Quellen, Nachbarschaft, Gemeinschaft: Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Kulturgeschichte Zentraleuropas [1 ed.] 9783205232971, 9783205232957

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Quellen, Nachbarschaft, Gemeinschaft: Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Kulturgeschichte  Zentraleuropas [1 ed.]
 9783205232971, 9783205232957

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Adelheid Krah (Hg.)

Quellen, Nachbarschaft, Gemeinschaft Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Kulturgeschichte Zentraleuropas

Univ.-Doz. Dr. Adelheid Krah habilitierte 2002. Sie lehrt an der Universität Wien, forscht und publiziert zu Themen der Verfassungs-, Sozial- und Kulturgeschichte Europas im Mittelalter.

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Adelheid Krah (Hg.)

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Die Erforschung der gemeinsamen Geschichte Zentraleuropas wurde nach Öffnung der Grenzen ein Anliegen der Forschung. Inzwischen sind Archivbestände in Budapest, Prag, österreichischer Klöster und Bayerns digital zugänglich; sie ermöglichen eine neue Sichtweise. Unter dem Motto „En route to a shared Identity“ wurden von einer internationalen ForscherInnengruppe Ergebnisse erarbeitet zu Aspekten von Gemeinschaftsbildung vom 8. bis 19. Jahrhundert. Die Beiträge des Bandes machen deutlich, dass es in Zentraleuropa eine gut funktionierende Kultur sozialer Gemeinschaft und des transregionalen Austausches gab.

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Quellen, Nachbarschaft, Gemeinschaft

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28.06.19 18:45

Adelheid Krah (Hg.)

Quellen, Nachbarschaft, Gemeinschaft Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Kulturgeschichte Zentraleuropas

unter Mitwirkung von Herbert W. Wurster

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Kölblgasse 8–10, A-1030 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-23297-1

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Teil 1 Adelheid Krah Gemeinschaft – Zeugen – Vernetzungen

Inszenierte Gemeinschaften im frühmittelalterlichen Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . 14

Claudia Römer Networks of witnesses at the 16th-century cadi court of Siklós, Hungary? 47 Michael Prokosch Testamentarische Einzelurkunden aus Pressburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Daniel Jeller Urkunden als Netzwerk Ein Werkstattbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

Teil 2 Adelheid Krah, Herbert W. Wurster Eine schwierige Nachbarschaft

Das Bistum Passau, Großmähren und Bischof Ermenrich im 9. Jahrhundert . . . 98

Klaus Lohrmann Benachbarte Kollektive unterschiedlicher Lebensordnungen Zu den Anfängen der Angleichung der ungarischen Gesellschaft an den lateinischen Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

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Inhalt

Thomas Kath Paul von Forchtenstein iudex curiae. Jurist, Staatsmann und Diplomat in Ungarn zur Zeit der Anjou Von Visegrád über Regensburg nach Avignon und Neapel – ein ungarisches Leben am europäischen Schauplatz der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts . . . . . 161

András Sipos Budapest »Time Machine« as research tool

Sources on the society of Budapest (1870s–1910s) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Teil 3 Klaus Wolf Magister – Minister – Mönche – Mediziner

Die Mittelalterliche Wiener Universität als Knoten eines Wissensnetzwerks . . . . 230

Michael Prokosch Wenn Zwei eine Reise tun

Die Kavalierstouren Hans Christoph Teufels und Georg Christoph Fernbergers 

Petra Svatek »Mitteleuropa« – Karten – »Practical Turn«

Die Geographischen Institute der Universitäten Wien und Berlin im Vergleich 

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Herbert Wurster Von Archiv bis Zwang

Aufklärung im Fürstbistum Passau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

Vorwort

Die Jahrhunderte alte gemeinsame Geschichtstradition Zentraleuropas wird heute auf vielfältige Weise in den modernen Archiven der Länder der einzelnen Nationen aufbewahrt und an ihren Universitäten gelehrt, denn sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Einheit Europas. Hierauf hat man sich bei der Öffnung der östlichen Grenzen vor 30 Jahren besonnen. Anstelle des politisch-ideologischen Machtdenkens, das die Gemeinschaft der Menschen Europas in zwei B ­ löcke politisch trennte, rückten Freiheit und Freizügigkeit und wurden neu belebt. Zu dieser Wende hat die Gesinnung vieler Menschen beigetragen, die Mehrsprachigkeit und kulturelle Traditionen trotz der politischen Spaltung weiterhin gepflegt haben und sich der Interkulturalität der slawisch, ungarisch und deutschsprachig geprägten Länder Zentraleuropas bewusst waren. Die Vielfalt der Kultur ließ hier über Jahrhunderte eine lange und dauerhafte gegenseitige Toleranz und Wertschätzung als wichtige Charakterzüge der gemeinsamen Geschichte Europas heranwachsen. Dies bezeugen die Quellenbestände der Archive und Bibliotheken, da sie großenteils nicht stringent nur die Geschichte der einzelnen Länder nach den politischen Gegebenheiten der modernen Staatengrenzen und Sprachendifferenzierungen enthalten und überliefern, sondern Zeugnisse einer länderübergreifenden Kulturtradition seit der Zeit des Hochmittelalters sind. Bis zum Ende des 1. Weltkrieges folgten Verwaltungsstrukturen und historische Zeitabläufe in Zentral- und Mitteleuropa anderen politischen Ordnungssystemen als denen der folgenden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und waren offen für den im Zusammenleben der Menschen notwendigen Kulturtransfer. Freilich dominierte neuzeitlich die Expansion der beiden deutschsprachigen Kaiserreiche und auch des französischen unter Napoleon in die östlich-­ slawischen Länder. In der langen Phase des Landesausbaus und der Entstehung von Akkulturation und Mischkulturen seit dem Frühmittelalter bis ins 19. Jahrhundert wurden aber hier die Menschen vielfältiger Sprachen und ethnischer Gruppen durch Sozialisation zu einer multikulturellen Gemeinschaft geformt, deren Besonderheit wohl darin lag, dass die Nachbarn keine Unbekannten sondern Teil dieser politisch großflächig agierenden Gemeinschaft waren. Erst nationales, politisches Streben stellte Pluralität und Kulturdifferenz als Pro­

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Vorwort

blem dar, säte Hass, der Feindschaft und die Bekämpfung des Anderen und der Nachbarn auflodern ließ. Mehrsprachigkeit war Usus und notwendig zur Meisterung des Alltags für ein friedliches Miteinander aller Bevölkerungsschichten und Kollektive der entstehenden »Nationen« Zentraleuropas, deren jeweils eigenständige kulturelle, religionsbezogene und wirtschaftliche Lebensformen – etwas in der Tracht, den Riten, der Namensgebung und den kirchlichen wie den Handels- und Agrarstrukturen – über lange Zeiträume fortbestanden. So haben beispielsweise die slawischen und ungarischen Siedlungsräume in den Jahrhunderten des Hochmittelalters erst langsam eine Angleichung an den lateinischen, dann deutschsprachigen Westen angenommen. Auch bewirkten die Veränderungen nach der Stauferzeit in ganz Europa politische und soziale Umformungsprozesse, so auch in den Regionen Zentraleuropas, wo sich in weiten Teilen der Deutsche Orden als dominante Wirtschaftsinstitution bis zur Entstehung der Hanse ausbreitete. Gleichzeitig erwuchs mit den großen Fürstentümern und Dynastien im böhmisch-mährischen Raum eine ernsthafte und von Bayern gestützte Konkurrenz den Habsburgern im Kampf um die Königsmacht über Jahrhunderte. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die Herrschaft der französisch-deutschsprachigen Luxemburger von Prag aus in der Folgezeit, an die Hussitenkriege und das Ringen um eine Kirchenreform im Abendland, die zu nationaler Trennung vom Reich und zur Kirchenspaltung führten. Trennung, Kriege und Friedensschlüsse – Veränderungen des Miteinanders – gehören daher ebenso zur gemeinsamen Geschichte Zentraleuropas wie das Andrängen der Osmanen über den Balkan und die Errichtung ihres dauerhaften Sitzes in Buda, der diplomatischen Austausch erforderte und die katho­ lischen Herrscher Mitteleuropas erneut einte zur Verteidigung der abendländischen Christenheit. Will man diese gemeinsame multikonfessionelle und multinationale Geschichte der Menschen Zentraleuropas erforschen, so können hierfür heute gut organisierte, moderne Archive Grenzen überschreitend aufgesucht und viele ihrer Bestände virtuell besucht werden mit modern erschlossenem, großenteils digitalisiertem Quellenmaterial. Der Digital Turn der beiden letzten Jahrzehnte und die vorausgegangene Öffnung der politischen Grenzen ermöglichen flächendeckende Forschungen, welche die Geschichte der Länder mit ihren Landschaftsräumen und ihrer sozio-kulturellen Gemeinschaft barrierefrei transparent werden lassen, so wie sie wuchsen und sich die Nachbarschaften in gegenseitiger Sozialisation herausbildeten.

Vorwort

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Das Interesse an der gemeinsamen Vergangenheit förderte in den letzten Jahren auch den Zusammenschluss internationaler ForscherInnengruppen in Projekten der europäischen Gemeinschaft zur Erschließung von Schriftquellen benachbarter Länder und Großregionen. Teil dieser so entstandenen und entstehenden Scientific Community zur Erforschung der Geschichte Zentraleuropas ist die von der Herausgeberin seit 2014 geleitete internationale Arbeitsgruppe »En route to a shared Identity«, der über 20 ForscherInnen an Universitäten, Archiven und Bibliotheken aus Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Slowenien, Österreich und Deutschland angehören. Mehrere Tagungen an der Universität Wien dienten nicht nur dem Austausch von Informationen und der Präsentation und Diskussion von Einzelprojekten, sondern es wurden auch erfolgreiche, innovative und neue Möglichkeiten zur Auswertung und Vernetzung von Archivalien unterschiedlicher Bestände vorgestellt. Neue oder weiter entwickelte Portale und online-Tools stehen aber nicht nur für eine breite historische Forschung bereit, sondern erweitern durch die Zugänglichkeit von sonst verschlossenen Materialien die Forschungsfelder für Detailstudien und bereichern daher unser gemeinsames kulturelles Gedächtnis. So sind beispielsweise im Projekt der »Budapest Time-machine« auf der Plattform hungaricana.hu, link: https:// hungaricana.hu/en/ der Budapest City Archives diverse Sorten von Bildmaterialien, wie Karten, Stadtpläne, alte Ansichten und Schriftgut, etwa in Form von digitalisierten Rechnungsbüchern und Personenregistern, zusammengeführt worden und abrufbar und bilden einen großen Fundus von Quellen zur Stadtgeschichte in der Habsburgermonarchie. Für die Geschichte des ehemaligen Großbistums Passau, um ein weiteres Beispiel anzuführen, stehen inzwischen sämtliche Urkundenbestände der bis zur Säkularisation in Bayern zum Bistum gehörenden Klöster für vergleichende Forschungen online im virtuellen Archiv von www.monasterium.net zur Verfügung, ebenso die Matrikelbücher als Tools für Familien- und Migrationsforschung. Auch können die wertvollen, in den tschechischen Nationalarchiven, insbesondere in den Beständen der 1. Abteilung des Nationalarchivs in Prag, aufbewahrten mittelalterlichen, lateinischen und deutschsprachigen Urkunden seit einigen Jahren als Digitalisate online eingesehen werden, bis hin zu den Goldbullen aus der Glanzzeit der Herrscher aus dem Haus der Luxemburger. Die Materialität der Originale führt den Nutzer direkt in die Zeit ihrer Entstehung und lässt die Dokumente – wenn auch nur virtuell – wieder aufleben, was keiner gedruckten Textedition möglich ist. Ein derartiges Angebot an Quellenmaterialien fordert die Forschung geradezu heraus, verlangt aber auch genaue Fragestellungen, Quellenkenntnisse

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Vorwort

und die Diskussion der Ergebnisse der Einzelprojekte. Auf dieser Basis wurden von den Mitgliedern der Arbeitsgruppe einzelne Themen über den gesamten Zeitraum der gemeinsamen zentraleuropäischen Geschichte mit Fokussierung verschiedener Bestände von Schriftzeugnissen bearbeitet. Sie betrafen auch grundsätzliche Fragen nach der Entstehung von Gemeinschaft und Nachbarschaft und nach Quellen und Quellentypen, in denen Formen der Kommunikation etwa innerhalb der Verwaltung, vor Gericht und im Austausch von Wissen sichtbar werden. Behandelt und analysiert wurden Schriftzeugnisse über Migration und Austausch im Raum der Großdiözese Passau sowie Berichte über das Reisen bis über die Grenzen Zentraleuropas hinaus, ferner Materialien, die das Wachsen von Verwaltungsstrukturen und deren Vereinheitlichung erkennen ließen. – Einen großen Fundus an Quellen zu solchen neuzeitlichen Forschungsfeldern bergen das Archiv der Diözese Passau, das Stadtarchiv von Budapest sowie das Bayerische Hauptstaatsarchiv in München, das darüber hinaus ein zentraler Ort des kulturellen Gedächtnisses ist für die Geschichte des Mittelalters in Zentraleuropa. Zu nennen sind hier die Freisinger Amtsbücher, in welchen die Entstehung von Kulturlandschaften dieses Bistums in Bayern, im heutigen Österreich und in Slowenien dokumentiert wird. Für deutschsprachige und lateinische Testamente aus Oberungarn konnten Urkunden aus den Beständen des Stadtarchivs Pressburg herangezogen werden, die aus der Fotosammlung von Kollegen Juraj Šedivý eigens zur Verfügung gestellt wurden. Ähnlich spannend waren die Schreiben osmanischer Beamter an den habsburgischen Hof, nachdem das Osmanische Reich und das der Habsburger nach der Schlacht von Mohács 1526 direkte Nachbarn geworden waren, vorgestellt von Claudia Römer mit Beispielen ihrer Sammlung. Um diese Informationen und die Ergebnisse der Tagungen von 2014 bis 2017 der Scientific Community allgemein zugänglich zu machen, bot es sich zunächst an, sie sukzessiv in ein Blog einzupflegen, das die Tagungsprogramme, Abstracts und kleinere Abhandlungen oder auch umfangreiche Bildpräsentationen und links zu Tools enthalten sollte. Dieses Blog trägt den Namen der Arbeitsgruppe »En route to a shared Identity. Sources on the History of Central Europe in the Digital Age« und ist unter dem Link: https://dighist.hypotheses.org/ erreichbar mit über 70 Beiträgen. Andererseits stellte es sich als sinnvoll heraus, die über längere Zeit erarbeiteten und gemeinsam diskutierten Forschungsergebnisse von Teilnehmern der Arbeitsgruppe in einem Tagungsband zu veröffentlichen. Intensiv haben

Vorwort

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in der Arbeitsgruppe über Jahre mitgearbeitet die KollegInnen Peter Csendes (ehemals Wiener Stadt- und Landesarchiv, A), Patricia Engel (Donau Universität Krems, A), Daniel Jeller (ICARUS und ÖAW, A), Jitka Křečková (Tschechisches Nationalarchiv Prag, CZ), Adelheid Krah (Universität Wien, A), Klaus Lohrmann (Universität Wien, A), Michael Prokosch (Universität Innsbruck, A), Claudia Römer (Universität Wien, A), Juraj Šedivý (Comenius Universität Bratislava, SK), Petra Svatek (ÖAW, Wien, A), András Sipos (Budapest City Archives, HU) und Herbert W. Wurster (Archiv der Diözese Passau, D). Auf der letzten Tagung vom 20.-21. November 2017, veranstaltet an der Universität Wien unter dem Motto »Perspectives, new sources and unknown networking groups in past and present on the History of Central Europa«, wurden Schwerpunkte der gemeinsamen Arbeit deutlich, die den Inhalt des Tagungsbandes gestalten: Die Leistungen des Bistums Passau, die Geschichte Ungarns in ihrer Entwicklung, Organisationsformen von Gemeinschaft, Quellen im digitalen Zeitalter, Raumvorstellungen und Raumkonstruktionen. Großen Dank für die Zusammenarbeit und Mitwirkung am Gelingen der Tagungen und dieses Bandes möchte ich an erster Stelle Herrn Dr. Herbert W. W ­ urster (Archivdirektor des Archivs des Bistums Passau, i. R.) aussprechen. Sein Blick und Wissen als »Universalhistoriker« aus der Perspektive des profunden Langzeit-Archivars, der sich nicht auf einzelne Epochen beschränken kann und den Digital Turn der Archive des zentraleuropäischen Raumes forciert hat, waren in jeder Hinsicht konstruktiv und gewinnbringend für die vielfältigen Ergebnisfindungen der Arbeitsgruppe. Ich bedanke mich weiter beim Direktor des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Herrn Prof. Dr. Thomas Winkelbauer (Universität Wien), für großzügig gewährte Unterstützung der Tagungen und einen namhaften Beitrag zur Drucklegung dieses Bandes sowie beim Dekan der Historisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Herrn Prof. Dr. Sebastian Schütze, für die finanzielle Förderung der Drucklegung, ebenso bei der Vorständin des Instituts für Geschichte, Frau Prof. Dr. Andrea Griesebner, und beim Bistum Passau. Erwähnen möchte ich auch die Förderung der Tagungen der Arbeitsgruppe aus Mitteln des Bistums St. Pölten und die Zusammenarbeit mit seinem Diözesanarchivar Dr. Thomas Aigner (ICARUS). Frau Dr. Ursula Huber vom Böhlau-Verlag war durch ihre große Erfahrung eine wichtige Hilfe für das Gelingen des Bandes, Herr Mag. Lukas A. Russ fertigte großenteils die englischen Abstracts zu den Beiträgen und las mit mir Korrektur. Abschließend sei allen Autorinnen und Autoren für ihre zuverlässige

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Vorwort

Mitarbeit und dem Team des Böhlau Verlags und der Vandenhoeck & Ruprecht Verlage für eine harmonische Zusammenarbeit herzlich gedankt. Wien, im Sommer 2019

Adelheid Krah

Teil 1

Adelheid Krah

Gemeinschaft – Zeugen – Vernetzungen Inszenierte Gemeinschaften im frühmittelalterlichen Bayern

Abstract: Networking and presentation are modern terms, which increasingly have accessed the terminology of medieval studies. They serve the purpose of characterisation interactions of social communities and social phenomena from different kinds. While these are easily identifiable in the context of narrative historiography, there are only rarely pieces of evidence found within pragmatic literacy that display the connections of humans and social groups. For a long time, the names of witnesses in charters and administrative documents have been subject to scientific investigations, be it to trace families and regional aristocratic groups or to prove the presence of larger associations of persons on a political gathering, for instance at a court or imperial meeting. The ›Freisinger Traditionsbuch‹ by Cozroh (today in Bavarian State Archiv HL Freising 3 a) transmits a rich variety of masculine names of witnesses, which become visible at the end of the charters and notes of donations and other economic transactions, in each case in a group-like manner. Who were those people? Was there a separate group of people that functioned as a network of witnesses or was this group of witnesses assembled in each case differently? To answer those questions, the text refers back to the early medieval culture of the Bavarian duchy, precisely in the area of the diocese Freising and aims at making the community of authorities, the contract partners and witnesses and their networks for the time period of the years 765 to 843 plausible, according to a few selected examples.

Einleitung Die modernen Begriffe »Vernetzung« und »Inszenierung« dienen allgemein zur Bezeichnung weitreichender sozialer Verbindungen und meinen soziale Gemeinschaften, deren Zusammengehörigkeit in Selbstdarstellungen nach außen öffentlich sichtbar gemacht wird. Durch Ereignisse, neue Aufgaben oder zeitgeschichtliche Veränderungen können aber auch einzelne Menschen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen Verbindungen aufnehmen, sich zusammenschließen und neue Formen von Gemeinschaft bilden und diese öffentlichkeitswirksam inszenieren. Weil sie Erscheinungsformen des menschlichen Handelns umfassend bezeichnen, werden die Begriffe »Vernetzung« und »Inszenierung« zunehmend auch in der modernen Mediävistik des 21. Jahrhunderts verwendet, und zwar modellhaft als Raster zur Erklärung von sozialen Phänomenen

Gemeinschaft – Zeugen – Vernetzungen

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und von herausragenden Ereignissen zwischen Antike und französischer Revolution1. Alles scheint demnach auch im sogenannten »Mittelalter« über soziale Vernetzungen, Gruppen und Gruppenbildungen und über geregelte Festkulturen gelaufen zu sein – über Repräsentation und gegenseitigen Austausch in gemeinschaftlich organisierten Zirkeln. Solche Gruppen wurden aber auch zum Zweck der Selbstinszenierung von Einzelpersonen instrumentalisiert, welche sich – umgeben von ihren Freunden, Verwandten und Nachbarn oder einer anderen heterogenen Gruppe – gegenüber den übrigen Personen und Schichten der Gesellschaft mittels Selbstinszenierung abgrenzten2.

Inszenierung und Religion Für diese Art der »Zurschaustellung des Eigenen« und der Abgrenzung gegenüber den Anderen, meist niedrigeren sozialen Schichten, wurden günstige Termine nach den Zeitmarken, die der kirchliche Festtagskalender vorgab, sorgfältig ausgewählt, insbesondere solche, an denen die gesamte Bevölkerung zur Teilnahme am öffentlichen Geschehen aufgrund der Religion verpflichtet war. Denn die Wahl des Termins zeigte jahrhundertelang den Menschen bereits den Rang des bevorstehenden Treffens an, die Bedeutung der Kommunikation der Teilnehmer und der zu erwartenden Entscheidungen. Auch versprach ein hoher liturgischer Festtag umfangreiches Zeremoniell für die Ausstattung von Prozessionen, Messen und Gastmählern, die einen feierlichen Rahmen für Kommunikation boten, wobei die religiösen Handlungen in der Kirche oftmals den Höhepunkt der öffentlichen Selbstinszenierung solcher Treffen darstellten. Doch auch der alltägliche Kirchgang des Herrschers wurde zur regelmäßigen Darstellung von Macht und Charisma in Szene gesetzt; denn bei den im Rahmen der Messfeier gemeinschaftlich vollzogenen, religiösen Handlungen wurde Identität geteilt und spirituell transferiert, vom Herrscher zu dem ihn begleiten-

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Für eine »offene« Geschichtsbetrachtung plädierte überzeugend Jacques Le Goff in seinen Forschungen, zuletzt diese resümierend im posthum erschienen Essay Jacques Le Goff, Faut-il vraiment découper l’histoire en tranches? (Paris 2014), der deutschsprachige Text trägt den Titel: Geschichte ohne Epochen? (Darmstadt 2016); vgl. Ders., Geschichte und Gedächtnis (Frankfurt am Main 1992). 2 Vgl. etwa die sprachwissenschaftliche Untersuchung von Frank Lauterbach, Abgrenzung – Eingrenzung: komparatistische Studien zur Dialektik kultureller Identitätsbildung (Göttingen 2004).

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Adelheid Krah

den populus kirchlichen und weltlichen Standes und umgekehrt als »gelebte« Anerkennung des Herrschers durch die Untertanen3. Die von der Religion gesetzten Terminvorgaben und Handlungsmuster waren daher bei der Planung von gemeinschaftlichen Treffen jeglicher Art im Mittelalter streng zu beachten, sei es im kleineren Rahmen der von den geistlichen oder weltlichen Verwaltungsinstitutionen ausgerichteten Treffen oder bei den großen Veranstaltungen der Hof- und Reichstage. Aber auch die regelmäßigen gräflichen, herzoglichen und königlichen Gerichtstage und die von Bischöfen geleiteten Synodaltreffen waren nach zeremoniellen Handlungsmechanismen organisiert und wurden nach den Vorgaben von genau umschriebenen, formalen Ordnungsmustern abgehalten4. Diese Ordnungsmuster und Rituale waren nach tradierten Formalien auf den Ablauf der Versammlungen abgestimmt, wobei die Selbstinszenierung der beteiligten, handelnden Personen und deren Rang innerhalb der Gemeinschaft bereits durch die vorgeschriebene Art des Auftritts vermittelt wurde, durch die Platzierung der Person im Kreis der anderen oder durch einzelnen Personen vorbehaltene, ritualisierte Handlungen, die den Respekt der anderen verlangten5. Wurden solche Vorgaben nicht eingehalten, berichten klerikale Geschichts3 Dies zeigt sich besonders im christlichen Zeremoniell der Herrschererhebung wie es Widukind von Corvey in seinem Bericht zur Königserhebung Ottos I. in Aachen beispielhaft für die ottonische Zeit überliefert hat, Widukindi monachi Corbeiensis rerum gestarum saxonicarum libri tres, ed. Paul Hirsch, H.-E. Lohmann (MGH SS rer. germ. Hannover 51935) II,1, 63–66. Sehr informativ bei Liudprand von Cemona; er entwarf in seiner berühmten Darstellung des morgendlichen Kirchganges des Basileus Nikephoros II. Phokas zur Hagia Sophia in Konstantinopel in seinem Bericht der Gesandtschaft an den Hof des Basileus ein Gegenbild zur abendländischen Festkultur; vgl. Liudprandi relatio de legatione Constantinopolitana, Liudprandi opera, ed. Joseph Becker (SS rer. germ. Hannover und Leipzig 1915) 175–212, c. 9–10, 180 f. 4 Überbetont und von den notwendigen Aktivitäten der Gemeinschaft völlig isoliert betrachtet Gerd Althoff, Die Macht der Rituale (Darmstadt 2003), die in den Quellen vielfach als narratives Erzählmuster verwandten Rituale; vgl. dazu die kritische Rezensionen von Patrick J. Geary in: The English Historical Review 120/487 (2005) 812–813 und Timo Reuvekamp-­ Felber in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 127/1 (2005) 107–111. Zur Methodenkritik bezogen allerdings nur auf narrative Quellen bei Philippe Buc, The danger of ritual. Between early medieval texts and social scientific theory (Princeton 2001). 5 Vgl. den Sammelband von Gerd Althoff (Hg.), Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 51, Stuttgart 2001), allerdings sehr auf einzelne Themenbereiche in den Beiträgen begrenzt, sowie Stefan Weinfurter, Eliten und ihre Vernetzungen im »Abendland« des Hochmittelalters, in: Schriften der sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste 26 (München 2005) 71–88, oder jüngst mit Fokus auf die bekannten Interaktionen zwischen den sozial jedoch verschiedenen, karolingischen missi dominici mit den Herrschaftszentren und dem Herrschern der Beitrag von Steffen P ­ atzold,

Gemeinschaft – Zeugen – Vernetzungen

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schreiber von Tumult und einem skandalösen Ablauf des Geschehens, wie etwa anlässlich der Papsterhebung Gregors VII. geschehen, bei welcher das seit 1059 geltende Papstwahldekret keine Beachtung fand, oder bei dem im Juli 979 von Kaiser Otto II. auf seinem Reichstag in Magdeburg durchgeführten Gerichtsverfahren gegen den thüringischen Grafen Gero; dieser blieb im gerichtlichen Zweikampf Sieger, wurde aber dennoch auf Befehl Ottos II. enthauptet und dies, obwohl die Versammlung noch nicht vollzählig war6. Nur selten wurde der Kanon von Ordnungssystemen für Versammlungen durchbrochen wie bei diesem Formfehler Kaiser Ottos II. geschehen, als Gericht gehalten wurde, obwohl die für erforderlich befundene Mehrheit der Spitzenmagnaten des Reiches noch gar nicht auf der Versammlung eingetroffen war. Dieses Manko geriet dem Kaiser zu Kritik. An seiner Lenkungsbefugnis wurde damals gezweifelt7.

Rituale bei Gericht Die von der mediävistischen Forschung kaum behandelten Rituale bei Gerichtstagen und Gerichtsverhandlungen sind natürlich ein spannender Untersuchungsgegenstand, der neben den Handlungen der Selbstinszenierung von Einzelpersonen, Gruppen und Parteiungen auch Strukturen von Machtverhältnissen und deren Veränderungen im Laufe der Prozessgeschehnisse offen legt, wenn man sie aus den Rechtstexten und den Materialien der mittelalterlichen Beurkundung erschließen kann. Für die Zeit des Frühmittelalter und der in Rechtskompendien gesammelten und erhaltenen Stammesrechte der sogenannten Leges Barbarorum ist die verstorbene Rechtshistorikerin und Germanistin Ruth Schmidt-Wiegand solchen Phänomenen in ihren Forschungen nachgegangen und hat über gerichtliche Rituale und ritualisierte Verhandlungsformen

Integration durch Kommunikation: Ein Versuch über Herrscher, missi und Kapitularien im Karolingerreich, in: Wolfram Drews (Hg.), Die Interaktion von Herrschern und Eliten in imperialen Ordnungen des Mittelalters (Berlin 2018) 191–211. 6 Zu Gregor VII. und zum Papstwahldekret Detlev Jasper, Das Papstwahldekret von 1059: Überlieferung und Textgestalt (Sigmaringen 1986) und Elke Goez, Papsttum und Kaisertum im Mittelalter (Darmstadt 2009). Zum Verfahren gegen Graf Gero bisher nur bei Adelheid Krah, Absetzungsverfahren als Spiegelbild von Königsmacht (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 26, Aalen 1987) 310–312. 7 Thietmar von Merseburg, Chronicon, ed. Robert Holtzmann (MGH SS rer. germ. Berlin 1935) III, c. 9, 108 merkt dazu kritisch an: Haec pugna nullo nisi tantum archiepiscopo Aethelbero et Thiedrico placuit marchioni.

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Adelheid Krah

der fränkischen Zeit publiziert8. Beispielhaft sei auf ihre Studie zum in der Lex Salica überlieferten chrenecruda-Ritus hingewiesen, bei welchem die Bereiche Recht, Religion und Magie sowie die Inszenierung der Position der Einzelperson innerhalb ihrer Sippschaft für den Fall der Insolvenz des Schuldners öffentlich zur Schau gestellt wurden, und zwar in einem Ritual, das in merowingischer und karolingischer Zeit in dieser Form auch praktiziert wurde9. Hierbei hatte die Sippe die Möglichkeit, sich öffentlich von ihrem Angehörigen zu distanzieren, um nicht für dessen Schulden aufkommen zu müssen. Auch über die Zeichenhaftigkeit fränkisch-lateinischer Wortkombinationen und überlieferte Gesten bei Rechtshandlungen – stets in Anwesenheit der Öffentlichkeit, der sozialen Gruppen und Gemeinschaften, der Freunde, Familie, Dorfgenossenschaft und der Gefolgschaftsverbände – wurde von Ruth Schmidt-Wiegand viel Neues erforscht, insbesondere zu Ritualen und deren volkssprachigen Bezeichnungen, die sehr lange das prozessuale Geschehen wie das Rechtsleben des Mittelalters beherrschten10. Das alltägliche Geschäft der Prozessführung und Urteilsfindung der fränkischen und auch der baiuvarischen Grafen im Sinne der Reichsverwaltung wurde auf Versammlungen abgehandelt und öffentlich inszeniert, an denen immer eine größere, durch Religion, Gefolgschaft, settlement oder den Herrschaftsverband zusammengehörende Gemeinschaft anwesend war und verwaltungspolitisch eingebunden wurde, nicht zuletzt durch den Kreis der benötigten Zeugen für Kläger und Beklagte. Solche Zeugengemeinschaften wurden schriftlich namentlich erfasst; sie sind wesentlicher Bestandteile der Beurkundung der Rechtsentscheidungen gewesen, und zwar sowohl in den frühmittel  8 Vgl. etwa im Aufsatzband: Stammesrecht und Volkssprache. Ausgewählte Aufsätze zu den Leges barbarorum. Festgabe für Ruth Schmidt-Wiegand zum 1.1.2001, hg. v. Ruth Schmidt-­ Wiegand, Dagmar Hüpper, Clausdieter Schott (Weinheim 1991).  9 Ruth Schmidt-Wiegand, Chrenecruda. Rechtswort und Formalakt der Merowingerzeit, in: Stammesrecht (wie Anm. 8) 481–501. – Zur Person vgl. den Nachruf von Gerhard Dilcher, In memoriam. Ruth Schmidt-Wiegand zum Gedenken (1.1.1926–12.12.2014), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 134 (2017) 570–574 sowie jüngst zustimmend Stefan Esders, Wergeld und soziale Netzwerke im Frankenreich, in: Steffen Patzold, Karl Ubl (Hg.), Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300–1000), (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Bd. 90, Berlin, Boston 2014) 141–159. 10 Ruth Schmidt-Wiegand, Rechtswort und Rechtszeichen in der deutschen Dichtung der karolingischen Zeit, in: Frühmittelalterliche Studien 5 (1971) 268–283. Vgl. auch Ruth Schmidt-Wiegand, Rezension zu Gernot Kocher, Zeichen und Symbole des Rechts. Eine historische Ikonographie (München 1992), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechts­ geschichte. Germanistische Abteilung 112 (1995) 444–447.

Gemeinschaft – Zeugen – Vernetzungen

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alterlichen Gesellschaften nördlich der Alpen als auch in veränderter Form in Oberitalien aufgrund der Weiterentwicklung des spätantiken Notariatswesens11. Diese Namensreihen von Zeugen sind in den frühmittelalterlichen Urkunden und in den norditalienischen Notariatsurkunden und Protokollen zahlreich überliefert. Nur in späteren Kopien und bei Notizen, die zur Benützung in anderem Kontext hergestellt wurden, konnte man auf die Nennung der vollständigen Zeugenreihen verzichten, und dies auch deshalb, weil die öffentliche Inszenierung des Rechtsgeschehens bereits der Vergangenheit angehörte und nicht mehr relevant war.

Zeugengemeinschaft in narrativen Quellen? Ein Beispiel Auch bei narrativer Überlieferung eines Prozessgeschehens – etwa, um einen prominenten Fall aufzurollen – nämlich der beiden Verfahren gegen Herzog Tassilo III. – werden keine Namen von Zeugen überliefert. Zunächst wurde von Karl dem Großen im Jahr 788 in Ingelheim ein fränkisch-prozessualen Vorgaben folgendes Absetzungsverfahren inszeniert, das mit der Mönchung Tassilos endete, und im Jahr 794 in Frankfurt am Main, also sechs Jahre später, ein zweites, in Form einer Revision, diesmal nach kanonisch-rechtlichen Vorgaben, das anachronistisch mit dem endgültigen Herrschaftsverzichts des Mönches Tassilo endete. Freilich wird in den Reichsannalen von der Anwesenheit einer großen Menge führender Magnaten aus allen Teilen des Reiches berichtet; hier ging es vor allem um die Präsenz der militärischen Führungsschicht und der Elite der Adelsfamilien, welche auf diesen Reichstagen Gefolgschaftstreue und ihre Zugehörigkeit zur Oberschicht »ex gente francorum« gegenüber Karl dem Großen in Form einer gegenseitigen »shared Identity« zur Schau stellte. Bei Absetzungsverfahren vor Gericht durch Hochverratsprozesse bedurfte der Herrscher des Konsenses der Magnaten und seiner weltlichen und geistlichen Gefolgschaftsverbände, um die Stabilität des Reiches nicht zu gefährden. Dies erklärt, warum im Fall der Absetzung Herzog Tassilos ein zweifaches Gerichtsverfahren notwendig wurde nach weltlichem und nach kanonischem Recht, gegen den Herzog und gegen den Mönch. Es ermöglichte Karl dem Großen aber 11 Heinrich Fichtenau, Die Reihung der Zeugen in Urkunden des frühen Mittelalters, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 87 (1979) 301–315, weist auf die Unterschiede hin; während in Italien das »römische Rangklassensystem« Fortwirkung zeige, könne man doch davon ausgehen, dass Zeugengemeinschaften auch nördlich der Alpen nicht zufällig entstanden sind.

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auch eine gezielte Inszenierung seiner Machtposition vor seiner Gefolgschaft aus dem gesamten Großreich, insbesondere derjenigen aus dem baiuvarischen Dukat, den er durch die Entmachtung Tassilos usurpiert hatte. Das monströse Ordnungszeremoniell der Reichs- und Hoftage Karls des Großen war die Kulisse des Prozessgeschehens, bei dem der Herzog wie der Mönch Tassilo als Hochverräter abgeurteilt wurden. Es garantierte größte Öffentlichkeitswirksamkeit innerhalb der fränkischen Gesellschaft, der Laien wie der Geistlichkeit, und die Zurschaustellung der neuen, expansiven Machtfülle des Eroberers12. – Doch wer anwesend war, konnte auch in der Angelegenheit eines anderen intervenieren, sie stützen oder zu Fall bringen oder die Versammlung verlassen. Es hat den Anschein, dass 788 in Ingelheim noch keine endgültige Lösung möglich war, nur Haft in Form einer Klosterhaft, wie häufig in fränkischer Zeit praktiziert. Erst nachdem Tassilo sechs Jahre in Klosterhaft verbracht hatte, konnte ihm der Verzicht auf die weltliche Macht und ein lebenslanger Wechsel seines Habitus abgerungen werden, für sich und seine Familienangehörigen, wofür nunmehr offenbar die erforderliche Zustimmung von den Magnaten des Reiches geleistet wurde13. Hierbei erwies sich die in Frankfurt 794 anwesende Geistlichkeit als mächtiges, politisches Instrument der Reichsverwaltung, die während der zurückliegenden Jahre damit begonnen hatte, den baiuvarischen Dukat zu einer geistlichen Besitzlandschaft umzugestalten; ferner wurde die expansive Missionierung der heidnischen, slawischen Nachbarn vor allem von Salzburg aus propagiert. Dennoch blieb in den Zentren des baiuvarischen Dukats eine nachhaltige Reserve gegenüber dem neuen Machthaber und seinen Helfern bestehen, welche die narrativen Quellen nicht überliefern, die hingegen im Material der Freisinger Traditionsurkunden einen Widerhall gefunden hat. – Bei der Absetzung Tassilos III. hatte Karl der Große ein seit dem Beginn der karolingischen Königsherrschaft bewährtes und von seinem Vater Pippin erfolgreich praktiziertes Mittel angewandt14: 12 Adelheid Krah, Absetzungsverfahren (wie Anm. 6) 24–36; Dies., Art. Fürstenabsetzung, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 2, 8. Lieferung (2008) Sp. 1893–1895; Wilhelm Störmer, Art. Tassilo III., bayerischer Herzog (verst. nach 794), in: Lexikon des Mittelalters 8 (1997) Sp. 485–486. 13 Grundsätzlich waren die fränkisch-karolingischen und ottonisch-salischen Herrscher bei einer Fürstenabsetzung auf den Konsens der Magnaten angewiesen. 14 Noch immer gültig ist Werner Affeldt, Untersuchungen zur Königserhebung Pippins. Das Papsttum und die Begründung des karolingischen Königtums im Jahre 751, in: Mittelalter­ liche Untersuchungen 14 (1980) 95–187. Er zieht allerdings nicht den Vergleich zur Absetzung Tassilos III.

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Nach einer Anfrage beim Papst, um für das Vorgehen gegen einen christlichen Herrscher die mentale Unterstützung des Religionsoberhauptes der abendländischen Kirche zu haben, wurde Klosterhaft als auferlegte Buße zur Tilgung des sündhaften Widerstands gegen das vom Papsttum für rechtmäßig beurteilte christliche Königtum für den Gegner Tassilo verhängt. Diese Haft war offenbar zunächst eine befristete, welche erst nach Neuordnung der Kirchenorganisation im bayerischen Dukat, als der Plan einer von Salzburg abhängigen Kirchenprovinz und die Trennung von Aquileia heranreifte, in eine lebenslängliche umgewandelt werden konnte15. Das Ausschalten Tassilos und seiner Familie, der die südöstliche Flanke des Reiches erfolgreich gegen die heid­nischen Nachbarn gehalten hatte, war ein Problem gewesen, das Karl der Große nicht ohne Zugeständnis an das Papsttum lösen konnte. Die Verhandlungen liefen aber über Jahre konform mit der Diskussion theologischer Fragen zur Christologie; indem Karl an der Spitze der neuen fränkischen Großmacht seit 774 die theologische Position des Papstes und führender geistlicher Persönlichkeiten der fränkischen Kirche schützte, zu ihnen Freundschaften pflegte, im Jahr 787 nach Rom und sogar gegen die Langobarden südlich von Rom zog, empfahl er sich dem Papst als Patricius von Rom und als zukünftiger Alleinherrscher des christlichen Abendlandes. Diese Kooperation spiegelt sich exakt auf den großen geistlichen Versammlungen von 792 in Regensburg und 794 in Frankfurt wider, auf denen unter anderem die Lösung des Trinitätsstreites diskutiert wurde in Anwesenheit der Legaten, die Papst Hadrian gesandt hatte; ferner werden in den Quellen auch Paulinus, der Patriarch von Aquileia, und Bischof Arn von Salzburg unter den Anwesenden genannt. Auf der Synode von Frankfurt wurde die vom Papsttum vertretene »abendländisch-karolin­gische« Form der Christologie verabschiedet, wofür bereits auf der Synode von Regensburg 792 die Vorbereitungen gelaufen waren, ebenfalls in Anwesenheit von Pau­ linus und bayerischer Bischöfe. Mit Hilfe dieser Synodalbeschlüsse war Karl 15 Dies geht genau aus dem Kontext der Lorscher Annalen zum Jahr 794 hervor, Annales Laureshamenses pars altera 768–803, ed. Georg Heinrich Pertz (MGH SS 1, Hannover 1826) 30–39, c. XXVII, ad a. 794, 35 f. – Immerhin war Tassilo III. in das berühmte Reichskloster Lorsch am Mittelrhein gebracht worden, das Karl als Bildungszentrum privilegierte; vgl. hierzu Adelheid Krah, Die Herkunft des Fürstenhauses zu Leiningen. Zur Nachhaltigkeit eines Leitnamens und einer karolingischen Raumkonzeption, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 80/3 (2017) 663–697, hier 675 mit Anm. 41. Vgl. auch die ausführliche Version der Lorscher Annalen durch Einhard, Annales Laureshamensis, Einhardi Annales, ed. Georg Heinrich Pertz (MGH SS 1, Hannover 1826) 134–218, zum Jahr 787, 169–174, von Einhard stark modellhaft verändert und daher ad a. 794 ohne den Bericht von Tassilos Auftreten auf der Synode von Frankfurt, vgl. ebd. 180.

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ab 794 die militante Glaubensverbreitung nicht nur gegen Heiden sondern auch gegen Christen möglich geworden, die der östlichen Richtung der Bilderverehrung und dem Adoptianismus der spanischen Bischöfe um Felix von Urgel anhingen, welcher nunmehr häretisch und verdammenswert war. – Das bedeutete nun aber auch, dass Karl der Große aufgrund der Beschlüsse der Sy­ no­de von Frankfurt als einziger geistlicher Herrscher des Abendlandes an den Entscheidungen wichtiger theologischer Fragen beteiligt werden musste und verantwortlich für die Verbreitung der Lehre im gesamten fränkischen Reich war. Das Procedere der Gesetzgebung Karls des Großen und seines Nachfolgers spiegelt dies exakt über viele Jahre der karolingischen Herrschaft wider, denn meist wurden weltliche und kirchliche Regelungen auf den Reichstagen zusammen beraten, verabschiedet und auch so verschriftlicht – ungeordnet und selten nach kirchlichen und weltlichen Belangen gegliedert – und so auch im Reich kopial verbreitet. Aufgrund dieser neuen Machtfülle konnte Karl Tassilo III. als Konkurrenten auf der Synode von Frankfurt endgültig ausschalten16. Überliefert ist ein umfangreiches Synodalkompendium, das auch ein Kapitular enthält über die damals verabschiedeten Erlasse, betreffend überwiegend Neuregelungen zur fränkisch-karolingischen Kirchenstruktur, jedoch keine Teilnehmerliste17. Anwesend war aber eine große Gemeinschaft höchster Vertreter der geist­lichen Reichsaristokratie unter ihnen Bischof Arn von Salzburg, der Patriarch Paulinus von Aquileia, Abt Benedikt von Aniane mit einer Mönchsgruppe und andere. Diese Zeugengemeinschaft ist aus dem Kontext der Quellenüberlieferung erschließbar; über die prozessuale Fürstenabsetzung und Entmachtung Tassilos wurde eine protokollarische Urkunde in dreifacher Ausfertigung erstellt, die ebenfalls nicht überliefert ist18.

16 Vgl. zur großen Synode von Frankfurt von 794 Wilfried Hartmann, Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien (Paderborn 1989) 105–115. 17 Teil G Capitulare Franconofurt, in: Albert Werminhoff (ed.), Concilia aevi karolini I,1 (MGH Legum III, Concilia II,1, Hannover und Leipzig 1906) 19 Concilium Franconofurtense a. 794 110–171, 165–171. 18 Capitulare Franconofurt 166; Johannes Fried (Hg.), 794 – Karl der Große in Frankfurt am Main. Ein König bei der Arbeit, in: Ausstellung zum 1200-Jahre Jubiläum der Stadt Frankfurt am Main (Sigmaringen 1994) 25–34.

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Eingrenzung des Themas und Forschungsmethoden Im Folgenden soll die Bildung von sozialen Gemeinschaften im frühmittelalterlichen Bayern ab der Mitte der Herrschaft Tassilos III., des letzten Agilolfingerherzogs, und Karls des Großen bis zum Ende der Kaiserherrschaft seines Sohnes, Ludwigs des Frommen, im Jahr 840 anhand von Freisinger Traditionsurkunden untersucht werden. Der zu betrachtende Zeitraum erstreckt sich über eine Zeitspanne von nahezu 80 Jahren, beginnend um 765 bis zu den karolingischen Bruderkriegen (840–843) und dem Friedensvertrag von Verdun im Jahr 843 als zeitlichem Endpunkt. Es soll dabei auch die Reflexion neuralgischer Krisenzeiten in den Urkunden anhand einiger Beispiele thematisiert werden. Dieser Fokus ist neu und wurde in der Forschung methodisch bisher nicht angewandt. Um einerseits den Bogen nicht allzu weit zu spannen und einen konkreten Raum in den Blick zu nehmen und andererseits anhand eines gut überlieferten Quellenmaterials Beispiele von Vernetzungen sozialer Gemeinschaften und deren strukturelle Zusammensetzung aufzuzeigen, werden Beispiele aus dem Raum der damaligen Diözese Freising behandelt. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass der Raum der damaligen Diözese Freising noch keine fixen Diözesangrenzen und damit einen offenen Wirkungsbereich, ausgehend von der an der Isar gelegenen Zentrallandschaft, hatte. Leider geht die amerikanische Forschung in Hinblick auf die Freisinger Traditionsurkunden gelegentlich von den heutigen, modernen Diözesangrenzen aus, woraus sich ein falsches Bild ergibt19. Die Zeugenreihen der Freisinger Traditionsurkunden spiegeln häufig schlaglichtartig einzelne, soziale Strukturen wider, so dass komparativ deren Wandel innerhalb der wachsenden Diözese zu erkennen ist, ferner die sich verändernden oder konstant gebliebenen Raumstrukturen in den sogenannten »Siedlungskammern« – gerodeten und von Familienverbänden kultivierten Regionen an Gewässern und Seen des baiuvarischen Dukats – und deren Beziehungen zum Bischofssitz. Die Reihen der Zeugen der Rechtsvorgänge formierten sich zusehends, insbesondere bei Besitzübertragungen aber auch bei anderen wirtschaftlichen Transaktionen, zu geschlossenen Gemeinschaften, für welche die sozialen Bindungen zu den in den Urkunden genannten Tradenten und ihren Geschäftspartnern, den Freisinger Bischöfen und Äbten des Dukats, in der hierzu einschlägigen 19 So etwas jüngst Carl I. Hammer, Huosiland: A small country in Carolingian Europe (Oxford 2018) – vgl. dazu die Rezension von Adelheid Krah, Rez. Francia recensio (2018/2) DOI: 10.11588/frrec.2018.2.48311.

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Forschung an Beispielen nachgewiesen wurden20. Neben den weltlichen Zeugen begegnen oft auch vorrangig die Namen von Geistlichen, die den Rechtsakt durch ihre Anwesenheit bezeugten. Diese Namen können nach der Rangfolge der Geistlichen und ihren Funktionen geordnet sein, oder auch nicht, etwa wenn eine größere Versammlung unter der Leitung von Grafen stattfand. In solchem Fall führen deren Namen die Zeugenliste an21. Auffällig ist auch die dominante Rolle der Freisinger Bischöfe bei weltlichen Versammlungen und Gerichts­tagen, die aufgrund eines Beschlusses auf der erwähnten Synode von Frankfurt ausdrücklich dazu berechtigt waren. In Kapitel VI des Frankfurter Kapitulars von 794 heißt es nämlich: Statum est a domno rege et sancta synodo, ut episcopi iustitias faciant in suis parroechiis. Si non oboedierit aliqua persona episcopo suo de abbatibus, presbiteris, diaconis, subdiaconis, monachis et caeteris clericis vel etiam aliis in eius parrochia, venient ad metropolitanum suum, et ille diiudicet causam sum suffraganeis suis. Comites quoque nostri veniant ad iudicium episcoporum. Et si aliquid est, quod episcopus metropolitanus non possit corrigere vel pacificare, tunc tandem veniant accusatores cum accusato cum litteris metropolitano, ut sciamus veritatem rei 22. Mit Hilfe der prosopographischen Methode, mit der sich die mediävistische Forschung seit der Nachkriegszeit dem Namensmaterial in Quellen und dessen Erschließung widmet, lassen sich Reihen von männlichen Vornamen sozialen Rastern zuordnen; es werden Strukturen von Gemeinschaftsbildungen und deren Wandel durch soziale und politische Veränderungen erkennbar23. Dies gilt sowohl für weltliche Gruppierungen des Gefolgschaftswesens und aufgrund von Besitznachbarschaft, als auch für das entstehende geistliche Netz der Kleriker 20 Vgl. hierzu besonders die Arbeiten von Wilhelm Störmer, Früher Adel. Studien zur politischen Führungsschicht im fränkisch-deutschen Reich vom 8. bis 11. Jahrhundert (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 6,2 und 6,2 Stuttgart 1973) und Gertrud Diepolder, Freisinger Traditionen und Memorialeinträge im Salzburger Liber Vitae und im Reichenauer Verbrüderungsbuch. Auswertung der Parallelüberlieferung aus der Zeit der Bischöfe Hitto und Erchanbert von Freising, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 58 (1995) 147–189. Die jüngere Forschung hat die Erforschung von personengeschichtlichen Zusammenhängen eher vernachlässigt. 21 Quellenbeispiele bei Fichtenau, Die Reihung der Zeugen (wie Anm. 11) 303 f. und 311 f. 22 Capitulare Franconofurt (wie Anm. 17) c. 6, 166 f. 23 Vgl. bei Krah, Die Herkunft des Fürstenhauses zu Leiningen (wie Anm. 15) Punkt 2. Genealogische Wege 669–671.

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und Mönche in der Freisinger Kirchenprovinz und in den von Freising abhängigen Klöstern wie etwa Ilmmünster, Isen, oder sehr früh Scharitz-Schlehdorf; zu nennen ist hier auch die Freisinger Filiale in Moosburg, die an der Isar lag, nicht weit vom Bischofssitz entfernt24. Zur Veranschaulichung dieser Methode sollen hier aber zunächst zwei frühe alemannische Beispiele des St. Galler Urkundenbestandes aus dem 8. Jahrhundert dienen. Der Einfluss der beiden großen Klöster des Bodenseeraumes, St. Gallen und Reichenau, auf die Ausformung der Schrift-, Rechts-, Verwaltungs- und Wissenskultur in den neu gegründeten Bistümern des baiuvarischen Dukats – insbesondere im Bistum Freising – ist gut erforscht25. Beispiel 1: Beata und ihr Netzwerk bis nach Rom Südöstlich des Zürichsees bestand um 740 das vom Kloster Reichenau abhängige Filialklösterchen Benken, wo am 29. November 741 die wohlhabende Frau Beata, Gemahlin eines Landold, einige Höfe an neun aufgeführten Orten mit zahlreichen unfreien Arbeitskräften an das Klösterchen auf der Lützelau (heute Kanton Schwyz) schenkte. Datiert wurde diese Urkunde nach den Regierungsjahren des mächtigen fränkischen Hausmeiers Karlmann, Sohn Karl Martells, und nach dem damals im Thurgau amtierenden Grafen Pebo: regnante Carlomanno duce et Pebone comite. Die offensichtlich der romanischen Bevölkerungsschicht angehörende Beata unterzeichnete eigenhändig mit einem Kreuzzeichen und bestätigte ihre Schenkung gleichsam als vorrangigste Zeugin des Rechtsgeschehens – Signum † Beatanae, quae hanc donationem fieri et firmari rogavit; nach ihr bezeugten die Schenkung der Graf Pebo, ferner ein gewisser Munic sowie Arnefrid, der Abt des Klosters Reichenau, der damals zugleich Bischof von Konstanz war. Eine weitere Namensgruppe im Rang sicherlich nachgereihter Personen ergänzte diese Zeugengemeinschaft, nämlich Erchambert, Rihbert, Num., Butanc, Hesindus, Robertus; jeder firmierte für

24 Adelheid Krah,Veränderungen der Wirtschaftsentwicklung und der Strukturen im Bistum Freising zur Zeit der Bischöfe Hitto (810/11–834/35) und Erchanbert (835/36–854), in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 58 (2018) 5–110; Thomas Kohl, Presbyter in parochia sua: Local priests and their churches in early medieval Bavaria, in: Steffen Patzold, ­Carine van Rhijn (Eds.), Men in the Middle (Reallexikon der germanischen Altertumskunde Erg.bd. 93, Berlin u. a. 2016) 50–77, 4.6 Priests, their families and their resources. 25 Vgl. Bernhard Bischoff, Die südostdeutschen Schreibschulen und Bibliotheken in der Karolingerzeit 2 (Wiesbaden 1960); Katharina Bierbrauer, Die Ornamentik frühkarolingischer Handschriften aus Bayern (München 1979).

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seinen Konsens mit einem Kreuzzeichen26. Die urkundliche Bekräftigung der Schenkung der Beata im kleinen Filialklösterchen der Reichenau zu Benken kam demnach mit Hilfe einer illustren Gemeinschaft zustande, die nicht nur den Besitzwechsel als rechtmäßigen Vorgang schriftlich bezeugte, sondern auch aufgrund der herausragenden gesellschaftlichen Stellung der Personen dazu imstande war, die Einhaltung des Schenkungsvertrages zu garantieren. Es gibt eine Zeugengruppe von drei offenbar dem Adel angehörenden Personen und sechs weiteren wohl weltlichen Personen, mit der Besitz schenkenden Beata sind es sieben. Zur in der Urkunde aufgeführten Personengemeinschaft gehörte jedoch noch ein weiterer, großer Kreis von insgesamt 68 namentlich genannten, unfreien Arbeitskräften, die zusammen mit den Besitzungen – ihren Arbeitsplätzen – verschenkt wurden. Mit einigen dieser Personen zahlte Beata für die Memoria ihrer Mutter Atana, einer Romanin, welche aber erst drei Jahre später in einer zweiten erhaltenen Urkunde der Beata ihr als Mutter zuzuordnen ist. Mit einem ebenfalls im Klösterchen Benken ausgestellten Schriftstück wurde nämlich am 9. November 744 ein Kaufvertrag zwischen Beata und Abt Otmar von St. Gallen rechtskräftig. Damals schuf Beata die Voraussetzungen, um ihren Wunsch, nach Rom zu reisen, zu realisieren. Sie verkaufte umfänglichen Landbesitz und erhielt dafür Gold und 70 Silbersolidi, fünf Pferde, Saumzeug, Filzmäntel und andere Reisegegenstände. Wie in ihrer Urkunde vom 29. November 741, hatte sie den Mönch Hirinchus mit der Ausfertigung des Schriftstückes beauftragt, der inzwischen zum Lektor aufgestiegen war27. Anwesend waren die beide Vertragspartner, Abt Otmar von St. Gallen und Beata, deren verstorbene Eltern nun genannt sind, weil es sich bei den verkauften Ländereien offenbar um Erbbesitz handelte; ferner rangiert Graf Pebo/Bebo vom Thurgau als lokale Amtsperson und vorrangigster Zeuge des Vertrags. Dieser wurde nach dem dritten Regierungsjahr des merowingischen Königs Childerich III. und nach dem amtierenden Maiordomus Karlmann datiert, denn es heißt in der Urkunde: Ego in deo nomine Hiringus lector rogitus a Biatane (Beatane) anno III regnante Hilt­ rihho rege sub Carolomanno maiordomo et Bebone comite scripsi et subscripsi. Notavi sub die que fecit november dies VIIII28. – Beide Urkunden ergänzen sich, obgleich es sich um zwei völlig verschiedene Rechtsgeschäfte der Frau Beata handelte. Doch war der alemannische Dukat nach der von Karl Martell 741, im 26 Urkundenbuch der südlichen Teile des Kantons St. Gallen 1, bearb. von Franz Perret (St. Gallen 1961) nr. 11, S. 12 f. 27 Urkundenbuch (wie Anm. 26) nr. 13, S. 15. 28 Ebd.

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Jahr seines Todes, vollzogenen Teilung des fränkischen Prinzipats seinem erstgeborenen Sohn Karlmann, zusammen mit Austrien und dem thüringischen Bereich, als großes Gebiet des Maiordomats zugefallen, während der jüngere, Pippin, Neustrien mit Burgund und der Provence erhielt; der Sohn Karl Martells aus der Verbindung mit der agilolfingischen Swanahild war von seinen Stief­ brüdern wohl Ende 741 bereits ausgeschaltet worden29. In die anschließende Zeit der Eroberungszüge der Hausmeier Pippin und Karlmann um die Macht zu stabilisieren, fällt auch der Aufstand der alemannischen Herzogsfamilie und der Aufstand des baiuvarischen dux Odilo. Die Metzer Annalen berichten für diese Jahre bis 746 aus extrem einseitiger Sicht. Allerdings schaltete sich damals, und zwar im Gebiet des baiuvarischen Dukats, bereits das Papsttum ein, wohin Papst Zacharias den Priester Sergius sandte, wohl wegen der erst wenige Jahre bestehenden kirchlichen Neuordnung Bayerns. Die Metzer Annalen berichten zum Jahr 746 auch über das Blutbad von Cannstatt, bei dem die alemannische Oberschicht von Karlmann stark dezimiert wurde30. Nun stehen die Urkunden der Beata zeitlich im Zusammenhang mit dem Machtwechsel der Hausmeier. Vermutlich gehörte sie zur romanischen Oberschicht im Raum Zürich und suchte Schutz bei den beiden großen Klöstern des Bodenseeraumes St. Gallen und Reichenau. Vielleicht erschien ihr im Jahr 743 bereits ein Ausweichen nach Rom angebracht, womit sie nebenbei auch eine klare politische Position für den seit 741 amtierenden Papst Zacharias bezog31. Möglicherweise verbirgt sich hinter ihrer Pilgerreise auch eine Kundschaft, um die Situation und die Machtverhältnisse in und um Rom, das vom Langobardenkönig Liudprand damals stark bedrängt wurde, zu erforschen und bei ihrer Rückkehr davon zu berichten. Ob sie sich gänzlich nach Italien in ein Kloster zurückziehen wollte, ist schwer zu sagen; solches Verhalten wäre durchaus eine mögliche Variante; es würde dem Trend der Zeit entsprechen, denn auch der Hausmeier Karlmann, nach dessen Amtszeit Beata ihre zweite Urkunde datieren ließ, musste vor dem Machtanspruch seines Bruders ­Pippin 747 in das Kloster San Silvestro auf dem Monte Soracte weichen. Möglicherweise war Beatas Pilgerzug aber auch eine Bußleistung für begangenen Totschlag durch eines ihrer Familienmitglieder. Erhaltene Formelsammlungen, etwa aus Sens und dem Kloster auf der Insel Reichenau, 29 Annales Mettenses, ed. Georg Heinrich Pertz (MGH SS 1 Hannover 1826) ad a. 741, 327. 30 Ebd. ad 743, 328, und ad 746, 329. 31 Aufschlussreich zur Situation in Rom Paolo Delgu, Art. Zaccaria, santo, in: Massimo Bray (ed.) Enciclopedia dei Papi 1 (Rom 2000), online-Edition, Link: http://www.treccani.it/enciclopedia/santo-zaccaria_(Enciclopedia-dei-Papi)/ (Zugriff 18.2.2019).

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weisen bei solchen Delikten den Weg zur spirituellen Reinigung und Wiedererlangung des Prestiges der Familie mittels einer Pilgerreise nach Rom32. Jedenfalls greifen hier großräumig politische Verflechtungen zwischen Rom, den Hausmeiern und dem alemannischen Dukat ineinander, die durch die in beiden Urkunden genannten Personen, an deren Spitze eine Frau als Tradentin stand, uns überliefert sind. Beispiel 2: Familienclans als Friedensstifter Im Text einer undatierten, im Original erhaltenen Urkunde über einen nach langjährigem Grundstücksstreit gerichtlich errungenen Vergleich werden zwei vorher gegangene Verhandlungsphasen kurz protokollarisch erwähnt, bei welchen die streitenden Parteien Eide geschworen und in zweiter Instanz wieder abgeschworen hatten; erst auf Drängen ihrer Verwandtschaft kam ein Vergleich zustande. In diesem Fall unterzeichneten drei Richter und ein Geschworener durch Kreuzzeichen die Urkunde sowie vier namentlich genannte Zeugen – Amalo, Solvanus, Immo, Constantus –, die zu der den Streitfall abschließenden Verhandlung geladen worden waren. Diese vier Zeugen waren mit ziemlicher Sicherheit die Spitzenvertreter der beiden Familien der Prozessgegner33. Zusammen mit den drei Richtern und dem Geschworenen garantierten die Familien durch einzelne Mitglieder die Einhaltung des endlich errungenen Vergleiches und den wiederhergestellten Rechtsfrieden der Parteien. Diese Vergleichsurkunde dürfte um das Jahr 800 ausgestellt worden sein34. Schenkungs- oder Nutzungsverträge und Gerichtsentscheide über Besitzzugehörigkeiten bilden auch im Freisinger Traditionsbuch die beiden großen inhaltlichen Bereiche des kopial überlieferten Urkundenbestandes. Dazu kommen kleinere, meist überarbeitete Notizen von Aufzeichnungen über Freisinger Besitzungen, Tauschverträge und einige Quittungen. Über die Hintergründe dieser Verträge, etwa im Zusammenhang mit sozialen Disziplinierungsmaßnahmen, 32 Formulae Senonenses recensiores c. 11, 217 Tradituriam pro itinere pergendo ed. Karl ­Zeumer (MGH Leges V, Formulae Merowingici et Karolini aevi, Hannover 1886) und Formulae Augienses coll. C, c. 21, 374, ed. Karl Zeumer (MGH Leges V, Formulae Merowingici et Karolini aevi, Hannover 1886) im Muster eines Bittschreibens an den Abt heißt es: Et ni leudes nostri et equi fierent fessi ob nimitatem itineris, quod nos hoc anno Romam eundo Romamque redeundo peregimus, nullo modo omitterem vobiscum colloqui pacemque cum meis patribus, qui sub vestra paternitate degunt, mutuam habere. 33 Urkundenbuch (wie Anm. 26) nr. 20, S. 25. 34 Ebd.

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erfährt man selten etwas und wenn, dann nur indirekt, etwa wenn eine Person dem Freisinger Bischof ein Grundstück verkaufen musste, damit die hohe Summe einer Bußzahlung für begangene Körperverletzungen oder gar Totschlag beglichen werden konnte. Hierzu zwei unterschiedliche Beispiele: Beispiel 1 Auf fol. 350–350v des Traditionscodex findet sich ein Eintrag zu folgendem Sachverhalt, der hier zunächst in Form eines Regests wiedergegeben werden soll: Die Adeligen Pezzi und Managolt tauschen vor Zeugen aus ihrem Erbe Wald »ad Calcunpergun« von 50 Tagwerk gegen ein Pferd und Geld, um Wergeld zu erlegen. Sie bekräftigen dies später in öffentlicher Versammlung vor den Grafen Uuerinhar und Oago und zahlreichen Zeugen. 830 IV 27 (TF 592 a, b); Datierung auch nach dem 5. Regierungsjahr Ludwigs (d. Dt.) in Bayern (»regis Baiuuariorum«). Während für das Tauschgeschäft, das in Form einer kurzen Notiz überliefert ist, immerhin14 Zeugen namentlich genannt sind, war für dessen Bestätigung eine Zeugengemeinschaft von 32 Personen plus den beiden Namen der die Versammlung abhaltenden Grafen Uuerinhar und Oago notwendig. Der Vergleich der Zeugenreihen zeigt keine Person, die in beiden Urkunden doppelt verzeichnet ist; das bedeutet aber, dass die Bestätigung viel später erfolgte, als das eigentliche Tauschgeschäft und dass dieses ohne die aufwendige Revision auf der von den beiden Grafen abgehaltenen Versammlung und deren Billigung keinen weiteren Bestand gehabt hätte. Dass Pezzi und Manegold ein Pferd und Geld für Wiedergutmachung gebraucht hatten, war längst vergessen. Beispiel 2 Das Wergeld für einen Barschalken, der in die Dienste des Bischofs wechselte, konnte sehr hoch sein. Denn auf fol. 367v des Traditionscodex findet sich ein Eintrag zu folgendem Sachverhalt, der hier ebenfalls in Form eines Regests wiedergegeben werden soll: Der »sculdhaisus« Isanpart entrichtet an Bf. Erchanbert und an dessen Rechtsbeistand Odolt das Wergeld für seinen Barschalken Kaganhart und erhält dafür im Gegenwert Land zu jährlichem Pachtszins von 30 Denaren oder

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einem Goldsolidus am St. Martinstag. Freising 846 V 16 (TF 679); Schreiber: Cozroh, Priester35. Auch in diesem Fall dürfte es sich um ein Tauschgeschäft gehandelt haben, weil Kaganhart offenbar in die Dienste des Freisinger Bischofs wechselte. Das Rechtsgeschäft fand in Freising in Anwesenheit der gesamten bischöflichen familia am Sonntag Cantate, dem 16. Mai, vier Wochen nach Ostern statt, das im Jahr 846 auf den 18. April gefallen war. Die Zeugengemeinschaft führte der bischöfliche Advokat Odolt an; es folgen die Namen von sieben hochrangigen weltlichen Personen: Altrih, Hroadperht, Meginfrid, Oadalscalh, Alpker, Liutprant. Nendilo.

Das Quellenmaterial Das berühmte Freisinger Traditions- und Amtsbuch wurde vom Schreiber und Kanzleivorsteher Cozroh um die Mitte der Amtszeit Bischof Hittos in den Jahren 824/825 angelegt und großenteils auch selbst unter Beiziehung von Schülergruppen geschrieben. Dies lässt auf damals vorgenommene, umfängliche Ordnungsarbeiten der Urkundenbestände und des Wirtschaftsschriftgutes im Archiv der Freisinger Kanzlei schließen36. Das Traditionsbuch hat insgesamt eine Laufzeit von etwa 100 Jahren aufgrund der Urkundendatierungen von 744 bis 853 und der Amtszeiten von sechs Freisinger Bischöfen, nämlich Ermbert, Joseph, Arbeo, Atto, Hitto und Erchanbert. Bischof Hitto amtierte von 810/11–834/35, also 24 Jahre. Um das Jahr 825 hatte der am Bischofssitz verwahrte Urkundenbestand bereits ein beträchtliches Ausmaß erreicht: Er umfasste die von Hitto angeordneten und in der Freisinger Kanzlei verwahrten Urkunden inklusive der Urkundenbestände seiner Vorgänger sowie die nach Freising gebrachten Urkundensammlungen aus den Filialklöstern und bischöflichen Schreib­stuben in der Region. Anders als im Kloster St. Gallen, wo es während des ganzen Mittelalters nach Präferenzen und Provenienzen geordnete Urkundenbestände aber kein Tradi35 Digitalisat des Cozroh-Codex fol. 350–350 v, 830 IV 27 (TF 592a, b) und fol. 367v, 846 V 16 (TF 679), eingestellt bei der Bayerischen Landesbibliothek online (Bayerische Staatsbibliothek) Link: https://www.bayerische-landesbibliothek-online.de/cozrohregesten und Krah, Veränderungen (wie Anm. 24) 88, 95; Heiner Lück, Art. Bargilden, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 1 (2008) Sp. 448–450. 36 Vgl. Adelheid Krah, Die Handschrift des Cozroh, in: Archivalische Zeitschrift 89 (2007) 407– 431, hier 408–411.

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tionsbuch gab, musste in Freising erst eine Ordnung aufgebaut werden. Dies geschah mit dem Ziel, ein Urkundenbuch als handliches Duplikat zu besitzen; dadurch sollten künftig Verluste von wichtigen Dokumenten durch Unachtsamkeit oder deren absichtliches Entfernen vermieden werden. Ferner sollte ein handliches Instrument geschaffen werden, um mit Hilfe der Duplikate im Traditionsbuch nachträglich gefertigte Urkunden als Fälschungen entlarven zu können, wie dies Hittos Kanzleichef Cozroh im Prolog zu seinem Werk explizit betont. Wie in St. Gallen waren die frühen Freisinger Urkunden durch Kreuzzeichen der Geschäftspartner und von Zeugen beglaubigt worden; diese wurden von der Kanzlei bei der Anfertigung von Kopien reduziert und summarisch durch nur ein Kreuzzeichen ersetzt, welches bei der Namensreihe der Zeugen oder am Ende steht. Trotz dieser Vereinfachung wurde im Freisinger Traditionscodex bei der Kopie von sehr frühen Urkunden an der handschriftlichen Beglaubigungsform durch Imitate festgehalten, damit auch diese Kopien als rechtmäßige, urkundliche Nachweise des Freisinger Besitzes galten, den das Bistum durch frühe Schenkungen und weitere Transaktionen mit Familien und Einzelpersonen inzwischen angehäuft hatte. Die spätere kopiale Praxis verzichtete auf die Imitation der Kreuzzeichen. Mit der Ansammlung von Besitz mittels Schenkungen für Memorialgedenken setzte Bischof Hitto die von seinem Vorgänger und Verwandten Atto betriebene, gezielte Wirtschaftspolitik fort und baute das Bistum Freising zu einem wichtigen Machtzentrum des Karolingerreiches aus, das einen Großteil des kultivierten Landes besaß. So gelang es ihm, sein Bistum im Machtgefüge der karolingischen Kirchenorganisation und der Reformen Kaiser Ludwigs des Frommen sicher zu verankern. Das Traditionsbuch diente aber nicht nur als Kopie der angesammelten Urkundenbestände, es wurde dadurch vielmehr auch ein damals modernes Verwaltungsinstrument geschaffen, das auch die künftigen Schenkungen, Tauschgeschäfte und wirtschaftlichen Transaktionen enthalten sollte. Daher erstreckte sich die Arbeit daran insgesamt über einen Zeitraum von 24 Jahren; die letzte Urkunde wurde 848 ausgestellt und es gibt Nachträge von Dokumenten bis zu den Jahren 850 und 853. Man kann daher davon ausgehen, dass zunächst im Zuge von Ordnungsarbeiten die Nummerierung der Dokumente zur Anfertigung der Register des Freisinger Traditionsbuches vorgenommen wurde und dann die kopiale Verschriftlichung der vorhandenen Urkundenbestände bis zum Jahr 824/825. Diese Aufgabe dürfte von Schreibschule und Kanzlei relativ zügig auf einzelnen Lagen des hierfür vorbereiteten Pergaments durchgeführt worden sein. Ab diesem Zeitpunkt erfolgten, parallel zur Ausstellung einer Originalurkunde,

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deren Duplizierung und sukzessive Eintragung auf den weiteren Lagen des geplanten Codex. Dieser Befund macht deutlich, dass die Verwaltungstätigkeit im Bistum Freising unter Bischof Hitto ab dem ersten Viertel des 9. Jahrhunderts ein ganz anderes Niveau erreicht hatte als unter seinen Vorgängern37. Eine quantitative Analyse des gesamten Urkundenbestandes des Cozroh-Codex lässt zunächst einen stetigen Anstieg an ausgestellten Urkunden und Notizen bis zum Jahr 834/5 erkennen; da einige Urkunden im Kontext zusammengefasst oder gemeinsam mit anderen ausgestellt wurden, können Zahlen hier nur ungefähr angegeben werden: ȤȤ Für die Amtszeit Bischof Arbeos (764–783) sind 88 Urkunden registriert, ȤȤ für Bischof Attos Amtszeit (783–811) sind es 190 bis 200; ȤȤ Bischof Hittos Kanzlei fertigte mindestens 280 bis 310 Urkunden aus ȤȤ und in der Amtszeit Bischof Erchanberts sank die Zahl der ausgefertigten Traditionsurkunden und Notizen auf 132 Stück. Parallel dazu stieg die Zahl der unter Hittos Amtszeit noch geringen Tausch­ urkunden während der Amtszeit Erchanberts (836–854) erheblich an und löste die Praxis der Landschenkungen an Freising ab. Der Cozroh-Codex steht inklusive der von mir neu angefertigten Regesten als online-Edition im Portal der Bayerischen Landesbibliothek-Online der Bayerischen Staatsbibliothek und im OPAC der BSB zur Verfügung38.

Zeiten politischer, struktureller und gesellschaftlicher Veränderungen Die Zeiten politischer, struktureller und gesellschaftlicher Veränderungen im frühmittelalterlichen bayerischen Dukat werden im Urkundenbestand des Freisinger Traditionsbuches auf direkte und in indirekter Weise reflektiert. Eine gravierende Wende brachte das Jahr 788, in welchem der letzte Amtsinhaber des bayerischen Dukats aus dem Geschlecht der Agilolfinger, Tassilo III., von seinem Vetter, König Karl, auf nach fränkischen Vorstellungen legale Weise anlässlich einer Reichsversammlung in Ingelheim gefangen genommen wurde, um seine weitere Lebenszeit in Klosterhaft als Mönch zu verbringen, wie oben ausgeführt 37 Vgl. Krah, Cozroh (wie Anm. 36) 421 ff. 38 Wie Anm. 35.

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wurde39. Ferner waren die Jahre nach Tassilos Mönchung problematisch. Auch während der Regierungszeit Ludwigs des Frommen haben Krisenzeiten Widerhall in den Urkunden gefunden, zumindest macht sich aber eine Unsicherheit der bischöflichen Kanzlei in der Textgestaltung bemerkbar. Die Zeit der Herzogsherrschaft Tassilos III. Die unter den Karolingern bewährte Methode des erzwungenen Wechsels vom adeligen Stand und Habitus zum bescheidenen Mönch und eingeschossenen Anachoreten für unliebsame Konkurrenten aus der eigenen Familie, hatte im Fall Tassilos allerdings eine nicht zu übersehende zynische Note. Bekanntlich hatte sich Tassilo den systematischen Aufbau einer eigenen Landeskirchenstruktur in seinem Herzogtum zur Aufgabe gemacht und daher nicht nur den Ausbau der vier bayerischen Bistümer gefördert, sondern auch zahlreiche Klöster gegründet und seinem Schutz unterstellt und ausgebaut, wie dies etwa seine Schenkung von Innichen an das Kloster Scharnitz und an dessen Abt Atto zeigt: Diese Schenkung war eine herzogliche Memorialstiftung40. Daher wurde diese Herzogsurkunde im Freisinger Traditionsbuch von Cozroh sehr bewusst an den Beginn der Dokumente aus Attos Bischofszeit gestellt, die das Wirken und die Amtszeit Bischof Attos betrafen, weil er vormals Abt des Klosters Scharnitz gewesen war. Er scheint im Text folgendermaßen auf: Attoni abbati ad aecclesiam sancti Petri apostolorum principis seu caeterorum sanctorum apostolorum atque martyrum. Die Zeugen sind ausschließlich Männer, die damals der Gefolgschaft Tassilos im Raum Bozen angehörten; es heißt nämlich: † Signum manus meae propria Tassilonis donante atque confirmante. Actum in Bauzono rediente de Italia anno ducatui eius XXII. † Akizzeo † R ­ eginuuolf. † Signum manus Cundheri. † Drudmunt. † Pillunc. † Oatachar. † Hliodro. † Crimperht. † Pabo. † Hariperaht. † Kisolt. † Jubeanus. † Alim episcopus ­testes. Ego Anno indignus iussus scripsi et subscripsi41. In die prunkvolle Kopie der Urkunde, die zugleich das Initialblatt des Urkundenbestandes aus der Zeit Bischof Attos ist, wurden die Handzeichen der Zeugen aufgenommen. 39 Vgl. oben S. 19–22. 40 BayHStA HL Freising 3 a, Cozroh-Codex fol. 73, TF nr. 34. 41 Wie Anm. 40. – Das Kreuzzeichen hat im Original gleiche Seitenlängen.

Abb. 1: Cozroh-codex fol. 73 und 73v

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Aber noch mehr: Nach dem Vorbild des Herzogs agierte nachweislich die gesamte Oberschicht im Gebiet der allmählich entstehenden Freisinger Diözese. Somit wird die herzogliche Gefolgschaft durch die Gemeinschaft der Zeugen der Traditionen und der Kirchen- und Klostergründungen sichtbar. Sie dürfte mit der werdenden Oberschicht des agilolfingischen Herzogtums so ziemlich identisch sein. Diese Gefolgschaft wurde einerseits vom Herzog zum Militärdienst herangezogen, denn eine strenge Heeresordnung im bayerischen Volksrecht aus dieser Zeit überliefert Rangordnung und Disziplin als Komponenten des vasallitischen Systems mit dem Herzog als militärischem Anführer an der Spitze42. Andererseits war sie in engen Familienverbänden im Land organisiert; durch Schenkungs-Nutzungsverträge wurde des Weiteren die Oberschicht zunehmend an das vom Bistum Freising und seinen Bischöfen als Grundherren abhängige System der geistlichen Grundherrschaft nach dem Muster der spätantiken Prekarienverträge eingebunden. Schon vor einiger Zeit hat der bedeutende Erforscher der mittelalterlichen Klosterlandschaft in Bayern und Franken Wilhelm Störmer in einer Untersuchung zum Epochenjahr 788 für Bayern mehr als 50 bestehende Klöster feststellen können; nimmt man aber die vielen, in den Freisinger Urkunden überlieferten, von den einzelnen Familien ins Leben gerufenen und bestifteten Bethäuser noch dazu, dann gab es in der Diözese Freising um das Jahr 788 weit mehr als 50 geistliche Zentren43. Diese Bethäuser dienten den in kleinen Ansiedlungen der kultivierten Regionen, also in den bereits erwähnten sogenannten »Siedlungskammern«, zusammen lebenden Familien- und Sippenverbänden als öffentliche Versammlungsräume und Orte der spirituellen Erbauung und der regelmäßigen Kommunikation; hier fanden Taufen und andere Familienfeste statt, wie auch die Einsetzung von Familienmitgliedern als künftige Ortspriester, wenn die Familie oder häufig ein Onkel für den Neffen die notwendige Ausbildung in Freising finanziert hatten.

42 Vgl. Lex Baioariorum, hg. v. Roman Deutinger (Regensburg 2017) Tit. II, 72–80. 43 Eine Liste der frühen Klöster in Bayern der Agilolfingerzeit ist zusammengestellt von Wilhelm Störmer, Die baierischen Klöster der Agilolfingerzeit. Liste der Klöster, in: Hermann Dannheimer, Heinz Dopsch (Hg.), Die Bajuwaren (Salzburg 1988) 453–457. Vgl. auch Ders., Klosterplanung und Spielregeln der Klostergründung im 8. und 9. Jahrhundert, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 59 (1999) 1–22, hier 2 mit der Feststellung: »Überlegt man sich, daß in Bayern bis 788 über 50 Klöster in knapp einem Jahrhundert entstanden, wenn auch manche rasch wieder eingegangen sind […]«.

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Solche Fälle der Vorsorge für den Priesternachwuchs sind in den Traditionen zahlreich überliefert. – Die Lebensfähigkeit dieser Kommunikationszentren in Form von festen Bethäusern hing von zwei Faktoren ab: zum einen vom Ausmaß der wirtschaftlichen Ausstattung mit Grundbesitz, zum anderen von der Vernetzung der Neugründung mit der Bischofskirche auf dem herzog­lichen Burgberg in Freising. Als Beispiel soll nun – vergleichend zu der oben ausgeführten Schenkung der Beata an das Klösterchen auf der Lützelau – ein Parallelfall der Ausstattung eines Bethauses im bayerischen Voralpenraum durch eine Frau und dessen Anbindung an das Bistum Freising vorgestellt werden, welche 28 Jahre später erfolgte. Aufgrund der zeitlichen Nähe der beiden Urkunden sind sie vergleichbar. In einer Schenkungsurkunde mit Nutzungsvertrag, die Bischof Arbeo 769 für Kepahild, eine Frau aus der Oberschicht, ausstellen ließ, sind ihre Möglichkeiten der Geschäftsausübung genau umschrieben: Man erfährt nämlich, dass die Witwe Kepahild einst bei ihrer Heirat Güter am Germansberg, einem westlich von München bei Alling gelegenen kleinen Höhenrücken, als dos legitima erhalten hatte. Durch Bewirtschaftung, Zugewinn und durch ihren väterlichen Erbbesitz, gelang es ihr, hier ein kleines eigenständiges Siedlungszentrum aufzubauen44. Als dessen Mittelpunkt ließ sie eine Kirche errichten, die am 20. Januar 769 von Bischof Arbeo der hl. Maria, der Patronin der Bischofskirche von Freising, geweiht und noch am gleichen Tag mittels Schenkung vertraglich dieser unterstellt wurde. Das Rechtsgeschäft der Kepahild, einschließlich ihrer Dotation von zwei Hörigen an Freising, ist in der Ich-Form im Text formuliert, es heißt also adquisivi, coacervavi, donavi. Wie Beata handelte Kepahild demnach eigenständig ohne Rechtsvormund. – Doch noch am selben Tag wurde von der Schenkerin und ihrem Sohn und zukünftigen Rechtsnachfolger ein Nutzungsvertrag mit dem Bischof abgeschlossen, der die sofortige Bestätigung des Schenkungsvertrages der Mutter notwendig machte. Interessanterweise war der Sohn lediglich Mitbeteiligter; das Verfügungsrecht stand primär Kepahild zu, die abschließend den Vertragstext öffentlich vorlas, was in der Urkunde ausdrücklich vermerkt ist. Die beiden Zeugen dieser Schenkung waren neben Kepahild der Priester Ursus und ihr Neffe Cundpato. – Für den sehr kurzen, anschließenden Nutzungsvertrag bedurfte es hingegen einer längeren Zeugenreihe: An erster Stelle wird Bischof Arbeo mit seinem Zweitnamen »Heres« als Zeuge angeführt, nach ihm folgen die Namen von drei Priestern – Ratold, Ursus, Heimilo –, dann die Namen weiterer Personen, Arn, Chunihoch, Adalperht, Teto, Hramperht, Hroad44 Cozroh-Codex fol. 63–64, TF 30.

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perht. Die Zeugengemeinschaft war jedoch viel größer, worauf formelhaft verwiesen wird, wenn es heißt: et ceteri sine numero qui praesentes adfuerunt45. Am Ende des Textes vermerkte der Schreiber Heripald seinen Namen und den ihm von Bischof Arbeo erteilten Auftrag zur Ausfertigung des Gesamtdokuments in Form eines Kanzleivermerks46. Der Empfänger der Schenkung tritt hier gleichzeitig als Spitzenzeuge des Praekarienvertrages auf und garantiert dadurch die lebenslangen Nutzungsrechte für Kepahild und ihren Sohn an ihrem verschenkten Eigenbesitz. Bischof Arbeo handelte dabei aber entsprechend der üblichen Formalvorschrift – was bei der Interpretation von Freisinger Traditionsurkunden in Form von Schenkungs-Nutzungsverträgen bisher nicht so beachtet wurde. Man ging nämlich beispielsweise schon lange im Erzbistum Sens oder auch in St. Gallen ganz genauso vor und hatte dafür auch einen handlich überlieferten kleinen »Renner« als Ausführungsvorschrift für die Kanzlei, allerdings in Sens nur zum Gebrauch für vom Erzbischof getätigte Schenkungs-Nutzungsverträge – und daher personalisiert. Unter dem Titel Praestaria beginnt der Text wie folgt mit der Einleitung Ille sancte Senonice ecclesiae archiepiscopus und anschließendem Vertrags­muster47. In den Klöstern St. Gallen und Reichenau existierten sehr genaue Vorschriften und Textmuster zur Abfassung von Schenkungs- Nutzungsverträgen. Anders als die Salzburger Sammlung, die überwiegend Vorlagen für die Briefkorrespondenz enthält und nur wenige Textmuster für Schenkungen von Klerikern, bieten die alemannischen Formelsammlungen ein breites Spektrum für grundwirtschaftliche Transaktionsverträge an, wie sie im fränkischen Reich üblich waren. Das Formular für eine Traditio durch einen Mann ist anders gestaltet als das bei Schenkungen durch die Ehefrau zu verwendende. Nutzungs­ verträge konnten unterschiedlich sein – etwa mit Vereinbarung von Jahreszinszahlung oder noch ohne Zinszahlung. Auch bei Säumnis war noch nicht die Abhängigkeit als künftig unfreie Arbeitskraft des geistlichen Grundherrn die Folge. Zwischen Praekarien – und Praestarienverträgen wurde unterschieden. Die Zahl der Zeugen war genau festgelegt. Bei einem Praekarienvertrag waren sieben geistliche und ihnen folgend sieben weltliche Zeugen namentlich aufzulisten: 45 Cozroh-Codex fol. 63–64, TF 30. 46 Cozroh-Codex fol. 64, TF 30, 58 f.: Post haec peracta traditione pariter manu commune cum filio meo iterando firmavi super ipsum altarem in eadem verba ut superius. 47 Formulae Senonenses, ed. Karl Zeumer (MGH Leges V, Formulae Merowingici et Karolini aevi Hannover 1886) 19 und 20, 723 f.

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Signum abbatis, qui hanc praecariam fieri atque firmare rogavit. Signum praeposito et decano et cancellario et camerario et portario et seniorum fratrum inter totos. Signum de ipsa familia ecclesiastica laicorum septem consentientes. Signum aliorum Alamannorum, ubi ipsa tradicio adesse videntur48. Die Zahl der geistlichen Zeugen wurde in der Praxis oft verkürzt zu drei Personen, und die im Formular nach Rangordnung genannten konnten auch alternativ auftreten. Die Anwendung der fränkischen Formvorschriften aus St. Gallen und dem alemannischen Raum zeigt sich in vielen Freisinger Traditionsurkunden. Sogar das in einem Textmuster einer Einleitungsformel angeführte Patrozinium der hl. Maria und des hl. Petrus wurde passend übernommen; freilich wurden im Muster die Namen der Mutter Gottes und des hl. Petrus als höchste Heilige auch stellvertretend für andere, einzusetzende Kirchenpatrone platziert. Die Proömiumsformel lautet: Domina sacrosancta basilica sanctae Mariae semper virginis seu sancti Petri apostoli ceterorumque sanctorum, quae est constructa in loco nuncupante illo … Dum non est incognitum …49. Spannend ist die vorgeschriebene Anzahl der Zeugen, die auch in Freising Beachtung fand. Dies soll an dieser Stelle aber nicht detailliert ausgeführt werden. Allerdings darf bei der Analyse der Freisinger Urkunde der Kepahild die Inszenierung als wichtiger Bestandteil des Rechtsvorganges nicht vergessen werden. Man muss sich vorstellen, dass Kepahild diesen Teil ihres Besitzes ererbt, vergrößert und ausgebaut hatte. Vielleicht war damals der Germansberg auch gerodet und kultiviert worden. Jedenfalls ist die Anhöhe noch heute mit Forst und Feldern bewirtschaftet. Das Ziel ihrer Bemühungen war aber die Versorgung der Menschen dieser Gegend mit einem Bethaus. Von Freising aus dürfte Bischof Arbeo etwa eine gute halbe Tagesreise unterwegs gewesen sein, um die Kirche zu weihen. Die Kirchweihe bildete das öffentliche Szenario für die Verlesung des Schenkungs- Nutzungsvertrages durch Kepahild am Altar ihrer gestifteten Kirche vor einer Menschenansammlung – Klerikern, Nachbarn, Verwandten, Freunden, Arbeitskräften –, welche nach 48 Vgl. in der Edition von Eugène de Rozière, Recueil général des formules usitées dans l’empire des Francs du Ve au Xe siècle, 1 (Paris 1859) 412–414, 436 f., Tit. CCCXL Cessio ad aecclesiam § 2 Praecaria, § 3 Paestaria ad ecclesiam und Tit. CCCLI Carta post cartam nach dem Codex der Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. Sang. 550, letzter Titel war ein viel verwendetes Muster in den Freisinger Traditionen (TF) mit genauer Beachtung der Zeugenvorschrift nach Rang und Zahl. 49 Rozière, Recueil (wie Anm. 48) Tit. CLXXXIV, S. 226. Das Wort illo steht als Platzhalter für den jeweils einzusetzenden Ort.

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den namentlich genannten Zeugen in der Urkunde mit der Formel et ceteri sine numero qui praesentes adfuerunt umschrieben ist. Der eigentliche Rechtsakt – die öffentliche Kundmachung des Vertragstextes durch die Tradentin – war eingebettet in das Zeremoniell der Konsekration und stellte sicherlich den Höhepunkt des Festes dar. Der große Bestand der überlieferten Urkunden aus der Amtszeit Bischof Hittos (811–834/5) zeigt, dass das Vertragsmuster des kombinierten Schenkungs-Nutzungsvertrages von der bischöflichen Kanzlei vorrangig verwendet wurde. Das heißt, dass sich gegen Ende der Kaiserherrschaft Karls des Großen und während der stabilen Regierungsjahre der Herrschaft seines Nachfolgers die spätantike Praxis der Grundherrschaft und der Bewirtschaftung in der Diözese Freising durchgesetzt hatte. Auch während der Amtszeit Bischof Erchanberts wurde diese bewährte Praxis von Landerwerb durch den Bischof bei Bewirtschaftung und Nutzung durch die Schenkenden noch etwas fortgeführt; sie endete dann aber abrupt in der Zeit der karolingischen Bruderkriege – wohl auch deshalb, weil für derlei Praktiken kaum noch Zeugen aufzutreiben waren und die Position des Bischofs als politische Instanz damals geschwächt war. Für diese, im Urkundenbestand nicht zu übersehenden Veränderungen konnte nur ein politischer Umschwung den Impuls gegeben haben. Die Zeit nach der Herzogsherrschaft Tassilos III. Aber blenden wir zurück in die Zeit des bayerischen Dukats nach der Mönchung Herzog Tassilos vom Jahr 788. Während der folgenden Jahre lässt sich in den Freisinger Urkunden in den Datumszeilen und bei den Zeugengruppen eine Unsicherheit feststellen. Auch wurde die Leitung der Bischofssynoden, die vormals Tassilo vermittelnd innehatte, so überliefert für die Synode in Dingolfing im Jahr 770, nun direkt der fränkischen Reichskirche unterstellt und die Zugehörigkeit der bayerischen Kirchenprovinz zum Patriarchat von Aquileia beginnt zu verschwimmen. Auch lenkten jetzt zunehmend landfremde fränkische Grafen das Land. Es wurde beispielsweise auf fol. 95 des Codex die 44. Urkunde der Amtszeit des Bischofs Atto, welche die Schenkung des Bethauses in Altham vom Jahr 790 durch das adelige Paar Uuelto und Pilihilt beinhaltet (Altham ist heute noch ein Kirchdorf im Landkreis Erding), zunächst nach dem 2. Jahr der Absetzung Herzog Tassilos datiert: Actum est haec IIII. Kal. Mai. In secundo anno translatus est Tassilo dux de regno suo50. 50 Cozroh-Codex fol. 95–95v, TF 127b.

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Viel später wurde der Text überarbeitet und die Schenkung daher noch einmal auf fol. 158v–159 im Codex dupliziert; sie war registriert und nummeriert in der Kanzlei als 177. Urkunde Bischof Attos und hat nun folgenden, veränderten Datierungs­vermerk: Hoc autem factum est die consule quod facit IIII kal. Mai. Anno secundo quod domnus rex Carolus baiovariam adquisivit ad [et] Tassilonem clericavit51. Man sieht hierbei sehr deutlich die retrospektive Überarbeitung und Angleichung des Kanzleimodus an die neuen politischen Gegebenheiten. Gab es Veränderungen in der Zeugenreihe? In der ersten Urkunde heißt es: Haec sunt testes: Tarchanat archipresbiter, Uuicrat, Isaac diaconi, Lanto, Eodunc, Meginrat, Meginhart, Liutuni, Hroadolt – also ein Erzpriester, zwei Diakone und sechs weltliche Zeugen. Die überarbeitete Version des Textes ist narrativ stark ausgeschmückt nach den einzelnen Punkten des Rituals: Es habe zunächst Uuelto öffentlich die Schenkung des Bethauses an Freising bekundet, das nun im Text schon zur Eigenkirche geworden war, denn Uuelto habe gesprochen Tradidi propriam basilicam meam; danach sei seine Gemahlin vorgetreten und habe gleiches gesprochen. Hier stellt sich nun die Frage, ob es sich um eine für das Adelspaar vorgefertigte Urkunde handelte, da Uuelto in der Person des Erzählenden den Sachverhalt wiedergibt, oder ob der Bearbeiter den Text der Ersturkunde nun nach einem erweiterten Formular aus der bischöflichen Kanzlei für Schenkungs­ verträge mit Memorialgedenken neu stilisiert hatte? Auch sei die Rechtshandlung vor Bischof Atto geschehen – ob in Freising oder am Ort des Bethauses wird nicht erwähnt. Intendiert wird jedoch die Vorstellung einer Weihe der Basilika durch Atto. Daher wurde die Zeugenreihe in der überarbeiteter Form der Schenkungsurkunde folgendermaßen ausgestaltet: Actum est haec in praesentia domni Attonis episcopi et aliorum. Tarcnat archipresbiter, Uuicrat monachus, Pern presbiter, Isaac diaconus. Nunc autem testes per aures retracti, Eodunc laicus, Meginrat laicus, Meginhart laicus, Liutuni laicus, Hrodolt laicus52. In der Zeugenreihe der Erstfassung fehlt noch die Person des Priesters Pern; ferner wurde in der zweiten Urkunde großer Wert auf die Unterscheidung der geistlichen von den weltlichen Zeugen gelegt. Diese sollten nämlich nach der Rechtsvorschrift der Lex Baiuvariorum an den Ohren gezogen werden, damit sie mittels diesem, ihnen nach dem Stammesrecht zustehenden baiuvarischen Ritual die Bekundung der Rechtmäßigkeit des Vorgangs lautstark äußerten, weil sie kein Latein verstanden. Das sogenannte »Ohrenziehen« ist jedoch in der Lex 51 Cozroh-Codex fol. 159, TF 127a. 52 Ebd.

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Baiuvariorum nicht im Kontext mit Schenkungs-Nutzungsverträgen an ein Kloster oder Bistum überliefert, sondern es sollte für den Abschluss von Kaufverträgen angewandt werden und zeichnete grundsätzlich einen rechtmäßigen Zeugen aus, welcher im Streitfall dann auch vor Gericht zur Aussage berechtigt war. Das Ritual rührt demnach aus früher Zeit her und war Gewohnheitsrecht. Hierauf nimmt der Text in der frühen Handschrift der Lex Baiuvariorum, München BSB Clm 19415, sowie auch in anderen Handschriften ausdrücklich Bezug, denn das »Ohrenziehen« wird aus fränkischer Sicht als baiuvarisches Recht bezeichnet. Zum Abschluss eines Kaufvertrages waren zwei oder drei Zeugen nötig: Titel XVI. De venditionibus. […]. Ille testis per aurem debet esse tractus, quia sic habet lex vestra; duo vel tres debent esse testes. Venditio si fuerit violenter extorta, id est aut metu mortis aut per custodiam, nulla ratione firma sit53. Ein Schenkungs-Nutzungsvertrag mit dem Bischof von Freising als Vertragspartner erforderte freilich mehr als zwei bis drei Zeugen und war, wie oben ausgeführt, nach den Mustern der fränkisch-alemannischen Formulae auszustellen. Was die Zweifachausfertigung der Schenkung des Bethauses in Altham durch Uuelto und Pilihilt anbelangt, können wir eine Stilisierung des Textes der Zweitausfertigung durch verschiedene Textbausteine feststellen und aufgrund dieser einmaligen, im Codex überlieferten Doppelausfertigung einer Urkunde im Ergebnis vermuten, dass auch andere, ähnlich ausschmückend gestaltete Texte Derivate pompöser Selbstdarstellung durch die bischöfliche Kanzlei in Freising in der Zeit Karls des Großen waren, um die Krise im Land durch fiktive Übertreibung zu vertuschen. Andererseits wird gezielt auf die Eigenständigkeit des Dukats hingewiesen und auf den beibehaltenen Usus der Zeugen, die nach Vorschrift des baiuvarischen Stammesrechts durch das Ohrenziehen die Recht­ mäßigkeit der Verträge der bischöflichen Kanzlei bestätigten. Das hier verwendeten Textmuster für Memorialgedenken mit Besitztradition und spiritueller Eingangsformel entsprach fränkischem Standard; das Ritual des Ohrenziehens hingegen ist bei der Überarbeitung der Urkunde als ein ganz bewusst gesetztes Indiz zu werten für die Eigenständigkeit des baiuvarischen Rechtsraumes innerhalb des überwiegend nach salfränkischem und ribuarischem Recht ausgerichteten fränkisch-karolingischen Großreiches54. 53 Lex Baioariorum (wie Anm. 42) Tit. XVI, 2, 126; vgl. die Ausgabe der Lex Baiwariorum, ed. Ernst von Schwind (MGH Leges I, Leges nationum Germanicarum V, 2, Hannover 1926) Titel XVI, 2, 432 mit Variantenapparat. 54 Zur Differenzierung nach Stammesrechten in Oberitalien ab 774 vgl. Eduard Hlawitschka, Franken, Alemannen, Bayern und Burgunder in Oberitalien (774–962), (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 8, Freiburg i. Br. 1960).

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Die Zeit der Regierung Kaiser Ludwigs des Frommen Eine ähnlich schwierige Situation gab es nach dem Tod Karls des Großen von 814, als sein Sohn Ludwig der Fromme die alleinige Kaiserherrschaft übernahm. Seit Karls Reichsteilung von 806 war der bayerische Dukat Teil des Königreichs Italien, dem Karls Sohn Pippin und nach dessen Tod sein Enkel Bernhard vorstanden. Doch bereits am Beginn seiner Alleinherrschaft setzte der neue Kaiser seine eigenen territorialen Vorstellungen für Bayern um, wo nun sein erstgeborener Sohn Lothar – gerade 20 Jahre alt – in Freisinger Urkunden mehrfach als König begegnet. Die Kanzlei Bischof Hittos datierte damals Urkunden zum Jahr 815 kaisertreu – oder vielleicht auch voreilig – nach Lothars erstem Regierungsjahr in Bayern und zwar in mehreren Schenkungsverträgen von Priestern, die in Anwesenheit des Domkapitels ritualisiert verlesen und im Traditionsbuch im Kontext niedergeschrieben wurden55. Ein Beispiel Zunächst das Regest: »Traditio Uuagoni capellani et Totoni laici«, 815 III 13 und 815 IV 20 (TF 333a, b). Rechtsgeschäft des Kaplans Uuago zu Pfettrach (Gde. Wang, Lkr. Freising) an zwei Terminen: Zunächst erwirb Uuago eine Kolonie am Nandlbach zu Pfettrach von seinem Oheim Toto, wobei im Kaufvertrag die spätere Schenkung an Freising festgehalten wurde. Im zweiten Schritt wird in Freising in Anwesenheit des Domkapitels eine testamentarische Schenkungsurkunde für den Zeitpunkt ihres Ablebens erstellt, welche die Erweiterung der in Pfettrach bereits bestehenden Familienstiftung durch die Kolonie des Toto ist. Schreiber: Tagobert [jetzt] »presbiter et monachus« auf Anweisung Bf. Hittos. – Datierung auch nach dem ersten Königsjahr Lothars in Bayern (»anno primo Hlotharii regis in Baioaria«)56. Bischof Hittos Kaplan Uuago, der in späteren Urkunden auch als sein Stellvertreter auftritt, gehörte dem zu Pfettrach im Lkr. Freising siedelnden Familien­ verband an. Er erwarb von seinem Onkel Toto hier eine Kolonnie am Nandl­ 55 Vgl. Beispiele dazu im Traditionsbuch Cozroh-Codex fol. 202v–220, TF 352, 333a, b, 351, 347 a, b, 345 und andere. 56 Cozroh-Codex fol. 203v–204v, Urkunde Hitto nr. 30, vgl. bei Krah, Veränderungen 42 f.

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bach zu Pfettrach, also bewirtschaftetes Land, gut gelegen zwischen zwei Bächen, wobei zugleich festgehalten wurde, dass diese Kolonie dem Bischofssitz in Freising unter dem Patronat der hl. Maria tradiert werden sollte. Dies geschah in Zolling, wo sich eine Außenstelle der bischöflichen Kanzlei befand, am 13. März 815. Die Zeugen waren: Oadalrih, Uuolfheri, Isanperht, Hrodprant, Deotrih, Codedeo, Unroh presbiter. Es dürften hier weitere Familienmitglieder diesen Kauf bzw. Verkauf bezeugt haben. Vier Wochen später tradierten Kaplan Uuago und sein Onkel den Besitz dem Bischof in Freising in Anwesenheit des gesamten Domkapitels. Es wurde eine testamentarische Schenkungsurkunde für den Zeitpunkt ihres Ablebens erstellt, welche die Erweiterung der bereits in Pfettrach bestehenden Familienstiftung durch die Kolonie des Toto festhält. Diese Urkunde ist datiert nach dem zweiten Kaiserjahr Ludwigs des Frommen und dem ersten Königsjahr seines Sohnes Lothar in Bayern – anno primo Hlotharii regis in Baioaria57. Die Reihe der Zeugen ist enorm: An erster Stelle steht Toto – auctor huius traditionis, es folgt eine Namenreihe weltlicher Personen; danach werden die Spitzenvertreter des Domkapitels genannt – das hier als cuncta familia sanctae Mariae firmiert, angeführt von den beiden Erzpriestern Johannes und Heribert58. Es handelt sich also um eine carta post cartam-Ausfertigung nach kirchlich-­ fränkischer Formel59. Die Datierung nach Lothar verschwand in den Freisinger Traditionen, nachdem er im Jahr 817 zum Mitkaiser erhoben worden war. Es folgte wiederum eine Phase der Unsicherheit, die Bischof Hitto allerdings elegant umschiffte, indem er den Kontakt zum Kaiserhof hielt – eine Reise dorthin bedeutete für ihn und sein Gefolge allerdings auch immer eine unsichere Rückkehr60. Stabilität wurde erst mit der Einsetzung Ludwigs des Deutschen als vom Kaiser abhängiger König in Bayern erreicht. Man war in Freising erleichtert und datierte daher nach der Ankunft Ludwigs und seiner Gemahlin sowie bei deren Reisen nach ihrer Rückkehr nach Bayern – in ipso anno quo filius eius 57 Cozroh-Codex fol. 203v–204v (Hitto nr. 30) 815 III 13 und 815 IV 20 (TF 333a, b). 58 Cozroh-Codex fol. 204v. 59 Vgl. oben bei Anm. 48. 60 Vgl. Adelheid Krah, Das Archiv als Schatzhaus? Zur Aufbewahrung von Verwaltungsschriftgut im frühen Mittelalter, in: Francia. Forschungen zur Westeuropäischen Geschichte 43 (2016) 1–19, hier 17 mit Anm. 63. Cozroh-Codex fol. 322–323v, TF 522, Bischof Hitto tradierte unter Vorbehalt umfangreichen Eigenbesitz zugunsten seines Neffen und späteren Nachfolgers Erchan­bert am 30. April 825, wenige Stunden vor seiner Reise an den Kaiserhof nach Aachen; vgl. auch Krah, Cozroh-Regesten online-Edition BSB/BLO, Link: https://www.bayerische-landesbibliothek-online.de/cozrohregesten4 (Zugriff am 05.03.2019).

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Hludouuicus rex in Baiouuaria venit61. Ferner schloss sich Bischof Hitto eng an seinen Amtskollegen Baturich von Regensburg an; ihr Zusammenwirken auf Synoden und Gerichtstagen überliefern die Urkunden. Die Reichskrise von 830 bis 833 und zweimalige Entmachtung Kaiser Ludwigs des Frommen durch seinen Sohn Lothar führte in der Freisinger Kanzlei zu völliger Verwirrung. – Sie geriet aus den Fugen: Die Urkunden wurden nicht mehr nummeriert, viele verschiedene Hände duplizierten im Codex, Einträge wurden vergessen und auf ungeeigneten, aber freien Halbseiten gedrängt nachgetragen, gebündelte Dokumente falsch platziert und vieles mehr. Auch gewann die militärische Seite der bischöflichen Gefolgschaft an Bedeutung – ja nach dem Tode des Kaiser zog Bischof Erchanbert – Hittos Nachfolger – gar mit in den Krieg. Dies überliefert ein grandioses Rechtsgeschäft, das im Lager vor Verdun im Jahre 843 Bischof Erchanbert mit seinem Gefolgsmann Paldrich abgeschlossen hat62. Dieser musste damals viel Land dem Bischof verkaufen, um dadurch für sein Heereskontingent den Rückzug nach Bayern zu finanzieren. Paldrich erhielt 250 Pfund Geld – pecunia valente libras CCL – gegen Besitz an vier Orten. Das Rechtsgeschäft wurde am 10. August 843 im Lager vor Verdun getätigt. Das bedeutet nun, dass damals das Reich im Friedensvertrag von Verdun – der ja nicht als Dokument überliefert ist – schon geteilt war. Die gesamte bayerische Gefolgschaft trat als Zeugenreihe auf: An der Spitze Pfalzgraf Fritilo und fünf auch sonst aus den Freisinger Urkunden bekannte Grafen: Cundpald, ein weiterer Graf Cundpald, Ratold, Heriland und Orendil. Es folgen die Namen von 72 weltlichen Zeugen, danach bezeugen acht Vasallen eines Frieso das Rechtsgeschäft, dann die Vasallen des Paldrich. Deren Konsens dürfte für den Abschluss entscheidend gewesen sein. Hierzu das Regest: Im Lager zu »Dungeih« vor der Stadt Verdun verkauft der ehrwürdige Mann, der Adelige Paldricus an Bf. Erchanbert seinen Besitz zu Tandern und Hilgertshausen (heute Gde. Hilgertshausen-Tandern, Lkr. Dachau) und an anderen Orten für 250 Pfund Geld, den Erchanbert seinen beiden Neffen und ihrem Rechtsbeistand Eberhard mit je einem Denar Jahreszins zur Bewirtschaftung überträgt. – Geschehen in Anwesenheit des bayerischen Heerbannes, des Pfalzgrafen Fritilo, bayerischer Grafen und Krieger, Freisinger Vasallen und der 61 Cozroh-Codex fol. 311v–312, TF 534, von 826 VI 17. 62 Cozroh-Codex fol. 394–395, TF 661.

Gemeinschaft – Zeugen – Vernetzungen

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Vasallen Paldrichs zum Zeitpunkt der Teilung des Karolingerreiches in Verdun durch Lothar, Ludwig (d. Dt.) und Karl II., 843 VIII 10 (TF 661). – Die Investitur des Vogtes Eberhard für die Neffen des Bischofs erfolgte am 22. August und ist auf fol. 395 in den Text inseriert. Lit.: Vgl. zur Situation im Lager vor Verdun Krah, Potestas regia 201, sowie zu den Verträgen von Verdun und Coulaines 187–255. Komm. zur Handschrift: Text von Cozrohs Hand 63. Vor Verdun fand eine öffentliche Besprechung zwischen dem Adeligen Pald­ rich und Bischof Erchanbert statt, welche die Finanzierung des Rückzugs zum Gegenstand hatte. Die Details erfahren wir nicht. Doch war der Bischof im Stande, den Rückzug zu finanzieren, versteht sich – gegen ein lukratives Geschäft an Grund und Boden. Dieses Geschäft wurde auf der Versammlung der bayerischen Gefolgschaft und des Militärs in Dungeih, im Lager König Ludwigs des Deutschen nahe Verdun, vermutlich anlässlich der Organisation des Rückzugs, nachdem das Frankenreich geteilt und wieder Friede eingekehrt war, öffentlich inszeniert.

Fazit Aus dem umfangreichen Material des Freisinger Traditionsbuchs konnten hier nur wenige Beispiele vorgestellt werden, in denen sich aber ganz unterschiedliche Konstellationen von sozialen Gemeinschaften und Zeugengruppen finden. Es hing von der Bedeutung des Rechtsgeschäfts, dem Status der Personen, den politischen Gegebenheiten ab, in welchem Ausmaß und in welcher Form Zeugen auftraten; ihre Zahl war zunächst strikt geregelt und konnte je nach Anlass und Gewicht des Vertrages erweitert werden. Besonders beliebt in SchenkungsNutzungs­verträgen war der Hinweis auf die Anwesenheit der gesamten Freisinger familia – also auf öffentliche Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts und öffent­ liche Inszenierung an den Bethäusern der Region oder der Basilika der hl. Maria und des hl. Corbinian in Freising. Die Zahl der Zeugen und ihre Aufgaben im Streitfall waren für weltliche Rechtsgeschäfte in der Lex Baioariorum geregelt. Aus den Formelsammlungen der fränkisch-karolingischen Zeit geht aber hervor, dass Schenkungen an Klöster und Bischofssitze sowie Praekarienverträge nach einheitlichen Mustern zu fer63 Vgl. auch Krah, Cozroh-Regesten online-Edition BSB/BLO, Link: https://www.bayerischelandesbibliothek-online.de/cozrohregesten4 (Zugriff am 05.03.2019).

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Adelheid Krah

tigen waren und hierfür drei oder sieben Zeugen beigezogen werden mussten. Diese Ambivalenz zwischen einerseits kirchlichen – römisch-rechtlichen – Vertragsmustern und dem weltlichen Ritual des Ohrenziehens der Zeugen, damit sie ihre Anwesenheit in einem auf Latein abgefassten rechtlichen Procedere kund taten, wurde in der Forschung bisher nicht beachtet. Sie liefert aber den Schlüssel zum Verständnis der Freisinger Traditionen. Das Prinzip der Öffentlichkeitswirksamkeit galt auch für die Aufzeichnung der Rechtsgeschäfte und die Verlesung des Inhalts der Dokumente vor Publikum. Ging es in der Frühzeit des Bistums unter der agilolfingischen Herzogsherrschaft darum, eine Kirchenstruktur in Form einer geistlichen Grundherrschaft aufzubauen und möglichst viel Besitz anzusammeln, so wurde das Modell von Schenkungs-Nutzungsverträgen – donatio mit praecaria oder praestaria – zunehmend Standard in der Karolingerzeit. Wie im Gallien der Spätantike oder im langobardischen Oberitalien orientierten sich die weltlichen Herrscher des baiuvarischen Dukats – Herzog Tassilo, Karl der Große, Ludwig der Fromme, Lothar und Ludwig der Deutsche – zunehmend an den geistlichen Institutionen und förderten sie, um das Land zu regieren. – Die Ritualisierung innerhalb der Gemeinschaft war notwendiger Bestandteil der Vertragsabwicklung – sei es in der an Freising tradierten Eigenkirche einer Familie der Oberschicht oder in der Basilika der hl. Maria zu Freising anlässlich eines Festes oder im Rahmen von Synoden. Das Urkundenmaterial überliefert für Bischof Hitto (810–835) 23 Synoden und nahezu ebenso viele Gerichtstage, die er gemeinsam mit Grafen in der Diözese abhielt. – Besonders deutlich wird diese Zusammenarbeit aber an Beispielen aus dem militärischen Bereich. Hier glänzt natürlich der im historischen Kontext des Frieden von Verdun von 843 erhaltene Kauf­vertrag, der zeigt, über welches Ausmaß an pekuniären Mitteln damals das Bistum Freising verfügte.

Claudia Römer

Networks of witnesses at the 16th-century cadi court of Siklós, Hungary?

Abstract: Ottoman cadi court registers (sicill) contain copies of documents (ḥüccet) issued by a cadi. They summarize the cases dealt with at court. Witnesses play a prominent part, not only those who testify to the truth of any statements, but also the şühūd el-ḥāl “the witnesses of the procedure”, whose names are given at the end of each document in the originals and the sicill. Often there is the same group of şühūd el-ḥāl throughout a large number of cases. For Istanbul and several provinces of the Ottoman Empire, sicills are extant and some have been published. However, sicills from Hungary are rare. ÖNB A.F. 30 is a collection of 34 original Ottoman documents from the end of the 16 th century. Like other such collections in the Austrian National Library, it must have been some booty from the Ottoman-Habsburg wars. A.F. 30 was bound together at an unknown date. One item in it is a three-folio fragment of a sicill from the cadi court of Siklós dated 979/1571–72. The aim of this paper is to determine if a network of witnesses of the procedure in this Hungarian provincial town can be established.

Ottoman cadi court registers (sicill; kadı sicilleri = şer‘iyye sicilleri)1 contain copies of documents (ḥüccet) issued by a cadi, sultan’s decrees, as well as estate inventories of deceased persons whose heirs could not settle their differences about the heritage. In this case, a list of the former owner’s belongings with the worth of each item was drawn up and entered into the sicill. Subsequently, the items were auctioned and the money was divided among the heirs according to the sharia. Original ḥüccets were given to the plaintiff or the initiator of the transaction2. Not every case was entered into the register, nor was the chronological order always respected. A large part of the ḥüccets concern a transaction between two parties who are as a rule not opposed to each other, like property sales, manumission of slaves, loans, but also divorces. Other cases, however, deal with lawsuits about criminal actions either by private persons or by officials who by their behaviour cause damage and loss to the treasury. In Ottoman Turkish, sicill ‘cadi court register’ is an Arabic loanword, which in its turn had taken it over from Greek σιγίλλ(ι)ον < sigillum ‘seal’. For an in-depth overview, see Suraiya Faroqhi, Art. Sidjill in Ottoman Administrative Usage, in: Encyclopaedia of Islam 9 (Leiden 1997) 539–545. 2 Mübahat S. Kütükoğlu, Osmanlı Belgelerinin Dili (Diplomatik) (İstanbul 1994) 350.

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Claudia Römer

We do not witness the outcome of each individual case, nor the decision taken. All we see is the statements of the two parties and the request that the statements should be entered into the sicill. Ḥüccets summarize each case that was dealt with at court in a formulaic language, where direct speech plays an important part. However, one must not think that the wording of these passages reflects what was really said, but the direct speech is also rendered in a formula-like stereotyped way. Most people summoned to court will probably have given garbled accounts of what happened, nor did they probably have any juridical knowledge3. Original ḥüccets start with the invocation in its simplest form, i. e. hüve “He”, at the top of the document. The text begins after an empty space of respect. The ḥüccet, being a legal instrument, has to have a means of corroboration. This is the cadi’s so-called “expression of authentication” or verifying clause (‘ibāre-i taṣdīḳ), which is written above the text into the space of respect. Besides stating that the content of the ḥüccet is in accordance with the truth, in the ‘ibāre-i taṣdīḳ, the cadi mentions his and his father’s names and the place of his office. Often he adds his seal. At the end of the text, the date is given and the witnesses of the procedure (şühūd el-ḥāl) are enumerated, with the cadi’s signature as the last item4. What are the differences between the ḥüccet and its entry into the sicill? The entries in the sicill are exact copies of the ḥüccets except for the fact that they lack the invocation, the ‘ibāre-i taṣdīḳ and the cadi’s seal. An important group of people are the witnesses, who are of two kinds: First of all, those who testify to the truth of any statements or events. Their testimonies occur in direct speech and usually contain a formula, saying “We are witnesses for this, and we witness that …”. The second group of witnesses are those who give testimony about the correct procedure of the trial or the transaction. As mentioned above, they are called şühūd el-ḥāl “the witnesses of the procedure”. It is this latter group that will interest us here. According to the sharia, there always has to be a minimum of two witnesses. In the Ottoman context, we usually find four to six of them. Their names and often their professions are given at the end of each document,

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On this issue, see Gilles Veinstein, La voix du maître à travers les firmans de Soliman le Magnifique, in: ed. idem, Soliman le Magnifique et son temps (Paris 1992). 4 For the formulas and other characteristics of ḥüccets, see Vančo Boškov, Die ḥügˇgˇet-Urkunde. Diplomatische Analyse, in: eds. Aldo Gallotta–Udo Marazzi, Studia turcologica memoriae Alexii Bombaci dicata (Napoli 1982).

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both in the originals and the sicill. Their names are written under the prolonged letter şīn marking the beginning of the expression şühūd el-ḥāl. There may be different people present for different cases. But often we can see the same group of şühūd el-ḥāl throughout a large number of cases. This suggests the existence of some kind of network of persons interested in court procedures who were available to the cadi whenever necessary. It still is not clear how or under which circumstances one could become a member of the şühūd el-ḥāl 5. However, many of them belonged to the class of the ‘ulemā or some other important group like military commanders and influential persons in general. The şühūd el-ḥāl had no influence on the outcome of the trial or transaction, but could advise the cadi on issues of procedure6. It seems that the şühūd el-ḥāl were people with an interest in the case, or with a professional connection to it. E.g., they belonged to the ‘ulemā when some ‘ulemā were involved, they were janissaries if a janissary was involved in the case. The same goes for artisans and other groups. However, they were not supposed to have a family or other direct link with the persons involved7. There has been some discussion whether the cadis had lists of potential şühūd el-ḥāl 8. In the sicill, if exactly the same persons appear in subsequent entries, they are not mentioned again. In such cases, the final entry only says: es-sābiḳūn “the previous ones”. This is obviously not done in the original single ḥüccet documents. For Istanbul and several provinces of the Ottoman Empire, sicills are extant and some have been published9. However, no complete sicill from Hungary seems to have survived, except one from Temesvár of 1651–53 and one from Karánsebes and Lúgos of 1673–7510 and five others, which have been mentioned without any details11.

 5 Rossitsa Gradeva, A Kadi Court in the Balkans. Sofia in the seventeenth and early eighteenth centuries, in: ed. Christine Woodhead, The Ottoman World (Abingdon–New York 2013) 67– 68.   6 For a thorough discussion of this kind of witnesses, see, e. g., Ronald C. Jennings, Kadi, Court, and Legal Procedure in 17 th C. Ottoman Kayseri: The Kadi and the Legal System. Studia islamica 48 (1978) 142–148.  7 Claude Cahen, A propos des Shuhūd. Studia Islamica 31 (1970) 75.  8 Ibid.   9 For Istanbul, see Türkiye Diyanet Vakfı İslâm Araştırmaları Merkezi, url http://www.kadisicilleri.org/, 2014, [20.3.2019]. 10 Klára Hegyi, The Terminology of the Ottoman-Turkish Judicial Documents on the Basis of the Sources from Hungary, Acta orientalia academiae scientiarum Hungaricae 18 (1965) 191– 192. 11 Yunus Uğur Art. Şer’iyye Sicilleri, in: Türkiye Diyanet Vakfı İslam Ansiklopedisi 39 (2010) 10.

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At the Austrian National Library, there are several collections of original Ottoman documents bound together at unknown dates (ÖNB A.F. 32; A.F. 2, A.F. 30, A.F. 157)12. The documents must have been gathered during one of the Ottoman-Habsburg wars or skirmishes, presumably after 1683 or 1686 (the Ottoman defeat at Vienna and the Ottoman loss of Buda respectively). One item in ÖNB A.F. 30 is a three-folio fragment of a sicill of the cadi court of Siklós dating from the year 979/1571–72. The aim of this paper is to discuss whether the people who were being used as witnesses of the procedure in this Hungarian provincial town had formed a network amongst themselves and/or between them and the persons involved in the cases and the cadi. This fragment of a sicill is bound upside down compared to the other documents in the volume. Therefore, what actually is fol. 1r is its end when turned around. The correct reading direction being from right to left with the Arabic script, one has to start with 3r (which, as a matter of fact, would be folio 1v of the sicill). However, I will stick to its original pagination. All the documents are concerned with problems of tax farms. In the Ottoman Empire, tax farming was applied within the so-called iltizām system. There were several distinct muḳāṭa‘as or tax districts, like the toll of bridges, ports, the agricultural produce of a certain region, city etc. A contract was drawn up between the central administration and a mültezim or ‘āmil who offered to collect the highest sum among other applicants. The period of time of the contract always was three years. The mültezim had an emīn at his side who was responsible for the bureaucratic functioning and the collection of money. A kātib (scribe) was employed as well. The financial situation and the correctness of the procedures were regularly controlled by the authorities, i. e. a cadi was appointed as a so-called müfettiş, an inspector13. 12 For editions and discussions of roughly 150 documents from these collections, see Claudia Römer, Einige Urkunden zur Militärverwaltung Ungarns zur Zeit Süleymans des Prächtigen, Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hungaricae 43 (1989/1991) 23–80; ­eadem, Eine Sultansurkunde zum Feldzug gegen Wien 1683, in: eds. Christa Fragner–Klaus Schwarz (†), mit einem Vorwort von Bert G. Fragner, Festgabe an Josef Matuz. Osmanistik-Turkologie-­ Diplomatik (Islamkundliche Untersuchungen 150, Berlin 1992) 225–237; eadem, Drei Urkunden Murāds III. zu Timarangelegenheiten, Osmanlı Araştırmaları 12 (1992) 289–306; eadem, Osmanische Festungsbesatzungen in Ungarn zur Zeit Murāds III., dargestellt an Hand von Petitionen zur Stellenvergabe (Schriften der Balkan-Kommission, Philologische Abteilung 35, Wien 1995). eadem, Zu Verlassenschaften und ihrer fiskalischen Bearbeitung im Osmanischen Reich des 16. Jhs. Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 88 (1998) 185–211. 13 Klaus Schwarz, Osmanische Sultansurkunden. Untersuchungen zur Einstellung und Besoldung osmanischer Militärs in der Zeit Murāds III. Aus dem Nachlass hrsg. von Claudia Römer. (Freiburger Islamstudien 17 Wiesbaden 1997) 50–82.

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All the fifteen documents in this sicill concern a certain mültezim Nuṣret, whose full name is only given once as Nuṣret bin Ḳaragöz (N. son of Ḳ). On the opposite side, there is his emīn ‘Alī Cān, who was apparently guilty of having appropriated for himself money belonging to the fisc from various muḳāṭa‘as in the region around Siklós, Nagy Harsány, Beremend, Osijek, Ridfalu, and Gradiška. In one instance, he simply took someone’s salary for himself (2v/3). He was also known to have drawn up a list of ṭapu title deeds (documents about land ownership), but some places were missing from this list (2r/3). The fraud that is most probably hinted at here is that he would nevertheless collect the money from these places, but as they were not registered anywhere, he would keep the money for himself instead of delivering it to the fisc14. The details of ‘Alī Cān’s case have apparently surfaced during an inspection (teftīş) of several of Nuṣret’s muḳāṭa‘as. ‘Alī Cān pleads guilty of each accusation. All the entries into the sicill are dated between Cemāzī I and II 979 (September–November 1571). Here, we will give one example only, as publishing and discussing all the documents with the various frauds in detail would distract from the main focus of this paper, i. e. the networks of witnesses15. *** ÖNB A.F.30/3r/4 vech-i taḥrīr-i sicill oldur ki Nuṣret el-mültezim ḥīn-i teftīşde emīni ‘Alī Cān yüzinde ba‘de t-teftīş rūz-i Ḫıżır İlyās panāyırı maḥṣūlinden Efendi ketḫüdāsı Muṣṭafā ketḫüdā yedinden otuz beş ġurūş ḳabż ėtmişdür su’āl olınsun dėdüginde bil-muḳābele su’āl olınduḳda panāyır maḥṣūlinden m[ezbūr] ketḫüdā yedinden otuz beş ġurūş ḳabż ėtduġına muḳırr olduġı ecilden mültezim Nuṣret ṭalebiyle sicill olındı el-vāḳı‘ fī evā’il-i şehri Cemāzī l-āḫir sene 979 şühūd es-sābıḳūn The reason for the entry into the sicill is the following: During the inspection, Nuṣret the mültezim said in the presence of his emīn ‘Alī Cān, “After the

14 For 16 th-century frauds of all sorts, see Claudia Römer–Nicolas Vatin 2016, Faux, usage de faux, faux témoignage, accusation mensongère et usurpation d’identité à la fin du règne de Soliman le Magnifique, in: eds. Johannes Zimmermann, Christoph Herzog, Raoul Motika, Osmanische Welten: Quellen und Fallstudien. Festschrift für Michael Ursinus. (Bamberger Orientstudien 8. Bamberg 2016) 509–561. 15 The transliteration of the text as well as of technical terms throughout the article follows the Turkish system, with the exception that the closed e is rendered by ė instead of i.

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inspection, he received 35 ġurūş16 of the income of the Ḫıżır İlyās Day fair (5–6 May)17 from Muṣṭafā ketḫüdā, the ketḫüdā (chief steward) of the Efendi18. He shall be interrogated”. When he was confronted (with this statement) and interrogated, he declared that he had received 35 ġurūş of the income of the fair from the above ketḫüdā. Therefore this was entered into the sicill on request of his mültezim Nuṣret. This took place in the first decade of the month of Cemāzī II of the year 979 (21–30 October 1571). The former witnesses. *** On the last page (1r), the end of the sicill is marked by the sum of 177.563 aḳçe, probably of all the money that was missing, based on the sicills and the lists drawn up by Mecdī Efendi and ‘Osmān Efendi as well as by the cadi of Peçūy/ Pécs. Its date is Şa‘bān 979 (December 1571–January 1572). To this note is added an ‘ibāre-i taṣdīḳ, a verifying clause, by the deputy cadi (müvellā?)19 of Siklós Muṣliḥuddīn with the seal of Muṣṭafā bin İlyās, probably the cadi of Siklós. At first, one might think that Mecdī Efendi and ‘Osmān Efendi could have been scribes (kātibs) of the mültezim Nuṣret bin Ḳaragöz and they could have drawn up the lists on the latter’s request. However, it is not very probable that in the 16 th century, a simple scribe would have been given a then rather honorific title of Efendi. Maybe they were some notables or had some office. Also, one cannot be sure that they were not perhaps ordered to do so by someone else like the sancaḳbey or even the beylerbeyi of Buda.

16 A ġurūş was a silver coin worth 50 aḳçe during this period, see Ludwig Fekete Die Siyāqat-­ Schrift in der türkischen Finanzverwaltung (Budapest 1955) I 238. 17 The so-called rūz-i Ḫıżır, the Day of Ḫıżır, was a spring festival and at the same time marked the day of the beginning of military campaigns. Also known under the names of Hızır İlyas or Hıdrellez, it plays an important role in folk tradition. For further information, see, e. g. Ahmet Yaşar Ocak, Art. Hıdrellez, in: Türkiye Diyanet Vakfı İslâm Ansiklopedisi 17 (1998) 313–315 and Altan Gökalp Hızır, İlyās, Hıdrellez: Les Maîtres du temps, le temps des hommes, in: eds. Rémy Dor–Michèle Nicolas, Quand le crible était dans la paille: Hommage à Pertev Naili Boratav (Paris 1978) 211–231. 18 It is not quite clear whether the Efendi was Nuṣret the mültezim. 19 On discussions about the term of müvellā (or muallā?), see, e. g., Asparoukh Velkov Signatures-formules des agents judiciaires dans les documents ottomans à caractère financier et juridique. Turcica 24 (1992) 197 and Phokion Kotzageorgis, P. The multiple certifications in Ottoman judicial documents (hüccets) from monastic archives. Archivum Ottomanicum 31 (2014) 119–120 and note 9.

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Thus, we can establish that the following two opposed parties and officials are involved in the Siklós sicill fragment: ȤȤ The plaintiff Nuṣret bin Ḳaragöz – mültezim, who is supported by a number of witnesses of the deeds of ȤȤ the defendant ‘Alī Cān/‘Alīcān – emīn ȤȤ Authors of lists of the latter’s frauds •• Mecdī Efendi •• ‘Osmān Efendi •• the cadi of Peçūy/Pécs ȤȤ Cadi and his deputy cadi (el-müvellā) of Siklós This fragment, or rather this extract, of a sicill could have been drawn up in order to send it to Istanbul together with the defendant in order to punish him. In so-called registers of important affairs (Mühimme Defterleri), we often encounter sultan’s decrees ordering a cadi to investigate a case. If the defendant is found guilty, the cadi is supposed to enter the case into the sicill and send him bound and in chains together with the respective copy of the sicill to the Porte, so that he can be punished/sent to the galleys/executed20. Maybe ‘Alī Cān was executed, for there is another document concerning him in ÖNB A.F. 30, namely his probate inventory (muḫallefāt defteri)21. Fig. 1: ÖNB A. F. 30 1r=Sicill 3v (Foto: Claudia Römer)

20 For some examples, see Römer –Vatin, Faux, Annexe II (cit. n. 14). 21 ÖNB A.F. 30, fol. 16. Römer, Zu Verlassenschaften 190, n.17 (with a reference to the Siklós sicill), 203–207; 211 (cit. n. 12).

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It was drawn up in the presence of the deputy cadi (müvellā?) of Siklós Muṣliḥuddīn and again, Muṣṭafā bin İlyās, who probably was the cadi of Siklós, added his seal22. The inventory is dated with the first decade of Zī l-ḳa‘de 979 (16– 25 March 1572), thus is posterior to the sicill extract. After the deduction of taxes and dues, the rest sum of the worth of ‘Alī Cān’s belongings is 14.083 aḳçe, not even 10 % of the sum given in the extract of the Siklós sicill. Let us now look at the şühūd el-ḥāl of this extract or fragment of the Siklós sicill. The following table gives all the names of the people functioning as şühūd el-ḥāl together with the documents they occur in, the numbers after the folio numbers being the numbers of the documents on each folio. There is a clear indication that they were used as a more or less constant group, testifying to the correctness of the procedure in all the cases that concerned ‘Alī Cān and Nuṣret bin Ḳaragöz. The core group of witnesses clearly are Muṣṭafā Çavuş, Rüstem Çavuş23, Ḳurd Ḫvāca, and Muṣṭafā Tercümān, with Ḥasan son of Ferhād being present quite often as well. The services of the tercümān i. e., the dragoman or interpreter, will have been needed as in some cases Christian subjects were involved who probably could not have followed the procedure without a translator. And as he was there anyway, he was at the same time used as one of the şühūd el-ḥāl. Table 1

Muṣṭafā Çavuş

3r/1–4

2v/1 and 4

2r/1–3

1v/1–2

Rüstem Çavuş

3r/1–4

2v/1 and 4

2r/1 and 3

1v/1–2

Ḳurd Ḫvāca

3r/1–4

2v/1–4

2r/1–2

1v/1–2

Ḥasan (b.) Ferhād

3r/1–4

2v/1

2r/1–2

Muṣṭafā Tercümān

3r/1–4

2v/1–3

2r/1–3

Ḳurd Ḫalīfe

2r/3

Meḥmed Çelebi cadi of Mohács

2v/2–4

Ivaz el-ḫaṭīb/Ḫvāca

2v/2–4

Ḳurd çavuş-i defter-i Budūn

1v/1–2

2r/2–3 1v/4

22 For the text of the seal, see Römer, Zu Verlassenschaften 205 (transliteration) and 207 (translation) (cit. n. 12). Cadis often entrusted their deputies, i. e. the nā’ibs, with drawing up the probate inventories (see Halil İnalcık, Osmanlı İdare, Sosyal ve Ekonomik Tarihiyle İlgili Belgeler: Bursa Kadi Sicillerinden Seçmeler III. Köy Sicil ve Terekeleri. Belgeler 15 (1993) 23, see also Römer, Zu Verlassenschaften 186, n.5 (cit. n. 12). 23 The title of Çavuş implies that they were messengers, like some of the other witnesses of the Siklós sicill. Maybe they had brought some documents to court and thus were present and could function as şühūd el-ḥāl.

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Networks of witnesses at the 16th-century cadi court of Siklós, Hungary?

Muṣṭafā Çavuş el-ḥavāle

1v/4

Sinān el-muḥāsib24

1v/4

Memi Şāh

1v/4

“and others”

3r/1–4

2v/1–3

2r/2–3

1v/4

The trouble with identifying any person in the Ottoman Empire is that there is only a limited number of names which often are combined with father’s names and/or professions, or even their nisbe, meaning the addition of their place of origin (or the city they live in). So for instance, there are hundreds of thousands of men called Meḥmed, son of Muṣṭafā. Wherever it is important to discern people who have the same names, their particulars are given (e. g., of medium stature, bearded, with eyebrows apart). Thus, in this list, we assume that there are three different men called Ḳurd – the one who is the çavuş of the Buda registers, and then two others, one a ḫvāca (hoca, a religious teacher)25 and one a ḫalīfe, an assistant. This distinction is fairly probable, but we cannot be sure at all whether Muṣṭafā Çavuş and Muṣṭafā Çavuş el-ḥavāle (el-ḥavāle being the person who transfers money by bringing it) are two different Muṣṭafās or just one and the same man. In such cases, one must be lucky enough to find complementary data, either Ottoman or European. Among all the people mentioned here, the only one who has been identifiable so far is Memi Şāh who only occurs once. By a fortunate coincidence, I owe all this information to Nedim Zahirović from Leipzig who asked me to read a yet unpublished manuscript of his, which in the meantime has been published26. Memi is an abbreviated form of Meḥmed. This man is also known as Memi Beg, Mehmed Beg, in one instance probably also Meḥmed Za‘īm (the usufructuary of a ze‘āmet, a middle-sized fief). In the second half of the 16 th century, he was the captain of Osijek and the Drava river, as well as emīn of large territories of Srem (some emīns became mültezims themselves – emīn-i mültezim). In 1565 he also was head of all the fiefholders of the districts of Osijek and Đakovo. It is not clear if a certain Memi Ağa who is attested as captain of the Drava later on is the same person. It seems Memi died during the battle of Sisak along with

24 The title of el-muḥāsib means that he was an accountant. 25 The other hoca is at the same time a preacher (ḫaṭīb). 26 Nedim Zahirović, Tragom jedne karijere: Halil-beg (Halil-paša) Memibegović od Like preko Jegra do Banje Luke, Historijski zbornik, LXVI/2, 2017/2018 353–364. online version URL https://hrcak.srce.hr/193923 [21.3.2019].

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Claudia Römer

Ḥasan Paşa in 1593, which marks the beginning of the Fifteen years’ war. In an earlier article, Moačanin also mentions Memi Beg27.

Conclusion Although we will never know who “the others” are who are mentioned after the name of the last witness, we encounter practically the same persons all over again as şühūd el-ḥāl. In our case, this is somehow understandable and even to be expected. For all our entries deal with the same subject, i. e. fraudulous irregularities committed by one person against the interests of another person. Nevertheless, according to what we know about the functioning of Ottoman cadi courts, all the men mentioned as şühūd el-ḥāl will most probably also have been available for cases with similar issues. If cadis really had lists of people suitable to be part of the şühūd el-ḥāl, one can assume that these people belonged to a network centered around the cadi, even if, at the moment, we cannot prove it yet.

27 Nenad Moačanin, Some Observations on the “kapudans” in the Ottoman North-western Frontier Area 16–18 c., in: eds. Markus Köhbach–Gisela Procházka-Eisl–Claudia Römer, Acta Viennensia ottomanica. Akten des 13. CIEPO-Symposiums (Comité International des Études Pré-Ottomanes et Ottomanes) vom 21. bis 25. September 1998 in Wien (Wien 1999) 242.

Michael Prokosch

Testamentarische Einzelurkunden aus Pressburg

Abstract: From hundreds between the 14 th and the 16 th century in Bratislava compiled and until nowadays transmitted last wills are not all conserved in the book of testaments of the city. A few have been conserved exclusively as single copies; they are as of today stored in the municipal archive in Bratislava. Their special type of transmittance raises a number of questions: Are there certain discrepancies between the formal layout of these last will deeds and regular private deeds? Can there be discrepancies traced between single copies? What can be found out from these last wills about the city of Bratislava and what about their inhabitants? Along a selected number of examples, this text tries to dive into the world of the testators and seeks to analyse their legacies and endowments to the Bratislava Cathedral of Saint Martin and the local hospitals. Apart from that, the testaments should be viewed in relation to the topography of the city and eventually, it should be observed if the testaments only describe the local surroundings or whether the citizens also had connections to other European cities. This exemplary investigation represents the attempt to give insight into the social, economic and municipal history of the coronation city Bratislava, under the application of a relatively small number of transmitted single copy testaments.

Einleitung Es liegt wohl in der Natur des Menschen, nach seinem Tod etwas hinterlassen zu wollen, um die Nachwelt von seiner eigenen Existenz wissen zu lassen. Die Möglichkeiten dafür sind vielfältig: Man kann Monumente errichten, Welt­ rekorde aufstellen, Bücher schreiben, eine Religion gründen oder auch bahnbrechende Erfindungen oder Entdeckungen machen, dennoch sind und waren wohl die genannten Methoden für den durchschnittlichen Bürger oder die durchschnittliche Bürgerin kaum praktikabel. Unabhängig von sozialer Stellung und monetärer Situation gibt es aber doch etwas, was jede Person nach ihrem Ableben zurücklässt, und zwar die Gegenstände, die sie besessen hat, seien es nun Kleidung, Mobiliar, Geld oder Grundstücke. Und um genau diese Gegenstände in gute Hände kommen zu lassen, haben die Menschen auch schon seit langer Zeit schriftlich bestimmt, wer welche Dinge erhalten soll, und zwar in Form von Testamenten. Nicht nur, dass die Vergänglichkeit des Daseins durch das Verfassen von Erbverträgen akzeptiert wird, Testamente in jeglicher Überlieferungsform und aus allen Gesellschaftsschichten bieten uns heute zudem einen Einblick in jene Dinge, die den Menschen vergangener Zeiten besonders lieb und wichtig waren. Sie sind die verschriftlichte Anerkennung des eigenen

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Lebenswerkes und eine Aufforderung an die Nachkommen, selbiges zu ehren. Gerade mit der fortschreitenden Entwicklung der Städte, dem Aufblühen des Bürgertums sowie der Effizienzsteigerung in der städtischen Verwaltung waren testamentarische Urkunden aber nicht nur ein wichtiges Instrument der persönlichen Memoria, sondern standen zudem in gegenseitiger Beeinflussung mit den Verwaltungsagenden der Stadt. Dieser Aufsatz befasst sich mit den letztwilligen Verfügungen von Pressburger Stadtmitgliedern zwischen den Jahren 1356 und etwa 1500, die nicht (nur) im Pressburger Testamentsbuch, dem Protocollum Testamentorum1, verzeichnet stehen, sondern (auch) als Einzelurkunden vor allem im Archiv der Stadt Pressburg2 verfügbar sind. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf jenen Urkunden, die vom Autor dieses Aufsatzes schon größtenteils ediert und kommentiert wurden3; es handelt sich dabei einerseits um fünf in Latein geschriebene Stücke, wobei sich unter diesen zwei Ausfertigungen derselben letzt­willigen Verfügung4 mit allerdings leicht unterschiedlichem Inhalt befinden, ein Testament, das zwar auf Latein verfasst wurde, bei dem jedoch die Dispositio, die auf einem Extrakt eines in Wien geschriebenen letzten Willens beruht, auf Deutsch geschrieben steht, sowie insgesamt 21 Testamente komplett in deutscher Sprache. Zwei weitere Schriftstücke haben einen direkten Bezug auf ein zu den deutschsprachigen Testamenten gehöriges Exemplar5 – insgesamt sollen in diesem Aufsatz also 27 rein als Testamente klassifizierbare Urkunden Beach-

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Archív mesta Bratislavy (Stadtarchiv Pressburg), Sign. 4.n.1 (olim 805 Nr. 1), ediert bei: Judit Majorossy Katalin Szende (Hg.), Das Preßburger Protocollum Testamentorum 1410 (1427)– 1529 (Fontes Rerum Austriacarum III/21, 2 Bd., Wien/Köln/Weimar 2010–2014). 2 Archív mesta Bratislavy, im Folgenden stets AMB. Als Einzelurkunden liegen in Pressburg 46 Testamente vor, davon liegen 43 im Stadtarchiv Pressburg; vgl. Majorossy–Szende, Protocollum Testamentorum (Bd. 1) (wie Anm. 1) 20. 3 Michael Prokosch, Bürgerliche Testamente aus dem Stadtarchiv Pressburg 1360–1500. Edition und Kommentar (Dipl. Wien 2013). Vielen Dank an Juraj Šedivý, der mir durch ihre Digitalisierung einen einfachen Zugang zu diesen Stücken ermöglichte. 4 Dabei handelt es sich um den gemeinsamen Willen des Ehepaares Heinrich und Elisabeth Vogel vom 6. März 1356 (AMB Nr. 133 und Nr. 135); es sind die frühesten testamentarischen Stücke im Pressburger Stadtarchiv. 5 AMB Nr. 175 und AMB Nr. 484 sind Ergänzungen zum Testament des Jans des Polle (AMB Nr. 327), datiert auf den 21. Jänner 1375. Ersteres ist die Bestätigung der Anerkennung des in Wien ausgestellten Testaments auch in Pressburg durch den damaligen Stadtrichter von Pressburg Jakob bei dem Tore, ausgestellt am 26. Oktober 1360, Zweiteres ist die Vollstreckungsurkunde über das Testament Jans des Polle durch den Stadtrichter Paul der Spyzer vom 1. Juni 1385.

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tung finden. Diese Aufzeichnungen der letzten Willenserklärungen6 bieten nicht nur Einblicke in die materielle Kultur der Stadtbewohner/innen, sondern auch einige Anhaltspunkte für die Stadt- und Sozialgeschichte der Metropole an der Donau sowie für die transregionale Vernetzung Pressburgs innerhalb Europas.

Testamente als Urkunden Die Verschriftlichung von bürgerlichen Testamenten7 war eine logische Konsequenz des Erbrechts, wie es im europäischen Hochmittelalter gegolten hat, unter der Voraussetzung der Entwicklung von städtischer Verwaltungstätigkeit und der verstärkten Ausprägung von Schriftlichkeit in den Städten ab dem 13. und 14. Jahrhundert. Gerade die Schriftkultur in kirchlichen Einrichtungen8 förderte nicht nur das Verlangen, sondern auch die Möglichkeiten der Städte, auch selbst genaue Aufzeichnungen über alle Belange zu führen. Doch noch andere Faktoren verstärkten die Tendenz, immer öfter Testamente in geschriebener Form vorliegen zu haben. Die Ansprüche eines Stadtbürgers oder einer Stadtbürgerin auf sein Eigentum, das im Wesentlichen in liegende und fahrende (bewegliche) Güter sowie Geld unterteilt war, waren umso wichtiger, je mehr Menschen in der Umgebung lebten und deswegen potenziell Ansprüche auf das Vermögen stellen würden. Dass sich mit der Realteilung der Nachlässe auch »neue Familieneinheiten« bildeten und somit natürlich vor allem in Städten »komplizierte Familienverhältnisse – und auch Rechtsverhältnisse«9 geschaffen wurden und es deswegen unerlässlich war, für eine klare Regelung der Besitztümer nach dem Tod zu sorgen, führte verständlicherweise zu einem Anstieg der Verschriftlichung von Testamenten. Natürlich darf zudem die Tatsache nicht unterschätzt werden, dass es für die Testatoren und Testatorinnen in Städten leichter war, 6 Bei Prokosch, Bürgerliche Testamente (wie Anm. 3), wurden neben den 23 deutschsprachigen Testamenten und auf Testamente bezogene Stücke auch sechs Schenkungsurkunden an die Pressburger Spitäler sowie den Martinsdom und eine Urkunde, in der ein Erbschaftsstreit geregelt wird, bearbeitet. Die nicht-testamentarischen Urkunden werden in diesem Aufsatz nicht näher behandelt. 7 Eine allgemeine Darstellung des Typus’ Testament findet sich etwa bei Andreas Wacke, Art. Testament. In: Norbert Angermann, Robert-Henri Bautier, Robert Auty (Hg.), Lexikon des Mittelalters 8 (1997), 565 f. 8 Für die Entwicklung unter anderem von kirchlicher Schriftlichkeit in Pressburg vgl. beispielsweise Juraj Šedivý, Mittelalterliche Schriftkultur im Pressburger Kollegiatkapitel (Bratislava 2007). 9 Wilhelm Brauneder, Typen des mittelalterlichen Erbrechts in ihrer Bedeutung für die Bevölkerungsentwicklung. In: Saeculum 39 (1988) 154–172, hier 167.

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eine schriftkundige Person, also einen Schreiber, mitunter auch einen Notar, in Anspruch nehmen zu können10, als für die Bevölkerung in ländlichen Gebieten. Bürgerliche Testamente mit urkundenähnlichem Aufbau sind in Westeuropa schon ab dem 12. Jahrhundert zu finden, die erste Beurkundung des letzten Willens eines Bürgers aus Wien stammt aus dem 13. Jahrhundert11. In Pressburg begann der Siegeszug der schriftlichen Testamente wohl um die Mitte des 14. Jahrhunderts, wobei hier nicht nur lateinische Testamente überliefert sind, sondern zum größten Teil auch mittelhochdeutsche, was aufgrund der zahlreichen deutschsprachigen Einwohner Pressburgs nicht verwundern darf12. Der soeben erwähnte urkundenähnliche Aufbau der Testamente bezieht sich auf diverse sowohl äußere als auch innere Merkmale, die Urkunden innehaben und die auch in vielen letztwilligen Verfügungen auftauchen. Der Beschreibstoff ist unabhängig vom Jahr der Niederschrift. Größtenteils verwendete man Papier, es wurde erstaunlicherweise sogar der letzte Wille eines Kanonikers des Martinsdoms in Pressburg namens Martin Neittl von Stampha13 darauf geschrieben, es ist das einzige der in lateinischer Sprache abgefassten Testamente auf Papier. Vier deutschsprachige und die restlichen lateinischen Stücke wurden auf Pergament verfasst. Das Format der Urkunden ist ebenfalls äußerst unterschiedlich ohne klar erkennbaren Zusammenhang mit den Gegebenheiten des Verfassens, sowohl die Papierbögen als auch die Pergamente wurden im Hoch- als auch Querformat verwendet, dabei schwankt die Höhe zwischen 10,5 cm und 46,5 cm und die Breite bei Papiertestamenten zwischen 14,5 cm und 48 cm, bei den Exemplaren auf Pergament zwischen 21,5 cm und 35,5 cm. Die Art der Faltung der Urkunden unterscheidet sich ebenfalls, wobei in der Regel die fertigen Stücke mindestens zwei Mal gefaltet sind. Auch das Layout variiert von Stück zu Stück, am gleichförmigsten und überlegtesten wirkt das Testament 10 In Pressburg gibt es Hinweise für eine »bereits rege Aktivität einer städtischen Kanzlei ab der Mitte des 14. Jahrhunderts«; vgl. Karoly Goda–Judit Majorossy, Städtische Selbstverwaltung und Schriftproduktion im spätmittelalterlichen Königreich Ungarn – Eine Quellenkunde für Ödenburg und Preßburg (Pro Civitate Austriae N.F. 13, 2008) 62–100, hier 88. 11 Lukas Gangoly, Bona mea (que pauca sunt). Testamente ausgewählter Universitätsprofessoren des 15. und 16. Jahrhunderts im Vergleich zu Wiener Bürgertestamenten des Spätmittelalters (Dipl. Wien 2008) 12 f. 12 Zu Urkunden in deutscher Sprache aus dem Gebiet der heutigen Slowakei und Westungarns sowie den Stand der Forschung über den Beginn von Beurkundungen in diesen Gebieten vgl. Juraj Šedivý, Deutschsprachige Beurkundung im Donaugebiet des mittelalterlichen Königreichs Ungarn. In: Werner Maleczek, Urkunden und ihre Erforschung (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 62, Wien 2014), 247–265, insbesondere 250–253. 13 AMB Nr. 3414.

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des Konrad Hön14 aus dem Jahr 1452: Dieses ist fast quadratisch mit rund 22 cm Seitenlänge, der Text ist beinahe perfekt zentriert auf dem Papier geschrieben. Die Mehrheit der Willenserklärungen ist zwar eher schmucklos, die Stücke haben jedoch oft Initialbuchstaben, die sich mitunter über die halbe Länge des Textes erstrecken. Über die Schrift lässt sich nicht viel Außergewöhnliches sagen; es sind – abgesehen von den späteren Archivvermerken – immer Schrifttypen und Buchstabenformen, die im 14. und 15. Jahrhundert Verwendung fanden. Mit zumindest einem bis zu sogar sieben Siegeln können in Summe 21 Urkunden aufwarten, wobei diese zumeist auch noch erhalten sind; es handelt sich dabei vorrangig um entweder das kleine oder große Stadtsiegel oder jenes des Domkapitels des Pressburger Martinsdoms. Wenn Siegel angebracht wurden, geschah dies entweder anhangend an der Plica oder aber auf den Beschreibstoff aufgedrückt. Nicht besiegelt hingegen sind also sechs Testamente, wobei vier davon auf Papier niedergeschrieben wurden. Zwei lateinische Testamente15, die im Abstand von knapp zehn Jahren verfasst wurden, stellen eine Besonderheit dar: Sie sind zwar nicht besiegelt, tragen jedoch jeweils ein Notariatssignet desselben Notars16. Auch wenn man durch den Vergleich der beiden Signete (siehe Abbildung 1) klar erkennen kann, dass sich das Signet innerhalb dieser zehn Jahre nur unmerklich verändert hat, ist es bedauernswert, dass es das einzige auf den betrachteten Einzelurkunden ist17 und somit eine Untersuchung diesbezüglich ergebnislos erscheint.

14 AMB Nr. 2805. 15 AMB Nr. 929 und 1163. 16 AMB Nr. 929: Michael filius olym Conradi Lapicide de Tyrnstayn Pataviensis diocesis publicus sacra imperiali auctoritate notarius. Derselbe Wortlaut findet sich bei AMB Nr. 1163, mit natus anstatt filius. Beim Notarsvermerk bestehen zwischen den beiden Testamenten nur geringfügige, vor allem durch den Inhalt des Testaments bestimmte Unterschiede. Es steht die Vermutung im Raum, dass dieser öffentliche Notar der zweite bei Šedivý, Mittelalterliche Schriftkultur (wie Anm. 8) 146 f. erwähnte ist. Auch Majorossy–Szende, Protocollum Testamentorum (Bd. 1) (wie Anm. 1) 5 erwähnen diesen Notar. 17 Majorossy–Szende, ebd., zeigen noch ein weiteres Signet eines Pressburger Notars namens Friedrich Grün.

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Abb. 1: Notariatssignet des Michael Lapicide de Tyrnstain, links aus dem Jahr 1420, rechts von 1430 (© Juraj Šedivý).

Die inneren Merkmale der Pressburger Testamente18 stimmen in vielerlei Hinsicht mit den üblichen Urkundenelementen19 überein. In der Regel fehlen – im strengsten Sinn gesehen – die Invocatio20 sowie die Inscriptio. Begonnen werden die meisten Stücke mit der obligatorischen Intitulatio, also der Nennung der Testatoren oder Testatorinnen. Diese Nennung ist natürlich eine Grundbedingung für die korrekte Ausführung eines Rechtsgeschäftes wie eines letzten Willens. Danach folgt zumeist die Arenga, also die allgemeine Begrün18 Siehe hierzu Prokosch, Bürgerliche Testamente (wie Anm. 3) 12–14; für die Auflistung der Reihenfolge der einzelnen Elemente ebd. 141 (Tabelle 1). 19 Vgl. etwa Ahasver von Brandt, Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften (Stuttgart 172007) 90 f. 20 Die Anrufung Gottes erfolgt zumeist nicht in der herkömmlichen Form, sondern nur als Hingabe der eigenen Seele zu Gott, vgl. dazu AMB Nr. 3542: […] das ich mich bephilich dem Almechtigen Got und Seiner Lieben Muetter und allen heyligen. Sofern vorhanden, ist die Berufung auf Gott Teil der Arenga.

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dung für das Aufsetzen des Testaments, bei der zum einen erwähnt wird, dass der Testator beziehungsweise die Testatorin es niedergeschrieben hat, als er beziehungsweise sie noch in der Lage dazu war. Eng verbunden ist damit die Sana-Mente-Formel, die nichts anderes bedeutet, als dass der/die Erblasser/in entweder in körperlich und geistig guter Verfassung war, oder aber auch, dass der Körper zwar schon schwach oder in anderer Hinsicht eingeschränkt war, er/sie aber im Vollbesitz der Geisteskraft war21. Zum anderen wird auch meist der zweite wichtige Punkt angesprochen, der unabdingbar für die rechtlich korrekte Ausstellung war, nämlich, dass das Verfassen der Nachlassbestimmungen ohne äußeren Zwang geschehen ist. Beide Erwähnungen findet man vermutlich im Großteil aller jemals in Europa abgefassten Testamente, und zwar zumindest bis zum Ende des 18. Jahrhunderts22. Ein weiteres beliebtes Element in der Arenga von Beurkundungen des letzten Willens ist die Feststellung, dass das irdische Leben zeitlich begrenzt ist. Schließlich folgt darauf die Verkündungsformel in Form der Worte Ich hab geschafft beziehungsweise Item mer hab ich geschafft. Die Narratio ist vor allem bei jenen Verfügungen zu finden, die nicht selber von dem Erblasser oder der Erblasserin verfasst wurden, in der dann das Erscheinen der Klienten/Klientinnen vor dem Schreiber erzählt wird. Bei den Testamenten, die etwa bis 1430 abgefasst wurden, erfolgt die Nennung der Zeugen, die Datierung und des nicht immer genannten Ortes der Ausstellung am Ende der Schriftstücke, in den Jahren danach wurden diese Elemente vor der Dispositio, also dem eigentlichen Hauptteil, geschrieben. Als wichtiger Bestandteil der Willenserklärungen ist auch die ausdrückliche Nennung der Testamentsvollstrecker anzusehen, die zwar oft, aber nicht immer, Mitglieder entweder des Stadtrats oder kirchliche Angehörige waren, und bisweilen mit den Zeugen übereinstimmen. 21 Vgl. AMB Nr. 1247 (Testament der Christine Schlosser): Hye ist vermerkt das geschaft das getan hat dy erber fraw Cristein des Peter Slosser hawsfraw von Tyrna und czu der czeit do sy das mit gueter vernue[n]ft und wol und rechtleich getuen hat muegen. 22 Vgl. dazu etwa Staatsarchiv Marburg, Urk. 78, 228 vom 20. Jänner 1600 (Testament der Walpurgis von Buchenau geborene von Haun), online unter http://monasterium.net/mom/DE-HStAMa/urk80/228/charter (Zugriff 7.11.2018): Nachdem sie durch Gottes gnadt nuhn ein hohes alther erreicht, und nuhnmehr mit gebrechligkeit deß leibs also behafftet, das sie stundlich gewarrten müßte, wann der liebe Gott sie einmahl auß dieser weltt möchte abfordern, als werr sie bedacht, sich zuvordert mit dem lieben Gott, darnach dieser weltt zu versöhnen […]; Für ein anderes Beispiel aus späterer Zeit vgl. etwa Südtiroler Landesarchiv, Verfachbuch Oberamtsgericht Bruneck 1797, fol. 106r–107v (Testament der Katharina Unterpergerin): Kraft welcher verordnung die Unterpergerin hiemit ganz frey und wohl bedächtlich auch ohne mindister gefährde auf ihr, den Göttlichen Willen nach über lang oder kurz ervolgenden ableben verschaffen haben, daß […].

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Der dispositive Verfügungsteil der Testamente (inklusive Pönformeln) beinhaltet zum einen die Sorge um das eigene Seelenheil, die Haftung für die materielle Sicherheit der nächsten Verwandten – dies inkludiert auch die Regelung der noch ausständigen Schulden – und damit die Sicherstellung der wirtschaftlichen Kontinuität der Familie sowie zuletzt die Sicherung einer positiven Erinnerung durch die Nachwelt, zum anderen die eigentlichen Verfügungen: ȤȤ Spenden an kirchliche Institutionen, das Armenwesen oder Bruderschaften und ihre Zechen in Form von Liegenschafts-, Sach- oder Geldwerten, nach der Tilgung von etwaigen Schulden an Nachbarn, Handelsleute, Bekannte und Verwandte. ȤȤ Die Festlegung von Begräbnisort und -feierlichkeiten und der Art des Totengedenkens (im Speziellen sind hier Bittgottesdienste sowie mitunter Wallfahrten nach Rom oder Aachen zu nennen). ȤȤ Die Nennung von Erbteilen an nicht-institutionelle Körper, zumeist Verwandte, sowie spezielle Einzelverfügungen23. ȤȤ Schulden und Forderungen, die vom Erbe ausgezahlt werden sollen. Es gibt mehrere Verfügungen, bei denen nachträglich, mitunter auch von anderer Hand, Streichungen und Ergänzungen vorgenommen wurden, wie etwa bei jener der Christine Jacob (undatiert)24 oder der Herel Leinbaterin vom 1. August 143325. Bei solchen Stücken könnte im Detail diskutiert werden, warum, wann und von wem die Streichungen oder Ergänzungen vorgenommen wurden. Besonders reizvoll ist auch das ansonsten gewöhnliche lateinische zweite Testament der Magdalena Amser vom 30. April 147026, bei dem am unteren Rand des Pergaments Federproben zu erkennen sind. Aus dem Jahr 1467 ist ein Testament ihres ersten Ehemannes Nikolaus Flins27, ebenfalls als eigenständiges Stück, erhalten, das allerdings im Gegensatz zu jenem seiner Ehegattin auf Deutsch abgefasst ist. Schließlich sei noch gesagt, dass es – auch wenn die Ausfertigungen der letzten Willen in Form einer Siegelurkunde die Regel darstellen –Testamente im 23 Als herausragendes Beispiel sei hier AMB Nr. 327 genannt, bei dem sich Jans der Polle für fast alle nur erdenklichen Fälle der Weiterführung des Familienstammbaumes eine Lösung für die Verteilung des Erbes ausgedacht hat. 24 AMB Nr. 630. 25 AMB Nr. 1275. 26 AMB Nr. 3599. Im Jahr 1467, direkt nach der Heirat mit Nikolaus Flins, hatte Magdalena ­Amser schon einmal ihren letzten Willen festhalten lassen, vgl. dazu AMB Nr. 3537; Prokosch, Bürgerliche Testamente (wie Anm. 3) 102–105. 27 AMB Nr. 3529.

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Stadtarchiv Pressburg gibt, die in eher unüblichen Ausfertigungsformen überliefert sind28. Eine solch andere Form einer Urkunde, das Notariatsinstrument29, wurde schon weiter oben angedeutet. Zudem ist ein Stück auch als einfache Notiz überliefert: Beim undatierten wohl gegen Ende des 15. Jahrhunderts verfassten Stück der Witwe Gunbachin30 trifft man auf ein von einem Leutpriester (ein Weltgeistlicher beziehungsweise Laienpriester) namens Martin Wassermann eigenhändig geschriebenes Papierdokument, bei dem der letzte Wille vermutlich erst verschriftlicht wurde, nachdem die Zeugen das Haus der Testatorin verlassen hatten. Diese Annahme beruht auf der Gleichförmigkeit und der Erzählstruktur des Dokuments, das keine Streichungen des Textes und nur eine Korrektur aufweist.

Vergleich der Einzeltestamente mit dem Protocollum Testamentorum Zumindest 55 Jahre vor Beginn der Eintragungen ins Testamentsbuch wurden in der Stadt Pressburg schon die letzten Verfügungen angesehener Stadtbürger als Einzelstücke niedergeschrieben. Inhaltlich gibt es allerdings durchaus viele Zusammenhänge untereinander und zum Testamentsbuch. Nicht nur kommen Personennamen sowohl in den Einzelurkunden als auch im Protocollum Testamentorum vor, selbstverständlich sind auch Liegenschaften wie beispielsweise Weingärten oder Häuser öfter unter Nennung des gleichen Namens anzutreffen; und so lassen sich zwischen den eigenständigen Verfügungen und jenen im Testamentsbuch durchaus Verbindungen herstellen, die nützliche Informationen für die Stadtgeschichte, die Sozialgeschichte und Wirtschaftsgeschichte Pressburgs liefern können. Doch vergleichen wir vorerst einmal die Häufigkeit und Ausstellungszeit der Testamente.

28 Prokosch, Bürgerliche Testamente (wie Anm. 3) 11 f. 29 AMB Nr. 929 und 1163. 30 AMB Nr. 4140; vgl. dazu Prokosch, Bürgerliche Testamente (wie Anm. 3) 123–127.

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Abb. 2: Anzahl der Testamente und auf Testamente ­bezogene ­Stücke als bearbeitete Einzel­ urkunden (schwarze Linien) und im Protocollum Testamentorum (graue Linien).

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Betrachtet man sich die Aufteilung in Abbildung 231, so muss man sogleich feststellen, dass mit Beginn der Anlage des Testamentsbuches keineswegs damit aufgehört wurde, Testamente als Einzelurkunden aufzubewahren. Zwar ist ein Einschnitt im Jahr 1432 zu erkennen, dieser dauert allerdings nur zehn Jahre. Ab 1496 sind offenbar keine Einzelverfügungen mehr überliefert, was auch mit der Zeitspanne zusammenfällt, aus der die meisten Willensbekundungen des Protocollum Testamentorum stammen32. Eine Häufung der einzeln überlieferten und erhaltenen Dokumente lässt sich nicht erkennen. Ab den 1430er-Jahren beginnen die Eintragungen im Pressburger Testamentsverzeichnis regelmäßiger zu werden, ab den 1470er-/1480er-Jahren fangen sie an, sich zu häufen, um dann um 1510 wieder seltener zu werden. Es ist wohl ein glücklicher Überlieferungszufall, dass alle bis auf sechs von den hier beschriebenen 29 Einzelurkunden nicht im Protocollum Testamentorum verzeichnet sind, denn so wird die Quellenlage zu den bürgerlichen Verfügungen noch reichhaltiger. Die sechs Stücke, die sowohl als Einzeldokument als auch in diesem Stadtbuch überliefert und erhalten sind, sind folgende, bei denen auch gleich Besonderheiten genannt werden sollen, sei es in Bezug auf Personen oder materielle Dinge: ȤȤ AMB Nr. 107433 (Hans Melbeis, 20. Jänner 1429): Darin treten als Zeugen zwei Ratsmitglieder auf. ȤȤ AMB Nr. 127534 (Herel Leinbaterin, 1. August 1433): Deren mutmaßlicher Verwandter Nikolaus Leinbater findet sich ein paar Jahre später als Pressburger Bürgermeister wieder. ȤȤ AMB Nr. 341435 (Martin Neittl von Stampha, 18. Jänner 1462): Der Testator wird als Chorherr und Pfarrer bezeichnet. Dieses Testament zählt neben jenem von Jans dem Polle36 zu den am ausführlichsten überlieferten. ȤȤ AMB Nr. 343337 (Georg Prannawer, 22. Jänner 1463): In diesem Testament bestehen zwischen der Überlieferung als Einzeldokument und jener im 31 Die Daten hierzu wurden mithilfe beider Bände von Majorossy–Szende, Protocollum Testamentorum (wie Anm. 1), erhoben. Die ersten beiden Einzelstücke (AMB Nr. 133 und 135) sind das gemeinsame Testament des Heinrich Vogel und seiner Ehefrau Elisabeth, die, wie schon beschrieben, inhaltlich beinahe deckungsgleich sind, sie unterscheiden sich im Wesentlichen nur durch ihr Ende, in dem sich auch der Schreiber, Martin Sepesepius, zu erkennen gibt. 32 Vgl. auch Majorossy–Szende, Protocollum Testamentorum (Bd. 1) (wie Anm. 1) 20 (Abb. 2). 33 Majorossy–Szende, ebd. 56 (Nr. 8); Prokosch, Bürgerliche Testamente (wie Anm. 3) 66 f. 34 Majorossy–Szende, ebd. 56 f. (Nr. 9); Prokosch, ebd. 73–76. 35 Majorossy–Szende, ebd. 271–275 (Nr. 202). 36 AMB Nr. 327. 37 Majorossy–Szende, ebd. 281 f. (Nr. 210); Prokosch, ebd. 93–97.

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Protocollum Testamentorum massive Unterschiede in der Schreibung der Namen, die sich nicht allein aus der phonetischen Schreibweise erklären lassen. ȤȤ AMB Nr. 354238 (Christoph Sailer, 30. November 1467): Eines der wenigen Testamente, in dem nicht nur für das materielle Wohl von Anverwandten gesorgt wird, sondern auch für die geistige Entwicklung: Sailer verfügt, dass sein Neffe klösterlich erzogen werden soll. ȤȤ AMB Nr. 375439 (Katharina Hamerin, 19. Juli 1478): Hier werden – für den letzten Willen einer Bürgerin – ungewöhnlich viele Weingärten vererbt. Doch was könnten die Gründe dafür sein, dass nur rund ein Fünftel der untersuchten Stücke in das Testamentsbuch eingetragen wurden? Seine Funktion als Stadtbuch legt die Vermutung nahe, dass nur die Testamente eingeschrieben wurden, die zum einen für die Stadt einen finanziellen Vorteil bringen würden, zum anderen nur jene, in denen Personen vorkommen, die einen direkten Bezug zur Stadtverwaltung oder – im Fall des Chorherrn Martin Neittl von Stampha – zu anderen wichtigen Institutionen hatten. Für die zehn Stücke bis zum Jahr 1409 ist wohl zu vermuten, dass sie nicht im Protocollum Testamentorum stehen, weil es das Buch noch nicht gab. Daraus folgt jedoch gleich die nächste Frage, warum diese dann nicht, so wie einige wenige andere, nachträglich eingeschrieben wurden? Wenngleich die sechs doppelt überlieferten Exemplare allesamt aus der Zeit, in der das Stadtbuch schon existierte, stammen, so sind darin doch auch Stücke enthalten, die es offenbar schon früher als Einzeldokumente gegeben haben muss und erst danach zur Sammlung der Testamente im Protocollum gekommen sind40. Ein weiterer Punkt darf für diese Überlegungen ebenfalls nicht außer Acht gelassen werden: Die Einzeldokumente wurden nicht ausschließlich ins Testamentsbuch eingetragen, sondern auch ins Protocollum Actionale und in das Register der Gottsleichnamsbruderschaft41. Eine genaue Untersuchung dies­ bezüglich steht noch aus.

38 Majorossy–Szende, ebd. 352 f. (Nr. 272); Prokosch, ebd. 105–108. 39 Majorossy–Szende, ebd. 435 (Nr. 360); Prokosch, ebd. 108–111. 40 Insbesondere Majorossy–Szende, ebd. 55 (Nr. 6), 86 f. (Nr. 46), 87 f. (Nr. 47), 88 f. (Nr. 48) und 99 f. (Nr. 61). 41 Majorossy–Szende, ebd. 20. Zu den Bruderschaften in Pressburg vgl. Judit Majorossy, Late Medieval Confraternities in Pressburg. In: Nathalie Kruppa, Pfarreien im Mittelalter. Deutschland, Polen, Tschechien und Ungarn im Vergleich (Göttingen 2008) 339–362.

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Möglichkeiten für die Stadtgeschichte: Bauwerke und Liegenschaften In den folgenden Abschnitten soll unter Zuhilfenahme einiger letztwilliger Verfügungen skizziert werden, welche Informationen man aus einzelnen Testamenten für verschiedene Aspekte der Geschichte einer Stadt wie eben Pressburg, die schon zum Zeitpunkt der Abfassung der betrachteten Schriftstücke auf eine lange Geschichte zurückblicken konnte42, gewinnen kann. Zu diesem Zweck kann man sich etwa den Pressburger Dom St. Martin betrachten, der des Öfteren in den eigenständigen Testamenten genannt wird. Der Martinsdom (Dóm svätého Martina) als größte Pressburger Kirche, am Rande der damaligen Stadt gelegen, geht in seinen Ursprüngen auf eine romanische Kirche zurück, an deren Stelle schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts die Grundfesten des heutigen Baus traten, nachdem im Jahr 1311 dem Pressburger Kollegiatskapitel endgültig erlaubt wurde, von der Propstei, der ursprünglichen Missionskirche auf der Burg, nach Weidritz, einem Stadtteil des heutigen Pressburg, umzuziehen43. Im Jahr 1365 wurde auch die Erlaubnis gegeben, neben der Kirche ein eigenes Schulgebäude zu errichten44. In insgesamt 16 der 29 eigenständigen Testamenten beziehungsweise Stücken mit Bezug zu Testamenten wird der Martinsdom und sein Kapitel – meist als Empfänger von Hinterlassenschaften in Form von Geld, aber auch Immobilien – erwähnt. 1375 war die Kirche offenbar noch im Bau begriffen, heißt es doch im Testament von Jans dem Polle, datiert auf den 21. Jänner 1375: Ich schaff auch zue der chappellan die man hat angehebt cze pawen dacz Sand Merten ze Prespuerch in der puerger pruederschaft hundert rote gueldein.45 Das Jahr der Kirchweihe war 145246, womit auch die Fertigstellung nicht allzu weit davor erfolgt sein dürfte. Bis zum letzten Einzelexemplar vor 1452, datiert auf den 1. August 143347, taucht der Martinsdom regelmäßig auf, die ver42 Zur frühesten Stadtgeschichte und der Entwicklung Pressburgs bis etwa zum 13. Jahrhundert siehe Juraj Šedivý–Tatiana Štefanovičová (Hg.), Geschichte von Pressburg 1: Brezalauspurc – am Kreuzweg der Kulturen. Von den Anfängen bis zur Wende des 12. und 13. Jahrhunderts (Bratislava 2012). 43 Juraj Žáry–Anton Bagin–Ivan Rusina–Eva Toranová, Der Martinsdom in Bratislava (Bratislava 1990), 15 f. und 21–39. 44 Ebd. 16. 45 AMB Nr. 327; Prokosch, Bürgerliche Testamente (wie Anm. 3) 33–41, hier 33. 46 Die St.-Martins-Kathedrale in Bratislava/Pressburg, hg. von der Pfarrei St. Martin Bratislava (17.12.2015), online unter http://dom.fara.sk/index.php/de/ (Zugriff 7.11.2018). 47 AMB Nr. 1275.

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machten Gelder und Güter der Testatoren und Testatorinnen sollten bis dahin ausschließlich und ausdrücklich an daz paw/zu dem paw 48 verwendet werden. Schon mit dem ersten Testament nach der Kirchweihe vom 4. Jänner 145349 verschwindet der Dom als Empfänger von Erbteilen, die für den Bau aufgewendet werden sollen, gänzlich aus den Urkunden, allerdings nicht als Institution, die Stiftungen erhält. Ab 1461 wurde unter der Herrschaft von Matthias Corvinus (1458–1490) mit dem Bau von Erweiterungen zur Martinskirche begonnen: Es wurden eine Kapelle für die Hl. Anna gebaut und das vorhandene Presbyterium um einen neuen Altarraum erweitert50. Diese Erweiterungen förderten ohne Frage die Wichtigkeit dieses Pressburger Sakralbaues. Bald darauf wurde nämlich durch Papst Paul II. (1464–1471) bestimmt, dass der Dom auch als Universitätskirche der 1467 gegründeten Academia Istropolitana dienen sollte51. Es darf deswegen auch nicht verwundern, dass man schon kurze Zeit nach Beginn der erneuten Bautätigkeit in den Testamenten wieder von Schenkungen an den Martinsdom als Hilfeleistungen für den Bau lesen kann. Ab dem Testament vom 22. Jänner 1463 werden wieder Erbteile gespendet: Item im ersten hat er geschaft zu Sannd Mertten kirchen zue dem paw VIII phund chueffel salcz mit allem gebin die man sol raichen aus der geselschaft52. Auch die Testamente danach nennen wieder Schenkungen zu dem paw der Kirche53. Der Dom in Bratislava war selbstverständlich nicht das einzige wichtige Gebäude der Stadt in damaliger Zeit. Während die Kirche für das geistige Wohl der Bewohner/innen zuständig war54, kümmerten sich die städtischen Spitäler

48 AMB Nr. 227, 327, 429, 448, 766, 975, 1275 nennen alle eine Gabe für den Bau des Martinsdoms. 49 AMB Nr. 2808. 50 Der neu gebaute Altar wurde der Hl. Maria gewidmet, vgl. hierzu AMB Nr. 3414, das Testament des Martin Neittl von Stampha vom 18. Jänner 1462: […] altari beatissimus Virginis Marie in ecclesia Sancti Martini constructo […]. 51 Žáry–Bagin–Rusina–Toranová, Martinsdom (wie Anm. 43) 16. 52 AMB Nr. 3433. Bei diesem Testament des Georg Prannawer wird neben vier weiteren Zeugen unter anderem auch ein gewisser Friedrich als predigern der pharchirchen Sannd Mertten ze Prespuerg [und Georg Prannawers] peichtvattern genannt. Die im Text genannte geselschaft könnte sich darauf beziehen, dass Prannawer ein Salzbergwerk besaß oder zumindest mit Salz handelte; vgl. auch Prokosch, Bürgerliche Testamente (wie Anm. 3) 93–97, hier 93. 53 Beispielsweise AMB Nr. 3827, datiert auf den 23. November 1487. 54 Zu den kirchlichen Einrichtungen siehe etwa Judit Majorossy, Church in Town. Urban Religious Life in Late Medieval Pressburg in the Mirror of Last Wills (Diss. Budapest 2006).

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um die körperliche Gesundheit, in Pressburg zumindest seit dem Jahr 142955. Im ausklingenden Mittelalter und dem Beginn der Frühen Neuzeit gab es zumindest zwei Krankenhäuser, die mit der Fürsorge der Einwohner/innen betreut waren: Das »alte Spital« St. Anton56 sowie das »neue Spital« St. Ladislaus57. Beide waren unmittelbar benachbart zueinander situiert, und zwar in jenem Gebiet, das passenderweise Spitalneusiedl genannt wurde, westlich der St.-Laurenz-Vorstadt und dem dortigen Bad, in Verlängerung der Langen Gasse58. Dass die beiden Einrichtungen nicht direkt in der Stadt lagen, sondern an einer Straße außerhalb, hat damit zu tun, dass viele Spitäler in dieser Zeit nicht nur als Armenhäuser oder auch Leprosarien (also Anstalten für die Unterbringung von Leprakranken) genutzt wurden, sondern ebenfalls als Schutzhaus für Pilger/innen59. Mit zwei Krankenanstalten ist Pressburg eine jener Städte, die über den besonderen Luxus von mehr als einer derartigen Institution verfügen konnte: Angesichts der Lage an der Donau und dem damit gut ausgebauten Handel, der Position als ungarische Königsstadt und einer beachtlichen Stadtgröße von über 5000 Personen im 15. Jahrhundert60, scheint dies fast selbstverständlich. Es sollte in diesem Zusammenhang dennoch betont werden, dass es sehr wohl einen Zusammen-

55 Das Spital St. Anton, gegründet von Angehörigen des Antoniter-Ordens, stand zumindest seit 1309 unter städtischer, nicht mehr unter kirchlicher Kontrolle; vgl. Judit Majorossy–Katalin Szende, Hospitals in Medieval and Early Modern Hungary. In: Martin Scheutz–Andrea Sommerlechner–Herwig Weigl–Alfred Stefan Weiss (Hg.), Europäisches Spitalwesen. Institutionelle Fürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Ergänzungsband 51, Wien/München 2008) 409–454, hier 412. Ursprünglich wurde die Aufgabe, sich um religiöse Angelegenheiten der Spitalsinsassen zu kümmern, von den Pressburger Geistlichen erfüllt, nach den Hussiteneinfällen gaben sie diese Verantwortung jedoch auch an die städtische Verwaltung beziehungsweise die Mitarbeiter der Spitäler ab; vgl. ebd. 422. 56 Auch St. Elisabeth genannt, vgl. Majorossy–Szende, ebd. 431. 57 In den Testamenten meist St. Lasla genannt, vgl. beispielsweise AMB Nr. 2866 oder Nr. 3124. Gegründet 1370, wurde das Krankenhaus nach dem Hl. Ladislaus von Ungarn benannt, der 1192 von Papst Coelestin III. (1191–1198) heiliggesprochen wurde. Zum Gründungsjahr siehe Majorossy–Szende, Protocollum Testamentorum (Bd. 1) (wie Anm. 1) 24. Es sei angemerkt, dass der Name St. Ladislaus zu den eher ungewöhnlichen für ein Spital im mittelalterlichen Ungarn zählte, ganz im Gegensatz zu St. Anton; vgl. Majorossy–Szende, Hospitals (wie Anm. 55) 431. 58 Vgl. dazu die Karte bei Majorossy–Szende, Protocollum Testamentorum (Bd. 1) (wie Anm. 1) 28 (Abb. 3). 59 Majorossy–Szende, Hospitals (wie Anm. 55) 446. 60 Eine Auflistung der ungefähren Einwohnerzahlen frühneuzeitlicher ungarischer Städte findet sich etwa bei Majorossy–Szende, Hospitals (wie Anm. 55) 419 (Anm. 34).

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hang zwischen Urbanisierung und Anzahl an Spitälern gibt61, so wie es auch eine Korrelation zwischen Entwicklung der städtischen Verwaltungstätigkeit und der Schriftlichkeit gibt. Abgesehen von den Schenkungsurkunden62 tauchen die beiden Spitäler immer wieder auch in den eigenständigen Testamenten auf, meist – ähnlich dem Martinsdom – als Empfänger von Geldmitteln, es wurden aber auch genauso Güter an die Spitäler gespendet. Die lange Tradition des alten Spitals und die unmittelbare positive Annahme des neuen Spitals in der Bevölkerung ist auf den ersten Blick zu erkennen: Sie tauchen schon in den ersten überlieferten Willensbezeugungen auf, das erste Mal im schon oben erwähnten Testament des Jans des Polle aus dem Jahr 137563 – also nur fünf Jahre nach der Gründung des neuen Spitals – wo zum einen dem alten Spital St. Anton jenes Geld vermacht wird, das die Klosterbrüder bekämen, wenn sie denn die Messen und Gebete für Jans den Polle nicht vergessen würden, und zum anderen den Insassen der beiden Spitäler Geld überlassen wird: Ich schaff auch czehen phunt ewiges geltes hincz den pruederen in daz Chloster cze Prespuerch […] auch sullen die prueder alle thoteminer vigilie singen mit neun leczen und ein selmezze singen und umb mein sel pitten und umb meiner vor vodern sel und ob si dez nicht tetten so sol man daz almuesen in daz Alte Spietol geben vor der stat cze Prespurch den siechen alz oft si daz nicht tuen als vorgeschrieben stet. […] Und also wan ich gestuerb, so sol man cze hant anheben und sol alle wochen raichen ein phunt phenninge in die czway spital ein ganczes iar und sol daz nemen von meiner varunden hab […]64. Auch in einem Testament vom 2. Juli 1483, jenem des Thomas Peck und seiner Ehefrau Margarethe, kommen die Spitäler vor, denn der Testator war den Spitälern noch Geld schuldig: Item dem Spital hie […] schuldig [10 Gulden] haubtguet davon ieerlich auf Georgn zu dienen [1 Pfund Pfennige].65 61 Siehe hierzu Katalin Szende, »Sag mir, wo die Spitäler sind …«. Zur Topographie europäischer Spitäler. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 117 (Wien/ Köln/Weimar 2009) 137–146, hier 141 f. 62 Siehe Anm. 6. 63 In Übereinstimmung mit den Angaben bei Majorossy–Szende, Hospitals (wie Anm. 55) 428. 64 AMB Nr. 327; Prokosch, Bürgerliche Testamente (wie Anm. 3) 33–41, hier 33 f. 65 AMB Nr. 3982; Prokosch, ebd. 114–119, hier 115. Im selben Testament erfährt man im Übrigen, dass Thomas Peck am Aufbau der Erweiterungen für den Martinsdom beteiligt war, denn er hat dem Pfarrer der Kirche, Hans Han, […] ain ganntzn suemer sand stain ziegl zu seinem gepaew gefuret […], offt in ainem tage 4 oder 5 fuer […].

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Es klingt dabei so, als würde es zu dieser Zeit nur mehr eine Krankenanstalt geben, oder als hätte man vergessen, zu erwähnen, welchem Spital das Geld geschuldet wurde. Zwar waren beide Spitäler tatsächlich getrennte Institutionen und auch nie unter einer gemeinsamen Leitung vereint, wurden jedoch von der Stadtverwaltung und den Bürgern so behandelt, als ob sie zusammengehören würden. Deswegen ist in den Testamenten und anderen Dokumenten auch oft nur von »dem Spital« zu lesen66. In den testamentarischen Einzelurkunden ist die früheste Nennung der beiden Einrichtungen als eine einzige das Testament aus dem Jahr 1467 des Nikolaus Flins67, dem Ehemann der schon weiter oben erwähnten Magdalena Amser. Dennoch gibt es gleichfalls Vermächtnisse, bei denen explizit nur eines der beiden Häuser genannt wird. Dies kann man etwa in der Schenkungsurkunde des Ulrich Sund aus dem Jahr 1457 sehen, wo er 10 Ungarische Gulden ausschließlich an das New[e] Spital zu Sannd Lassla vor der stat Prespurg und irm spitalmaister 68 spendet. An den Dom St. Martin und die beiden Spitäler werden in den meisten Testamenten Vermögenswerte vererbt. Doch selbst aus Stücken, welche keine Schenkungen an die Einrichtungen der Stadt beinhalten, lässt sich über die Topografie der Stadt einiges in Erfahrung bringen. Als Beispiel sei hier der – bis auf die Feststellung, dass er an einem Freitag nach aller Heylinge[n] Drey Kanigs tag aufgeschrieben wurde – undatierte letzte Wille der schon oben erwähnten Witwe namens Cholman Gunbachin angeführt, welcher aus allen anderen Einzeltestamenten in erster Linie deswegen hervorsticht, da es sich dabei um die Verschriftlichung eines mündlich aufgesetzten Testamentes handelt. Dieses wird mit den Worten eingeleitet: Ich Martinus Wassermann leutpriester und verbesser des wierdigen Gotzhauss zw Sand Michael und Sigmund Goldner rats purger und hauss gesessner zw Brespurg und ayner meiner lieben herren des klainen und weyssen und loblichen rats und Mert Dremel Iorg Choetinger und Iacob Falckh und Simon Raeschel Wolfgang Wagner alle hauss gesessen in der Varstadt do hys zw Prespurg in Schendorffer Gassen pechennen alle ayntraechtigklichen pey unseren treuen und ernen das uns die ersam frawe mit namen Cholman Gunbachyn eyn verlasne witib und auch da selbs in Schendorffer Gassen gesessen […]69. 66 67 68 69

Vgl. dazu auch Majorossy–Szende, Hospitals (wie Anm. 55) 420, 439. AMB Nr. 3529; Prokosch, Bürgerliche Testamente (wie Anm. 3) 97–102. AMB Nr. 3124; Prokosch, ebd. 87–89, hier 87. AMB Nr. 4140; dazu auch Prokosch, ebd. 123–127, hier 123 f.

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Abgesehen von den zahlreichen Nennungen von Zeugen erhält man hier einen Einblick, wer aller ein Haus in der Schöndorfer Gasse, die (außerhalb der Stadtmauern Pressburgs) von der Pfarrkirche St. Michael in Richtung Tyrnau verläuft, besessen hat. Es sind dies nicht nur die Testatorin, sondern zudem noch fünf weitere Nachbarn, außerdem der Ratsbürger und ebenfalls Hausbesitzer Sigmund Goldner. Der Leutpriester Martin Wassermann war zwar in St. Michael tätig, ob er jedoch auch ein Haus in der Schöndorfer Gasse besessen hat, lässt sich allein aus dem Testament nicht eruieren. Das Haus, in dem die Witwe gelebt hat, könnte durchaus ihr eigenes gewesen sein, denn im Verlauf der Abfassung der Verfügung wird erwähnt, dass sie weder ihr Haus noch ihre Weingärten vererben wolle: [Sie] hatt […] grymigklichen ir haupt und hend in den pett hyn und her gewuntten und darnach mit mund auss gesprochen lauttschreyeg, das wir es all guett verstanden haben, sy wel chaynen nichtz schaffen noch vergiennen, weder von hauss noch von weingart noch von wein noch von gold noch von gelt noch von anderen iren guetteren […] 70. Das Testament der Cholman Gunbachin ist nicht das einzige, in dem Häuser genannt werden, aber jenes, in dem die meisten auch mit Angabe der genaueren Lage aufgelistet werden und durch welches man auch Einblick in die nachbarschaftliche Situation eines Teils dieser sehr langen Straße bekommt. Insgesamt tauchen allein in den deutschsprachigen Einzeltestamenten – inklusive der soeben genannten – 26 Wohnhäuser sowie zumindest weitere 19 Häuser auf, die im Besitz der Testatoren und Testatorinnen standen71. In Verbindung mit dem im Jahr 1439 begonnenen Grundbuch72 der Stadt Pressburg ist es wohl möglich, sämtliche private Liegenschaften der in den Verfügungen genannten Einwohner/innen zu lokalisieren.

70 Ebd. 71 Prokosch, ebd. 130 f. 72 Juraj Šedivý, Die mittelalterlichen Pressburger Stadtbücher und die Möglichkeiten ihrer Auswertung dank der Digitalsation. (Vortragsunterlagen, online unter https://dighist.hypotheses. org/files/2015/07/Sem_Wien_2014_Stadtbuch_JS_2014_V2–00000002.pdf), hier 6. In: Adelheid Krah (Hg.), En route to a shared identity. Sources on the history of Central Europe in the Digital Age, Blog online unter https://dighist.hypotheses.org/ (Zugriff 7.11.2018).

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Möglichkeiten für die Sozialgeschichte: Familienbeziehungen Man kann anhand von Testamenten nicht nur erkennen, dass Geld und Güter gerne an Institutionen in der Stadt wie eben kirchliche Einrichtungen, das Armenhaus oder Krankenanstalten vermacht wurden, sondern daraus auch Folgerungen für die materielle Kultur ziehen73. Eine weitere wichtige Eigenschaft von Verlassenschaften ist die Aufzeichnung von Erbteilen an die Verwandtschaft, wodurch man sowohl für die genealogischen Beziehungen der Pressburger Familien als auch für die Sozialstruktur der Stadt bedeutende Aussagen treffen kann. Familienmitglieder stehen als Erben beinahe immer an vorderster Stelle der Aufzählungen von Nachlassempfängern und -empfängerinnen, erst nach der Nennung der Familie werden kirchliche oder städtische Institutionen bedacht. Auch Bekannte oder Geschäftspartner stehen in den Nachlässen eher hinten an, des Öfteren sogar erst nach den Schenkungen an die Kirche oder die Stadtgemeinschaft. Abgesehen vom Testament des Jans des Polle, in dem weitläufige Familienbeziehungen sichtbar sind – unter anderem zu seiner Verwandtschaft in Wien, zugleich werden darin auch Diener genannt, die für ihn gearbeitet haben – sei hier als Beispiel jenes von Johann Hawnstil vom 23. Mai 142474 angeführt. Betrachten wir uns also dieses Stück ein wenig genauer. Es beginnt mit der Nennung von vier Zeugen75, danach wird ohne Umschweife die Verteilung der Güter beschrieben. Als erstes wird eine Tante (mume76) des Testators genannt, nämlich Barbara, die Ehegattin des Andreas Pernhertel, die einen Weingarten erhalten soll; einen weiteren Weingarten bekommt seine zweite Tante namens Martina Pultusin und deren nicht namentlich genannte Kinder, selbige bekam unter anderem auch ein Silbermesser vermacht; des Erblassers drei Teile an dem weingartn haws gehen an eine dritte Tante, Walpurga, welche als Tochter des Nikolaus Lachnitlein bezeichnet wird, womit auch gleich der Name von Hawnstils Großvater mütterlicherseits bekannt ist. Der aechem,

73 Katalin Szende, Otthon a városban. Társadalom és anyagi kultúra a középkori Sopronban, Pozsonyban és Eperjesen [Zu Hause in der Stadt. Gesellschaft und materielle Kultur im spätmittelalterlichen Ödenburg, Preßburg und Eperies im Spiegel von Testamenten] (Budapest 2004). 74 AMB Nr. 975; Prokosch, Bürgerliche Testamente (wie Anm. 3) 61–66. 75 Namentlich Andreas Pernhertel, Hans Pauer, Martin Spigler und Ulrich Franz. 76 Der Begriff »Mume« wird hier mit Vorsicht als Tante mütterlicherseits gedeutet. Die Bezeichnungen für Verwandte waren nicht immer konsistent, so war eine »Mume« in der Regel die Tante, wobei aber nicht genau gesagt werden kann, ob mutter- oder väterlicherseits. Vgl. Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch (31992) 340.

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also wohl Onkel77, mit dem Namen Ulrich Ledrer erhielt 12 Pfund Pfennige. Durch Bezahlung mithilfe des Weins aus den Weingärten sollten jährlich Messen in Gedenken an Hans Hawnstil selbst, seine Mutter sowie seinen Vater gelesen werden, wobei letzterer als Jakob Hawnstil genannt wird. Vernachlässigt man die Nennung einer Frau, die im Testament als mein fraw bezeichnet ist und somit durchaus die Ehefrau des Testators sein könnte, sind damit alle Verwandten angegeben. Unter Beachtung von diversen Unsicherheiten in der Bezeichnung der Familienbeziehungen ergibt sich damit für Hans Hawnstil ein Stammbaum wie in Abbildung 3.

Abb. 3: Familienbande des Hans (Johann) Hawnstil, rekonstruiert anhand von AMB Nr. 975.

Die erwähnten Gedenkgottesdienste sollten ursprünglich allen Freunden Hawnstils gewidmet sein, dieser Abschnitt wurde jedoch korrigiert, sodass stattdessen seine Eltern in den Genuss einer Memorialmesse kamen. Der Freundes-, zumindest jedoch der Bekanntenkreis des Verstorbenen dürfte verhältnismäßig groß gewesen sein: Weitere genannte Personen neben den Zeugen umfassen, entweder als Nachlassempfänger oder Schuldner, Hans Eilausemrock, Jakob Mendl, einen Mann namens Gweltel, Sigmund Hensl, Stefan Wigsring, Erhard Peter, einen weiteren Herrn namens Tibolt, Fritz Schneider, sowie einen unbenannten Schweineschlachter aus Wartberg/Senec. Schenkungen gehen ebenfalls an den Martinsdom – natürlich czu dem paw – und das Paulinenkloster im Mariental/Mariánka. 77 »Oheim« stand entweder für den Onkel mütterlicherseits oder für den Neffen schwesterlicher­ seits, der Begriff bezeichnete aber mitunter auch jeglichen entfernten Verwandten. Im Gegensatz dazu bezeichnete »Vetter« sowohl den Onkel väterlicherseits als auch den Neffen brüderlicherseits. Vgl. Lexer, ebd. 181.

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Es sei noch darauf hingewiesen, dass auch für die Verwaltungsgeschichte der Stadt Pressburg Testamente als Quelle herangezogen werden können, insbesondere für die Existenz von Stadtämtern und deren personelle Besetzung. So sind etwa in den testamentarischen Einzeldokumenten als Stadtrichter Mert Kirchenknopf, Paul Spitzer, Stefan List (der auch Kirchmeister war), Ludwig Kunigsfelder, oder Stefan Gmaitl vertreten, als ein Stadtrat des Inneren Rates begegnet uns Michael Feiertag, außerdem sind auch noch Stadtschreiber und mitunter auch der Bürgermeister genannt.

Möglichkeiten für die Wirtschaftsgeschichte: Weingärten Für die Wirtschaftsgeschichte können Testamente ebenfalls eine sehr ergiebige Quelle sein, sei es nun in Bezug auf Handelsverbindungen inner- und außerhalb einer Stadt, auf die Nennung verschiedener Währungen (üblicherweise treten zwar in den betrachteten Verfügungen Ungarische Gulden auf, doch auch von Wiener Pfennigen, Roten Gulden und der sogenannten Schwarzen Münze ist die Rede)78, den Preisen für bestimmte Waren und Dienstleistungen79 wie beispielsweise Lasurstein, Salz, Brettspiele oder Dachdecker- und Glaserarbeiten, oder Erwähnungen von Weingärten. Der Weinbau war eine der führenden Industriezweige im Ungarn des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, vor allem seit der Verdrängung des Auenweinbaus durch moderne Methoden und das Vordringen auch in städtische Gebiete ab zumindest dem 13. Jahrhundert80. So wie es ebenfalls in Herrscherurkunden der Fall ist, treten Weinbaugebiete auch in bürgerlichen Testamenten auf. Dabei werden die Weingüter selbstverständlich nicht wie in Herrscherurkunden »nebenbei erwähnt«81, zumal diese zu den ertragreicheren und damit wertvollen Besitzungen der Pressburger Bürger gehörten. Im Jahr 1451 beschloss der Stadtrat von Pressburg, dass Urkunden, die sich mit der Übertragung von Weingärten befassten (wozu wohl auch Testamente zählten), ausschließlich dann Rechtskraft besaßen, wenn sie vor dem Stadtrat ausgestellt wurden82. Und so

78 Vgl. Prokosch, Bürgerliche Testamente (wie Anm. 3) 17–19. 79 Ebd. 142 (Tab. 2). 80 László Solymosi, Weingut und Urkundenausstellung im mittelalterlichen Ungarn. In: Archiv für Diplomatik 57 (2011) 395–412, hier 400 f. 81 Ebd. 401. 82 Ebd. 406.

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gibt es durchaus einen Zusammenhang ebenfalls zwischen Besitz von Weingütern und der Schriftlichkeit in Städten. Entgegen der Erwähnungen in späteren Zeiten und Quellengattungen »gaben [die Besitzer] sich [bis zumindest zum Ende des 15. Jahrhunderts, Anm. d. Autors] mit der Erwähnung der Namen der Siedlung und des Weinbergs zufrieden«83, eine genaue Bestimmung der Lage und der Größe der Weinfelder ist also allein mithilfe der Einzeltestamente oft nicht möglich. Dies war nicht immer die Regel, so kann man zum Beispiel in dem – was die genaue Beschreibung der Weingüter betrifft – besonders vorbildhaften Testament des Christoph Sailer aus dem Jahr 146784 sehr genau die Lage seiner Güter nachvollziehen: […] Item auch schaff ich mer von meyn gelassen guett meinem vetter Cristan ain suelberpecher und ayn weingartten gelegen yn der Tuenenn Lewtten nebem des Lanngen Paullen tael […] Item auch schaff ich mer meiner hawsfrawn Agnes mein haws gelegen neben des Niclas Mesrer haws und Sandt Michels tor. Auch schaff ich ir ain weingartten in dem Chuenhartzgraben gelegen neben des Niclas Messrer weingartten. Auch schaff ich mer ain weingartten in der Poshait gelegen nebem dem Thoman Haÿnnczler. Auch schaff ich ir mer ain weingarten der haist der Phanczagel gelegen auff Reczestarffergrund und stost an des pharrer Vogel der ist pharrer Sand Mertten zw Prespurk. Auch schaff ich mer meiner hawsfrawnn ain weingartten der do haist der Tellen gelegen auf Reczestarffergruendt. Das mittelalterliche und frühneuzeitliche Pressburg war lange Zeit von Weingärten umgeben85. Viele davon waren in Privatbesitz, weswegen Weingärten in den Testamenten sowohl der Einzeldokumente als auch vor allem des Protocollum Testamentorum rings um die Stadt, außerhalb der Stadtmauern, fassbar sind. Auch etwa für die Spitäler waren die Weingärten eine sehr wichtige Einnahmequelle86. So sind im Westen der Stadt die Weingärten am Hausberg in 83 Ebd. 403. 84 AMB Nr. 3542; Majorossy–Szende, Protocollum Testamentorum (Bd. 1) (wie Anm. 1) 352 f. (Nr. 272); Prokosch, Bürgerliche Testamente (wie Anm. 3) 105–108, hier 106. 85 Zur Benennung der Weingartengebiete vgl. Žofia Lysa, Bratislava. In: Martin Štefánik, Ján Lukačka (Hg.), Lexikon stredovekých miest na Slovensku (Bratislava 2010) 105–149, insbesondere 119. 86 Majorossy–Szende, Hospitals (wie Anm. 55) 439. Hier sind Zahlen, allerdings für Sopron, genannt, die die Wichtigkeit des Weinbaus für die Finanzen von Spitälern gut veranschau­ lichen: Machten in den Jahren 1436/37 die Erträge aus Weinverkauf nur fünf Prozent aus, so hatte sich dieser Anteil bis 1489/90 auf 53 Prozent erhöht.

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unmittelbarer Nähe zur Burg zu finden87, auch nördlich des Burgberges waren die Flächen geeignet für Weingärten88. Im Norden von Pressburg liegt der damalige Vorort Schöndorf mit weiten Anbauflächen89, östlich davon wurde in Spitalneusiedl Wein angebaut. In den Quellen werden mitunter auch Flurnamen der dortigen Weinanbaugebiete genannt, so liest man etwa von der Hoheney, der Dünnen Leiten, Langetheile und anderen Gebieten. Schließlich ist noch – wie im obigen Zitat – Retzersdorf im Nordosten der Stadt als Anbaugebiet zu erwähnen. Aber auch im Süden der Stadt, wo durch die Nähe der Stadtmauer zur Donau und der damit verbundenen Infrastruktur der Häfen eher wenig freie Fläche verfügbar war, wurde auf den Wedritzer Gründen, in Donauneusiedel und in der Fischervorstadt90 Weinbau betrieben. Aufgrund des weit verbreiteten Weinbaus – allein in den deutschsprachigen eigenständigen Testamenten ist von 79 unterschiedlichen Weingärten die Rede – wurde in Pressburg nur knapp nach der Anlage des Testamentsbuches auch mit dem Schreiben eines eigenen Grundbuches für Weingärten begonnen, nämlich im Jahr 142991. Mit dieser weiteren Quelle ließe sich also unter anderem die örtliche Aufteilung der Weingärten, die in den Willensverfügungen genannt sind, recht genau rekonstruieren.

Die europäische Perspektive Die vorigen Betrachtungen könnten den Anschein erwecken, dass die Pressburger Einzeltestamente Dokumente sind, die sich ausschließlich mit den lokalen Begebenheiten auseinandersetzen; dies ist jedoch bei weitem nicht so. Natürlich spielen die Vorgänge in der Stadt und die Besitzungen der Testatoren und Testatorinnen die zentrale Rolle darin, jedoch ergibt sich bei genauer Betrachtung der Stücke durchaus das Bild, das man von (noch immer) aufblühenden Städten der Frühen Neuzeit im Allgemeinen haben sollte. Nämlich, dass zentrale Städte wie Pressburg durchaus in ein Städtenetzwerk eingebunden waren, unter anderem durch die Aktivitäten der dort Ansässigen. Die Verbindungen waren zur näheren Umgebung selbstverständlich stärker als zu weit entfernten Orten, dennoch kann man durchaus erkennen, dass Pressburg in einen weiten Raum innerhalb Europas eingebettet war. 87 Beispielsweise AMB Nr. 766. 88 Beispielsweise AMB Nr. 766. 89 Beispielsweise AMB Nr. 429. 90 Beispielsweise AMB Nr. 3754. 91 Šedivý, Pressburger Stadtbücher (wie Anm. 72) 6.

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Michael Prokosch

Gerade zwischen Pressburg und Wien gab es immer wieder Bezugspunkte, die sich in den Testamenten widerspiegeln, dafür sei als frühes Beispiel wiederum der Komplex um das Testament von Jans dem Polle92 erwähnt. Schon lange vor der Abfassung der Willensverfügung in Pressburg hatte der Händler ein Testament in Wien ausstellen lassen, welches im Oktober 1360 durch den Pressburger Stadtrichter Jakob bei dem Tore bestätigt wurde, sodass die darin enthaltenen Bestimmungen auch in Bratislava gelten sollten. Im Testament selbst lassen sich diverse Verbindungen zwischen Jans dem Polle und der Stadt Wien und auch anderen Orten feststellen. Geht man den letzten Willen der Reihe nach durch, so kann man zuerst lesen, dass der Polle Schulden bei jemandem hatte, der Glaserarbeiten für die Wiener Benediktinerabtei Unserer Lieben Frauen zu den Schotten übernommen hatte. In Ofen lebte eine Tochter des Testators bei dem »Vetter« Otto, die zweite lebte bei ihrer Mutter, wobei nicht gesagt wird, wo sich die Mutter aufhielt oder wie sie hieß. Von einer weiteren Tochter, deren Name ebenfalls nicht genannt wird, da sie vermutlich schon verstorben war, erfährt man, dass sie ein Kind – also Jans’ Enkel – hatte, das ebenfalls in Wien lebte. Nach Ofen hatte Jans der Polle nicht nur Familienbeziehungen in Form des »Vetters«, sondern auch Geschäftskontakte mit denjenigen dortigen Bürgern, die als Lange[r] Nyklein und als Chratzer 93 bezeichnet sind. Seinem Neffen Ulrich, der im vermutlich niederösterreichischen Habersdorf lebte, vermacht Jans einen Weingarten. Ein Diener des Polle wird ebenfalls im Testament erwähnt, er soll jenes Pferd erhalten, mit dem er im Auftrag seines Herrn nach Villach geritten ist. In Gedenken an den Testator sollen nach seinem Tod insgesamt vier Wallfahrten unternommen werden, zwei davon nach Rom und zwei nach Aachen. Zu guter Letzt sind noch unbestimmte Güter genannt, die er in Osterreich 94 hatte und die an den Großgrafen Emmerich in Ungarn gehen sollen. An diesem nicht einzigartigen Beispiel ist zu erkennen, dass es diverse Beziehungen zu fremden Orten gab, und zwar in jeweils unterschiedlicher Art, sei es nun familiär, geschäftlich oder durch Besitztümer. Nicht nur wegen der geografischen Nähe, sondern auch durch den ausgesprochen guten Verbindungsweg über die Donau ist Wien damit die Stadt, die (außer Pressburg selbst) am häufigsten in Pressburger Testamenten erwähnt wird. Damit einher geht auch die Tatsache, dass der Raum um Wien (Leopoldsdorf, Fischamend, Pottendorf, 92 Bestehend aus einer Bestätigungsurkunde (AMB Nr. 175), dem Testament selbst (AMB Nr. 327) sowie der Urkunde über die Vollstreckung des Testaments (AMB Nr. 484). 93 AMB Nr. 327; Prokosch, Bürgerliche Testamente (wie Anm. 3) 33–41, hier 36. 94 AMB Nr. 327; Prokosch, ebd. 33–41, hier 37.

Testamentarische Einzelurkunden aus Pressburg

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Hainburg) äußerst gut in den untersuchten Stücken vertreten ist. Aber auch weiter entfernte Städte und Ortschaften spielen immer wieder eine Rolle. So gibt es Beziehungen zwischen Pressburg einerseits, und des Öfteren Budapest (im Speziellen: Ofen), seltener Tyrnau/Trnava, Schöndorf/Senica, Bösing/Pezinok, Wartberg/Senec oder Gran/Esztergom andererseits. Die auch im Beispiel erwähnte Aufforderung, Wallfahrten für das Seelenheil der bald Verstorbenen zu unternehmen, findet sich in mehreren Testamenten. In der Regel sind dies Wallfahrten nach Rom oder Aachen. Auch alpine und bayrische Orte tauchen mitunter auf, wie beispielsweise St. Wolfgang und Traunstein oder Landshut und Nürnberg. Betrachtet man sich die Orte, die in den Testamenten nachzulesen sind95, so sind vor allem zwei Dinge auffällig. Erstens: Die meisten weiter entfernten Städte, zu denen Beziehungen irgendeiner Art bestehen, liegen in Mittel- und Westeuropa. Zweitens: Die näheren liegen beinahe ausschließlich an der Donau oder nicht weit davon entfernt, was wohl damit zusammenhängt, dass dieser Strom gerne als schneller Verkehrs- und Handelsweg genutzt wurde.

Conclusio Der überwiegende Großteil aller aus dem Mittelalter erhaltenen Testamente aus dem damaligen Oberungarn sind uns allein aus der Stadt Pressburg bekannt96. Dass sich in Pressburg eine dermaßen gut ausgeprägte Testamentskultur entwickelte, liegt wahrscheinlich vor allem an der unmittelbaren Nähe zu Wien, wo durch die Stellung als Herrschaftssitz schon relativ bald eine hochstehende Schriftkultur entstand, andererseits aber auch an den Einflüssen der Kirche, vor allem des Pressburger Kapitularkapitels97. Es versteht sich von selbst, dass mit nur 29 Urkunden keine statistischen Untersuchungen belegt oder ohne Bedenken allgemeingültige Aussagen getroffen werden können; dafür sind angesichts der über 5000 Personen, die Pressburg Ende des 15. Jahrhunderts bewohnt haben dürften98, schon Datenmengen in der Größenordnung, wie sie das Protocollum Testamentorum bereitstellt, nötig. Die 95 Für zwei Karten hierzu siehe Michael Prokosch: Pressburger Testamente zwischen Einzeldokument und Stadtbuch, darin Abb. 3 und 4. In: Adelheid Krah (Hg.), En route to a shared identity. Sources on the history of Central Europe in the Digital Age, Blog online unter https:// dighist.hypotheses.org/ (Zugriff 7.11.2018). 96 Majorossy–Szende, Protocollum Testamentorum (Bd. 1) (wie Anm. 1) 20. 97 Šedivý, Mittelalterliche Schriftkultur (wie Anm. 8). 98 Majorossy–Szende, Hospitals (wie Anm. 55) 419 (Anm. 34).

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Michael Prokosch

hier vorgestellten, als Einzelurkunden überlieferten Testamente können deswegen immer nur als Ergänzung zum Stadtbuch gesehen werden. Dennoch – und dies sollte anhand dieses Textes verdeutlicht werden – kann man auch anhand nur so weniger Dokumente erstaunliche Fakten zutage fördern. Sowohl im Fall des Martinsdoms als auch im Fall der Spitäler lassen sich ausschließlich anhand der Testamente natürlich nur rudimentäre Daten zur Stadtgeschichte ablesen, aber man gewinnt immerhin einigermaßen genaue Datierungen, die sowohl als Beleg für Tatsachen als auch zur genaueren Beschreibung betreffend die Baugeschichte und andere historische Begebenheiten dienen können, sowie ein Gefühl für die Relevanz der in diesem Aufsatz näher betrachteten Gebäude. Man kann Einblicke in die Topografie der Stadt gewinnen, was anhand der Verortung von Privatimmobilien und Weingärten gezeigt wurde. Dass in Testamenten naturgemäß sehr viele Menschen Erwähnung finden, bildet eine gute Grundlage für Untersuchungen hinsichtlich der Akteure der Stadtverwaltung, der persönlichen Beziehungen und klarerweise auch des Besitzstandes der Genannten. Auch die Namensforschung findet in den letztwilligen Verfügungen des 14. Jahrhunderts ein breites Untersuchungsfeld, zumal ersichtlich ist, dass die frühesten Testamente aus Pressburg in jene Zeit fallen, in denen Nachnamen ihre erste Ausprägung erfahren, denkt man etwa an die erwähnten Stadtrichter Jakob bei dem Tore oder Paul der Spyzer99. Viele interessante Details haben in dieser Betrachtung nur wenig Platz eingeräumt bekommen, etwa eine genaue Beschreibung der erwähnten Stadtfunktionäre, andere mussten vollkommen außen vorgelassen werden. So könnten etwa die Erwähnung von Salz und Erzen untersucht werden, die Nennung von vererbten Kleidungsstücken und Silbergeschmeiden oder auch inwieweit Tiere wie Pferde, Rinder und Fische in den Testamenten vorkommen. Alltagsgegenstände wie etwa die kurz erwähnten Brettspiele oder auch Messer, Polster und diverse Gefäße findet man in den letztwilligen Verfügungen ebenso wie Baumaterialen, darunter etwa Holz, Ziegel oder Glas; damit stellen Testamente eine exzellente Quelle für die Untersuchung der Alltagskultur damaliger Zeit dar. Auch die in den Urkunden genannten Einrichtungen wie beispielsweise die mitunter den Bürgern gehörenden Fleischbänke, ein Vergleich der Bestimmungen betreffend die Sorge um die eigene Memoria sowie das große Thema Armenfürsorge sind Forschungsgebiete, die anhand von letzten Willen analysiert werden könnten. Dass die Bewohner und Bewohnerinnen von Städten dieser Zeit schon in einem weiten europäischen Umfeld agieren mussten und auch konnten, wurde am 99 Ersterer wird erwähnt bei AMB Nr. 175, Paul der Spyzer bei AMB Nr. 327, 484 und 539.

Testamentarische Einzelurkunden aus Pressburg

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Ende anhand eines Beispiels gezeigt. Diese Tatsache würde vermutlich durch die Untersuchung der größeren Anzahl an Verfügungen im Protocollum Testamentorum noch besser zutage treten. Auch wenn die Testamentsforschung bei weitem kein unbeschriebenes Blatt mehr ist, bleiben für die Zukunft noch viele Themen übrig, die sich zu untersuchen und auch neu aufzuarbeiten lohnen, und bei denen man wohl auch, je nach untersuchtem Ausstellungsort, zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen wird. Eines steht jedenfalls fest: Testamente sind diejenige Art von Quellentypus, bei der man ohne Umschweife erkennen kann, was den Menschen im Angesicht der letzten Wochen, Tage oder gar Stunden ihres Lebens so wichtig war, um Vorsorge dafür treffen zu wollen.

Daniel Jeller

Urkunden als Netzwerk Ein Werkstattbericht

Abstract: In the work report on ›deeds as networks‹, the structure of spatial and personal records of the in the portal ›monasterium.net‹ listed medieval and early modern deeds is investigated on their automatic and semi-automatic normalisation. Moreover, it describes how a normalisation and automatic georeferencing is tried out for test purposes and how the obtained interconnected norm data is made accessible in a browser-based application on pilot basis. Finally, the success of the endeavour will be assessed critically.

Einleitung Mit Urkunden, also schriftlichen Aufzeichnungen von Rechtshandlungen, die besonders im Mittelalter und der Frühen Neuzeit in Gebrauch waren1, verfügt die Geschichtswissenschaft über eine der wohl vielfältigsten und spannendsten Quellengattungen. Für die Erschließung und Erforschung dieser Dokumente waren dabei traditionell neben den Originalen gedruckte Editionen der Urkunden das Hauptmedium. Im Digitalen Zeitalter rückt allerdings vermehrt die Benutzung von »digitalen« Editionen auf Datenträgern und in online-Datenbanken in den Fokus. Neben dem praktischen Vorteil der leichten und stetigen Verfügbarkeit in diesem Medium birgt die Publikation von Urkunden online in digitaler Form weitere Möglichkeiten für Forscherinnen und Forscher, die sich mit Urkunden beschäftigen2. Ihrer Entstehung in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Institutionen nach sind Urkunden inhaltlich stark vernetzte Dokumente, in denen vielfältige Akteure wie die päpstliche Kanzlei, geistliche und weltliche Würdenträger oder Grundbesitzer miteinander in Verbindung treten. Eine Darstellung, dieses teilweise sehr umfangreichen Netzwerks aus Personen, Institutionen und 1 Josef Hartmann, Urkunden, in: Die archivalischen Quellen, hg. von Friedrich Beck–Eckart Henning (Köln–Wien et al 2012) 25–54. 2 Siehe dazu u. a. die Diplomarbeit des Autors: Daniel Jeller, Die Archivalie im Zeitalter ihrer digitalen Reproduzierbarkeit (Wien 2013, Unveröffentlichte Diplomarbeit), http://cluster. nettek.at/?post_type=document&p=1118 [30.7.2018].

Urkunden als Netzwerk

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Orten in Zeit und Raum, ist in der Form einer klassischen Edition (egal ob gedruckt oder in einem digitalen Medium) nur schwer möglich. Erste Abhilfe bieten Urkunden­datenbanken wie die des Monasterium-Portals3, indem sie auf übersichtliche Weise einen Überblick über die beinhalteten Daten bieten. Dabei bleibt jedoch meist die aus dem Buchwesen vertraute Form eines durch Inhalts­verzeich­nis oder Index erschlossenen Textes bestehen und der Netzwerkcharakter bleibt dem Benutzer weitgehend verborgen. Diesem Umstand verschaffen auch die häufig sehr komplexen Suchmöglichkeiten innerhalb der Datenbanken und Dokumente nur bedingt Abhilfe. Die Informatik hat jedoch in den letzten Jahrzehnten einen neuen Datenbank-Typus entwickelt, der auf der aus der Mathematik bekannten Graphentheorie aufbaut und das Speichern und Abfragen von Informationen in Form eines Netzwerks aus benachbarten Knoten und ihren Verbindungen ermöglicht. Die so gespeicherten Daten lassen sich mit geeigneten Algorithmen durchsuchen und neben tabellarischen oder textuellen Exzerpten auch in diagrammatischer Form darstellen und bieten so zahlreiche neue Möglichkeiten zur Suche in den Inhalten und Visualisierung von Zusammenhängen. Um die klassischen digitalen Urkundeneditionen für dieses Medium aufzubereiten, müssen die Inhalte einer Urkunde ihrem semantischen Gehalt nach analysiert und in ein Modell der vernetzten Struktur in zeitlichem, räumlichen und personellen Kontext transformiert werden (siehe Abbildung 1). Der vorliegende Beitrag versteht sich als ein erster Versuch, diese Schritte an Urkunden aus der Monasterium-Datenbank zu vollziehen und die dabei auftretenden Probleme und Lösungsansätze zu dokumentieren. Zudem soll, in Form einer einfachen Beispielanwendung, ein Ausblick auf die Möglichkeiten, die eine derartig aufbereitete Urkundendatenbank der modernen Diplomatik bietet, gegeben werden. Das Monasterium-Portal aus datentechnischer Sicht Mit seinen aktuell etwas über sechshunderttausend Urkunden4 aus einer Vielzahl von europäischen Archiven ist das Monasterium-Portal mit seinem online Archiv MOM-CA5 eine der größten frei zugänglichen Sammlungen von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Urkunden in Bild und Text. Dabei unter3 http://monasterium.net. 4 Home, in: Monasterium.net, http://monasterium.net/mom/home [30.7.2018]. 5 Abgekürzt für Monasterium-Collaborative Archive.

Abb. 1: Eine Urkunde (große Kugel) in ihrem geographischen (links) und zeitlichen Kontext (rechts), dargestellt als gerichteter Graph. Abbildung des Autors.

86 Daniel Jeller

Urkunden als Netzwerk

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scheiden sich die einzelnen Urkunden in ihrer Erschließungstiefe teilweise stark voneinander, da die teilnehmenden Archive direkt verantwortlich für die zur Verfügung gestellten Daten sind. Je nach Zeitbereich, geografischer und historischer Relevanz der Dokumente, sowie länderspezifischen Erschließungsstandards, liegen die Metadaten der Digitalisate meist zwischen folgenden Polen: 1. Minimaldaten in Form von Archiv-Signatur, Datierung, häufig mit einem Regest 2. Hohe Erschließungstiefe mit Signatur, Datum, Regest, Volltext, diplomatischem Apparat, Personen-, Orts- und Sachindex Die vorhandenen Metadaten, damit sind in Folge alle in der Monasterium-Datenbank gespeicherten und damit abrufbaren Informationen zu einer Urkunde, also Regest, Volltext, Index, etc. gemeint, sind dabei wie bereits in obengenannten Punkten angedeutet, nicht nur in ihrem Vorhandensein, sondern auch in ihrer spezifischen Ausprägung äußerst inhomogen. Die Kodierung dieser Daten mithilfe des eigens für die Erschließung von Urkunden entwickelten CEI-XMLSchemas hat zwar zur Folge, dass die verfügbaren Daten formal stark standardisiert und daher gut zur Weiterverarbeitung geeignet sind; jedoch bedingt die vielfältige Herkunft der Daten sowie die Möglichkeit für Benutzer, im ebenfalls frei zugänglichen, grafischen Editor EditMOM die Metadaten einer Urkunde zu ändern – ähnlich den Einträgen in der Wikipedia –, dass deshalb leider nur in geringem Maße universal gültige Form- und Inhaltsstandards angelegt werden können. Dies erschwert die Verwendung der Daten. Um detaillierte Auswertungen vornehmen zu können, müssen die Informationen daher aufbereitet werden.

Versuch: Daten aus MOM-CA in neuem Kontext Um konkrete Erfahrungen in der Arbeit mit Urkunden in einer graphenbasierten Struktur zu sammeln war es sinnvoll, nicht nur theoretische Überlegungen anzustellen, sondern ein konkretes Testprojekt zu entwerfen. Dafür wurde folgende Funktionalitäten vorgesehen: Eine browserbasierte Applikation sollte entwickelt werden, die auf der Graphendatenbank Neo4j6 aufbauend Urkunden aus ausgewählten Beständen7 auf einer Karte darstellen sollte. Dabei sollte es möglich sein, die Darstellung auf 6 https://neo4j.com. 7 Ausgewählt wurden 5 Bestände mit insgesamt 1722 Urkunden.

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Daniel Jeller

beliebige Zeitbereiche zu beschränken. Einzelne Urkunden sollten dabei nicht direkt auf der Karte aufscheinen, sondern durch die in ihnen erwähnten Orte und Personen repräsentiert werden. Beim Klick auf einen derartigen Inhalt sollte eine Zusammenfassung der zugrundeliegenden Urkunde sowie ein Link zur Originalansicht in Monasterium.net angezeigt werden (siehe Abbildung 2).

Abb. 2: Screenshot der fertigen Applikation. Abbildung des Autors.

Um diese Applikation umsetzen zu können waren folgende Arbeitsschritte nötig: 1. Entwurf der benötigten Datenstruktur auf Graphenbasis 2. Export der Daten aus Monasterium 3. Konversion der Daten in die neue Datenstruktur 4. Speichern in der Datenbank 5. Entwicklung der Applikation Für die geplante Applikation musste dabei auf folgende Metadaten Rücksicht genommen werden: ȤȤ Archivspezifischer Kontext (Archiv, Bestand, Signatur) ȤȤ Datum und Regest der Urkunden ȤȤ Ausstellungsdatum und -ort sowie Aussteller ȤȤ Sonstige erwähnte Orte und Personen Diese Daten sollten in eine einfache Graphenstruktur (siehe Abbildung 3) überführt werden. Dazu wurden die XML Strukturen mithilfe eines eigens dafür

Urkunden als Netzwerk

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geschriebenen Java-Programms umgewandelt, die Orts- und Personennennungen normalisiert und identifiziert und alles in eine bereitgestellte Neo4j-Datenbank geschrieben. Diese Daten bildeten dann die Grundlage für die fertige Browseranwendung die mit JavaScript realisiert wurde.

Abb. 3: Schematische Darstellung einer Urkunde als Graph. Abbildung des Autors.

Daten in Monasterium Wie bereits erwähnt werden die Metadaten der Urkunden in Monasterium im CEI-XML Schema ausgezeichnet und in der internen Datenbank gespeichert. Für Personen und Orte sieht das Schema im Allgemeinen folgende Struktur vor: 1. Der Originaltext, also beispielsweise Carolus im XML-Element-Text. Meistens ein Zitat. 2. Eine vom jeweiligen Bearbeiter frei gewählte Form des Zitats im reg-­Attri­ but, die im Optimalfall einer normalisierten Form des Textes entspricht, also Karl der Große, aber auch Carlo Magno (auf Italienisch) oder I. Károly frank császár und I. Nagy Károly (beides auf Ungarisch). Es findet hier keine weitere Normierung durch das System statt. Die exakte Schreibweise (Carolus oder Karolus), also was alles als Originaltext/-name ausgezeichnet wird und eine etwaige Normalisierung bleiben letztlich völlig dem Bearbeiter überlassen. Dieser ist auch nicht dazu verpflichtet, das reg-Attribut überhaupt zu verwenden. Zudem können Namen auch unabhängig von einer Transkription des Textes in Form eines eigens angelegten Indexes ausgezeichnet werden. Hier kann auch der Text-Inhalt (Punkt #1 in der obigen Liste) bereits eine normalisierte Version eines Namens sein. Es können also beispielsweise folgende XML-Fragmente gleichberechtigt in der Datenbank koexistieren. Alle beziehen sich auf Karl den Großen:

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1. 2. 3. 4. 5. 6.

Daniel Jeller

Karolus Karl der Große Carolus Carolus Karolus Karolus

Im Gegensatz dazu bezeichnen folgende Fragmente Kaiser Karl IV. (* 1316; † 1378) 1. Karolus 2. Karl IV. 3. Karolus 4. Karl Das Problem springt ins Auge: ohne Berücksichtigung des Kontextes sind die jeweils ersten Nennungen von Karl dem Großen und Karl IV. nicht voneinander zu unterscheiden. Zudem ist es äußerst schwer, automatisiert festzustellen, dass Karl der Große identisch mit I. Károly frank császár ist, nicht aber Karel, císař římský. Dasselbe gilt in noch größerem Ausmaß für Namensnennungen von weniger bedeutenden Personen und natürlich auch für Ortsnamen. Folgendes sind beispielsweise real in der Datenbank existierende Einträge: Marian von Melk Christoph Barkmann Geras Stift Geras Jeros Geras Geras Liebenberc Reyntal Ranzern pod Krakowem

Urkunden als Netzwerk

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Um es nun einer Anwendung zu ermöglichen, diese sehr vielfältigen Namen zueinander in Beziehung zu setzen, ist es nötig eine Möglichkeit zu finden, diese Beziehungen mit ausreichender Sicherheit festzustellen.

Identifikation von Orten Wie im vorigen Abschnitt geschildert, verfügt Monasterium für Personen und Orte lediglich über textuelle Informationen, die aus dem Originaltext der Urkunden abgeleitet werden. Um die Orte auf der Landkarte darstellen zu können müssen also zu diesen Ortsnennungen die entsprechenden realen Orte beziehungsweise deren Koordinaten ermittelt werden. Als Hilfsmittel dazu wurde die Ortsdatenbank GeoNames 8 verwendet. Dort können mithilfe einer frei zugänglichen Schnittstelle, Orte mithilfe ihres Namens gesucht und ihre geographische Einbettung in Bezirke, Regionen und Länder, ihre heutigen Koordinaten, sowie eine Liste von Namen der Orte in verschiedenen Sprachen abgerufen werden. Das Hauptproblem ist hier, die teils sehr komplexen Ortsnennungen in Monasterium (z. B. Liebenberg (Gde. Ludweis-Aigen, GB WT)) soweit zu normalisieren, dass der betreffende Ort automatisch in der Datenbank gefunden werden kann, sowie soweit als möglich Fehlidentifikationen zu vermeiden. Dabei ist vor allem die Tatsache von Nachteil, dass im internationalen aber auch regionalen Kontext viele Orte ähnliche oder gleiche Namen in ihrer oder einer anderen Landessprache haben. Im vorliegenden Fall wurde auf folgende Arten versucht, mit diesem Problem umzugehen: 1. Die Namen wurden schrittweise normalisiert (Entfernung von Sonderzeichen) und in einzelne Zeichenketten getrennt (aus Liebenberg (Gde. Ludweis-­ Aigen, GB WT) wird hier »Liebenberg«, »Gde. Ludweis-Aigen«, »GB WT«, »Gde.«, »Ludweis-Aigen«, »Ludweis«, »Aigen«). Diese Begriffe wurden dann nach gewissen Kriterien gereiht (komplexe Begriffe zuerst, kurze zuletzt) und in der Datenbank gesucht. Die Ergebnisse wurden dann auf ihre Richtigkeit überprüft. 2. Die Suche wurde manuell auf Europa beschränkt, um Fehlidentifikationen von Orten, vor allem in Amerika, auszuschließen, da die Orte dort oft denselben Namen wie europäische haben können und oft durch ihre Größe von der GeoNames-Suche bevorzugt geliefert werden. Für die Testbestände aus Mitteleuropa können diese Orte aber ausgeschlossen werden. 8 http://www.geonames.org.

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Daniel Jeller

3. Um Fehlidentifikationen innerhalb Europas weitgehend ausschließen zu können wurde der geographische Kontext einer Urkunde ermittelt und mitberücksichtigt. So wurde zuerst immer der Ausstellungsort der Urkunde untersucht, und dann alle anderen, in derselben Urkunde erwähnten Orte, im räumlichen Bezug auf den Ausstellungsort ermittelt (siehe Abbildung 4). 4. Dem Autor zugängliche zusätzliche Informationen zu den Beständen wurden berücksichtigt. So war beispielsweise bekannt, dass der Bearbeiter der Urkunden des Stiftes Geras soweit als möglich im reg-Attribut auch den Gerichtsbezirk in Abkürzung vermerkt hatte. GB WT steht beispielsweise für Gerichtsbezirk Waidhofen an der Thaya. Dies stimmt häufig mit den in GeoNames zu Orten gespeicherten administrativen Einheiten überein, weshalb Treffer außerhalb dieser Einheit auch weitgehend ausgeschlossen werden können. Konnte mit diesem Vorgehen kein passender Ort gefunden werden, etwa weil der Ort heute nicht mehr existiert oder weil der Name nicht mit ausreichender Sicherheit identifiziert werden konnte, so wurde der betreffende Ort für die Darstellung ignoriert.

Abb. 4: Schematische Darstellung der Identifikation des Ortes Ceský Krumlov (auf Deutsch Krumau) in einer ­Urkunde mit dem Ausstellungsort Passau aus dem Stiftsarchiv Schlägl. Aufgrund der geographischen Lage von Passau und Schlägl scheint es wahrscheinlicher, dass mit »Krumau« Ceský Krumlov in Tschechien und nicht Krumau bei Admont gemeint ist. Abbildung des Autors basierend auf Google Maps.

Urkunden als Netzwerk

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Probleme Mit der im vorigen Abschnitt skizzierten Methode konnten den 1376 in den Urkunden erwähnten Orten 452 real existierende Orte zugeordnet werden. Um festzustellen, wie exakt die Methode ist, wurden die 368 für Stift Geras in Österreich identifizierten Orte manuell auf ihre Richtigkeit überprüft und dabei mindestens 42 Fehlidentifikationen gefunden. Damit beträgt die Fehlerquote in etwa 10 %, wobei die Urkunden Geras allerdings einen Optimalfall darstellen. Wie bereits erwähnt wurde, war hier der Suchmechanismus nicht nur auf die reinen Textdaten angewiesen, sondern konnte auch die Information der Gerichts­ bezirke zur Kontrolle verwenden. Für Bestände, für die keine derartigen Zusatzinformationen vorliegen, ist die Fehlerquote wohl deutlich höher anzusetzen. Identifikation von Personen Noch schwieriger ist die Identifikation von Personen. Lässt sich für bedeutende Personen wie Päpste oder Kaiser sicherlich auch eine Online-Quelle finden, so ist die Situation für Personen der Regionalgeschichte wesentlich unvorteilhafter. Aus Gründen der Einfachheit wurde daher für die vorliegende Anwendung lediglich eine Identifikation aufgrund eines einfachen Vergleichs der Namen angestellt. Fazit Nachdem die Daten in der beschriebenen Weise aufbereitet und in die Graphendatenbank eingespielt waren, wurde die in Abbildung 2 dargestellte Anwendung in JavaScript umgesetzt. Die einzelnen Orte wurden aus der Datenbank eingelesen und auf der Karte mithilfe der in GeoNames hinterlegten Koordinaten dargestellt. Die identifizierten Personen wurden am gleichen Ort dargestellt, an dem die Urkunde ausgestellt wurde. In der praktischen Benutzung zeigt sich, dass eine derartige Darstellung etwa einen intuitiven Zugang zum Einfluss­ bereich eines Klosters im Laufe seiner Geschichte ermöglichen kann (siehe Abbildung 5). Auch einige Identifikationsfehler lassen sich in der Darstellung schnell ausmachen. Beispielsweise springt einem in Abbildung 5 schnell die einzelne Nennung eines Ortes in Spanien ins Auge. Bei näherer Betrachtung stellt man fest, dass hier ebenfalls ein Ort namens Geras liegt (siehe Abbildung 6). Ein Blick auf die Details zur Nennung zeigt als Ausstellungsort der betreffenden Urkunde Bordeaux in Frankreich. Nach der im Kapitel Identifikation von Orten

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Daniel Jeller

Abb. 5: Orte und Personen in Urkunden im Stiftsarchiv Geras zwischen 1188 und 1250 (links) …

geschilderten Vorgehensweise wurde vom System, ausgehend von Bordeaux, Geras in Spanien als der wahrscheinlichste Ort festgestellt. Der Blick auf den Kontext des Stiftsarchivs in Geras lässt dies natürlich sofort als Fehlidentifikation erkennen. Hierin liegt auch der naheliegendste Faktor für eine eventuelle Weiterentwicklung des Identifikationsprozesses: Es reicht nicht, wie im vorliegenden Fall, jede Urkunde isoliert zu betrachten. Es wäre angebracht, nach dem ersten Identifikationsprozess weitere Durchläufe vorzunehmen. In diesen könnte die Wahrscheinlichkeit, dass eine Identifikation eines Ortes korrekt ist im Hinblick auf alle bereits identifizierten Orte einer relativ eng gefassten Gruppe von Urkunden beurteilt werden. Eine solche Einheit könnten etwa alle Urkunden eines Bestandes in einem definierten Zeitraum, etwa 1200 bis 1250, sein. Dies würde beispielsweise Geras in Spanien für diesen Zeitraum sehr unwahrscheinlich machen, da alle anderen Nennungen von Geras innerhalb der Einheit mit Geras in Niederösterreich identifiziert wurden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Aufbereitung von Urkunden in Form in einer Graphenstruktur, wie im vorliegenden Text geschildert, großes Potenzial bietet, da die darauf aufbauenden Anwendungen stark expressiv sein und intuitivere Zugänge ermöglichen können als traditionelle Darstellungs­ formen. Der konkrete Versuch hat allerdings auch gezeigt, dass noch einiges an Vorarbeiten zu leisten sein wird, bevor derartige Transformationen zwischen

Urkunden als Netzwerk

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… und zwischen 1250 und 1500 (rechts). Abbildung des Autors.

Abb. 6: Falsch identifiziertes Geras in Spanien. Abbildung des Autors.

unterschiedlichen Datenstrukturen mit ausreichend hoher Sicherheit automatisch vorgenommen werden können. Es lohnt sich aber auf jeden Fall, in diesem Bereich weitere Arbeiten anzuschließen.

Teil 2

Adelheid Krah, Herbert W. Wurster

Eine schwierige Nachbarschaft Das Bistum Passau, Großmähren und Bischof Ermenrich im 9. Jahrhundert

Abstract: The structures of the Bavarian church province in the 8 th Century experienced severe change through the victory of Charlemagne over the Avars and the appointment of Salzburg to an arch-diocese. While Salzburg took the task of the Christian mission to the Slavs in the Carantanian area and further on diocese Passau had to christianize the Danube area. Through the Moravian Principality, the Slavic apostles Constantine/Cyril and Methodius from Byzantium came to the newly founded Bishopric Nitra (nowadays in Slovakia), who tried to introduce a Slavic rite. The conflict with the Bavarian bishops escalated in the captivity of Bishop Methodius; the changing political circumstances in favour of the Moravians stopped Bavarian endeavours. The article illustrates the structures of this development and also tries to elaborate on the mental and cultural-­ political controversies in the course of this troubled contiguity, especially on the basis of the Alemannic bishop Ermenrich of Passau, who obviously was not fond of the Slavic rite.

Einleitung Die Nachbarschaft des Bistums Passau zum großmährisch-slawischen Siedlungsraum im 9. Jahrhundert wirft eine Reihe von Fragen auf, um in etwa ein Bild der historischen Lage zu gewinnen und den von Passau ausgehenden kirchenpolitischen Leistungen gerecht werden zu können. Der slawische Einfluss­ bereich der Böhmen und Mährer reichte damals vom Raum nördlich der Donau bis in die Siedlungsgebiete im heutigen Tschechien und westlich davon über die Oberpfalz ins bayerische Franken, wo slawische Vornamen in der Gegend um die heutige Stadt Nürnberg anzutreffen sind. Zugleich traf diese böhmisch-­ mährische Expansion im 9. Jahrhundert und die in der Forschung konstatierte, jedoch auch viel bestrittene Herausbildung eines großflächigen mährischen Herrschafts­gebietes im Westen auf eine seit den Neuerungen durch Bonifatius eingerichtete Diözesan­struktur im bayerischen Raum. Diese hatte sich über mehr als hundert Jahre bereits etabliert, die karolingischen Reichsteilungen gut überstanden und davon profitiert. Die Quellenlage dieses Befundes ist sicher, jedoch sehr dünn. Besteht doch schon hinsichtlich der Dichte der in den karolingischen Reichsteilen ab 843 überlieferten Schriftzeugnisse ein deutliches West-Ost-Gefälle, welches nicht

Eine schwierige Nachbarschaft

99

erst durch diese Teilung entstand, aber durch sie verstärkt wurde. Die angesprochene Problematik erfordert daher genaue methodische Überlegungen aufgrund der geringen Überlieferung aus den östlichen Randzonen des Reiches König Ludwigs des Deutschen, aus welchen das Bistum Passau wie eine Bildungsinsel herausragte. Aus sehr unterschiedlichen Quellen- und Texttypen erschließt sich daher nur ein lückenhaftes Bild der historischen Gegebenheiten mit einigen Linien der Ereignisgeschichte, betreffend Mission, Kirchenpolitik, Expansion und die Verfestigung bestehender Strukturen aus der Zeit der karolingischen Blüte, die auch die Randzonen illuminierte. Freilich brachte das Ende des 9. Säkulums beinahe den Ausblick auf eine vermeintlich bevorstehende Glanzzeit, die Kaiser Arnolf von Kärnten vorbereitet hatte, wären da nicht das Aussterben der ostfränkisch-karolingischen Dynastie in der nächsten Generation, ein geschwächtes Papsttum in Rom, das als Stütze wegfiel, und eine zweite Welle der großen Migration im Osten eingetreten; diese Veränderungen sind gleichsam als die Säulen einer Wende in der politischen Entwicklung des bayerischen Großraumes im südlichen Teil des Ostfrankenreiches zu betrachten1. Die hieraus resultierende Wende brachte die Zentren des Landes, insbesondere die Bischofssitze, und die seit etwa sechs Generationen aufgebaute Siedlungslandschaft buchstäblich an die Grenzen der möglichen Belastbarkeit. Damals zerbrach auch der ohnehin mühsam aufrecht gehaltene Zusammenhalt des Ostfrankenreiches in ein Nord-Süd-Gefälle durch die Reichsteilung Ludwigs des Deutschen in drei Regna, einem alemannischen im Südwesten, einem baiuvarischen im Südosten, mit der Perspektive der Expansion entlang der Donau und im karantanisch-slawischen Raum, und einem sächsischen, welches ebenfalls kein im Osten und Norden abgeschlossenes Gebiet sondern ein zu den slawischen Nachbarn offener Raum war. In dieser politisch schwierigen Phase der beginnenden zweiten Migrationswelle hat nun Arnolf von Kärnten, der Sohn König Karlmanns, seit 887 König des gesamten Ostfrankenreiches und später auch Kaiser, auf diplomatischem wie kriegerischem Weg nördlich und östlich der

1 Vgl. Heinz Dopsch, Arnolf und der Südosten – Karantanien, Mähren, Ungarn. In: Kaiser Arnolf – das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts, hg. von Peter Schmid, Franz Fuchs (München 2002) 143–186, sowie in diesem Band auch Peter Schmid, Kaiser Arnolf, Bayern und Regensburg 187–220. Ein Beitrag zur damaligen Rolle von Passau fehlt; ferner Adelheid Krah, Bayern und das Reich in der Zeit Arnolfs von Kärnten. In: Festschrift für Sten Gagnér zum 3. März 1996, hg. von Maximiliane Kriechbaum (Ebelsbach 1996) 1–31.

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Donau wie auch im Gebiet entlang der Drau und der Save für kurze Zeit noch einmal stabile Verhältnisse geschaffen. Das Bistum Passau war ihm eine Stütze2.

Strukturen und Entwicklungen Um das Thema überhaupt behandeln zu können, ist es notwendig, die kirchenpolitische Bedeutung wie auch die politische Rolle des Bistums Passau am Ende des 8. Jahrhunderts zu betrachten. Der Blick auf die lange Geschichte des »Donaubistums« und seinen besonderen Rang als das flächenmäßig größte Bistum des deutschen Reiches der Ottonen und Salier, dann im Heiligen Römischen Reich, das seine Diözesangrenzen schon bald bis an das Leithagebirge und an die Sumpflandschaft des Neusiedlersees schieben konnte, verstellt leicht die Realitäten der ersten Jahrzehnte seines Bestehens. Die vier Bistümer der im Jahre 739 kanonisch-rechtlich errichteten sogenannten »Landeskirche« des baiuvarischen Dukats waren auf dessen Territorium beschränkt. Primär sollte damals – zur Zeit Karl Martells und seines Bruders Karlmann – eine Kirchenstruktur nach westlich-fränkischem Vorbild aufgebaut werden, romzentriert und mit allmählich entstehenden Bildungszentren der südöstlichen Gebiete der merowingischen Reiche. Über die burgundisch-alemannischen Bereiche im Westen und vom Mittelrhein her kamen die Impulse; hier entstanden in der Zeit Karls des Großen bedeutende Bildungszentren für den geistlichen Nachwuchs. Missionsaufgaben – etwa mittels von neu zu erbauenden Bethäusern und Kirchen – Glaubensverkündung und Katechese – stellten sich daher im Inneren in den Ansiedlungen des baiuvarischen Dukats, wie nach außen gegenüber den Nachbarn im Osten, die damals vor allem die Sprachverschiedenheit und die Religion trennte. Im Ost-Südosten, entlang der Donau, der Handlungsachse des Bistums Passau, gab es eine klar definierte Ostgrenze durch die Enns, hinter der die Awaren ein für Bayern unangreifbares Territorium beherrschten3. Nördlich der Donau 2 Herbert W. Wurster, Das Bistum Passau und seine Geschichte (Straßbourg 2010), Egon ­Boshof, Das ostfränkische Reich und die Slawenmission im 9. Jahrhundert: die Rolle Passaus. In: Mönchtum-Kirche-Herrschaft. 750–1000, hg. von Dieter Bauer u. a. (Sigmaringen 1998) 51–76. 3 István Bóna, Neue Nachbarn im Osten – Die Awaren. In: Die Bajuwaren: von Severin bis Tassilo 488–788: Gemeinsame Landesausstellung des Freistaates Bayern und des Landes Salzburg, hg. von Hermann Dannheimer (München 1988) 108–117; vgl. im gleichen Band auch Vlasta Tovornik, Die Slawen 118–129, und Wilfried Hartmann, Heinz Dopsch, Bistümer, Synoden und Metropolitanverfassung 318–327.

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verharrte der Landesausbau am Strom, hinter dem sich das Mittelgebirge des Böhmerwaldes mehrere Jahrhunderte lang als Barriere erhob. Eine Einbindung Böhmens oder der pannonisch-awarischen Grenznachbarn in den bayerischen Herrschaftsraum und die mit einem solchen politischen Geschehen unmittelbar verbundene Missionierung der dortigen Heiden lag den Agilolfinger-Herzögen, deren Machtbereich bis in den Bozener und den kulturell höher stehenden langobardisch-italienischen Raum reichte, wohl fern und damit auch den bayerischen Diözesen. Vermutlich war sich die ganze bayerische Landeskirche, sicher aber das Bistum Passau, noch bewusst, dass die vorhandenen kirchlichen Strukturen in der Tradition der spätantiken römischen Kirchenorganisation standen, deren Überreste in vereinzelten Kirchenbauten und römischen Patrozinien und dem Kult der hl. Maria auch nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches fort­ bestanden. Dies lässt sich durch die Anbindung des baiuvarischen Dukats an das Patriarchat Aquileia sehr schön belegen, das bis zur Erhebung des Bistums Salzburg zum Erzbistum das Haupt dieser Teilkirche seit der Antike war4. Erst die Einverleibung des baiuvarischen Dukats in das Karolingerreich im Jahre 788 durch Karl den Großen beendete diese an sich stabile kirchenpolitische Situation. Denn seine seit 774 erfolgreiche Expansionspolitik gegenüber dem Langobardenreich, das Karl erobert hatte, und nun speziell im nordostitalienischen Raum des Friaul weiterhin forcierte, sowie gegenüber dem Awarenreich eröffnete den nun karolingischen Gebieten Bayerns und seiner Kirche neue Möglichkeiten und geographische Räume. Das Ergebnis war dabei keineswegs vorab klar. Was retrospektiv betrachtet als einzig mögliche Lösung erscheint, nämlich dass Passau entlang der Donau nach Osten wuchs und Salzburg durch die Alpen nach Südosten, war das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, den Karl der Große gleich im Jahr 788 mit dem ersten Awarenfeldzug anstieß und der 811 mit der endgültigen Zerschlagung des Awarenreiches endete. Allerdings traten die in Pannonien lebenden Awaren nach den gut informierten Reichsannalen – in der von Einhard überarbeiteten Version – noch auf der großen Reichsversammlung Ludwigs des Frommen im Herbst 822 mit Gesandten auf. Der Kaiser verbrachte die gesamte Winterzeit in der damals erweiterten Pfalz zu Frankfurt. Anlässlich dieses großen Reichs4 Zum Einflussbereich von Aquileia über den Kärntner Raum in den baiuvarischen Dukat vgl. bei Adelheid Krah, Veränderungen der Wirtschaftsentwicklung und der Strukturen im Bistum Freising zur Zeit der Bischöfe Hitto (810/11–834/35) und Erchanbert (835/36–854), in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte, hg. vom Verein für Diözesangeschichte von München und Freising e. V. (2018) 58, 5–110, hier 14 mit Anm. 33.

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tages wurden von den östlichen Nachbarn des Reiches Gesandte angefordert, weil Ludwig eine strategisch großangelegte Neuregelung der Ostgrenze plante – vom Nord- und Ostseeraum bis nach Pannonien. Es heißt in der Quelle: Ipse vero, peracta autumnali venatione, trans Rhenum ad hiemandum in loco qui Franconofurd appellatur, profectus est, ibidem generali conventu congregato, necessaria quaeque ad utilitatem orientalium partium regni sui pertinentia more solemni cum optimatibus quos ad hoc evocare iusserat, tractare curavit. In conventu omnium orientalium Sclavorum, id est Abodritorum, Soraborum, Wiltzorum, Beheimorum, Maravorum, Praedenecentorum et in Pannonia residentium Avarum legationes cum muneribus ad se directas audivit. Sogar dänische Normannen waren anwesend: Fuerunt in eodem conventu et legationes de Nordmannia, tam de parte Harioldi quam filiorum Godofridi5. Diese groß angelegte, offenbar auch mit dem Regierungsbeginn Ludwigs d. Dt. in Bayern in Zusammenhang stehende Aktion und Planung der Gebietserweiterung der nächsten Jahre konnte so bekanntlich nicht umgesetzt werden. Handlungsbedarf war vor allem im südlichen pannonischen Raum gegeben aufgrund des Vordringens der Bulgaren, wie die Aktion des Freisinger Vasallen Machhelm zeigt6, aber auch entlang der Elbe und im slawischen Raum bis zur Donau. Die militärischen Katastrophen des Jahres 828 sowohl gegen die Sarazenen im nordspanischen Raum, wo das kaiserliche Heer verspätet und erst nach dem Abzug der Sarazenen eintraf, als auch im südpannonischen Raum gegen die Bulgaren machen deutlich, dass die kaiserlichen militärischen Instruktionen großen Stils damals nicht umsetzbar waren. Die geographischen Dimensionen wurden vermutlich unterschätzt; aber es fehlte auch an Stützpunkten in den Grenzregionen und an einem funktionierenden System der Nachrichtenübermittlung7. Die weitere Entwicklung favorisierte die Position des Salzburger Erzbistums enorm, indem von seinen Erzbischöfen im Folgenden konsequent Missionierung und Gebietserweiterung als Reaktionen auf Zerstörung und Verluste dieser Jahre umgesetzt wurden. Aus der Sicht des alemannischen Mönches Erchanbert im 5 Einhardi Annales, hg. von Heinrich Pertz (MGH SS 1, Hannover 1826) ad a. 822, 209. 6 Einhardi Annales (wie Anm. 5) ad a. 824, 212 und Herwig Wolfram, Salzburg, Bayern, Österreich (Wien, München 1995) 88 f. 7 Als Reaktion setzte der Kaiser drei seiner wohl fähigsten und mächtigsten Magnaten ab: Matfrid, Graf von Orléans, Hugo, Graf von Tours und Balderich, Markgraf von Friaul; vgl. Adelheid Krah, Absetzungsverfahren als Spiegelbild von Königsmacht (Untersuchungen zur deutschen Rechts- und Staatsgeschichte NF 26, Aalen 1987) 57–61.

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Kloster Augia minoris – Weißenburg, im Welfenland bei Ravensburg – bestand der ostfränkische Reichsteil, so wie ihn bei der Reichsteilung von 843 Ludwig der Deutsche übernahm, aus Stammesgebieten und barbarischen Nachbarn: […]gloriosissimus Ludovicus rex suscepit totam Germaniam, id est totam orientalem Franciam, Alamanniam sive Rheatiam, Noricum, Saxoniam, et barbaras nationes quam plurimas 8. Blenden wir noch einmal zurück: Bis zu den Awarenkriegen Karls des Großen dürfte jeglicher Gedanke an eine Mission donauabwärts, zunächst nur ostwärts der Enns, noch gar nicht einmal in das Karpatenbecken, aber mit Zielrichtung auf die Gewinnung dieses nomadischen Reiter- und Kriegervolkes illusorisch gewesen sein, wie die Legenden der Heiligen Rupert und Emmeram zu berichten wissen, wenn es in der Vita des hl. Emmeram beispielsweise zur Situation Mitte des 7. Jahrhunderts heißt: Tunc praedictus Theoto Baiuvariorum gentis dux, se discordare cum Avaros praenuntians, illuc eum [sc. sanctum Emmeramum] ire minime sinire prefessus est9. Sie waren Feinde der Agilolfingerherzöge, die dem Heiligen daher nicht das übliche Geleitschreiben ausstellen konnten. Die Überwindung des jeweiligen heidnischen Stammes und die Gewinnung seiner politischen Oberschicht oder wenigstens die Zustimmung des jeweiligen Fürsten stellte im frühen wie im hohen Mittelalter die Grundvoraussetzung dar für den Ansatz von Missionsbestrebungen und den Beginn missionarischer Tätigkeit; Missionare agierten häufig auch als Diplomaten10. Mit dem Sieg über die Awaren jedoch stand Karl dem Großen auch die Disposition über die neuen Länder zu und die Einflussnahme auf die Religion der Bevölkerung; dies bedeutete zu Beginn des 9. Jahrhunderts eine gezielte Einbindung der Bevölkerung in den romorientierten Glauben durch Missionierung – Unterweisung im christlichen Glauben, Taufe und den Eid auf die Bibel für den christlichen Herrscher. Die Schritte auf diesem Weg lassen sich recht gut fassen: 796 tagte der Conventus episcoporum ad ripas Danubii unter Vorsitz des gemäß der antiken Kirchenorganisation zuständigen und von Karl hochgeschätzten Patriarchen Pauli  8 Erchanberti Breviarium, ed. von Heinrich Pertz (MGH SS 2, Hannover 1829) 327–329, ad a. 843, 329; anders Herwig Wolfram, Österreichische Geschichte 378–907. Grenzen und Räume. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung (Österreichische Geschichte 3, Wien 1995) 241, der an dieser Stelle des Breviars die Awaren vermutet.  9 Arbeo von Freising, Vita et passio Haimhrammi martyris. Leben und Leiden des hl. Emmeram, hg. und übers. von Bernhard Bischoff (München 1953) cap. 5, 12. 10 Vgl. bei Lutz von Padberg, Die Christianisierung Europas im Mittelalter (Stuttgart 2009) 102–105.

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nus von Aquileia11. Hier wurde die Vorgehensweise bei der Mission besprochen. Anzunehmen ist, dass auch organisatorische Fragen und die räumliche Verteilung Themen waren12. Angesichts der Größe des Raumes dürfte ja ein einzelner Bischof mit dieser Aufgabe überfordert gewesen sein, obgleich Arn als Bischof von Salzburg auf der Synode sicher eine dominante Rolle gespielt hatte, da er hiervon seinem Freund Alcuin berichtete; die Teilnahme der weiteren bayerischen Bischöfe als Suffragane des Patriarchen von Aquileia ist anzunehmen, doch nicht bezeugt. Zu erinnern ist daran, dass Karl der Große auch das Bistum Passau im zeitlichen Kontext der Umformung des baiuvarischen Dukats in eine fränkische Provinz gestärkt hatte, indem er den Ausbau des Klosters Rotthalmünster und dessen kanonisch-rechtliche Anbindung an die Kirche von Passau und ihre Heiligen ausdrücklich in einem Diplom befürwortete13. Erst 798 erhob Karl Salzburg zum Erzbistum der bayerischen Landeskirche, was auf eine Zeit des Ringens um die Suprematie innerhalb der bayerischen Kirche schließen lässt. Dass das Bistum Regensburg, immerhin die Hauptstadt des Herzogtums und der Provinz – wo sich Karl vermehrt aufhielt – übergangen wurde, ist der Erinnerung wert. Dies zeigt einerseits die Bedeutung der persönlichen Beziehung Arns von Salzburg zum König und an den Königshof, andererseits die Gestaltungsmöglichkeiten der Epoche: die Nähe zur Mark Friaul und zum Patriarchen sollte erhalten bleiben, auch als traditionelles militärisches Aufmarschgebiet gegen die 11 Conventus episcoporum ad ripas Danubii (MGH Concilia aevi karolini 1 [742–817] ed. Albert Werminhoff Hannover, Leipzig 1906) nr. 20, 172–176; Paulinus von Aquileia tat sich auch durch einen Priestereid hervor; die Vereidigung aller Amtsträger des Karolingerreiches und insbesondere der Geistlichen auch derjenigen, die in seinem Auftrag missionierten, war ein besonderes Anliegen Karls des Großen; vgl. dazu jüngst Nicholas Everett, Paulinus of Aquileia’s sponsio episcoporum: Written oaths and ecclesiastical discipline in carolingian Italy. In: William Robins (Eds.) Textual cultures of medieval Italy (Toronto 2011) 167–216. Grundlegend zum Conventus episcoporum ad ripas Danubii Carl Giannoni, Paulinus II. Patriarch von Aquileia: ein Beitrag zur Kirchengeschichte Österreichs im Zeitalter Karls des Großen (Wien 1896); Reinhard Härtel, Art. Paulinus II., Patriarch von Aquileia (um 787–802) (vor 750–802). In: Lexikon des Mittelalters 6 (1993) Sp. 1814–1815. 12 Das erhaltene Libellum der Versammlung, an der König Pippin von Italien, Sohn Karls des Großen, teilnahm, wurde von Patriarch Paulinus verfasst; anwesend war auch Bischof Arn von Salzburg (vgl. die Vorbemerkung zum Text des Conventus episcoporum (wie Anm. 11) 172. Die Raumkonzeption entsprach der strategisch-militärischen Planung, die von König Pippin und vom östlichen Oberitalien ausging. Dies zeigt sehr schön folgender Satz: …et Caroli Christianissimi principis animum fidei zelo inflammatum feliciter incitasset, quatenus Chris­ti­ anas exercituum legiones per dilectissimum Pippinum suum, Iordannica sceptra Christo duce gubernante, supra ripas Histri Danubii adgregandas non retardaret, castra calcatius metatus in eodem loco isdem venerabilis Pippinus rex, accersito […]; ebd. 173. 13 Vgl. Anm. 15.

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Slawen im Südosten über die Römerstraßen. Im Jahre 811 erfolgte dann – relativ spät – die Regelung der Diözesangrenze zwischen Salzburg und Aquileia entlang der Drau – sicher auch als strategisch notwendige Abgrenzung der nördlichen Gebiete; zu erinnern ist in diesem Kontext auch an die Schicksalsschläge dieses Jahres, die den Kaiser bewogen haben, sein Reich mehr und mehr zu ordnen. Diese Vorgänge sind freilich mit einer kurzen Charakterisierung keineswegs in ihrer ganzen Bedeutung erfasst. Vielmehr wurde damals der Sprengel des Patriarchats beschnitten, der aus der Antike überlieferte und wohl 796 noch unterstrichene Zuständigkeitsbereich wurde um den bayerischen Metropolitanverband verkleinert, ebenso um die nach der awarischen Niederlage offenen pannonischen Räume, in denen die antike Kirchenverfassung lange Zeit Nachwirkungen entfaltet hatte. Ungeachtet dieser auf dem Höhepunkt karolingischer Machtstellung erfolgten Regelung kirchlicher Verhältnisse haben die Patriarchen von Aquileia ihre traditionelle Rolle im Raum zwischen Adria und Alpen in den folgenden Jahrzehnten wohl immer im Blick gehabt – eine Gruppe der lateinischen Missionare des späteren 9. Jahrhunderts stammte ja aus ihrem Raum, wenn auch wohl nicht immer aus ihrem Sprengel14. Mit den Regelungen von 798 wie 811 war Salzburg ein großer Raum aufgetragen worden, die weiteren Entscheidungen waren vermutlich auch aufgrund des Mangels genauer geographischer Details noch nicht gefallen; offen dürfte vor allem die Frage gestanden haben, was mit dem Raum ostwärts der Enns bis in das Gebiet des Wienerwaldes und des Tullner Beckens und dann auch ostwärts vom Wienerwald geschehen sollte? Die damaligen pauschalen Besitzvergaben im Bereich des Ostlandes an die gesamte bayerische Kirche, also an deren verschiedene Diözesen15, erwecken fast den Eindruck eines vom Kaiser gewollten »Wettlaufs«. 14 Es wäre genauerer Betrachtung wert, ob Missionare wie der Priester Johannes von Venedig im Dienste des Patriarchen von Aquileia standen oder ob sie zwar »Lateiner« waren, aber doch auch in einer besonderen Beziehung zu Byzanz. 15 Es ist hier nicht angebracht, die Klöster mit zu bedenken, die sich damals erst entwickelten; gleichwohl passt die weitere Bestiftung von Rotthalmünster durch die Matrone Irminswind im Beisein Karls des Großen, die er bestätigte, sehr gut in das Konzept der Stärkung der Klöster als wichtige Bildungszentren des Karolingerreiches, vgl. Die Urkunden der Karolinger 1. Pippins, Karlmanns und Karls des Großen (MGH DD Kar. 1) bearbeitet von Engelbert Mühlbacher (Hannover 1906) nr. 170, 228 f. – Bei diesem Rechtsgeschäft des Königs spielte der Passauer Bischof Waltrich – venerabilis vir Waltricus episcopus urbis Pataviae in praesentia procerum nostrorum adtulit – und für die Traditionsurkunde der Irminswind, die er vorlegte und eine königliche Bestätigung erbat, eine dominante Rolle; so auch Mühlbacher im Proömium zum Urkundentext 228. – Dieses, sehr früh im 8. Jahrhundert gegründete Kloster Chirihpah der Wilhelminer war bisher dem Schutz der Agilolfingerherzöge unterstellt. Vgl. Herbert W. Wurster, Kirchbach, Rotthalmünster (Germania Benedictina II, St. Ottilien 2014) II, 987–990.

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Der Suprematie-Anspruch des Erzbistums Salzburg war kirchenpolitisch wohl bei allen Aktionen relevant und zeigt sich mustergültig am Beispiel der Kirchweihe von Nitra (Neutra) um 828/30 durch den auch als Abtbischof amtierenden Erzbischof Adalram von Salzburg (Bischofserhebung Dezember 821 und Verleihung des Pallium 824 in Rom)16, welche für die Offenheit der Entwicklung unter Kaiser Ludwig dem Frommen und seines damals bereits im gesamten Ostteil des Frankenreiches als Unterkönig amtierenden Sohnes Ludwig des sogenannten Deutschen spricht17. Die Conversio Bagoariorum überliefert hierzu: cui (sc. Priwinae) quondam Adalrammus archiepiscopus ultra Danubium in sua proprietate loco vocato Nitrava consecravit ecclesiam18. Andererseits war man sich der Unsicherheit der Priester gegenüber den ansässigen Magnaten dieses Raumes sehr bewusst und hatte wohl deshalb den heiligen Emmeram als Patron der Kirche von Nitra gewählt, der im Konflikt mit dem agilolfingischen Herzogshaus unterlegen und Märtyrer war, von den Agilolfingern aber als Patron der Bischofskirche in ihrer Hauptresidenz Regensburg als Heiliger dann verehrt wurde. Diese Tradition der politischen Residenz in Regensburg als Hauptstadt in Bayern wurde bekanntlich von den Karolingerherrschern fortgesetzt auch aufgrund der strategischen Lage. Bei der Wahl des Patronats der Kirche von Nitra bedurfte es aber eines Märtyrers, dessen Tod auf die politische Unsicherheit des frühen baiuvarischen Dukats der Herzogsdynastie zurückging. Ganz bewusst wurde neben dem hohen Prestige des Märtyrers hier die historische Parallele zu einer Zeit gezogen, in der sich die Missionare in Bayern noch nicht auf den vollen Schutz durch die politische Führungselite verlassen konnten. Das Beispiel des fränkischen Glaubensboten Emmeram, der von Poitiers kam und im baiuvarischen Dukat missionierte, spielt auf den Synkretismus an zwischen heidnisch-barbarischem Leben und der Verunglimpfung des Gottesmannes, auf seinen Tod und seinen Sieg durch seine Verehrung als spiritueller Schutzherr höchsten Ranges19. Damals wurde das St. Emmeramskloster in Regensburg 16 Vgl. bei Wolfram, Salzburg (wie Anm. 6) 296. 17 Es handelt sich um die erste slawische Kirche nördlich der Donau, vgl. Peter Štih, Vasko ­Simoniti, Peter Vodopivec, Slowenische Geschichte (Ljubljana 2008) 40–57 und Franz ­Zagiba, Die kulturelle Bedeutung der Brüder Cyrill und Method für den Donauraum, in: Zeitschrift des Instituts für den Donauraum 8 (1963) 267–277, hier 270. 18 Herwig Wolfram, Conversio Bagoariorum et Carantanorum. Das Weißbuch der Salzburger Kirche über die erfolgreiche Mission in Karantanien und Pannonien (Wien 1979) c.11, 52. 19 Arbeo von Freising, Vita et passio Haimhrammi (wie Anm. 9) 80 im Mirakelteil, wenn Arbeo das am Grab Emmerams in Kleinhelfendorf geschehene Wunder kommentiert: Sed quid aliud sciendum est, nisi ut Dominus martyris sui merita ostendere voluisset, ut cunctis palam daretur in terris, quibus honoris fulgeretur in caelis?

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unter Abtbischof Sintbert (768–791) ausgebaut und Emmeram zum Heiligen der gesamten Provinz, weil seine Vita in Schriftform vorlag. Die noch offene kirchenpolitische Situation muss gemeinsam gesehen werden mit der noch offenen politischen Situation; es war ja auch das weitere Schicksal des awarischen Herrschaftsraumes noch nicht neu entschieden worden. Nach 822 verschwanden allerdings die Awaren als »Gestaltungsfaktor« und an ihre Stelle traten die Mährer, die seit etwa 830 nachweislich in den Quellen, vornehmlich den Fuldaer Annalen auftreten, welche als ostfränkische Reichsannalen die offiziöse Seite der Hofkanzlei spiegeln20. Zeitlich ziemlich parallel – denn nicht alle Ereignisse lassen sich präzise datieren – zur Vertreibung des Fürsten Pribina aus Nitra und zum Aufbau eines umfassenden Herrschaftsraumes der Mährer unter Moimir I. (ca. 830–846)21, zur Überwindung des Liudewit-Aufstandes im Gebiet der unteren Drau22, zur Neuregelung im Friaul, zur Abwehr der Bulgaren und zur Wiederherstellung des bayerischen Ostlandes unter Präsenz König Ludwigs des Deutschen in Bayern, also im Rahmen einer umfassenden Reorganisation des Südosten, erfolgte um 829 unter Bischof Reginhar (818–838) die königliche Festlegung der Diözesangrenze zwischen Passau und Salzburg im Wienerwald23. Allerdings ist die Schriftquelle Teil des Konglomerats der Passauer Fälschungen und im Codex Lonsdorfianus, also dem Sammelwerk Passauer Besitzungen Bischof Ottos von Lonsdorf (1254–1265) aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, überliefert; angeblich fand in Regensburg damals ein Schiedsgerichtsverfahren statt; der Text dürfte freilich nach einer oberitalienischen Vorlage eines Gerichtsprotokolls gefertigt sein und sollte die Auseinandersetzungen Bischof Reginhars mit Erzbischof Adalram von Salzburg protokollarisch enthalten24. Nach kleineren Quellen könnte um diese Zeit Bischof Reginhar im mährischen Raum missioniert sowie die Grenzregion nördlich der Donau dem Passauer Diözesangebiet angehört haben25. Nach der wohl um diese Zeit erfolgten Erweiterung des Passauer Sprengels um erhebliche 20 Vgl. bei Wolfram, Salzburg (wie Anm. 6) 89; Egon Boshof, Das ostfränkische Reich und die Slawenmission im 9. Jahrhundert: Die Rolle Passaus, in: Dieter R. Bauer, Rudolf Hiestand u. a. (Hg.), Mönchtum-Kirche-Herrschaft 750–1000 (Sigmaringen 1998) 51–76, hier 63. 21 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 6) 191 ff.; František Graus, Die Nationsbildung der Westslawen im Mittelalter (Sigmaringen 1980). 22 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 6) 58. 23 Boshof, Slawenmission (wie Anm. 20) 62. 24 Die Urkunden der deutschen Karolinger 1. Die Urkunden Ludwigs des Deutschen, Karlmanns und Ludwigs des Jüngeren (MGH D LdD) bearbeitet von Paul Kehr (Berlin 1934) nr. 173, 244 f., datiert auf Regensburg 829 November 18. 25 Egon Boshof, Die Regesten der Bischöfe von Passau I, 731–1206 (München 1992) Nr. 111.

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Teile des späteren Niederösterreich, wodurch die institutionelle Nähe Passaus zu den neuen Nachbarn der Mährern geographisch hergestellt wurde, ist freilich mit einer herausgehobenen Rolle Passaus in der Mission der Mährer zu rechnen. Der Lobpreis Reginhars als apostolus Maravorum ist dabei kein Widerspruch und muss nicht als krönender Abschluss eines Missionswerkes verstanden werden, sondern passt natürlich genauso – in Anlehnung vielleicht an das Werk des Bonifatius – als Würdigung der Passauer Anfänge zur Christianisierung der Mährer26. Leider fehlen für die folgenden Jahre wieder die Quellen, die über die Passauer Aktivitäten berichten würden; so ist die Einschätzung der Mainzer Synode von 852 über den bei den Mährern erreichten Christianisierungsgrad nicht ohne weiteres auf Passau beziehbar; allerdings war auf dieser Synode der Passauer Chorbischof Alberich anwesend und ist als Subskribent der Beschlüsse bezeugt, wohl aufgrund eines Vorfalls im Bereich der Diözese Passau. Bei den die Moral der Gläubigen und der Priester betreffenden Regulierungen ist nämlich im Kontext der angesetzten geistlichen Strafen bei Totschlag der Fall des Albgis genannt, da dieser die Frau eines Patrichus öffentlich entführt hatte und sie ad extremos fines regni duxit in rudem adhuc christianitatem gentis Maraensium, um mit ihr Ehebruch zu begehen27. Des Weiteren ist der Passauer Bischof Hartwig (840–866) auf einem Kriegszug im Jahre 855 des Markgrafen Ernst nach Böhmen nachweisbar – entgegen den Mainzer Beschlüssen, die erneut den Bischöfen das Tragen von Waffen verbieten28, und im Jahr 859 erhielt der genannte Passauer Chorbischof Alberich auf Fürbitten Hartwigs königliche Mansen zu Nuzpach und Ödenburg/Sopron im Großraum zwischen der Raab und den Abhängen des Rosaliengebirges29 – alles Ereignisse, die sicher auch in Bezug auf das Verhältnis Passaus zu den Mähren gesehen werden müssen. Die folgende Namensliste der im 9. und zu Beginn des 10. Jahrhunderts amtierenden Passauer Bischöfe soll an dieser Stelle die Kontinuität der Bemühungen um Expansion des Diözesangebietes durch die Bischöfe seit der Zeit Karls des Großen zeigen. 26 Franz Zagiba, Die bairische Slawenmission und ihre Fortsetzung durch Kyrill und Method, in: Jahrbuch für Geschichte Osteuropas NF 9 (1961) 1–56. 27 Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 3 (843–859), hg. von Wilfrid Hartmann (MGH Leges Concilia 3, Hannover 1984) 26. Mainz, 3. Oktober 852 c. 11, 248. 28 Boshof, Die Regesten der Bischöfe von Passau I, Nr. 131. 29 Wolfram, Österreich (wie Anm. 8) 252 mit Lokalisierung des Rosaliengebirges nach der Edition der Urkunde im Urkundenbuch des Burgenlandes. Die Lage der burgenländischen Nussberge am Rosaliengebirge erlaubt noch heute den Blick in eine offene Grenzlandschaft in den oberungarischen Raum. Vgl. in diesem Band den Beitrag von Thomas Kath, Paul von Forchtenstein – iudex curiae.

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Die Passauer Bischöfe in der Epoche der Karolinger und des Großmährischen Reiches waren: ȤȤ Waldrich 777–804 ȤȤ Urolf ca. 804–806 ȤȤ Hatto 806–817 ȤȤ Reginhar 818–838 ȤȤ Hartwig 840–866 ȤȤ Otgar, Abt von Niederaltaich, »vocatus episcopus« 864 (bis 866?) ȤȤ Ermenrich, Abt von Ellwangen, Bischof von Passau 866–874 ȤȤ Engelmar 875 (?)–899 ȤȤ Wiching, ernannt, 899 ȤȤ Richar 899–ca. 902 ȤȤ Burkhard ca. 903–915

Das Bistum Passau und die heiligen Patrone Europas Alfons Zettler hält in seiner Studie von 1983 über das Aufscheinen von Cyrill und Method im Reichenauer Verbrüderungsbuch fest, dass entlang der March und in Pannonien seit dem 8. Jahrhundert Kirchen aufgrund von Missionsarbeit erbaut worden waren und dass seit den Awarenkriegen Karls des Großen die Impulse der Ostmission vor allem von Salzburg und von Passau ausgegangen waren30. Diese Mission war aber ganz offensichtlich durch den Mährerfürsten Ratislav gestoppt worden, der aus Byzanz die beiden Missionare Konstantin/Kyrill und Method rief, die den Glauben in der slawischen Volkssprache vermittelten und die dazu erforderliche Schrift, die Glagolica, entwickelten. Erstaunlicherweise wurde diese Art der Glaubensverkündung von Papst Hadrian II. (867–872) in Rom im Jahr 869 unterstützt, der Märtyrerreliquien für den Bischofssitz in Nitra zur Verfügung stellte; Konstantin/Cyrill verstarb noch in Rom, während Method vom Papst zum Erzbischof und päpstlichen Legaten eingesetzt wurde31. Aufgrund der veränderten politischen Lage in Mähren und einer Gegenposition des bayerischen Episkopats, an der auch Ermenrich, Abt 30 Alfons Zettler, Cyrill und Method im Reichenauer Verbrüderungsbuch, in: Frühmittelalterliche Studien 17 (1983) 280–298, 280. 31 Vgl. Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 860–874, hg. von Wilfried Hartmann (MGH Concilia 4, Hannover 1998) 402 f.; Heinz Löwe, Ermenrich von Passau, Gegner des Methodius. Versuch eines Persönlichkeitsbildes, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 126 (1986) 221–241.

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von Ellwangen und Bischof von Passau, nicht unbeteiligt war, geriet Method in politische Gefangenschaft – und verbrachte diese – nach den Untersuchungen zu den Namenseinträgen von Method und Kyrill im Reichenauer Verbrüderungsbuch (letzterem bei den Toten) durch Zettler – wohl auf der Reichenau32, während Ermenrich zum Bischof von Passau aufgestiegen war und sich behaupten konnte, freilich nicht als Lehrer in St. Gallen, wofür er sich dem Kanzler Ludwigs des Deutschen Grimoald, der auch Abt von St. Gallen war, empfohlen hatte. Ganz klar dürfte bei dieser Wahl der Person wieder der Aspekt der Passauer Missionstätigkeit und der Einflussnahme des Bistums auf (Groß) Mähren entscheidend gewesen sein33. Ermenrich war also zum Bischof von Passau berufen worden, als schon die Aufgabe der Mission zu den Bulgaren anstand. Diese scheiterte zwar an den komplexen politischen wie kirchlichen Gesamtzusammenhängen, die Beauftragung Ermenrichs mit dieser Mission durch König Ludwig den Deutschen im Jahr 867 zeigt aber sein hohes Ansehen und eine Tendenz in der Salzburger Missionspolitik34. Nach seiner Rückkehr aus Bulgarien sah er sich mit der byzantinischen Mission im Großmährische Reich konfrontiert, die das bisherige jahrzehntelange Wirken der ostfränkischen, vor allem passauischen Missionare in Frage stellte35. Im kriegerischen Konflikt und den Unruhen in Mähren im Jahr 870 wurde Method gefangen genommen und als »illegaler Eindringling« in das bayerische Missionsgebiet vor ein Kirchengericht gestellt. Diesen Prozess gegen Method bereitete man intensiv vor; deutlich wird dabei, dass die bayerischen Bischöfe von der angesichts der päpstlichen Haltung wenig erfolgversprechenden theologischen Auseinandersetzung des Wormser Konzils von 868 wie auch von der Problematik um die »Heiligen Sprachen« Abstand nahmen und ihre Vorwürfe stattdessen auf eine kirchenrechtsgeschichtliche Basis stellten, nämlich der Amtausübung des Method außerhalb der Grenzen seiner Diözese. Erwartungsgemäß wurde Method zu Klosterhaft verurteilt. Da sich Großmähren jedoch in der Folge gegen das Ostfränkische Reich militärisch 32 Zettler, Cyrill 290 f.; die Quellen zum Streit um Method sind herausgegeben in der Reihe Magnae Moraviae Fontes historici 1–5, ed. von Lubomir Havlík u. a. (Opera Universitatis Purkynianae Brunensis. Facultas philosopica 104, 118, 134, 156, 206 Praha, Brno 1966–1976). 33 Vgl. unten den Exkurs zur Bildung Ermenrichs sowie zum Bildungsniveau im Ostfrankenreich bei Adelheid Krah, Karolingische Lehrbücher. Zu Büchern als Wissenssammlungen in Bibliotheken und Schulen des 9. Jahrhunderts, in: Knihovny a jejich majitelé. Odraz zájmu a touhy po poznání, hg. von Lucie Heilandová, Jindra Pavelková (Brno 2018) 40–62. 34 Boshof, Regesten 143. 35 Ausführlich dazu Herbert W. Wurster, Ermenrich von Ellwangen OSB. Bischof der Diözese Passau, ca. 866–874/75, in: Ellwanger Jahrbuch 44 (2014) 79–100, 87–92.

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behaupten konnte, kam Method frei und musste aus der Klosterhaft entlassen werden. Papst Johannes VIII. zitierte Ermenrich bei Androhung der Suspension nach Rom, wobei dieser die Reise wohl nicht mehr angetreten haben dürfte. Sein naher Tod ist überliefert36. Der im Jahre 874 zwischen dem Ostfrankenreich und Großmähren zu Forchheim geschlossene Friede brachte letztlich die Anerkennung Großmährens, womit die Abtrennung der dortigen Kirche von der bayerischen Kirche verbunden war; diese Entwicklung ermöglichte den Aufbau der slawischen Kirche auf der Grundlage des Wirkens des hl. Method, aber nicht nach Byzanz, sondern nach Rom.

Passau und die eigenständige Kirchenorganisation des Mährerreichs Am 26. Dezember 874 oder am 1. Januar 875 starb Bischof Ermenrich37. Der Konflikt des Bistums Passau mit der methodianischen Kirche des Mährerreiches dürfte aber weitergegangen sein, denn lateinische Priester wirkten weiterhin dort. Es gibt zwar keine Quellenberichte, dass Ermenrichs Nachfolger Bischof Engelmar (875 [?]–899) bei den immer größer werdenden Auseinandersetzungen zwischen dem zur lateinischen Liturgie neigenden Fürst Sventopluk und seinem von Rom zum Erzbischof erhobenen Missionar Method eine Rolle gespielt hätte, doch legt der ganze Verlauf der Ereignisse bis dahin dies nahe – ebenso natürlich die geographische Nachbarschaft. Allerdings sollte man solche Annahmen nicht überstrapazieren, denn die Geschichte des 9. Jahrhunderts, gerade auch im pannonischen Raum, lebt von beständigen Brüchen und Kurswechseln aller beteiligten Kräfte und Parteien. Eine solche Neuausrichtung verbindet sich mit der Einsetzung von Wiching, einem Alemannen, der im Jahr 880 ins Licht der Geschichte tritt. Er war offenbar Priester des lateinischen Ritus im Umkreis des Fürsten Sventopluk; seine Stammeszuordnung lässt vermuten, dass er ursprünglich eher kein Passauer Priester war, es gibt aber auch keinen Grund, ihn in eine Verbindung mit dem bis heute nicht sicher identifizierten Ort der schwäbischen Klosterhaft Methods 36 Die Konzilien (wie Anm. 31) 35. Regensburg 870, 404. Die Vorgänge beim Prozess gegen ­Method in Regensburg sind nur aus Briefen von Papst Johannes VIII. u. a. an die Bischöfe Anno von Freising und Ermenrich von Passau bekannt. Demnach muss Bischof Ermenrich anscheinend gegen Method auch tätlich vorgegangen sein. Die Konkurrenz in der Mission zwischen Passau und dem Slawenapostel ist offensichtlich. 37 Wurster, Ermenrich (wie Anm. 35) 92.

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zu bringen. Dieser Wiching war im Jahr 880 Mitglied der mährischen Gesandtschaft nach Rom, die den Konflikt des Fürsten Sventopluk mit Method dem Papst zur Entscheidung vorlegte. Method wurde zwar bestätigt, auch die slawische Liturgie, aber Sventopluk erreichte doch sein wesentliches Ziel, Mähren direkt dem Schutz des Heiligen Stuhls zu unterstellen, wobei es neben der slawischen Organisation durch Method eine diesem offensichtlich beigeordnete lateinische Kirchenstruktur erhielt. Deren Mittelpunkt wurde das neugeschaffene Bistum Neutra. Papst Johannes VIII. selbst weihte Wiching zum Bischof für Neutra. Von dort aus wurde Wiching immer mehr zum Gegenspieler Methods; als dieser 885 starb, beendete die Vertreibung seiner Schüler 886 die kyrillisch geprägte Phase der Mission bei den Westslawen, die kyrillische Tradition wurde zum Erbe der orthodoxen Kirche, und die Westslawen Bestandteil des lateinisch-römisch-katholischen Europa38. Spätestens seit der Erhebung Methods zum Erzbischof hatte das Bistum Passau jegliche (Rechts)Basis für ein Wirken im Mährerreich verloren, die Erhebung Wichings zum lateinischen Ordinarius und dessen gänzlicher Erfolg 886, womit er faktisch Bischof für ganz Mähren wurde, besiegelten diese Entwicklung. Trotzdem blieben Passau und das Mährerreich in Beziehung. Als Bischof Engelmar 899 starb, wollte Kaiser Arnolf von Kärnten den seit dem Sturz des Mährerfürsten Rastislav (892/93) für ihn als Kanzler wirkenden Wiching zum Bischof von Passau bestimmen; seine politischen Pläne damals dürften der Grund dafür gewesen sein39. Wohl aus Sorge vor der dadurch möglichen Achse Passau–Mährerreich hat der bayerische Episkopat unter Führung des Salzburger Erzbischofs diese Entscheidung bekämpft, sich dazu auf das kanonische Translationsverbot für Bischöfe berufen und die Einsetzung Wichings verhindert40. Bemerkenswert ist, dass die spätere Lorcher Tradition des Bistums Passau diese »Personalunion« in ihre Konzeption und »Beweisführung« nicht eingebaut hat, woran deutlich wird, dass hier eine durch den Kaiser am Ende seiner Lebenszeit sorgsam erdachte Konfliktlösung umgesetzt werden sollte, welche unter Berücksichtigung der zurückliegenden Erfahrungen und der Auseinandersetzung mit Method von Dauer sein sollte. Vor diesem Hintergrund ist schließlich davon auszugehen, dass der angebliche Brief des Erzbischofs Theotmar von Salzburg (873–907) an Papst Johannes IX. historische Geschehnisse spiegelt, also die von der bayerischen Kirche, 38 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 6) 99 f. 39 Boshof, Regesten 170 mit ausführlicher Kommentierung. 40 Boshof, Regesten 173.

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voran Passau und Salzburg, nicht mitgetragene Einrichtung einer neuen Kirchenprovinz Mähren durch den Papst41. Die weiteren Ereignisse der Beziehungsgeschichte Passau-Mährerreich sind schnell erzählt. Ganz selbstverständlich wird Bischof Richar (899- ca. 902) zum Abschluss des Friedens mit den Mährern 901 in Dienst genommen42. Weiterhin wirkt noch nach 900 ein Passauer Chorepiscopus ganz im Osten der Diözese43; diese exzentrische Positionierung spricht dafür, dass die Chorepiscopi im Passauer Bistum – anders als im Erzbistum Salzburg – eine wesentliche Aufgabe in der Mission nach außen und zu den Mährern hatten. Die Haltung des Freisinger Bischofs Anno (854–875) im Methodius-Prozess, die ihm scharfe päpstliche Kritik einbrachte, dürfte nicht zuletzt von seiner vorherigen Erfahrung als Passauer Chorepiscopus im Osten bestimmt gewesen sein. So darf man auch die seit dem späteren 9. Jahrhundert zwar mager belegten Passauer »Chorepiscopi« als Beleg dafür heranziehen, dass die Mission zu den südöstlich angrenzenden Slawen, d. h. dann ins Mährische Reich, die zentrale Außenwirkung des Bistums Passau im 9. Jahrhundert gewesen war. Damit soll nicht gesagt sein, dass Passau allein auf diesem Felde agierte, angesichts der Komplexität der politischen wie der kirchlichen Entwicklungen jener Epoche wäre dies schlechterdings undenkbar. Aber das Bistum Passau bildete jene Institution und besaß die Voraussetzungen, die für die Mission notwendig waren.

Ergebnis Im Ergebnis kann also festgehalten werden: Aufgrund des Dargelegten ist der Ansicht von Heinz Dopsch, nämlich dass Passau ein »Zentrum der Slawenmission« war44, trotz der dürftigen Quellenlage beizupflichten; nicht zutreffend dürfte die gegenteilige Meinung von Egon Boshof sein, nämlich, »dass die Mährermission nicht eine Domäne der Passauer Kirche war«45. Noch weniger überzeugend wirkt es, die vielfach belegte, zwischen Herrschern, Päpsten und Kirchenfürsten im politischen Tun bis hin zum Krieg ausgehandelte und auf 41 Wie Anm. 40. 42 Boshof, Regesten 178. 43 Boshof, Regesten 187. 44 Heinz Dopsch, Slawenmission und päpstliche Politik. Zu den Hintergründen des Methodiuskonfliktes, in: Ders. (Hg.): Salzburg und die Slawenmission. Zum 1100. Todestag des hl. Metho­dius (Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 126, 1986) 221–241. 45 Boshof, Slawenmission 66.

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ganze Herrschaftsbereiche zielende Missionspolitik als Vermutung abtun zu wollen und – wohl in Analogie zu den Verhältnissen in der Diözese Freising – auf die vielfachen »Privatiniative[n] adeliger Eigenkirchenherren« zu setzen46. Und selbst wenn jemand die Rolle der Institution des Bistums Passau bezweifeln wollte, bliebe die Frage zu stellen, wer hinter der unzweifelhaft geleisteten nordalpin-lateinischen Missionsarbeit im Mährerreich stand? Wenn nicht Passau, wer dann? Die realpolitische Antwort auf unsere Fragen brachte die Geschichte, als die Ungarn in die mährischen Gebiete vorrückten und im Jahr 906 das Mährerreich zerstörten. Bekanntlich verwandelten sie 907 den bayerischen Versuch, durch einen Vorstoss nach Preßburg diesen Raum doch noch für den fränkisch-bayerischen Herrschaftsbereich zu retten, in eine blutige Niederlage, die dem zentraleuropäischen Raum eine definitiv neue Entwicklungsrichtung gab, für die viele der hier behandelten Fragen des 9. Jahrhunderts keine große Rolle mehr spielten.

Exkurs: Ermenrich von Passau, die Bildung und das Heidnische Zweifellos gehörte Ermenrich zu den gebildetsten Personen des Ostfrankenreiches der Zeit König Ludwigs des Deutschen, an dessen Hof er zeitweise auch lebte. Nach seiner Ausbildung an der Klosterschule in Ellwangen und Studien in Fulda bei Hrabanus Maurus und Rudolf von Fulda, wo er vermutlich sein Ordensgelübde abgelegt hatte, sowie auf der Reichenau, wirkte er als Lehrer am Bodensee und in St. Gallen und stieg zum Abt im alemannischen Kloster Ellwangen auf47. Dieses Kloster wurde im 9. Jahrhundert aufgrund seiner günstigen Lage als politische Drehscheibe des Reiches zur Zeit Kaiser Ludwigs des Frommen benützt und auch noch zwischen den späteren, karolingischen Teilreichen. Über Ellwangen lief ein Büchertransfer vom burgundischen Langres zu den geistlichen Zentren des Ostfrankenreiches bis Fulda und nach Bayern. Von Abt Ermenrich sind zwei hagiographische Biographien erhalten, die er verfasst hatte, um sich zu profilieren: Hervorzuheben ist seine Vita Hariolfi, des Gründers von Ellwangen, mit welcher Ermenrich das Prestige seines Klosters zu steigern beabsichtigte, die aber auch seine Passion als Lehrer zum Ausdruck bringt durch die von ihm gewählte Form des Zwiegesprächs zwischen einem älteren Lehrer, der die Lebensweisheit des Heiligen zu vermitteln vermag, und 46 Ebd. 47 Vgl. Wurster, Ermenrich von Ellwangen (wie Anm. 35) hier S. 83–87.

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einem fiktiven Schüler48. Diese Unterrichtsmethode aus der frühchristlichen Tradition der Schule von Nisibis beherrschte Ermenrich perfekt. Diente sie doch dazu, die göttliche Weisheit zu erkunden und »die Streu vom Weizen zu trennen«. Dies galt auch für heidnisches Machwerk in Lehrbüchern. Durch Sprachtraining anhand von Versen aus der griechisch-römischen Dichtung waren Lehrer wie Schüler in den geistlichen Zentren des Lernens und der Wissenschaft vermeintlich beständig den Versuchungen des Bösen durch den Kontakt mit heidnischem Gedankengut ausgesetzt. Wiederholt wird in gelehrten Texten der Zeit auf diese Gefahren hingewiesen, die etwa mit der Lektüre der sprachlich bewundernswerten, jedoch inhaltlich für perfide gehaltenen Werke Vergils verbunden seien. Durch intensives Studium um das Sprachniveau anhand von Vergils Aeneis49 glaubte daher der gelehrte Abt Ermenrich von Ellwangen und spätere Bischof von Passau an Visionen und schrieb in seinem großen Lehrwerk, der Epistola ad Grimoldum, welches am Ende in eine Vita des hl. Gallus in gelehrter Versform mündet, über eine Erscheinung Vergils in seiner Mönchszelle; dabei habe er sich den Spott des berühmten Dichters über seine eigenen, schlechten Verse gefallen lassen müssen. Mit dieser Erzählung Ermenrichs von den nächtlichen Erscheinungen Vergils in seiner Zelle im 24. Kapitel der Epistola ad Grimoldum50 sollte gleichermaßen eindrucksvoll und amüsant dem Adressaten, dem damaligen Abt von St. Gallen Grimoald, wie auch einem fiktiven Auditorium von Schülern und Kollegen eine Lehre erteilt werden. Ermenrich bezeichnet nämlich Vergil in diesem Kapitel mit dem antiken Pseudonym des Dichters als »Maro«; er tut dies in seinem Werk immer dann, wenn er die negative, heidnische Seite des Dich-

48 Vita sancti Hariolfi fundatoris monasterii Elwangensis hg. von Georg Heinrich Pertz (MGH SS 10 Hannover 1852) 11–14, sowie Monique Goullet, Monique Hincker (Hg.), La Vita ­Hariolfi d’Ermenrich d’Ellwangen: un dialogue hagiographique-pédagogique; Excusion: Ermenrich et le grec, in: Dies., Parva pro munera: études de littérature tardo-antique et médiévale offertes à FranÇois Dolbeau per ses élèves (Turnhout 2009) 411–443. Hariolf war von Langres in das Jagsttal gekommen, wo er das Kloster Ellwangen gründete. Die Vita ist in Form eines Lehrer-Schüler-Dialogs geschrieben. Vgl. zur Person mit weiteren Literaturangaben Gerhard Schmitz, Ermenrich von Ellwangen oder vom Nachteil und Nutzen von Re-Editionen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 66 (2010) 479–511. 49 Vgl. Wolfgang Kofler, Aeneas und Vergil: Untersuchungen zur poetologischen Dimension der »Aeneis« (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften 2, 111, Heidelberg 2003). 50 Ermenrich d’Ellwangen, Lettre à Grimald, hg. von Monique Goullet (Sources d’Histoire médiévale publiée par l’Institut de recherche et d’histoire des Textes 37, Paris 2008) Kap. 24, S. 140–145. – Der Originaltitel des Werkes lautet: Epistola Ermenrici ad domnum Grimoldum abbatem et archicapellanum.

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ters ins Visier nimmt, so in den Kapiteln 10, 15, 24, 25, 26, 36, während er von Vergil, dessen Dichtkunst lobend, in den Kapiteln 9, 14, 15, 16 und 17 spricht. Ermenrich plazierte die Erzählung gekonnt innerhalb eines theologischen Diskurses: Kapitel 18 ist der Trinitätslehre gewidmet, Kapitel 19 ausschließlich an Grimald gerichtet, der damals auch Kanzler König Ludwigs des Deutschen war. Hoffte Ermenrich darauf, in die Hofkapelle aufgenommen zu werden? Es folgen Homilien in Form von kleinen, theologischen Meisterstücken, die den Autor empfehlen sollten (Kapitel 20 bis 23). Bei der anschließenden exemplarischen Erzählung seiner Vision verwendete Ermenrich ein hagiographisches Stilmittel und pervertierte den Inhalt dabei aber ins Negative: Er schildert eine zwielichtige Gestalt, die in seine Zelle eingedrungen war. Dabei nimmt er immer wieder den Dialog mit Grimold auf, bei ihm ratsuchend und fragend, der den Rahmen der Handlung und die Instruktionen durch ihn bilden soll. In diesem Gespräch führt er seine Position gegen die heidnische Götterwelt des »Maro«, in der Argumentation von Grimold geleitet, Schritt für Schritt aus und will sich dabei erneut dem Meister empfehlen. Die Musen des heidnischen Dichters (Vergil)-»Maro« erscheinen ihm problematisch und eine mystische Begegnung mit »Maro« wäre verwerflich. Dennoch meine er, oftmals nach der Lektüre der Verse Vergils im ersten Schlaf von diesem dunklen Monster in seiner Zelle geweckt zu werden, welches Verse in ein Buch schreibe, den Codex schwinge und ihn dann, ob seiner minderwertigen Verse höhnisch verlache. Beim Erwachen aus diesem Zustand bekreuzige er sich und werfe das Buch mit »Maros« Versen weit von sich. Doch nähme die phantastische Erscheinung kein Ende, manchmal zeige ihm das Phantom seine weißen Zähne aus seinem dunklen Gesicht: Sed nec sic cessavit fantasma ipsius terrens me, ferens tridentem nescio utrum Plutonis domestici eius an alicuius alterius pre manibus, facie furva solos dentes candidos ostendit (…), veluti ludum eius ante risibilem pro nihilo habui51. Ganz im Stil des Kirchenvaters Augustinus kommt Ermenrich in seiner Erzählung dann auf die römisch-heidnische und moralisch anstößige Götterwelt, auf Jupiter, Juno, Minerva, Vulkan, die Zerstörung Trojas und die Dichtung Vergils, die er zitiert, zu sprechen52, auch auf Plinius, den römischen Geschichtsschreiber und Isidor von Sevilla, dessen Werke aus der Perspektive des 6./7. Jahrhunderts und der Autorität des Zeitalters Papst Gregors des Großen den Theologen der Karolinger als »vorbildliche Orientierungshilfen« galten. 51 Lettre à Grimald (wie Anm. 50) Kap. 24, S. 140. 52 Augustinus, De civitate Dei, etwa Buch 1, Kap. 3 und Buch 2, Kap. 8.

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Es liegt ihm die Sorge für sein Seelenheil und das seiner Schüler am Herzen, denn – so verlockend die perfekten Verse des Dichters auch sein mögen – mit ihm möchte Ermenrich im Jenseits nicht Gastmahl halten – Ad eius (sc. Maronis) convivium non veniat anima mea, nec sit in numero talium fantasmatum53. Doch wie kann man sich schützen gegen das phantastische antike Gedankengut? Hierbei helfe nur der katholische Glaube: Sed haec omnia et cetera aliorum poetarum gentilium figmenta quam falsa sint et sterilia, facilie perpendit quisque catholicam fidem tenet54. Nach diesem Bekenntnis, durch das er sich absichert und zeigt, dass er sich mit seiner Schrift im Einklang mit der theologischen Doktrin des romorientierten, katholischen Glaubens befindet, kann Ermenrich in den folgenden Kapiteln über Themen der Dichtung Vergils schreiben und beendet sein Werk mit einer in Versen gefassten Vita des hl. Gallus. Dieses Ziel, heidnisches Versmaß mit christlichen Inhalten zu füllen, hat er demnach von langer Hand vorbereitet und so gelingt es ihm letztlich, seine eigene Dichtkunst unter Beweis zu stellen und für ein exquisites hagiographisches Thema dennoch Vergil zu benützen, sich an dessen heidnische Verskunst anzulehnen und sie zu imitieren. Zugleich wollte er sich dadurch wohl auch dem Kanzler Ludwigs des Deutschen als der künftige Prätendent für eine Übernahme der Leitung der Abtei des heiligen Gallus empfehlen. Dieses Vorhaben ist ihm nicht geglückt; er wurde Bischof von Passau und kirchenpolitisch an der äußersten Peripherie des Ostfrankenreiches im slawischen Bereich eingesetzt, vielleicht weil im Kloster St. Gallen andere Methoden und Konstellationen bevorzugt wurden. Trotz solcher Ablehnung des Heidnischen war Ermenrich als Bischof von Passau und Nachbar der heidnischen Mährer aufgefordert, im Kräftespiel zwischen Papsttum, byzantinischem Einfluss und heidnischen Slawen/Mährern zu vermitteln und bestehen zu können.

53 Lettre à Grimald (wie Anm. 50) Kap. 24, S. 142. 54 Lettre à Grimald (wie Anm. 50) Kap. 24, S. 144.

Klaus Lohrmann

Benachbarte Kollektive unterschiedlicher Lebensordnungen Zu den Anfängen der Angleichung der ungarischen Gesellschaft an den lateinischen Westen

Abstract: The march of House Babenberg belonged to the south-eastern outpost of the Ottonic-­ salic Empire, which was up until the Investiture controversy an advancement of the traditions of Frankish universal rulership. Since the beginning of the tenth century, the Hungarian tribal association lived in closest proximity to this world, to which from the year 800 AD also the Bohemians belonged, and to which the Moravians stood hostile (or in alliance) to over decades. The raids of the Hungarians confronted the Franks, Saxons, Alemanni and Bavarians with a new combat technique of light armoured, arrow shooting, mounted warriors, which, in the course of the tenth century, the heavy cavalry of King Otto I. outperformed. The Western-oriented new order of the Hungarians became necessary in order to make a military organisation possible that would rely on similar forms of rulership and economy as the Frankish-ottonic Empire. After the conversion of Grand Prince Geza to Latin Christianity (in 972), his son Stephen, since 1001 King of the Hungarians, designed the legal framework in a new way. Western and primarily Bavarian councillors contributed with their expertise. Regulations from Bavarian people’s law originating from the capitulary and council decrees of the Carolingian period were adapted to Hungarian conditions. Especially important for the social reality proved to be the law of ownership and the permission to divide up goods, to bequest them to family members or to bestow it to the Church. In the first privileges, the churches of the Kingdom of King Stephen were awarded with immunity. The introduction of the tithe was also of historical significance. The program was completed through the organisation of the country into earldoms as well as the foundation of bishoprics. All these measures served the purpose of the manifestation of the power of the King, who empowered by military victories, could diminish the influence of the individual ethnic tribes in Hungary and their clansmen. After Stephen’s death in 1038, it showed that his new order gave rise to a series of conflicts concerning the question of the power participation of the earls. However, King Andreas I., who came to power following a reactionary movement, re-introduced the compliance to the laws proclaimed by Stephen and continued his political path.

Einführende Bemerkung Die vorliegende Skizze über Nachbarn mit unterschiedlichen Lebensordnungen ist keine sozialwissenschaftliche Studie, die typologischen Gesichtspunkten folgt. Es handelt sich vielmehr um eine historische Arbeit, die aus einer breiter angelegten Untersuchung über das Verhältnis zwischen den Babenbergern und

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ihren Nachbarn erwachsen ist1. Eines der auslösenden Momente für die Nachbarschaftsstudie ist der Gedanke, dass eine definierte Gruppe von Menschen bei der Ausbildung ihrer Lebensordnung zum Teil von den Bedürfnissen der Nachbarn aber auch von den von ihnen ausgehenden Herausforderungen und eventuell sogar Bedrohungen geprägt ist. Zugleich stellt aber die eigene Lebensordnung eine Herausforderung für den jeweiligen Nachbarn dar. Die Herrschaftsordnung Ostarrîchis, respektive der Mark der Babenberger, und die Art und Organisation der wirtschaftlichen Entwicklung traf im Osten auf das von dem ungarischen Stammesverband besiedelte Gebiet im Karpatenbecken und im Norden auf Böhmen. Die etwa 970 eingerichtete Mark an der Donau, die eine im Umfang ähnliche karolingische Mark in diesem Gebiet wieder belebte, war Teil der im Aufstieg befindlichen ostfränkischen (ottonischen und salischen) Lebensordnung, deren Selbstverständnis dem universalen Gestaltungswillen der hochkarolingischen Zeit durchaus entsprach. Ihre bestimmenden Leute, der Markgraf, bayerische Adelige, Bischöfe und Äbte trugen die fränkisch-nachkarolingische Ordnung und waren Bayern mit manchmal fränkischen Wurzeln. Die weitere Entwicklung dieses Raumes und seiner Bevölkerung führte bekanntlich zu einer herrschaftlichen Einheit, die noch in babenbergischer Zeit Österreich oder lateinisch Austria genannt wurde, an deren Spitze kein Markgraf mehr stand, sondern ein Herzog, der in den Urkunden als dux Austriae erschien und seine Gefolgsleute nicht mehr als Bayern betrachtete. Doch die Ablösung der Herrschaft der Babenberger von Bayern und ihr Rückzug aus den dortigen Grafschaften ist nur die bedeutsame Begleitmusik aber nicht das Thema der vorliegenden Studie.

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Die folgende Untersuchung stellt eine erweiterte Fassung meines bei der Tagung »En route to a shared Identiy. Perspectives, new sources and unknown networking groups in past and present on the History of Central Europe« am 21. November 2017 gehaltenen Vortrag dar. Für Anregungen und Kritik danke ich der Herausgeberin Adelheid Krah, die damit wesentlich an der Gestaltung des vorliegenden Textes mitgewirkt hat. – Vgl. demnächst Klaus Lohrmann, Die Babenberger und ihre Nachbarn, Wien 2019 (in Druck).

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Anfänge und Grundlagen der Nachbarschaft mit Ungarn Die Babenberger waren seit 976 beauftragt, eine von mehreren zu Bayern gehörigen Marken im Südosten zu organisieren2. Schon in karolingischer Zeit, also vor 907, gab es eine Einrichtung, die Teile Pannoniens umfasste, die man auch als Avaria bezeichnete und die als Vorläufer dieser »ottonischen Mark« zu betrachten ist. Unter Mark – marca – soll in diesem Fall eine »territoriale« Einheit der Grenzorganisation verstanden werden und nicht die Grenze selbst.3 Etwa 970 hatte Heinrich der Zänker einen gewissen Burkhard als marchiocomes an der Donau eingesetzt. Burkhard stand in einem freundschaftlichen Verhältnis zu Herzog Heinrich I., dem Vater des Zänkers, und Bruder Ottos des Großen. Um die Familie des sächsischen Königs in Bayern »heimisch« zu machen, hatte Heinrich I. Judith aus der älteren bayerischen Herzogsfamilie der Luitpoldinger geheiratet. Eine ihrer Schwestern, deren Namen wir nicht kennen, wurde Burkhards Gattin4. In der Zeit um 970 ist neben Burkhard auch ein Markgraf in der sogenannten »Mark an der Mur« bekannt. Zusammen mit einem benachbarten, von den dortigen Bewohnern Craina marcha genannten Gebiet und einer Grafschaft an der Sann setzte Heinrich der Zänker Adelige als Grafen und Großgrafen ein, denen er vertraute5. Diese Grenzgrafschaften richteten sich gegen einen gefährlich erscheinenden Nachbarn, nämlich gegen die Ungarn, die gegen Ende des 9. Jahrhunderts zunächst das östliche Karpatenbecken in größerer Dichte zu besiedeln begonnen hatten. Das bekannte Jubiläumsjahr der Landnahme 896 ist eine politische Erfindung vom Ende des 19. Jahrhunderts. Etwa das Jahr 895 ist aus dem Kapitel 37 von »De administrando imperii« Kaiser Konstantins VII. zu errechnen. In dieser zwischen 948 und 952 entstandenen Schrift heißt es, dass die Ungarn 55 Jahre zuvor in das Karpatenbecken gekommen waren. Die Aussage der Annales Fuldenses hingegen muss mit anderen Berichten kombiniert werden, um etwa zum selben 2

Lohrmann, Die Babenberger (wie Anm. 1); Andrea Stieldorf, Die Ottonen und die Randzonen ihres Reiches im Osten und Südosten, in: Die Babenbergermark um die Jahrtausendwende. Zum Millenium des heiligen Kolomann (Nöla. Mitteilungen aus dem Niederösterreichischen Landesarchiv 16, St. Pölten 2014) 9–41. 3 Herwig Wolfram, Grenzen und Räume. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung (Österreichische Geschichte 378–907, hg. Ders., Wien 1995), 214; Ders., Salzburg, Bayern, ­Österreich. Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit (MIÖG Erg-Bd. 31, Wien, München 1995) 183 zum als marca organisierten Gebiet. 4 Kurt Reindel, Die bayerischen Luitpoldinger 893–989 (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte NF 11, München 1953) 203 f. nr. 103 datiert auf 947–955. 5 Stieldorf, Die Ottonen (wie Anm. 2) Tabelle 19 f. Otto I. März 970, Otto II. 30. Juni 973.

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Ergebnis zu kommen.6 Mit der sogenannten Landnahme war die Ethnogenese der Ungarn verbunden.7 Walter Pohl hat bei Gelegenheit die Elemente aufgezählt, die zum Herkunftsmythos einer Ethnogenese gehören. Wir werden sehen, dass diese verallgemeinernde Beobachtung auf die ungarische Entwicklung zutrifft. Zunächst ging es um die Teilung einer größeren gentilen Einheit und den Abzug der ab nun getrennt agierenden Gruppe aus der alten Heimat. Die Ungarn trennten sich vom chasarischen Stammes- und Völkerverband und verließen (auf der Flucht vor Bulgaren und Petschenegen) Etelköz, das Zwischenstromland nördlich des Schwarzen Meeres, dessen genaue Lage in der Forschung umstritten ist. Zu diesem Zweck mussten die Ungarn einen Fluss überschreiten, wobei nach wie vor nicht geklärt ist, ob dieser Fluss der Don oder die Donau war. Im Zuge dieser Flucht erfolgte zunächst die Besiedlung der östlichen Teile des Karpatenbeckens. Verschiedene slawische Gruppierungen gelangten wohl erst nach 900 mit der Niederlassung der Ungarn in Pannonien unter deren manchmal nur lockere Herrschaft. Die Landnahme fand unter Führung Árpáds statt, womit auch eine dynastische Tradition begründet wurde8. Schon 862 nahm Erzbischof Hinkmar von Reims die bis dahin unbekannten Ungarn als Feinde wahr, die den Reichsteil Ludwigs des Deutschen verwüstet hatten9. Damit begannen die Raubzüge der Ungarn, die sogenannten Streifzüge, 6 György Györffy, Die Landnahme der Ungarn aus historischer Sicht. In: Ausgewählte Probleme europäischer Landnahmen des Früh- und Hochmittelalters: methodische Grund­ lagen­diskussion im Grenzbereich zwischen Archäologie und Geschichte II., hg. von Michael Müller-Wille, Reinhard Schneider (Vorträge und Forschungen 41/2, Sigmaringen 1994) 67–79 hier 72 f. und 76 mit Bezug auf die Annales Fuldenses, in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte Dritter Teil. Hg. von Reinhold Rau (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe Bd. VII, Darmstadt 1960) 162. Constantine porphyrogenitus, De administrando imperio, ed. Gyula Moravcsik (Corpus fontium historiae Byzantiae vol.1, Washington 1967) cap. 37, 166; Szabolcs de Vajay, Der Eintritt des ungarischen Stammesbundes in die europäische Geschichte (862–933) (Studia Hungarica 4, Mainz 1968) 26 f. 7 Zur Kritik am Begriff der Landnahme zuletzt Cameron Sutt, Slavery in Árpád-era Hungary in a Comparative Context (East Central and Eastern Europe in the Middle Ages 450–1450, vol. 31, Leiden 2015) 36. 8 Walter Pohl, Das Awarenreich und die »kroatischen« Ethnogenesen, in: Die Bayern und ihre Nachbarn Teil I, hg. von Herwig Wolfram und Andreas Schwarcz (Österr. Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse Denkschriften 179, Wien 1985) 293–298, hier 295; György Györffy, König Stephan der Heilige, o. O. 1988, 12, 14; Vajay, Der Eintritt (wie Anm. 6) 32. 9 Annales Bertiniani, in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte 2. Teil. Hg. von Reinhold Rau (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom SteinGedächtnis­ausgabe Bd. VI, Darmstadt 21992) 114: Sed et hostes antea illis populis inexperti, qui Ungri vocantur, regnum eius depopulantur.

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in das Frankenreich. Wenige Jahrzehnte später zeichnete Regino von Prüm sein berüchtigtes monströses Bild der Ungarn, das lange Zeit die Vorstellungen über die neuen »Hunnen« prägte10. Als Folge verschärfter Gegensätze zwischen den Bayern und dem ungarischen Alleinherrscher Árpád erlitt ein bayerisches Heer 907 bei Preßburg eine Niederlage, die der fränkisch-bayerischen Herrschaftsordnung östlich der Enns ein Ende bereitete11. Der Tod von Bischöfen und Grafen hatte gewissermaßen die Herrschaft ihres führenden Personals beraubt. In welchem Ausmaß die Ungarn nachfolgend in diesem Landstrich Ödland und Aufmarschgebiet anlegten, ist umstritten. In der Gegend von Wieselburg können wir solche Bemühungen sogar urkundlich nachweisen. Offenbar hatte der dort gelegene Ort Steinakirchen unter den Einfällen der Ungarn so gelitten, dass er für einige Zeit öde war12. Bekanntlich erreichten die ungarischen Streifzüge bald ihre Grenzen. Die im Westen gemachte Beute sollte den Mangel an Gütern ausgleichen, der im Zuge der Ansiedlung und des Verlustes von Ressourcen (vor allem Viehherden) bei der Flucht aus Etelköz entstanden war13. Nutznießer dieser Unternehmungen waren die Sippenoberhäupter und ihre Kriegerverbände. Dem bayerischen Herzog gelang es in einer Mischung aus kriegerischen Aktivitäten und Verhandlungen, mit den Ungarn zeitweise in ruhiger Nachbarschaft zu leben, oder ihnen auf ihrem Heimweg die Beute abzunehmen. 913 war dies Herzog Arnulf möglich zusammen mit einem schwäbischen Aufgebot14. Herzog Heinrich I. hatte ähnliche Erfolge. 955 wandten sich schließlich einige ungarische Sippen unter der Führung des Horka (griechisch Karchas) Bulcsu, der sich mit anderen Stämmen, die Lél befehligte, gegen ein ostfränkisches Heer. 10 Reginonis Chronica, in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte Dritter Teil, hg. von Reinhold Rau (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe Bd. VII, Darmstadt 1960) 282 f. 11 Reindel, Die bayerischen Luitpoldinger (wie Anm. 4) 62 ff. nr. 45; Karl Brunner, Herzogtümer und Marken. Vom Ungarnsturm bis ins 12. Jahrhundert (Österreichische Geschichte 907–1156, hg. von Herwig Wolfram, Wien 1994) 53; Roman Deutinger, Die Schlacht bei Pressburg und die Entstehung des bayerischen Herzogtums, in: Im Schnittpunkt frühmittelalterlicher Kulturen. Niederösterreich an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert (NÖLA. Mitteilungen aus den Niederösterreichischen Landesarchiv 13, St. Pölten 2008) 58–70; Vajay, Der Eintritt (wie Anm. 6) 37 und 42 f. 12 Niederösterreichisches Urkundenbuch. Erster Band 777–1076, bearb. von Maximilian Weltin und Roman Zehetmayer (Publikationen des IfÖG, St.Pölten 2008) 205 nr. 17: … in terra quondam Avarorum iuxta fluviolum qui Erlaffa dicitur locum quendam esse qui Steinachiricha nominatur, quem per multa annorum curricula desertum ipse de Bauuaria missis colonis incoli fecit. Kommentar 212. 13 Györffy, König Stephan (wie Anm. 8) 36–40. 14 Reindel, Die bayerischen Luitpoldinger (wie Anm. 4) 103 ff. nr. 54.

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Auslöser waren wohl die Informationen über den Aufstand Liudolfs gegen Otto den Großen15. Die Niederlage auf dem Lechfeld bei Augsburg gilt ein wenig übertrieben als Wendepunkt im Verhältnis ungarischer »Fürsten« zum Westen16. Das Urteil hat allerdings eine gewisse Berechtigung. Der erste konkrete Versuch der ungarischen Führungsschicht, sich der ottonischen Macht anzunähern, fällt erst in die letzten beiden Regierungsjahre Ottos des Großen17. Die Initiative des Großfürsten Geza bedeutet aber nicht, dass Heinrich der Zänker und seine Grenzgrafen bereits einer christlichen, am fränkischen Recht orientierten Gesellschaft mit allen sich daraus ergebenden Folgen gegenüberstanden. Das gentil strukturierte Kollektiv blieb vorherrschend und blieb es auch über die Regierungszeit Stephans des Heiligen (†1038) hinaus. Die Frage nach der Lebensweise der Ungarn – d. h. nach dem Anteil der vieh­haltenden nomadischen Formen und der Art des Ackerbaus ist strittig. Das Festhalten an Formen des gemeinsamen Sippeneigentums deutet auf die Richtigkeit des Standpunktes von Gyula Kristó, dass die Vieh- und Pferdezucht und das damit verbundene Kriegswesen der angesehene Teil der Lebensführung war und der Ackerbau den unterworfenen Völkern überlassen wurde18. Von daher würde sich auch die späte Entwicklung grundherrschaftlicher Organisationsformen in Ungarn erklären. Erst 1225 spielten beim Grazer Friedensschluss zwischen Andreas II. von Ungarn und Leopold VI. Regelungen, welche die Grundherrschaften betrafen, eine grundsätzliche Rolle19. Die Orientierung am lateinischen Christentum unter den Árpáden und anderen Sippenoberhäuptern war kein Weg vom Heidentum in die westliche Kirchenorganisation. Kurz vor der Lechfeldschlacht bildete die Taufe Bulcsus in Konstantinopel mit Konstantin VII. als Taufpaten den öffentlich wahrgenommenen Höhepunkt einer Entwicklung, in deren Verlauf griechische Bischöfe in den späteren Siebenbürger Raum kamen und dort missionierten und organisierten. Chronologisch noch weiter in die Vergangenheit reichen Erwägungen, 15 Thomas von Bogay, Lechfeld. Ende und Anfang. Geschichtliche Hintergründe, ideeller Inhalt und Folgen der Ungarnzüge. Ein ungarischer Beitrag zur Tausendjahrfeier des Sieges am Lechfeld (München 1955) 46. Adelheid Krah, Der aufständische Königssohn. Ein Beispiel aus der Ottonenzeit, in: MIÖG 114 (2006) 48–64. 16 Zurückhaltend und bedächtig im Urteil Gábor Varga, Ungarn und das Reich vom 10. bis zum 13. Jahrhundert. Das Herrscherhaus der Árpáden zwischen Anlehnung und Emanzipation (Studia Hungarica 49, München 2003) 34 f. 17 Varga, Ungarn und das Reich (wie Anm. 16) 48 f. 18 Gyula Kristó, Die Arpadendynastie. Die Geschichte Ungarns von 895 bis 1301 (o. O. 1993) 36 ff. 19 Heide Dienst, Zum Grazer Vertrag von 1225 zwischen Herzog Leopold VI. von Österreich und Steier und König Andreas II. von Ungarn, in: MIÖG 90 (1982) 1–48 hier 31.

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dass die Ungarn, die drei Jahre mit den Chazaren zusammengelebt hatten, schon vor der Landnahme mit den abrahamitischen, monotheistischen Religionen in Berührung gekommen waren.

Böhmen und Mähren – Kollektive mit eigener Lebensordnung? Zunächst stellt sich die Frage, ob und wie sich die Herrschaftsverhältnisse in Böhmen von der fränkischen Lebensordnung unterschieden. Schon zur Zeit Pippins und Karls des Großen nahmen die fränkischen Magnaten in ihrem östlichen Grenzbereich unter anderen slawischen Gruppierungen böhmische Fürsten wahr, die schon früh in ein Tributverhältnis zum Frankenreich gebracht wurden20. An dieser Stelle soll kein Abriss der Entwicklung gegeben werden, welchen Organisationsformen das Verhältnis der Böhmen zum Frankenreich und dem ottonisch-salischen Reich folgte. Für die grundsätzliche Fragestellung bedeutsam bleibt aber die Feststellung, dass nach 1040 der jeweilige böhmische Fürst regelmäßig die Angriffe der deutschen Könige und Kaiser gegen den östlichen Nachbarn Ungarn mit seinen Kriegern unterstützte – man kann daher mit Recht von einer Heeresfolge der Böhmen sprechen21. Dabei spielte aber seit Bře­ tis­lav I. diese Gefolgschaft auch eine spezielle Rolle in den politischen Absichten des böhmischen Fürsten: nachdem seinem Vater Udalrich die Vertreibung der Polen aus Mähren gelungen war, wurde Břetislav beauftragt, eine möglichst enge Angliederung Mährens an Böhmen herzustellen. Die Umsetzung dieses Vorhabens nahm das gesamte 11. Jahrhundert in Anspruch22. ­Cosmas berichtet zum Jahr 1055, dass der böhmische Fürst Spytihněv neue Verfügungen über Mähren traf und 300 Große aus Mähren, die ihm als die besten und edelsten bekannt 20 Die Chronik der Böhmen des Cosmas von Prag, hg. von Berthold Bretholz (MGH SS rer. Germ. N.S. 2, Berlin 1923) lib.II cap.8, 95 berichtet darüber anlässlich der Forderungen, die 1040 der salische König Heinrich III. gegenüber den Böhmen erhob. Jörg K. Hoensch, Geschichte Böhmens. Von der slawischen Landnahme bis zur Gegenwart, München 31987, 34 und 462 Anm. 28. 21 Vgl. zum Ungarnfeldzug Heinrichs III. Annales Altahenses maiores, ed. von Edmund ­Oefele (SS rer. Germ. in usus scol. 4, Hannover 21891) 31: Das Heer überquerte die Donau suasu et consilio Boemici ducis. 22 Martin Wihoda, Die mährischen Eliten als Problem der Kontinuität (oder Diskontinuität?) der böhmischen Geschichte, in: Die frühmittelalterliche Eliten bei den Völkern des östlichen Mitteleuropas, hg. von Pavel Kouril (Brünn 2005) 9–18, hier 9; Zdeněk Měřínský, Mähren und seine přemyslidischen Teilfürsten im mitteleuropäischen Kontext, in: Böhmen und seine Nachbarn in der Přemyslidenzeit, hg. von Ivan Hlávacek und Alexander Patschovsky (VuF 74, Ostfildern 2011) 137–159 hier 139 f.

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waren, gefangen nehmen ließ23. Ohne große intellektuelle Kunststücke können wir in Spytihněvs Vorgehen einen Schlag gegen den Adel Mährens erkennen. Mit den Absichten der Böhmen gegenüber Mähren kam es schon früher, nämlich 1040, zu einem ersten Konflikt des babenbergischen Markgrafen bzw. seines Sohnes mit den Böhmen. Das um eine Burg, die vermutlich am Oberleiserberg stand, veranstaltete Tauziehen ist eines der wenigen überlieferten Ereignisse, an denen wir die Grenzverschiebungen des babenbergischen Markengebietes nach Norden wahrnehmen und nachweisen können.24 In den folgenden Jahren ging es Bře­tis­lav I. um ein möglichst weites Vordringen in den Osten, nämlich in das von den Ungarn bereits besessene und beanspruchte Gebiet im Norden der Donau bis zur Waag. Noch knapp vor seinem Tod bereitete er in Chrudim einen Feldzug gegen Ungarn vor25. Was die Herrschafts- und die davon abhängige soziale Ordnung in Böhmen betrifft, wird im Lichte kritischer Quellenlektüre die tschechische Adelsdiskussion allmählich als Scheingefecht erkannt und ist damit wohl als überholt zu betrachten. Die Burgkastellane und vergleichbare Träger von Funktionen im Dienste des Fürsten können durchaus als Adelige bezeichnet werden. Trotzdem unterscheiden sich die Lebensumstände und der Einfluss dieses Adels von den Verhältnissen im deutschen Reich. Cosmas berichtet über einige Vorfälle, die zeigen, dass im Unterschied zur Ordnung im ottonisch-salischen Reich, in welcher die Aristokratie eine bedeutsame Rolle bei der Mitwirkung an Entscheidungen spielte, in Böhmen dem Fürsten kein an Macht vergleichbarer Adel gegenüberstand26. Versagen gegenüber benachbarten Angreifern oder gar verräterische Zusammenarbeit mit ihnen führte zu grausamen Hinrichtungen, gegen die sich offenbar kein Widerspruch erhob. Immerhin lässt sich aber aus Cosmas nachweisen, dass mit der Bezeichnung Boemi die Kriegerkaste oder die Oberschicht gemeint ist. Den Begriff der Oberschicht verwendete Frantisek Grauss27. Marcin Pauk nannte diese von Cosmas erwähnten Leute die »kos23 Cosmas (wie Anm. 20) lib.II cap.15, 105 beginnt mit der Feststellung, dass Spytihněv anders als sein Vater über Mähren verfügen wollte. Premisit autem dux Zpitigneu illius terrae ad primates litteras in quibus nominatim vocat trecentos viros quos ipse novit meliores et nobiliores … 24 Annales Altahenses maiores (wie Anm. 21) 28; Ernst Steindorff, Jahrbücher des deutschen Reichs unter Heinrich III., Bd. 1 (Nachdruck Darmstadt 1969) 109 f. Anm. 6. 25 Měřínský, Mähren (wie Anm. 22), 141 f. 26 Cosmas (wie Anm. 20) lib.II, cap. 19, 111 berichtet über die Absetzung des Grafen Mistis von Bilin. Nur durch Flucht konnte er sich vor seiner Hinrichtung retten. 27 Frantisek Graus, Die Nationenbildung der Westslawen im Mittelalter (Nationes. Historische und philologische Untersuchungen zur Entstehung der europäischen Nationen im Mittel­ alter 3, Sigmaringen 1980) 180.

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mas’sche Elite«28. Die Rolle dieser Leute bei der Wahl und Thronsetzung des Fürsten, ihre Verpflichtung zur Treue, das bei Gelegenheit schon im 11. Jahrhundert nachzuweisende Hervortreten einzelner Geschlechter, die Beteiligung an der Herrschaft und die Zuweisung eines größeren Einkommens ist jener des fränkisch-westlichen Adels im Reich sehr ähnlich. Reichtum manifestierte sich auch in Böhmen als Grundbesitz. Cosmas definiert anlässlich der Thronsetzung Bře­tis­lavs I. die ehrenvoll beteiligten Geschlechter der »Muncia« und »Tpca« und anderer neben weiteren Merkmalen als sehr reiche Oberschicht – divitiis eminentiores29. Der böhmische Fürst konnte solchen Reichtum aber mit »einem Federstrich« vernichten. Einflussreiche Leute pflegten auch in Böhmen ihre Abstammungstradition. Bei den Kastellanen ist zumindest der Name des Vaters genannt. So weiß man, dass der Vater des erwähnten Mistis Boris hieß. Cosmas beschreibt an einer Stelle die Führungsschicht allgemein als maiores natu30, ein wichtiger Hinweis darauf, dass es auch in Böhmen Beobachter gab, die den Adel als Abstammungsgemeinschaft betrachteten. Auch die Gegner der herrschenden Přemysliden, die Wrschowetze, bezeichnet Cosmas als die »schlimmen Söhne, schlimmer Väter«. Die Feindschaft zwischen diesen Adelsgeschlechtern, die ursprünglich vielleicht sogar eine Stammesfeindschaft war, wird als Familienfeindschaft gedeutet31. Es bleibt noch die bedeutsame Frage nach der Organisation des adeligen Besitzes in Form einer Grundherrschaft32. Weiter unten folgt eine Analyse der ersten einschlägigen und für die Verhältnisse charakteristischen Nachricht, die den Raum Weitra betrifft. Dabei geht es um Auseinandersetzungen zwischen Böhmen und Österreich, die schließlich im Frieden von Eger 1179 beigelegt wurden33. Zu diesem Zeitpunkt ist eine grundherrschaftlich ausgerichtete Herrschaft des böhmischen Adels mit Sicherheit nachzuweisen.

28 Marcin R. Pauk, Der böhmische Adel im 13. Jahrhundert: Zwischen Herrschaftsbildung und Gemeinschaftsgefühl, in: Ivan Hlávacek, Alexander Patschovsky (Hg.), Böhmen und seine Nachbarn in der Přemyslidenzeit (VuF 74, Ostfildern 2011) 247–287 bes. 252. 29 Cosmas (wie Anm. 20) lib.I cap. 42, 78. 30 Pauk, Der böhmische Adel (wie Anm. 28) 253 f. 31 Cosmas (wie Anm. 20) lib. I, cap. 42, 79: …Wrsovici, iniquorum patrum nequam filii, nostri generis hostes domestici … (Es spricht hier der Premyslide Jaromir). 32 Ferdinand Kloss, Das räumliche Bild der Grundherrschaften in Böhmen bis zum Ende des XII. Jahrhunderts, in: Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen 70 (1932) 1–26, 133–220. 33 Zum Ende der Auseinandersetzung im Frieden von Eger Clemens Hopf, Die Herren von Nürnberg-Raabs, (MA Wien 2017) 125.

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Ostarrîchi nahm erst spät, nämlich um 1100, die klassischen Beziehungen zu Böhmen und Mähren in der Form einer Eheschließung auf: die Ehe zwischen dem immer wieder abgesetzten und wieder zurückgeholten Fürsten B ­ ořivoy († 1124) und Gerbirg, der Schwester Markgraf Leopolds III., war die erste zwischen den benachbarten Dynastien. Die Znaimer Hochzeit fand 18 Jahre nach der bekannten Schlacht bei Mailberg statt34. 1082 begegneten sich die Gefolgsleute Leopolds II. und Vratislavs II. und seines Bruders Konrad, die von Regensburger Söldnern unterstützt wurden35. Diese Auseinandersetzung wurde entweder durch Grenzscharmützel von streitbaren Siedlern, die Cosmas als nichtswürdige Menschen bezeichnete, an der Thaya ausgelöst oder aber war die Weltpolitik im Gewand des Investiturstreites der entscheidende Anlass. Cosmas fand diese Feindschaft verwunderlich, waren doch die Böhmen/Mährer und die Leute in Ostarrîchi nach seiner Auffassung vorher immer Freunde gewesen36. Dafür spricht auch eine Ikone der Muttergottes, die Herzog Vratislav II. einige Jahre zuvor dem Bischof Altmann anlässlich der Erbauung Göttweigs geschenkt hatte37. Die Einbindung dieses Konflikts in die »weltpolitische« Dimension des Investiturstreits verbietet trotz der diesbezüglichen Ignoranz des Cosmas ihn als bloßen Grenzkonflikt zu betrachten. Wirkliche Grenzfragen mussten aber erst gelöst werden, als auf beiden Seiten des Nordwaldes rodende Grundherren vorwärts rückten, sich dabei in die Haare gerieten und Verhandlungen zwischen den benachbarten Fürsten notwendig wurden38. Es lohnt, einen genaueren Blick auf den Bericht des Gerlach von Mühlhausen zu werfen: 1176 schickte Soběslav II. (1173–1178) auf Verlangen der Böhmen Gesandte an den damaligen Herzog von Österreich Heinrich (Jasomirgott), den Großvater des zur Zeit Gerlachs regierenden (Leopold VI. Herzog von Österreich seit 1198) und brachte die Streitfrage wegen des bebauten Landes in dem großen Grenzwald zur Sprache, welcher mitten zwischen beiden Ländern liegt und welchen die Böhmen für ihr ausschließliches Eigentum erklärten, wogegen die Österreicher behaupteten, er gehöre auf ihrer Seite ihnen und 34 Cosmas (wie Anm. 20) lib. III cap. 12, 172. 35 Leopold Auer, Die Schlacht bei Mailberg am 12. Mai 1082 (Militärhistorische Schriftenreihe 31, Wien 1976) 4. 36 Cosmas (wie Anm. 20) lib. II cap. 35, 131. 37 Vita Altmanni episcopi Pataviensis, ed. von Wilhelm Wattenbach (MGH SS 12, Hannover 1856, Nachdruck 1995) cap. 29, 238, Z. 8–13; Klaus Lohrmann, Herrschaftsverhältnisse in der Grie 1070 bis 1170, in: JbLkNö 81 (2016) 65–197 hier 185. 38 Continuatio Gerlaci abbatis Milovicensis, ed. von Wilhelm Wattenbach (MGH SS 17, Hannover 1861, Nachdruck 1990) 688 zum Jahre 1176, schildert die Streitigkeiten bei der Rodung des Nordwaldes zwischen Böhmen und Österreichern.

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auf unserer Seite uns (also den Böhmen). Darüber kam es zu wechselseitigen Verwüstungsfeldzügen, die Soběslav gegenüber dem Kaiser Friedrich Barbarossa um sein Ansehen brachten. 1178 erfolgte in Böhmen ein Herrscherwechsel. Über den Frieden wurde im Juni 1179 in Eger verhandelt, wo der Kaiser am 1. Juli auch eine Urkunde ausstellte, mit welcher der Streit zumindest in einem Grenzabschnitt, nämlich im Raum um Weitra, beigelegt wurde39. An diesen Fall schloss sich die grenzübergreifende Herrschaft Hadmars II. von Kuenring an, der 1185 Weitra als Lehen des böhmischen Herzogs erhielt. Bedrich (Friedrich) von Böhmen wollte sich damit der gefolgschaftlichen Treue des Kuenringers versichern. Ein hochinteressanter Fall von politisch kreativer Änderung eines Grenzverlaufs. Bedrich erläuterte in der Arenga der Urkunde ausführlich seine Absichten auf eine Gebietserweiterung, die hinter seiner »Großzügigkeit« standen. Die Lehns- und Treuebindungen, die ein Fürst knüpfte, sollten sich nicht nur auf die Leute im eigenen Herrschaftsgebiet beziehen, sondern er sollte auch danach trachten, Nachbarn durch Wohltaten (oder ein Lehns­verhältnis) an sich zu binden40. Das Konfliktpotential dies- und jenseits der Thaya und des Nordwaldes war bis zu dieser Auseinandersetzung gedämpft. Dies wohl deshalb, da seit einem Versuch Břetislavs I. im Jahre 1040, sich der Oberherrschaft König Heinrichs III. zu entziehen und seiner folgenden Niederlage, ein heikles aber hinlänglich klares Verhältnis zwischen Böhmen und dem Reich bestand41: die Auswahl des Fürsten unterlag böhmischen Regeln und Mächten, die Bestätigung dem Kaiser, der in einem günstigen Moment in die Machtverhältnisse eingreifen konnte42.

39 Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger IV/1. Ergänzende Quellen 976–1194, hg. von Heinrich Fichtenau, Heide Dienst (Nachdruck Wien, München 1997) nrn. 861 und 862. 40 Codex diplomaticus et epistolaris regni Bohemiae vol. 1 ed. Gustav Friedrich (Prag 1904– 1907) 279 f. nr. 309, hier 280: Dignitati principum et paci conservande indubitanter expedire cognovimus, ut quos infra terminos sue potestatis debito hominii et fidelitatis iure tenent astrictos, non tantum ad sua obsequia requirant, verum etiam vicinos, quos fidei sue sinceritas commendat, liberali beneficentia sibi obligare studeant. Inde est, quod nos fidem Hadmari de Chunringen et sinceram eius circa nos devotionem considerantes, eum nobis fidelitatis debito astringere curavimus et partem terre nostrae Austrie adiacentem, Withra … sibi iure beneficii concessimus et … infeudavimus. 41 Annales Altahenses maiores (wie Anm. 21) 16 (zu 1040) und 21 (1041 die Unterwerfung Bře­ tis­lavs). 42 Grundsätzliche Darlegung bei Zdének Fiala, Die Urkunde Kaiser Friedrichs I. für den böhmischen Fürsten Vladislav II. vom 18. I. 1158 und das »Privilegium minus« für Österreich, in: MIÖG 78 (1970) 167–192 hier 175.

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Noch einmal ein kurzer Blick auf das Adelsproblem und die damit verbundenen grundherrschaftlichen Fragen: entsprach die Einrichtung einer solchen herrschaftlichen Einheit in etwa dem, was in der bayerischen Nachbarschaft als curtis bezeichnet wurde43? Zur Besitzorganisation bringt Cosmas ein charateristisches Beispiel, nämlich die Struktur der Herrschaft und die Bauten im Bereich der schon erwähnten urbs Belina. Cosmas beschreibt folgende topographische und bauliche Situation: Die urbs Belina im Nordwesten Böhmens, entsprach in ihrer Besiedlung und organisatorisch dem im 11. Jahrhundert verbreiteten Typus der Burgstadt. Im suburbium befanden sich eine Kirche und andere Bauwerke. Die Kirche hatte Mistis, der Graf der Burgstadt Belina erbauen lassen44. Was hier beschrieben wird, entspricht der Gestaltung einer curtis und dies gilt sogar für die verwendete Terminologie. Anlässlich einer Schenkung des Grafen Ulrich an das neu organisierte Stift Vornbach, wird in der einschlägigen Traditionsnotiz berichtet, dass am Fuße der Burg ein suburbium lag45. Die Anlage samt der Kirche zeigt, dass auch in Böhmen ein castellanus, dem der Besitz vom Fürsten (Herzog) als materielle Basis für die Erfüllung seiner Aufgaben übertragen worden war, eine Organisation der Güter aufbaute, die mit den bayerischen Verhältnissen übereinstimmte. Der kurze Blick auf Böhmen hinterlässt den Eindruck, dass sich die gesellschaftliche Ordnung in Böhmen nicht grundsätzlich von der in Ostarrîchi unterschied. Der Adel wirkte an der Herrschaftsorganisation mit, wenn auch das Machtübergewicht des Fürsten verglichen mit der bayerischen Gesellschaft des 11. Jahrhunderts größer, vielleicht sogar erdrückend war. Trotzdem hielt Cosmas eine wichtige Einschätzung fest, die dem Adel bedeutenden Einfluss zuerkennt: In der schon zitierten Rede des Jaromir, Onkel von Fürst Břetislav I., riet er dem neuen Fürsten bezüglich des Adels folgendes: Diesen übertrage die Regierung der Städte und des Volkes, denn durch sie besteht das böhmische Reich, hat bestanden und wird in Ewigkeit bestehen46. – Ganz anders verlief die Entwicklung in Ungarn. 43 Zur curtis vgl. Ferdinand Tremel, Die Curtis der Ostalpen, in: Blätter für Deutsche Landesgeschichte N. F. 87 (1942) 3–15. 44 Cosmas (wie Anm. 20) lib.II cap.19, 111. 45 Urkundebuch des Landes ob der Enns Bd. 1 (Wien 1852) 628 nr. 3: Sed et omnis, que sepedictus Herimannus in eodem castello et in suburbio eius habuit. – Eine Kirche im Verband einer curtis gab es beispielsweise im Besitz der Herren von Grie: Lohrmann, Herrschaftsverhältnisse (wie Anm. 37) 141 ff. 46 Cosmas (wie Anm. 20) lib.I cap.42, 79: His urbes et populum ad regendum committas, per hos enim Boemie regnum stat et stetit et stabit in sempiternum.

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Ungarn – Die Orientierung nach Westen Im Gegensatz zu den Böhmen gelang es den Ungarn, sich dem Einfluss des lateinischen »Überkönigs« zu entziehen47. Zwar gab es eine Reihe von Versuchen, die Ungarn in eine ähnliche Abhängigkeit wie die Böhmen zu bringen und dies gelang auch kurzeitig, doch blieben ab dem Eingreifen von König Andreas I. (1046–1060) seit 1046 die militärischen Siege Kaiser Heinrichs III. aus. Die davor erzielten Erfolge beruhten auf der heiklen Position König Peters gegenüber den Magnaten in Ungarn, vor deren Gegnerschaft er 1041 nach Bayern geflüchtet war48. Obwohl Andreas seine Erhebung zum König neben anderen Faktoren einer reaktionären, kirchenfeindlichen Bewegung verdankte, konnte auch er den einmal eingeschlagenen Weg Stephans des Heiligen nicht verlassen, nämlich den Weg der nachbarlichen Angleichung an das lateinische Christentum. Herrschaftsformen und Recht folgten zwar weiterhin westlichen Vorbildern, zu untersuchen wäre aber, ob König Stephans Versuch, die ungarische Gesellschaft westlichen Vorbildern anzugleichen, nach seinem Tod Erfolg hatte. In einem Bericht der Vita des heiligen Gerhard heißt es, dass Andreas I. nach seiner Krönung den Ungarn unter Androhung der Todesstrafe befohlen habe, heidnische Riten aufzugeben, sich zu Christus zu bekehren und entsprechend der Gesetze König Stephans zu leben49. Sawicki hielt diese Nachricht für glaubwürdig50. Dafür spricht auch, dass Andreas I. als Gründer der Abtei Tihany nachweislich christliche Einrichtungen gefördert hatte51. Der Hinweis auf die Gesetze Stephans als Richtlinie für die Lebensordnung der Ungarn ist nicht nur als Reaktion auf die Ermordung von Bischöfen und die Pflege alter Riten zu sehen, die mit seiner Herrschaftsübernahme verbunden waren. Es gibt bezüglich der Gesetzbücher 47 Zu diesem Begriff Friedrich Prinz, Die Stellung Böhmens im mittelalterlichen deutschen Reich, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 28 (1965) 99–109, hier 105. 48 Annales Altahenses maiores (wie Anm. 21) 26–28; Varga, Ungarn und das Reich (Anm. 16) 102ff; Lohrmann, Die Babenberger (wie Anm. 1). 49 Legenda S. Gerhardi episcopi. Scriptores rerum Hungaricum tempore ducum regumque stirpis Arpadianae gestarum vol. 2, hg. von Imre Szentpétery (Budapest 1937–1938) 503: Dux autem Endre in Alba coronatus est, precipiens universe genti sue sub pena capitalis sententie, ut deposito paganorum ritu ad fidem Christi converterentur, et secundum statuta sancti regis Stephani viverent. Vgl. auch Edith Pásztor, Problemi di datazione della Legenda maior S. Ger­ hardi episcopi, in: Bollettino dell’Istituto Storico Italiano per il Medio Evo (1961) 113–140. 50 Jakob Sawicki, Zur Textkritik und Entstehungsgeschichte der Gesetze König Stephans des Heiligen, in: Ungarische Jahrbücher 9 (1929) 395–425 hier 423 f. mit Anm. 3 zur Glaubwürdigkeit der Quelle. 51 Diplomata Hungariae Antiquissima Bd. 1, 1000–1131, hg. von György Györffy (Budapest 1992) 145 nr. 43/I zum Jahr 1055.

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König Stephans einen anderen wichtigen Zusammenhang: 1044 hatte nämlich König Heinrich III. auf Bitten der ungarischen Magnaten ihnen die scita Teutonica gewährt, Hermann von Reichenau spricht in diesem Zusammenhang von der lex Baioarica52. Die ein wenig befremdliche Formulierung des Annalisten aus Niederaltaich könnte so zu erklären sein, dass für ihn das bayerische Recht einfach das »Volksrecht« war53. Es handelt sich wohl um eine Interpretation des von Hermann benützten Begriffes lex Baioarica. Offenbar aber hatte König Heinrich III. die unklare Rechtslage, die mit der Herrschaft König Abas 1041 entstanden war, dazu benutzt, bayerisches Recht in Ungarn einzuführen. Dabei handelte es sich nicht mehr um die Lex Baioariorum im »klassischen« Sinne des Gesetzbuches, sondern um eine Rechtsmaterie, die seit langer Zeit fränkisch-königlichen Einflüssen ausgesetzt war. Vielleicht lässt sich mit dieser dynamischen Rechtsentwicklung die etwas verwirrende Bezeichnung der Rechte erklären, welche die Ungarn 1044 vom deutschen König erhielten. Die Gesetze Stephans können damit nicht gemeint sein, denn in diesen Texten verwoben sich westliche Rechtssätze älterer Zeitstufen54.

Die Anfänge der ungarischen Neuorientierung Als auslösender Faktor für die Orientierung Ungarns nach dem Westen gilt, wie schon erwähnt, die Schlacht am Lechfeld 955, an deren Ende die Tötung oder Ermordung der in Konstantinopel getauften ungarischen Heerführer stand55. Dies entspricht vor allem der Sichtweise der deutschen Forschung56. Damit begann ein Umbau der Grundlagen der ungarischen Gesellschaft, der aber 52 Annales Altahenses maiores (wie Anm. 21) 42 und Herimanni Augiensis Chronicon, in: Quellen des 9. und 11. Jahrhunderts zur Geschichte der hamburgischen Kirche und des Reiches, übertr. von Werner Trillmich (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 11, Darmstadt 72000) 678: Ungarios petentes lege Baioarica donavit.[…]. 53 Grundlegend dazu die Erörterung von Eckhard Müller-Mertens, Regnum Teutonicum. Aufkommen und Verbreitung der deutschen Reichs- und Königsauffassung im frühen Mittel­ alter, Wien, Köln, Graz 1970, und die bedeutsame Auseinandersetzung mit diesem Buch Helmut Beumann, Regnum Teutonicum und rex Teutonicorum in ottonischer und salischer Zeit. Bemerkungen zu einem Buch von Eckhard Müller-Mertens, in: Archiv für Kulturgeschichte 55 (1973) 213–223, hier 216 f. Vgl. auch Carlrichard Brühl, Deutschland – Frankreich. Die Geburt zweier Völker (Köln, Wien 1990) 205 ff. Zu teutonicus und theodiscus, 215 ff. 54 Vgl. dazu Näheres unten S. 140 ff. 55 Varga, Ungarn und das Reich (wie Anm. 16) 34 f. 56 Varga, Ungarn und das Reich (wie Anm. 16) 38 bes. Anm. 132.

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zunächst nicht dazu führte, dass die Streifzüge der Ungarn ein Ende fanden. In einer mit 5. Oktober 977, also schon zur Zeit des Babenbergers Leopolds I., datierten Urkunde schilderte Bischof Pilgrim von Passau Kaiser Otto II. eindringlich, welche Schäden die Passauer Besitzungen durch Slawen und andere Feinde, gemeint sind wohl Ungarn, in letzter Zeit erlitten hatten. Antistes Pilgrimus nostrae celsitudinis pietatem querulosa reclamatione adiit pro diocesis suae locis in perturbatione Bauuarorum regni, tam pernitiosa Scalauorum invasione quam aliorum inimicorum damnosa insectatione miserabiliter desolatis ……57 Die Streifzüge der Ungarn waren nach der Darstellung von Györffy eine Übergangsphase in den ersten Jahrzehnen nach der »Landnahme«. Diese Methode, durch Raub die nötigen materiellen Mittel für die ungarische Gesellschaft sicherzustellen, hielten auch die Chefs der ungarischen Sippen niemals für ausreichend. Trotz der oft gerühmten überreichen Fruchtbarkeit des Karpatenbeckens, dem neuen Wohnraum der Ungarn, bedurfte es erheblicher Anpassungen, um sich in den neuen Wohngebieten erfolgreich einzurichten. Von Anfang an waren deutliche Veränderungen gegenüber den halbnomadischen, wahrscheinlich sogar nomadischen Lebensformen in den früheren asiatischen/»südrussischen« Wohnstätten der Ungarn notwendig58. Die Beute der Streifzüge kam nur den Großen und denen zugute, die Györffy als kämpfenden Mittelstand bezeichnete59. Die Großen waren die Stammesfürsten, wohl auch ihre direkte Verwandtschaft, darunter die Söhne der Sippenoberhäupter60. Vor und nach der Schlacht bei Augsburg (Lechfeld) spielte aber das Verhältnis des im Zerfall befindlichen Stammesverbandes der Ungarn zum ost­ römischen Reich eine wichtige Rolle. An die Stelle des Stammesverbandes traten »Stammesstaaten«, die je nach ihrer geographischen Lage byzantinische oder lateinische Präferenzen hatten. Die Stellung der Würdenträger an ihrer Spitze ähnelt bereits jener von Königen. Vereinfacht dargestellt orientierte sich der Gyula des späteren Siebenbürgen an Byzanz, die Àrpáden hatten den Schwerpunkt ihrer Herrschaft im Westen, in Transdanubien, und der tragische Held vom Lechfeld Bulcsu hatte eine geographisch-politische Zwischenstellung. Die Wendung der Árpáden nach dem Westen erfolgte erst zur Zeit des Großfürsten Geza (970/72–997), der selbst noch mit Sarolt, der Tochter des 57 NÖUB 1 (wie Anm. 12) 133 ff. nr. 12d und 136 ff. nr. 12e, 134 ist die Rede von einer slawischen Invasion und vom Angriff anderer Feinde, die nur Ungarn sein können. 58 Zu den Theorien der Verfasstheit des ungarischen Stammesverbandes Kristó, Die Arpadendynastie (wie Anm. 18) 36; Varga, Ungarn und das Reich (wie Anm. 16) 36 f. 59 Györffy, König Stephan (wie Anm. 8) 37. 60 Györffy, König Stephan (wie Anm. 8) 34.

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erwähnten Gyula von Siebenbürgen und »griechischen Christin«, verheiratet war. Sein Vater Taksony, der noch aktive Politik im Osten betrieb, war wohl am Zustande­kommen dieser Ehe beteiligt. Györffy betonte das politische Gewicht dieser Eheschließung61. Zur Annäherung führender Ungarn an das Christentum kam es schon vor der Lechfeldschlacht. 948 ließ sich der Horka Bulcsu in Konstantinopel taufen. Bulcsu gehörte nicht zu jenen ungarischen Stammesverbänden, die im Osten des Karpatenbeckens lebten. Immerhin aber so weit im Süden (Mündung der Drau in die Donau), dass die Blickrichtung nach Byzanz sinnvoll schien. Sein Taufpate war der eben zur selbständigen Herrschaft gelangte Kaiser Konstantin VII. und Bulcsu erhielt den Titel eines Patricius62. Dies entsprach traditioneller römischer, in griechischer Amtssprache, romäischer (byzantinischer) Vorgangsweise gegenüber nicht-römischen Fürsten. Damit hatte man einen anerkannten Platz in der römischen Welt, der aber in keiner Verbindung zur byzantinischen Gesellschaft stand. Es wäre verlockend, die Zeremonie für Bulcsu und den Árpáden Tomás im Zusammenhang mit den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen in Byzanz seit 945 zu sehen, als Konstantin VII. nach Jahrzehnten der Zurücksetzung sich als Alleinherrscher durchgesetzt hatte63. Die getauften Ungarn hatten wohl nur wenig Kenntnis von der Machtverteilung im byzantinischen Adel und waren daher nicht in der Lage, diese für sich zu nutzen. Zwar entstanden in den folgenden Jahrzehnten unter dem Einfluss byzantinischer Geistlicher Ansätze einer griechischen Kirchenorganisation in Ungarn, doch blieb diese weit hinter den späteren lateinischen Einrichtungen zurück. Selbst die Erfolge des seit 952 in Ungarn wirkenden Bischofs Hierotheos dauerten nur wenige Jahrzehnte an64. Die Hinrichtung der ungarischen Feldherren in Regensburg 955 war eine Voraussetzung für die Befestigung der führenden Stellung eines Zweiges der Árpáden. Der Tod Bulcsus und des Árpáden Lél machte den Weg im Westen Ungarns frei für die Herrschaft Taksonys, des Großvaters König Stephans I. Der Einfluss der griechisch getauften Sippenoberhäupter schwächte sich damit ab. Sie waren für den byzantinischen Kaiser Konstantin VII. nicht mehr interessant und er stellte bald nach der Schlacht auf dem Lechfeld nach ungarnfeindlichen Informationen aus dem Umfeld Ottos I. jene Tributzahlungen ein, die einen wesentlichen Teil des griechisch-ungarischen Bündnisses ausgemacht hatten.65 61 Györffy, König Stephan (wie Anm. 8) 59. 62 Györffy, König Stephan (wie Anm. 8) 42 f.; Varga, Ungarn und das Reich (wie Anm. 16) 43. 63 Georg Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates (München 1965) 232 ff. 64 Györffy, König Stephan (wie Anm. 8) 43. 65 Hierzu Györffy, König Stephan (wie Anm. 8) 45.

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Für die Wendung nach dem Westen waren damit die Weichen gestellt. Die zunächst kirchlichen Beziehungen Gezas zur fränkisch-lateinischen Welt werden in einem Brief Ottos I. an den Bischof Pilgrim von Passau überliefert. Ein gewisser Bruno, dessen Identifizierung bisher nicht gelungen ist, sollte den ungarischen Herrscher mit der kaiserlichen Macht in Verbindung bringen. Der Brief ist in der Tegernseer Briefsammlung Froumunds überliefert und stammt aus Ottos Kaiserzeit, also den Jahren 972–973. Es lohnt sich, den brisanten Brief mit Blick auf das Thema »Benachbarte Kollektive« hier im Volltext anzuführen: Otto dei gratia imperator augustus. Biligrimo venerabili Bataviensis ecclesiae episcopo salutem et gratiam. Brunonem episcopum vestrae mittimus et committimus dilectioni, ut quibuscumque apud vos indiguerit utensilibus, habundantissime adiuvetur et tam vestris hominibus quam et caballis aliisque in itinere rebus necessariis, quanto proprius possit, Ungrorum confinio honorifice ac cautissime perducatur. Nobis enim illuc erit delegandus, quo rex eorundem nostro quam propere arbitrio sit colligandus. Vobis ergo magnopere sit studium hanc citissime fieri legationem, nam si, ut apud nos sedet, prosperabitur, vobis in hoc vestrisque omnibus admodum consuletur. Valete Die Versprechungen, dass Pilgrims Unterstützung für Bruno dem Bistum Passau zum Vorteil gereichen werde, sind im Rahmen von Pilgrims Bemühungen zu klären, Wolfgang, den späteren Bischof von Regensburg, an seiner Missionsarbeit in Ungarn zu hindern. Pilgrim strebte offenbar danach, den Passauer Einfluss in Pannonien über den am Ende der Karolingerzeit erreichten Umfang hinaus zu erweitern – ein Bemühen, das durch die wenig später beginnende Gründung ungarischer Bischofssitze zum Scheitern verurteilt war66. Im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung ist der Verlauf der lateinischen Christianisierung unter dem Aspekt von formalisierter Religions­ geschichte weniger bedeutungsvoll. Als Triebkraft eines kulturellen Wandels ist dieser Vorgang aber von erheblichem Einfluss auf die Entwicklung der benachbarten Gesellschaft. Die Beschäftigung mit einer gottgewollten Ordnung führte dazu, dass sich auch die Tore zum Rechtswesen der westlichen Nachbarn öffneten. Die für die weitere Entwicklung bedeutsame Gesetzgebung Stephans des Heiligen förderte im Detail die mental grundlegende und in den organisa66 MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 1: Conradi I., Heinrici I. et Ottonis I. diplomata, ed. von Theodor Sickel (Berlin 21997) 586 f. nr. 434; Varga, Ungarn und das Reich (wie Anm. 16) 48.

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torischen Details wichtige Rolle kirchlicher Einrichtungen, zugleich aber eine Ordnung des Besitzes und seiner Weitergabe an die nächste Generation nach westlichem Vorbild. Die genauere Betrachtung der Zeit von Gezas Herrschaft lässt erkennen, dass die Verhältnisse in Bayern an der Westgrenze des ungarischen Siedlungsraums eine Übernahme westlich-lateinischer Kirchenorganisation mit ihren Folgen hinsichtlich der Akkulturation an west­liches Recht notwendig machten.

Großfürst Geza und Herzog Heinrich der Zänker Großfürst Geza (970/72–997) gilt als jener ungarische Herrscher, der mit einem gewissen Erfolg Kontakte zum ottonischen Königshaus hergestellt hat. In seiner Jugend soll er recht kriegerisch gewesen sein. Der Kampf, den er im Bündnis mit dem Fürsten von Kiew Swjatoslav I. 970 gegen das griechische Kaiserreich führte und der mit einer Niederlage endete, förderte wohl seinen Entschluss, sich künftig aus den osteuropäischen Angelegenheiten herauszuhalten. Das gespannte Verhältnis zu Konstantinopel fand auch darin seinen Niederschlag, dass die Verbindungen zur griechischen Kirche, die seit der Entsendung des Mönchs Hierotheos 952 bestand, nicht weiter verfolgt wurden und auch byzantinische Theologen im Nachhinein feststellten, dass die Ungarn über keine Bücher in ungarischer Sprache verfügten, was den Misserfolg erklären sollte67. Die griechischen Geistlichen machten aber für die Entwicklung auch den Krieg von 970 verantwortlich. Die lateinische Mission konnte offenbar mit dem Manko der fehlenden Bücher besser umgehen. An sich ist die Argumentation wenig schlüssig, denn zuletzt erklärten die Griechen, ihre Untätigkeit sei schuld daran, dass die Lateiner die Ungarn mit ihren Büchern und Schriften zu ihrem gottlosen Glauben bekehrten. An der abschließenden Bemerkung ist zu erkennen, wie wenig treffend die zeitgenössische Wortwahl hinsichtlich Gottlosigkeit und Heidentum war. Im Gestrüpp alltäglicher Streitigkeiten hatten die Diskutanten wenig mehr als eifernde Ignoranz zu bieten. Vor diesem Hintergrund erst ist die sinnvolle Frage zu stellen, was Geza veranlasste, sich etwa 972 an den ottonischen Kaiserhof zu wenden und um einen Missionsbischof zu bitten68.

67 Györffy, König Stephan (wie Anm. 8) 62. 68 Varga, Ungarn und das Reich (wie Anm. 16) 47 f.

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An diese Bitte schloss sich zu Ostern 973 eine ungarische Gesandtschaft von zwölf ungarischen Fürsten (12 primates Ungarorum) an. Der konkrete Gesandtenbericht des Niederaltaicher Annalisten geht über seine Vorlagen (verlorene Hersfelder und Hildesheimer Annalen) hinaus. Dort berichtete man nur über Gesandtschaften, unter denen sich auch Ungarn befanden. Warum die Ungarn nach Quedlinburg gekommen waren, wusste man in Niederaltaich nicht. Ebenso blieb der Zweck des Besuches der Griechen und der beiden Bulgaren beim Kaiser unklar. Die Beneventaner brachten damals Geschenke, die Gesandten Harald Blauzahns aus Dänemark unterwarfen ihr ganzes Land der Herrschaft Otto des Großen durch den festgesetzten Tribut69. Das »Gesichtsbad« der Gesandten Gezas in Quedlinburg war wohl eine Reaktion auf eine nicht gerade ungarnfreundliche Betriebsamkeit Heinrichs des Zänkers. Ob damals auch über den »Frieden« an der ungarischen Grenze verhandelt wurde, ist nicht eindeutig nachzuweisen. Wer störte den Frieden mit den Ungarn, über den alle wichtigen Kommentatoren der Zeit berichten? In Bayern hatte kürzlich Herzog Heinrich II., der sogenannte Zänker, seine eigenständige Herrschaft angetreten und sofort Maßnahmen gesetzt, die in Ungarn Sorge auslösten70. Er richtete nämlich, wie am Beginn der vorliegenden Untersuchung erwähnt wurde, Grenzgrafschaften im Südosten Bayerns gegen die Ungarn ein. Eine Gesandtschaft an den ottonischen Hof zu schicken, war vielleicht der richtige Weg für Geza, um dieser Gefahr zu begegnen. Die Bemühungen verliefen zunächst im Sande – Otto der Große starb am 7. Mai 973, also kurz nach dem Besuch der ungarischen Gesandten. Die bayerische Gefahr für Ungarn verringerte sich, als Otto II. (973–983) mit Heinrich dem Zänker schon bald nach dem Antritt seiner Alleinherrschaft auch wegen der Besetzung des Augsburger Bischofssitzes »zusammenkrachte«, ihn 974 inhaftierte und 976 durch den Schwabenherzog

69 Annales Altahenses maiores (wie Anm. 21) 11 zum Jahr 973: Illuc (Quedlinburg) venere legati Graecorum, Beneventorum cum muneribus, 12 primates Ungarorum, Bulgariorum duo; etiam legati ducis (sic!) Haroldi, quem putabant resistere imperatori, omnia sua deditioni Otonis subiiciunt cum statuo vectigali. Regesta imperii II/1. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Herrschern des sächsischen Hauses 919–1024, bearb. von Emil von Ottenthal (Innsbruck 1893) 247 nr. 562d, Rudolf Köpke, Ernst Dümmler, Kaiser Otto der Große (Jahrbücher der Deutschen Geschichte, Leipzig 1876) 505. 70 Zur friedlichen Entwicklung unter Geza und mancher Beunruhigung Varga, Die Ungarn und das Reich (wie Anm. 16) 46 f.; Bayern vom Zeitalter der Karolinger bis zum Ende der Welfenherrschaft (788–1180) I. Kurt Reindel, Die politische Entwicklung, in: Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 1, hg. von Max Spindler, (München 21981) 249–349 hier 295 f.

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Otto ersetzte71. Das Ergebnis schien für Ungarn günstig: Der seit 976 neue Nachbar in der Mark, der Babenberger Leopold I., gehörte zu einer Gruppe ottonischer Parteigänger; der bayerische Zweig der sächsischen Königsdynastie saß fortan für einige Jahre nicht an den Hebeln der Macht. Nachdem Heinrich der Zänker 985 die Herrschaft in Bayern wieder übernommen hatte, setzte er im Rahmen der Entwicklung einer bayerischen Großmacht auch seine frühere aggressive Strategie gegen Ungarn fort. 991 gelang ein in den Annalen von Garsten und Salzburg kurz aber begeistert erwähnter Sieg über die Ungarn: Heinricus dux de Ungaris triumphavit72. Geza musste daher danach trachten, im Westen zu einer friedlichen Regelung zu kommen. Als der Zänker 995 starb, stand sein Sohn, der bayerische Herzog Heinrich IV., der spätere König Heinrich II., für Verhandlungen zur Verfügung: Heinrichs Schwester Gisela heiratete 996/97 Gezas Sohn Stephan, den künftigen König von Ungarn73. Der Niederaltaicher Gewährsmann verschweigt dieses Ereignis. Bald nach seinem Herrschaftsantritt von 1002 übergab der nunmehrige König Heinrich II. eine Landschenkung an den Babenberger Markgrafen Heinrich I. zwischen der Dürren Liesing und der Triesting, die als beginnende Organisation des Aufmarschraums im Wiener Becken betrachtet werden kann74. Es ist bemerkenswert, dass nach der Eheschließung Giselas mit Stephan, die als wichtige, friedenstiftende Verbindung zwischen Bayern und Ungarn gilt, der Grenzraum nicht zur Ruhe kam. Otto von Freising hat aus der Perspektive des 12. Jahrhunderts die Lechfeldschlacht für die Ursache einer strategisch ungünstigen Lage der Ungarn gehalten. Denn er berichtet in seiner Chronik, dass die 71 Gerhardi Vita S. Oudalrici episcopi, ed. Georg Waitz (MGH SS 4, Hannover 1841, Nachdruck Stuttgart 1981) cap. 28, 415. Vgl. dazu Adelheid Krah, Absetzungsverfahren als Spiegelbild von Königsmacht. Untersuchungen zum Kräfteverhältnis zwischen Königtum und Adel im Karolingerreich und seinen Nachfolgestaaten (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 26, Aalen 1987) 306–310. 72 Mathilde Uhlirz, Regesta imperii II, 3: Sächsisches Haus Otto III. (Wien, Köln, Graz 1956) nr. 1027a. Zum damaligen Machtbereich des Herzogtums Bayern: Der Zänker übernahm wieder die Herrschaft in Kärnten und erreichte den Höhepunkt herzoglicher Macht 995 mit den Ranshofener Beschlüssen. Vgl. Stefan Weinfurter, Die Zentralisierung der Herrschaftsgewalt im Reich durch Kaiser Heinrich II., in: Historisches Jahrbuch 106 (1986) 241–297, hier 253–258. 73 Egon Boshof, Gisela – eine bayerische Prinzessin auf dem ungarischen Königsthron, in: Passauer Jahrbuch 52 (2010) 91–103, hier 95 ohne Bezug auf die offenbar unbekannten politischen Hintergründe. 74 MGH Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser 3. Die Urkunden Heinrichs II. und Arduins, hg. von Harry Bresslau (Hannover 1900–1903) nr. 22, 25, sowie NÖUB 1 (wie Anm. 12) 253 f. nr. 21; Erwin Kupfer, Frühe Königsschenkungen im babenbergischen Osten und ihre siedlungsgeschichtliche Bedeutung, in: Unsere Heimat 66 (1995) 68–81, hier 70 f.

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Ungarn nach der Niederlage nicht nur ihre Streifzüge im Reich einstellten, »sondern auch in ihrer Verzweiflung das eigene Land durch Wälle und Palisaden in sumpfigen Gegenden vor unseren Heeren zu schützen suchten«75. Die verwundbare Stelle im Westen entstand wohl erst durch die vorwärts gerichtete Politik Heinrichs des Zänkers mit Gründung der Grenzgrafschaften und der Unterstützung der geistlichen Siedlungsorganisation. Es ist wahrscheinlich, dass diese Situation, d. h. auch die Furcht der Ungarn die weitgehende und intensive Kontaktaufnahme mit den Bayern förderte. Herzog Heinrich IV. überließ vermutlich die Sorge um den Grenzraum gegen Ungarn dem seit 994 »amtierenden« neuen Markgrafen Heinrich I. Hinweise auf eine solche Vorgangsweise wegen häufiger Absenz könnte das Itinerar des bayerischen Herzogs geben, der sich meist in der Umgebung Ottos III. in Italien befand76. Jedenfalls verdichteten sich die Kontakte der ungarischen Führungsschicht im Umfeld Gezas und seines Sohnes Stephan zum Westen. Missionare und die ersten bayerischen Adeligen wanderten in Ungarn ein und wurden von den Árpáden gefördert77. Man nimmt an, dass die ältesten bayerischen Familien mit Gisela nach Ungarn kamen. Die Gründungsurkunde von Martinsberg aus dem Jahre 1002 enthält einige Namen der Zuwanderer78. Damit öffnete sich Ungarn nicht nur gegenüber bayerisch-ottonischen Sitten und Kampfgewohnheiten (die vorläufig nur für die engste Umgebung des Großfürsten/Königs galten), sondern auch den Einflüssen des westlichen Rechts. Nach einer sagenhaften Überlieferung vollzogen zwei schwäbische Anführer der Leibgarde Stephans namens Hunt und Pazman an ihm die Schwertleite und das gegen den aufständischen Koppány aufgestellte Heer unterstand angeblich dem schwäbischen hospes Wenzellin von Wasserburg oder Weissenburg79. Die Verbreitung des Wissens über die lateinische Kirchenorganisation unter den ungarischen Sippenoberhäup75 Ottonis episcopi Frisingensis chronica sive Historia de duabus civitatibus, hg. von Adolf Hofmeister (Scriptores rerum Germ. in usum scholarum 45, Hannover, Leipzig 1912) lib.VI cap.20, 281: ut exhinc gens omnium inmanissima non solum regnum invadere non auderet, sed et suum desperatione correpta vallibus et sudibus in locis palustribus contra nostros munire cogitaret. 76 Stefan Weinfurter, Heinrich II. (1002–1024). Herrscher am Ende der Zeiten (Regensburg 1999) 36. 77 Varga, Ungarn und das Reich (wie Anm. 16) 47 ff. 78 Siehe dazu im Kapitel zur Gründung von Martinsberg. 79 Simonis de Keza Gesta Hungarorum, ed. von Alexander Domanovsky (Scriptores rerum Hungaricum I) 188 f.; Konrad Schünemann, Die Deutschen in Ungarn bis zum 12. Jahrhundert (Ungarische Bibliothek 1. Reihe 8, Berlin, Leipzig 1923) 41 und 56; Györffy, König Stephan (wie Anm. 8) 99 f. Zu den Einflüssen des westlichen Rechts vgl. dazu ab S. 140.

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tern und ihr Wirken in der Gesellschaft mit ihren Themen der Unterstützung der Armen und der Bemühungen um Frieden an den verschiedensten Fronten, hatte ein großes Potential, um weitere Veränderungen im Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte in Ungarn zu bewirken. Bedeutungsvoll war es, dass der Großfürst/König selbst unter Einsatz aller Macht diesen Prozess vorantrieb und dabei auch brutales, einschüchterndes Vorgehen nicht scheute. So wurden Verstöße gegen die Sonntagsruhe oder die Missachtung von Fasttagen mit der Konfiskation von Ochsen und im Wiederholungsfall mit körperlichen Strafen geahndet80. Die Einhaltung christlicher Lebensweise wurde durch die Bischöfe nach dem kanonischen Recht überwacht, bei mehrfacher Vernachlässigung christlicher Pflichten wurde der Täter dem König überantwortet81. Auch Árpáden, die in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts herrschten und die, wie Andreas I. (1046–1060) reaktionären Kräften ihren Aufstieg verdankten, blieben der Politik einer Zusammenarbeit mit den Bischöfen verpflichtet82. Die namentlich in der zusammenfassenden Literatur oft undifferenziert geschilderte »heidnische« Reaktion wurde von kirchenfeindlichen Kräften recht erfolglos vertreten83. Hinter diesen oft mit Gewalt und Zwang verbundenen Vorgängen wird eine weitere Notwendigkeit zur Veränderung sichtbar: nämlich die Sicherung der neu errungenen árpádischen Macht gegenüber den konkurrierenden Stammesoberhäuptern und ihren Sippen. In der eigenen Sippe der Árpáden fand Stephans Auseinandersetzung mit Koppány statt, politisch-topographisch weit gespannt waren seine Kämpfe mit Ajtony, dem Herrscher im ungarischen Osten84. In diesen Kämpfen und den darauf folgenden Maßnahmen ging es um die Stärkung Macht des »Königssystems« gegenüber der älteren gentilen Ordnung, deren Verfall allerdings schon früher eingesetzt hatte. Auf ungarischer bzw. bayerisch-ottonischer Seite standen sich Systeme gegenüber, die eine unterschiedliche Verteilung und Kontrolle der materiellen Güter 80 The laws of the medieval kingdom of Hungary vol. I 1000–1301, ed. by János M. Bak, György Bónist, James Ross Sweeney (Bakersfield 1989) 3, Absätze VIII und IX. 81 The laws (wie Anm. 80) 4, Absatz 13, 81 f., Kommentar in den Anm. 19 und 20. Zur Entwicklung des kanonischen Rechts in Ungarn Gyula Bonis, Entwicklung der geistlichen Gerichtsbarkeit in Ungarn vor 1526, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte Kan. Abt. 49 (1963) 174–235, hier 181. 82 Zusammenfassend zu den vielschichtigen Ereignissen Varga, Ungarn und das Reich (wie Anm. 16) 114 f. 83 Der Aufstand des Vata zugleich mit der Rückkehr des Andreas war sicher von heidnischen Elementen getragen, doch der Entschluss für die Rückholung des Andreas und seiner Brüder im Jahre 1046 erfolgte unter entscheidendem Einfluss der Bischöfe. Vgl. Kristó, Die Arpadendynastie (wie Anm. 18) 87 f., vgl. auch Varga wie bei Anm. 82. 84 Györffy, König Stephan (wie Anm. 8) 99 ff. (Koppány) und 117 ff. (Ajtony).

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vorsahen. Offensichtlich reichte dieses System nicht mehr aus, um sich gegen ein übermächtiges Gegenüber zu behaupten, das durch Legenden und reale Erfahrungen mit Misstrauen gegen den jüngsten Nachbarn im Osten aufgeladen war. Um für die freien Ungarn und die ihnen gleichgestellten Gruppen und vor allem für ihren König die Aneignung und langfristige Nutzung materieller Güter sicherzustellen, bedurfte es eines neuen Konsens hinsichtlich geistig-­ kultureller Werte: dabei handelte es sich um christliche Grundlagen westlichlatei­nischer Tradition.

Wandel der Rechtsordnung und der sozialen Grundlagen Die Veränderungen in der ungarischen Gesellschaft, die erstmals in den vierziger Jahren des 10. Jahrhunderts greifbar werden, können an der teilweise schon um das Jahr 1000 auf Anregung König Stephans des Heiligen schriftlich festgehaltenen Rechtsordnung inhaltlich untersucht werden85. Als ein zentrales Thema erweist sich bei einer Analyse dieses Umbruchs das Besitz- und das damit verbundene Erbrecht. In diesem Sinne setzt das vom Beginn der Herrschaft Stephans I. stammende erste Gesetzbuch einen unübersehbaren Schwerpunkt, denn die ersten beiden Bestimmungen widmen sich dieser grundlegenden Frage, deren Bedeutung an den Kämpfen in der ungarischen Führungsschicht zu erkennen ist86. Es handelt sich dabei um die Absätze sechs und sieben des Textes. In den ersten fünf Abätzen wurden kirchliche Betreffe und damit Grundlegendes festgehalten: die ersten beiden Absätze streichen die fundamentale Bedeutung der Kirche für die gesellschaftliche Ordnung heraus. Die folgenden beiden Absätze beschäftigen sich mit den Fragen, ob ein Laie vor Gericht bezüglich eines Geistlichen aussagen durfte und über welche Voraussetzungen er für die Zulassung zum Gericht verfügen musste. Im fünften Absatz wird auf die Mehrbelastung der Priester hingewiesen, da sie nicht nur ihre eigenen Bürden zu tragen hätten, sondern auch jene der ihnen anvertrauten Menschen. In der ersten Bestimmung geht es um einen umfassenden Schutz des Kirchengebäudes und den Kirchenbesitz; die Behandlung dieser Themen fußte auf der Überzeugung, dass der Gott übergebene Besitz geheiligt sei. Ausgangs85 Zur Datierung Györffy, König Stephan (wie Anm. 8) 160 f. Die Gesetze wurden bald nach Stephans Krönung offenbar in Zusammenarbeit mit Bischöfen und weltlichen Adeligen beschlossen. Dazu kamen spätere Entscheidungen, die sich im Zweiten Gesetzesbuch befinden. 86 Zum Aussterben von Familienzweigen Martyn Rady, Nobility, Land and Service in Medieval Hungary (Studies in Russia and East Europe, London 2000) 24 f.

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punkt für entsprechende Überlegungen und Anordnungen war die Heiligung des Kirchengebäudes. Dies bedeutete, dass eine Reihe weltlicher Handlungen in Kirchen nicht vollzogen oder ausgeübt werden durften. Grundlage dafür war wohl die bekannte Feststellung im Lukas-Evangelium: Das Haus Gottes ist keine Räuberhöhle (Lk. 19, 45–46). Spätantike Überlegungen und Gesetze wurden in der Kapitulariengesetzgebung aktualisiert. Fortsetzung fand dies beispielsweise in den Kanones der Mainzer Konzile von 813 und 84787. Die ersten fünf Absätze der ungarischen Gesetze wurden ebenso wie Teile der Einleitung angeblich erst nach dem Tod Stephans hinzugefügt. Der als Referenz dafür angeführte Rechtshistoriker Felix Schiller schweigt über dieses Problem und sein jüngerer Kollege Jakob von Sawicki bietet eine viel präzisere Antwort88. Er verlegt die Neuredaktion der Gesetze Stephans in die Zeit nach den Thronkämpfen, die von etwa 1040 bis 1046 wüteten. Die einschlägige Verordnung König Andreas I. aus der Zeit 1046/47 wurde bereits erwähnt, dass nämlich die Ungarn nach den Gesetzen Stephans leben sollten89. Der als Einleitung den Gesetzen vorangestellte Hinweis, dass der König dem katholischen Glauben verpflichtet sei90 und die Beschäftigung mit der Stellung der Geistlichen so wie ihren Rechten und Aufgaben stellt eine systematische Grundlegung der folgenden Verfügungen über den Kirchenbesitz und die Geistlichkeit dar. Das deutliche Bekenntnis zu den spirituellen Grundlagen der königlichen Herrschaft war kein »dekorativer Aufputz, der gänzlich hätte fortfallen können«, wie es Schiller formulierte und Sawicki für richtig hielt91; im Gegenteil: die temporale Rechtsordnung gewann erst durch ihre Verbindung mit der spirituellen Welt ihre Überzeugungskraft für die verstehenden und betroffenen Zeitgenossen. Zum besonderen Schutz des Kirchengutes gehörte die Erteilung der könig­ lichen Immunität, die sich in einer raschen Entwicklung als ein wichtiges Ele87 Die gesamte Entwicklung Miriam Czock, Gottes Haus. Untersuchungen zur Kirche als heiligem Raum von der Spätantike bis zum Frühmittelalter (Berlin 2012) zur Entwicklung nach Karl dem Großen 234 f., zum Verbot, bestimmte weltliche Handlungen vorzunehmen 174 ff. 88 The laws vol. I (wie Anm. 80) 80 mit Anm. 1; Felix Schiller, Das erste ungarische Gesetzbuch und das deutsche Recht, in: Festschrift Heinrich Brunner zum siebzigsten Geburtstag (Weimar 1910) 379–404, hier 389–391. Eine Nachsuche zum Thema bleibt ergebnislos. ­Sawicki, Zur Textkritik (wie Anm. 50) 407 f. ist ein falsches Zitat. Das Thema wird tatsächlich 422 f. behandelt. 89 Vgl. oben bei S. 130. 90 The laws vol. I (wie Anm. 80) 1: Regnante divina clementia opus regalis dignitatis alimonia katholice fidei effectum amplius ac solidius alterius dignitatis operibus solet esse. 91 Schiller, Das erste ungarische Gesetzbuch (wie Anm. 88) 403; Sawicki, Zur Textkritik (wie Anm. 50) 409.

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ment der herrschaftlichen Organisation des Landbesitzes erweisen sollte92. Durch das den Grafen auferlegte Verbot, ihre Rechte innerhalb der mit Immunität ausgestatteten Grundherrschaft auszuüben, wurde die Ausbildung einer eigenen Gerichts- und Herrschaftstätigkeit gegenüber den dort lebenden Untertanen notwendig. Im zweiten Gesetzbuch Stephans wurde dementsprechend sogar für den säkularen Besitz festgehalten, dass die Söhne mit dem Erbe des verstorbenen Vaters auch das dominium, die Herrschaftsrechte, übernehmen sollten93. Man gewinnt fast den Eindruck, dass mit dieser Bestimmung schon auf die Immunität einer Grundherrschaft angespielt wird. Rady sieht in der Gewährung der Immunität in der Zeit Stephans nicht das klassische Verbot, derartig privilegierte Besitzungen zu betreten (Introitusverbot) und Amtshandlungen vorzunehmen (Exaktioverbot). Er meint, es ginge lediglich um einen Schutz vor gistum und servitium, also vor dem Zwang, Reisende in königlichem Dienst einquartieren zu müssen94. Diese Auffassung erscheint etwas problematisch. Das Thema des Schutzes der Kirchengüter selbst und die daraus zu folgernden Konsequenzen, dass nämlich der kirchliche Besitz weitaus sorgfältiger zu behandeln wäre als jener der Sterblichen ist die wortwörtliche Übernahme des Canon 6 der Mainzer Synode von 84795. Zur bereits erörterten Datierung des entsprechenden ungarischen Abschnitts ist aus dieser Herleitung ein weiterer Schluss zu ziehen: Bezüglich der Mainzer Synode meint Wilfried Hartmann, dass damals versucht wurde, die nach den Bruderkämpfen ins Stocken gekommene Kirchenreform der Zeit um 813 wieder in Gang zu bringen96. Wagt man unter dieser Voraussetzung einen Analogieschluss, könnte die Übernahme der Mainzer Bestimmungen nach den Bruderkämpfen zwischen Andreas I. und Bela I., bald nach 1060 erfolgt sein97. Der Rückgriff auf die Gesetze Stephans seit Andreas I. reichte anscheinend nicht aus, um die schwierigen Verhältnisse nach den Kämpfen der vierziger und fünfziger Jahre des 11. Jahrhunderts rechtlich in Griff zu bekommen. Die rigorosen Strafen, die in den Gesetzen des Ladislaus 92 The laws vol. I (wie Anm. 80) 2 im Absatz 2. Um die Güter der Kirche zu schützen, traf der König folgende Maßnahme: Nichilominus tamen rex sue concessionis immunitatem ab omnibus ditionis sue illesam conservari precipiat. 93 The laws vol. I (wie Anm. 80) 9 Absatz 2: … ac post eius (i. e. patris) vitam filii simili dominio succedant. 94 Rady, Nobility (wie Anm. 86) 55 f. 95 Die Texte gegenübergestellt hat Schiller, Das erste ungarische Gesetzbuch (wie Anm. 88) 386 f. 96 Die Konzilien der karolingischen Teilreiche, hg. von Wilfried Hartmann (MGH Concilia III, Hannover 1984) 150. 97 Varga, Ungarn und das Reich (wie Anm. 16) 126 f.

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gegen eine große Zahl von Besitzdelikten verfügt wurden, zeigen dies ebenso wie Bestimmungen, die sich ausführlich mit Geschäften und Kaufleuten befassen98. In der erwähnten Vorrede zu den Gesetzen wies der ungarische König darauf hin, dass seine Herrschaft auf die Barmherzigkeit Gottes gegründet sei und er seine Aufgaben am besten im Geiste des katholischen Glaubens erfüllen könnte. So wie alle anderen Völker sollten auch die Ungarn, um ihr Leben in Ehre und unverletzt zu führen, ein eigenes Gesetz bekommen. Damit ahmte Stephan vergangene und gegenwärtige Kaiser nach. Neben dem göttlichen Recht, das die Menschen bereicherte, bekannte sich der König auch zu einem temporalen Recht, das die Schlechten bestrafte99. Die eigentliche Sammlung von Gesetzen beginnt nach den Bestimmungen über den Klerus bezeichnenderweise mit den Verfügungen bezüglich der Vererbung von Gütern. Im ersten Gesetz verfügte der König dazu folgendes: Jedermann durfte die ihm als Besitz gehörenden Güter teilen und seiner Frau, seinen Kindern, Verwandten oder der Kirche zuweisen. Niemand sollte es wagen, nach dem Tod des Erblassers daran Änderungen vorzunehmen100. Die Herausgeber der jüngsten Edition kommentierten, dass der König damit das nicht teilbare Besitzrecht der Sippe zugunsten eines persönlichen Besitzrechtes der Freien und Adeligen umwandeln wollte. Der Erfolg dieses Versuches wird im weiteren Kommentar bezweifelt, da das Erbrecht auch weiterhin auf die Sippen beschränkt blieb101. Diese Bemerkung ist sicherlich ein berechtigter kritischer Ansatz, die Durchschlagskraft der Verfügungen Stephans in Zweifel zu ziehen. Die Beurteilung dieser Bestimmung ist allerdings ein komplex gelagertes Problem. Gyula Szekfü sah diese Entwicklung bereits 1912 ambivalent: neben dem von Stephan dem Heiligen eingeführten Privateigentum (so die wohl etwas anachronistische deutsche Übersetzung) »blieb aus der Stammesorgani 98 The laws vol. I (wie Anm. 80) Lib. III 19 f. Absätze 4–10 beschäftigen sich mit Diebstählen. Bestimmungen über Viehverkauf Lib. II, 15, Absätze 15 und 16 über den Handel mit Pferden und Rindern.  99 The laws vol. I (wie Anm. 80) 1, Vorrede: Regnante divina clementia opus regalis dignitatis alimonia katholice fidei effectum amplius ac solidus alterius dignitatis operibus solet esse. Et quoniam unaqueque gens propriis utitur legibus, idcirco nos quoque dei nutu nostram gubernantes monarchiam, antiquos ac modernos imitantes augustos, decretali meditatione nostre statuimus genti […]. 100 The laws vol. I (wie Anm. 80), 3 Absatz VI: De concessione regali propriarum rerum. Decrevimus nostra regali potentia, ut unusquisque habeat facultatem sua dividendi, tribuendi uxori, filiis, filiabus atque parentibus sive ecclesie, nec post eius obitum quis hoc destruere audeat. 101 The laws vol. I (wie Anm. 80) 81, Anm. 9; vgl. Erik Fügedi, Das mittelalterliche Königreich Ungarn als Gastland, in: Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte, hg. von Walter Schlesinger (VuF 18, Sigmaringen 1975) 471–507, hier 482.

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sation auch eine gewisse Herrschaft der Blutsbande und damit die große Rolle der Feldgemeinschaft erhalten«102. Der Wortlaut dieser Regelung wirft ein Schlaglicht auf die bisher vorherrschenden Verhältnisse. Offenbar im Gegensatz zu diesen durfte ab nun jeder »das Seine«, also seinen Besitz teilen. Die Teilung geschah wohl zu dem Zweck, verschiedenen Verwandten und/oder einer kirchliche Institution Güter zuzuweisen. Unteilbar war nicht nur der Besitz der Sippe gewesen, sondern wohl auch jener des einzelnen Familienoberhauptes, das bisher nur den gesamten Besitz an seinen Nachfolger weitergeben durfte. Auf diese Weise behauptete sich das unteilbare Besitzrecht der Sippe. Diese Art der Weitergabe von Weiden, Vieh, Äckern und wohl auch der Winterquartiere sicherte den materiellen Bestand eines Familienverbandes. Warum gab König Stephan dieses an sich recht sinnvolle Recht der am Kollektiv orientierten Weitergabe von Besitz auf? Eine der möglichen Antworten wäre, dass der König sich gegen die Sippenoberhäupter durchsetzen musste, indem er sie mit kriegerischen Mitteln bekämpfte und nach einem militärischen Erfolg ihre Besitzungen übernahm. Damit rückt bei der Suche nach Erklärungen der Schwerpunkt der Betrachtung auf die »politische« Ebene. Offenbar ging es um eine Machtverschiebung zugunsten von Trägern der neuen Ordnung, die eng mit der Kirche zusammenarbeiten sollten und damit auch Teil des umfassenden königlichen Herrschaftskonzepts wurden. Die Erbregelung stärkte die wirtschaftliche Kraft der einzelnen Familienmitglieder. Die Möglichkeit des Besitzers von Land an kirchliche Einrichtungen zu schenken, lag auch im Interesse des Königs, da er mit dieser Bestimmung einen Strom an Reichtum in Richtung der Kirchen in Gang setzte. Die Geistlichkeit wurde durch den Besitz von Land und den hier arbeitenden Untertanen zu einem Machtfaktor, der für den König eintrat. Die Zurückdrängung der Bedeutung des Sippeneigentums zeigt sich daran, dass Güter ohne Erben aus der Familie an den König fielen. Neben anderen Vorteilen schränkte die neue Ordnung auch die Zahl der erbberechtigten Personen ein. Damit dehnte sich das kultivierte Land weiter aus und dem König standen für die Versorgung der strategisch wichtigen Burgbesatzungen genügend Mittel zur Verfügung103. Bei der weiteren Verfügung über diese Güter spielten daher Schenkungen an Bischöfe und allmählich auch an Äbte eine wichtige Rolle. 102 Zitiert nach György Györffy, Wirtschaft und Gesellschaft der Ungarn um die Jahrtausendwende (Wien, Köln, Graz 1983) 237. 103 Dieses seit Jahrzehnten behandelte Thema jüngst in umfassender Sicht mit Blick auf die Entstehung der königlichen Gewalt dargestellt von Rady, Nobility (wie Anm. 86) 25 f.

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Angesehene Kämpfer, meistens aus Familien, die zwar Sippen- oder sogar Stammesoberhäupter gestellt hatten, trotzdem aber den jungen König unterstützten, wurden wohl in einzelnen Fällen als Gespane-Grafen eingesetzt und trugen damit eine Herrschaftsorganisation, die zumindest bei oberflächlicher Betrachtung der fränkischen zu gleichen begann104. Daraus resultierende Unruhen, die um die Ausübung der Herrschaft in der ungarischen Gesellschaft besonders nach dem Tod Stephans 1038 entstanden, gab es latent wohl schon vorher. Auch fränkische Grafen strebten als Angehörige der Aristokratie erfolgreich nach einem Ausbau ihrer Macht und wendeten dabei durchaus die ihnen zur Verfügung stehenden Machtmittel, d. h. auch ihre »Amtsrechte«, an. Es gab eine größere Zahl ungarischer Gespane, die ihre Funktion wohl dazu verwendeten, weiterhin in der Art eines traditionellen Sippenoberhauptes zu herrschen. Es sind wohl zum Teil diese Leute gemeint, bezüglich derer Stephan abschließend anordnete, dass niemand wagen sollte, derartige letzte Verfügungen aufzuheben105. Ob bei dieser, über die Besitzverhältnisse gesteuerten Neuordnung auch der Übergang von der Weidewirtschaft (Herdenbesitz) zum Ackerbau (Landbesitz) eine Rolle spielte, ist nicht mit Sicherheit zu beantworten106. Jedenfalls sollte man diesen Aspekt nicht aus den Augen verlieren.

Die Frage der Vorbilder von Stephans Gesetzgebung Neben der Frage, welche Auswirkung die Erlaubnis zur Teilung, Vererbung und Schenkung von Gütern hatte, steht die Forschung seit fast 200 Jahren vor der Frage, welchem Vorbild König Stephan und seine überwiegend geistlichen Berater aus dem Westen bei der Formulierung dieses und der anderen Gesetze folgten. Levente Závodszky wies in seiner Ausgabe der Gesetze König Stephans die einzelnen Bestimmungen in sehr konkreter Weise bestimmten Rechts- und Gesetzessammlungen zu. Dabei ging es um eine entsprechende Behandlung der einzelnen Rechtsprobleme und nicht um eine wortwörtliche Zitation. Das Erbund Teilungsgesetz sah er im »Capitulare legibus additum« Karls des Großen 104 Györffy, König Stephan (wie Anm. 8) 133 über die Einsetzung von Grafen. Er übersah aber die Möglichkeit, dass Sippenoberhäupter in der neuen Ordnung eine Funktion übernehmen konnten. Die Karriere des Palatin und späteren Königs Aba ist ein Extremfall, der trotzdem zu dieser Entwicklung passt. 105 The laws vol. I (wie Anm. 80) 3, Absatz 6 endet mit der Verfügung: nec post eius obitum quis hoc destruere audeat. 106 Sutt, Slavery (wie Anm. 7) 40.

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aus dem Jahr 803 vorgeformt107. Bei dem Text geht es um die Regelung verschiedener Rechtsschritte bei der Ausführung einer Schenkung. 818 oder 819 entstanden unter Ludwig dem Frommen die wesentlich ausführlicheren »Capitula legibus addenda«, deren Abschnitt sechs wieder von Schenkungen handelt. Hier heißt es, dass jeder freie Mann für sein Seelenheil schenken durfte. Wenn er eine Schenkung an verehrungswürdige Orte, Verwandte oder andere Personen machen wollte, und er hielt sich gerade in der Grafschaft auf, in der die Güter lagen, sollte er danach trachten, eine dem Recht entsprechende traditio durchzuführen108. In Ungarn ging es gar nicht um die Art und Gelegenheit der Übergabe, sondern um Grundsätzliches, nämlich das auch im Kapitular genannte Recht, Schenkungen zu machen. Nicht zu klären ist eine angebliche Übereinstimmung der diskutierten Verfügung Stephans mit einem westgotisch-asturischen Gesetz. Bereits 1836 veröffentlichte Bernhard Guttenstein eine Geschichte Spaniens, in der er auch auf die Rolle Asturiens zu sprechen kam. Hier findet sich die deutsche Übersetzung eines von Alfons I. von Asturien (739–757) bestätigten Gesetzes, in dessen Vorrede es heißt, dass es sich an die freien Goten in Asturien, Galicien und Bardulien richtete. Guttenstein schloss daraus, dass es sich um westgotisches Recht handeln müsse109. Trotz dieser Schlussfolgerung war es nicht möglich, den zugrundeliegenden lateinischen Text aufzufinden, den der Autor nicht zitiert. Die Übersetzung, welche die Erbverfügungen betrifft, entspricht genau dem lateinischen Wortlaut im Gesetz König Stephans und beides beruht natürlich auf dem römischen Recht der freien Verfügbarkeit über Besitz. Ein Punkt fehlt hier aber, nämlich die Berechtigung, den Besitz zu teilen. Neben Erklärungen dieser Abweichung, die mit den westgotisch-spanischen, auf dem Codex Theodosianus beruhenden Verhältnissen zu begründen sind, stellt in Ungarn die Erlaubnis zur Teilung die Grundlage für die dann folgenden »Testier­freiheiten« dar. 107 Levente Zàvodsky, A szent István, szent László és Kálmán korabeli törvények és zsinati határozatok forrásai (Budapest 1904) 20 führt den Text auf das Kapitular Karls des Großen Ca­ pitulare legibus additum, cap. 6 zurück. Capitularia regum Francorum 1, ed. Alfred Boretius (MGH Legum sectio II, Hannover 1883) 113 f. Závodzskys Arbeit kritisierte Schiller, Das erste ungarische Gesetzbuch (wie Anm. 88) 382 Anm. 1. 108 Capitularia regum Francorum (wie Anm. 107) 282, nr. 136 Capitula legibus addenda: Ut omnis homo liber potestatem habeat, ubicumque voluerit, res suas dare pro salute anime suae. Si quis res suas pro salute animae suae vel ad aliquem venerabilem locum vel propinquo suo vel cuilibet alteri tradere voluerit, et eo tempore intra ipsum comitatum fuerit, in quo res illae positae sunt, legitimam traditionem facere studeat. 109 Bernhard Guttenstein, Geschichte des spanischen Volkes in gedrängter Übersicht dargestellt (o. O. 1836) 252, mit Bezug auf westgotisches Recht 253 nr. V: Zwang zum Kirchenbesuch, 254 nr. VIII: Verfügung über Besitz zugunsten von Verwandten und der Kirche.

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Sieht man von solchen kaum zu erklärenden Fällen ab, die sich möglicherweise als Fehler in der wissenschaftlichen Arbeit Guttensteins eingeschlichen haben, zeigen Závodszkys Zitate der Vorbilder, dass Stephans Berater sich an Konzilsbeschlüssen, frühkanonischen Schriften, Volksrechten und Kapitularien orientierten. Auf der Grundlage der Forschungen von György Bonis beschrieb Cameron Sutt die derzeit gültige Beurteilung der Entstehung von Stephans Gesetzbüchern. Als Berater des Königs sind westliche Kleriker zu vermuten, unter ihnen vornehmlich solche aus Bayern, die wohl mit Gisela nach Ungarn gekommen waren. In diesem Kreis ist die Kenntnis des bayerischen Rechts und der auf dortigen Synoden gefassten Beschlüsse vorauszusetzen. Darüber hinaus kannten diese Berater im Wesentlichen den theoretischen Rahmen der westlichen Rechtsregelungen, insbesondere auch das kanonische Recht110. Besonders hervorzuheben ist der in vielen Bestimmungen nachzuweisende Rückgriff auf den Codex Euricianus bei der Formulierung der Lex Baioariorum111. Die ihrer Herkunft nach unterschiedlichen Berater, unter denen sich auch Geistliche befanden, bildeten das consilium, auch senatus in den Quellen genannt, auf dessen Rat Verfügungen beschlossen wurden. Diese Berater zog man beispielsweise für die Entscheidung über das Vorgehen bei Totschlag heran. Im Falle eines aus Wut oder Hochmut begangenen Totschlags, der nicht umständehalber erzwungen worden war, mussten insgesamt 110 pensae, die dem Wert der gleichen Summe byzantinischer Goldsolidi entsprachen, bezahlt werden. 50 pensae nahm der Fiskus ein, denselben Betrag bekamen die Verwandten und zehn pensae gingen an den Schiedsrichter und den Vermittler, welche die Sache untersucht und verhandelt hatten112. Einige Jahrzehnte später betrug das Wergeld für einen getöteten Juden 144 Goldsolidi (12 Pfund Goldes)113. Am Rhein gingen 12 Solidi auf das Pfund, in Ungarn wegen der Gleichsetzung des Wertes mit der wichtigsten byzantinischen Münze, dem Solidus, 8 Solidi (sogenann110 Sutt, Slavery (wie Anm. 7) 53 mit Berufung auf György Bonis, Szent István törvenyének önállósága, in: Szazadok 72 nrn. 9–10 (1938) 455–456. 111 Lex Baioariorum. Das Recht der Bayern, hg. und übers. von Roman Deutinger (Editio Bavarica III, Regensburg 2017) 19, zahlreiche Abhängigkeiten in den tituli XII, XV und XVI; vgl. Harald Siems, Art. Lex Baiuvariorum, in: HRG 2 (2014) 869–878. 112 The laws vol.I (wie Anm. 80) 4 Absatz 14: Si quis ira accensus aut superbia elatus spontaneum commiserit homicidium, sciat se secumdum nostri senatus decretum centum et X daturum pensae auri, ex quibus quinquaginta ad fiscum regis deferantur, alii vero L parentibus dentur, X autem arbitris et meditoribus condonentur. 113 MGH Diplomatum regum et imperatorum Germaniae 6/2. Die Urkunden Heinrich IV. 2, bearb. von Dietrich von Gladiss (Weimar 1959) 549, Z. 19 ff. nr.*412: Si quis adversus aliquem eorum (i. e. iudeum) consilium fecerit aut ei insidiatus fuerit ut occidatur, uterque et consiliator et occisor duodecim libras auri ad erarium regis persolvat.

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ter langer Schilling). Der in Ungarn festgesetzte Betrag entsprach also etwa der Rechtsübung in den Nachfolgeherrschaften fränkischer Prägung. Neben diesen Zahlungen wurde der Täter nach dem kanonischem Recht bestraft, und zwar mit Fasten, das bei Totschlag sieben bis zehn Jahre dauern konnte114. Die verschiedenen Bußen für verschiedene Arten von Tötungsdelikten wurden in den Poenitentialen, den Bußbüchern, beschrieben, die als Teil des kanonischen Rechts betrachtet wurden115. Manchmal wurden die in den Bußbüchern festgesetzten Strafen durch jüngere, härtere Strafen ersetzt. So wurde der Meineidige nach Absatz 17 der ungarischen Gesetze mit dem Verlust der Schwurhand bestraft. Ein teurer Freikauf mit 50 Jungochsen war allerdings möglich. Vorbild für die strenge Strafe war vermutlich das Kapitular von Hers­ tal und nicht das Fastengebot des Merseburger Poenitentiale116. Unter den Volksrechten, die als Vorbilder dienten, sind etwa die Leges Burgundionum zu erwähnen. Nach dem Absatz 16 war es verboten, das Schwert in der Absicht zu ziehen, um einem anderen eine Verletzung zuzufügen117. Im burgundischen Recht wurde das Ziehen des Schwertes um einen anderen zu durchbohren, ohne dies aber tatsächlich zu tun, mit 12 Solidi bestraft118. Nach dem Text der Absätze 12 und 13 des zweiten Gesetzbuches wurden Totschlag und Verletzungen mit einem Schwert nach dem Retaliationsrecht (Talion) bestraft119. Besondere Sorgfalt übte die Forschung bei der Aufdeckung der Zusammenhänge, die zwischen dem ungarischen Recht und der Lex Baioariorum bestanden. Es gibt aber gemessen an den hohen Erwartungen überraschend wenige 114 The laws vol.I (wie Anm. 80) 4 Schluss von Absatz 14: … ipse quidem homicida secundum institutionem canonum ieiunet. 115 The laws vol.I (wieAnm. 80) 82 mit Anm. 24. 116 The laws vol.I (wie Anm. 80) 5 Absatz 17: De periuris. Si quis valentium fide commaculatus, corde pollutus iuramento confracto periurio addictus invenietur, perditus manu periurium luat, aut cum quinquaginta iuvencis manum redimat. Vgl. 82 Anm. 28 mit Zitierung des Kapitulare von Herstal. 117 The laws vol.I (wie Anm. 80) 5, Absatz 16: Ut pax firma et incontaminata per omnia maneat tam inter maiores natu, quam inter minores, cuiuscunque conditionis sint, interdiximus omnino, ut nullus ad ledendum aliquem evaginet gladium. 118 Leges Burgundionum, ed. von Ludwig Rudolf von Salis (MGH Legum sectio I; Leges nationum Germanicarum tom.II, pars I, Hannover 1892) 69 tit. 37: Quicumque spatam aut semispatam eduxerit ad percutiendum alterum et non percusserit, inferat multae nomine solidos XII. – Závodsky, Szent Istvan (wie Anm. 105) 31. 119 The laws vol.I (wie Anm. 80) 10 Abs. 12 und 13: Si quis gladio hominem occiderit, eadem gladio iuguletur (Abs. 12). Vgl. zum Rechtsinstitut des biblischen Talion Heinz Holzhauer, Über materielle und prozessuale Talion, in: Gerhard Dilcher (Hg.), Leges-Gentes-Regna. Zur Rolle normativer Traditionen germanischer Völkerschaften bei der Ausbildung der mittelalterlichen Rechtskultur: Fragen und Probleme (Berlin 2006) 367–376.

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Beispiele für Übereinstimmungen. Im Kapitel de raptu puellarum ist die Rede von einem Mädchen, das ein miles gegen den Willen ihrer Eltern geraubt hatte. Sie musste den Eltern zurückgegeben werden, und der Entführer hatte 10 Stiere als Entschädigung zu zahlen. Dies galt auch dann, wenn es im Nachhinein zu friedlichen Vereinbarungen zwischen den Parteien kam120. Möglicherweise zeigt sich in diesem Fall noch die Wirkung des alten Sippenrechtes, denn bestraft wurde der Raub, unabhängig von versöhnlichen Abmachungen. Der für Ungarn geltende Text enthält keine Bemerkung dazu, ob das Mädchen mit ihrem Einverständnis oder gegen ihren Willen geraubt wurde. Entscheidend war die Verletzung der Rechte der Sippe, die von den Eltern des Mädchens repräsentiert wurde. Im bayerischen Recht hingegen wurde auch festgehalten, dass der Raub gegen den Willen der Jungfrau erfolgt war. In diesem Fall waren 40 Solidi an die geschädigte Familie und der gleiche Betrag an den Fiskus zu bezahlen121. Interessant ist die soziale Differenzierung im ungarischen Recht. War der Brauträuber ein miles, musste er zehn Jungstiere zu zahlen, ein vulgaris, ein einfacher Mann, hatte nur fünf Jungstiere aufzubringen. Der König oder der Gespan waren an den Einnahmen aus den Entschädigungszahlungen nicht beteiligt. Dies wäre ein weiterer Hinweis zur Rücksichtnahme auf die Rechtsgewohnheiten der Sippen als Garanten für den Schutz der Gemeinschaft und ihrer einzelnen Mitglieder. Ein miles in königlichen Diensten, etwa als Burgkastellan, konnte mit seiner neu erworbenen Macht auf den Gedanken kommen, sie gegen altes Herkommen zu missbrauchen. Im Gegensatz zum bayerischen Recht blieben in Ungarn Regelung und Strafzahlung eine Frage außerhalb der königlichen Sphäre und wurde zwischen den Sippen geregelt. Wenn der Hintergrund dieses Gesetzes tatsächlich so zu deuten ist, handelte es sich um ein eindrucksvolles Beispiel der konservativen Behandlung sozialer Konflikte. Aus derartigen Beobachtungen leitet sich der Schluss ab, dass die Gesetze Stephans des Heiligen keine bloße Übernahme fremder Rechtssätze sind, sondern dass diese in sorgfältiger Überarbeitung den ungarischen Verhältnissen angepasst wurden. Stärker tritt die Abhängigkeit vom bayerischen Recht in der Verfügung gegen feindliche und böswillige Brandstiftung zutage. Der Täter musste die Schäden, nämlich das Gebäude und den Hausrat ersetzen und dem Geschädigten darü120 The laws vol.I (wie Anm. 80) 7 Abs. 27: Si quis militum inpudicitia fedatus, puellam aliquam sine concessione parentum sibi in uxorem rapuerit, decrevimus puellam parentibus reddi, etiamsi ab illo aliqua vis sibi illata sit, et raptor X solvat iuvencos pro raptu, licet postea reconcilietur parentibus puelle. 121 Lex Baioariorum (wie Anm. 111) 94 Tit. VIII cap. 6: Si quis virginem rapuerit contra ipsius voluntatem et parentum eius, cum XL solidis conponat et alios XL cogatur in fisco persolvere.

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ber hinaus noch 16 Stiere im Wert von 40 Solidi überlassen. Dieser Betrag war in solchem Fall auch in Bayern zu bezahlen122. In einer anregenden Analyse zu Stephans Gesetzgebung hat Tamás Nótári auf weitere wichtige Aspekte hingewiesen, darunter auf die Bedeutung der Kirchengründungen, die Missions- und seelsorgerische Aufgaben hatten123. Zehn villae sollten beim Bau der Kirche zusammenarbeiten. Aus den villae entstanden im Laufe des 11. Jahrhunderts Dörfer. Zuvor, in der Zeit nomadischer Organisation, bildeten sie den Mittelpunkt eines Sommer- oder Winterquartiers, während der Zeit des Übergangs zu agrarisch orientiertem Landbesitz den Mittelpunkt eines praedium124. Dem »karolingisch-bayerischen« Vorbild folgend wurde die Kirche ausgestattet. Dazu gehörten in Ungarn zwei Bauernstellen, die mit zwei Familien besetzt waren, ein Pferd, ein Lasttier, sechs Ochsen, zwei Kühe und 30 Stück Kleinvieh125. Diese Zusammensetzung der Ausstattung könnte eine Mischung älterer auf Herden und Weiden bezogener Lebensformen mit den agrarisch dominierten jüngeren Formen darstellen. Die in der Forschung bisher übliche Ableitung dieser Ausstattung aus dem Kapitel 15 des »Capitulare de partibus Saxonie« trägt daher m. E. wenig zum Verständnis der ungarischen Anordnung bei126. Auf den Grundlagen der wichtigen Arbeit Imre Madzsars, der 1921 die Zusammenhänge zwischen Stephans Gesetzgebung und der Lex Baioariorum untersucht hat, kommt Nótári zu dem Schluss, dass der Einfluss des bayerischen 122 The laws vol.I (wie Anm. 80) 8 Absatz 32: Si quis per inimicitias alterius edificia igne cremaverit, decrevimus, ut et edificia restituat, et quidquid supellectilis arsum fuerit, et insuper XVI iuvencos, qui valent XL solidos. Für den entsprechenden Fall finden sich in der Lex Baioariorum (wie Anm. 111) 106 Tit. X cap.1 ähnliche Bestimmungen. Zuletzt heißt es: Tunc domui culmen cum XL solidis conponat. Offenbar ist mit dieser Formulierung gemeint, dass das Haus vollständig abgebrannt war. 123 Tamás Nótári, Rechtstransfer zwischen Bayern und Ungarn im Frühmittelalter, in: Rechtssysteme im Donauraum. Vernetzung und Transfer, hg. von Ellen Bos und Kálmán P ­ ócza (Budapest 2014) zitiert nach der Onlineversion www.tankonyvtar.hu/hu/tartalom/tamop 422b/2010–0015_2_kotet-cikk23/1–2010–0015-cikk23_6_6.html mit eigener Seitenzählung 1–14, hier 6. 124 Zur Kirchenerrichtung: The laws vol.I (wie Anm. 80) 9 Absatz 1: Decem ville ecclesiam edificent. – Zur Bedeutung und Entwicklung einer villa 151 unter dem Stichwort village. Zu praedium vgl. Sutt, Slavery (wie Anm. 7) 45 f. 125 Zum karolingischen Vorbild vgl. The laws vol.I (wie Anm. 80) 83 Anm. 2 zum zweiten Gesetzbuch Stephans. 126 Capitularia regum Francorum (wie Anm. 107) cap. 15, 69: De minoribus capitulis consenserunt omnes. Ad unamquamque ecclesiam curte et duos mansos terrae pagenses ad ecclesiam recurrentes condonant, et inter centum viginti homines, nobiles et ingenuis similiter et litos, servum et ancillam eidem ecclesae tribuant.

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Rechts ziemlich hoch zu veranschlagen sei127. Es geht ihm dabei nicht nur um den Vergleich einzelner Bestimmungen mit entsprechenden Regelungen aus westlichen Rechtsquellen, sondern um die Frage, ob die strukturelle Gestaltung von Stephans Gesetzgebung jener des bayerischen Rechts ähnlich ist. Nótári sieht die Ähnlichkeit bezüglich des ersten Gesetzesbuches darin, dass die Abfolge der personenrechtlichen und sachenrechtlichen Bestimmungen die gleiche ist. Die Person, die den Text zusammenstellte, habe sich daher höchstwahrscheinlich die Struktur der Lex Baioariorum zum Vorbild genommen128. Zweifelsfrei lässt sich auch aus den Texten selbst und vielleicht sogar aus der Anordnung der einzelnen Bestimmungen zur Gesetzgebung Stephans feststellen, dass die westlichen Einflüsse prägend waren. Mit Konjekturen und etwas gewagten Schlussfolgerungen lassen sich Rückschlüsse auf ältere, wohl noch zur Zeit der Landnahme vorherrschende, zum Teil auf Herdenbesitz beruhende Rechtsverhältnisse ziehen. So ist etwa die Schlussfolgerung, dass die Teilung von Landbesitz und gewillkürte Einsetzung von Erben aus der Verwandtschaft einen gesellschaftspolitischen Umbruch in der ungarischen Gesellschaft darstellte, zwar plausibel aber nicht hieb- und stichfest nachzuweisen. Die Ausgangslage – das viel besprochene Sippenvermögen – ist ein wissenschaftliches Konstrukt, das gerade durch einen Zirkelschluss aus der Analyse der Gesetze Stephans gewonnen wurde. Zu berücksichtigen wäre auch die Möglichkeit, dass in den Gesetzen byzantinische Einflüsse nachzuweisen sind. Die politisch-historischen Voraussetzungen dafür wären ja vorhanden gewesen, entsprechende Spuren im Recht sind allerdings nur mit Mühe zu interpretieren. Nótári hat einige Punkte zur Diskussion gestellt. Seine Feststellung, dass das Überwachungsrecht des Königs gegenüber den Bischöfen byzantinischem Vorbild folge, hat aber eine wesentliche Schwäche: Eine solche Stellung des Königs gegenüber den Bischöfen ist aus dem Absatz 2 des ersten Gesetzbuches nicht herauszulesen. Ihre Macht beruhte auf dem Aufsichtsrecht in kirchlichen Angelegenheiten, das sich aus dem kanonischen Recht herleitete129. Zu erwägen wäre allenfalls die Feststellung, dass in Ungarn die Macht des Adels vor allem auf der 127 Nótári, Rechtstransfer (wie Anm. 123) 13; Imre Madzsar, Szent István törvényei és a Lex Baiuvariorum, in: Törtenéti Szemle 10 (1921) 48–75. 128 Nótári, Rechtstransfer (wie Anm. 123) 9 f.; Madzsar, Szent István (wie Anm. 127) 54. 129 The laws vol. I (wie Anm. 80) 3 Absatz 2: Volumus, ut episcopi habeant potestatem res ecclesiaticas previdere, regere et gubernare atque dispensare secundum canonicam auctoritatem. Nótári, Rechtstransfer (wie Anm. 123) 5 f.; János Zlinszky, A magyar jogrendszer kezdetei, in: Jogtudomány Közlöny 51 Nr. 8 (1996) 269–274, hier 274.

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Ausübung eines königlichen Amtes beruhte. Jedenfalls bildeten die adeligen Berater des Königs keine Gruppe, die an den Urteilen über Standesgenossen, die der König oder einer seiner Richter fällte, beteiligt gewesen wäre. Dieses noch im 12. Jahrhundert von Otto von Freising beobachtete, für ihn ungewöhnliche Machtübergewicht des Königs gegenüber dem Adel, könnte ein Hinweis auf byzantinische Einflüsse sein130. Es ist allerdings daran zu erinnern, dass auch in Böhmen das Machtgefälle zwischen dem Fürsten (Herzog) und den Grafen/ Kastellanen bedeutend war. Die angeführten Hinweise sind durch Quellenbelege zu wenig abgesichert, um zumindest wahrscheinliche Ergebnisse zu gewinnen. Zuletzt sei aus den Gesetzen Stephans noch eine Bestimmung der Verfügung über Grundbesitz außerhalb der Kirche erwähnt. An die oben bereits genannte Freizügigkeit der Besitzteilung und freien Besitzverfügung schloss sich nämlich eine Verfügung an, Güter betreffend, die vom König geschenkt waren. Wenn er nämlich anderen (ceteris) die Verfügungsgewalt über Güter eingeräumt hatte und zwar über den Boden, die milites und die abhängigen Dienstleute und über Rechte, die zur königlichen Würde gehörten, dann sollte der neue Besitzer diese Gewalt so unverändert übernehmen131. Niemand sollte den Inhaber dieser Rechte berauben oder diese mindern können oder gar es wagen, irgendeinen Vorteil daraus zu ziehen. Der Empfänger der Schenkung hatte an seinem Besitz die gleichen Rechte wie zuvor der König. Unerwünschte Vorteile aus dem Übergang von Besitz aus der Hand des Königs in andere Hände konnten aufgrund ihrer weitgehenden Vollmachten etwa die Gespane ziehen und dies sollte verhindert werden. Im zweiten Gesetzbuch wird die Frage der Vererbung noch einmal aufgenommen. Der König stimmte der Bitte des Senats – also seiner Ratgeber – zu, dass jeder Landbesitzer über seinen Eigenbesitz oder über königliche Schenkungen Herrschaft (dominium) ausüben sollte. Ausgenommen davon waren die Besitzungen, die zur Besitzausstattung eines Bischofssprengels oder einer Grafschaft gehörten. Auch im Falle einer Anklage sollte der Besitzer keinen Verlust seiner Güter erleiden. Davon ausgenommen war nur der Fall, dass der Besitzer die Ermordung des Königs geplant hatte oder die Übertragung des Reichs an jemand anderen. Auch bei einer Flucht aus Ungarn zog der König die Güter ein. Die Söhne erbten im Normalfall Besitz und Stellung des Vaters aber auch die 130 Ottonis et Rahewini Gesta Friderici I imperatoris hg. von Gerhard Waitz (MGH Scriptores rer Germ. in usum scholarum 46, Hannover und Leipzig 31912) Lib. I cap. 32, S. 50 f.: Nulla sententia a principe, sicut aput nos moris est, per pares suos exposcitur, nulla accusato excusandi licentia datur, sed sola principis voluntas aput omnes pro ratione habetur. 131 The laws vol. I (wie Anm. 80) 3, Absatz VII: De retentu regalium rerum.

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unschuldigen Söhne »revoltierender« Väter verblieben in ungestörtem Besitz ihrer Güter132. Diese ungewöhnliche Pardonierung der Söhne, könnte wohl in einer Zeit der zunächst labilen Neuordnung der Besitzverhältnisse nach der Niederlage und dem Tod Koppánys eine gewisse Sicherheit für jene Leute schaffen, die nun die vom König beschlagnahmten Güter seiner Gegner erhielten133. Sawicki hält die Verschonung der Söhne allerdings für eine spätere Interpolation. Es handle sich um ein Entwicklungsstadium des Rechts als die individuelle Verantwortung an die Stelle der kollektiven getreten sei134.

Zur Gründungsurkunde von Martinberg Dass König Stephan mit seinen Schenkungen, die an der Ausstattung von Martinsberg und Pécsvárad abzulesen sind, aus dem Vollen schöpfen konnte, war eine Folge seiner Siege über konkurrierende Mitglieder aus der eigenen Familie und über die Fürsten feindlicher Sippen. Solche Erfolge zogen, wie erwähnt, Machtverschiebungen und Güterkonfiskationen nach sich. Der Zusammenhang der Schenkungen an Martinsberg mit dem Sieg über Koppany in dessen Komitat Somogy geht aus der Gründungsurkunde direkt hervor. Aus der Fälschung für Pécsvárad können wir für spätere Zeiten bereits eine Fülle von Personen verschiedenen Standes und Rechte erkennen, die zum Gedeihen des Klosters beitrugen. Einige der dort genannten zweihundert milites gehörten wohl zu der neuen sozialen Gruppe, die später unter der Bezeichnung Jobagionen hervortrat135. Dabei geht es um die iobagiones castri genannten Leute, die Kriegsdienst im Umfeld von Burgen leisteten, deren Stellung jener der Ministerialität im Reich ähnlich war136. Diese kurze Bemerkung ist allerdings nur als Hinweis auf die Anfänge eines komplex gelagerten Problems des ungarischen Kriegswesens und der sozialen Schichtung zu verstehen. Gerade die Rolle der neugegründeten Bischofssitze und Klöster zeigt, welch mächtigen Antrieb zur Veränderung die Schwenkung zum lateinischen Chris132 The laws vol. I (wie Anm. 80) 9 Ende des Absatz 2: Ast si quis in consilio regie mortis aut traditionis regni legaliter inventus fuerit, ipse vero capitali subiacet sententiae, bona vero illius filiis innocentibs inremota sint remanentibus salvis. 133 Zu diesen Verhältnissen, besonders im Komitat Somogy Györffy, König Stephan (wie Anm. 8) 100. 134 Sawicki, Zur Textkritik (wie Anm. 50) 415. 135 Györffy, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 102) 119 und 120 (mit Bezug auf Pécsvárad). Das Wort »jobbágy« taucht zuerst zwischen 1116 und 1131 in den Quellen auf. Ebd. 124. 136 Sutt, Slavery (wie Anm. 7) 42 f.

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tentum mit sich brachte. Diese zeigte sich nur sehr schwammig auf spirituellem und eschatologischem Gebiet, ist aber quellenmäßig gut fassbar bei den organisatorischen und sozialen Verhältnissen. Die Orientierung an näheren und weiter entfernten Vorbildern ist evident. Die »Gründungsurkunde« von Martinsberg bietet dafür konkrete Beispiele, wie etwa die Behandlung von Gütern und der damit verbundenen Zehntabgaben. Dabei tauchten einige Probleme auf, die offenbar ein flexibles Vorgehen beim Umbau der ungarischen Gesellschaft erforderten. Zunächst einige wichtige Details zur Urkunde: Sie besteht aus echten Passagen, die im Herbst 1002 formuliert wurden, und aus späteren Interpolationen des 12. Jahrhunderts137. Der ursprüngliche Text orientierte sich an den Gewohnheiten der ottonischen Kanzlei. Der Verfasser und Schreiber der Urkunde war ein Notar aus der Kanzlei Ottos III., der dem politischen Wechsel von 1002 zu Heinrich II. zum Opfer gefallen und nach Ungarn gegangen war. Er wird in der Diplomatik als Heribert C bezeichnet und arbeitete als Notar Ottos III. unter dem archicancellarius Heribert138. Inhaltlich enthält die Urkunde zunächst eine kurze Erklärung über die Gründung von Martinsberg. Stephan vollendete die von seinem Vater begonnene Gründung wegen seines Seelenheils und der Stabilität des Königreichs. Der König handelte auf Intervention und mit Rat und Zustimmung des Abtes des Klosters139. Er gestattete Martinsberg die Freiheit des Klosters Montecasino und das bedeutete Unabhängigkeit vom Ortsbischof und freie Wahl des Abtes durch die Mönche, welche in einer späteren Passage der Urkunde noch einmal ausdrücklich verfügt wurde140. Darauf folgen eine umfangreiche und vielschichtige Zehntschenkung, ein Immunitätsprivileg, und eine wenige Jahre später durchgeführte Übergabe von Herrschaften und Siedlungen (villae). Interessant scheint vor allem die Zehntschenkung, die auf das schwierige Umfeld solcher königlicher Entscheidungen schließen lässt. Es wurden nämlich zunächst nur Zehntzahlungen geschenkt, also nur die dem Bischof zustehenden, pekuniären Einnahmen und nicht die 137 Diplomata Hungariae Antiquissima I (wie Anm. 51) 26 nr. 5/II. mit durch Klammern gekennzeichneten interpolierten Stellen. 138 Im Kommentar von Györffy, Diplomata Hungariae Antiquissima (wie Anm. 51) 37. 139 Diplomata Hungariae Antiquissima (wie Anm. 51) 39 nr. 5/II: … quod nos interventu, consilio et consensu domni Anastasii abbatis de monasterio Sancti Martini in Monte supra Pannoniam sito, ab genitore nostro incepto, quod nos per Dei subsidium, ob anime nostre remedium, pro stabilitate regni nostri ad finem perduximus […]. 140 Györffy, König Stephan (wie Anm. 8) 125.

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Liegenschaften und Produktionsstätten selbst, an denen der Zehent haftete. Die Zehnte gehörten zu einer königlichen curtis, die Cortou genannt wurde und in der Grafschaft Somogy lag, die bis in slawonisches Gebiet reichte und zum Herrschaftsgebiet des aufständischen Koppány gehört hatte141. Schon vor der entscheidenden Schlacht im Jahre 997 soll Stephan gelobt haben, dass er im Falle eines Sieges die Grafschaft Koppánys der Abtei Martinsberg, die damals gerade errichtet wurde, schenken werde. Die tatsächliche Verwirklichung dieser Schenkung gestaltete sich schließlich viel komplizierter. Denn die Schenkung von Sippengut und Koppánys Grafschaft betraf nicht den Besitz irgendeiner Sippe, sondern gehörte der großfürstlichen Sippe der Árpáden. Es ist anzunehmen, dass die traditionell gesinnten Anhänger Stephans gegen die Schenkung Stellung bezogen und eine ausgeklügelte Lösung erzwangen, die wesentlich »moderner« war: Stephan schenkte den in Somogy liegenden Besitz nicht direkt an Martinsberg. Aus einer Urkunde des Papstes Paschalis II. vom 8. Dezember 1102 erfahren wir, dass König Stephan dem Bischof von Veszprém Zehnte und andere Rechte abgekauft hatte, die er anschließend »zum Schutz des Vaterlandes und der Vermehrung des Glaubens« dem heiligen Martin übergeben habe142. Der Preis für diese Zehnte war die curtis Cortou, die Stephan, wie in der Urkunde für Martinsberg ausgeführt, dem Bischof von Veszprém überließ. Im Wesentlichen handelte es sich dabei wahrscheinlich um ein Tauschgeschäft. Daraus darf man auf eine beeindruckende Ausdehnung dieser curtis schließen. Györffy hat darauf hingewiesen, dass der geistliche Notar »Heribert C« im Juni 997 eine Urkunde gleichen oder zumindest ähnlichen Inhalts verfasst hatte, nämlich den Tausch von Besitzungen eines Burgwards im slawischen Grenzbereich gegen den Zehent in diesem pagus, welchen Otto III. als Gegenleistung des Erzbischofs von Magdeburg erhielt143. Die Zehntabgaben wurden nicht sehr systematisch aber teilweise detailliert angeführt. Sie lagen auf allen geschäftlichen Tätigkeiten (de omnibus negociis) und auf Einnahmen aus Abgaben (de vectigalibus). Die Beschreibung, welche Besitzungen und Einnahmen unter die Zehntbemessung fielen, findet sich in der erwähnten Urkunde Ottos III., die als Vorbild diente, nicht. Offenbar hielten es der König und sein Notar in Ungarn für notwendig, die rechtlichen Grundla141 Vgl. »Die Komitate König Stephans« Kartenskizze in Györffy, König Stephan (wie Anm. 8). 142 Diplomata Hungariae Antiquissima I (wie Anm. 51) 25 nr. 5/1. 143 MGH Diplomatum regum et imperatorum Germaniae 2/2: Ottonis III. diplomata, ed. von Theodor Sickel (Berlin 21997) 663 nr. 246; Regesta imperii, II/3 nr. 1228; Hinweis von ­Györffy in Diplomata Hungaria Antiquissima I (wie Anm. 51) 37, Zeile 26.

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gen der Zehntleistung zu beschreiben. Auch die Zehntabgaben von Gütern und Ländereien wurden genauer aufgezählt; besonders genannt sind Weingärten und Saatfelder. Später hinzugefügt wurden auch die Abgaben von fremdem Wein. Offenbar wurde von diesem Einfuhrgut mehrfach Gewinn gezogen – zuletzt kam der Gewinn aus der Zehntabgabe. Als Vorbild für den Umfang der Abgaben ist das Wissen über die »Capitulatio de partibus Saxoniae« wahrscheinlich zu machen. Dort heißt es bezüglich der Geschäftseinnahmen ut omnes decimam partem substantiae et laboris suis ecclesiis et sacerdotibus donent und hinsichtlich der Einnahmen des Fiskus, dass der Zehent auch von Friedens- und Strafgeldern (sive in frido sive in qualecumque banno) abzuführen sei144. Das karolingisch-sächsiche Vorbild wird auch in der Gesetzgebung König Stephans deutlich. Die Einführung des Zehent im ersten Buch des Gesetzes entspricht den allgemeinen Vorstellungen im Westen: Si cui deus decem dederit in anno, decimam deo det145. Die Einführung des Zehents in Ungarn ist eines der wichtigsten Kennzeichen für die Wendung zur lateinischen Kirche. Der frühe Zeitpunkt für die Zehntbestimmungen in der Martinsberger Gründungsurkunde hängt damit zusammen, dass die Grafschaft Somogy, für welche die Martinberger Zehntbestimmungen galten, sich im Kerngebiet der árpádischen Herrschaft, dem Gebiet westlich der Donau befand. Hier in Transdanubien griffen die von Stephan angestrebten Neuerungen zuerst. Im Osten, etwa im späteren Gebiet von Siebenbürgen, konnte der Zehent, wie Györffy meint, erst nach der Niederlage des Fürsten Ajtony im Jahre 1009 eingeführt werden. Die bis dahin dort dominierende griechische Geistlichkeit erhob keinen Zehent146. Nach der Verzeichnung der erwähnten Übergabe einer curtis an St. Michael in Veszprém wurde den Mönchen die freie Abtwahl garantiert und sie sollten vor aller Beunruhigung geschützt sein. Zuletzt gewährte der König Immunität. Es war allen Personen, ob mächtig oder weniger einflussreich, verboten, sich in die Angelegenheiten des Klosters einzumischen. Davon waren auch der Erzbischof von Gran, andere Bischöfe und königliche Beauftragte, wie der zuständige Herzog, Markgraf oder Graf betroffen. Die Aufzählung könnte einem nicht ungarischen Formular folgen. Markgrafen gab es ja in Ungarn nicht, in Urkunden Ottos III. galt das Introitus- und Exaktioverbot147 selbstverständlich auch 144 Capitularia regum Francorum (wie Anm. 107) 68 f. nr. 26 (Capitulatio de partibus Saxoniae), hier 69 Abschnitte 16 und 17. 145 The laws vol. I (wie Anm. 80) 11 Absatz 20 und 84 Anm. 20. 146 Györffy, König Stephan (wie Anm. 8) 160. 147 Vgl dazu oben S. 142.

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für Markgrafen148. Mit der Gewährung der Immunität entstand ein Ansatz für eine klösterliche Herrschaft, die nach älterem, fränkisch-ottonischem Vorbild organisiert war. Die Tätigkeit des Notars »Heribert C« bezog sich auf ihm wohlvertraute Rechtsfragen und fügt sich in das Bild des den König beratenden Klerikers aus dem ottonischen Reich gut ein. Neben den Gesetzen sind es nur wenige Urkunden, die den Nachweis einer neuen rechtlichen Ordnung erlauben, die Besitzungen betrafen. Zusammen betrachtet ergeben sie das Bild einer Anpassung an westliche Vorbilder der Rechtsordnung, die allerdings durch die Rücksichtnahme auf die ungarischen Verhältnisse begrenzt wurde. Trotz einer langen Forschungstradition und sorgfältiger Erörterung von Einzelproblemen ist dieser komplexe Vorgang der Annäherung Ungarns an die westlichen, fränkisch-ottonischen Rechtsvorstellungen noch nicht zufriedenstellend erhellt.

Ausblick und Resümee Erzielte König Stephan mit seinen Maßnahmen eine nachhaltige Wirkung? Betrachtet man die spannungsgeladenen Verhältnisse direkt nach Stephans Tod bis zum Herrschaftsantritt König Salomons (1057/58) gewinnt man den Eindruck eines Scheiterns. Doch greift eine rein »tagespolitische« Betrachtung der gesellschaftlich-rechtlichen Entwicklungen viel zu kurz, um ein tragfähiges Urteil zu gewinnen. Die Bemühungen Stephans und seiner Berater um eine neue Rechtsordnung beruhten unter mehreren Voraussetzungen vor allem auf zwei Entwicklungen: Auf der Übernahme der westlich-fränkischen Kirchenorganisation in ihrer bayerischen und lateinischen (italischen) Ausformung und auf dem Versagen der vorhergehenden Stammes- und Sippenordnung. Die Einrichtung von Bischofssprengeln, die Festigung der bischöflichen Aufsichtsfunktionen und die reichen Landschenkungen an die Bischöfe wurden zur Basis einer neuen Ordnung. Wie weit diese Maßnahmen bereits spirituell unterfüttert waren, ist schwer zu beurteilen, Skepsis gegenüber entsprechenden Auswirkungen ist angebracht. Organisatorisch trieb der König den regionalen Einfluss der Kirche voran, indem er den Bau und die Ausstattung von Kirchen den Bewohnern von kleineren Herrschaften und Siedlungen, d. h. von jeweils

148 MGH DD OIII (wie Anm. 143) 792 nr. 363.

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zehn Gemeinschaften dieser Art (villae), anvertraute. Damit wird sichtbar, dass die Ungarn nicht mehr nach Sippen und Stämmen ihre Ordnung ausrichteten, sondern die villae ein organisatorisches Kernelement der neuen Verhältnisse darstellten. Die Einnahmen der Bischöfe wurden nach westlichem Vorbild durch die Einführung des Zehents vermehrt. Auf diesen Faktoren beruhte die entstehende und auszubauende Königsherrschaft. Auch in diesem Bereich ging es nicht nur um die Organisation der Spitze. Die Einsetzung von Gespanen entsprach etwa der Funktion der Grafen im fränkisch-bayerischen Herrschaftsraum. Die zu den Burgen und ihrem Umland gehörigen Dienstleute festigten den Einfluss des Königs in den Regionen. Einige Dienstleute waren Bauern, andere Krieger. Aus den ritterlich lebenden Dienstleuten wurden gegen Ende des 11. Jahrhunderts, nachweisbar aber erst zu Beginn des 12. Jahrhunderts, die Jobagionen. Die Besitzungen der Grafen und Bischöfe waren besonders geschützt. Kirchliche Güter erfreuten sich der vom König garantierten Immunität. In den Immunitätsbezirken konnten Herrschaftsrechte unabhängig vom Gespan ausgeübt werden. Solche Herrschaftsrechte waren bereits in der Zeit König Stephans auch für den weltlichen Grundbesitz auch nichtadeliger Personen vorgesehen. Die Rechte der Grafen und der Grundbesitzer waren sorgfältig aufeinander abgestimmt. Die Übergriffe, die Peter Orseolo gegen Königin Gisela, die Witwe Stephans, beging, indem er ihre Besitzungen beschlagnahmte, lassen erkennen, dass zwischen den neueren Rechtsvorstellungen und dem alten »großfürstlichen« Machtgehabe noch ein tiefer Graben klaffte. In einzelnen Fällen lässt sich die Berücksichtigung der früheren Rechte der Sippen noch feststellen. Die Behandlung des Brautraubs zeigt deutlich den Einfluss der alten Vorstellungen von der Bedeutung der Sippe: Der Wille des geraubten Mädchens wurde bei der Regelung der Folgen nicht berücksichtigt; entscheidend war die Zustimmung der Eltern. Auch war der König von der Mitwirkung an Rechtsentscheiden in solchen Fragen ausgeschlossen. Die Zeit Peters Orseolo und Samuel Abas war eine Zeit der Rechtsunsicherheit. Der Wille des salischen Königs Heinrichs III., Ungarn in ein Verhältnis der Abhängigkeit vom Reich zu bringen, führte zu einer überraschenden Lösung. Hermann von Reichenau berichtete vor 1054, dass die Ungarn 1044 bayerisches Recht auf ihr eigenes Verlangen erhielten. Woraus dieses bayerische Recht damals bestand, ist unsicher. Um 1075 nannte ein Annalist aus dem bayerischen Niederaltaich dieses damals gewährte Recht die scita Teutonica. Vielleicht handelte es sich dabei um die Bezeichnung für ein Recht, das aus bayerischen und königlich-fränkischen Elementen bestand.

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Auf den nur vorübergehenden Erfolg von Heinrichs Politik gegenüber Ungarn verweist die Tatsache, dass kurz darauf, nämlich 1046/47, König Andreas I. die neuerliche Beachtung der Gesetze König Stephans befahl. Die gesetzlichen Regelungen der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts behandeln allerdings zu einem großen Teil andere Themen als die Verfügungen Stephans. Daraus folgt, dass die Beschreibung einer Entwicklung bzw. eines Neuansatzes nach den Krisenjahren eine sehr feine Detailarbeit erfordern würde, um das Verhältnis zur älteren Gesetzgebung zu verstehen. Vermutlich hat der Rückgriff auf Stephans Gesetze mit der Wertschätzung des überkommenen alten Rechtes zu tun, wodurch die Legitimität des Königtums des Andreas und seiner Nachfolger allen deutlich vor Augen gestellt werden sollte. Gesellschaftspolitisch grundsätzliche Themen sind selten zu finden. Ein in der ungarischen Forschung strittig behandeltes Gesetz aus der Zeit des König Ladislaus (1077–1095) sei hier noch kurz vorgestellt, da es die wichtige Frage nach der Sesshaftigkeit in der ungarischen Gesellschaft aufwirft. Die Synode von Szabolcs, die am 20. Mai 1092 stattfand149, beschäftigte sich im Abschnitt 19 mit dem Verlassen von Kirchengütern. Wenn Bewohner eine villa (villani) das Gebiet einer Kirche verließen (nach der Überschrift des Gesetzesabschnitts sind wohl die Besitzungen, propriae, der Kirche gemeint) und woanders hingingen, sollten sie durch bischöfliches Recht und durch ein königliches Mandat gezwungen werden, wieder dorthin zurückzukehren, woher sie gekommen waren150. Es bestanden am Ende des 11. Jahrhunderts also noch immer Verhältnisse, die bezüglich der Sesshaftigkeit erkennen lassen, dass die Lebensformen der Ungarn auch damals noch nomadenartige Elemente der Landnutzung erforderten. Ob man diese Unsicherheit dem Wechsel von Winterquartieren zu den Sommerweiden oder dem nomadenartigen Wechsel zu besseren Weidegebiet zuschreibt, ist ziemlich gleichgültig. Die Folge scheint auf der Hand zu liegen: Unter diesen Umständen war der Aufbau von Grundherrschaften auch im kirchlichen Bereich schwierig bis aussichtslos. In diesen Gewohnheiten liegt wohl einer der Hauptgründe, warum erst spät, nämlich zu Beginn des 13. Jahrhunderts, diese Wirtschafts- und Herrschaftsform einen gewissen Entwicklungsstatus in Ungarn erreichen sollte. Bei der Beurteilung der politischen und rechtsetzenden Tätigkeit Stephans des Heiligen steht außer Streit, dass er sich der fränkisch-ottonischen Lebensord149 Sie gilt als Buch 1 der Gesetze des Königs Ladislaus I. – The laws vol.I (wie Anm. 80) 120. 150 The laws vol.I (wie Anm. 80) 58: De desertione propriarum ecclesiarum. Si derelicta ecclesia villani alias transierint, pontificale iure et regali mandato, unde transierunt, ibi redire cogantur.

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nung im Westen annäherte. Dies bedeutete nicht nur seine engere Verbindung zu Bayern, die sich an der Eheschließung mit Gisela, der bayerischen Prinzessin aus dem sächsischen Königshaus ablesen lässt, sondern auch die Übernahme von Rechtssätzen, die zum Teil noch aus dem Codex Theodosianus stammten, zumeist aber in veränderter Form vor allem durch die westgotische Überlieferung bewahrt wurden und eine maßgebliche Aktualisierung durch die Kapitularien erfahren hatten. In Diskussion steht hingegen die weitere rechtliche Entwicklung, wie sie sich seit Andreas I. (1046–1060) und der Herrschaft seines Sohnes Salomon (1063–1074) vollzogen hatte. Die gesetzgeberische Tätigkeit, die im allgemeinen Ladislaus I. zugeschrieben wird, stellt in vielen Details einen Neuansatz dar. Bei trockener Betrachtung stellt man fest, dass die Berufung auf den großen König Stephan, dessen Heiligsprechung Ladislaus betrieb, wohl verschleiern sollte, dass die Herrschafts- und damit auch die Rechtsvorstellungen unter dem Druck der Ereignisse in Ungarn im Vergleich zu Stephans Zeiten andere geworden waren. Das machtbewusste Verhalten verschiedener Parteien am Hof nach Stephans Tod151, und das in seiner Heftigkeit überraschende Vorgehen reaktionärer Kräfte gegen die von Stephan errichtete kirchliche Ordnung illustriert diesen Wandel. Ungeachtet einiger sachlicher Widersprüche stellte sich Ladislaus in die Tradition Stephans und behielt damit Recht. Denn die grundsätzlichen Fragen wie Besitz und Erbe, Zuwanderung von hospites und die stützende Rolle der Kirche erwiesen sich als richtungsweisende Maßnahmen. Daraus auf ein entspanntes Verhältnis zum Nachbarn Österreich und Karantanien zu schließen, wäre verfehlt. Der geringer werdende Unterschied in den Lebensordnungen beiderseits der Grenzflüsse Leitha und Lafnitz (Grenze zur karantanischen Mark) begünstigte zwar eine gewisse Beachtung gemeinsamer politischer Spielregeln, das wechselseitige Misstrauen blieb aber trotz enger werdenden Zusammenarbeit erhalten.

151 Vgl. dazu die eingehende Schilderung in den Annales Altahenses maiores (wie Anm. 21) 26 ff.

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Paul von Forchtenstein iudex curiae. Jurist, Staatsmann und Diplomat in Ungarn zur Zeit der Anjou Von Visegrád über Regensburg nach Avignon und Neapel – ein ungarisches Leben am europäischen Schauplatz der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts

Abstract: Paul von Forchtenstein served as iudex curiae (court judge) in Hungary from 1328 to 1349. Thereby, he acted at the top of the judiciary of the whole kingdom. At the same time, he carried out significant diplomatic missions in Avignon and Naples – in the context of the dispute between the two Anjou-lines over the throne of Naples, the murder of the Hungarian Prince Andreas and perhaps also the following military intervention of Hungary in southern Italy. Throughout the Hungarian middle ages, no other person served as iudex curiae for the considerable time span of twenty-one years. Hence, the following article wants to investigate on his biography (along his Iberian ancestry) and on the question of the reason for the incomparable duration and intensity of his concentration of power. Especially his itinerary during the Neapolitan throne crisis will be revealed, whereby monthly overlaps with the one of Colas di Rienzo and the one of Petrarch in Avignon can be discerned. The two were both engaging in diplomacy in favour of the Hungarian Prince Andreas in Italy. While the Papal sources from Avignon complement the Hungarian material to an overall extent, with regard to Paul von Forchtenstein, Italian sources lack completely, despite a direct hint to a stay of Paul in Naples. Monthly long gaps in his otherwise well documented and vivid office in Hungary leave the alleged stays in Italy up to be inferred. Considering the fact that the Hungarian court judge descending from Catalan-Provencal immigrants with the German cognomen »von Forchtenstein« operated at the French-speaking court in Avignon as Paul de Ferchiton, one can presume that other forms of this name may exist for Italian deeds. The article expresses at the same time also a demand for a direct investigation at the Italian venue after overlooked sources for Paul von Forchtenstein – additionally also in the southern German region. The depiction of the biography is going to be systematically framed by the argument of his possible constitutional input to the ideology of the under Simon von Kéza operating Gesta Hungarorum as the global question in the background.

Einleitung In Ungarn wird das Mittelalter in der Regel in zwei Hauptabschnitte unterteilt: einerseits die Arpadenzeit, die auch die Landnahmezeit ab dem späten 9. Jahrhundert mit umfasst, und andererseits das Spätmittelalter, das man mit der Anjou-Dynastie beginnen lässt, deren erster Vertreter, Karl Robert, 1308 den

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ungarischen Thron bestieg. Wenngleich die ungarische Geschichtsforschung heute über äußerst valide und solide Kenntnisse der sogenannten Arpadenzeit verfügt, scheint sie aus der Sicht der spätmittelalterlichen »Schule« immer noch ein wenig im Geruch des mythisierten Provinzialismus zu stehen, dem gegenüber die ungarische Geschichte erst mit den Anjou in ein »echt« europäisches und geschichtswissenschaftliches Licht getreten sei1. Diese Sichtweise unterstützt, dass das ungarische Spätmittelalter schon aufgrund der wirkenden Dynastien sofort den gesamteuropäischen Kontext vordergründig in Erscheinung treten lässt: Auf die französischstämmigen Anjou folgt der kosmopolitische Luxemburger Sigismund, der als erster die ungarische Königskrone und die römische Kaiserkrone zugleich trägt und damit für das habsburgische Konzept der frühen Neuzeit als prototypisch gelten kann2; ein letztes autochthones Intermezzo zwischen Luxemburgern, Habsburgern und Jagellonen findet mit Matthias Corvinus Hunyady statt, der mit einer Beatrix von Aragón verheiratet und der italienischen Renaissance eng verbunden war. Der Fokus auf die – angebliche oder tatsächliche – »Internationalität« der spätmittelalterlichen Dynastien Ungarns lässt deren Epoche als eine »kosmopolitische« der älteren Arpadenzeit als einer »klerikal-nationalen« gegenübertreten – ein Gegensatz, dem, wie man manchmal den Eindruck hat, durchaus die Kapazität innewohnt, sich im geschichtsbegeisterten Ungarn auch heute noch in tagespolitische Debatten hineinzudrängen. So betrachtet beispielsweise Katalin Szende die Anjou- und nicht die Arpadenzeit als die Glanzzeit Ungarns, wie sie anlässlich der Wiener Ringvorlesung: »Geschichte Ungarns« im Wintersemester 2017/18 erklärte; bei genauer Betrachtung muss man sich allerdings doch fragen, ob diese Sichtweise so stehen bleiben kann – insbesondere wenn man die gesamteuropäischen Beziehungen und die Intensität der Einbettung Ungarns in das Gefüge der europäischen Länder und Monarchien als wesentlichen Maßstab für ein solches Urteil anlegt: Schon bei den vier Ehefrauen des ersten Anjou-Königs nämlich zeigt sich eine Einschränkung des dynastischen Netzwerks der ungarischen Krone auf den mittelosteuropäischen Raum, während gerade die arpadische Heiratspolitik als echt 1

Was gewiss stimmt, ist die ungleiche Verteilung des Quellenmaterials: Wenn beispielsweise das Vollständigkeit beanspruchende Urkundenbuch des Burgenlandes die Zeit von 808 bis 1270 in einem einzigen Band komplett abdeckt, kam das Projekt bis heute trotz weiterer vier Bände nicht über 1349 hinaus. Wir sind mithin mit einer regelrechten Explosion des Urkundenwesens ab der spätesten Arpadenzeit konfrontiert – insbesondere aber in jener Anjouzeit, in der Paul von Forchtenstein als iudex curiae wirkte (1328–1349). 2 Gerhard Hartmann, Kaiser Sigismund, in: Gerhard Hartmann, Karl Rudolf Schnith (Hg.), Die Kaiser. 1200 Jahre europäische Geschichte. (Wien 52006 [1996]) 449–457, 452 f.

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transkontinental, von Palästina über Byzanz bis Schottland reichend, betrachtet werden muss3. Insofern ist es weder verwunderlich noch ganz unsachlich, wenn die traditionelle ungarische Geschichtsschreibung stets das Zeitalter des Arpaden Béla III. (1172—1196) als das »goldene« betrachtete4. Mit einem Blick von außen wird man gerne die Chance ergreifen, auf die Dinge unbelastet zuzugehen und einige spannende Phänomene der ungarischen Geschichte unparteiisch zu analysieren: Ausgehend von einem heimatkundlichen Interesse – das Wappen der Mattersdorfer-Forchtensteiner diente dem von Anthony von Siegenfeld gestalteten burgenländischen Landeswappen als Vorlage5 – traf ich auf die bemerkenswerte Persönlichkeit Pauls von Forchtenstein, der gerade in jener Umbruchzeit vom Aussterben der Arpaden hin zu den Anjou lebte und wirkte. Seine Biographie ermöglicht einige interessante Einblicke in Brüche und Kontinuitäten jener Epoche des ungarischen Zeitenwechsels. Dabei keimte mir der Verdacht, dass er eine maßgebliche Rolle in der Endredaktion der unter Simon von Kéza firmierenden Gesta Hungarorum gespielt und damit einen wesentlichen Beitrag zum neuzeitlichen, ständischen Selbstverständnis des ungarischen Adels geleistet haben könnte; insofern stünde er am Anfang einer Periode, die sich auffallend mit jener deckt, die Marc Bloch seinen »caractères originaux de l’Histoire rurale française« zugrunde legte – also von etwa 1300 bis etwa 1800: Sie setzt ein, nachdem sich der Charakter des Grundherrn vom 3 Zu den byzantinischen Verbindungen und zu den Chatillon von Antiochia Josef Deér, Die Heilige Krone Ungarns (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-­Histo­ rische Klasse, Denkschriften, 91. Band, Wien 1966) 66–71. Zu Margarete Capet als Gattin Bélas III. György Györffy, Art. Béla III., in: Lexikon des Mittelalters, Bd. I (München 101980) 1832 f., Sp. 1833. Zu den verwandtschaftlichen Beziehungen der Hl. Margarete von Schottland und der Hl. Margarete von England nach Ungarn auch Vera Schauber, Hans Michael Schindler, Bildlexikon der Heiligen, Seligen und Namenspatrone (München 1999) 446 f. Die Beziehungen zu den Ottonen und Saliern (und natürlich den Babenbergern) werden als hinlänglich bekannt vorausgesetzt. Auf die Beziehungen zu Aragón-Barcelona wird im Folgenden noch eingegangen. 4 Attila Zsoldos, Magarország a 12–13. században (Ungarn im 12.-13. Jahrhundert). In: Királylányok messzi földről. Magyarország és Katalónia a középkorban. (Prinzessinnen aus fernen Landen. Ungarn und Katalonien im Mittelalter.) hg. von Magyar Nemzeti Múzeum und Museu d’História de Catalunya (Budapest/Barcelona 2009) 143–161, 144. – Fremdsprachige Titel – sofern nicht Englisch oder Französisch – wurden von mir zum besseren Verständnis ins Deutsche übertragen und stehen kursiv in Klammern. 5 Leonhard Prickler, Die Entstehung des Burgenländischen Landeswappens als Ausdruck des politisch-kulturellen Umfelds in den »Geburtsjahren« des Burgenlandes. In: Wolfgang Gürtler, Gerhard J. Winkler (Hg.), Forscher – Gestalter – Vermittler. Festschrift für Gerald Schlag (Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland [WAB], Band 105, Eisenstadt 2001) 325–343, 335 f.

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»grand propriétaire« zum »rentier du sol« hin entwickelt hat6. In Ungarn wäre es die Epoche der starken Stände und eines dagegen eher schwachen Königtums ausländisch stämmiger Dynastien (wenn man vom bemerkenswerten, aber kinderlos verstorbenen, dynastisch irrelevant gebliebenen Einzelfall des Matthias Corvinus absieht). Was Géza Pálffy anlässlich der Jahrestagung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 2011 als charakteristisch für das frühneuzeitliche, habsburgische Ungarn darstellte7, dürfte schon erstmals anlässlich jenes Zeitenwechsels um 1300 Formen angenommen haben. Um allerdings zu verstehen, weshalb die ungarische Geschichtsforschung diesem Zeitenwechsel nicht erst in neuerer Zeit in Folge der Annales-Bewegung, sondern schon »immer« traditionell eine außerordentliche Bedeutung zumaß, sind eingangs ein paar Worte über den Ursprung der Arpaden zu verlieren: Legt man an die magyarische Ethnogenese dieselben strengen Kriterien an wie aktuell der internationale geschichtswissenschaftliche Diskurs an jene der Goten, muss man sie wohl im 9. Jahrhundert im Chasarenreich verorten; wagt man die von Reinhard Wenskus und Herwig Wolfram entwickelten Thesen vom »Traditionskern« anzuwenden, mag man tatsächlich eine Spur bis in eine »Urheimat« am Ural, und zwar am Osthang, im 6. Jahrhundert nachvollziehen können. Eine der wichtigsten glaubwürdigen Quellen über die Vorgänge im Chasarenreich des 9. Jahrhunderts, die zur »Mobilmachung« der Magyaren führten, ist Konstantin VII. Porphyrogennetos: Er beschreibt um 950 die initiative Rolle des Chasarenkhans bei der Auswahl des ersten Fürsten der Ungarn, wie schließlich Árpád erkoren »und dem Brauch und Gesetz der Chazaren nach auf den Schild« gehoben wird8. Es entsteht bei der Lektüre des Quellentexts der Eindruck, dass um die Mitte des 9. Jahrhunderts eine Ethnogenese im Chasarenreich im Gange war, die der Khan als solche erkannte und steuernd unter Kontrolle zu bringen trachtete; am Ende scheint sich die Sache unter dem offenbar noch jungen, charismatischen Árpád verselbständigt und eben dieser Kontrolle entzogen zu haben – ja vielmehr dürfte die Intervention des Chasa6 Marc Bloch, Les caractères originaux de l’Histoire rurale française (Paris 51968 [1931]) 104– 128. 7 Géza Pálffy, Ewige Verlierer oder auch ewige Gewinner? Aufstände und Unruhen im frühneuzeitlichen Ungarn. In: Peter Rauscher, Martin Scheutz (Hg.), Die Stimme der ewigen Verlierer? Aufstände, Revolten und Revolutionen in den österreichischen Ländern (ca. 1450– 1815). Vorträge der Jahrestagung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (Wien, 18.-20. Mai 2011). (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Bd. 61, Wien/München 2013) 151–175. 8 Gyula Kristó, Die Arpaden und Ungarn. In: Alfried Wieczorek, Hans-Martin Hinz (Hg.), Europas Mitte um 1000 (Handbuch zur 27. Europaratsausstellung, 2000) Bd. 2, 566–569, 566.

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renkhans die ethnogenerischen Prozesse noch mehr mobilisiert und beschleunigt haben. Wenn Árpáds Abstammung legendäre Züge tragen mag, so ist die Historizität seiner Person durch den Kaiser-Schriftsteller wohl als gesichert zu betrachten. Das Erscheinen der Ungarn im Rampenlicht gesicherter Geschichte fällt mithin mit dem Erscheinen des Stammvaters der ersten ungarischen Dynastie unmittelbar zusammen- wollte man sagen: ursächlich zusammen, wäre die magyarische Ethnogenese in Árpád sozusagen verkörpert. Bei diesen Vorgängen ist auf ein Kuriosum hinzuweisen: Bei ihrem ersten Erscheinen in Europa um 827 wurden die Magyaren sofort als »Hunnen« identifiziert9, was eventuell die modernen Bezeichnungen der westmitteleuropäischen und westeuropäischen Sprachen beeinflusst haben könnte: »Hungarians«, »Hongrois« bzw. »(H)Ungarn« (im Deutschen war das »H« im Anlaut noch bis ins 18. Jahrhundert hinein präsent – vgl. auch die lateinische Bezeichnung) – auch wenn die ungarische Forschung heute allgemein von einer Ableitung von den Onoguren ausgeht10; die hunnische Projektion auf die westeuropäischen Wortformen mochte auch auf die Ableitungen nach den Onoguren gewirkt haben. Die Selbstbezeichnung als »Magyaren« taucht erst 870 auf11 – also in Árpáds mutmaß­ licher Herrscherzeit – und setzte sich nur in den ost- und ostmitteleuropäischen Sprachen durch. Folgerichtig wehrte sich der ungarische königliche Hof unter Béla IV. noch um 1250 gegen eine Identifikation mit den Hunnen mit allen Mitteln und bestand auf die magyarische Distinktion12. Doch war bereits 1235 der Dominikanerpater Julianus, wahrscheinlich Ungar, der im Auftrag des päpstlichen Legaten, des Bischofs von Perugia, bis an den Ural reiste, dort auf eine Ethnie getroffen, mit der er sich offenbar in seiner Muttersprache unterhalten konnte, wobei er zugleich erste Nachrichten von der akut drohenden Mongolengefahr mitbrachte; seinem Bericht ist zu entnehmen, dass diese Ethnie den Mongolensturm nicht überlebte13. Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass dieser Bericht zumindest in Ungarn als sensationell empfunden und die  9 Csanád Bálint, Das Karpatenbecken von der Landnahme bis zur Staatsgründung, in: Alfried Wieczorek, Hans-Martin Hinz (Hg.), Europas Mitte um 1000 (Handbuch zur 27. Europaratsausstellung, 2000) Bd. 2, 555–563, 556: »hunnoi«, »ungroi« und »turkoi«. 10 Jenő Szűcz, Theoretical Elements in Master Simon of Kéza’s Gesta Hungarorum (1282–1285). In: Simon von Kéza, Gesta Hungarorum, hg. von László Veszprémy und Frank Schaer (CEU Press, Budapest/New York 1999) XXIX-CIV, XLVI. 11 Bálint, Das Karpatenbecken von der Landnahme bis zur Staatsgründung 556. 12 Szűcz, Theoretical Elements XLVII. 13 Hansgerd Göckenjan, James R. Sweeney (Hg. mit Übers. u. Komm.), Der Mongolensturm. Berichte von Augenzeugen und Zeitgenossen 1235–1250. In: Thomas von Bogyay (Hg.), Ungarns Geschichtsschreiber 3 (Graz/Wien/Köln 1985) 67–125.

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Frage der »hunnischen« Abstammung plötzlich wieder virulent wurde14; eventuell diente sie auch als kompensatorisch wirkendes Placebo zur Verarbeitung des Mongolen-Traumas15. Kurios war, dass diese »neuesten Forschungsergebnisse« auf Grundlage der dominikanischen Ethnographie nach 1235 gerade dort eher Amüsement erzeugt haben dürften, wo man ursprünglich von der Identität der Ungarn mit den Hunnen überzeugt gewesen war: nämlich im Westen. In Ungarn selbst fand hingegen ein Paradigmenwechsel statt, und anstatt wie bisher jedwede Verbindung mit den Hunnen zu leugnen, kultivierte man von nun an einen Traditionsstrang zu diesem »Volk der Antike«16, wobei eventuell auch die günstige Charakterisierung Etzels im deutschen Nibelungenlied eine Rolle gespielt haben könnte17. Allerdings konnte ein Konsens über diesen Paradigmenwechsel offenbar erst gefunden werden, als die Arpaden schon im Aussterben begriffen waren; Szűcs datiert den Paradigmenwechsel mit Simon von Kéza und damit um 128018 – Veszprémy ist kritischer: Beispielsweise fällt ihm auf, dass noch unter dem letzten Arpaden, Ladislaus IV. dem Kumanen, durch-

14 In der Tat weiß man ja bis heute nicht, wohin sich die Hunnen nach ihrer Niederlage gegen Valamir 456 endgültig zurückgezogen hätten; sollten die Hunnen gar keine Ethnie gewesen sein, sondern bloß ein bunter Personenverband, wäre gut möglich, dass sie sich schlicht zerstreuten. Träger des »Traditionskerns« könnten sich jedoch ebenso gut an den Ural zurückgezogen haben. Freilich wird man keine direkte Verknüpfung behaupten dürfen, zumal die nament lich magyarische gens ja nicht am Ural, sondern im 9. Jahrhundert im Chasarenreich entstand; unter Anwendung der von Wenskus und Wolfram vertretenen Thesen mag man hingegen einen längeren Traditionsstrang entwickeln können. Weder wissenschaftlich noch im politischen Dialog zielführend erscheint Paul Lendvais apodiktische Notiz: »So glaubten noch 2005 76 Prozent der Befragten der nachweisbar gefälschten Hunnensage von Simon Kézai, des Hofpredigers (1282–1285), wonach die Ungarn Nachfahren der Hunnen gewesen seien.« (Paul Lendvai, Mein verspieltes Land [Salzburg 2010] 124) Die Stelle beweist allerdings, wie politisch verfahren die Sache wissenschaftlich betriebener Historie in Ungarn sein kann: Wer die Möglichkeit eines hunnischen Traditionskerns der Magyaren auch nur andächte – es hieße von ihm: Er ist für Orbán! 15 László Veszprémy, La tradizione unno-magiara nella cronaca universale di fra’ Paolino da Venezia (Die hunnisch-magyarische Tradition im Chronicon Universale von Fra’ Paolino da Venezia), in: Sante Graciotti, Cesare Vasoli (Hg.), Spiritualità e lettere nelle cultura Italiana e Ungherese del Basso Medioevo (Spiritualität und Geisteswissenschaft in der Kultur Italiens und Ungarns des Spätmittelalters) (Fondazione Giorgio Cini, Civiltà Veneziana, Studi 46. Atti del convegno di studi promosso e organizzato dalla Fondazione Giorgio Cini in collaborazione con l’Accademia Ungherese delle Scienze, Florenz 1995) 355–375, 370. 16 Das Rückführen auf antike Völker hatte in der europäischen Chronikliteratur ja Tradition – die Franken wollten sich bekanntlich als Trojaner sehen, und der stadtrömische Adel behauptete von sich stets eine ungebrochene Kontinuität zurück zum antiken römischen Patriziat. 17 Szűcs, Theoretical Elements XLIII—XLVII. 18 Szűcs, Theoretical Elements LXI.

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aus negativ über Attila gedichtet wurde19. Dies indiziert stark, dass der Rekurs auf die Hunnen bis zum endgültigen Aussterben der Arpaden kurz nach 1300 nie ganz hoffähig geworden war. Wir halten fest: 1. Die arpadische Dynastie war angesichts der Rolle Árpáds für das Magya­ ren­tum an sich und der Rolle Stefans I. für die christliche Reichsgründung einzigartig und gleichsam unwiederholbar – ihr Aussterben mithin ein entsprechend einschneidendes Ereignis; freilich darf das nicht als einzige Begründung dafür genommen werden, dass die Ungarn von nun ab nur mehr ausländische Dynasten auf ihren Thron hievten. 2. Die Arpaden haben sich bis zum Schluss einer Identifikation mit den Hunnen leidenschaftlich verwehrt – sei es, dass sie wussten, dass der Name der Hunnen in Europas Mitte und Westen abwertend und abfällig verstanden wurde und mit Barbarei konnotiert war, sei es, dass sie den Hunnen-Konnex in der Tat schlicht für Unsinn hielten, oder sei es vielmehr, dass sie aus eigener Familienüberlieferung heraus das Magyarentum als bewusst distinguierenden Akt der Sezession vom Hunnentum verstanden; trotzdem scheint sich schon bald nach der Uralreise des Dominikaners Julianus von 1235 im ungarischen Adel eine historiographische Gegenströmung zum Arpadenhof ausgebildet zu haben, die der These der Identifikation mit den Hunnen mit »nationalem« Stolz anhing und nachging und sie propagierte. Ihr Durchbruch bei Hof gelang allerdings erst, als ein französischstämmiger Dynast aus Neapel den ungarischen Thron bestieg.

Forschungsfrage und Stand der Forschung Attila Zsoldos fasst die Einzigartigkeit der Person des iudex curiae Paul von Forchtenstein (amt. 1328–1349) in der Geschichte des ungarischen Mittelalters wie folgt zusammen: »… er füllte dieses Amt eine für das Mittelalter unvergleichlich lange Zeit aus, nämlich 21 Jahre lang.« Und: »Der Hofrichter stand an der Spitze der am königlichen Hof stattfindenden Gerichtsbarkeit, was für ihn selbst an und für sich schon eine bedeutende Macht gewährleistete, aber er verfügte auch in inner- und außenpolitischen Angelegenheiten über bedeutenden Ein-

19 Veszprémy, La tradizione unno-magiara nella cronaca universale di fra’ Paolino da Venezia 366.

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fluss«20. Es mag später Palatine gegeben haben, die zu ähnlicher Wirkmacht aufstiegen – aber nie mehr ist solches aus dem Amt des iudex curiae heraus mehr möglich gewesen, das ja in der Tat als Richteramt einen ganz anderen Fokus hat als das sehr politische des Palatins. Wie ein transdanubischer ungarischer Adeliger in der Anjouzeit zu solch lang andauernder Machtfülle gelangen konnte, blieb bis heute nur unzulänglich erklärt, obwohl das Interesse insbesondere auch der preußischen und österreichischen Geschichtsforschung in der Person Moriz Wertners, »corr. Mitglied des heraldisch-genealogischen Vereines ›Herold‹ in Berlin und der k. k. heraldischen Gesellschaft ›Adler‹ in Wien«, bereits im 19. Jahrhundert einsetzte. Wertners Verdienst war es insbesondere, päpstliche Quellen aus dem Pontifikat Clemens VI. in Avignon ausfindig gemacht und teilweise ediert zu haben. Seine – offenbar als Reaktion auf Antal Pórs in ungarischer Sprache im Organ der ungarischen heraldisch-genealogischen Gesellschaft, im »Turul«, selbigen Jahres veröffentlichte Arbeit erstellte – akribische Studie: »Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein (Nagymarton und Fraknó)« anhand aller vorhandenen, auch »außerungarischen« Urkunden und Quellen21 muss nach wie vor als Standardwerk angesprochen werden; in den von August Ernst verfassten, Bezug habenden Teilen der von der Landesregierung herausgegebenen burgenländischen Landestopographie mag das eine oder andere quellenmäßig noch ergänzt oder vertieft worden sein – im Wesentlichen wurde aber auch hier nur Wertners Darstellung wiedergegeben22. Allerdings scheint Irmtraut Lindeck-Pozza Pauls kognominelle Verortung in Forchtenstein zum Anlass genommen haben, sämtliche mit ihm in Bezug stehenden Urkunden, die sich nicht schon in älteren Editionen fanden, im Rahmen des Urkundenbuchs des Burgenlandes, zu edieren. Eine gewisse Aktualisierung des Forschungsstandes seit Wertner fand auf ungarischer Seite im Rahmen eines gemeinsamen ungarisch-katalanischen 20 Attila Zsoldos, A Nagymartoniak: egy Aragóniai család Magyarországon (Die Mattersdorfer: eine aragonesische Familie in Ungarn), in: Magyar Nemzeti Múzeum und Museu d’História de Catalunya (Hg.), Királylányok messzi földről. Magyarország és Katalónia a középkorban (Prinzessinnen aus fernen Landen. Ungarn und Katalonien im Mittelalter.) (Budapest/Barcelona 2009) 177–187, 183. Aus dem Ungarischen übersetzt von Zsuzsanna Holmlund und vom Autor, teils unter Zuhilfenahme der katalanischen Übersetzung des Teams: Mercè Costa, DUUAL SL, Kálmán Faluba, Jordi Giner, Erszébet Hanny, Csilla Péczely und Marianne Sághy. 21 Moriz Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein (Nagymarton und Fraknó) (Wien 1889), 1 f. 22 August Ernst, Die Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein. In: Allgemeine Landestopographie des Burgenlandes, Bd. 3 (Verwaltungsbezirk Mattersburg), 1. Teilband, hg. vom Amt der Burgenländischen Landesregierung (Eisenstadt 1981) 148–218.

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Ausstellungsprojekts 2009 statt: »Királylányok messzi földről. Magyarország és Katalónia a középkorban.«/»Princeses de terres llunyanes. Catalunya i Hongria a l’edat mitjana« (»Prinzessinnen aus fernen Landen. Ungarn und Katalonien im Mittelalter.«), und zwar im Artikel von Attila Zsoldos über die Mattersdorfer: eine aragonesische Familie in Ungarn23. Trotz der in diesen Arbeiten aus den Quellen gewonnenen Fakten bleiben sie die Erk l är u ng der aufgeworfenen Frage schuldig – nämlich weshalb Paul von Forchtenstein eine so lange Zeit neben den beiden Anjou-Königen, unter denen er wirkte, so unangefochten mächtig zu bleiben vermochte. Auf der Suche nach Erklärungsmustern für Pauls von Forchtenstein Alleinstellung in der mittelalterlichen Geschichte Ungarns bin ich auf die in der ungarischen Forschung bereits mehrmals beobachtete Tatsache gestoßen, dass die unter Simon von Kéza firmierenden Gesta Hungarorum, die traditionell auf 1282/85 datiert werden24, im 14. Jahrhundert eingehend redigiert und ergänzt worden sein müssen25, was auch die Hunnengeschichte betreffen könnte, die hier das erste Mal im Genre der ungarischen Chronikliteratur auftritt26. Angesichts der Tatsache, dass diese Gesta Hungarorum in einem einzigen (mittlerweile verschollenen, doch glücklicherweise in drei Abschriften und einem Druck von 1781 überlieferten) Autograph im Besitz der Esterházy vorlagen, das diese wohl auf Forchtenstein aufgefunden hatten, habe ich mich gefragt, ob da nicht ein Konnex mit Paul von Forchtenstein herzustellen sei, womit eine weitere, wenngleich nur indirekte Quelle vorläge, mit der das Phänomen seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit eventuell besser ausgedeutet werden könnte. Um sich allerdings in keinen Zirkelschlüsseln zu verheddern, soll zunächst die Faktenlage zu Pauls Biographie eingehend dargestellt werden. Ein abschließender Ausblick soll Aufschluss darüber geben, welche noch viel größere Bedeutung er für die ungarische Geschichte gewänne, wenn jene Passagen in den unter Simon von Kéza firmierenden Gesta Hungarorum ihm zuzuschreiben wären, die 23 Zsoldos, A Nagymartoniak. 24 László Veszprémy, Introduction, in: Simon von Kéza, Gesta Hungarorum, hg. von László Veszprémy, Frank Schaer (CEU Press, Budapest/New York 1999), XV–XXVII, XX. 25 Etwa bei Alexander Domanovszky (Hg. und Komm.), Chronici Hungarici Compositio Saeculo XIV., in: Emericus (Imre) Szentpétery (Hg.), Scriptores Rerum Hungaricum Tempore Ducum Regumque Stirpis Arpadianae Gestarum (SRH), vol. I, hg. von der Ungarische Akademie der Wissenschaften (Budapest 1937) 217–516, 219; ferner László Veszprémy zu Simon von Kéza, Gesta Hungarorum 41 Anm. 1, in: Simon von Kéza, Gesta Hungarorum (wie Anm. 24) 96 f. 26 Veszprémy, Introduction, in: Simon von Kéza, Gesta Hungarorum (wie Anm. 24) XXIII. Vgl. dort auch die Erörterungen in Anm. 15.

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eine außerordentliche Ständemacht in Ungarn historisch zu stützen suchen, und welche Hinweise es gibt, dass tatsächlich er deren Urheber war.

Pauls Herkunft und Genealogisches ca. 1200–1300 Wer Pauls Mutter war, ist unbekannt27; sein Vater war jener Simon, den die Gesta Hungarorum gemeinsam mit Michael als Ausgangspunkt ihrer Ausführungen über die Herkunft der Mattersdorfer-Forchtensteiner nehmen, und den die moderne Genealogie in der Regel als Simon II. ausweist28. Dessen Vater wiederum war Simon I. Yspanus, der den erwähnten Genealogien nach bereits um 1196/98 aus Spanien eingewandert sein soll und noch 1242 eine heroische Bedeutung in der Verteidigung der Burg von Gran/Esztergom gegen die Mongolen erlangte. Während letztere Leistung an sich außer Streit steht29, meinte schon Hansgerd Göckenjan, dass es sich bei jenem Simon I., der sie erbrachte, bereits um die zweite, in Ungarn geborene Generation der Mattersdorfer-Forchtensteiner handeln muss30; meinen Analysen nach ist das bei genauer Betrachtung aus den Urkunden sogar ganz gut herauszulesen, auch wenn Moriz Wertner in der Auffassung verharrte, dass es sich bei jenem Simon I. noch immer um den spanischen Einwanderer handelte31. Zu meiner eigenen Urkundenanalyse und ihren detaillierten Ergebnissen darf ich hier auf meine umfassende, in Vorbereitung befindliche Arbeit über die iberische Abstammung und Herkunft der Mattersdorfer-Forchtensteiner verweisen, die voraussichtlich Ende 2019 in den Mitteilungen aus den Sammlungen der Privatstiftung Esterházy (MASPE) erscheinen wird: Vorwegnehmend darf ich sagen, dass Simon I. ein Simon »0.« voranzustellen ist, der tatsächlich im Zuge der Brautfahrt Konstanzes von Aragón 1196 oder 1198 erstmals nach Ungarn gekommen sein mag, wo er sich allerdings erst im Gefolge der zweiten Gattin Andreas’ II., Jolante/Yolande von Courtenay, ab 1215 dauerhaft niedergelassen haben dürfte. Ob Simon »0.« der Vater des namensgleichen Mongolenhelden Simon I. war, oder doch eher ein anderer Teilnehmer des Brautzugs namens Bertram, oder ob Simon I. vielmehr der Sohn der Schwester der beiden Einwanderer war, muss am Ende auch in meiner umfassenden, in 27 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 19. 28 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein, 2; Ernst, Die Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 155 und 216; Pál Engel zitiert nach: Zsoldos, A Nagymartoniak 184. 29 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 7, Urkunde vom 13. Jänner 1243. 30 Göckenjan, Sweeney, Mongolensturm 222, Anm. 223. 31 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 5–8.

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Vorbereitung befindlichen Arbeit offen bleiben; geklärt werden konnte indes, dass die Einwandererfamilie von einer katalanischen Mutter aus dem Urgellet, der Arnaua de Caboet, agnatische Erbin der Täler von Cabò, Sant Joan und Andorra, und einem wahrscheinlich provençalischen Patrizier namens Bertrand de Tarascon herkam, der allerdings schon früh in einem Pyrenäen­scharmützel fiel, wodurch seine junge und reiche Witwe zu einem Spielball und begehrten Heiratsobjekt in den Machtspielen des Urgellet und der Cerdanya wurde, die der Bischof von Urgell, der Graf von Urgell, der Vizegraf von ­Castellbò und der Graf von Foix untereinander austrugen, und die auch Aspekte einer militärischen katharisch-katholischen Auseinandersetzung in sich trugen, bis sich eines Tages der König von Aragón-Barcelona höchstpersönlich einschaltete. Mit dem Hochzeitszug seiner Schwester, Konstanze von Aragón, zu Emmerich gelangten die Kinder der Witwe Arnaua de Caboet-Taras­con als Ahnengeneration der Mattersdorfer-Forchtensteiner erstmals nach Ungarn, während der Bischof von Urgell Arnaua dem Vizegrafen von Castellbò verheiraten und ihre Kinder zugunsten des Vizegrafen enterben musste32. Unter anderen nahmen auch die berühmten Troubadours Peire Vidal33 und Gaucelm Fadit34 an dieser Brautfahrt teil, was entsprechende Rückschlüsse auf Anziehungskraft und Internationalität des Arpadenhofes unter Béla III. und seinen Söhnen zulässt. Zurück zur Frage nach Pauls Mutter: Simon II. hatte mit ihr neben Paul noch zwei weitere Kinder, Klara und Lorenz35. Paul wird 1301 erstmals erwähnt – und zwar zu diesem Zeitpunkt bereits als magister –36, und er amtiert als Hofrichter noch bis 1349: Wenn man in Padua mit 16 Jahren zu studieren beginnen und nach drei Jahren den Magistertitel erlangen konnte, kann er spätestens 1282 geboren worden sein; allerdings auch nicht wesentlich früher, da er 1349 noch lebte und wirkte37: Selbst beim spätest denkbaren Geburtsjahr 1282 wäre er dann schon 67 Jahre alt gewesen; die Rechnung mit dem spätest denkbaren Geburtsjahr könnte aber – wenn überhaupt – ebenso auf seinen Bruder Lorenz zutreffen, der in jener Urkunde von 1301 gleichfalls bereits als magister aus-

32 Was die näheren Zusammenhänge und die urkundlich gut erhellte Faktenlage zu diesen Vorgängen anbelangt, darf ich an dieser Stelle nochmals ausdrücklich auf meine in Vorbereitung befindliche Arbeit verweisen. 33 Robert Lafont, Histoire et anthologie de la littérature occitane, Tome I (L’Âge classique 1000– 1520, Montpellier 1997) Kapitel 17: »Pèire Vidal, l’aventurier du trobar« 91–94, bes. 92. 34 Ernest Hoepffner, Le troubadour Peire Vidal. Sa vie et son œuvre (Paris 1961) 158. 35 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 20. 36 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 22 f. 37 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 41.

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gewiesen wird38. Realistischer wird daher sein, die Geburten der beiden Brüder schon zwischen 1275 und 1280 anzusetzen. Auffällig ist, dass kein einziges Kind einen in Simons Familie traditionellen Namen wie eben Simon oder auch Bertram oder Michael trägt, sondern völlig neue Vornamen auftauchen; das lässt auf einen starken Einfluss der mütterlichen Seite schließen – oder einen gewissen bewussten Bruch mit der Vätertradition; letzterer ist allerdings sonst kaum auszumachen – vielmehr scheint die Familie mehr denn je an die damals wohl bereits halb legendären Taten Simons I. Yspanus und ihre angeblich ruhmvolle spanische Abstammung anknüpfen zu wollen; dass bloß der Versuch einer Ansippung an jene iberischstämmigen »Simoniden« vorliegt, ist ziemlich sicher auszuschließen, da man ja gerade dann die Simon-Vornamenstradition fortgeführt hätte, was ja das eigentliche Charakteristikum einer solchen Ansippung ist39. Georg Scheibelreiter zeigt anhand der Babenberger im nah benachbarten Österreich, dass ein solches Phänomen der »Dominanz der kognatischen Namen … damals nur noch bei höherem sozialen Rang der Ehefrau möglich war«; hier ging es um die Übernahme des salischen Vornamens Heinrich via Agnes, Tochter Heinrichs IV., durch die Babenberger40. Im vorliegenden, fast 200 Jahre späteren Fall der Mattersdorfer-Forchtensteiner drängt sogar ein ganzes Paket von drei Vornamen neu in die Familie, während die traditionellen Namen auch pro futuro aufgegeben und in späteren Generationen nicht mehr wiederbelebt werden; Paul wird auch sein Kognomen von Mattersdorf aufgeben und auf von Forchtenstein ändern. Auch wenn dieser Vorgang nach Zerstörung und Schleifung der Mattersdorfer Burg 1289/94 von sich aus schon verständlich erscheint, so treten uns all diese Aspekte in ihrer Gesamtheit doch wie eine »Neugründung« der Familie vor Augen. Umso eigenartiger erscheint, dass wir über Pauls Mutter und Simons II. Gattin, die offenbar eine sehr bedeutsame und dominante Frau gewesen sein muss, so gar nichts wissen. In Vorgriff auf meine in Vorbereitung befindliche Arbeit möchte ich hier nur so viel anführen, dass hinsichtlich der Mutter Spekulationen, dass sie eine venezianische Tiepolo gewesenen wäre, legitim sind, allerdings alles andere als gesichert. Im italieni38 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 23. 39 Georg Scheibelreiter, Namengebung und Genealogie im Mittelalter. Tradition und gesellschaftlicher Wandel. In: Ders., Wappenbild und Verwandtschaftsgeflecht. Kultur- und mentalitätsgeschichtliche Forschungen zu Heraldik und Genealogie (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergbd. 53, Wien/München 2009) 245–255, 250 f. 40 Georg Scheibelreiter, Zunamen und Wappen. Die Anfänge des agnatischen Bewusstseins. In: Ders., Wappenbild (wie Anm. 39) 229–244, 233.

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schen Kontext wären die Namen der drei Kinder mithin als Chiara, Lorenzo und Paolo zu lesen. Zu beachten ist, dass ein Stefan, dessen eheliche Abstammung von Andreas II. des Letzteren Sohn, Béla IV., in Frage stellte, in Venedig im Exil lebte und einen Sohn hatte, der zuletzt als Andreas  III. als der letzte Arpade am ungarischen Thron gilt41; es ist anzunehmen, dass dieser Zweig in Venedig eine Art Hofhaltung unternahm, wo sich Ungarn und Venezianer bzw. Venezianerinnen untereinander mischten.

Pauls Jugend: Das »Trauma« der Zerstörung von Mattersdorf Im ausgehenden 13. Jahrhundert gerieten die Mattersdorfer unter den Einfluss der Güssinger, die sich schon ab den letzten Regierungsjahren Bélas IV. ein de facto eigenes Kleinkönigtum im Westen aufbauten; Attila Zsoldos meint, dass dabei »eines der Mittel [war], dass sich umliegende Familien von selbst aus (möglicherweise durch versteckten oder gar auch offenen Zwang) in den Dienst der Güssinger stellten und dann, wie man damals sagte, familiär wurden. Es gibt Anzeichen dafür, dass auch die Mattersdorfer diese Abhängigkeit von den Güssingern nicht umgehen konnten«42. Da Simon II. und Michael im Bündnis mit den Güssingern Überfälle auf österreichisches und steirisches Gebiet gemacht haben dürften, griff Herzog Albrecht im Frühjahr 1289 die Mattersdorfer in ihrer Stammburg an, die sich elf Tage lang halten konnte: »Simon und Michael, von denen der Letztere eine Oesterreicherin zur Gattin hatte, gaben nun über Vermittlung des Tirolers Hugo v. Taufers, die Feste mit der Bedingung über, daß die Garnison mit all’ ihrer Habe frei abziehen dürfe«43. Was sich davor abgespielt hatte, rekonstruierte Otto Piper: »In der Reimchronik des Ottokar v. Steiermark, † nach 1300, findet sich V. 30 181 bis 30 551 eine anschauliche Beschreibung der in das Ende des 41 Zsoldos, Magyarország a 12–13. Sszázadban, 153. 42 Zsoldos, A Nagymartoniak 181. Aus dem Ungarischen übersetzt von Zsuzsanna Holmlund und vom Autor, teils unter Zuhilfenahme der katalanischen Übersetzung des Teams: Mercè Costa, DUUAL SL, Kálmán Faluba, Jordi Giner, Erszébet Hanny, Csilla Péczely und Marianne Sághy. 43 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 14 f.

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13. Jahrhunderts fallenden Belagerung von Mar t i ns d or f und St .  Margareten durch Herzog Albrecht. Der wesentliche Inhalt der weitschweifigen Darstellung ist folgender: Er ließ die Katzen an den Graben bringen, um die Mauern ›in den Grund zu brechen‹, auch ein Ebenhoch wurde so nahe herangetrieben, dass die Belagerer alles Tun und Treiben der Bewohner beobachten konnten. Die Antwerke, Tumler und Bliden warfen Tag und Nacht grosse Steine in die Burg. Leute und Rosse, manches Dach und manche Hand wurden damit vernichtet, die Estriche, welche die Belagerten schirmen sollten, durchbrochen und die ›festen Türme‹ so zerstört, dass man durch sie hindurchsehen konnte. Ein hoher und starker Rundturm war mit einem festen und dicken Schindeldach gedeckt. Ebenso war Haus und alle Wehre mit Dächern überdeckt. ›Dô man für daz hûs kam, ein meister dâz ûz nam, an der gelegenheite dieser sach, swaz man wurfe ûf daz dach, daz möht nicht gâhes ab gewalzen von den mannicvallen valzen, die daz dach ûf im het.‹ Die Belagerer warfen deshalb ›ein Feuer von Schwefel‹ mittels einer Rutte auf die Dächer, die dadurch in Brand gesteckt wurden. Da wenig Wasser in der Burg war, wollten die Belagerten die brennenden Dächer ›aufbrechen‹, wurden aber durch wohlgezielte Würfe des Antwerkes von der Arbeit vertrieben, so dass sie sich darauf beschränken mussten, das (darunter befindliche) Gewölbe mittels eiserner Tür zu schließen. Schließlich wurde der Turm (Berchfrit) untergraben und umgeworfen und der Herzog ließ ›gar verwüsten, was zu der Veste gehörte‹«44. Die wahrscheinlich zwischen 1275 und 1280 geborenen Kinder dürften sich mit hoher Wahrscheinlichkeit damals in der Burg befunden und alles hautnah miterlebt haben; in der Literatur wird zumeist davon ausgegangen, dass die Mattersdorfer-Forchtensteiner es der österreichischen Gattin Michaels zu verdanken hatten, dass sie am Ende doch ziemlich glimpflich davonkamen45. Dagegen dürften die Mattersdorfer Ivans von Güssing Unterstützung als ziemlich mager empfunden haben – er brachte nämlich keinen echten Entsatz, sondern nur in Guerilla-Taktik agierende schnelle Reiterei, die eher wenig erfolgreich den österreichischen Nachschub stören sollte. Gerald Gänser meint, dass »etliche der Bedrohten einfach zu Albrecht übergelaufen sein [werden], froh, dem Regi44 Otto Piper, Burgenkunde. Bauwesen und Geschichte der Burgen zunächst innerhalb des deutschen Sprachgebietes. Dritte vielfach verbesserte Auflage (München 1912) 399 f. 45 Etwa Oskar Gruszecki, Die Mattersdorfer-Forchtensteiner. In: Burgenländische Heimatblätter 24. Jg., Heft 1/2 (1962) hg. vom Volksbildungswerk für das Burgenland in Verbindung mit dem Landesarchiv und dem Landesmuseum, 13–21, 15.

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ment Ybans Lebewohl sagen zu können«46. Interpretiert man die glimpfliche Gewährung freien Abzugs durch den Herzog in selbiger Weise, so wäre darin die erste Vereinbarung der Mattersdorfer-Forchtensteiner in einer langen Reihe mit den Habsburgern zu sehen, die letztlich darin gipfelte, dass die Habsburger 1440–1445 die erbrechtliche Nachfolge der dann ausgestorbenen Mattersdorfer-­ Forchtensteiner antraten47. Im Frieden von 1291 verpflichten sich die Mattersdorfer, die Burg von Mattersdorf (bzw. was von ihr noch übrig war) zu schleifen; zwar waren auch anderen westungarischen Familien Burgenschleifungen oktroyiert worden, allen voran den Güssingern, doch dürften diese kaum tatsächlich durchgeführt worden sein – mit Ausnahme von Mattersdorf: »Nicht so die Mattersdorfer, wo wir zum Beweis in einer Urkunde, ausgestellt 1294, davon unterrichtet werden, dass die Burg der Mattersdorfer tatsächlich geschliffen wurde im Sinne des Friedensschlusses, wobei Andreas III. Simon und Michael je ein königliches Gut als Schmerzensgeld zum Lehen gab«48. Eine von den Esterházy-Betrieben in Auftrag gegebene Studie aus 2012 kommt zu dem Schluss, dass Teile der Mattersdorfer Burg wie beispielweise gotische Fensterrahmen in Forchtenstein neuerlich Verwendung gefunden haben müssen49. Ob der Forchtensteiner Standort dennoch älter ist, soll hier nicht diskutiert werden; zutreffend wird jedenfalls sein, dass sein Vollausbau zur Burg zugleich mit dem Abbau der ruinierten Mattersdorfer Burg zwischen 1291 und etwa 1294 stattgefunden haben dürfte. Das heißt, die eifrige Erfüllung des Frie46 Gerald Gänser, Die Güssinger Fehde. In: Die Güssinger. Beiträge zur Geschichte der Herren von Güns/Güssing und ihrer Zeit (13./14. Jahrhundert (Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland [WAB] Heft 79, hg. vom Burgenländisches Landesmuseum Eisenstadt, Amt der Burgenländischen Landesregierung, wissenschaftliche Schriftleitung Heide Dienst und Irmtraut Lindeck-Pozza, Eisenstadt 1989) 197–205, 202 f. 47 Zsoldos, A Nagymartoniak 185 f. 48 Zsoldos, A Nagymartoniak 182. Aus dem Ungarischen übersetzt von Zsuzsanna Holmlund und vom Autor, teils unter Zuhilfenahme der katalanischen Übersetzung des Teams: Mercè Costa, DUUAL SL, Kálmán Faluba, Jordi Giner, Erszébet Hanny, Csilla Péczely und Marianne Sághy. Hier mag man an ein persönliches Naheverhältnis zu Andreas III. denken, das mit einem venezianischen Vorspiel gut erklärbar wäre. Wenn es so war, muss freilich in der Zeit nach 1294 bis 1299 eine Trübung dieses Verhältnisses angenommen werden, wie im Fließtext gleich erläutert werden wird. 49 Iris Eckkrammer-Horvath, Kurt Fiebig, Grabungsergebnisse Schloss Forchtenstein 2012. Neue Ergebnisse zur Erbauung von Burg Forchtenstein. https://www.academia.edu/3083167/ Grabungsergebnisse_Schloss_ Forchtenstein_2012 [17.8.2018] 5.

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densvertrages diente allem Anschein nach in erster Linie dem Bau einer neuen, verteidigungstechnisch wesentlich besser gelegenen Höhenburg, indem durch die Abtragung des Mattersdorfer Standortes Baumaterial für den Forchtensteiner Höhenstandort mobilisiert werden konnte. In diesen 1290ern dürften Einfluss und Rückhalt der Mattersdorfer im ungarischen Adel noch erheblich gewesen sein, wovon eine Simon II. und Michael am 17. Juli 1299 ausgestellte und bemerkenswert 17fach besiegelte Urkunde50 zeugt – zugleich jedoch auch von einem prekären Verhältnis der Familie zur Krone, die damals noch der schon erwähnte letzte Arpade, Andreas III., innehatte: »Auch die aus 1299 erhaltene mehrfach besiegelte Urkunde ist ein einzigartiges Stück: König Andreas  III. wollte den Mattersdorfern ein Gut wegnehmen, die jedoch in der Pester Reichsversammlung von 1299 mit einer Urkunde ihr Besitzrecht nachweisen konnten, worauf der König ihnen auf Empfehlung der kirchlichen und weltlichen Würdenträger die Ländereien ließ und die Barone des Reiches über die Angelegenheit eine mit allen ihren Siegeln beglaubigte Bezeugung ausstellten. Solche Urkunden mit vielen Siegeln werfen Licht auf das laufende Ringen zwischen den sich entwickelnden ständischen Bestrebungen und der königlichen Autorität«51. Sollte die Familie bereits 1294 auf den Forchtensteiner Dolomiten umgezogen sein, dürfte sich der Burgenbau dennoch unerwartet länger hingezogen haben – vielleicht wegen Geldmangels oder erst allmählich hervorgekommener Baumängel –, denn die Familie bezog nach 1301 vorübergehend in Kobersdorf Familiensitz52; allerdings war von dort über den (heute) so genannten Hotterweg (von ung. határ = Grenze), der die Reichsgrenze zwischen dem Heiligen Römischen und dem Ungarischen Reich markierte, die Forchtensteiner Burgen-

50 György Rácz, A magyar királyi udvar 13. századi oklevelei (Die Urkunden des ungarischen Königshofes im 13. Jahrhundert). In: Magyar Nemzeti Múzeum und Museu d’História de Catalunya (Hg.), Királylányok messzi földről. Magyarország és Katalónia a középkorban. (Prinzessinnen aus fernen Landen. Ungarn und Katalonien im Mittelalter.) (Budapest/Barcelona 2009) 264–269, 267. 51 Rácz, A magyar király udvar oklevelei 264. Aus dem Ungarischen übersetzt von Zsuzsanna Holmlund und vom Autor, teils unter Zuhilfenahme der katalanischen Übersetzung des Teams: Mercè Costa, DUUAL SL, Kálmán Faluba, Jordi Giner, Erszébet Hanny, Csilla Péczely und Marianne Sághy. 52 Zsoldos, A Nagymartoniak 182.

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baustelle relativ rasch und bequem zu erreichen53. In diese Zeit (1304–1315) fällt auch eine Phase ziemlicher Bedeutungslosigkeit der Familie, in der wir sie »bei nur durchschnittlichen Gutsverhandlungen in urkundlicher Erwähnung antreffen. Diese Situation änderte sich erst in der zweiten Hälfte der 1310er-Jahre«54.

Paul übernimmt die Führung der Familie und die Leitung einer adeligen Selbstschutztruppe In dieser Zeit scheint Paul die Familienführung übernommen haben, wobei allerdings zu beachten ist, dass Moriz Wertner seinen Vater, Simon II., um 1318 noch als Gespan von Raab/Győr urkundlich fand; Attila Zsoldos hingegen meint, dass er bereits »irgendwann nach 1304« verstarb55. Vielleicht verlor Vater Simon II. auch nur ab etwa 1304 gegenüber seinem Sohn zunehmend an Autorität. Dass Pauls Dominanz gegen seinen wahrscheinlich älteren Bruder56, ja vielleicht sogar gegen seinen Vater, sollte er tatsächlich noch bis 1318 gelebt haben, ohne erkennbare (äußere) Konflikte durchging, lässt erneut auf eine starke Mutter schließen; die aus den Lücken der schriftlichen Überlieferung hervordrängenden Fragen fordern geradezu paradigmatisch das topische: Cherchez la femme! ein. Jedenfalls wird deutlich, dass sich die Familie in dieser Zeit aus allen politischen Bindungen mit den Güssingern löste und treu ins königliche Lager der neuen französisch-stämmigen Anjou-Dynastie gesellte; Attila Zsoldos hält fest:

53 Der heute noch die niederösterreichisch-burgenländische Landesgrenze markierende Weg muss daher erst im Zuge der Grenzfixierung angelegt worden sein – vielleicht in der Tat in der Folge des Friedens von 1291. Über diesen Weg führt heute jener Abschnitt des burgenländischen Mariazellerwegs 02 von Kobersdorf nach Forchtenstein – zugleich auch ein Abschnitt des Niederösterreich-Rundwanderwegs; er wird hier durch die stets paarweise auftretenden rot-gelben und blau-gelben Markierungen ausgewiesen. Dieser Waldweg, der keine moderne, schnurgerade Forststraße darstellt, sondern den Regeln des mittelalterlichen Straßenbaus folgt, der sich den Geländekonturen anpasste und somit regelmäßig Kurven in Kauf nahm, ist trotzdem vergleichsweise breit und stellt offenbar immer noch die mittelalterliche Grenzund Handelsstraße vor. 54 Zsoldos, A Nagymartoniak (wie Anm. 52) aus dem Ungarischen übersetzt von Zsuzsanna Holmlund und vom Autor, teils unter Zuhilfenahme der katalanischen Übersetzung des Teams: Mercè Costa, DUUAL SL, Kálmán Faluba, Jordi Giner, Erszébet Hanny, Csilla Péczely und Marianne Sághy. 55 Wertner, Mattersdorfer-Forchtensteiner 19; Zsoldos, A Nagymartoniak, wie Anm. 52. 56 Ernst, Die Grafen von Mattersdorf Forchtenstein 176 f, insb. FN 286, bemerkt, dass es eigentlich Lorenz gewesen sein dürfte, der als erster den Titel eines Grafen von Forchtenstein führte; für Paul ist es erst am 1. Mai 1344 belegt – zu einem Zeitpunkt, als Lorenz nicht mehr lebte.

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»Unsere Daten lassen es im Dunkel, ob der Abbruch der Verbindungen zu den Güssingern oder eben das Gegenteil der Grund war, dass in der Folge der Güssinger Andreas Hand an ihre Burg Kobersdorf legte und ihre Güter verwüstete; jedenfalls haben Lorenz und Paul 1317 erfolgreich die Städte Ödenburg/Sopron und Raab/Győr gegen Andreas von Güssing und die ihn unterstützenden österreichischen Ritter verteidigt. Ihr Lohn ist nicht ausgeblieben: Karl I. gab ihnen Kobersdorf zurück«57. In diesen Jahren setzt mit den kalten Sommern 1315–1317 die so genannte spätmittelalterliche Agrarkrise ein58, die im Überlebens- und Konkurrenzkampf um die knapper werdenden Ressourcen die Gewaltspirale des schon davor aufgrund der Wirren im Zuge des Aussterbens der Arpaden und aufgrund der Güssinger Ambitionen insbesondere im Westen immer intensiver gewordenen Fehdewesens noch beschleunigt haben dürfte. Wir finden Paul, der hier noch das Kognomen »von Mattersdorf« führt, dabei in einer nicht ganz durchsichtigen Rolle: »Um durch Grenzfehden unruhiger Landherren das gute Einvernehmen nicht zu trüben, wurde im Jahre 1323 ein Schiedsgericht für derartige Zwischenfälle eingesetzt. Unter den ungarischen Bürgern, die für die Aufrechterhaltung des Bündnisses einstehen sollten, finden wir auch ›Paul de Mertensdorf‹, jenen Paul I. von Mattersdorf, der ein Jahr zuvor als Sohn des comes Simon II. ›de Bojath‹ das in der Nachbarschaft von Bajót gelegene Dorf Lábatlan plünderte – warum wissen wir nicht –, am wahrscheinlichs57 Zsoldos, A Nagymartoniak, 182. Aus dem Ungarischen übersetzt von Zsuzsanna Holmlund und vom Autor, teils unter Zuhilfenahme der katalanischen Übersetzung des Teams: Mercè Costa, DUUAL SL, Kálmán Faluba, Jordi Giner, Erszébet Hanny, Csilla Péczely und Marianne Sághy. 58 Erich Landsteiner, Landwirtschaft und Agrargesellschaft. In: Markus Cerman, Franz X. Eder, Peter Eigner, Andrea Komlosy, Erich Landsteiner (Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft. Europa 1000–2000 (VGS Studientexte Band 2, hg. von Markus Cerman, Friedrich Edelmayer, Margarete Grandner, Martin Scheutz, Sven Tost, Marija Wakounig, Wien 2011) 178–210, 198. – Katalin Szende hielt zwar im Rahmen der Ringvorlesung der Universität Wien: »Ungarische Geschichte« (Wintersemester 2017/18) fest, dass Ungarn von der spätmittelalterlichen Agrarkrise kaum getroffen wurde, allerdings muss das für die konkret auslösenden Jahre 1315–1317 nicht auch gelten: Es ist davon auszugehen, dass diese kalten Jahre auch in Ungarn extrem schlechte Ernten bewirkten – allerdings dürfte sich Ungarn rasch und wesentlich besser von diesen Hungerjahren erholt haben, sodass jene Langzeitfolgen, die im westlicher gelegenen Europa als »spätmittelalterliche Agrarkrise« bezeichnet werden, in Ungarn kaum oder nur in abgeschwächter Form beobachtet werden können. In den 1320er Jahren könnten die Folgen der Hungerjahre insbesondere im nördlichen Ungarn allerdings noch sehr wirkmächtig gewesen sein.

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ten ist die Vermutung Pórs, wonach es sich um Wiedervergeltung eines in jenen stürmischen Zeiten auf der Tagesordnung gewesenen ähnlichen Aktes handelt, zumal wir später erfahren werden, daß Bajót durch Matthäus Csák erobert und die Mattersdorfer durch andere Mitglieder des Geschlechtes Csák großen Schaden erlitten hatten, im selben Jahr schlichtete er Streitigkeiten von Peter IV., Andreas II.(?), Stefan I., Desiderius und Nikolaus v. Németi, die sich hier v. Rosenfeld nennen, mit den Bürgern von Wiener Neustadt wegen Gütern in Alrams vorläufig für ein Jahr«59.

Fazit der ersten 50 Lebensjahre Pauls von Forchtenstein Zusammenfassend kann über Pauls erste 50 Lebensjahre nicht viel mehr ausgesagt werden als Folgendes: 1. Jedenfalls wird ihn das Zusammenschießen der Mattersdorfer Burg mit Brandmitteln (Rutten), das er 1291 als Halbwüchsiger hautnah miterlebt haben dürfte, stark berührt haben; ob man pathologisch von einer Traumatisierung sprechen kann, mag dahingestellt bleiben – den Verlust von Mattersdorf als »Familientrauma« zu bezeichnen, wird allerdings nicht falsch sein. Da die Beschreibung der Zerstörung durch Albrecht von Habsburg unter Einsatz modernsten Belagerungsgeräts dem steirischen Reimchronisten immerhin an die 400 Verse wert war, kann davon ausgegangen werden, dass sie damals allgemein großen Eindruck machte und einige Wichtigkeit genoss – was voraussetzt, dass die Mattersdorfer Burg äußerst stattlich gewesen war; umso eindrücklicher muss das von einem Halbwüchsigen empfunden worden sein, der sich dabei innerhalb der Burg den massiven Angriffen unmittelbar ausgesetzt befand. Die Hilfe der Güssinger blieb – zumindest im von den Mattersdorfern wohl erwarteten Ausmaß – aus. 2. Der neu gewählte Standort Forchtenstein scheint – aus welchen Gründen immer – zunächst kein glücklicher gewesen zu sein; der Kobersdorfer Ersatz – gleichfalls eine Wasserburg in der Niederung wie Mattersdorf – war um 1315 herum genausowenig in der Lage, einer Belagerung standzuhalten, wie einst Mattersdorf. Wohl deshalb richtet sich das Hauptaugenmerk wieder auf den Höhenstandort Forchtenstein, dessen Bau dann wahrscheinlich vor 1336 vollendet wird.

59 Ernst, Die Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 167 f.

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3. Vor 1301 besuchen Paul und Lorenz wahrscheinlich die Universität Padua und erwerben das Magisterium, wohl der Rechte. Nach etwa 1304 vollziehen beide einen radikalen Schwenk in der Familienbündnispolitik: Sie wenden sich von den Güssingern endgültig ab und setzen auf die sich in Ungarn mit päpstlicher Unterstützung neu etablierende Dynastie der in Neapel regierenden, französisch-stämmigen Anjou. Obwohl dieser Schritt zunächst die Probleme der Familie nur noch zu vergrößern scheint, vollziehen sie keinen echten Schwenk mehr zurück in die alte pro-Güssinger Position. 4. Das Jahrzehnt etwa zwischen 1305 und 1315 – die ersten Jahre, in denen Paul die Familiengeschicke faktisch erstmals gelenkt zu haben scheint –, dürften von großen Schwierigkeiten begleitet gewesen sein; vielleicht lebte sein Vater durchaus noch, war aber aufgrund einer schweren Krankheit als Familienoberhaupt ausgefallen (z. B. Schlaganfall). Jedenfalls lassen die Urkunden dieser Zeit den Schluss zu, dass ihnen nur eine untergeordnete Rolle im Spiel der Großen zuteilwurde, und die anzunehmende Krise am Forchtensteiner Baustellen-Standort fällt ebenso in diese Zeit wie der Verlust des Kobersdorfer Ersatzstandortes an die Güssinger. Offenbar halten sie in diesen Jahren nur mehr Bajót im Gerecse (unweit Gran/Esztergom) und spielen im Westen keine Rolle. 5. Im Jahr 1317 gelingt es Paul und Lorenz, sich durch die Verteidigung von Ödenburg/Sopron und Raab/Győr gegen die Güssinger beim neuen König Karl I. Robert von Anjou einen Namen zu machen. 1318 wird Paul, seinem Vater nachfolgend, Gespan von Raab/Győr, und nach Niederringung der Güssinger durch die Krone 1323 erhalten sie auch Kobersdorf restituiert.60 6. In den Jahren des Einsetzens der spätmittelalterlichen Agrarkrise (die Ungarn à la longue allerdings nur peripher traf – was aber nicht auch für die konkreten Hungerjahre 1315–1317 zutreffen muss) finden wir Paul einerseits sowohl selbst als Anführer eines Plünderungszuges als auch an der Spitze einer adeligen »Selbsthilfe«-Gruppe, die offenbar gewissermaßen in Selbstjustiz »Recht und Ordnung« aufrecht zu erhalten trachtet; dabei scheinen Paul durchaus einige nicht unwesentliche Streitschlichtungen auch tatsächlich geglückt zu sein, und zwar auch im Mattersdorfer Raum, was indiziert, dass die Autorität der Familie auch im Westen wieder Fuß gefasst hatte.

60 Zsoldos, A Nagymartoniak 183.

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Paul wird iudex curiae: Vorgang und mögliche Hintergründe. Der Fall Michael von Reznek vs. Stephan von Harkal In der Zwischenzeit hatte Pauls Schwester Klara in offenbar bereits fortgeschrittenem Alter Alexander Köcski geheiratet – den amtierenden Hofrichter (iudex curiae). Aus dieser Ehe gingen offenbar keine Kinder hervor. 1328 starb Köcski überraschend, und Paul übernahm von seinem Schwager das Hofrichteramt. In der Literatur wird dieser Vorgang zumeist als Selbstverständlichkeit angesehen – Zsoldos spricht von »gesetzlicher Nachfolge« –61, allerdings war das Amt des Hofrichters kein erbliches; es muss daher offen bleiben, wie dieser Coup den Mattersdorfern-Forchtensteinern tatsächlich gelang. Moriz Wertner betont nämlich, dass Köcski einen Sohn Georg – offenbar von einer früheren Gattin – hatte, der als Universalerbe auftrat und die Witwe Klara von Mattersdorf-Forchtenstein »mit 100 Mark abfertigte«62, was nicht gerade auf eine harmonische Erbschaftsabwicklung schließen lässt – jedenfalls nicht auf eine »gesetzliche Nachfolge« des Schwagers. Wertner verliert über die Vorgänge nicht mehr Worte als dass er feststellt, dass Paul noch im selben Jahr 1328, und zwar schon am 23. März, erstmals als iudex curiae urkundet63. Es drängt sich zunächst die Vermutung auf, dass die rasche Entscheidung zugunsten Pauls auf König Karl I. Robert von Anjou selbst zurückzuführen ist; eventuell hatten ihn nicht nur seine Loyalität und die militärischen Erfolge vor Ödenburg/Sopron und Raab/Győr beeindruckt, sondern auch seine Streitschlichtungskompetenzen. Allerdings wirft eine von Irmtraut Lindeck-Pozza entdeckte und von ihr – trotz mangelnden räumlichen Zusammenhanges, doch glück­ licher­weise – im Urkundenbuch des Burgenlandes edierte Reihe von Urkunden des Jahres 1328 ein doch etwas anderes Licht auf die Beziehung zwischen dem Anjou-König und dem Forchtensteiner; dabei frappiert, dass sich aus diesen drei im Folgenden zu besprechenden Diplomen ergibt, dass Paul noch im Jahr seiner Ernennung gleichsam im Rahmen seiner ersten Amtshandlungen den König juridisch vor den Kopf stößt. Die Sache entwickelt sich wie folgt: Trotz eines entscheidenden Sieges der für den König fechtenden Osl-Kanizsay bei Güns/Kőszeg über die Güssinger 1319 wurde mit Letzteren sehr großzügig verfahren; Andreas von Güssing durfte noch bis zu seinem Tod 1324 Gespan von Eisenburg bleiben. Pál Engel fragt sich zu Recht, »warum der König die 61 Ebenda. 62 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 20 f. 63 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 27.

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Gelegenheit, mit diesem gefährlichen Gegner abzurechnen, nicht ausnutzen wollte«64. Als sinnvolle Antwort kommt wohl nur die Annahme in Frage, dass trotz der militärischen Entscheidung über die Güssinger die Lage im Westen zu komplex verblieb, um die königliche Autorität sofort wieder total durchzusetzen; offenbar hatte sich der westungarische Adel im Schatten der mächtigen Güssinger so sehr an weit gehende Autonomie von der Krone gewöhnt, dass die Sache allein mit dem Sieg über die Güssinger noch lange nicht umfassend zugunsten der Krone entschieden war. Auch könnte die notorische Rivalität der Mattersdorfer-Forchten­steiner mit den Osl-Kanizsay dazu geführt haben, dass Erstere vor dem König nun doch wieder ein gutes Wort für die Güssinger einlegten, um Letztere um die Früchte des Sieges von 1319 zu bringen in der Absicht, einen allzu großen Machtzuwachs derselben zu verhindern. Wie dem auch war: Erst 1327 schickt sich der König an, die volle Kontrolle über das Eisenburger Komitat zu übernehmen, und er bedient sich dabei seines Hofrichters Alexander Köcski, der erfolgreich Güns, Sárvár und Güssing besetzt65 und, wie erwähnt, mit Pauls Schwester Klara verheiratet war und Anfang 1328, ausgerechnet am Gipfelpunkt seiner militärischen Erfolge, plötzlich erkrankt und stirbt; das frei werdende Amt des Hofrichters (iudex curiae) wird, wie erwähnt, noch im März von seinem Schwager Paul von Forchtenstein eingenommen. In diesem Jahr nun bricht Krieg zwischen Ungarn und Österreich aus, und sowohl der König als auch sein neuer Hofrichter Paul von Forchtenstein befinden sich bei Pressburg und an der Leitha im Felde. Am 30. Juni dieses Jahres erhebt ein gewisser Michael von Reznek vor der Komitatsversammlung von Zala Anklage gegen einen gewissen Stephan von Harkal, dass dieser seinen Bruder Georg überfallen und verwundet hätte; es scheint, dass der Verwundete selbst nicht imstande war, die Anklage vorzubringen. Der angeklagte, nicht anwesende Stephan wird durch einen Vertreter dahingehend gerechtfertigt, dass umgekehrt er selbst von Georg überfallen worden sei, und fordert Michael zum Gerichtskampf, was dieser annimmt. Der Gerichtskampf wird für den 27. August festgesetzt, wo sich die Streitparteien in propriis personis regio in conspectu in equis et in armis militaribus einzufin-

64 Pál Engel, Die Güssinger im Kampf gegen die ungarische Krone. In: Die Güssinger. Beiträge zur Geschichte der Herren von Güns/Güssing und ihrer Zeit (13./14. Jahrhundert) (Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland [WAB] Heft 79, Eisenstadt 1989) 85–113, 96. 65 Engel, Die Güssinger im Kampf gegen die ungarische Krone 98 f.

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den hatten66: Mithin war eine Vertretung durch professionelle Gerichtskämpfer ausdrücklich ausgeschlossen, der Kampf war in »militärischen«, also nicht eventuell in harmloseren Trainingswaffen durchzuführen und sollte offenbar vor den Augen des Königs (regio in conspectu) stattfinden. Mit Note vom 22. Juli zu Pressburg lässt der König den Gespan, den Vizegespan und die Adelsrichter von Zala wissen, dass er den Gerichtskampf aufgrund des Krieges auf den 14. Tag nach Entlassung des Heeres verschiebe und bis dahin keine Entscheidung getroffen werden dürfe67. Am 8. September richtet Paul von Forchtenstein »im ungarischen Lager an der Leitha« dem Protonotar und durch ihn wohl dem König aus, dass »die Verschiebung eines Zweikampfes nach altem ungarischen Gewohnheitsrecht zudem unzulässig« sei und unterrichtet ihn über die Vorgänge vom 27. August: Michael sei gerüstet zum Zweikampf erschienen – Stephan hingegen nicht. Ein anderer Stephan habe zwar in dessen Vertretung das erwähnte Schreiben des Königs überbracht, allerdings wäre dieses fälschlicherweise nicht an die Instanz, das Hofgericht, i. e. an ihn, den Hofrichter, sondern an den Gespan und die Adelsrichter gerichtet gewesen, die daraufhin das Schreiben wie nicht existierend behandelten und am 30. August ein Säumnisurteil über Stephan fällten: Dieser wurde als »gewalttätiger Verleumder [potencialem insidiatorem] zum Tode und zum Verlust aller seiner Güter verurteilt«68. Was eine eingehendere, rechtsgeschichtliche Analyse des Falles angeht, muss ich hier auf meine schon mehrfach erwähnte, in Vorbereitung befindliche Arbeit verweisen. Deutlich aus den Vorgängen geht jedenfalls hervor, dass Paul von Forchtenstein als nicht einmal ein halbes Jahr im Amt befindlicher Hofrichter dem Urteil der Zalaer Komitatsversammlung rechtgibt, und zwar auch in dem Punkt, wo diese die Order des Königs, den Gerichtskampf, dem er doch selbst beiwohnen hätte sollen (in regio conspectu), zu verschieben, wie null und nichtig ignoriert. Nach Betrachtung dieses Falles fällt es schwer, Paul weiterhin als Kandidaten des Königs für das Amt des iudex curiae zu halten; jedenfalls hätte er sich – hätte er das Amt dem König zu verdanken gehabt – sehr befremdlich erwiesen. Vielmehr erscheint er in diesem Konflikt als Sympathisant des west66 Urkundenbuch des Burgenlandes und der angrenzenden Gebiete der Komitate Wieselburg, Ödenburg und Eisenburg, Bd. IV, Die Urkunden von 1328 bis 1342 mit Nachträgen von 1284 bis 1318, hg. von der Burgenländischen Landesregierung, bearbeitet von Irmtraut Lindeck-­ Pozza (Publikationen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Siebente Reihe, Wien/Köln/Graz 1985) 88, 37 f. 67 Urkundenbuch des Burgenlandes IV, 89, 38. 68 Urkundenbuch des Burgenlandes IV, 90, 38.

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ungarischen Adels (dessen Angehöriger er selbst ja war), wo noch bis vor Kurzem die Güssinger tonangebend gewesen waren. Damit drängt sich mehr und mehr die Vermutung auf, dass der Bruch mit den Güssingern vielleicht doch nie so radikal gewesen war, wie es vordergründig erschien, und dass es die westungarischen Adelsnetzwerke waren, die Paul in jenes machtvolle Amt des Hofrichters hievten – insbesondere wenn wir der Spekulation Raum geben wollen, dass eine Ausschaltung seines gerade in diesem Raum unmittelbar zuvor militärisch so erfolgreichen Amtsvorgängers Alexander Köcski im Interesse zumindest des westsüdwestlichen Adels gelegen gewesen wäre – ja selbst im Interesse der Osl-Kanizsay, die Ambitionen auf das kurz zuvor von Köcski besetzte Sárvár hegten. Köcski war, wie gesagt, mit Pauls älterer Schwester verheiratet gewesen, als er plötzlich am Höhepunkt seiner militärischen Erfolge im Westsüdwesten tödlich erkrankte. Jedenfalls erscheint Paul von Forchtenstein vor allem zu Anfang seiner Amtstätigkeit als Parteigänger der Magnaten, und nicht der Krone. Wenn man sich Pauls von Forchtenstein Verortung im westungarischen Milieu ins Bewusstsein ruft, lässt sich sein Verhalten dem König gegenüber auch dann nicht schwer verstehen, wenn man seine Abwendung von den Güssingern und Hinwendung zu den Anjou im Verlaufe des Jahrzehnts von 1305 bis 1315 als ernst gemeint und nicht bloß vorgespielt annimmt. In jenem ellipsoiden System, in dem der eine Brennpunkt der König, der andere hingegen die Gemeinschaft des Adels war, repräsentierte Paul von Forchtenstein Letzteren, und er dürfte diese Position daher in erster Linie jener Gemeinschaft des Adels zu verdanken gehabt haben; dass eine solche Haltung in seiner Familie Tradition hatte, beweist die oben besprochene 17fach besiegelte Urkunde aus 1299. Dass er daher meinte, mit dem König auf Augenhöhe kommunizieren zu können und zu dürfen, schloss damit – aus seiner Sicht – wohl nicht aus, sich zugleich als Dynastie und König loyal zu verstehen; der König selbst hingegen – verwurzelt in den Traditionen des romanischen Westens Europas – mag das vielleicht anders empfunden haben, hatte aber keine andere Wahl, als sich angepasst zu verhalten: Dass Paul sich als Hofrichter – trotz brüsk erscheinenden Verhaltens dem König gegenüber – die unvergleichlich lange Zeit von 21 Jahren hielt, lässt sich wohl nur mit einem starken Rückhalt des Mattersdorfers-Forchtensteiners im ungarischen Adel erklären. Hinzu mag eine »Gewöhnung« des Königs an seinen Hofrichter gekommen sein, der nebenher eine gute juristische Arbeit gemacht und tatsächlich über ein ausgeprägtes Streitschlichtungstalent verfügt haben dürfte; kurz: Aus der Sicht des Königs mag der ihm gegenüber selbstbewusst auftretende Paul von Forchtenstein auf den um seine Autonomie bedachten ungarischen Adel eine beruhigende Wirkung gehabt haben, während der König

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in Paul zugleich einen Ansprechpartner hatte, zu dem er eine funktionierende Kommunikation aufzubauen vermochte – vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil sowohl der König als auch sein Hofrichter über einen ähnlichen romanischen Kulturhintergrund verfügten und gleichsam die gleiche Sprache sprachen. In Paul von Forchtenstein mag Karl Robert von Anjou den Mann gefunden haben, der ihm Ungarns Andersartigkeit in seiner Sprache erklären konnte. Es gibt aus Reiseberichten des 19.  Jahrhunderts, aus Verweisen auf im 19. Jahrhundert in Ungarn offenbar noch vorhandenes Urkundenmaterial und aus dendrochronologischen Untersuchungen des Jahres 2012 zu kombinierende Hinweise, dass Burg Forchtenstein um 1334/35 zu einem (recht unwirtlichen) Gefängnis umgebaut worden sein könnte69; vielleicht diente es Pauls Amtstätigkeit, denn Paul soll sich beim König 1336 schriftlich darüber beschwert haben, für Bautätigkeiten auf Forchtenstein kein Geld von der Krone erhalten zu haben70. Die Untersuchungen von 2012 lieferten auch Hinweise für in jenem Verlies eingemauerte Holztruhen71 – wohl nichts anderes als »Schatztruhen«. Attila Zsoldos erläutert: »Während seiner langen Amtszeit hat es Paul auch nicht verabsäumt, das Vermögen der Familie zu vermehren. (Dafür sicherte jenes ungarische Gewohnheitsrecht eine legale Möglichkeit, auf Grund dessen bei einem Rechtsstreit ein bedeutender Anteil der bemessenen Strafe und der der Strafe entsprechend beschlagnahmten Sachen dem verfahrensführenden Richter zugesichert waren)«72. Inwieweit dieses Gewohnheitsrecht erst von Paul selbst kasuistisch ausgestaltet wurde, kann im Rahmen dieses Artikels nicht erörtert und beantwortet wer-

69 Felix Tobler, Burg Forchtenstein in Reisebeschreibungen, Reiseführern und topographischen Handbüchern aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Burgenländische Heimatblätter 58. Jahrgang (1996), Heft 2, hg. vom Amt der Burgenländischen Landesregierung (Landesarchiv/Landesbibliothek und Landesmuseum) 49–71, 58; vgl. auch 62. Eckkrammer-­Horvath, Fiebig, Grabungsergebnisse Schloss Forchtenstein 2012, 3 und 7. Zur »Kombination« all dieser Hinweise verweise ich auf meine in Vorbereitung befindliche Arbeit. 70 Eckkrammer-Horvath, Fiebig, Grabungsergebnisse (wie Anm. 69). 71 Eckkrammer-Horvath, Fiebig, Grabungsergebnisse 4 f. 72 Zsoldos, A Nagymartoniak 183. Aus dem Ungarischen übersetzt von Zsuzsanna Holmlund und vom Autor, teils unter Zuhilfenahme der katalanischen Übersetzung des Teams: Mercè Costa, DUUAL SL, Kálmán Faluba, Jordi Giner, Erszébet Hanny, Csilla Péczely und Marianne Sághy.

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den. Vielleicht ist es nützlich, in diesem Zusammenhang des Dichters Ahnung in Erinnerung zu rufen, wenn er einem Tyrannen jene Worte in den Mund legt: »Ergreift das Weib! Bringt sie nach Forchenstein, Auf den geheimen Pfaden, die ihr kennt«73.

Die neapolitanische Frage 1342 stirbt Karl I. Robert von Anjou, als der Kronprinz Ludwig/Lájos erst sechzehn Jahre alt ist; zu diesem Zeitpunkt ist Paul von Forchtenstein bereits 14 Jahre lang Hofrichter, wohl mindestens 65 Jahre alt und abgesehen vom König höchstwahrscheinlich der mächtigste Mann Ungarns. Angesichts der Jugendlichkeit des neuen Königs kann Pauls Rolle am ungarischen Hof wohl kaum groß genug eingeschätzt werden, auch wenn er in der ungarischen Chronikliteratur überhaupt nicht vorkommt, da in ihr traditionell so gut wie immer der König allein als Handelnder auftritt. Trotz seines fortgeschrittenen Alters können nach derzeitigem Forschungsstand zwischen 1342 und 1345 vier zum Teil längere Aufenthalte Pauls am päpstlichen Hof in Avignon nachgewiesen werden, und zwar: 1. Nach 3. Dezember 134274 bis mindestens 12. Jänner 134375: 1. Reise nach und Anwesenheit in Avignon; Wertner führt unter Berufung auf: »1. c. An. II, P. II f., XI, XIII« eine weitere päpstliche Urkunde noch vom 6. März 1343 an, wonach Paul mündlich mit einem Anliegen in eigener Sache (der Erhebung Mattersdorfs zur Pfarre) an den Papst herangetreten wäre76; da er allerdings bereits am 23. März 1343 wieder zu Visegrád urkundet77, dürfte es sich am 73 Franz Grillparzer, Ein treuer Diener seines Herrn, Verse 1307 f. Es dürfte trotz der Schreibweise ohne »t« (Forchenstein) außer Zweifel stehen, dass Grillparzer Forchtenstein meinte – in seinem Drama kommt bspw. auch ein »Graf Simon« vor, und seine Hauptfigur, »Erny«, als Gattin des Bánk Bán stellt eindeutig die Schwester der aus Spanien einwandernden Simon und Bertram dar. Mit der Schreibweise ohne »t« schlägt sich Grillparzer auf die Seite derer, die den Burgnamen von mhd. vorhe (Föhre) ableiten, und nicht von mhd. vorhte (Furcht). Vgl. dazu Johann Seedoch, Die Gemeindenamen des Burgenlandes im Wandel der Zeit (Burgenländische Forschungen Bd. 100, Eisenstadt 2010) 65. 74 Codex Diplom. Hungaricus Andegavensis (Anjoukori okmántyár) hg. von Imre (Emericus) Nagy, Bd. IV (1340–1346), (Monumenta Hungariae Historica, hg. von der Ungarische Akademie der Wissenschaften, Budapest 1884) Nr. 173, 282–287. Demnach urkundete Paul zu Visegrád zuletzt am 3. Dezember 1342. 75 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 34 f. 76 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 35. 77 Codex Diplom. Hungaricus Andegavensis (Anjoukori okmántyár) IV, Nr. 189, 307–311.

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6. März bloß um den Bericht eines päpstlichen Beamten über Pauls Ansinnen handeln: In 17 Tagen wäre die Strecke Avignon – Visegrád mit den damaligen Mitteln wohl nicht zu meistern gewesen. 2. Nach dem 26. Oktober78, jedenfalls deutlich vor 1. Dezember 1343 bis mindestens 19. Jänner 134479: 2. Aufenthalt in Avignon. 3. 1. Mai 1345: 3. Reise nach Avignon; in einer Urkunde vom 1. Mai 1345 vertagt nämlich die Königin einen Schiedstermin ad quindenas diei reversionis eiusdem Comitis Pauli de Curia Romana80. Hier gibt es allerdings chronologische Probleme: Wir finden ihn nämlich noch am 13. April in Visegrád urkundend81 – und dann schon wieder am 17. Mai82: Das wären wiederum jeweils unglaubwürdige nur 16 bis 17 Tage für die Zurücklegung der Distanz. Eigenartig hingegen ist ebenso, dass die Urkunde vom 17. Mai, gleichwohl heute noch im Ungarischen Staatsarchiv aufliegend, bis zur Herausgabe des Urkundenbuchs des Burgenlandes ungedruckt geblieben ist und keinen Siegel aufweist83; vielleicht stimmt mit ihr etwas nicht. Bis 9. Oktober haben wir nämlich ansonsten keine einzige Beurkundung Pauls mehr – siehe sogleich Punkt 4. 4. Um den 9. Oktober 134584: 4. Aufenthalt in Avignon; unmittelbar davor abgebrochene Reise zur geplanten Krönung Andreas’ nach Neapel? War Paul nach dem 13. April 1345 durchgehend bis zum 9. Oktober 1345 im Ausland unterwegs – oder überhaupt die ganze Zeit in Avignon? (Diesfalls wären der 3. und 4. zu einem einzigen 3. Aufenthalt zusammenzulegen).

78 Codex Diplomaticus Domus Senioris Comitum Zichy de Zich et Vasankeő, hg. von Emericus Nagy, Johannes Bapt. Nagy, Desiderius Véghely Tomus Secundus (Zichy-okmánytár II) (Editio Societatis Hist. Hung., Pest 1872) Nr. 63, 90–92, und Nr. 65, 94 f. Letztere Datierung ist etwas unklar – offenbar jedoch vor Allerheiligen. 79 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 36. 80 Codex Diplomaticus Patrius (Hazai Okmánytár), hg. von Imre Nagy, Iván Páur, Károly Ráth, Dezső Véghely, Bd. I (Győr 1865) Nr. 127, 190. 81 Codex Diplomaticus Domus Senioris Comitum Zichy de Zich et Vasankeő t. II (Zichy-okmánytár II) Nr. 105, 154–157. 82 Urkundenbuch des Burgenlandes und der angrenzenden Gebiete der Komitate Wieselburg, Ödenburg und Eisenburg, Band V, Die Urkunden von 1342 bis 1349 mit Nachträgen von 1219 bis 1342, hg. von der Burgenländischen Landesregierung, bearbeitet von Leonhard Prickler aufgrund von Vorarbeiten von Irmtraut Lindeck-Pozza und Erich Reiter (Publikationen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Siebente Reihe, Eisenstadt 1999) 91, 86–88. 83 Ebenda 87. 84 Urkundenbuch des Burgenlands V, 101, 95.

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Die Aufenthalte in Avignon decken sich zur Gänze mit dem Pontifikat Clemens’ VI. sowie über lange Strecken mit jenen weiterer äußerst prominenter Zeitgenossen: Cola di Rienzi war als Teil einer römischen Gesandtschaft erstmals von Herbst 1342 bis mindestens 29. Jänner 1343 in Avignon85: Das korreliert exakt mit dem erstmaligen Aufenthalt Pauls von Forchtenstein. Anfang 1343 war übrigens eine noch berühmtere Person in Avignon zugegen: nämlich der gleichfalls diplomatisch aktive Petrarca; gewiss ist, dass Rienzi mit ihm damals Freundschaft schloss86 – der in weiterer Folge stets die Sache des ungarischen Prinzen Andreas von Anjou in Neapel verfocht87; dazu sogleich. Von Sommer 1343 bis Sommer 1344 hielt Rienzi sich ein weiteres Mal ein ganzes Jahr ununterbrochen in Avignon auf88 – ein Beispiel dafür, dass man unter Clemens VI. dort durchaus lange Zeiträume hindurch beherbergt werden konnte; Rienzi verfügte kaum über eigene Mittel – er war offenbar all die Zeit Gast des Papstes. Pauls von Forchtenstein zweiter Avignon-Aufenthalt, der deutlich vor dem 1. Dezember 1343 begonnen und bis mindestens 19. Jänner 1344 gedauert haben muss, fällt mithin wieder zur Gänze in die dortige Anwesenheit Rienzis. Der durchschlagende diplomatische Erfolg Ludwigs von Ungarn, der ihm 1347 praktisch alle Tore Mittelitaliens auf den Weg in den Süden öffnete, könnte ohne diese Avignon-Kontakte Pauls von Forchtenstein wohl kaum gedacht werden – zumal Cola di Rienzi in diesen diplomatischen Vorgängen von Giuseppe Galasso ausdrücklich eine Schlüsselrolle beigemessen wird89. 85 Tommaso di Carpegna Falconieri, Cola di Rienzo. In: Luigi Firpo, Giuseppe Galasso (Hg.), Profili 31, (Roma 2002) 45–47. 86 Carpegna Falconieri, Cola di Rienzo 49. 87 Elisabeth Casteen, From She-Wolf to Martyr. The Reign and Disputed Reputation of Johanna I of Naples. (Cornell University Press, London/Ithaca 2015) 38. 88 Carpegna Falconieri, Cola di Rienzo 53. 89 Giuseppe Galasso, Il Mezzogiorno angioino e aragonese (1266–1494) (Der angevinische und aragonesische Süden [1266–1494]) (Storia d’Italia, hg. von Giuseppe Galasso Bd. 15, Il Regno di Napoli, 1. Teilband, Turin 1992) 179, insb. Anm. 4. Demnach verhandelte Rienzi im August 1347 mit ungarischen Gesandten. Über Rienzos Schlüsselrolle ebenso Carpegna Falconieri, Cola di Rienzo 113; vgl. auch 110 f., demnach schloss Rienzo das Bündnis mit Ungarn »freundschaftlich« Ende September 1347 gegenüber »festlichen Gesandten« ab, die »in prunkvolle grüne, pelzgefütterte Gewänder gekleidet« waren. Paul kann aber persönlich nicht dabei gewesen sein, weil seine Urkundenpräsenz in Ungarn für diese Monate zu dicht ist – was freilich nicht ausschließt, dass diese Gesandten seine Kuriere waren. Jedenfalls teilt Rienzi dem Papst schon am 5. August mit, dass er tags zuvor pro parte regis Ungarie angefragt worden sei, Truppenkontingente zur Verfügung zu stellen; er fügt dem Papst zu diesem Zeitpunkt zwar hinzu, dass er darauf nicht einzugehen gedenke, aber der mahnende Unterton ist bereits unüberhörbar. Vgl. bei Annibale Gabrielli (Ed.), Epistolario di Cola di Rienzo (Fonti per la Storia d’Italia, Epistolari – secolo XIV, Roma 1890) XVI, 39–48, 47 sq. Der Herausgeber

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Worum ging es? Als Agnatin der neapolitanischen Anjou-Linie 1326 oder 1327 geboren, wurde Johanna von Anjou von ihrem Großvater, König Robert, genannt: der Weise, von Neapel, 1330 zur Thronfolgerin ernannt, da ihr Vater, sein Sohn, starb90; 1332 starb auch ihre Mutter91. Um die Irritationen mit der ungarischen Anjou-Linie auszubügeln, die sich bei Aussterben der männlichen Linie in Neapel als legitime Erbin betrachtete, wurde Johanna 1333 an Ludwigs jüngeren Bruder, den auch erst 1328 geborenen Andreas verheiratet, der zugleich ihr Cousin zweiten Grades war. Zumindest in Ungarn ging man davon aus, dass Andreas und Johanna später gemeinsam in Neapel regieren würden92; auch die Tatsache, dass der Knabe nach Neapel zur Erziehung geschickt wurde, wies in diese Richtung93. Als ihr Großvater 1343 starb, bestieg Johanna seinen Thron94 – verweigerte allerdings ihrem Ehemann Andreas die Mitregentschaft95. Nie aus dem Auge zu verlieren ist, dass sie damals höchstens 17, eventuell erst 15 Jahre alt war, noch nicht als großjährig anerkannt wurde und unter der Kuratel eines Hofrates stand, den ihre fromme Stiefmutter dominierte96: Andreas von Ungarn wurde am 18. September 1345 in Aversa brutal ermordet – Gerüchten zufolge, um seine unmittelbar bevorstehende Krönung zu verhindern97. Die Schilderungen lassen an einen Mob rasender Teenager denken. Die angeblich schlafende Königin wollte nichts gehört haben – so allerdings auch andere nicht98. Etwa hundert Jahre nach Johanna überlieferte Pandolfo Collenuccio im 15. Jahrhundert, dass »people still whispered about how she strangled her first husband as retribution for his sexual inadequacies«99. Demnach hätte sie sogar selbst Hand angelegt; den Gerüchten zufolge gingen ihr dabei ihre »many lovers« zur Hand100. Für Andreas hingegen spricht das Urteil Petrarcas, der ihn persönlich kannte: »… Prince Andrew, a boy of noble mind, if ever he were to assume the

glossierte dazu »Cola annunzia un messaggio mandatogli dal re d’Ungheria«. Ein Brief Ludwigs von Ungarn an Cola di Rienzi ist im ungarischen Urkundenbestand allerdings nicht zu finden – eventuell ist die offenbar schriftliche Anfrage an ihn von einem anderen Absender ergangen.  90 Casteen, From She-Wolf to Martyr 2.  91 Casteen, From She-Wolf to Martyr 3.  92 Casteen, From She-Wolf to Martyr 5.  93 Casteen, From She-Wolf to Martyr 32.  94 Casteen, From She-Wolf to Martyr 4.  95 Casteen, From She-Wolf to Martyr 5.  96 Casteen, From She-Wolf to Martyr 34.  97 Casteen, From She-Wolf to Martyr 30.  98 Casteen, From She-Wolf to Martyr 45.  99 Casteen, From She-Wolf to Martyr 1. 100 Casteen (wie Anm. 97).

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long-deferred crown«101. Die neueste geschichtswissenschaftliche Arbeit über Johanna von Anjou bleibt zwar bei der angemessenen Skepsis gegenüber diesen Überlieferungen, verweist aber auf Johannas Rezeption im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit: Für Lope de Vega beispielsweise war sie eine Heldin, die Neapel vor dem Tyrannen Andreas bewahrte102: Letztlich setzt auch diese positive Interpretation als Tyrannenmord voraus, dass sie für den Ehegattenmord die Letztverantwortung trug. Zweimal – 1347/48 und 1349/50 – dringt daraufhin König Ludwig von Ungarn im Königreich Neapel ein, um seinen Bruder zu rächen und die Herrschaft zu übernehmen103. Die Sache geht letztlich so aus, dass der ungarische König trotz mehrerer glanzvoller militärischer Siege Süditalien aufgrund eines päpstlichen Schiedsspruchs räumen muss, da Clemens VI. Johanna in Neapel wieder als rechtmäßige Königin inthronisiert – und dies, obwohl er bis zu dessen Ermordung tatkräftig die Sache Andreas’ von Ungarn verfochten hatte: Bereits am 1. Dezember 1343 trudelte in Avignon ein harscher Brief Johannas ein, in dem sie Papst Clemens VI. auffordert, die Diskussionen mit den ungarischen Gesandten bezüglich Rolle und Krönung Andreas’ einzustellen104; das indiziert, dass Paul zu diesem Zeitpunkt bereits in Avignon angekommen war, der zuletzt noch Ende Oktober in Visegrád urkundete105. Moriz Wertner fasst, gestützt auf päpstliche Urkunden, zusammen, dass Paul von Forchtenstein »am 19. Januar 1344 vor dem Consistorium zu Avignon die Ansprüche des Prinzen Andreas vom Standpunkte des politischen und kirchlichen Rechts so tapfer verfochten [hätte], daß der Papst das Versprechen abgab, ihm den Königstitel zu verleihen, ihn salben und krönen zu lassen«106. Noch am selben Tag adressierte Clemens VI. erstmals an Andreas ausschließlich und direkt ein Schreiben, in dem er ihn als seinen »Sohn in Christo« und »erlauchten König von Sizilien« anspricht, und ordnete seine Krönung und Salbung an107. Am 2. Februar 1344 kündigt er Johanna von Anjou und ihrer Stiefmutter sowie Andreas und seiner Mutter die Entsendung des Kardinals Aimery von Chalus/Châtelus nach Neapel an, den er mit der Durchführung der Krönung beauftragt habe108. 101 Zit. nach Casteen, From She-Wolf to Martyr 39. 102 Casteen, From She-Wolf to Martyr 31. 103 Casteen (wie Anm. 97). 104 Casteen, From She-Wolf to Martyr 38. 105 Siehe Anm. 78. 106 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 36. 107 Casteen, From She-Wolf to Martyr 39. 108 Casteen, From She-Wolf to Martyr 40.

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Am Samstag vor Oculi 1344, dem 6. März, urkundet Paul bereits wieder zu Visegrád109. Auch nach der Heimreise Pauls bleibt der Papst aktiv: Am 31. März 1344 beginnt Clemens VI. via Kardinal Aimery mehrfach zu insistieren, dass Andreas an der Regierung zu beteiligen sei, und verfasst sogar ein Rundschreiben an die Bevölkerung des Königreichs, dass Andreas gemeinsam mit Johanna zu krönen und zu salben sei110. Am 22. August 1344 erinnerte der Papst Johanna an ihren Lehenseid ihm gegenüber; im November rügt er sie wegen übergebührlicher Veräußerung von Krongut111. Am 13. Dezember 1344 wies Clemens VI. Johanna an, Andreas nicht länger von der Regierung auszuschließen; dabei pries er ihr Andreas als »erhabenen König von Sizilien und Ehegatten« und erinnert sie daran, dass es sich zieme, dass der Gatte das Oberhaupt der Gattin sei112. Am 1. Mai 1345 war Paul ein drittes Mal nach Avignon unterwegs: Er wird zu diesem Zeitpunkt noch nicht am Ziel seiner Reise gewesen sein, da er, wie erwähnt, noch am 13. April zu Visegrád geurkundet hatte. Mit der im Burgenländischen Urkundenbuch V erstmals edierten Urkunde, wonach er am 17. Mai bereits wieder in Visegrád gewesen sein soll, dürfte, wie erörtert, etwas nicht stimmen. Wertner geht davon aus, dass er damals 44.000,- Goldmark an den päpstlichen Hof in Avignon lieferte: »Nach dem Berichte des Erzdechanten von Küküllő, Johann, hätte die Gesandtschaft des Papstes Nachgiebigkeit für 44.000 Mark erkauft, und soll König Ludwig darüber sehr erbittert gewesen sein, als er vernahm, dass seines Bruders gerechte Sache nur durch Geld zu erkaufen sei. Trotzdem ließ er, um nicht selbst als Geizhals verschrieen zu werden, und seine Gesandtschaft zu desavouiren, die Summe in allen seinen und der Königin Städten durch Exekutoren eintreiben und dieselbe durch sichere Boten der päpstlichen Kammer übermitteln. Dass Paul von Mattersdorf auch an dieser zweiten Mission teilgenommen, darf aus einem Schreiben der Königin Elisabeth ddo. 1. Mai 1345 angenommen werden, wo es gelegentlich eines Aufschubes eines Prozesses heißt: ad quindenas diei reversionis comitis Pau l i de curia romana«113.

109 Codex Diplomaticus Domus Senioris Comitum Zichy de Zich et Vasankeő t. II (Zichy-okmánytár II) 71, 102. 110 Casteen, From She-Wolf to Martyr 40 f. 111 Casteen, From She-Wolf to Martyr 41. 112 Casteen, From She-Wolf to Martyr 41 f. 113 Zitiert aus Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 36.

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Am 10. Juni 1345 forderte der Papst Johanna ultimativ auf, Andreas krönen zu lassen und ihn an der Regierung zu beteiligen. Dies scheint erstmals auch durch – wenngleich noch verhohlene – militärische Drohungen aus Ungarn unterstrichen worden zu sein, und am 9. Juli 1345 drohte der Papst mit Exkommunikation. Im Spätsommer stattete Clemens VI. Kardinal Aimery mit einer Bulle aus und schickte ihn mit dem unmissverständlichen Auftrag zurück nach Neapel, Andreas zu krönen und zu salben; ein noch zwei Tage nach dem Mord datierter päpstlicher Brief warnte Johanna eindringlich vor der Fortsetzung des Widerstandes, und einer noch einen weiteren Tag später datierter riet Andreas dringend zur Eile114. Nur 21 Tage nach dem Mord, am 9. Oktober 1345, finden wir Paul von Forchtenstein an der Spitze einer ungarischen Delegation in Avignon, um die Lage zu besprechen115. Da kaum vorstellbar ist, dass diese drei Wochen ausreichten, dass die Nachricht von der Ermordung des Bruders des ungarischen Königs nach Ungarn gelangte und Paul in der Folge nach Avignon geeilt wäre, ist eher anzunehmen, dass Paul schon auf dem Weg zur geplanten Krönung von Andreas in Neapel unterwegs war, als er vom Mord erfuhr, umkehrte und zunächst noch einmal nach Avignon strebte. Oder er war überhaupt – wie schon angesprochen – die ganze Zeit in Avignon gewesen und hatte dort den Papst zu seinem harschen Schreiben an Johanna von Anjou gedrängt. Oder es war ganz anders: Vielleicht waren die 44.000 Goldmark gar nicht für den Papst bestimmt gewesen, sondern stellten ein Portfolio Pauls dar, um vielmehr Entscheidungsträger und stake-holders im neapolitanischen Königreich auf die Seite der Ungarn ziehen zu können. Der nach dieser letzten, urkundlich belegten Reise Pauls nach Avignon eintretende päpstliche Sinneswandel mag mehrere Gründe gehabt haben: Das Papsttum mag eine Verbindung Neapels mit dem »Norden« in einer Personalunion mit Ungarn ebenso gefürchtet haben wie schon früher zur Zeit der Staufer116; mehr gewogen haben mochte die Tatsache, dass Johanna von Anjou als Gräfin von Provence immer noch Eigentümerin von Avignon war, das sie dem Papst letztlich am 9. Juni 1348 um 80.000 Florin verkauft117. Nach dem erwähnten 9. Oktober 1345 sind nach derzeitigem Forschungsstand keine Avignon-­ Besuche Pauls von Forchtenstein mehr urkundlich, was das Abkühlen der ungarisch-päpstlichen Diplomatie deutlich anzeigt. 114 Casteen, From She-Wolf to Martyr 42–44. 115 Urkundenbuch des Burgenlandes V, Nr. 101, 95. 116 Galasso, Il Mezzogiorno angioino e aragonese 168. 117 Dominique Vingtain, Avignon – Le Palais des Papes (Zodiaque 1, La Pierre-qui-Vire 1998) 187.

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Was die Quellenlage aus ungarischer Perspektive anbelangt, tun sich am süditalienischen Kriegsschauplatz in erster Linie die alten Rivalen der Mattersdorfer-­ Forchtensteiner im heute nordburgenländischen Raum hervor  – die Osl-­ Kanizsay. Prominent wirken auch die aus dem heutigen Vorarlberg stammenden Condottieri Gebrüder Wolf von Wolfurt, die in Folge der Ereignisse in Westungarn mehrfach belehnt werden und Fuß fassen118. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass der Söldnerführer Hanneck von Baumgarten, der gleichfalls auf Seiten des Königs von Ungarn sehr erfolgreich kämpfte und später Anführer der berühmten Grande Compagnia wurde, mit einem Henico Boemus zu identifizieren ist, der mit der den Osl-Kanizsay gehörenden, kleinen Herrschaft Baumgarten im heutigen Nordburgenland belehnt wurde – allerdings erst 1362; was trotzdem stark für eine solche Identifikation spricht, ist, dass die Bezug habende Urkunde diesen Henico als »Familiaren« des Königs ausweist119: Da Henico Boemus offenbar nicht einmal adelig war, kann diese spezielle Information nur dann Sinn machen, wenn man in ihm ein ursprüngliches Mitglied jener ungarischen Garde sieht, über die der später ermordete Andreas von Ungarn in Neapel verfügte120; wohl nur auf diesem Weg hätte er die Freundschaft des Prinzen erlangen und so zu einem »Familiaren« der ungarischen Anjou aufsteigen können. Eigener Betrachtung wird in diesem Zusammenhang künftig auch eine in spätem Mittelhochdeutsch verfasste Urkunde vom 13. Oktober 1342 wert sein, in der sich ein Wulfing der Geyer von Paumgarten ausweist und mit Paul von Mattersdorf über den Besitz von Zillingtal als geeinigt erklärt121, was angesichts seines Vornamens indizieren mag, dass dieser Baumgartner bereits Nachkomme einer Wolf von Wolfurt war. Die Urkunde soll laut György Fejérs Angabe von 1833 im Haus-, Hof- und Staatsarchiv aufliegen122. Paul von Forchtenstein hingegen tritt am italienischen Kriegsschauplatz nicht in Erscheinung – jedenfalls nicht nach ungarischer Urkundenlage. Viel118 Karl Heinrich Schäfer, Deutsche Ritter und Edelknechte in Italien während des 14. Jahrhunderts. Erstes Buch. Im päpstlichen Dienst. Darstellung (Paderborn 1911) 125–129; Karl-Heinz Burmeister, Die Edlen und Ritter von Wolfurt. In: Die Wolfurter. Ausstellungskatalog des Vorarlberger Landesmuseums Bd. 99, hg. vom Vorarlberger Landesmuseum (Bregenz 1982) 11–20, 17. 119 Zum Sachverhalt: August Ernst, Kanizsay. In: Allgemeine Landestopographie des Burgenlandes, Dritter Band (Verwaltungsbezirk Mattersburg), 1. Teilband, hg. vom Amt der Burgenländischen Landesregierung (Eisenstadt 1981) 91–99, 97. Zu den daraus gezogenen Schlüssen und chronologischen Erwägungen verweise ich auf meine in Vorbereitung befindliche Arbeit. 120 Zum Sachverhalt: Schäfer, Deutsche Ritter und Edelknechte in Italien I, 87. 121 Codex diplomaticus Hungariae ecclestiasticus ac civilis, Band IX, Teilband I, hg. von Georgius (György) Fejér (Buda 1833) XXIII, 82 f. 122 Ebenda, 83: Ex archiu. Imp. Vie.

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leicht wurde ihm der päpstliche Sinneswandel in Ungarn als sein persönliches diplomatisches Versagen angekreidet – vielleicht hatte es in Ungarn eine Partei gegeben, die eine diplomatische Lösung anstrebte, der er selbst vorstand, und eine andere, die auf eine militärische Lösung setzte, die von den Osl-Kanizsay angeführt wurde; Letztere mag die Oberhand gewonnen haben. Der stärkste Hinweis allerdings, dass Paul sehr wohl noch erfolgreich Diplomatie für Ungarn betrieb, und zwar nun durchaus auch gegen die Interessen des Papstes, ist das schon angesprochene Bündnis mit Cola di Rienzi123, dessen frühere Avignon-­ Aufenthalte sich zweimal über mehrere Monate hinweg mit den seinen decken, was stark indiziert, dass sie einander gut kennenlernten. So mag es sein, dass es auch bloß nur eine Art Arbeitsteilung zwischen der militärischen und der diplo­matischen Komponente gab; dass eine Geheimdiplomatie kaum Spuren in den Quellen hinterlassen hätte, läge nur in der Natur der Sache. Es mag schon sein, dass Paul, als er ab dem 13. April 1345 aus der ungarischen Urkundenlandschaft verschwindet, um erst Ende des Jahres dort wieder aufzutauchen124, zunächst einmal in der curia Romana zu Avignon vorbeischaute – aber es wäre dessen ungeachtet noch Zeit genug gewesen, im Sommer seine 44.000,– Goldmark in Italien strategisch zu verteilen. Wertners Vermutung, dass der Papst das Geld eingesteckt hätte, erscheint nicht so zweifelsfrei indiziert, zumal der Papst schon vorher konsequent die Anliegen der Ungarn unterstützt hatte und den Eindruck hinterlässt, von diesen überzeugt gewesen zu sein. Es gibt nämlich bei genauer Lesung einen deutlichen Hinweis, dass Paul vor dem 9. Oktober 1345 in Süditalien war, und zwar: In der päpstlichen Urkunde vom 9. Oktober 1345 zu Avignon (die Wertner noch nicht vorlag) heißt es, dass Clemens VI. »schon vor der Ankunft der [ungarischen] königlichen Gesandten am päpstlichen Hof den Bischof Wilhelm von Chartres als Nuntius nach Sizilien geschickt habe, um dort Ordnung zu schaffen und den traurigen Fall des Königs Andreas von Sizilien, des Bruders des Königs, zu klären; die Gesandt123 Vgl. Carpegna Falconieri, Cola di Rienzo 112, wonach Rienzis Bündnis mit Ungarn der Auslöser dafür war, dass er vom Papst fallen gelassen wurde. 124 Dass Paul um den 9. Oktober 1345 in Avignon gewesen sein muss, ist durch das päpstliche Schreiben im Urkundenbuch des Burgenlandes V, 101., 95, belegt. Nach Fejérs Urkundensammlung aus 1833 soll er offenbar in der Oktav nach der Oktav des Michaelsfestes, mithin am 13. Oktober 1345 schon wieder in Visegrád geurkundet haben (Fejér IX/I, CLXXXII, S. 338–340), was unmöglich erscheint; die nächste Urkunde datiert zu Visegrád vom 15. November Codex Diplom. Hungaricus Andegavensis (Anjoukori okmánytár IV, 328., 549), was bereits realistisch ist.

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schaft bestand aus dem Hofrichter Graf Paul von Mattersdorf Sohn des Symon, dem Bischof Gregor von Csanád, Thomas von Abaujvár und Nikolaus, dem Vorsteher der Kapelle … Bischof Wilhelm habe die Sache so gut wie möglich geordnet und darüber mit den Gesandten verhandelt, die das Ergebnis dem König mündlich überbringen werden«125. Demnach steht außer Zweifel, dass die ungarische Gesandtschaft unter dem erstgenannten Paul am oder kurz vor dem 9. Oktober 1345 in Avignon auftauchte und zu diesem Zeitpunkt bereits mit Bischof Wilhelm/Guillaume Lamy von Chartres den Prinzen- bzw. Königsmord (Andreas wird hier bereits ausdrücklich als König bezeichnet) erörtert hatte; wie sich weiters aus dem Text ergibt, war Lamy aber als Nuntius in Neapel zugegen, wo er »die Sache so gut wie möglich geordnet und darüber mit den Gesandten verhandelt« hätte: dies der Beweis, dass Paul noch nach dem Mord am 18. September 1345 im Königreich Neapel gewesen sein muss (womit er sogar mittelbarer Zeuge der Geschehnisse gewesen sein muss!) und trotzdem am oder kurz vor dem 9. Oktober 1345 in ­Avignon. Am Seeweg konnte sich das durchaus knapp ausgehen. An dieser Stelle ist zu bemerken, dass Paul von Forchtenstein in den päpstlichen Urkunden von Avignon französisiert als P. Comes Ambaxiator, der selbst wie auch seine Vorfahren Mortun et Ferchiton … pro habitatione propria erwählte, in Erscheinung tritt126; bezeichnend ist, dass diese französische Erwähnung des Paul de Ferchiton – die wohl auch französisch auszusprechen ist – überhaupt die erste gesicherte der Burg Forchtenstein ist127. Karl Heinrich Schäfer nun bespricht anlässlich der italienischen Soldlisten des 14. Jahrhunderts »seltsame Hör- und Schreibfehler« wie folgt: »Es soll z. B. heißen Derbestan: de Herber­ stein; Bramante: Brabant; Esterlich und Sterlich: Österreich; Transporch, Storpur, Starpur: Straßburg; Guzziporch: Würzburg; Inghundio: Iggendorf …«128. Kurz: Es ist überhaupt nicht ausgeschlossen, dass der (süd)italienischen Geschichtsforschung über die kritische Zeit ein Name in italianisierter Schreibung vorliegt, der mit Paul von Forchtenstein zu identifizieren wäre, ohne dass dies bisher 125 Urkundenbuch des Burgenlandes V, 101., 95. 126 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein, 35, unter Bezugnahme auf: »1. c. An. II, P. II f. XI, XIII« (6. März 1343). 127 Harald Prickler, Felix Tobler, Burg und Grafschaft Forchtenstein. In: Bollwerk Forchtenstein. Burgenländische Landesausstellung 1993 Burg Forchtenstein. (Burgenländische Forschungen, Sonderband IX, hg. vom Amt der Burgenländischen Landesregierung Eisenstadt 1993) 12–31, 14. 128 Schäfer, Deutsche Ritter und Edelknechte in Italien I, 96.

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erkannt worden wäre. Eventuell steht die Forschung zu Paul von Forchten­stein vielmehr am Anfang, als dass die hier vorliegende Zusammenfassung und gegebenenfalls Neuinterpretation des aktuellen Forschungs- und Quellen­standes als abschließend zu betrachten wäre. Große urkundliche Lücken im ungarischen Quellenmaterial haben wir zwischen dem 1. Mai und 9. Oktober 1345 (wie bereits besprochen), zwischen dem 24. November 1347 und dem 20. März 1348, zwischen dem 16. Mai und dem 20. September 1348, sowie zwischen dem 29. November 1348 und dem 16. März 1349. Und überhaupt ab dem 18. Juni 1349.

Pauls Absetzung als iudex curiae: auf der Suche nach seinen letzten Lebensjahren Vielleicht trifft es Attila Zsoldos doch am ehesten, wenn er von einer alters­ bedingten Absetzung ausgeht129. Zwar könnten die erwähnten vier- bis fünf­ monatigen Lücken, zumeist im Winter, auf Auslandsreisen schließen lassen, aber vielleicht machte sich doch nur das Alter mit länger anhaltenden gesundheit­ lichen Problemen speziell in der kalten Jahreszeit verstärkt bemerkbar. Sind die vielen leeren Monate ab Mitte 1347 bis zu seiner Abberufung Mitte 1349 mit faktischer Dienstunfähigkeit zu deuten? Krankheitsbedingter Schwäche? Demenz? Dann bliebe es trotzdem einigermaßen bemerkenswert, dass es noch volle zwei Jahre dauerte, bis man ihn wirklich absetzte. Allerdings fallen die großen Lücken zwischen 1347 und 1349 genau in die Zeit des Krieges um Süditalien; urkundete Paul in Ungarn in dieser Zeit bloß deshalb so selten, weil er sich lange Zeit in Italien, im neapolitanischen Königreich aufhielt? Will man das bejahen, muss man sich freilich im Klaren darüber sein, dass er dann wahrscheinlich schon jenseits seines 70. Geburtstags gestanden wäre; doch kann es ihn ebenso gerade wegen seiner Altersbeschwerden in der Winterszeit umso mehr nach Süden gezogen haben; bereits die ersten beiden urkundlich erwiesenen Avignon-Aufenthalte fanden alle im Winter statt. Hier stellte sich sofort die weitere Frage, ob denn der romanisch-stämmige Paul von Forchtenstein jemals noch nach Ungarn zurückgekehrt wäre: Einen Abwesenden abzusetzen kann sich formaljuristisch als schwierig gestalten – das könnte ein Grund sein, warum es erst 1349 so weit ist; allerdings zitiert Wertner Hinweise, dass Paul am 9. und 18. Juni 1349 noch in Ungarn daselbst amts-

129 Zsoldos, A Nagymartoniak 183.

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handelte130, und fünf erhaltene Urkunden aus den zwei Monaten vom 16. März bis 16. Mai 1349131 erwecken vielmehr den Eindruck, als wollte Paul es noch einmal wissen, indem er sich wieder verstärkt in die Arbeit vertiefte, und zwar in Ungarn zu Buda. Doch in die Zeit nach dem 16. Mai fällt ebenso die über päpstliche Mediation erfolgte Vereinbarung über einen 17 monatigen Waffenstillstand, der – in der Tat schwer nachvollziehbar – den Ungarn ausgerechnet nach Stefan Láckffys entscheidendem militärischen Sieg bei Melito am 6. Juni 1349 jede weitere militärische Operation untersagt132. Warum hätten die Ungarn am Zenit ihrer militärischen Erfolge auf so etwas eingehen sollen? Als König Ludwig von Ungarn im Juli in Manfredonia ankommt, schert er sich denn auch keinen Deut um diese Vereinbarung133. Ist daher ein Zusammenhang zwischen Pauls Absetzung als iudex curiae und der Nichtanerkennung des Waffenstillstands durch den König herzustellen? Ist das ein deutlicher Hinweis auf seinen endgültigen Bruch mit Paul von Forchten­ stein? Jedenfalls hat der König ihn Ende Juni, also ganz knapp vor seiner Abreise nach Süditalien, wo er schon im Juli in Manfredonia anlandet, noch schnell endgültig abgesetzt und damit jedes Anspruches beraubt, im Namen Ungarns zu sprechen und zu verhandeln – das ergibt sich unbestechlich aus der Chronologie der urkundlichen Belege. Vielleicht war das sogar eine formale Voraussetzung, um argumentieren zu können, weshalb er sich an den Waffenstillstand nicht 130 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 41, unter Bezugnahme auf Zichy-okmánytár II, 384; Anjoukori okmánytár V, 288. Dazu ist festzuhalten: Hinsichtlich der ersten Quelle bezieht Wertner sich offensichtlich auf Zichy-okmánytár II, Nr. 283 (nicht 384), 404–408, insb. 405; diese Urkunde ist allerdings schon von Pauls Nachfolger ausgestellt, der sich darin bloß auf ipsa causa mediantibus literis Comitis Pauli quondam Judicis Curie Regie bezieht. Wann genau Paul den Fall persönlich behandelt haben soll (in presenciam dicti Comitis Pauli), erschließt sich mir daraus nicht in Klarheit – vielleicht zwischen den Oktaven des Georgsfestes 1348 und jenen von Lichtmess 1349. Hinsichtlich der zweiten Quelle bezieht Wertner sich offensichtlich auf Imre (Emericus) Nagy (Hg.), Codex Diplom. Hungaricus Andegavensis (Anjoukori okmántyár), Band V (1347–1352) (Ungarische Akademie der Wissenschaften [Hg.], Monumenta Hungariae Historica, Budapest 1887) Nr. 155, 288 f; hier urkundet Paul von Forchtenstein tatsächlich noch selbst als iudex curiae zu Buda am 18. Juni 1349. Eine Fälschung? Oder ein Hinweis darauf, dass Paul seine Absetzung schlichtweg nicht akzeptierte? Wenn letztere Urkunde echt und ihr Datum korrekt ediert ist, muss er allerdings Juni 1349 jedenfalls noch einmal in Ungarn gewesen sein. Hätte er von hier aus dann überhaupt am zeitgleich in Italien vereinbarten Waffenstillstand einen Anteil haben können? 131 16. März (Fejér, Codex Dipl. IX/I, CCCXCII, 718–734), 1. April (Zichy-okmánytár II, 252., 361 f), 28. April (Zichy-okmánytár II 251, 361), 8. Mai, Codex Diplom. Hungaricus Andegavensis (Anjoukori okmánytár V, 144, 275 f) und 16. Mai (Zichy-okmánytár II 259, 373 f). 132 Galasso, Il Mezzogiorno angioino e aragonese 181 f. 133 Ebenda.

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gebunden fühlte. Gegen einen solchen Zusammenhang spricht allerdings der Anschein, dass Paul am 18. Juni 1349 noch zu Buda urkundete und anwesend war. Ob daher für Pauls letzte Jahre nun vielmehr in Neapel sein Plätzchen war, oder doch eher in Avignon, muss, wie die Spekulation an sich, offen bleiben. Jedenfalls geben die ungarischen Quellen nach jenem 18. Juni 1349 keinerlei Auskunft mehr über Paul an sich, Pauls Verbleib oder seinen Tod.

Pauls Ehen und ihre Besonderheiten Zuletzt noch ein paar Worte zu seinen ehelichen Verhältnissen: Paul von Forchtenstein war zweimal verheiratet – beide Frauen führten den Vornamen Elisabeth. Die zweite Gattin war mit der ersten im vierten Grad verwandt und eine geborene Puchmayr-Lichtenberg aus dem Gebiet der Salzburger Diözese, die damals allerdings auch noch fast ganz Steiermark und Kärnten, aber auch das Chiemseegebiet umfasste. Im Siebmacher findet sich nämlich – abgesehen von der hier wohl nicht in Frage kommenden elsässischen Territorialherrenfamilie Lichtenberg-Hanau – eine Regensburger, der Diözese dienende Ministerialienfamilie, die zwischen 1174 und 1341 urkundlich ist; der letzte dieser Regensburger Lichtenberg steht demnach im Totenbuch des Zisterzienserstiftes Raiten­ haslach bei Burghausen134. Mit den Verortungen Regensburg, Burghausen und »Gebiet der Diözese Salzburg« scheinen sich die Zweige der Familie von Pauls Gattinen im engeren, altbayrischen Raum festmachen zu lassen. Gustav ­Seyler schreibt bei Siebmacher über die Regensburger Lichtenberg ausdrücklich: »Altbayerischer Adel«135. Vielleicht wegen der Verwandtschaft zur ersten Gattin kommt Paul bei König Ludwig von Ungarn am 5. Jänner 1343 ausdrücklich um Erlaubnis für die zweite Eheschließung ein; eventuell bedarf er der Erlaubnis aber aus ganz anderen Gründen: 1343 war Paul Ende sechzig – die Urkunde nennt seine zweite Elisabeth ausdrücklich nobilem puellam Elisabeth: Es ist davon auszugehen, dass sie blutjung und wahrscheinlich minderjährig war. Am 12. Februar 1344 nutzt er seine Vorsprache beim Papst unter anderem auch dafür, auch noch diesen 134 Gustav A. Seyler, Abgestorbener Bayerischer Adel. I. Teil (J. Siebmacher’s grosses und allgemeines Wappenbuch, Nürnberg 1860) 159, und Gustav A. Seyler, Abgestorbener Bayerischer Adel. II. Teil (J. Siebmacher’s grosses und allgemeines Wappenbuch, Nürnberg 1906) 118. Hier kommen noch 1411 Georg und Ulrich Lichtenberger als Getreue des Burggrafen von Nürnberg vor; ob es sich dabei noch um dieselbe Adelsfamilie handelt, mag dahingestellt bleiben. 135 Seyler, Abgestorbener Bayerischer Adel I, 159.

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ausdrücklich um eine Gültigkeitserklärung für diese Ehe zu ersuchen; hier stand eindeutig die Verwandtschaft zur ersten Gattin als eventuelles Ehehindernis im Vordergrund und nicht das Alter – vielleicht hatte sie 1344 gerade ihr 14. Lebensjahr erreicht. Trotzdem weisen die Urkunden nur ein einziges Kind Pauls aus – eine Tochter namens Anna, die bereits 1340 einen Pilgrim von Puchheim heiratete; da dies drei Jahre vor Pauls zweiter Eheschließung erfolgte, ist Anna eindeutig der ersten Ehe zuzuordnen136 und dürfte älter als ihre neue »Stiefmutter« gewesen sein. Die oben gezeigten Lücken im Itinerar könnten mithin auch mit längeren Aufenthalten bei der Familie seiner Gattin/nen erklärt werden – etwa in Regensburg –, die er am Weg nach oder von Avignon aufgesucht haben mochte. Jedenfalls vernetzte er sich und seine Tochter familiär eng mit dem steirischen und altbayrischen Raum, und nicht etwa in Ungarn oder vielleicht Italien. Auch das schien Tradition zu haben: Wenn Simon I. tatsächlich mit einer steirischen Stubenberg verheiratet war, wie es in der burgenländischen Fachliteratur vertreten wird137, dann trug Paul kein Tröpfchen ungarisches Blut in sich: Seine Ahnen waren Katalanen und Provençalen, seine Mutter vielleicht Venezianerin und seine Großmutter wahrscheinlich Steirerin; diese Traditionen führte er offensichtlich selbst sowie in seiner Tochter fort, wobei eine mehr und mehr verstärkte Hinwendung zum deutschsprachigen Raum deutlich hervortritt. Trotz der zweiten Ehe mit einer puella hatte Paul keinen (überlebenden) Sohn; ob vielleicht ein natürliches Verwandtschaftsverhältnis zu seinem Protonotar Paul von Ugal bestand, kann ob der Vornamensgleichheit vielleicht spekulativ angedacht werden. Ob Pauls Eheschließung im fortgeschrittenen Alter mit einer puella allgemein Auskunft über seine Neigungen gibt oder lediglich dem Wunsch entsprungen war, doch noch einen männlichen Nachkommen zu zeugen, oder ganz andere Gründe hatte – etwa das Ersuchen der letzten Lichtenberg, sich des Mädchens anzunehmen, da die Familie im Aussterben begriffen war –, muss offen gelassen werden. Da aus dieser zweiten Ehe keine Nachkommen bekannt sind, mag auch sein, dass er sie nie berührt hat. Wenn er sich für das Mädchen verantwortlich gefühlt hat, mochte es ihm auch ein Anliegen gewesen sein, für sein Fortkommen nach seinem eigenen Ableben zu sorgen: Da diese Elisabeth ebenfalls nie mehr wieder in den ungarischen Quellen auftaucht, kann auch dies als Indiz genommen werden, dass Paul nach 1349 nie mehr nach Ungarn zurückkehrte, im Ausland verstarb und auch seine junge Witwe daselbst verblieb. 136 Wertner, Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein 41–43. 137 Harald Prickler, Stammtafel der Grafen von Mattersdorf-Forchtenstein. In: Bollwerk Forchtenstein (wie Anm. 127) 158 f.

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Fazit über die Biographie Pauls von Forchtenstein Zusammenfassend ergibt sich für Paul von Forchtenstein das Bild eines bis ins hohe Alter tatkräftigen, sehr fähigen Richters und Diplomaten mit einem Hang zum autonomen Handeln, der – wenn man sich von fraktionellen Verhältnissen im Ungarn des 14. Jahrhunderts zu sprechen erlaubt – der Adelspartei zuzurechnen war, also jenen Kräften, die eine »Verfassungstradition« der geteilten Souveränität zwischen König und Adelsgemeinschaft mit starken Mitwirkungsrechten Letzterer verfochten; dessen ungeachtet unterhielten die Anjou-Könige Ungarns durch 21 Jahre hindurch mit Paul von Forchtenstein als iudex curiae eine bemerkenswert funktionierende cohabitation, die man sich jedoch alles andere als dauernd konflikt- und friktionsfrei vorzustellen hat. Dieses Verhältnis ist zusätzlich in die regionale Konkurrenzsituation der Mattersdorfer-Forchtensteiner mit den Osl-Kanizsay im heutigen burgenländischen Raum einzubetten, in der durchaus damit zu rechnen ist, dass deren kleinräumige Interessenslagen gelegentlich taktische Entscheidungen ihrer Protagonisten in Buda und Visegrád produzierten, die nicht nur auf das innenpolitische Geschehen insgesamt, sondern sogar auf das außenpolitische Verhalten und Agieren Ungarns durchzuschlagen vermochten. Dubiositäten umwölken 1. den Tod seines Großvaters Simon I. Yspanus, der im Familienvergleich relativ jung starb, just ehe sein Sohn und Pauls Vater Simon II. die rätselhaft unbekannte Mutter heiratete, mit der ganz neue Vornamen in die Familie eindringen, 2. den plötzlichen Tod von Pauls Amtsvorgänger Alexander Köcski am Zenit seiner Karriere, der mit Pauls Schwester verheiratet war, 3. seine Aktivitäten in der adeligen »Selbsthilfegruppe« um 1320 herum und 4. die kolportierten Schatztruhen- und Leichenreste im Schwarzen Turm von Forchtenstein.

Ausblick: Paul von Forchtenstein und die unter Simon von Kéza firmierenden Gesta Hungarorum Bereits bei der Erörterung der zugunsten der Mattersdorfer 17fach besiegelten Urkunde aus 1299 wurde György Rácz zitiert, der in ihr ein Musterbeispiel für »das laufende Ringen zwischen den sich entwickelnden ständischen Bestrebungen und der königlichen Autorität«138 sieht. 138 Rácz, A magyar király udvar oklevelei 264. Aus dem Ungarischen übersetzt von Zsuzsanna Holmlund und vom Autor, teils unter Zuhilfenahme der katalanischen Übersetzung des Teams: Mercè Costa, DUUAL SL, Kálmán Faluba, Jordi Giner, Erszébet Hanny, Csilla Péczely und Marianne Sághy.

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Wie Jenő Szűcs zutreffend erkannte, sind die Gesta Hungarorum mit einer politischen Ideologie vollgepackt, die die universae nobilitatis communitas als corpus politicum dem König mit aller Deutlichkeit gegenüberstellt und deren Anspruch auf Ebenbürtigkeit historisch zu begründen sucht139. Diese Ideologie dürfte allerdings der historischen Realität überhaupt nicht entsprochen haben, sondern vielmehr programmatisch gewesen sein: Otto von Freising beschreibt zwar durchaus so etwas wie einen ungarischen »Landtag« – trotzdem stellt er den ungarischen König (wohl konkret Béla  III.) als Tyrannen und Steuer­ akkumulierer dar: Doch darin ahmen sie die Schlauheit der Griechen nach, daß sie kein wichtiges Unternehmen ohne häufige und lange Beratung in Angriff nehmen. Am Hof des Königs kommen sie zusammen, wobei jeder der Vornehmen einen Stuhl mitbringt, und beraten eingehend und diskutieren über den Zustand des Staates.…Alle aber sind ihrem Fürsten gegenüber dermaßen unterwürfig, daß jeder es für unrecht hält, ihn auch nur durch heimliches Flüstern zu belästigen, geschweige denn ihn durch offenen Widerspruch zu erbittern. So kommt es, daß, obgleich das Reich in 70 oder mehr Komitate geteilt ist, von jedem Gericht zwei Drittel des Gefälles an den königlichen Fiskus abgeführt wird, während nur ein Drittel dem Grafen verbleibt, und daß trotz der Größe des Landes niemand außer dem König eine Münzstätte oder ein Zollhaus zu haben wagt. Wenn aber einer vom Stande der Grafen beim König auch nur den geringsten Anstoß erregt oder auch nur einmal zu Unrecht dessen geziehen wird, dann verhaftet ihn jeder beliebieg Troßknecht niedrigsten Standes, der vom Hof ausgeschickt ist, wirft ihn in Ketten und unterzieht ihn Folterungen mannigfacher Art. Niemals aber fordert der König, wie es bei uns üblich ist, einen Urteilsspruch seiner Standesgenossen; einem Angeklagten ist es nicht erlaubt, sich zu verteidigen, vielmehr gilt bei allen der Wille des Königs als Gesetz. Wenn der König einmal einen Kriegszug unternehmen will, vereinigen sich alle ohne Widerspruch gewissermaßen zu einem einzigen Körper (in unum corpus adunantur)140. Otto von Freising mag übertreiben – das erkennt man insbesondere daran, dass er andererseits die große Bedeutung des Landtages in Ungarn und seiner Beratungen nicht völlig unter den Tisch kehren kann: Dass seit Etablierung des 139 Szűcz, Theoretical Elements LXIX f. und LXXXVII. 140 Bischof Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica, übersetzt von Adolf Schmidt, hg. von Franz-Josef Schmale (Darmstadt 1986) 33., 193 f.

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Komitatssystems noch unter Stephan I. bis zu Andreas II. praktisch zwei Drittel jedes Komitats Krongut darstellten, ist unbestritten;141 diskutiert wird lediglich, wie die Rechtsstellung der dort lebenden Menschen einzuschätzen ist142. Dass die auf diesen gewaltigen Krongütern lebende Elite, die so genannten servientes regis, mit der Reform des Systems in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts sogar äußerst unzufrieden waren, werden wir gleich unten sehen und belegt, dass sie trotz der Bezeichnung servientes tatsächlich nicht einfach mit Leibeigenen gleichgesetzt werden können; jedenfalls erlangen sie mit der Goldenen Bulle von 1222 die formelle Anerkennung als Adelige143, und sie erscheinen damit nicht unähnlich jenem Typus von Ministerialen im Westen, der aus theoretischer Leibeigenschaft direkt in den Adelsstand aufzusteigen vermochte. Aus dieser Systematik ergibt sich, dass es Otto von Freising theoretisch zwar vollkommen trifft, wenn er sagt, dass zwei Drittel der Einnahmen jedes Komitats dem König zufließen – er unterschlägt aber, dass sich auf jenem Krongut längst Verhältnisse eingeübt haben dürften, die jenen im Westen durchaus ähnelten, indem die servientes regis dort de facto schon seit langem ziemlich autonom wie (niederer) Feudaladel wirken konnten144. Wie dem auch war: Dass die Verfügbarkeit über Grund und Boden die Machtquelle ersten Ranges schlechthin darstellt, steht spätestens seit Pierre Bourdieu außer Frage, und bis Andreas II. gehörte zumindest nominell zwei Drittel allen Landes nach wie vor der Krone, wodurch die zentrale Königsmacht in Ungarn immer noch ungewöhnlich groß gewesen sein dürfte, auch wenn die frühe Feudalstrukturen ausbildenden servientes regis das ursprüngliche Konzept bereits aufgeweicht haben dürften. Erst Andreas II. reformierte das Staatswesen nach westlichem Vorbild, was insbesondere die Etablierung einer ausdifferenzierten Lehenspyramide bedeutete, die wiederum nur durch forcierte Lehensvergaben – »Schenkungen« – neu hergestellt werden konnte, was freilich die informell längst feudal eingeübten Strukturen im (nunmehr ehemaligen) Krongut empfindlich durcheinander brachte. Salopp formuliert: Durch eine groß angelegte »Privatisierungs­kampagne« sollte »privat­ 141 Jószef Gerics, Herrschaftszentren und Herrschaftsorganisation. In: Alfried Wieczorek, Hans-Martin Hinz (Hg.), Europas Mitte um 1000 (Handbuch zur 27. Europaratsausstellung, 2000) Bd. 2, 570–573, 571. 142 Gerics, Herrschaftszentren und Herrschaftsorganisation 572. 143 Zsoldos, Magarország a 12–13. században 146 f. 144 Ob die servientes regis auf die in der Landnahmezeit unterworfenen Eliten der pannonischen Slawen zurückgehen, ist – zumindest für den transdanubischen Raum – gewiss eine Spekulation wert. – Vgl. dazu den Beitrag in diesem Band von Klaus Lohrmann, Benachbarte Kollektive unterschiedlicher Lebensordnungen. Zu den Anfängen der Angleichung der ungarischen Gesellschaft an den lateinischen Westen.

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wirtschaftliches Engagement« zum Zwecke der Entwicklung der gewaltigen Landstriche Ungarns im Interesse des gesamten volkswirtschaftlichen Nutzens mobilisiert werden, wobei allerdings den servientes regis anstelle des Königs nun neue Oligarchen hierarchisch übergestülpt wurden. Zu jenen neuen Oligarchen zählten prototypisch auch die Mattersdorfer, die als iberische Einwanderer schon früh mit großzügigen Schenkungen des Königs bedacht worden waren: Hier wird die Ursache ihres Dauerkonflikts im heute nord­burgen­ländischen Raum mit den einheimischen Osl-Kanizsay zu sehen sein, die ursprünglich vielleicht jenem Stand der angestammten servientes regis zuzuordnen waren (wenngleich hier speziell noch die Sondersituation im gyepü-Gürtel mit zu bedenken ist). In der ungarischen Geschichtsschreibung wird dieser Reformvorgang daher eher als Verschleudern von Krongut gedeutet, der die Königsautorität und damit einhergehend das Reich nachhaltig geschwächt haben soll: Attila Zsoldos: »Andreas II. (1205—1235) begann einige Jahre nach seiner Thronbesteigung mit einer Reihe von Maßnahmen, die er in seinen Urkunden als ›neue Ordnung‹ (novae institutiones) bezeichnete, mit denen die traditionellen Institutionen und Bräuche der Machtausübung grundlegend umgestaltet wurden. Das spektakulärste Merkmal dieser neuen Ordnung war, dass königliche Güter von ihm mit nie dagewesener Freigiebigkeit verschenkt wurden. Diese Praxis führte zu einer grundsätzlichen Änderung der Beziehung zwischen den Vornehmen (nobiles) und der königlichen Macht. Solange die Vornehmen nur über ein relativ bescheidenes Privatvermögen verfügten, waren die vom König für kürzere oder längere Zeit vergebenen Ämter und die damit einhergehenden Einkommen der wahre Ursprung der Macht und des Reichtums, aber durch die vielen Schenkungen änderte sich die Lage: Es entstanden bei den alten Parteianhängern und den neuen Günstlingen des Königs Privatgüter von bislang nie gesehener Größe. … Die Maßnahmen lösten bei einem ziemlich großen Kreis einen Sturm der Entrüstung aus«145. Die Unruhen mündeten in die Goldene Bulle von 1222/1231, die nach der Interpretation Zsoldos’ allerdings keine allzu großen Zugeständnisse an den Adel beinhaltete: »Dennoch musste der König nur der Kirche gegenüber größere 145 Attila Zsoldos, Das Königreich Ungarn in der Arpadenzeit. Teil I: Zu den Forschungsgrundlagen und der historischen Entwicklung bis 1301. In: Online-Handbuch zur Geschichte Südosteuropas, Band 1: Herrschaft und Politik in Südosteuropa bis 1800, hg. vom Institut für Ostund Südosteuropaforschung 25.

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Zugeständnisse machen …«146. Die im europäischen Vergleich – mit Ausnahme Deutschlands – später so hervorragende Stellung des Adels gegenüber dem König in Ungarn, war also nichts »Altes«, sondern erst eine allmähliche Entwicklung des 13. Jahrhunderts; Zsoldos meint sogar, wie eben gezeigt, dass die Goldene Bulle noch gar kein so großer revolutionärer Schritt in dieser Entwicklung gewesen war wie zumeist angenommen, und Szűcs zeigt schön, dass der staatsrechtliche (nicht der militärische!, wie ihn schon Otto von Freising absolut korrekt verwendete) Begriff des corpus der universae nobilitatis communitas überhaupt erst in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden ist – just während der Amtszeit Pauls von Forchtenstein als iudex curiae. Damit lassen sich folgende Thesen postulieren: 1. Die Reformen Andreas’ II. lösten das früh- und frühhochmittelalterliche Personalverbandskonzept in Ungarn im europäischen Vergleich relativ spät und nicht evolutiv, dafür aber in ungewöhnlicher Plötzlichkeit und in oktroyierter Weise auf; die Folge waren innere Unzufriedenheit und – psychologisch betrachtet – innere Emigration von der Krone und vom Arpadenmythos. 2. Zeitgleich kamen mit jenem Dominikanerpater Julianus Nachrichten vom Ural nach Ungarn, die einen Hunnenmythos anfachten und befeuerten. 3. Hinzu kam der Mongolenschock, der den Eindruck hinterließ, dass die Arpaden – in der Person Bélas IV. – die Existenz Ungarns nicht mehr zu garantieren imstande waren; Rogerius von Torre Maggiore hingegen gibt der Unzufriedenheit des Adels mit Béla IV. die Schuld, dass die Verteidigung scheiterte147, womit er den »Schwarzen Peter« dem Adel mehr oder weniger zurückspielte. Jedenfalls erkennt man, dass etwas im Verhältnis zwischen Krone und Adel nicht mehr stimmte, was sich im Falle der Mongolen nun existenzbedrohend auf Ungarn auswirkte. 4. Bereits in der Spätzeit der Regierung Bélas IV. kam es folgerichtig zu einer Desintegration der Arpadenmonarchie, im Zuge derer faktische Klein­könig­ tümer wie jenes der Güssinger im Westen entstanden. 5. In Ungarn mag der Eindruck entstanden sein, dass es mit den Arpaden zu Ende ging; allerdings war das Magyarentum mythisch so eng mit den Arpaden verknüpft, dass die Logik dieses Mythos für den Fall des Aussterbens der Arpaden den Untergang des ganzen Ungarntums an die Wand zu malen vermochte. 146 Zsoldos, Das Königreich Ungarn in der Arpadenzeit I, 26. 147 Rogerius (Ruggiero) de Torre Maggiore, Klagelied [Deutsch], hg. u. übers. v. Hansgerd ­Göcken­jan, James R. Sweeney, Der Mongolensturm. Berichte von Augenzeugen und Zeitgenossen 1235–1250. (Thomas von Bogyay [Hg.], Ungarns Geschichtsschreiber 3, Graz/Wien/ Köln 1985) 139–186, 4, 6., 143 f.

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6. Psychologisch erzwang dies die Kreation eines neuen Mythos, der den Weiterbestand des Ungarntums mythologisch auch für den Fall des Aussterbens der Arpaden sicherte. Dieser wurde im Hunnenmythos gefunden, da er in die Zeit lange vor den Arpaden zurückgriff; der Succus war: Hunnen hat es vor den Arpaden gegeben, und es wird sie auch noch nach ihnen geben. 7. Mit diesen Hunnen identifizierte sich nun verstärkt der Adel und erträumte sich gelegentlich sogar handfest behauptete Genealogien, die bis zu legendären Hunnenführern zurückreichen sollten; zugleich wehrte sich der Arpadenhof verstärkt gegen diesen neu aufkommenden Mythos und ließ ihn zum Teil sogar mit Spottliedern in den Schmutz ziehen. Das heißt, der mit der ständischen Emanzipation und dem Entstehen jener faktischen Klein­könig­ tümer einher gehende Konflikt mit der Krone in der späten Arpadenzeit wurde ideologisch auch im Gegensatz von Hunnen- und Arpadenmythos ausgetragen. Die im 14. Jahrhundert, in der Anjouzeit, gestaltete ungarische Chronikliteratur versuchte dann, beide Mythen vermittelnd zu vereinen, zumal Karl Robert von Anjou ja deshalb König von Ungarn geworden war, da er großmütterlicherseits selbst arpadisches Blut in sich trug. Dies mögen Thesen sein, deren Validität, Reichweite und Intensität ihrer Wirksamkeit noch in weiteren Studien zu prüfen sein wird; die Zusammenhänge, die diese Thesen zu erschließen vermögen, treten allerdings bei Betrachtung von Genese und Inhalt der unter Simon von Kéza firmierenden Gesta Hungarorum deutlich zutage: 1. Ursprünglich zwischen 1282 und 1285 entstanden, sind sie das erste Werk der ungarischen Chronikliteratur, das den Hunnenmythos aufnimmt148. 2. Zugleich lässt sich das Werk, obgleich Simon von Kéza königlicher Notar war, nur schwer in die offiziöse Geschichtsschreibung Ungarns eingliedern; Gyula Kristó spricht daher von einem Text, der »in autonomer Form unter dem Namen des Autors auf uns gekommen ist«149. Die »autonome« Form der Arbeit lässt daher darauf schließen, dass sie nicht »höfischen« Ursprungs 148 Veszprémy, Introduction XXIII. 149 Gyula Kristó, Latini, Italiani e Veneziani nella Cronaca Ungherese (Lateiner, Italiener und Venezianer in der Ungarischen Chronik). In: Sante Graciotti, Cesare Vasoli (Hg.), Spiritualità e lettere nelle cultura Italiana e Ungherese del Basso Medioevo (Spiritualität und Geisteswissenschaft in der italienischen und ungarischen Kultur des Spätmittelalters) (Civiltà Veneziana, Studi, 46, Atti del convegno di studi promosso e organizzato dalla Fondazione Giorgio Cini in collaborazione con l’Accademia Ungherese delle Scienze, Florenz 1995) 343–354, 344: »… cronaca di Messer Simon Kézai (composta tra il 1282 e il 1285), pervenutaci in forma autonoma sotto il nome dell’autore; …«.

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war, auch wenn sie bei Hof wohlbekannt und gelesen worden sein mochte. Für die mittelosteuropäische Chronikliteratur ist so etwas absolut untypisch; Dániel Bagi betont in diesem Zusammenhang ganz explizit, dass die Geschichtsschreibung in Böhmen, Polen und Ungarn »während des ganzen Mittelalters grundsätzlich eine ›staatliche‹ Aufgabe war«150. 3. Wie schon erörtert, müssen die unter Simon von Kéza firmierenden Gesta Hungarorum im 14. Jahrhundert stark überarbeitet worden sein. Die sich darin wiederfindende politische Ideologie insbesondere um die universae nobilitatis communitas als corpus politicum entstand in Ungarn nämlich erst ab etwa 1330151 – just als Pauls von Forchtenstein 21jährige Amtstätigkeit als iudex curiae begann (1328), in deren Funktion er ja auch als oberster »Staatsrechtler« Ungarns angesehen werden kann. 4. Über die Hunnen wird die freie Königswahl legitimiert. Jenő Szűcs bringt es wie folgt auf den Punkt: »At Simon’s historical starting point … the Hun communitas is the ancient ›constitutional‹ form of the populus Hungaricus, and this state of affairs is altered only when the Huns elected Attila to be ›king over them‹, Romano more, after the conquest of Pannonia. (…) The ›historically‹ fluctuating relationship of communitas and rex is portrayed quite anachronistically but in a manner consistent with the author’s theory«152. In dieser Darstellung war zuerst die communitas – alle Legitimität des rex ist ausschließlich Ausfluss dieser älteren communitas, die vor dem rex da war, manifestiert durch den Wahlakt. Hier ist Attila bloß einer unter anderen Hauptmännern, aus der ansonsten völlig unbekannten Sippe der Érd153 stammend, die in keiner Weise vor anderen Sippen hervorzuheben oder irgend dynastisch zu bevorzugen wäre; für Attilas Sonderstatus als König ist einzig die Heeresversammlung legitimierend, deren Beschlüsse für sich folgende Anrufung beanspruchen: »Vox Dei et populi Hungarici«154. Das heißt mithin: Aus der Versammlung der Ungarn 150 Dániel Bagi, Genealogische Fälschungen und Fiktionen als Legitimierungsmittel in narrativen Quellen des östlichen Europa im 11–13. Jahrhundert. In: Erik Kooper, Sjoerd Levelt (Hg.), The Medieval Chronicle VIII (Amsterdam/New York 2013) 75 f. 151 Szűcz, Theoretical Elements LXXXVII. 152 Szűcs, Theoretical Elements XCIV f. 153 Eventuell wollte der Autor hier einen etymologischen Zusammenhang mit Erdély konstruieren – der ungarischen Bezeichnung für Siebenbürgen/Transsilvanien; erdő heißt: Wald. Doch spätestens bei der Frage nach dem Motiv bleibt man ratlos. 154 Simon von Kéza, Gesta Hungarorum (wie Anm. 24) 7, 24–31.

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spricht zugleich Gott – eine deutliche Ansage dem monarchischen Gottesgnadentum westlicher Prägung gegenüber. Zum Beleg der Ansprüche des Adels den Anjou-Königen gegenüber musste also Attila herhalten, weil wohl nach wie vor zu offensichtlich erinnerlich war, dass die Ausgestaltung der Monarchie in der Arpadenzeit ganz anders ausgesehen hatte – nämlich im damaligen europäischen Vergleich sogar ziemlich zentralisiert und absolut. Die Traditionen der Arpadenzeit taugten mithin überhaupt nicht zur Legitimierung ständischer Ansprüche. Die Gesta Hungarorum scheinen demgegenüber eine Art Dekadenzmodell ins Spiel zu bringen, worin die zunehmende Zentralisierung der Arpadenzeit dem westlich-christlichen Modell geschuldet gewesen wäre155, das sich erst nach Herzog Géza, also mit seinem Sohn, König Stefan I. dem Heiligen, zu manifestieren begonnen hätte156. Wir haben gesehen, wie sich Pauls Vater und Onkel 1299 ihre Ansprüche dem letzten Arpadenkönig gegenüber vom Adel 17fach besiegeln ließen; wir haben gesehen, wie Paul um 1320 in Zeiten der Wirren eine adelige »Selbsthilfegruppe« anführte, um für »Recht und Ordnung« zu sorgen. Es ist offensichtlich, dass Paul durch seine Familie der Mattersdorfer-Forchtensteiner in einem Milieu sozialisiert wurde, das den König der Summe des Adels gegenüber als inferior betrachtete. Wir haben dargestellt, wie Paul von Forchtenstein offenbar von ebendiesem Adel in das Amt des iudex curiae gehievt wurde, und mit welchem Selbstbewusstsein er es dem König gegenüber durch 21 Jahre hindurch ausgeübt hat. Wer mag daher redlicherweise ausschließen wollen, dass die staatsrechtlich-ideologischen Passagen der unter Simon von Kéza firmierenden Gesta Hungarorum, die die communitas des Adels zum zentralen Fokus der ungarischen Souveränität erklären, auf ihn zurückgehen, zumal er just in jener Zeit der oberste »Staatsrechtler« Ungarns war, als diese politische Programmatik zu ihren juristischen Formulierungen fand, und außer Streit steht, dass es zeitlich parallel eine Überarbeitung jener Gesta Hungarorum gegeben haben muss? Das heißt: Paul von Forchtenstein könnte durch 21 Jahre hindurch vor allem deshalb so macht- und erfolgreich das Amt des Hofrichters ausgeübt haben, weil er als primus inter pares der Adelsbewegung galt – ja mehr noch als deren Doyen: Es steht mithin im Raum, dass Paul von Forchtenstein der Schöpfer des typisch ungarischen, ständischen Staatsverständnisses war, wie es uns später besonders in der Habsburgerzeit begegnete, und zwar in all seinen Facetten; dass er 155 Szűcs, Theoretical Elements XCV f. 156 Simon von Kéza, Gesta Hungarorum (wie Anm. 24) 10, 42: »… usque tempora ducis Geichae, dum se regerent pro communi …« Dass Stefan I. sein neues Königreich mit stark autoritärer Hand aufbaute, dürfte zutreffen. Vgl. z. B. Kristó, Die Arpaden und Ungarn 568 f.

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bereits bestehende, diffuse Ansätze in ideologisch-theoretischer, in praktischrecht­licher und in historisch-legitimierender Hinsicht zu einer homogenen, in sich schlüssigen Programmatik zusammenführte, womit er ein ganz wesentlicher, wenn nicht sogar d er zentrale Gestalter der Schwerpunktverlagerung in den Mythen von den Arpaden auf die Hunnen gewesen wäre. Dabei bewies er dessen ungeachtet seine Loyalität zur neuen Dynastie der Anjou, insbesondere in seinem außenpolitischen Handeln in der neapolitanischen Angelegenheit, aber auch, indem er gemeinsam mit seinem Bruder Lorenz half, die Güssinger niederzuringen und der Krone in Westungarn wieder zur Geltung zu verhelfen.

András Sipos

Budapest “Time Machine” as research tool Sources on the society of Budapest (1870s–1910s)

Abstract: “Time Machine” can be regarded as a new “generation” of archival (and other types of cultural heritage) databases, which offer not only search possibility by search terms, keywords and data fields, but access to sources en masse via navigating interactive maps. The integrative vision of these initiatives is to become to be able to navigate through Big Data of the Past like on Google Maps intersecting different layers of Time. Budapest Time Machine (https://hungaricana.hu/en/ databases/budapest-time-machine/) concentrates on transformation of old historical maps of the city into geo-spatial information system to facilitate study of the transformation of the city, search for old locations and gain access to archival sources related to the history and inhabitants of the individual plots and houses. Budapest Time Machine is supported by the huge database of “Hungaricana Cultural Heritage Portal”, which contains millions of pages of digitalized source-material about the residents and buildings of the city, providing large amount of data related to exact places and dates. The aim is – with gradual development – to make all these available in an easy, quick and entertaining way with the help of historical maps. There are lots of sources, which were “marginal” 15–20 years ago because the pieces of information they contain were too scattered and searches based on traditional finding aids were too laborious for effective research – and became frequently used because these tiny pieces of information have found their context in the joint databases. The possibility to detect multiple connections between e. g. orphan’s office records, public notary records, architectural plans, litigation files, postcards, advertisement in newspapers etc. opens new possibilities of insight into the social composition of tenement houses and the social relations of their tenants in the period between the 1870s and 1910s. The paper illustrates these possibilities with the story of the well-known Viennese-born architect of Budapest, Gustav Petschacher and his own tenement house. The hits in the databases of “Hungaricana” and “Time Machine” open new and different lines of further search and future connection of databases and “Time Machines” of different cities and regions may foster deeper reconstruction of the common past of Central Europe.

“Time Machine” is not a science-fiction vision, but a unifying “brand” of new initiatives in different cities and countries, which aim at transforming kilometres of archives and large collections from museums into a digital information system. It can be regarded as a new “generation” of archival (and other types of cultural heritage) databases, which offer not only search possibility by search terms, keywords and data fields, but access to sources en masse via navigating interactive maps. The integrative vision is to become to be able to navigate through Big Data of the past like on Google Maps intersecting different layers of Time. Time

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Machine as a notion comprises tools and processes of large-scale digitization, information extraction, automated transcription, data integration, geo-spatial referencing, visualization and digital simulation of the past1. The pilot projects in different cities follow their own way, concentrating in some cases on technological breakthrough in the fields of automated digitization and transcription, deep learning methods, visualization, 3 D-reconstruction and virtual reality. “Budapest Time Machine”2 concentrates on the transformation of old historical maps of the city into a geo-spatial information system to facilitate the study on the transformation of the city, search for old locations and gain access to archival sources related to the history and inhabitants of the individual plots and houses. “Time Machine” is supported by the huge database of “Hungaricana Cultural Heritage Portal”3, which contains millions of pages of digitalized source-material about the residents and buildings of the city, providing large amount of data related to exact places and dates. The aim is – with gradual development – to make all these available in an easy, quick and entertaining way with the help of historical maps. “Hungaricana” is the joint cultural heritage portal of Hungarian public collections: libraries, museums and archives. It was realized in 2014; the development was financed by the National Cultural Fund (NKA). Its basic task is to offer integrated access by one click to all the digital content created in different cultural heritage institutions in the framework of all projects supported by NKA (beyond this it includes also a lot of digital contents created making use of other financial sources). Digital objects and metadata, which are searchable here, are the outcomes of many years of systematic work. The number of content provider institutions is more than 120. The portal is organized by databases of visual sources (Gallery), publications (Library), archival records (Archives), cartographic sources and architectural plans (Maps and Plans, Sound Archives). The search engine allows the user to conduct queries among all the databases simultaneously or specified for sub-databases, types of sources or content provider institutions. Advanced search functions of the “Archives” section makes it possible to conduct sophisticated que1

On Frederic Kaplan’s initiative, who is the initiator of the “Venice Time Machine”, the stakeholders of these initiatives organized a consortium for the Time Machine (SA project): http:// timemachine.eu/ (View 15.02.2019). 2 https://hungaricana.hu/en/databases/budapest-time-machine/ (View 15.02.2019). It was launched in November 2017 with the support of the National Cultural Fund. The beneficiary was Budapest City Archives, the developer and service provider was Arcanum Ltd., Budapest. In the next phases of development, Metropolitan Ervin Szabó Library was also a partner. 3 https://hungaricana.hu/en/ (View 15.02.2019).

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ries, which are specific for the types of sources. Hungaricana not only makes our research time-efficient but also opens totally new possibilities to connect pieces of information hidden in different sources with each other in such a way, which was practically unfeasible in traditional research. The “Archives” section of “Hungaricana” offers an extremely wide range of basic sources, from a complete corpus of medieval charters preserved or copied and registered by the National Archives to a complete series of the minutes of the governing bodies of Capital Budapest between 1873 and 1990 or the minutes of the capital city and county level bodies of the ruling communist party after 1948. The sub-database of the finding aids created by the Hungarian archival delegates and other Hungarian researchers in Österreichisches Staatsarchiv Haus-, Hof- und Staatsarchiv and Hofkammerarchiv in Vienna contains the short descriptions of more than 168.000 items of different holdings of the ÖStA4. Research of modern urban – especially metropolitan – societies is rendered more difficult by the fact that the traces of the huge number of inhabitants are highly dispersed in different archival fonds which are bulky and complex in themselves, so the connection of these traces is hopeless in many cases through traditional research. The “Archives” section of “Hungaricana” makes this connection possible, offering access by simultaneous search in different types of mass records created during the everyday functioning of the society in the 19 th and early 20 th centuries. Such types of records on the society of Budapest which are already available (partly only metadata, partly also digitized records themselves) are the followings5: ȤȤ Notarial records 1875–1918 complete, (1920–30s on-going) ȤȤ Last wills, testaments 1696–1950 ȤȤ Inheritance files (19–20 th centuries) ȤȤ Court files (penalty and civil suits 19–20 th centuries) ȤȤ Orphans’ Office files 1874–1919 (this period is nearly complete) ȤȤ City Council Minutes of Buda and Pest (18–19 th centuries) ȤȤ Registers of prisons and penitentiary institutions (19–20 th centuries) ȤȤ Architectural plans ȤȤ Real estate registers of Pest and Óbuda (1878–1921/26) ȤȤ Database of Associations (First half of 20 th century) ȤȤ Topographical database 4 https://archives.hungaricana.hu/en/lear/Becsseg/ (View 15.02.2019). 5 The building of databases of these sources was carried out in the framework of numerous projects supported by the National Cultural Fund. The database of notarial records has been supported also by the National Chamber of Public Notaries.

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Integration to the GIS system of the “Time Machine” on the level of individual buildings/plots is possible, because the data recorded about the persons involved into the different cases contains their addresses (places of residence, places of activities, places of sites in the case of building and land registry records). Those records were connected to “Time Machine” as a first step, which contained the recent property plot number (this is the central data which we use for integration). These were the land registry records, building plans, the flat data sheets from 1944 (the function of which was to prepare the forced concentration of Jewry in the “yellow star houses”), photos and postcards. In the case of other types of sources, we have just a contemporary address contained by the archival record itself, so a special database is needed by which one can transform the historic addresses to recent plot numbers. A database of the old property plot numbers from the 1870s with geocodes was gained by reading them from the same most detailed cadastral maps, which were the bases of “Time Machine” maps. To correspond the old addresses to modern plot numbers, we could utilize the printed address registers, which are available on “Hungaricana” owing to a project of the Metropolitan Ervin Szabó Library, Budapest6. We had the possibility to carry out the first project in this field in 2018 with the support of NKA. As it was a WWI-related project, the real estate inventory of the year 1916 volume of “Budapester Adressen und Wohnungs -Anzeiger” was organized into a database, which contains already the modern system of plot numbers together with contemporary addresses. With the help of this database, it was already possible to geo-reference the address data of the records of notarial deeds effectively. The deeds of the years 1914–1918 contained approximately 20.000 different addresses in Budapest and more than 93 % of these could be connected to geocode corresponding to a plot number. The content of “Hungaricana” archival database seems to be an inexhaustible pool for records connectable to the “Time Machine” map applying similar method. By querying and filtering these records – which are preserved and arranged on the basis of the principle of provenance that means following the administrative logic of the original creators – the individuals of the era can be seen in the context of their transactions and interactions with other members of their social networks, and the user of the database can reconstruct these lines of networks in a time-effective way. Let me present these possibilities shortly through one example.

6 https://library.hungaricana.hu/en/collection/fszek_cimjegyzekek_1867_1942/ (View 15.02.2019).

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Gustav Petschacher (1844, Vienna – 1890, Budapest) was one of the excellent architects who resettled to Budapest during the era of metropolitan transformation after the Compromise of 1867 to capitalise their expertise and creativity here. With the Compromise the Hungarian Kingdom regained, after the years of political absolutism since 1849, a large degree of constitutional autonomy within the framework of the Austro-Hungarian Monarchy. A prime objective of the government and political elite was to transform the “twin cities” on the Danube, Buda and Pest together with the third “sister” Óbuda (Old Buda) to one modern capital city, equal to the aim to compete with Vienna for the position of being first among the centres of the Empire. The creation of Capital Budapest through the unification of the three cities took place in 1873. The urban landscape and infrastructure were still backward and scanty compared to the size and commercial-industrial significance of the city. The national government raised a big loan for city development and organized the “Metropolitan Board of Works” as single authority for building and regulation affairs and integrative force for the three cities already in 1870, going on ahead their administrative unification. A law was enacted during the same year on opening a new boulevard connecting the Inner City with the City Park (Stadtwäldchen, in Hungarian Városliget). This was the future Radialstraße (today Andrássy Straße), construction work of which began in 1872. The creation of the Great Ring Boulevard was decided in 1871 which was destined to connect the commercial-industrial zones on the northern and southern fringes7. Petschacher resettled to Budapest in 1873 (year of the unification of the municipalities) as the chief architect of the “Radialstraßenbau-Unternehmung”. This company was founded as a consortium of three banks to buy and build all the expropriated and newly regulated plots of the new boulevard. The enterprise bankrupted as a consequence of the 1873 crisis and the “Metropolitan 7 György Enyedi – Viktória Szirmai, Budapest: a Central European Capital (London, 1992); Budapest. A History from its Beginnings to 1998, eds. András Gerő – János Poór, Atlantic Studies on Society in Change No. 86. Atlantic Research and Publications, Inc., Distr. (Columbia University Press 1997); Budapest und Wien. Technischer Fortschritt und urbaner Aufschwung im 19. Jahrhundert, ed. by Peter Csendes – András Sipos (Budapest –Wien, 2003) (online on Hungaricana: https://library.hungaricana.hu/hu/collection/mltk_bfl_egyeb_­kiadvanyok/); ­Péter Hanák, Die Garten und die Werkstatt: ein kulturgeschichtlicher Vergleich. Wien und Buda­ pest um 1900 (Wien, Köln, Weimar, 1992); Thomas Hall, Planning European Capital Cities. Aspects of Nineteenth Century Urban Development, (London–New York, 2010), 245–254.; ­Robert Nemes, Budapest, in: Capital Cities in the Aftermath of Empires, Planning in Central and Southeastern Europe, Ed. Emily Gunzburger Makaš – Tanja Damljanović Conley (Routledge, London, New York, 2010) 140–150.

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Board of Works” took the management of the road over in 1876. Most of the plots were sold to individual builders. The building up of the road lasted till 1885. The period of the building of Radialstraße coincided with the prevailing of the neo-renaissance style in architecture. Although the individual buildings of the boulevard were planned by different architects, most parts of it made the impression of a composed neo-renaissance city 8. Petschacher was born on 9 February 1844 in Vienna as Michael Alexander Petschacher’s (1808–1867) son, who was a musician, member of the Hofkapelle and oboe teacher at the Conservatorium. Gustav had five brothers and two sisters, all of them seem to have lived in Vienna9. He went to the Polytechnisches Institut, then to Akademie der bildenden Künste. He was the apprentice of Heinrich Ferstel and Friedrich Schmidt, then started his career at the architectural office of Romano and Schwendenwein in Vienna. It was an excellent opportunity for the young man being invited to be the chief architect of “Radialstraßenbau-Unternehmung” after the abrupt death of his predecessor Emil Unger10. Alajos Hauszmann, Professor at the Technical University and the most distinguished architect of the era aside from Miklós Ybl – the peak of his career was the planning of the transformation of the Royal Palace at the turn of the century – informs us in his diary that he had been originally selected for this job, but he did not find it compatible with his position at the University. This being so, “Gustav Petschacher, an architect form Vienna, was appointed, who came to Budapest just like other architects mostly from Vienna, to take part directly in the monumental building activity here”11.  8 The Architecture of Historic Hungary, Ed. by Dora Wiebenson – József Sisa (MIT Press Cambridge, Massachusetts, London 1998) 218–221; Neo-Renaissance Architecture in Budapest, Ed. by Tamás Csáki – Violetta Hidvégi – Pál Ritoók (Budapest City Archives, Budapest 2008) 100–102.   9 Archival and literary sources are silent about his family background. In the heritage file created after his death are mentioned his brothers and sisters in Vienna without specific details, who “didn’t know the circumstances of the deceased”. Budapest City Archives (=HU BFL) IV.1411.b General records of the Orphans’ Office of Capital Budapest 1890 – Petschacher. Some data on the family: http://petschacher.blogspot.com/ (View 15.02.2019), http://www.petschacher.de/ (View 15.02.2019). 10 Biographic data see Béla Ney, Petschacher Gusztáv 1844–1890, Vasárnapi Újság 37 (1890) No. 4. p. 57–58, online: https://adtplus.arcanum.hu/hu/view/VasarnapiUjsag_1890/ (View 15.02.2019). Description and analysis of his oeuvre Ervin Ybl, Petschacher Gusztáv építészete, Magyar Művészet 8 (1932) 166–193, online: https://adtplus.arcanum.hu/hu/view/MagyarMuveszet_1932/ (View 15.02.2019). 11 Hauszmann Alajos naplója. Építész a századfordulón, Ed. by Ambrus Seidl (Budapest, 1997) 31–32.

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After the collapse of Radialstraßenbau-Unternehmung, Petschacher continued his career as a private architect. His first important independent work was the villa Nr. 126 Radialstraße, which was built in 187512. This was one of the first villas within the city planned for permanent not only summer residence. The builder was Vince Weninger (1834–1879), Director of the Hungarian General Credit Bank, one of the most important figures of the Hungarian financial elite and advisor of the government in financial affairs. The architect married Irma Weninger, the builder’s daughter in 1878, which was a decisive step to be integrated into the local society. The wedding, which took place on 7 September 1878, was an impressive social event. The personality of witnesses underscores its importance: from Petschacher’s side, there was Antal Csengery, MP and deputy chairman of the Academy of Sciences, an elaborator of the Compromise of 1867 and one of the most important politicians of the governmental party. The bride’s witness was Károly Hieronymi, engineer and state secretary of the Ministry of Public Works, future Minister in different governments13. (Petschacher planned a villa also for him at 106. Radialstraße14.) Weninger afforded dowry in value of 10 thousand Fl. ö.W. partly in money and partly in furniture, silverware, textile and other household commodities. The engagement present (contrados) offered by the husband was 20 thousand Fl. All assets to be obtained during the time of the marriage was declared to be joint property15. Petschacher’s oeuvre included 24 buildings in Budapest and constructions for the State Railways at different locations16. He won the planning competition for the formation of the circle square called Körönd (today Kodály Körönd), which separated the middle and the outer sections or Radialstraße, and he planned one of the monumental tenements of the square in style reminiscent to Tuscan renaissance (today 88–90 Andrássy út, 1879–80)17. Other palaces of high artifi12 Archive photo on Hungaricana: http://gallery.hungaricana.hu/en/BudapestGyujtemeny/3294; photos and records on Budapest Time Machine: https://archives.hungaricana.hu/hu/budapest/ HelyrajziSzam/28271/; https://archives.hungaricana.hu/hu/budapest/HelyrajziSzam/28264/, (View 15.02.2019). 13 HU BFL XV.20.2.a. Roll 124. Microfilm copies of church registry books. Inner City Parish, marriage register, 1878, No. 174 (7 September 1878). 14 Photos and records on Budapest Time Machine: https://archives.hungaricana.hu/hu/budapest/HelyrajziSzam/28365/ (View 15.02.2019). 15 HU BFL IV.1411.b. – 1890 – Petschacher, Ehevertrag 7. September 1878. 16 Ervin Ybl, Petschacher Gusztáv építészete, Magyar Művészet 8 (1932) 177–182.; Ervin Ybl, Petschacher Gusztáv építészete, in: A Magyar Művészettörténeti Munkaközösség Évkönyve 1952 (Budapest 1953) 177–192. 17 https://archives.hungaricana.hu/hu/budapest/HelyrajziSzam/28553/ (View 15.02.2019).

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cial value planned by him on Radialstraße were Palais Pallavicini near Körönd18 (from 1882) and Palais Harkányi near the gate of the street (1882–83)19. The style of his tenement houses became standard for many others and he was one of the most fashionable architects in Budapest during 1880s. The social history of architectural profession and building entrepreneurship in Budapest during the era of transformation into modern metropolis is still unwritten. Therefore, we are not able to evaluate Petschacher’s property conditions and financial circumstances in profound comparison to his colleagues. When he died unexpectedly of pneumonia caused by a flu in the prime of his life on 7 January 1890, he left behind six children and a five-storey tenement under construction, which he planned for himself and his family as a safe investment. He chose a corner plot on the section of the Great Ring Boulevard (Großring, Nagykörút), which passed through Josef­stadt: today 27 József körút, District VIII20. According to the widow’s statement unanimous with the official guardian of the children, Petschacher did not have any inherited property of notable value and did not bring any considerable assets into their marriage. In spite of his earnings as a well-known architect, his bequest was not big, because “the family kept a household which was suitable for the social status of the husband, and beyond that they paid quite considerable sums for insurance fees”21. After the Orphans’ Office had received some pieces of new information from the Viennese relatives, she corrected her statement telling, that his husband could have inherited 39.000 Fl. from his father and 17.000 Fl. from his grandfather, but this money was not at disposal at the time of their wedding because of the big losses of his first ventures. She admitted that the part of a house in Vienna, which was a part of his heritage, had been sold only in 1885, but the income was consumed by covering these old losses22. I got the hit from “Hungaricana” database relating to the Orphans’ Office file created after Gustav Petschacher’s death23 by conducting search not for his person, but for files which contain management records of tenement houses. 18 https://archives.hungaricana.hu/hu/budapest/HelyrajziSzam/28467/ (View 15.02.2019). 19 https://archives.hungaricana.hu/hu/budapest/HelyrajziSzam/29243/ (View 15.02.2019). 20 https://archives.hungaricana.hu/hu/budapest/HelyrajziSzam/36419/ (View 15.02.2019), http:// budapest100.hu/house/jozsef-korut-27/ (View 15.02.2019). 21 HU BFL IV.1411.b. – 1890 – Petschacher, Minute 4. November 1890. 22 HU BFL IV.1411.b. – 1890 – Petschacher, Minute 11. April 1891. (There is no further specified information about the Viennese house in the case file.) 23 https://archives.hungaricana.hu/en/lear/Arvaszeki/4441/ (View 15.02.2019).

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Fig. 1: Tenement house of Gustav Petschacher – planned by himself, 1889, HU BFL XV.17.d.329–36419.

This type of source is rarity from this period of Budapest. Archives of builders, developers or landlords have not been preserved, so we have extremely scarce archival data about their expenses and incomes. Owing to the task of the wards and guardians to manage the assets of the orphans or people under guardianship for their benefit and account fully for the Orphans’ Office, the records of this organisation (which are preserved imperfectly) contain detailed accounts on house management in some cases. These could have been discovered by traditional research just by chance, but the cases of occurrence are registered in the database, so it gives an opportunity for the first time to search these unique and unparalleled sources throughout the whole corpus.

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Fig. 2: Hit for Petschacher’s file in the database of Orphan Office Records.

The lack of other sources relating to the acts, transactions and strategies of the actors of city development and housing sector enhances the significance of notarial records and real estate registers. Querying of notarial records is possible according to the name, occupation and social status or the address of the actors. The real estate registers and the notarial records of the years 1914–1918 can be searched by navigating on the georeferenced cadastral map of the “Time Machine”, opening the plot record by clicking on the property plot number which appears by zooming, and we can open the connected descriptive records and images of the connected sources directly from here24. Connecting these types of sources, we can reconstruct quite in details how the Petschachers bought, owned and enjoyed their estate on József körút. The real estate register informs us about the fact that Gustav Petschacher and Irma Weninger purchased the plot on 7 April 1888 for 22.600 Fl. ö. W25. The 24 “Time Machine” is under continuous development. At the time of writing this paper digital images of 15.000 estate registry records of 21.500 ones relating to the left bank of the Danube that is Pest and all the records relating to Óbuda are uploaded. The rest of the records of Pest and the records of Buda are already fully digitized and upload is planned to be carried out soon. Metadata of all the notarial records between 1875–1918 and of all the inheritance files are searchable on Hungaricana, and also digital images of many of them. The notarial records of the years of WWI have been first georeferenced and connected to the interactive map of the “Time Machine”owing to the support of a WWI-related project of the National Cultural Fund. 25 HU BFL XV.37.c – 5732, on-line https://archives.hungaricana.hu/hu/lear/Telekkonyv/14272/ (View 15.02.2019).

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notarial deed of the purchase contract26 contains the important piece of information, that all the burdens charged on the plot had to be detracted from this price and the buyers had to enter into possession without any charges. The building of a new five-storey house on the plot was entered into the real estate register in November 1889. We gain new and also fundamental information from the Charges section of the same estate register: 15 July 1889 the architect and his wife received a mortgage of 60.000 Fl. ö. W. from the K. und k. Privilegierte Allgemeine Boden-Credit-Anstalt in Wien, to be repaid in 84 bi-annual annuities of 1575 Fl., being the 85 th annuity 2361 Fl. The digitisation and on-line publication of the real estate registers open the possibility to collect data en-masse on the credit financing of house building. At this moment we have only a blurred and diffuse picture about that. It seems to be quite interesting that Petschacher, who had intimate relations with the financial market of Budapest through the family of his wife, turned to the Viennese credit market, when he needed a really big sum for a long term. This raises a general question about the role of the Viennese credit market in the financing of the building and housing sector of Budapest, and the “Hungaricana” database and the “Time Machine” may be useful tools to try to gain at least some tentative conclusions about that. The assessed value of the newly built tenement house was near 102.000 Fl. ö. W. The half of this meant the bulk of the active side of the architect’s heritage. His movable properties were quite modest, his set of clothes was made up of 1 winter coat, 1 coat, 3 suits, 12 shirts, 18 socks, 12 underpants, 2 pair of shoes and 2 hats, beyond that he had 1 golden ring with precious stone, 1 golden watch and 1 breast-pin. He had 16.408 Fl. on his account at the General Credit Bank and about 4000 Fl. demands from a few builders. The burdens and debits – beyond the half of the abovementioned long-term credit – were 12.000 Fl, the biggest individual item of which was 6388 Fl., the half of the still non-paid costs of the house building27. The widow made the statement that the buying of the plot and building of the house – beyond the 60.000 Fl. credit – required 45.768 Fl. cash from which 26.000 Fl. was covered from her own money inherited from her father. The architect also left behind different insurance bonds worth approximately altogether 46.000 Fl. He was not only a planner but also a building entrepreneur 26 HU BFL – VII.200.a – 1888–0478, on-line: https://archives.hungaricana.hu/en/lear/Kozjegyzoi/260864/ (View 15.02.2019). 27 HU BFL IV.1411.b. – 1890 – Petschacher, Inventory of the inheritence, 17 and 23 March 1891.

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and this is documented by the fact that he had taken just before his death in December 1889 78.000 Fl. for the building of the last tenement planned by him on the corner of József körút and Üllői út (Thurn–Rumbach house, 87. József körút–36. Üllői út)28. The building had to be finished to the debit of the heirs. This being so, we find the invoices of the contractors and the final detailed statements of costs, which is also a very rare type of source material, relating to the buildings of this period. Petschacher’s part of the house ownership was inherited by his six children (five daughters and one son). Their guardian was Vince Weninger J., Irma Weninger’s brother, a banker himself. On the Charges section of the estate register new and new mortgages appeared charged on the widow’s part of ownership. Her share was burdened with 32.587 Fl. new mortgage altogether in 1895/96. Among the biggest creditors we find, beside two big commercial banks in Budapest, the Firm Árvay and Co. to which she was indebted to 5000 Fl. The digitized address registers on “Hungaricana” show us easily that it was an elegant fashion clothes store on the centrally located Elisabeth Square (Erzsébet tér) at the boundary of the Inner City and Leopoldstadt. The widow was put under guardianship because of “squandering” in 1897. We find a detailed list of her debts in the abovementioned Orphan’s Office file, which enumerates 63.266 Fl. mortgage debts and interests (including her share of the Viennese credit taken together with her husband for the building of the tenement) and 10.090 Fl. current debts. 5000 Fl. of the mortgage debt was entered to a small house in Buda in the Castle area (5. Werbőczy utca), which she had bought in 189329. It is difficult to understand why she bought it, because it was an uncared old house on a long a narrow plot, fit in principle only for one family to live, and unfit to develop. The guardian was able to sell it quite difficultly for 11.700 Fl. with the assumption of the mortgage by the buyer. The selling was urgent, because the firm Árvay already claimed for execution and bidding of the properties, and the cash received for the house was used to liquidate their claim. There was a period of a few years during which each of the children was still under age and the widow was under guardianship, so all ownership shares of the house were under the surveillance of the Orphans’ Office. Thanks to this fact the researcher enjoys the rare possibility to find full accounts of the yearly incomes of the tenement József körút 27. 28 HU BFL IV.1411.b. – 1890 – Petschacher, Minute 19, 23. August and 5 September 1890; https:// archives.hungaricana.hu/hu/budapest/HelyrajziSzam/36805/ (View 15.02.2019); Neo-Renaissance Architecture in Budapest 41–43. 29 HU BFL IV.1411.b. – 1890 – Petschacher, Inventory of property 28 February 1897.

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We can strike the balance for the year 1898 as following, Rents (be paid quarterly)

9841 Fl

Liabilities Annuities of the 60.000 Fl. credit

3150 Fl

Taxes, fees, reparation, maintenance

1191 Fl 4341 Fl

Total Clear rental income Irma Weninger

2750 Fl

6 children

2750 Fl

Total

5500 Fl

5500 Fl. ö. W. clear rental income meant a good level of income for a middle-­ class household in itself at this time, which supports the assumption that to build or to buy a tenement in the belt of the Great Circle Boulevard was really an extremely lucrative investment. In this case this sum was divided between the widow and the children in 50–50 %. Irma Weninger lived in Berlin and the sum of her modest monthly allowances was 1680 Fl. for the whole year. The guardian had to pay for her liabilities from debts and other claims 1342 Fl., so the expenses surpassed her income. The children enjoyed beyond the income of the tenement 1732 Fl. allowance for education as returns from an insurance made by their father, so the total income, which the guardian could spend for the six, was 4482 Fl. He spent at last 4292 Fl. Was it enough? The eldest daughter, Olga, 19 years old was sent to Abbazia to improve her poor health condition. Agatha, 17 years old, lived in Vienna, presumably by relatives to prepare for the role of wife in a bourgeois family by learning some music, sewing and cooking. The younger daughters, Maria, Martha and Johanna were internal students in Ranolder Girls’ Boarding School in Budapest, the 11-year-old Gustav lived with his uncle.30 Tracing this story further, we also get informed about the marriages of Petschacher’s daughters all of which may open new lines of searches in “Hungaricana” database. Agatha Peschacher married Gyula Elischer, who was a wellknown physician and professor of radiology. Maria Lujza Petschacher’s husband was Ede Szenes, who was the heir of one of the most exclusive grocery- and delicatessen shops in the Inner City. When he tried to put the affairs of his life 30 HU BFL IV.1411.b. – 1890 – Petschacher, Account of Vince Weninger as guardian for the year 1898.

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in order in 1915 – presumably because of joining the army – he pledged himself in a notarial deed to pay 25.000 Kr. annuities to Maria in case of cessation of their marriage for any reason31. Marta Etelka Petschacher lived with her husband Henrik Szalay, a merchant, in Vienna. We know from a notarial deed that their address was VIII. Lerchenfelderstrasse 8, Wien in 192032. The eldest daughter, Olga married Worthington Estelle Hagerman, a painter and musician from Chicago and she became a painter herself. Numerous traces of the life of these families can be detected in the database. We meet three of the daughters last time in a notarial deed of 1937 when Agatha and Maria were already widows33. The history of proprietorship of the family in 27 József körút can be followed by the combination of these types of sources until 1918, when they sold the house for the Boarding School Foundation of the neighbouring Rabbi Seminar. The Petschachers’ tenement 27. József körút is a potential starting point for lots of other research directions using “Hungaricana”. Address registration records, census records or other types of data sets comprising the population of this period are not preserved. That is why the printed address registers, which contain the names of the main tenants of the flats (without listing the members of the households and sub-tenants) become sources of primary importance34. They are searchable by full-text on “Hungaricana” and offer the possibility to reconstruct the list of tenants and the annual changes through querying “József körút 27”35. Being tenants’ lists of the registers organized by the names of the tenants, to compile a list of a particular house by mainly following the changes year by year, they could not have been done with reasonable allocation of work without digitisation36. 31 HU BFL – VII.192–1915–1283, https://archives.hungaricana.hu/en/lear/Kozjegyzoi/382952/ (View 15.02.2019). 32 HU BFL VII.217.a. – 1920–2433, https://archives.hungaricana.hu/hu/lear/Kozjegyzoi/436904/ (View 15.02.2019). 33 HU BFL VII.171.a. – 1937–0468, https://archives.hungaricana.hu/hu/lear/Kozjegyzoi/16546/ (View 15.02.2019). 34 Budapesti Czim- és Lakjegyzék – Budapester Adressen und Wohnungs Anzeiger Vol. 1–29. 1880–1928. 35 https://library.hungaricana.hu/hu/collection/fszek_cimjegyzekek_1867_1942/ (View 15.02.2019). 36 The list of house owners, the institutions and business directories of Volume 27. (1916) have been organized into database, all the data georeferenced and connected to the interactive map of Budapest Time Machine with support of a WWI-related project of the National Cultural Fund. These data can be reached by just clicking on the property plot number of the map and opening the plot record. One of the primary tasks of development of the Time Machine in the near future to process complete data-sets of different volumes of this series.

Budapest “Time Machine” as research tool

223

We are fortunate enough in this case to have the opportunity to compare the address registry with a list in the Orphans’ Office file, which was compiled at the beginning of the guardianship over Irma Weninger and it even contains the rental fee of each flat. Conducting new queries on the names of the tenants, we get valuable hits about most of them in different archival and printed sources, opening new and new lines of networks of these people. Following these lines in a consistent way, the researcher can reconstruct the societal networks in which the inhabitants of a house (or a neighbourhood, a larger block …) were embedded. The tenement house 27 József körút could parade of some renowned tenants around the turn of the century, who merit our interest for themselves. The apartment blocks built in this period were usually socially mixed: the most illustrious flat was on the main front of the second floor and the social status decreased going upward and backward as a general tendency37. Petschacher planned his house to be socially more homogeneous: beside four shops and the caretaker’s flat there were two two-room flats with bathroom on the first floor and the four upper floors contained only a standard type of three-room flats with bathroom and maid’s room, which can be interpreted as the minimum standard of flats reflecting middle-class status at that time.38 (The Architect himself did not live there with his family: until 1889 he lived in Palais Pallavicini, near the end of his life he moved to a new tenement house planned by him at 24/a Teréz körút39.) We find on the list of tenants compiled at the beginning of guardianship the excellent historian Dávid Angyal (1857–1943) as an employee of the University Library, who became later a professor of modern history. Jenő Péterfy art critic and literary historian, an outstanding figure of the aesthetic discourse of the era moved to another flat from here supposedly not much before he committed suicide in November 1899. Emil Demjanovich, a well-known physician, was the personal doctor of Mór Jókai and Kálmán Mikszáth, the most famous Hungarian writers of the 19 th century. But let’s turn our attention for a moment to István Hazay, a not so well known but not less interesting occupant of a flat. It seems to be surprising in itself why he rented a flat there, as he had an own tenement just a few corners distance from there, Nr. 9. József körút. His father was Ernő Hazay (–1845 Heim) (1819– 1889) an officer in the army of the war of independence in 1848, sentenced to 37 Péter Hanák, The Garden and the Workshop. Essays on the cultural history of Vienna and Budapest, (Princeton University Press, Princeton, New Jersey, 1998) 15–22. 38 HU BFL XV.17.d.329. 36419. Plans of 27 József körút. 39 https://archives.hungaricana.hu/hu/budapest/HelyrajziSzam/28882/ (View 15.02.2019).

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death and emigrated after the defeat. He was a member of Parliament in the 1870/80s and a landowner in Esztergom county. István Hazay was a governmental officer and he became the secretary of Prime Minister Kálmán Széll40. At the same time, he worked for the famous satirical weekly Borsszem Jankó. He created the permanent figure of “Nagypárthy Viktor”, playing with the double meaning of the word “party”. “Párt” means political party in Hungarian (nagy

Fig. 3: Nagypárthy Viktor, Borsszem Jankó, 27 July 1890. p. 10.

40 Kálmán Széll (1843–1915) Prime Minister between 1899–1903.

Budapest “Time Machine” as research tool

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párt = big party). “Making a good party”, has a meaning to marry a daughter of a rich family. So his Nagypárthy Viktor is drawn as a typical representative of the offspring of the landed nobility, who is a loud actor in the political arena, but his real aim is to make his “good party”. István Hazay inherited a well-located tenement from his father Nr. 36. Rákóczi Street41, which was the main radial thoroughfare connecting the Inner City with the Keleti Railway Station. He sold this house in October 1892 for 173.000 Fl. ö. W42. The buyer was Henrik Adler, an active player of the housing business in Elisabethstadt (VII. District), which in fact is reflected in lots of hits on “Hungaricana”. This opens a new perspective of research to reconstruct the role of this tenement in his investment strategy. István Hazay bought the plot Nr. 9. József körút43 in February 1893 for 92.500 Fl. ö. W. Most probably he needed the margin between the sale and purchase prices for other obligations, but he had far-reaching plans with the new plot. As we know from the real estate register44, he charged a new mortgage of 160.000 Fl. ö. W. on this plot (creditor: United Capital Savings-Bank in Budapest), and the building of a four-storied tenement house was finished in June 1894. When he died abruptly in November 1901 the list of deeds found in his flat was registered in a new notarial deed, which offers countless further data on his transactions, opening another line of research45. The types of records preserved in the Budapest City Archives, which are processed in “Hungaricana” database en masse and potentially all of them can be georeferenced and connected to “Time Machine”, record data on connections and transactions between people in huge number. The database contains the date of creation of the record and some basic data on the persons involved in all cases, among them their addresses if recorded. “Time Machine” – beyond offering new ways for users in access to the records – will offer huge data sets on connections and transactions with exact time and space coordinates, which are basis for analysis in themselves, even disregarding the specific content of the individual records. One of the most stressed visions of the international 41 https://archives.hungaricana.hu/hu/budapest/HelyrajziSzam/34545/ (View: 15.02.2019). 42 HU BFL – VII.173.a – 1892–2606, on-line: https://archives.hungaricana.hu/hu/lear/Kozjegyzoi/582932 (View 15.02.2019). 43 https://archives.hungaricana.hu/hu/budapest/HelyrajziSzam/36410/ (View 15.02.2019). 44 HU BFL XV.37.c – 5719, on-line: https://archives.hungaricana.hu/hu/lear/Telekkonyv/14259/ (View 15.02.2019). 45 HU BFL VII.202–1901–0931, on-line: https://archives.hungaricana.hu/hu/lear/Kozjegyzoi/495786/ (View 15.02.2019).

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“Time Machine” network is to create large pools of data which are the basis for reconstruction of economic, cultural and migration networks between urban nodes of Europe46. Regarding the data on connections with Vienna in the Budapest database as an example, we find the following numbers of hits for Vienna47 as location data in different types of records (the bulk of the processed documents are from the period between 1870s and 1910s):

Sub-database Notarial deeds Last wills, testaments

Vienna as birth place – number of hits

Vienna as place of residence – number of hits

27

5821

2

55

Court files on probates

8

161

Orphans’ office records

103

212

Court files, criminal

347

61

4

941

Registers of prisons and penitentiary institutions

1866

654

Total

2357

7905

Court files, civil suits

The result is 10262 occurrences, which is just a snapshot at today’s state of procession. The number is highly influenced by the characteristics of the different documents – for example notarial deeds recorded birthplace only if it was important regarding the actual case. The big majority of the occurrences mean residence place which suggest not only family background but cases of real and vivid connections between people in Budapest and Vienna. It is true that most types of the above mentioned sources have the significant limit that they offer rich data only on social strata in possession of assets which required these sorts of legal procedures, and were able to pay the transaction costs. This was the smaller although highly important segment of society. For the lower social strata, we have to search other sources. A rich treasure of mass data in this field offer the registers of prisons and penitentiary institutions, the sub-database of which contains more than 355.000 records at this moment from 46 http://timemachine.eu/ (View 15.02.2019). 47 The toponyms are processed in a standardized form of the occurrences in the records themselves, so the search term is the Hungarian name of Vienna “Bécs” in most cases, but in some cases “Wien”. If the users have access to the records via interactive maps, they do not need to face with the difficulties of different toponyms on the same place.

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the end of the 19 th and the first half of the 20 th centuries. The huge volumes of these registers are preserved without name indices, so it was hopeless to find anybody in them by traditional research. Before building database and making it accessible on “Hungaricana” these were practically “dead” holdings, now they are mines of information on the internet. We receive 2520 hits for Vienna, as place of birth in 1866 cases and as place of residence in 654 cases. These are all traces which can be investigated further in Vienna. Building “Time Machines” in different cities caring attention to the possibility of linking similar types of data may be a basic tool in the future for the reconstruction of the sick threads of connections.

Teil 3

Klaus Wolf

Magister – Minister – Mönche – Mediziner Die Mittelalterliche Wiener Universität als Knoten eines Wissensnetzwerks

Abstract: Founded in 1365, the Alma Mater Rudolphina imposed from the very beginning on an intensive educational policy for the benefit of the territorial sovereign. Therefore, Latin and German tractates and pictures were deliberately used by governors to pharmacists for the instruction of lay people in the country. The Viennese School exerted its influence far beyond Habsburg territory. Also the Wittelsbach constituent duchies and the south German Imperial Cities were beneficiaries. The Melker network proved itself to be particularly useful because the monastery was not only one part of the Viennese university but also point of origin for the Melker Benedictine Reform, which for instance was of special cultural significance for Tegernsee or the Augsburger Ulrichs­ kloster. With Jean Gerson as guest professor in Melk, the Parisian devotional theology functioned in a sense of a European reform network. The talk questions among other things the historical networks of distribution of knowledge and multimedia performance along the monastic and governmental networks of the Viennese School.

Im Lutherjahr 2017 wurde die Reformation vielfach engführend mit dem Theologieprofessor aus Wittenberg in Verbindung gebracht. Dabei gab es gerade im oberdeutschen Raum Spielarten der Reformation, die etwa auf Zwingli oder gar die Wiedertäufer rekurrierten1. Tatsächlich fasste die Reformation ja auch in Österreich kräftig Fuß, sogar in Wien und an der Wiener Universität, gerade auch bei den Theologen2. So erfolgreich war das Wirken der Reformatoren im Gebiet des heutigen Österreichs, dass es nicht nur der Jesuiten, sondern mitunter gewaltsamer Maßnahmen bedurfte, um die Rekatholisierung durchzusetzen. Bekannt ist, dass Protestanten aus dem Fürstbistum Salzburg, das damals natürlich noch nicht habsburgisch war, in Preußen Aufnahme fanden und dort

1

2

Für Vorderösterreich wäre etwa auf den Reformator Balthasar Hubmaier zu verweisen, der zwischen Zwinglianismus und Wiedertäufertum schwankte, sich aber (besonders in seiner märischen Phase) den Wiedertäufern endgültig zuwandte. – Vgl. Christof Windhorst, Täuferisches Taufverständnis: Balthasar Hubmaiers Lehre zwischen Traditioneller und Reformatorischer Theologie. Studies in medieval and reformation thought 16 (Leiden 1976). Vgl., Günther Hamann, 600 Jahre Theologische Fakultät an der Universität Wien, 1384–1984, in: Schriftenreihe des Universitätsarchivs 1 (Wien 1985).

Magister – Minister – Mönche – Mediziner

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neben den ebenfalls exilierten Hugenotten maßgeblich zum Aufstieg der Hohenzollerndynastie beitrugen3. Es gibt aber auch ein literaturgeschichtlich wichtiges Dichternetzwerk, welches wesentlich Impulse aus Österreich, konkret durch österreichische Protestanten empfing. Denn die Reichsstadt Nürnberg bildete das Exil von aus (im Gefolge des Dreißigjährigen Krieges) gewaltsam rekatholisierten Gebieten geflohenen Protestanten wie der Österreicherin Catherina Regina von Greiffenberg (geboren 1633, gestorben 1694), welche in Österreich Mitglied der IsterNymphen­gesellschaft war und nun in Nürnberg unter dem Namen die Tapfere ab 1667 die Lilienzunft in Zesens Teutschgesinnter Genossenschaft leitete4 sowie als Verfasserin ›Geistlicher Sonnette‹ hervortrat, deren leidgeprüfte Existenz sich in ›Das beglückende Unglück‹ widerspiegelt: Es duncken uns zwar schwer die Creutz und Trübsal-Zeiten: Jedoch sie / nach dem Geist / sehr nutzlich seynd und gut: dieweil / den Palmen gleich / der Christlich Heldenmuth sich schwinget hoch empor in Widerwärtigkeiten. Man pflegt mit grosser Müh die Kräuter zubereiten / eh man das Oel erlangt / der Kräuter Geist und Blut: man brennt und läutert sie bey mancher heißer Glut. So will uns GOttes Raht auch zu der Tugend leiten. Es muß das Spiegelglaß sehr wol geschliffen seyn / sonst ist es nicht gerecht unnd wirffet falschen Schein. der Mensch / in dem sich GOtt bespiegelt / soll er leuchten / so muß durch Creutzes-Strahl er werden zugericht. Allein in Vnglücks-Nacht / siht man das Liecht im Liecht. uns nutzt das Creutz / als wie dem Feld das Thaubefeuchten.5

3

Vgl. Friederike Zaisberger, Reformation, Emigration, Protestanten in Salzburg. Ausstellung 21. Mai–26. Oktober 1981 Schloß Goldegg, Pongau, Land Salzburg (Salzburg 1981). 4 Peter Czoik, Catharina Regina von Greiffenberg, https://www.literaturportal-bayern.de/autorinnen-autoren?task=lpbauthor.default&pnd=118541978 [06.06.2018]. 5 Vgl. die Nürnberger Ausgabe von 1662: http://digitale.bibliothek.uni-halle.de/vd17/content/ pageview/5849901.

232

Klaus Wolf

Diese in Nürnberg auch gedruckte Dichterin österreichischer Provenienz konnte schon mit ihrer Ankunft hoffen, bei den Pegnitz-Schäfern als Gesprächspartnerin ernst genommen zu werden, denn Frauen wie Männer bilden gleichberechtigte Teilnehmer in Harsdörffers Frauenzimmer Gesprechspiele so bei ehrund tugendliebenden Gesellschaften mit nützlicher Ergetzlichkeit beliebet und geübet werden mögen. Überhaupt darf für Nürnberg der geistige Einfluss der zahlreichen Emigranten, die aus dem katholischen Österreich fliehen mussten, nicht zu gering eingeschätzt werden. Nicht nur diesbezüglich erregten sie Eifersucht beim Nürnberger Patriziat, welches zu diesem alten Adel (durchaus neidisch) emporblicken musste, der auch ein wenig an ihrem Altnürnberger Nimbus kratzte. Jedenfalls gab die Metropole an der Pegnitz nicht zuletzt aufgrund dieser oberschichtigen Melange den fruchtbaren Boden oder vielleicht eher noch Dünger ab für eine neuartige, 1644 gegründete literarische Gesellschaft der Reichsstadt, den Pegnesischen Blumenorden, ein für die deutsche Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts überaus innovatives Netzwerk. In der Satzung des Pegnesischen Blumenordens von 1699 wird das Wachsthum unserer Mutter-Sprache nach ihrer Zierde und Lieblichkeit propagiert. Nürnberg bildete damit (in der Barockzeit) erneut ein literarisches Zentrum6 im Reich, wie es zuvor schon im 15. Jahrhundert (wenigstens für die volkssprachige Literatur) durchaus die literarische Hauptstadt des Reichs war, wie Werner Williams-Krapp wiederholt hervorhob7. Und auch Hans Sachs und seine Mitstreiter im 16. Jahrhundert erweisen die Stadt als herausragendes und überaus anregendes literarisches Zentrum, welches im 17. Jahrhundert dann keineswegs überraschend große Gestalten wie Harsdörffer hervorbrachte8. Nicht zuletzt deshalb war das geistig rege Nürnberg, das auch den Knoten eines merkantilen und technologischen Netzwerks darstellte, nicht ganz unattraktiv für die Exilanten aus Österreich, welche zu Opfern der habsburgischen Gegenreformation wurden. Das schon früh rasche Ausgreifen der Reformation allenthalben in habsburgischen Landen, nicht nur der lutherischen Spielart, sondern etwa auch der Zwingli­ aner und Wiedertäufer, die in Vorderösterreich wie in Waldshut9 etwa zeitwei6 Vgl. Klaus Wolf, Bayerische Literaturgeschichte. Von Tassilo bis Gerhard Polt (München 2018) 201–205. 7 Vgl. Werner Williams-Krapp, Literatur und Standesgefüge in der Stadt: Nürnberg im 15. und frühen 16. Jahrhundert. Zeitschrift für deutsche Philologie. Sonderheft (2015). 8 Vgl. Dieter Breuer, Literatur vom späten Mittelalter bis ins Zeitalter des Barock (1350–1750), in: Handbuch der Literatur in Bayern. Vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart. Geschichte und Interpretationen, hg. von Albrecht Weber (Regensburg 1987) 133–152. 9 Vgl. Mira Baumgartner, Die Täufer und Zwingli. Eine Dokumentation (Zürich 1993), passim.

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lig reüssierten, hat man sogar für das ganze Heilige Römische Reich nördlich der Alpen immer wieder mit dem Buchdruck erklärt und mit medialen Netzwerken. Die fromme Revolte, wie sie Herbert Immenkötter10 treffend charakterisierte, hat freilich eine mittelalterliche Vorgeschichte. Heiko Oberman11 und Berndt Hamm12 brachten und bringen diese Vorgeschichte auf den Begriff der Frömmigkeitstheologie, die der Reformation schon lange vorher die Bahn brach. Man kann diese gesamteuropäische Bewegung der Frömmigkeitstheologie vereinfachend auf die Gestalt von Jean Charlier oder Gerson, den Kanzler der Universität Paris personalisieren und fokussieren. Durch Gersons Beteiligung am Konstanzer Konzil und sein Exil im wittelsbachischen Rattenberg und im habsburgischen Melk konnte er seine für die causa reformationis essentielle Frömmigkeitstheologie in habsburgischen und in wittelsbachischen Landen verbreiten13. Zum rettenden Exil in Rattenberg verhalf dem Pariser Professor kein Geringerer als der zeitweilig in Paris mitregierende Bruder der Wittelsbacherin Isabeau de Bavière; und ihr Bruder nannte sich stolz frère de la Reine de France; der frankophile Bruder der Isabeau besuchte ebenso das Konzil von Konstanz und saugte dessen Reformideen sowie die Frömmigkeitstheologie Gersons auf, um sie später als regierender Herzog Ludwig VII. in seinem baierischen Teilherzogtum zu verbreiten14. Der von Ludwig VII. überaus geschätzte und nach Rattenberg eingeladene Professor Gerson war aber nicht der einzige Autor der Frömmigkeitstheologie, der später von den Netzwerken der Melker Reform und dem von Italien ausgehenden Netzwerk der eifrig distribuierten consuetudines sublacenses oder der Raudnitzer Reform oder eben dem Netzwerk der Wiener Schule profitierte, wobei all diese genannten Netzwerke sich wechselseitig

10 Vgl. Herbert Immenkötter, Die fromme Revolte. Ursachen, Faktoren, Folgen von Luthers Reformation (St. Ottilien 1982). 11 Vgl. Heiko A. Oberman, The Long Fifteenth Century: In Search of its Profile, in: Die deutsche Reformation zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit, hg. von Thomas A. Brady (Schriften des Historischen Kollegs 50) 1–18. 12 Vgl. Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European church history. Festschrift für Berndt Hamm zum 60. Geburtstag, hg. von Gudrun Litz, Heidrun Munzert und Roland Liebenberg (Studies in the History of Christian Traditions 124, Leiden 2005). 13 Vgl. Brian Patrick McGuire, Jean Gerson and the last Medieval Reformation. Pennsylvania State Univ. Press (2005). 14 Vgl. Robert Suckale, Die Prachthandschrift des Neuen Testaments von Herzog Ludwig VII. von Bayern-Ingolstadt und ihre Vollendung unter Pfalzgraf Ottheinrich, in: Kunst & Glaube. Ottheinrichs Prachtbibel und die Schlosskapelle Neuburg, hg. von Brigitte Langer und Thomas Rainer (Regensburg 2016) 33–45.

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Klaus Wolf

durchdrangen und verflochten15. Tatsächlich bedienten sich dieser monastischen Netzwerke wie des deutschsprachigen Buchdrucks der Stadt Augsburg und der Frankfurter Buchmessen als Knoten eines Informationsnetzwerks viele im ausgehenden Mittelalter gerade deutschsprachig publizierende Theologen. Ja, die Frömmigkeitstheologie wurde gerade auch in der Volkssprache zu einer mächtigen publizistischen Bewegung, deren Distribution sogar vor dem Buchdruck beachtlich war. Die seit der Universitätsgründung 1365 längerfristig dynamische Alma Mater Rudolphina schrieb eine Erfolgsgeschichte, wozu nicht zuletzt ein Gelehrtennetzwerk Pariser Provenienz beitrug. Denn die auf den Pariser, dann Wiener Professor Heinrich von Langenstein zurückgehende ›Erkenntnis der Sünde‹ erfuhr in über 80 Handschriften Verbreitung, wobei das monastische Reformnetzwerk überlieferungsgeschichtlich keine kleine Rolle spielte. Thomas Peuntners ›Büchlein von der Liebhabung Gottes‹, aber auch seine ›Ars moriendi‹ waren ebenfalls Long- und Bestseller16. Und die genannten frühneuhochdeutschen Prosatexte gehörten der überlieferungsmächtigen Wiener Schule an. Begriff, Umfang und zeitliche Erstreckung der spätmittelalterlichen Wiener Schule sind seit 2006 deutlich geworden17. Die Frömmigkeitstheologie nimmt dann in der Wiener Schule keine kleine Rolle ein, wenn auch darüber hinaus viele andere Themen mittels volkssprachiger Traktate in Reformnetzwerken verbreitet wurden. Während nämlich die älteren Definitionsversuche der Wiener Schule18 auf religiöse Inhalte in Kombination mit der Form des volkssprachigen Prosatraktats abhoben, konnten ein breiteres Themenspektrum sowie eine größere Gattungsvielfalt nachgewiesen werden: Ausgehend von institutionengeschichtlichen Untersuchungen wurde gezeigt, dass auf Initiative der österreichischen Landesherren und fallweise der Landeshauptleute wie Reinprecht von Walsee19 nicht nur die Theologische Fakultät, sondern auch Juristen, Mediziner und Artisten für die Produktion universitären Schrifttums 15 Vgl. zu all diesen Netzwerken Klaus Wolf, Hof – Universität – Laien. Literatur- und sprachgeschichtliche Untersuchungen zum deutschen Schrifttum der Wiener Schule des Spätmittelalters (Wissensliteratur im Mittelalter. Band 45, Wiesbaden 2006). 16 Vgl. Klaus Wolf, Propter utilitatem populi: Durch des nucz willen seines volkes. Die ›staatstragende‹ Rezeption der ›Summa de vitiis‹ des Guilelmus Peraldus in der spätmittelalterlichen Wiener Schule, in: Laster im Mittelalter, hg. von Christoph Flüeler und Martin Rohde (Scrinium Friburgense 23, Berlin–New York 2009) 187–199. 17 Vgl. Wolf (wie Anm. 15) 177–182. 18 Vgl. Thomas Hohmann, Heinrichs von Langenstein ›Unterscheidung der Geister‹ lateinisch und deutsch. Texte und Untersuchungen zu Übersetzungsliteratur aus der Wiener Schule (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 8, Zürich – München 1977). 19 Vgl. Wolf (wie Anm. 15) 405.

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in der Volkssprache zum Nutzen (nucz/utilitas) der Landesherrschaft und der an wissenschaftlicher Bildung interessierten, nur der Volkssprache mächtigen Laien (der illitterati) herangezogen wurden.

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Abb. 1 und 2: Huldigung der Dekane der Wiener Universität bei Wilhelm Durandus, Rationale Divinorum Officiorum ÖNB, Codex 2765, folio 1r.

Den utilitas-Aspekt macht insbesondere die Illustrierung eines Hauptwerkes der Wiener Schule deutlich. Denn die Verdeutschung des ›Rationale Divinorum Officiorum‹ nach Wilhelm Durandus zeigt in exquisiter Buchmalerei, wie die vier Dekane dem Erzherzog huldigen und ihre Schriften dem Landesherrn darbringen. Ebenfalls erkennbar sind auf dem Pergamentblatt des Pracht­exemplars die päpstliche Privilegerteilung für die Universität und der Bau an den Universitätsgebäuden samt astronomischem Beobachtungsturm. Der Erfolg dieses Bildungsunternehmens der Wiener Schule war so groß, dass es nach der Anfangsphase sogar ohne die unmittelbare Unterstützung des Wiener Hofs und über dessen Einflussbereich hinaus florierte.

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Abb. 3: Die Medaillons zeigen die Privilegerteilung für die Universität durch den Papst in Rom, die Privilegübergabe an den Herzog, den Bau des neuen Universitätsgebäudes mit dem astronomischen Turm und eine Vorlesungsszene. Wilhelm Durandus, Rationale Divinorum Officiorum ÖNB, Codex 2765, folio 1r, unterer Rand.

Das von der Wiener Universität beförderte Hochschulwissen in deutscher Sprache für Laien wurde dabei in vielfältigen Formen präsentiert, vom Flugblatt bis zur Enzyklopädie, in Reim und Prosa, von der Handschrift bis zum Druck. Auch bildliche oder graphische Darstellungen kamen (als Momente multimedialer Performanz) zum Einsatz, um das anvisierte laikale Zielpublikum ebenso anschaulich wie zuverlässig auf universitärem Niveau zu informieren; dem gebildeten Laien, dem adligen oder stadtbürgerlichen Hausvater, den Konversen und Klosterfrauen wurde so seriöses Wissen vermittelt, um deren Lebensumstände besser bewältigbar zu machen. Besonders produktiv war die Wiener Schule auf den Gebieten der Frömmigkeitstheologie, der Medizin und der Astronomie. Die laikalen Rezipienten der Wiener Schule wurden dabei auf wissenschaftlich gediegene und doch verständliche Weise, hierarchiekonform und häresiefrei katechesiert, umfassend in Prophylaxe und Therapie sowie wissenschaftlich fundiert medizinisch aufgeklärt und gegen gefährliche, weil den sozialen Frieden störende, astrologische Irrlehren mit seriöser Astronomie gewappnet. Dieser durchaus aufklärende Impetus gegen Häresie und superstitio, gegen medizinische und astrologische Scharlatanerie ist aber nicht nur pro populo zu werten, sondern – ebenso wie mit volkssprachigen Anleitungen zum rechten Regieren und strategischen Kriegsführen – in erster Linie zum Nutzen der Landesherrschaft und deren Bemühen um stabile politische Verhältnisse zu sehen (hierin trifft sich die Wiener Schule mit der Universitätsgründung der Luxemburger und der Wittelsbacher, also Prag und Heidelberg). Dementsprechend zielte das Bildungsprogramm der Wiener Schule neben den politischen Eliten auch auf den frommen Untertan, der gegen hussitische Irrlehren immun war, auf den umsichtigen Hausvater, der Leben und Arbeitskraft seiner Familie und seines Gesindes durch medizi-

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nisches Wissen sicherte, aber auch auf die gehorsamen, praktisch tätigen Konversen in den Klöstern. Dabei kam den monastischen Einrichtungen bei der Distribution des deutschen Schrifttums der Wiener Schule eine wichtige Schlüsselposition zu, weil die Klosterreform (über die Ordensgrenzen hinweg) Hand in Hand mit den allgemeinen Reformbestrebungen des Herrscherhauses durchgesetzt wurde. So arbeiteten im wittelsbachischen Herzogtum Baiern die Benediktiner in Tegernsee und die Augustinerchorherren in Indersdorf im Sinne des Münchner Hofs zusammen mit den wiederum von ihnen reformierten Klöstern und Stiften einträchtig für die causa reformationis Bavariae in Wort und Schrift. Dazu trugen Visitationen aus Melk oder die Einsetzung beispielsweise etwa des Melker Reformpriors und Wiener Universitätsabsolventen Thomas von Baden im Augsburger Ulrichskloster bei, um nur eines von vielen denkbaren Beispielen für diese Reformnetzwerke zu geben, wobei die Reichsstadt Augsburg mit ihrem vorderösterreichischen Umland sehr habsburgaffin war. Die reformierten Klöster, ebenso aber die Lateinschulen spielten eine tragende Rolle bei der Ausbreitung universitären Wissens im Lande. Hinzu kommt aber ein besonders breites Weiterwirken der Wiener Schule, als die Produktion deutscher Texte in Wien schon weitgehend eingestellt war: die Distribution im Buchdruck nämlich, wobei Augsburg als führendem Druckort deutscher Inkunabeln allgemein auch für die Wiener Schule eine herausragende Rolle zukommt20. Über die Buchmessen in Frankfurt am Main als Verteilerknoten eines distributiven Netzwerks konnte dann das Schrifttum der Wiener Schule reichsweit vertrieben werden. Neben den hier ausgeleuchteten Komplexen der Produktion, Distribution und Rezeption ist es auch möglich, Beginn und Ende der Wiener Schule für jede Fakultät gesondert herauszuarbeiten und ein klares Raster zu entwickeln, um die Zugehörigkeit von Texten zur Wiener Schule zu bestimmen. Dadurch kann bei künftigen Textfunden eine Partizipation an der Wiener Schule verifiziert oder falsifiziert werden. Solche Textfunde dürften sich ebenso wie die schon bisher bekannten deutschen Schriften der Alma mater Rudolphina zu einem nicht geringen Teil aus dem Gebiet der Frömmigkeitstheologie rekrutieren. Jenseits des zunehmend als unfruchtbar empfundenen Wegestreits (via antiqua gegen via moderna) bemühte sich die Frömmigkeitstheologie nämlich 20 Vgl. Klaus Wolf, Deutsche Drucke, in: Augsburg macht Druck. Die Anfänge des Buchdrucks in einer Metropole des 15. Jahrhunderts. Sonderausstellung des Diözesanmuseums St. Afra Augsburg, der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg und der Universitätsbibliothek Augsburg im Diözesanmuseum St. Afra in Augsburg vom 10. März bis 18. Juni 2017, hg. von Günter ­Hägele und Melanie Thierbach (Augsburg 2017) 50–55.

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europaweit um eine bessere Pastorisierung der Laien. Im deutschsprachigen Raum kommt hierbei der Wiener Schule eine bedeutende Vorreiterrolle bei der Produktion und netzwerkgesteuerten Distribution akademisch fundierter, volkssprachiger religiöser Texte für illitterati zu. Zwar gab es eine Laienpastoral und entsprechendes deutsches katechetisches Schrifttum schon seit der Karolingerzeit, neu ist jedoch die akademische Dignität und die unbezweifelbare Orthodoxie, welche von einer landesherrlichen Universität mit einer Theologischen Fakultät ausging, welche kraft päpstlicher Anordnung errichtet worden war. Daraus ergibt sich, dass im (vor allem oberdeutschen) Einflussgebiet der Wiener Schule mit einem erheblichen religiösen Wissen der kirchenrechtlichen Laien am Vorabend der Reformation (schon wegen des teilweise beeindruckenden Überlieferungsumfangs von einigen Texten der Wiener Frömmigkeitstheologie in Handschrift und Druck) zu rechnen war. Gleichwohl bot das Schrifttum der Wiener Schule insgesamt gesehen kein reformatorisches Potential in sich, im Gegenteil, der Gehorsam gegen kirchliche (und weltliche) Obrigkeit wurde nachhaltig zementiert, Formen selbständiger laikaler Frömmigkeit dagegen als häretisch oder superstitiös inkriminiert. Diese religiöse Gleichschaltung beschränkte sich aber nicht auf das Innenleben der Kirche, nach außen galt der universitäre Kampf in Wort, Schrift und Tat insbesondere den österreichischen Juden und den Hussiten, was nicht verschwiegen werden darf. Und auch hier gibt es ja bedrückende Kontinuitäten, wenn man an den Antijudaismus bei Dr. Martin Luther21 oder Dr. Balthasar Hubmaier denkt, der nach Studien an der habsburgischen Universität Freiburg im Breisgau und der wittels­ bachischen Universität Ingolstadt als Wiedertäufer auf Burg Kreuzenstein eingesperrt und in Wien als Ketzer verbrannt wurde, wobei er das Missfallen des habsburgischen Hofs allerdings schon lange zuvor bei seinem Vorgehen gegen die Regensburger Juden erregt hatte22. Doch zurück zu den Netzwerken der Wiener Schule: Die teilweise bedeutende netzwerkgesteuerte Distribution von Texten der Wiener Schule nicht nur im Bereich der Frömmigkeitstheologie, sondern besonders auch auf medizinischem und astronomischem Terrain, lässt gerade in der Lutherdekade nach der Bedeutung dieses teilweise breit rezipierten Schrifttums für die Ausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache fragen. Auch wenn kein Sprachhistoriker heute mehr die Lutherbibel für den genial schöpferischen Anfang des Neuhoch21 Vgl. René Süss, Luthers theologisches Testament: Von den Juden und ihren Lügen. Einleitung und Kommentar (Bonn 2017). 22 Vgl. Bernd Moeller, Hubmaier, Balthasar, in: Neue Deutsche Biographie 9 (1972) 703 [OnlineVersion] https://www.deutsche-biographie.de/pnd118554158.html#ndbcontent [12.06.2018].

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deutschen23 hält, was wohl nie mehr als eine der preußischen Lutherlegende geschuldete Chimäre war, ist die Fragestellung im Hinblick auf die Kanzleisprache Kaiser Maximilians I. und eben auch im Hinblick auf die Wiener Schule durchaus nicht unberechtigt. Dabei wird deutlich, dass die Wiener Schule als sprachgeschichtliches Quellenkorpus bisher noch kaum genutzt worden ist. Von daher ergab sich für mich die Notwendigkeit der breitangelegten sprachhistorischen Untersuchung von repräsentativen Texten der Wiener Schule aus allen vier Fakultäten. Die systematischen Analysen24 auf Wort- und Satzebene, im Verhältnis Latein und Deutsch und in der rhetorischen Strukturierung und Präsentation ergaben im Wesentlichen zwei sprachliche Vermittlungsformen universitären Wissens: Eine mehr lateinnahe deutsche Wissenschaftsprosa einerseits und ein freier Übersetzungsstil andererseits, die jeweils mit den bekannten wort ûz wort- und sin ûz sin-Prinzipien koinzidieren. Bemerkenswert ist dabei aber vor allem, dass es für jede universitäre Wissenschaft möglich war, in der Volkssprache geläufige Worte zu finden. Tatsächlich hielten sich Neologismen und Latinismen insgesamt gesehen sehr in Grenzen, weil sich das Deutsche, in der Regel in bairisch-österreichischer Schreibart, als vollkommen tauglich für die Beschreibung sogar komplexer Vorgänge auf naturwissenschaftlichem Gebiet erwies. Die eben angesprochenen Übersetzungsweisen hat man in Wien aber keineswegs unreflektiert angewandt, vielmehr gehen einigen Texten der Wiener Schule im Prolog differenzierte Sprachreflexionen voran, die wegen ihres sprachhistorischen Werts systematisch analysiert und in Beziehung mit dem nunmehr erweiterten Gesamtkorpus der Wiener Schule gesetzt wurden. Diese Prologe zeigen trotz ihres situativen und pragmatischen Charakters ein hohes Sprachbewusstsein. Dieses schlug sich in gelungenen deutschen Fachtexten aus allen Fakultäten nieder. Ohne sprachliche Barrieren konnte so universitäres Wissen an Laien weitergegeben werden. Das bedeutende Oeuvre deutscher Texte, das aus der Wiener Schule hervorging, darf aber nicht den Blick davor verstellen, dass jenes nicht weniger umfängliche lateinische Schrifttum der Wiener Universität ebenfalls einer systematischen Sichtung bedarf. Eignet diesem auch nur zum Teil ein Wirken pro populo (durch lateinische Kompilate für deutsche Übersetzungen), waren auch 23 Vgl. Wilhelm Schmidt, Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische Studium. Begründet von Wilhelm Schmidt. Fortgeführt von Helmut Langner. 11., verbesserte und erweiterte Auflage, hg. von Elisabeth Berner und Norbert Richard Wolf (Stuttgart 2013) 127–132. 24 Vgl. hier und zum Folgenden Wolf (wie Anm. 15) 257–368.

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viele Inhalte aus herrschaftsstabilisierenden Gründen gar nicht für den Laien gedacht, so ist die überlieferungsmäßige Erschließung und Edition der lateinischen Vorlesungen oder Traktate noch immer weitgehend ein Forschungsdesiderat. Und so enthielt etwa die Vorlesung zum Buch Genesis des Heinrich von Langenstein sogar schon eine hellsichtige astronomische Kritik an der Epicykel­ theorie, wobei die Wiener Astronomie insgesamt nicht auf gelehrten Traditionen verharrte, sondern durch empirische Beobachtungen und Berechnungen seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert Furore machte25. Durch die vollständige Aufarbeitung solcher lateinischer Vorlesungen und Traktate wird das herausgearbeitete Profil der Wiener Schule noch weitere Konturen erfahren, aber auch die Universitätsgeschichtsschreibung sowie die Geschichte der einzelnen Disziplinen der Fakultäten werden daraus erheblichen Nutzen ziehen. Die dementsprechend vorgenommene Gattungserweiterung allein schon beim deutschen Schrifttum der Wiener Universität – beispielsweise über die universitäre Fabel – böte dabei neue Anknüpfungspunkte an traditionelle Strukturierungen und Fragestellungen der Literaturgeschichtsschreibung. Sie hätte nicht zuletzt den historischen Beitrag der Wiener Schule für den Einstieg in eine frühneuzeitliche Wissensgesellschaft hervorzuheben. Zwar gab es volkssprachige Texte zur Unterrichtung von Laien schon lange vorher, neu ist jedoch die universitäre Dignität unbezweifelbar gesicherten Wissens mit teilweise breiter Distribution. Wien kommt in diesem Prozess der Ausbildung einer Wissensgesellschaft vor allem deshalb eine entscheidende Rolle zu, weil keine andere Hochschule im Reich nördlich der Alpen der habsburgischen Universität diesen Rang streitig machen kann. Eine Ausnahme macht in dieser Zeit nur Prag, dessen deutsche Pesttraktate für Wien vorbildlich waren. Freilich kam die Produktion deutscher Texte in Prag mit dem Ausbruch der hussitischen Wirren zum Erliegen, so dass Wien mit seinem deutschen Schrifttum der Theologischen, Juristischen und Artistischen Fakultät als durchaus originell gelten darf. Darüber hinaus setzt die Produktion deutschen Schrifttums an anderen Universitäten in der Regel später und weniger umfänglich als in Wien ein. Dies gilt etwa für Heidelberg, Freiburg im Breisgau, Tübingen, Ingolstadt oder Erfurt. Ob dort das überregional verbreitete Schrifttum der Wiener Schule als Vorbild oder Anreger für die Produktion eigener deutscher Texte gewirkt hat, wäre ein lohnenswerter Untersuchungsgegenstand. Jedenfalls stellt die systematische 25 Vgl. Klaus Wolf, Astronomie für Laien? Neue Überlegungen zu den Primärrezipienten der Deutschen Sphaera Konrads von Megenberg, in: Konrad von Megenberg (1309–1374): ein spätmittelalterlicher ›Enzyklopädist‹ im europäischen Kontext (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 18), hg. von Edith Feistner (Wiesbaden 2011) 313–325.

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sprachgeschichtliche und literaturwissenschaftliche Aufarbeitung des deutschen Schrifttums der anderen Universitäten im Reich nördlich der Alpen in Zukunft ein lohnenswertes Forschungsdesiderat für die Germanistik und die Universitätshistoriker dar, dessen Behebung den außergewöhnlichen Rang noch weiter bestätigen dürfte, der dem Schrifttum der Wiener Schule in seiner Zeit zukam. Dieses Schrifttum wirkte tatsächlich weit über die habsburgischen Lande hinaus, wie neuerdings in einem Sammelband gezeigt werden kann, welcher Melk, Tegernsee, Indersdorf und Augsburg als Knotenpunkte eines Reformnetzwerks in den Blick nimmt26. Dabei konnten die Kollegen aus Landesgeschichte, Theologie, Kunst- und Musikgeschichte neben Traktaten auch Buchmalerei, Musik und Liturgiereformen als netzwerkmäßige Neuerungsmedien nachweisen. Die Reformnetzwerke hatten somit auch eine klangliche wie eine optische Dimension. Eine performative Dimension ergibt sich durch das akademische Theaterspielen, wo ebenfalls Professor Jean Gerson das Ur- und Vorbild für Wien und andere Universitäten abgibt27. Und die Spieltexte wandern wiederum in einem Reformnetzwerk von Stadt zu Stadt, wie Ulrike Schwarz in ihrer Dissertation zum Augsburger Passionsspiel zeigen kann, das ursprünglich der Alma Mater Rudolphina entstammt28. Und Augsburg wiederum ist beliebter Druckort der Wiener Professoren, beispielsweise für den wichtigen Traktat über Heilbrände des Michael Puff aus Schrick29. So konnte Wiener Universitätsmedizin sich im gesamten hochdeutschen Raum ausbreiten. Fragt man dagegen, warum Wien als Druckort für die Wiener Schule nicht maßgeblich war, so hängt dies damit zusammen, dass Augsburg für den gesamten hochdeutschen Sprachraum die Marktlücke der Volkssprache sogar weit über Nürnberg hinaus erkannte, wie die wirtschaftsgeschichtlichen Untersuchungen von Hansjörg Künast gezeigt haben30. Und um bei Reichsstädten wie Nürnberg zu bleiben, stellten diese selbst wiederum ein wesentliches Distributionsforum für Texte der Wiener Schule dar. Hierbei spielte die Predigt und der sich anschlie26 Vgl. Reformen vor der Reformation. Sankt Ulrich und Afra und der monastisch-urbane Umkreis im 15. Jahrhundert, hg. von Gisela Drossbach und Klaus Wolf (Studia Augustana 18, Berlin – Boston 2018). 27 Vgl. Klaus Wolf, Universitätsangehörige als Dramenautoren und Regisseure – Wien als Fallbeispiel. European Medieval Drama 15 (2011) 65–76. 28 Vgl. Ulrike Schwarz, Das Augsburger Passionsspiel von St. Ulrich und Afra. Edition und Kommentar (Editio Bavarica 5, Regensburg 2018). 29 Vgl. http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN798827114&PHYSID= PHYS_0001&DMDID= [12.06.2018]. 30 Vgl. Hans-Jörg Künast, Getruckt zu Augspurg. Buchdruck und Buchhandel in Augsburg zwischen 1468 und 1555 (Studia Augustana 8, Tübingen 1997).

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ßende Predigttraktat für Laien eine entscheidende Rolle. Hinzuweisen wäre in diesem Fall beispielsweise auf den lange in Nürnberg wirkenden Wiener Professor Johannes Nider, der mit seinem Zyklus ›Die vierundzwanzig goldenen Harfen‹ auch auf die laikalen illitterati abzielte, wie jüngst Stefan Abel nachwies31. In Reichsstädte wie Nürnberg und Augsburg mit ihren Lateinschulen, aber auch in Klosterschulen führen nicht zuletzt lateinisch-deutsche Schultexte aus Wien, das den Knoten im universitär-schulischen Netzwerk bildete, für das etwa Hymnenverdeutschungen samt lexematisch-grammatisch-syntaktischer Texterschließung stehen, zu denen der Clm 19695, der Clm 7678 sowie andere Codices gehören, die ein Wien-Klosterneuburg-Linz(Sankt-Florian)-Tegernsee-Indersdorf-Augsburg Schulnetzwerk32 zeigen, wobei man fast an einen gemeinsamen Lehrplan der Lateinschulen im Reformnetzwerk der Wiener Schule zu denken versucht ist. Dies zeigt etwa Strophe 1 der Schulübersetzung des bekannten Osterhymnus von Venantius Fortunatus mit dem Tegernseer Codex (clm 19695) als Leithandschrift: Strophe 1: Salue 4 festa 1 dies 1 toto 3 venerabilis 2 euo 3 Qua 1 deus 2 infernum 4 uicit 3 et 5 astra 7 tenet 6. 4 Salue id est sis salutata 1 festa id est festiua uel dignifica dies supple o 1 dies i. e. f. u. d. d. s. o. 3 toto eternaliter uel omni tempore 2 venerabilis laudabilis 3 euo 1 Qua in qua supple die 2 deus christus 4 infernum baratrum uel tartarum 3 uicit superauit uel debellauit 5 et 7 astra celum 6 tenet habet uel possidet 31 Vgl. Stefan Abel, Johannes Nider, Die vierundzwanzig Harfen. Edition und Kommentar (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 60, Tübingen 2011). 32 Vgl. Wolf (wie Anm. 15) 325, 414.

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Gar loblich ist die oster zeit. Die aller welt frewden geit. So got zerstört haut hellisch macht Vnd uerdampte welt zuo gnaden braucht. Dahinter steht natürlich die bekannte Mobilität von Schülern und Studenten im Spätmittelalter. Nicht zuletzt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, arbeiteten Studenten aber auch Bakkalaren nicht selten als Lateinlehrer an Schulen, aber auch als Tutoren in Bursen. Der lateinische Lehrstoff in der ars der grammatica unterschied sich dabei nicht wesentlich zwischen Schule und Universität33. Universitär gebildete Lateinlehrer, Priester, Mönche oder Ärzte aber bildeten die Bestandteile eines akademischen Netzwerks, das universitäres Wissen auch jenseits der Metropole Wien verbreitete – und dies sogar auf dem sogenannten flachen Land oder in abgelegenen Gebirgstälern. Diese Breitenwirkung als Bildungsbewegung hatte freilich ihr Vorbild in keinem geringeren als Jean Gerson, der Rattenberg und Melk bei seinem Aufenthalt zu Außenposten der Universität Paris machte34. Und der Wiener Theologieprofessor Nikolaus von Dinkelsbühl, dessen Werke dann vor allem in der Volkssprache über Redaktoren und Übersetzer wirkte, hielt höchstselbst seine Lectura Mellicensis35. Darin wurde die geistige Vernetzung von Universität und Kloster offenkundig, dessen Brüder wiederum den Wiener Geist nach Oberbayern und Schwaben trugen. Und im schwäbischen Augsburg durften die lutherischen, zwinglianischen und wiedertäuferischen Prediger seit 1517 auf ein kundiges, durch die Wiener Schule frömmigkeitstheologisch gebildetes Publikum hoffen. Die eifrig theologisch streitenden Augsburger veranlassten jedenfalls Doktor Martin Luther in Wittenberg, aber auch auf der Veste Coburg zu einigen Mahnschreiben an die störrischen und theologisch anspruchsvollen Augsburger36. 33 Vgl. Nikolaus Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Mit einem Verzeichnis der Texte (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 11, München 1988). 34 Vgl. Herbert Kraume, Gerson, Johannes, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter, hg. von Kurt Ruh […]. Band 2. (Berlin–New York 1980), 1266–1274. 35 Vgl. Alois Madre, Nikolaus von Dinkelsbühl, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter, hg. von Kurt Ruh […]. Band 6. (Berlin–New York 1987) 1048–1059. 36 Vgl. Andrea Bartl, Luther und Augsburg im Brennpunkt der Reformation. Confessio Augus­ tana. Pax Augustana. Hohes Friedensfest (Augsburg 2005).

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Wenn Zwei eine Reise tun Die Kavalierstouren Hans Christoph Teufels und Georg Christoph Fernbergers

Abstract: This text deals with the travel journals of the two nobles Georg Christoph Fernberger and Hans Christoph Teufel. In September 1588, they started their journey which over a period of several years took them from Constantinople to Egypt, the Sinai-peninsula, Cyprus, the Near East and eventually to Hormuz. At this Portuguese outpost, their journey together ended after nine months of common adventures. Although they both should in the end reach their target destination, the sites of the holy land, their initially as a pilgrimage planned journey became far more for the two noblemen: indeed, not just an extensive gentlemen’s tour, but probably the greatest adventure of their lives. The presented consideration starts with short theoretical explanations about the journey type of the gentlemen’s tour, on the nature of the tradition of the manuscripts and the main characters in there. Subsequently, the text tries to compare the parts of the travel journals which describe the route Fernberger and Teufel travelled together. In this way, selected examples should make the individuality of the two adventurers visible, as they both express their different views on the people and their traditions, the landscapes or also the political and social circumstances in the visited cities. Apart from that, it is also investigated in which way Teufel and Fernberger not only are to be depicted as individuals, but rather as members of a network of travellers.

Einleitung Ende der 80er-Jahre des 16. Jahrhunderts traten zwei österreichische Adelige, Georg Christoph Fernberger von Egenberg und Hans Christoph Teufel, langjährige Reisen an, die sie beide in ihnen unbekannte Gebiete führen sollten. Ab dem 2. September 1588 begaben sie sich gemeinsam nach Afrika und gelangten schließlich auf Umwegen weiter zu ihrem eigentlichen Ziel, den Pilgerstätten im Heiligen Land. Ein dreiviertel Jahr verbrachten die zwei Abenteurer gemeinsam, um dann aber unterschiedliche Wege zu gehen: Teufel kehrte vom portugiesischen Handels- und Militärstützpunkt Hormuz über Persien nach Europa zurück, wo er am 13. März 1591 in Venedig ankam; Fernbergers Reise ging von Hormuz weiter entlang der indischen Küste, und vom dortigen Goa aus nicht immer freiwillig nach Bengalen, über Sri Lanka nach Malakka und schlussendlich nach Kenia, von wo er über Ankara und den Balkan in das östliche Europa und im Jahr 1593, wohl im April, nach Wien reiste.

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Die Reiserouten der beiden erscheinen für die Zeit am Ende des 16. Jahrhunderts eigentlich nicht außergewöhnlich, zumal die seefahrenden Nationen wie beispielsweise das Königreich Portugal im Zuge der Expansion der europäischen Handelsrouten schon militärische und Handelsstützpunkte entlang den Küsten Afrikas, dem Nahen Osten sowie Süd- und Südostasien errichtet hatten und auch die Gesandtschaftssysteme der europäischen Länder schon verhältnismäßig gut ausgebaut waren. Dennoch macht vor allem ein Punkt die Reiseberichte zu besonderen, nämlich die Vermischung von Pilgerreise einerseits und Kavalierstour andererseits. Ursprünglich hatten sowohl Teufel als auch Fernberger ihre Unternehmungen als eine für diese Zeit typische peregrinatio geplant, nämlich einer Fernpilgerreise zum Berg Sinai sowie ins Heilige Land. Solche Fahrten religiöser Motivation waren natürlich nichts Neues, sie fanden schon zumindest seit dem 4. Jahrhundert statt1. Tatsächlich sind auch die Stationen für ein solches Unterfangen keine ungewöhnlichen gewesen, so fuhr beispielsweise Johann von ­Ponickau, ein kursächsischer Adeliger, nach seinem Studium unter anderem mit einer venezianischen Pilgerflotte nach Kreta, Zypern, Syrien, in das Heilige Land, nach Ägypten und wieder zurück2, und dies nur 20 Jahre nach den Reisen Teufels und Fernbergers, die allerdings von Konstantinopel aufbrachen, dann nach Kreta und Nordägypten fuhren, von dort über Kairo zum Berg Sinai ritten und nach einer weiteren Reise über das Mittelmeer nach Zypern, Tripoli und schließlich Jerusalem zu reisen vorhatten. Den ersten Teil ihres Vorhabens konnten sie problemlos bewältigen, dem Heiligen Land einen Besuch abzustatten, schafften die beiden aber erst nach längeren Umwegen, und so wurde ihre Pilgerfahrt vorerst durch eine nicht geplante Kavalierstour ergänzt. Eine Kavalierstour, ab 1670 auch grand tour genannt3, wurde im späten 17. Jahrhundert oft inkognito unternommen, um dem höfischen Leben zu ent-

1 Petra Krepien, Geschichte des Reisens und des Tourismus. Ein Überblick von den Anfängen bis zur Gegenwart (Limburgerhof 2000), 73–74. Krepien unterscheidet dabei zwischen drei Arten von Pilgerreisen: den Fernpilgerreisen, die überregionalen in benachbarte Länder und die lokalen Pilgerreisen beziehungsweise Wallfahrten. 2 Katrin Keller, Von der Nützlichkeit des Reisens. Bemerkungen zum Erscheinungsbild und Konsequenzen der Kavalierstour am Beispiel kursächsischer Befunde, in: Rainer Babel–Werner Paravicini (Hgg.), Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert (Beihefte der Francia 60, Ostfildern 2005) 429–454, hier 447. 3 Werner Paravicini, Der Grand Tour in der europäischen Geschichte, in: Babel–Paravicini, Grand Tour (wie Anm. 2) 657–674, hier 668.

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fliehen4. Zur Zeit Teufels und Fernbergers jedoch ist sie als »eine Suche [der Adeligen] nach der höfischen Welt«5 anzusehen und führte die Suchenden aus dem gesamten Heiligen Römischen Reich vor allem nach Südeuropa, um dort die romanischen Sprachen zu erlernen6, aber auch an andere europäische Höfe, um sich mit den dortigen Umgangsformen vertraut zu machen7. Eine solche Reise war nicht weniger als ein »Ausweis adeliger Tugend«8, eine »transhöfische Erfahrung«9 und nicht zuletzt gleichsam die »Initiation in die Adelsgesellschaft«10. Sie sollte dazu beitragen, dass die jungen Adeligen ihre Persönlichkeit durch weitere Aspekte stärkten: Sie konnten sich mit verschiedenen Völkern vertraut machen sowie deren geistige Kultur kennenlernen. Durch die Konfrontation mit anderen Kulturen konnten sie sich nicht nur interessante Gesprächsthemen und Einblicke in die Welt der Diplomatie aneignen, sondern vor allem auch ihre humanistische Ausbildung vervollkommnen. Schließlich bot eine solche Reise auch die Gelegenheit, Kenntnisse über die drei alten Kontinente – sowohl in Geografie, Ethnologie, der Flora und Fauna, aber auch über Eigenheiten der besuchten Ländereien – zu erwerben. Ein weiterer wichtiger Punkt einer Kavalierstour war, dass es möglich war, Fehler und Regelverstöße zu begehen, ohne sich Sorgen um die Reputation machen zu müssen11. Zu guter Letzt erhöhten sich die Karrierechancen von Kavalierstouristen nach ihrer Rückkehr ins Reich der Habsburger enorm12. Viele dieser Aspekte, die den Adel in Mitteleuropa dazu veranlassten, ihre Kinder nach dem Studium auf eine solche Bildungsreise zu schicken, dürften wohl auch bei dem Entschluss des zwanzigjährigen Hans Christoph Teufel eine wichtige Rolle gespielt haben, zusammen mit seinem Reisekollegen Fernberger   4 Zum Nutzen und den Möglichkeiten einer Reise, bei der man unerkannt bleibt, siehe Norbert Conrads, Das Incognito. Standesreisen ohne Konventionen, in: Babel–Paravicini, Grand Tour (wie Anm. 2) 591–607.  5 Paravicini, Der Grand Tour (wie Anm. 3) 668.  6 Keller, Nützlichkeit (wie Anm. 2) 437–438.   7 Vgl. dazu etwa Jaroslav Pánek–Miloslav Polívka, Die böhmischen Adelsreisen und ihr Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Babel–Paravicini, Grand Tour (wie Anm. 2) 53–69, hier 65–66.  8 Keller, Nützlichkeit (wie Anm. 2) 431.  9 Barbara Marx, Die Italienreise Herzog Johann Georgs von Sachsen (1601–1602) und der Besuch von Cosimo III. de’ Medici (1668) in Dresden. Zur Kausalität von Grand Tour und Kulturtransfer, in: Babel–Paravicini, Grand Tour (wie Anm. 2) 373–427, hier 374. 10 Gernot Heiss, Bildungs- und Reiseziele österreichischer Adeliger in der Frühen Neuzeit, in: Babel–Paravicini, Grand Tour (wie Anm. 2) 217–235, hier 219. 11 Keller, Nützlichkeit (wie Anm. 2) 452. 12 Heiss, Bildungs- und Reiseziele (wie Anm. 10) 232–234; Keller, Nützlichkeit (wie Anm. 2) 444–445.

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von Aleppo aus nicht direkt weiter nach Jerusalem, sondern in noch entlegenere Gebiete zu wandern, und wohl nur am Rande die von ihm beschriebene Tatsache, dass zwei ihm schon bekannte Nonnen ebenfalls ins Heilige Land pilgern wollten und er diese an Reiseerfahrungen übertreffen wollte. Außerdem: Teufel hatte im Zuge seines Studiums Italien schon kennengelernt, und im Sinne eines aktiven Erlebens und Kennenlernens von antiken Kulturen13 bot es sich natürlich an, auch die Stätten im Zweistromland zu erkunden. Das Kennenlernen fremder Kulturen, die Begeisterung für die antike Welt und deren Überreste14 und die Vervollkommnung der eigenen Bildung sind vermutlich auch für Georg Christoph Fernberger starke Motive gewesen, um nach der Ankunft in Aleppo nicht zum ursprünglichen Plan, der Pilgerreise ins Heilige Land, zurückzukehren, sondern ebenfalls die Möglichkeit zu einem grand tour zu nutzen. Das Vorantreiben seiner Karriere musste der damals rund 31-jährige Fernberger allerdings wahrscheinlich nicht mehr im Blick haben, da er in Konstantinopel schon als Gesandter des Kaisers gehandelt hatte; dafür sind andere Aspekte, warum man überhaupt die Wagnisse einer so ausgedehnten Reise in Gebiete außerhalb Mitteleuropas auf sich nehmen sollte, wohl ausschlaggebend für die Fortführung seiner Kavalierstour trotz weiterer Unterbrechung der Pilgerreise gewesen: erstens das Verlangen, etwas über Kulturen außerhalb Europas beziehungsweise außerhalb der von Europa direkt und stark beeinflussten Gebiete aus erster Hand zu erfahren, zweitens eventuell auch der Luxus, für die Reise mehr Zeit aufwenden zu können als ein üblicher Bildungsreisender15, und schließlich Abenteuerlust16. Von dieser kann man, vor allem im Bericht Fernbergers, immer wieder lesen, so schreibt er beispielsweise vor der Verabschiedung von seinem Reisegenossen über die Weiterreise: Da ich nämlich so viele Schiffe vor Augen hatte, die in Kürze nach Indien zu den Antipoden auslaufen sollten, wo es so viele Wunder und für unsereins unvorstellbare Dinge zu sehen gab, besonders aber, da es mir vorkam, als 13 Werner Paravicini, Vom Erkenntniswert der Adelsreise, in: Babel–Paravicini, Grand Tour (wie Anm. 2) 10–20, hier 14; vgl. dazu auch Gerrit Walther, Antike als Reiseziel? Klassische Orte und Objekte auf dem Grand Tour zwischen Humanismus und Aufklärung, in: Babel– Paravicini, Grand Tour (wie Anm. 2) 129–141. 14 Arnold Esch, Antiken-Wahrnehmung in Reiseberichten des 15. und frühen 16. Jahrhunderts, in: Babel–Paravicini, Grand Tour (wie Anm. 2) 115–127; Walther, Antike (wie Anm. 13) 130, 140. 15 Heiss, Bildungs- und Reiseziele (wie Anm. 10) 217 mit dem Beispiel der Reise der Gebrüder von Liechtenstein 1682. 16 Krepien, Geschichte des Reisens (wie Anm. 1) 88–89.

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hätte ich schon einen Fuß in Indien, konnte ich es nicht erwarten, auch wirklich dorthin zu kommen.17 Die Reiseberichte beider Männer sind mehrfach überliefert und auch ediert18, jedoch noch kaum ausführlich miteinander verglichen worden19, obwohl sie sich aufgrund der oftmaligen Parallelität der beschriebenen Gebiete, Sitten und Reiseerlebnisse hervorragend dafür eignen, eine einigermaßen ausgewogene Darstellung der damaligen mitteleuropäischen Sicht auf ferne Länder, die der Allgemeinheit so gut wie unbekannt waren, zu erhalten, wenngleich die Sachlichkeit der zwei Berichte mehrmals hinter der persönlichen und christlich geprägten Sicht Teufels und Fernbergers sowie ihrer präkolonialistischen Überheblichkeit zurückbleibt. Hans Christoph Teufels und Georg Christoph Fernbergers Aufzeichnungen über ihre Reisen in weit entfernte Länder haben – zumal die beiden für einige Zeit eine Reisegemeinschaft bildeten – einiges gemeinsam, unterscheiden sich aber genauso in ein paar Merkmalen wesentlich voneinander. In ihren Erzählungen streichen sie jeweils andere Begebenheiten und Auffälligkeiten hervor, was wohl auch daran liegt, dass sie ihre Schriften für ein anderes Publikum verfassten.

17 Ronald Burger–Robert Wallisch (Ed.), Georg Christoph Fernberger, Reisetagebuch (1588– 1593) Sinai, Babylon, Indien, Heiliges Land, Osteuropa. Kritische Edition und Übersetzung (Beiträge zur neueren Geschichte Österreichs 12, Frankfurt am Main 1999), 82 (Indische Reise, Kapitel 15). 18 Michael Greil, … den ohne grosse gedult ist nit müglich, durch die Turggey zu kommen. Die Beschreibung der rayß (1587–1591) des Freiherrn Hans Christoph von Teufel. Analyse und textkritische Edition (Dipl. Universität Wien 2006) sowie Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17). Die in diesem Aufsatz verwendeten Zitate aus Fernbergers Reisetagebuch wurden zwecks besserer Vergleichbarkeit in deutscher Sprache aus der Edition von Burger und Wallisch entnommen, ebenso wurden die Kapitelzählungen aus den Editionen der Handschriften übernommen. Als Ergänzung zur Edition von Burger und Wallisch sei erwähnt: Martina Lehner, Reise ans Ende der Welt (1588–1593). Studie zur Mentalitätengeschichte und Reisekultur der frühen Neuzeit anhand des Reisetagebuches von Georg Christoph Fernberger von Egenberg (Beiträge zur neueren Geschichte Österreichs 13, Frankfurt am Main 2001) sowie dies., Die Reisen des Georg Christoph Fernberger von Egenberg (1588–1593). Das Reisetagebuch eines österreichischen Adeligen als Quelle zur Mentalitätengeschichte der Frühen Neuzeit (Diss. Universität Wien 1998). 19 Für einen Vergleich der Beschreibungen von Afrika (speziell Ägypten) zwischen Teufel, Fernberger und dem osmanischen Ägyptenreisenden Mustafa ben Ahmed von Gallipoli siehe Michael Prokosch, Teufel in Afrika: Das Afrikabild zweier österreichischer Pilgerreisender am Ende des 16. Jahrhunderts, in: Walter Sauer, Afrikanisches Österreich (online unter https:// homepage.univie.ac.at/walter.sauer/Afrikanisches_Oesterreich-Dateien/Teufel%20in%20Afrika.pdf, Zugriff 3. März 2018).

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In diesem Aufsatz soll der Versuch unternommen werden, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Reiseberichte anhand einiger Passagen darzustellen, ebenso soll auch der Frage nachgegangen werden, ob und wie weit die beiden Adeligen auf dem gemeinsam zurückgelegten Teil ihrer Reiseroute ein Team bildeten und als Teile eines »Reisenetzwerkes« anzusehen sind. Um sowohl Teufel und Fernberger in ihrem Umfeld als auch ihre Reiseerzählungen besser einordnen zu können, sind zu Beginn ein paar biografische Notizen und Anmerkungen zu den Handschriften nötig.

Biografien Hans Christoph Teufels und Georg Christoph Fernbergers20 Hans Christoph Teufel wurde am 13. Dezember 1567 als Sohn von Christoph Teufel und Susanne Teufel (geb. von Weißpriach) geboren, 20 Jahre nach deren Heirat. Mit vollem Namen konnte er sich Hans Christoph Freiherr von Teufel zu Guntersdorf-Eckartsau auf Krottendorf, Herr zu Frohsdorf und Katzelsdorf nennen, da ein Jahr vor seiner Geburt sein Vater mitsamt seinen Brüdern von Kaiser Maximilian II. in den Freiherrenstand erhoben worden war21. 1570 verstarb sein Vater und hinterließ seiner Gattin insgesamt vier Söhne, womit die 20 Dieser sowie der nächste Abschnitt wurden teilweise gekürzt übernommen aus Prokosch, Afrikabild (wie Anm. 19) 2–7. 21 Teufel stammte aus einer Familie, die schon seit längerem im Dienst des Kaiserhauses gestanden hatte, so war Hans Christoph Teufels Großvater Wolfgang unter anderem Kreditgeber von Kaiser Ferdinand I. gewesen, sein Vater Christoph Teufel war zwischen 1566 und 1569 Generalproviantmeister, und Hans Christophs Bruder Georg Christoph war zwischen 1594 und 1605 als Einkäufer von Pferden, Geschützen und Munition für das kaiserliche Heer in Erscheinung getreten, vgl. Christa Amstler, Die Reise in den Orient unter besonderer Berücksichtigung der Reise Hans Christoph Teufels (1587–1591) (Dipl. Universität Wien 1995) 86 sowie Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 12. Zu den Besitzungen und Beinamen der Familie Teufel vgl. Godfried Edmund Friess, Die Reise des Hans Christoph Freiherrn von Teufel in das Morgenland 1588–1590, in: 23. Programm des k. k. Obergymnasiums der Benedictiner zu Seitenstetten (Linz 1898) 5–50, hier 19, und Karl Rudolf Wernhart, Christoph Carl Fernberger. Der erste österreichische Weltreisende 1621–1628 (Reiseforschung 2, Wien/Berlin 2011) 12. Während Frohsdorf schon länger im Besitz der Familie Teufel war, wurde Katzelsdorf erst durch die Heirat der Eltern von Hans Christoph Teufel ein Teil von deren Liegenschaften, siehe dazu etwa Christine Schipflinger–Alois Rasinger, Geschichte Lanzenkirchens – Schloß Frohsdorf und seine Geschichte (online unter http://www.lanzenkirchen.at/geschichte/schloss. html, Zugriff 10. Juli 2017). Die Güter bei Katzelsdorf verkaufte die Familie Teufel 1635 allerdings wieder, vgl. Bruno Schimetschek, Adeliges Landleben im südöstlichen Niederösterreich zur Zeit der Renaissance, in: Unsere Heimat 55/4 (Horn 1984) 281–320, hier 304. Wei-

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Erziehung von Hans Christoph ganz in den Händen seiner Mutter Susanne lag22, einer überzeugten Lutheranerin23. Im Jahr 1560 konnte sich diese das 1529 nach dem Einfall der Osmanen verlassene Franziskanerkloster zu Katzelsdorf aneignen und dort eine evangelische Lateinschule und ein Bethaus einrichten. Die religiöse Weltanschauung der Mutter übertrug sich nur teilweise auf Hans Christoph Teufel, seine protestantische Gesinnung dürfte wohl eher oberflächlich gewesen sein24, was wahrscheinlich auch damit zusammenhing, dass er die damals herrschenden Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten25 in seinem Umfeld unmittelbar miterlebte. Im Alter von 18 Jahren begann Hans Christoph Teufel seine Studien an der Universität von Padua (mit Aufenthalten an den Universitäten Bologna und Siena26), ab 25. Oktober 1586 war er in Padua als consiliarius (Berater) der deutschen Nation tätig27, wodurch er die Aufgabe hatte, zum einen die Annalen zu führen, zum anderen die deutschsprachigen Studenten im akademischen Senat und gegenüber den Behörden zu vertreten28. Dafür waren nicht nur exzellente italienische Sprachkenntnisse, sondern vor allem auch diplomatisches Geschick vonnöten. Diese Aufgabe erfüllte er, nicht ohne mitunter mit der Stadtobrigkeit in Streit zu geraten, bis zum 10. Juli 1587. Hauptsächliches Ziel der Studien Teufels war zweifelsohne der Erwerb von Rechtskenntnissen, um nach der Rückkehr in die Heimat die Tätigkeiten der Grundverwalter überwachen zu können29. Obwohl aber Teufel in Italien nicht nur eine umfangreiche und fundierte humanistische Ausbildung genoss, sondern eben auch Verantwortung übernahm, kann man davon ausgehen, dass seine Studienzeit durchaus auch von einem »sehr bewegten Lebenswandel, dessen Intensität höchstwahrscheinlich auf Kosten des Studiums ging«30, geprägt war.

tere Informationen und Literaturangaben zu den Besitzungen der Familie finden sich auch auf den jeweiligen Internetseiten von Werner Hammerl, Burgen-Austria (online unter http:// www.burgen-austria.com/archive.php?letter=T&offset=130, Zugriff 10. Juli 2017). 22 Schimetschek, ebd. 288. 23 Friess, Reise (wie Anm. 21) 19. 24 Amstler, Reise (wie Anm. 21) 90. 25 Schimetschek, Adeliges Landleben (wie Anm. 21) 289–290. 26 Amstler, Reise (wie Anm. 21) 86. 27 Damit trat Hans Christoph Teufel in die Fußstapfen seines Bruders Georg Christoph, der dieselbe Verantwortung 1576/77 in Siena übernommen hatte. Siehe dazu Amstler, ebd. 87. 28 Matthias Glatzl, Die Freiherrn von Teufel in ihrer staats- und kirchenpolitischen Stellung zur Zeit der Reformation und Restauration (Diss. Universität Wien 1950) 32–33. 29 Schimetschek, Adeliges Landleben (wie Anm. 21) 287. 30 Amstler, Reise (wie Anm. 21) 87.

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Zwischen September 1587 und Mai 1591 reiste Teufel von Venedig ins Heilige Land, und so bekam er nur über Umwege mit, dass am 23. September 1590 seine Mutter Susanne das weltliche mit dem ewigen Leben getauscht hatte – Teufel befand sich zu dieser Zeit gerade in Aleppo. In seiner Abwesenheit wurde er zum Haupterben des Familienbesitzes, dessen Verwaltung er sogleich nach seiner Rückkehr 1591 übernahm, ab 1603 konnte er den Besitzungen auch die Herrschaft Pitten hinzufügen. 1604 wurde ihm die Aufgabe eines Kommissars in Ofen anvertraut, wo er mit den Osmanen Friedensverhandlungen führen sollte31. Aufgrund des wirtschaftlichen Rückhaltes durch das reiche Familienerbe konnte Teufel die bisher schon freundlichen Beziehungen zum Kaiserhaus noch vertiefen, was ihm im Jahr 1607 eine Stellung als kaiserlicher Orator (Gesandter) an der Hohen Pforte einbrachte und ihn 1620 zum Kämmerer Kaiser Rudolfs II. werden ließ, bevor er 1623 Burghauptmann in Wiener Neustadt32 wurde. Nach einem erfüllten Leben und zwei Ehen33 starb der weitgereiste Freiherr 56-jährig am 28. August 162434. Nach seinem Tod wurde er allerdings nicht wieder mit seinen Eltern und seiner ersten Ehefrau vereint, denn so wie manch andere Familienmitglieder auch hat Hans Christoph Teufel seine Grablege nicht in der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt in Winzendorf35, sondern in Katzelsdorf. Über Georg Christoph Fernberger von Eggenberg ist bei weitem nicht so viel bekannt wie über seinen Reisegefährten Hans Christoph Teufel oder seinen Neffen Christoph Carl, auch wenn der soziale und politische Aufstieg der Familie einigermaßen gut belegt ist36. Fernberger dürfte im Jahr 1557 geboren wor31 Diesen Verhandlungen war allerdings kein Erfolg beschieden, erst im Jahr 1606 kam es zum Frieden von Zsitva Torck. Siehe dazu ebd. 90. 32 Ein Amt, das vor ihm – ab 1584 – ebenfalls schon sein Bruder Georg Christoph innegehabt hatte. Vgl. Friess, Reise (wie Anm. 21) 19 und Amstler, ebd. 33 In erster Ehe war Hans Christoph Teufel seit 1592 mit Maria Euphrosina von Thannhausen verheiratet und in zweiter seit 1616 mit Magdalena Eusebia von Strozzing, vgl. Christopher Rhea Seddon, Die alte Pfarrkirche »Maria Himmelfahrt« zu Winzendorf als Begräbnisstätte der Freiherren von Teufel, in: Sborník prací Filozofické fakulty brněnské univerzity 51 (Řada historická C 49, Brno 2002) 255–270, hier 269. 34 Vgl. Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 14 und Amstler, Reise (wie Anm. 21) 90. Friess, Reise (wie Anm. 21) 49, Wernhart, Christoph Carl Fernberger (wie Anm. 21) 8 sowie Wolfgang Neuber, Adeliges Landleben in Österreich und die Literatur im 16. und im 17. Jahrhundert, in: Adel im Wandel. Politik, Kultur, Konfession (1500–1700) (Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums N. F. 251, Wien 1990) 543–563, hier 545, geben hingegen als sein Sterbejahr 1642 an. 35 Vgl. Seddon, Winzendorf (wie Anm. 33) 260–262. 36 Wernhart, Christoph Carl Fernberger (wie Anm. 21) 8 und 11–13 geht zwar in aller Kürze auf Georg Christoph Fernberger ein, um sich dann aber weiter dem Geschlecht der Fernberger zu widmen.

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den sein, und zwar als Sohn des Vizedomes in Österreich ob der Enns namens Ulrich Fernberger und Regina Seggerin, er hatte einen Bruder namens Hans Pangraz37. Der Familiensitz lag in Vorchdorf im Salzkammergut, mit diesem war die Familie Fernberger ab 1527 belehnt worden38. Über Fernbergers Jugend kann nur spekuliert werden, im Gegensatz zu anderen Mitgliedern seiner Familie scheint er nicht in den Matrikelverzeichnissen italienischer Universitäten auf, obwohl man nicht nur, weil die Familie hohes Ansehen genoss, sondern auch wegen seiner weiteren erfolgreichen Laufbahn vermuten darf, dass Fernberger sehr wohl wie viele Adelige dieser Zeit ein Universitätsstudium zumindest begonnen hat. 1584 absolvierte er auf kaiserlichen Auftrag einen Aufenthalt bei der österreichischen Gesandtschaft am Hof des Sultans in Konstantinopel39. Fernbergers Reise führte ihn in weit fernere Gebiete als die seines Reisekollegen Teufel, und so kehrte er erst 1593 davon zurück, um sich anschließend der Ausformulierung seines detailreichen und mit vielen historischen Anekdoten geschmückten Reiseberichts zu widmen. Hätte er allerdings nicht nur durch Andeutungen bei seinem Aufenthalt im Nahen Osten von der brandgefährlichen Situation erfahren40, die sich mittlerweile zwischen Österreich und dem Osmanischen Reich entwickelt hatte, wäre er wohl noch länger auf Wanderschaft geblieben: Im Februar 1594 hatte sich Fernberger dem Feldzug Erzherzogs Matthias angeschlossen, den dieser von Ungarn aus gegen die Osmanen startete. Dieser Feldzug sollte sich für Fernberger als höchst letal erweisen, allerdings nicht wegen der Kriegshandlungen per se, sondern wegen eines störrischen Pferdes. Der genaue Hergang ist nicht bekannt, sicher ist nur, dass Fernberger nach einem Sturz vom Pferd einen Huftritt erhielt. Das Ergebnis war ein gebrochenes Bein, welches zwar behandelt wurde, allerdings nicht ohne Komplikationen41. Im weiteren Verlauf bekam er Wundfieber, was ihn endgültig zerbrach. 37 Ebd. 12–13. 38 Roman Sandgruber, Entdecker, Abenteurer, Robinsone, in: Forum OÖ Geschichte – Virtuelles Museum Oberösterreich (online unter http://www.ooegeschichte.at/themen/wir-oberoesterreicher/wir-oberoesterreicher/weltreisende-aus-oberoesterreich.html, Zugriff 27. Februar 2018). 39 Martina Lehner, Georg Christoph Fernbergers Fahrt auf den Sinai, ins Heilige Land, nach Babylon, Persien und Indien (1588–1593) (Wien/Bozen 2008) 190. 40 Ebd. 185. 41 Ebd. 186. Ein begnadeter Reiter war Fernberger wohl sicher nicht: Auch in seinem Reisetagebuch erwähnt er bei der Beschreibung der Nützlichkeit von Kamelen, dass er, nachdem er sich 1592 in Kleinasien während eines Nachtrittes nicht am Kamel festgebunden hatte und eingeschlafen war, dreimal vom Reittier fiel und sich dabei trotz seines seitwärts befindlichen Schwertes keine Verletzungen zuzog. 1591, als er auf einem in Persien gekauften Maultier durch

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Am 29. Juni 1594, noch vor der Erhebung der gesamten Familie in den Freiherrenstand (1598) und auch vor der Geburt seines Neffen zweiten Grades Christoph Carl (1596), der als zweiter bekannter Weltreisender der Familie Fernberger – wenn auch unfreiwillig42 – in die Geschichte eingehen sollte, starb Georg Christoph Fernberger kinderlos im Alter von nur 37 Jahren43 in Magyaróvár/ Ungarisch Altenburg44.

Die Handschriften Die bis zum Jahr 1907 einzige bekannte, handschriftliche Version von Teufels Reisebericht, die auch die älteste erhaltene und erste ausführlich bearbeitete darstellt, findet sich im Stiftsarchiv Seitenstetten (Cod. 57 Z6). Sie ist zwar unvollständig, könnte allerdings von Teufel selbst niedergeschrieben worden sein45. Die zweite Version, mit vollständigem Text und reich illuminiert46, wird in der Fürstlich Liechtensteinischen Bibliothek in Wien (HS 98/Sign. N-1–22) aufbewahrt. Auch bei diesem als Reinschrift ausgeführten Kodex könnte Hans Christoph Teufel seine Finger im Spiel gehabt haben, indem er noch Korrekturen am Text vornahm47. Schlussendlich gibt es auch eine gedruckte und deswegen in mehreren Bibliotheken anzutreffende Übersetzung von Teufels Werk in italienischer Sprache, die in Wien im Jahr 1598 vom Buchdrucker Franz Kolb

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Armenien ritt, fiel er ebenfalls mitsamt seinem Sattel auf den Boden und verletzte [sich] die Hand und rechte Seite schwer; vgl. Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 64 (Reise nach Babylon, Kapitel 14). Wernhart, Christoph Carl Fernberger (wie Anm. 21) 16. Sandgruber, Entdecker (wie Anm. 38) schreibt von 34 Jahren. Lehner, Georg Christoph Fernberger (wie Anm. 39) 190. Friess, Reise (wie Anm. 21) 19–20 sowie Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 8. Die farbig ausgeführten Illustrationen der Handschrift wurden vermutlich erst nach der Reinschrift des Textes in die dafür frei gelassenen Plätze eingefügt. Sandgruber, Entdecker (wie Anm. 38) bemerkt hierzu: »Auch ein Zeichner war in der Begleitung [Teufels und Fernbergers], der eine Reihe von Aquarellen und Abbildungen anfertigte, die ein faszinierendes Bild Asiens in der Frühneuzeit vermitteln.« Selbst wenn ein Zeichner bei der Reise dabei war – wogegen spricht, dass ein solcher weder in Teufels noch in Fernbergers Handschrift genannt wird – so muss es nicht derselbe gewesen sein, der die Bilder der Handschrift angefertigt hat; die Identität des Künstlers muss daher in diesem Aufsatz unerforscht bleiben. Oskar Freiherr von Mitis, Die Orientreise des Hans Christoph Freiherrn von Teufel 1587– 1591, in: Monatsblatt des Vereines für Landeskunde von Niederösterreich 22 (Wien 1907) 337–340, hier 338. Vgl. dazu auch Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 8–9.

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herausgegeben wurde48. Abbildungen sucht man darin zwar vergeblich, allerdings bezeugt der Druck »das große Interesse, das [dem Reisebericht Teufels] entgegengebracht wurde«49. Im Vergleich dazu blieb die Reisebeschreibung von Georg Christoph Fernberger (wie im Übrigen auch die seines Verwandten Christoph Carl) zeitlebens ungedruckt. Sein allerdings weitaus umfangreicherer Bericht »Peregri­ natio Montis Sinai« liegt ebenfalls in zwei Handschriften vor, die sich in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (Cod. Vind. 15434) und der Universitätsbibliothek Salzburg (Cod. M II 92) befinden. Es liegt die Vermutung nahe, dass sowohl die Wiener Handschrift Fernbergers als auch die Seitenstettener Handschrift Teufels auf Einträgen in deren leider nicht mehr erhaltenen Reisetagebüchern fußen50. Im Falle Fernbergers dürfte der erste Teil der Handschrift sogar tatsächlich von ihm selbst geschrieben worden sein51. Während Teufels Reisebericht ohne Widmung auskommt und wohl vor allem für eine Veröffentlichung für alle daran Interessierten gedacht war, stellt Fernbergers Darstellung ganz klar eine Schrift für Gelehrte dar. Dies zeigt sich unter anderem in der Verwendung der Sprache: Teufel, dem es hauptsächlich um »anwendbares Realienwissen«52 ging, schrieb auf Deutsch, mit nur wenigen Einschüben auf Latein, Griechisch und Italienisch, Fernberger hingegen gänzlich in der lateinischen Sprache53. Des Weiteren lässt sich durch die einführenden Passagen erkennen, dass die Schriften unterschiedlichem Publikum gewidmet waren. Teufel beginnt den Text ohne Widmung54, jedoch mit dem erklärenden Titel 48 Johannes Christoph von Teufel, Il viaggio del molto illustre signore Giovanni Christophoro Taifel, barone in Gunderstorff Austriaco, fatto di Constantinopoli verso Levante (Wien 1598). Die Universitätsbibliothek Basel hat ihr Exemplar, zu finden unter der Signatur EU II 1, mittlerweile digitalisiert, sie ist online abrufbar unter http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-27106 (Zugriff 5. März 2018). 49 Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 9. 50 Ebd. 8 und Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 6. 51 Greil, ebd.; Lehner, Georg Christoph Fernberger (wie Anm. 39) 184 meint, zu Beginn »hatte sich Fernberger eigenhändig an die Arbeit gemacht und gut vierzig Papierbögen mit sauberer Schrift gefüllt, dann aber griff er offensichtlich auf einen Schreiber zurück, der den Rest erledigte.« 52 Lehner, Reise (wie Anm. 18) 16. 53 Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 10, führt diese unterschiedliche Verwendung der Sprachen unter anderem auf den Altersunterschied zwischen Teufel und dem zehn Jahre älteren Fernberger zurück. 54 Die Druckversion des Berichtes beginnt allerdings mit einer Vorrede samt Widmung an Konrad Freiherr von Thannhausen, vgl. dazu von Mitis, Orientreise (wie Anm. 47) 341 und natürlich von Teufel, Il viaggio (wie Anm. 48) A2.

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Beschreibung der Rayss so ich Hanns Christoff Teufel Freyherr zu Günderssdorff etc. den neundten Septembris im aintausend fünffhundert unnd im siben und achtzigisten Jar von Venedig auss nach Constantinopel unnd von dannen gegen Aufgang vorgenommen unnd mit Gottes Hilff den dreyzehenden Martii im ainundneuntzigisten Jar glücklichen geendet, da ich bemelten Tag zu Venedig mit guettem Wind wider ankhomen 55. Damit nennt er kein Publikum, der Text ist an die Öffentlichkeit gerichtet. Fernberger hingegen beginnt seine Erzählung zwar auch mit dem Titel, außerdem der Jahresdatierung der Niederschrift (1593) und einem Kurzgedicht, dann folgt jedoch – auch wenn als Zielpublikum Fernbergers durchaus die interessierte Öffentlichkeit nicht ausgeschlossen war – gleich die Erwähnung des eigentlichen Rezipienten (nämlich des Adeligen Karl Heuberger, Hofbeamte[r] seiner kaiserlichen Majestät) und dem Grund des Entstehens des Textes: Im vorangegangenen Brief, den ich aus Kairo in Ägypten im Jahre [15]88 an dich geschrieben hatte, hatte ich versprochen, dir über den Ausgang meiner Pilgerreise ausführlich zu berichten, sobald ich diese mit Gottes Hilfe beendet hätte. Der Grund, daß ich deine Erwartungen bis jetzt nicht erfüllt habe, liegt darin, daß zu den beiden Pilgerfahrten [zum Berg Sinai und ins Heilige Land] noch die Reisen nach Babylon, Indien und Persien dazugekommen sind und sich der Zeitpunkt meiner Rückkehr über den geplanten Termin hinaus verschoben hat, woraus sich ergeben hat, daß ich mein Versprechen in dieser Sache zwar ziemlich verspätet, jedoch umso ausführlicher 56 vor dir einlösen kann57. Teufels Reisebericht sollte nicht die einzige literarische Hinterlassenschaft bleiben: Schon 1609 war er unter gegenreformatorischem Druck zum Katholizismus konvertiert; seine Reimschrift »Die Reißuhr«, die er diesbezüglich verfasste und als gedruckte Ausgabe 1620 veröffentlicht wurde, sollte seiner Halbschwester

55 Von Mitis, ebd. 337. Die kleinen, den Sinn des Textes dieser Einleitung nicht verändernden Unterschiede zur Edition von Michael Greil rühren wohl von dessen Kollationierung des Exemplars aus der Fürstlich Liechtensteinischen Bibliothek mit jenem aus dem Stift Seiten­ stetten her. 56 Tatsächlich ist Fernbergers Reisebericht ausführlicher, was nicht nur daran liegt, dass er weitaus längere Zeit unterwegs war. Die Berichte über die gemeinsamen Fahrten Teufels und Fernbergers umfassen bei Ersterem 13 Kapitel mit unterschiedlich vielen Unterkapiteln, bei Letzterem 71 Kapitel in vergleichbarer Länge. 57 Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 10.

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Susanne von Teuffenbach den Weg zurück zum katholischen Glauben schmackhaft machen58.

Die Reise Ursprünglich hatten sowohl Teufel als auch Fernberger ihre Reisen also als Pilgerfahrt geplant, wie es für gläubige Adelige des 16. Jahrhunderts gebräuchlich war. Im späteren Verlauf kam bei den Reisenden ganz unverhofft noch das Element der für junge Erwachsene gehobenen Standes beinahe selbstverständlichen Kavalierstour hinzu, die Unternehmung Fernbergers entwickelte sich im Lauf der Zeit außerdem immer mehr zur Entdeckungsreise, vor allem ab dem Zeitpunkt, als sich die beiden voneinander trennten, denn eine Fahrt nach Indien war für mitteleuropäische Individualreisende, also Personen, die nicht durch das Militär oder wegen Handelsbeziehungen im Konvoi reisten, noch eher ungewöhnlich. Damit schlüpfen sie aber mitunter auch in andere Rollen. Während sich der jüngere Reisende vorwiegend als Pilger und Entdecker ausgibt und nur selten als Historiker auftritt, der vor allem an den Gebäuden, Landschaften, Tieren und lokalen Bräuchen interessiert ist59, kann man Fernberger nicht nur als Pilger und Forscher betrachten, sondern ebenso als politischen Gesandten und Berichterstatter, als mitunter gequälten Reisenden, aber auch als Geograf und Ethnograf 60, der dementsprechend ausgiebig über Rituale 58 Amstler, Reise (wie Anm. 21) 90. Dies war im Übrigen nicht das einzige Gedicht des Freiherrn, neben diesem verfasste er zahlreiche Gelegenheitsgedichte, siehe dazu auch Andreas Hermenegild Zajic, Grabdenkmäler des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit als Quelle adeliger Erinnerung und Medium adeliger Repräsentation, in: Sborník prací Filozofické fakulty brněnské univerzity 51 (Řada historická C 49, Brno 2002) 155–206, hier 193. 59 In Teufels Reisebericht finden sich – ebenso wie in dem Fernbergers – diejenigen Dinge, die »in der Topik der frühneuzeitlichen Reiseliteratur […] als beschreibenswert galt[en]«. Erst mit der Ankunft in Hormuz, der dortigen Verabschiedung von Georg Christoph Fernberger und der »Tatsache, dass ihm nun der unmittelbare Partner fehlte, mit dem er sich über das Gesehene und Erlebte austauschen konnte«, kommt die individuelle Färbung der Erzählungen Teufels zum Tragen, da er sich für die Beschreibung Persiens – im Gegensatz zu jener des Osmanischen Reiches und damit auch Ägyptens – wohl auch nicht mehr an zeitgenössischen Berichten orientieren konnte, vgl. Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 29. 60 Fernberger gibt in diesem Zusammenhang mitunter höchst skurrile, jedoch offenbar im Gedankengut von frühneuzeitlichen Reisenden verankerte Erzählungen wieder, wie etwa jene über ein Volk, mit dem die Inder Handelsbeziehungen pflegen würden: [Die indischen Kaufleute treiben] Handel mit einem Volk, das seinerseits nicht mehr weit von den sogenannten Einfüßern lebt, deren Fußsohle so breit ist, daß sie sich mit ihr wie mit einem Sonnenschirm gegen die Hitze der Sonne schützen können. Diese Einfüßer sollen angeblich jeden Zweifüßer an Lauf-

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und Bräuche, Inschriften und mitunter sogar Steine berichtet. Und so hat man bei Fernberger das Gefühl, dass er, auch wenn seine Reiseziele nicht immer mit den ursprünglich von ihm angestrebten übereinstimmten, seine Reise durchaus genoss, wenn er schreibt: [N]iemals geben [sich Reisende] mit dem Reiseziel zufrieden, das sie sich bei ihrer Abreise gesetzt haben. Dies habe ich am eigenen Leib zur Genüge erfahren. Ich dachte nämlich, ich würde glücklich, ja selig und für den Rest meines Lebens zufrieden sein, wenn mir [die Pilgerfahrt] gelänge […]. Doch […] befiel mich sofort eine neue Sehnsucht, und ich faßte den Entschluß, auch den Zusammenfluß der beiden berühmtesten Flüsse Asiens zu sehen […] 61. Auch wenn diese Äußerung vielleicht nur als Topos zu sehen ist, so unterscheidet sich Fernbergers Einstellung doch klar von der Teufels, zumindest am Ende der Reise, als er gesteht, er würde sie für noch so viel Geld nicht wieder antreten: Mit was für freüden ich auf das christliche erdtrich abgestanden, laß ich dies betrachten, welche nach vil außgestandenen gefahren entlich glückhlich darvorkommen, mir mehret auch die freüdt, das wir von wegen der guetten fede nit, wie man sonsten gemainiglich zu thuen pflegt, ins laczareth gesandt worden. […] Von dem andern September anno 1588 von Constantinopel aus biß auf den 13. Martii anno 1591 [… habe ich] 650 ducaten verzehrt, wolts aber nit für 10000 nehmen, noch vil weniger 30000, das ichs noch einmahl thuen solt. Aber wer nitt wagt, der gewinndt nicht etc 62. Der eigentliche Startpunkt der gemeinsamen Reise von Teufel und F ­ ernberger war, wie schon erwähnt, Konstantinopel, die Stadt, in der sich die beiden getroffen hatten63 und – nachdem Teufel schon das Schiff, welches im März nach Ägypgeschwindigkeit übertreffen. In deren Nähe wohnt noch eine andere Art von Ungeheuern, nämlich langohrige Menschen, deren Ohren so lang und breit sind, daß sie auf dem einen schlafen und das andere als Decke verwenden. Das erzählte mir ein indischer Kaufmann. Ich aber bin darüber sehr im Zweifel und glaube auch nicht den antiken Schriftstellern in allem […]; vgl. Burger– Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 116–118 (Indische Reise, Kapitel 38). 61 Ebd. 66 (Indische Reise, Kapitel 1). 62 Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 191 (Kapitel 33.6). 63 Die erste gegenseitige Erwähnung findet sich bei Teufel nach der Beschreibung seines Aufenthalts beim kaiserlichen Botschafter Petz: […] und versahe mich auch mit alle profiandt zum schiffen tauglich, also das mit herrn Georg Christoffen Fernberger ich [mich] den andern Septembris im 1588. [Jahr] auf die gallern begaben. Siehe Greil, ebd. 55 (Kapitel 1.4). Bei Fern-

Abb. 1: Der gemeinsame Reiseweg Hans Christoph Teufels und Georg Christoph Fernbergers zwischen 2. September 1588 und 15. Juli 1589 (Grafik Michael Prokosch).

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ten ablegte, versäumt hatte64 – am 2. September des Jahres 1588 zusammen mit Teufels Diener Sebastian Stonn65 auf einer Galeone in die weite Welt aufbrachen. Dass es für die Reise über das Meer nur zwei Zeiträume pro Jahr gab, in denen Schiffe von Konstantinopel nach Alexandria ablegten, nämlich im März und Ende August, wussten beide Adelige zu berichten. Bei der Durchfahrt durch die Dardanellen konnten sie beiderseits der Meerenge am Platz der verhängnisvollen Liebe der mythologischen Figuren Hero und Leander die Festungsanlagen von Abydos und Sestos erkennen, die all jenen durch Kanonenschüsse aus den Festungen zum Verhängnis wurden, die keine Maut zahlten oder aber ohne Durchfahrtsgenehmigung versuchten, ins Mittelmeer zu gelangen66. Dem Freiherrn von Teufel dürfte diese Schiffspassage nicht sonderlich gefallen haben, denn er berichtet, dass sich rund 600 Personen jeglicher Religion an Bord der Galeone befanden, wodurch die Überfahrt nach Ägypten sehr betranget 67 gewesen war. Auch Fernberger beginnt schon am Anfang seiner Erzählung, sich zu beschweren, allerdings nicht wegen der Reisebedingungen oder dem Wetter – am 7. September setzte im Gebiet zwischen der Insel Tenedos und dem phrygischen Festland eine Flaute ein, wodurch die Reisenden die Gelegenheit hatten, aus der Ferne den Ort zu bestaunen, an dem man damals das antike Troja vermutete – sondern weil er miterleben musste, dass ein Mann ihrer Reisegruppe aus Armenien, von den Türken irgendwie überredet, der christlichen Religion abgeschworen hatte und sich dem mohammedanischen Glauben verschrieb. Fernberger beschreibt das Aufnahmeritual als mit schrecklich klingenden Lauten, und Tänzen, bei denen der Hodscha, der ihr Anführer ist, in ihrer Mitte [tanzt], und […] sich gleich einem Verrückten [gebärdet] 68. Am 9. September nahm das Schiff seinen Kurs wieder auf, und so gelangte die Gruppe ein paar Tage spä-

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berger findet man sie noch früher, nämlich im schon dritten Satz des allerersten Kapitels: Gemeinsam mit mir reisten Johann Christ[oph] Teufel, ein österreichischer Baron, der einen Diener mit Namen Sebastian Ston bei sich hatte; Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 12 (Pilgerfahrt, Kapitel 1). Greil, ebd. 54 (Kapitel 1.4). Vgl. dazu Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 12 (Pilgerfahrt, Kapitel 1). Stonn, bei Fernberger Ston beziehungsweise Sthon und in der Literatur auch Stahn genannt, sollte die Reise mit seinem Herrn nicht überleben, er starb am 15. Februar 1590 nach einer 7 Monate währenden Krankheit in Qazwin (Iran), vgl. dazu Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 129 (Kapitel 17.5). Für ihn existiert ein Epitaph in der Pittener Schlosskapelle, vgl. dazu Zajic, Grabdenkmäler (wie Anm. 58) 193 sowie Greil, ebd. 21 (Anm. 26). Greil, ebd. 56 (Kapitel 1.7); Burger–Wallisch, ebd. 12 (Pilgerfahrt, Kapitel 2). Greil, ebd. 55 (Kapitel 1.5). Anstatt des üblichen einen Dukaten pro Person mussten Teufel und Fernberger 13 Golddukaten für getrennte Kabinen zahlen. Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 12–15 (Pilgerfahrt, Kapitel 2).

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ter69 nach Rhodos. Auch bei der Darstellung dieser Insel, die selbstverständlich bei beiden Reisegenossen nicht ohne die Beschreibung des Koloss von Rhodos auskommt70, konnte Fernberger nicht umhin, ein wertendes Urteil über andere Religionen abzugeben – ein Umstand, der sich als roter Faden durch seinen gesamten Reisebericht zieht: Es wäre nämlich wirklich sehr zu bedauern, daß dieses so berühmte Bollwerk der Christenheit so leicht in die Hände der Ungläubigen fiel 71. Teufel hingegen wählte seine Worte etwas gemäßigter, denn mitunter schwingt bei ihm sogar ein wenig Mitgefühl mit, wenn er von Menschen mit anderem Glauben als dem christlichen schreibt. Dies ist etwa schon bei seinem Kommentar über die Erleichterung der Passagiere bei der Landsichtung der Küste Alexandrias in der Nacht vom 18. auf den 19. September erkennbar, einer Freude, die sich fürnemblichen [bei] den türggen [zeigte], welche vor forcht wegen der malteser, so auf disem Golf gern pflegen zu straiffen, zitterten72. Und doch war auch Teufel dank seiner protestantischen Erziehung stark im christlichen Glauben verankert, denn beim Anblick eines auf eine Mauer gemalten Bildnisses eines Kreuzes, das – zumindest laut Erzählungen – von Osmanen mit Pfeilen beschossen worden war und daraufhin augenscheinlich zu bluten angefangen hatte, warnt er davor, dass Gott nit will, das man seine bildtnus oder monumenta spöttlich tractirn soll 73. Mit der Einfahrt in den Hafen von Alexandria begann die knapp drei Monate währende Pilgerfahrt von Hans Christoph Teufel und Georg Christoph Fernberger durch Ägypten und die Arabische Halbinsel, die sie nach der Besichtigung unter anderem der Stadt Kairo und der Pyramiden, des Katharinenklosters im Süden der Arabischen Halbinsel sowie dem Berg Sinai schließlich zurück nach 69 Laut Fernberger am 13. September, Teufel gibt als Ankunftsdatum den 12. September an. Mitunter unterscheiden sich die Datierungen der Reisebeschreibungen um bis zu zwei Tage, im Zweifelsfall bezieht sich der Autor in diesem Aufsatz auf die Datierung Teufels. Abgesehen davon ist in der Erzählung Georg Christoph Fernbergers gut zu erkennen, dass seit der Umstellung vom Julianischen auf den Gregorianischen Kalender erst sechs Jahre vergangen waren, denn mitunter fügt er bei Datierungen den Zusatz an, welches Datum man im Julianischen Kalender »nach der alten Zeitrechnung« schreiben würde; vgl. dazu etwa Burger–Wallisch, ebd. 48 (Pilgerfahrt, Kapitel 42). Auch bei Teufel finden sich solche Relikte, allerdings unter einem anderen Blickwinkel, denn er bezieht sich zudem auf die Zeitrechnung der Orthodoxie, wenn er vom Tag des Heiligen Nikolaus schreibt, welcher nach dem alten calender, welchen auch die griechen halten, auf den 16. und aber nach dem neuen auf den 6. Decembris geraicht. Vgl. dazu Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 93 (Kapitel 9.10). 70 Dies trifft auch auf die Stätten der übrigen Weltwunder zu, zu denen die Reisenden während ihren Fahrten gelangten. 71 Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 14 (Pilgerfahrt, Kapitel 4). 72 Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 60 (Kapitel 2.5). 73 Ebd. 59 (Kapitel 2.3).

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Damietta führte74. Dort wollten die beiden eigentlich gleich ein Schiff nach Jaffa besteigen, um von dort nach Jerusalem zu kommen, was normalerweise laut Teufel nur eine Tagesreise75, laut Fernberger 36 Stunden76 gedauert hätte. Da der reguläre Schiffsverkehr auf dieser Route allerdings schon im September, wie Teufel erzählt, oder Mitte Oktober, wie Fernberger zu wissen glaubt, eingestellt wurde, blieb ihnen nicht viel übrig, als erst am 9. Dezember 1588 ein Transportschiff (Germa) zu besteigen, um auf dem Nil, der wegen der Sandbänke in diesem Arm für größere Schiffe unbefahrbar war, drei Tage lang zu ihrem vor der Küste liegenden Segelschiff zu fahren77. Dieses lag schon dort bereit, um die Passagiere mit einem kurzen Zwischenhalt in Limassol auf Zypern78 nach Tripoli in Jordanien zu bringen, was den Weltreisenden allerdings verwehrt blieb, denn das Schiff wurde – kurz gesagt durch einen Sturm – gezwungen, einen nördlichen Kurs einzuschlagen. Wäre es nach dem Kapitän des Schiffes gegangen, wäre die Reise wie geplant verlaufen. Unter den Passagieren befand sich jedoch auch ein osmanischer Zausch (çavuş, Offizier), der dem griechischen Kapitän wegen dessen Weigerung, am Nikolaustag aufs Meer hinauszufahren, prügeln [an]trohet79 und so diesen dazu veranlasste, Segel zu setzen. Als ob sich jedoch der Aberglauben des Schiffsführers bewahrheitet hätte, setzte in der Nacht ein Sturm aus Richtung Süden ein, der die Reisenden dazu brachte, sich in kürcz für todte leüth80 zu erachten, die jeweiligen Heiligen anzubeten, Zwieback, Geld, lebende Hühner81 [oder] Erde und Holz aus dem Heiligen Land zu opfern und den Kapitän sogar dazu, zu versuchen, mit dem gezückten Schwert die dichten und finsteren Wolken, zwischen denen wiederum der gesamte Himmel unter den zuckenden Blitzen hervorleuchtete, zu zerschneiden und zu zerteilen82. Nachdem sich am 17. Dezember der Sturm wieder gelegt hatte (es erscheint unnötig zu erwähnen, dass Teufel und Fernberger Gott dafür dankten, dieses Unwetter überlebt zu 74 Für eine genauere Beschreibung davon siehe Prokosch, Afrikabild (wie Anm. 19) 10–30, mit einer Karte der Route durch Afrika. 75 Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 87 (Kapitel 8.15). 76 Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 40 (Pilgerfahrt, Kapitel 38). 77 Vgl. Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 90 (Kapitel 9.3–9.5). 78 Diese Insel war laut Teufel, obwohl vil türgkhen drinnen wohnen, […] doch am maisten mit griechen bewohnet und hat in sich schöne stätt, vgl. ebd. 93 (Kapitel 9.9). 79 Ebd. 93 (Kapitel 9.10). 80 Ebd. Dies ist durchaus übereinstimmend mit der Furcht vor dem Meer in vielen Reiseberichten, vgl. dazu Krepien, Geschichte des Reisens (wie Anm. 1) 131. 81 Diesen schnitt der Kapitän die Köpfe ab, bevor sie als Opfer ins Meer geworfen wurden, vgl. Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 93 (Kapitel 9.10). 82 Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 44 (Pilgerfahrt, Kapitel 39).

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haben), erreichte die Gruppe schließlich das türkische Silifke, von wo das Schiff langsam nach Payas in der Nähe von Iskenderun weiterfuhr und am Heiligen Abend 1588 dort ankam. Am 2. Jänner 1589, dem Tag, bevor Teufel und Fernberger nach Aleppo gelangten, wurde ihre aus 73 Kamelen bestehende Karawane83 von zwölf berittenen Räubern84 bedroht. Glücklicherweise war in der Reisegesellschaft ein Janit­ schar, der als einziger mit einem Gewehr bewaffnet war, wodurch die Diebe vertrieben werden konnten. In Aleppo hielten sich Teufel und Fernberger wieder ein paar Tage auf, wobei sie unter anderem nicht nur die Stadt, sondern auch wilde Esel, [die] für ein cöstlich wildtprät gehalten85 wurden, und die große Menge der dort wachsenden Pistaziensträucher bewundern konnten. Des Weiteren war ihnen die Erwähnung eines Bades syrischer Christen jeweils ein paar Zeilen wert. Nach der Stadtbesichtigung Aleppos hatten die beiden Weltenbummler geplant, nach Jerusalem weiterzuziehen und ihre Pilgerreise fortzusetzen, jedoch vertagten sie dieses Reiseziel zugunsten eines Besuches der Stadt Bagdad. Interessanterweise geben sie jeweils einen anderen Grund an, warum sie diese Route wählten. Fernberger meint dazu, dass es keine günstige Gelegenheit gab, die Pilgerfahrt ins Heilige Land auf der Route über Damaskus anzugehen86. Dagegen berichtet Teufel, dass auß Egypten alher zwo wälsche nunnen von Neapolis bürtig ankhommen und deswegen in ihm ain schandt [gereift sei], daß ein weib im raisen mit gleichgezogen wär. Trib mich derhalben diese ire reiß, [eine weitere Reise] fürzunehmen […], auch herr Fernberger, mein raißgesell, gleiches verlangens war87. Beide Erklärungen scheinen nicht ausreichend zu sein, um zu verstehen, warum sie hiermit den ersten Teil ihrer Pilgerfahrt, nämlich den Besuch der Stätten auf der Arabischen Halbinsel, für beendet erklärten und ihre Reise zu einer Kavalierstour umwandelten. Tatsächlich dürfte die Abenteuerlust stärker als der Eifer für die Religion gewesen sein, und die Begierde, andere antike

83 84 85 86 87

Ebd. 46 (Pilgerfahrt, Kapitel 40). Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 96 (Kapitel 10.7). Ebd. 97 (Kapitel 10.10). Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 50 (Reise nach Babylon, Kapitel 1). Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 98 (Kapitel 10.12). In der Beschreibung Fernbergers wird Hans Christoph Teufel an dieser Stelle mit keinem Wort genannt. Wie schon in der Einleitung erwähnt, dürfte diese Erklärung Teufels wohl nicht die wahre Ursache gewesen sein, die Reise nach Osten, nicht nach Jerusalem, fortzusetzen. Allerdings ist diese immerhin im Geist der damaligen Zeit akzeptabel, denn das Vernachlässigen religiöser Bestrebungen bedurfte eines besseren Grundes als Lust und Freude an der Reise, vgl. dazu Marx, Italienreise (wie Anm. 9) 378.

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Bauwerke als jene in Südeuropa oder Ägypten betrachten zu können, gegenüber einer raschen Beendigung der Pilgerfahrt überwogen haben. Am 22. Jänner 1589 setzten sie ihre Reise fort. Sie gelangten über das heute syrische Al-Bab nach vier Tagesreisen nach Birecik (heutzutage Türkei), wo diesmal im Gegensatz zur Abreise von Zypern die fürnembsten türgckhen, so mit uns fortraiseten88 sich weigerten, die Reise fortzusetzen, solange sich das Wetter nicht bessern würde, und so verbrachten sie gute 20 Tage in dieser Stadt, bevor sie auf einem Schiff in einem Konvoi von drei Schiffen den Euphrat stromabwärts fahren konnten. Wegen der dauernden Bedrohung durch Räuber und dem wilden Wasser des Flusses unterbrach die Schiffsflotte jede Nacht ihre Fahrt, was sich in einer regnerischen Nacht dennoch nicht als die beste Entscheidung entpuppen sollte, wie Georg Christoph Fernberger zu erzählen weiß: Die Gruppe hatte nämlich ihr Schiff an ihrem Zelt angebunden und durch die starken Regengüsse war der Euphrat so reißend geworden, dass das Schiff mitsamt dem Zelt vom Fluss mitgerissen wurde. Im Reisebericht heißt es dazu: […] nichts war uns gewisser, als von Löwen89 zerrissen oder von Arabern beraubt oder sogar getötet zu werden90. Unglücklicherweise waren die zwei anderen Schiffe schon vorausgefahren, und so hatten die durchnässten Reisenden ausschließlich den Leuten zu danken, die am Schiff zurückgeblieben waren und es zurück ans Ufer lenkten, dass die Reise fortgesetzt werden konnte91. Der Rest der Schifffahrt, an den Orten Qal ad Djabbar, Ar-Raqqah und Al-Hamra vorbei, verlief vergleichsweise ruhig, und so absolvierten Teufel und Fernberger einen Kurzbesuch bei Mahmud Abu-Riza (»Aboryses«), einem arabischen Stammesfürsten92. Diese Begegnung dürfte Hans Christoph Teufel außerordentlich gut gefallen haben: Er widmet der Schilderung der »Aborissen« nicht weniger als sieben Unterkapitel, in denen er diesen Stamm literarisch gegen Osmanen und andere Araber verteidigt, mit dem Abschluss, dass sie dem »König« Mahmud 88 Greil, ebd. 99 (Kapitel 11.4). 89 Die Löwen konnten im Übrigen in der Regel durch Gewehrschüsse vertrieben werden; vgl. ebd. 101 (Kapitel 11.9) und Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 54 (Reise nach Babylon, Kapitel 4). 90 Ebd. 52 (Reise nach Babylon, Kapitel 2). 91 Teufel schildert die Begebenheit ein wenig anders: Zwar wurde auch das Zelt der Gruppe von den Regengüssen erfasst, jedoch wurde das Schiff an einem Pflock festgebunden und nur mit diesem den Euphrat entlang weggespült. Er erwähnt die im Schiff verbliebenen Personen nicht, sondern dass sie das Schiff wiederfanden, nachdem es auf einer Sandbank aufgelaufen war; vgl. dazu Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 105 (Kapitel 11.23–11.24). 92 Vgl. ebd. 102–104 (Kapitel 11.12–11.18). Spärlicher stellt sich Fernbergers Beschreibung dieses Aufenthalts dar, vgl. Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 56 (Reise nach Babylon, Kapitel 6).

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Abu-Riza freiwillig aus Ermangelung von Seidentüchern ein Scharlachtuch als Gastgeschenk überließen. Danach reisten die zwei Adeligen über Dayr ar-Zawr, Ana und Al-Haditha weiter nach Hit, einem Ort, den beide Reiselustigen wegen einem wunderbaren Schauspiel, [das die Natur] dort hervorbringt, nicht verschweigen93 wollen. In der Nähe von Hit befand sich nämlich ein Bitumenfeld, 50 schueh im umbcraiß94, aus welchem das Pech hervorsprudelte, das in der Region zum Bau von Schiffen verwendet wurde. Ein solches Naturschauspiel kannten die Reisenden aus Europa natürlich nicht. Fernberger weiß dazu zu berichten: Die Türken glauben fest, daß hier der Eingang und eine Öffnung zur Unterwelt sei95. Dennoch oder gerade deswegen wurde auch Teufel an diesem Platz von seinem Forschergeist übermannt, denn er hat ein stain hineingeworfen, welcher alßbaldt versunckhen ist96. Am 14. März brachen sie wieder von Hit auf, reisten innerhalb von zwei Tagen über den Euphrat nach Al-Fallujah und blieben dort bis zum 18., um mithilfe von Kamelen und Eseln nach Bagdad zu reiten. Auch diese Stadt wird von den beiden Abenteurern ausführlich beschrieben97, wobei das beeindruckendste Bauwerk anscheinend jene Ruine war, die sie mit dem Turm der Sprachverwirrung, dem Turm zu Babel98, gleichsetzten. Die Reste dieses vermeintlichen Turmes, der ja vom Blitz getroffen und bis auf die Grundfesten zerstört99 wurde, maßen in der Höhe laut Fernberger 100 Ellen (laut Teufel 40 Mann)100. Der Turm war

 93 Ebd. (Reise nach Babylon, Kapitel 7).  94 Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 106 (Kapitel 11.27). Mit schueh meint Teufel wohl das Längenmaß Fuß.  95 Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 56 (Reise nach Babylon, Kapitel 7).  96 Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 106 (Kapitel 11.27).  97 Insbesondere fällt beim Reisebericht Fernbergers auf, dass er über einen Gaukler berichtet, der Glasscherben, glühende Kohlen und Steine verschlang und eine brennende Fackel in den Mund steckte, was bei der Erzählung Teufels gänzlich fehlt; vgl. dazu Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 62 (Reise nach Babylon, Kapitel 12). Es ist dies die zweite Beschreibung eines Gauklers, die erste findet sich, als die Reisenden in Damietta auf die Einschiffung für die Fahrt über das Mittelmeer warteten, wobei auch hier nur Fernberger über den Zauberkünstler berichtet, vgl. dazu ebd. 40 (Pilgerfahrt, Kapitel 37). Es ist offensichtlich, dass Fernberger solche artistischen Darstellungen aus Europa nicht kannte.  98 Tatsächlich wurde die Zikkurat in Babylon erst 1913 ausgegraben, womit das, was Teufel und Fernberger zu sehen meinten, wohl nicht der Turm zu Babel gewesen sein kann. Ebenfalls liegt Babylon weit südlich von Bagdad, siehe dazu Lehner, Georg Christoph Fernberger (wie Anm. 39), 45.  99 Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 58 (Reise nach Babylon, Kapitel 9). 100 Ebd. und Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 109 (Kapitel 12.4).

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aus Ziegeln erbaut, wobei statt Mörtel Lehm und Kot gebraucht wurde101. Den Umfang gibt Fernberger mit 100 Doppelschritten, Teufel mit 350 Schritten102 an. Anstelle von wilden Tieren, wie aufgrund der verklärten Darstellungen und europäisch geprägten Vorstellung der biblischen Welt erwartet, trafen die beiden allerdings nur einen Fuchs, der sich in einer feuchten Stelle der Mauer verborgen [hielt]103. Hans Christoph Teufel wollte sogar auf die Ruinen des Turms hinaufklettern, jedoch war er gar zu gäch104 und weichen die ziegel, derowegen ich es underlassen105. Georg Christoph Fernberger hingegen genügte es, ihn nicht nur mit meinen Augen gesehen zu haben, sondern sogar mit meinen Händen einen Ziegel mit viel Schilf herausgerissen zu haben als Andenken, ebenso auch von den Resten der Mauern der Semiramis […] ein Stückchen aufbewahrt zu haben106. Die Versuchung, einen Teil eines antiken Monuments mit nach Europa zu nehmen, war für Fernberger sehr groß: Wohl hatten die Abenteurer diverse Rekommendationsschreiben als Beweis ihrer Reisetätigkeit, aber einen Teil des Turms zu Babel und der babylonischen Mauerstücke in seiner Heimat herzeigen zu können, hatte sicher noch mehr Beweiskraft für die daran Interessierten zu Hause107. Obwohl die beiden auch nach der Besichtigung Bagdads gedachten, uber Babilon nit weitter forthzuraisen, sonder[n], so wir die statt besehen, uns begnüegen und wider zuruckhziehen108 wollten, erfüllte sie doch wie fast alle Reisenden, die nicht eines Geschäftes wegen, sondern aus religiösen Gründen oder auch aus bloßer Neugier ihre Heimat verlassen, [das Bedürfnis,] weiter […] vorzudringen109. Sie kamen ihrem Interesse an außereuropäischen Gebieten nach und erreichten 101 Damit stand für Fernberger und Teufel fest, vor dem authentischen Turm zu Babel zu stehen, da diese Bauweise ja auch im Alten Testament, 1 Mos 11, 3 beschrieben steht. 102 Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 58 (Reise nach Babylon, Kapitel 9); Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 109 (Kapitel 12.4). Gleich nach dem Versuch der Beschreibung der Größe der Ruinen wagt sich Teufel an die Datierung derselben: Der Turm sei vor 3797 jahr erbaut worden, was nach moderner Zeitrechnung dem Jahr 2208 vor der Zeitenwende entspricht. 103 Burger–Wallisch, ebd. 60 (Reise nach Babylon, Kapitel 9). Die Reisenden töteten dieses Tier mit der Muskete. 104 Das Wort »gäch« meint hermeneutisch »steil«. 105 Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 110 (Kapitel 12.4). 106 Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 58 (Reise nach Babylon, Kapitel 9). Fernberger dürfte damit vermutlich einer der ersten plündernden Touristen der Neuzeit gewesen sein, zumindest beim vermeintlichen Turm zu Babel. 107 Vgl. dazu Paravicini, Erkenntniswert (wie Anm. 13) 15. 108 Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 110 (Kapitel 12.5). 109 Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 66 (Indische Reise, Kapitel 1). Zur zeitgenössischen Einschätzung des hier geäußerten Forscherdrangs siehe Lehner, Georg Christoph Fernberger (wie Anm. 39) 47.

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so am 15. April nach langer Bootsfahrt auf dem Tigris Al-Qurna am Zusammenfluss der beiden Ströme Euphrat und Tigris, um am nächsten Tag in Basra zu landen, wo sie wiederum bis Anfang Juni auf andere Schiffe warten mussten, um sich trotz der Gefahr von Piratenüberfällen und Übergriffen portugiesischer Schiffe110 im Konvoi durch den Arabischen Golf zu fahren trauen zu dürfen. Von Basra aus fuhr der Schiffsverband an der Ostküste des Golfes entlang, an der iranischen Insel Charg sowie an der Stadt Buschehr vorbei. Auf der Höhe Bahreins berichten beide von den dortigen Perlentauchern, die jährlich im Monat April (laut Teufel) oder im Juni und Juli (laut Fernberger)111 im Auftrag des »Kapitäns von Hormuz«112 das Einsammeln der Austern übernahmen, was durch die starken Gezeitengänge, die ebenfalls beide Reisende beeindruckten, erschwert wurde. Beim Zusammentreffen mit dem Statthalter des portugiesischen Stützpunktes Hormuz wird die Rolle Fernbergers als politischer Gesandter recht deutlich, da er von diesem über die Situation der Osmanen ausgefragt wird113. Am 9. Juni gelangte die Gruppe schließlich nach Larak, einer der Inseln in der Straße von Hormuz, und an Queschm vorbeifahrend liefen sie schlussendlich in Hormuz ein, nämlich am 15. Juli 1589. Über diese Insel können beide nichts Gutes berichten, Fernberger bezeichnet sie als Salzinsel, wo weder Gras noch Kraut, weder Strauch noch Baum [wächst]. Hier hat man weder Saat noch Ernte jemals gesehen114. Das auf der Insel benötigte Süßwasser musste von anderen Orten hergebracht werden. Hätte es den Hafen nicht gegeben, würde dise insel ein unbewohnete wuesten sein, von wegen der überschwenglichen, grossen hicz, welche weit über die hitz deß künigreichs Egypten ist115. Aufgrund dieser beginnt auch [hier] der Gebrauch des Sonnenschirmes, Sombreiro genannt, der für ganz Indien typisch ist. Die Reicheren besitzen zahlreiche schwarze Sklaven [zum Tragen der Waffen und des Sonnenschirmes]116. 110 Über die Portugiesen und ihre Fähigkeiten am Schlachtfeld im Allgemeinen erzählt Fernberger: Es ist eine Eigenheit der Portugiesen, daß sie in der Seeschlacht überaus wirksam sind, auf offenem Feld jedoch, und besonders gegen berittene Einheiten, so gut wie nichts ausrichten. Sie kämpfen nämlich wild durcheinander ohne die Schlachtordnung einzuhalten und werden so meistens geschlagen. Vgl. Burger–Wallisch, ebd. 74 (Indische Reise, Kapitel 8). 111 Ebd. 76 (Indische Reise, Kapitel 9); Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 113 (Kapitel 12.14). 112 Auch als »König von Hormuz« bezeichnet. Gemeint ist der portugiesische Statthalter dieser Stadt. Vgl. dazu Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 78 (Indische Reise, Kapitel 12). 113 Vgl. ebd. 80. Siehe dazu auch Greil, ebd. 115–116 (Kapitel 13.4). 114 Burger–Wallisch, ebd. 78 (Indische Reise, Kapitel 10). 115 Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 115 (Kapitel 13.2). 116 Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 78 (Indische Reise, Kapitel 12).

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In Hormuz trennten sich die Reisewege von Hans Christoph Teufel und Georg Christoph Fernberger117. Ersterer schlug – wohl aufgrund von Geldmangel, eventuell auch wegen eines persönlichen Konfliktes mit Fernberger118 – am 21. Juli 1589, seinen weiteren Weg durch Persien ein, da er nicht auf jener Route zurückfahren wollte, auf der er hergekommen war. Er gelangte ans Kaspische Meer, fuhr weiter nach Täbris und Damaskus, um schließlich das Ziel der anfänglich geplanten Reiseroute, Jerusalem, zu erreichen. Nach seiner Pilgerfahrt kam er schlussendlich auch noch nach Tripoli, von wo aus er weiter nach Nikosia und Dubrovnik und schließlich am 13. März 1591 nach Venedig gelangte. Fernbergers Tour dauerte hingegen bis ins Jahr 1593 an und führte ihn zuerst bis nach Indien, zur Straße von Malakka und sogar erneut nach Afrika, nämlich ins kenianische Malindi, bevor er wieder über Hormuz und ebenfalls die Route durch Persien nach Jerusalem gelangte, um schließlich über einen Umweg in Osteuropa, wo er auch in Krakau Station machte, im heimatlichen Wien anzukommen.

Die Reisenden als Netzwerk? Es versteht sich von selbst, dass den beiden Adeligen an jenen Orten, an denen sie sich längere Zeit aufhielten, unzählige Menschen begegneten, seien es nun Mönche, die ihnen ihre Klosteranlagen vorführten, Geistliche und Gesandte, die ihnen Rekommendationsschreiben ausstellten, diverse Kapitäne und Matrosen auf den Schiffen oder auch Einheimische, bei denen sie kurzzeitig Unterkunft fanden oder die als Reiseführer fungierten. Doch auch im Verlauf des eigentlichen Reiseweges waren die beiden wohl niemals alleine unterwegs: Von Teufels Diener Sebastian Stonn war schon weiter oben die Rede, dieser begleitete die Abenteurer von Beginn der Fahrt an bis nach Hormuz, bis er schließlich in Persien verstarb.119 Von diesem ständigen Reisebegleiter abgesehen fuhren natürlich auch immer etliche Menschen auf den Schiffen und Booten mit, so 117 Im Zuge dessen ist auch die zweite und letzte gegenseitige Erwähnung der beiden Abenteurer im jeweils anderen Reisebericht zu finden, nämlich ebd. 84 (Indische Reise, Kapitel 15) und Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 116 (Kapitel 13.7). 118 Greil, ebd. 28–29. 119 Ein anderer Grund dafür, dass Teufel eher zu einer frühen Reise nach Jerusalem und dann Richtung Heimat neigte, könnte die wohl schon in Hormuz beginnende Erkrankung seines Dieners Sebastian Stonn gewesen sein. Da man allerdings nicht die Art der Krankheit erfährt, muss dies reine Spekulation bleiben.

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werden etwa in Teufels Reisebericht gleich zu Beginn 600 Personen (ohne die Schiffsbesatzung) etlicher Nationen und verschiedener Religionen erwähnt120. Denn tatsächlich war die Route, die die Abenteurer nahmen – zumindest jener Abschnitt, der sie an die Ostküste des Mittelmeeres ins Heilige Land führen sollte – bei weitem keine terra incognita, schreibt doch Fernberger selbst: Von Damietta beschlossen wir nach Jaffa überzusetzen, was der übliche Weg für Jerusalempilger im Sommer ist121. Doch welche Leute begleiteten sie noch auf ihrer Reise und wer spielte in all den Jahren für sie eine so bedeutende Rolle, dass sie es für wert befanden, darüber ein paar Worte zu schreiben? Oder, anders gefragt: Welche expliziten Nennungen von Personen oder Gruppen von Reisenden, bei denen man zumindest die Anzahl der Menschen mehr oder weniger genau angeben kann, treten in den beiden Darstellungen der gemeinsamen Reise zwischen Konstantinopel und Hormuz zu Tage122? Zuerst zu den gegenseitigen Nennungen der Weltenbummler: Klarerweise kann man bei der ersten Begegnung der beiden lesen, dass der jeweils andere auch anwesend war, wobei allerdings Teufel den Namen seines Kollegen gleich zwei Mal verschriftlicht, nämlich bei der Beschreibung des Zusammentreffens und gleich danach bei jener auf dem überfüllten Schiff, das sie nach Alexandria bringen sollte. Im Abschnitt über Aleppo bezieht Hans Christoph Teufel seinen Gefährten ebenfalls in die Überlegung mit ein, weiter nach »Babylon« zu reisen, was Fernberger (zumindest im Reisebericht) nicht tut. Schlussendlich, als sie sich wieder trennen, kann man den jeweils anderen Namen wieder in den Berichten lesen123. Es ist jedoch anzunehmen, dass Teufel und Fernberger jedenfalls bei den Stadtbesichtigungen und den Ausflügen zu den Sehenswürdigkeiten gemeinsam unterwegs waren. Besonders auffällig und ein Anzeichen dafür, dass sich vielleicht Teufel eher auf Fernberger verließ als umgekehrt, ist in Georg Christoph Fernbergers Aufzeichnungen die Passage nach der Besichti-

120 Ebd. 55 (Kapitel 1.5). 121 Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 40 (Pilgerfahrt, Kapitel 38). 122 Es gibt noch mehr Nennungen von Einzelpersonen, wie etwa den Franzosen Jean Coquin, der sich bei einem Piratenüberfall bei Hormuz äußerst wehrhaft zeigte; vgl. ebd. 70 (Indische Reise, Kapitel 5). Ebd. 24 (Pilgerfahrt, Kapitel 16) ist von einem alten Araber zu lesen, der die Gräber von Sakkara bewachte. All diese Personen haben jedoch nichts mit der Reisegesellschaft von Teufel und Fernberger zu tun, sondern dienen nur der Ausschmückung und Erklärung der Erzählungen. 123 Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 55, 98, 116 (Kapitel 1.4, 1.5, 10.12, 13.7); Burger-­ Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 12, 84 (Pilgerfahrt, Kapitel 1 und Indische Reise, Kapitel 15).

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gung Bagdads, bei der er zuerst immer nur in der ersten Person Singular erzählt und erst im zweiten Kapitel wieder in die Wir-Form wechselt124. Andere Personen, die zumindest unter Angabe ihrer Tätigkeit oder Herkunft beschrieben werden und mit den Adeligen, zumindest eine Zeit lang, unterwegs waren, sind in der folgenden Tabelle in der Reihenfolge ihres Auftretens zusammengefasst. Genannte Person(en)125

Ort/Passage der Nennung

Seite der Edition126 (Kapitel)

ein Türke127

am Schiff zwischen Chios und Samos

G 57 (1.8)

ein Armenier, ein H ­ odscha und mehrere andere Muslime128

am Schiff zwischen ­Tenedos und dem phrygischen Fest­land

BW 12, 14 (Pilgerfahrt, 2)

etliche italienische Händler

ab der Abreise aus Alexandria

G 64 (3.6)

vier Janitscharen und mindestens acht Italiener129 zwei ägyptische Geleitsmänner mehrere Geleitsmänner (darunter ein arabischer Räuberhauptmann)130 ein Dolmetscher131

auf der Reise von Kairo zu den Gräbern von Sakkara

außerhalb von Kairo bis zur Sinai-Halbinsel

G 71 (5.1)/BW 24 (Pilgerfahrt, 16) G 71 (5.2) G 75 (6.2), G 76 (6.4)/BW 26 (Pilgerfahrt, 19 und 20) G 76 (6.4)

124 Burger–Wallisch, ebd. 66 f. (Indische Reise, Kapitel 1 und 2). 125 Die Bezeichnung der Personen wurden im Wesentlichen aus den Reiseberichten übernommen. 126 G = Greil, Beschreibung (wie Anm. 18); BW = Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17). 127 Während der Schiffsreise stirbt er, wird zwischen zwei Brettern zusammengebunden und ins Meer geworfen. 128 Der Armenier konvertierte zum Islam und wurde durch den Hodscha (Anführer) aufgenommen, mehrere Personen bildeten anschließend einen Kreis um die beiden; es bleibt zu diskutieren, wie viele Personen notwendig sind, um einen Kreis zu bilden. 129 Fernberger erzählt nur von den vier Janitscharen. Teufel jedoch meint, dass die Gruppe insgesamt zwölf Gewehre bei sich hatte, wovon vier im Besitz der Janitscharen waren und jeder nur mit einem Gewehr bewaffnet war. 130 Bei Teufel ist zuerst nur von einem Geleitsmann die Rede, zwei Kapitel später sind es plötzlich mehrere. Der Erzbischof von Sinai konnte, wie Fernberger berichtet, nicht mitreisen, da ihm andere Verpflichtungen dazwischengekommen waren, weswegen ihn Teufel wohl erst gar nicht anspricht. 131 Der Dolmetscher sprach Arabisch, Türkisch und Italienisch.

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Genannte Person(en)125 drei griechische Mönche

Ort/Passage der Nennung

Seite der Edition126 (Kapitel)

auf den Berg Sinai

G 79 (7.1)/BW 28 (Pilgerfahrt, 23)

ein arabischer Wächter

BW 28 (Pilgerfahrt, 23)

zwei Mönche

zum Kloster Elim

BW 34 (Pilgerfahrt, 28)

ein Janitschar

von Kairo nach Bulaq (eventuell Damietta)

BW 36 (Pilgerfahrt, 32)

der griechische Schiffskapitän132, ein türkischer Offizier (Zausch)

von Damietta nach Tripolis

G 87 (8.16), G 93 (9.10)

zumindest ein Janitschar

von Payas bis zumindest Aleppo

G 96 (10.6–10.7)

zwei italienische Nonnen133

Aleppo

G 98 (10.12)

einige arabische Kaufleute

ab Aleppo

BW 50 (Reise nach Babylon, 1)

ein paar vornehme Türken

ab Birecik

G 99 (11.4)

ein Matrose134 und Giorgio de Gasparo (venezianischer Kaufmann)

ab Birecik, wohl sicher ab Qal ad Djabbar

BW 52 (Reise nach Babylon, 2)

zumindest drei weitere »Ausländer«135

bei Dayr ar-Zawr

G 104 (11.17)

Giorgio de Gasparo136

Basra

BW 72 (Indische Reise, 6)

Dom Francisco de Mascarenhas137

auf dem Schiff von Hormuz

BW 84 (Indische Reise, 15)

132 Hier erwähnt, da er eine wichtige Rolle für den Fortgang der Reise spielte. 133 Hier erwähnt, obwohl sie wohl nicht die ganze Zeit mit jener Gruppe unterwegs waren, der Teufel und Fernberger angehörten, da sie ebenfalls ausschlaggebend für den weiteren Verlauf der Reise waren. 134 Hier erwähnt, da er zusammen mit Giorgio de Gasparo das Schiff der Reisegruppe wieder ans Ufer lenkte. 135 Fünf Ausländer werden bei der Einladung des Mahmud Abu-Riza erwähnt, jedoch waren wohl zwei davon Hans Christoph Teufel und Georg Christoph Fernberger. 136 Dieser leistete in Basra beim Zusammenstoß zweier Schiffe den größten Dienst; vgl. dazu die angegebene Stelle in Fernbergers Reisebericht. 137 Vizekönig von Portugiesisch-Indien 1581–84; hier erwähnt, da er im selben Satz wie Teufel genannt wird. Es spricht nichts dagegen, dass Teufel de Mascarenhas vielleicht sogar getroffen hat, jedoch wird er in seinem Reisebericht selbstverständlich nicht erwähnt.

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Michael Prokosch

Die meisten Personen werden also nicht namentlich genannt, mit Ausnahme des venezianischen Händlers Giorgio de Gasparo und einem Reisegefährten Fernbergers ab Hormuz, Dom Franciso de Mascarenhas. Weiters ist auffällig, dass die Gruppe öfters von Janitscharen begleitet wurde. Und es lässt sich auch erkennen, welche Menschen typischerweise die Reisewege verwendeten, die auch Teufel und Fernberger nutzten, nämlich Geistliche und Händler. Als größere Personengruppen und Konvois, bei denen nur schwer abzuschätzen ist, wie viele Personen diese umfassten, sind zu nennen: mehrere arabische und osmanische Passagiere bei der Schiffsreise zwischen Damietta und Zypern138, die Karawane, bestehend aus 73 Kamelen, zwischen Payas und Aleppo139, ein Schiffskonvoi aus drei Schiffen ab Birecik140, des Weiteren viele Leute, die nach Al-Haditha dem Schiff, welches fortgeschwemmt wurde, nachliefen141. Von Basra aus zur Flussmündung des Schatt al-Arab fuhren laut Teufel sechs Schiffe gemeinsam weg, nach Fernbergers Bericht waren es sieben, wobei zwei davon mit der Reisegruppe um Teufel und Fernberger besetzt waren142.

Resümee Die gemeinsame Reise der beiden österreichischen Adeligen Hans Christoph Teufel und Georg Christoph Fernberger, die zuerst als Pilgerfahrt startete, dann als Kavalierstour weitergeführt wurde und schlussendlich bei beiden Reiselustigen mit der Beendigung der angefangenen Pilgerreise und der Heimkehr endete, war sicherlich keine einfache: Unwetter, angriffslustige Löwen und die Gefahr von Überfällen gehörten für sie zu jenen Dingen, denen sie regelmäßig ausgesetzt waren. Dass ihnen auch die ungewohnte Umgebung des Öfteren zu schaffen machte, versteht sich von selbst. Dennoch sind in ihre Aufzeichnungen, lässt man Extremsituationen außer Acht, so gut wie keine Gefühlsäußerungen eingeflossen. Über sie selbst erfährt man so gut wie nichts. In erster Linie hatten Teufel und Fernberger vor, zu den heiligen Stätten am Berg Sinai und nach Jerusalem zu pilgern; der zweite Teil der Reise wurde allerdings durch das Abtreiben ihres Schiffes im Sturm nach der Abreise von Zypern 138 Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 44 (Pilgerfahrt, Kapitel 39). 139 Ebd. 46 (Pilgerfahrt, Kapitel 40). 140 Ebd. 52 (Reise nach Babylon, Kapitel 2). 141 Greil, Beschreibung (wie Anm. 18) 105 (Kapitel 11.24). 142 Ebd. 112 (Kapitel 12.11); Burger–Wallisch, Reisetagebuch (wie Anm. 17) 72 und 74 (Indische Reise, Kapitel 6 und 8).

Wenn Zwei eine Reise tun

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verhindert und diese Verhinderung in der Folge von den beiden Reiselustigen auch begrüßt, spätestens, als sie in Aleppo angekommen waren. Dort entschieden sie sich kurzerhand, eine Kavalierstour anzuhängen. Warum sie dies taten, hat wahrscheinlich mehrere Gründe, auch andere als jene, die von den Reisenden aufgeschrieben wurden. Für Hans Christoph Teufel war es wohl verlockend, einen außergewöhnlicheren grand tour zu unternehmen als viele seiner Alterskollegen, was durch die Begleitung eines erfahreneren Mannes, nämlich Fernberger, auch gut zu bewerkstelligen war. Viele der Punkte, weshalb man am Ende des 16. Jahrhunderts junge Adelige auf solche Reisen, wenn auch meist kürzere, schickte, dürften auch in die Überlegungen Teufels eingeflossen sein: Er konnte seinen Bildungsstand, in seinem Fall über fremde Kulturen außerhalb Europas, vergrößern, sein diplomatisches Geschick – denn dieses war sicherlich vonnöten – trainieren und eventuell sogar auf einen Karriereschub nach seiner Rückkehr hoffen. Italienisch hatte Teufel sicherlich schon im Laufe seines Studiums gelernt – man bedenke die italienische Druckausgabe seines Reiseberichtes; ob er während der Kavalierstour auch noch zumindest Bruchstücke anderer Sprachen wie Arabisch oder Persisch aufschnappen konnte, muss dahingestellt bleiben, zumal davon im Bericht nichts erwähnt wird. Georg Christoph Fernbergers Antrieb, durch von der Heimat derart weit entfernte Gebiete zu reisen, dürfte in erster Linie seine Lust am Abenteuer und sein Forscherdrang gewesen sein. Die Beschreibungen von ihm unbekannten Völkern und deren Gebräuche sowie der Natur lassen darauf schließen, dass er nicht nur an der Politik und Geschichte Europas interessiert war. Wenn Fernberger immer wieder das christliche Gedankengut verteidigt und als Maßstab für die Beurteilung der fremden Kulturen einsetzt, so erhält man beim Lesen des Reiseberichtes von Teufel doch den Eindruck, dass Letzterer verhältnismäßig vorurteilsfrei und unbefangen über fremde Gebräuche und Sitten berichtet. Dennoch muss man feststellen, dass die Beurteilungen der unbekannten Kulturen und das Fremdenbild der beiden im Großen und Ganzen nicht so sehr von der Religionszugehörigkeit geprägt sind als eher von der Nationalität der beschriebenen Personen. So ist etwa auch die Tatsache, dass sich Teufel und Fernberger besser mit ihren arabischen und griechischen Mitreisenden verstanden als mit den osmanischen Reisegesellen, durch die politischen Verhältnisse bedingt. Beide Reisende nehmen praktisch an jedem neuen Ort kurz Bezug auf historische Begebenheiten, wohl nicht nur zur Abrundung der Erzählungen, sondern auch, um ihre Bildung zu betonen. Sie erzählen von wichtigen Personen aus der Geschichte und dem aktuellen Zeitgeschehen, machen Angaben zur Fruchtbar-

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keit des Landes und den Bewohnern der Städte oder nennen die geografische Lage. Die Stadtbeschreibungen zeichnen wohl ein relativ korrektes Bild der Orte, die Landschaften werden aufgrund der Nennungen der Flora und Fauna sehr anschaulich dargestellt. Von Alltagsbegebenheiten während der langen Reise kann man in Teufels Reisebericht im Vergleich zu dem Fernbergers öfter lesen. Sicher ist, dass der Freiherr und sein Diener sowie Fernberger nicht allein gereist sind, sondern, wie durch die obige Betrachtung gezeigt wurde, tatsächlich Teil eines »Reisenetzwerks« waren. Es werden wohl nicht alle genannten Mitreisenden tatsächlich den gesamten Weg zusammen zurückgelegt haben, denn abgesehen von Terminen, zu denen Schiffe ausliefen, und den Zeiten, in denen man zusammen wartete, um eine Karawane oder einen Konvoi zu bilden, gab es genügend Möglichkeiten, seine Pilgerreise oder Kavalierstour individuell zu gestalten. In diesem Aufsatz wurde der gemeinsame Reiseweg der Adeligen beleuchtet; einen Vergleich der Beschreibung Persiens in beiden Berichten anzustellen, wäre allerdings auch ein lohnenswertes Unterfangen, da sowohl Teufel als auch Fernberger durch dieses Land reisten, jedoch zeitlich versetzt. Es gibt noch andere Reiseberichte aus dieser Zeit, bei denen es sich auszahlen würde, sie untereinander oder etwa auch mit den hier untersuchten zu vergleichen, jedoch – und dies ist eine Besonderheit – liegen mit den Aufzeichnungen Hans Christoph Teufels und Georg Christoph Fernbergers Beschreibungen von Personen vor, die über einen langen Zeitraum tatsächlich gemeinsam unterwegs waren und somit Gleiches zu erzählen hätten. Dies tun sie jedoch nicht immer, wodurch klar wird, dass auch ein »Reisenetzwerk« sich immer aus einzelnen Teilen zusammensetzt.

Petra Svatek

»Mitteleuropa« – Karten – »Practical Turn« Die Geographischen Institute der Universitäten Wien und Berlin im Vergleich

Abstract: Based on examples, this article focuses on the manufacturing practice of maps, which show parts of Central Europe and which were produced at the Departments of Geography of the University of Vienna and Berlin. Furthermore, the contribution of the maps to the research practice of other scientists and institutions will be explained. Field research with mapping and surveying, research in libraries and archives, literature studies, statistical analysis, and discussions with other scientists were common practices among geographers at that time. From the 1840s to the 1920s, Friedrich Simony (1813–1896), Hugo Hassinger (1877–1952), Erwin Hanslik (1880–1940), Albrecht Penck (1858–1945) and Heinrich Kiepert (1818–1899) in particular created maps that visualized glaciers, lakes, buildings, boundaries, constructed »spaces« and ethnic groups.

Einführung: »Mitteleuropa« als Forschungsraum Die Geographischen Institute der Universitäten Wien und Berlin entstanden beide infolge bildungspolitisch relevanter Ereignisse. Jenes in Berlin wurde bald nach der Gründung der Universität durch Wilhelm von Humboldt (1810) ins Leben gerufen. Zum ersten Professor ernannte man Johann August Zeune (1778– 1853). Dieser stand allerdings bald im Schatten von Carl Ritter (1779–1859), der 1820 auf den neuen Lehrstuhl für »Erd-, Länder-, Völker- und Staatenkunde« berufen wurde. Weitere bedeutende Professoren waren bis in die 1920er Jahre Heinrich Kiepert (1818–1899), Ferdinand von Richthofen (1833–1905) und Albrecht Penck (1858–1945). Das Wiener Institut ging aus der Universitätsreform von Leopold Graf von Thun und Hohenstein (1811–1888) hervor. Ab 1851 bekleidete allerdings der Naturforscher Friedrich Simony (1813–1896) nicht nur die erste, sondern bis zu seiner Pensionierung auch einzige Professur im Fachbereich Geographie der Wiener Universität. 1885 erfolgte durch die Zweiteilung der Lehrkanzel in einem kulturgeographischen und einem physiogeographischen Schwerpunkt die eigentliche Gründung des Geographischen Instituts. Wilhelm Tomaschek (1841–1901) und Albrecht Penck standen ab nun diesen beiden Lehrkanzeln vor, die 1904 beziehungsweise 1906 von ihren Nachfolgern Eugen Oberhummer (1859–1944) und Eduard Brückner (1862–1927) abgelöst

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Petra Svatek

wurden. Zudem arbeiteten einige Assistenten und Dozenten am Institut, wie zum Beispiel Philipp Paulitschke (1854–1899), Hugo Hassinger (1877–1952) und Erwin Hanslik (1880–1940)1. Vor allem ab der Mitte der 1990er Jahre richteten historisch arbeitende Wissenschaftler ihren Fokus immer mehr auf die Forschungspraktiken diverser Wissenschaftsdisziplinen, was als »Practical Turn« in die Literatur Eingang gefunden hat. In diesem Kontext erscheint die Wissenschaft »als ein Ensemble von Praktiken und als eine Geschichte der Dinge«2, wobei sowohl Instrumente und Objekte als auch Interaktionen betrachtet werden. In der Kartographiegeschichte sind beim »Practical Turn« zwei Ebenen unterscheidbar. Zum einen geht es um die Praktiken der Kartenherstellung, zum anderen aber auch um die Frage, wie bereits bestehende Karten selbst ein Teil der Forschungspraxis für andere Forschungen und Wissenschaftsdisziplinen und vielleicht sogar für die Politik geworden sind. Die Mitarbeiter der geographischen Institute produzierten im Untersuchungszeitraum einige Karten und kartenverwandte Abbildungen (Ansichten, Profile), die »Mitteleuropa« oder einen Teil davon visualisierten. Karten, die »Mitteleuropa« zeigen, gab es bereits in der Antike. Denken wir doch nur an die römische Straßenkarte »Tabula Peutingeriana« oder an die Karten des Claudius Ptolemäus. Während des Mittelalters visualisierten Kirchenväter »Mitteleuropa« in den so genannten TO-Karten, von denen die »Ebstorfer Weltkarte« wohl die meisten Eintragungen über diesen Teil Europas aufweist. Nachdem die Kartographie ab dem 15. Jahrhundert einen enormen Aufschwung erlebte, entstanden vor allem ab dem 16. Jahrhundert eine große Menge an Regionalkarten. In diesem wurden mitteleuropäische Gebiete auch in größeren Maßstäben bereits sehr detailreich wiedergegeben. Bis allerdings eine eigene Karte mit 1

Einen allgemeinen Überblick zur Geschichte der Geographischen Institute der Universitäten Wien und Berlin im 19. und 20. Jahrhundert siehe: Elisabeth Lichtenberger, Geographie, in: Karl Acham, Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften 2 (Wien 2001) 75–148; Hans-Dietrich Schultz, Was »ist« Geographie? Was »ist« sie nicht? Zur Konfiguration des Faches als politisch relevante »reine« (Natur) Wissenschaft, in: Heinz-Elmar Tenorth, Geschichte der Universität unter den Linden 1810–2010 Band 5: Transformation der Wissensordnung (Berlin 2010) 651–674. 2 Vgl. http://www.hsozkult.de/event/id/termine-3833 (letzter Zugriff: 10.11.2018). Siehe dazu auch: Michael Hagner/Hans-Jörg Rheinberger, Die Experimentalisierung des Lebens: Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950 (Berlin 1993); Hans-Jörg Rheinberger, Kulturen des Experiments. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30 (2007) 135– 144; Ders., Experimentalsysteme, In-vitro-Kulturen, Modellorganismen, in: Birgit Griesecke, Kulturgeschichte des Menschenversuchs im 20. Jahrhundert (Frankfurt am Main 2009) 394–404.

»Mitteleuropa« – Karten – »Practical Turn«

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dem Wort »Mitteleuropa« im Titel erscheinen konnte, vergingen fast weitere drei Jahrhunderte. Diese Ehre gebührte schließlich dem Wiener Geographen und Kartographen Joseph Marx von Liechtenstern (1765–1828), der von 1807 bis 1812 im Maßstab 1:640.000 die »Charte von Mitteleuropa« in 47 Kartenblättern und einer Übersichtskarte herausbrachte3. Ab dieser Zeit setzte auch die wissenschaftliche Diskussion über die Lage Mitteleuropas ein. Diese Anfänge sind an den erwachenden deutschen Nationalismus gekoppelt und zunächst mit Johann Zeune verbunden, der 1808 in seinem Buch »Gea. Versuch einer wissenschaftlichen Erdkunde«, »Mitteleuropa« vor allem naturräumlich zwischen den französischen Cévennes über den deutschen Harz bis zur Balkanhalbinsel beziehungsweise von den Pyrenäen bis zur Weichsel verortete. In den folgenden Jahrzehnten dominierte vor allem die deutschzentrierte Sichtweise (Johann Christoph Friedrich Gutsmuths, Ferdinand Beneke u. a.), die Deutschland als den Mittelpunkt Europas betrachtete. Schließlich stellte der tschechische Historiker und Politiker František Palacky (1798–1876) diesem deutschgeprägten »Mitteleuropa« ein östliches Pendant gegenüber, das aus der Habsburgermonarchie gebildet werden sollte. Diese Vorstellung fand während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings wenig Beachtung. Doch wurde »Mitteleuropa« bereits großräumiger gesehen. Der deutsche Geograph Alfred Kirchhoff (1838–1907) zählte zum Beispiel die Staaten des ehemaligen deutschen Bundes, Böhmen, Mähren, Belgien und die Niederlande dazu. Die übrigen Länder der Habsburgermonarchie, Bulgarien, Serbien und Rumänien fügte schließlich der Breslauer Geograph Joseph Partsch (1851–1925) hinzu. Sein Werk »Centraleurope« (1903) enthielt auch eine Karte. Peter Čede und Dieter Fleck wiesen zum Beispiel 1996 darauf hin, dass dieses Mitteleuropabild der großmachtpolitischen Vorstellung des Zweibundes und dem macht- und wirtschaftspolitischen Denken Deutschlands und Österreich-Ungarns entsprach4. 3

Einen ersten Überblick zu Karten über Mitteleuropa oder eines Teiles davon siehe: Petra Svatek, »Mitteleuropa« auf Karten vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert, in: Johann Arnason/ Petr Hlaváček/Stefan Troebst, Mitteleuropa? Zwischen Realität, Chimäre und Konzept (Europaeana Pragensia 7, Prag 2015) 9–25. 4 Peter Čede/Dieter Fleck, Der Mitteleuropabegriff. Entwicklung und Wandel unter dem Einfluss zeitspezifischer Geisteshaltung. Arbeiten aus dem Institut für Geographie der Karl-­ Franzens-Universität Graz 34 (1996) 15–26. Zu den Mitteleuropaforschungen siehe zum Beispiel auch: Johannes Feichtinger, Zwischen Mittel- und Zentraleuropa. Oder: Vom politisch überformten Raum zum heuristischen Konzept, in: Jacques Lajarrige/Walter Schmitz/Giusi Zanasi, Mitteleuropa. Geschichte eines transnationalen Diskurses (Mitteleuropa-Studien 17, Dresden 2011) 53–73.

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Petra Svatek

In diesem Artikel sollen die Herstellungspraktiken von Karten, die Teile Mitteleuropas zeigen, sowie der Beitrag der Karten zur Forschungspraxis anderer Wissenschaftler und Institutionen anhand ausgewählter Beispiele von den 1840er bis in die 1920er Jahre erläutert werden. Im Mittelpunkt stehen zunächst jene Karten, die von Mitarbeitern des Geographischen Instituts der Universität Wien hergestellt wurden und eine gewisse Neuheit darstellten. Dazu zählten vor allem Karten und kartenverwandte Darstellungen über Gletscher, Seen, Städte und konstruierte Räume. Zum Abschluss des Artikels erfolgt ein kurzer Vergleich mit den kartographischen Aktivitäten des Geographischen Institutes der Universität Berlin, da zu diesem Thema noch eingehende Studien notwendig sind. Bezüglich der Methodik der Erhebung und Auswertung der Daten können in der Kartographie zwei verschiedene Forschungspraktiken unterschieden werden: die Feld- und die Archiv- bzw. Bibliotheksforschung. Kartierungen und Vermessungen im Gelände, Forschungen in Bibliotheken und Archiven, Literaturstudien, Auswertung von statistischen Daten und Diskussionen mit anderen Wissenschaftlern waren zur damaligen Zeit sowohl in Wien als auch in Berlin gängige Praktiken. Dadurch wurde Wissen zunächst einmal durch dokumentieren und experimentieren ermittelt, danach systematisiert und geordnet5. Die zweite Ebene bezieht sich auf die Frage, wie bereits fertig gestellte Karten selbst ein Teil der Forschungspraxis für andere Forschungen diverser Wissenschaftsdisziplinen wurden. Auch Karten sind Dinge, »an denen der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung in Gang gesetzt sowie in Gang gehalten wird«6.

Geographisches Institut der Universität Wien. Naturwissenschaftliche Kartographie Naturwissenschaftliche Karten wurden vor allem von Friedrich Simony und Albrecht Penck hergestellt. Simony erforschte ab den 1830er Jahren die Tiefenverhältnisse der österreichischen Alpenseen und die Größe der Dachsteingletscher. Dabei wandte er eine Methode an, bei der es während Begehungen in der Natur zu einer Vermessung und Berechnung der Gletscher und Seen gekommen war. Der Raumbegriff war hier eindeutig an der Mathematik und Geodäsie angelehnt. 5 Siehe dazu auch Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte? Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 36/1 (2011) 167. 6 Hans-Jörg Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung (Hamburg 2007) 11.

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Die Seentiefe eruierte Simony mit einem von ihm angefertigten Lotapparat, der auch ein Tiefenthermometer beinhaltete. Mit diesem Gerät führte Simony alle paar Meter Lotungen durch. Die genauen Lotungspunkte eruierte er durch das Abzählen der Ruderschläge7. Diese von ihm angewandte Methodik beschrieb Simony 1850, wodurch sein Forschungsprozess an sich zum Gegenstand der Forschung wurde8. Als Resultat seiner Forschungen fertigte Simony Tiefenkarten und Profile an, wie zum Beispiel vom Hallstättersee, Mondsee und Wörthersee (Abb. 1). Die Idee zu diesen Tiefenmessungen erhielt er wahrscheinlich von Schweizer Forschern. Denn dort wurden bereits 1819 erste Tiefenmessungen im Genfer See durchgeführt9.

Abb. 1: Friedrich Simony, Tiefenkarte des Wörther Sees 1850 (Fachbereichsbibliothek für ­Geographie und Regionalforschung Universität Wien, Teilnachlass Friedrich Simony).

Doch auch Simony beeinflusste Wissenschaftler, wie zum Beispiel die Geographen Albrecht Penck und Johann Müllner (1869–1952) von der Universität Wien und Eduard Richter (1847–1905), Professor für Geographie an der Universität Graz. Diese vier Geographen bildeten schließlich eine Arbeitsgemein7 Petra Svatek, Natur und Geschichte: Die Wissenschaftsdisziplin Geographie und ihre Methoden an den Universitäten Wien, Graz und Innsbruck bis 1900, in: Christine Ottner/Gerhard Holzer/Petra Svatek, Wissenschaftliche Forschung in Österreich 1800–1900. Spezialisierung, Organisation, Praxis (Schriften des Archivs der Universität Wien 21, Göttingen 2015) 51–52; Ingrid Kretschmer, Kartographische Arbeiten Friedrich Simonys. Geographischer Jahres­ bericht aus Österreich 53 (1996) 46–47; Wolfgang Rudolf Kainrath, Johann O ­ skar Friedrich Simony zum 200. Geburtstag. Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft 155 (2013) 305–316. 8 Friedrich Simony, Die Seen des Salzkammergutes. Sitzungsberichte der mathematisch-naturwissenschaftlichen Classe (1850) 545–547. Ein Teil des Textes ist abgedruckt in: Svatek, Natur und Geschichte (wie Anm. 7) 51–52. 9 Zur Geschichte der Tiefenmessung Schweizer Seen siehe: Salomon Pestalozzi, Ueber Tiefen­ messungen in schweiz. Seen. Schweizerische Bauzeitung 23/24–9 (1894) 59–60.

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schaft und planten einen Atlas der österreichischen Alpenseen. Simonys Meinung und sein praktisches Agieren wurde bei diesem Kartenprojekt ohne Zweifel anschlussfähig an das Denken und die Handlungsweise anderer Geographen gemacht. Die Geographen legten gemeinsam die Methodik und Vorgehensweise fest, wobei die Tiefenmessungen nach der Arbeitsweise von Simony durchgeführt wurden. Simony war für die Seen im Salzkammergut verantwortlich, Richter für jene in Kärnten und Südtirol. Während Simony und Müllner die Karten herstellten, verfassten Penck und Richter die Begleittexte. Zudem dürfte Penck als Lehrstuhlinhaber der Wiener Universität als der oberste Überwacher des Projektes gedient haben. Es ist damit eindeutig eine hierarchische Gliederung feststellbar, bei der Müllner am untersten Ende dieser Rangordnung stand. Er agierte lediglich nach den Vorgaben von Simony, Richter und Penck und brachte keine eigenen Ideen in das Kartenprojekt mit ein. Der Atlas der österreichischen Alpenseen erschien schließlich 1895/96 mit finanzieller Unterstützung vom k. k. Ministerium für Cultus und Unterricht im Verlag Ed. Hölzel10. Dadurch entstand nicht nur eine Vernetzung zwischen Wiener und Grazer Geographen und einem Kartenverlag, sondern es konnte auch eine politische Institution als Geldgeber gewonnen werden. Doch hat Simony nicht nur innerhalb des Faches Geographie andere Wissenschaftler beeinflusst, sondern zum Beispiel auch in der Archäologie. Während der Tiefenmessungen der Salzkammergutseen stieß er nämlich auf Reste von Pfahlbauten, die in Österreich ab 1864 eingehender erforscht wurden11. Simonys Methodik war bei der Erforschung der Gletscherwelt weit weniger exakt. Er verzichtete auf umfangreiche Triangulierungen. Stattdessen kon­ stru­ierte er einen eigenen Zirkelapparat, mit dem er Winkel messen und Horizontal- und Vertikaldistanzen bestimmen konnte. Zudem verwendete Simony Barometer zur Höhenbestimmung. Durch Markierungen im Gelände stellte er Gletscherbewegungen fest. Wegen dieser doch etwas ungenauen Arbeitsweise fertigte Simony keine Karten, sondern Panoramazeichnungen an, die im Kontext der damaligen Biedermeiermalerei zu verorten sind. In diesen Panoramen 10 Albrecht Penck/Eduard Richter, Atlas der österreichischen Alpenseen. Die Seen des Salzkammergutes (Wien 1895); Albrecht Penck/Eduard Richter, Atlas der österreichischen Alpenseen. Seen von Kärnten, Krain und Südtirol (Wien 1896). 11 Franz Grims, Das wissenschaftliche Wirken Friedrich Simonys im Salzkammergut, in: Franz Speta, Ein Leben für den Dachstein. Friedrich Simony zum 100. Todestag (Linz 1996) 65; Zur Geschichte der Erforschung der Pfahlbauten in Österreich siehe: Marianne Klemun, Die Erforschung des vorgeschichtlichen »Pfahlbaus« – ein kontroversielles Kapitel der internationalen prähistorischen Forschung des 19. Jahrhunderts und Ferdinand Hochstetters Entdeckung der Keutschacher »Pfahlbauten« (1864). Carinthia 2/185/105 (1995) 218–225.

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ästhetisiert er die Landschaft. Ästhetik und Naturwissenschaft gingen bei ihm eine Symbiose ein. Gletscher, Karst- und andere morphologische Erscheinungen wurden dabei präzise wiedergegeben, was ihm von der Landschaftsmalerei abhob. Denn die Landschaftsmaler führten in der Natur lediglich Beobachtungen und keine Messungen durch. Zudem war eine maßstabsgerechte Abbildung der Naturerscheinungen weit weniger ausgeprägt als bei Simony. Auch diesen Forschungsprozess teilte er mit anderen Wissenschaftlern, wie zum Beispiel bei einer Versammlung der k. k. Geographischen Gesellschaft 1858 in Wien. Bekanntheit erlangten vor allem Simonys Panoramen des Dachsteins, Toten Gebirges und des Schafberges. Doch auch ein Panorama der Ötztaler Alpen (Abb. 2) und des Krainer Beckens fertigte er an. Sie alle »waren Instrument der Wissensrepräsentation, Wissensvermittlung und Wissenschaftspopularisierung«12. Denn Simony verwendete seine Panoramen während seiner Lehrveranstaltungen als Anschauungsmaterialien.

Abb. 2: Friedrich Simony, Ausschnitt aus dem Panorama »Der Fender Grat und Kreuzbergkamm in den Oetzthaler Alpen« (Fachbereichsbibliothek für Geographie und Regionalforschung Universität Wien, Teilnachlass Friedrich Simony).

Anregungen für seine Arbeitsweise erhielt Simony vor allem von den Panoramen der Westalpen, die ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hergestellt wurden, so zum Beispiel von Gottlieb Sigmund Gruner (1717–1778), Horace Bénédict de Saussure (1740–1799), Jean de Charpentier (1786–1855) und Louis Agassiz. Simony wiederum inspirierte mit seinen Panoramen und Gletscher­ 12 Heinz Peter Brogiato/Bernhard Fritscher/Ute Wardenga, Visualisierungen in der deutschen Geographie des 19. Jahrhunderts. Die Beispiele Robert Schlagintweit und Hans Meyer. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 28 (2005) 239.

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forschungen andere Wissenschaftler, wie zum Beispiel Eduard Richter13. Adalbert Stifter (1805–1868) wiederum verarbeitete das Wissenschaftsverständnis seines Freundes Simony in seiner Figur des Heinrich Drendorf (Roman »Nachsommer« 1857)14. Auch heute werden die kartenverwandten Darstellungen Simonys für die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung herangezogen. Denn im Bereich der Gletscherforschung sind Karten und Ansichten über die alpine Gletscherwelt des 19. Jahrhunderts nach wie vor interessant, zeigen sie doch die Veränderungen im Kontext der Klimaerwärmung sehr deutlich15.

Kunsthistorische Kartographie Hugo Hassinger kombinierte sowohl die Feld- als auch die Archivforschung. Er verfolgte in den 1910er Jahren einen völlig neuen Ansatz, der die Kartographie mit der Kunstgeschichte und der Stadtplanung verband. Dabei sah er in der Kartographie ein wichtiges Instrument 16, um Siedlungs- und Wirtschaftszonen einer Stadt differenzieren und ihr geschichtliches Werden festhalten zu können. Als Beispiele nannte er sogenannte »Kulturkarten«, die das Verhältnis zwischen natur- und kulturproduzierender Bevölkerung visualisieren, Karten des Straßennetzes und kunsthistorische Karten, die er von 1910 bis 1916 im Kontext der sich schön langsam etablierenden Denkmal- und Heimatschutzbewegung herstellte, und die sich der baulichen Neugestaltung Wiens entgegensetzen sollten17. Die Karten verstand Hassinger für die Wiener Verkehrs- und Wohnungspolitik als eine Quelle für eine effizientere Stadtplanung. Alte erhaltenswerte Bauwerke 13 Zu Richters naturwissenschaftliche Forschungen siehe: Petra Svatek, Eduard Richter. Glacier maps and panoramas. Journal of the International Map Collectors’ Society 143 (2015) 37–41. 14 Svatek, Natur und Geschichte (wie Anm. 7) 50–51, 54–58. Zu den Panoramen der Westalpen siehe auch: Marianne Klemun, Landschaftswahrnehmung, »Naturgemälde« und Erdwissenschaften, in: Thomas Noll/Urte Stobbe/Christian Scholl, Landschaft um 1800. Aspekte der Wahrnehmung in Kunst, Literatur, Musik und Naturwissenschaft (Göttingen 2012) 60–82. 15 Zur Kartographie und Klimageschichte siehe unter anderem: Kurt Brunner, Kartographie als Klimaarchiv. Meereis im Norden, vom Eis verschlossene Schiffspassagen und vorstoßende Gletscher. Eiszeitalter und Gegenwart. Jahrbuch der Deutschen Quartärvereinigung e. V. 55 (2005) 1–24. 16 Wien, Universitätsarchiv, Nachlass Hassinger, Kt. 27 (»Raumforschung und Raumordnung in Österreich«). 17 Hugo Hassinger, Über Aufgaben der Städtekunde. Petermanns Mitteilungen 56 (1910) 290– 291, 293. Zur baulichen Neugestaltung von Wien siehe auch: Hans Bobek/Elisabeth Lichtenberger, Wien. Bauliche Gestalt und Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (Graz/ Köln 1966).

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sollten in die Umgestaltung des Stadtbildes miteinbezogen und nicht abgerissen werden18. Er etablierte dabei einen neuen methodischen Ansatz, der heute »morphogenetische Stadtgeographie«19 genannt wird. Von 1910 bis 1912 kartierte Hassinger alle noch vorhandenen Bauwerke, die vom Mittelalter bis in die 1840er Jahre errichtet wurden. Diese Methode der Datenaufnahmen im Gelände war in den Kulturwissenschaften ein völlig neuer Ansatz. Doch kombinierte er diese Datenerfassung auch mit Archivstudien, da das Alter der Bauten nicht immer einwandfrei identifizierbar war. Somit stellte für ihn nicht nur die »Natur«, sondern auch das »Archiv« das »wissenschaftliche Lebenselixier« dar20. Als Quellen standen ihm vor allem Kataster, Bauprotokolle des Stadtbauamtes und alte Ansichten der Stadt zur Verfügung21. Zudem baute er auf das Wissen anderer Personen auf. Franz Wilhelm Englmann (1862– 1926), Kustos des Historischen Museums der Stadt Wien, half ihm zum Beispiel beim Studium alter Wienansichten. Emil Tranquillini (1884–1955), Professor an der Technischen Hochschule Brünn, übermittelte Hassinger einige seiner eigenen Grund- und Aufrissbilder alter Wiener Häuser22. Diese Kombination aus Geländebegehungen, Archivstudien und Vernetzungen mit anderen Personen führte zur Publikation von einigen Einzelkarten und vom »Kunsthistorischen Atlas der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien« (1916) mit 19 Plänen und 304 Seiten Text. In den Karten bedeuteten unterschiedliche Farben verschiedenen Stilepochen. So verwendete Hassinger zum Beispiel die Farben Rot für romanische, rosa für gotische und hellbraun für barocke Bauten.

18 Hugo Hassinger, Wiener Heimatschutz- und Verkehrsfragen (Wien 1912) 35. 19 Die morphogenetische Stadtgeographie »hat die Analyse der Grundriss- und Aufrissgestaltung der Städte sowie die Genese der Formenelemente zum Forschungsgegenstand«. Heinz Heineberg, Stadtgeographie (Paderborn 2006) 16. 20 Zu diesem Gedanken siehe auch: Marianne Klemun, Historismus/Historismen – Geschichtliches und Naturkundliches: Identität – Episteme – Praktiken, in: Christine Ottner/Gerhard Holzer/Petra Svatek, Wissenschaftliche Forschung in Österreich 1800–1900. Spezialisierung, Organisation, Praxis (Schriften des Archivs der Universität Wien 21, Göttingen 2015) 24–30. 21 Hugo Hassinger, Kunsthistorischer Atlas der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien und Verzeichnis der erhaltenswerten historischen Kunst- und Naturdenkmale des Wiener Stadtbildes (Österreichische Kunsttopographie XV, Wien 1916) 8. 22 Max Dvořák, Vorwort, in: Hugo Hassinger, Kunsthistorischer Atlas der k. k. Reichshauptund Residenzstadt Wien und Verzeichnis der erhaltenswerten historischen Kunst- und Naturdenkmale des Wiener Stadtbildes (Österreichische Kunsttopographie XV, Wien 1916), S. I; Hassinger, Kunsthistorischer Atlas (wie Anm. 21) 6.

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Raumkonstrukt »Europa« Am Geographischen Institut der Universität Wien setzten sich vor allem Hugo Hassinger und Erwin Hanslik mit der Gliederung Europas auseinander. 1917 publizierte Hassinger in den Mitteilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft den Artikel »Das geographische Wesen Mitteleuropas«, in dem er auch die kleine Karte »Europas Naturgebilde« abbildete. Sie zeigt in unterschiedlichen Schraffen diverse von Hassinger festgelegte Regionen Europas: Atlantisch- oder Westeuropa, Süd- oder Mittelmeereuropa, Mitteleuropa, Baltischeuropa und Kontinental- oder Osteuropa. Obwohl er sie durch naturräumliche Faktoren voneinander abgrenzte, besteht an seiner politischen Intention kein Zweifel. »Mitteleuropa« gliederte Hassinger in ein bestehendes und ein werdendes, heranreifendes (Serbien, Rumänien, Bulgarien) »Mitteleuropa« mit der Richtung des geringsten politischen Widerstandes23. Diese Theorie lag »eine, dem Imperialismus der europäischen Großmächte verhaftete und auch den realpolitischen Verhältnissen im Ersten Weltkrieg durchaus nahekommende Ideologie zugrunde«24, indem das werdende »Mitteleuropa« als eine Art »Ergänzungsraum« für die Wirtschaft angesehen wurde. Hier haben wir es mit einem Beispiel zu tun, bei dem Hassinger weder Begehungen in der Natur noch Archivstudien durchführte. Seine eigenen Überlegungen zum Thema bauten auf bereits publizierten Werken und die allgemeine Diskussion über »Mitteleuropa« auf. Gerade während des Ersten Weltkrieges erlebte die Auseinandersetzung um die Lage »Mitteleuropas« ihren Höhepunkt, als unter anderem der Berliner Reichstagsabgeordnete Friedrich Naumann (1860–1919) in seinem Buch »Mitteleuropa« (1915) einen wirtschaftspolitisch ausgerichteten Staatenbund vorschlug. Dieser sollte vor allem aus Deutschland und Österreich-Ungarn bestehen und anschließend sukzessive aus weiten Teilen Zentral- und Südosteuropas. Demgegenüber schlug Albrecht Penck, Ordinarius für Geographie der Universität Berlin, ein »Zwischeneuropa« vor, das von Skandinavien bis Griechenland reichen sollte25. Hassinger veröffentlichte einen 23 Hugo Hassinger, Das geographische Wesen Mitteleuropas. Mitteilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft in Wien 60 (1917) 478. 24 Čede/Fleck, Mitteleuropabegriff (wie Anm. 4) 20. Diese Region wurde schließlich während des Nationalsozialismus als wichtiger »Ergänzungsraum« für die Wirtschaft des Deutschen Reiches angesehen. Siehe zum Beispiel: Carl Freytag, Deutschlands »Drang nach Südosten«. Der Mitteleuropäische Wirtschaftstag und der »Ergänzungsraum Südosteuropa« 1931–1945 (Göttingen 2012). 25 Ebd. 18–19.

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kritischen Überblick über die bis 1917 zu »Mitteleuropa« getätigten Forschungen, was ein genaues Studium der bisher erschienenen Literatur voraussetzte. Diese kritische Auseinandersetzung mit der Literatur ist bei Hanslik zumindest in seinen beiden 1917 verfassten Büchern »Österreich: Erde und Geist« und »Österreich als Naturforderung« kaum vorhanden. Seine Ausführungen basieren vor allem auf eigenen Überlegungen, die ethnische Aspekte, Geopolitik und Geodeterminismus miteinander verbanden und im Kontext des 1915 in Wien gegründeten »Instituts für Kulturforschung« entstanden. Hanslik leitete das Institut, das viele Mitglieder aus den Bereichen Kunst, Kultur und Wirtschaft in sich vereinen konnte (Adolf Loos, Gustav Klimt, Victor Ritter von Braun, Edmund Küttler, Otto Wagner u. a.). Man setzte sich zum Ziel, die Kulturen der Erde objektiv zu analysieren und einen Beitrag zur praktischen Kulturpolitik zu leisten26. Die Karten erschienen in Kooperation mit Alfred Roller (1864–1935), Direktor der Kunstgewerbeschule und Präsident der Wiener Sezession27. Hassingers »Mitteleuropakonstrukt« lehnte Hanslik ab. Er war der Meinung, dass »Mitteleuropa« ein verschwommenes Gebilde wäre, das eigentlich nicht existieren könnte28. Stattdessen gliederte Hanslik Europa in einen westlichen und einen östlichen Teil, wobei der Osten in die österreichische oder Donau­tafel und in die Wolga-Tafel aufgeteilt wäre29. An der Grenze zwischen West und Ost verortete er die deutsch-slawische Sprachgrenze. Somit stellte die »Donautafel« bei ihm auch so eine Art »Mitteleuropa« dar, die er in seinen vielen Karten allerdings kaum visualisierte. Ausgenommen ist zum Beispiel seine Karte »Das österreichische politische System im Raume« (Abb. 3), worin er die reifen österreichischen Kernländer sowie werdende (Polen, Ungarn, Galizien und Südslawien) und unverbundene Gebiete (Serbien, Bulgarien, Rumänien und Albanien) darstellte30. Die Intensivität ihrer Eintragung sagt dabei etwas über den Entwicklungsstand der Region aus. Andere Karten (»Die Kulturgemein26 Zum Institut für Kulturforschung siehe: Erwin Hanslik, Das Institut für Kulturforschung (Wien 1916); Johannes Feichtinger, Kulturwissenschaften.at. Varianten, Traditionen und Entwicklungen in Österreich. Ein Essay, in: Steffen Höhne, Kulturwissenschaft(en) im europäischen Kontext. Fachhistorische Entwicklungen zwischen Theoriebildung und Anwendungsorientierung (Kulturwissenschaft(en) als interdisziplinäres Projekt 6, Frankfurt am Main 2013) 115–116. 27 Erwin Hanslik, Österreich: Erde und Geist (Schriften des Instituts für Kulturforschung 3, Wien 1917), Anhang. 28 Ebd. 97–98. 29 Ebd. 19. 30 Erwin Hanslik, Österreich als Naturforderung (Schriften des Instituts für Kulturforschung 4, Wien 1917), Anhang.

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schaften der europäischen Völker«31 u. a.) zeigen wiederum kurioserweise ein viel größeres Europa. Hanslik verortete Europas Grenzen im Osten aufgrund naturräumlicher Faktoren bei Himalaya, Tienschan und Altai. Im Süden dehnte er Europa bis zu jenen Gebieten aus, wo die geschlossene tropische Pflanzen­decke beginnen würde32. Hanslik verstand seine Karten und Forschungen eindeutig als »angewandte Kriegsforschung«33. Seine »megalomanen politischen Großraumvorstellungen« trugen ohne Zweifel »zum zeitgenössischen politisch-geographischen Diskurs und imperialen Herrschaftsdenken«34 bei. Er wollte Politiker und Wirtschaftstreibende vor oberflächlichem und fehlerhaftem Verstehen bewahren35.

31 Die Karte ist abgebildet in: Petra Svatek, Geopolitische Kartographie in Österreich 1917–1937. Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft 157 (2015) 310. 32 Hanslik, Erde und Geist (wie Anm. 27) 87. Siehe auch: Hans-Dietrich Schultz, Europa, Russland und die Türkei in der »klassischen« deutschen Geographie, in: Paul Reuber/Anke Strüver/Günter Wolkersdorfer, Politische Geographien Europas – Annäherung an ein umstrittenes Konstrukt (Berlin 2012) 40–41. 33 Feichtinger, Kulturwissenschaften (wie Anm. 26) 116. 34 Norman Henniges, »Naturgesetzte der Kultur«: Die Wiener Geographen und die Ursprünge der »Volks- und Kulturbodentheorie«. ACME: An International E-Journal for Critical Geographies 14/4 (2015) 1343. 35 Erwin Hanslik, Die Kulturpflichten Wiens und Österreich-Ungarns (Schriften des Instituts für Kulturforschung 2, Wien 1914) 11.

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Abb. 3: Erwin Hanslik, Karte »Das österreichische politische System im Raume« (UBW I-419944/3).

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Das Geographische Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin im Vergleich In der Kartographie liegen die Unterschiede zwischen den Wiener und Berliner Geographen eindeutig in der Internationalisierung und in der Politisierung. Die beiden maßgebenden Universitätsprofessoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Ferdinand von Richthofen und Heinrich Kiepert, gingen gegenüber ihren Wiener Kollegen eine intensivere Vernetzung mit ausländischen Wissenschaftlern ein und haben auch selbst mehr Forschungsreisen ins Ausland unternommen. Ihren Fokus legten sie dabei nicht auf Mitteleuropa, sondern auf außereuropäische Gebiete (Asienforschungen Richthofens, kartographiebezogene Kooperationen zwischen Kiepert und diversen Forschungs- und Entdeckungsreisenden u. a.). Diese Forschungen konnten auch für die Politik als Quelle herangezogen werden. So halfen zum Beispiel Richthofens Berichte und Karten über die Kiautschou-Bucht bei der Etablierung eines deutschen Marinestützpunktes36. Im Gegensatz zu Richthofen können bei Kiepert einige Karten ausfindig gemacht werden, die »Mitteleuropa« zeigen. Den thematischen Fokus legte er dabei auf Ethnien und Sprachen. Zu den bekanntesten zählen die »Völker- und Sprachen-Karte von Deutschland und der Nachbarländer« (1867), die »Völkerund Sprachen-Karte von Österreich und den Unter-Donau-Ländern« (1867), die »Ethnographische Übersicht des Europäischen Orients« (1876) und die »Übersichtskarte der Verbreitung der Deutschen in Europa« (1887). Sie entstanden zum großen Teil im Kontext politischer Ereignisse. So stellte Kiepert die ersten beiden Karten nach dem Sieg Preußens über Österreich im Deutschen Krieg (1866) und der damit verbundenen Umstrukturierung der Habsburgermonarchie her. Die »Ethnographische Übersicht des Europäischen Orients« publizierte er im Zuge der Auseinandersetzungen auf der Balkanhalbinsel, die in den Russisch-türkischen Krieg von 1877/78 mündeten. Die verschiedenen Ethnien und Sprachen sind in allen Karten durch unterschiedliche Farben visualisiert. Die Kartenherstellung erfolgte durch die Auswertung von statistischen Daten und auf Grundlage anderer Kartenwerke. Kiepert zog auf jeden Fall die »Ethnogra36 Ute Wardenga, Ferdinand von Richthofen als Erforscher Chinas. Ein Beitrag zur Entstehung und Verarbeitung von Reisebeobachtungen im Zeitalter des Imperialismus. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 13 (1990) 141–155; Hans-Dietrich Schultz, »Geben Sie uns eine scharfe Definition der Geographie!« Ferdinand v. Richthofens Anstrengungen zur Lösung eines brennenden Problems, in: Bernhard Nitz/Hans-Dietrich Schultz/Marlies Schulz, 1810–2010: 200 Jahre Geographie in Berlin (Berliner Geographische Arbeiten 115, Berlin 2010) 59–97.

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phische Karte der oesterreichischen Monarchie« (1856) von Carl Freiherr von Czoernig (1804–1889), der die k. k. Direktion der administrativen Statistik leitete, und die »Sprachkarte von Deutschland« (1843) des deutschen Bibliothekars und Politikers Karl Bernhardi (1799–1874) heran37. Albrecht Penck war jener Geograph, der bis in die Mitte der 1920er Jahre die meisten Karten anfertigte, worauf »Mitteleuropa« oder Teile davon abgebildet wurden. Er hatte von 1885 bis 1906 eine Professur für Geographie in Wien und anschließend bis 1926 in Berlin inne. Penck fokussierte sich bis in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auf geologische und geomorphologische Karten. Während seiner Leipziger und Münchener Zeit arbeitete er an den geologischen Aufnahmen von Sachsen und des Alpenvorlandes mit, die ihren Ausgang vor dem Hintergrund der sich gerade verstärkenden Inlandeiskontroverse ab den 1870er Jahren nahmen38. Während seiner Wiener Professur blieb er diesen Forschungen treu, wobei die drei mit Eduard Brückner herausgegebenen Bände »Die Alpen im Eiszeitalter« (1909)39 samt ihren Karten erst während seiner Tätigkeit in Berlin erschienen. Sie können daher durchaus auch als Berliner und Wiener Gemeinschaftswerk angesehen werden. Die Arbeitsweise bestand neben dem Studium bereits vorhandener Literatur vor allem in Geländebegehungen, verbunden mit Kartierungen der geologischen und morphologischen Verhältnisse. Weitere Veröffentlichungen folgten, wie zum Beispiel die Studien über die Terrassen des Inn- und Isartales. Zudem transferierte Penck sein in Wien erworbenes Wissen über das Deutschtum nach Berlin40, wo er daraus die deutsche Volks- und Kulturbodentheorie entwickelte. Die ersten Karten zum Deutschtum veröffentlichte er nach dem Ersten Weltkrieg. Ende 1918 initiierte Penck einige Studien, die die ethno37 Johannes Dörflinger, Zu den Sprachen- und Völkerkarten von Heinrich Kiepert, in: Lothar Zögner, Antike Welten, neue Regionen: Heinrich Kiepert 1818–1899 (Berlin 1999) 31–43. 38 Norman Henniges, Die Spur des Eises. Eine praxeologische Studie über die wissenschaftlichen Anfänge des Geologen und Geographen Albrecht Penck (1858–1945) (Beiträge zur regionalen Geographie 69, Leipzig 2017). 39 Albrecht Penck/Eduard Brückner, Die Alpen im Eiszeitalter. Die Eiszeiten in den nördlichen Ostalpen (Leipzig 1909); Albrecht Penck/Eduard Brückner, Die Alpen im Eiszeitalter. Die Eiszeiten in den nördlichen Westalpen (Leipzig 1909); Albrecht Penck/Eduard Brückner, Die Alpen im Eiszeitalter. Die Eiszeiten in den Südalpen und im Bereich der Ostabdachung der Alpen (Leipzig 1909). 40 Mehr zu diesem Thema siehe: Henniges, Naturgesetzte der Kultur (wie Anm. 34) 1336–1343; Norman Henniges, »Sehen lernen«: Die Exkursionen des Wiener Geographischen Instituts und die Formierung der Praxiskultur der geographischen (Feld-)Beobachtung in der Ära Albrecht Penck (1885–1906). Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft 156 (2014) 141–170.

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graphischen Verhältnisse im östlichen Deutschen Reich und in Polen im Fokus hatten. Im Mai 1919 sandte er zum Beispiel die Karte über die Netze-Warthe Region an die deutsche Regierung, um einen aktiven Beitrag zu den Pariser Friedensverhandlungen leisten zu können. Wir haben es hier eindeutig mit einem Beispiel zu tun, bei dem die Initiative zur Herstellung von politisch bedeutenden Karte nicht von der Politik, sondern von einem Wissenschaftler ausgegangen war, der seine Forschungen bereitwillig ohne Auftragserteilung zur Verfügung stellen wollte41. Doch wurden die Karten Pencks im Zuge der Pariser Friedensverhandlungen von der deutschen Regierung wenig beachtet42. Auch in den folgenden Jahren publizierte Penck Karten zum Deutschtum, wie zum Beispiel seine zusammen mit dem Kartographen und Assistenten des Geographischen Instituts Herbert Heyde entworfene »Karte der Verbreitung der Deutsch- und Polnisch-Sprechenden auf Grund der Volkszählung vom 1. Dezember 1910«43. Die methodische Vorgehensweise bestand bei allen Karten vor allem in der Auswertung von Volkszählungsergebnissen. Im Jahre 1925 entwickelte Penck schließlich seine bekannt gewordene S­ tudie zum »Deutschen Volks- und Kulturboden«44. »Deutscher Volksboden entstand Penck zufolge überall dort, wo Deutsche geschlossen siedelten, deutscher Kulturboden, wo andere Völker angeblich zur Entwicklung eines eigenen Kulturlandschaftsstils unfähig gewesen seien und den deutschen Stil kopiert hätten«45. Die dazu veröffentlichte Karte entstand in Kooperation mit dem Kartographen der Zeitschrift »Volk und Reich« Arnold Hillen Ziegfeld (1894–1964). In ihr wurden der deutsche Volksboden in schwarz und der deutsche Kulturboden schraf41 Zu diesem Ansatz siehe: Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas, Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten (Wiesbaden 2002) 32– 51; Ders., Wissenschaft und Politik. Eine Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert. Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010) 11–46; Ders., Reflexionen zum Ressourcenansatz, in: Sören ­Flachowsky/Rüdiger Hachtmann/Florian Schmaltz, Ressourcenmobilisierung und Forschungspraxis im NS-Herrschaftssystem (Göttingen 2016) 535–553; usw. 42 Guntram Henrik Herb, Under the map of Germany. Nationalism and Propaganda 1918–1945 (London/New York 1997) 22–25. 43 Albrecht Penck, Die Deutschen im polnischen Korridor. Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 56 (1921) 169–185. 44 Albrecht Penck, Deutscher Volks- und Kulturboden, in: Karl Christian von Loesch, Volk unter Völkern. Bücher des Deutschtums 1 (Breslau 1925) 62–73. Die »Karte des deutschen Volks- und Kulturbodens« ist unter anderem auch abgebildet in: Schultz, Geographie (wie Anm. 1) 666. Zu dieser Studie siehe auch Hans-Dietrich Schultz, Albrecht Penck: Vorbereiter und Wegbereiter der NS-Lebensraumpolitik? E&G Quaternary Science Journal 66 (2018) 121–124. 45 Schultz, Geographie (wie Anm. 1) 666.

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fiert dargestellt, während die übrigen Gebiete weiß erscheinen. Sie reichte vom südlichen Dänemark im Norden bis nach Norditalien im Süden und vom östlichen Frankreich im Westen bis ins östliche Polen und Rumänien im Osten und beinhaltete daher auch einen großen Teil von »Mitteleuropa«. Karte und Studie wurden in den Folgeverfahren von vielen Wissenschaftlern und Institutionen als Ausgangspunkt für eine weitere Erkenntnisgewinnung zu diesem Thema herangezogen. So erscheinen zum Beispiel in der österreichischen Zeitschrift »Grenzland«, die ab 1925 vom Deutschen Schulverein Südmark herausgegeben wurde, immer wieder Karten (»Deutscher Volks- und Kulturboden im südosteuropäischen Raum« u. a.), welche jene von Penck als Vorbild hatten46. Zudem lieferte Penck mit seiner Theorie auch wichtige Argumente für die nationalsozialistische Expansions- und »Lebensraumpolitik«47.

Schlussbetrachtung Die in diesem Artikel angeführten Beispiele verdeutlichen, dass von den 1840er bis in die 1920er Jahre zwischen den Geographischen Instituten der Universitäten Wien und Berlin kaum Gemeinsamkeiten vorhanden waren, was die kartographische Visualisierung »Mitteleuropas« oder eines Teiles davon anbelangte. Während in Berlin zu diesem Thema bis in die 1920er Jahre weitaus weniger Karten hergestellt wurden, kann in Wien bereits mit dem ersten Lehrstuhl ab 1851 eine rege Forschungstätigkeit zu mitteleuropäischen Gebieten festgestellt werden. Dafür leisteten die wenigen Berliner Karten einen Beitrag zur damaligen Politik. Eine Angleichung kam erst während der 1930er Jahre zustande, als Hugo Hassinger die Professur für Kulturgeographie an der Universität Wien übernommen hatte, und die Forschungen sowohl in Wien als auch in Berlin zunehmend unter dem Einfluss der nationalsozialistischen »Lebensraum«- und Expansionspolitik standen.48

46 Siehe dazu auch: Svatek, Geopolitische Kartographie (wie Anm. 31) 311–313; Petra Svatek, Zeitschrift Grenzland, in: Michael Fahlbusch/Ingo Haar/Alexander Pinwinkler, Handbuch der völkischen Wissenschaften. Forschungskonzepte – Institutionen – Organisationen – Zeitschriften (Berlin 2017) 2081–2084. 47 Eine kritische Auseinandersetzung darüber befindet sich in: Schultz, Penck (wie Anm. 44) 117–127. 48 Eine umfangreiche vergleichende Studie zu den Geographischen Instituten der Universitäten Wien und Berlin 1919–1945 ist von der Autorin in Vorbereitung!

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Betrachtet man die Forschungspraxis der einzelnen Geographen, so können viele verschiedene Ansätze gefunden werden. Wie zum Beispiel bereits Kristian Köchy formulierte, »dass Feldforschung nicht gleich Feldforschung«49 wäre, sind auch bei den Feldforschungen Simonys unterschiedliche Qualitätsansprüche und Arbeitsweisen feststellbar. Doch besaß in allen Fällen das »Kartieren« als übergeordneter Begriff eine zentrale Bedeutung. Andere Geographen erhielten ihr Wissen für Karten mitteleuropäischer Gebiete durch »kondensierende und kopierende Schreibarbeit«50 aus Bibliotheken und Archiven.

49 Kristian Köchy, Feld, in: Marianne Sommer/Staffan Müller-Wille/Carsten Reinhardt, Handbuch Wissenschaftsgeschichte (Stuttgart 2017) 259. 50 Markus Friedrich/Helmut Zedelmaier, Bibliothek und Archiv, in: Marianne Sommer/Staffan Müller-Wille/Carsten Reinhardt, Handbuch Wissenschaftsgeschichte (Stuttgart 2017) 273.

Herbert Wurster

Von Archiv bis Zwang Aufklärung im Fürstbistum Passau

Abstract: The following text covers the theme enlightenment in the Prince-Bishopric and diocese of Passau. The text affirms that Passau was a pioneer in the years of enlightenment and afterwards a major centre of enlightened reform in the second half of the eighteenth century. However, it also emphasizes on the fact that early as well as later the diocesan administration as well as the secular bishopric administration achieved their religious and political objectives. Thereby, the administration was used to enforce continuity in Catholic liturgical practices, pastoral and religious education, which prevented reformatory ideas from finding their way into the Bishopric of Passau. The early elaborated administrative system was thus used as a means of control and was further standardized and modernized according to enlightened fashion.

Das Thema »Aufklärung im Fürstbistum Passau«1 haben bisher wohl am umfassendsten Walter Hartinger, der frühere Ordinarius für Volkskunde an der Universität Passau, und Konrad Baumgartner, der frühere Ordinarius für Pastoraltheologie an der Universität Regensburg, untersucht. Baumgartner resümierte in seiner großen Studie zur Pastoral im Bistum Passau: »Passau zählt mit seinen Reformfürstbischöfen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem der Hauptschauplätze aufgeklärter Reformen; gingen doch von hier manche entscheidenden Anregungen aus für die Erneuerung der Theologie, der Pastoral und der Volksbildung im süddeutschen Raum«2. In einem zusammenfassenden Artikel resümiert Hartinger ähnlich: »Die Passauer Fürstbischöfe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren samt und sonders mehr oder weniger entschiedene Vertreter der Aufklärung und orientierten sich aus Überzeugung und 1

Der Text enthält ein Exposé meines Vortrags, den ich auf dem 56. Colloquium der Germania Sacra, Katholizismus zwischen Konfessionalisierung und Aufklärung, Passau 26.-27.04.2013, gehalten habe. 2 Vgl. Konrad Baumgartner, Die Seelsorge im Bistum Passau zwischen barocker Tradition, Aufklärung und Restauration, Münchener Theologische Studien I: Hist. Abt. 19 (St. Ottilien 1975) 17. – Walter Hartinger, Kirchliche Frühaufklärung in Ostbayern, in: Ostbairische Grenzmarken. Passauer Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Volkskunde 27 (1985) 142–157, sowie Ders. Die katholische Aufklärung und das Fürstbistum Passau, in: Grenzenlos. Geschichte der Menschen am Inn (Katalog zur ersten Bayerisch-Oberösterreichischen Landesausstellung 2004. Asbach – Passau – Reichersberg) hg, von Egon Boshof u. a., (Regensburg 2004) 184–189.

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nicht gezwungen etwa an den einschlägigen Maßnahmen eines Kaisers Joseph II. von Österreich«3. Hartinger hat auch herausgearbeitet, dass in Passau schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Frühaufklärung Einzug gehalten hatte4. Das ist sicher richtig. Im Folgenden soll aber vor allem herausgearbeitet werden, dass sowohl diese Frühaufklärung wie auch die Aufklärung sich im Bistum Passau ganz entschieden der geistlichen Diözesanverwaltung und der weltlichen Hochstiftsverwaltung bedienten, um ihre kirchenpolitischen Ziele zu erreichen. Diese Form der Verwaltung erlebte im 18. Jahrhundert keinen Neuanfang oder gar einen Bruch, sondern diente den neuen Zwecken und Zielen in Fortentwicklung ihrer bisher gebräuchlichen Traditionen. Leider wurde noch keine durchgängige Verwaltungsgeschichte des Hochstifts oder gar des Fürstbistums Passau geschrieben, doch versteht sich von selbst, dass das in seinem diözesanen Ausmaß riesige Donaubistum Passau schon im Mittelalter eine gut funktionierende und strukturierte Verwaltung aufgebaut hatte5. Im 16. Jahrhundert wurde diese auf die Höhe der Zeit gebracht und ein Hofrat als Zentralorgan der geistlichen passauischen Regierungstätigkeit eingesetzt6; dies bedeutete, dass damals im Hochstift am Ende des 16. Jahrhunderts bereits unter Fürstbischof Urban von Trennbach eine moderne, flächendeckende Landgerichtsorganisation aufgebaut worden war7 und im frühen 17. Jahrhundert die Verwaltungsspitze der Diözesanleitung beständig weiterentwickelt wurde8. Diese gut funktionierende »Maschinerie«, die nach rationalen Gesichtspunkten aufgebaut und strukturiert war, nützte bereits Fürstbischof Urban von Trennbach dazu, sein weltliches Territorium, voran die Residenzstadt Passau, im katho­ lischen Glauben in einer schwierigen Zeit zu bewahren, während hingegen die evangelische Bewegung im österreichischen Diözesangebiet den allergrößten 3 Hartinger, Aufklärung (wie Anm. 2) 185. 4 Vgl. Hartinger, Frühaufklärung (wie Anm. 2). 5 Hierzu bei Herbert Wurster, Bistum Passau und seine Geschichte (Strasbourg 2010) 60 f., 67 f., 73; Ders., Die fürstbischöflich-passauische Diözeseverwaltung in Niederösterreich, in: Heidemarie Bachhofer (Hg.), Neue Forschungen zur Geschichte der Pfarre Tulln-St. ­Stephan. Ein Beitrag zum 100-Jahr-Jubiläum (Beiträge zur Kirchengeschichte Niederösterreichs 17, St. ­Pölten 2014) 39–56. 6 Marc von Knorring, Die Hochstiftspolitik des Passauer Bischofs Wolfgang von Salm (1541– 1555), in: Neue Veröffentlichungen des Instituts für ostbairische Heimatforschung 57 (Passau 2006) 42–48; HA Passau 365–372. 7 HA Passau bes. 106–108. 8 Rudolf Zinnhobler (Hg.), Die Passauer Bistumsmatrikeln, 6 Bde. mit 7 Teilen, unter Mitarbeit v. Ernst Douda, Friedrich Schragl, Edmund Tanzer, Johann Weissensteiner. Neue Veröffentlichungen des Instituts für Ostbairische Heimatforschung 31a-31c; 45a/1–45a/2; 45b-45c (Passau 1972–1996) Bistumsmatrikeln IV/1, bes. 53–64; 107–109.

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Teil der Bevölkerung damals erfasst hatte9. Um dies umzusetzen, ließ Bischof Urban in Passau nur solche Personen als Neubürger zu, die einen »Beichtzettel« vorweisen konnten und er verpflichtete des Weiteren alle Bürger der Stadt dazu, der städtischen Verwaltung jährlich den Beichtzettel vorzulegen. Der bischöfliche Hofrat überwachte die städtische Listenführung genau und wer über längere Zeit säumig war, gegen den wurde nachweislich vorgegangen.

Abb. 1: »Beichtzettel«, Wurster Herbert W., Das Bistum Passau und seine Geschichte (Strasbourg: Editions du Signe 2010) 105, Abb. 16 (Vorlage: BHStA München, HP, BlK 35, Nr. 4, Fasz. 19).

Bis weit ins 17. Jahrhundert dauerte diese Praxis an10, mit dem Ergebnis, dass das Bürgertum der Stadt Passau geschlossen katholisch (wurde und) blieb. Wichtige Neuerungen der aufgeklärten Verwaltungspraxis wie Kontrolle, Vereinheitlichung, Normierung durch routinemäßiges Verwaltungshandeln wurden damals also in Passau bereits praktiziert und waren schon Thema der Verwaltungsorganisation. – Im späteren 17. Jahrhundert wurde dieser Prozess weiter vorangetrieben, nun aber in dem im engeren Sinne religiösen und kirchlichen Bereichen: Bei den Pfarreien, hinsichtlich der Verfügungsrechte des Bischofs   9 Zur evangelischen Bewegung im Bistum immer noch gültig Karl Eder, Studien zur Reformationsgeschichte Oberösterreichs, 2 Bde. (Linz 1933–1936). 10 Dazu s. Gertraud Eichhorn, Beichtzettel und Bürgerrecht in Passau, 1570–1630. Die administrativen Praktiken der Passauer Gegenreformation unter den Fürstbischöfen Urban von Trenbach und Leopold I., Erzherzog von Österreich. Neue Veröffentlichungen des Instituts für Ostbairische Heimatforschung der Universität Passau 48 (Passau 1997).

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vereinheitlichte man nun die traditionellen, historisch gewachsenen und daher sehr unterschiedlichen Rechtsformen11, um eine gleichförmige Steuerung zu ermöglichen. Symptomatischen Ausdruck fand dieses Procedere in der ersten Diözesankarte von 169212. Die Einführung des Katechismus im Jahre 1674 normierte den Religionsunterricht; die Pastoralinstruktion von 1675 umriss Seelsorge und die Spendung der Sakramente13, wofür die »Agenda Seu Rituale Passaviense« von 1665 die Grundlage lieferte. Sie wurde nun in Übereinstimmung mit dem »Rituale Romanum« gebracht, während der Vorläufer der Agende, der »Actus Sacerdotalis« von 1587, noch vom überlieferten, diözesanen Eigengebrauch geprägt gewesen war14. Fürstbischof Johann Philipp Kardinal Graf von Lamberg veröffentlichte 1689 erstmals das »Proprium Sanctorum« und vereinheitlichte so auch die Heiligenverehrung in der gesamten Diözese15. Es wurden somit nachweislich die normativen Grundlagen für das religiöse Leben der Diözese Passau damals bereits neu fundiert, womit Fürstbischof Johann Philipp im Hochstift schon sehr früh in Bayern einen umfangreichen, verwaltungstechnischen Modernisierungsschub leistete, welchen – zum Vergleich – Bayern erst als Königreich im Verlauf des 19. Jahrhunderts, nach der Säkularisation und der Revolution von 1848 vollziehen konnte. Johann Philipp verdichtete nämlich zusätzlich seine Landesherrschaft durch Aufkauf adeliger Güter und Rechte, und legte so den Grundstein für eine geschlossene fürstbischöfliche Landesherrschaft mit einheitlichem Untertanenverband und direkten Durchgriffsmöglichkeiten der landesfürstlichen Regierung16. Diese Regelungsdichte blieb nicht ohne Erfolge. Ein ästhetisch herausragendes Beispiel dafür ist das Stadtbild von Passau, weil die Fürstbischöfe für deren Wiederaufbau nach den Stadtbränden von 1662 und 1680 eine Bauvorschrift erließen, die einen einheitlichen Aufbau der Stadt anordnete und damit der Stadt Passau ein einheitliches, modernes Stadtbild gaben, welches für sie noch heute charakteristisch ist. Es ist von einem italienischen Einschlag geprägt, der selbstverständlich mit den damaligen Kunsteinflüssen von jenseits der Alpen zusammenhing, tatsächlich aber vor allem aus diesen Vorschriften gleichsam 11 12 13 14 15 16

Wurster, Bistum Passau (wie Anm. 5) 120. Wurster, Bistum Passau (wie Anm. 5) 118. Wurster, Bistum Passau (wie Anm. 5) 120 f. Wurster, Bistum Passau (wie Anm. 5) 108. Wurster, Bistum Passau (wie Anm. 5) 200, Nr. 4.33. Vgl. hierzu detailliert Herbert Wurster, Implevit orbem fama. Johann Philipp Kardinal Graf von Lamberg, Fürstbischof von Passau 1689–1712, Prinzipalkommissar zu Regensburg 1699– 1712, in: Kulturarbeit und Kirche. Festschrift Msgr. Dr. Paul Mai zum 70. Geburtstag (Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 39, Regensburg 2005) 101–117.

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herausgewachsen ist und offenkundig macht, dass die damals vorgegebenen Bauprinzipien für die frühneuzeitliche Inn-Salzach-Stadt beim Neubauprozess geschlossen und umfassend umgesetzt und verwirklicht wurden17. So war also schon im frühen 18. Jahrhundert im Fürstbistum Passau eine effektive Verwaltung aufgebaut worden, die die weltliche wie religiöse Lebensführung der Untertanen im Hochstift wie aller Christen im Bistum kontrollieren, bewerten und erfolgreich lenken wollte und oft auch konnte. Dominante Werte und Prinzipien im Ordinariat waren Rationalität, Effektivität, Sittlichkeit und Moral, Bildungsbeflissenheit sowie Einheitlichkeit – gemeint ist hier vor allem die Vereinheitlichung der Verwaltungspraxis18. Diese Werte wird man als aufklärerisch bezeichnen dürfen. Sie wurden im Verlauf des Jahrhunderts in ihrer verwaltungstechnischen Umsetzung noch gesteigert. Das barocke Glaubenserleben, vor allem auch außerhalb der jeweils zuständigen Pfarrkirchen, – nämlich das Gemeinschaftserlebnis der Wallfahrt, das sinnenfrohe geistliche Spiel, die Vielfalt der überlieferten Formen der entstandenen und entstehenden Bruderschaften, das greifbare Brauchtum und Sakramentale – alles musste in den Augen der Diözesanleitung nun zurücktreten hinter den verstandesmäßigen Aspekten einer neuen Form des Glaubenswissens und der Belehrung durch die sonntägliche Pfarrpredigt, den streng gelenkten Andachten und veränderten Gebetsformen19. Man wird dies nicht nur negativ sehen dürfen – die dauernde Kontrolle hat eben doch auch mögliche Auswüchse des volkstümlichen Glaubenslebens verhindert. Denn das Engagement der Menschen, nicht zuletzt selbst der staatlichen Verwaltungen, der bürgerlichen Obrigkeiten in den Städten und Märkten, und auch die meist von der Haltung des Ordinariats abweichende Ausrichtung der Klöster haben letztendlich die Blüte des Barock getragen. Die Blüte des Barock erwuchs wohl doch aus der Vereinigung der Vernunft mit den Sinnen. Daher kann uns heute Fürstbischof Joseph Dominikus Kardinal Graf von Lamberg (1723–1761) sowohl als religiöser Skrupulant, als auch

17 Herbert Wurster, Phönix aus der Asche. Brand und Barockstadt – Passau 1662, in: Franz-Reiner Erkens (Hg.), Nur Eitelkeit auf Erden? Das Zeitalter des Barock an der bayerisch-österreichischen Donau. Veröffentlichungen des Instituts für Kulturraumforschung Ostbaierns und der Nachbarregionen der Universität Passau 67 (Passau 2013) 8–24. 18 Dazu s. Philipp Schäfer, Aufklärung in Passau, in: Ostbairische Grenzmarken. Passauer Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Volkskunde 42 (2000) 101–114; Hartinger Aufklärung (wie Anm. 2). 19 Hartinger, Aufklärung (wie Anm. 2); Wurster, Implevit (wie Anm. 16) bei Anm. 46.

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als entschiedener Gegenreformator und als bedeutender Vertreter der Aufklärung erscheinen20. Im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit dem sogenannten Kryptoprotestantismus – also der versteckten Religionsausübung von Protestanten entgegen den Maßnahmen der Rekatholisierung der Bevölkerung im Bistum – griff er aber auch bei den Transmigrationen auf die staatliche Gewalt zurück21, und dies galt sicher nicht als »Bruch« in der eigenen, von ihm vertretenen Haltung, sondern es war wohl die letzte Konsequenz gegenüber »Verstockten«, denen die richtige Einsicht aus Sicht des Kardinals fehlte. Die rationale, aufgeklärte Haltung der Diözesanleitung und -verwaltung manifestierte sich in einer Vielzahl von erhaltenen Berichten, Visitationsniederschriften, Protokollen, Auftragsschreiben und einem dadurch nachzuweisenden, geregelten bürokratischen Betrieb. Verwaltungs- und archivtechnisch nahmen die Belegbarkeit der Aussagen, die bürokratische Kontrollierbarkeit des Procedere daher immer mehr Gewicht an und brauchten auch mehr Platz im Archiv. So wurde das Archiv zu einem unübersehbaren Komplex innerhalb der fürstbischöflichen Verwaltung; hierfür wurden die »ersten Männer des Fürstbistums« bzw. hochrangige Spezialisten von außerhalb herangezogen. Zu nennen sind hier beispielsweise nur Philipp Wilhelm von Hörnigk, der bedeutende Wirtschaftstheoretiker, der unter Kardinal Johann Philipp von Lamberg zum Archivar wie auch zum Geschichtsschreiber Passaus werden sollte22. Weiters ist zu nennen Ludovico Antonio Muratori, der italienische Universalgelehrte, mit dem Kardinal Joseph Dominikus von Lamberg seit 1737 in näherer Beziehung stand; auch wenn er dessen kirchliche Reformvorschläge nicht übernahm, wurde er doch mit den modernen, wissenschaftlichen Bestrebungen von Muratori vertraut23, für die der Kardinal offensichtlich sehr offen war. Denn das zeigt sich bei dem nächsten hier anzuführenden

20 Rudolf Weiss, Das Bistum Passau unter Kardinal Joseph Dominikus von Lamberg (1723–1761). Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Krypto-Protestantismus in Oberösterreich. Münchener Theologische Studien I, 21 (St. Ottilien1979) 252, 444 f.; die aufklärerischen Züge arbeiten heraus: Hartinger, Aufklärung (wie Anm. 2) und Schäfer, Aufklärung (wie Anm. 18); Baumgartner, Seelsorge (wie Anm. 2) sieht bei Kardinal Joseph Dominikus keine aufklärerischen Züge. 21 Weiss, Joseph Dominikus (wie Anm. 20) 421–423. 22 Wurster, Implevit (wie Anm. 16); Konrad Amann, Ein Kameralist in Passauer Diensten: Philipp Wilhelm (von) Hörnigk, in: Ostbairische Grenzmarken. Passauer Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Volkskunde 42 (2000) 59–74. 23 Weiss, Joseph Dominikus (wie Anm. 20) 233.

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Namen, nämlich Anselm Desing (1699–1772)24, der spätere Abt des Benediktinerklosters Ensdorf in der Oberpfalz, der wohl der bedeutendste Gelehrte Bayerns zur damaligen Zeit gewesen sein dürfte. Er arbeitete wie Hörnigk am bischöflichen passauischen Archiv und hat wohl auch dessen Formierung beeinflusst; er wurde dann allerdings aufgrund der aktuellen politischen Umstände nicht zum Geschichtsschreiber der Diözese, weil nämlich seine Forschungsergebnisse in die staatspolitische Auseinandersetzung mit dem habsburgisch-lothringischen Kaiserhaus einflossen und Passau damals den Rückfall der habsburgischen Passauer Lehen nachdrücklich einforderte. – In den folgenden Jahrzehnten bis zur Säkularisation wurde die Erschließung der Passauer historischen Quellen wie des aktuellen Schriftguts im so bezeichneten »Staatsarchiv« beständig vorangetrieben25; die ebenso einfache wie funktionale Tektonik ist bis heute gültig26. Der Kryptoprotestantismus führt thematisch unweigerlich zur Geschichte des Archivs des Bistums Passau, denn von dieser religiösen Konfrontation gelangt man auch zum zweiten Schlagwort im Titel der hier vorgelegten Studie, nämlich zum Zwang. – Erst der zweite Nachfolger Kardinal Lambergs, Leopold Ernst Kardinal Graf von Firmian (1763–1783)27, setzte den von seinem kurzzeitigen Vorgänger eingeleiteten, tiefgehenden Wandel in der Seelsorge in die Wirklichkeit um. In der Tradition seines Vorvorgängers verstand sich Firmian als ein Seelsorgebischof, der durch viele Visitationen den wahren Zustand der Diözese erkennen wollte. Hatte Kardinal Joseph Dominikus Lamberg noch auf den Einsatz der Staatsgewalt vertraut, um Andersgläubige zur katholischen Kirche zurückzuführen, wollte Firmian, dass sein Wahlspruch non vi, sed amore, also »durch liebende Zuwendung, nicht mit Zwang«, nun zur Richtschnur für die Seelsorge werden sollte. Daher galt Firmians erste große Reformmaßnahme dem Seelsorgeklerus. Mit dem Hirtenbrief vom 17.06.1764 bestimmte er das Pastoralhandbuch des Löwener Pastoraltheologen Johannes Opstraet (1651– 1720), mit dem Titel »Pastor bonus«, erschienen Mecheln 1689, zum Leitbild 24 Manfred Knedlik, Georg Schrott (Hg.), Anselm Desing (1699–1772). Ein benediktinischer Universalgelehrter im Zeitalter der Aufklärung (Kallmünz 1999) 16 f., 62, 448 ff.; Weiss, Joseph Dominikus 199–203, 213, 226, 445. 25 Vgl. dazu Alexander Erhard, Geschichte der Stadt Passau, 2 Bde. (Passau 1862–1864, ND: Passau 1974) II, 79. 26 Soweit sie nicht durch die Ordnungsarbeiten der 1930–1960er Jahre zerstört wurde. Schön sichtbar ist das noch heute an den Teilbeständen »ABP, OA, Pfarrakten« bzw. »ABP, OA, Klosterakten«. 27 August Leidl, Leopold Ernst Kardinal von Firmian (1708–1783), ein Kirchenfürst an der Wende vom Barock zur Aufklärung, in: Ostbairische Grenzmarken. Passauer Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Volkskunde 13 (1971) 5–26.

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des Passauer Klerus. Mit einem gebildeten, von persönlicher Frömmigkeit und untadeligem Lebenswandel geprägten Klerus wollte der Bischof dem Laienvolk, Frauen und Männern, einen besseren Platz in der Kirche schaffen und einen national-sprachlichen Zugang zur Heiligen Schrift und zur Liturgie eröffnen; dadurch sollten Irrlehren ausgetrocknet und die christliche Sittlichkeit auf einen höheren Stand gehoben werden. Mit der Einführung des »Pastor bonus« bezog der Bischof entschieden Stellung hinsichtlich des von der Kirche künftig einzuschlagenden Wegs. Er war also einer der Exponenten des Jansenistenstreits, durch welchen die wissenschaftlich, didaktisch wie pastoralpraktisch überholte jesuitische Priesterbildung auf eine neue Grundlage gestellt werden sollte. Firmian führte dies in Passau auch durch: Passau bekam statt des Jesuitenkollegs eine fürstbischöfliche Akademie für Philosophie und Theologie mit einem Alumnat. Die Devise von Kardinal Firmian Non vi, sed amore ist freilich auch als eine subtile Form seiner Antwort auf die Politik seines berühmten Onkels, des Salzburger Fürsterzbischofs Leopold Anton von Firmian (1727–1744) zu sehen28, der ja die konfessionelle Auseinandersetzung mit den Salzburger Protestanten auf gewalttätige Weise durch deren Vertreibung gelöst hatte29. Die konfessionelle Frage ging also im Bistum Passau im Zeitalter der Aufklärung einer friedlichen Lösung entgegen30. Einige Aspekte sollen im Folgenden ganz knapp noch skizziert werden: Seit Bischof Joseph Maria Graf von Thun-Hohenstein (1761–1763) strebten alle Passauer Fürstbischöfe danach, aus dem Hochstift einen »Musterstaat« der Aufklärung zu machen31. Die Aufklärung sollte nicht nur in die Religion einziehen, sondern genauso in die Verwaltung – in den Staat – und in die Lebensführung der Menschen. Regierung zum Wohl der Untertanen, verstanden als deren Hinführung zu zeitgemäßen Anschauungen, Lebens- und Wirtschaftsformen, prägten daher das landesherrliche Wirken auf neue, vielfältige Weise. Bildung und Ausbildung, die Sorge für die Armen und Kranken, die Rechtspflege und die Hebung der Wirtschaft wurden zu Mittelpunkten fürstlichen Handelns. 28 Dazu s. Erwin Gatz (Hg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches, 1648 bis 1803. Ein biographisches Lexikon (Berlin 1990) 111–113. 29 Walker Mack, Der Salzburger Handel. Vertreibung und Errettung der Salzburger Protestanten im 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 131, Göttingen1997). Englisch: Ders., The Salzburg Transaction: Expulsion and Redemption in Eighteenth Century Germany (Cornell 1999). 30 Rudolf Zinnhobler, Der Passauer Kardinal Leopold Ernst Graf von Firmian und die religiöse Toleranz, in: Ostbairische Grenzmarken. Passauer Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Volkskunde 23 (1981) 85–93. 31 Wurster, Bistum Passau (wie Anm. 5) bes. 134–137.

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Der bedeutendste Aufklärer auf dem Passauer Bischofsthron war Fürstbischof Joseph Franz Anton Kardinal Graf von Auersperg (1783–1795)32; er war sicherlich einer der bedeutendsten Aufklärer des deutschsprachigen Raumes, der bereits als Passauer Domherr in drei Streitschriften gegen den Hexenglauben auftrat und damit an der späten Beendigung dieses Irrwegs der christlichen Geschichte mitbeteiligt war. Mit ihm endete allerdings auch die Epoche der Aufklärung im Fürstbistum Passau. Viele Aufklärer wendeten sich ja gegen die Kirche und mit dem Voranschreiten der Französischen Revolution wurde das Gefährdungspotential der Richtung der radikalen Aufklärung, vor allem aus den verschworenen Illuminatenkreisen, immer spürbarer. Um diese Tendenz im Bistum Passau einzuschränken, verwies Auersperg 1794 die entschiedensten Vertreter der Passauer Aufklärung des Landes33. Abschließend ist Folgendes als Fazit festzuhalten: Rationales, effektives, transparentes Handeln, Verwissenschaftlichung der Verwaltung und Leitung von Staat und Kirche, das was man dann »Policey-Wissenschaft« nannte, führte im Bistum Passau seit dem 16. Jahrhundert zu einer stärkeren Leitungsfähigkeit durch die Obrigkeit. Auf dieser Basis hatten die rationalen Ansätze, die eine wesentliche Triebfeder der Bewegung der Aufklärung waren, in Passau einen guten Boden. Selbst ein so barocker Fürstbischof wie Kardinal Joseph Dominikus Lamberg weist im Gesamtbild Züge der Aufklärung auf. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist Passau ein Zentrum der Aufklärung, ein Mittler, vielleicht sogar eine Drehscheibe der Aufklärung zwischen den Ländern Bayern und Österreich. Das bedeutendste bauliche Erbe dieser Epoche ist Schloss Freudenhain, erbaut von Kardinal Auersperg34. Es ist der Rokoko-Palast eines absolutistischen Fürsten, der im »Hain der Freunde« – so die eigentliche Bedeutung dieses Namens, der die das Schloss umgebende, künstliche Dorflandschaft meint – in einer exklusiven Gesellschaft Natur und Gemeinschaft suchte. Dieses bezeichnende Paradoxon drückt viel von der Zwiespältigkeit der Epoche aus, die dennoch die wesentlichen Grundlagen der modernen Gesellschaft und auch für Passau gelegt hat. 32 Gatz, Bischöfe 1648–1803 (wie Anm. 28) 19–21. 33 Franz Xaver Eggersdorfer, Die Philosophisch-Theologische Hochschule Passau. Dreihundert Jahre ihrer Geschichte. Ein Blick in die Entwicklung der katholischen Geistlichenbildung in Deutschland seit dem Ausgang des Mittelalters. Zur Jahrhundertfeier 1933 (Passau 1933) 225–227; Wurster, Bistum Passau (wie Anm. 5) 129. 34 Wolfram Hübner, Schloss und Park Freudenhain in Passau (1786–1795) und die Vorgängerbauten in Hacklberg (Grüne Reihe. Quellen und Forschungen zur Gartenkunst 26, Worms 2007).

Autorenverzeichnis

Univ.-Doz. Dr. Adelheid Krah Institut für Geschichte Universität Wien Universitätsring 1 1010 Wien, Österreich

Mag. Daniel Jeller ICARUS. Internatinal Centre for Archival Research Erdberger Lände 6/7 1030 Wien, Österreich

Dr. Herbert W. Wurster Giglmörn 1 94474 Vilshofen, Deutschland

Dr. Petra Svatek Österreichische Akademie der Wissenschaften Dr. Ignaz Seipel-Platz 2 1010 Wien, Österreich

Prof. Dr. Klaus Wolf Deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mit dem Schwerpunkt Bayern Universität Augsburg Universitätsstraße 10 86159 Augsburg, Deutschland

Dr. András Sipos főosztályvezető Budapest Főváros Levéltára Teve utca 3–5 1139 Budapest, Ungarn

Mag. Thomas Kath Hans Tinhof-Straße 3/12 7000 Eisenstadt, Österreich

Mag. Michael Prokosch MA Friedensstr. 20 4060 Leonding, Österreich

Univ.-Doz. Dr. Klaus Lohrmann Stumpergasse 51/35 1060 Wien, Österreich

Ao. Prof. Dr. Claudia Römer Universität Wien Spitalgasse 2, Hof 4 1090 Wien, Österreich