hegel mit „substantielle Freiheit“. Folgt man der oben zitierten Textstelle, dann besteht sie in einer spezifischen „Gesinnung“, nmlich in der (mehr oder weniger expliziten) berzeugung des Einzelnen, dass der Staat „sein Wesen, Zweck und Produkt seiner Ttigkeit“ ist. Auf der Grundlage unserer bisherigen berlegungen lassen sich diese Bestimmungen verstndlich machen. Als substantieller Wille ist der Staat – also (nach Hegels Auffassung) ein aus den Sphren der Familie, der brgerlichen Gesellschaft und des politischen Staates bestehendes Gemeinwesen542 – das Wesen des einzelnen „Selbstbewußtseins“, weil es diesem (offenbar) wesentlich ist, diejenigen Rechte und Pflichten zu haben, die Brger dieses Staates haben, und weil es weiß, dass diese Rechte und Pflichten durch die gesellschaftlich-staatlichen Institutionen spezifiziert und geschtzt werden. Dementsprechend weiß das einzelne Selbstbewusstsein, dass das, was es in staatsbrgerlicher Hinsicht sein mçchte, etwas institutionell Anerkanntes ist. Wie damit bereits ange538 GPhR, § 209. 539 GPhR, § 258, Anm. 540 Vgl. zu Hegels Theorie sozialer Freiheit vor allem Neuhouser (2000). Mit dieser Untersuchung setze ich mich an anderer Stelle auseinander. Vgl. Schmidt am Busch (2007), 111 – 113. 541 Siehe oben, Teil III, Kapitel 1.3. 542 Siehe oben, Teil III, Kapitel 2.

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

deutet worden ist, ist es fr das Vorliegen von substantieller Freiheit notwendig, dass das einzelne Selbstbewusstsein sich als Staatsbrger versteht, dass seine – durch ein spezifisches Set an Rechten und Pflichten definierte – Rolle des Staatsbrgers also einen Teil seiner Identitt ausmacht; andernfalls wre es nmlich unverstndlich, warum es die gesellschaftlich-staatlichen Institutionen als „sein Wesen“ versteht. Warum der Staat als substantieller Wille der „Zweck“ und das „Produkt“ der Ttigkeit des Selbstbewusstseins ist, lsst sich auf der Grundlage dieser berlegungen leicht verstndlich machen. Offenbar ist es dem einzelnen Selbstbewusstsein nicht nur wesentlich, ein Brger mit spezifischen Rechten und Pflichten zu sein, sondern es ist ihm auch wichtig, Brger eines bestimmten Staates zu sein; und offenbar ist dieser Staat derjenige, dessen Brger er ist. Unter diesen Annahmen ist es jedenfalls verstndlich, warum die Aufrechterhaltung der gesellschaftlich-staatlichen Ordnung ein „Zweck“ des fraglichen Selbstbewusstseins ist. Indem dieses Selbstbewusstsein als Staatsbrger agiert, trgt es zum Fortbestand jener Ordnung bei und kann sie mithin als „Produkt“ auch „seiner Ttigkeit“ ansehen. „Substantielle Freiheit“, so hat sich damit ergeben, ist eine soziale Kategorie. Ob ein menschliches Individuum in diesem Sinne frei ist oder nicht, hngt davon ab, ob es einem spezifischen sozialen Kontext angehçrt und ob es eine diesem Kontext entsprechende „Gesinnung“ hat. Die Erfllung keiner dieser beiden Bedingungen steht (allein) in der Macht eines einzelnen Menschen. Wie Hegel betont, ist das Vorliegen von substantieller Freiheit an einen sozialen Kontext gebunden, in dem die Brger und institutionellen Akteure ihr Handeln „nach gedachten, d. h. allgemeinen Gesetzen und Grundstzen“ ausrichten. Unter dieser Annahme kann substantielle Freiheit durch eine – im Hegel’schen Sinne – familienartige private Sphre nicht angemessen gesichert werden. Zwar ist auch ein solcher Kontext rechtlich strukturiert, und es ist denkbar, dass die Angehçrigen desselben diese Struktur befrworten und als wichtig erachten; allerdings ist ihr Handeln innerhalb ihrer Familie (idealerweise) von Empfindungen geprgt, die sich auf bestimmte Andere (nmlich die anderen Familienmitglieder) beziehen.543 Aus diesem Grunde besteht es in wesentlichen Aspekten nicht „in einem nach gedachten, d. h. allgemeinen Gesetzen und Grundstzen sich bestimmenden Handeln“. Folglich ist das Vorliegen von substantieller Freiheit an die Existenz eines çffentlichen Raumes gebunden, in dem die 543 Vgl. GPhR, § 162 f.

2 Die Grundzge der Hegel’schen Staatstheorie

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Menschen ihr Handeln nicht an Empfindungen fr bestimmte Andere, sondern an in dieser Hinsicht unspezifischen Grundstzen ausrichten. Aus dem Gesagten folgt ferner, dass substantielle Freiheit mit keiner Form von Willkrherrschaft vereinbar ist. Beruht das Verhalten institutioneller Akteure nmlich auf Willkr, gengt es nicht dem Erfordernis, sich nach allgemeinen sowie allgemein bekannten und anerkannten Gesetzen zu bestimmen. Substantiell frei kann ein menschliches Individuum also nur in einem çffentlichen Raum sein, in dem Institutionen auf nachvollziehbare (und grundstzlich kritisierbare) Weise in bereinstimmung mit allgemein anerkannten Prinzipien agieren. Als Ergebnis dieser berlegungen ist Folgendes festzuhalten: Als ein substantielles Willensverhltnis ist der Staat geeignet, das oben genannte Defizit 1 zu beheben. Wie gesehen, besteht dieses Defizit darin, dass das Gewollte die Form eines Zwecks hat und nicht zugleich gesellschaftlich verwirklicht ist. Es wird vom (Hegel’schen) Staat durch die Etablierung von Institutionen behoben, die dem Selbstverstndnis der Menschen als Staatsbrger entsprechen. Dementsprechend sind diese Menschen auf substantielle Weise frei, wenn das, was sie als Staatsbrger grundstzlich befrworten, soziale Wirklichkeit hat.

2.2 Konkrete Freiheit Der Staat, dessen Struktur in den GPhR analysiert wird, ist nicht nur ein substantielles Willensverhltnis, sondern auch „die Wirklichkeit der konkreten Freiheit“: „Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit; die konkrete Freiheit aber besteht darin, daß die persçnliche Einzelheit und deren besondere Interessen sowohl ihre vollstndige Entwicklung und die Anerkennung ihres Rechts fr sich (im Systeme der Familie und der brgerlichen Gesellschaft) haben, als sie durch sich selbst in das Interesse des Allgemeinen teils bergehen, teils mit Wissen und Willen dasselbe und zwar als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und fr dasselbe als ihren Endzweck ttig sind, so daß weder das Allgemeine ohne das besondere Interesse, Wissen und Wollen gelte und vollbracht werde, noch daß die Individuen bloß fr das letztere als Privatpersonen leben und nicht zugleich in und fr das Allgemeine wollen und eine dieses Zwecks bewußte Wirksamkeit haben. Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Strke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivitt sich zum selbstndigen Extreme der persçnlichen Besonderheit vollenden zu lassen

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

und zugleich es in die substantielle Einheit zurckzufhren und so in ihm selbst diese zu erhalten.“544

Demnach ist ein Gemeinwesen dann „die Wirklichkeit der konkreten Freiheit“, wenn es die folgenden drei Funktionen erfllt. Es muss so beschaffen sein, 1. dass „die persçnliche Einzelheit“ sich vollstndig entwickelt und rechtlich anerkannt wird; 2. dass „die besonderen Interessen“ dieser Einzelheit sich vollstndig entwickeln und rechtlich anerkannt werden; und 3. dass die persçnliche Einzelheit und ihre besonderen Interessen das Allgemeine „als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und fr dasselbe als ihren Endzweck ttig sind“. Ohne die Frage erçrtert zu haben, welche Erfllungsbedingungen diese drei Funktionen haben,545 lassen sich einige wichtige Feststellungen treffen. Erstens ist ein Gemeinwesen, das die obigen drei Funktionen erfllt, nach Hegels Auffassung eine adquate Realisierung der Struktur des freien Willens. Das ist dem letzten Satz des oben zitierten Paragraphen zu entnehmen. Mit ihm behauptet Hegel nmlich, dass es „das Prinzip“ der von ihm analysierten Staaten sei, durch das sich die „persçnliche Besonderheit“ – also „die persçnliche Einzelheit und deren besondere Interessen“ – verwirkliche und „in die substantielle Einheit“ – also den Staat als substantielles Willensverhltnis – zurckgefhrt werde. Nun ist das Prinzip jener Staaten nichts anderes als „der Begriff des Willens“546, wie Hegel ausdrcklich feststellt. Folglich ist es der freie Wille, der sich in Gemeinwesen, welche die obigen drei Funktionen erfllen, nach Hegels Auffassung adquat verwirklicht.547

544 545 546 547

GPhR, § 260. Diese Frage wird weiter unten behandelt werden. Vgl. Teil III Kapitel 3, 4 und 5. GPhR, § 260, Zs. Wenngleich dieser Zusammenhang in den oben zitierten Paragraphen nicht thematisiert wird, ist zu vermuten, dass die Erfllung der ersten Funktion eine Verwirklichung des Willensmoments der „Allgemeinheit“, die Erfllung der zweiten Funktion eine Verwirklichung des Willensmoments der „Besonderheit“ und die Erfllung der dritten Funktion eine Verwirklichung des Willensmoments der „Einzelheit“ ist. Eine berprfung dieser Annahme erfordert eine Spezifizierung der Erfllungsbedingungen der in Rede stehenden Funktionen und liegt deshalb außerhalb der Grenzen der hier vorgenommenen Skizze der Hegel’schen Staatstheorie. In welchem Sinne die Erfllung der ersten Funktion eine Verwirklichung des Willensmoments der „Allgemeinheit“ und die Erfllung der zweiten Funktion

2 Die Grundzge der Hegel’schen Staatstheorie

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Zweitens ist Hegel der Auffassung, dass substantielle Freiheit ein Bestandteil oder Aspekt von konkreter Freiheit (und keine andere Art von Freiheit als diese) ist. Das wird durch seine Behauptungen nahegelegt, dass Gemeinwesen, welche „die Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ sind, eine „substantielle Einheit“ bilden und dass „das Allgemeine“ im Fall solcher Ordnungen von den Menschen als ihr eigener „substantielle[r] Geist“ anerkannt wird. In bereinstimmung mit diesen Aussagen stellt Hegel fest: „Die Vereinigung als solche [d.h. substantielle Freiheit – SaB] ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu fhren; ihre weitere besondere Befriedigung, Ttigkeit, Weise des Verhaltens hat dies Substantielle und Allgemeingltige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate.“548

Drittens vertritt Hegel im Zusatz von § 260 der GPhR die These, dass die „Idee des Staates“ als die Wirklichkeit der konkreten Freiheit eine „Eigentmlichkeit“ der „neue[n] Zeit“ (meine Hervorhebung – SaB) sei: „Das Wesen des neuen Staates ist, daß das Allgemeine verbunden sei mit der vollen Freiheit der Besonderheit und dem Wohlergehen der Individuen, daß also das Interesse der Familie und brgerlichen Gesellschaft sich zum Staate zusammennehmen muß, daß aber die Allgemeinheit des Zwecks nicht ohne das eigene Wissen und Wollen der Besonderheit, die ihr Recht behalten muß, fortschreiten kann. Das Allgemeine muß also bettigt sein, aber die Subjektivitt auf der anderen Seite ganz und lebendig entwickelt werden.“549

Da ihr die adquate Realisierung der Willensstruktur vorbehalten sei, ist die „neue Zeit“ (bzw. die Moderne) nach Hegels Ansicht nicht nur spter, sondern in freiheits- und gerechtigkeitstheoretischer550 Hinsicht auch besser als die alten Zeiten. Mehr noch: Wenn die „neue[] Zeit“ (bzw. die Moderne) die Struktur des freien Willens tatschlich adquat realisiert, ist es ausgeschlossen, dass auf sie eine Zeit folgt, die in freiheits- und gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht besser ist als sie. Diese sehr starken geschichtsphilosophischen Thesen seien hier nur genannt; ihre Begrndung in der EphW muss im Rahmen unserer Untersuchung außer Acht bleiben.551

548 549 550 551

eine Verwirklichung des Willensmoments der „Besonderheit“ ist, wird aus meinen weiteren berlegungen hervorgehen. GPhR, § 258, Anm. GPhR, § 260, Zs. Siehe oben, Teil III, Kapitel 1.4. Das folgt aus unserer oben genannten methodischen Entscheidung bezglich der WL. Vgl. Teil III, Kapitel 1.3.

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

Viertens glaubt Hegel aufgrund seiner Geschichtsphilosophie berechtigt zu sein, Aussagen ber die „Interessen“552 der Mitglieder moderner Gemeinwesen treffen zu kçnnen. In der Tat ist Hegel der Auffassung, dass die Menschen „in neuer Zeit“ ein Interesse daran haben553, als Personen und eigentumsfhige Individuen rechtlich anerkannt zu sein; ihre „besonderen Interessen“ bzw. ihr „besonderes Wohl“554 durch soziale Interaktionen zu befriedigen; und ihr „substantielles Wesen“555 zu befriedigen.556 Weil das so ist, befrworten diese Menschen die Grundstruktur von Gemeinwesen, die als „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ auf die Erfllung der entsprechenden sozialen Funktionen557 ausgerichtet sind.558 Fnftens verwirklicht sich nach Hegels Auffassung in der Befrwortung des modernen Staates durch den Einzelnen die Freiheit desselben. Bezglich der Gesinnung des Patriotismus stellt Hegel fest: „Diese Gesinnung ist berhaupt das Zutrauen (das zu mehr oder weniger gebildeter Einsicht bergehen kann), das Bewußtsein, daß mein substantielles und besonderes Interesse im Interesse und Zwecke eines Anderen (hier des Staats) als im Verhltnis zu mir als Einzelnem bewahrt und enthalten ist, womit eben dieser unmittelbar kein anderer fr mich ist und Ich in diesem Bewußtsein frei bin.“559 Halten wir fest: Auf der Grundlage der im vorliegenden Kapitel gefhrten Untersuchung lsst sich (zumindest in groben Zgen) angeben, warum ein Gemeinwesen als „die Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ geeignet ist, die beiden Defizite (D-1 & D-2) der in der „Einleitung“ der GPhR analysierten Gestalt des freien Willens560 zu beheben. Dies ist deshalb der Fall, weil ein solches Gemeinwesen mit der Erfllung der obigen drei Funktionen die Momente des Hegel’schen Begriffs bzw. der Struktur des freien Willens realisiert. Zugleich wird es aufgrund seiner 552 GPhR, § 261, Anm. 553 Selbstverstndlich wird damit nicht behauptet, dass die Interessen der Brger moderner Staaten auf die (im Haupttext) im Weiteren genannten beschrnkt seien. 554 GPhR, § 261, Anm. 555 GPhR, § 261, Anm. 556 Vgl. hierzu GPhR, § 261, Anm. 557 Siehe oben, Teil III, Kapitel 2.2. 558 Wie wir spter im Einzelnen sehen werden, beruht Hegels Bestimmung der in Rede stehenden Interessen sehr stark auf empirischen Untersuchungen. Aus diesem Grunde ist es denkbar, dass seine berlegungen (zumindest in Teilen) fr die aktuelle Kritische Theorie ,anschlussfhig‘ sind. 559 GPhR, § 268. – Vgl. zu Hegels Theorie des Patriotismus auch Williams (1997), 272 – 274. 560 Siehe oben, Teil III, Kapitel 1.3.

2 Die Grundzge der Hegel’schen Staatstheorie

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institutionellen Struktur von seinen Brgern grundstzlich befrwortet. Folglich bildet es einen sozialen Kontext, in dem das, was die Menschen als Brger wollen, (1.) zugleich gesellschaftlich wirklich ist und (2.) die Struktur des freien Willens hat.

2.3 Zum Aufbau der weiteren Untersuchung In den folgenden Kapiteln werde ich mich mit Hegels Theorie der „persçnlichen Einzelheit“ und der „besonderen Interessen“ auseinandersetzen. Ich werde diese Elemente der GPhR so interpretieren, dass deutlich werden wird, warum sie wesentliche Beitrge zur Erreichung der sozialtheoretischen und -kritischen Ziele der Kritischen Theorie leisten kçnnen. Da diese Interpretation ein neues Licht auf Hegels Politische und Sozialphilosophie wirft, ist sie auch unabhngig von den von mir herausgestellten Bezgen zur Kritischen Theorie aufschlussreich. Wie eingangs bemerkt, bietet der vorliegende Dritte Teil meiner Arbeit keine Interpretation der GPhR als ganzer. So werde ich beispielsweise nicht der Frage nachgehen, welche Beitrge die Familie (die eine der drei sittlichen Sphren des Hegel’schen Staates bildet561) zur Entwicklung und rechtlichen Anerkennung der „persçnlichen Einzelheit“ und ihrer „besonderen Interessen“ leistet. Und ich werde auch nicht untersuchen, welche Erfllungsbedingungen der dritte der oben unterschiedenen Aspekte562 von konkreter Freiheit hat. Diesen Entscheidungen liegen berlegungen zugrunde, die auf die am Ende des Ersten Teils meiner Abhandlung genannten Untersuchungsziele bezogen sind. Die Fragen, ob Mrkte als Institutionalisierungen einer spezifischen Form von Anerkennung verstanden werden kçnnen und ob die Existenz von Mrkten anerkennungstheoretisch (zumindest prima facie) legitimiert werden kann, lassen sich ohne Bezugnahme auf Hegels Konzeption der Familie und des politischen Staates beantworten. Ferner kann auch die sozialtheoretische Relevanz von meritokratischer Wertschtzung563 im Rahmen einer Analyse des zeitgençssischen Kapitalismus auf diese Weise bestimmt werden. Und schließlich lsst sich so auch sichtbar machen, warum eine gesellschaftliche Praxis meritokratischer 561 Siehe oben, Teil III, Kapitel 2. 562 Vgl. Teil III, Kapitel 2.1. 563 Ich beziehe mich hier auf die in Teil I, Kapitel 6.2 analysierte Form meritokratischer Wertschtzung.

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

Wertschtzung problematisch und vom Standpunkt einer normativen Anerkennungstheorie in der Tradition der Frankfurter Schule zu kritisieren ist. Ich rume ein, dass es im Rahmen der zuletzt genannten Untersuchung vorteilhaft wre, Hegels Theorie der Familie und des politischen Staates zu bercksichtigen. In diesem Fall wre es nmlich mçglich, eventuelle negative Auswirkungen einer (entfesselten) Praxis meritokratischer Wertschtzung bezglich jener beiden sozialen Sphren auf der Grundlage der Hegel’schen Theorie zu bestimmen. Allerdings hat Hegel selbst, soweit ich sehe, zu diesem Thema keine berlegungen entwickelt, die ber das im vorliegenden Teil meiner Abhandlung Gesagte hinausgehen. Zudem wre allein die Rekonstruktion seiner Theorie der Familie und des politischen Staates sehr aufwendig. Aus diesen Grnden habe ich mich entschlossen, diese Elemente der GPhR hier nicht zu behandeln.

3 Personaler Respekt Im vorliegenden Kapitel verfolge ich zwei Ziele. Zum einen beabsichtige ich, eines der Elemente von konkreter Freiheit zu erçrtern: die vollstndige Entwicklung und rechtliche Anerkennung dessen, was Hegel mit „persçnliche Einzelheit“ bezeichnet. In diesem Zusammenhang werde ich untersuchen, ob und inwiefern die Entwicklung und Anerkennung der persçnlichen Einzelheit, wie oben vermutet564, eine Verwirklichung des Willensmoments der Allgemeinheit ist. Ich werde darlegen, warum dieses Element von konkreter Freiheit in einer spezifischen rechtlichen und çkonomischen Praxis565 besteht, durch welche die Menschen sich als Personen respektieren. Zum anderen werde ich Hegels diesbezgliche berlegungen fr eine Beantwortung von zwei Fragen fruchtbar machen, die im Kontext der aktuellen Kritischen Theorie von großer Wichtigkeit sind. Diese Fragen lauten: 1. Kçnnen Mrkte anerkennungstheoretisch analysiert werden? 2. Kann die Existenz von Mrkten anerkennungstheoretisch legitimiert werden? Wie ich zeigen werde, enthlt Hegels Theorie der Entwicklung und Anerkennung der persçnlichen Einzelheit Argumente, mit denen sich Mrkte als Institutionalisierungen einer spezifischen Form von Anerkennung ausweisen lassen. Zudem lsst sich im Ausgang von Hegels berlegungen darlegen, warum die Existenz von Mrkten aus anerkennungstheoretischen Grnden grundstzlich befrwortet werden kann. Da die fraglichen Argumente mit einer Kritik am Neoliberalismus kompatibel sind, ist Hegels Theorie der Entwicklung und Anerkennung der persçnlichen Einzelheit

564 Siehe oben, Teil III, Kapitel 2.2. 565 Um Missverstndnissen vorzubeugen, mçchte ich betonen, dass meine Verwendung von „Praxis“ offenlsst, ob die mit diesem Ausdruck bezeichneten sozialen Entitten ohne Weiteres stabil sind oder nicht. Wie wir sehen werden, ist Hegel der Auffassung, dass personaler Respekt allein ungeeignet ist, eine stabile gesellschaftliche Praxis zu stiften. Aus diesem Grunde handelt es sich bei ihm lediglich um ein „Moment“ der Struktur des freien Willens.

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vom Standpunkt der aktuellen Kritischen Theorie von sehr großem Interesse.

3.1 Personsein und personaler Respekt Die Entwicklung und Anerkennung der „persçnlichen Einzelheit“ vollzieht sich in einem institutionellen Kontext, den Hegel mit dem Ausdruck „das abstrakte Recht“ bezeichnet. Wie er selbst feststellt, ist die „Grundlage“566 dieses Rechts ein spezifisches Willens- und Anerkennungsverhltnis. In den GPhR wird dieser Umstand mithilfe des folgenden „Rechtsgebots“ ausgedrckt: „[S]ei eine Person und respektiere die anderen als Personen.“567 Hinsichtlich der Erreichung der oben genannten Ziele ist zunchst zu untersuchen, was eine Person in Hegels Verstndnis ist und was es heißt, dass Menschen einander als Personen respektieren. 3.1.1 Personsein Was Hegel unter einer Person versteht,568 lsst sich anhand seiner folgenden berlegungen angeben: „Die Allgemeinheit dieses fr sich freien Willens ist die formelle, die selbstbewußte, sonst inhaltslose einfache Beziehung auf sich in seiner Einzelheit, – das Subjekt ist insofern Person. In der Persçnlichkeit liegt, daß ich als Dieser vollkommen nach allen Seiten (in innerlicher Willkr, Trieb und Begierde, sowie nach unmittelbarem ußerlichen Dasein) bestimmte und endliche, doch schlechthin reine Beziehung auf mich bin und in der Endlichkeit mich so als das Unendliche, Allgemeine und Freie weiß.“569

Hierzu merkt Hegel an: „Die Persçnlichkeit fngt erst da an, insofern das Subjekt nicht bloß ein Selbstbewußtsein berhaupt von sich hat als konkretem, auf irgendeine Weise bestimmtem, sondern vielmehr ein Selbstbewußtsein von sich als vollkommen abstraktem Ich, in welchem alle konkrete Beschrnktheit und Gltigkeit negiert und ungltig ist.“570

566 GPhR, § 36. 567 GPhR, § 36. 568 Vgl. zu Hegels Begriff der Person auch Siep (1992). Zum Verhltnis von „Person“ und „Persçnlichkeit“ bei Hegel vgl. Quante (1997) und Quante (2004), 13 – 55. 569 GPhR, § 35. 570 GPhR, § 35, Anm.

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Als eine Person ist ein menschliches Individuum („Subjekt“) auf sich selbst bezogen; es ist, in Hegels Worten, „Beziehung auf sich in seiner Einzelheit“. Diese Beziehung hat zwei wesentliche Aspekte. Zum einen ist ein Individuum „als Dieser vollkommen nach allen Seiten bestimmte und endliche“ Beziehung auf sich selbst. Als eine raumzeitlich individuierte571, in einem biologischen Sinne lebendige und in einem spezifischen sozialen Kontext stehende Entitt ist es auf vielfache Weise „bestimmt“: Es hat bestimmte berzeugungen, Bedrfnisse, Neigungen und Interessen. Zudem weiß es, dass es solche berzeugungen, Bedrfnisse, Neigungen und Interessen hat, und es weiß in den meisten Fllen auch, welche berzeugungen, Bedrfnisse, Neigungen und Interessen es hat. Mit diesem Wissen ist es auf sich als ein „konkretes“ Subjekt bezogen; es steht zu sich in einer „bestimmten und endlichen“ Beziehung. Zum anderen weiß dieses Individuum sich als ein „vollkommen abstrakte[s] Ich, in welchem alle konkrete Beschrnktheit und Gltigkeit negiert und ungltig ist“. Wie ist das zu verstehen? Offenbar steht das Ich, das auf sich als bestimmtes bezogen ist, zugleich auf dem Standpunkt, sich von jeder seiner berzeugungen, von jedem seiner Bedrfnisse und von jeder seiner Zielsetzungen willentlich distanzieren zu kçnnen. Fr es gibt es grundstzlich keine berzeugung, die es nicht in Frage stellen und auf ihre Richtigkeit oder Berechtigung hin prfen kçnnte. Ebenso wenig gibt es fr es ein Bedrfnis, dem es handelnd nachgehen msste; vielmehr ist es der berzeugung, dass es auch dann, wenn es das Bedrfnis hat, X zu tun, die Absicht bilden und verfolgen kann, nicht X zu tun. Demnach versteht es seine Absichten als von ihm selbst gesetzte Zwecke und mithin als etwas, von dem es sich willentlich distanzieren kann. Es ist also grundstzlich der berzeugung, dass es die Absicht, X zu tun, nicht verfolgen muss, und stattdessen wollen kann, nicht X zu tun. In diesem Sinne versteht sich das fragliche Individuum als ein „abstraktes“, nmlich von seinen berzeugungen, Bedrfnissen und Zielsetzungen willentlich abstrahieren kçnnendes Ich. Damit lsst sich angeben, in welchem Sinne sich das Individuum, wie Hegel schreibt, „als das Unendliche, Allgemeine und Freie weiß“. Mit dem Sich-Zuschreiben der Fhigkeit, sich von seinen berzeugungen, Bedrfnissen und Zielsetzungen willentlich zu distanzieren, steht ein Individuum auf dem Standpunkt, an keinen „bestimmten und endlichen“ Inhalt (unlçslich) gebunden zu sein; in diesem Sinne versteht es sich als 571 Aufgrund dieser Bestimmung ist das fragliche Individuum ein „Dieser“.

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„das Unendliche“. Voraussetzung hierfr ist, dass es sich mit „ich“ auf sich beziehen und sich als ein inhaltlich nicht bestimmtes Ich gegeben sein kann; als ein solches Ich ist es fr sich „das Allgemeine“. Schließlich ist es der Auffassung, dass seine Freiheit in der Aktualisierung der Fhigkeit besteht, sich von seinen berzeugungen, Bedrfnissen und Zielsetzungen willentlich zu distanzieren, und selbst zu entscheiden, welche Zwecke es handelnd verfolgt. Dass es hierin seine Freiheit sieht, zeigt, dass es die Aktualisierung dieser Fhigkeit positiv bewertet. Es weiß sich also nicht nur als ein Individuum, das diese Fhigkeit hat; vielmehr bejaht es sich zugleich als ein solches Individuum. Es will mithin ein Ich sein, das sich zu sich als Inhaber spezifischer berzeugungen, Bedrfnisse, Neigungen etc. verhlt und selbst entscheidet, welche Zwecke es verfolgt. Aus diesem Grunde ist es als Person ein Willensverhltnis. Wie seinen oben wiedergegebenen berlegungen zu entnehmen ist, versteht Hegel die Beziehung eines Individuums auf sich „als vollkommen abstrakte[s] Ich“ als Aktualisierung des Willensmoments der „Allgemeinheit“. Diese Annahme ist im Rahmen der Hegel’schen Argumentation plausibel. In der „Einleitung“ der GPhR wird nmlich, wie bemerkt, das Willensmoment der Allgemeinheit beschrieben als „das Element der reinen Unbestimmtheit oder der reinen Reflexion des Ich in sich, in welcher jede Beschrnkung, jeder durch die Natur, die Bedrfnisse, Begierden und Triebe unmittelbar vorhandene oder, wodurch es sei, gegebene und bestimmte Inhalt aufgelçst ist“.572 Da das Personsein das erste im Haupttext der GPhR untersuchte Willensverhltnis ist, ist es schlssig, dass das Moment der Allgemeinheit hier noch keine inhaltlich reichhaltigere Gestalt573 hat. Hegels weitere berlegungen zum Personsein betreffen das Verhltnis der Willensmomente der Allgemeinheit und der Besonderheit. Hierzu lesen wir: „Die Besonderheit des Willens ist wohl Moment des ganzen Bewußtseins des Willens, aber in der abstrakten Persçnlichkeit als solcher noch nicht enthalten. Sie ist daher zwar vorhanden, aber als von der Persçnlichkeit, der Bestimmung der Freiheit, noch verschieden, Begierde, Bedrfnis, Triebe, zuflliges Belieben usf.“574

Hegels berlegungen lassen sich thesenartig wie folgt zusammenfassen: 572 GPhR, § 5. 573 Vgl. Teil III, Kapitel 1.3. 574 GPhR, § 37.

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1. Das Moment der Besonderheit ist ein integraler Bestandteil der Struktur des personalen Willens. 2. Das Moment der Besonderheit ist von dem Moment der Persçnlichkeit verschieden und in diesem Moment nicht enthalten. Dass das Moment der Besonderheit ein integraler Bestandteil der Struktur des personalen Willens ist, folgt aus der These, dass es ein integraler Bestandteil des Willens als solchen ist. Dass Hegel eben diese Auffassung teilt, macht er in der „Einleitung“ der GPhR deutlich.575 Diese (begriffliche) Annahme lsst sich im Fall des personalen Willens wie folgt plausibilisieren: Als „die formelle, die selbstbewußte, sonst inhaltslose einfache Beziehung auf sich in seiner Einzelheit“ ist ein Individuum kein Willensverhltnis in einem uns gelufigen Verstndnis. Ein Individuum, das sich mit „ich“ auf sich bezieht und „sonst inhaltslos“ ist, kann nichts Bestimmtes wollen. Ebenso wenig aber kann es sich ohne Weiteres wollen: „Ich will ich“ oder „Ich will mich (als ein inhaltsloses Ich)“ sind keine Stze, die etwas bezeichnen, was wir als ein Willensverhltnis ansehen wrden. Folglich ist das Moment der Allgemeinheit allein ungeeignet, ein Willensverhltnis zu konstituieren. Diesem Gedanken trgt Hegel Rechnung, wenn er „die Allgemeinheit“ des personalen Willens als eine Abstraktion bezeichnet, die durch das SichDistanzieren des fraglichen Individuums von seinen bestimmten berzeugungen, Neigungen, Bedrfnissen etc. zustande kommt. Trifft diese Behauptung zu, dann kann sich das Willensmoment der Allgemeinheit nur durch eine spezifische Beziehung des Ich zu sich als Besonderheit etablieren. Unter dieser Annahme aber sind diese beiden Momente Aspekte eines (komplexeren) Willensverhltnisses. Was aber heißt es, dass das Moment der Besonderheit, wie Hegel schreibt, „in der abstrakten Persçnlichkeit als solcher noch nicht enthalten“ und von dieser, „der Bestimmung der Freiheit, noch verschieden“ ist? Im vorliegenden Zusammenhang ist zunchst zu beachten, dass Hegel den Ausdruck „Persçnlichkeit“ zur Bezeichnung des personalen Willens als ganzen,576 den Ausdruck „abstrakte Persçnlichkeit“ hingegen zur Bezeichnung des Willensmoments der Allgemeinheit verwendet. Demnach behauptet er, dass das Moment der Besonderheit in dem der Allgemeinheit, „der Bestimmung der Freiheit“, noch nicht enthalten und deshalb von dieser „noch verschieden“ ist. Das ist wie folgt zu verstehen: Als abstrakte – also 575 Siehe oben, Teil III, Kapitel 1.2. 576 Vgl. GPhR, § 35.

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inhaltslose – Persçnlichkeit enthlt das Moment der Allgemeinheit keine Bestimmungen, mit denen sich die Besonderheit des Willens strukturieren ließe. Deshalb ist es vom Standpunkt desjenigen Individuums, welches das Moment der (so beschaffenen) Allgemeinheit aktualisiert, „zufllig“, zu welchen seiner „Begierden“, „Bedrfnisse“ und „Triebe“ es sich ablehnend und zu welchen es sich annehmend verhlt. Zwar ist es denkbar, dass ein solches Individuum sein Handeln nach moralischen oder sittlichen Gesichtspunkten (etwa dem Wohl Anderer) ausrichtet; allerdings tut es dies nicht deshalb, weil es jenes Willensmoment aktualisiert. Aus diesem Grunde ist die Persçnlichkeit, wie Hegel schreibt, „[i]n Beziehung auf die konkrete Handlung und moralische und sittliche Verhltnisse […] nur eine Mçglichkeit“.577 3.1.2 Personaler Respekt Auf der Grundlage unserer bisherigen berlegungen lsst sich eine erste Bestimmung von „personaler Respekt“ vornehmen.578 Wie der oben zitierte Satz „[R]espektiere die anderen als Personen“ deutlich macht, ist persçnlicher Respekt eine intersubjektive Relation. Damit ist zu fragen: Als was respektieren menschliche Individuen einander, wenn sie sich als Personen respektieren? Nach Hegel ist die Hinsicht von personalem Respekt allein unter Rekurs auf einen der beiden Aspekte des personalen Selbstverhltnisses, nmlich den der Allgemeinheit oder abstrakten Persçnlichkeit, zu spezifizieren; demgegenber ist das Moment der Besonderheit im vorliegenden Zusammenhang ohne Interesse. Individuen, die einander als Personen respektieren, halten einander fr berechtigt, selbst zu entscheiden, welche Zwecke sie verfolgen. In diesem Sinne verstehen und schtzen sie einander als selbstndige Akteure. Zwar mçgen sie einander auch aufgrund der besonderen Zwecke, die sie verfolgen, oder aufgrund der besonderen Motive, die ihren Zwecksetzungen zugrunde liegen, wertschtzen; allerdings ist eine solche Wertschtzung kein Aspekt von personalem Respekt. In diesem Sinne bezieht sich personaler Respekt auf das „Ich will, dass ich … tue“ des individuellen Akteurs, nicht aber auf das, was gewollt wird, oder auf das, aufgrund wessen etwas gewollt wird. Im Fall von personalem Respekt kommt es deshalb, wie Hegel schreibt, „nicht auf das 577 GPhR, § 38. 578 Die Frage(n), ob und, wenn ja, wie personaler Respekt institutionalisiert werden kann, werde ich weiter unten erçrtern. Vgl. Teil III, Kapitel 3.2 und 3.3.

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besondere Interesse, meinen Nutzen oder mein Wohl an – ebenso wenig auf den besonderen Bestimmungsgrund meines Willens, auf die Einsicht und Absicht“579.

3.2 Das abstrakte Recht Menschen, die einander als Personen respektieren, halten einander fr berechtigt, unabhngig voneinander ber ihren eigenen Kçrper und ber ihre Fhigkeiten zu verfgen und ußere Dinge als privates Eigentum zu besitzen. Die entsprechenden rechtlichen Ansprche bilden die wesentlichen Bestimmungen des abstrakten Rechts. Diesen Standpunkt expliziert und begrndet Hegel in dem „Ersten Teil“ der GPhR. Seine Argumentation lsst sich anhand von vier Thesen rekonstruieren: 1. Die Person muss sich eine ußere, auch fr Andere wahrnehmbare „Sphre ihrer Freiheit“ geben. 2. Die Person kann sich eine solche Sphre nur in Gestalt von ,Dingen‘ geben, die von ihr unmittelbar verschieden und trennbar sind. 3. Der menschliche Kçrper, kçrperliche und geistige Qualifikationen („Geschicklichkeiten“580) sowie nicht bewillte, von Einzelnen in Besitz nehmbare Dinge erfllen das unter 2. genannte Kriterium der Verschiedenheit und Trennbarkeit. 4. Die Person kann sich eine „Sphre ihrer Freiheit“ nur in Gestalt von ,Dingen‘ geben, die sie exklusiv oder privat besitzt. Ad 1. Hegel erçffnet seine Erçrterung der Institution des „Eigentums“ mit der folgenden Behauptung: „Die Person muß sich eine ußere Sphre ihrer Freiheit geben, um als Idee zu sein.“581 Dieser Satz kann als eine rein hypothetische Aussage verstanden werden: Wenn die Person die Eigenschaft haben soll, als Idee zu sein, muss sie sich eine ußere Sphre ihrer Freiheit geben. Gemß dieser Lesart enthlt die oben zitierte Behauptung keine Informationen darber, ob der Person die fragliche Eigenschaft zukommen wird oder nicht. 579 GPhR, § 37. – Aufgrund dieser Eigenschaft ist personaler Respekt eine egalitre Art von Anerkennung: „In der Persçnlichkeit sind die mehreren Personen, wenn man hier von mehreren sprechen will, wo noch kein solcher Unterschied stattfindet, gleich. Dies ist aber ein leerer tautologischer Satz; denn die Person ist als das Abstrakte eben das noch nicht Besonderte und in bestimmtem Unterschiede Gesetzte.“ (GPhR, § 49, Anm.) 580 GPhR, § 67. 581 GPhR, § 41.

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Die „Einleitung“ der GPhR legt eine andere (und schwer verstndliche) Lesart jener Behauptung dar. In seiner Anmerkung zu § 1 dieser Schrift stellt Hegel fest, „daß der Begriff […] allein es ist, was Wirklichkeit hat und zwar so, daß er sich diese selbst gibt“582. Und er ergnzt: „Die Gestaltung, welche sich der Begriff in seiner Verwirklichung gibt, ist zur Erkenntnis des Begriffes selbst das andere, von der Form, nur als Begriff zu sein, unterschiedene wesentliche Moment der Idee.“583 Bercksichtigt man diese Aussage im Zusammenhang von Hegels Analyse des personalen Willens, dann lsst sich Folgendes feststellen: Wie gesehen, ist der personale Wille als ein Willensverhltnis „nichts anderes als der Begriff selbst“584 ; nun ist der Begriff das, was sich Wirklichkeit bzw. eine ußere Sphre seiner Freiheit gibt; folglich „muß“ der personale Wille sich Wirklichkeit bzw. eine ußere Sphre seiner Freiheit geben. Indem er dies tut, ist er als Idee. Dass Hegel diese Lesart als richtig erachtet, ist daran zu ersehen, dass er in seinen weiteren berlegungen zum „Eigentum“ unterstellt, dass der personale Wille sich eine ußere Sphre seiner Freiheit gibt, und seine Untersuchung auf die Frage konzentriert, wie diese Freiheitssphre beschaffen zu sein hat. Damit wirft er allerdings die Frage auf, ob diejenige Notwendigkeit, die in dem Satz „Die Person muß sich eine ußere Sphre ihrer Freiheit geben, um als Idee zu sein“585 bezeichnet wird, (auch) ohne eine Inanspruchnahme der WL gut begrndet werden kann. (Ich werde hierauf zurckkommen.)586 Ad 2. Worin besteht die „ußere Sphre [der] Freiheit“ der Person? Hierzu lesen wir in den GPhR: „Weil die Person der an und fr sich seiende unendliche Wille in dieser ersten, noch ganz abstrakten Bestimmung ist, so ist dies von ihm Unterschiedene, was die Sphre seiner Freiheit ausmachen kann, gleichfalls als das von ihm unmittelbar Verschiedene und Trennbare bestimmt.“587

Hegels Argumentation lsst sich wie folgt rekonstruieren: Der personale Wille ist als „abstrakte Persçnlichkeit“ auf sich selbst als „das von ihm unmittelbar Verschiedene und Trennbare“ bezogen; er versteht sich nmlich als Inhaber bestimmter Neigungen, Wnsche und Zwecke, an die 582 583 584 585 586 587

GPhR, § 1, Anm. – Vgl. hierzu auch Pippin (2000), 184 ff. GPhR, § 1. GPhR, § 7, Anm. GPhR, § 41. Siehe unten, Teil III, Kapitel 3.5. GPhR, § 41.

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er nicht (unlçslich) gebunden ist, von denen er sich also distanzieren kann.588 Weil dies so ist, kann sich der personale Wille nach Hegel nur in solchen ,Dingen‘ verwirklichen, an die er ebenfalls nicht (unlçslich) gebunden ist, von denen er sich also ebenfalls distanzieren kann. Die Beziehung, die der personale Wille zu denjenigen ,Dingen‘ unterhlt, in denen er sich verwirklicht, muss also nach Hegel genauso beschaffen sein wie diejenige Beziehung, in der er zu sich selbst als Besonderheit steht. Nur wenn jene ,Dinge‘ „gleichfalls als das von ihm unmittelbar Verschiedene und Trennbare bestimmt“ sind (meine Hervorhebung – SaB), kann er in ihnen wirklich sein. Aus diesem Grunde ist eine Person, um sich „eine ußere Sphre ihrer Freiheit“ zu geben, auf ,Dinge‘ angewiesen, die fr sie als das von ihr „unmittelbar Verschiedene und Trennbare“ bestimmt sind. Ad 3. Welche ,Dinge‘ erfllen dieses Kriterium? Hegels Antwort auf diese Frage lautet: der menschliche Kçrper, geistige und kçrperliche Qualifikationen („Geschicklichkeiten“589) sowie nicht bewillte, von Einzelnen in Besitz nehmbare Dinge. Warum ist Hegel dieser Auffassung? Eine Person ist ein Individuum, das sich zu seinem Kçrper willentlich verhalten kann. Diese Mçglichkeit bezieht sich auf einzelne Elemente sowie auf die Lebendigkeit desselben. Ein Individuum, das eine Person ist, kann seinen Kçrper etwa unter sthetischen Gesichtspunkten verndern, und es kann im Freitod die Lebendigkeit seines Kçrpers negieren. Diese beiden Aspekte werden von Hegel im vorliegenden Zusammenhang hervorgehoben: „[A]ls Person habe ich zugleich mein Leben und Kçrper, wie andere Sachen, nur, insofern es mein Wille ist.“590 Hierzu merkt Hegel an: „[D]as Tier kann sich nicht selbst verstmmeln oder umbringen, aber der Mensch.“591 Offenbar ist Hegel also der Meinung, dass der Kçrper einer Person von derselben deshalb verschieden und trennbar ist, weil diese sich zu ihm auf die oben genannten Weisen willentlich verhalten kann.592 Als ein lebendiges, denkendes Individuum hat eine Person, wie Hegel schreibt, spezifische „kçrperliche und geistige Geschicklichkeiten“593. Auch deren Existenz kann die Person durch ihren Freitod negieren. Allerdings sind die kçrperlichen und geistigen Qualifikationen einer Person fr Hegel 588 589 590 591 592

Siehe oben, Teil III, Kapitel 3.1. GPhR, § 67. GPhR, § 47. GPhR, § 47, Anm. An dieser Stelle sei angemerkt, dass Hegel das Verhltnis von Seele und Leib (in der enzyklopdischen „Anthropologie“) anders bestimmt. Vgl. EphW3, §§ 388 – 412. 593 GPhR, § 67.

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auch in einem anderen Sinne das von dieser Person Verschiedene und Trennbare. Sofern durch ihre Anwendung Produkte hergestellt oder Zustnde erzeugt werden, die unabhngig von dieser Ttigkeit existieren kçnnen, lsst sich nmlich behaupten, dass die Aktualisierung der fraglichen Qualifikationen Resultate zeitigt, die als etwas von (der Ttigkeit) der Person Verschiedenes und Trennbares zu bestimmen sind. Dieses Argument vertritt Hegel in der Tat, wie die folgende Notiz belegt: „Geschicklichkeit usf. werden erst Sachen durch meine Entußerung, d.i. die ußerlichkeit, die ich ihnen in der ußerung gebe, die sie in der ußerung erhalten […].“594 Nicht bewillte Dinge sind als solche das von der Person unmittelbar Verschiedene und Getrennte. Deshalb kann sich eine Person zu nicht bewillten, in Besitz nehmbaren Dingen willentlich verhalten, ohne aufzuhçren, diejenige Person zu sein, die sie ist. Das zeigt sich beispielsweise an der Mçglichkeit, derartige Dinge in Besitz zu nehmen und aus demselben zu entlassen. Im vorliegenden Zusammenhang ist zu beachten, dass der menschliche Kçrper sowie kçrperliche und geistige Qualifikationen in einem anderen Sinne etwas von der Person Verschiedenes und Trennbares sind als nicht bewillte, in Besitz nehmbare Dinge. In der Tat kann sich eine Person von ihrem Kçrper als ganzem nicht trennen, ohne aufzuhçren, diejenige Person zu sein, die sie ist, und sie kann sich von ihren Qualifikationen nicht als solchen, sondern nur von den Resultaten der Anwendung derselben trennen. Demgegenber kann sie sich von „ußerlichen Dingen“595, die in ihr privates Eigentum fallen, trennen, ohne aufzuhçren, diejenige Person zu sein, die sie ist. Angesichts dieser Differenzen stellt sich die Frage, ob der menschliche Kçrper, geistige und kçrperliche Qualifikationen sowie nicht bewillte Dinge gleichermaßen geeignet sind, die ußere Sphre der Freiheit der Person zu bilden. Diese Frage ist sachlich von erheblichem Interesse. Wenn nmlich der menschliche Kçrper, geistige und kçrperliche Qualifikationen sowie nicht bewillte Dinge gleichermaßen geeignet sind, die ußere Sphre der Freiheit der Person zu bilden, dann lsst sich personale Freiheit ohne jeden Besitz an nicht bewillten, ußerlichen Dingen adquat verwirklichen. Wenn hingegen jene „ußere Sphre der Freiheit“ Dinge beinhalten muss, die als solche von der Person verschieden sind und die diese Person von sich trennen kann, ohne ihre eigene Existenz zu negieren, dann lsst sich per594 GPhR, § 43, Randbem. 595 GPhR, § 49.

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sonale Freiheit nur durch eigentumstheoretische Regelungen verwirklichen, welche auch nicht bewillte, ußerliche Dinge betreffen. Wenngleich seine Position in dieser Frage nicht eindeutig ist, scheint Hegel die zuletzt genannte Auffassung zu teilen. Mit Bezug auf den eigenen Kçrper einer Person stellt Hegel nmlich fest, dass „mein Wille“ in ihm „unmittelbare Gegenwart und Wirklichkeit“596 habe, was sich etwa im Fall von Empfindungen zeige.597 Trifft diese Einschtzung zu, dann kann der Kçrper einer Person aber nicht das von ihr unmittelbar Verschiedene sein. Zudem merkt Hegel an, dass „Kenntnisse, Wissenschaften, Talente usf. […] dem freien Geiste eigen und ein Innerliches desselben, nicht ein ußerliches“598 sind und nur „durch die ußerung ein ußerliches Dasein“599 erhalten und so zu etwas von diesem „Geiste“ unmittelbar Verschiedenem werden kçnnen. Demnach aber sind geistige (und kçrperliche) Qualifikationen in einem schwcheren Sinne etwas von der Person „Verschiedene[s] und Trennbare[s]“ als nicht bewillte, ußerliche Dinge. An dieser Stelle ist folgender Einwand denkbar: Eine Person kann sich zwar nicht von ihrem Kçrper als ganzem, wohl aber von einzelnen Organen desselben trennen, ohne aufzuhçren, diejenige Person zu sein, die sie ist. Heißt das nicht, dass der menschliche Kçrper und ußerliche Dinge gleichermaßen geeignet sind, die „ußere Sphre der Freiheit“ einer Person zu bilden, so dass personale Freiheit ohne jedes Eigentum an ußeren Dingen adquat verwirklicht werden kann? Allerdings ist im vorliegenden Zusammenhang zu beachten, dass dem menschlichen Kçrper entnommene Organe „ußerliche Dinge“ sind. Folglich kann der menschliche Kçrper nur dann die „ußere Sphre der Freiheit“ einer Person bilden, wenn bestimmte ußere Dinge in Besitz nehmbar sind. Ad 4. Warum aber kann sich die Person „eine ußere Sphre ihrer Freiheit“ nur in Gestalt von Dingen geben, die sie exklusiv oder privat besitzt? Hierzu stellt Hegel fest: „Da mir im Eigentum mein Wille als persçnlicher, somit als Wille des Einzelnen objektiv wird, so erhlt es den Charakter von Privateigentum, und gemeinschaftliches Eigentum, das seiner Natur nach vereinzelt besessen

596 GPhR, § 48, Anm. – Zu beachten ist, dass Hegel nicht terminologisch zwischen „personaler Wille“ und „persçnlicher Wille“ unterscheidet. 597 Vgl. GPhR, § 48, Anm. 598 GPhR, § 43, Anm. 599 GPhR, § 43, Anm.

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werden kann, die Bestimmung von einer an sich auflçsbaren Gemeinschaft […].“600

Und handschriftlich notiert er: „Privateigentum, weil Person einzeln und Ich als solches sein, dasein soll.“601 Demnach argumentiert Hegel wie folgt: Menschen, die einander als Personen respektieren, halten einander fr berechtigt, als „Einzelne“ oder unabhngig voneinander zu entscheiden, welche Zwecke sie verfolgen.602 Weil das so ist, kçnnen nur solche Dinge Bestandteile der „ußeren Sphre ihrer Freiheit“ sein, ber die sie ebenfalls als „Einzelne“ oder unabhngig voneinander verfgen. Dinge, welche diese Bedingung erfllen, werden aber von einem Einzelnen exklusiv besessen und bilden in diesem Sinne sein „Privateigentum“. Wie unschwer zu erkennen ist, bildet Hegels obige Annahme – dass die Beziehung, die der personale Wille zu denjenigen Dingen unterhlt, in denen er sich verwirklicht, genauso beschaffen sein muss wie diejenige Beziehung, in der er zu sich selbst als Besonderheit steht – die argumentative Grundlage der Behauptung, dass jene Dinge privat, nicht aber gemeinschaftlich603 besessen werden mssen. Die in diesem Kapitel gefhrte Untersuchung ermçglicht eine Przisierung dessen, was Hegel unter „personaler Respekt“ versteht. Oben ist im Zuge einer ersten Bestimmung dieses Begriffs festgestellt worden: Individuen, die einander als Personen respektieren, halten einander fr berechtigt, selbst zu entscheiden, welche Zwecke sie verfolgen.604 Hinzuzufgen ist nun: Individuen, die einander als Personen respektieren, anerkennen einander als private Eigentmer ihres Kçrpers605 sowie ihrer kçrperlichen und geistigen Qualifikationen606, und sie halten einander fr berechtigt, nicht bewillte, ußerliche Dinge als privates Eigentum zu be600 601 602 603

GPhR, § 46. GPhR, § 46, Randbem. Siehe oben, Teil III, Kapitel 3.1.1. Vgl. GPhR, § 46. In der Anmerkung zu diesem Paragraphen schreibt Hegel: „Die Idee des Platonischen Staats enthlt das Unrecht gegen die Person, des Privateigentums unfhig zu sein, als allgemeines Prinzip. Die Vorstellung von einer frommen oder freundschaftlichen und selbst erzwungenen Verbrderung der Menschen mit Gemeinschaft der Gter und der Verbannung des privateigentmlichen Prinzips kann sich der Gesinnung leicht darbieten, welche die Natur der Freiheit des Geistes und des Rechts verkennt und sie nicht in ihren bestimmten Momenten erfaßt.“ 604 Siehe oben, Teil III, Kapitel 3.1. 605 Vgl. GPhR, § 48: „Aber fr andere bin ich wesentlich ein Freies in meinem Kçrper, wie ich ihn unmittelbar habe.“ 606 Vgl. GPhR, § 43, Anm.

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sitzen. Weil das so ist, hat personaler Respekt die Gestalt einer spezifischen (eigentums)rechtlichen Praxis.

3.3 Personaler Respekt und wirtschaftliche Kooperation Der Ausdruck „das abstrakte Recht“ bezeichnet in den GPhR eine spezifische (eigentums)rechtliche Praxis, die sich darauf zurckfhren lsst, dass Menschen Personen sein wollen und einander als Personen respektieren. Was kann in çkonomietheoretischer Hinsicht ber diese Praxis ausgesagt werden? Drei Punkte sind im vorliegenden Zusammenhang hervorzuheben: 1. Personsein und personaler Respekt sind unvereinbar mit den Institutionen der Leibeigenschaft und der Sklaverei. Das folgt aus der These, dass Menschen, die einander als Personen respektieren, einander als selbstbestimmte Subjekte und private Eigentmer ihres (somit eigenen) Kçrpers anerkennen. Hegel selbst hat die in Rede stehende Unvereinbarkeit herausgestellt: „Der Mensch, der nicht im Besitz seiner selbst ist, ist ein unpersçnlicher.“607 2. Menschen, die Personen sein wollen und einander als Personen respektieren, unterhalten nicht notwendigerweise wirtschaftliche Beziehungen zueinander. Es ist nmlich denkbar, dass jeder von ihnen die von ihm konsumierten Gter in Eigenarbeit herstellt. Unter dieser Annahme wrde keinerlei wirtschaftliche Kooperation zwischen ihnen stattfinden. Hegel selbst bezieht im vorliegenden Zusammenhang eine andere Position. Im Kontext der Explikation des „bergang[s] vom Eigentum zum Vertrage“ schreibt er: „Es ist durch die Vernunft ebenso notwendig, daß die Menschen in Vertragsverhltnisse eingehen – schenken, tauschen, handeln usf. –, als daß sie Eigentum besitzen. Wenn fr ihr Bewußtsein das Bedrfnis berhaupt, das Wohlwollen, der Nutzen usf. es ist, was sie zu Vertrgen fhrt, so ist es an sich die Vernunft, nmlich die Idee des reellen (d.i. nur im Willen vorhandenen) Daseins der freien Persçnlichkeit.“608

607 PhR. 1821/22, § 66. Vgl. auch GPhR, § 67, Zs. 608 GPhR, § 71, Anm.

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Es sei hier nur angemerkt, dass die von Hegel behauptete Notwendigkeit die der Selbstverwirklichung des (Hegel’schen) Begriffs ist.609 Im Rahmen unserer Untersuchung ist es nicht erforderlich, hierauf nher einzugehen. 3. Menschen, die einander als Personen respektieren und wirtschaftlich kooperieren, haben kraft ihres personalen Respekts610 einen Grund, marktwirtschaftliche Institutionen zentralverwaltungswirtschaftlichen Regelungen vorzuziehen. Das ist deshalb der Fall, (i) weil Mrkte sich als Institutionalisierung von personalem Respekt verstehen lassen und (ii) weil Zentralverwaltungswirtschaften personale Freiheit mehr oder weniger stark einschrnken. Die unter (i) und (ii) aufgestellten Behauptungen werde ich nun explizieren und begrnden. Ad i. Warum ist ein marktwirtschaftlicher Tausch ein Akt, durch den sich personaler Respekt bekundet? Erstens stehen Individuen, die am Markt Gter tauschen mçchten, auf dem Standpunkt, dass ein Gtertausch genau dann zustande kommt, wenn die beteiligten Parteien dies wollen. Fr sie ist die Zustimmung jeder dieser Parteien zu einem mçglichen Gtertausch eine notwendige, die Zustimmung aller beteiligten Parteien zu diesem Gtertausch eine hinreichende Bedingung des Zustandekommens des fraglichen Geschfts. Zweitens halten Individuen, die am Markt Gter tauschen mçchten, sich fr berechtigt, unabhngig voneinander zu entscheiden, ob sie in einen Gtertausch einwilligen oder nicht. Sie halten einander also fr befugt, nicht offenzulegen, warum sie einen Gtertausch eingehen mçchten oder nicht und welche Zwecke sie (letztlich) mit dem Abschluss eines solchen Geschfts verfolgen. Fr sie als Tauschpartner ist „der besondere Bestimmungsgrund“ ihres Willens hinsichtlich des Zustandekommens und der Gltigkeit des fraglichen Geschfts irrelevant. Drittens stehen Individuen, die am Markt Gter tauschen mçchten, auf dem Standpunkt, dass sie nicht als Tauschpartner auftreten mssen. Sie halten einander also fr berechtigt, berhaupt keine Vertrge abzuschließen bzw. in keinen Gtertausch einzuwilligen. Aufgrund dieser drei Bestimmungen ist ein marktwirtschaftlicher Tausch ein Akt, durch den sich personaler Respekt bekundet. Weil das so ist, lassen sich Mrkte als Institutionalisierungen dieser Art von Anerkennung verstehen. 609 Siehe oben, Teil III, Kapitel 3.2. 610 Selbstverstndlich schließt das nicht aus, dass sie etwa aufgrund ihrer Zugehçrigkeit zu anderen Anerkennungsverhltnissen einen Grund haben, marktwirtschaftliche Regelungen einzuschrnken oder außer Kraft zu setzen. Hierauf werde ich weiter unten eingehen. Vgl. Teil III, Kapitel 3.4.

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Auf welche Mrkte trifft dies zu? Grundstzlich lassen sich sowohl Gtermrkte als auch Arbeits- und Kapitalmrkte als Institutionalisierungen von personalem Respekt verstehen. Das ist deshalb so, weil die oben genannten drei Kriterien nicht nur im Fall eines Tausches von Gtern gegen Geld, sondern auch im Fall eines Tausches von Arbeitsleistungen gegen Geld oder von Geld gegen Geld erfllt sind. Nun sind diese Tauscharten aber fr die oben genannten Mrkte (Gtermrkte, Arbeitsmrkte, Kapitalmrkte) konstitutiv. Folglich lassen sich diese Mrkte als Institutionalisierungen von personalem Respekt verstehen. Hegel selbst betont, dass Menschen einander kraft ihres personalen Respekts fr berechtigt halten werden, Lohnarbeitsverhltnisse einzugehen und Geldgeschfte abzuschließen.611 In diesem Fall sehen sie einander als private Eigentmer ihrer „Geschicklichkeiten“ an, die befugt sind, den (zeitlich begrenzten) Gebrauch derselben gegen Geld zu tauschen: „Von meinen besonderen, kçrperlichen und geistigen Geschicklichkeiten und Mçglichkeiten der Ttigkeit kann ich einzelne Produktionen und einen in der Zeit beschrnkten Gebrauch […] verußern, weil sie nach dieser Beschrnkung ein ußerliches Verhltnis zu meiner Totalitt und Allgemeinheit [das heißt: zu mir als Person – SaB] erhalten.“612 Aus diesem Grunde ist der „Lohnvertrag“ fr Hegel eine Art von „Tauschvertrag“613. Da sich Menschen kraft ihres personalen Respekts als (private) „Eigentmer“ von „ußerlichen Dingen“ anerkennen und da Geld ein solches Ding ist, halten sie einander ferner fr berechtigt, Geld gegen Geld zu tauschen: „Ich lasse temporr ein Eigentum einem anderen zum Gebrauch, wofr ich Miete bekomme. Was ich vermiete, kann nun wieder spezifische Sache sein, oder allgemeine Sache, das ist dann die eigentliche Anleihe, Geld, das ich einem verleihe. Fr das, daß er einen Gebrauch dessen macht, gibt er mir etwas dagegen.“614

Demnach ist ein marktwirtschaftlicher Tausch von Arbeitsleistungen gegen Geld oder von Geld gegen Geld ein Akt, durch den die beteiligten Parteien einander als Personen Respekt bekunden. Weil das so ist, lassen sich Arbeits- und Kapitalmrkte als Institutionalisierungen dieser Form von Anerkennung verstehen. 611 Auch hier ist daran zu erinnern, dass diese Menschen (andere) Grnde haben kçnnen, die fraglichen Berechtigungen einzuschrnken oder außer Kraft zu setzen. 612 GPhR, § 67. 613 GPhR, § 80. 614 PhR. 1821/22, § 80.

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Ad ii. Warum schrnken Zentralverwaltungswirtschaften personale Freiheit mehr oder weniger stark ein? Eine Untersuchung dieser Frage erfordert eine differenzierte Betrachtung. Nehmen wir an, dass durch jedes Wirtschaftssystem die folgenden drei Fragen beantwortet werden: Was soll produziert werden? Wer soll produzieren? Fr wen soll produziert werden? Um eine Zentralverwaltungswirtschaft zu sein – so sei ferner angenommen – muss ein Wirtschaftssystem so beschaffen sein, dass in ihm zumindest die Frage „Was soll produziert werden?“ planwirtschaftlich beantwortet wird. In einem solchem Wirtschaftssystem sind also, bezogen auf einen bestimmten Zeitraum, der Umfang und die Art der Nachfrage nach Arbeit etwas zentral Festgelegtes. Inwiefern wird durch ein solches Wirtschaftssystem personale Freiheit eingeschrnkt? Es sei zunchst hervorgehoben, dass in einer Gesellschaft, in der lediglich die Frage „Was soll produziert werden?“, nicht aber die Fragen „Wer soll produzieren?“ und „Fr wen soll produziert werden?“ planwirtschaftlich beantwortet werden, jeder Brger berechtigt ist, nicht zu arbeiten. Weil er nicht gezwungen werden kann zu arbeiten, ist er in dem Sinne als privater Eigentmer seiner Arbeitskraft und seiner spezifischen Qualifikationen anerkannt, dass dieselben nicht ohne seine Zustimmung angewendet werden kçnnen. Zudem ist es denkbar, dass die Brger einer solchen Gesellschaft das Recht haben, „ußerliche Dinge“, etwa konsumtive Gter, als privates Eigentum zu besitzen, und es ist ebenfalls denkbar, dass sie berechtigt sind, selbst zu entscheiden, welche dieser Gter sie erwerben mçchten. Wie diese berlegungen zeigen, schließt eine planwirtschaftliche Beantwortung der Frage „Was soll produziert werden?“ ein Vorliegen von personaler Freiheit nicht aus; auch die Brger solcher Gesellschaften kçnnen als private Eigentmer ihres Kçrpers und ihrer spezifischen Qualifikationen sowie als eigentumsfhige Individuen anerkannt sein. Allerdings ist ihre Anerkennung als Personen vergleichsweise eingeschrnkt. In Gesellschaften, in denen die Frage „Was soll produziert werden?“ planwirtschaftlich beantwortet wird, sind die Menschen nmlich nicht berechtigt, unabhngig voneinander Gter zu produzieren und zu vertreiben. Ein derartiger Gebrauch ihrer Fhigkeiten ist ihnen annahmegemß untersagt. Demgegenber sind die Brger von Gesellschaften, in denen jene Frage marktwirtschaftlich beantwortet wird, berechtigt, unabhngig voneinander Gter zu produzieren und zu vertreiben. Weil das so ist, ist die Anerkennung der Menschen als Personen in Zentralverwaltungswirtschaften der oben beschriebenen Art vergleichsweise eingeschrnkt.

3 Personaler Respekt

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Auch Gesellschaften, in denen nicht nur die Frage „Was soll produziert werden?“, sondern auch die Frage „Wer soll produzieren?“ planwirtschaftlich beantwortet wird, kçnnen personale Freiheit in einem gewissen Umfang gewhren. In der Tat kçnnen die Brger solcher Gesellschaften das Recht haben, bestimmte ußere Dinge (konsumtive Gter) als privates Eigentum zu besitzen, und sie kçnnen berechtigt sein, selbst zu entscheiden, welche dieser Gter sie erwerben mçchten. Allerdings haben sie nicht das Recht, unabhngig voneinander Gter zu produzieren und zu vertreiben, und sie sind ferner dazu verpflichtet, am gesellschaftlichen Produktionsprozess teilzunehmen (oder nicht teilzunehmen). Die Arbeitskraft und die spezifischen Qualifikationen dieser Menschen kçnnen also auch ohne deren Zustimmung zur Anwendung gebracht werden. Deshalb ist die gesellschaftliche Anerkennung dieser Menschen als Personen strker eingeschrnkt, als sie es in Zentralverwaltungswirtschaften der zunchst beschriebenen Art sein wrde. Selbst in Gesellschaften, in denen alle eingangs genannten drei Fragen planwirtschaftlich beantwortet werden, kçnnen die Menschen das Recht haben, einige ußere Dinge als privates Eigentum zu besitzen. So ist es denkbar, dass sie Ge- und/oder Verbrauchsgegenstnde konsumieren, verschenken, tauschen und vererben drfen. Allerdings sind Brger solcher Gesellschaften nicht berechtigt, unabhngig voneinander Gter zu produzieren und zu vertreiben, ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Produktionsprozess zu verweigern und selbst zu entscheiden, welche konsumtiven Gter sie erwerben mçchten. Aus diesen Grnden ist ihre personale Freiheit vergleichsweise sehr stark eingeschrnkt. Als Ergebnis unserer Erçrterung der Argumente (i) und (ii) ist Folgendes festzuhalten: Whrend sich Mrkte als Institutionalisierungen von personalem Respekt verstehen lassen, schrnken zentralverwaltungswirtschaftliche Regelungen personale Freiheit mehr oder weniger stark ein. Weil das so ist, haben Menschen, die einander als Personen respektieren und wirtschaftlich miteinander kooperieren, kraft ihres personalen Respekts einen Grund, marktwirtschaftliche Institutionen planwirtschaftlichen Regelungen vorzuziehen.

3.4 „Die hçchste Zerrissenheit des Willens“ Wie eingangs bemerkt, dient die in diesem Kapitel gefhrte Untersuchung der Erçrterung eines der Elemente von konkreter Freiheit: der Entwicklung und Anerkennung dessen, was Hegel mit „persçnliche Einzelheit“

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bezeichnet. Es hat sich ergeben, dass die persçnliche bzw. personale Einzelheit615 ein spezifisches Willensverhltnis ist, das dann vorliegt, wenn ein menschliches Individuum sich als Person bejaht.616 Die gesellschaftliche Anerkennung der personalen Einzelheit hat die Form personalen Respekts und die institutionelle Gestalt spezifischer eigentumsrechtlicher Arrangements. In çkonomischer Hinsicht haben Menschen, die einander als Personen respektieren und wirtschaftlich kooperieren, kraft ihres personalen Respekts einen Grund, marktwirtschaftliche Institutionen zentralverwaltungswirtschaftlichen Regelungen vorzuziehen. Damit stellt sich die Frage, ob eine im abstrakten Recht verankerte freie Marktwirtschaft eine adquate Institutionalisierung von personalem Respekt ist. Es sei zunchst daran erinnert, dass konkrete Freiheit drei wesentliche Aspekte hat: Neben der Entwicklung und Anerkennung der personalen Einzelheit sind dies die Entwicklung und Anerkennung der „besonderen Interessen“ derselben sowie die Zurckfhrung der „persçnlichen Besonderheit“ in die „substantielle Einheit“ des Gemeinwesens. Selbst wenn eine im abstrakten Recht verankerte freie Marktwirtschaft also eine adquate Entwicklung und Anerkennung der personalen Einzelheit sicherstellen sollte, wrde hieraus nicht folgen, dass sie auch nach Maßgabe von konkreter Freiheit legitimiert ist. Um dies entscheiden zu kçnnen, mssen die Erfllungsbedingungen aller drei Aspekte von konkreter Freiheit identifiziert werden. Sollte sich also herausstellen, dass die Entwicklung und Anerkennung der personalen Einzelheit die Gestalt einer freien, rechtlich institutionalisierten Marktwirtschaft hat, dann wre dies vom Standpunkt der konkreten Freiheit lediglich ein Prima-facie-Argument zugunsten jenes Institutionenkomplexes.617 615 Wie bemerkt, unterscheidet Hegel nicht terminologisch zwischen „personaler Wille“ und „persçnlicher Wille“. 616 In seinen Jenaer Schriften entwickelt Hegel die These, dass sich Willensverhltnisse der oben genannten Art nur im Rahmen spezifischer Interaktionen ausbilden kçnnen. Vgl. z. B. PhdG, 214 – 222 und PhG, 145 – 155. Vgl. hierzu auch KA, Siep (1974) und (1979) sowie Wildt (1982). Diesen Standpunkt hat Hegels im Wesentlichen beibehalten, auch wenn die Prsentation seiner Argumente in den GPhR dies nicht deutlich macht. Mit den im Fließtext gewhlten Formulierungen wird also nicht behauptet, dass menschliche Individuen unabhngig voneinander so etwas wie einen personalen Willen ausbilden (kçnnen). 617 Es ist sogar denkbar, dass eine im abstrakten Recht verankerte freie Marktwirtschaft (1.) eine adquate Entwicklung der personalen Einzelheit sicherstellt und (2.) eine Erfllung der anderen beiden Aspekte von konkreter Freiheit (oder eines derselben) unmçglich macht. In diesem Fall gbe es ein Prima-facie-Argument zugunsten und ein Prima-facie-Argument zuungunsten jenes Institutionenkomplexes.

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Personaler Respekt kann sozialstaatliche Maßnahmen nicht begrnden. Das ist deshalb der Fall, weil sich diese Form von Anerkennung allein auf das Willensmoment der Allgemeinheit bzw. der abstrakten Persçnlichkeit, nicht aber auf das der Besonderheit bezieht. Wie gesehen, halten sich Individuen, die einander als Personen respektieren, fr berechtigt, unabhngig voneinander festzulegen, welche Zwecke sie verfolgen mçchten. In diesem Sinne schtzen sie einander als selbstndige Akteure. Demgegenber ist eine eventuelle Wertschtzung ihrer besonderen Zwecke oder der besonderen Annahmen, aufgrund welcher sie jene Zwecke verfolgen, kein Aspekt von personalem Respekt. Deshalb kommt es im abstrakten Recht, wie Hegel betont, „nicht auf das besondere Interesse, meinen Nutzen oder mein Wohl an – ebensowenig auf den besonderen Bestimmungsgrund meines Willens, auf die Einsicht und Absicht“618. Weil das so ist, lassen sich unter Bezugnahme auf personalen Respekt keine Maßnahmen begrnden, welche die Verteilung des „ußeren Eigentums“619 unter den Gesellschaftsmitgliedern betreffen: „Im Verhltnisse zu ußerlichen Dingen ist das Vernnftige, daß Ich Eigentum besitze; die Seite des Besonderen aber begreift die subjektiven Zwecke, Bedrfnisse, die Willkr, die Talente, ußere Umstnde usf.; hiervon hngt der Besitz bloß als solcher ab, aber diese besondere Seite ist in dieser Sphre der abstrakten Persçnlichkeit noch nicht identisch mit der Freiheit gesetzt. Was und wieviel Ich besitze, ist daher eine rechtliche Zuflligkeit.“620

Hierzu merkt Hegel an: „Von einer Ungerechtigkeit der Natur ber ungleiches Austeilen des Besitzes und Vermçgens kann nicht gesprochen werden, denn die Natur ist nicht frei und darum weder gerecht noch ungerecht.“621 Unsere bisherigen sowie Hegels hier wiedergegebene berlegungen legen den folgenden Schluss nahe: Wenn Menschen, die einander als Personen respektieren und wirtschaftlich kooperieren, kraft ihres personalen Respekts einen Grund haben, marktwirtschaftliche Institutionen zentralverwaltungswirtschaftlichen Regelungen vorzuziehen, und wenn sie unter Bezugnahme auf jene Form von Respekt keine sozialstaatlichen, ihr „Wohl“622 betreffenden Maßnahmen begrnden kçnnen, dann werden sie eine freie, rechtlich verankerte Marktwirtschaft als adquate Institutiona618 619 620 621 622

GPhR, § 37. GPhR, § 48, Anm. GPhR, § 49. GPhR, § 49, Anm. GPhR, § 37.

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lisierung ihres personalen Respekts ansehen. Folglich ist ein solcher Institutionenkomplex eine adquate Realisierung eines der Elemente von konkreter Freiheit: der Entwicklung und Anerkennung der personalen Einzelheit. Allerdings ist im vorliegenden Zusammenhang zu beachten, dass eine Gesellschaft, deren Mitglieder einander allein als Personen respektieren, nach Hegels Auffassung ein instabiler sozialer Raum ist. Diesen Gedanken hat Hegel in seinem 1805/06 in Jena verfassten Manuskript zur Philosophie des Geistes nher ausgearbeitet. Seine berlegungen sind im vorliegenden Zusammenhang von erheblichem Interesse und sollen nun erçrtert werden. In institutioneller Hinsicht ist eine Gesellschaft, deren Mitglieder einander allein als „Person[en]“623 respektieren, „das allgemeine Recht, Eigenthum berhaupt, schtzt jeden bey seinem unmittelbaren Besitz, Erbschafft und Tausch. Aber diß ist nur formales Recht, das in Ansehung [des Inhalts] ganz frey bleibt. – (Zuflligkeit des Erbens) – Das Individuum tritt als erwerbend durch Arbeit auf; hier ist sein Gesetz bloß, daß ihm gehçrt, was er bearbeitet, und was er eintauscht.“624 Unter diesen Bedingungen ist „[a]ber das Allgemeine […] zugleich seine [des Einzelnen – SaB] Nothwendigkeit, die ihn bey seiner Rechtsfreyheit aufopfert“625. Diese These erlutert und begrndet Hegel wie folgt: „Das Allgemeine ist reine Nothwendigkeit am einzelnen Arbeitenden; […] die Gesellschaft ist seine Natur, von deren elementarischer blinder Bewegung er abhngt, die ihn geistig und physisch erhlt oder aufhebt. Er ist da durch unmittelbaren Besitz, [oder] Erbschafft, vollkommner Zufall. […] Die Geschicklichkeit des einzelnen ist die Mçglichkeit der Erhaltung seiner Existenz. – Diese ist der vçlligen Verwicklung des Zufalls des Ganzen unterworfen – Es werden also eine Menge zu den ganz abstumpfenden ungesunden und unsichern und die Geschiklichkeit beschrnkenden Fabrik- Manufacturarbeiten – Bergwerken u.s.f. verdammt, – und Zweige der Industrie, die eine grosse Klasse Menschen erhielten, versiegen auf einmal wegen der Mode – oder Wohlfeilerwerden durch Erfindungen in andern Lndern, u.s.f. und diese ganze Menge ist der Armuth, die sich nicht helfen kann, preisgegeben. – Der Gegensatz grossen Reichthums und grosser Armuth tritt [auf ] – die Armuth, der es unmçglich wird, etwas vor sich zu bringen; – der Reichthum wie jede Masse macht sich zur Krafft, – Anhaffung des Reichthums theils durch Zufall, – theils durch die Allgemeinheit durch die Vertheilung – ein Anziehender Punkt einer Art, der [seinen] Blik ber das Allgemeine weitere wirft, sammelt um sich her – wie eine grosse Masse die kleinern an sich zieht; – wer da hat, dem wird gegeben. – Der Erwerb wird ein vielseitiges System, das nach 623 PhdG, 237. 624 PhdG, 242. 625 PhdG, 242.

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allen Seiten einbringt, die ein kleineres Geschffte nicht benutzen kann; – oder die hçchste Abstraction der Arbeit greifft durch desto mehr einzelne Arten durch, und erhlt einen um so weitern Umfang. – Diese Ungleichheit des Reichthums und der Armuth, – diese Noth und Nothwendigkeit wird die hçchste Zerrissenheit des Willens, – innre Empçrung und Haß.“626

Auch ohne eine eingehende Analyse dieser Passagen lsst sich Folgendes feststellen: Wie in den GPhR versteht Hegel in der Jenaer Philosophie des Geistes die gesellschaftliche Anerkennung des Einzelnen als „Person“ als Verwirklichung des Willensmoments der Allgemeinheit. Dementsprechend bezeichnet er dasjenige rechtliche Verhltnis, in dem diese Form von Anerkennung ihre institutionelle Gestalt hat, als „das allgemeine Recht“. Als Verwirklichung des Moments der Allgemeinheit besteht dieses Rechtsverhltnis im Schutz des Einzelnen als privater Eigentmer seines Kçrpers und seiner „Geschicklichkeit“ sowie als eigentumsfhiges Individuum. Da es „nur formal“ ist und „in Ansehung des Inhalts ganz frey bleibt“, enthlt es keine Regelungen, welche die Verteilung des „ußeren Eigentums“ unter den Brgern betreffen. Aufgrund dieser Eigenschaften entspricht das allgemeine Recht im Wesentlichen dem, was Hegel in den GPhR mit „das abstrakte Recht“ bezeichnet. Nach Hegels Auffassung wird der Einzelne in einem solchen gesellschaftlichen Raum „bey seiner Rechtsfreyheit auf[ge]opfert“ und reagiert hierauf mit „Empçrung und Haß“. Deshalb sei eine allein gemß den Prinzipien des allgemeinen Rechts strukturierte Gesellschaft ein instabiles Willens- und Anerkennungsverhltnis, ja, „die hçchste Zerrissenheit des Willens“. Dieser Standpunkt lsst sich wie folgt rekonstruieren: Als Individuen, die sich als Personen bejahen und wirtschaftlich kooperieren, haben Menschen einen Grund, marktwirtschaftliche Institutionen zentralverwaltungswirtschaftlichen Regelungen vorzuziehen,627 und keinen Grund, sozialstaatliche Maßnahmen zu befrworten628. Eine Gesellschaft, deren Mitglieder einander allein als Personen anerkennen, wird also eine freie Marktwirtschaft sein, die ihre institutionelle Grundlage in den eigentumsrechtlichen Bestimmungen des allgemeinen bzw. abstrakten Rechts hat. Unter diesen Umstnden ist es aber ein gesellschaftlicher „Zufall“, welchen „Besitz“ und welche „Geschicklichkeit“ der Einzelne hat. Weil das so ist, ist die „Erhaltung seiner Existenz“ grundstzlich nicht gesichert. 626 PhdG, 243 f. 627 Siehe oben, Teil III, Kapitel 3.3. 628 Siehe oben, Teil III, Kapitel 3.4.

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Nun glaubt Hegel,629 dass sich in Gesellschaften dieser Art der „Gegensatz grossen Reichthums und grosser Armuth“ so sehr verschrfen wird, dass es den Armen nicht mçglich sein wird, „etwas vor sich zu bringen“ und ihren Lebensunterhalt zu sichern. Da dieser Umstand, bezogen auf das allgemeine Recht, eine Haltung der „Empçrung“ und des „Hasses“ erzeuge, sei das fragliche soziale Verhltnis instabil, wenn nicht zerrissen. Pointiert formuliert, vertritt Hegel also die These, dass der wechselseitige Respekt von Menschen als Personen nur solche Institutionen begrnden kann, die ihrerseits (mittelfristig) eine Haltung erzeugen, welche mit der des personalen Respekts unvereinbar ist. Demnach ist eine institutionalisierte Praxis personalen Respekts allein außerstande, ihren eigenen Bestand zu sichern. Hegels Schlussfolgerung sttzt sich auf die Annahme, dass Menschen „in neuer Zeit“630 eine Reihe von „besonderen“ sozialen Interessen haben, deren Erfllung eine Voraussetzung dafr ist, dass sie sich und Andere als Personen bejahen. (Worin diese Interessen bestehen, kann im vorliegenden Zusammenhang offenbleiben.)631 Da die fraglichen Interessen im Zustand des allgemeinen Rechts nicht erfllt werden (kçnnen), hçren zumindest die hiervon betroffenen Menschen auf, Personen sein zu wollen und einander als Personen zu respektieren.632 Demnach ist es denkbar, dass es Individuen gibt, fr die das allgemeine Recht ein stabiler institutioneller Kontext ist. Solche Individuen kçnnen beispielsweise dadurch charakterisiert sein, dass es ihr einziges (soziales) Interesse ist, Personen zu sein und einander als Personen zu respektieren. Menschen sind nach Hegels Auffassung keine solchen Individuen. Wie gesehen, begrndet Hegel diese These mit spezifischen Annahmen ber ihre (weiteren) sozialen Interessen sowie ihr Verhalten im Fall einer Nichterfllung derselben. Die Auffassung, dass eine institutionalisierte Praxis personalen Respekts unter Menschen instabil ist, hat Hegel der Sache nach in den GPhR bekrftigt. Das zeigen seine berlegungen zu dem von ihm so genannten „Pçbel“, den jene Praxis (ohne Weiteres) hervorbringen wrde.633 In der Tat bestimmt Hegel „[d]ie drftige Pçbelhaftigkeit […] als Bewußtsein der 629 Auf die Grnde, aus denen er dies glaubt, werde ich weiter unten eingehen. Vgl. Teil III, Kapitel 5. 630 GPhR, § 260, Zs. – Vgl. hierzu Teil III, Kapitel 2.2. 631 Diese Frage werde ich im folgenden Kapitel (4) untersuchen. 632 Demnach vertritt Hegel den in Anmerkung 559 beschriebenen Standpunkt. 633 Vgl. zu Hegels Theorie des Pçbels auch Bourdin (2001). Diese Arbeit bespreche ich in Schmidt am Busch (2002a).

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Rechtlosigkeit unter Voraussetzung des Rechts“634, und er erlutert diese Bestimmung wie folgt: „Die Armut an sich macht keinen zum Pçbel: dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknpfende Gesinnung, durch die innere Empçrung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw.“635 „Dann macht der Mensch sich selber rechtlos und hlt sich auch der Pflichten entbunden, und dies ist dann der Pçbel. Der Pçbel muß hierin, in diesem Gegensatz gesucht werden. Der Pçbel hlt sich dann auch von dem Respekt der Rechte anderer entbunden.“636

Bezieht man diese berlegungen Hegels auf seine weiter oben skizzierte Staatstheorie, dann lsst sich Folgendes feststellen: Gemeinwesen („Staaten“), die allein die Interessen der „persçnlichen Einzelheit“ zu sichern versuchen, sind keine Sphren substantieller Freiheit. Wie seine Analyse des Pçbels zeigt, ist Hegel der Auffassung, dass die Angehçrigen eines solchen Gemeinwesens keinen sozialen Raum teilen (kçnnen), dessen institutionelle Grundstruktur ihrem Selbstverstndnis als Staatsbrgern entspricht. Trifft diese Einschtzung zu, dann ist sie ein Beleg fr die Richtigkeit von Hegels berzeugung, dass es substantielle Freiheit nur in einem Gemeinwesen geben kann, das auch andere Interessen als die der „persçnlichen Einzelheit“ institutionell sichert. Allerdings ist damit noch offen, um welche Interessen es sich hierbei handelt. Mit dieser Frage werde ich mich in den folgenden Kapiteln befassen. Als Ergebnis der in diesem Abschnitt gefhrten Untersuchung ist Folgendes festzuhalten: Individuen, die einander als Personen respektieren und wirtschaftlich kooperieren, haben kraft ihres personalen Respekts einen Grund, eine eigentumsrechtlich verankerte freie Marktwirtschaft zu befrworten. Deshalb ist eine solche rechtliche und wirtschaftliche Ordnung als eine adquate Institutionalisierung von personalem Respekt anzusehen. Wenn jene Individuen aber Menschen sind, ist eine freie Marktwirtschaft problematisch: Denn zum einen vermag sie die weiteren sozialen Interessen solcher Individuen nicht angemessen zu sichern, und zum anderen bringt sie eine Haltung hervor, die mit der des Bejahens seiner selbst und der Anderen als Personen unvereinbar ist. Folglich kann die „vollstndige Entwicklung“ und rechtliche „Anerkennung“ der personalen Einzelheit unter Menschen nicht die soziale Gestalt einer freien Marktwirtschaft haben. 634 PhR. 1821/22, § 244. 635 GPhR, § 244, Zs. 636 PhR. 1821/22, § 244.

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3.5 Aktuelle Perspektiven Unsere bisherigen berlegungen lassen sich fr eine Beantwortung von zwei Fragen fruchtbar machen, welche vom Standpunkt der Kritischen Theorie sehr wichtig sind und gegenwrtig unter Kritischen Theoretikern kontrovers diskutiert werden. Diese Fragen lauten: 1. Kçnnen Mrkte anerkennungstheoretisch verstanden werden? 2. Kann die Existenz von Mrkten anerkennungstheoretisch legitimiert werden? Wie gesehen, vertritt Jrgen Habermas – ebenso wie Nancy Fraser637 – die Auffassung, dass (kapitalistische) Mrkte nur systemtheoretisch verstanden werden kçnnen, und er ist der Meinung, dass die Existenz von Mrkten allein unter funktionalistischen Gesichtspunkten legitimierbar ist.638 Demgegenber legt die von Axel Honneth ausgearbeitete Kritische Theorie eine positive Beantwortung der beiden obigen Fragen nahe. Wenn, wie Honneth behauptet, brgerlich-kapitalistische Gesellschaften „institutionalisierte Anerkennungsordnungen“639 sind, dann mssen sich Mrkte – als „Kerninstitutionen“640 von Gesellschaften dieser Art – anerkennungstheoretisch verstehen lassen kçnnen; und wenn „die moralischen Ordnungsmchte des Gleichheitsgrundsatzes oder des Leistungsprinzips“ tatschlich „der neu entstandenen Marktgesellschaft erst den legitimationswirksamen Rahmen verschaff[t] haben“641, dann muss die Existenz von Mrkten anerkennungstheoretisch zumindest prima facie legitimiert werden kçnnen. Allerdings wird dieser Standpunkt von Honneth nicht zufriedenstellend ausgearbeitet und begrndet.642 Wie ich nun darlegen werde, lassen sich auf der Grundlage unserer bisherigen berlegungen gute Argumente fr eine positive Beantwortung der oben genannten beiden Fragen anfhren. Vom Standpunkt der Hegel’schen Philosophie, so hat sich ergeben, lsst sich die erste der obigen beiden Fragen wie folgt beantworten: Mrkte sind Institutionalisierungen von personalem Respekt. Das ist deshalb der Fall, weil Menschen durch marktwirtschaftliche Tauschakte einander als Personen Respekt bekunden. Weil diese Bedingung nicht nur durch einen 637 638 639 640 641 642

Vgl. Teil I, Kapitel 5. Siehe oben, Teil I, Kapitel 4.2. UA, 162. UA, 164. UA, 178. Vgl. Schmidt am Busch (2008).

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Tausch von Gtern gegen Geld, sondern auch durch einen Tausch von Arbeitsleistungen gegen Geld oder von Geld gegen Geld erfllt wird, lassen sich sowohl Gtermrkte als auch Arbeits- und Kapitalmrkte als Institutionalisierungen von personalem Respekt verstehen. Aus diesen Grnden lsst sich die obige Frage 1 im Rckgriff auf Hegels GPhR positiv beantworten. Personaler Respekt, so ist zu beachten, bezieht sich auf die Tatsache, dass es Marktpreise gibt, nicht aber auf die Hçhe derselben. Wie gesehen, bekunden Marktteilnehmer einander dadurch personalen Respekt, dass sie die Zustimmung der beteiligten Parteien zu einem Tausch als notwendige und hinreichende Bedingung des Zustandekommens desselben erachten und dass sie einander fr berechtigt halten, unabhngig voneinander zu entscheiden, ob sie einem Tausch zustimmen oder nicht. Demnach ist die Bekundung von personalem Respekt unter Marktteilnehmern unabhngig davon, ob ein bestimmter Tausch tatschlich stattfindet und in welchem Verhltnis Gter, Arbeitsleistungen und Geld gegebenenfalls getauscht werden. Weil das so ist, kann sich personaler Respekt nicht auf die Hçhe von Marktpreisen beziehen. Die hiermit bezeichneten Eigenschaften von personalem Respekt ergeben sich letztlich aus dem Umstand, dass diese Form von Anerkennung allein das Willensmoment der Allgemeinheit bzw. der abstrakten Persçnlichkeit, nicht aber das der Besonderheit aktualisiert. Weil es im Fall von personalem Respekt „nicht auf das besondere Interesse, meinen Nutzen oder mein Wohl an[kommt] – ebensowenig auf den besonderen Bestimmungsgrund meines Willens, auf die Einsicht und Absicht“643, kann sich personaler Respekt nicht auf die Hçhe von Preisen beziehen – denn unter marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen ergibt sich diese ja gerade aus den besonderen Interessen und Einsichten der Marktteilnehmer. Folglich kann personaler Respekt nur den Umstand betreffen, dass es marktwirtschaftlich gebildete – und nicht zentralverwaltungswirtschaftlich festgelegte – Preise gibt. Die zweite der oben genannten Fragen ist nach Maßgabe der GPhR wie folgt zu beantworten: Die Existenz von Mrkten lsst sich mit der Anerkennungsform des personalen Respekts prima facie legitimieren. Das ist deshalb der Fall, weil personaler Respekt – bzw. die Entwicklung und Anerkennung der personalen Einzelheit – ein integraler Bestandteil von konkreter Freiheit ist und sich unter Individuen, die wirtschaftlich kooperieren, in marktwirtschaftlichen Arrangements bekundet. Zudem kann 643 GPhR, § 37.

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nur nach Maßgabe smtlicher Komponenten von konkreter Freiheit letztlich beurteilt werden, welches Gewicht personaler Respekt – und welchen Umfang marktwirtschaftliche Arrangements – in einem Gemeinwesen haben kçnnen, das „die Wirklichkeit der konkreten Freiheit“644 ist. Aufgrund dieser Eigenschaft der Hegel’schen Freiheitstheorie erçffnen die GPhR grundstzlich eine Perspektive fr eine Kritik an reinen Marktgesellschaften. Hegels berlegungen sind fr die aktuelle Kritische Theorie aus den folgenden beiden Grnden sehr attraktiv: 1. Wie aktuelle juristische Lehrbcher belegen, lassen sich marktfçrmige Transaktionen, die in einem privatrechtlichen Kontext stehen, als Bekundungen von personalem Respekt verstehen. In ihrem Verstndnis ist ein solcher Kontext dadurch charakterisiert, dass die ihm angehçrenden Menschen einander als rechtsfhige „Personen“645 anerkennen, die einen Anspruch auf eine „privatautonome Gestaltung der eigenen Rechtsbeziehungen“646 haben. Die alleinige Grundlage der Zuschreibung von Rechtsfhigkeit ist „die Fhigkeit zu vernnftigem Wollen und Handeln“647; demgegenber sind individuelle Besonderheiten wie „die jeweiligen geistigen und kçrperlichen Fhigkeiten, das Alter, das soziale Herkommen oder die Religion“648 im vorliegenden Zusammenhang irrelevant. Rechtliche Beziehungen werden dadurch gemß dem Prinzip der Privatautonomie gestaltet, dass (rechtsfhige) Personen einander als befugt erachten, unabhngig voneinander zu entscheiden, welche „Rechtsgeschfte“649 sie eingehen mçchten. Die fr das heutige Privatrecht grundlegende wechselseitige Anerkennung der Menschen als rechtsfhige und im Sinne der Privatautonomie autonome Personen lsst sich mithilfe der Hegel’schen Kategorie des personalen Respekts adquat rekonstruieren. Als Person (in Hegels Verstndnis) wird jemand nmlich deshalb respektiert, weil er als ein Individuum gilt, das sich von seinen Bedrfnissen, Trieben etc. willentlich distanzieren und Zwecke setzen kann, die einen propositionalen Gehalt haben und aufgrund dieser Eigenschaft kritisierbar bzw. vernnftig sind. Und 644 645 646 647 648 649

GPhR, § 260. Korenke (2006), 63. Korenke (2006), 91. Korenke (2006), 91. Korenke (2006), 63. Korenke (2006), 91.

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kraft dieser Art von Respekt wird er als befugt angesehen, unabhngig von Anderen bzw. „als Einzelner“ Zwecke zu setzen und zu verfolgen. Folglich entspricht personaler Respekt im Hegel’schen Sinne der Sache nach der wechselseitigen Anerkennung von Menschen als rechtsfhigen, privatautonomen Personen. In einem privatrechtlichen Kontext kommen Rechtsgeschfte genau dann zustande, wenn die beteiligten Personen dies rechtmßigerweise wollen. Die Erklrung ihres Willens ist somit eine notwendige und hinreichende Bedingung des Eintretens des entsprechenden „rechtliche[n] Erfolgs“650. Im vorliegenden Zusammenhang ist die Unterscheidung von „Willensbildung“ und „Willenserklrung“ von grundlegender Bedeutung. Ihre Funktion besteht darin, die rechtliche Wirksamkeit von Willenserklrungen von den fr die Willensbildung zentralen Faktoren (Motiven, situationsbezogenen Annahmen etc.) zu entkoppeln. Dies lsst sich anhand von Kaufakten illustrieren: „Wer beim Juwelier erklrt, einen Brillantring zu kaufen, den mag dazu bewogen haben, den Ring fr sich selbst zu behalten, ihn als Geburtstags- oder Hochzeitsgeschenk zu verwenden oder ihn gewinnbringend weiterzuverußern. All diese unterschiedlichen Motive spielen zwar eine maßgebliche Rolle bei der Bildung des Willens. Bestandteil der Willenserklrung selbst sind sie nicht. Denn Kufer und Verkufer erklren nur, die gegenseitigen Verpflichtungen des § 433 (= rechtlicher Erfolg) einzugehen. Die Motive, die sie letztlich zum Kaufentschluss veranlasst haben, finden in die Erklrungen (grundstzlich) keine Aufnahme und werden somit nicht Vertragsinhalt. Wenn zum Beispiel die Geburtstagsfeier entfllt und der Kufer infolgedessen keine Verwendung fr den Kaufgegenstand hat, so ndert dies nichts an seinem fehlerfrei erklrten kaufvertraglichen Angebot. […] Da somit die Beweggrnde lediglich bei der Bildung des Willens Bedeutung haben und nicht zum subjektiven Tatbestand zhlen, beeintrchtigen Fehlvorstellungen in diesem motivatorischen Vorfeld die Wirksamkeit der Willenserklrung grundstzlich nicht.“651

Demnach kommt es bei einem Rechtsgeschft also „nicht auf das besondere Interesse, meinen Nutzen oder mein Wohl an – ebensowenig auf den besonderen Bestimmungsgrund meines Willens, auf die Einsicht und Absicht“652. Weil das so ist, lassen sich Rechtsgeschfte, die in einem privatrechtlichen Kontext stehen, als Bekundungen von personalem Respekt im Hegel’schen Sinne verstehen. 650 Korenke (2006), 91. 651 Korenke (2006), 97 f. 652 GPhR, § 37.

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

Nun sind marktfçrmige Transaktionen aber gerade Rechtsgeschfte in dem oben spezifizierten Sinne. Wie das Beispiel des Ringkaufs zeigt, ist hinsichtlich ihrer rechtlichen Wirksamkeit die Erklrung, nicht aber die Bildung des Willens der beteiligten Personen maßgebend. Aus diesem Grunde sind marktfçrmige Transaktionen Akte, in denen Menschen einander als Personen (im Hegel’schen Sinne) respektieren. Wie diese berlegungen zeigen, ermçglicht Hegels Begriff des personalen Respekts eine anerkennungstheoretische Analyse von grundlegenden privatrechtlichen Bestimmungen und marktfçrmigen Transaktionen. Folglich lsst sich auf der Grundlage dieses Begriffs unsere obige Frage 1 auf eine fr die Kritische Theorie gewinnbringende Weise positiv beantworten. 2. Auch die Antwort, die nach Maßgabe von Hegels Sozialphilosophie auf die zweite der obigen beiden Fragen zu geben wre, ist aus Sicht der aktuellen Kritischen Theorie attraktiv. Das ist deshalb so, (i) weil Hegel die Existenz von Mrkten unter Bezugnahme auf eine Form von Anerkennung (Freiheit) legitimiert, die einen Bestandteil der normativen Infrastruktur moderner westlicher Gesellschaften bildet,653 und (ii) weil seine Argumentation die Mçglichkeit einer Kritik an von wirtschaftspolitischen Eingriffen und sozialstaatlichen Regelungen freien Mrkten erçffnet. Zur Begrndung des unter (i) angefhrten Arguments sei darauf hingewiesen, dass die Anerkennung des individuellen Anspruchs auf privatautonome Gestaltung der eigenen Rechtsbeziehungen sich beispielsweise aus dem grundgesetzlichen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit ergibt.654 Folglich ist das, worauf sich personaler Respekt bezieht, in der bundesrepublikanischen Gesellschaft ein zentrales Gut. Ein entsprechender Nachweis drfte auch fr andere westliche Gesellschaften leicht gefhrt werden kçnnen. Bezglich des unter (ii) genannten Arguments ist festzustellen, dass Hegels Legitimierung der Existenz von Mrkten (durch die Anerkennungsform des personalen Respekts) nicht mit einer Verteidigung freier Mrkte einhergeht, sondern fr eine Kritik an solchen Mrkten verschiedene Argumentationsstrategien in Aussicht stellt. Zum einen glaubt Hegel, dass eine gesellschaftliche Praxis personalen Respekts unter Menschen Bestandsvoraussetzungen hat, die durch freie Mrkte nicht gesichert 653 Damit gengt Hegels Argumentation den methodischen Anforderungen der aktuellen Kritischen Theorie. Siehe oben Teil I, Kapitel 3. 654 Vgl. Korenke (2006), 91.

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werden kçnnen, und zum anderen hat konkrete Freiheit655 nach seiner Auffassung Komponenten, die sich (allein) durch marktwirtschaftliche Arrangements nicht verwirklichen lassen. (Letzteres wird sich auch aus unseren weiteren berlegungen ergeben.) Fr den Kritischen Theoretiker wre unter jener Perspektive zu untersuchen, welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen und sozialstaatlichen Einrichtungen im Hinblick auf eine effektive Sicherung der Bestandsvoraussetzungen von personalem Respekt notwendig sind, unter dieser, welche weiteren Formen von Anerkennung neben personalem Respekt schtzenswert sind und welche Maßnahmen ihr Schutz erfordert. Jede dieser beiden Argumentationsstrategien scheint mir fr Theoretiker, die den gesellschaftspolitischen Zielsetzungen der Kritischen Theorie verpflichtet sind656, grundstzlich attraktiv zu sein. Allerdings sind Hegels berlegungen fr die aktuelle Kritische Theorie nicht ohne Weiteres bernehmbar. Wie erlutert, enthalten sie nmlich ,spekulative‘ Argumente, die aus heutiger Sicht problematisch sind. In der Tat begrndet Hegel die These, dass Menschen, die einander als Personen respektieren, einander fr berechtigt halten, ber ihren eigenen Kçrper und ihre eigenen Fhigkeiten unabhngig voneinander zu verfgen und ußere Dinge als privates Eigentum zu besitzen, mit den Argumenten, dass der personale Wille sich eine ußere Sphre seiner Freiheit geben „muß“, „um als Idee zu sein“,657 und dass er sich eine solche Sphre nur in Gestalt von ,Dingen‘ geben kann, zu denen er in der gleichen Art von Beziehung steht wie zu sich selbst als Besonderheit.658 Mçchte man diese Argumente nicht in Anspruch nehmen, wird man die obige These – dass Menschen, die einander als Personen respektieren, einander fr berechtigt halten, ber ihren eigenen Kçrper und ihre eigenen Fhigkeiten unabhngig voneinander zu verfgen und ußere Dinge als privates Eigentum zu besitzen – anders begrnden mssen.659

655 656 657 658 659

Siehe oben, Teil III, Kapitel 2.2. Siehe oben, Teil I, Kapitel 3. Siehe oben, Teil III, Kapitel 3.2, These 1. Siehe oben, Teil III, Kapitel 3.2, These 2. Eine adquate Erçrterung der Frage, auf welche Argumente sich eine solche alternative Begrndung sttzen kçnnte/zu sttzen htte, ist nur im Rahmen einer eigenstndigen (und umfangreichen) philosophischen Untersuchung zu leisten. Sie kann deshalb im vorliegenden Zusammenhang nicht vorgenommen werden.

4 Soziale Wertschtzung Das Ziel der im vorliegenden Kapitel gefhrten Untersuchung ist die Explikation eines weiteren Elements von konkreter Freiheit: der Entwicklung und rechtlichen Anerkennung „der besonderen Interessen“660 der Mitglieder moderner Gemeinwesen. Wie gesehen,661 ist ein Gemeinwesen nach Hegels Auffassung dann ein Ort konkreter Freiheit, wenn es so beschaffen ist, 1. dass die „persçnliche Einzelheit“ sich „vollstndig“ entwickeln kann und „rechtlich“ anerkannt wird; 2. dass die „besondere[n] Interessen“ dieser Einzelheit sich „vollstndig“ entwickeln kçnnen und „rechtlich“ anerkannt werden; und 3. dass die persçnliche Einzelheit und ihre besonderen Interessen das Allgemeine „als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und fr dasselbe als ihren Endzweck ttig sind“. Dementsprechend ist das Mitglied eines Gemeinwesens in Hegels Verstndnis auf konkrete Weise frei, wenn (1.) seine personale Freiheit, (2.) seine besonderen Interessen und (3.) sein „substantielles Wesen“ institutionell geschtzt werden. Nachdem ich bereits dargelegt habe, worin personale Freiheit und ihre institutionelle Sicherung sowie das „substantielle Wesen“ des Staatsbrgers bestehen,662 werde ich mich nun der Hegel’schen Theorie der Entwicklung und rechtlichen663 Anerkennung der besonderen Interessen zuwenden. Worin bestehen diese Interessen? Welche 660 Sofern nicht anders angegeben, verwende ich den Term „die besonderen Interessen“ im Folgenden im Sinne der GPhR (und zwar auch dort, wo ich ihn nicht in An- und Abfhrungszeichen einschließe). 661 Vgl. Teil III, Kapitel 2.1. 662 Wie bemerkt, werde ich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung die Frage offenlassen, welche Erfllungsbedingungen konkrete Freiheit unter diesem Aspekt hat. Siehe oben, Teil III, Kapitel 2.3. 663 Es sei hier daran erinnert, dass Hegel ein sehr weites Verstndnis von „Recht“ hat. Fr ihn fallen nicht nur rechtliche Bestimmungen im juristischen Sinne unter diesen Begriff. (Vgl. Teil III, Kapitel 1.1.) Aus diesem Grunde ist es denkbar, dass die „rechtliche“ Anerkennung der besonderen Interessen der Menschen durch Institutionen gesichert wird, die keine Elemente des Rechtssystems im juristischen Sinne sind.

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Methode liegt Hegels Bestimmung derselben zugrunde? Und wie sind die besonderen Interessen institutionell zu sichern? Diese Fragen werde ich im vorliegenden Kapitel untersuchen. Es sei zunchst daran erinnert, dass das oben unter 2. Angefhrte ein wesentlicher Aspekt von konkreter Freiheit (in Hegels Verstndnis) ist.664 Dieser Gedanke ist deshalb herauszustellen, weil die besonderen Interessen der Menschen im vorangehenden Kapitel im Hinblick auf die Etablierung einer stabilen Praxis personalen Respekts thematisiert worden sind. In diesem Zusammenhang wurde das Argument angefhrt, dass Menschen sich selbst und einander nur dann als Personen bejahen, wenn sie glauben, ihre besonderen Interessen (oder hinreichend viele derselben) verwirklichen zu kçnnen. Unter dieser Perspektive lsst sich die Erfllung der besonderen Interessen der Menschen als notwendige Bedingung der Etablierung einer stabilen Praxis personalen Respekts rechtfertigen. Angesichts dieser Argumentation ist zu betonen, dass die in Rede stehenden besonderen Interessen nach Hegels Auffassung auch dann gerechtfertigt wren, wenn ihre Erfllung hinsichtlich der Sicherung der Bestandsvoraussetzungen des abstrakten Rechts nicht erforderlich wre. Fr Hegel sind die Entwicklung und rechtliche Anerkennung der besonderen menschlichen Interessen nmlich ein integraler Bestandteil von konkreter Freiheit bzw. einer adquaten Realisierung der Struktur des freien Willens. Meines Erachtens laufen Hegels berlegungen auf folgenden Standpunkt hinaus: Die besonderen Interessen der Mitglieder moderner Gemeinwesen werden durch das Vorliegen von zwei bestimmten Arten sozialer Wertschtzung erfllt.665 Die erste dieser Wertschtzungsarten ist eine in Hegels Verstndnis fr die moderne, brgerliche Gesellschaft charakteristische Form von „Ehre“666, die zweite eine Form von sozialer Zugehçrigkeit, die auf einer wechselseitigen Wertschtzung als Inhaber partikularer Neigungen, Fhigkeiten, Bedrfnisse, Interessen etc. beruht. Diese Lesart der GPhR werde ich im Folgenden explizieren und verteidigen. 664 Vgl. Teil III, Kapitel 2.2. 665 Hegel selbst spricht im vorliegenden Zusammenhang nicht von sozialer Wertschtzung, sondern von Anerkennung. Vgl. GPhR, § 192 f. und § 207. Um diese Form von Anerkennung von der des personalen Respekts terminologisch abzugrenzen, verwende ich den Ausdruck „soziale Wertschtzung“ zu ihrer Bezeichnung. „Anerkennung“ benutze ich umfassender zur Bezeichnung von personalem Respekt und sozialer Wertschtzung. 666 GPhR, § 244.

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

4.1 „Brgerliche Ehre“ In Hegels Verstndnis ist das Verrichten einer gesellschaftlichen Arbeit fr die Mitglieder einer modernen Gesellschaft aus verschiedenen Grnden wichtig. Drei Faktoren sind im vorliegenden Zusammenhang herauszustellen. Das Ausben einer gesellschaftlichen Arbeit dient der Befriedigung der Bedrfnisse, (1.) beschftigt zu sein, (2.) ein Einkommen zu erzielen und (3.) ein ,ehrenvolles‘ Leben zu fhren. Diese Bedrfnisse sollen im Folgenden erçrtert werden. Auf diesem Wege wird eine der oben genannten beiden Arten von sozialer Wertschtzung begrifflich bestimmt werden. (1.) Die gesellschaftliche Arbeit ist fr Hegel eine Quelle „theoretischer“ und „praktischer Bildung“. In jener Hinsicht betont Hegel nicht nur die fachspezifischen „Kenntnisse“ des Berufsttigen, sondern auch dessen „Beweglichkeit und Schnelligkeit des Vorstellens und des bergehens von einer Vorstellung zur andern, das Fassen verwickelter und allgemeiner Beziehungen“667. Die praktische Bildung besteht nach Hegel „in dem sich erzeugenden Bedrfnis und der Gewohnheit der Beschftigung berhaupt, dann der Beschrnkung seines Tuns, teils nach der Natur des Materials, teils aber vornehmlich nach der Willkr anderer, und einer durch diese Zucht sich erwerbenden Gewohnheit objektiver Ttigkeit und allgemeingltiger Geschicklichkeiten“668. Im vorliegenden Zusammenhang ist allein der erste der von Hegel genannten Aspekte der praktischen Bildung von Interesse. Er besteht in dem Bedrfnis, auf eine gewohnheitsmßige Art und Weise beschftigt zu sein. Offenbar hat der praktisch Gebildete also das Bedrfnis, eine Beschftigung auszuben, die zur Strukturierung seines Tagesablaufs und seines Lebens beitrgt.669 Dieses Bedrfnis kann er durch die Ausbung einer gesellschaftlichen Arbeit erfllen – zumindest dann, wenn diese den Kriterien des sogenannten Normalarbeitsverhltnisses entspricht. Die gesellschaftliche Arbeit ist unter dem Aspekt der Erfllung des Bedrfnisses, auf eine gewohnheitsmßige Art und Weise beschftigt zu sein, keine Quelle von sozialer Wertschtzung. Vermutlich ist das deshalb so, weil dieses Bedrfnis dem Unvermçgen (oder der Befrchtung) entspringt, im Fall von Arbeitslosigkeit mit der Gestaltung des eigenen Lebens 667 GPhR, § 197. 668 GPhR, § 197. 669 Dieses Bedrfnis wird von E. M. Lange im Rahmen einer Erçrterung des sogenannten Rechts auf Arbeit geltend gemacht. Vgl. Lange (1996).

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berfordert zu sein. Unter dieser Annahme htte die gesellschaftliche Arbeit im vorliegenden Zusammenhang die Funktion, etwas zu kompensieren, was als Schwche oder Defizit wahrgenommen wird. Mit dieser berlegung lsst sich erklren, warum sie unter dem Aspekt der Erfllung des Bedrfnisses, auf eine gewohnheitsmßige Art und Weise beschftigt zu sein, keine Wertschtzung begrndet (und in dieser Hinsicht von Hegel nicht thematisiert wird). (2.) Das Verrichten einer gesellschaftlichen Arbeit ist fr die Angehçrigen einer „brgerlichen Gesellschaft“ unter dem Aspekt der Generierung eines Einkommens wichtig. Sieht man von der Mçglichkeit der Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts aufgrund von Vermçgen oder gesellschaftlichen Transferleistungen ab, sind die Brger einer solchen Gesellschaft im Hinblick auf die Sicherung ihrer „Subsistenz“ darauf angewiesen, ein Arbeitseinkommen zu erzielen. Wie wir sehen werden, ist die Ausbung von gesellschaftlicher Arbeit unter diesem Gesichtspunkt zugleich ein Weg, um an der weiter unten erçrterten Praxis konsumtiver Wertschtzung teilzunehmen.670 Folglich ist sie ein Mittel der Erlangung einer spezifischen Form von sozialer Wertschtzung. Allerdings ist die gesellschaftliche Arbeit auch in diesem Zusammenhang keine Quelle von Wertschtzung. Wie sich weiter unten zeigen wird671, wrde nmlich die Ersetzung des Arbeitseinkommens einer Person A durch ein nicht durch A’s Arbeit gebildetes Vermçgen gleicher Grçße die Mçglichkeiten von A’s Teilnahme an der oben genannten Praxis konsumtiver Wertschtzung nicht beeinflussen. (3.) Die Verrichtung von gesellschaftlicher Arbeit ist in einem modernen Gemeinwesen ein integraler Bestandteil eines ,ehrenvollen‘ Lebens und begrndet eine spezifische Form von sozialer Wertschtzung. Diesen Gedanken entwickelt Hegel wie folgt: In einem modernen Gemeinwesen besteht die „Ehre“672 des Brgers darin, „sich, und zwar aus eigener Bestimmung, durch seine Ttigkeit, Fleiß und Geschicklichkeit zum Gliede eines der Momente der brgerlichen Gesellschaft zu machen und als solches zu erhalten und nur durch diese Vermittlung mit dem Allgemeinen fr sich zu sorgen sowie dadurch in seiner Vorstellung und der Vorstellung anderer anerkannt zu sein“.673 670 671 672 673

Siehe Teil III, Kapitel 4.2. Vgl. Teil III, Kapitel 4.2. GPhR, § 244. GPhR, § 207.

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

Es sei zunchst darauf hingewiesen, dass Hegel im vorliegenden Zusammenhang den Ausdruck „Ehre“ verwendet, um die Wichtigkeit der hiermit bezeichneten Vorstellung herauszustellen. In der Tat versteht er die fragliche Konzeption von Ehre als ein „Prinzip“674 der modernen, „brgerlichen Gesellschaft“675. Mit der Verwendung von „Ehre“ signalisiert Hegel, dass diese Vorstellung im Kontext der brgerlichen Gesellschaft ebenso wichtig ist wie die Konzeption ritterlicher Ehre in feudalen Gesellschaften.676 Wenngleich der Ausdruck „Ehre“ im vorliegenden Zusammenhang antiquiert anmutet, ist es also mçglich, dass das von ihm Bezeichnete aktuell ist. Was genau versteht Hegel unter einem ehrenvollen brgerlichen Leben? Es bietet sich an, diese Frage anhand der im obigen Zitat angefhrten Bestimmungen Schritt fr Schritt zu erçrtern. (i) „aus eigener Bestimmung“: Als Menschen, die einander als Personen respektieren, halten sich die Mitglieder eines modernen Gemeinwesens fr berechtigt, selbst zu entscheiden, welche Zwecke sie verfolgen mçchten. Wie gesehen, bezieht sich dieser Anspruch grundstzlich auch auf Entscheidungen, welche die gesellschaftliche Produktion und Distribution von Gtern betreffen.677 Folglich halten die Mitglieder eines modernen Gemeinwesens einander fr berechtigt, „aus eigener Bestimmung“ eine berufliche Laufbahn einzuschlagen. Eine solche Entscheidung ist ein Aspekt dessen, was sie als ein ehrenvolles Leben ansehen. Mit der unter (i) genannten Bestimmung macht Hegel deutlich, dass eine zentralverwaltungswirtschaftliche Beantwortung der Frage „Wer soll produzieren?“ nach seiner Auffassung ein ehrenvolles brgerliches Leben verunmçglicht. Dementsprechend sieht er in der modernen brgerlichen Gesellschaft „die letzte und wesentliche Bestimmung […] in der subjektiven Meinung und der besonderen Willkr, die sich in dieser Sphre ihr Recht, Verdienst und ihre Ehre gibt, so daß, was in ihr […] geschieht, zugleich durch die Willkr vermittelt ist und fr das subjektive Bewußtsein die Gestalt hat, das Werk seines Willens zu sein“678. Genau diese Eigenschaft fehle der „alte[n] Arbeit der Pyramiden und der anderen ungeheuren 674 GPhR, § 245. 675 GPhR, § 245. 676 Es sei daran erinnert, dass Axel Honneth die von ihm in UA vertretene Konzeption sozialer Wertschtzung als eine Meritokratisierung der feudalen Vorstellung von Ehre versteht. Siehe oben, Teil I, Kapitel 6.2. 677 Siehe oben, Teil III, Kapitel 3.3. 678 GPhR, § 206.

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gyptischen und asiatischen Werke, welche fr çffentliche Zwecke ohne die Vermittlung der Arbeit des Einzelnen durch seine besondere Willkr und sein besonderes Interesse hervorgebracht wurden“679. (ii) „sich […] durch seine Ttigkeit, Fleiß und Geschicklichkeit zum Gliede eines der Momente der brgerlichen Gesellschaft zu machen und als solches zu erhalten“: Mit dem Ausdruck „die Momente der brgerlichen Gesellschaft“ bezeichnet Hegel die sozioçkonomischen Sphren der Landwirtschaft und der stdtischen Gterproduktion sowie die çffentliche Verwaltung.680 Folglich ist es ein Aspekt eines ehrenvollen brgerlichen Lebens, durch den Erwerb und die Anwendung von berufsrelevanten Qualifikationen – und nicht etwa aufgrund von persçnlichen Beziehungen oder der eigenen sozialen Herkunft – ein Angehçriger eines der Momente der brgerlichen Gesellschaft zu werden und zu bleiben.681 (iii) „nur durch diese Vermittlung mit dem Allgemeinen fr sich zu sorgen“: Wer ein ehrenvolles Leben fhren mçchte, muss den eigenen Gterbedarf durch seine „Vermittlung mit dem Allgemeinen“ sichern. Ein solcher Brger wird also nicht „fr sich sorgen“, ohne sich zu einem Mitglied eines der Momente der brgerlichen Gesellschaft zu machen und in dieser Rolle zur Produktion von Gtern beizutragen, die fr andere Gesellschaftsmitglieder oder die çffentliche Hand von Nutzen sind. Nach dieser Bestimmung ist es nicht ehrenvoll, allein auf der Grundlage von Vermçgen, das nicht durch eigene berufliche Arbeit gebildet worden ist, oder allein durch die Inanspruchnahme von gesellschaftlichen Transferleistungen „fr sich zu sorgen“. Nun ist es aber denkbar, dass ein Brger eines modernen Gemeinwesens seinen Lebens679 GPhR, § 236, Anm. 680 Vgl. GPhR, §§ 203 – 205. 681 Es ist eine interessante Frage, ob sich mit Hegels Politischer und Sozialphilosophie so etwas wie ein Recht auf Arbeit begrnden lsst. Nach Meinung zahlreicher Kommentatoren der GPhR ist diese Frage positiv zu beantworten. So behauptet etwa M. Hardimon, dass Hegel „maintains, more specifically, that individuals, as members of civil society, have a positive right to the basic prerequisites of full social participation: work and livelihood“. In: Hardimon (1994), 197. hnlich argumentiert Kersting (1986), 376. Angesichts der im Haupttext unter (i) und (ii) genannten Faktoren („eigene Bestimmung“, „Fleiß und Geschicklichkeit“) ist es meines Erachtens nicht mçglich, auf der Grundlage der GPhR so etwas wie ein unbedingtes, einklagbares Individualrecht auf Teilnahme am gesellschaftlichen Produktionsprozess zu begrnden. Vgl. zu diesem Thema auch meine systematischen berlegungen in Schmidt am Busch (2003).

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unterhalt (Gterbedarf ) zum Teil durch seine berufliche Ttigkeit und zum Teil durch gesellschaftliche Transferleistungen bestreitet. Kann eine solche Person ein ehrenvolles Leben fhren?682 Wie mir scheint, wird die Beziehung zwischen dem Fr-sich-Sorgen und der „Vermittlung mit dem Allgemeinen“ von Hegel unter quantitativen Gesichtspunkten nicht erçrtert. Was sich der oben zitierten Textstelle entnehmen lsst, ist, dass es eine solche Vermittlung geben muss, nicht aber, dass ihr Wert mindestens so hoch sein muss wie der Wert derjenigen Gter, welche der fr sich sorgende Brger konsumiert. Folglich wird eine positive Beantwortung unserer obigen Frage von Hegel nicht ausgeschlossen.683 Unerheblich ist im vorliegenden Zusammenhang die Zeitspanne zwischen dem Erwerb und dem Konsum von Gtern. Wenn ein Brger im Rahmen seiner „Vermittlung mit dem Allgemeinen“ eine bestimmte Gtermenge erwirbt, ist es ihm nach Maßgabe der in der modernen Welt wirksamen Konzeption von Ehre unbenommen, diese Gter in einem spteren Zeitraum zu konsumieren. Folglich muss ein Brger nicht ununterbrochen in einem Arbeitsverhltnis stehen, um ein ehrenvolles Leben fhren zu kçnnen. Wenn er in einem Zeitraum t1 keiner gesellschaftlichen Arbeit nachgeht und seinen Lebensunterhalt mit Gtern sichert, die er in einem (frheren) Zeitraum t0 durch Arbeit erworben hat, fhrt er auch in t1 ein ehrenvolles Leben. Die Bildung von Vermçgen durch eigene Arbeit ist also nach Maßgabe der in den GPhR vertretenen Konzeption von brgerlicher Ehre unproblematisch. Da er der Auffassung ist, dass in einem modernen Gemeinwesen die Arbeitsteilung so weit fortgeschritten ist, dass der einzelne Brger seinen Lebensunterhalt nicht als Selbstversorger sichern kann,684 stellt sich fr Hegel nicht die Frage, ob ein Brger, der keine gesellschaftliche Arbeit verrichtet, aber auch keine gesellschaftlich produzierten Konsumgter

682 Angesichts der großen Zahl von Personen, deren in der Privatwirtschaft erzieltes Arbeitseinkommen gegenwrtig durch die çffentliche Hand bezuschusst wird, ist diese Frage nicht nur unter Hegel-interpretatorischen Gesichtspunkten wichtig. 683 Ich werde diese Frage im Rahmen meiner Erçrterung von Hegels Theorie der Korporation wieder aufgreifen. Siehe unten, Teil III, Kapitel 4.5.2.1. 684 Vgl. GPhR, § 183. – Gemß diesem Kriterium ist es fraglich, ob „der substantielle Stand“, der fr die Gewinnung landwirtschaftlicher Produkte zustndig ist, einen Teil dieser Gesellschaft bildet. Wie Hegel selbst schreibt, „sorgt“ der Angehçrige dieses Standes nmlich „so ungefhr fr das meiste, Ganze seiner Bedrfnisse“ (PhdG, 267). Vgl. zu dieser Frage auch Schmidt am Busch (2007), 137 – 167, insbesondere 140 – 148.

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verzehrt, ein ehrenvolles Leben fhren kann. Diese Frage kann auch im Rahmen unserer berlegungen außer Acht bleiben. (iv) „dadurch in seiner Vorstellung und der Vorstellung anderer anerkannt zu sein“: Es ist ein Aspekt eines ehrenvollen Lebens, aufgrund der unter (i), (ii) und (iii) genannten Faktoren („dadurch“) sowohl in der eigenen Vorstellung als auch in der Vorstellung der anderen Brger685 anerkannt zu sein. Das ist wie folgt zu verstehen: Fr einen Brger eines modernen Gemeinwesens ist es wichtig, (i) selbst zu entscheiden, welchem „Moment der brgerlichen Gesellschaft“ er angehçren mçchte; (ii) spezifische Qualifikationen zu erwerben, deren Anwendung in der Arbeitswelt fr die Gesellschaft von Nutzen ist; und (iii) seinen Lebensunterhalt (Gterbedarf ) unter Anwendung derartiger Qualifikationen im Rahmen des gesellschaftlichen Produktionsprozesses zu sichern. Fr ihn sind die unter (i), (ii) und (iii) genannten Bestimmungen Aspekte desjenigen Lebens, das er fhren mçchte. Sie bilden also integrale Bestandteile derjenigen Erwartung, die er mit Bezug auf ein gelingendes eigenes Leben hat. Deshalb ist er „in seiner Vorstellung […] anerkannt“, wenn er tatschlich ein Leben fhrt, das jenen drei Bestimmungen gengt. Da die von ihm vertretene Konzeption von Ehre von den anderen Gesellschaftsmitgliedern annahmegemß geteilt wird, ist er erfolgreichenfalls auch in ihrer „Vorstellung“ als jemand anerkannt, (i) der sich aufgrund einer eigenen Entscheidung zu einem Moment der brgerlichen Gesellschaft gemacht hat; (ii) der durch eigene Bemhungen und Anstrengungen Qualifikationen erworben hat, deren Anwendung in der Arbeitswelt fr die Gesellschaft von Nutzen ist; und (iii) der von der Gesellschaft keine Gter empfngt, ohne seinerseits fr die Gesellschaft Gter herzustellen. In Ergnzung von Hegels berlegungen sei darauf hingewiesen, dass es fr ein Mitglied einer modernen Gesellschaft auch wichtig ist, 685 Genau genommen, spricht Hegel hier nicht von den anderen Brgern, sondern lediglich von anderen Brgern. Da er allerdings im vorliegenden Zusammenhang die „Vermittlung mit dem Allgemeinen“ thematisiert, ist mit „der Vorstellung anderer“ offenbar die Vorstellung aller der Allgemeinheit angehçrenden Brger gemeint.

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(iv) in den Hinsichten (i), (ii) und (iii) von den anderen Gesellschaftsmitgliedern anerkannt zu werden. Es ist fr einen solchen Brger also nicht nur wichtig, ein Leben zu fhren, das den Bestimmungen (i), (ii) und (iii) gengt, sondern auch, aufgrund dieses Umstands gesellschaftlich anerkannt zu werden. In Annherung an Hegels obige Formulierungen lsst sich also sagen, dass auch die Vorstellung, in der Vorstellung Anderer anerkannt zu sein, einen Aspekt eines ehrenvollen Lebens bildet. Nach Maßgabe von Hegels Konzeption brgerlicher Ehre liegt es also im („besonderen“) Interesse der Mitglieder moderner Gemeinwesen, ihren Lebensunterhalt (Gterbedarf ) auf eine bestimmte Art und Weise, nmlich durch die Teilnahme am gesellschaftlichen Produktionsprozess zu sichern. Menschen, die in diesem Sinne ein ehrenvolles Leben zu fhren bestrebt sind, wollen also nicht einfach fr sich sorgen, sondern sie wollen dies dadurch tun, dass sie fr Andere (ihre Mitbrger und/oder die çffentliche Hand) sorgen. Gilt die gesellschaftliche Arbeit vielen konomen lediglich als etwas Anstrengendes und Entbehrungsreiches, das die Menschen zu minimieren bestrebt sind,686 ist sie also nach Maßgabe von Hegels Konzeption brgerlicher Ehre (auch) ein integraler Bestandteil eines gelingenden Lebens in einem modernen Gemeinwesen. Dass diese Form von „Ehre“ fr die Mitglieder moderner Gesellschaften ein ußerst wichtiges Gut ist, ergibt sich fr Hegel aus einer sozialpsychologischen Analyse der Lebensverhltnisse unfreiwillig arbeitsloser und von Armut betroffener Brger. Wie er selbst bemerkt, hat er „[d]iese Erscheinungen“ vor allem „an Englands Beispiel studier[t]“.687 Auf der Grundlage dieser Studien ußert Hegel die Einschtzung, dass das, was er als brgerliche Ehre erachtet, ein „Prinzip der brgerlichen Gesellschaft“ sei, das in sozialpolitischer Hinsicht bercksichtigt werden msse: „Wird der reicheren Klasse die direkte Last aufgelegt, oder es wren in anderem çffentlichen Eigentum (reichen Hospitlern, Stiftungen, Klçstern) die direkten Mittel vorhanden, die der Armut zugehende Masse auf dem Stande ihrer ordentlichen Lebensweise zu erhalten, so wrde die Subsistenz der Bedrftigen gesichert, ohne durch die Arbeit vermittelt zu sein, was gegen das Prinzip der brgerlichen Gesellschaft und des Gefhls ihrer Individuen von ihrer Selbstndigkeit und Ehre wre […].“688 686 Vgl. z. B. Hillebrand (1996), 60 – 63. 687 GPhR, § 245, Anm. 688 GPhR, § 245. – Zu Recht betont F. Neuhouser „the ,spiritual‘ satisfaction – selfesteem and the recognition of others – that comes from fulfilling one’s material needs through one’s own labor and effort“. In: Neuhouser (2000), 173.

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Ich beschließe meine Erçrterung von Hegels Konzeption brgerlicher Ehre mit einigen terminologischen Bemerkungen. Im Verstndnis der GPhR sind diejenigen Beziehungen, die ein Brger unter dem Gesichtspunkt brgerlicher Ehre zu sich selbst und zu Anderen unterhlt, Anerkennungsbeziehungen.689 Die von mir unterschiedenen Aspekte von brgerlicher Ehre legen indes eine differenziertere Betrachtung nahe. In der Tat entspricht die Anerkennung als ehrenvoller Brger unter dem Aspekt (i) genau dem, was weiter oben mit „personaler Respekt“ bezeichnet wurde – denn das, was in diesem Zusammenhang anerkannt wird, ist ja die Entscheidung eines Brgers, eine bestimmte berufliche Laufbahn einzuschlagen, unter dem Gesichtspunkt, „aus eigener Bestimmung“ zu erfolgen. Demgegenber besteht die Anerkennung als ehrenvoller Brger unter den Aspekten (ii) und (iii) in einer Form von Wertschtzung, die sich auf den Erwerb von gesellschaftlich relevanten Qualifikationen sowie die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts durch die Anwendung derselben in der Arbeitswelt bezieht. Diese Wertschtzung lsst sich deshalb nicht als ein Fall von personalem Respekt verstehen, weil sie sich auf bestimmte Zwecke, Bemhungen und Anstrengungen bezieht – nmlich den Willen, Qualifikationen der oben genannten Art zu erwerben und in der Arbeitswelt anzuwenden. Nher hat diese Form von Wertschtzung zwei zu unterscheidende Aspekte. In der Tat ist es mçglich, dass ein Brger eines modernen Gemeinwesens gesellschaftlich relevante Qualifikationen erwirbt, nicht aber innerhalb des gesellschaftlichen Produktionsprozesses zur Anwendung bringen kann – etwa deshalb, weil er aufgrund eines Unfalls arbeitsunfhig wird oder weil bestimmte Gter aufgrund von Naturkatastrophen nicht mehr produziert werden kçnnen. Zwar kann ein solcher Brger nicht unter dem Aspekt (iii) von Hegels Konzeption brgerlicher Ehre wertgeschtzt werden, wohl aber unter deren Aspekt (ii). Aus diesem Grunde ist es sinnvoll, zwischen sozialer Wertschtzung, die sich auf den Erwerb von gesellschaftlich relevanten Qualifikationen, und sozialer Wertschtzung, die sich auf die Anwendung derselben in der Arbeitswelt bezieht, zu unterscheiden. Als Ergebnis der in diesem Kapitel gefhrten Untersuchung ist Folgendes festzuhalten: Nach Hegels Auffassung teilen die Mitglieder moderner Gemeinwesen das Interesse, ein ehrenvolles Leben zu fhren und als ehrenvolle Brger gesellschaftliche Anerkennung zu finden. Dieses Interesse ist „in neuer Zeit“ eines „der besonderen Interessen“, die in einem 689 Siehe oben, Teil III, Kapitel 4.1, (iv).

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

wohlgeordneten Gemeinwesen nach Mçglichkeit institutionell zu schtzen sind.

4.2 Soziale Zugehçrigkeit Der Sache nach vertritt Hegel in den GPhR den Standpunkt, dass die Mitglieder eines modernen Gemeinwesens das Bedrfnis haben, anderen Brgern hinsichtlich bestimmter Neigungen, Fhigkeiten, Bedrfnisse, Interessen etc. gleich zu sein und von ihnen auf dieser Grundlage als ,einer von uns‘ anerkannt zu werden. Demnach haben diese Menschen das Bedrfnis, auf der Basis partikularer Gegebenheiten soziale Zugehçrigkeiten auszubilden und aufrechtzuerhalten. Da solche Zugehçrigkeiten auf einer wechselseitigen Wertschtzung als Inhaber bestimmter Neigungen, Fhigkeiten, Bedrfnisse, Interessen etc. beruhen, ist es gerechtfertigt, sie als eine spezifische Praxis sozialer Wertschtzung anzusehen. Das oben genannte Bedrfnis ist eines der „besonderen Interessen“ der Brger moderner Gemeinwesen. Dass Hegel diese Auffassung vertritt, lsst sich seiner Analyse des konsumtiven Verhaltens der Mitglieder moderner Gesellschaften sowie seiner Rechtfertigung der Existenz von Korporationen entnehmen. In der Tat versteht Hegel die (seines Erachtens in modernen Marktwirtschaften verstrkt zu beobachtende) Praxis konsumtiver „Nachahmung“690 als eine – allerdings inadquate – Artikulation des Bedrfnisses, anderen Brgern hinsichtlich bestimmter Neigungen, Fhigkeiten, Bedrfnisse, Interessen etc. gleich zu sein und von ihnen auf dieser Grundlage als ,einer von uns‘ anerkannt zu werden. Seines Erachtens sind Korporationen geeignet, zur Erfllung dieses Bedrfnisses einen entscheidenden Beitrag zu leisten. Diese Annahme ist einer der Grnde, aus denen Hegel in den GPhR fr eine korporativ verfasste marktwirtschaftliche Ordnung pldiert.691 Trifft diese Einschtzung zu, dann ist das in Rede stehende Bedrfnis eines derjenigen „Interessen“, die nach Hegels Auffassung in einem modernen Gemeinwesen institutionell zu schtzen sind.692 Methodologisch ist Hegels Analyse der Konsumsphre moderner Gesellschaften im vorliegenden Zusammenhang von großem Interesse. Aus ihr folgert Hegel nmlich, dass die Mitglieder dieser Gesellschaften das 690 GPhR, § 193. 691 Siehe unten, Teil III, Kapitel 4.5.2.2. 692 Siehe oben, Teil III, Kapitel 2.2.

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oben genannte Bedrfnis haben, anderen Brgern hinsichtlich bestimmter Neigungen, Fhigkeiten, Bedrfnisse, Interessen etc. gleich zu sein und von ihnen auf dieser Grundlage als ,einer von uns‘ anerkannt zu werden. Auf welche Argumente Hegel sich in diesem Zusammenhang sttzt, werde ich nun untersuchen. Mit seiner Rechtfertigung der Institution der Korporation werde ich mich demgegenber weiter unten auseinandersetzen.693 Hegels Analyse des konsumtiven Verhaltens der Mitglieder moderner Gemeinwesen beginnt mit einigen allgemeinen anthropologischen berlegungen: „Das Tier hat einen beschrnkten Kreis von Mitteln und Weisen der Befriedigung seiner gleichfalls beschrnkten Bedrfnisse. Der Mensch beweist auch in dieser Abhngigkeit zugleich sein Hinausgehen ber dieselbe und seine Allgemeinheit, zunchst durch die Vervielfltigung der Bedrfnisse und Mittel und dann durch Zerlegung und Unterscheidung des konkreten Bedrfnisses in einzelne Teile und Seiten, welche verschiedene partikularisierte, damit abstrakte Bedrfnisse werden.“694

Gleich nichtmenschlichen Tieren sind Menschen biologische Wesen, und als solche haben sie spezifische Bedrfnisse (nach Nahrung, Schlaf, Schutz vor klimatischen Widrigkeiten etc.). Weil das so ist, stehen sowohl nichtmenschliche als auch menschliche Tiere in einer „Abhngigkeit“ von natrlichen Gegebenheiten. Whrend jedoch nichtmenschliche Tiere ihre Bedrfnisse instinktiv, d. h. durch biologisch festgelegte Reaktionen auf gegebene Reize befriedigen,695 sind Menschen in dem Sinne „Allgemeinheit[en]“, dass sie sich ihre biologischen Bedrfnisse bewusst machen und sich zu ihnen willentlich verhalten kçnnen. Diese Mçglichkeit besteht deshalb, weil Menschen die fraglichen Bedrfnisse mithilfe von Stzen ausdrcken kçnnen, welche die allgemeine Form „Ich habe das Bedrfnis, X zu tun“ haben.696 Weil sie sich zu ihren Bedrfnissen annehmend oder ablehnend verhalten kçnnen, sind sie – anders als nichtmenschliche Tiere – zugleich ein „Hinausgehen“ ber sich als biologische Wesen. Dass Menschen die Mçglichkeit der „Vervielfltigung der Bedrfnisse“ sowie der „Zerlegung und Unterscheidung des konkreten Bedrfnisses“ haben, lsst sich wie folgt erklren: 693 Vgl. Teil III, Kapitel 4.5. 694 GPhR, § 190. 695 Das ist zumindest Hegels Auffassung. Es ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit unerheblich, ob sie zutreffend ist oder nicht. 696 Das Bedrfnis nach Schlaf wrde also beispielsweise unter Verwendung von „das Bedrfnis zu schlafen“ ausgedrckt werden.

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1. Menschen kçnnen ihre Bedrfnisse mithilfe von Stzen beschreiben, welche die allgemeine Form „Ich habe das Bedrfnis, X zu tun“ haben. Nun lsst sich der Ausdruck „X zu tun“ im Prinzip durch „eine ins Unendliche fortgehende“697 Reihe von Handlungsbeschreibungen ersetzen. Weil Menschen – als Sprachverwender – Ersetzungen dieser Art vornehmen kçnnen, haben sie die Mçglichkeit, vorhandene Bedrfnisse zu differenzieren und weitere Bedrfnisse zu generieren. 2. Viele Dinge, die Menschen tun mssen, um sich als biologische Wesen zu erhalten, kçnnen auf verschiedene Arten und Weisen getan werden. In dieser Hinsicht haben Menschen – anders als nichtmenschliche Tiere – einen großen Gestaltungsspielraum. Weil die Erhaltung der Menschen als biologischer Wesen also durch die Befriedigung von verschiedenen Sets an Bedrfnissen sichergestellt werden kann, bietet dieser Ttigkeitsbereich die Mçglichkeit einer „Vervielfltigung der Bedrfnisse“ sowie „Zerlegung und Unterscheidung des konkreten Bedrfnisses in einzelne Teile und Seiten“: „[D]er Mensch macht sich eine Bettstelle ber dem Boden, schon die Vçgel machen sich ein Nest. Wenn schon bei den Tieren dieser Instinkt ist, es nicht zu belassen bei der unmittelbaren Art der Befriedigung, so ist dies noch viel mehr bei den Menschen der Fall.“698

Warum ist Hegel der Auffassung, dass sich in dem konsumtiven Verhalten der Mitglieder moderner Gesellschaften ihr Bedrfnis artikuliert, anderen Brgern hinsichtlich bestimmter Neigungen, Fhigkeiten, Bedrfnisse, Interessen etc. gleich zu sein und von ihnen auf dieser Grundlage als ,einer von uns‘ anerkannt zu werden? Wie seinen unten wiedergegebenen berlegungen entnommen werden kann, glaubt Hegel, dass zwei Formen von „Anerkennung“ in der Konsumsphre moderner Gesellschaften wirksam und sozialtheoretisch relevant sind. Jede dieser beiden Anerkennungsformen thematisiert er in einem eigenen Paragraphen der GPhR: (1) „Die Bedrfnisse und die Mittel werden als reelles Dasein ein Sein fr andere, durch deren Bedrfnisse und Arbeit die Befriedigung gegenseitig bedingt ist. Die Abstraktion, die eine Qualitt der Bedrfnisse und der Mittel wird, wird auch eine Bestimmung der gegenseitigen Beziehung der 697 GPhR, § 191. 698 PhR. 1821/22, § 194. – Hegels These, dass eine „mittelbare Art der Befriedigung“ der eigenen Bedrfnisse ein Charakteristikum des Menschen sei, nimmt Georg Simmels Bestimmung des Menschen als „das indirekte Wesen“ vorweg. Vgl. Simmel (2008), 334.

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Individuen aufeinander; diese Allgemeinheit als Anerkanntsein ist das Moment, welches sie [die Bedrfnisse und Mittel – SaB] in ihrer Vereinzelung und Abstraktion zu konkreten, als gesellschaftlichen, Bedrfnissen, Mitteln und Weisen der Befriedigung macht.“699 (2) „Dies Moment wird so eine besondere Zweckbestimmung fr die Mittel fr sich und deren Besitz sowie fr die Art und Weise der Befriedigung der Bedrfnisse. Es enthlt ferner unmittelbar die Forderung der Gleichheit mit den anderen hierin; das Bedrfnis dieser Gleichheit einerseits und das Sichgleichmachen, die Nachahmung, […] wird selbst eine wirkliche Quelle der Vervielfltigung der Bedrfnisse und ihrer Verbreitung.“700 „Ebenso notwendig ist dann, diese Gleichheit zum Dasein fr den anderen hervorzubringen und sich das Bewußtsein zu geben, von dem anderen so als ihm gleich betrachtet, anerkannt zu werden.“701 Ad (1). Die in § 192 der GPhR genannte Art von Anerkennung ist nichts anderes als personaler Respekt. Indem sie sich als Personen respektieren, begegnen Menschen einander nmlich auf ,abstrakte‘ bzw. ,allgemeine‘ Weise. In der Tat halten sie einander als Personen fr berechtigt, selbst zu entscheiden, welche Zwecke sie verfolgen mçchten. Demgegenber ist eine eventuelle Wertschtzung hinsichtlich derjenigen Zwecke, die sie verfolgen, oder derjenigen Annahmen, aufgrund welcher sie jene Zwecke verfolgen, kein Element von personalem Respekt. Weil das so ist, wird mit personalem Respekt allein das Willensmoment der abstrakten Persçnlichkeit bzw. der „Allgemeinheit“ entfaltet.702 Als Personen halten sich die Mitglieder eines Gemeinwesens fr berechtigt, ihre konsumtiven Bedrfnisse mittels gesellschaftlicher Interaktionen zu befriedigen. Aufgrund dieser Anerkennung sind ihre „Bedrfnisse“ und „Mittel“ grundstzlich „ein Sein fr andere“, nmlich gesellschaftlich relevante Nachfragen und Angebote. Kraft ihres wechselseitigen Respekts als Personen erachten die Mitglieder eines Gemeinwesens ihre konsumtiven Bedrfnisse und produktiven Mçglichkeiten also grundstzlich als gesellschaftlich relevante Faktoren. (Ob diese Bedrfnisse und Mçglichkeiten auch tatschlich erfllt werden, hngt demgegenber 699 700 701 702

GPhR, § 192. GPhR, § 193. PhR. 1817/18, § 95. Siehe oben, Teil III, Kapitel 3.

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nicht von personalem Respekt ab.)703 Dass personaler Respekt im vorliegenden Zusammenhang von grundlegender Bedeutung ist, erhellt sein Entzug, der sich in der Einschrnkung von konsumtiven Mçglichkeiten (Zugangsverboten zu Restaurants, Kinos, Theatern etc.) und beruflichen Optionen (Nichtzulassung zu Schulen oder Universitten, Berufsverboten etc.) aufgrund von partikularen Gegebenheiten (wie Hautfarbe und Religionszugehçrigkeit) ußern kann. Ad (2). Der oben zitierte § 193 der GPhR enthlt die folgenden beiden gesellschaftstheoretischen Thesen: 1. Die Mitglieder moderner, brgerlicher Gesellschaften versuchen, aufgrund ihres konsumtiven Verhaltens anderen Brgern gleich zu sein und von ihnen als ihnen in der fraglichen Hinsicht Gleiche anerkannt zu werden. 2. Im Zuge der Befriedigung des unter 1. genannten Bedrfnisses vervielfltigen sich die konsumtiven Bedrfnisse der Mitglieder der fraglichen Gesellschaft. Nehmen wir an, dass es in einer Gesellschaft, deren Mitglieder einander als Personen respektieren, keine (anderen) Wertschtzungsbedrfnisse gibt. In diesem Fall kçnnte jeder Brger unabhngig von der Meinung der Anderen (oder von dem, was er als ihre Meinung erachtet) entscheiden, auf welche „Art und Weise“ er seine konsumtiven Bedrfnisse befriedigen und welche „Mittel“ er zu diesem Zweck erwerben mçchte. Wenn er jedoch aufgrund seines konsumtiven Verhaltens von anderen Brgern in bestimmten Hinsichten „anerkannt“ werden mçchte, wird er dieses Verhalten danach ausrichten, wie es von jenen Brgern bewertet werden wrde. In diesem Fall wird er also nach Maßgabe der Meinung (bestimmter) anderer Brger festlegen, welche konsumtiven Bedrfnisse er auf welche „Art und Weise“ befriedigen mçchte. Nach Hegels Auffassung ist Letzteres in brgerlichen Gesellschaften der Fall. Das „Anerkanntsein“ ist hier „eine besondere Zweckbestimmung fr die Mittel fr sich und deren Besitz sowie fr die Art und Weise der Befriedigung der Bedrfnisse“. In welcher Hinsicht aber streben die Brger nach Anerkennung? Vom Standpunkt der GPhR ist im vorliegenden Zusammenhang das unter 1. genannte Bedrfnis entscheidend. Demnach 703 Das ist letztlich in dem (oben genannten) Umstand begrndet, dass personaler Respekt eine Aktualisierung des Willensmoments der Allgemeinheit ist. Vgl. Teil III, Kapitel 3.1.

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versuchen die Mitglieder moderner Gesellschaften, anderen Brgern aufgrund ihres konsumtiven Verhaltens gleich zu sein, „diese Gleichheit zum Dasein fr den anderen hervorzubringen und sich das Bewußtsein zu geben, von dem anderen so als ihm gleich betrachtet, anerkannt zu werden“. Wie seinen weiteren berlegungen zu entnehmen ist, versteht Hegel das seines Erachtens in modernen Gesellschaften verstrkt zu beobachtende Verhalten konsumtiver „Nachahmung“ als einen – letztlich scheiternden – Versuch der Befriedigung des Bedrfnisses, anderen Brgern hinsichtlich bestimmter Neigungen, Fhigkeiten, Bedrfnisse, Interessen etc. gleich zu sein und von ihnen auf dieser Grundlage als ,einer von uns‘ anerkannt zu werden. Dass die Brger sich auf jene Weise verhalten, ist fr Hegel also ein Indiz des Vorhandenseins dieses Bedrfnisses. Zwar stellt Hegel diesen Zusammenhang nicht ausdrcklich her; dass er ihn als gegeben ansieht, lsst sich jedoch seiner Kritik an der Praxis konsumtiver Nachahmung entnehmen. In der Tat ist Hegel der Auffassung, dass in nicht polizeilich und korporativ verfassten modernen Gesellschaften konsumtive Prferenzen ungeeignet sind, soziale Zusammengehçrigkeiten zu stiften. Diese Annahme begrndet er mit der hohen ,Volatilitt‘704 und geringen Wichtigkeit von konsumtiven Prferenzen und Verhaltensweisen in derartigen Gesellschaften. Da hier „die Zuflligkeit, Willkr, Meinung u. dgl. ihr Spiel hat und sich herumtreibt“705, seien konsumtive Besonderheiten instabil und tendenziell trivial. Folglich sei eine auf sie bezogene Wertschtzung ungeeignet, zur Erfllung des Bedrfnisses beizutragen, anderen Brgern hinsichtlich bestimmter Neigungen, Fhigkeiten, Bedrfnisse, Interessen etc. gleich zu sein und von ihnen auf dieser Grundlage als ,einer von uns‘ anerkannt zu werden. Dass Hegel dieses Bedrfnis als ein „besonderes Interesse“ der Brger moderner Gesellschaften auffasst, kann auch seiner Rechtfertigung der Institution der Korporation entnommen werden. Da ich mich mit diesem 704 Es sei hier nur angemerkt, dass die Instabilitt von konsumtiven Prferenzen in (nicht polizeilich und korporativ verfassten) modernen Marktwirtschaften fr Hegel entscheidend mit dem seines Erachtens in diesen Gesellschaften zu beobachtenden Gewinnstreben zusammenhngt: „Es wird ein Bedrfnis daher nicht sowohl von denen, welche es auf unmittelbare Weise haben, als vielmehr durch solche hervorgebracht, welche durch sein Entstehen einen Gewinn suchen.“ (GPhR, § 191, Zs.) Wie ich weiter unten zeigen werde, bieten die GPhR eine anerkennungstheoretische Erklrung der (von Hegel so genannten) „Sucht des Gewinns“. Vgl. Teil III, Kapitel 5. 705 PhR. 1819/20, 155.

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Element der GPhR weiter unten eingehend befassen werde, mçchte ich hier nur Folgendes feststellen: Eine Funktion der Hegel’schen Korporation besteht in der Stabilisierung des Konsumverhaltens ihrer Mitglieder. Die Erfllung dieser Funktion ist nach Hegels Auffassung unter anderem deshalb wichtig, weil sie die Mçglichkeit erçffnet, dass sich die Mitglieder einer Korporation auch in konsumtiver Hinsicht als Gleiche begegnen und anerkennen. Trifft diese berlegung zu, dann ist die Existenz von Korporationen fr Hegel auch deshalb gerechtfertigt, weil sie zu einer Erfllung des Bedrfnisses beitrgt, anderen Brgern hinsichtlich bestimmter Neigungen, Fhigkeiten, Bedrfnisse, Interessen etc. gleich zu sein und von ihnen auf dieser Grundlage als ,einer von uns‘ anerkannt zu werden. Folglich wre dieses Bedrfnis eines derjenigen „Interessen“, die ein (gemß dem Hegel’schen Begriff eingerichtetes) Gemeinwesen institutionell zu sichern htte.

4.3 Die besonderen Interessen und das abstrakte Recht Wie gesehen, ist eine im „abstrakten Recht“ verankerte Marktwirtschaft eine adquate Institutionalisierung von personalem Respekt.706 Allerdings behauptet Hegel, dass die Mitglieder eines modernen Gemeinwesens einander nur dann als Personen bejahen werden, wenn sie glauben, ihre „besonderen Interessen“ (oder hinreichend viele derselben) erfllen zu kçnnen. Zudem ist er der Auffassung, dass diese Bedingung in einem allein durch das abstrakte Recht strukturierten gesellschaftlichen Raum nicht erfllt ist. Deshalb ist Hegel der Meinung, dass eine solche Gesellschaftsordnung eine Voraussetzung ihres Bestands nicht hinreichend sichern kann: das Sich-Bejahen der Brger als Personen. Als Beleg der Richtigkeit dieser Argumentation dient ihm, wie erlutert, die Existenz des (von ihm so genannten) „Pçbels“.707 Es lsst sich nun angeben, worin die von Hegel geltend gemachten besonderen Interessen der Menschen bestehen. (Dieser Punkt ist ja im Rahmen unserer obigen Erçrterung des abstrakten Rechts offengeblieben.) Treffen unsere berlegungen aus dem vorliegenden vierten Kapitel zu, dann werden die besonderen Interessen der Mitglieder moderner Gemeinwesen durch das Vorliegen von zwei bestimmten Arten sozialer Wertschtzung erfllt: brgerlicher Ehre und einer Form von sozialer 706 Siehe Teil III, Kapitel 3.3. 707 Siehe oben, Teil III, Kapitel 3.4.

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Zugehçrigkeit, die auf einer wechselseitigen Wertschtzung als Inhaber bestimmter Neigungen, Fhigkeiten, Bedrfnisse, Interessen etc. beruht. Demnach ist Hegel der Auffassung, dass Menschen einander nur dann als Personen bejahen werden, wenn sie glauben, dass sie ein ehrenvolles Leben fhren und als Besonderheit wertgeschtzt werden kçnnen. Warum ist Hegel der Auffassung, dass eine allein durch das abstrakte Recht strukturierte Gesellschaft ungeeignet ist, die besonderen Interessen ihrer Brger angemessen zu schtzen? Wie wir bereits gesehen haben, macht Hegel im vorliegenden Zusammenhang geltend, dass es in Gesellschaften dieser Art vielen Brgern unmçglich sei, „etwas vor sich zu bringen“708 bzw. ihren Lebensunterhalt erfolgreich zu sichern. (Das wiederum fhrt er auf die „Sucht des Gewinns“709 bzw. des „Erwerbs“710 zurck, durch die sich der Gegensatz „grossen Reichthums und grosser Armuth“711 so sehr verschrfe, dass viele Brger von Armut und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit betroffen seien.)712 Da die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts unter Beteiligung am gesellschaftlichen Produktionsprozess ein integraler Bestandteil eines ehrenvollen brgerlichen Lebens ist, folgt aus jenem Argument, dass viele Mitglieder von Gesellschaften, die allein durch das abstrakte Recht strukturiert werden, ohne (Aussicht auf) Ehre sind. Folglich ist eine solche Gesellschaftsordnung nicht geeignet, die besonderen Interessen ihrer Brger angemessen zu schtzen. Vom Hegel’schen Standpunkt ist das abstrakte Recht um die Institutionen der „Policey“ und der Korporationen zu ergnzen. Eine polizeilich und korporativ verfasste Marktwirtschaft ist seines Erachtens ein sozialer Raum, in dem sich „die besonderen Interessen“ der Menschen „vollstndig“ entwickeln kçnnen und institutionell hinreichend gesichert werden. Mit welchen Argumenten Hegel diesen Standpunkt begrndet, soll im Folgenden erçrtert werden.

708 709 710 711 712

PhdG, 244. GPhR, § 306. PhdG, 244. PhdG, 244. Wie bereits bemerkt, erklrt Hegel das Auftreten einer solchen Gesinnung anerkennungstheoretisch. Hierauf werde ich im folgenden fnften Kapitel nher eingehen.

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4.4 Die „Policey“ Den Hintergrund von Hegels Polizeitheorie bildet die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland gefhrte Debatte ber die „Policey“. Als Gegenstnde dieser Debatte lassen sich die Fragen identifizieren, welche Aufgaben die Polizei wahrzunehmen habe, welcher Ort ihr im – vertikalen und horizontalen – System der Gewaltenteilung zukomme, welche Grenzen ihr Kompetenzbereich habe und wodurch ihre Ttigkeit zu kontrollieren sei.713 Wenngleich die Diskussion dieser Fragen facettenreich war,714 lassen sich hinsichtlich der Bestimmung der polizeilichen Aufgaben und Kompetenzen zwei grundstzliche Standpunkte ausmachen: zum einen die Ansicht, dass die Polizei allein fr die Gewhrleistung von innerer Sicherheit zustndig sei, zum anderen die Auffassung, dass die Polizei darber hinaus fr das materielle Wohlergehen und die sittliche Gesinnung der Brger Sorge zu tragen habe. Das zuletzt genannte Polizeiverstndnis sttzte sich auf die im 18. Jahrhundert in Deutschland dominante, etwa von Christian Wolff und den Kameralisten vertretene Auffassung, dass die „Wohlfahrt“ des Staates das Wohl seiner Brger beinhalte715 und nur durch eine mit weitreichenden Befugnissen ausgestattete Polizei gesichert werden kçnne.716 Demgegenber lag der Ansicht, dass die alleinige Aufgabe der Polizei die Gewhrleistung von innerer Sicherheit sei, die berzeugung zugrunde, dass der Staat fr die Befçrderung des „Wohls der Staatsbrger und ihrer Glck-

713 Vgl. Matsumoto (1999), 66. 714 Hierauf zurckblickend, schreibt Robert von Mohl im Jahre 1832: „Wer kennt nicht die große Meinungsverschiedenheit ber dem Begriff der Polizei? Beinahe so viele verschiedene Ansichten als Schriftsteller, so viele Gegner als Meinungen; also daß Manche auf eine fast komische Weise verzweifeln, irgend etwas Haltbares und Vernnftiges aufstellen zu kçnnen.“ Von Mohl (1832 – 1833), Bd. 1, 10. 715 Vgl. z. B. Wolff (1980), § 972: „Die Wohlfahrt eines Staats aber (salus civitatis) bestehet in dem Genuß des hinlnglichen Lebensunterhalts, der Ruhe und der Sicherheit.“ J. H. G. v. Justi behauptet, dass die der Grndung von Republiken und Staaten zugrunde liegende „Vereinigung der Willen“ einen „allgemeinen Endzweck“ voraussetzt. „Dieser Endzweck kann kein anderer sein als das allgemeine Beste, die Wohlfahrt aller und jeder Familien, die sich solchergestalt mit einander vereinigen, kurz, die gemeinschaftliche Glckseligkeit des gesamten Staats.“ In: Justi (1969), § 30. Vgl. auch meine Erçrterung der anthropologischen und staatstheoretischen Grundlagen von Justis Theorie in Schmidt am Busch (2009a). 716 J. H. G. von Justi gilt als der bedeutendste Polizeitheoretiker des 18. Jahrhunderts. Vgl. im vorliegenden Zusammenhang vor allem Justi (1782).

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seligkeit“717 nicht zustndig sei. Dieses Staatsverstndnis wurde beispielsweise von Wilhelm von Humboldt profiliert, der 1791 forderte: „Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt fr den positiven Wohlstand der Brger und gehe keinen Schritt weiter als zu ihrer Sicherheit gegen sich selbst und gegen auswrtige Feinde notwendig ist.“718 Mit der Abkehr von dem im 18. Jahrhundert in Deutschland maßgeblichen Staatsverstndnis wurde also die Frage nach den Aufgaben und Zustndigkeiten der Polizei virulent. Dass Hegel die zu seiner Zeit in Deutschland gefhrte Debatte ber die Polizei verfolgt hat, belegen bereits seine Jenaer Schriften zur Philosophie des Geistes. In dem Vorlesungsmanuskript PhdG aus den Jahren 1805/06 lesen wir: „Die Policey kommt hier hinzu, – von Politia, das çffentliche Leben und Regieren, Handeln des Ganzen selbst – itzt herabgesetzt zum Handeln des Ganzen auf die çffentliche Sicherheit jeder Art.“719 In den GPhR nimmt Hegel auf jene Debatte mit folgenden Stzen Bezug: „Hier sind nun zwei Hauptansichten herrschend. Die eine behauptet, daß der Polizei die Aufsicht ber alles gebhre, die andere, daß die Polizei hier nichts zu bestimmen habe, indem jeder sich nach dem Bedrfnis des anderen richten werde.“720 Welche Position nimmt Hegel selbst in dieser Frage ein? Im vorliegenden Zusammenhang ist zunchst an Folgendes zu erinnern: 1. Hegel ist der Auffassung, dass personale Freiheit ein integraler Bestandteil eines freiheitlich verfassten modernen Gemeinwesens ist und sich grundstzlich auch auf Entscheidungen bezieht, welche die gesellschaftliche Produktion und Distribution von Gtern betreffen. Wie gesehen, wird Freiheit unter diesem Aspekt in Hegels Verstndnis durch „das abstrakte Recht“ und marktwirtschaftliche Arrangements institutionalisiert. Folglich wird Hegel nach Mçglichkeit keine Position befrworten, die auf eine Ersetzung dezentraler wirtschaftlicher Entscheidungen durch (zentrale) polizeiliche Anordnungen hinausluft.721 2. Hegel vertritt die These, dass ein Gemeinwesen, das allein aus dem abstrakten Recht und marktwirtschaftlichen Arrangements besteht, 717 718 719 720 721

Kant (1968), 437. Humboldt (1960), 90. PhdG, 272. GPhR, § 236, Zs. Worin die Hegel’sche Position in dieser Frage letztlich besteht, hngt, wie bemerkt, von den Erfllungsbedingungen aller drei Komponenten von „konkrete Freiheit“ ab. Siehe oben, Teil III, Kapitel 3.4.

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eine Voraussetzung seines Bestandes, nmlich das Sich-Bejahen der Brger als Personen, nicht angemessen sichern kann. Er begrndet diese Auffassung mit den Argumenten, dass jene Institutionen die besonderen Interessen der Menschen nicht angemessen schtzen und dass Menschen einander nur dann als Personen respektieren, wenn sie glauben, ihre besonderen Interessen (oder hinreichend viele derselben) erfllen zu kçnnen. Angesichts dieser Auffassung ist damit zu rechnen, dass Hegel (nach Mçglichkeit) der Polizei Kompetenzen zuschreibt, deren Ausbung zu einer Erfllung der (oder einiger der) besonderen Interessen der Brger sowie zu einer Stabilisierung der gesellschaftlichen Praxis personalen Respekts beitrgt. Trifft diese Einschtzung zu, dann wird Hegel keine Theorie befrworten, nach der die Polizei allein fr die Aufklrung und Vereitelung von Verletzungen personaler Rechte zustndig ist. Angesichts dieser berlegungen ist damit zu rechnen, dass Hegels Polizeitheorie zwischen den oben genannten beiden „Hauptansichten“ in der fraglichen Debatte vermittelt. Diese Erwartung wird sowohl durch die Jenaer Philosophie des Geistes als auch durch die GPhR besttigt.722 In Hegels skizzenhaftem Jenaer Vorlesungsmanuskript lesen wir: „Die Policey kommt hier hinzu, – von Politia, das çffentliche Leben und Regieren, Handeln des Ganzen selbst – itzt herabgesetzt zum Handeln des Ganzen auf die çffentliche Sicherheit jeder Art – Aufsicht auf Gewerbe – gegen Betrug – das allgemeine Vertrauen realisirt – Vertrauen beym Umtausch der Waaren – Es sorgt jeder nur frsich, nicht fr das allgemeine, das ruhige Ausben seines Eigenthumsrechts und freye Disposition ber sein Eigenthum ist der mçgliche Schaden fr andre – Beschrnkung hievon, Verhtung von Schaden – auch davon, daß bloß nach Vertrauen verfahren wird – Policey [wacht] ber Dienstboten, daß ein Contract gemacht werden [muß].“723

hnlich argumentiert Hegel in den GPhR: „Außer den Verbrechen, welche die allgemeine Macht zu verhindern oder zur gerichtlichen Behandlung zu bringen hat – der Zuflligkeit als Willkr des Bçsen –, hat die erlaubte Willkr fr sich rechtlicher Handlungen und des Privatgebrauchs des Eigentums auch ußerliche Beziehungen auf andere Einzelne sowie auf sonstige çffentliche Veranstaltungen eines gemeinsamen Zwecks. Durch diese allgemeine Seite werden Privathandlungen eine Zuflligkeit, die aus

722 Zu Recht stellt P. Franco fest, „that Hegel himself means to steer a middle course between these two views“. In: Franco (1999), 267. 723 PhdG, 272 f.

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meiner Gewalt tritt und den anderen zum Schaden und Unrecht gereichen kann oder gereicht.“724 Angesichts dieser Mçglichkeiten sieht Hegel „[d]ie Bestimmung der Polizei“ darin, „Zuflligkeiten gegen das Recht, das Wohl zu entfernen, das Unrecht zu verhindern, zu verhindern, daß das Wohl nicht durch ußerliche Zuflligkeiten verletzt werde. Sie ist insofern ußerliche Bedingung, ußerliche Regulation, wodurch diese Zuflligkeiten entfernt werden. Eben indem sie so ußerliche Zuflligkeiten und allgemein besondere einzelne Umstnde zu ihrem Gegenstande haben, ist das Geschft selbst ein ußerliches Regulieren.“725 Demnach interpretiert Hegel den Ausdruck „die çffentliche Sicherheit“ so, dass er sich nicht nur auf personale Rechte, sondern auch auf die „besonderen“ gesellschaftlichen Interessen der Menschen bezieht. Angesichts seiner oben unter 2. genannten Auffassung kann dies nicht berraschen. Zugleich schrnkt Hegel die Aufgaben und Zustndigkeiten der Polizei auf die „Verhtung von Schaden“ ein. Demnach hat die Polizei die Funktion, Verletzungen personaler Rechte zu vereiteln und aufzuklren sowie ,schdlichen‘ marktwirtschaftlichen Entwicklungen vorzubeugen und entgegenzuwirken. Folglich ist die Polizei in Hegels Verstndnis kein Substitut marktwirtschaftlicher Institutionen. Wie aber lsst sich entscheiden, welche „Privathandlungen“ anderen Brgern oder der çffentlichen Hand „zum Schaden“ gereichen? Welche çkonomischen Gegebenheiten sind als schdlich anzusehen? Legt man unsere bisherigen berlegungen zugrunde, ist zu erwarten, dass marktwirtschaftliche Entwicklungen dann als schdlich einzustufen sind, wenn sie eine Erfllung der besonderen Interessen der Brger gefhrden oder verunmçglichen.726 Nach Maßgabe dieses Kriteriums wre die Polizei also befugt und verpflichtet, bestimmten wirtschaftlichen Entwicklungen vorzubeugen oder entgegenzuwirken. Dass Hegel die wirtschaftspolitischen Aufgaben und Kompetenzen der Polizei tatschlich im Rckgriff auf dieses Kriterium bestimmt, ist dem § 230 der GPhR zu entnehmen, mit dem er seine Erçrterung der Polizei und der Korporationen beginnt. In diesem Paragraphen stellt er fest: 724 GPhR, § 232. 725 PhR. 1821/22, § 231. 726 Angesichts des thematischen Zuschnitts dieser Arbeit (vgl. Teil III, Kapitel 2.3) sei hier nur erwhnt, dass auch solche wirtschaftlichen Entwicklungen, die eine Erfllung des „substantiellen Wesens“ der Brger gefhrden oder verunmçglichen, vom Standpunkt der GPhR als schdlich einzustufen sind. Siehe oben, Teil III, Kapitel 2.2.

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„Das in der Besonderheit wirkliche Recht enthlt aber sowohl, daß […] die ungestçrte Sicherheit der Person und des Eigentums bewirkt [sei], als daß die Sicherung der Subsistenz und des Wohls der Einzelnen, – daß das besondere Wohl als Recht behandelt und verwirklicht sei.“727

Nher bestehen die Aufgaben der Polizei darin, Maßnahmen zu ergreifen, die den Brgern eine Teilnahme am gesellschaftlichen Produktionsprozess sowie eine Sicherung der eigenen Subsistenz ermçglichen. Zwar lsst sich nach Hegels Auffassung nicht im Allgemeinen angeben, welche „Regeln“728 und „Bestimmungen“729 eine Erfllung der obigen Aufgaben gewhrleisten730 – vielmehr seien es „die Sitten, der Geist der brigen Verfassung, der jedesmalige Zustand, die Gefahr des Augenblicks usw., welche die nheren Bestimmungen geben“731. Gleichwohl sollte die Polizei aus seiner Sicht zum Beispiel befugt sein, gegebenenfalls – das heißt in Fllen, in denen Mrkte nach Maßgabe des oben genannten Kriteriums ,versagen‘ – durch die Erteilung von „Privilegien“732 die Ansiedlung von Betrieben zu steuern; die Preise von Grundgtern festzulegen („Taxation der Artikel der gemeinsten Lebensbedrfnisse“733); Gter, die allgemeinen Qualittsstandards nicht gengen (etwa „verdorben[e]“ Waren734), vom Markt zu nehmen; infrastrukturelle Maßnahmen zu ergreifen („fr Straßenbeleuchtung, Brckenbau Sorge zu tragen“735); und Kontrollfunktionen im Erziehungs- und Gesundheitswesen auszuben (gegebenenfalls „die Eltern zu zwingen, ihre Kinder in die Schule zu schicken, gegen die Pocken impfen zu lassen usw.“736). Indem sie derartige Maßnahmen ergreift, trgt die Polizei nach Hegels Auffassung zum Entstehen eines marktwirtschaftlichen Kontextes bei, in dem die Menschen auf eine ,ehrenvolle‘ Weise leben kçnnen, also die Bedrfnisse, (i) gesellschaftlich relevante Qualifikationen zu erwerben, 727 728 729 730 731 732 733 734 735 736

GPhR, § 230. PhR. 1821/22, § 234. GPhR, § 234, Zs. „Von welcher Art die Behçrde sei, ist ganz unbestimmt, eine Sache, die nicht hier zur Ausfhrung kommt. Dies ist ein zu großes Detail.“ (PhR. 1821/22, § 236). GPhR, § 234. GPhR, § 252, Anm. Diese Funktion kann auch durch die Gewhrung von steuerlichen Vorteilen erfllt werden. GPhR, § 236. PhR. 1821/22, § 235. GPhR, § 236, Zs. GPhR, § 239, Zs.

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(ii) den eigenen Lebensunterhalt unter Anwendung derartiger Qualifikationen im gesellschaftlichen Produktionsprozess zu sichern und (iii) in den Hinsichten (i) und (ii) gesellschaftlich anerkannt zu sein, befriedigen kçnnen. Damit trgt die Polizei zugleich zu einer Stabilisierung der gesellschaftlichen Praxis personalen Respekts bei. Indem sie durch die Ausbung der oben genannten Befugnisse den besonderen Interessen der Menschen Rechnung trgt, leistet sie nmlich einen Beitrag zur Sicherung einer Voraussetzung des abstrakten Rechts, des Sich-Bejahens der Brger als Personen. Allerdings vertritt Hegel die Auffassung, dass sich diese Ziele durch eine polizeiliche Regulierung von Mrkten allein nicht erreichen lassen. Seines Erachtens bedarf es zu diesem Zweck zudem einer stndisch-korporativen Strukturierung der Sphre der Produktion. Folglich ist die Polizei nach Hegels Ansicht eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung der institutionellen Sicherung der besonderen Interessen der Brger moderner Gemeinwesen.

4.5 Die Korporation Um Missverstndnissen vorzubeugen, seien einige terminologische Bemerkungen vorangestellt. Hegel bezieht sich mit dem Ausdruck „Korporation“ nicht auf ein bestimmtes realgeschichtliches Phnomen. Folglich ist seine Theorie der Korporation kein Pldoyer fr eine gesellschaftliche Rehabilitierung derjenigen Korporationen, die im Zuge der Franzçsischen und beginnenden industriellen Revolution in Europa in Frage gestellt wurden.737 Unter dem Titel „Korporation“ spezifiziert Hegel vielmehr eine Organisationsform, die nur punktuelle realgeschichtliche Bezge aufweist und keine konkreten institutionellen Anweisungen enthlt.738 Deshalb verwendet Hegel – scheinbar wahllos – eine Vielzahl von Termini zur Bezeichnung jener Organisationsform (z. B. „Korporation“, „Genossenschaft“, „Zunft“, „Stand“739), und er stellt fest: „Die Korporationen kçnnen nun Znfte sein, dies kann nun eine Stadtgemeinde sein und eine 737 Dies wird auch von K. Westphal betont. Vgl. Westphal (1996), 240. Vgl. auch Gallagher (1987). 738 Anders argumentiert in dieser Hinsicht A. Honneth, der Hegel eine Gleichsetzung von „Anerkennungssphren“ und „institutionellen Komplexen“ vorwirft. Vgl. UA, 172 f. 739 Vgl. z. B. GPhR, § 207 oder § 253.

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

Stadt fr sich; der Staat aber ist das Ganze, die Einheit solcher vielen Genossenschaften, Gemeinden.“740 Hegel verwendet den Ausdruck „Stnde“ zum einen als quivalent von „Korporationen“, zum anderen zur Bezeichnung derjenigen „besonderen Systeme“741, in die sich die moderne Gesellschaft seines Erachtens gliedert: den Stand der Landwirtschaft, den Stand des „Gewerbes“ und den Stand der staatlichen Verwaltung.742 Jeden dieser Stnde versteht Hegel als einen spezifischen Zusammenhang bzw. als ein „System[] der Bedrfnisse, ihrer Mittel und Arbeiten, der Arten und Weisen der Befriedigung und der theoretischen und praktischen Bildung“.743 Nun sind die von Hegel hiermit genannten Unterscheidungsmerkmale – spezielle Formen von Konsum, Arbeit und Bildung – zugleich Dinge, durch die sich verschiedene Korporationen voneinander unterscheiden. (Dies wird im Folgenden zu zeigen sein.) Diese Gemeinsamkeit der obigen drei Stnde und der Korporationen mag erklren, warum Hegel jene und gelegentlich auch diese als Stnde bezeichnet. 4.5.1 konomische und rechtliche Aspekte der Korporation Korporationen sind Sttten der Produktion von gesellschaftlich bençtigten Gtern. Als „Momente“744 eines arbeitsteiligen gesellschaftlichen Produktionsprozesses dienen sie der Herstellung von etwas „an sich Gleiche[m] der Besonderheit“745, nmlich von Gtern bestimmter Arten. Hinsichtlich der rechtlichen Situation von Korporationen stellt Hegel fest: „Die Korporation hat nach dieser Bestimmung unter der Aufsicht der çffentlichen Macht das Recht, ihre eigenen innerhalb ihrer eingeschlossenen Interessen zu besorgen, Mitglieder nach der objektiven Eigenschaft ihrer Geschicklichkeit und Rechtschaffenheit in einer durch den allgemeinen Zusammenhang sich bestimmenden Anzahl anzunehmen und fr die ihr Angehçrigen die Sorge gegen die besonderen Zuflligkeiten sowie fr die Bildung zur Fhigkeit, ihr zugeteilt zu werden, zu tragen – berhaupt fr sie als zweite Familie einzutreten, welche Stellung fr die allgemeine, von den Individuen 740 741 742 743

PhR. 1821/22, § 256. GPhR, § 201. Vgl. GPhR, § 203 – 205. GPhR, § 201. – Hegel verwendet den Ausdruck „System“ also nicht im Sinne der Systemtheorie. 744 GPhR, § 207. 745 GPhR, § 251.

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und ihrer besonderen Notdurft entferntere brgerliche Gesellschaft unbestimmter bleibt.“746

Korporationen unterliegen den geltenden rechtlichen Bestimmungen, welche die oben genannten polizeilichen Befugnisse einschließen – in diesem Sinne stehen sie „unter der Aufsicht der çffentlichen Macht“. Als Rechte der Korporationen werden von Hegel die folgenden Befugnisse angefhrt: 1. Korporationen haben das Recht, selbst zu bestimmen, welche Personen sie als „Mitglieder“ aufnehmen mçchten. Allerdings drfen Korporationen keine Einstellungspraxis betreiben, die aus heutiger Sicht diskriminierend wre. Vielmehr sind sie gesetzlich gehalten, ihre Mitglieder nach Maßgabe der folgenden Faktoren zu ,rekrutieren‘: (i) der „Geschicklichkeit“ bzw. der fachlichen Eignung des Kandidaten; (ii) der „Rechtschaffenheit“ bzw. der Bereitschaft des Kandidaten, rechtliche Bestimmungen und Ansprche zu beachten; (iii) des „allgemeinen Zusammenhangs“ bzw. des gesellschaftlichen Bedarfs an denjenigen Gtern, die von der Korporation produziert werden. Wie Hegel betont, sind die „Geschicklichkeit“ und „Rechtschaffenheit“ der Kandidaten auf „objektive“ Weise festzustellen. Im Rahmen einer korporativen Einstellungspraxis bedarf es also einer allgemeinen und transparenten Festlegung der erwarteten Qualifikationen sowie dessen, was als Nachweis des Vorhandenseins derselben zhlt. 2. Korporationen haben das Recht, korporationsinterne Versicherungssysteme zu betreiben, die den Lebensunterhalt ihrer Mitglieder im Fall von krankheits-, unfall- und altersbedingter Arbeitsunfhigkeit sichern, und sie sind befugt, ihre Mitglieder zu verpflichten, durch entsprechende Abgaben zur Aufrechterhaltung dieser Systeme beizutragen.747 Dadurch statten sie ihre Mitglieder zugleich mit rechtlichen Ansprchen auf finanzielle Untersttzung im Fall von Arbeitsunfhigkeit aus. Die „Sorge gegen die besonderen Zuflligkeiten“ hat also korporationsintern die Gestalt berechtigter individueller Ansprche: „Indem die Korporation fr ihre Genossen zu sorgen hat, so haben die Genossen [ein] Recht auf die Hilfe der Korporation, so ist es nicht ein Almosen, das sie empfangen, sondern ein Recht […].“748 Weil das so ist, gilt mit Bezug auf die 746 GPhR, § 252. 747 In diesem Zusammenhang denkt Hegel offenbar an Beitrge, deren Hçhe sich proportional zu der der Arbeitseinkommen verhlt. Vgl. GPhR, § 253, Anm. 748 PhR. 1821/22, § 253.

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

Korporation: „[D]ie Rechtschaffenheit erhlt ihre wahrhafte Anerkennung und Ehre.“749 3. Korporationen haben das Recht, Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen fr ihre Mitglieder zu beschließen. Sie sind also befugt, ihre Mitglieder zu verpflichten, an Maßnahmen dieser Art teilzunehmen. Indem die Korporation die unter 2. und 3. genannten Rechte ausbt, also tatschlich „die Sorge gegen die besonderen Zuflligkeiten sowie fr die Bildung zur Fhigkeit, ihr zugeteilt zu werden“, praktiziert, ist sie nach Hegels Auffassung ein funktionales quivalent der traditionellen Familie. In vormodernen Gesellschaften ist nmlich „die Familie das substantielle Ganze, dem die Vorsorge fr diese besondere Seite des Individuums sowohl in Rcksicht der Mittel und Geschicklichkeiten, um aus dem allgemeinen Vermçgen sich [etwas] erwerben zu kçnnen, als auch seiner Subsistenz und Versorgung im Falle eintretender Unfhigkeit angehçrt. Die brgerliche Gesellschaft reißt aber das Individuum aus diesem Bande heraus, entfremdet dessen Glieder einander und anerkennt sie als selbstndige Personen; sie substituiert ferner statt der ußeren unorganischen Natur und des vterlichen Bodens, in welchem der Einzelne seine Subsistenz hatte, den ihrigen und unterwirft das Bestehen der ganzen Familie selbst, der Abhngigkeit von ihr, der Zuflligkeit.“750

Indem sie ihre Mitglieder gegen die „Zuflligkeit[en]“ von krankheits-, unfall- und altersbedingter Arbeitsunfhigkeit sowie des Verlusts von marktrelevanten beruflichen Qualifikationen schtzt, tritt die Korporation „fr sie als zweite Familie ein“. Allerdings, so ist zu beachten, hat dieser Schutz eine andere Gestalt als in der Familie. Whrend die Angehçrigen einer Familie (idealerweise) aufgrund von Zuneigung und Liebe freinander sorgen,751 sind die Beziehungen der Mitglieder einer Korporation in dieser Hinsicht rechtlich geregelt. (Wie gesehen, wird dieser Punkt von Hegel selbst herausgestellt.) Wenngleich sie zwei Funktionen erfllt, die in vormodernen Gesellschaften der Familie zukamen,752 erfllt die Korporation diese Funktionen also auf eine andere Art und Weise als die traditionelle Familie.

749 750 751 752

GPhR, § 253 Anm. GPhR, § 238. Vgl. GPhR, §§ 162 – 165. Vgl. hierzu auch LU, 102 – 116. Dies ist zumindest Hegels Ansicht. Ob sie zutrifft oder nicht, kann hier offenbleiben.

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4.5.2 Korporative Beitrge zur Erfllung der besonderen Interessen Welchen Beitrag leisten Korporationen zur Erfllung der besonderen Interessen der Brger moderner Gemeinwesen (die weiter oben spezifiziert worden sind753)? Diese Frage lsst sich im Ausgang der folgenden berlegungen untersuchen. „In der Korporation hat die Familie nicht nur ihren festen Boden als die durch Befhigung bedingte Sicherung der Subsistenz, ein festes Vermçgen, sondern beides ist auch anerkannt, so daß das Mitglied einer Korporation seine Tchtigkeit und sein ordentliches Aus- und Fortkommen, daß es etwas ist, durch keine weiteren ußeren Bezeigungen darzulegen nçtig hat. So ist auch anerkannt, daß es einem Ganzen, das selbst ein Glied der allgemeinen Gesellschaft ist, angehçrt und fr den uneigenntzigeren Zweck dieses Ganzen Interesse und Bemhungen hat; – es hat so in seinem Stande seine Ehre.“754

4.5.2.1 „Standesehre“ Offenbar fhren die Mitglieder einer Korporation ein ehrenvolles Leben – denn sie haben, wie Hegel feststellt, in ihrem „Stande [ihre] Ehre“. Nun zerfllt das Bedrfnis, ein ehrenvolles Leben zu fhren, in die Bedrfnisse, (i) gesellschaftlich relevante Qualifikationen zu erwerben; (ii) den eigenen Lebensunterhalt unter Anwendung derartiger Qualifikationen im gesellschaftlichen Produktionsprozess zu sichern; und (iii) in den Hinsichten (i) und (ii) gesellschaftlich anerkannt zu sein.755 Damit ist zu fragen: Worin besteht das Eigentmliche der Standesehre (im Vergleich zur brgerlichen Ehre)? Und welche Beitrge leistet die Korporation zur Erfllung des Bedrfnisses, ein ehrenvolles Leben zu fhren? Ad (i). Die Mitglieder einer Korporation (die ihren Zweck erfllt) sind Inhaber von Qualifikationen, deren Anwendung in der Arbeitswelt einen gesellschaftlichen Nutzen stiftet. Wie gesehen, ist die „objektive[] Eigenschaft ihrer Geschicklichkeit“756 eine Bedingung ihrer Mitgliedschaft in der Korporation, und indem sie an Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen, sorgen sie dafr, dass sie Inhaber einer 753 Vgl. Teil III, Kapitel 4.1 und 4.2. 754 GPhR, § 253. 755 Siehe oben, Teil III, Kapitel 4.1. – Wie dort erlutert, fllt der Aspekt der „eigenen Bestimmung“ des ehrenvollen Lebens in den Bereich des personalen Respekts. Ich habe ihn deshalb hier nicht aufgefhrt. 756 GPhR, § 252.

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

produktionsrelevanten „Befhigung“ bleiben. Als Angehçrige von Korporationen kçnnen Brger also ihr Bedrfnis „befriedigen“, gesellschaftlich relevante Qualifikationen zu erwerben. Ad (ii). Die Mitglieder einer Korporation sichern durch ihre Arbeit und die Betreibung eines korporationsinternen Versicherungssystems, das sie im Fall von krankheits-, unfall- und altersbedingter Arbeitsunfhigkeit finanziell hinreichend schtzt, gemeinsam ihren Lebensunterhalt. Folglich ist die korporative „Sicherung der Subsistenz“ das gemeinsame ,Werk‘ dieser Brger: Indem sie einen Teil ihres Einkommens fr die Untersttzung der (zur fraglichen Zeit) nicht produktiven Kollegen zur Verfgung stellen, sichern die arbeitenden Mitglieder der Korporation nicht nur ihre, sondern auch deren „Subsistenz“. Die Struktur der korporativen „Sicherung der Subsistenz“ hat Auswirkungen auf die Art der „Ehre“, die den Mitgliedern einer solchen Einrichtung zukommt. Da diese nicht als Einzelne ihren Lebensunterhalt sichern, kçnnen sie nicht als Einzelne ein ehrenvolles Leben fhren. Ehrenvoll sind sie vielmehr als Mitglieder einer Korporation, in der sie durch ihre Arbeit (sowie die Aufrechterhaltung eines Sozialversicherungssystems) ihren Lebensunterhalt gemeinsam sichern. Weil das so ist, haben diese Brger, wie Hegel schreibt, in ihrer Korporation bzw. in ihrem „Stande“ ihre „Ehre“. Es ist nun mçglich, eine Frage wieder aufzugreifen, die weiter oben gestellt worden ist.757 Im Rahmen unserer Analyse von Hegels Begriff der brgerlichen Ehre wurde gefragt, ob nach Maßgabe dieses Begriffs nur derjenige Brger ein ehrenvolles Leben fhren kann, dessen Arbeit einen Wert hat, der nicht geringer ist als der Wert der von ihm in Anspruch genommenen gesellschaftlichen Gter. Es wurde festgestellt, dass diese Frage von Hegel nicht explizit behandelt wird. Wenn nun brgerliche Ehre die Form von korporativer oder „Standesehre“ hat, muss die oben genannte Bedingung nicht erfllt sein. Es ist nmlich mçglich, auch dann korporative oder Standesehre zu haben, wenn die Hçhe der eigenen Versicherungsbeitrge geringer ist als die Hçhe der in Anspruch genommenen Versicherungsleistungen. Was jedoch im Hinblick auf die Erlangung dieser Art von Ehre notwendig ist, sind eigene Beitrge zur korporativen Gterproduktion. Nur wer als Mitglied einer Korporation gearbeitet hat, kann „seine Ehre“ in ihr haben. 757 Siehe oben, Teil III, Kapitel 4.1, (iii).

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Ad (iii). Die Mitglieder einer Korporation sind in den unter (i) und (ii) genannten Hinsichten gesellschaftlich anerkannt. Dies wird von Hegel in dem oben zitierten § 253 der GPhR ausdrcklich festgestellt. Nheres ist seiner folgenden Kommentierung dieses Paragraphen zu entnehmen: „Die Ehre ist Anerkanntsein als das, was einer ist, daß er dies Subjektive geltend hat in der Vorstellung der anderen; des Mitglieds der Korporation Tchtigkeit etc. ist darin, daß er Mitglied ist, auch anerkannt, und dann ist dies Anerkanntsein auch bezeugt, daß er gilt als Mitglied, daß er Meister ist, diesen Titel hat. Sein Titel ist das ußerliche Zeichen fr alle, daß er als solcher anerkannt ist. So ist es auch ußerlich gesetzt. Dieser Titel drckt aus die ffentlichkeit seines Anerkanntseins von seinen Zunftgenossen, die seine Tchtigkeit beurteilen kçnnen, und in dem Anerkanntsein liegt auch, daß sein Fortkommen als gesichert anerkannt wird.“758

Die gesellschaftliche Anerkennung der fachlichen „Befhigung“ und „Tchtigkeit“ des Korporationsmitglieds ist ein zweistufiger Vorgang. Sie betrifft zunchst seine Anerkennung durch seine Kollegen (Stufe 1) und dann seine Anerkennung durch die Gesellschaft (Stufe 2). Die korporationsinterne Anerkennung des Einzelnen als fachlich qualifiziertes und tchtiges Individuum basiert auf der Fhigkeit der Mitglieder der Korporation, die fraglichen Eigenschaften ihres Kollegen zu „beurteilen“. Offenbar ist Hegel der Auffassung, dass die Angehçrigen einer Korporation in strkerem Maße als andere Gesellschaftsmitglieder in der Lage sind, ihre fachliche „Befhigung“ und „Tchtigkeit“ zu „beurteilen“.Unter Voraussetzung einer arbeitsteiligen, beruflich spezialisierten Gesellschaft ist diese Annahme nicht unplausibel. Kollegen, die ein berufliches Fachgebiet teilen, wissen nmlich, welche Qualifikationen und Anstrengungen auf ihrem gesellschaftlichen Sektor bençtigt werden, und sie haben die Kompetenz, die fraglichen Qualifikationen und Anstrengungen vergleichsweise zu beurteilen. Demgegenber bewerten Brger als Konsumenten Gter allein unter dem Aspekt ihrer Zweckmßigkeit bzw. ihres Nutzens. In einer hochspezialisierten Arbeitswelt fehlt ihnen normalerweise das Wissen, um berufliche Leistungen auf anderen gesellschaftlichen Sektoren angemessen zu beurteilen. Wenngleich das Haben der Fhigkeit X, das Vorliegen einer anderen Fhigkeit Y zu beurteilen, auf Seiten des fraglichen Individuums nicht das Haben der Fhigkeit Y voraussetzt, ist die Annahme also plausibel, dass in einer modernen Gesellschaft Kollegen in besonderem Maße befhigt sind, ihre „Tchtigkeit [zu] beurteilen“. 758 PhR. 1821/22, § 253.

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

Die Anerkennung, die der Einzelne als beruflich qualifiziertes Individuum durch die Gesellschaft erfhrt (Stufe 2), basiert auf derjenigen Anerkennung, die ihm in dieser Hinsicht durch seine Kollegen zuteil wird (Stufe 1). Folgt man Hegels obigen berlegungen, dann ist es fr das Vorliegen jener Form von Anerkennung sowohl notwendig als auch hinreichend, dass das Vorliegen dieser Form von Anerkennung der Gesellschaft ,mitgeteilt‘ wird. Als Vehikel dieser Mitteilung fungieren „Titel“, die ihre Trger als Mitglieder einer Korporation ausweisen. Sie sind „das ußerliche Zeichen fr alle, daß er als solcher anerkannt ist“ bzw. „die ffentlichkeit seines Anerkanntseins von seinen Zunftgenossen, die seine Tchtigkeit beurteilen kçnnen“. Im Hinblick auf die Anerkennung des Einzelnen als beruflich qualifiziertes Individuum folgen die der Korporation nicht angehçrenden Brger also der korporationsinternen Beurteilung der fraglichen Zusammenhnge, die sich auf eine gesellschaftlich geregelte Art und Weise zu ußern hat. Whrend sie selbst normalerweise weder die Gelegenheit noch die fachliche Kompetenz haben, die „Befhigung“ und „Tchtigkeit“ des Korporationsmitglieds zu beurteilen, vertrauen sie in diesem Zusammenhang offenbar dem Urteil derer, die in der fraglichen Hinsicht bereits als kompetent ausgewiesen sind. Wird das Mitglied einer Korporation von ihnen auf gesellschaftlich sichtbare Weise aufgrund seiner fachlichen Qualifikationen sowie seiner Bemhungen um den Erwerb derselben geschtzt, dann wird es auch durch sie, die anderen Brger, in dieser Hinsicht „anerkannt“ werden. Wird ihm hingegen jene Wertschtzung nicht zuteil, dann wird es auch „in der Vorstellung der anderen“ nicht als fachlich qualifiziert und ,tchtig‘ gelten. hnlich argumentiert Hegel mit Bezug auf die gesellschaftliche Anerkennung der Korporationsmitglieder in der Hinsicht (ii): Die oben genannten „Titel“ drcken aus „die ffentlichkeit seines [des Korporationsmitglieds – SaB] Anerkanntseins von seinen Zunftgenossen, […] und in dem Anerkanntsein liegt auch, daß sein Fortkommen als gesichert anerkannt wird“. Demnach werden Personen, die als Mitglieder einer Korporation ausgewiesen sind, durch die Gesellschaft als Brger geschtzt, die ihren Lebensunterhalt bzw. ihr „ordentliches Aus- und Fortkommen“759 durch die Produktion von gesellschaftlich bençtigten Gtern sichern. Angesichts des oben unter (ii) Festgestellten kann sich diese Wertschtzung nicht auf jene Personen als einzelne, sondern nur auf sie als Angehçrige einer Korporation beziehen. Aufgrund ihrer „Titel“ gelten sie den anderen 759 GPhR, § 253.

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Gesellschaftsmitgliedern also als Personen, die den eigenen Gterbedarf gemeinschaftlich durch eine gesellschaftlich ntzliche Ttigkeit sichern. Folglich haben sie auch aus der Sicht jener Brger ihre „Ehre“ in ihrer Korporation bzw. in ihrem „Stand“. Im Hinblick auf unsere weiteren berlegungen sei Folgendes herausgestellt: Durch die obige Form von Anerkennung werden berufsrelevante Kompetenzen nur in sehr eingeschrnktem Maße als hçher- oder minderwertig eingestuft. Zwar ist es denkbar, dass es, bezogen auf ein und dasselbe Berufsfeld (oder eine und dieselbe Korporation), verschiedene „Titel“ gibt, die ihre Trger als mehr oder weniger kompetente Mitarbeiter ausweisen; allerdings lassen sich Personen, die unterschiedlichen Berufen nachgehen, aufgrund ihrer „Titel“ nicht in vergleichbarer Weise ,klassifizieren‘. Dieser Umstand ist mit dem inhaltlichen Profil der fraglichen beruflichen Ttigkeiten zu erklren. Angehçrige desselben Berufsfeldes (oder derselben Korporation) verrichten Arbeiten, die einander hnlich genug sind, um sinnvoll miteinander verglichen werden zu kçnnen. (Aufgrund dieses Umstands sind Kollegen ja in besonderer Weise befhigt, ihre fachliche „Befhigung“ und „Tchtigkeit“ zu „beurteilen“.) Demgegenber lassen sich viele berufliche Ttigkeiten, die in einer hochspezialisierten Arbeitswelt geleistet werden, nicht sinnvoll miteinander vergleichen. (Welchen Maßstab sollte man etwa dem Vergleich einer wissenschaftlichen und einer pdagogischen oder einer handwerklichen und einer sthetischen Ttigkeit zugrunde legen?) Diesem Umstand trgt die auf „Titeln“ beruhende gesellschaftliche Anerkennung der fachlichen Befhigung und Tchtigkeit der Brger Rechnung. Da ihr kein allgemeiner Maßstab zugrunde liegt, mit dem sich beliebige Kompetenzen zueinander in Beziehung setzen ließen, ermçglicht diese Art von Anerkennung nur in sehr eingeschrnktem Maße eine Beurteilung von beruflichen Qualifikationen und Ttigkeiten als besser oder schlechter oder als wertvoller oder weniger wertvoll. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich beispielsweise von meritokratischer Wertschtzung, die beliebige Qualifikationen und Leistungen auf der Grundlage ihres – monetr bestimmbaren – Wertes zueinander in Beziehung setzt.760 Halten wir fest: Anders als Gesellschaften, die allein durch das abstrakte Recht strukturiert werden, treffen polizeilich und kooperativ verfasste Marktwirtschaften institutionelle Vorkehrungen, um ihren Brgern ein ehrenvolles Leben zu ermçglichen, das, wie gesehen, darin besteht, 760 Siehe oben, Teil I, Kapitel 6.2.

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(i) gesellschaftlich relevante Qualifikationen zu erwerben; (ii) den eigenen Lebensunterhalt unter Anwendung derartiger Qualifikationen im gesellschaftlichen Produktionsprozess zu sichern; und (iii) in den Hinsichten (i) und (ii) gesellschaftlich anerkannt zu sein.761 4.5.2.2 Soziale Zugehçrigkeit In dem oben zitierten § 253 der GPhR (der die Frage behandelt, welche Beitrge die Korporation zur Erfllung der besonderen Interessen der Brger eines modernen Gemeinwesens leistet) wird auch der ,sittliche‘ Aspekt der (Mitgliedschaft in einer) Korporation hervorgehoben: „So ist auch anerkannt, dass es [das Mitglied der Korporation – SaB] einem Ganzen, das selbst ein Glied der allgemeinen Gesellschaft ist, angehçrt und fr den uneigenntzigeren Zweck dieses Ganzen Interesse und Bemhungen hat.“762

In diesem „Interesse“ und diesen „Bemhungen“ sieht Hegel den ,sittlichen‘ Aspekt der Korporation: „Daß ich auch fr die Genossen desselben Gewerbes, fr etwas Allgemeines sorge, das ist hier das Sittliche.“763 Und er ergnzt: In der Korporation „wird der wahrhafte Zweck der Geschicklichkeit gesichert, und ihm wird die sittliche Bestimmung gegeben, daß diese Geschicklichkeit auch eine Ttigkeit wird fr die Genossen, auch fr die zu sorgen, die in gleichen Interessen begriffen sind“764. Zu fragen ist damit: In welchem Sinne ist die Korporation eine Sphre der Sittlichkeit? Und wie trgt die Korporation als „das Sittliche“ zur Erfllung „der besonderen Interessen“765 der Brger eines modernen Gemeinwesens bei? Eine Korporation ist dann eine Sphre des „Sittlichen“, wenn ihre Mitglieder „Interesse und Bemhungen“ hinsichtlich (a) des Wohls ihrer Kollegen („Genossen“) sowie (b) des Fortbestands der Korporation haben. Diese Bedingung ist dann erfllt, wenn ihnen die unter (a) und (b) genannten ,Dinge‘ wichtig sind.766 In diesem Fall hat jedes Korporationsmitglied ein eigenstndiges, nicht auf sein Interesse an der Sicherung des 761 Weiter unten werde ich einige Voraussetzungen der Erfllung dieser Funktionen durch die Korporation explizieren und erçrtern. Vgl. Teil III, Kapitel 5. 762 GPhR, § 253. 763 PhR. 1821/22, § 251. 764 PhR. 1821/22, § 254. 765 Siehe oben, Anmerkung 655. 766 Vgl. zu diesem Begriff Frankfurt (2004), 11 f.

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eigenen Lebensunterhalts zurckfhrbares Interesse daran, dass es seinen Kollegen gut geht und die Korporation fortbesteht. Nun ist es fr jedes Korporationsmitglied wichtig, das eigene Wohl zu sichern, also durch seine (korporative) Arbeit den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Und dieses Ziel kann es nur767 erreichen, wenn die Korporation fortbesteht und es ihren Mitgliedern gut geht. Wrde die Korporation zu existieren aufhçren, wren ihre Mitglieder arbeitslos, und wrde es vielen Korporationsmitgliedern schlecht gehen (etwa aufgrund von Arbeitsunfhigkeit), kçnnte sich die Aufrechterhaltung des korporationsinternen Versicherungssystems als problematisch, ja, als unmçglich erweisen. Aus diesen Grnden ist es fr ein Mitglied einer Korporation im Hinblick auf die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts wichtig, dass die Korporation fortbesteht und es seinen Kollegen gut geht. Nach Hegels Auffassung haben die Angehçrigen einer Korporation aber zugleich ein strkeres, von jenen Grnden unabhngiges Interesse am Fortbestand der Korporation und am Wohlergehen ihrer Kollegen. Seines Erachtens wrde auch ein Korporationsmitglied A, das etwa aufgrund einer Erbschaft hinsichtlich der Sicherung des eigenen Lebensunterhalts auf eine Mitgliedschaft in der Korporation nicht angewiesen ist, daran interessiert sein, dass die Korporation fortbesteht und es seinen Kollegen gut geht. In diesem „Interesse“ – das ttige „Bemhungen“ einschließt – besteht nach Hegels berzeugung „das Sittliche“ der Korporation. Warum aber haben die Angehçrigen einer Korporation das in Rede stehende Interesse? Offenbar ist es fr A wichtig, dass die Korporation fortbesteht und es seinen Kollegen gut geht, weil es fr ihn wichtig ist, Mitglied einer nach Maßgabe ihres Zwecks erfolgreichen Korporation zu sein. Mitglied einer solchen Korporation zu sein ist fr A also ein (zentraler) Aspekt dessen, was er sein mçchte (und in diesem Sinne: seiner Identitt768). Folglich mçchte A nicht einfach seinen Lebensunterhalt sichern und tritt deshalb der Korporation bei, weil ihm dies im Hinblick auf die Erreichung jenes Ziels am gnstigsten zu sein scheint; sondern A mçchte Mitglied einer Korporation sein und im Rahmen dieses sozialen Verhltnisses den eigenen Lebensunterhalt sichern. Der Umstand, dass der Brger einer modernen Gesellschaft Mitglied einer Korporation sein mçchte, lsst sich im Rahmen der Hegel’schen 767 Ich lasse hier die Mçglichkeit einer Mitgliedschaft in anderen Korporationen außer Acht. 768 Vgl. hinsichtlich der verschiedenen Aspekte von personaler Identitt Quante (2002), Kapitel 1 & 2 sowie Quante (2007).

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Teil III: Hegels kritische Gesellschaftstheorie

Argumentation mit seinen „besonderen Interessen“ erklren, nmlich mit seinem Bedrfnis, anderen Brgern hinsichtlich bestimmter Neigungen, Fhigkeiten, Bedrfnisse, Interessen etc. gleich zu sein und von ihnen auf dieser Grundlage als ,einer von uns‘ anerkannt zu werden. Wie gesehen, beruht diese Form von sozialer Zusammengehçrigkeit auf einer wechselseitigen Wertschtzung als Inhaber bestimmter Neigungen, Fhigkeiten, Bedrfnisse, Interessen etc.769 Innerhalb der Korporation werden soziale Zusammengehçrigkeiten primr durch geteilte Wertvorstellungen („Bildung“), welche berufliche Kompetenzen und Ttigkeiten sowie konsumtive Lebensstile betreffen, hergestellt. Weil das so ist, sind Korporationen, wie bemerkt, „besondere[] Systeme der Bedrfnisse, ihrer Mittel und Arbeiten, der Arten und Weisen der Befriedigung und der theoretischen und praktischen Bildung“.770 Als Ergebnis der in diesem Kapitel gefhrten Untersuchung ist festzustellen, dass die Korporation eine soziale Sphre bildet, die es den Brgern eines modernen Gemeinwesens ermçglicht, anderen Brgern hinsichtlich bestimmter Neigungen, Fhigkeiten, Bedrfnisse, Interessen etc. gleich zu sein und von ihnen auf dieser Grundlage als ,einer von uns‘ anerkannt zu werden. Aufgrund dieser Eigenschaft leistet sie einen (weiteren) Beitrag zur Erfllung der besonderen Interessen der Menschen. In diesem Zusammenhang ist die Korporation also nicht nur hinsichtlich der Sicherung der korporativen bzw. Standesehre ihrer Mitglieder von Bedeutung.

4.6 Ergebnis Das vorliegende vierte Kapitel diente der Untersuchung der folgenden Fragen: Worin bestehen aus Sicht der GPhR die besonderen Interessen der Mitglieder eines modernen Gemeinwesens? Welche Methode liegt Hegels Bestimmung dieser Interessen zugrunde? Und wie sind sie seines Erachtens institutionell zu schtzen? Es hat sich ergeben, dass die besonderen Interessen der Mitglieder moderner Gemeinwesen durch das Vorliegen von zwei Arten sozialer Wertschtzung erfllt werden: brgerlicher Ehre und einer Form von sozialer Zugehçrigkeit, die auf einer wechselseitigen Wertschtzung als Inhaber bestimmter Neigungen, Fhigkeiten, Bedrfnisse, Interessen etc. beruht. Zwar begrndet Hegel die Auffassung, dass 769 Siehe oben, Teil III, Kapitel 4.2. 770 GPhR, § 201.

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Menschen diese besonderen Interessen haben und dass diese Interessen institutionell zu sichern sind, letztlich willenstheoretisch;771 worin die besonderen menschlichen Interessen „in neuer Zeit“772 aber bestehen, ergibt sich fr ihn auf der Grundlage von empirischen Untersuchungen (etwa der psychischen Auswirkungen von Armut und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit oder des konsumtiven Verhaltens der Mitglieder brgerlicher Gesellschaften773). Schließlich vertritt Hegel die These, dass staatlich (polizeilich) regulierte Mrkte und korporativ verfasste Arbeitswelten geeignet sind, die besonderen Interessen der Brger moderner Gemeinwesen hinreichend zu schtzen und so zu einer Stabilisierung von deren wechselseitigem personalen Respekt beizutragen.

771 Vgl. Teil III, Kapitel 2. 772 GPhR, § 260, Zs. 773 Aufgrund dieser sozialtheoretischen Fundierung sind Hegels berlegungen meines Erachtens im Prinzip fr die Kritische Theorie anschlussfhig.

5 Eine Anerkennungstheorie der „Sucht des Gewinns“ und des „Luxus“ Geld ist heute anscheinend die einzige Form der Anerkennung. Fritz Stern774

Aus unseren bisherigen berlegungen ergibt sich die folgende Frage: Wenn die Brger moderner Gemeinwesen tatschlich an einer Praxis personalen Respekts partizipieren und ihre besonderen Interessen befriedigen mçchten und wenn polizeilich regulierte Mrkte und korporativ verfasste Sttten der Produktion von gesellschaftlichen Gtern tatschlich eine Erreichung jener Ziele in Aussicht stellen, wie sind dann der Abbau von polizeilichen Regulierungen und korporativen Einrichtungen sowie die Bildung von Gesellschaften, die (mehr oder weniger) allein durch das abstrakte Recht strukturiert sind, zu erklren? Und wie sind sie zu kritisieren? Wie ich im Folgenden zeigen werde, enthalten die GPhR einige – von Hegel selbst nicht in einen systematischen Zusammenhang gebrachte – anerkennungstheoretische Argumente, die im Rahmen (a) einer Sozialtheorie der Entstehung von freien, nicht polizeilich und korporativ verfassten Marktwirtschaften sowie (b) einer sozialphilosophischen Kritik an solchen Ordnungen fruchtbar gemacht werden kçnnen. Die Rekonstruktion und Erçrterung dieser Argumente bilden einen Schwerpunkt des vorliegenden Kapitels. Darber hinaus werde ich das aktuelle Interesse der oben genannten Argumente untersuchen. Ich werde darlegen, warum diese Argumente geeignet sind, zu einer anerkennungstheoretischen Erklrung des bergangs vom sozialdemokratischen zum neoliberalen Kapitalismus einen wichtigen Beitrag zu leisten, und eine Perspektive fr eine sozialphilosophisch gehaltvolle Kritik am zeitgençssischen Neoliberalismus erçffnen. Treffen meine berlegungen zu, dann stellen die GPhR der aktuellen Kritischen Theorie hinsichtlich der Erreichung sowohl der sozialtheoretischen als auch der sozialkritischen Ziele wertvolle Ressourcen zur Verfgung. 774 Schmidt & Stern (2010), 135.

5 Eine Anerkennungstheorie der „Sucht des Gewinns“ und des „Luxus“

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5.1 Zwei Annahmen Hegels Theorie der Korporation beruht auf den folgenden beiden Annahmen: 1. Ein Angehçriger einer (funktionierenden) Korporation ist als solcher nicht daran interessiert, ein mçglichst hohes (eigenes) Konsumniveau zu erreichen. 2. Ein Angehçriger einer (funktionierenden) Korporation ist als solcher nicht daran interessiert, mçglichst hohe (eigene) Einknfte zu erzielen. Das Nichterflltsein jeder dieser beiden Annahmen wre hinsichtlich der Aufrechterhaltung der Korporation als eines sittlichen Systems (in dem oben analysierten Sinne)775 problematisch. Wre der Angehçrige einer (funktionierenden) Korporation als solcher daran interessiert, ein mçglichst hohes (eigenes) Konsumniveau zu erreichen, htte er einen Grund, nach mçglichst hohen (eigenen) Einknften zu streben. Damit aber htte er einen Grund, seine finanzielle Untersttzung seiner Kollegen – etwa in Form von Beitrgen zum korporationsinternen Versicherungssystem – zu minimieren. Wre der Angehçrige einer (funktionierenden) Korporation als solcher daran interessiert, ein mçglichst hohes (eigenes) Konsumniveau zu erreichen, dann gbe es fr ihn also (notwendigerweise) einen Konflikt zwischen seinem Interesse an seinem eigenen Wohl und seinem Interesse am Wohl seiner Kollegen.776 Eine solche Interessenlage aber htte destabilisierende Auswirkungen auf die Korporation als sittliches System (im Hegel’schen Sinne). hnliches ist mit Bezug auf die zweite Annahme zu konstatieren. Wenn der Angehçrige einer (funktionierenden) Korporation als solcher bestrebt wre, mçglichst hohe eigene Einknfte zu erzielen, htte er einen Grund, seine finanzielle Untersttzung seiner Kollegen – also beispielsweise seine Beitrge zum korporationsinternen Versicherungssystem – zu minimieren. Folglich gbe es fr ihn einen Konflikt zwischen seinem Interesse an seinem eigenen Wohl und seinem Interesse am Wohl seiner Kollegen. Wie be775 Siehe oben, Teil III, Kapitel 4.5.2.2. 776 Ein solcher Interessenkonflikt kann auch dann auftreten, wenn die obige Annahme 1 erfllt ist. Unter dieser Voraussetzung tritt er auf, wenn die korporative und gesamtgesellschaftliche Produktion nicht groß genug ist, um Einkommen zu generieren, die den Mitgliedern der Korporation eine Aufrechterhaltung ihrer spezifischen Lebensweise ermçglichen. Ist Annahme 1 erfllt, sind Konflikte zwischen dem Interesse am eigenen Wohl und dem der anderen also mçglich, nicht aber unvermeidlich.

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merkt, wrde sich eine solche Interessenlage destabilisierend auf die Korporation als sittliches System (im Hegel’schen Sinne) auswirken. Warum aber sind die Mitglieder einer (funktionierenden) Korporation als solche nicht daran interessiert, ein mçglichst hohes eigenes Konsumniveau und mçglichst hohe eigene Einknfte zu erzielen? Wenngleich Hegel dieser Frage nicht in systematisch zusammenhngender Form nachgeht, ußert er in den GPhR eine Reihe von Argumenten, mit denen sich die obigen beiden Annahmen begrnden lassen. Diese Argumente werde ich im Folgenden explizieren, zueinander in Beziehung setzen und im Hinblick auf ihr sachliches Interesse diskutieren.

5.2 Beruflicher Erfolg und soziale Wertschtzung Bereits im Haupttext des § 253 der GPhR stellt Hegel fest: „In der Korporation hat die Familie nicht nur ihren festen Boden als die durch Befhigung bedingte Sicherung der Subsistenz, ein festes Vermçgen, sondern beides ist auch anerkannt, so daß das Mitglied einer Korporation seine Tchtigkeit und sein ordentliches Aus- und Fortkommen, daß es etwas ist, durch keine weiteren ußeren Bezeigungen darzulegen nçtig hat.“

Hierzu merkt Hegel an: „Wenn ber Luxus und Verschwendungssucht der gewerbetreibenden Klassen, womit die Erzeugung des Pçbels zusammenhngt, Klagen zu erheben sind, so ist bei den anderen Ursachen (z. B. das immer mehr mechanisch Werdende der Arbeit) der sittliche Grund, wie er im Obigen liegt, nicht zu bersehen. Ohne Mitglied einer berechtigten Korporation zu sein (und nur als berechtigt ist ein Gemeinsames eine Korporation), ist der Einzelne ohne Standesehre, durch seine Isolierung auf die selbstschtige Seite des Gewerbes reduziert, seine Subsistenz und Genuß nichts Stehendes. Er wird somit seine Anerkennung durch die ußerlichen Darlegungen seines Erfolgs in seinem Gewerbe zu erreichen suchen, Darlegungen, welche unbegrenzt sind, weil seinem Stande gemß zu leben nicht stattfindet, da der Stand nicht existiert – denn nur das Gemeinsame existiert in der brgerlichen Gesellschaft, was gesetzlich konstituiert und anerkannt ist –, sich also auch keine ihm angemessene allgemeinere Lebensweise macht.“777 777 GPhR, § 253, Anm. – Hierzu merkt Hegel in seiner Vorlesung zur Rechtsphilosophie von 1821/22 Folgendes an: „Das ist ein großer Zusammenhang. […] Die Korporation macht das sittliche Moment in der brgerlichen Gesellschaft aus, die das Individuum hat. Luxus zu zeigen, das hat er [das Individuum – SaB] nicht nçtig, wenn er Meister ist. Bei der Frage ber die Gewerbefreiheit kommt es hierauf an, ob jemand nicht Lehrzeichen halten soll etc. Der Gesichtspunkt der Sittlichkeit

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Um die Nachvollziehbarkeit der folgenden berlegungen zu erleichtern, sei zunchst die ,Stoßrichtung‘ von Hegels Argumentation angezeigt. Hegel versucht zu zeigen, dass das Streben nach mçglichst hohen eigenen Einknften sowie nach einem mçglichst hohen eigenen Konsumniveau ein kompensatorisches Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung ist, das nur unter spezifischen sozialen Bedingungen auftritt. Mit dieser Einschtzung bestreitet er, dass es so etwas wie ein ursprngliches, zur menschlichen Natur gehçriges Bestreben gibt, die eigenen Einknfte zu maximieren und das eigene Konsumniveau „unbegrenzt“ zu steigern. Die oben genannten beiden Annahmen778 versucht Hegel mit dem Nachweis zu begrnden, dass ein polizeilich und korporativ verfasstes modernes Gemeinwesen diejenigen Bedingungen nicht erfllt, die seines Erachtens vorliegen mssen, damit das Streben nach mçglichst hohen eigenen Einknften sowie einem mçglichst hohen eigenen Konsumniveau (in einem gesellschaftlich relevanten Umfang) auftreten kann. Im Folgenden wird zu untersuchen sein, (i) worin das oben genannte Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung genau besteht; (ii) unter welchen Bedingungen es nach Hegels Auffassung auftritt; (iii) inwiefern es als ein kompensatorisches Phnomen zu verstehen ist; und (iv) in welchem Sinne und warum es problematisch ist. Ad (i). Das fragliche Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung besteht darin, „seine Anerkennung durch die ußerlichen Darlegungen seines Erfolgs in seinem Gewerbe zu erreichen […], Darlegungen, welche unbegrenzt sind“. Wie Hegels Hinweis auf den „Luxus und [die] Verschwendungssucht der gewerbetreibenden Klassen“ deutlich macht, sind es konsumtive Ausgaben, die mit dem Ausdruck „ußerliche Darlegungen“ bezeichnet werden. Demnach versuchen Personen, denen das oben genannte Streben zukommt, als beruflich erfolgreiche Brger gesellschaftlich anerkannt zu werden, und sie glauben, dieses Ziel durch die Dokumentation ihres monetren wirtschaftlichen „Erfolgs“ in Form von konsumtiven Ausgaben erreichen zu kçnnen. Nher liegt diesem Streben nach Anerkennung die Annahme zugrunde, dass ein Brger in beruflicher Hinsicht als umso erfolgreicher angeht dem der Sicherung vorher. Wer nur sein Patent hat, hat keine sittliche Verpflichtung. Und endlich hat er keine Ehre. Die Anerkennung von den anderen kann er nur hervorbringen durch den Luxus, den er zeigt. Diese Frage ist sehr wichtig.“ (PhR. 1821/22, § 253; meine Hervorhebung – SaB) 778 Vgl. Teil III, Kapitel 5.1.

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gesehen wird, je grçßer sein wirtschaftlicher „Erfolg in seinem Gewerbe“ ist. Sofern er einem solchen Anerkennungskontext angehçrt, wird er deshalb einen Grund haben, als Berufsttiger nach mçglichst hohen Einknften zu streben und seine eventuellen wirtschaftlichen Erfolge durch entsprechend hohe konsumtive Ausgaben zu dokumentieren. Deshalb lsst sich im Fall von Personen, die auf diese Art und Weise anerkannt werden mçchten, sowohl eine „Sucht des Gewinns“779 als auch ein Hang zum „Luxus“ und eine „Verschwendungssucht“ konstatieren. Wie diese berlegungen deutlich machen, unterscheiden sich Brger, die nach der hiermit beschriebenen Art von Anerkennung streben, von den Mitgliedern einer Korporation in denjenigen Hinsichten, die in den oben genannten Annahmen 1 und 2 thematisiert werden: In der Tat versuchen sie sowohl mçglichst hohe eigene Einknfte als auch ein mçglichst hohes eigenes Konsumniveau zu erzielen. Ad (ii) & (iii). Unter welchen Bedingungen tritt das unter (i) analysierte Anerkennungsstreben auf ? Den oben zitierten Auszgen aus § 253 der GPhR sowie Hegels Anmerkung zu diesem Paragraphen lassen sich fnf Faktoren entnehmen, die im vorliegenden Zusammenhang in Betracht zu ziehen sind: (F-1) Personen, die nach Anerkennung der unter (i) analysierten Art streben, kçnnen ihren Lebensunterhalt („Subsistenz“) nur durch eigene Arbeit (oder durch Vermçgen, das mit eigenen Arbeitseinknften gebildet wird) sichern.780 Anders als die Mitglieder einer Korporation sind sie nmlich in dem Sinne ,isolierte‘ Individuen, dass sie keinem kollektiven Sozialversicherungssystem angehçren.781 Aus diesem Grunde ist ihre „Subsistenz“, wie Hegel feststellt, „nichts Stehendes“. (F-2) Personen, die auf die unter (i) beschriebene Art und Weise anerkannt werden mçchten, partizipieren an keiner „allgemeinere[n] Lebensweise“, durch die ihre konsumtiven Bedrfnisse und Neigungen sowie die Art und

779 GPhR, § 306. 780 Ich sehe hier von der Mçglichkeit der Sicherung des eigenen Lebensunterhalts aufgrund von geerbtem Vermçgen ab. 781 Wie gesehen, siedelt Hegel Sozialversicherungssysteme auf der Ebene der Korporationen (und nicht der Gesamtgesellschaft) an. Vgl. Teil III, Kapitel 4.5.1.

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Weise ihrer Befriedigung stabilisiert wren. Aufgrund ihrer „Isolierung“ ist ihr „Genuß“ im Gegenteil „nichts Stehendes“.782 (F-3) Personen, die nach Anerkennung der unter (i) analysierten Art streben, haben kein berufliches Umfeld, in dem der Einzelne nicht nur Interesse an seinem eigenen Wohl, sondern auch an dem seiner Kollegen hat. Sie sind also in dem Sinne ,isolierte‘ Individuen, dass sie „auf die selbstschtige Seite des Gewerbes reduziert sind“. (F-4) Personen, die auf die unter (i) analysierte Art und Weise anerkannt werden mçchten, sind „ohne Standesehre“. Sie kçnnen also nicht aufgrund einer Mitgliedschaft in einer Korporation 783 als Brger gesellschaftlich wertgeschtzt werden, die ihren Lebensunterhalt durch ihre Arbeit sichern, sondern sind in dem Sinne ,isolierte‘ Individuen, dass sie den anderen Gesellschaftsmitgliedern gegebenenfalls selbst anzeigen mssen, dass sie ihren Lebensunterhalt erfolgreich sichern. (F-5) Personen, die nach Anerkennung der unter (i) analysierten Art streben, gehçren keiner Sttte der Produktion von gesellschaftlichen Gtern an, in der sie aufgrund ihrer beruflichen „Befhigung“ und „Tchtigkeit“ Wertschtzung erfahren wrden. Sie sind also in dem Sinne ,isolierte‘ Individuen, dass sie kein berufliches Umfeld haben, in dem ihre Leistungen von kompetenten Anderen in den oben genannten Hinsichten positiv beurteilt werden wrden. Folglich784 kçnnen sie keine gesellschaftliche Wertschtzung als fachlich qualifizierte und tchtige Individuen erhalten.

782 Hier ist zu bedenken, dass die in Rede stehende Stabilisierung auch durch die Zugehçrigkeit zu anderen, etwa religiçsen Kontexten hergestellt werden kann. Es ist deshalb problematisch, aus der Nichtzugehçrigkeit zu einer Korporation auf die Nichtstabilitt konsumtiver Verhaltensweisen zu schließen. Dies scheint Hegel aber im vorliegenden Zusammenhang zu tun, wie aus seiner Anmerkung zu § 253 der GPhR hervorgeht. 783 Wie bemerkt, verwendet Hegel den Ausdruck „Stand“ gelegentlich als Synonym von „Korporation“. Siehe oben, Teil III, Kapitel 4.5. Dass dies auch im vorliegenden Zusammenhang der Fall ist, folgt aus seiner oben zitierten Behauptung („Ohne Mitglied einer berechtigten Korporation zu sein […], ist der Einzelne ohne Standesehre […].“). 784 Siehe oben, Teil III, Kapitel 4.5.2.1.

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Demnach haben Personen, die auf die unter (i) beschriebene Art und Weise anerkannt werden mçchten, die folgenden Eigenschaften: Sie kçnnen ihren Lebensunterhalt nur durch eigene Arbeit (oder durch Vermçgen, das mit eigenem Arbeitseinkommen gebildet worden ist) sichern; sie haben keine stabilen konsumtiven Prferenzen; sie haben keine Arbeitskollegen, an deren Wohl sie ein Interesse htten; sie werden nicht aufgrund einer Mitgliedschaft in einem der „Momente der brgerlichen Gesellschaft“ als Individuen gesellschaftlich wertgeschtzt, die den eigenen Lebensunterhalt durch ihre Arbeit sichern; und sie sind ohne Wertschtzung als fachlich qualifizierte und tchtige Individuen. Welche dieser fnf Faktoren sind hinsichtlich der Erklrung des unter (i) analysierten Strebens nach gesellschaftlicher Anerkennung relevant? Naheliegenderweise wird dieses Streben ein menschliches Bedrfnis (oder mehrere menschliche Bedrfnisse) befriedigen oder kompensieren. Aber welche(s)? Da Hegel auf diese Frage nicht eingeht, bietet es sich an zu untersuchen, ob das fragliche Verhalten – nmlich das Streben nach mçglichst hohen eigenen Einknften und einem mçglichst hohen eigenen Konsumniveau – unter Zugrundelegung eines der im Folgenden genannten drei Kandidaten erklrt werden kann: (a) des Bedrfnisses, den eigenen Lebensunterhalt zu sichern (B-1); (b) des Bedrfnisses, als ein Brger wertgeschtzt zu werden, der den eigenen Lebensunterhalt erfolgreich sichert (B-2); oder (c) des Bedrfnisses, als ein beruflich qualifiziertes und tchtiges Individuum gesellschaftlich wertgeschtzt zu werden (B-3). Diese Untersuchung wird zugleich die Relevanz der oben spezifizierten fnf Faktoren deutlich machen. (a) Nehmen wir an, dass das unter (i) analysierte Verhalten allein der Befriedigung des Bedrfnisses B-1 dient. Unter dieser Annahme tritt es unabhngig davon auf, ob das bedrftige Individuum als ein fachlich qualifiziertes Mitglied der Arbeitswelt und als ein Brger, der seinen Lebensunterhalt erfolgreich sichert, gesellschaftlich wertgeschtzt wird (da die Bedrfnisse B-2 und B-3 im vorliegenden Zusammenhang annahmegemß nicht relevant sind). Wenn aber die Bedrfnisse B-2 und B-3 irrelevant sind, sind es auch die weiter oben genannten Faktoren F-4 und F-5. Nimmt man also an, dass das unter (i) analysierte Anerkennungsstreben der Befriedigung des Bedrfnisses B-1 dient, ist zu untersuchen, ob sein Auftreten mit diesem Bedrfnis sowie den Faktoren F-1, F-2 und F-3 erklrt werden kann. Ist dies mçglich? Legt man Hegels Kommentierung der GPhR aus den Jahren 1821/22 zugrunde, dann lsst sich ein wesentlicher Aspekt des unter

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(i) analysierten Anerkennungsstrebens mit dem Bedrfnis B-1 sowie den Faktoren F-1, F-2 und F-3 erklren. Das ist den im Folgenden wiedergegebenen Textstellen zu entnehmen: „Weil der Mensch vernnftig ist, muß er Vorsorge haben fr die Zukunft. Ich gewinne meine Subsistenz, ich will aber das Allgemeine meiner Subsistenz, d. h. fr meine Lebenszeit und meine Familie; dieses Allgemeine des Empirischen setzte ich in diesem Empirischen.“785

Angenommen, so fhrt Hegel fort, es ist „jedem nur garantiert […], daß er die Erlaubnis hat, sich seine Subsistenz zu sichern. Es ist dann keine Sicherheit der Subsistenz und keine Ehre. Es ist ihm nur gestattet die Mçglichkeit seiner Subsistenz. Das Individuum, das so ohne Korporation ist, ist auf den Erwerb des heutigen Tages angewiesen, er befindet sich in dem Fall eines Spielers. – Er muß suchen, in diesem Augenblicke zu gewinnen, auf die unverschmteste Weise zu fordern ist er veranlaßt; indem er auf den Zufall gewiesen ist, ist er auf alle Zuflligkeiten angewiesen, und zu diesen gehçrt auch die Unverschmtheit der Forderung.“786 Demnach argumentiert Hegel wie folgt: Menschen sind vorsorgende Wesen; sie sind daran interessiert, Bedingungen herzustellen, unter denen ihr Lebensunterhalt (und der ihrer Angehçrigen) normalerweise dauerhaft gesichert werden kann. Wenn nun der Einzelne hinsichtlich der Bestreitung seines Lebensunterhalts allein auf seine Arbeit angewiesen ist – und nicht gegebenenfalls durch kollektive Versicherungssysteme untersttzt wird –, liegt es aufgrund der oben genannten Sorge „fr die Zukunft“ in seinem Interesse, mçglichst hohe Einknfte zu erzielen. Denn annahmegemß kann er sich ja nur durch Ersparnisse angemessen787 gegen die „besonderen Zuflligkeiten“788 der menschlichen Existenz schtzen. So ist zu erklren, warum er seine Einknfte „in seinem Gewerbe“789 zu maximieren bestrebt ist und in dieser Hinsicht auch nicht davor zurckschreckt, „auf die unverschmteste Weise zu fordern“. Folgt man dieser Argumentation Hegels, dann wird man feststellen, dass sich ein wesentlicher Aspekt des unter (i) analysierten Verhaltens mit dem unter (a) gewhlten Ansatz erklren lsst: das Interesse an mçglichst 785 PhR. 1821/22, § 251. 786 PhR. 1821/22, § 253. 787 Was der Einzelne jeweils als angemessen ansieht, hngt selbstverstndlich auch von technologischen Gegebenheiten (etwa im medizinischen Bereich) sowie von ,geistigen‘ Faktoren (wie den geltenden Sitten) ab. 788 GPhR, § 252. 789 GPhR, § 253, Anm.

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hohen eigenen Einknften. Im Rahmen einer solchen Erklrung werden demnach das Bedrfnis, den eigenen Lebensunterhalt zu sichern (B-1), sowie die Annahmen, dass menschliche Akteure „selbstschtig“ und ihre „Subsistenz und Genuß nichts Stehendes“ sind (F-1, F-2 und F-3), bençtigt. Irrelevant sind demgegenber im vorliegenden Zusammenhang die Bedrfnisse, als ein beruflich kompetentes Individuum und als ein Brger, der seinen Lebensunterhalt erfolgreich sichert, gesellschaftlich wertgeschtzt zu werden (B-2 und B-3), sowie die Frage, ob diese Bedrfnisse erfllt werden oder nicht (F-4 und F-5). Hinsichtlich dieser Argumentation sind zwei kritische Bemerkungen zu machen: 1. Es ist meines Erachtens fraglich, ob tatschlich jedes Bemhen um eine Steigerung der eigenen Einknfte mit dem Versuch der dauerhaften Sicherung des eigenen Lebensunterhalts schlssig erklrt werden kann. Das Bestreben, ein bereits sehr großes eigenes Vermçgen mçglichst gewinnbringend einzusetzen, drfte sich kaum auf ein solches Motiv zurckfhren lassen.790 (Mçglicherweise kann dieses Bestreben als ein habitualisiertes, ursprnglich der dauerhaften Sicherung des eigenen Lebensunterhalts dienendes Streben nach hohen Einknften verstanden werden. Aufgrund des folgenden zweiten Punktes kann diese Frage hier außer Acht bleiben.) 2. Versuche, ein mçglichst hohes Konsumniveau zu erreichen, kçnnen nicht mit den unter (a) genannten Faktoren erklrt werden. Wenn das Streben nach mçglichst hohen Einknften dem Motiv der dauerhaften Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts entspringt, wird es im Gegenteil mit dem Bemhen einhergehen, Ersparnisse zu bilden, also aktuelle Konsumausgaben einzuschrnken. Konsumtive „Darlegungen“ eventueller „Erfolg[e] in seinem Gewerbe“ lassen sich also mit dem unter (a) skizzierten Ansatz nicht erklren. Aus diesem Grunde bedarf es im vorliegenden Zusammenhang einer anderen Theorie. (b) Erweitern wir die Menge der erklrungsrelevanten Annahmen um das Bedrfnis, als ein Brger gesellschaftlich wertgeschtzt zu werden, der seinen Lebensunterhalt erfolgreich sichert (B-2), sowie um den weiter oben genannten Faktor F-4. Unter dieser Voraussetzung lsst sich nicht nur 790 Luc Boltanski und ðve Chiapello wrden diese Einschtzung teilen. Das geht aus ihrer Erçrterung der mçglichen Grnde fr eine Beteiligung des Einzelnen am kapitalistischen Wirtschaftsprozess hervor. Vgl. Boltanski & Chiapello (2003), 48 – 54.

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erklren, warum zumindest diejenigen Menschen, die kein sehr großes eigenes Vermçgen besitzen, ihre gewerblichen Einknfte zu maximieren versuchen, sondern auch, warum ostentative konsumtive Praktiken gepflegt werden. Annahmegemß muss der Einzelne nmlich gegebenenfalls selbst anzeigen, dass er seinen Lebensunterhalt erfolgreich sichert – wie gesehen, wird diese Funktion nicht durch eine Mitgliedschaft in einem der „Momente der brgerlichen Gesellschaft“ erfllt. Da er ferner ein „selbstschtiger“ Akteur ist, sind konsumtive „Darlegungen“ fr ihn ein geeignetes Mittel, um seinen Mitbrgern deutlich zu machen, dass er gewerbliche Einknfte erzielt791, die hinsichtlich der Bestreitung seines Lebensunterhalts ausreichend sind.792 Allerdings gibt es auch im vorliegenden Fall zwei Probleme: 1. Mit den unter (b) getroffenen Annahmen lsst sich nicht erklren, warum „unbegrenzte“ konsumtive „Darlegungen“ stattfinden. (Letzteres wird von Hegel ja behauptet.) Um eine erfolgreiche Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts zu dokumentieren, mag es zweckmßig sein, bestimmte konsumtive Praktiken zu pflegen; unverstndlich aber ist, warum zu jenem Zweck mçglichst hohe konsumtive Ausgaben gettigt werden sollen. Selbst wenn man annimmt, dass die „fr ein Mitglied einer Gesellschaft notwendige […] Subsistenzweise“793 ein kulturelles Phnomen ist794 und dass unter den Mitgliedern einer Gesellschaft eine gewisse Unsicherheit darber besteht, welche Einknfte hinsichtlich der Sicherung des eigenen Lebensunterhalts als notwendig angesehen werden, lassen sich „unbegrenzte“ konsumtive „Darlegungen“ bzw. „Luxus und Verschwendungssucht“ mit den oben genannten Annahmen nicht erklren. Denn als Luxusartikel gelten ja gerade solche Gter, die hinsichtlich der Bestreitung des Lebensunterhalts als nicht notwendig bzw. als berflssig erachtet werden.795 2. Auch der im vorliegenden Teil (b) gewhlte Erklrungsansatz kann nicht verstndlich machen, warum Personen, die ein sehr großes ei791 Ich lasse hier den Umstand außer Acht, dass konsumtive Ausgaben auch durch geerbtes Vermçgen finanziert werden kçnnen. 792 Aufgrund seiner Selbstsucht wren sogenannte wohlttige Ausgaben fr einen solchen Akteur kein geeignetes Mittel, um anzuzeigen, dass er seinen Lebensunterhalt erfolgreich bestreitet. 793 GPhR, § 244. 794 Dass Hegel diese Annahme teilt, geht aus den §§ 234 und 244 der GPhR hervor. 795 Vgl. hierzu Sombart (1996), insbesondere 85 – 89. Pointiert ist die folgende ußerung Oscar Wildes: „Man umgebe mich mit Luxus; auf das Notwendige verzichte ich gern.“

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genes Vermçgen besitzen, bestrebt sind, dasselbe mçglichst gewinnbringend einzusetzen. Da hinsichtlich der Dokumentation einer erfolgreichen Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts ,begrenzte‘ konsumtive „Darlegungen“ ausreichend sind, lsst sich jenes Bestreben nicht aus dieser Zielsetzung ableiten. Folglich kann dieses Element des unter (i) beschriebenen Phnomens mit den hier (b) zugrunde gelegten Annahmen nicht erklrt werden. (c) Meines Erachtens verbessert sich die argumentative Lage durch die Erweiterung der Menge der erklrungsrelevanten Annahmen um das Bedrfnis, als ein fachlich qualifiziertes und tchtiges Individuum wertgeschtzt zu werden (B-3), sowie den weiter oben genannten Faktor F-5 (nach dem der Einzelne ohne Wertschtzung in eben dieser Hinsicht ist). Diese Aussage mag berraschen. Ist F-5 nmlich gegeben, kann B-3 nicht erfllt sein. Warum sind diese beiden Elemente im vorliegenden Zusammenhang dennoch von Interesse? Nach meiner berzeugung kann das unter (i) analysierte Verhalten als eine Kompensation des Fehlens von Wertschtzung als fachlich qualifiziertes und tchtiges Individuum verstanden werden. Unter dieser Annahme wrde im vorliegenden Zusammenhang eine Art von beruflicher Wertschtzung durch eine andere Art von beruflicher Wertschtzung substituiert. Welche relevanten Eigenschaften haben diese beiden Wertschtzungsarten? Wie gesehen, beruht die Wertschtzung als ein fachlich qualifiziertes und tchtiges Individuum auf einer entsprechenden Beurteilung durch kompetente Andere (Berufs- oder Korporationskollegen). Die – ihrerseits gesellschaftlich geregelte, nach Hegels Auffassung die Gestalt von „Titeln“ habende – Sichtbarmachung dieser Beurteilung ist eine notwendige und hinreichende Bedingung dafr, dass das fragliche Individuum nicht nur von seinen Kollegen, sondern auch von den anderen Gesellschaftsmitgliedern in beruflicher Hinsicht wertgeschtzt wird. Wie erlutert, ermçglicht diese Art von Wertschtzung nur in sehr eingeschrnktem Maße Klassifizierungen von beruflichen Leistungen als hçher- oder minderwertig.796 Trifft die oben genannte Kompensationsthese zu, dann werden Mitglieder moderner Gesellschaften, sofern sie ohne Wertschtzung als fachlich qualifizierte und tchtige Individuen sind, unter bestimmten Umstnden versuchen, auf eine andere Art und Weise als beruflich erfolgreiche 796 Siehe oben, Teil III, Kapitel 4.5.2.1.

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Individuen gesellschaftlich wertgeschtzt zu werden. Diese Art von Wertschtzung beruht auf dem Preis, den sie fr ihre beruflichen Ttigkeiten erzielen. Nach ihr wird jemand in beruflicher Hinsicht als umso erfolgreicher angesehen, je hçher seine Einknfte „in seinem Gewerbe“ im Vergleich zu dem der Anderen sind.797 Demnach basiert die gesellschaftliche Wertschtzung von Berufsttigen auf einer monetren Bewertung der von ihnen angebotenen Produkte (Gter oder Dienstleistungen). Die in Rede stehende Bewertung wird unter marktwirtschaftlichen Bedingungen (im Prinzip) durch alle Gesellschaftsmitglieder – und nicht nur durch kompetente Andere – vorgenommen. Diese Art von Wertschtzung ermçglicht eine Klassifizierung beliebiger Arbeiten als mehr oder weniger ntzlich und mithin beliebiger Berufsttiger als mehr oder weniger erfolgreich. Das ist deshalb der Fall, weil sie einen allgemeinen – nmlich monetren – Maßstab der Beurteilung dieser Ttigkeiten und Personen zur Verfgung stellt. Wenn Menschen versuchen, auf die hiermit beschriebene Art und Weise als mçglichst erfolgreiche Berufsttige gesellschaftlich wertgeschtzt zu werden, werden sie sowohl nach mçglichst hohen gewerblichen Einknften als auch nach einem mçglichst hohen Konsumniveau streben. Auf der Grundlage unserer bisherigen berlegungen lsst sich diese These wie folgt begrnden: Jene Personen versuchen deshalb, mçglichst hohe Einknfte „in [ihrem] Gewerbe“ zu erzielen, weil die Hçhe dieser Einknfte (bzw. die Differenz zwischen den Einknften verschiedener Berufsttiger) die Grundlage ihrer (vergleichsweisen) gesellschaftlichen Wertschtzung als Berufsttige bildet. Und unter den Annahmen, dass sie keine stabilen konsumtiven Prferenzen haben, als Berufsttige „selbstschtig“ sind und eventuelle berufliche „Erfolge“ selbst dokumentieren mssen (F-2, F-3 und F-4), ist es verstndlich, warum jene Personen ein mçglichst hohes Konsumniveau zu erreichen versuchen. In „Darlegungen“ dieser Art sehen sie nmlich ein geeignetes Mittel, um den anderen Gesellschaftsmitgliedern die Hçhe ihrer gewerblichen Einknfte bzw. die Grçße ihres beruflichen Erfolgs anzuzeigen. Wie unschwer zu erkennen ist, entspricht die in Rede stehende Art von Wertschtzung dem, was weiter oben mit „meritokratische Wertschtzung“ bezeichnet worden ist.798 In der Tat haben Menschen, die einem Kontext meritokratischer Wertschtzung angehçren, wertschtzungsbedingt einen 797 Die hier analysierte Form von Wertschtzung ist also ein „positional good“ im Sinne von Neuhouser (2009). 798 Vgl. Teil I, Kapitel 6.2.

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Grund, nach mçglichst hohen relativen Einknften zu streben und eventuelle wirtschaftliche Erfolge gesellschaftlich zu dokumentieren (etwa durch konsumtive Ausgaben). Folglich motiviert meritokratische Wertschtzung zu denjenigen Verhaltensweisen, die fr die in der Anmerkung zu § 253 der GPhR thematisierte Art von Anerkennung charakteristisch sind. Es stellt sich die Frage, ob alle oben genannten fnf Faktoren gegeben seien mssen, damit das unter (i) analysierte Anerkennungsstreben auftreten kann. Meines Erachtens ist das nicht der Fall. Wenn das fragliche Streben nach Anerkennung eine Kompensation des Fehlens von Wertschtzung als ein fachlich qualifiziertes und tchtiges Individuum ist, dient es der Befriedigung eines Bedrfnisses, das unabhngig von der Befriedigung des Bedrfnisses, den eigenen Lebensunterhalt zu sichern (B-1), gegeben ist. Demnach ist das Auftreten jenes Anerkennungsstrebens aber unabhngig von dem Vorliegen/Nichtvorliegen des oben genannten Faktors F-1. Auch Personen, deren Lebensunterhalt gegebenenfalls durch Sozialversicherungssysteme bestritten wird, kçnnen also nach Anerkennung der unter (i) analysierten Art streben. Trifft die oben genannte Kompensationsthese zu, dann ist es ferner denkbar, dass auch Personen, die als Brger wertgeschtzt werden, die ihren Lebensunterhalt erfolgreich sichern, nach Anerkennung der unter (i) analysierten Art streben. Diese Mçglichkeit kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, weil das in Rede stehende Streben nach Anerkennung ja der (kompensatorischen) Befriedigung eines anderen Bedrfnisses als B-2 dient.799 Fassen wir zusammen: Das unter (i) analysierte Anerkennungsstreben lsst sich mit den im vorliegenden Teil (c) gewhlten Annahmen adquat erklren. In der Tat lsst sich mit ihnen verstndlich machen, warum Menschen versuchen, mçglichst hohe eigene Einknfte und ein mçglichst hohes eigenes Konsumniveau zu erzielen. Folglich hat die unter (c) beschriebene Theorie im vorliegenden Zusammenhang ein grçßeres Erklrungspotenzial als die unter (a) und (b) erçrterten Anstze. 799 In Ergnzung zu Hegels berlegungen wre zu untersuchen, ob nicht auch Anerkennungsdefizite in anderen gesellschaftlichen Bereichen als dem der Arbeitswelt ein anerkennungsbedingtes Streben nach mçglichst hohen eigenen Einknften und einem mçglichst hohen eigenen Konsumniveau motivieren kçnnen. Diese Mçglichkeit wird auch von Max Weber thematisiert. Vgl. Weber (2006), 68 f. Im Rahmen der vorliegenden Abhandlung werde ich mich mit der oben genannten Frage allerdings nicht auseinandersetzen.

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Auf der Grundlage dieser berlegungen lsst sich angeben, wie Hegel die in Kapitel 5.1 genannten Annahmen begrndet. Wie dort bemerkt, beruht seine Theorie der Korporation auf den folgenden beiden Thesen: 1. Ein Angehçriger einer (funktionierenden) Korporation ist als solcher nicht daran interessiert, ein mçglichst hohes (eigenes) Konsumniveau zu erreichen. 2. Ein Angehçriger einer (funktionierenden) Korporation ist als solcher nicht daran interessiert, mçglichst hohe (eigene) Einknfte zu erzielen. Nach Hegels Auffassung, so hat sich nun ergeben, tritt das unter 1. und 2. bezeichnete Interesse nur unter spezifischen sozialen Bedingungen auf; es ist also kein Bestandteil einer unvernderlichen menschlichen Natur. Ferner glaubt Hegel, dass eine polizeilich und korporativ verfasste Marktwirtschaft diejenigen Bedingungen nicht erfllt, die seines Erachtens vorliegen mssen, damit Menschen ein Interesse an mçglichst hohen eigenen Einknften und mçglichst hohem eigenen Konsumniveau haben. Aus diesen Grnden vertritt er (der Sache nach) die oben genannten beiden Thesen. Diese Argumentation lsst sich als Kritik an der uneingeschrnkten Gltigkeit dessen verstehen, was Wirtschaftswissenschaftler mit „Nichtsttigungsannahme“ bezeichnen. Nach dieser Annahme sind Menschen in dem Sinne nicht sttigbar, dass es kein Gterbndel gibt, das ihre konsumtiven Bedrfnisse restlos befriedigen kçnnte; vielmehr gibt es zu jedem Gterbndel X ein Gterbndel Y, das sie X vorziehen wrden.800 Treffen Hegels berlegungen zu, dann sind die Mitglieder moderner Gemeinwesen nicht im Allgemeinen, sondern nur unter bestimmten (sozialen) Umstnden ,nicht sttigbar‘. Ferner wird das Verhalten derjenigen Menschen, die ,nicht sttigbar‘ sind, von Hegel und (der Hauptstrçmung) der gegenwrtigen konomik unterschiedlich erklrt. Letztere geht davon aus, dass Menschen nach mçglichst hohen Einknften streben, um mçglichst viele ihrer konsumtiven Bedrfnisse befriedigen zu kçnnen. Demgegenber versuchen sie nach Hegels Auffassung ein mçglichst hohes Konsumniveau zu erreichen, um die Hçhe ihrer gewerblichen Einknfte bzw. die Grçße ihres beruflichen Erfolgs gesellschaftlich zu dokumentieren. Unter dieser Perspektive

800 Vgl. Reiß (1998), 224 – 227.

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erfllt ihr Konsum also eine Darstellungsfunktion, die ihm gemß jener wirtschaftswissenschaftlichen Theorie nicht zukommt.801 Ad (iv). In welchem Sinne ist das unter (i) analysierte Anerkennungsstreben problematisch? Und warum? Diese Fragen stellen sich angesichts der folgenden berlegung: Selbst wenn das oben genannte Anerkennungsstreben tatschlich in dem Sinne ein kompensatorisches Phnomen ist, dass es nur dann auftritt, wenn ein bestimmtes anderes Bedrfnis nach Anerkennung unerfllt bleibt, ist es eine offene Frage, ob es in sozialphilosophischer Hinsicht problematisch ist oder nicht. Es ist nmlich denkbar, dass es in allen relevanten Hinsichten genauso gut (schlecht) ,abschneidet‘ wie dasjenige Streben nach Anerkennung, an dessen Stelle es tritt. Folglich ist eigens zu untersuchen, ob und, wenn ja, warum das unter (i) analysierte Phnomen in sozialphilosophischer Hinsicht problematisch ist. Fr Hegel hat das Streben nach Anerkennung der unter (i) beschriebenen Art einen freiheitsgefhrdenden Charakter und ist deshalb problematisch. Wie gesehen, versteht Hegel Freiheit im Sinne seines Begriffs konkreter Freiheit, nmlich als einen gesellschaftlichen Zustand, der dann vorliegt, wenn (1.) die „persçnliche Einzelheit“ sich vollstndig entwickelt und rechtlich anerkannt wird; (2.) die „besondere[n] Interessen“ dieser Einzelheit sich vollstndig entwickeln und rechtlich anerkannt werden; und (3.) die persçnliche Einzelheit und ihre besonderen Interessen das Allgemeine „als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und fr dasselbe als ihren Endzweck ttig sind“.802 Warum Hegel das unter (i) analysierte Streben nach Anerkennung als eine Gefhrdung der „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“803 ansieht, lsst sich am besten im Ausgang seiner Jenaer Philosophie des Geistes angeben. Dort notiert er: „diese Einbildung seines Werths, seines allgemeinen Selbsts in die Besonderheit wird zur unmittelbaren Einheit, indem das Gelten und Haben gleich801 Auch Thorstein Veblen ist der Auffassung, dass konsumtives Verhalten eine gesellschaftliche Darstellungsfunktion erfllt. Allerdings ist er – anders als Hegel – der Meinung, dass das, was auf diese Weise dargestellt werden soll, das NichtAngewiesensein auf die Ausbung von gesellschaftlicher Arbeit bzw. die eigene materielle Unabhngigkeit ist. (Vgl. Veblen (2006), 21.) Weil gesellschaftliche Wertschtzung („esteem“) hierauf beruhe, gebe es unter den Mitgliedern moderner Gesellschaften das Bedrfnis, „to show that one’s time had not been spent in industriel employment“ (Veblen (2006), 23). Nach Veblens Theorie bezieht sich soziale Wertschtzung also nicht auf das, was Hegel „brgerliche Ehre“ nennt. 802 Siehe oben, Teil III, Kapitel 2.2. 803 GPhR, § 260.

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bedeutend wird, […] – es ist [nicht] der Stand als solcher, der mehr gilt, sondern die Realitt der Habe als solche – […] Die Gesinnung […] ist also dieser Verstand der Einheit des Wesens und des Dings – so reell ist einer, als er Geld hat; […] die Bedeutung hat unmittelbares Daseyn – das Wesen der Sache ist die Sache selbst – Der Werth ist klingende Mntze. – Es ist das formale Princip der Vernunft vorhanden. (Aber diß Geld, das die Bedeutung aller Bedrfnisse hat, ist selbst nur ein unmittelbares Ding,) – es ist die Abstraction von aller Besonderheit, Charakter u.s.f. Geschiklichkeit des Einzelnen; die Gesinnung ist diese Hrte des Geistes, worin der Besondere ganz entassert nicht mehr gilt, – strictes Recht, der Wechsel muß honorirt werden, es mag zu Grunde gehen, was will – Familie – Wohlstand, Leben u.s.f. – gnzliche Unbarmherzigkeit – Fabriken Manufakturen grnden gerade auf das Elend einer Klasse ihr Bestehen – Der Geist ist sich also in seiner Abstraction Gegenstand geworden – als das Selbstlose Innre.“804

Und er ergnzt: „Aber diß Innre ist das Ichselbst – und das Ich ist sein Daseyn selbst – die Gestalt des Innren ist nicht das todte Ding – Geld, sondern ebenfalls Ich.“805 Warum glaubt Hegel, dass das unter (i) analysierte Anerkennungsstreben eine Gefhrdung der „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ ist? Seine obige Begrndung dieser These lsst sich unter Bercksichtigung der Ergebnisse des Ersten Teils der vorliegenden Untersuchung wie folgt rekonstruieren (und komplettieren): In einer Gesellschaft, in der „das Gelten und Haben gleichbedeutend“ sind, sich die Brger also nach Maßgabe der Hçhe bzw. der Differenz ihrer gewerblichen Einknfte wertschtzen, ist ein Akteur in anerkennungstheoretischer Hinsicht besser gestellt, wenn sein Einkommen steigt und/ oder das Einkommen von Anderen sinkt. Ein solcher Akteur hat also anerkennungsbedingt einen Grund, nach einer Verbesserung seines Einkommens zu streben und zu einer Verringerung des Einkommens der Anderen beizutragen. Mehr noch: Da im vorliegenden Zusammenhang keine Einkommensdifferenz als maximale ausgewiesen werden kann, hat jener Akteur kraft der gesellschaftlichen Praxis sozialer Wertschtzung einen Grund, stets erneut nach einer Verbesserung des eigenen Einkommens zu streben und zu einer immer weiteren Verringerung des Einkommens der Anderen beizutragen.806 Eine solche Anerkennungs- oder Wertschtzungsordnung ist fr Hegel hinsichtlich der institutionellen Sicherung der „besonderen Interessen“807 804 805 806 807

PhdG, 269 f. (meine Hervorhebung – SaB). PhdG, 270. Siehe oben, Teil I, Kapitel 6.2.2. Vgl. zu Hegels Konzeption der besonderen Interessen Teil III, Kapitel 4.

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der Menschen problematisch. Seines Erachtens sind Personen, die anerkennungsbedingt ein Interesse daran haben, dass sich die Einknfte ihrer Mitbrger immer weiter verringern, außerstande, stabile Institutionen zu etablieren, durch die ihre besonderen Interessen hinreichend geschtzt werden.808 Mehr noch: Hegel glaubt, dass Personen, welche die unter (i) analysierte Form von Anerkennung befrworten, einen Grund haben, bereits bestehende (arbeitsrechtliche oder sozialstaatliche) Einrichtungen, die dem Schutz der besonderen Interessen dienen, in Frage zu stellen. Wenn A’s gesellschaftliche Anerkennung tatschlich auf der Differenz zwischen seinen Einknften und denen der Anderen beruht, dann wird seine „Gesinnung […] diese Hrte des Geistes [sein], worin der Besondere ganz entassert nicht mehr gilt, – strictes Recht, der Wechsel muß honorirt werden, es mag zu Grunde gehen, was will“. Eine solche Haltung der „gnzlichen Unbarmherzigkeit“ wird nach Hegels Auffassung betriebliche Arrangements begnstigen, die frei von Sittlichkeit (bzw. Solidaritt)809 sind und zum Entstehen von prekren Lebensverhltnissen und gesellschaftlicher Exklusion beitragen. Unter derartigen Umstnden aber sind viele Brger ohne Aussicht auf brgerliche Ehre (in dem oben spezifizierten Sinne810). Wie bereits bemerkt, ist Hegel ferner der Ansicht, dass in einer Gesellschaft, die keine adquaten Vorkehrungen zur Sicherung der „besonderen Interessen“ der Menschen trifft, die Bereitschaft der Brger, einander als Personen zu respektieren, abnehmen wird.811 Folglich wrde eine Anerkennungspraxis der unter (i) analysierten Art nicht nur den institutionellen Schutz der „besonderen Interessen“, sondern auch die Entwicklung der „persçnlichen Einzelheit“ gefhrden. Aus diesen Grnden ist sie nach Maßgabe des Hegel’schen Begriffs der konkreten Freiheit problematisch.

5.3 Ergebnis Hegels Anerkennungstheorie der „Sucht des Gewinns“ und des „Luxus“ ist geeignet, einen Beitrag zur Erklrung der Entstehung von wirtschaftsliberalen Gesellschaften, also von sozialen Ordnungen, die im Wesentlichen 808 Hier sind allerdings eventuelle andere Interessen zu bercksichtigen, welche diesen Menschen Grnde geben, derartige Institutionen zu befrworten. 809 Siehe oben, Teil III, Kapitel 4.5.2.2. 810 Vgl. Teil III, Kapitel 4.1. 811 Siehe oben, Teil III, Kapitel 3.4.

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auf den Bestimmungen des abstrakten Rechts beruhen, zu leisten.812 Zudem erçffnet sie eine Perspektive fr eine sozialphilosophisch gehaltvolle Kritik an eben solchen Gesellschaften. Folglich ist Hegels Anerkennungstheorie der „Sucht des Gewinns“ und des „Luxus“ geeignet, sowohl eine sozialtheoretische (a) als auch eine sozialkritische (b) Funktion zu erfllen. (a) In sozialtheoretischer Hinsicht enthlt Hegels Anerkennungstheorie der „Sucht des Gewinns“ und des „Luxus“ die folgenden Argumente: Wenn die Angehçrigen einer Arbeitswelt im Sinne der oben genannten Faktoren F-2, F-3 und F-5 isolierte Individuen sind813, werden sie versuchen, aufgrund ihrer Einknfte „in [ihrem] Gewerbe“ als beruflich mçglichst erfolgreiche Brger gesellschaftlich wertgeschtzt zu werden. Und wenn eine solche („meritokratische“) Form von Wertschtzung in einem gesellschaftlich relevanten Umfang befrwortet wird, begnstigt sie Prozesse der Vermarktlichung sowie des Abbaus von sozialstaatlichen Leistungen. Auf diese Weise trgt sie zur Entstehung von Gesellschaften bei, die im Wesentlichen durch das abstrakte Recht strukturiert werden. Hegels Anerkennungstheorie der „Sucht des Gewinns“ und des „Luxus“ bietet also eine Erklrung der Entstehung wirtschaftsliberaler Gesellschaften, die von einer spezifischen Beschaffenheit von Arbeitswelten ausgeht. Dementsprechend wird die Frage, warum die Angehçrigen solcher Arbeitswelten isolierte Individuen im Sinne der obigen Faktoren F-2, F-3 und F-5 sind, von Hegel nicht zusammenhngend untersucht. Fr das Vorliegen dieser Faktoren bietet er also keine einheitliche (anerkennungstheoretische) Erklrung an. Der zuletzt genannte Umstand lsst sich wiederum wie folgt erklren: Offenbar glaubt Hegel, dass die fragliche Beschaffenheit von Arbeitswelten auf unterschiedliche Art und Weise zustande kommen kann. In diesem Zusammenhang kçnnen beispielsweise die folgenden Faktoren relevant sein: technologische Neuerungen, welche die Zusammenarbeit von Berufsttigen beeinflussen814 ; politische Ereignisse (wie Kriege) und Natur812 Angesichts der zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu beobachtenden Infragestellung der Institutionen der Wirtschaftspolizei und der Korporationen ist dieses Thema fr Hegel von aktuellem Interesse. 813 Vgl. Teil III, Kapitel 5.2. 814 Hegel selbst fhrt im vorliegenden Zusammenhang „das immer mehr mechanisch Werdende der Arbeit“ (GPhR, § 253, Anm.) an. Im Fall von zeitgençssischen Arbeitswelten ist unter diesem Gesichtspunkt z. B. der Einsatz von Computern zu thematisieren. Vgl. hierzu auch meine berlegungen in Teil III, Kapitel 5.4.1.

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katastrophen, die sich auf die Art und den Umfang der wirtschaftlichen Produktion auswirken; nderungen des Konsumverhaltens durch das InKontakt-Treten mit anderen Kulturen; die Entdeckung von Rohstoffen; sowie die wirtschaftliche Entwicklung im Ausland. Nun ist es nicht das Anliegen von Hegels Politischer und Sozialphilosophie, das Entstehen einer bestimmten wirtschaftsliberalen Gesellschaft zu erklren. Folglich ist es verstndlich, dass die Frage, warum die Angehçrigen von Arbeitswelten isolierte Individuen in dem Sinne von F-2, F-3 und F-5 sind, in den GPhR nicht nher untersucht wird. (b) Hegels Anerkennungstheorie der „Sucht des Gewinns“ und des „Luxus“ ermçglicht eine sozialphilosophisch gehaltvolle Kritik815 an wirtschaftsliberalen Gesellschaften. Grundlegend ist in diesem Zusammenhang die These, dass soziale Ordnungen, die (fast) ausschließlich durch das abstrakte Recht strukturiert sind, einen freiheitsgefhrdenden Charakter haben.816 Unter der Annahme, dass meritokratische Wertschtzung ein kausal relevanter Faktor bezglich der Entstehung derartiger Ordnungen ist, wrde eine durch Hegels Theorie der „Sucht des Gewinns“ und des „Luxus“ inspirierte Sozialkritik im Wesentlichen Folgendes geltend machen: Meritokratische Wertschtzung ist eine kompensatorische Form von Wertschtzung, die nur unter spezifischen sozialen Bedingungen auftritt und kein Bedrfnis erfllt, das ein Bestandteil einer unvernderlichen menschlichen Natur wre. Zudem hat meritokratische Wertschtzung problematische soziale Konsequenzen – trgt sie doch zur Entstehung von Gesellschaften bei, in denen die institutionelle Sicherung der besonderen Interessen der Brger und mithin817 die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Praxis personalen Respekts gefhrdet sind.

815 Aus Sicht der Kritischen Theorie ist die im Folgenden skizzierte Kritik sozialphilosophisch gehaltvoll, weil sie nicht nur – im Begriff der konkreten Freiheit – einen Maßstab spezifiziert, anhand dessen gesellschaftliche Ordnungen kritisiert werden kçnnen, sondern zugleich einen Faktor identifiziert, der hinsichtlich der Entstehung der im vorliegenden Zusammenhang kritisierten Ordnung kausal relevant ist. 816 Siehe oben, Teil III, Kapitel 3.4 und Kapitel 5.2, (iv). 817 Siehe oben, Teil III, Kapitel 3.4.

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5.4 Zurck zur Kritischen Theorie Hegels Anerkennungstheorie der „Sucht des Gewinns“ und des „Luxus“ ist vom Standpunkt der Kritischen Theorie eine vielversprechende Ressource. Im Verbund mit seiner Theorie des personalen Respekts stellt sie wesentliche Beitrge zur Erreichung sowohl der sozialtheoretischen als auch der sozialkritischen Ziele der Frankfurter Schule in Aussicht. Um welche Beitrge es sich hierbei handelt und warum das so ist, sind Fragen, die im Folgenden untersucht werden. Erinnern wir uns: Die aktuelle Kritische Theorie versucht die „herkçmmlich getrennten Ebenen der Moralphilosophie, der Gesellschaftstheorie und der politischen Analyse in einer kritischen Theorie des Kapitalismus zusammenzufhren“818. Nher stellt sie in Gestalt einer Theorie der Anerkennung819 sowohl eine Analyse des als auch eine Kritik am zeitgençssischen Kapitalismus in Aussicht. In diesem Zusammenhang macht die Kritische Theorie Folgendes geltend: die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Kapitalismus, einem „sozialdemokratischen“ und einem „neoliberalen“, sowie die Behauptung, dass neoliberale, nicht aber sozialdemokratisch verfasste gesellschaftliche Ordnungen vom Standpunkt der Anerkennungstheorie problematisch sind.820 Whrend sozialdemokratische Kapitalismusvarianten in Nordamerika und Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Ende der 1970er Jahre dominant gewesen seien, habe in diesen Gegenden seitdem eine „neoliberale Revolution“821 stattgefunden, die nach 1989 auf weitere Lnder bergegangen sei. Aus diesen Grnden ist der gegenwrtige Kapitalismus im Verstndnis der Kritischen Theorie ein neoliberaler. Legt man unsere obigen berlegungen zum Strukturwandel der Arbeitswelt zugrunde,822 dann hat diejenige Wirtschafts- und Sozialpolitik, die als Reaktion auf die Krise des Keynesianismus praktiziert worden ist, die folgenden Vernderungen begnstigt oder bewirkt: (i) eine Deregulierung bestehender Mrkte, (ii) eine Bildung neuer Mrkte, (iii) eine Flexibilisierung von Betriebsstrukturen und (iv) eine Verringerung sozialstaatlicher Ansprche und Leistungen. Demnach weisen neoliberale Kapitalismus818 Fraser & Honneth (2003), 10. 819 Das gilt fr die von A. Honneth vertretene Kritische Theorie. Siehe oben, Teil I, Kapitel 3. 820 Siehe oben, Teil I, Kapitel 3. 821 Hartmann & Honneth (2006), 44. 822 Vgl. Teil I, Kapitel 1.

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varianten (unbeschadet nationaler Differenzen und Eigentmlichkeiten) gegenber sozialdemokratischen Formen von Kapitalismus die folgenden Merkmale auf: vergleichsweise umfangreiche marktwirtschaftliche Arrangements und schwache sozialstaatliche Sicherungssysteme sowie relativ stark individualisierte Beschftigungs- und Einkommensverhltnisse. Fr die Kritische Theorie ergeben sich hieraus die folgenden beiden Aufgaben: 1. Sie muss untersuchen, ob die Entstehung von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnungen, welche die oben genannten Merkmale aufweisen, vollstndig oder zum Teil mit anerkennungstheoretischen Mitteln erklrt werden kann. Von dem Ergebnis dieser Untersuchung hngt es ab, ob „Anerkennung“ in sozialtheoretischer Hinsicht ein oder das Prinzip der Kritischen Theorie sein kann. 2. Sie muss mit anerkennungstheoretischen Mitteln verstndlich machen, warum der neoliberale Kapitalismus problematisch und wie er zu kritisieren ist. Von dem Ergebnis dieser Untersuchung hngt es ab, ob „Anerkennung“ in sozialkritischer Hinsicht ein oder das Prinzip der Kritischen Theorie sein kann. Soweit ich sehe, sind diese beiden Aufgaben noch nicht letztlich zufriedenstellend bearbeitet worden. Warum sich neoliberale Ordnungen etablieren konnten und wie sie sich etabliert haben, sind Fragen, die Axel Honneth nicht in seinen sozialtheoretischen Hauptschriften – etwa seinen Beitrgen zur Kontroverse mit Nancy Fraser –, sondern lediglich in einigen kleineren neueren Arbeiten untersucht: den Aufstzen „Organisierte Selbstverwirklichung“823 und „Paradoxes of Capitalism“824. In ihnen vertritt er die These, dass die – von ihm so genannte – neoliberale Restrukturierung des sozialdemokratischen Kapitalismus von normativen Ressourcen zehre, die sie zugleich in den Dienst von çkonomischen Interessen stelle und so entwerte.825 Aufgrund dieser Eigenschaft sei sie „[a] paradoxical development“, durch das „much of the normative progress of the last decades has been turned into its opposite“826. Wenngleich es sich hierbei um eine interessante Sichtweise handelt, ist festzustellen, dass sie vom Standpunkt der Honneth’schen Anerkennungstheorie ein basales Problem aufwirft. Wie erlutert, vertritt Honneth in seinen sozialphilo823 Honneth (2002). 824 Diese Arbeit hat Honneth gemeinsam mit M. Hartmann verfasst. Vgl. Hartmann & Honneth (2006). 825 Vgl. Hartmann & Honneth (2006), 41. 826 Vgl. Hartmann & Honneth (2006), 41.

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sophischen Werken die These, dass brgerlich-kapitalistische Gesellschaften als Institutionalisierungen von drei Arten intersubjektiver Anerkennung zu verstehen sind: Liebe, rechtlichem Respekt und sozialer Wertschtzung.827 Demgegenber geht er in „Organisierte Selbstverwirklichung“ und „Paradoxes of Capitalism“ davon aus, dass das normative Potenzial, von dem „die neoliberale Revolution“ zehre, aus vier Anerkennungsarten bestehe, nmlich Liebe, rechtlichem Respekt, sozialer Wertschtzung sowie „,individualism‘ as a leading personal idea“828. Da diese Erweiterung der Menge der fr brgerlich-kapitalistische Gesellschaften relevanten Anerkennungsarten nicht diskutiert wird, ist es aber unklar, welchen sozialontologischen Status der Begriff des Individualismus hat. Hinzu kommt, dass er inhaltlich nicht scharf bestimmt und sowohl im Sinne von „autonomy“ als auch im Sinne von „authenticity“ verwendet wird.829 Aus diesen Grnden wird in „Organisierte Selbstverwirklichung“ und „Paradoxes of Capitalism“ – unbeschadet vieler interessanter Beobachtungen – keine vom Standpunkt der aktuellen Kritischen Theorie letztlich zufriedenstellende Analyse des neoliberalen Kapitalismus entwickelt. Hieraus ergibt sich ein Folgeproblem. Da Honneth seine Kapitalismuskritik in seinen sozialphilosophischen Hauptschriften auf drei, in den Aufstzen „Organisierte Selbstverwirklichung“ und „Paradoxes of Capitalism“ aber auf vier Arten von Anerkennung sttzt830, stellt er einer Kritik am zeitgençssischen Neoliberalismus unterschiedliche Maßstbe zur Verfgung. Damit erzeugt er aber eine Unklarheit bezglich der Frage, wie die Kritische Theorie ihre sozialkritischen Ambitionen (am besten) erreichen kann. Angesichts dieser Sachlage ist es reizvoll zu untersuchen, welche Beitrge Hegels Politische und Sozialphilosophie zur Erreichung der sozialtheoretischen und sozialkritischen Ziele der Kritischen Theorie leisten kçnnen. Wie wir bereits gesehen haben, stellt Hegel mit dem Begriff des personalen Respekts eine Ressource zur Verfgung, mit der marktwirtschaftliche Arrangements im Allgemeinen als anerkennungstheoretisch gehaltvoll beschrieben und (prima facie) legitimiert werden kçnnen.831 Aus diesem Grunde sind seine Politische und Sozialphilosophie fr die aktuelle Kritische 827 828 829 830 831

Siehe oben, Teil I, Kapitel 3. Hartmann & Honneth (2006), 42. Vgl. Hartmann & Honneth (2006), 42. Diese Anerkennungsarten sind jeweils die weiter oben genannten. Vgl. Teil III, Kapitel 3.

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Theorie eine echte Bereicherung.832 Darber hinaus enthalten sie berlegungen, die im Rahmen einer anerkennungstheoretischen Analyse des und Kritik am zeitgençssischen Neoliberalismus fruchtbar gemacht werden kçnnen. Um welche berlegungen es sich hierbei handelt, soll nun angezeigt werden. 5.4.1 Sozialtheoretische Optionen In sozialtheoretischer Hinsicht sind die folgenden beiden Elemente von Hegels Politischer und Sozialphilosophie herauszustellen: (E-1) Hegels Politische und Sozialphilosophie entwickeln den Gedanken, dass die institutionelle Sicherung der „besonderen Interessen“ der Menschen normativ belastend sein kann. Wie gesehen, vertritt Hegel die These, dass sich die Mitglieder eines modernen Gemeinwesens nur dann als Personen verstehen und respektieren werden, wenn sie glauben, ihre „besonderen Interessen“833 (oder hinreichend viele derselben) befriedigen zu kçnnen. Ferner ist Hegel der Auffassung, dass diese Bedingung nicht durch freie, sondern nur durch staatlich (polizeilich) regulierte Mrkte und korporativ verfasste Arbeitswelten erfllt werden kann. Folglich sind derartige Maßnahmen und Einrichtungen seines Erachtens aus zwei Grnden zu befrworten: zum einen, weil sie der Erfllung der besonderen Interessen der Menschen dienen, und zum anderen, weil sie zu einer Stabilisierung der gesellschaftlichen Praxis personalen Respekts beitragen. Unbeschadet dieser Argumente war sich Hegel darber im Klaren, dass polizeiliche Regulierungen von Mrkten sowie korporative Strukturen von Produktionssektoren die gesellschaftliche Praxis personalen Respekts belasten kçnnen. Das ist bereits seiner Jenaer Philosophie des Geistes aus den Jahren 1805/06 zu entnehmen: „Die Staatsgewalt […] muß sorgen, daß jede Sphre erhalten werde, ins Mittel treten; Auswege, neue Canle des Verkauffs in andern Lndern aufsuchen – u.s.f. – die eine erschweren, insofern sie zu sehr zum Nachtheil der andern bergreifft – Freyheit des Gewerbes, das Eingreiffen muß so unscheinbar als mçglich seyn; denn es ist das Feld der Willkhr – Schein der Gewalt muß 832 Siehe oben, Teil III, Kapitel 3.5. 833 Vgl. zu Hegels Begriff der besonderen Interessen unsere berlegungen in Teil III, Kapitel 4.

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vermieden werden […] Das Abgabesystem muß sich allenthalben einnisten – unscheinbar vorkommen, wenig von Allem aber berall.“834

Und in den GPhR stellt Hegel hinsichtlich der Befugnisse der Polizei fest: „Es sind hier keine festen Bestimmungen zu geben und keine absoluten Grenzen zu ziehen. Alles ist hier persçnlich; das subjektive Meinen tritt ein, und der Geist der Verfassung, die Gefahr der Zeit haben die nheren Umstnde mitzuteilen. In Kriegszeiten ist z. B. manches sonst Unschdliche als schdlich anzusehen. Durch diese Seiten der Zuflligkeit und willkrlichen Persçnlichkeit erhlt die Polizei etwas Gehssiges. Sie kann bei sehr gebildeter Reflexion die Richtung nehmen, alles Mçgliche in ihren Bereich zu ziehen, denn in allem lßt sich eine Beziehung finden, durch die etwas schdlich werden kçnnte. Darin kann die Polizei sehr pedantisch zu Werke gehen und das gewçhnliche Leben der Individuen genieren. Aber welcher belstand dies auch ist, eine objektive Grenzlinie kann hier nicht gezogen werden.“835

Warum glaubt Hegel, dass es nicht mçglich sei, hinsichtlich einer staatlichen (polizeilichen) Reglementierung von Mrkten, die sich an der Erfllung der besonderen Interessen der Menschen orientiert, so etwas wie „feste Bestimmungen“, „absolute Grenzen“ oder „objektive Grenzlinien“ anzugeben? Offenbar deshalb, weil der Erfolg derartiger Maßnahmen auch von Faktoren abhngt, die weder von Brgern moderner Gemeinwesen noch von der çffentlichen Hand vorhersehbar sind. Wenn sich der wechselseitige Respekt von Brgern als Personen in marktwirtschaftlichen Arrangements manifestiert,836 dann mssen polizeiliche Maßnahmen in der Tat auf der Grundlage von bestenfalls ungefhr prognostizierbaren wirtschaftlichen Entwicklungen (etwa des Konsum- und Sparverhaltens der privaten Haushalte oder der auslndischen Nachfrage nach im Inland hergestellten Gtern) getroffen werden. Und selbstverstndlich hngt der Erfolg solcher Maßnahmen auch von politischen Gegebenheiten und Umweltfaktoren (etwa Kriegen und Naturkatastrophen) ab, die fr Staaten ebenfalls nur begrenzt vorhersehbar (und beeinflussbar) sind. Folglich ist der Bedarf an staatlichen (polizeilichen) Reglementierungen, die hinsichtlich der Erfllung der besonderen Interessen der Brger notwendig sind, variabel, und er hngt zum Teil von Faktoren und Entwicklungen ab, die fr staatliche policy makers nur sehr schwer vorhersehbar sind. 834 PhdG, 244 f. (meine Hervorhebung – SaB). 835 GPhR, § 234, Zs. 836 Warum Menschen, die einander als Personen respektieren und wirtschaftlich kooperieren mçchten, einen Grund haben, marktwirtschaftliche Beziehungen einzugehen, habe ich weiter oben gezeigt. Vgl. Teil III, Kapitel 3.3.

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Der Umfang der staatlichen Reglementierungen von Mrkten beeinflusst die personale Freiheit837 der Brger. Wie gesehen, besteht diese Art von Freiheit in der Berechtigung des Einzelnen, unabhngig von Anderen (seinen Mitbrgern, dem Gemeinwesen) zu entscheiden, welche Ziele er verfolgen mçchte.838 In diesem Sinne dient personaler Respekt dem Schutz der „Willkhr“ des Einzelnen. Nun sind zur Sicherung der besonderen Interessen der Menschen, wie soeben festgestellt, mehr oder weniger weitreichende staatliche Eingriffe in dem durch das abstrakte Recht strukturierten wirtschaftlichen Raum erforderlich. Folglich kann der institutionelle Schutz dieser Interessen die personale Freiheit der Brger mehr oder weniger stark einschrnken. Angesichts der Gefahr einer hierdurch verursachten normativen Belastung betont Hegel, dass die moderne, brgerliche Gesellschaft „das Feld der Willkhr“ sei und dass staatliche Beschrnkungen der „Freyheit des Gewerbes so unscheinbar als mçglich“ erfolgen sollten. (E-2) Die GPhR bieten eine anerkennungstheoretische Erklrung der Entstehung von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnungen, die durch vergleichsweise umfangreiche marktwirtschaftliche Arrangements und schwache sozialstaatliche Sicherungssysteme charakterisiert sind. Diese Erklrung nimmt ihren Ausgang in einer spezifischen Beschaffenheit von Arbeitswelten, und sie macht geltend, dass sich unter den fraglichen Umstnden eine Praxis meritokratischer Wertschtzung ausbildet, die ihrerseits Prozesse der Vermarktlichung sowie des Abbaus sozialstaatlicher Leistungen begnstigt. Wie gesehen, ist es vom Standpunkt dieser Theorie eine offene Frage, warum Arbeitswelten jene Beschaffenheit haben. Sind die Elemente E-1 und E-2 geeignet, die Analyse der „neoliberalen Revolution“839 zu bereichern? Und, wenn ja, warum? Im Rahmen der Beantwortung dieser Fragen ist zu untersuchen, ob die mit E-1 und E-2 genannten Faktoren hinsichtlich des bergangs vom sozialdemokratischen zum neoliberalen Kapitalismus kausal relevant waren und wie groß ihr Gewicht in diesem Zusammenhang gegebenenfalls war. Da eine solche Untersuchung sorgfltige empirische Studien erfordert, liegt sie außerhalb der Grenzen der vorliegenden sozialphilosophischen Abhandlung. Ich werde mich deshalb im Folgenden darauf konzentrieren (i) zu skizzieren, wie eine durch die GPhR inspirierte Erklrung des bergangs vom sozi837 Ich verwende diesen Ausdruck in dem oben explizierten Sinne. Vgl. Teil III, Kapitel 3.1. 838 Vgl. Teil III, Kapitel 3.3. 839 Hartmann & Honneth (2006), 44.

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aldemokratischen zum neoliberalen Kapitalismus aussieht; (ii) darzulegen, warum diese Erklrung der Kritischen Theorie eine attraktive Perspektive erçffnet; und (iii) zu zeigen, dass diese Erklrung in sozialtheoretischer Hinsicht eine ernstzunehmende Option ist. (i) Im Rahmen einer durch Hegels obige berlegungen inspirierten Erklrung des bergangs vom sozialdemokratischen zum neoliberalen Kapitalismus ist Folgendes zu zeigen: 1. Der sozialdemokratische Kapitalismus verstand sich als Versuch, nicht nur die personale Freiheit, sondern auch die besonderen Interessen (in Hegels Verstndnis dieser Termini) der Brger institutionell zu sichern. Sozialdemokratische kapitalistische Arbeitswelten waren keine (sozialtheoretisch signifikante) Quelle von meritokratischer Wertschtzung. 2. In den 1970er Jahren wurde der sozialdemokratische Kapitalismus aus finanziellen und normativen Grnden zunehmend in Frage gestellt. Die institutionelle Sicherung der besonderen Interessen der Menschen wurde als nicht erfolgreich und hinsichtlich der personalen Freiheit der Brger als belastend kritisiert. Unter Bezugnahme auf diese Argumente wurden Prozesse der Vermarktlichung und des Abbaus sozialstaatlicher Leistungen eingeleitet. 3. Aufgrund der Etablierung von flexiblen Betriebsstrukturen in vielen Branchen konnte der gesellschaftliche Bedarf an sozialer Wertschtzung, die auf berufsrelevante Qualifikationen und Kompetenzen bezogen ist, nicht lnger gedeckt werden. Ausgehend von den flexibel beschftigten neuen wirtschaftlichen ,Eliten‘ bildete sich eine andere, nmlich meritokratische Form von sozialer Wertschtzung (in dem oben explizierten Sinne)840 aus. 4. Der unter 3. genannte normative Regimewandel hat die unter 2. genannten Prozesse der Vermarktlichung und der Verringerung von sozialstaatlichen Leistungen verstrkt und so zur Entstehung von („neoliberalen“) gesellschaftlichen Ordnungen beigetragen, welche die eingangs genannten Merkmale aufweisen.841 (ii) Vom Standpunkt der Kritischen Theorie ist eine solche Erklrung der „neoliberalen Revolution“ aus verschiedenen Grnden attraktiv. In sozi-

840 Vgl. Teil I, Kapitel 6.2 und Teil III, Kapitel 5.2. 841 Siehe oben, Teil I, Kapitel 1.

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altheoretischer Hinsicht842 sind die folgenden beiden Punkte herauszustellen: 1. Sie ist in anerkennungstheoretischer Hinsicht relativ sparsam und mit den Grundannahmen der aktuellen Kritischen Theorie kompatibel. In der Tat sttzt sie sich auf lediglich zwei Anerkennungskonzepte („personaler Respekt“ und „soziale Wertschtzung“843), die betrchtliche Gemeinsamkeiten mit Honneths Begriffen des rechtlichen Respekts und der sozialen Wertschtzung aufweisen und deshalb relativ zwanglos in die von ihm ausgearbeitete Theorie integriert werden kçnnen. Folglich bedarf eine durch die GPhR inspirierte Analyse der Entstehung neoliberaler Ordnungen keiner Erweiterung der Menge der erklrungsrelevanten Anerkennungsrelationen um den Begriff des Individualismus.844 2. Sie bietet eine anerkennungstheoretische Erklrung von Verhaltensweisen, die allem Anschein nach charakteristische Elemente „des neuen Geistes des Kapitalismus“ sind. Anders als die Gesellschaftstheorien von Nancy Fraser und Jrgen Habermas muss sie nicht unterstellen, dass Menschen als Mitglieder moderner Volkswirtschaften so etwas wie einen nicht-sttigbaren Bereicherungswillen haben.845 Vielmehr macht sie verstndlich, warum Menschen unter bestimmten sozialen Umstnden aus Anerkennungsgrnden nach mçglichst hohen eigenen Einknften und einem mçglichst hohen eigenen Konsumniveau streben. Damit stellt sie wesentliche Beitrge zu einer anerkennungstheoretischen Analyse zentraler Bestandteile der „Gesellschaftsstruktur des heutigen Kapitalismus“846 in Aussicht.847 (iii) Wie plausibel aber ist die unter (i) skizzierte Erklrung der Entstehung neoliberaler Gesellschaften? Wie bemerkt, kann diese Frage nur auf der Grundlage eingehender empirischer Untersuchungen beantwortet werden. Aus diesem Grunde liegt ihre Bearbeitung außerhalb der Grenzen der 842 Die Perspektive, welche diese Erklrung der Kritischen Theorie in sozialkritischer Hinsicht erçffnet, werde ich weiter unten bestimmen. Vgl. Teil III, Kapitel 5.4.2. 843 Im Hegel’schen Sinne. Siehe oben, Teil III, Kapitel 4. 844 Auf einer solchen Erweiterung beruhen ja, wie erlutert, die berlegungen in Hartmann & Honneth (2006). 845 Vgl. TkH, Bd. 2, 476. 846 Fraser (2003), 242. 847 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die in Teil I, Kapitel 7.1 genannten Argumente.

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vorliegenden sozialphilosophischen Abhandlung. Gleichwohl werde ich im Folgenden einige Fakten anfhren, die zeigen, dass jene Erklrung eine sozialwissenschaftlich ernstzunehmende Theorie ist, die nhere empirische Untersuchungen rechtfertigt. Hierbei werde ich mich an den unter (i) genannten vier Punkten orientieren. Ad 1. Unbeschadet erheblicher nationaler Differenzen lsst sich der sozialdemokratische Kapitalismus848 als Versuch beschreiben, nicht nur die personale Freiheit, sondern auch die besonderen Interessen (in Hegels Verstndnis dieser Termini) der Brger institutionell zu schtzen. In der Tat war es das zentrale Anliegen des sozialdemokratischen Kapitalismus, durch makroçkonomische Maßnahmen, betriebliche Regulierungen und kollektive Sozialversicherungssysteme einen gesellschaftlichen Raum zu etablieren, in dem die Menschen durch den Erwerb und die Anwendung von produktionsrelevanten Qualifikationen sowie durch eine Beteiligung an jenen Sozialversicherungssystemen ihren Lebensunterhalt (gemeinsam) sichern. In diesem Zusammenhang hatten die antizyklische Haushaltspolitik und (direkte oder indirekte) Kontrolle von Schlsselindustrien, die fr den sozialdemokratischen Kapitalismus charakteristisch waren, eine hnliche Funktion wie die „Policey“ und die Korporationen im Hegel’schen System.849 In anerkennungstheoretischer Hinsicht ist herauszustellen, dass sozialdemokratische kapitalistische Arbeitswelten durch eine erhebliche Kontinuitt850 ausgezeichnet waren, und zwar mit Bezug auf (i) den Betrieb, in dem man arbeitet; (ii) die Qualifikationen, die beruflich relevant sind; sowie (iii) die Personen, mit denen man zusammenarbeitet.851 Aufgrund dieser Eigenschaften boten solche Arbeitswelten einen relativ stabilen Kontext fr die Anerkennung des Einzelnen als Inhaber spezifischer berufsrelevanter Qualifikationen und Erbringer gesellschaftlich ntzlicher 848 Ich verwende diesen Ausdruck nicht im parteipolitischen Sinne, sondern als Epochenbegriff. Er entspricht dem, was auch „embedded liberalism“ und „gemischte Wirtschaft“ genannt wird. Vgl. Harvey (2007), 19 und Yergin & Stanislaw (2001), 22. 849 Vgl. hinsichtlich meiner Beschreibung des sozialdemokratischen Kapitalismus sowie einiger spezifischer Differenzen zwischen sozialdemokratisch verfassten Gesellschaften Yergin & Stanislaw (2001), 22 – 58. 850 Vgl. hinsichtlich der Relevanz der im Folgenden genannten Kontinuitten unsere berlegungen in Teil I, Kapitel 1. 851 Damit ermçglichten sozialdemokratische kapitalistische Arbeitswelten ferner eine erhebliche Kontinuitt mit Bezug auf (iv) den Ort, an dem man lebt.

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Leistungen. Es gab, um eine Formulierung Richard Sennetts zu verwenden, so etwas wie „Zeugen“852 der eigenen beruflichen Arbeit, und diese hatten, mit Hegel gesprochen, die Fhigkeit, die fraglichen Ttigkeiten zu „beurteilen“853. Auch hinsichtlich der Befriedigung des Bedrfnisses, anderen Brgern als Inhaber bestimmter Interessen, Neigungen, Bedrfnisse etc. gleich zu sein und von ihnen auf dieser Grundlage als ,einer von uns‘ anerkannt zu werden, boten sozialdemokratische kapitalistische Arbeitswelten relativ gnstige Bedingungen. (In institutioneller Hinsicht ist hier an den großen Einfluss, den berufsspezifische Interessenvertretungen (wie Gewerkschaften) auf die Beschaffenheit sozialdemokratischer kapitalistischer Arbeitswelten hatten, zu erinnern.)854 In der Tat gibt es starke Indizien fr die Annahme, dass derartige Arbeitswelten Kontexte von Wertschtzung waren, die sich nicht nur auf berufsspezifische Qualifikationen und die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts855, sondern beispielsweise auch auf politische Interessen und konsumtive Lebensstile bezog.856 Allerdings war die Sicherung der besonderen Interessen im sozialdemokratischen Kapitalismus nur teilweise erfolgreich. Einschrnkend sind im vorliegenden Zusammenhang vor allem zwei Punkte herauszustellen: Erstens standen sozialdemokratische kapitalistische Arbeitswelten Frauen nicht in derselben Weise offen wie Mnnern. Kulturelle Annahmen bezglich geschlechtsspezifischer sozialer Rollen (und einige ihnen gemße rechtliche Bestimmungen857) bewirkten vielmehr, dass Frauen weitaus geringere Aussichten auf die Erfllung dessen hatten, was Hegel „die besonderen Interessen“ der Mitglieder moderner Gemeinwesen nennt. Zweitens beinhaltete der sozialdemokratische Kapitalismus industrielle Arbeiten, die nach tayloristischen Prinzipien strukturiert waren (bei852 Sennett (2000), 23. 853 PhR. 1821/22, § 253. 854 Das gilt auch fr die USA. Vgl. die in Reich (2008) genannten diesbezglichen Daten. 855 Siehe oben, Teil III, Kapitel 4. 856 Exemplarisch sei hier auf Reich (2008), 60 verwiesen. 857 In der Bundesrepublik Deutschland stand bis 1957 „[d]em Manne […] die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu“, und er war (unter bestimmten Umstnden) berechtigt, von seiner Frau eingegangene Arbeitsvertrge zu kndigen. Vgl. §§ 1354, 1358 des Brgerlichen Gesetzbuches (BGB) in der damaligen Fassung. Gemß dem 1958 neu gefassten § 1356 BGB waren Frauen „berechtigt, erwerbsttig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist“. Diese Bestimmung war bis 1977 in Kraft.

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spielsweise in der Automobilbranche). Wie ich selbst deutlich gemacht habe, ist es problematisch, derartige Arbeiten als Aktualisierungen von nicht-trivialen Fhigkeiten anzusehen.858 Folglich boten sozialdemokratische kapitalistische Arbeitswelten einem nicht unerheblichen Teil der in ihnen Beschftigten (so gut wie) keine Mçglichkeiten, aufgrund von fachlichen Qualifikationen gesellschaftliche Wertschtzung zu erhalten. Angesichts dieses zweiten Punktes stellt sich folgende Frage: Wenn Arbeiter in tayloristisch-fordistischen Produktionszweigen keine Aussicht auf Wertschtzung aufgrund von fachlichen Qualifikationen hatten, htten sie dann nicht – gemß der Hegel’schen Kompensationsthese859 – versuchen mssen, im Rahmen einer meritokratischen Konzeption gesellschaftlicher Wertschtzung als beruflich (mçglichst) erfolgreiche Individuen Geltung zu finden? Und folgt nicht aus dem Umstand, dass Letzteres nicht der Fall gewesen ist, dass jene Kompensationsthese nicht zu verteidigen ist? Wer so fragt, bersieht, dass Hegel das Vorliegen der (in Teil III, Kapitel 5.2 explizierten) Elemente B-3, F-2, F-3, F-4 und F-5 hinsichtlich des Auftretens der oben genannten Kompensation als notwendig erachtet und dass im Fall von Arbeitern, die whrend des sozialdemokratischen Kapitalismus in Industriebetrieben beschftigt waren, die Annahmen F-2, F-3 und F-4 nicht erfllt waren. (Gerade hierin unterscheiden sich diese Personen von den weiter unten behandelten ,neoliberalen Eliten‘.) Folglich waren sozialdemokratische kapitalistische Arbeitswelten keine (sozialtheoretisch signifikante) Quelle von meritokratischer Wertschtzung.860 Ad 2. In den 1970er Jahren stiegen die Kosten der institutionellen Sicherung der besonderen Interessen der Menschen stark an, und es erschien fraglich, ob der sozialdemokratische Kapitalismus in der Lage sein wrde, diese Interessen auf der Grundlage der von ihm etablierten Institutionen hinreichend zu schtzen. Wie bereits bemerkt, waren zu dieser Zeit sowohl ein Rckgang des wirtschaftlichen Wachstums – zum Teil sogar ein negatives Wachstum – als auch ein starker Anstieg der Inflationsrate zu verzeichnen.861 Unter diesen Umstnden konnte der sozialdemokratische Kapitalismus eines seiner zentralen Ziele, die Sicherung von Vollbeschftigung bei moderater

858 Vgl. Teil I, Kapitel 6.1. 859 Siehe oben, Teil III, Kapitel 5.2. 860 Laut R. Reich hatten fhrende Manager im sozialdemokratischen Kapitalismus eine „staatsmnnische Rolle“ inne. Vgl. Reich (2008), 17 und 64 – 67 (sowie die dort genannten Quellen). 861 Vgl. Teil I, Kapitel 1.

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Inflation, nicht erreichen.862 Seine Bemhungen, dafr Sorge zu tragen, dass die Menschen durch den Erwerb und die Anwendung von produktionsrelevanten Qualifikationen sowie eine Beteiligung an kollektiven Sozialversicherungssystemen ihren Lebensunterhalt (gemeinsam) sichern, wurden zunehmend als nicht zielfhrend angesehen und kritisiert. Darber hinaus wurde der sozialdemokratische Kapitalismus im Verlauf der 1970er Jahre zunehmend als normative Belastung empfunden und kritisiert. In diesem Zusammenhang wurde die Einschtzung geußert, dass die staatliche Reglementierung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens das, was man mit Hegel die personale Freiheit der Menschen nennen kann, zu stark einschrnke. Diese Kritik hatte sowohl auf Seiten der politischen Rechten als auch auf Seiten der politischen Linken Befrworter. Aus wirtschaftsliberaler Sicht waren die zur Sicherung der besonderen Interessen in Kraft gesetzten Reglementierungen eine (nicht gerechtfertigte) Beschrnkung der Privatautonomie, whrend sie vom Standpunkt einiger kritischer Gesellschaftstheoretiker problematisch waren, weil sie die Empfnger sozialstaatlicher Leistungen zu Klienten einer anonymen Administration machten.863 Beiden Personengruppen galt der sozialdemokratische Kapitalismus also als freiheitsgefhrdend. Vom Standpunkt einer durch die GPhR inspirierten Anerkennungstheorie ist in sozialtheoretischer Hinsicht zu fragen, ob die „neoliberale Revolution“ auch deshalb begann, weil der sozialdemokratische Kapitalismus die personale Freiheit der Menschen in den 1970er Jahren zunehmend belastet und der neoliberale Kapitalismus in dieser Hinsicht eine Entlastung in Aussicht gestellt hat. Die Beantwortung dieser Frage ist hinsichtlich der Relevanz des oben genannten Elements E-1 im vorliegenden Zusammenhang entscheidend. Fllt sie positiv aus, dann ist E-1 hinsichtlich der Analyse des bergangs vom sozialdemokratischen zum neoliberalen Kapitalismus relevant; fllt sie hingegen negativ aus, dann kann E-1 diese Analyse nicht bereichern. Wie bereits mehrfach bemerkt, kann die in Rede stehende Frage hier nicht geklrt werden. Allerdings gibt es Indizien dafr, dass E-1 hinsichtlich der Analyse des bergangs vom sozialdemokratischen zum neoliberalen Kapitalismus relevant sein kçnnte. Die Verringerung von marktwirt862 Diese wirtschaftliche Entwicklung konterkarierte die – in der sogenannten Phillips-Kurve konzeptualisierte – Annahme, dass es fr die staatliche Wirtschaftspolitik so etwas wie die Mçglichkeit eines trade-off zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation gebe. 863 Siehe oben, Teil I, Kapitel 4.2.

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schaftlichen Regulationen, die den Beginn der „neoliberalen Revolution“ markierte und sich beispielsweise in der Fokussierung der Wirtschaftspolitik auf die Erzielung von Geldwertstabilitt (und nicht auf Erzielung von Vollbeschftigung)864 ußerte, wurde nmlich von demokratisch gewhlten Regierungen durchgefhrt, die sich explizit fr eine Entlastung dessen einsetzten, was man mit Hegel die gesellschaftliche Praxis personalen Respekts nennen kann. Um Missverstndnissen vorzubeugen, sei Folgendes betont: 1. Der Standpunkt, dass E-1 hinsichtlich der Analyse des bergangs vom sozialdemokratischen zum neoliberalen Kapitalismus relevant ist, ist vereinbar mit der Behauptung, dass es im vorliegenden Zusammenhang andere kausal relevante Faktoren gegeben hat. Hier wre insbesondere zu untersuchen, welche çkonomischen Interessen die Eigentmer von Kapital hatten und mittels einer neoliberalen Politik erfllen konnten.865 Eine sozialtheoretische Bercksichtigung von E-1 im vorliegenden Zusammenhang schließt also eine Anerkennung der Relevanz von çkonomischen Interessen hinsichtlich des bergangs vom sozialdemokratischen zum neoliberalen Kapitalismus nicht aus. 2. Der Standpunkt, dass E-1 hinsichtlich der Analyse des bergangs vom sozialdemokratischen zum neoliberalen Kapitalismus relevant ist, ist vereinbar mit einer sozialphilosophisch gehaltvollen Kritik am neoliberalen Kapitalismus. Um die sozialkritischen Ziele der Frankfurter Schule zu erreichen, ist es also nicht notwendig, die sozialtheoretische Relevanz von E-1 im vorliegenden Zusammenhang zu bestreiten. Hierauf werde ich weiter unten zurckkommen.866 Ad 3. Begnstigt durch die oben genannte Verringerung marktwirtschaftlicher Regulationen sowie durch neue Technologien der Datenverarbeitung und Kommunikation, entstanden in den 1980er und 1990er Jahren flexible Arbeits- und Lebensverhltnisse, die eine vergleichsweise sehr geringe Kontinuitt aufwiesen, und zwar mit Bezug auf (i) den Betrieb,

864 Eine solche Politik verfolgte die US-Notenbank seit Oktober 1979, als Paul Volcker ihren Vorsitz bernahm. 865 Es ist bekannt, dass neoliberale Parteien und Politiker von vielen Kapitaleigentmern finanziell untersttzt worden sind. Das gilt insbesondere fr die USA. Vgl. Harvey (2007), 52 – 82. 866 Vgl. Teil III, Kapitel 5.4.2.

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in dem man arbeitet; (ii) die Qualifikationen, die beruflich relevant sind867; (iii) die Personen, mit denen man zusammenarbeitet; sowie (iv) die Orte, an denen man lebt. Selbstverstndlich traten derartige Arbeitsverhltnisse nicht einfach an die Stelle von Normalarbeitsverhltnissen, wie sie fr den sozialdemokratischen Kapitalismus charakteristisch waren.868 Vielmehr waren es bestimmte volkswirtschaftliche Segmente (wie die Computer-, Personalberatungs- und Finanzdienstleistungsbranche), in denen Unternehmen mit individualisierten Beschftigungs- und Einkommensstrukturen, einer starken Mitarbeiterfluktuation und einer Favorisierung von Arbeiten in projektbezogenen Teams entstanden. Allerdings ist die gesamtwirtschaftliche Bedeutung dieser Segmente ausgesprochen groß (wie etwa die Auswirkungen der gegenwrtigen Finanzkrise zeigen). Wie eingangs herausgearbeitet worden ist, sind betriebliche Strukturen, die in den obigen vier Punkten eine nur geringe Kontinuitt aufweisen, in anerkennungstheoretischer Hinsicht defizitr.869 Offenbar ist es sehr schwierig, in einem Umfeld, das personell und inhaltlich starken und hufigen nderungen ausgesetzt ist, von Kollegen aufgrund von berufsrelevanten Qualifikationen und Kompetenzen wertgeschtzt zu werden. Hinzu kommt, dass diejenigen Branchen, in denen in den 1980er und 1990er Jahren diskontinuierliche Arbeitsverhltnisse entstanden, keinen etablierten gesellschaftlichen Status hatten, sondern Elemente einer „Neuen Wirtschaft“ bildeten. Folglich gab es fr die in ihnen Beschftigten keine Mçglichkeit, auf der Grundlage von so etwas wie „Titeln“870 durch die Gesellschaft als erfolgreiche Berufsttige Wertschtzung zu erhalten. Die im Folgenden wiedergegebene, durchaus amsante Betrachtung Robert B. Reichs ist im vorliegenden Zusammenhang erhellend: „Wie beschreibt ein Symbol-Analytiker denn nun selbst seine Ttigkeit? Das fllt ihm keineswegs leicht. Weil sein Status, Einfluß und Einkommen wenig mit einem offiziellen Rang oder Titel zu tun haben, mag seine Ttigkeit Leuten mysteriçs erscheinen, die außerhalb des Unternehmensnetzwerks arbeiten und mit der tatschlichen Funktion des Symbol-Analytikers innerhalb des Netzwerks nicht vertraut sind. Und weil die Symbol-Analyse eher etwas 867 Angesichts der raschen Entwertung von berufsrelevanten Qualifikationen sind viele Unternehmen dazu bergegangen, ihre Mitarbeiter auf der Grundlage von deren potenziellen Qualifikationen zu rekrutieren. Vgl. Sennett (2006), 115 – 122. 868 Dies wird auch von R. Sennett betont. Vgl. Sennett (2005), 13. 869 Vgl. Teil I, Kapitel 1 (einschließlich der dort genannten Quellen). 870 Es sei hier an die anerkennungstheoretische Relevanz von Titeln im Kontext der Hegel’schen Theorie der Erfllung der besonderen Interessen erinnert. Vgl. Teil III, Kapitel 4.5.2.1.

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mit Denk- und Kommunikationsprozessen als mit eigentlicher Produktion zu tun hat, mag es etwas schwerfallen, die Ttigkeit mit einfachen Worten zu umschreiben. Manche Symbol-Analytiker haben deshalb Zuflucht zu Titeln genommen, die zwar auch nicht gerade zur Aufklrung beitragen, sich aber wenigstens so anhçren, als verliehen sie dem Trger Unabhngigkeit und Autoritt. […] Eine kleine Kostprobe gefllig? Man nehme einen beliebigen Begriff aus der ersten Reihe, setze ihn mit einem Begriff aus der zweiten Reihe zusammen, fge noch einen Begriff aus der dritten Reihe hinzu, und schon hat man eine Berufsbezeichnung, hinter der wahrscheinlich (aber nicht zwingend) ein Symbol-Analytiker stecken wird: KommunikationsSystemFinanzKreativProjektBetriebsRessourcenProdukt-

-management-planungs-verfahrens-entwicklungs-strategie-politik-anwendungs-forschungs-

-ingenieur -direktor -designer -koordinator -berater -manager -planer -leiter“871

Zugleich gibt es deutliche Hinweise dafr, dass sich in den oben genannten Segmenten der „Neuen Wirtschaft“ eine meritokratische Konzeption sozialer Wertschtzung (in dem oben analysierten Sinne)872 ausgebildet hat. In diesem Zusammenhang sind beispielsweise die folgenden Aspekte des Verhaltens der in diesen Bereichen Beschftigten aufschlussreich: das Streben nach Einknften, die nach den Maßstben des sozialdemokratischen Kapitalismus utopisch sind873 ; die mediale Prsentation von Einknften und Prmien, die offenbar als entscheidende Indikatoren beruflichen Erfolgs

871 Reich (2002), 155 f. 872 Vgl. Teil I, Kapitel 6.2. 873 Angesichts dieses Novums scheint mir die – von D. Harvey unter Berufung auf G. Dumnil und D. Lvy getroffene – Behauptung problematisch zu sein, „dass die neoliberale Wende von Anfang an als ein Projekt angelegt war, das die alte Klassenmacht wiederherstellen sollte“ (Harvey (2007), 26; meine Hervorhebung – SaB). Das, was im Zuge der neoliberalen Wende entstanden ist, sind (çkonomische) Machtverhltnisse, die dem sozialdemokratischen Kapitalismus fremd waren. Warum sie sich etablieren konnten, gilt es zu erklren. Zu einer solchen Erklrung mag die Bercksichtigung der Ausbildung einer meritokratischen Form von sozialer Wertschtzung einen (wichtigen) Beitrag leisten. Ob dies so ist oder nicht, lsst sich, wie bemerkt, nur auf der Grundlage eingehender empirischer Untersuchungen beurteilen.

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angesehen werden; sowie die Pflege und mediale Prsentation von sehr kostenintensiven konsumtiven Lebensstilen874. Treffen diese berlegungen zu, dann sind folgende Vermutungen gerechtfertigt: Fr die Beschftigung in den oben genannten Branchen war es wichtig, als beruflich erfolgreiche Individuen gesellschaftlich wertgeschtzt zu werden. Aufgrund der flexiblen Strukturen sowie der Neuartigkeit derjenigen Betriebe und Branchen, in denen sie ttig waren, wurden sie weder aufgrund von berufsrelevanten Qualifikationen noch aufgrund ihrer Zugehçrigkeit zu bestimmten Berufsgruppen in einem hinreichenden Maße gesellschaftlich wertgeschtzt. Zugleich glaubten sie, durch die Erzielung und Dokumentation von mçglichst hohen eigenen Einknften soziale Wertschtzung als Berufsttige erhalten zu kçnnen. Folglich versuchten sie aus Wertschtzungsgrnden, mçglichst hohe eigene Einknfte und ein mçglichst hohes eigenes Konsumniveau zu erzielen. Unter dieser Perspektive stellt sich ihre Befrwortung einer meritokratischen Konzeption sozialer Wertschtzung als eine kompensatorische Ttigkeit dar. Ad 4. Es gibt gute Grnde fr die Annahme, dass die in der „Neuen Wirtschaft“ entstandene Konzeption meritokratischer Wertschtzung gesellschaftlich einflussreich geworden ist. Hierfr spricht, dass sich unter dieser Annahme beispielsweise die in „neoliberalen“ Gesellschaften zu beobachtenden Prozesse der (innerbetrieblichen) Vermarktlichung auch in Branchen der „Alten konomie“ sowie des (weiteren) Abbaus von Sozialleistungen schlssig erklren lassen. Wenn sich berufliche Erfolge und gesellschaftliche Wertschtzung an der Hçhe (bzw. der Differenz) von marktwirtschaftlich festgelegten Einknften bemessen, ist es schon aus Grnden des Erkenntnisgewinns zu befrworten, dass betriebliche Strukturen so stark wie mçglich vermarktlicht werden. Innerbetriebliche Kompetition um Produktionslinien (die etwa in der Automobilindustrie blich geworden ist) und umsatzabhngige Prmien- und Befçrderungssysteme (die mittlerweile in vielen Branchen etabliert sind) sind Beispiele einer solchen Vermarktlichung. Ferner ist es psychologisch ohne Weiteres verstndlich, dass ein betriebliches und gesellschaftliches Umfeld, in dem Mitarbeiter und Brger einander aus Wertschtzungsgrnden als Konkurrenten begegnen, den Abbau von (solidarischen) Sozialversicherungssystemen stark begnstigt. Offenbar kann also ein Reihe von institutio874 In diesen Zusammenhang fllt auch eine – gegenber dem sozialdemokratischen Kapitalismus – andere Bedeutung von sogenannten Markenprodukten. Vgl. hierzu Klein (2002).

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nellen Vernderungen, die fr den bergang vom sozialdemokratischen zum neoliberalen Kapitalismus charakteristisch sind875, mit dem gesellschaftlichen Einfluss von meritokratischer Wertschtzung erklrt werden. Sollte sich dieser Zusammenhang sozialwissenschaftlich absichern lassen, wre dies ein Beleg fr die These, dass das oben genannte Theorieelement E-2 im Rahmen einer (sozialtheoretischen) Analyse der „neoliberalen Revolution“ relevant ist. Als Ergebnis der im vorliegenden Kapitel (5.4.1) gefhrten Untersuchung ist Folgendes festzuhalten: Es gibt gute Grnde fr die Annahme, dass die Theorieelemente E-1 und E-2, die durch unsere Rekonstruktion der entsprechenden Teile von Hegels Politischer und Sozialphilosophie gewonnen wurden, im Rahmen einer Analyse des bergangs vom sozialdemokratischen zum neoliberalen Kapitalismus relevant sind. Offenbar waren die mit E-1 und E-2 spezifizierten Faktoren hinsichtlich der Entstehung neoliberaler Gesellschaften kausal relevant und hatten in diesem Zusammenhang ein erhebliches Gewicht. Selbstverstndlich wird damit nicht behauptet, dass jener bergang allein oder vollstndig mit diesen Faktoren erklrt werden kann.876 Treffen unsere obigen berlegungen zu, dann ist aber zu vermuten, dass eine sozialtheoretische Erklrung dieses Vorgangs, welche die Elemente E-1 und E-2 nicht bercksichtigt, inadquat ist. Folglich wre „Anerkennung“ in sozialtheoretischer Hinsicht ein geeignetes Prinzip der aktuellen Kritischen Theorie. 5.4.2 Sozialkritische Perspektiven Welche sozialkritischen Perspektiven erçffnen Hegels Politische und Sozialphilosophie der aktuellen Kritischen Theorie? Wie mir scheint, stellen die GPhR fr eine sozialphilosophisch gehaltvolle Kritik am zeitgençssischen Neoliberalismus, wie sie die Kritische Theorie anstrebt, wertvolle berlegungen zur Verfgung. Ich werde im Folgenden zunchst rekapitulieren, warum Hegels Politische und Sozialphilosophie keine geeignete Grundlage fr eine antimarktwirtschaftliche Sozialkritik bilden (i) und nicht auf ein Pldoyer fr eine Reaktualisierung des sozialdemokratischen Kapitalismus hinauslaufen (ii). Im Anschluss daran werde ich einige durch die GPhR inspirierte Argumente und Argumentationsstrategien identifizieren, mit denen der zeitgençssische Neoliberalismus auf eine vom 875 Siehe oben, Teil I, Kapitel 1. 876 Diese Frage muss im vorliegenden Zusammenhang offengelassen werden.

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Standpunkt der Kritischen Theorie attraktive Weise kritisiert werden kann (iii). (i) Wie gesehen, beansprucht die Kritische Theorie eine Kritik am zeitgençssischen Neoliberalismus zu begrnden, die ihren Maßstab in Anerkennungsrelationen hat, die in brgerlich-kapitalistischen Gesellschaften tatschlich gegeben sind und von den Mitgliedern dieser Gesellschaften als wichtig erachtet werden.877 Angesichts dieses methodischen Anspruchs wird die Kritische Theorie den Neoliberalismus nicht mit dem Argument kritisieren kçnnen, dass marktwirtschaftliche Arrangements im Allgemeinen aus anerkennungstheoretischen Grnden problematisch seien. Denn es hat sich ja ergeben, dass Mrkte als Institutionalisierungen von personalem Respekt verstanden und legitimiert werden kçnnen und dass diese Form von Anerkennung einen Bestandteil der normativen Infrastruktur brgerlich-kapitalistischer Gesellschaften bildet.878 Folglich muss die Kritische Theorie den Neoliberalismus kritisieren, ohne eine antimarktwirtschaftliche Position zu beziehen.879 (ii) Hegels Politische und Sozialphilosophie laufen nicht auf ein Pldoyer fr eine Reaktualisierung des sozialdemokratischen Kapitalismus hinaus. Zwar ist aus Hegel’scher Perspektive positiv herauszustellen, dass der sozialdemokratische Kapitalismus institutionelle Vorkehrungen zur Sicherung nicht nur der personalen Freiheit, sondern auch der besonderen Interessen der Brger getroffen hat. Wie gesehen, war es in der Tat eines seiner zentralen Anliegen, durch makroçkonomische Maßnahmen, betriebliche Regulierungen und kollektive Sozialversicherungssysteme einen gesellschaftlichen Raum zu etablieren, in dem die Menschen durch den Erwerb und die Anwendung von produktionsrelevanten Qualifikationen sowie eine Beteiligung an jenen Sozialversicherungssystemen ihren Lebensunterhalt (gemeinsam) sichern. Allerdings ist vom Standpunkt der GPhR im vorliegenden Zusammenhang zumindest zweierlei zu bemngeln: Zum einen beinhaltete der sozialdemokratische Kapitalismus industrielle Arbeiten, die nach tayloristischen Prinzipien strukturiert waren und den Beschftigten (so gut wie) keine Mçglichkeiten boten, auf der Grundlage spezifischer Fhigkeiten („Geschicklichkeiten“) gesellschaftlich wertge877 Siehe oben, Teil I, Kapitel 3. 878 Siehe oben, Teil III, Kapitel 3. 879 Ich lasse hier die Mçglichkeit, dass verschiedene gleichermaßen berechtigte Anerkennungsarten inkompatible Erfllungsbedingungen haben, außer Acht.

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schtzt zu werden.880 Zum anderen beschrnkte er aufgrund von kulturellen und rechtlichen Bestimmungen, die nicht aus den Anerkennungsprinzipien des personalen Respekts und der sozialen Wertschtzung881 folgen, fr Frauen den Zugang zur Arbeitswelt und damit die Mçglichkeit der Erfllung dessen, was fr Hegel die besonderen Interessen der Brger moderner Gemeinwesen sind.882 Aus diesen Grnden lassen sich Hegels Politische und Sozialphilosophie nicht als Pldoyer fr eine Reaktualisierung des sozialdemokratischen Kapitalismus verstehen. (iii) Eine durch die GPhR inspirierte Kritik am zeitgençssischen Neoliberalismus nimmt ihren Ausgang in der Annahme, dass neoliberale Gesellschaften keine adquaten institutionellen Vorkehrungen zur Sicherung der besonderen Interessen der Menschen treffen, sondern sich einseitig auf den privatrechtlichen Schutz der personalen Freiheit konzentrieren. Sollte sich diese Annahme empirisch besttigen lassen,883 wird eine an Hegel anschließende Sozialkritik die Vermutung ußern, dass neoliberale institutionelle Arrangements nicht nur bezglich der Erfllung der besonderen Interessen der Menschen, sondern auch hinsichtlich der Aufrechterhaltung ihres wechselseitigen personalen Respekts defizitr sind. Die Richtigkeit dieser Vermutung wird sie durch sorgfltige empirische Untersuchungen zu erweisen versuchen, welche sich beispielsweise auf die sozialpsychologische Relevanz der Zugehçrigkeit zur Arbeitswelt und der Mobilittsanforderungen an Berufsttige, aber auch auf den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit, Exklusion und Kriminalitt884 zu beziehen haben. An der Existenz von spezifischen Formen gesellschaftlich verursachten Leidens wird 880 Hegel hat sich bereits in seinen Jenaer Schriften mit den sozialpsychologischen Auswirkungen anspruchsarmer und repetitiver beruflicher Arbeiten auseinandergesetzt. Vgl. z. B. PhdG, 244. 881 Ich verwende den Ausdruck „soziale Wertschtzung“ hier im Sinne von Teil III, Kapitel 4. 882 Hegel selbst war bekanntlich der Auffassung, dass die gesellschaftliche Rolle der Frauen in der sittlichen Sphre der Familie angesiedelt sei. Vgl. GPhR, § 171. Allerdings ergibt sich diese Position nicht aus Hegels Anerkennungstheorie der brgerlichen Gesellschaft. Folglich ist diese Theorie grundstzlich geeignet, einer Kritik an der in Rede stehenden geschlechtsspezifischen Beschrnkung des Zugangs zur Arbeitswelt Argumente zur Verfgung zu stellen. 883 Im vorliegenden Zusammenhang wren nicht nur die neoliberalen Politikschwerpunkte, sondern auch die neoliberalen (Freiheits-)Theorien sowie die Beziehung zwischen jenen Schwerpunkten und diesen Theorien zu bercksichtigen. 884 Hierauf konzentrieren sich die neoliberalismuskritischen Untersuchungen des Bourdieu-Schlers Lo c D. J. Wacquant. Vgl. z. B. Wacquant (2000) und (2006).

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eine solche Sozialkritik den in anerkennungstheoretischer Hinsicht defizitren Charakter von neoliberalen institutionellen Arrangements festzumachen suchen. Auf diesem Wege wird eine durch die GPhR inspirierte Sozialkritik den Nachweis anstreben, dass der zeitgençssische Neoliberalismus eine hçchst problematische Antwort auf die Krise des Keynesianismus gewesen ist. Wenngleich sie nicht in Abrede stellt, dass der sozialdemokratische Kapitalismus im Verlauf der 1970er Jahre die gesellschaftliche Praxis des personalen Respekts zunehmend belastet hat, wird eine Sozialkritik der hier skizzierten Art bestreiten, dass die (einseitige) Konzentration der staatlichen Aktivitt auf die Sicherung der privatrechtlichen Bestimmungen des abstrakten Rechts885 in anerkennungstheoretischer Hinsicht eine zufriedenstellende und erfolgreiche Reaktion auf jenes normative Problem gewesen ist. In Abgrenzung vom Neoliberalismus wird sie dafr pldieren, institutionelle Arrangements zu spezifizieren, welche eine Erfllung sowohl der besonderen Interessen als auch der personalen Freiheit der Menschen in Aussicht stellen. Unter der Annahme, dass die entsprechenden Teile der oben skizzierten Sozialtheorie886 sich hinreichend belegen lassen, befasst sich eine an Hegel anschließende Sozialkritik eingehend mit den gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen und Konsequenzen von meritokratischer Wertschtzung. In jener Hinsicht strebt sie den Nachweis an, dass meritokratische Wertschtzung ein kompensatorisches Phnomen ist, das nur887 dann auftritt, wenn Arbeitswelten in anerkennungstheoretischer Hinsicht spezifische Defizite aufweisen. Mit diesem Nachweis verbindet sie eine Kritik an denjenigen (arbeitsrechtlichen und sozialstaatlichen) Gegebenheiten, welche aus ihrer Sicht fr das Entstehen der fraglichen Praxis meritokratischer Wertschtzung verantwortlich sind. Zugleich hebt eine durch Hegel inspirierte Sozialkritik auf die in anerkennungstheoretischer Hinsicht problematischen Konsequenzen meritokratischer Wertschtzung ab. In diesem Zusammenhang versucht sie zum einen zu zeigen, warum eine solche Anerkennungspraxis hinsichtlich der Erfllung der besonderen Interessen der Menschen sowie der Aufrechterhaltung ihres wechselseitigen personalen Respekts problematisch ist. Zum anderen strebt sie den Nachweis an, dass Gesellschaften, die neben personalem Respekt allein einer meritokratischen Konzeption von sozialer Wert885 Ich verwende diesen Ausdruck im Sinne von Teil III, Kapitel 3.3. 886 Vgl. Teil III, Kapitel 5.4.1, (iii) & (iv). 887 Vgl. in diesem Zusammenhang auch meine obige Anmerkung 793.

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schtzung verpflichtet sind, tendenziell die Etablierung von institutionellen Arrangements begnstigen, in denen die Verteilung von Einkommen so stark von Zufllen abhngt, dass die begriffliche Bindung von sozialer Wertschtzung an Einkommensdifferenzen kaum zu rechtfertigen ist. Die hufige Verwendung des Ausdrucks „Kasinokapitalismus“ (zur Bezeichnung von Einkommensverteilungen in bestimmten volkswirtschaftlichen Segmenten) ist ein Indiz dafr, dass eine solche Argumentation im Rahmen einer Kritik am zeitgençssischen Neoliberalismus erfolgreich sein kann.888 Auf diese Weise wird eine durch Hegel inspirierte Sozialkritik am zeitgençssischen Neoliberalismus versuchen, die am Ende des Ersten Teils unserer Abhandlung genannten Untersuchungsziele zu erreichen. Mit den oben skizzierten Argumenten wird sie also geltend machen, 1. dass eine (entfesselte) Praxis meritokratischer Wertschtzung (strukturelle) Auswirkungen hat, welche die Mçglichkeit der Realisierung anderer Formen von Anerkennung, die fr die Mitglieder der fraglichen Gesellschaft wichtig sind, beeintrchtigen oder aufheben; 2. dass eine (entfesselte) Praxis meritokratischer Wertschtzung (strukturelle) Auswirkungen hat, welche diese Praxis selbst entwerten und destabilisieren; und 3. dass eine Praxis meritokratischer Wertschtzung Entstehungsbedingungen hat, mit denen sich ihre moralphilosophische Relevanz bestreiten lsst. Treffen meine berlegungen zu, dann ist es mçglich, mit anerkennungstheoretischen Mitteln eine sozialphilosophisch gehaltvolle Kritik am zeitgençssischen Neoliberalismus zu formulieren. Folglich wre „Anerkennung“ ein geeignetes sozialkritisches Prinzip der Kritischen Theorie.

888 Auch W. Plumpe kommt – auf der Grundlage systemtheoretischer berlegungen – zu dem Schluss, dass „Handlungsfhigkeit“ im Fall von Unternehmen im gegenwrtigen Kapitalismus „nicht mehr gegeben ist“ (und durch hohe Managergehlter „inszeniert“ werden msse). Vgl. Plumpe (2005), 20.

Ergebnis Ist „Anerkennung“ ein geeignetes Prinzip einer zeitgençssischen Sozialphilosophie in der Tradition der Frankfurter Schule? Wie gesehen, steht diese Frage im Zentrum der Debatten ber die Zukunft der Kritischen Theorie. Einerseits scheint das Vorhaben, eine kritische Gesellschaftstheorie mit anerkennungstheoretischen Mitteln zu fundieren, vielversprechend zu sein. Wie erlutert, haben sich Anerkennungstheorien hinsichtlich der Formulierung und Erçrterung von Fragen und Problemen aus den Bereichen der Moralphilosophie, der Politischen und Sozialphilosophie, der Sozialwissenschaften und der Psychologie als derart fruchtbar erwiesen, dass einige Autoren angesichts dieser Forschung von einem Paradigma der Anerkennung sprechen.889 Zudem gibt es berechtigte basale Einwnde gegen die Habermas’sche Gesellschaftstheorie, welche im Kontext der Kritischen Theorie die einzige ernstzunehmende Alternative zur Anerkennungstheorie zu sein scheint. Da in diesem Zusammenhang gerade bestritten wird, dass moderne konomien „normfreie[]“890 Rume sind, liegt es angesichts der obigen Forschung nahe zu fragen, ob Normen der Anerkennung im Bereich der konomie wirksam sind und welches sozialkritische Potenzial sie gegebenenfalls enthalten. Auf diese berlegungen sttzt sich die Erwartung, dass die Anliegen der Kritischen Theorie in den Bereichen der Sozialtheorie und -kritik mit anerkennungstheoretischen Mitteln erreicht werden kçnnen. Andererseits ist es der Kritischen Theorie bisher nicht gelungen zu zeigen, wie sich ihre Kernziele – oder einige derselben – auf der Grundlage des von ihr eingefhrten Anerkennungsvokabulars erreichen lassen. Wie bemerkt, ist es das Anliegen der Frankfurter Schule, „jene herkçmmlich getrennten Ebenen der Moralphilosophie, der Gesellschaftstheorie und der politischen Analyse in einer kritischen Theorie des Kapitalismus zusammenzufhren“891. Was damit in Aussicht gestellt wird, ist eine moralphilosophisch gehaltvolle Analyse des und Kritik am zeitgençssischen Kapitalismus. Sollen diese Ziele im Rahmen einer Anerkennungstheorie 889 Vgl. Zurn (2005) und (2009) sowie Fraser & Honneth (2003), 7. 890 Habermas (1988), Bd. 2, 275. 891 Fraser & Honneth (2003), 10.

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erreicht werden, ist (unter anderem) zu zeigen, wie zeitgençssische („neoliberale“) kapitalistische Institutionen und Gesellschaften anerkennungstheoretisch analysiert und kritisiert werden kçnnen. Ob, und wenn ja, wie dieser Nachweis auf dieser Grundlage der von ihr eingefhrten Kategorien des rechtlichen Respekts und der sozialen Wertschtzung gefhrt werden kann, hat die Kritische Theorie aber bislang nicht deutlich gemacht. Angesichts dieser Sachlage ist es keine berraschung, dass das Projekt einer anerkennungstheoretischen Kritischen Theorie zum Teil vehemente Kritik hervorgerufen hat. Eine Reihe von Autoren hat die Einschtzung geußert, dass es nicht mçglich sei, die „Kerninstitutionen“892 brgerlichkapitalistischer Gesellschaften auf der Grundlage der Kategorien des rechtlichen Respekts und der sozialen Wertschtzung zu analysieren. Aus ihrer Sicht ist das Vorhaben einer anerkennungstheoretisch fundierten Sozialtheorie des gegenwrtigen Kapitalismus deshalb zum Scheitern verurteilt.893 Trifft diese Einschtzung zu, dann ist ferner das Projekt einer anerkennungstheoretischen Kritik am heutigen Kapitalismus („Neoliberalismus“) in Frage gestellt. Sollten neoliberale Institutionen und Verteilungsergebnisse von den gesellschaftlich ausgebildeten Anerkennungsverhltnissen nmlich tatschlich (weitgehend) unabhngig sein, wre es nicht ersichtlich, wie sie unter Bezugnahme auf diese Faktoren sinnvoll kritisiert werden kçnnen. Angesichts dieser Einwnde besteht also die Gefahr, dass die anerkennungsorientierte Kritische Theorie sowohl ihre sozialtheoretischen als auch ihre sozialkritischen Ziele verfehlt. Welche Erfolgsaussichten das Projekt einer anerkennungstheoretischen Sozialphilosophie in der Tradition der Frankfurter Schule hat, untersuche ich in der vorliegenden Abhandlung. Im Ersten Teil meiner Studie zeige ich, warum „soziale Wertschtzung“ ein weitaus grçßeres sozialtheoretisches Erklrungspotenzial hat, als von den Kritikern jenes Projekts angenommen wird. Ich lege zunchst dar, weshalb Axel Honneths Theorie sozialer Wertschtzung ambivalent ist und zwei Formen von Wertschtzung beinhaltet, die im Interesse der Kritischen Theorie begrifflich zu unterscheiden sind: eine fhigkeiten- und eine nutzenbezogene („meritokratische“) Art von Wertschtzung. Wie ich dann zeige, kann eine Wertschtzungspraxis der zuletzt genannten Art in einem marktwirtschaftlichen Kontext ein Streben nach mçglichst hohen Einknften und nach 892 UA, 164. 893 Vgl. z. B. Fraser (2003), Renault (2004) und Zurn (2005). Vgl. auch die kritische Diskussion dieser Positionen in Deranty (2009).

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gesellschaftlicher Dokumentation monetrer beruflicher Erfolge motivieren. Dementsprechend ist eine Theorie dieser Praxis geeignet, charakteristische Aspekte des Verhaltens wirtschaftlicher Akteure sowie der Beschaffenheit wirtschaftlicher Institutionen im zeitgençssischen Kapitalismus zu erklren. Aus diesem Grunde vermag eine Theorie meritokratischer Wertschtzung einen wesentlichen Beitrag zur Behebung des sozialtheoretischen Defizits der aktuellen Kritischen Theorie zu leisten und einige grundlegende Einwnde gegen diese Theorie zu entkrften. Dieser in sozialtheoretischer Hinsicht sehr wichtige Befund wirft die folgende Frage auf: Wie kann eine kritische Gesellschaftstheorie, die zentrale Aspekte des zeitgençssischen Kapitalismus mithilfe des Begriffs der meritokratischen Wertschtzung erklrt, ihr Ziel einer Kritik an eben dieser wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung erreichen? Die Erçrterung dieser Frage bildet einen der Schwerpunkte der im Zweiten und Dritten Teil gefhrten Untersuchung. Der Zweite Teil meiner Abhandlung dient der Klrung der Frage, welche Beitrge Marx zu einer anerkennungstheoretischen Analyse des und Kritik am zeitgençssischen Kapitalismus leisten kann. Diese Untersuchung war wie folgt motiviert: In seinen Schriften aus dem Jahre 1844 entwickelt Marx eine Theorie der Anerkennung, mit der er kapitalistische Gesellschaften zu kritisieren beansprucht, und er beschreibt die Beziehungen zwischen den Mitgliedern solcher Gesellschaften als Verhltnisse „wechselseitiger Anerkennung“894. Offenbar operiert seine Kapitalismusanalyse und -kritik aus jener Zeit also mit derselben Art von Vokabular wie die heutige Kritische Theorie. Deshalb erschien es denkbar, dass sie Argumente entwickelt, die im Rahmen der Erçrterung der Fragen, ob Mrkte anerkennungstheoretisch analysiert und wie kapitalistische Gesellschaften anerkennungstheoretisch kritisiert werden kçnnen, wertvoll sind. Um die Berechtigung der entsprechenden Erwartung zu prfen, war es zunchst erforderlich, Marx’ Theorie der menschlichen Produktion, welche den Maßstab seiner Kapitalismuskritik von 1844 bildet, zu rekonstruieren. Es konnte gezeigt werden, dass eine menschliche Produktion in Marx’ Verstndnis zwei wesentliche Aspekte hat: eine spezifische Form von Arbeit und eine spezifische Form von Anerkennung. In der Tat bejahen die Mitglieder einer solchen Gesellschaft in ihrer Arbeit ihre Individualitt, und sie bejahen durch ihre Arbeit und ihren Konsum sich selbst als „Gemeinwesen“, nmlich als durch Liebe miteinander verbundene bedrftige Menschen. 894 AJM, 460.

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Auf der Grundlage dieser Rekonstruktion ließ sich dann zeigen, warum die Marx’sche Kapitalismuskritik von 1844 als ganze nicht geeignet ist, zur Erreichung der sozialtheoretischen und -kritischen Ziele der aktuellen Kritischen Theorie beizutragen. In diesem Zusammenhang ist Folgendes herauszustellen: Marx’ Theorie der menschlichen Produktion beruht auf einer Art von Wertschtzung (als „Gemeinwesen“), die keinen Bestandteil der normativen Infrastruktur brgerlich-kapitalistischer konomien bildet. (Das zeigt sich beispielsweise daran, dass sie eine Kritik an jeder Art von Marktwirtschaft, sei diese kapitalistisch oder nicht, begrndet.) Weil das so ist, vermag die Marx’sche Theorie der menschlichen Produktion den methodischen Anforderungen der aktuellen Kritischen Theorie nicht zu gengen.895 Wenngleich sie einer heutigen kritischen Gesellschaftstheorie einzelne Ressourcen zur Verfgung stellt,896 kann sie deshalb keine wesentlichen Beitrge zur Erreichung der sozialtheoretischen und -kritischen Ziele einer anerkennungstheoretischen Sozialphilosophie in der Tradition der Frankfurter Schule leisten. Mit seiner (nicht kenntlich gemachten) Beschreibung der Beziehungen zwischen den Mitgliedern brgerlich-kapitalistischer Gesellschaften anhand der Hegel’schen Theorie des personalen Respekts gibt Marx selbst einen Hinweis darauf, dass Hegels Politische und Sozialphilosophie die aktuelle Kritische Theorie bereichern kçnnen. Warum die entsprechende Erwartung berechtigt ist, zeige ich im Dritten Teil meiner Abhandlung. Mit einer innovativen Interpretation der entsprechenden Passagen der Grundlinien der Philosophie des Rechts lege ich dar, warum Hegels Theorie des personalen Respekts geeignet ist, Mrkte als Institutionalisierungen einer spezifischen Form von Anerkennung auszuweisen. Aufgrund dieser Eigenschaft ist sie im Rahmen einer anerkennungstheoretisch fundierten Sozialtheorie des gegenwrtigen Kapitalismus von grçßtem Interesse. Zudem enthalten Hegels Politische und Sozialphilosophie einige anerkennungstheoretische berlegungen, welche eine ernstzunehmende Perspektive fr eine sozialphilosophisch gehaltvolle Kritik am zeitgençssischen Kapitalismus erçffnen. Interessanterweise entwickelt Hegel nmlich – zumindest in Anstzen – die Thesen, dass das, was ich oben mit „meritokratische Wertschtzung“ bezeichnet habe, eine kompensatorische und defizitre Form von Anerkennung ist: kompensatorisch, weil sie nur dann auftritt, wenn eine spezifische andere Anerkennungserwartung der Brger moderner Gesellschaften nicht erfllt wird; defizitr, weil sie keine stabile 895 Siehe oben, Teil I, Kapitel 3. 896 Siehe oben, Teil II, Kapitel 8.

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Anerkennungspraxis zu begrnden vermag und ihrerseits den wechselseitigen Respekt der Menschen als Personen schwcht. Diese berlegungen erçffnen die vom Standpunkt der Kritischen Theorie sehr attraktive Mçglichkeit, charakteristische Aspekte des Verhaltens wirtschaftlicher Akteure sowie der Beschaffenheit wirtschaftlicher Institutionen im zeitgençssischen Kapitalismus mithilfe des Begriffs der meritokratischen Wertschtzung sowohl zu erklren als auch zu kritisieren. Sie sind deshalb fr die aktuelle Kritische Theorie in sozialtheoretischer und -kritischer Hinsicht eine große Bereicherung. Mit meiner Abhandlung zeige ich, warum „Anerkennung“ ein geeignetes Prinzip einer kritischen Gesellschaftstheorie in der Tradition der Frankfurter Schule ist. Mit anerkennungstheoretischen Mitteln lassen sich wesentliche Aspekte der institutionellen Verfasstheit moderner Gesellschaften sowie der normativen Erwartungen und des wirtschaftlichen Verhaltens der Mitglieder derartiger Ordnungen erklren. Zudem bietet ein solcher Ansatz eine ernstzunehmende Erklrung der Genese zentraler Bestandteile des „neuen Geistes des Kapitalismus“. Aus diesen Grnden ist „Anerkennung“ ein geeignetes Prinzip einer zeitgençssischen Sozialtheorie – wenngleich es andererseits fraglich ist, ob eine solche Theorie allein mit anerkennungsbezogenen Grundbegriffen erfolgreich sein kann. Mit anerkennungstheoretischen Mitteln lsst sich ferner eine sozialphilosophisch gehaltvolle Kritik am zeitgençssischen Kapitalismus formulieren, die den methodischen Anforderungen der Kritischen Theorie gengt. Folglich eignet sich „Anerkennung“ auch als Prinzip einer Sozialkritik in der Tradition der Frankfurter Schule. Aus meiner Untersuchung ergeben sich einige Fragen und Themen, die im Rahmen eines multi- und interdisziplinren Forschungsprojekts, wie es die Kritische Theorie zu sein beansprucht, zu bearbeiten wren. Sie seien abschließend kurz benannt. 1. Wir haben gesehen, dass sich auf der Grundlage der (im Rckgriff auf Hegels Politische und Sozialphilosophie gewonnenen) Elemente E-1 und E-2 eine ernstzunehmende Theorie des bergangs vom sozialdemokratischen zum neoliberalen Kapitalismus gewinnen lsst. Wie bemerkt, gibt es gute Grnde fr die Annahme, dass die mit E-1 und E-2 spezifizierten Faktoren hinsichtlich dieses bergangs kausal relevant gewesen sind und im vorliegenden Zusammenhang ein großes Gewicht hatten. Im Rahmen eines multi- und interdisziplinren Forschungsprojekts in der Tradition der Frankfurter Schule wre jene Annahme nun empirisch zu besttigen. Durch sozialwissenschaftliche

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Untersuchungen wre also die tatschliche Relevanz der Faktoren E-1 und E-2 im Rahmen des bergangs vom sozialdemokratischen zum neoliberalen Kapitalismus festzustellen. Zudem wre zu ermitteln, welche weiteren Faktoren zu diesem bergang beigetragen haben. Eine solche Untersuchung wrde Informationen sichern, auf deren Grundlage die Frage beantwortet werden kann, ob „Anerkennung“ das Prinzip oder eines von mehreren Prinzipien einer Sozialtheorie der Entstehung des Neoliberalismus ist und welches diese anderen Prinzipien gegebenenfalls sind. 2. Eine normative Anerkennungstheorie in der Tradition der Frankfurter Schule wrde sich auch auf die gesellschaftliche Sphre der Politik beziehen. In dieser Hinsicht htte sie zu klren, ob diejenigen politischen Institutionen und Praktiken, die fr zeitgençssische parlamentarische Demokratien konstitutiv oder charakteristisch sind, als Formen wechselseitiger Anerkennung der Brger beschrieben werden kçnnen und worin ihre Relevanz fr diese Menschen besteht. Naheliegenderweise wrde eine solche Untersuchung von der Frage ausgehen, welches Erklrungspotenzial die Begriffe des rechtlichen Respekts (Honneth) und des personalen Respekts (Hegel) im vorliegenden Zusammenhang haben. Unter sozialkritischer Perspektive wre zu prfen, ob jene politischen Institutionen und Praktiken durch ein entfesseltes Streben nach meritokratischer Wertschtzung beschdigt oder deformiert werden. Darber hinaus htte eine Anerkennungstheorie, die dem Geist der Frankfurter Schule verpflichtet ist, der Relevanz von (intakten) ,privaten‘ Beziehungen (Liebesbeziehungen, Freundschaften) hinsichtlich der Ausbildung von Selbstachtung Rechnung zu tragen. Wie mir scheint, hat die von Axel Honneth ausgearbeitete Sozialphilosophie in dieser Hinsicht besondere Verdienste. ber Honneth hinausgehend wre auch hier zu untersuchen, ob und inwiefern Liebes- und freundschaftliche Beziehungen durch meritokratische Praktiken sozialer Wertschtzung beeintrchtigt werden (kçnnen).897 3. Schließlich ist zu untersuchen, welche ethische Geltung diejenigen Ansprche haben, die sich aus den Anerkennungspraktiken des personalen Respekts898 und der sozialen Wertschtzung899 ergeben. Im Rahmen einer 897 Es ist denkbar, dass auch diese Untersuchung durch Hegel’sche und/oder Marx’sche berlegungen bereichert werden wrde. 898 Vgl. Teil III, Kapitel 3. 899 Im Sinne von Teil III, Kapitel 4.

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„internalistisch“ argumentierenden Sozialphilosophie900 sind jene Ansprche prima facie berechtigt, weil (oder insofern) personaler Respekt und soziale Wertschtzung (tatschliche) Bestandteile der normativen Infrastruktur der fraglichen Gesellschaft sind. Angesichts von Kulturen, in denen es keine etablierte Praxis personalen Respekts gibt, sowie von kulturellen Entwrfen, in denen eine andere, von der Teilnahme am System der Erwerbsarbeit entkoppelte Art von sozialer Wertschtzung befrwortet wird, stellt sich allerdings die Frage, ob personaler Respekt und soziale Wertschtzung einer philosophischen Fundierung fhig sind, die ihnen eine transkulturelle Geltung sichern wrde. Wie gesehen, war Hegel der Ansicht, dass seine (enzyklopdische) „Philosophie des Geistes“ diese Funktion erfllt.901 Zwar ist die Kritische Theorie, mit Habermas gesprochen, einem „nachmetaphysischen Denken“ verpflichtet und kann deshalb Hegels (willenstheoretische) Begrndung jener Position nicht bernehmen; andererseits hat sie die systematische Untersuchung des Geltungsbereichs von Anerkennungsnormen inzwischen zu einem wichtigen Bestandteil ihres Forschungsprogramms gemacht.902 Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Untersuchung auf das methodische Profil der Kritischen Theorie auswirken wird.

900 Siehe oben, Teil I, Kapitel 3. 901 Vgl. Teil III, Kapitel 2.2. 902 KA, 305 – 341.

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II. Zeitungsaufstze

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Westphal, K. (1996): „The basic content and structure of Hegel’s Philosophy of Right“, in: Beiser (1996), 234 – 269. Wiggershaus, R. (1986): Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung, Mnchen, Wien: Hanser. Wildt, A. (1982): Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralittskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption, Stuttgart: Klett. Wildt, A. (1987): Die Anthropologie des frhen Marx, Hagen (Studienbrief der FernUniversitt Hagen). Wildt, A. (2002): „Revolutionrer Terror und Moral bei Marx und Engels“, in: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie, 50, 3, 425 – 444. Williams, R. R. (1997): Hegel’s Ethics of Recognition, Berkeley, Los Angeles, London. Wolff, C. (1980): Grundstze des Natur- und Vçlckerrechts, in: Gesammelte Werke, 1. Abt. Deutsche Schriften, Bd. 19, Hildesheim: Georg Olms. Wood, A. (2004): Karl Marx, New York, London: Routledge. Yergin, D. & Stanislaw, J. (2001): Staat oder Markt. Die Schlsselfrage unserer Zeit, Mnchen: Econ. Zurn, C. F. (2005): „Einleitung“ zum „Schwerpunkt Anerkennung“ in: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie, 53, 3, 377 – 387. Zurn, C. F. (2005a): „Anerkennung, Umverteilung und Demokratie. Dilemmata in Honneths Kritischer Theorie der Gesellschaft“, in: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie, 53, 3, 435 – 460. Zurn, C. F. (2009): „Einleitung“, in: H.-C. Schmidt am Busch & C. F. Zurn (2009), 7 – 24.

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310

Literatur

III. Online-Verçffentlichungen Gumbel, P., „Rethinking Marx“, in: Time Magazine, 22. Januar 2009 (http:// www.time.com/time/specials/packages/printout/0,29239,1873191_ 1873190_1873188,00.html).

Personenregister Adorno, T. W. 156, 299 Ameriks, K. 171, 299, 305 Arndt, A. 82, 299 Bauer, B. 128, 299 Baxter, H. 34, 36, 38, 299 Beckert, J. 6, 34, 299 Beiser, F. C. 299, 309 Berger, M. 71, 299 Bernstein, J. M. 29, 299 Bidet, J. 73, 299 Bienenstock, M. 299, 308 Bluhm, H. 71, 299 Boltanski, L. 10, 63, 254, 299 Bourdieu, P. 15, 18–19, 283, 299 Bourdin, J.-C. 202, 299 Brandom, R. B. 29, 299 Breckman, W. 147, 299 Breitenstein, P. 71, 306 van den Brink, B. 30, 300, 303 Brudney, D. 11, 72–75, 77, 106, 109–110, 300 Brunkhorst, H. 71, 300 Buchwalter, A. 11 Bude, H. 17–18, 300 Cammann, A. 4, 309 Castel, R. 18, 300 Chiapello, ð. 10, 63, 254, 299 Crampe-Casnabet, M. 299, 308 Deranty, J.-P. 38–39, 288, 300, 307 Diaz-Bone, R. 299 Drobinski, M. 72, 309 Dumnil, G. 73, 279, 299 Elbe, I. 71, 300 Emundts, D. 158, 300 Engels, F. 132–137, 299–300, 309 Enskat, R. 11

Feuerbach, L. 89, 147, 295, 300 Fichte, J. G. 4–5, 29, 111, 299–300, 309 Fourier, C. 4–6, 300 Franco, P. 162, 169, 230, 300 Frankfurt, H. G. 242, 300 Fraser, N. 6–7, 23, 39–42, 43, 46, 62–64, 204, 265–266, 272, 287–288, 296–297, 301–302, 307 Fulda, H.-F. 157, 301 Gallagher, S. 233, 301 Ganßmann, H. 299 Gerhardt, V. 71, 301 Gorz, A. 82, 143, 301, 306–307 Gosepath, S. 2, 301, 304, 306 Grissemann, S. 72, 309 Gumbel, P. 310 Habermas, J. 1, 3–4, 6–7, 15, 28, 30–38, 62, 64, 66, 73, 77, 82, 95, 117, 204, 272, 287, 293, 299, 301, 304 Hring, N. 72, 309 Hakelberg, D. 72, 306 Halbig, C. 28, 30, 299, 301–302, 305–306 Hardimon, M. O. 215, 301 Hartmann, M. 11, 25–26, 51, 265–267, 270, 272, 301 Harvey, D. 273, 277, 279, 301 Hegel, G. W. F. 4–5, 9, 11, 30, 77–78, 82–89, 91, 94–95, 111, 118–130, 132, 136, 138–140, 143–147, 151, 153–285, 290–293, 295, 299–309 Heinrich, M. 71, 302 Held, D. 19, 302 Henning, C. 73, 302 Hillebrand, K. 99, 218, 302

312

Personenregister

Hinsch, W. 2, 302, 304, 306 Hobbes, T. 126, 307 Honneth, A. 6–8, 11, 23–30, 39–61, 64, 66, 82, 85, 90, 110, 118, 140, 144, 147–150, 204, 214, 233, 265–267, 270, 272, 287, 292, 296–297, 300–307, 309 Horstmann, R.-P. 158, 300–301 Hoy, D. C. 23, 303 Hubmann, G. 71, 303 Humboldt, W. von 229, 303 Huster, S. 11 Iber, C. 71, 303 Ikheimo, H. 12, 28, 303 Iorio, M. 71, 303 Iser, M. 12 Jakobs, H.-J. 72, 309 Joas, H. 77, 82, 117–118, 303–304 Justi, J. H. G. von 228, 303, 307 Kambartel, F. 21, 101, 303 Kant, I. 4, 111, 229, 296, 302–303, 305, 308 Kemper, P. 303, 306 Kersting, W. 215, 303 Kervgan, J.-F. 169, 303 Klein, N. 280, 303 Kluge, A. 72, 309 Kocyba, H. 12 Koj ve, A. 85, 303 Korenke, T. 206–208, 303 Krmer, H. L. 294, 303 Krebs, A. 2, 21, 304 Laitinen, A. 28, 303, 307 Lange, E. M. 77, 82, 117, 212, 304 Leggewie, C. 296, 303 Lvy, D. 279 Lohmann, H.-M. 71, 304 Magnis, F. von 111, 304 Maischberger, S. 72 Marx, K. 5, 8–9, 11, 69–152, 288–289, 291, 297, 299–300, 302–307, 309–310 Marx, R. 71–72, 304

Matsumoto, N. 228, 304 McCarthy, T. A. 11, 23, 37, 303–304 Merker, B. 11, 94, 304–305 Mesch, W. 144, 304 Moggach, D. 128–304 Mohl, R. von 228, 304 Mohr, G. 304–305 Mnkler, H. 4 Negt, O. 71, 73–74, 304–305 Neuhouser, F. 11, 173, 218, 257, 305 Nordhaus, W. 131, 306 Nussbaum, M. C. 73, 305 Oswald, B. Owen, D.

72, 309 31, 300, 303

Pfannkuche, W. 21, 305 Pinkard, T. 11, 29, 164, 305 Pippin, R. B. 29–30, 162, 164, 188, 305 Plumpe, W. 11, 285, 305 Popper, K. R. 168–169, 305 Postone, M. 73, 305 Priddat, B. P. 4, 12, 305–306 Quante, M. 11, 30, 71–72, 74, 77, 82, 92, 107, 143, 155, 182, 243, 299, 301–302, 304–306 Rawls, J. 1–4, 6–7, 73, 134, 306 Reich, R. B. 274–275, 278–279, 306 Reichelt, H. 71, 306 Reiß, W. 53, 63, 306 Renault, E. 12, 25, 39, 288, 306 Ricoeur, P. 85, 126, 306 Riedel, M. 4, 306 Rçssler, B. 304, 306 Rohbeck, J. 71, 93, 306 Rzsa, E. 12 Sandis, C. 307 Saint-Simon, Comte de 5 Samuelson, P. 131, 306 Schirrmacher, F. 72, 309

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Personenregister

Schlothfeldt, S. 21, 306 Schmidt, H. 246, 306 Schmidt am Busch, B. 12 Schneider, S. R. 6, 307 Searle, J. 30, 307 Sennett, R. 15–19, 274, 278, 307 Sieferle, R. P. 71, 307 Siep, L. 5, 11, 28, 30, 85, 126, 182, 198, 299, 301, 305, 307–308 Simmel, G. 222, 308 Smith, A. 110, 124, 308 Smith, N. 307 Sombart, W. 55, 255, 308 Sonnenschein, U. 303, 306 Stanislaw, J. 273, 309 Stehr, N. 6, 34, 308 Stern, F. 246, 306 Steinvorth, U. 21, 308 Stolzenberg, J. 171, 299

Vanderborght, Y. 20–21, 308 Van Parijs, P. 20–21, 308 Veblen T. 55, 260, 308 Voigt, S. 6, 34–35, 65, 99, 308 Volcker, P. 277 Voswinkel, S. 12

Tappehorn, F. 6, 308 Taylor, C. 29–30, 134, 308 Taylor, F. W. 45, 142, 308 Thamer, H.-U. 5, 307

Zehnpfennig, B. 304 Zurn, C. F. 6, 12, 28, 30, 39, 287–288, 299–300, 303–309

Wacquant, L. D. J. 283, 308 Waszek, N. 4–5, 299, 307–308 Weber, M. 55, 64–65, 258, 308 Westphal, K. 233, 309 Wiggershaus, R. 23, 309 Wilde, O. 255 Wildt, A. 73, 82, 90, 92, 198, 309 Williams, R. R. 178, 309 Wolff, C. 228, 309 Wood, A. 72–73, 309 Yergin, D.

273, 309