Psychopathologie: Sinn, Ernte, Aufgabe [1 ed.] 9783896444431, 9783896734433

Nachdenken über Psychopathologie als der Praxis verpflichtete Wissenschaft: die Philosophie klärt Wissen und Wissensgewi

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Psychopathologie: Sinn, Ernte, Aufgabe [1 ed.]
 9783896444431, 9783896734433

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Christian Scharfetter

Psychopathologie Sinn • Ernte • Aufgabe

Verlag Wissenschaft & Praxis

Christian Scharfetter

Psychopathologie Sinn • Ernte • Aufgabe

Verlag Wissenschaft & Praxis

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-89673-443-3 Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner GmbH 2008 D-75447 Sternenfels, Nußbaumweg 6 Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094

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Grafiken: Herbert Schärer Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany

Das undurchdachte Leben ist dem Menschen nicht lebenswert Platon, Apologie des Sokrates 38A

Scepticism is the highest of duties, blind faith the one unpardonable sin Betrand Russel, Human Knowledge 1948

Die Wissenschaft ist als eine möglichst getreue Anmenschlichung der Dinge zu betrachten. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft 112

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Inhalt Vorwort ......................................................................................... 9 Psychopathologie: Wissenschaft im Dienste der Praxis ................ 15 Wissen und Wissenschaft ....................................................... 17 Perspektive und Methodik...................................................... 22 Erkennen, Bedeuten, Sinn und Wesen.................................... 25 Anfragen an die Transzendentalphilosophie ........................... 31 Intuition in der Psychopathologie ........................................... 42 Das Mentale, Psychische ist das Feld der Psychopathologie.... 47 Die Aufgaben der Psychopathologie....................................... 48 Stufen des Wissens-Zugangs zur Psychopathologie................. 52 Selbsterleben und Verhalten................................................... 61 Kontinuität gesund – krank..................................................... 65 Kontinuum kohäsiver zu non-kohäsiven Psychopathologien... 66 Perspektivengemässe Multi-Methodik..................................... 66 Perspektiven auf Symptome und Syndrome ............................ 72 Assoziation/Dissoziation ........................................................ 78 Kritik als Proportionenrelativierung ........................................ 86 Kritik als Proportionenrelativierung ........................................ 87 Missbrauch der Psychopathologie .......................................... 90 Vulnerabilität und Resilience.................................................. 91 Psychopathologie soll zur Therapie führen ............................. 93

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INHALT

Die Heimkehr der Schizophrenien in das Spektrum der dissoziativen Störungen ......................................................... 97 Die Anamnese der Schizophrenien.................................... 99 Die Katamnese der Schizophrenien ................................. 102 Der Status praesens ......................................................... 103 Das Dissoziationsmodell bei Eugen Bleuler ..................... 104 Die Aufgabe weiteren Nachdenkens................................ 112 Nachwort ................................................................................... 117 Literatur ..................................................................................... 121

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Vorwort Psychopathologie ist als Wissenschaft von der Pathologie menschlichen Erlebens und Verhaltens der Praxis verpflichtet. Sie soll brauchbare Instrumente für die Beschreibung (Terminologie) und Gliederung des vielgestaltigen Beobachtungsgutes (Diagnostik) erarbeiten. Sie sucht nach validen Kriterien für die Konzeptualisierung von Krankheiten (Nosologie). Sie studiert Faktoren, die die Ätiologie (kausale und konkomitierende Bedingungen, Verhältnis von Vulnerabilität und Resilience) und die komplexe, in actio und reactio auf interiore und exteriore Ereignisse verknüpfte Pathogenese bestimmen. Sie lehrt Symptome als Ausdruck von Therapiebedürftigkeit und -zugänglichkeit zu lesen. Aus all dem sollte Psychopathologie brauchbares Wissen für Therapie, Rehabilitation, Prävention erarbeiten. Psychopathologische Syndrome mit Dysfunktionsfolge von Krankheitswert (diseases) manifestieren sich im Laufe der Geschichte und in verschiedenen Kulturen. Psychische Krankheiten von wechselnder Gestalt und Ausprägung sind eine Realität. Diagnostische Einteilungen und Benennungen variieren in Abhängigkeit von der historischen und kulturellen Epoche. So auch die Erklärungs- und Deutungsmodelle. Es liegt im Zuge der Zeit, dass immer mehr Leid und sogar körperliche Veränderungen im Lebenslauf medizinisch, psychologisch gedeutet werden. Dazu gehört die Attribution von Begriffen der Psychiatrie auf immer mehr von der Last, die Menschen in der „Normalität des Leidens“ (Eliade) auszutragen haben, und auf Varianten der Charaktere (Persönlichkeiten). Die „Experten“ der Psychiatrie, die Alienisten, erstellen Konstrukte von Krankheiten und präsentieren sie in neologistischer Kreativität mit neuen Namen. Sie übersehen dabei, dass sie nicht Krankheiten (morbus) im seriösen Sinn entdeckt haben, sondern dass sie Diagnosen erfunden haben. Diagnosen sind nicht Krankheiten. In der Psychiatrie müssen Krankheiten begründet werden in einheitlichem Erscheinungsbild im Quer- und Längsschnitt, einheitlichem Verlauf und Ausgang, Thera-

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pieansprechbarkeit und nachweisbarer Ätiopathogenese (Ursachen und Entwicklung). Diese Kriterien sind aber bei vielen psychiatrischen Störbildern nicht erfüllt. Es handelt sich nur um diagnostische Typen, nicht „wirkliche Krankheiten“. Häufig werden Diagnosen fälschlich mit Krankheiten gleichgesetzt. Die Schizophrenie als einheitliche Krankheit gibt es nicht: ähnliches gilt für häufig gebrauchte Diagnosennamen wie Depression (es gibt viele Weisen des Depressivseins und der Austragungsart dieser Syndrome), Borderline, Angststörungen etc. Namen kommen und gehen in der Bewegung der Geschichte und so auch die Deutungen der damit bezeichneten Störungen oder Beschwerden. Die vor einem Jahrhundert noch so verbreitete Hysterie, die Psychopathie – die Syndrome sind nicht verschwunden, nur die diagnostischen Etiketten. Die Austragungsweisen passen sich z.T. der Kultur an (z.B. in den Essstörungen). Die Psychiatrie tut da mit in der Aufstellung scheinbar neuer Krankheiten. Kraepelin und E. Bleuler haben nicht die Schizophrenie entdeckt, sondern erfunden, d.h. als Konstrukt erstellt. Die neueste Modediagnose ist Burnout – diese damit bezeichneten Beschwerden von Unlust, Erschöpfung, Müdigkeit, Unleidigkeit, Verleider zusammen mit Schlafstörungen und Missempfindungen im Leib sind nicht neu. Diese neue „Krankheit“ hat eine verführerische Anziehungskraft für Opfer des Arbeitsprozesses, mehr des Arbeitsklimas (sehr verbreitet in Lehrberufen), besonders der negativen Atmosphäre, die durch Mobbing und despotisch-autoritäre hierarchische Strukturen geschaffen werden. Die „expertenhafte“ Zuordnung zu den „Depressionen“ und entsprechende Medikationsangebote sind auch schon da. Fehlt nur noch der Nachweis, dass in bestimmten Hirnregionen die Stoffwechselaktivität der Transmitter verändert sei. Solche modischen Krankheitsaufstellungen und zeitgeistabhängigen Erklärungen und Therapien erinnern an Vorläufer. 1678 erschien in Basel die medizinische Dissertation von Johannes Hofer über das Heimweh: Dissertatio medica de nostalgia. Da war ein Kunstwort, aus griechischen Elementen erfunden, für einen Symptomenkomplex, der damals in der Schweiz wohl bekannt war, man denke an die Verdingkinder, die Schwabenkinder, die Soldaten in fremden Diensten, die aus Armut und Bodenknappheit Ausgewanderten. Die

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Falldarstellung in der genannten Dissertation ist eindrücklich. Ein Student aus Bern studierte in Basel und wurde dort von Unruhe, Angst, Schlaflosigkeit geplagt. Der Arzt diagnostizierte Heimweh und verordnete Klystiere (Einlauf). Die medizinische Deutung dieser Heimwehkrankheit ist gerade in der heutigen Zeit biologistischer Krankheitsdeutungen bemerkenswert. Die Lebensgeister im Hirnmark, Striatum, wo die Idee des Vaterlandes (Mutterlandes) ihren Sitz hat, vibrieren an Ort und Stelle statt sich auszubreiten. Dadurch wird Appetit und Verdauung gestört und Blutverdickung tritt ein. Die Therapie ist folgerichtig Aderlass und Einlauf. Der Apotheker, der diese Behandlung hätte ausführen sollen, nahm die Pathogenese der Erkrankung durch die Entfernung von der Heimat ernst und empfahl die Rückkehr von Basel nach Bern. Darauf trat Heilung ein. (Ich fand den Hinweis auf diese Dissertation von 1678 in der medizinischen Dissertation von Karl Jaspers: Heimweh und Verbrechen, Heidelberg 1909). Als Wissenschaft steht Psychopathologie in der Pflicht, über ihre impliziten oder expliziten Vorannahmen zu reflektieren, ihr antezedentes Bild vom Menschen (Anthropologie), vom Mentalen. Die Vorstellungen von der Psyche sind klar zu legen: wird sie als einheitliches Medium aufgefasst oder als Kompositum von Elementen (in nominalistischer oder funktionalistischer Gliederung, Funktionen, Komplexen etc.)? Verstehen wir Persönlichkeit als vielgestaltige Einheit, als facettenreiche Vielheit von mehr oder weniger geglückter Synthese und Integration (Polyphrenie, multimind)? Welchen Begriff von Bewusstsein und Unbewusstem und ihrem Verhältnis haben wir? All dies ist hinsichtlich des Stellenwertes für Modelle der Psychopathologie zu befragen. Diese Texte sind im fragenden Umgang mit der Psychopathologie entstanden, geführt von der Suche nach dem Menschen, seinem Selbsterleben und nach dessen Zusammenhang mit seinem Verhalten. Der Text spiegelt das fragende Umkreisen der Themen, prüft verschiedene Perspektiven, die ihr zugehörige Methode und die Entwürfe, die Autoren zu ihrer Sicht vorgelegt haben. In einer Kultur des Fragens (s. Scharfetter 1999) treffen intellektuell-emotionale Neugier für viele Gesichtspunkte und ein breites Spektrum von Er-

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fahrungen zusammen mit einer Skepsis gegenüber vermeintlichem Wissen, Postulaten, Systemen eines imaginären „Ganzen“. Gewissheiten, Glauben und zugehörige Erfahrungen sind abhängig von der Persönlichkeit, ihrem Bildungshorizont, ihrer Wertwelt, von der Situation, der Kultur – sie mögen für einen Menschen lebensführend sein bis zur Kreation von gewichtigen oder bloss voluminösen Werken, bei anderen gar bis zum Märtyrertum. Sie mögen beispielgebend, vorbildlich sein, aber sie sind nicht als allgemeingültig zu setzen, als Wissenschaft, als Wahrheit. Die vorgefundene und gestaltete „Welt“ bleibt immer eine gedeutete. Monismen sind für die Deutung des Seienden ungeeignet, in welchem Sprachgewand immer sie auftreten zwischen Naturalismus, Psychologismus, Spiritualismus. Die Ausrichtung auf das All-Eine kann Sinn, Boden, Halt, Ethik der Existenz gewähren. Die bescheidene Kleinarbeit des täglichen Dienstes und der Wissenschaft in ihrer suchenden Entwicklung (Forschung) ohne endgültige Ergebnisse bleibt auf die Bereitschaft angewiesen, viele Perspektiven und Methoden auf ihre Tauglichkeit zu prüfen. Der Essay vermittelt dem Leser keine gerade umsetzbaren Resultate, er regt zum Weiterfragen, zum Nachdenken an. Forschung lebt aus einer Kultur des Fragens nach dem jeweils noch nicht Gewussten, aber grundsätzlich der Untersuchung zugänglichen Bereich. Die Anerkennung des Nichtwissens ist für den Prozess der Wissenschaft wichtig: sie fördert das Suchen, Fragen, Prüfen, Erproben. Solche klare Vergegenwärtigung des Wissens und des Wissbaren hilft, das Unerkennbare als solches bescheiden bestehen zu lassen und diesen Bereich der Ausrichtung der Existenz weder mit Spekulationen oder Glaubensbildern zu füllen noch ihn überhaupt zu negieren (Nihilismus). Das braucht Mut, Demut, Achtung vor den Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis. Dem Essay zu verschiedenen Aspekten der Psychopathologie füge ich noch den Aufsatz über das Spektrum der dissoziativen Störungen bei. Das Konzept der Dissoziation mentaler Funktionen lebte nach einer ersten Verbreitung um 1900 und nach dem Abschieben auf ein Nebengeleise im späten 20. Jahrhundert wieder auf und regte zu vielen Fragen an, besonders zu dem Verhältnis Dissoziativer Identitätsstörungen zu den Schizophrenien. Die Fragmentierung des Ich/

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Selbst bei den schizophrenen Syndromen kann auch mit dem Instrument Dissoziation gedeutet werden – ohne dass damit eine ätiopathogenetische Festlegung getätigt wäre. Denn das Konzept „Dissoziation“ kann interpretativ für Mentales und Somatisches gebraucht werden. Die Faszination von der Dissoziation der Persönlichkeit, ihres Ich/Selbst-Erlebens – ob nun in der noch funktionstüchtigen Heterogenität eines Charakters oder in der fluktuierenden „Dissoziativen Identitätsstörung“ oder in den Ich-Störungen bei den schizophrenen Syndromen – hat vermutlich nicht nur im Rätsel dieser Pathologie ihren Grund, sondern auch in der Anthropologie: die Pathologie, die Gefährdung durch Desintegration spiegelt vergröbert die Vielheit, die Polyphrenie, und verweist auf das Ideal der Einheit. Für stete aufmerksame Hilfe bei der Edition danke ich Frau P. Wiersma. Prof. Dr. phil. II Hans Stassen, seit Jahrzehnten in der Grundlagenforschung der Psychiatrie tätig, hat den Text konstruktiv kritisch gelesen. Auch Prof. Dr. med. Dr. phil. I Paul Hoff und der Germanist Rolf Wörner gaben als Erstlesende ihre Rückmeldung.

Zürich, September 2007

Chr. Scharfetter

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Wissen und Wissenschaft Wissen bezieht sich auf direkt perzeptiv oder indirekt (abgeleitet, erschlossen) erworbenes Erkennen, d.h. ein kognitives „Haben“, Gewärtigen von Vorgängen, Gegenständen, Sachverhalten, ihrer Bedeutung und ihrer Beziehung: begreifen, recognoscere. „Objekte“ des Wissens sind Abgrenzbares, Unterscheidbares der bedingten Welt. Im Gegensatz dazu gibt es kein Wissen über die philosophisch-spirituelle gedachte „Welt“ des Absoluten und über die religiöse Glaubenswelt. Dem Menschen gestaltet sich in seinem Bewusstsein ein Bild seiner Welt. „Welten werden ebensoviel geschaffen wie gefunden“ (Goodman 1990, 37). Der Überschneidungsbereich kultureller und intersubjektiver Übereinstimmung ist die Alltagsrealität. Das ist das epistemologische Bekenntnis zum gemässigten Konstruktivismus, populär ausgedrückt: da „ist“ ein menschenunabhängiges Seiendes, dem der Mensch eine Gestalt und eine Bedeutung gibt, aufgrund der antezedenten Transzendentalien (Kant), vermittelt von seinem humanen „Weltabbildungsapparat“ (K. Lorenz), geformt von seiner Kultur und seinen Entwicklungseinflüssen. Goethe hat das Konstitutive im Erkennen auf den Punkt gebracht: „Das Höchste wäre zu begreifen, dass alles Faktische schon Theorie ist.“ (Maximen 575). Wissen stammt zunächst aus der Erfahrung (experientia): das, was der Mensch auf der Fahrt seines Lebens antrifft, was ihm begegnet, wofür er offen ist, wovon er angesprochen wird. Dann kann Wissen geschaffen (generiert) werden im qualitativen Vorgang per Induktion und Deduktion, im quantitativen Prozess von Inter- und Extrapolation. Es sind Grade des Wissens anzunehmen: von der protopathischen (kognitiv-affektiven) Anmutung zur gedanklich-sprachlich ausgeformten Vermutung (Meinen), von verschiedenen Stufen der Überzeugung (Sicherheitsgefühl) bis zur Gewissheit. Gewissheit ist ein Erleben sicheren Wissens, aber kein Beweis für das Zutreffen des Wissens, für seine Richtigkeit. Ja, Gewissheitserleben kann sogar dazu (ver-)führen, auf eine ausreichende Begründung des Wissens in der Transparenz des Wissensgewinnes (epistemischer Prozess) und

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im Abwägen der Argumente (Diskurs) zu verzichten. Einstein (1934) sagte dazu: „To the discoverer ... the constructions of his imagination appear so necessary and so natural that he is apt to treat them not as the creations of his own thought but as given realities.“ Selbst-gewisses Auftreten von vermeintlichem Wissen macht dieses und dessen Träger eher verdächtig: wir treffen es z.B. beim Wahn und im Bereich der Magie, des Okkultismus, der esoterischen „Erkenntnis“. Es bleibt idiosynkratisch, nonkommunikabel. Die Entwicklung von Wissen kann von einem impliziten vorwissenschaftlichen Kennertum zu einem expliziten Erkennen und Wissen wachsen, das anmutungshafte Intuieren durch kritische Überprüfung zum wissenschaftlichen Wissen (empiria, episteme) weiter geführt werden, dem Evidenz zugeschrieben wird. Dabei gelten Regeln der Wissenssicherung in Reliabilitätsprüfungen und hinsichtlich der Validität. Dass auf dem Weg des intuitiven Auffassens von der Kennerschaft persönlicher Erfahrung zum (partiell) entpersönlichten wissenschaftlichen Wissen auch einiges Wichtige verloren gehen kann (das Atmosphärische, Mediale), das scheint der Preis für die Episteme zu sein. Auch wissenschaftliches Wissen ist von seinen Vorbedingungen her mannigfach mitbestimmt und vergänglich in seiner Gültigkeit. Wissen ist abhängig vom einzelnen Menschen, seiner Persönlichkeit, seinen Interessen, seiner Verstandesbegabung, seiner Kultur. Wissen gilt zwar für bestimmte Systeme (und ihre untergeordneten Systeme), muss aber nicht weiter darüber hinaus für übergeordnete Systeme gelten (Gödel). Insbesondere lässt sich Wissen in einem Bereich nicht beliebig auf übergeordnete Systeme verallgemeinern. Anatomie und Physiologie des Gehirns können nicht Psychologie ersetzen. Empirisches Wissen, das sich in unserer Alltagswelt (Mesokosmos) bewährt, gilt nicht ohne weiteres auch im Mikro- und Makrokosmos. Wissen ist partikular: es gibt kein Wissen vom Ganzen, keines vom Wesen. Das Ganze und das Wesen – sie sind Ideen und Ideale, ihre Erfassung unerfüllte Sehnsucht. Das indische Gleichnis von den Blinden am Elefanten (s. Abbildung) mahnt daran:

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jeder deutet, „diagnostiziert“ von seinem begrenzten Erfahrungsbereich aus. Das Ganze und sein Wesen bleiben unerkannt.

Die Reflexion auf den jeweiligen Geltungsbereich des Wissens (wo ist es gültig?) ist wichtig. Stützt sich Wissen auf Wahrnehmung, auf eine Perzeption (z.B. Sehen), auf mehrere perzeptive Kanäle, auf wiederholbare und interpersonell überprüfbare Wahrnehmungen? Auf Beobachtungen, d.h. gezielte, selektive, konstellierte Wahrnehmung (z.B. im Experiment)? Welches Gewicht hat die Sprachfassung des Beobachteten (Beschreibung, implizite Deutung)? Goethe mahnte zur Sorgfalt im Wortgebrauch: „Wir haben das unabweichliche täglich zu erneuernde grundsätzliche Bestreben: das Wort mit dem Empfundenen, Geschauten, Gedachten, Erfahrenen, Imaginierten, Vernünftigen möglichst unmittelbar zusammentreffend zu erfassen“. Goethe, Maximen 674

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Diese Modi mentaler Vorgänge werden vom Erfahrungsbewusstsein unterschieden (eine leider selten beachtete Funktion des Bewusstseins). Implizite oder explizite Interpretation? Was fliesst ein in die Ausdeutung, Auslegung (Hermeneutik) durch implizierte Vorannahmen persönlicher, schulgebundener, kultureller Art? Dazu Goethe: „Bei Betrachtung der Natur ... hab’ ich unausgesetzt die Frage gestellt: Ist es der Gegenstand oder bist du es, der sich hier ausspricht?“ Goethe, Maximen 593

„Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelöst...“ Goethe, Maximen 1257

Später lehrte uns die Physik, besonders die Quantenphysik, dass jede Messung das gemessene Objekt verändert. Was nimmt ein Autor als Kriterium für das Zutreffen seiner Interpretation (unabhängige Validierung, Konfirmation, Gegenargumente, Falsifikationsversuch etc.)? Was gilt einem Autor als Phänomen? Ist ein Phänomen gegeben (aus sich selbst zeigend) oder wird „etwas“ zu einem Phänomen gemacht? Welches implizite oder explizite Vorwissen, welche Annahmen fliessen da ein? Ist z.B. Bewusstsein ein Phänomen oder ein phänomenfernes Konstrukt? Ist Bewusstsein ein Ermöglichungsgrund (transzendentale Vorbedingung i.S. von Kant), etwas Bemerktes zum Phänomen werden zu lassen? Ist also Phänomen selbst ein Gesetztes? Die verschiedenen Arten von Phänomenologie spiegeln auch Anschauungen, Theorien, Dogmata (Epiktet). Wir vergessen leicht, dass der Beobachtung, d.h. dem Herausheben von etwas als Beobachtungsobjekt, seiner Beschreibung und terminologischen Benennung, schon eine Reihe von impliziten Vorstellungen und Vorbedingungen vorausgehen. Deshalb mahnte Popper (1963): „Clinical observations like all other observations are interpretation in the light of theories“.

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Das ist unvermeidlich, aber es sollte transparent sein für den Beobachter und den über seine Beobachtungen nachdenkend schreibenden Autor und seine Leser. Die Begriffe der Alltagssprache sind meist unscharf. Wo „ist“ die Grenze zwischen Bach und Fluss, Hügel und Berg, Strauch und Baum, Kind, Jugendlichem, Erwachsenem, Alten? Sogar die Grenze zwischen Mann und Frau im Selbstbewusstsein (gender) ist nicht am Kriterium der Anatomie (Sex) festzusetzen. Die Fachsprachen sollten genauer sein, erreichen aber (im Gegensatz zur Mathematik) die gewünschte Trennschärfe meist nicht. Wo ist die Grenze zwischen Trauer und Depression, Sorge und Angst, Glück und Manie etc? Viele setzen konzeptuell Grenzen (Kategoriales Modell), wo ein dimensionales Kontinuitätsmodell realitätsangepasster wäre: gesund – krank, pathologisch; normal (welcher Normbegriff? Statistische Normalverteilung, Einschätzung der Grenzwerte, Durchschnittsnorm, Wertnorm, Idealnorm) – abnorm, kohäsive vs. non-kohäsive, d.i. dissoziative Störung. An den Polen, für die Extremwerte eines Kontinuums, ist ein Sachverhalt einfach zu entscheiden. Aber dazwischen entfaltet sich die Breite der Alltagswirklichkeit. Je nach Vorverständnis, Suchperspektive, Interesse wird in diesem breiten Feld Verschiedenes ins Auge gefasst, Unterschiedliches verstanden, als Forschungsobjekt konstelliert. Monopsychismus oder Polyphrenie, Monotheismus vs. Polytheismus – das sind kulturelle Setzungen. Die Weite und Unschärfe der Begriffe genügt für viele praktische Anwendungen im Alltag, aber nicht für die Forschung. Künstliche Grenzen, von Autoritäten oder dem Zeitgeist diktiert, haben viel Unglück angerichtet und den Forschungsfortschritt behindert und irregeleitet: schizophren oder affektkrank oder Dissoziative Identitätsstörung, gesund oder krank, mood-congruent vs. incongruent, konkordante vs. diskordante Zwillinge – das sind Beispiele für Abgrenzungen, wo breite Übergänge und Überschneidungen angemessenere Perspektiven erlaubten. Wissen ist nicht zweckfrei, es ist final und intentional bestimmt, interessengeleitet (und damit Werte implizierend). Wissen ist eine kogni-

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tive Strukturierung, Gestaltung der Vielfalt der „Welt“ zum Zwecke des handelnden Umgangs mit den „Gegenständen“. Diagnosen als kognitive Muster (Typen) gruppieren Gemeinsamkeiten in der Vielfalt, durch Wegfiltern des Individuellen (Informationsreduktion möglichst ohne Informationsverlust). Dann können für diese Typen Geltungswerte („Gesetze“) gesucht werden. Wissen muss sich bewähren, es muss gangbares (viability kommt von via = Weg), brauchbares, taugliches Wissen sein für die Lebenspraxis: die Bewältigung der Lebensaufgaben. Diese ergeben sich im Falle der Psychopathologie aus der Ätiopathogenese im Spektrum bio-psycho-sozialer Einflüsse und sollten sich in der Therapie bewähren und für eine Prognose taugen. Wissenschaft hat zwei Bedeutungen: das Schaffen, Erwerben von Wissen mit geeigneter Methodik und das Produkt dieses Schaffens: die zusammenfassende Strukturierung zu einem System der Wissensinhalte im Gebäude einer Theorie.

Perspektive und Methodik Die Perspektive bestimmt den Sachbereich und dieser die Methode der Erfassung (des Wissenserwerbes). Die Sachbereiche der Psychopathologie sind (in Anlehnung an Ken Wilbers didaktisches Quadrantenschema): 1. die Selbst- und Welterfahrung des Menschen (1. Person) 2. die Interpersonelle Perspektive: die Interaktion ich-du-Sie-wir 3. die distanzierte Beobachtung (er/sie/es), die gesellschaftlichen und kulturellen Umstände 4. der somatisch-physiologische Sachbereich Jeder Sachbereich erfordert seine eigene Methodik des Wissenserwerbes. Dazu Nietzsche: „denn auf der Einsicht in die Methode beruht der wissenschaftliche Geist...“ (Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, 635). Jede Methodik führt zu unterschiedlich hartem und gewichtigem Wissen hinsichtlich Reliabilität (Wiederholung der Messung, Übereinstimmung verschiedener Beurteiler) und Vali-

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dität („objektives“ Zutreffen für einen Sachverhalt, bei einer Diagnose z.B. physischer Befund, Prognose, Therapie). Die Sprachabhängigkeit ist in 1. und 2. am grössten, Messbarkeit und experimentellinstrumentelle Zugänglichkeit im somatischen Bereich. Die Ergebnisse der verschiedenen Perspektiven dürfen nicht vermengt werden, können aber in sauberer systematischer Ordnung miteinander in Beziehung gesetzt werden (Korrelation). Die Besinnung auf die Perspektivität (1., 2., 3. Person) erinnert uns an den Unterschied von „objektivem“ Beschreiben und „subjektivem“ Erleben. Beschreiben heisst einem Beobachtbaren mittels Eigenschafts- und Tätigkeitswörtern (Adjektive und Verben) eine Sprachfassung(-gestalt) geben. Z.B. A. wendet seinen Blick langsam ab. Aussagen sind sprachliche Feststellungen von bestimmtem Wahrheitswert (Deckung von Wort und Sache, Zutreffen, Validität) zwischen wahr und falsch. Dazwischen gibt es Grade von Wahrscheinlichkeit. Beschreiben ist durch die Sprachfassung feststellend („es ist“). Mimik, Gestik, Haltung, Bewegung sind beobachtbar und können als Ausdruck des beobachteten Subjektes beschrieben werden. Dabei kommen nicht nur die Elemente des Beobachtbaren einzeln ins Spiel, sondern der intuitive Gesamteindruck als (gestaltpsychologisch gemeint) Gestalt. Das Ausdrucks-Auffassen gibt uns Kunde von der Befindlichkeit des Subjektes, bringt uns eine Ahnung (Vorstellung, unsere Imagination!) vom Subjekt, dem Erleben der 1. Person. Die Erfahrung der 1. Person wird im Ausdruck fassbar, sprachlich oder averbal, willkürlich oder unwillkürlich, spontan oder auf Befragung. Solches Fragen (im freien Gespräch, „Interview“, oder in standardisierter Formulierung und Reihung, in Checklisten) kann wie eine Geburtshilfe (Maieutik des Sokrates) dem Subjekt helfen, der eigenen Erfahrung eine sprachliche Einkleidung und Gestalt zu geben, Sprachloses zu Sprache werden zu lassen und als Mitteilung ins Licht des interpersonellen „Raumes“ (der Dualität, evtl. Pluralität) zu bringen – das ist die „Geburt“ der Selbstmitteilung. In der sprachlichen Verständigung treffen sich Ausdrücken und Beobachten, Vergegenwärtigung (Appräsentation) des Anderen (alter ego), die dann in deskriptiver Sprache vermittelt werden kann.

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Dabei ist zu bedenken: das Erleben des Patienten (gerade auch das schwer erfassbare, verständliche) induziert schon averbal ein Erleben des Beobachters. Dieses, die Einstellung, Haltung, Verstehensmöglichkeiten, Interesse und Ziele der zweiten Person, ihr Ausdruck und ihre interaktionellen Handlungsfolgen zwischen gewähren lassen und Eingriffen (z.B. Psychopharmaka, Freiheitseinschränkung) wirkt auf den Patienten (1. Person) zurück. Erleben konstituiert sich im interaktionellen Raum. Dabei ist auch die Einsamkeit, die mentalaffektive oder konkrete Abwesenheit eines Anderen eine Sozialsituation; sie kann heilsamen Schutzraum oder schmerzliches bis pathogenes Defizit bedeuten. Die Haltung des Psychopathologen zwischen den Polen distanziert explorierender Neutralität (d.h. Gefühle eliminierender, gar abspaltender „Objektivität“) und kognitiv-affektiv mitschwingender Teilnahme (Compassion, Sympathie, Empathie) bestimmt das Erleben des Patienten mit. Es ist wunderbar, wie selbst eine „schizophrene“ Ich-Pathologie in einer gelingenden Interpersonalität temporär verschwinden kann; und es ist schmerzlich, wie dieser heilsame Wandel nicht dauerhaft Bestand hat, wie der Patient in der Einsamkeit wieder die Grundfesten seines Selbst verliert. Die phänomenologisch-anthropologische Richtung der Psychiatrie (Übersicht Blankenburg 1980) fokussierte im Gefolge von Husserl auf die intersubjektive Konstitution von Selbst, Leiblichkeit, Welt (im Sinn von Lebenswelt nach Husserl). Husserls intersubjektive Konstitution des Bewusstseins ermögliche eine gemeinsame Welt. Dieser Denkweg gab die Antwort auf die jede Menschenkenntnis in- und ausserhalb der Pathologie bestimmende Frage nach der Möglichkeit der kognitiv-affektiven Erfassung von fremdseelischem Geschehen, d.h. Erlebnissen, Befindlichkeit, Gefühlen, Strebungen, Denken eines Anderen. Philosophen rangen darum, ohne befriedigende Klärung. Husserl nähert sich dem Problem mit der These der Intersubjektiven Konstitution des Bewusstseins, die eine Appräsentation fremdseelischen Geschehens erlaube (s. Schäfer 1980). Intersubjektivität (pragmatisch als gegeben angenommen) ist eine Voraussetzung von Verstehen i.S. von Jaspers: statisches Verstehen als Auffassen von Zuständlichkeiten (Qualitäten und Intensitäten), „genetisches“, d.h. Entwicklungen nachspürendes Verstehen als ein-

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fühlendes Nacherleben bewusster (!) biographischer Zusammenhänge (von Gefühlen, Motiven) oder als rational-logisches, gewissermassen logisch rekonstruierendes Verstehen. Kommunikation (nicht nur Informationsaustausch) der Bewusstseinsbereiche von zwei (oder mehreren) Personen ermöglicht Interpersonalität – ein intentionales Inbeziehungtreten von Menschen. Sie kann heilsam sein im Falle einer gelingenden therapeutischen Beziehung – sie kann im negativen Fall (Neglect, Missbrauch, Entwertung, Demütigung, Aggression) pathogen sein.

Erkennen, Bedeuten, Sinn und Wesen Symptom wird, was sich für einen Beobachter heraushebt aus dem unscharfen Alltäglichen (statistische Norm) des Verhaltens (averbal, verbal) und/oder Erlebens (mitgeteilt oder erschlossen) eines Menschen. Was ein Beobachter als Symptom auffasst, was ihm auffällt, was als Symptom erkannt wird, hängt ab vom Beobachtungsgut (Erleben und Verhalten eines Menschen) und vom Beobachter (Sehfähigkeit, -bereitschaft, Such-Interesse, Vorwissen etc.) – und von der Relation zwischen Symptomträger (-produzent) und Symptombeobachter. Der Laie (Angehörige, Freunde, Bekannte, Mitarbeiter, Fremde) „sieht“ verschieden, ihm fällt mehr, weniger oder anderes auf als dem „Experten“. Der geschulte Beobachter, in bestimmten Beobachtungsperspektiven kognitiv trainiert, geprägt, „sieht“ anderes und gewichtet anders, d.h. verleiht dem Beobachteten im Sinne seiner professionellen Prägung andere Bedeutung. Der therapieverpflichtete Kliniker sieht anderes, d.h. selegiert aus der Vielfalt des Beobachtbaren anderes (z.B. pathognostische Symptome für die Diagnose, Zielsymptome für Psychopharmaka) als ein Gutachter, der im forensischen Auftrag eine Prognose der Rückfallgefahr erstellen soll; wieder anderes ein vorwiegend auf die gegenseitige Interaktion achtender Psychotherapeut. Also: Das Erkennen von Verhalten und, damit verknüpft, das Bedeutung-Verleihen (attribution of meaning) ist vom Beobachter, seiner Prägung, Vorerfahrung, Schulung, seinen Interessen, seiner „Brille“,

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seinem Suchverhalten, seinem Funktionsauftrag abhängig. Danach selegiert er Symptome implizit, intuitiv oder explizit im logischargumentativen Entscheidungsprozedere aus der Vielgestaltigkeit des Vorfindbaren, aus der Uneindeutigkeit, Vieldeutigkeit menschlichen Erlebens und Verhaltens und ordnet diese in seine diagnostischen Raster. Beispiele: Was um 1900 unter der Bezeichnung Hysterie subsumiert wurde, wird im ICD und DSM in viele verschiedene Diagnosen aufgegliedert: alternierende und multiple Persönlichkeit waren die auffallendsten, Fugue, Poriomanie, Trance, Ekstase, „Anfälle“, Stimmungslabilität, Depression, Angst, Zwang, Anorexie u.v.a. Die Assoziationspsychologie schuf das Dissoziationsmodell, d.h. die Störung oder das Fehlen von Assoziation; Komplexe (unter dem Einfluss Freuds vorwiegend sexuelle) konnten dissoziieren oder Teile des mentalen Feldes (Bewusstein) abtrennen. Dieses Denken ging durch das Verdrängungsmodell der Psychoanalyse zeitweise unter. ICD und DSM schufen scheinbar theorieunabhängige Diagnosen – nun wird die Polymorphie der Erlebnis- und Verhaltensweisen in diesen Mustern „rekognosziert“. Wer Borderline-Zeichen sucht, wird sie je nach dem Grad seiner Obsession damit „finden“, eventuell induzieren (gar durch Projektion des Eigenen). Wer – wie Eugen Bleuler – eine latente Schizophrenie annimmt, wird sie weitum finden in fast allem, was nicht seinem eigenen Normenbild entspricht. Wer heute psychotraumatische Entwicklungsschäden sucht, wird sie finden, weil das Spektrum des angenommenen Traumatischen so weit wird, dass kein Mensch verletzenden Erfahrungen entgeht, ja, dass sogar die Geburt schon ein Trauma sein soll. Wer dissoziative Phänomene sucht, wird sie fast überall „finden“ angesichts der Vielfalt der Persönlichkeit (Polyphrenie, multimind), der Unüberschaubarkeit des Menschenwesens, gar dem Dschungel des Unbewussten. Phänomene sind nicht subjektunabhängige Gegebenheiten („Wesen“), sondern sie sind vom Menschen gesetzt, gemacht, sie sind selbst schon Facta. Etwas als etwas Bestimmtes erkennen und diesem damit eine Bedeutung zuschreiben, das ist ein Akt, ein Schaffen, Bilden, Gestalten, Erschaffen. Phänomene konstellieren sich zwischen einem Vorfindbaren und dem Menschen, dem dieses „aufgeht“, ab-

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hängig von seiner Offenheit, Aufmerksamkeit, seinem Interesse, seiner Suchintention. Aus dem Wahrnehmen mehrer Einzelgegebenheiten filtert der Phänomenologe eine gemeinsame Botschaft heraus, die er dann als seinen Fund verkündet. Manchmal tut er dies im treuherzig-naiven Meinen, er habe damit das Wesen (essentia) des zu Erkennenden erfasst. Was an einer Sache (einem Beobachtungsgut) als das Wesentliche angesehen wird, als das Hauptsächliche, die Eigenart, das Eigentümliche, die Wesenheit (gegenüber dem flüchtig-trügerischen Schein), das ergibt sich dem Menschen als „homo hermeneuticus“ aus seinem Wesen, seinem Charakter, seiner zergliedernden Intelligenz, seiner Interessen- und Wertwelt. Wesensschau im Sinne von Husserl ist ein personabhängiger Gestaltungsakt, eine Kreation – nicht schlichtes Aufnehmen eines von sich her sich Zeigenden. Die Bedeutung eines Beobachtbaren ergibt sich aus einer Zuschreibung eines Subjektes an eine Sache: Der Sinn und Wert einer Sache, ihr Sinngehalt, resultiert aus einer Sinnschöpfung. Im sinnverleihenden Akt geschieht aus der Interaktion von Beobachter und Beobachtetem die Sinngebung. Was als Sinn „entdeckt“, erfunden, geschaffen, attribuiert wird, ist vom sinngebenden, Bedeutung verleihenden Subjekt abhängig, seinem Interesse, seinem geistigen Horizont, seiner Suchperspektive, seinem Auftrag, seiner Funktion im Hinblick auf das Subjekt, das in seinem Erleben und Verhalten Beobachtbares (Symptome) konfiguriert. Die Bedeutungsanalyse steht unter einer Finalität, ist telephren: was will der Deuter dem zu Deutenden entnehmen und in welchen Zusammenhang will er dies „verstehend“ stellen? Verstehen ist interessengeleitet und multipel determiniert: will ich eine Situation verstehen, ein bestimmtes Verhalten in einem Lebenskontext, eine Biographie, eine Persönlichkeit, eine Sozialkonstellation – oder will ich eine Anthropologie schaffen, Erkenntnis und ihre transzendentalen Voraussetzungen, Affekte und Emotionen, Leistungen, Ethos? Angesichts von Symptomen ist – mit diesen zur Vorsicht stimmenden Überlegungen – das Was? Woher? Wozu? auseinander zu halten. Das Was betrifft die Beschreibung und Benennung (Terminolo-

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gie). Das Woher fragt nach dem Bedingungsgefüge, den möglichen aetiologischen Faktoren (Begründung, Kausalität) der Konditionen, actio-reactio-Faktoren; was ist in den physischen Gegebenheiten feststellbar (Körper, physische Umwelteinflüsse), in den psychischen Bereichen (was bewusst, unbewusst?), in den sozialen (mikro-, makro-), kulturellen Bereichen? Das Wozu enthält die Finalität: was könnte als Ziel, Telos, Tendenz, Absicht, Motiv angenommen werden? Diese teleologische Fragestellung führt zu vielschichtigen Antworten: z.B. Ausdruck der Verzweiflung, der Angst, Abwehr, Wunscherfüllung, Schaffung einer realitätsunabhängigen Privatwirklichkeit im Wahn, Aufmerksamkeitssuche in histrionischem Verhalten, Krankheitsgewinn (z.B. Entlastung, Zuwendung, Hilfen, Schonung etc.) u.v.a. Aus den möglichen Annahmen sind die dem Patienten, seinem Erleben gemässen, und die therapeutisch hilfreichen auszuwählen – eine nie abschliessbare Aufgabe der der Praxis verpflichteten Psychopathologie. Nach Sinn und Bedeutung zu fragen, ist ein nie abgeschlossener Prozess des Menschen, der sich dem weiten Horizont geöffnet hat, der sich auftut, wenn er sich selbst als ein in die Verantwortung gestelltes Wesen begreift: Antwort geben auf den Anspruch der „Dinge“ (materiell, mental, immateriell, spirituell) als Individuum isoliert oder eingebettet in eine Gemeinschaft der Lebewesen und der Erde als Lebensgrundlage. Antworten hat das Erfassen von Bedeutungen zur Voraussetzung. Bedeutungen sind sach- und kontextrelativ, nie endgültig. Die Bedeutung eines Baumes z.B.: je nach Interesse und geistigem Horizont sieht einer darin Material zum Heizen, Kochen, Bauen von Haus, Bett, Tisch, Stuhl, Zaun, Brücke oder zur Gestaltung eines Kunstwerkes, erlebt die Rast in seinem Schatten, die Schönheit von Blüte und Blättern im Wandel der Jahreszeiten oder er vernimmt (! – nehmen) im Baum Orientierungsrichtlinien in der Weite der Welt oder er „liest“ den Baum als Gestalt des All-Einen, aus dem alles entstammt und in das alles wieder zurückkehrt. Was immer sich dem Menschen zeigt, ereignet (! er-äugnen), nie erfasst er erschöpfend alles, das Ganze.

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In reflektierter Achtsamkeit beobachtet er seinen Horizont, seine Perspektive, seine Erwartung, Interessen, Motive, seinen Auftrag im Hinblick auf das in seinem Sinn und seiner Bedeutung zu entschlüsselnde Beobachtungsgut. Ich erläutere diesen Prozess des achtsamen Bedeutungslesens an einem Beispiel aus der Psychopathologie. Ein junger Mann, stumm, starrt stundenlang regungslos auf eine einzige Bewegung: er öffnet und schliesst stereotyp seine Hände. Was bedeutet dies, deskriptiv – terminologisch, funktionell für den Zusammenhang zwischen seinem beobachtbaren Verhalten und seinem Selbsterleben, was bedeutet es kommunikativ, was in der Perspektive der Ontogenese von Selbsterfahrung als Zentrum eigenaktiver Bewegung (Intention), der vergleichenden Ethologie des Menschen, der Tiere etc.? Als in den Dienst lebenspraktischen Wirkens als Therapeuten gestellte Psychiater werden wir nicht bei der Feststellung „motorische Stereotypie bei Stupor und Mutismus, also vermutlich Katatonie“ stehen bleiben und Psychopharmaka applizieren. Sondern wir haben uns selbst „existentiell“ einzubringen: nach Stunden des bei ihm Ausharrens, mit gelegentlichen vorsichtigen Fragen, ob er sagen, mitteilen könne, warum er diese Bewegung vollziehen müsse, kann der Patient flüstern: dann weiss ich, dass ich mich noch bewegen kann. In dieser horchend, vernehmend, fragend, suchend eingestellten Präsenz entschlüsseln wir die Hieroglyphen dieser Bewegungsstereotypie: er hat die (uns so selbstverständlich gegebene) Gewissheit der Eigenaktivität, sich selbst aus eigenem Antrieb und Willen autonom bewegen zu können, verloren und kämpft verzweifelt dagegen an, indem er die einzig noch gelingende Bewegung repetitiv vollzieht. Jetzt erfassen wir die funktionelle Bedeutung, den Sinn seiner Bewegung, die keineswegs sinnlos, gar irrsinnig ist. Wir erfahren von seinem Verlust der eigenaktiven Selbstverfügung, seinem Erstarren darin, seinem Selbstrettungsversuch in der Stereotypie. Daraus ahnen wir, was er therapeutisch braucht und wofür er zugänglich ist: bei ihm sein und mit ihm diese Bewegungen machen, variieren, andere Bewegungen anleiten, bis er sich wieder frei bewegen und frei spre-

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chen kann und seine Selbstverfügung wieder gewinnt. Dann kann auch das lebensgeschichtliche Hineingeraten in diesen Zustand aufgearbeitet werden. Das ist Ich-rekonstruktive Therapie auf der Basis von Bedeutungslesen (Hermeneutik). Im Prozess der Bedeutungsbefragung wird die kommunikative Dimension aktuell: intentionale und unbeabsichtigte Botschaft, Eintritt in eine therapeutische Beziehung oder nicht? Es folgen die Fragen der Übertragung etc. So geht das Bedeutunglesen weiter... Bei komplexeren psychopathologischen Geschehnissen (z.B. Paraphasie, Wahn u.v.a.) wird die Aufgabe entsprechend vielschichtiger. Da wird deutlich, dass das Verstehen dessen, was da vorgeht, Vorrang hat vor dem Heilen, Beseitigen, Unterdrücken, Bekämpfen von Symptomen, gar Krankheiten. Ein Danebenreden eines Patienten z.B. kann bedeuten: ich verstehe die Menschen nicht mehr, ich bin dem Menschlichen entfremdet; ich kann keine Worte finden, die mein Erleben passend ausdrücken; ich will über dieses heisse Thema nicht reden etc. Das ist jeweilen heuristisch-tentativ, vorsichtig tastend zu erspüren (Intuition). Und es ist zu respektieren, nicht zu korrigieren. Ein Wahn der Selbsterhöhung über das eigene Elend, z.B. ein omnipotenter Heiler, ein Welterneuerer, ein Messias zu sein, ist nicht zu bekämpfen, zu zertrümmern, auszulöschen – sondern in seiner lebensgeschichtlichen Bedeutung zu entschlüsseln. Dann werden wir dem Wahnschöpfer seinen Selbstgewinn aus dem Wahn lassen, aber sein Verhalten so zu modifizieren suchen, dass er seine Privatwirklichkeit ohne Kollision mit der Gesellschaft und weniger dysfunktionell austragen kann. Bei den Selbstverletzungen rätseln wir oft verzweifelt, deren Bedeutung für die Betroffenen zu entschlüsseln und daraus Hinweise für die Entwicklung weniger zerstörerischer Verhaltensweisen sich selbst gegenüber zu gewinnen. Bedeutungslesen, Sinnerfassen – das ist die nie endgültig zu leistende Aufgabe. Vor ihr dürfen wir nicht fliehen in Resignation und Distanznahme (in kustodialer Psychiatrie), in den Aktivismus des Morbus-Konstruierens und -bekämpfens, in die romantisierende Pseudoerhöhung psychopathologischer Vorkommnisse als „eigentlich“ spirituelle Ereignisse (wie manche Autoren der Transpersonalen Psychologie meinen), auch nicht in die Pseudophilosophie gestörter Trans-

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zendentalien, die als apriorische (Kant) Konstituenten menschlichen Erkennens der empirischen Beforschung und therapeutischen Beeinflussung entzogen wären.

Anfragen an die Transzendentalphilosophie In Platons Höhlengleichnis (Politeia, VII) ist die Einsicht vermittelt, dass die Menschen, gefesselt an ihre kognitiven Vorbedingungen, nur schattenhafte Abbildungen der „echten Wirklichkeit“ wahrnehmen können: sie sind so an die Wand der Höhle gefesselt, dass sie nur die Schattenbilder des Geschehens ausserhalb der Höhle, an die Wand projiziert vom Licht draussen, sehen können. Sich davon zu befreien zu einer erweiterten und tieferen Sicht auf das Seiende ist nur durch die Anstrengung des (philosophischen) Denkens möglich, das uns den gemässigten Konstruktivismus als die Möglichkeit menschlichen Erkennens zeigt: Wir sehen zwar etwas zum Bestehen des Lebens Brauchbares, aber das ist nicht das „Eigentliche“. Der Mensch ist durch die in seinem Menschsein festgelegten Erkenntnismöglichkeiten bestimmt. Nur durch diese anthropologischen epistemischen Vorbedingungen, nur mittels derer „sieht“ er die Welt. Diese Antezedentien sind nach Platon die „Ideen“ – Bilder, von wem immer gemacht, wie immer wirksam und (viel später evolutionsbiologisch gedacht) wie tauglich für das Überleben. Platon siedelte diese „Urbilder“ (Archetypen) im Reich der Ideen an (eine geistige Welt ohne bestimmten Ort und Personengebundenheit). Solches idealistische Denken ist uns heute fremd. Kant postulierte in seiner Transzendentalphilosophie eine vorgängige Ermöglichungsgrundlage menschlicher Erkenntnis. Es sind antezedente Konditionen, Muster, Kategorien, die unsere Wahrnehmung und unser Bedeutunggeben determinieren (Kant, Knoepfler). Sie sind nicht metaphysisch und nicht empirisch (d.h. apriorisch), also nicht naturalistisch, nicht psychologisch. Da bleiben viele Fragen offen: was „sind“ diese Transzendentalien? Wo „sind“ sie – im Ideenreich Platons oder im evolutionär gewachsenen Weltabbildapparat i.S. von K. Lorenz, wie die Evolutionäre Erkenntnistheorie meint (Pölt-

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ner)? Wer aktiviert diese der Empirie vorgeordneten Konstituenten? Wie unausweichlich festgelegt ist menschliches Erkennen durch diese transzendentalen Vorbedingungen? Gibt es noch Freiraum durch philosophisch-epistemologische Reflexion zu gewinnen – wie bei Platon? Hilft uns ausserhalb der Transzendentalphilosophie die vergleichende Psychologie, unsere von unserem Menschenwesen bestimmte Welterkenntnis deutlicher zu sehen, vielleicht gar zu relativieren, da und dort zu überschreiten? Der Blick auf die Welten von Menschen in anderen Kulturen (Kulturanthropologie) und die von Tieren (Ethologie) bringt uns schon deutlich vor Augen, wie verschieden die Welten von Menschen als Persönlichkeiten, von Menschen verschiedener mikro- oder makrokultureller Zugehörigkeit und die von Tieren „sind“ (d.i. konstituiert werden). Die olfaktorisch dominierte Welt eines Hundes, die optisch kontrollierte eines Condors, die Welt des Raubtieres „ist anders“ als die eines Pflanzenfressers, noch ferner dem menschlichen Laien sind die Welten der Lebewesen im Ozean. Jeder erlebt seine Welt nach seinen eigenen vorbedingenden Kapazitäten. In deren Funktion kommt ihm seine Welt zu, konstituiert sich ihm seine Welt. Und doch gibt es einen Überschneidungsbereich dieser Welten (wie schmal er auch sein mag): einen koinós kósmos, eine gemeinsame „ordinary reality“ (Castañeda) durch die intersubjektive Konstitution des Bewusstseins (Husserl). Die Erde, mit Ozean und Luftraum, ist der Mutterboden – in ganz Lateinamerika die heilige Pachamama, die auch die Christianisierung überstanden hat. Die Frage nach den Bedingungen der Kognition, was voraus gehend ein zum Bestehen des Lebens brauchbares Erkennen bestimme, wird auf drei Stufen verweisen können, denen vorgelagert oder superponiert die Vorstellungen der Transzendentalphilosopie zu denken sind. 1. Die artspezifische, in diesem Fall humane Ausstattung der Sinnesorgane und des Gehirns als Zentrum der Neurobiologie (mit ihrer Phylogenese befasst sich die Evolutionäre Erkenntnistheorie).

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2. Die Vorerfahrung des Individuums in seiner Ontogenese und Biographie: Prägung, Formung, Entfaltung, Festlegung (evtl. auch Einengung auf bestimmte Sicht). 3. Die kulturelle Prägung determiniert menschliches Erkennen wahrscheinlich stärker, als wir naiv meinen (Raum, Zeit, Leib, Interpersonelles, Kausalkonstrukte etc.) Die plausible Kantsche Forderung nach den transzendentalen Voraussetzungen des menschlichen Erkennens fragt nach Antezedentien, die nach meinem Verständnis diesen 3 Stufen vorgelagert oder übergeordnet sind. Sie sind als apriorisch nicht empirisch beforschbar. Als transempirische Theorie ist sie immun gegen aposteriorische, naturalistische, biologische, evolutionsbiologische, psychologische Argumente. Das in diesem Postulat Angenommene „ist“ die Voraussetzung, dass es überhaupt Empirie in ihren jeweiligen Perspektiven geben kann: ein antezendentes Subjekt (transzendentales Ich), das dem Menschen in der (von wem als Autor getätigten?) Aktualisierung Ich-Selbst-Erkennen ermöglicht. Das Transzendentale „ist“ Ermöglichungsgrund solcher ichhafter Akte (nicht-empirisches Apriori); die Psychologie und die Neurobiologie studieren das empirisch teilweise zugängliche Bedingungsgefüge des humanen Erkenntnispotentials. Dunkel, d.h. die Rätselhaftigkeit des Ich-Bewusstseins nicht erhellend, bleibt die Rede vom transzendentalen Subjekt. Tönt das nicht animistisch unter dem Denkgewand aufgeklärter Philosophie – ein Verstandesmythos i.S. von Kierkegaard? Wie ein Ich/Selbst-Bewusstsein in die Menschenwelt kommt – diese Frage ist mit dem Postulat eines transzendentalen Subjektes nur vorverschoben. Sie ist ausserdem naiv anthropozentrisch. In evolutionsbiologischer Sicht konstelliert sich schon im Einzeller eine zentrale Instanz, die Afferenz und Efferenz kontrolliert – die Keime des Ich (Proto-ego). Höhere Säugetiere lassen gewisse Elemente der Ich-Identität im Intraspezies- und Interspezies-Sozialkontext annehmen: sie verbinden sich selbst als Gemeinte mit einem Namen (Identitätsmarker) und treten gegenüber ihresgleichen und gegenüber einem Menschen durchaus als unverwechselbare physiognomisch markante individuelle Persönlichkei-

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ten in Erscheinung. Der Mensch mag solche Ich-Keime im Tierreich bewundern oder abwertend einstufen, je nach seiner Teilhabe an der Gemeinschaft des Lebendigen oder der singulären Selbstherrlichkeit als „Krone der Schöpfung“, dem einzig Teilhabe am Logos, am Maha-Atman, am Tao, an der Buddhanatur aller Wesen zukomme, oder als grandioses Resultat der Evolution. Das zur Selbstbewusstheit eigener psychophysischer Identität im Sozialkontext entwickelte Ich-Bewusstsein verfügt über die I-meKompetenz (W. James 1892): sich selbst in vielen Facetten beobachten, überwachen, behüten, mit sich selbst nach abgewogenen Entscheidungen umgehen (Selbstverfügung), intentional-voluntative Selbstausrichtung, zielgerichtete Handlungssteuerung. Erst wo das in Situation und Zeit einigermassen stabil gelingt, entfaltet sich IchStärke und ermöglicht eine progrediente Ich-Relativierung. In dem individuumsüberschreitenden spirituellen Horizont erfährt sich das Selbst als teilhabend am überindividuellen Einen und ordnet sich in seiner kosmischen Selbstpositionierung als bedingt entstandene, nicht-substantielle, temporäre Konstellation des Bewusstseins ein, die nach der vorübergehenden Einleibung wieder in das unerkennbare Dunkel eingeht, in dem Herkunft und Heimkunft, Ausgang und Heimkehr eines sind. Eine solche Sicht auf die Bewusstseinskonstellation Ich/Selbst enthebt uns nicht vom fragenden Umkreisen dieses Ich. Dieses bleibt ein Faszinosum: im Ich-Bewusstsein ist das Ich als Erfahrung (I) in verschiedenen Stufen vom präreflexiv Gegebenen bis zum reflexiv über sich selbst Grübelnden und das Ich als Beobachtetes (me) da. „I and me“ bleiben in der Egoifizierung der afferenten und efferenten Akte gegenwärtig: ich bin ich, das ist meine Wahrnehmung, das ist meine Handlung. Die Ich-Pathologie zeigt, dass dieser Selbstvollzug als ständig begleitende (conscientia) Selbstaktualisierung, Selbstgegenwart temporär oder dauerhaft bis auf Reste verloren gehen kann. Das Ich egoifiziert Afferentes und Efferentes, es lenkt die eigene Intentionalität selbststeuernd. Das Ich wirkt als konstitutives Agens. Fichte schrieb, dass das Ich sich in „Tathandlungen“ selbst setze und damit auch das Nicht-Ich, und dass es differenzierend Elemente beider „ins Auge fassen kann“. Für den Psychopathologen, der den Ver-

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lust der Selbstbestimmung der Person im Sinne der Lahmlegung oder der Fremdbestimmung (Ich-Aktivitäts-Störung) untersucht, ist der Begriff „Handlung“ bei Fichte zu befragen. Bei „Handlung“ denken wir an Intention und Willen. Bei Fichte ist „Handlung“ ein (konstitutives) „Geschehen“. Handlungen: „Diese sind das Was, das vorhanden ist; sie geschehen auf eine bestimmte Art.“ Sie geschehen wo? „Im menschlichen Geiste“. Und: „Die höchste Handlung des menschlichen Geistes sei seine eigene Existenz zu setzen“ (63). Eine „Handlung“ des Geistes sei, „seine Handlungsart überhaupt zum Bewusstseyn zu erheben“ (64). „Bewusstseyn ist Wissen“ (64). Der Geist setzt sich selbst, seine eigene Existenz (63), d.h.: das Ich wird (vom Geist) gesetzt und damit auch das Nicht-Ich (73). Dabei räumt Fichte ein: „Das Ich, als philosophierendes Subjekt, ist unstreitig nur vorstellend; das Ich als Objekt des Philosophierens könnte wohl noch mehr sein“ (71). Dieses philosophierende, d.i. vorstellende Subjekt in der Individualität Fichtes schreitet zur „Aufstellung dreier Absoluten“ (75): Ich, Nicht-Ich, und das Vermögen, die Einwirkungen dieser beiden zu unterscheiden und sich „nach Massgabe der Einwirkung beider schlechthin zu bestimmen“(75). „Über diese drei Absoluten hinaus geht keine Philosophie“ (75). Schreitet da der Philosoph „unbewusst“ mit der „Aufstellung“ des dritten Absoluten zum psychologischen Ich, das aus der Abwägung von Ich und Nicht-Ich Selbstbestimmung gewinnt, tritt der Philosoph also aus dem Transzendentalen zum Empirischen einer Psychologie des Ich/Selbst? Mit der „Vorverlegung“ der Ich-Psychopathologie in die transzendentale Konstitution wäre unser Suchen in einen nicht-empirischen Vorstellungsraum verschoben. Damit, mit der Anerkennung der Konstitution von Ich und Nicht-Ich, ist noch keine Antwort auf die Frage in Sicht, was denn der Ermöglichungsgrund solchen Ich-Selbst-Bewusstseins sei, so vergänglich (annica), unvollkommen (duhkha), unsubstantiell (anatta) das Ich (im Buddhismus, Anatta-Lehre) auch konzipiert wird. Das IntegrationsSpiel der Neurobiologie, die Ontogenese, Jahrmillionen vorangehend die Phylogenese, spät die Kultur – sie alle tragen dazu bei, dass sich aus der nicht erklärend durchleuchteten vorgängigen Matrix (transzendentales Ich, Subjekt) ein Ich entwickeln kann. Ein Ich,

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das schwach oder stark da ist, stabil oder fluktuierend, eingeengt und bedrückt, oder ausgedehnt und glücklich, zerbrechend bis zur Devitalisierung, das in der Demenz progredient seiner Werkzeuge beraubt das Selbstsein verliert. Bisher hat die Transzendentalphilosophie zwar zur epistemologischen Durchleuchtung mancher Vorstellungen von Symptomen und Krankheiten beigetragen (s. Hoff 1990), aber zum Verstehen solcher Vorkommnisse genetisch, d.h. hier zum Prozess ihres Entstehens, und auch nicht des Wesens von Realitätsverkennung, Wahn, Halluzination etc. geholfen. Denn Blankenburgs Bemerkung zum Wahn (1972, 34) ist ja wirklich nicht hilfreich: „An die Stelle der transzendentalen Konstitution tritt beim Wahnkranken ein Stück weit die Wahnfabel“. Hier wird mit der transempirischen transzendentalen Konstitution, ihren Kategorien des Welterkennens im Sinne eines intersubjektiven Weltschaffens, und mit der Annahme eines transzendentalen Subjektes doch wieder so argumentiert, als ob dies ontologische „Sachen“, Wirkmuster wären, aus denen sich eine transzendental-psychopathologische Ableitung gewinnen liesse. Die postulierten Antezedentien werden im argumentativen Diskurs gehandhabt wie auf einer anderen Ebene, der der Psychologie der Wahrnehmung und Erkenntnis und der Neurobiologie, oder sie werden in den Diskurs von logischen Zergliederungen von Begriffen, Bedeutung, Werten, Konfirmation von Wissen wie im lebensweltlichen und im fachwissenschaftlichen Bereich eingebracht. Diese Verknüpfung von theoretischem Konstrukt (transzendentale Kategorien) mit aktueller Psychologie ist schon bei Kant da: sinnliche Wahrnehmung aktualisiere die Kategorien des Verstandesgebrauchs. Da ist die konzeptuelle Verkettung von empirisch Zugänglichem (ontologischer Status der Perzeption und Bedeutungsgebung) und prä- oder transempirischem Postulat. Und wenn, was sehr einleuchtet, betont wird, empirische Einzelaussagen setzten den Begriff zur Bezeichnung des Perzipierten voraus, so darf ich doch nicht supponieren, der Begriff sei transzendental schon da. Viel eher wird auf die Ontogenese des Erkennens zu verweisen sein, dass eben dieser Begriff vorher im Sozialkontext des Aufwachsens gelernt worden sei. In der Lebenswelt gilt m.E. doch: Beobachtbares wird mit Begriffen gefasst, strukturiert;

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Begriffe erhalten ihren Gehalt aus Anschauung. Die Verknüpfung ermöglicht das Erkennen. Dass solches intersubjektiv konfirmiertes Wissen um diesen Begriff überhaupt möglich werde, das mag in den imaginären Raum des Transzendentalen verlegt werden oder (mit Husserl) in die intersubjektive Konstitution des Bewusstseins. Was bringt Transzendentalphilosophie für die Psychologie und Psychopathologie? Lässt sich Transzendentalphilosophie, die plausibel Vorbedingungen für menschliche Erkenntnis postuliert, auf die evolutionsbiologisch interpretierte neurobiologische Ausrüstung des Menschen übertragen? Betrifft diese Annahme der evolutionären Erkenntnistheorie nur die Kognition (wenn auch im weiten Sinn) des Nicht-Ich, der Welt, des Anderen oder auch Eigenes? Wenn schon, müssen wir nicht alle psychischen Funktionen als durch transzendentale Prämissen bestimmt auffassen? Da nähert sich das Denken dem Banalen, gar Tautologischen: menschliche Psyche ist eben als menschlich an den anthropologischen Ermöglichungsgrund gebunden. Dazu Nietzsche: „Die Wissenschaft ist als eine möglichst getreue Anmenschlichung der Dinge zu betrachten“ Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft 112

„Wir können gar nichts fangen, als was sich eben in unserem Netz fangen lässt. Es gibt keine Schleichwege in die wirkliche Welt“ Nietzsche, Morgenröte 117

Darüber kommen wir im Mesokosmos menschlicher Lebenswelt (im Gegensatz zur Quantenphysik und ihren „Räumen“) nicht hinaus. Was geht grundsätzlich, nicht nur ontogenetisch, dem „Ich bin ich selbst“ voran? Die Antwort „das transzendentale Ich“ genügt nicht. Denn das Antezedens des Ich ist eben noch kein Ich. Es ist bereits psychologisch und nicht transzendental gefragt: was könnten dann die Prodrome des Ich, wenigstens bis zu einem Proto-Ich im eigenleiblichen Spüren, sein? Was hilft uns zu einer Ich-Aneignung des

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eigenen Leibes, seines Spürens, seiner Bewegungen? Was ermöglicht solche Egoifizierung? Was geht den Entwicklungen des IchBewusstsein voran, was lässt sie geschehen? Die Annahme von Geschehnissen im Unbewussten hilft nicht weiter. Denn Transzendentales ist per se unbewusst, kann nicht gewusst werden, ist ein Postulat einer bestimmten (wenn auch plausiblen) Sicht. Die Frage nach der Evolution des Ich-Bewusstseins (in sich eine sehr komplexe Entwicklung und Funktion) in der biologischen und kulturellen Evolution ebenso wie in der Ontogenese kann auf das Kantsche Problem der Transzendentalien nicht eingehen. Gerade an der so faszinierenden und exquisit anthropologischen Fragestellung nach dem Ich-Bewusstsein und seiner Pathologie lässt sich die Ratlosigkeit zeigen, befriedigende Antworten zu finden. Ein transzendentales Ich ist noch kein Ich, was „ist“ es dann? Wo orten wir sinnvoll Antezedentien, Vorbedingungen dafür, dass „etwas“ evolutionär und ontogenetisch werden kann? Was „sind“ sie, worin bestehen sie? „Sind“ sie überhaupt „etwas“, vorstellbar – oder bleiben sie Postulat eines Denkens? Wir wissen (im Sinne des kritischen Rationalismus) so wenig vom Vorfindbaren, von dem, was uns als Phänomen erscheint – um wie viel weniger haben wir Zugang zu einem postulierten Transzendentalen. Ludwig Binswangers Studien zur Schizophrenie (1957), zu Melancholie und Manie (1960), zum Wahn (1965) zeigen beispielhaft seine Bemühung, Husserls Intersubjektivität des Bewusstseins und seine transzendentale Phänomenologie mit Heideggers Dasein als Inder-Welt-sein zusammen zu denken und auf die Interpretation psychopathologischer Manifestationen anzuwenden. Die Herausfilterung der Kernaussagen aus seinen breiten Exegesen ergibt eine eher nüchterne Ernte. Beim Schizophrenen „ist“ nach Binswanger der transzendentale Ermöglichungsgrund der Erfahrung (als Grundlage des Lebensvollzuges) gestört und führt zum Auseinanderbrechen der Kontinuität der Erfahrung. Das ist eine Umschreibung der fragmentierten Existenz. Melancholie und Manie werden unter dem Gesichtspunkt der je spezifischen Störung der Zeitlichkeit und der damit zusammenhän-

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genden Möglichkeit, bei einem Zeitrahmen und einem Thema zu bleiben, gedeutet: Haften an Vergangenheit und Thema bei der Melancholie, flüchtige springende Daseinsweise ohne Bleiben bei der Manie. Die Selbsterfahrung (1. Person) und Verhalten (2. u. 3. Person) geben gewiss anschauliche Kunde von solchen Befindlichkeiten. Wahn wird abgeleitet aus Defizienzen von Gestimmtheiten und Befindlichkeiten, die die Weltkonstitution unfrei, unbestimmt und eingeengt bis fixiert werden und somit den Wähnenden aus der intersubjektiven Konstitution heraus geraten lassen. Wahn als „eigensinnige“ Deutung von Selbst und Welt, auch aufgrund von Affekten – das war eine schlichte Anschauung schon im 19. Jahrhundert. Transzendentale Prämissen menschlichen Erkennens, wie sie Kant postuliert, sind keine Phänomene. M.E. sind daher Ableitungen von Störungen der transzendentalen Konstitution, wie die von Blankenburg, Leerformeln und die Versuche Binswangers verstiegen im Erkenntnisanspruch. Ist solche Kritik der Hintergrund von Jaspers’ scharfer Notiz: „Leer wie immer L. Binswanger ... im Grunde ergebnislos“ (Jaspers 1978, S. 96). Solche transzendentale Phänomenologie zielt auf Wesenserhellung mentaler Anthropologie in gesunden und kranken Zeiten. Gewiss ein hoher Anspruch: die transempirischen, apriorischen, transzendentalen Ermöglichungsbedingungen der Konstitution des Bewusstseins, so dass es empirische Erfahrung zur funktional tauglichen Weltbildung leisten kann, zu denken. Dann mit diesen DenkKonstrukten weiter zu denken, sie als Instrumente der Deutung von aposteriorischer, empirischer Selbst- und Welterfahrung in gesunden und kranken Lebensabschnitten einzusetzen. Wer brauchbares Wissen möchte, um den Auftrag heilsamer Therapien (und einer ihrer Voraussetzungen, nämlich ätiopathogenetische Hypothesen) erfüllen zu können, wird skeptisch bleiben. Wer die Theorienbildung, präsentiert in sorgfältiger sprachlicher Elaboration, als schönes Denken aufnehmen kann, der wird daran Freude finden und auf die profane Frage nach Sinn und Ernte solchen Denkens verzichten. Transzendentalpsychopathologie schafft kein viables Wissen und regt auch intellektuell-empathisches Weiterfragen nicht gerade an. Der empirisch zu erforschende Bereich des Mentalen ist

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noch so unerschöpflich gross. Die unumgänglich notwendigen Theorien sollten so sparsam wie möglich bleiben. Wer setzt „Ockhams rasor“ (Oekonomieprinzip) an solchen voluminösen Exegesen an? Das Transzendentale ist per definitionem nur denkbar, ein theoretisches Postulat, nicht empirisch zugänglich. Das Denkbare, die Denk-Konstrukte, können plausibel sein, aber sie sind nicht prüfbar. Die Vorverlegung der „eigentlichen“ Pathologie in das Transzendentale verschiebt die Fragen in den transempirischen Raum – ist das eine grandiose Selbstüberschätzung, das Empirische schon erschöpfend erfasst zu haben und die „philosophischen Grundlagen“ der Psychopathologie zu denken, oder ist dahinter eine Resignation, das empirisch Zugängliche mit Aufmerksamkeit, Geduld, Innovationsgeist zu befragen? Diese Art, Transzendentalien zu postulieren, erinnert an das spekulierende Füllen des Unbewussten, was seine Dynamik und seine Inhalte seien. Das absolut Unbewusste ist nicht aufhellbar durch überprüfbare Hypothesen. Da kann sich der „Psychonaut“ in seiner ganzen bewusst-unbewussten Person einbringen, in Phantasie, Imagination, Intuition, Projektion. Dann kommen Zusatzkonstrukte dazu: zu den Transzendentalien als Erkenntnis-ermöglichenden Kategorien muss dann die transzendentale Subjektivität (transzendentale Egologie vom reinen Ich) hinzu gedacht werden, denn die Kategorien brauchen doch ein Darunterliegendes (subjectum, griech. hypostasis). Da ist dann das transzendentale Ego „geschaffen“. Das Phänomen (das, was sich zeigt, sichtbar wird) ist nach der Nominaldefinition benannt: Parakinese, Halluzination, Wahn etc. Wir müssen aber weiter fragen nach dem, was solchen Symptomen auf der Ebene der Selbsterfahrung entspricht, und weiter, welche Perspektiven zwischen Transzendentalphilosophie, Psychodynamik, Neurobiologie auf diese Phänomene gerichtet werden können. Dabei bleiben wir zunächst – bis handlungsleitendes Wissen erarbeitet ist – im Bereich des aposteriorisch-empirisch Zugänglichen. Für die Psychiatrie als handlungsverpflichtetes Fach gilt: wir haben keinen Einfluss auf die Transzendentalien. Denn heilsame therapeutische Interaktion zu deuten als konstruktiven Beitrag zum Transzendentalen

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hiesse eben, diesen Bereich zu ontologisieren und von seinem hohen Theoriestatus zum Gegenstand von Psychologie und Psychopathologie herab zu setzen. Auch da bleibt es noch „Theorie“ im weiten Sinn, aber immerhin im empirisch zugänglichen Bereich. Auch Phänomenologie (welche Art immer) entwirft Anschauungs-Bilder (Theorien), die von der gemeinten „Sache“ und vom spekulativen Geist des Interpreten gestaltet sind. An der Selbsterfahrung von introspektiv begabten und sprachlich befähigten Menschen (s. Text von Myriel, Scharfetter 2006) mit der diagnostischen Bezeichnung „Schizophrenie“ können wir kognitivempathisch teilhaben an dem Verlust oder der Veränderung der Identität, am Zusammenbruch der Grenzen Ich-Andere, am Zerbrechen (Fragmentation, Kohärenzverlust) und der Veränderung der auch leiblichen Beschaffenheit des Ich, an dem Verlust der Selbststeuerung im Denken, Wahrnehmen, Fühlen, Handeln, sogar am Verlust der Gewissheit, lebendig da zu sein. Ein Entgleiten und Fluktuieren des Ich-Gefühls erfahren wir auch von manchen Menschen mit Depersonalisation, Borderline-Störung, mit wechselnden Identitäten in der Dissoziativen Identitätsstörung (Multiple Persönlichkeit). Was gewinnen wir aus solchen Beobachtungen von Entgleiten bis Zerbrechen, gar Devitalisierung des Ich für die Fragen an die Transzendentalphilosophie? Die Philosophie des Buddhismus sah längst, dass das Ich ein gewordenes, ein „bedingt entstandenes“ „ist“ – und daher nicht substantiell (anatta), nicht dauerhaft (annica) sein kann und unvollständig, unerlöst, leidvoll (duhkha) bleibt. Dieses mentale Funktions-System Ich/Selbst entsteht temporär und wandelbar, auch von Krankheit (z.B. Schizophrenie) und Zerstörung (z.B. Demenz) bedroht, als hochkomplexes Interaktionsgeschehen mit verschiedenen mentalen Voraussetzungen. Diese können sich erst funktionell manifestieren, wenn die neurobiologische Vernetzung verschiedenster Regionen und Bahnen, vielleicht in einem hierarchischen System zu denken, als morphologisch-physiologische Bedingung gegeben ist. Die Transzendentalphilosophie kann uns das nicht beantworten.

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Der Mensch mit einer schizophren genannten Ich-Fragmentierung erlebt diesen Einbruch plötzlich oder allmählich wie eine Katastrophe, die ihm das notwendige Vehikel für das Bestehen des Lebens, das Ich, entzieht. Das Verlustig-Gehen dieser – für den Gesunden – Selbstverständlichkeit können wir erfahren (Blankenburg hat über den Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit geschrieben), auch intermittierende oder dauerhafte Remissionen. Aber wir gewinnen wenig Antworten auf die Vorbedingungen psychologischer Natur. Die gelingende therapeutische Beziehung („ohne Du und Wir kein Ich“), der Einbezug des Leibes in die Therapie kann zur IchKonsolidierung beitragen, wie andererseits Einsamkeit und verschiedene Überforderungen den Verlust herbeiführen können. In welchem Verhältnis stehen aber, so frage ich wieder, die psychologischen (1. und 2. Person-Perspektive) und die neurobiologischen Vorbedingungen zu den von der Transzendentalphilosophie gemeinten Antezedentien? Welches könnten die transzendentalen Voraussetzungen nicht nur für Erkenntnis, sondern für Bewusstsein (verstanden als Erlebnisfähigkeit) überhaupt sein? Bleiben wir da nicht ohnmächtig – ratlos vor den Fragen der Transzendentalphilosophie? Allenfalls erwecken solche Fragen Verständnis dafür, dass sich die meisten Autoren naturalistisch auf Ethologie, Phylogenese, Kulturgeschichte, Neurobiologie beschränken und nicht unbeantwortbaren Fragen einer bestimmten Philosophie nachgrübeln. Nach dem Alpha, dem Ursprung und seinem Autor ist unendlich zu fragen; so auch nach dem Omega, der Heimkehr – Ausgang im doppelten Wortsinn von Anfang und Ende. Das ist die beschränkte menschliche Perspektive auf das phänomenal Gegebene, Fluss zwischen Quelle und Ozean.

Intuition in der Psychopathologie Intuition – so werden die meisten zustimmen – ist eine wichtige kognitive Funktion in der Alltagslebenswelt und in dem Kennertum des lebenspraktisch allgemein oder in einem speziellen Gebiet (z.B. Psychiatrie) Erfahrenen, darüber hinaus in der Kreation von Wissen-

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schaft und Kunst (Inspiration). Schwieriger als solche Zustimmung ist die genauere Erfassung, was Intuition ist und wie und woher sie uns zukommt. Damit ist schon ein wichtiges Kriterium zur Unterscheidung Intuition und „Wissen, Kennen“ im alltagspraktischen Sinn angesprochen: Intuition kommt uns zu aus einem transnarzisstischen, transegohaften Bereich, Wissen hingegen wird in egoifizierter Intention erworben und ausgebaut. Dabei kann Intuition die Suche nach Lösungen in Wissensproblemen befruchten. (Das englische Kunstwort serendipity, das deutsche Geistesblitz, spricht diese nonintentional, nicht willentlich gesteuert erworbene Einsicht an). Intuition ist protopathisches Wahrnehmen, Spüren, Anmutung, Ahnung, Bedeutungserfassen ausserhalb des nachvollziehbar perzeptivrationalen, diskursiven, epikritischen „empirischen“ Wissens. Es ist ein gefühlhaftes Auffassen, in dem das Mediale, Atmosphärische, Hinter- und Untergrundhafte gewichtiger ist als die Fokussierung auf prägnante Gestalten, Merkmale, Elemente, auf die sich gezielt, vom Ich willentlich gesteuert, die wissensuchende Aufmerksamkeit richtet. Sympathie, Antipathie, Vertrauen, Misstrauen, Friede, Güte, Spannung, Wut, Vertrautes, Befremdliches werden intuitiv erfahren. Intuition spielt im Zwischenmenschlichen, bes. dem averbalen Anteil, eine wichtige Rolle. Die Ahnung, Einsicht, gar Eingebung (das Wort betont die Nichtichhaftigkeit) ist unmittelbar, d.h. nicht durch überprüfte Wahrnehmung und rational-diskursives Denken zustande gekommen. Der Volkspsychologie ist die Intuition bekannt, sie hat Metaphern dafür: Sehen mit dem dritten Auge, Hören mit dem dritten Ohr, Schau, Spüren – von hier gibt es Übergänge zum parapsychologischen Bereich (Telepathie, telepathische Kommunikation, mind reading, channeling, Mediumismus). Eingebungen, die „innere Stimme“, mein Herz, Bauch „sagt mir“, die Vibrationen lassen mich wissen, das Riechen einer Atmosphäre – das sind Umschreibungen dieser transegohaften und transrationalen Erfahrung (experientia, nicht episteme). Im Schamanismus, wie überhaupt in der animistischmythischen Kulturschicht, spielt dieses Intuieren eine zentrale Rolle: die Geister lassen mich wissen. Viele so genannte Naturheiler, Geist-

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heiler und verwandte Gestalten der Paramedizin berufen sich auf ihre Intuition. Intuition vermittelt ein globales, mediales, atmosphärisches Erkennen. Sie ist ein spontan auftauchendes gefühlshaftes Einsehen, ohne dass das intuitiv Gegebene durch bestimmte nennbare Sinnesdaten (Perzeption) nachvollzogen und begründet werden kann. Der Bedeutungshof dieser selbst nebelhaften Intuition ist nicht klar abgegrenzt zu anderen kognitiv-affektiven mentalen Geschehnissen: Glauben, Meinen, Vermuten, Ahnen, „Wissen“, Spüren, Gefühl, Empathie, subliminale Wahrnehmung, Schau, Imagination, ja sogar Phantasie, Imagination, Offenbarung (Revelation). Die Bedingungen für Intuition scheinen vielfältig zu sein. Wahrscheinlich darf man sinnvoll eine Begabung für diese Art „Wahrnehmung“ annehmen. Das Eintreffen einer Intuition kann nicht vom Ich herbeigeführt werden; aber gleichwohl kann sich der Empfänger rezeptiv, geduldig und demütig sein Ich und seine analytische Rationalität zurückstellend, auf das Ankommen, Auftauchen einer Intuition einstellen. Die nicht zu früh wertende, zergliedernde, schwebende Aufmerksamkeit auf mögliche Afferenz von einer Person (z.B. beim Heiler), einem Objekt (z.B. Tarotkarte, Handlinien, Iris etc.), einem Geschehen (Geräusche, wolkig unstrukturiertes fluktuierendes Geschehen) ist die Empfangsbereitschaft. Versammlung (Zentrieren auf transego-Bereiche), Ruhe, Friede, inneres Gleichgewicht, Achtsamkeit, Bescheidenheit im Sich-zurück-nehmen („Ganz-Ohrsein“), Selbstlosigkeit i.S. von Freiheit von Egowünschen und narzisstischer Grandiosität, das scheinen mir intuitionsfördernde Bedingungen. Durch Üben solcher Einstellungen und Haltungen ist vermutlich auch eine vorhandene Begabung für Imagination in gewissem Masse schulbar (z.B. in Kursen der Animal-Communication-Bewegung, Training in rezeptiver Trance, Gewinn an Sicherheit). Individuell scheint der Empfang von Intuition verschieden zu sein: Hören, Visualisieren, Denken, automatisches Schreiben (Diktat). Intuition wird gestört durch Zweifel, Kritik, Spott, Hohn, Hass, Affektturbulenz, starkes Wünschen, Machtdemonstration, Gewinnstre-

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ben, ja auch durch eigenes Streben nach Begründung, Absicherung, Bestätigung, sowie durch rational-analytischen Diskurs. Eine zu starke Abschottung und Distanz behindert Intuition, eine zu schwache Abgrenzung kann für den Intuierenden gefährlich werden: Identitätskonfusion, Appersonierung. Die Inhalte der Intuition betreffen „unsichtbare“ atmosphärische Vorgänge, Aktuelles, bes. auch der interpersonellen Beziehung und ihrer unbewussten Anteile (da ist Intuition eine wichtige Antenne von Übertragung in Therapie und Pflege), und Zukünftiges (Voraussehen, Telepathie, Vorahnungen, Prognosen), in der Esoterik und Mantik (Wahrsagerei) auch der Vergangenheit (Geschichte, Vorleben, Reinkarnation, Karma). Die Sprachfassung des Intuierten wird stark von der Person abhängen, von seinem/ihrem Sprachvermögen, Bildungsstand, schulischer Einbindung, Verhältnis zum rational-logisch-argumentativen Diskurs, Weltanschauung, Lebens- und Menschenbild. Genuine Schamanen sprechen aus ihrer Kulturschicht, moderne paramedizinische Heiler mischen animistische, technische (Energien, Bahnen, Fluss, Leitungen, Blockaden), New-Age-Stichworte (Spirituell, Chakra, Kundalini) und weitere. Die Relation des Intuierenden und seines „Objektes“ (z.B. Klient, Patient) hat wahrscheinlich bestimmte Nähe-Distanz-Voraussetzungen: nicht zu weit weg (auch emotional), nicht zu nah. Deshalb fühlen sich manche, die professionell Intuitionen gebrauchen (z.B. Heiler, Tier-Kommunikatoren), sicherer in der (telepathischen) Distanz per Post, Telefon, Television. Nach dieser Ordnung einiger Gesichtspunkte zur Intuition ist die Frage fällig nach der Bedeutung und dem Stellenwert der Intuition in der Psychiatrie: Intuitiv werden Stimmung und Gefühlslage, Ruhe und Spannung, Vertrauen und Misstrauen, Argwohn, Ferne und Nähe in ihrer Qualität zwischen Angst, Flucht, Abwehr, Abmauern, Rückzug, Klammern, Haften, Wut, Ärger etc. erfasst. In der Einschätzung von Suizidalität spielt die Intuition eine grosse Rolle; sie ergänzt das Wissen aus der Exploration oder den Ratingskalen. Die Einsamkeit von psy-

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chisch Kranken, ihre Entfremdung von der menschengemeinsamen Welt, ihr Entgleiten, ihre Entrückung in andere Bewusstseinszustände, ihre Absorption von Bannungserlebnissen, ihre Resignation und Lebensmüdigkeit, ihre Verwirrung und Ratlosigkeit, das Zerbröckeln der Werkzeuge ihres Ich im dementiellen Abbau – das alles und vieles mehr erfassen wir auch und oft primär intuitiv, ehe wir es zum Beobachtungsdatum machen und sprachlich spontan oder im Rating fixieren. Die Intuition in der Diagnostik – das „Praecox-Gefühl“ von Rümke ist gewiss ein intuitiver Eindruck – scheint mir gefährlich. Zuviel Unwägbares von der Person des Diagnostikers (gar projizierter eigener Pathologie), seiner schulischen Prägung und idiosynkratischen Kennerschaft fliesst da ein, auch oft eine naive Grandiosität des erfahrenen Klinikers, der sich „auf seine Nase“, sein Gefühl, gar seine Eingeweide verlässt. Diese Kennerschaft lässt sich leicht vom Machtgefühl verführen, sich die Symptome „heraus zu explorieren“, die es zur Diagnostik, die intuitiv vorgegeben ist, brauche. Diagnostik ist logisch strukturierte Analyse und Zuordnung (Entscheidungsbaum), keine Aufgabe der Intuition. In der Erstbegegnung und in der manchmal Jahre währenden therapeutischen Begleitung hat die Intuition auf beiden Seiten, der von Patient und Therapeut, ein grosses Gewicht – in positiver Richtung, wenn reine selbstlose empathische Gegenwart ohne viele Worte heilsam wirkt – in negativer Richtung, wenn die Interagenten nicht zusammen stimmen. Aus der Stimmigkeit der Partner kommt zur rechten Zeit (Kairós) die annehmbare aufklärende Deutung, auch wenn sie Belastendes am Traum, in der Vorgeschichte, im Verhalten aufzeigt. Dieses im besten Fall befreiende „aha – es stimmt, trifft zu“ entsteht nicht im rational-analytischen Diskurs, sondern anmutungshaft. Gute Therapeuten sind wahrscheinlich stärker von Intuitionen geleitet als von rational-argumentativen Analysen, allerdings mit kritischer Selbstreflexion und Vorsicht vor naiven Gewissheiten. In Gruppentherapien sind Intuitionen wichtige Antennen der „Stimmung“, der Atmosphäre, wie man z.B. in den Erzählungen von Yalom bestätigt findet. Das gilt auch für die Abteilungs- und InstitutsAtmosphäre. Man denke an die intuitiv erfasste Vergiftung der Atmosphäre durch Mobbing, staff splitting, Rivalisieren oder despotische

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Personalpolitik. „Es stinkt mir...“ so olfaktorisch oder fäkal drückt der Volksmund die negative Atmosphäre aus und „diagnostiziert“ modern burn-out oder posttraumatische Belastungsstörung. Der Psychopathologe muss daran erinnern, dass standardisierte Erhebungsinstrumente diesen Bereich des intuitiv vermittelten Interpersonellen nicht erfassen und dass Manuale zum Therapiemanagement dieses Spiel der Interaktionen eliminieren – beides unwägbar gewichtige Verluste. Beides wäre aber gar nicht nötig, denn das freie Gespräch, offen für das Intuitive, mit Beachtung des Averbalen (Mimik, Körpersprache) kann ergänzt werden durch die Checklisten, die Therapieangebote können Anregungen von den Manualen aufnehmen.

Das Mentale, Psychische ist das Feld der Psychopathologie Das Mentale umfasst das Selbst- und das Umwelterleben und das zugehörige Verhalten. Das „Feld“ der Psychopathologie ist das Mentale, das Psychische – das ist nicht aufzulösen in andere Wissenschaften (z.B. Neuro-, Kulturwissenschaften). Psychopathologie befasst sich mit leidvollen und/oder zur Dysfunktionalität (Lebensversagen in nicht allzu extremen Umständen) führenden Abweichungen von den Funktionen des mittleren Tageswachbewusstseins. D.h. es gibt keine Psychopathologie des Unter-, Überbewussten, des Unbewussten, des Traumes. Psychisches Erleben ist auch Leiberleben. Erleben ist immer Erleben einer bestimmten Persönlichkeit, geprägt von den Vorerfahrungen in seiner Entwicklungsgeschichte (Biographie) und eingebunden in den sozio-kulturellen (mikro- und makro-) Kontext. Ein Erleben (ob des Selbst oder der Umwelt) als Ereignis bewusst erfassen (recognoscere) und sprachlich zu gestalten, das ist bereits vielfach determiniert von Persönlichkeit (Charakter), Bildung, Interesse, Horizont, Sprachfähigkeit, kulturellem Kontext.

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Die Aufgaben der Psychopathologie Psychopathologie steht in der Pflicht, ein brauchbares, viables, nützliches, d.h. praktisch umsetzbares Wissen zu schaffen von leidvollem Erleben und dysfunktionellem Verhalten: wie erfasse ich Erleben und Verhalten adäquat, wie beschreibe ich es nachvollziehbar, transparent, wie ordne ich es systematisch und interpretiere es in einer Weise, dass daraus Ansätze zur Therapie und Prävention gefunden werden? Das heisst: Psychopathologie soll Wissen schaffen 1. zum Verstehen und Erklären von Erleben und Verhalten und ihrem funktionellen Zusammenhang 2. von den Entstehensbedingungen bio-psycho-sozialer (einschliesslich kultureller) Art in der Lebensgeschichte. 3. Das Wissen, das die Psychopathologie erarbeitet, soll zu therapeutischen, rehabilitativen, präventiven Angeboten führen, die sich zu bewähren haben. Nicht-Können und Leiden – diese Kriterien gelten für die Psychopathologie zur Bestimmung ihres Gegenstandes (Sachgebietes) ganz pragmatisch. Die Dysfunktionalität, das Versagen in der Bewältigung der Anforderungen des Lebens, und das Leiden in Angst, Schmerz, Trauer, Niedergeschlagenheit über sich selbst und/oder die Mitwelt, die Entfremdung von ihr, sind taugliche, wenn auch unscharfe Kriterien. Dysfunktionalität und Leiderfahrung gehen nicht immer parallel. Dysfunktionalität ergibt sich aus dem Versagen der Bewältigung der Lebensaufgaben im jeweilen psycho-sozialen Kontext, den Umweltbedingungen, sofern diese nicht zu extrem sind. In Extrembedingungen, Naturkatastrophen, Kriegen, Folter, Missbrauch, Unglücksfällen mit Verletzung, Verlusten können sich mannigfache temporäre (brief reactive psychoses) oder dauerhafte (z.B. Posttraumatische) Psychosyndrome einstellen. Das Leiden als Kriterium bedarf einer Erläuterung: Leiden gehört zum Erdenleben. Davon gehen die grossen Religionen aus, die Erlö-

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sungswege zeigen – in ein transzendentes Reich, ob dies nun Brahman, Nirwana, Paradies heisse. Die kulturelle Illusion eines Lebens frei von Leid und Mühsal möchte hedonistische Machbarkeit. Die Medizin trägt dazu bei in ihrem Kampf gegen immer mehr medikalisierte Beschwerden, körperlich, seelisch, gesellschaftlich. Der entwickelte Mensch, der zur relativierenden Einordnung seines Selbst in einen individuumsüberschreitenden Zusammenhang gereift ist und sich von den Verhaftungen an Ich und Welt lösen kann, besteht das Leiden als zur Existenz gehörig. Im Buddhismus bedeutet „duhkha“ nicht nur die Beschwerden des Lebens in Schmerz, Trauer, Angst, Entbehrung, sondern auch das Getrenntsein vom Einen (Ganzen, Sein, Nirwana, Shunyatta, Buddhanatur, vgl. Tao), die Abhängigkeit, Bedingtheit, Unfreiheit, Unvollständigkeit, Unerlöstheit. Auf dieser Stufe der Bewusstseinsentwicklung leidet der Mensch nicht am eigenen Leben, sondern in Mitleid mit der Kreatur (compassion, karuna, Bodhisattva, Christus Sotér) und ihrer Lebensgrundlage, der Erde. Freisein von Pathologie heisst nicht leidlos sein. Deshalb ist die heitere Glückseligkeit (indisch Ananda) und der zughörige Gleichmut (in Pali upekkha, Sanskrit vairagya, griechisch apatheia) des vom irdischen Leid befreiten (erlösten) Spirituellen als sehnsuchtsgeborenes Ideal zu verstehen.1 Leidfreiheit ist nicht Gesundheitskriterium, so wenig wie Freude und Glück. Dagegen steht die „Normalität des Leidens“ (Eliade 1949) im erwachten Menschenleben. Zur Gesundheit gehören die Kraft und der Mut, dieses Leiden anzuerkennen (nicht zu verleugnen, verdrängen, überspielen, abspalten) und für sich selbst im Sinne der Reifung, für andere Lebewesen im Sinne der Güte heilsam auszutragen. Es ist deutlich: in solchem Gesundheitsbegriff steckt eine Idealnorm, kein Massstab für epidemiologische Erhebungen und gesundheitspolitische, ökonomische Entscheidungen.

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Daher wirkt die abgehobene heitere Leichtigkeit und Selbstzufriedenheit von Adepten, z.B. von Osho Rajneesh, von Yoga- und Buddha-Adepten, Meditationsschülern so peinlich aufgesetzt, ja exhibitionist-demonstrativ: Opfer von Selbstillusionen.

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Das Leben in seinem wechselvollen Verlauf, in guten und schweren Zeiten bestehen können und sich dabei bewähren in der je eigenen Wesensart – das meint der zugehörige ideale Gesundheitsbegriff. Solche Überlegungen sind in der Nähe der von der anthropologischen Psychiatrie vorgeschlagenen philosophischen Grundlegung der Psychopathologie: womit habe sich Psychopathologie zu befassen? Blankenburg fokussierte auf die freien oder eingeschränkten Möglichkeiten des Subjektes in seinem Selbstsein in Selbstbestimmung und -verwirklichung, qualitative und quantitative „Störungen“ von Selbsterleben und Selbstverhalten. Dabei sind natürlich die biographischen Rahmenbedingungen (Situation, Kontext) zu berücksichtigen, vor allem die, die nicht selbstverursacht sind (ökonomische, sozialpsychologische, politische). Das Subjekt erlebt und verhält sich in der Dialektik von Einzelnem/Allgemeinem, Vergangenheit/Zukunft, Freiheit und Notwendigkeit – Heinze hat auf die Konkretisierung dieser Dialektik im einzelnen Patienten hingewiesen: da erwächst eine diagnostische und therapeutische Aufgabe. Den der Praxis verpflichteten Psychiater und Psychotherapeuten stimmen solche Überlegungen zur Vorsicht. Zu eifrig haben manche schriftstellernde Psychiater als Adepten von Heidegger seine Existentialontologie zur Stilisierung psychiatrischer Lebensgeschichten als verfehltes Dasein, eingeschränktes Vernehmen- und Existierenkönnen benützt, später gar fehlerhafte transzendentale Voraussetzungen der Weltkonstitution postuliert. In die Transzendentalien kann man viel hineindenken, wie ins Unbewusste als Müllkippe des Verdrängten in Sinne von Freud oder als diviner Matrix der Psyche bei Jung. Das Leiden psychisch Kranker ist qualitativ und quantitativ anders (dimensional, nicht kategorial verstanden). Selbstdarstellungen geben davon eindrücklich Kunde (z.B. das Leiden am Ich, s. MyrielTexte, Scharfetter 2006). Seelisches Leiden in Hilflosigkeit, Ohnmacht, in der Preisgabe an fremde Mächte, Niedergeschlagenheit, Ängste, Ratlosigkeit, Halt- und Standverlust, ja Verlust des Ich als Kontroll-Instanz und damit die Schutzlosigkeit gegen Halluzinationen und Paranoid – das sind einige Stichworte zur Fülle der Leiden.

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Oft bedeuten sie sprachlose Qual. Da kann das Sprachwerden im interpersonellen Raum schon eine Entlastung sein. Nicht jede psychische Krankheit geht mit Leiderfahrung einher. In der Demenz kann die leidvolle Selbsterkenntnis des Verfalls schliesslich untergehen. Die Steigerung des Vitalgefühls, die Selbsterhöhung bis zum scheinbaren Verlust der Erdenschwere und Bodenhaftung in der Alltagsrealität, die Antriebskraft und Öffnung auf die Umgebung im manischen Syndrom wird zwar leidfrei, ja glücklich bis überbordend beseligend (Glücksekstase) erlebt. Wirkliches Glücksgefühl in klinisch ausgeprägten Manien ist selten und kurzdauernd, bald schleicht sich „Höhenschwindel“, Unsicherheit, Gehetztheit bis zur Inkohärenz von Fühlen, Denken, Handeln ein – oder es lauert im spürbaren Hintergrund das Grauen, der Absturz, die Bedrohung, die Niederlage. Manche heute so genannte Persönlichkeitsgestörte leiden weniger an sich selbst, ihrer Verletzlichkeit, Unsicherheit, Ängstlichkeit, emotionaler Labilität, Schwermut, Scham, Scheu, Schuld, sondern verursachen anderen durch ihre Wesensart Leiden. Manche narzisstische, antisoziale, dissoziale Persönlichkeiten verletzen ihre Mitmenschen aus Selbstsucht, Egoismus, Egozentrizität, Possessivität, Haften, Saugen, Mangel an Achtung, Respekt, Rücksichtnahme, Mangel an Empathie, Liebesunfähigkeit, sozialem Taktgefühl, Sympathie, durch Manipulation, Agieren, im Wechsel von Klammern/Abstossen, Symbiose/Aggression, Idealisierung/Entwertung. Psychopathologie ist die Lehre von den psychischen Krankheiten (wie in der somatischen Medizin die Allgemeine Pathologie), also nicht nur Symptomenlehre: Auflisten von Symptomen, Erarbeiten einer brauchbaren Definition, Operationalisierung und ihre mathematisch-statistische Verarbeitung. Dazu gehört die Frage nach den Krankheitsbegriffen, die Nosologie (welche Kriterien bestimmen eine Krankheit als charakteristisches Zustands-Verlaufsbild mit einheitlichen kausal-determinierenden Konditionen, Therapieansprechbarkeit, Verlauf und Ausgang) und die Diagnostik (Vereinbarungen über bestimmte kognitive Muster, Symptom-Syndrom-Gestalten, möglichst im Quer- und Längsschnitt). Psychopathologie muss also auch

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beitragen zur Erforschung der Krankheitsursachen und -bedingungen, zu Verlauf, Ausgang, Beeinflussbarkeit (Therapie). Betreffend die Krankheitsdisposition hat Psychopathologie das Verhältnis von Vulnerabilität und Resilience zu studieren. In diesen Bereichen soll Psychopathologie die deskriptiven Grundlagen (Symptome, Syndrome im Quer- und Längsschnitt) schaffen für Korrelationsstudien (zur Neurobiologie, zu gesellschaftlichen, kulturellen Faktoren).

Stufen des Wissens-Zugangs zur Psychopathologie Am Anfang steht, historisch gesehen und auch im Entwicklungsgang des Einzelnen, die Begegnung mit Einzelmanifestationen von Psychopathologie, d.h. mit Menschen, die als Träger von Leid und/oder Funktionseinbussen erkennbar werden. Das ist die alltagspraktische („klinische“) Erfahrung, die Ebene Lebenswelt, eine vorwissenschaftliche Stufe, in der der Einzelfall beeindruckt, und später, mit der Erfahrung vieler „Fälle“, auch die praktisch wichtige Kennerschaft wächst. Aus der fallbezogenen (idiographischen) Sicht filtert sich allmählich die praktisch bewährte Kennerschaft heraus, verdichtete Erfahrung. Dem Kenner verbindet sich praktisch-tüchtige Auffassung und fallangepasstes Handeln. In dieser Auffassung mag vieles unreflektiert, spontan und „intuitiv“ ablaufen, so auch im Handeln des Praktikers. Kennerschaft verführt zur Verallgemeinerung der persönlichen Erfahrung, ist sich oft der Beschränktheit jedes Erfahrungshorizontes zu wenig bewusst. Wie sehr erweitert sich das Erfahrungsgut der Psychiatrie, wenn sie über das Spital hinausschaut, in Ambulatorien, Privatpraxis, gar bei Hausbesuchen, in die nicht-psychiatrische Medizin, auf „organische“ Psychosyndrome, Epilepsie, Intelligenzmängel, Drogeneinflüsse – oder wenn gar die Vielfalt von Bewusstseinszuständen, ihre Induktoren und möglichen Inhalte betrachtet werden. Die kulturvergleichende Psychiatrie erweitert das Spektrum des Psychopathologischen noch mehr und zeigt uns die Schwierigkeiten der Differenzierung und Bewertung, besonders in schriftlosen, oft sprachlich wenig differenzierten Kulturschichten.

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Seit es eine Schulung zu „Experten“ in Psychiatrie, Psychologie, Sozialarbeit, Pflegeberufen gibt, mit Praktika im Ausbildungsgang, ist die Erstbegegnung schon vorgeprägt, vorbereitet, nicht mehr naiv. Aber die meisten Kliniker, auch solche mit Forschungseifer, bleiben bestenfalls auf der Ebene der Kennerschaft. Sie „benützen“ ihre Symptomkenntnis ohne tiefere Reflexion zum Erstellen psychopathologischer Befunde, in Epidemiologie, in Diagnoseneinteilungen, z.T. „Erfindungen“ neuer „Krankheiten“, in Pharmakastudien mit dem Ziel, Symptome zu bekämpfen, auszulöschen, zu zertrümmern. Das ist die Ebene, auf der die Wissenschaftsstufe 1 gefragt ist: Deskription, Operationalisierung, qualitative und quantitative Einschätzung („Messung“) von Symptomen. Dies gelingt bei verschiedenen Symptomen nur annähernd, selten präzis. Und: bei dieser Art Zugang zu Symptomen kommt die Erforschung der Selbsterfahrung des Patienten zu kurz oder fällt gar aus. Es bleibt bei der Perspektive der 3. Person. Symptome können zu Syndromen gruppiert werden, im „Freistil“ der klinischen Kennerschaft (häufiges gemeinsames Auftreten) oder durch Statistik. Da können Stufen der Syndromhierarchie (Syndrome 1. Ordnung, übergeordnete Syndrome etc.) konstruiert werden. In eine andere Interessenrichtung führte die Übung der Hermeneutik, der Exegese von Symptomen, Syndromen, supponierten „Krankheiten“. Im Gefolge verschiedener phänomenologischer Richtungen der Philosophie (Husserl, Scheler, Jaspers, Heidegger etc.) bemühten sich die existenzphilosophisch, anthropologisch, daseinsanalytisch etc. genannten Richtungen um eine exegetische Herausarbeitung von als „wesentlich“ angesehenen Charakteristika einzelner Erlebnisoder Verhaltensweisen. Dem Ansatz gemäss blieb diese Arbeit idiographisch, am Einzelfall orientiert, diesen als exemplarisch für als ähnlich erachtete „Fälle“ nehmend und dadurch sich zu scheinbar generell gültigen „Wesensaussagen“ wagend. Hermeneutik erarbeitet wie Interpretation (ein Überbegriff, der neben Hermeneutik auch die Einzeldeutung von Symptomen nach verschiedenen Schulen umfasst, z.B. psychoanalytisch, lerntheoretisch, systemisch etc.) zwar plausible Verstehensentwürfe, bleibt aber in der subjektiven „Über-

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zeugung“ („es leuchtet mir ein“, plausibel von applaudere d.i. Beifall klatschen). Dadurch ist solches Denken anfällig für überinklusives Allesverstehen (monomane Deutungen der Psychoanalyse) und damit für Inflation in grossem Sprachgewand (Psychomythologie von Jung, Daseinsanalyse, -analytik). Jaspers hat dies in seiner Kritik an der Psychoanalyse angesprochen: der Impuls, alles zu verstehen, nach vorgegebenen Mustern zu deuten, verführt dazu, dem Vorfindbaren das Eigene überzustülpen. Aber sein eigenes Verstehen (in Gegenüberstellung zum Erklären) blieb ein Nachzeichnen biographischer Entwicklung aufgrund von Krankengeschichten, das der kritischen Reflexion auf die eigenen Voraussetzungen dieses Verstehens (Normen, Werte, Mit-, Einfühlungsfähigkeit, Interpersonalität) bedarf. Kisker (1960, 100) brachte es auf den Punkt: „Der Schizophrene als Gegenstand distanzierter psychiatrischer Analyse ist ein Kunstprodukt“. Das gilt auch für manche weltabgeschirmte elitäre therapeutische Settings und für exegetische Sprachelaborationen über Dasein, In-der-Welt-sein, Existenz oder gar die transzendentale Konstitution solcher Menschen. In der Wissenschaftsstufe 2 geht es stärker um Episteme im Sinne von wissenschaftlich mehrfach geprüftem empirischem Wissen. Der Gegenstand, Sachverhalt sollte so konstituiert (!) werden, dass er möglichst personenunabhängig gemessen (intersubjektive Konfirmation der Reliabilität) und wiederholt gemessen (Wiederholungsreliabilität), durch andere Messverfahren ergänzt werden, dass er möglichst Falsifikationsversuchen widerstehen kann. Nach einer Reihe von Kriterien sollte dieses Wissen seine Validität erweisen (von der Face-Validity des Kenners bis zur Konstruktvalidität). Es ist klar, dass bei solcher Erarbeitung wissenschaftlichen Wissens zwar einiges Hartes von Bestand gewonnen werden kann, dass aber durch diese Prozedur vieles gar nicht erfasst werden kann, unbeachtet bleibt oder verloren geht. Deswegen erscheint „hartes“ wissenschaftliches Wissen dem Praktiker angesichts seiner sozialen Funktion als Kliniker oder Einzeltherapeut oft so karg, kaum brauchbar, nützlich als Hilfe für seine Aufgaben. Dazu kommt, dass solche Art empirischer Studien ihre eigenen Voraussetzungen kaum bedenkt: z.B. die Annahme, es gäbe Schizophrenie als eigene diagnostische Entität, gar

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als valide nosologische Entität; man könne Symptome standardisiert adäquat erheben und dokumentieren; man könne Dissoziation „sehen“ statt sie als Interpretationskonstrukt zu verstehen etc. Wie viel ist der Psychiatrie verloren gegangen an seriöser selbstkritischer Reflexion und Forschungsenergie durch die gehorsame Subordination unter das Kraepelin-Schema, die gar krude Einung affektdominanter und implizit der non-affekt-dominanten Syndrome und daraus mit der Leitidee früher Beginn, schlechter Verlauf und Ausgang in „Verblödung“ die Zweiteilung der „endogenen“ Psychosen zu konstruieren. Kraepelins Obsession vom Kriterium Unheilbarkeit ging so weit, dass er die geheilten Fälle von Dementia praecox als „unecht“ eliminierte, damit sein kognitives Muster bewahrt werden konnte. Eugen Bleuler war freier in der Grenzziehung und positiver in der Prognostik, geriet aber in eine inflationäre Ausdehnung der Schizophrenie-Diagnostik (bes. durch seine latente Schizophrenie und das Gewicht, das er der „Assoziationsstörung“, dem Autismus und der Affektstörung zumass, s. Scharfetter 2006). Ähnliche „Forschungs-Autismen“, Ideologien, Monomanien der Deutung finden sich viele in der Geschichte des Faches. Man denke an die Psychoanalyse als Musterbeispiel dafür, wie dem Vorfindbaren Deutungsgewalt angetan wurde. Ein eindrückliches, gar makabres Beispiel für das Gewicht nicht empirisch abgesicherter, klinischer Kennerschaft mit ihrem Autoritätsanspruch ist die so schöne, sauber geschriebene, gut strukturierte psychiatrische „Heeresdienstvorschrift“ Kurt Schneiders (der in der ersten Auflage Nicht-Psychiatern das Diagnostizieren von Psychiatriepatienten lehren wollte, zu welchem Zweck gab Anlass zu Argwohn, war diese Zeit doch geschichtlich die Vorhut der Vernichtungsaktion in Hitlers Nationalsozialismus). Kurt Schneider setzte fest, was er für diagnostisch erstrangige, was für zweitrangige Symptome hielt – und („Führer befiel, wir folgen dir“) Heerscharen von Psychiatern in aller Welt (also auch fern von Deutschland) folgten ihm fast ein Jahrhundert lang. Kurt Schneider kannte nur das Kraepelin-Schema, keine dissoziativen Störungen, keine kulturabhängigen Syndrome, keine Ethnopsychologie. Psychische Krankheiten galten

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als „natürliche“ Einheiten, als konkrete Wirklichkeit. Jaspers hatte die Krankheitseinheit als fruchtbare Idee gesehen (Allgemeine Psychopathologie, 476f.). Das Kraepelin-Schema ist wie die westliche somatische Medizin kulturuniversalistisch, beansprucht weltweite Gültigkeit und folgte nur dem Diktat der Lehrstuhlautorität, beachtete nicht einmal, dass Kraepelin seine Dichotomie 1920 selbst relativierte, allerdings ohne die Idee von eigenständigen Krankheiten aufzugeben. Schwierigkeiten kamen auf, als an dem Spektrum der Dissoziativen Störungen und der kulturabhängigen Krankheitsbilder interessierte Psychiater, ja sogar den Kraepelinschen Diagnosen getreue, beobachteten, dass Schneidersche Erstrangsymptome bei schweren Dissoziativen Störungen, ja sogar bei toxischen und reaktiven Psychosen, bei Mischpsychosen (selbst ein Artefakt vorgängiger Einteilung) etc. vorkamen. Wie peinlich, wie verunsichernd – woran konnte man sich denn nun orientieren? Wem solche Erschütterung der scheinbaren Grundfesten der Weltpsychiatrie (die WHO tut da voll mit!) ein heilsamer Schock war, der wurde frei für fruchtbares Nachdenken: was ist das Verhältnis von Diagnose und Krankheit? Was für konstruktive Vorgänge einzelner Autoritäten oder von Forschungsgruppen führten zu diagnostischen Entitäten, welche Validierungsmöglichkeiten gibt es für Krankheits-Einheiten? Warum hat die Psychiatrie des frühen 20. Jahrhunderts in ihrer Autoritätshörigkeit die kritische Reserve gegen das Kraepelin-Schema (z.B. Adolf Meyer 1910, Jaspers 1913) und die Forderung nach einer Syndromenlehre von Hoche, Birnbaum, Bonnhoeffer nicht hören wollen? Warum musste im sozialhistorischen Prozess des Machtringens um Paradigmen und Modelle die fruchtbare Deutung mancher psychischer Störungen als auf Schwächen der „Assoziation“ verschiedener mentaler Funktionen beruhend (Dissoziationsmodell), die Dissoziation von der übermächtigen Freudschen Verdrängungslehre verdrängt, supprimiert, abgespalten werden? Und mit ihr das Ernstnehmen der Traumaätiologie? Es ging sogar „vergessen“, dass Eugen Bleulers Namensvorschlag „Schizophrenie“ damals (1908) in einer Fülle von Benennungen dieser Syndrome als dissoziativen aufkam. Mit dem Siegeszug der Kraepelinschen Diagnostik und ihrer Somatoseätiolo-

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gie ging unter, dass die zentrale Selbsterfahrung der schizophren genannten Menschen die Fragmentation (bis zur Zerstörung) des IchBewusstseins ist. Diese darf legitim den mittels des Dissoziationsmodells interpretierten psychopathologischen Gestalten zugeordnet werden und zwar als spezielle, das Ich betreffende Art. Erst mit der Wiederankennung der Traumaätiologie und mit der erweiterten Perspektive der kulturvergleichenden Psychopathologie kam ab 1980 (ähnlich wie 100 Jahre vorher in Frankreich) das Spektrum von als dissoziativ deutbaren Störungen wieder ins Blickfeld (z.T. mit inflationärer Diagnostikmode). Und mit einer langsam doch wachsenden Reserve gegenüber der Kraepelinschen Dichotomie (Bentall 1990, 2003, Read et al. 2004, Ross 2004) kann der Blick sich wieder öffnen, Dissoziationen als taugliches Interpretationsinstrument für viele Phänomene im dimensionalen Spektrum von gesund über temporär und partiell dysfunktionell bis zu schweren Störungen der IchSelbsterfahrung in den basalen Dimensionen des Ich-Bewusstseins anzuerkennen (Scharfetter 1995, 1996, 1999, 2000, 2001.). Bentall (2003) legt seiner Kritik an dem Krankheitsmodell Kraepelins und der Neokraepelianer und seinem Verstehensentwurf von madness eine Zusammenschau empirischer Belege, speziell zu so genannten Positiv-Symptomen (Wahn, Halluzination) zugrunde. Leider geht er gar nicht auf das Dissoziationsmodell ein (er erwähnt es nur in einer skeptischen Fussnote). Ross (2004) hingegen propagiert in der Linie seiner Arbeiten zum realen Trauma und zu den Dissoziativen Störungen, besonders den Dissoziativen Identitätsstörungen, ein Ernstnehmen des pathogenetischen Gewichtes von Traumen (einschliesslich Neglect) und vom Dissoziationsmodell i.S. von Pierre Janet (Van der Hart et al. 1989) und Eugen Bleuler (1911). Ross „sieht“ die Dissoziation manifest in einem weiten Spektrum von dem Pol „gesunden“ Funktionierens über Dissoziationen von Einzelfunktionen (z.B. Gedächtnis), Depersonalisation, Derealisation, unspezifischen Dissoziationen i.S. der DSM-IV bis zum anderen Pol, der schweren Pathologie von Dissoziierter Identitätsstörung (DID) und Schizophrenien. Im Feld der (i.S. von DSM-IV) schizophren genannten Störungen postuliert er eine grosse (ca. 40%) Untergruppe „dissoziativer Schizophrenie“, in seiner Sicht identisch mit DID. Er un-

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terscheidet diese Gruppe gegenüber der non-dissoziativen Schizophrenie durch eine deutliche Erhöhung von Traumen (spez. Abusus in der Kindheit), positiver (oder produktiver) Symptomatik (spez. kommentierende und befehlende Stimmen) und hoher Inzidenz weiterer Syndrome (Depression, Sucht, Automutilation, Angst, Phobie, Zwang etc.) und von Borderline-Störungen. Hingegen komme in dieser Gruppe seltener ein Zerfall des Denkens und der Sprache sowie Negativ-Syndrome vor. Sie spreche weniger auf Pharmaka an und besser auf strukturierte, am Traumamodell orientierte Psychotherapie. Mein eigenes Nachdenken über das Dissoziationsmodell (1999) führte auch zu einem dimensionalen Kontinuitäts-Spektrum des Dissoziativen (mit kritischer Reserve gegen ein Overdiagnosing von Dissoziation) von funktionell nötig, sogar tauglich bis zur schweren Pathologie in der Dissoziativen Identitätsstörung und den Schizophrenien. Bei der Anwendung des Dissoziationsmodells für mannigfache Pathologien der Persönlichkeit wäre jeweils die vorausgehende Vorstellung von der „normalen“ Persönlichkeit, von ihrer Einheit, ihrer Integration, Harmonie ihrer Facetten zu bedenken. Seit die archaische Vielseelen-Anthropologie (Polypsychismus) von dem Monopsychismus abgelöst wurde, dominiert die Idealnorm einer einheitlichen Persönlichkeit, parallel eines einheitlichen Bewusstseins definitiver eigener Identität. Novalis (1772-1801) sprach von der „inneren Pluralität“ und von der „echten synthetischen Person ... die [obzwar] in mehrere Personen zerteilt, doch auch eine zu sein [vermag]“. Er wusste auch schon von der Möglichkeit, dass sich „die Seele im höchsten Schmerz zersetzt“. Nietzsche war das Thema vertraut: „... eine Menschwerdung der Dissonanz ... und was ist sonst der Mensch?...“ (Ges.W.1, 155). Und weiter 1880: „Das Ich ist nicht die Stellung Eines Wesens zu mehreren (Triebe, Gedanken usw.), sondern das ego ist eine Mehrheit von personenartigen Kräften, von deren bald diese, bald jene im Vordergrund steht als ego ... eine Vielheit von Quantitätsgraden ...“ (Ges.W. 9, 211).

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In solcher „Mehrheit von personenartigen Kräften“ ist die Disposition zur Dissoziation zu vermuten. Die Dissoziativen Identitätsstörungen sind sehr vielgestaltig für das Erleben der Betroffenen (1. Person) und für den Beobachter (3. Person). Da ist eine weite Spanne zwischen schwer beeinträchtigten, gar lebensunfähigen Menschen und bei oberflächlicher Sicht recht unscheinbaren, in ökologischen Nischen durchaus adaptierten Personen. Manche treten eher diskret in andere Ich-Zustände (s. Watkins) oder „nur“ in tranceartige Versunkenheit (absorption). Bei anderen dominieren fluktuierend verschiedene Teilselbste (subselves, subpersonalities), manchmal mit eigenem Namen, divergentem Lebensalter, Geschlecht, Charakter. Bei einigen bleibt ein öffentliches Selbst bestehen, das sich im Leid zeigt und in die Therapie kommt, auch über „die anderen“ berichtet. Dann besteht meist eine mnestische Übersicht über die Aktivitäten der Teilselbste. Im Längsschnitt kann es zur Vervielfältigung von solchen Teilen kommen, mit vielen so genannten produktiven Symptomen, bes. Stimmenhören, und mit Zerfallsängsten und Erleben des Auseinanderbrechens – da ist der Übergang zu den schizophren genannten Störungen. Bei manchen interagieren die Teilselbste friedlich (Helfer) oder in Hass und Zerstörung. Unter Umständen kann eine Information eines „underself“ nicht zum „upper self“ gelangen (W. James, 1890, vol.1, p. 206) oder umgekehrt. „ ... in certain persons ... the total possible consciousness may be split into parts which coexist but mutually ignore each other, share the objects of knowledge [or] are complementary”.(ibidem) Zwischen funktional tauglich und pathologisch sind Übergänge und Überschneidungen anzunehmen. Die Schizophrenien haben einen gemeinsamen Nenner: die Pathologie des Ich/Selbst-Bewusstseins, geordnet in den Dimensionen Identität, Demarkation, Kohärenz-Konsistenz, Aktivität, Vitalität. Sie ist empirischen Studien zugänglich (Scharfetter 1996). Innerhalb dieser Ich-Störungen sind Grade der Pathologie anzunehmen: Patienten

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mit einer dauerhaften megalomanen Überkompensation ihrer Identität (z.B. sie seien omnipotente Heiler) können stabil und kaum dysfunktionell in einer ökologischen Nische leben. Hingegen ist der Zerfall des Ich, die Konsistenzzerstörung, der Vitalitätsverlust bis zum Totsein mit einem Bestehen der Lebensaufgaben nicht vereinbar. Auch die Störung der Ich-Aktivität, das Gemachtwerden efferenten und afferenten, kognitiven und affektiven Geschehens, wirkt ebenso wie die Lahmlegung jeder eigenen Intention und Handlungsfreiheit stark behindernd. Eine solcherart differenzierte Ich-Psychopathologie reiht die „Schizophrenien“ mit ihrem Anschluss an die Dissoziative Identitätsstörung (Multiple Persönlichkeitsstörung) in das Spektrum des Dissoziativen ein. Dies bedeutet eine Heimkehr der Schizophrenien in das ursprünglich gemeinte polymorphe Feld der Dissoziativen Störungen. Dies war ja im Namen Schizophrenie und in Bleulers Theorie der Symptomatik (1908, 1911) gemeint, ging aber in der somatologischen Prozess-Morbus-Tradition nach Kraepelin und Schneider – DSM/ICD verloren. Das „Ich selbst“ (Ich-Bewusstsein), an dem wir Selbsterleben, Selbstbeobachtung und -behüten, -bestimmung, gar Selbstverwirklichung ins Auge fassen können, hat sein Fundament in den basalen Dimensionen der Vitalität, Aktivität, Konsistenz-Kohärenz, Demarkation, Identität, die erst den „Überbau“ ermöglichen (Scharfetter 1996). Damit werden heuristische Einteilungen der Syndrome möglich: ichkohäsive von ich-inkohärenten Syndromen zu unterscheiden. Eine solche Deutungsperspektive zeigt, worauf es bei der Therapie ankommt: Ich-Synthese, -konsolidierung. Wie aber leistet Therapie solche grosse Aufgabe: die Bindung stärken? Damit stehen wir wieder vor der nie abzuschliessenden Frage: Wie kommen wir zu brauchbarem viablen Wissen, das sich in den je wechselnden individuellen Krankseinsweisen bewährt, Situation und Kontext berücksichtigt, das Einsicht, Kognition und Empathie fördert? Die Weite des Horizonts auf das Menschliche in Gesundheit und Krankheit (dimensional gesehen), die Sicht auf viele andere Bereiche ausserhalb der Pathologie, auf Anthropologie, Soziologie, Philoso-

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phie (bes. Epistemologie und Methodologie), auf Anatomie und Physiologie – sie kann das Fragen befruchten. Dabei sollte sich der Psychopathologe als Kliniker und Therapeut stets der Bewährungsprobe der alltagspraktischen Aufgabe stellen. Das ist das beste Antidot dagegen, der Polymorphie des Vorfindbaren die Monomanie eigener autistischer (dereeller) Ideen aufzudrängen. Diese Vielgestaltigkeit der Lebensformen in- und ausserhalb der Pathologie entzieht sich triumphal-souverän der ideologischen Vereinnahmung welcher Art auch immer (materialistisch, psychologisch, soziologisch, „spirituell“).

Selbsterleben und Verhalten Verhalten (z.B. Parakinesen) kann beobachtet werden (3. Person). Aber der Psychopathologe muss das Erleben zu erforschen trachten, das einen Menschen zu dem beschreibbaren Verhalten bringt. Dazu einige Beispiele: Ein junger Mann holte sich wiederholt Prügel, weil er in seinem Liebeswahn aufdringlich war. In der Klinik war er, spracharm, völlig von seiner Wahnwirklichkeit befangen. Nach etwa einem Jahr war der Liebeswahn verschwunden. Aber der Mann war stark zerfallen im Sprechen, Denken, im auch leiblichen Selbsterleben. Es liegt nahe, die funktionelle Bedeutung des Liebeswahns als Selbstrettungsversuch des von Zerfall (Dissoziation) bedrohten Ich aufzufassen: ich bin ein Mann, als solcher begehrend gerichtet und beziehungsfähig. Als der Wahn zusammenbricht, fehlt der letzte Halt des desintegrierenden Ich. Ein junger Mann im katatonen Stupor musste hyperventilieren, um sich – in der forcierten Repetition des elementaren Lebensvorganges Atmung – zu versichern; ich lebe noch. Das Verhalten, in Regungslosigkeit und Stummheit zu erstarren und zu überatmen, wird verständlich, ist funktionell sinnvoll: er braucht Hilfe, um sich seines Lebendigseins wieder sicher zu werden. So können wir mit ihm atmend die Hyperventilation verlangsamen, beruhigen: gewissermassen psychiatrische Notfalltherapie auf der Ebene des Leibes.

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Aus solcher funktionaler Psychopathologie, die den Zusammenhang von Erleben und Verhalten zu erforschen sucht, gewinnen wir den Hinweis, was der Patient nicht mehr kann, was er verloren hat, was er als Hilfe braucht und annehmen kann. In ähnlicher Weise sollten wir versuchen, jedes so genannte psychopathologische Symptom zu interpretieren. Diese zu brauchbaren therapeutischen Hilfen führende Interpretation zu leisten, ist eine nie abschliessbare Aufgabe. Dies deshalb, weil die Symptome nicht auf einer mentalen Ebene situiert sind, sondern in komplexen Abhängigkeiten stehen. Einbrüche ins Selbsterleben, Betroffenheiten davon, Angst und Erstarren, Flucht, Aggression als Reaktionsformen darauf und auf die Verhaltensweisen der anderen Menschen (einschliesslich Hospitalisation), später Ohnmacht, Resignation, Resentiment, Verleugnung u.v.a. schaffen ein dichtes Netz, in dem der Patient unter Umständen gefangen bleibt. Die Zusammenhänge vom Selbst-Erleben des Patienten (1. Person) mit der interpersonellen Situation (2. Person, Ich-Du/Sie, Wir) und dem beobachtbaren Verhalten (3. Person-Perspektive) sind in jedem Fall neu zu befragen. Die Besinnung auf das beschränkte menschliche Erkenntnisvermögen wird den Psychopathologen bescheiden stimmen: nie ist „etwas“, ein Mensch, eine Biographie, eine Krise, eine Krankheit abschliessend erfasst, verstanden, erkannt. Die vielen Bedingungen, notwendigen, aber nicht ausreichenden, konkomitierend-steuernden, mitbeeinflussenden sind nie ganz durchschaut: mit jeder neuen Forschungsperspektive tauchen neue Gesichtspunkte auf, die neues Befragen der „alten Sache“, den psychisch kranken Menschen, anregen. „Das Vielfache ... im Gewebe der Kausalverhältnisse ist das im Leben Wirkliche.“ Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 377

Die Differenzierung des Ich/Selbst-Erlebens ist zentral in aller Psychopathologie. Verbunden mit dem kritisch gehandhabten Dissoziations-Deutungs-Modell können wir damit kohäsive (z.B. Depression,

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Angst, Zwang, viele Persönlichkeitsstörungen) und non-kohäsive (d.i. dissoziative) Störungen unterscheiden. Bei diesen ist zu differenzieren, welche psychischen Funktionen abgetrennt wurden (temporär oder dauernd). Wenn die Fragmentierung des Ich/SelbstBewusstseins (die Ich-Pathologie) als gemeinsamer Erlebnis-Nenner der ätiopathogenetisch heterogenen schizophrenen Syndrome anerkannt wird, kommen wir nicht umhin, diese Krankheitsgruppe der Zerstörung des Ich/Selbst-Bewusstseins in die Gruppe der dissoziativen Störungen heimzuholen (aus diesem Denkmodell kam ja der Namensvorschlag Schizophrenie von E. Bleuler) – freilich als eine ganz spezielle Gruppe, weil die zentrale Bewusstseinsinstanz Ich/Selbst betroffen ist (und nicht nur periphere Funktionen oder fluktuierende Teilselbste). Das Selbst-Erleben ist notorisch schwer zugänglich – für den Betroffenen und den Forscher. Wir erfahren davon aus spontanen averbalen Expressionen (mimisch, gestisch, Körpersprache), durch Ausdrucklesen mit all seinen Schwierigkeiten der Validierung solchen Wissens. Oder wir vernehmen verbalisierte Kundgebungen: gerichtete Mitteilungen oder ungerichtete Äusserungen (Laute, Stöhnen, Schrei, Worte). Der averbale Ausdruck muss gedeutet werden und zwar von der 3. Person, d.h. ihr Vorwissen, Kennerschaft, Erfahrung, Interesse, kognitiv-empathische Sensibilität, Denkschule mit ihren Deutungsmitteln fliessen da ein. Ungerichtete Äusserungen müssen mit eben solchen Vorbedingungen aufgenommen werden – also bleibt es oft bei heuristischen Deutungen. Auch die gerichteten Verbaläusserungen müssen „verstanden“, aufgefasst, gedeutet werden und enthalten dadurch ausser der implizierten Selbstdeutung des Patienten noch den Einfluss des Interpreten. Bei der (freien oder standardisierten) Exploration wird die Antwort vom Befrager mitbestimmt, seinen Vorannahmen (z.B. betreffend die Diagnose) und seiner Wesensart (behutsam fragend oder siegreich durchschauend, gar morbus-bekämpfend). Die Erforschung der Selbst-Erfahrung ist für das funktionell-finale Verstehen von Verhalten wichtig, ja für jede vertiefte Psychopathologie (die nicht nur an der Oberfläche von Checklisten bleibt) un-

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umgänglich: wir möchten die betroffene Person in ihrer Selbsterfahrung (1. Person-Perspektive) verstehen und in ihrer Interaktion mit dem Kliniker und mit ihren Bezugspersonen (2. Person, 3. Person). Das Verhältnis dieser Perspektiven ist abzuwägen; was hat mehr Gewicht: das Erleben des Betroffenen oder die Auffassung des Beobachters (cave Macht des Experten)? Der Experte als Therapeut sollte Geburtshelfer der Sprachwerdung als ersten Schritt der (wenigstens kognitiven) Bewältigung des den Patienten Betreffenden werden (Maieutik). Dabei ist die kulturell verschiedene Gewichtung der Sprache, besonders der der Selbsterfahrung und Selbstmitteilung, sorgsam zu beachten. Besondere Schwierigkeiten der kognitiven und sprachlichen Gestaltung der Selbsterfahrung treffen wir an in besonderen Wachbewusstseinszuständen (weil Sprache für einen Durchschnittsnormbereich des Erlebens zuständig ist), in hoch emotionalen Zuständen (Angst, Wut, Ohnmächtigkeit, selten Glücksekstasen), die verwirren und ratlos bis sprachlos machen, und in neuen befremdlichen IchZuständen, die ängstlich, ratlos, orientierungslos stimmen: von der Depersonalisation und Derealisation zu entgleitendem Ich-IdentitätsBewusstsein (dissoziierte Identitätsstörung) und fluktuierenden IchZuständen („emotionale Instabilität“ von Borderline-Patienten) bis zur Zerstörung des Ich-Selbst-Bewusstseins in den fünf basalen Dimensionen (Vitalität, Aktivität, Konsistenz-Kohärenz, Demarkation, Identität, s. Scharfetter 1995). Aus unserem kognitiv-empathischen Verstehen kommen wir zu empathischer Information (aus der Perspektive der 2. und 3. Person zu der der ersten) und zur Entwicklung ich-rekonstruktiver, -konsolidierender Therapieangebote. Am Beispiel der Automutilation lässt sich die Schwierigkeit aufzeigen, die zu dem Verhalten führende, motivierende Selbsterfahrung zu klären. Das Verstehen sollte antworten auf die Fragen Warum? Wozu? Aus welcher Intention? Aus welchem Impuls? Unverstanden von der 1. Person bleibt die Selbstschädigung auch von der Perspektive der 2. und 3. Person aus unklar. Der Beobachter kann aus allgemeinem Wissen oder aus der Kenntnis dieses Patienten mutmass-

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liche Deutungen anbieten, die die 1. Person vielleicht annehmen kann. Der Prozess kann im besten Fall zum Erlernen alternativer, nicht-schädigender Verhaltensweisen führen. Aber keineswegs jede plausible Motiverhellung führt schon zu einem Freiwerden von diesen Impulsen. Die Selbstversicherung „im Schmerz fühle ich mich lebendig“, „der körperliche Schmerz übertönt den seelischen“, im Schmerz entlädt sich die Angst, Spannung Wut, Selbsthass, entfesselte Zerstörungswut – dies sind nur einige der Vorgänge bei der Automutilation. Wenn, wie oft zu beobachten, das Geschehen in einem tranceartig benommenen oder verwirrenden Bewusstseinssturm geschieht, tappt die Motivanalyse im Dunklen. Umso wichtiger kann es werden, die unmittelbar voraus gehenden mentalen Inhalte und Stimmungen zu beobachten. Die Deutung der vielfältigen Selbstverletzungen als „Trauma reenactment syndrome“ nach meist in der Kindheit erfahrenem Missbrauch oder Neglect mittels einer Verbindung von Objektbeziehungs- und Dissoziationsmodell hat Dusty Miller vorgelegt (1994, 2005) in ihrem für Therapeuten wichtigen Buch: Women who hurt themselves.

Kontinuität gesund – krank Psychopathologie muss zum Vergleich das funktionstüchtige, „gesunde“ mentale Leben studieren und den als pathologisch bezeichneten Teil im Zusammenhang allgemein-menschlichen Erlebens und Verhaltens betrachten. Psychopathologie liefert einen Beitrag zur Anthropologie, wie Ideler um1840 sagte, indem die Pathologie wie mit dem Vergrösserungsglas Einblick in die Werkstatt der Psyche auch in gesunden Zeiten gibt (Über wichtige Einsichten Idelers siehe Scharfetter, 1987, 3-9). Darauf gründet eine frühe psychodynamische Einsicht (die Werkstatt ist eine Stätte des Wirkens!): „Wir sehen in der Psychose das angestrengte Arbeiten des Bewusstseins an seiner Reorganisation“, sagte Ideler (1847). Da wird bald klar: Psychopathologie trifft auf grundsätzlich allgemein Menschenmögliches. Psychische Krankheit schafft nichts grundsätzlich Neues.

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Diese Sicht führt zu dem Kontinuitätsmodell: da ist keine scharfe Grenze zwischen gesund und krank. Da sind breite Übergänge, manche Pathologie gärt verborgen in den Tiefen unter der Präsentierpersönlichkeit und wird nur in bestimmten Situationen offensichtlich – wie andererseits „neben“ der psychopathologischen Manifestation gesundes, ja auch kostbar-wertvolles psychisches Leben bestehen kann (wie z.B. M. Bleuler oft betont hat).

Kontinuum kohäsiver zu non-kohäsiven Psychopathologien Im Blick auf die Persönlichkeit des Menschen haben wir gelernt, das Idealbild einer einheitlichen, in sich integrierten Persönlichkeit als kulturelles Wunschbild der gesellschaftlichen Präsentierpersönlichkeit zu durchschauen. Realistischer scheint ein Multimind-Polyphrenie-Modell, ein Neben- und Untereinander von gesunden und kranken, guten und bösen Anteilen, von sehr heterogenen Persönlichkeitsfacetten zu sein. (Die kulturgeschichtlichen Parallelen sind im Polypsychismus vs. Monopsychismus, Polytheismus vs. Monotheismus zu sehen). Dabei müssen wir lernen, die VielfacettenPersönlichkeit, die sich „postmodern“ sehr vielfältig manifestieren kann, solange sie noch zusammenhängt, zu unterscheiden von der graduell schwereren Inkohärenz fluktuierender Subpersönlichkeiten (Teilselbste) der multiplen Persönlichkeit (dissoziative Identitätsstörung). Bei schwerer Desorganisation der Teilselbste sind Übergänge zu „schizophrener“ Störung des Ich/Selbst-Bewusstseins zu beobachten. Auch innerhalb dieser Gruppe gibt es Grade der Ich-Störung (vom Identitätswechsel bis zur Devitalisierung des Ich).

Perspektivengemässe Multi-Methodik Die Methodik muss der gewählten Perspektive gemäss sein. Für die Erforschung der Selbsterfahrung eines Patienten (1. Person-Perspektive) ist die spontane oder im Interview induzierte Selbstmitteilung die Informationsquelle: was teilt der Patient von sich aus direkt oder indirekt mit. Z.B. Direkte Selbstmitteilung: Ich fühle mich elend. Ich

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habe Angst. Ich werde verfolgt. Ich fühle mich zerfallen. Ich werde von Impulsen überwältigt. Indirekte Selbstmitteilung: Ich muss so stark atmen, damit ich weiss, dass ich noch lebe. Ich muss mein Blut sehen, um mich zu versichern, dass es noch fliesst. Ich muss diese Bewegung immer wiederholen, um sicher zu sein, dass ich mich noch aus eigenem Willen bewegen kann. Solche Selbstmitteilungen sind sprachabhängig: sie sind bestimmt von der vorbestehenden – und kulturell mitbestimmten – Sprachfähigkeit des Patienten, aber auch von der durch die Erfahrung und Situation gegebenen Spracheinschränkung. Wo die Betroffenheit so schwer, bedrohlich, fremdartig, überwältigend ist, wird der Patient sprachlos (Mutismus), oft auch regungslos (Stupor, Amimie, Akinese), mit allen Übergängen (wenige geflüsterte Worte, lange Latenzen). Jede Sprachfassung enthält schon ein präzedentes Sprachverständnis, einen u.U. idiosynkratischen Usus der Wortwahl, Diktion, Phonation. Zur Sprachabhängigkeit der Selbstmitteilung kommt die der interpersonellen Situation. Wer spricht zu wem in welchem Setting? Wo, in welchen Umgebungsbedingungen (räumlich, atmosphärisch, personell, Machtverhältnis etc.) findet die Selbstmitteilung statt? Die Sprachmitteilung trifft auf einen (oder mehrere) Rezipienten, deren Vorerfahrung (Kennerschaft), Interesse, Sensibilität, Sprachkompetenz hier ins Spiel kommt. Die im Gespräch (diagnostisches Interview) „herausgeholte“ Selbsterfahrung steht noch stärker in diesen Abhängigkeiten. Sie sind unausweichlich, müssen aber in den Schlussfolgerungen bedacht werden. Es mag an diesen Schwierigkeiten liegen, dass die Psychopathologie der Selbsterfahrungen von Patienten bisher eher dürftig ausgearbeitet wurde. Dies trifft besonders für die Ich-Psychopathologie zu, die nach wichtigen Beobachtungen z.B. von Kahlbaum, Griesinger und späteren lange nicht systematisch ausgearbeitet und somit einer empirischen Beforschung zugänglich gemacht wurde (s. Scharfetter 1996). Erst in einer solchen Ausarbeitung wird ein Einblick in die polymorphe Psychopathologie (1., 2., 3. Person-Perspektive) so genannter schizophrener Syndrome und eine Ordnung nach den Reaktionsweisen auf die basale Ich-Pathologie möglich (Scharfetter 1995).

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Heute stehen vertiefte Studien über die Selbsterfahrung in anderen (als schizophrenen) ich-desintegrativen Krisen z.B. bei BorderlinePatienten, bei dissoziativen Störungen, bei Oneiroid, Trance und verwandten Bewusstseinsveränderungen an. Auch die Perspektive auf die Interaktionssituation, in der ein psychopathologisches Ereignis beobachtet wird, ist wenig ausgearbeitet. Kahlbaum (1863) hatte schon von einem Mann berichtet, der sich als Leichnam fühlte – aber: dieses Selbsterleben hing von seinem Gegenüber ab. Das ist interaktionale Psychopathologie! Jeder psychotherapeutisch engagierte Kliniker freut sich, wenn er Halluzination und Wahn eines Patienten im wechselseitigen Austausch schwinden sieht – und ist betrübt, wenn er hört, dass diese Befreiung nach Beendigung der Interaktion nicht lange anhält, weil der Patient, allein gelassen, wieder in die Pathologie entgleitet. Diese Interaktionsabhängigkeit gilt ganz gewichtig in dissoziativen Bewusstseinszuständen – ja erlaubt gerade in der schwierigen Differentialdiagnose von Stupor, Mutismus, Ekstase, Enstase, Trance, fugue, hysterischer vs. epileptischer Ausnahmezustand gewisse Hilfen. Auch kohäsive Syndrome, z.B. ein depressives Syndrom, können in einer gelingenden Interaktion aufhellen, Zwänge und Phobien gemildert werden. Von daher ist deutlich, dass Psychotherapie jeder Art von dem interpersonellen Wechselspiel der Interagenten getragen ist (s. Benedetti 1992, progressive Psychopathologie, Positivierung der Psychopathologie). Die reduzierte, ungenügende Psychopathologie, die sich in Lehrbüchern und Psychopathologie-Skalen niederschlägt, ist vorwiegend auf die Perspektive auf den Patienten als den Anderen, Fremden eingeschränkt (3. Person-Perspektive). Nur das gäbe „objektive“ Beobachtungen und Daten, wähnen solche Psychiater – und merken nicht, wie weit sie vom Patienten entfernt sind. Das passt zum somatologischen Morbusmodell (Geisteskrankheiten seien Hirnkrankheiten) und zur Abschottung in der Dichotomie krank-gesund (statt der dimensionalen Betrachtung). Erst wo die genannten drei Perspektiven klar sind, kann die weitere Ausarbeitung der Psychopathologie beginnen. Die Such-Perspektive,

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das Aufmerksamkeits-Ziel, muss klar sein. Dann folgt die Deskription in aller Vorsicht, welche impliziten Vorannahmen in der Spracherfassung, gar der Terminologie da einfliessen, z.B. jede Halluzination sei ein Krankheitszeichen, jede Absorption (emotional oder gedanklich) sei Zeichen einer Dissoziation (missdeutet als PathologieSymptom). Der Deskription folgen die verschiedenen Ansätze der Phänomenologie. Das ist zunächst die bescheidene sorgfältige Betrachtung des Selbst- und Welterlebens und der Zusammenhänge zwischen Erleben und Verhalten (funktionale Psychopathologie). Viele Phänomenologen aber gingen weiter, wollten im Gefolge Husserls Wesensblosslegung leisten oder im Gefolge Heideggers am einzelnen Kranken die je eigenen defizienten Modi des In-der-Welt-seins (cave implizite Normen, bes. die eigenen Wertnormen des Interpreten), seiner Existenz, seiner Sinnfindung oder -verfehlung darlegen. Phänomenologie solcher Art ging mit ihrer Exegese und Hermeneutik in verschiedene Denk- und Sprachspiele über – und wurde psychogrammatisch für die Autoren eher als für die Patienten, deren sprachliche und aussersprachliche Kundgaben Material für die kognitive Digestion der Schreiber lieferten. Die Geschichte des Faches Psychopathologie zeigt viele Interpretationsversuche nach verschiedenen Paradigmen (die selbst wieder das zugrunde liegende Menschenbild spiegeln). Die psychoanalytischen Interpretationen (wie sie z.B. Freud an den Schriften von Schreber vorlegte) illustrieren eindrücklich und tragisch, wie in der Faszination von der Libido das Selbst, das Ich-Erleben und das Interaktionsgeschehen ausgeblendet wurden und wie in einer schon vorweg inhärenten Deutungsideologie das Erlebte und Beobachtbare wenig gewürdigt wurde gegenüber der von Freud angenommenen Dynamik des Unbewussten (so Freud 1917 an Ferenczi). Eugen Bleuler rühmte sich, hunderte von Schizophrenen analysiert und keinen ohne Sexualkomplex gefunden zu haben. Bei Jung wurde das Unbewusste noch mehr zu einer mythisierten quasi-divinen Macht unbegrenzter Möglichkeiten, jedwedes menschliche Verhalten zu deuten. Solche quasi-intellektuellen und pseudoszientistischen Denksysteme, von Kierkegaard treffend Verstandesmythen genannt (1844), sind invasiv

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wie Pilze im feucht-warmen Erdreich. Andere Autoren entwarfen ihre Interpretationen in breiten Exegesen (Binswanger), fixierten ihre Aufmerksamkeit auf transnosologische und transpsychopathologische Fremdheitserlebnisse (Blankenburg, Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit). Von der Psychopathologie mit ihren drei Hauptperspektiven (auf die erste, zweite und dritte Person) weiter entfernt sind sprachanalytische, lerntheoretische, soziologische, kulturanthropologische, neuropsychologische, somatologisch-neurowissenschaftliche Ansätze. Sie bereichern die Pluralität der Sichten und Korrelationen, ersetzen aber nicht Psychopathologie als mehreren Perspektiven und den dazu passenden Methoden verpflichtetes Fach (wie Jaspers schon 1913 in der 1. Auflage forderte). Bedenken wir jeweils, was für Perspektiven implizit oder explizit ausgeschlossen werden in der Wahl einer Sicht, eines Denkmodelles (z.B. Verdrängungs- vs. Dissoziationsmodell), gar eines Paradigmas (Psychosen hätten neuropathologische Grundlagen oder genetische oder sie seien soziogen im antipsychiatrischen Paradigma). Biologisch-somatische Krankheitskonzepte blenden meist die persönliche psychologische Psychodynamik, das Interpersonelle, Soziokulturelle aus oder lassen es nur als Lippenbekenntnis gelten. Sozio-kulturelle Paradigmen blenden die Perspektive auf die erste Person und das Interaktionelle (Ich-Du/Sie-Wir) aus. Systemische Modelle präsentieren sich mit Ganzheitsanspruch, doch das Ich/Selbst schwindet dabei zu einem gewichtslosen Epiphänomen. Es ist deutlich: Psychopathologie ist kein geschlossenes System des Wissens, sondern eher ein Kaleidoskop verschiedener Ansichten, Modelle, Interpretationen – mit ganz unterschiedlichem „Wissen“ hinsichtlich Reliabilität, Validität, Viabilität im Sinne praktischer Brauchbarkeit. Diese Feststellung ist nicht nur negativ: sie zeigt auch die Offenheit, das potentiell Germinative, das wir von der Psychopathologie erwarten dürfen. Und sie weist auf das Ziel der Integration von Wissen aus verschiedenen Perspektiven. Alle Psychopathologie ruht auf kognitiv-empathisch gelenktem Sehen und Hören, Vernehmen sprachlicher und aussersprachlicher

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Zeichen. Das ruft viele Fragen auf: was wird als Zeichen aufgefasst, herausgehoben, erfasst? Wie wird ein Zeichen im Quer- und Längsschnitt eingeordnet, gewichtet, gedeutet? Als Zeichen sind so bemerkte „Dinge“ Vorkommnisse in der externen Welt (3. PersonPerspektive). Wie kommen wir zu einem Erkennen von Innenweltvorkommnissen, Erlebnissen (1. Person-Perspektive)? Wie zu einer viablen Konstruktion eines funktionellen Zusammenhanges von Selbsterleben und (sichtbarem) Verhalten? Wie wird ein Bemerktes zum Zeichen, dann zum Symptom? Wie wird etwas als auffallend, herausragend bemerkt? Was fliesst da antezedent ein: scheinbares Normenwissen aus der eigenen Biographie und Kultur des „Experten“? Wie wird das Bemerkte bewertet, eingeschätzt, gewichtet, hinsichtlich seiner Aussagekraft, Bedeutung beurteilt (Bedeutungszuschreibung aus ungeprüftem impliziten Vor„wissen“, -meinen)? Wie wird das Bemerkte zum Symptom einer Krankheit gemacht, zu einem eine bestimmte Krankheit anzeigenden Merkmal deklariert, d.h. als pathognostisch gewichtet, spezifisch oder unspezifisch für eine diagnostische Kategorie (oft missverstanden als nosologische Entität)? In diesem vielschichtigen diagnostischen Prozess kommt die Intuition ins Spiel, jenes kognitiv-affektive atmosphärische Ahnen, Angemutetsein, Ideieren, das praktisch so wichtig (für die Kennerschaft, die Praxis), aber epistemisch-kritisch so schwer hinsichtlich Quellen, Determinanten und Ergebnissen transparent zu machen ist. Da kommen gestaltpsychologische Gesichtspunkte der Gestalt- und Ganzheitsauffassung, des Medialen ins Spiel, beeinflusst durch Prägnanztendenzen und das Machtstreben des Durchschauens, Reduzierens (Monomane Deutungen, z.B. Libido, Gehirnkrankheit, Ideologien) und Erklärens. Wir müssen auf die Macht kognitiver Muster (implizit oder explizit) achten und die Neigung zum Autismus der eigenen „Sicht“ bedenken. Die Interaktionsperspektive bringt noch mal Licht in die komplexen Interaktionen von Patient und Fachperson in der jeweiligen Situation. Welche Interaktionssituation löste das psychopathologische Ereignis aus und welche Interaktionssituation zwischen Patienten und „Experten“ provoziert welches

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Erleben und Verhalten – zum Negativen der Eskalation oder zum Positiven der Besserung? Die nüchterne Empirie mit Fragebogen, Inventories, Skalen abstrahiert von diesen Aspekten. Da geht viel verloren. Aber an das denkt niemand mehr, der dann die Resultate solch rechnender Verarbeitung präsentiert oder liest. Bei vielen Symptomen präsentiert der Patient seine Erlebnisse und sein Verhalten averbal (z.B. Parakinesen) oder verbal deutlich, d.h. einfacher und eindeutiger zu „lesen“, z.B. Halluzination und Wahn, depressives, manisches Syndrom etc. Hier droht eher die Gefahr vorschneller Pathologisierung ungewöhnlicher Erfahrungen (Vision, Audition, Trance) mit dem resultierenden Overdiagnosing und das Abgleiten in die unglücklichen Dichotomien Soma – Psyche, Erklären – Verstehen, Prozess und Entwicklung. Dabei werden auch Defizite der traditionellen Psychopathologie offenkundig: wie wenig bisher die Vielfalt von Bewusstseinszuständen und den möglichen zugeordneten Erlebnissen (gerade auch in kulturanthropologischer Sicht), ihren Induktoren (z.B. schamanische Praktiken) berücksichtigt wurde. Passie (2005) hat die Matrices von altered states of consciousness, die halluzinogene, entaktogene (d.i. ungefähr Herzöffnungserlebnis), stimulatorische und delirate Matrix als heuristische Grundmuster vorgestellt – ein Weg zum Vergleich mit psychopathologischen Syndromen.

Perspektiven auf Symptome und Syndrome Psychopathologische Symptome sind Beschreibungseinheiten – unterschiedlicher Qualität, Quantität, Komplexität – von Erleben und Verhalten, die sich aus dem gewöhnlich-alltäglichen (Durchschnittsnormen) des Erlebens- und Verhaltensbereiches des mittleren Tageswachbewusstseins (Alltagsbewusstsein) abheben. Symptome sind auffallende, aus einer unscharfen Durchschnittsnorm herausragende Zeichen dafür, dass das Erleben und/oder das Verhalten eines Menschen aus der Balance funktionsfähiger Gesundheit (Dysfunktionalität, Infirmität) geraten sind. Diese Zeichen – „objektiv“ beobachtbar

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oder vom erlebenden Subjekt mitgeteilt – werden gruppiert zu Typen (Psychopathologische Symptome) und zu Syndromen, d.s. Kombinationen von Syndromen. Symptome und Syndrome dienen zusammen mit Ätiologiehypothesen, Verlaufskriterien, ev. morphologischen oder physiologischen Messparametern der KrankheitsKonstruktion (Nosopoiesis). Diese Konstrukte sind abhängig von Personen und Zeitgeist (Kultur). Der Prozess der Krankheitskonstruktion (Nosopoiesis) lässt sich am Kraepelin-Schema zeigen: die Zusammenfassung der affektdominanten und der non-affektdominanten Syndrome ist die Grundlage seiner Dichotomie der endogenen Psychosen. Zu solcher Komposition gehört die Tilgung (Elimination) der geheilten Fälle, die Gewichtung (Affekte bei Dementia praecox) und die Formgebung (terminologische Festlegung der diagnostischen Muster). Adolf Meyer in den USA kommentierte 1910 das Dementia-praecoxKonstrukt von Emil Kraepelin. Kraepelin „his aim was the formulation of types, but types representing real diseases ... Kraepelin bends the facts of psychiatric observation to the concept of disease processes. His psychiatry works with the postulate that each case presents one of a relatively small number of disease entities with definite cause, course and outcome ….this is the bald expression of the dogma, impressive and simple, but not altogether convincing or satisfying, especially when we come to his large group of dementia praecox….In dementia praecox the cause is left hopelessly vague by Kraepelin; the course is decidedly less fixed than that of general paralysis, and the symptomatology … emphasized too many things which prevail also in other conditions, so that altogether too many errors occurred”. In seinem psychobiologischen Zugang zur Psychiatrie ist Meyer gegen die Krankheitskonzepte, gegen die postulierte neuropathologische Grundlage und fordert das Geflecht von psychosozialen Bedingungen der Entwicklung hin zur Manifestation der psychopathologischen Symptome in ihrer Interaktion mit hereditären und zerebralen

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Faktoren: die Psychopathologie ist polymorph in Qualität und Quantität bis hin zu „psychotic reaction“, Resultat eines Verlustes der mentalen Balance. Solche Analyse sei der Sammlung einer heterogenen Masse in eine zu grosse Krankheitseinheit vorzuziehen. Der Blick der bisherigen europäischen (bes. deutschen) Psychopathologie blieb vorwiegend auf die Perspektive auf die Symptome eingeengt: Definition, Operationalisierung, Feststellung (Erhebung) in Beobachtung, Befragung, Gewichtung (Schwere), pathognostische Bedeutung für eine „Krankheit“, Kontext (Symptomkombination, Syndrom), Auftretensbedingungen und Entwicklung (Ätiopathogenese), Interpretation in verschiedener Fragestellung und DeutungsMethodik. Die deskriptive Psychopathologie bemüht sich um die Beschreibung und Auflistung von Symptomen, ihre Ordnung nach Gruppen (z.B. Kognition, Affekt, Denken, Motorik etc.) Dem folgt der Versuch einer einheitlichen Terminologie in Nominaldefinitionen. Sofern sie Symptome als pathognomische (d.i. krankheitskennzeichnende) Merkmale von diagnostischen Gruppen oder gar nosologischen Einheiten nimmt, kann man sie auch kategoriale Psychopathologie nennen: Zuordnung von Symptomen und Syndromen zu hypothetischen diagnostischen Einheiten (d.s. Zustands-Verlaufs-Gestalten) oder zu hypothetischen Krankheits-Einheiten. Solche nosologischen Entitäten werden konstruiert nach den Kriterien: gleiche ZustandsVerlaufs-Gestalt, gleicher Ausgang, gleiche Ursache und Entstehung (Ätiologie und Pathogenese), gleiche Therapieansprechbarkeit. Bis heute gibt es im grössten Bereich der Psychopathologie keine validen Krankheitskonstrukte, bes. nicht bei den so genannten „funktionellen“ Psychosen (Schizophrenien, Affektkrankheiten). Die Illusion, dass Schizophrenie eine reliabel festzustellende und valide Krankheit sei, hielt fast ein Jahrhundert, trotz Bleulers Gebrauch des Plurals für „seine“ Krankheitsgruppe und seiner Hoffnung, dass Untergruppen gefunden werden könnten. Die im Quer- und Längsschnitt polymorphe Psychopathologie, Verlaufsgestalten und therapeutische Ansprechbarkeit – das ruft nach der Annahme verschiedener ätiopathogenetischer Bedingungen. Die klinisch beobachtbaren Erscheinungen erlauben keine Rückschlüsse auf die Antezedentien somati-

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scher (Heredität, zerebrale Schäden prä-, peri-, postnatal, z.B. zirkumskripte Encephalitis), psychisch-psychosozialer Art (Entwicklung, Trauma, Neglect, Missbrauch) und sie erlauben keine sichere Prognose. Aber es fehlen bis heute Alternativkonzepte ausser dem Verweis auf eine syndromorientierte (statt auf Diagnosen, gar Krankheiten abstellende) Forschung. Fruchtbar ist die empirische Forschung an Einzelsymptomen geworden (Übersicht s. Bentall 2003). Sie verzichtet in kritischer Reserve auf diagnostische, gar nosologische Entitäten (Read et al 2004, Ross 2004, Bentall 1990, 2003), sondern studiert Beschwerden (complaints) und Behinderungen als Symptome. Die psychologisch-empirische Forschung hat viel zum Entwurf tentativer Modelle der Psychopathologie beigetragen: Perspektiven auf das Selbst, auf Emotion, Affekt, Kognition, externe vs. interne Attribution. Solche Modelle bieten Verstehensentwürfe für verschiedene Symptome/Syndrome wie Depression, Manie, Angst, Halluzination, Wahn. Dahinter steht das Bekenntnis zur fleissigen Empirie am Vorfindbaren, gefördert durch heuristische Modelle – diese Schriften sind sehr weit entfernt von den daseinsanalytischen und anthropologischen Einzelstudien, gar von Postulaten gestörter Transzendentalien der Weltkonstitution. Die klare Organisation von Untersuchungen und deren Leitideen erlaubt auch, die Grenzen solcher Denkentwürfe zu sehen (z.B. zum Umkippen von Depression in Manie). Gerade an guten Zusammenstellungen solcher empirischer Ansätze (s. z.B. Bentall 2003) werden die Grenzen sichtbar, was nicht ins Auge gefasst wird (z.B. Dissoziationmodell, Motivdeutungen, phänomenologische Kleinarbeit), abgesehen von der Unkenntnis der Psychopathologie im 19. Jahrhundert, die z.B. zur Wahndynamik wesentliche Einsichten gewonnen hat. Auch bleibt unbedacht, dass empirisch gewonnene Daten Facta sind, also mannigfach konstituiert (von den Probanden, den Untersuchern, deren Fragestellung, Methodik etc.). Ich vermisse ein eingehendes Studium der Selbsterfahrung (nicht nur Messung von self-esteem) einschliesslich der des eigenen Leibes. Die Funktion Erfahrungsbewusstsein, d.h. dass mit jeder Erfahrung (interior, exterior, z.B. Perzeption) auch der Modus dieser Erfahrung registriert wird, und deren Verbindung zum Realitätsbewusstsein bedarf vertiefter Studien.

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Symptome wurden nach der diagnostischen Wertigkeit eingeteilt: Eugen Bleuler unterschied bei der Schizophrenie Grundsymptome (die immer nachweisbar sein sollten: Assoziationsstörung, hauptsächlich Denkstörungen, Ambivalenz, Affektstörung, bes. inadäquater Affekt, Autismus, dereelles Denken) und akzessorische Symptome (Halluzination, Wahn, Parakinese etc.). Anderes meint Bleulers theoretische Einteilung in primäre Symptome, die Ausdruck des hypothetischen somatischen Morbus sein sollten (Assoziationsstörung), und in sekundäre Symptome (die aus Reaktionen auf die primären abgeleitet werden). Kurt Schneider nannte erstrangige und zweitrangige Symptome. Da fliessen das autoritäre Gewicht des Diagnostikers, seine Perspektiven, seine kognitiven Muster ein. Symptome unterscheiden sich hinsichtlich „einfacher Gestalt“ (z.B. Tick, Parakinese, depressive Verstimmung) und Komplexität (bes. Wahn). Und: Symptome treten meist im Verband, in Symptomkombinationen auf: daraus leitet der Kliniker Syndrome ab (in Kennerschaft, vor-empirisch). Heute werden Syndrome auch mathematischstatistisch evaluiert (Cluster-, Faktorenanalyse). In welcher Relation stehen Syndrome zu supponierten diagnostischen Entitäten, gar gesuchten nosologischen Kategorien? Welche Strukturen verbinden Syndrome (Hierarchie, Schichten)? Mehrdimensionale Systemkonstruktionen (was ist primär, sekundär, Reaktion, Abwehr etc., was tertiär, z.B. Krankheitsgewinn?) sind wegen ihrer Vielschichtigkeit wenig praktikabel und prüfbar. In der Deutung von Symptomen resp. ihrer Genese rivalisieren Modellvorstellungen über die Psychodynamik. Ideler (1838) hatte im Gefolge der Anerkennung von Selbstheilungsbestrebungen (Reil, Langermann) das Ringen des bedrohten Selbstbewusstseins um Reorganisation und Überwindung der Not (im Wahn) genannt. Freud schlug andere Modelle zur Deutung vor, ergänzt von Nachfolgern. Das topische Modell und das triebdynamische Verdrängungsmodell verbinden sich, aus der psychoanalytischen IchPsychologie wurde die psychoanalytische Selbst-Psychologie, aus der Lernerfahrung von Vater- und Mutter-Imago die Objektbeziehungstheorie etc.

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Das Verdrängungsmodell „verdrängte“ das Dissoziationsmodell, das um 1880 und dann wieder um 1980 florierte und seither zu einer inflationären Modewelle wurde, im Gefolge der Wiederanerkennung des Traumas und des Missbrauchs als pathogenetischen Faktoren für vielerlei Störbilder, auch der der multiplen Persönlichkeit (dissoziative Identitätsstörung) und des Satanismus. Aber auch da wird eine modische Tendenz zum Overdiagnosing erkennbar und eine defiziente kritische Reflexion auf die dem Dissoziationsmodell inhärenten und antezedenten Vorstellungen der Psyche, der Persönlichkeit, des Subjektes (Scharfetter 1999). Das Dissoziationsmodell stammt aus der elementaristischen Auffassung der Psyche (Herbart 1816 und englische empiristische Philosophen): Elemente, die in Analogie zu chemischen Elementen oder zum Magnetismus assoziieren oder eben dissoziieren können. Auch geht die abendländische Idee des Monopsychismus (eine einheitliche Psyche, Subjekt, Person) als Idealnorm voraus – im Kontrast zur Anerkennung, wie vielfältig die Komponenten einer Persönlichkeit sein können, mit und ohne Kohärenzverlust (Dissoziation). Viele Fragen sind da offen: was ist die assoziative Kraft, das Synthesepotential? Welche Funktionen werden wovon abgespalten? Wer, was spaltet? Vielfach wird „Dissoziation“ gebraucht, als sei es ein Beobachtungsdatum. Dabei ist Dissoziation ein Instrument, um Beobachtbares zu deuten! Facettenvielfalt, Absorption im Denken oder in Stimmungen, Reduktion des Vitalgefühls in der Depersonalisation, des Gegenstandsbezuges in der Derealisation, Fluktuation in verschiedenen Ich-Zuständen – gar viel wird als Dissoziation gedeutet – mit den Gefahren solcher overinclusiveness.

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Assoziation/Dissoziation Begriff:

Assoziation = Verbindung Dissoziation = Trennung

Antezedente Vorstellung in der Psychologie: Das Mentale, die Psyche ist als Kompositum von Elementen vorgestellt: Elementenpsychologie von Herbart (1816) aus dem englischen Empirismus. Bedeutung: Unterscheide: Assoziation als Vorgang, Prozess, Akt Assoziation als Resultat dieses Prozesses Gebrauch des Begriffes: Bezeichnung eines hypothetischen Vorganges (mit präzedenten Annahmen betreffend die Konstitution der Psyche). Dann ist Assoziation rsp. Dissoziation ein Interpretationsinstrument, um etwas Beobacht- und Beschreibbares zu deuten. In der Literatur über Dissoziation wird das Wort aber vielfach als deskriptiver Terminus gebraucht. Fragen:

was assoziiert/dissoziiert? Elemente, Subholons, Lebewesen, Komplexe? Ich, rsp. Selbstteile (subselves, ego-states) wer assoziiert/dissoziiert? Akteure, Autor des Geschehens? welche Kräfte assoziieren? Synthesepotential? Mythischer Eros, das Allverbindende im Sinne von Sokrates, Magnetismus wo, worin, in welchem Medium geschieht Assoziation/ Dissoziation? Physis, Psyche, Soziales

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Wie oft wird das eigene Erkenntnisvermögen überschätzt und werden dem Beobachtbaren die eigenen kognitiven Muster (im Gewand von Theorien, Modellen, gar nur Termini) übergestülpt! Das wurde z.B. deutlich an der Jaspers’schen Unterscheidung von Verstehen im Gegensatz zum Erklären. Verstehen meinte ein „natürliches“ einfühlendes Verstehen von (biographischen) Entwicklungen: Affirmation eines plausiblen, einleuchtenden Zusammenhanges. Aber wie viel Eigenes des Interpreten fliesst da ein: seine eigene Vorerfahrung, sein Interesse, seine Denkmuster, seine implizite Anthropologie, sein vermeintliches Normenwissen! Und davon wird dann die voreingenommene Unterscheidung von Entwicklung und Prozess abgeleitet! Als Reaktion kam ein Wiederaufleben biographisch-verstehender Wahnentwicklungsdeutungen (Gaupp, Kretschmer, um 1840 Ideler), in welchen Persönlichkeit und Umwelt in ihrer wechselseitigen Bedingtheit ins Auge gefasst wurden. Manche schöne Studien zum wahnhaften Erleben (z.B. K. Conrad 1958, Huppertz 2000) richten ihre Aufmerksamkeit auf die Umgebungsveränderung (Aussenweltatmosphäre, -physiognomie) und zu wenig auf das Ich/Selbst-Erleben der Betroffenen. Sie bleiben in der Aussenperspektive. Vom kognitiv-affektiven Sich-Einlassen auf das Selbsterleben der Kranken entfernt sind auch die Interpretationen der Strukturdynamik (Janzarik). Der Kliniker trifft kaum isolierte Symptome, nicht einmal Syndrome, sondern Syndromkombinationen. Z.B. ist eine Phobie nur künstlich (abstrahierend) als diagnostische Entität zu trennen von ängstlichunsicher-depressiv-zwanghaften Charakteristika. Die Rede von Komorbidität (d.i. Kombination von Krankheiten) täuscht: es sind Syndrom-Kombinationen. Im Gebiet der Persönlichkeitsstörungen ist die Gruppierung noch schwieriger. Die möglichst einheitliche Terminologie von Symptomen und Syndromen (auch „gereinigt“ von Autorennamen) ist eine Grundlage für die internationale Verständigung und für viele Forschungsansätze zur Epidemiologie, Ursache, Verlauf, Therapieresponse. Im 20. Jahrhundert wurden die Symptomlisten entwickelt (Beispiel AMDP, Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in

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der Psychiatrie) und Definitionen angeboten. In England (Maudsley Hospital, John Wing) entstand das Manual zur Befragung und Beurteilung PSE, d.i. Present State Examination Scale, die später die Grundlage für die IPSS der WHO (International Pilot Study of Schizophrenia) wurde. Die Diagnose Schizophrenie, verstanden als Krankheit, wurde dabei nicht in Frage gestellt (solche Kritik an der Krankheitskonstruktion von Kraepelin und Bleuler taucht erst um 2000 auf). Die Ratinglisten der IPSS wurden von „trainierten“ Psychiatern in einer Reihe von Ländern Europas, Asiens, Afrikas und Südamerikas ausgefüllt: sie wurden in dem Erheben und Dokumentieren bestimmter tradierter kognitiver Muster eingeübt und replizierten diese in ihren Ländern – dahinter steht die Vorannahme, Psychopathologie sei kulturübergreifend gültig (wie die somatische Pathologie). Dabei weiss jeder, der Patienten und Psychiater in Drittweltländern mit Analphabeten erlebt hat, wie sprachabhängig die verbalisierbare Psychopathologie ist – beim Patienten und beim „Experten“. So sind denn auch die Ergebnisse der IPSS nicht überraschend: der Sammeltopf „Schizophrenie“ findet sich in allen Ländern ähnlich in Form und Häufigkeit. Da waren die „Diagnostiker“ ja geeicht auf das entsprechende kognitive Muster und sahen die vielgestaltige Psychopathologie mittels dieser Brille. Im zweiten Schritt, der Katamnese, gab es dann verblüffte Forscher: in einigen Entwicklungsländern erschien der Verlauf günstiger als in den westlichen Zivilisationen – war deren hochspezialisierte Psychiatrie denn ein Heilungshemmnis? Es sind schon viele Zugänge zur Psychopathologie versucht worden, zu ihrer Deskription und terminologischen Fassung, zu ihren Bedingungskonstellationen (besondere Wachbewusstseinszustände, physiologische, pharmakologische, psychologische Bedingungen, z.B. sensorische Isolierung, Einzelhaft, sprachfremde Umgebung, psychotraumatische Erfahrung), zu ihrer Interpretation und Deutung. Dass Symptome auf Selbstheilungs-, -rettungsanstrengungen verweisen, ist eine alte Deutungstradition von Reil über Langermann zu Ideler 1840. Dies führt zum Studium der Zusammenhänge von Selbsterleben und Verhalten (wie sie in der Ich-Psychopathologie versucht wurde, Scharfetter 1995). Die auf die Interaktion achtende Psycho-

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pathologie (Glatzel) und die Begegnungspsychopathologie (Dörner) richten ihre Aufmerksamkeit auf die interpersonelle Perspektive. Weiter und tiefer geht Benedetti mit seinem Konzept der kommunikativen Psychopathologie: in der Dualität der therapeutischen Begegnung kann sich Psychopathologie wandeln: aus bedrohlichen Stimmen werden z.B. tröstende (Positivierung), bis schliesslich die psychopathologische Symptomproduktion zum Stillstand kommt. Ganz auf die einzelne Krankengeschichte – ohne Begegnung mit dem Patienten – zielt die verstehende Psychopathologie von Jaspers. Ziel ist hier das verstehende Nachspüren, ob dem Autor die Lebensgeschichte bis zur Krankheitsmanifestation kohärent, sinnvoll erscheine. Gaupp und Kretschmer entwarfen ähnliche Rekonstruktionen von Wahnentwicklungen (sensitiver Beziehungswahn) aus dem Zusammenspiel von Charakter und Biographie. Die Psychoanalyse dagegen versucht, Symptome, Krankheiten, Charaktere, Krisen nicht nur landläufig zu verstehen, sondern nach ihren Konzepten zu deuten: was gehört dem topischen Modell (Es, Ich, Überich) an, was dem Libidomodell (Dynamik von Übertragung, Abwehrmodi etc.), wobei die im Unbewussten ablaufende „angenommene“ Dynamik wichtiger ist als das Bewusste. Die Psychodynamik ist zu differenzieren nach Perspektiven und Modellen. Die Fragestellung der Psychodynamik zielt auf das Verstehen, d.i. Interpretieren psychischen Geschehens in verschiedenen Perspektiven: sie kann nach einzelnen Symptomen fragen, z.B. Wahn als Selbstrettung aus unerträglicher Lebenssituation (Vereinsamung, Entwertung, Zusammenbruch des Selbst), Sozialangst als Ausdruck grosser Selbstunsicherheit. Eine grössere Perspektive der Psychodynamik sucht nach einer plausiblen Deutung des Zustandekommens und der Entwicklung einer psychopathologischen Manifestation (Ätiopathogenese). Dabei ist ein Verstehen der Inhalte, z.B. eines Wahns, nicht zu verwechseln mit einer Ursachenanalyse. Eine weitere Perspektive der Psychodynamik ist die nach der biographischen Entwicklung einer Persönlichkeit, ihrer Vulnerabilität und ihren positiven Kräften (Ressource, Resilience). Wie steht das psychopathologische Ereignis in diesem Lebenslauf? Welche Botschaft ist dem Ereignis zu entnehmen (Kränkung, Trauma, Selbstaufgabe, Überforderung etc.),

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worauf verweist das Vorkommnis (z.B. dass jemand im Verhältnis zu seinem Potential, seiner Reife, seiner Selbstkonstitution, seinem Gewissen falsch lebt)? Im engeren Kontext der Psychotherapie ist die Übertragung und Gegenübertragung (in der Dualität oder in der Gruppe) sorgfältig zu beachten. Die Psychoanalyse supponiert im Entwicklungsgang (Ontogenese) ein kulturübergreifendes anthropologisches Muster psychischer Prozesse. Die patientenzentrierte Perspektive wurde ergänzt um die Familiendynamik, auch diese mit verschiedenen Modellen (psychoanalytisch, Delegationsmodell, systemisch, kommunikationspsychologisch). Bash (1955) brachte die Gestaltpsychologie für die Psychopathologie ins Spiel. Klaus Conrad (1958) stützte sich auf sie in seinem Buch über den Wahn bei der beginnenden Schizophrenie. Die Konstrukte von Struktur und Dynamik (von Krüger und Welleck) dienten Janzarik (1959) als Interpretationsinstrument, Lewins Feldtheorie liegt der Studie von Kisker (1960) zugrunde. Viele Autoren studierten die Sprache Schizophrener (z.B. Spörri, Peters). Im Gefolge von Tellenbachs Studie über den zur Depression disponierten Charakter (Typus melancholicus) wies Kraus auf die Rollenstarre bei basaler Ambiguitätsintoleranz solcher Menschen hin. Die phänomenologische, daseinsanalytische, anthropologische, der Existenzphilosophie nahe stehende Richtung der Psychopathologie (Binswanger, Blankenburg, Fuchs, Gebsattel, Kraus, Kuhlenkampff, Kuhn, Kunz, Schmidt-Degenhard, Storch, Strauss, Wyrsch) brachte viele Einzelstudien, meist zum Wahn und zur Schizophrenie. Dabei besteht eine gewisse Tendenz, die Ergebnisse solch kontemplativer Exegesen zu generalisieren oder aber Grundsätzliches zu Existenz, Dasein, Beheimatung oder Entfremdung in der Welt, Leiblichkeit, Raum und Zeit zu formulieren. Die achtbare Denk- und Spracharbeit hat aber zu Diagnostik und Nosologie, zur ätiopathogenetischen Aufklärung und Therapie wenig praktisch Brauchbares eingebracht. Dies sind einige Streiflichter auf die umfangreiche Literatur, die die Selbstentwicklung der Psychiater in der Begegnung mit Kranken kundgibt. Viele Ansätze spiegeln eher das Interesse der Autoren, als

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dass sie unser Wissen um die Ätiopathogenese bereichert oder die Therapie gefördert hätten. Für den Patienten wäre die Fokussierung auf die funktional-finale Interpretation wichtiger. Das Symptom wird gedeutet als Reaktion des Patienten auf bestimmte Wandlungen seines Selbst- und Welterlebens. Diese sind überwiegend bedrohlich und führen zu Selbstrettungs-, Abwehr-, Fluchtanstrengungen. Schon Ideler (1838 und später) nahm diesen Gedanken der autotherapeutischen Versuche auf, in Fortführung von Reil und Langermann: „Wir sehen in der Psychose das angestrengte Arbeiten des Bewusstseins an seiner Reorganisation“ und er fügte hinzu, dass man manchen der psychotischen Produktionen von Halluzination und Wahn die Bewunderung für solche Leistung nicht versagen könne. Später haben Freud (1896), Bleuler (1911), Jung (1907) psychoanalytische Interpretationen (bes. Komplexe, Verdrängung) entworfen. Dabei wurde die sorgfältige Erhebung des Selbst- und Welterlebens und seines funktionellen Zusammenhanges mit dem beobachtbaren Verhalten versäumt. Die von Pierre Janet herkommende Idee der Spaltung (Dissoziation), die doch zur Namensgründung Schizophrenie Anlass gab, wurde vom Verdrängungsmodell der Psychoanalyse supprimiert – so weit, dass wir erst heute wieder an das Deutungsmodell Dissoziation für die „schizophrene“ Ich-Fragmentierung erinnern müssen (Scharfetter 1999, 2006). Der Blick auf die vielen Deutungsansätze führt uns auch zur Frage: was wird denn bei der jeweiligen Perspektive ausgeblendet, nicht beachtet? Oft ist es die Perspektive des Selbsterlebens (1. Person), in anderen ist die interpersonelle Perspektive allein dominant (Kommunikationspsychologie), engagierte Therapeuten fokussieren auf die Wandlung der Psychopathologie des Patienten in einer gelungenen heilsamen Begleitung (kommunikative Psychopathologie, die zur „Positivierung“ führen kann, Benedetti). Wir sollten uns üben in der funktionell-finalen Befragung von Symptomen – in aller Vorsicht, dem Patienten nicht vorgefasste Deutungsmuster zu attribuieren und ihn dabei zu verpassen: Was bringt dem Patienten sein Verhalten? Was bedeutet es funktionell? Was

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gewinnt er damit? Positiv (z.B. Erkenntnis, Verstehen von Zusammenhängen, Erhöhung des Selbst, Vitalgefühl, Macht, etc.) oder via Vermeidung von Angst, Depression, aggressiver Auseinandersetzung, Schuld, Scham, Einsamkeit, Leere, Monotonie, Langeweile, sensorischer Reizarmut, Bewegungshemmung, Isolation, bedrängende Nähe, konflikthafte zwischenmenschliche Situation. Cave eingleisige Deutungen! Verhalten ist meist mehrdeutig! (prima vista und ohne genaue Einzelkenntnis). Verhalten kann nur zureichend (d.h. Verstehen fördernd und damit handlungsrelevant, d.h. therapiewegleitend) gedeutet werden bei genauerem Wissen um 1. den situativen Kontext: Physische und soziale Bedingungen: Umwelt (einschl. z.B. Drogen, Gifte...), Sozialsituation, 2. das Individuum und seine Art zu reagieren, konstitutionell nach der Art seiner Anlage, Reaktionsbereitschaft (auch seiner Verwandten, Sippe, Stamm), nach seiner Lebens- d.i. Lernerfahrung, 3. Selbst-/Ich-Erfahrung des betreffenden Patienten. Die funktionelle Bedeutung eines Verhaltens bei der Ersterkrankung muss nicht gleich bedeutend sein mit der Bedeutung dieses Verhaltens bei Wiedererkrankung (Rezidiv). Krankheitsgewinn gibt es auf verschiedenen Ebenen: Selbstentlastung von Verantwortung, Scham, Schuld, Appell um Hilfe von anderen (sozial und ökonomisch), Abkapselung in einer Versorgungssituation (Institutionalismus). Wir versuchen, das Bedingungsgefüge für das Auftreten von Symptomen zu überschauen (und dabei das Nichtgewusste ausdrücklich auch zu bemerken): – Persönlichkeit des Symptomträgers (Vulnerabilität, Schwächen und

Stärken)

– lebensgeschichtliche Erfahrung (z.B. Verlassenwerden, Traumati-

sierung, Neglect, Parentifizierung als eine Form früher Ausbeutung)

– aktuelle Lebenssituation: – –

interpersonell (privat u. Arbeitsplatz) (sozio-)ökonomisch (z.B. Armut, Arbeitslosigkeit, Immigrantenstatus)

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sensorisch (z.B. Reizüberflutung)



emotional (bes. Angst, Spannung, Ambivalenz)



Wachheit (bes. Wachheit)

Übermüdung,

Schlafentzug,

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dissoziierte

– somatischer Status (allgemeiner Körperzustand, spez. Gehirn) – exogene Einflüsse (z.B. Alltagsstimulantien, Drogen) – ethnisch-kulturelle Einflüsse

Die Symptome/Syndrome können in der deskriptiven Terminologie erfasst, in standardisiertem oder freiem Text dokumentiert werden. Dann kann der Autor je nach seinem Interesse und seiner Schule seine Deutungsinstrumente anwenden. Der empirisch-statistisch orientierte Psychiater wird entsprechende Methoden einsetzen: Faktoren-, Clusteranalyse dienen dann als Ausgangspunkt zu Korrelationsstudien (Genetik, Neurobiologie). Verschiedene Psychologien und die Sozialwissenschaften ergänzen die fruchtbare Vielheit von Perspektiven, keine kann Alleingültigkeit beanspruchen.

Deskriptive statistische (FA,CA) Interpretative, Hermeneutische Psychodynamische

PSYCHOPATHOLOGIE

Neurowissenschaften -anatomie/Lokalisation, loops -physiologie, -metabolismus

Psychopathologische(s) Makrosozial / Epidemiologie Symptom(e)/Syndrom(e) Mikrosozial (Familie) Kulturwissenschaften: Kultur, Subkultur Medizinsoziologie, -psychologie Krankenrolle Beschwerdebewusstsein PSYCHOLOGIEN Health seeking behaviour Heilungsinteratkion Neuropsychologie Persönlichkeit, Charakter, Selbst Kognition Emotion/Affekt Biographisch-personale Psychologie Ethologie Anthropolog.-philosoph. Psychologie

SOZIALWISSENSCHAFTEN

Genetik Molekulargenetik

„NATUR“-WISSENSCHAFT

Forschungsperspektiven auf psychopathologische Symptome/Syndrome

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Kritik als Proportionenrelativierung Der kritische Rückblick auf viele Versuche, zur Psychopathologie wesentliche Gesichtspunkte beizutragen, bringt eine heilsame Proportionen-Relativierung, damit ein Antidot gegen Monomanien in der Deutung. Denn Monomanie, Ideologien, d.i. der Despotismus einer dominanten Idee, sind gefährlich für die Praxis (Macht der Diagnostik und Therapie) und sind hinderlich für den Fortschritt der Wissenschaft. Taugliches Wissen ist vorsichtig und bescheiden aufgrund der Einsicht in die Bedingtheit, Abhängigkeit und relative Gültigkeit von Wissen und ihrem „Gewand“, der Terminologie (Macht der Worte). Was einen Autor an der Psychopathologie fesselt (hoffentlich nicht zu sehr „an die“), wie einer Psychopathologie betreibt – das spiegelt wie ein Psychogramm den jeweiligen Autor: ob in der Existenzbegleitung in die „Todeslandschaften der Seele“ (Benedetti), ob (wie Kraepelin) als Diagnostiker in Henosis und Dichotomie (Affektive und Non-affektive „Krankheiten“) und als Nosopoet (Krankheits„erfinder“), ob er von dem scheinbar sicheren Ufer eigener supponierter Normalität und Gesundheit den Kranken als den ganz anderen in der „Unverständlichkeit seines Prozesses“ positioniert (Jaspers), ob als eklektischer Kontaminator verschiedener Paradigmen (Krankheitsbegriff von Kraepelin, Somatosepostulat, Dissoziationsmodell von Janet, Freudsche Mechanismen) wie Eugen Bleuler, ob einer als Therapeut in der Christusnachfolge seine Dualität mit dem Patienten als religiöses Liebeswerk deutet, ob als Husserl-HeideggerVerehrer in extensiven Exegesen des Daseins psychisch Kranker (z.B. Binswanger), ob als Kämpfer wie Don Quijote gegen „seine“ Windmühlen und als Zertrümmerer der „Krankheit“ in physikalistischen Techniken (Malariakur, Elektro-, Insulinschock, „psychochirurgische“ Gehirnzerstörung, Psychopharmaka etc.), ob als therapeutischnihilistischer Neuropathologe, ob als Gesellschaftskritiker bis zur Verleugnung psychischen Krankseins. Monomane Deutungsmodelle tragen nicht weit, wenn sie wirklich in die Bewährungsprobe klinischer Praxis gestellt werden. Oft scheinen die Autoren von ihren Begriffen so fasziniert (geistig gefesselt), dass sie selbst ein Opfer dieser Brille werden und die Welt, den Men-

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schen nur noch nach ihren kognitiven Mustern sehen, einordnen, verstehen. Was aber ist nützlich, brauchbar, tauglich an psychopathologischen Deutungen? Was ist viabel, bringt uns weiter? Weder die Monomanie noch der unverbindliche (d.h. nicht der Praxis verpflichtete) Eklektizismus helfen da weiter, sondern nur die kritische Selbstreflexion, zu der auch die Prüfung der Gesichtspunkte ganz anderer Perspektiven und allenfalls der Kritik, die von dort kommt, gehört. Auf die Notwendigkeit, mehrere Perspektiven zu prüfen, hat Pierre Janet in seiner Zeit, da Hirnkrankheiten psychisches Kranksein erklären sollten, hingewiesen: „Wenn man in der Psychiatrie ausschliesslich anatomisch denken will, muss man verzichten, überhaupt zu denken.“ 1903, Les obsessions et la psychasthénie

Pierre Janets Ausarbeitung des Dissoziations-Modells regt viele Fragen an: was, welche Funktion dissoziiert unter welchen Bedingungen? Ist Dissoziation ein aktiver Vorgang (von wem, von welcher Instanz gemacht?) oder ist es ein passives Geschehen, ein Auseinanderbrechen? Unterscheiden wir zwischen Dissoziation als Vorgang und als Resultat? Bedeutet Dissoziation Ausbleiben der Synthese, was ist dann die geheimnisvolle zusammenhaltende Kraft? Wo sitzt sie? In der Psyche, im mentalen Feld, in der Konnektivität des Gehirns? Das Wort Psychasthenie verdeckt nur unser Unwissen. Die vis vitalis, die Lebenskraft – ein schöner Gedanke. E. Stransky hat schon 1903 das damals gängige Spaltungsmodell auf die Kraepelinsche Dementia praecox angewandt und von der intrapsychischen Ataxie von Thymo- und Noopsyche gesprochen. Ein hübsches Bild, aber: die zwei Bereiche sind nicht so getrennt (weder psychisch noch neurobiologisch), dass sich daraus nützliche Forschungen oder gar Therapien ergäben.2 Jaspers (1913) brachte von Dilthey die Dichotomie Verstehen und Erklären in die Psychopathologie. Aber: Verstehen hängt von der Verstehensfähigkeit des Interpreten ab, von seinen impliziten Normenannahmen, seinem Menschenbild, seiner eigenen 2

Später hat Ciompi 1982 in seiner Affekt-Logik ähnliche Deutungen versucht.

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Persönlichkeit und den Vorannahmen, was verständliche Entwicklung, was unverständlicher Gehirnprozess sei. Die kategoriale Trennung (dort Pathologie, hier Gesundheit) ist da implizit, statt der dimensionalen Sicht. Erklären hat auch seine Voraussetzungen (Kausaldenken), aber ist weniger subjektiv, eher logischem Diskurs zugänglich. Freud reduzierte die Psyche physikalistisch auf die (sexuelle) Libidohydraulik (Verdrängung), die seelische Metageographie (Bewusstes, Unbewusstes), den psychischen Apparat (Es, Ich, Überich).3 Jung’s mythopoetische Imagination der Psyche führte ihn zur Divination des Unbewussten und liess den Animismus der Archetypen, Komplexe, Animus, Anima im Sprachgewand von Verstandesmythen (Kierkegaard) wiederkehren. Berze versuchte vom damals dominierenden Modell der Assoziationspsychologie wegzukommen und folgte älteren Spuren (Degeneration, Psychasthenie, Intentionalität des Bewusstseins von Brentano), um die Intentionsschwäche als Zeichen der dynamischen Insuffizienz herauszuheben – eine Variante des Psychasthenie-Modells. Besonders im Gebiet der Schizophreniedeutung wuchern die Deutungsangebote: als Hyper-, als Hypoarousal, als kognitive, als affektive Störung, als Unverbundenheit von Affekt und Logik (Ciompi 1982), als Hyperreflexion des Ich/Selbst (Louis Sass). Die Reduktion auf ein Deutungsvehikel oder auf wenige Aspekte bringt die Gefahr der Überdehnung (overinclusiveness) der Konzepte. Die Katamnese des Begriffs Autismus bei Bleuler zeigt deutlich die progrediente Inflation, deren Opfer schliesslich der Autor selbst wurde (Scharfetter 2006). Ähnlich wurde Bleulers Begriff der Schizophrenie (bes. der latenten) immer umfassender, bis diese Diagnose schliesslich Sonderlingen, Künstlern, Religiösen u.a. angehängt wurde. Die Reduktion des Depressiven Syndroms auf Tiefs in Stimmung und Antrieb musste später um die wichtigen Aspekte negativer Selbst3

s. dazu auch Waldenfels (2002): Die philosophische Anstössigkeit der Psychoanalyse (S. 287f.)

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und Weltbewertung, Haften an der Vergangenheit und düstere Zukunftserwartung ergänzt werden. Geradezu peinlich ist die Etikette „Manie“ für künstlerische oder erfinderische Hochleistungen, ja sogar für die Hochstimmung von Verliebten. Die Menschen durch die Brille enggeistiger Psychopathologie und Diagnostik zu sehen, das führt zum nächsten Kapitel.

Missbrauch der Psychopathologie Gerade im Blick auf die grosse Variabilität nicht nur des Verhaltens, sondern noch mehr des Erlebens von Menschen müssen wir auf der Hut sein vor einer übertriebenen Zuschreibung von psychopathologischen Termini (z.B. Wahn, Halluzination) oder gar der jeweiligen vom Zeitgeist hervorgebrachten Diagnosenbezeichnungen an Menschen, die von der (unscharfen) Durchschnittsnorm abweichen. Durchschnittsnormen gelten für beschreibbares Verhalten, nicht für Erleben. Ideal- und Wertnormen sind für die Psychopathologie keine brauchbaren Orientierungsmassstäbe. In der Geschichte des Faches findet sich ein ganzer Strom von Pathologiezuschreibungen an herausragende Persönlichkeiten. Albert Schweitzer hat 1913 in seiner medizinischen Dissertation „Die psychiatrische Beurteilung Jesu“ gezeigt, wie der Gestalt Jesu die jeweiligen Schlagworte teils von Fachleuten, oft aber von Theologen angehängt wurden (Grössenwahn, Paranoia, Epilepsie, Masochismus etc.). In die gleiche Abirrung des „psychiatric symptom hunting“ (Ornstein) gehören die „Pathographien“: Hiob habe eine „endogene Depression“ gehabt, Paulus eine Epilepsie, der Buddha sei einer „schizophrenic regression“ erlegen, Samadhi (Versenkung in Meditation) sei eine „catatonic attack“ etc. Zu diesem Missbrauch psychiatrischer Etikettierung gehört die Pathologisierung von Mystikern als Schizophrenen, von Mystikerinnen als Hysterikerinnen, von Eremiten und Asketen als Persönlichkeitsgestörten (Schizoiden). In der New-Age-Diskussion um den spiritual quest taucht die Frage „mental disorder“ wieder auf. Die Pathologisierung von Schamanen als Schizophrene, von religiösen Gestalten mit exzentrischem Ver-

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halten, das aber rollenkonform sozial eingebettet ist (Indien z.B.), von Non-Konformen in der Politik (Psychiatrisierung politischer Dissidenten), von Missliebigen und Feinden ist weit verbreitet. Die schwarz-weiss-Spaltung der Welt in all-good and all-bad (Kernberg für Borderline personality organization) ist makabre Machtdemonstration in der Weltpolitik. Dummheit im Sinne von Enggeistigkeit und narzisstische Selbstüberschätzung des „Experten“ sind die Grundlagen dieser falschen, schädlichen, lieb- und respektlosen Pathologisierungen. Dazu zwei treffende Zitate von Starbuck (1899): „There are the alienists who are constantly on the lookout for some abnormal tendency, and, consequently, are sure to find it“. 163 “The alienist thinks in terms of psychiatry. He casts his pathological net, and anything sufficiently exaggerated above commonplaceness so that it cannot slip through the meshes he claims as his”. (164)4

Vulnerabilität und Resilience Die hypothetischen Grunddispositionen zur psychopathologischen Manifestation sind Vulnerabilität und Resilience, die beiden Diathesen: die Gefährdung zur und die Widerstandskraft gegen Dekompensation ins Dysfunktionelle, zum Ungleichgewicht der psychischen Kräfte, ohne Dissoziation (kohäsive Störungen), mit Kohärenzverlust, Dissoziation in verschiedenen mentalen Bereichen, einzelner psychischer Funktionen (z.B. Gedächtnis) oder des zentralen Ich-Selbst-Bewusstseins. Auch dieses Denkmodell muss als Kontinuum gefasst werden und nicht als Entweder-oder. Die Syntheseschwäche ist selbst ein recht phänomenfernes, schlecht fassbares Konstrukt. Die Dissoziations-Diathese steht in der Nähe der Schizo4

Ob Starbuck sich wohl der köstlichen Ironie seiner Worte „pathological net“ bewusst war?

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typie (Rado, Claridge), Schizotaxie (Meehl), des Psychotizismus (Eysenck). Ihr gegenüber ist das Resilience-Potential zu denken: die Fähigkeit, auch in schwierigen inneren oder äusseren Konstellationen die Balance zu halten, integriert im Gleichgewicht zu bleiben – eine elastisch-flexible Synthese- und Integrationskapazität, die in der Nähe des Konzeptes der Salutogenese (Antonowsky) steht. Canstatt (1840) schrieb von der „psychischen Vulnerabilität“ als „reizbarer Schwäche“. Eine sorgfältige vertiefte Anamnese, die viele Themen der bisherigen Lebensgeschichte berührt und nach den Selbst- und Mitwelt-Erfahrungen in vielen Situationen fragt, ergibt brauchbare Hinweise: emotionale Labilität, spontan und situativ bestimmt in zwischenmenschlichen Konstellationen in- und ausserhalb der Familie, die Affekte, Selbstbefindlichkeit in Spannungen, gar Streit, in Verliebtheit, in Müdigkeit, Erschöpfung, Hunger, Durst, Reaktionen auf schon kleine Dosen Alkohol und/oder psychotrope Substanzen, verbunden u.U. mit Verlust der Selbstkontrolle, Rückzug in Alienation und Apathie oder Überaktivität, Impulsdurchbrüchen, Verzagtheit in Mutlosigkeit, mangelndem Selbstzutrauen, Ängste vor Verlust der Selbstidentität (z.B. auch Geschlechts-), der Ich-Grenzen, der Selbstverfügung, des Leibgefühls, der Integration. Bezüglich des Ich-Gefühls wird man versuchen, starre (und damit zerbrechliche) Selbste und schlecht definierte, unsichere, diffundierend-fluktuierende Selbste zu differenzieren. Solche Zeichen geben Hinweise auf Gefährdung, Vulnerabilität, aber sie dürfen nicht als ominöse Prognostika verstanden werden, etwa gar als frühe Prodrome einer (schizophrenen) Psychose. Bei vielen Menschen, die heute die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung tragen, kommen solche Erfahrungen vor, oft auch (nur) in einem labilen, gefährdeten, stürmischen Lebensabschnitt. Vulnerabilität heisst Gefährdung, diese ist unspezifisch und muss keineswegs zu einer manifesten Erkrankung führen (weil dazu ja auch andere Bedingungen beitragen, z.B. genetische, lebensgeschichtliche, psychosoziale). Resilience ist ein Konstrukt, kein deskriptives Item; sie ist zu erschliessen aus der Bewahrung ruhiger Versammlung, der Fähigkeit, das seelische Gleichgewicht zu erhalten.

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Psychopathologie soll zur Therapie führen Symptome geben (direkt oder indirekt) Kunde vom Selbst- und Welterleben des Patienten und vom funktionellen Zusammenhang von Erleben und Verhalten. Psychopathologie soll zu einem „Lesen“ der Symptome führen mit dem Auftrag, daraus für die Therapie brauchbare Hinweise zu gewinnen. Die Deutung kann uns Antwort geben (zumindest heuristisch) auf die Fragen: Was kann der Patient nicht mehr? Was für mentale Funktionen hat er verloren? (Defizitmodell). Was geschieht im Patienten als Reaktion, Abwehr, Flucht, Coping? Was leistet er mit der Grundpersönlichkeit noch positiv an Selbststabilisierung, Selbsthilfe, Selbstrettung, wie wirkungsvoll und konstruktiv? (Salutogenetisches Potential). Welches sind die negativen Aspekte: DefizitSyndrome (z.B. bei Demenzen), Sich-Verlieren, Sich-Verrennen (Alienation, Isolation) in Autismus, Wahn? Symptome sind in dieser Perspektive Indikatoren – der Betroffenheit und des sich daraus ergebenden Verhaltens – des Verlustes: was ein Patient nicht mehr kann – der Bedürftigkeit: was der Patient braucht – der Autotherapeutik: was der Patient an Selbstrettungsbemühun-

gen tätigt und mit welchem Erfolg (Coping, Resourcen, Salutogenetisches Potential)

– der therapeutischen Ansprechbarkeit, auf welcher Ebene der Exis-

tenz der Patient ansprechbar, zugänglich ist (verbal, averbal, leibtherapeutisch).

Aus solchem Studium der Psychopathologie sollte der Therapeut sein therapeutisches Angebot gewinnen, das er in informierter Empathie an den Patienten heranträgt. Das Spektrum ist weit zwischen dem sprachlosen Dabeisein (in einer Art meditativer Atmosphäre von Ruhe und Friede) und dem aggressiven Kampf gegen die Krankheit und die Symptome, einem geschäftigen Verwalten, Management des Kranken. Zwischen diesen Polen muss jeder Therapeut in

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Abstimmung mit dem Patienten sein Therapieangebot entwickeln. Da steht die Frage Rilkes (1. Duineser Elegie): „Das alles war Auftrag. Aber bewältigtest du’s?“

Das Leben ist kurz Die Kunst gross Die Erfahrung trügerisch Die Beurteilung schwierig Der günstige Augenblick flüchtig Hippokrates

Die Heimkehr der Schizophrenien in das Spektrum der dissoziativen Störungen

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Eugen Bleulers (1908, 1911) Namensgebung Schizophrenie für die Dementia praecox von Kraepelin stammt aus dem Denkmodell der Assoziationspsychologie. Gestörte Assoziationen, gar abgebrochene Verbindung heissen Spaltungen: Dissoziation. Bleuler kam auf diesen Namen zu einer Zeit, da viele Vorschläge zur Benennung der „Zerfallspsychose“ (Jahrmärker) verbreitet waren. Im Verlauf der Psychiatriegeschichte nach Kraepelin und Bleuler dominierte die Idee von somatisch begründeten „natürlichen“ Krankheiten und die symptomatologische Abgrenzung dieser so sehr, dass dieses Dissoziationsmodell für die Deutung der Symptome lange nicht mehr aktuell blieb. Es schien, als ob die Fragmentation des Ich/Selbst nicht zu dem breiten Spektrum der Dissoziativen Störungen zugerechnet werden dürfe. Die Anamnese der Schizophrenien Kraepelin hatte 1896 die Krankheitsgruppe der Dementia praecox aus den damals vorliegenden Syndromgruppierungen kompiliert: die Katatonie von Kahlbaum (1863, 1874), die Hebephrenie von Kahlbaum (1863) und Hecker (1871), die „primäre Verrücktheit“ Griesingers (1845), die Monomanie Snells (1865). Dazu kam die in der Degenerationslehre gründende „démence précoce“ von Morel (1860), charakterisiert durch frühen Beginn und schlechten Verlauf und Ausgang, nämlich in Demenz im damaligen Sinn von allgemeiner mentaler Infirmität. Dem entsprach die „primäre Demenz im jugendlichen Alter“ von Pick (1891), später die Dementia simplex von Diem (1903). Später kam noch die Dementia paranoides dazu. Dieser nosopoetische Akt von Kraepelin beruht auf dem Gewicht, das Kraepelin den Kriterien früher Beginn- und Unheilbarkeit einerseits, Fehlen von Affektstörungen im Sinne seines ManischDepressiven Irreseins andererseits zumass: es sind also psychopathologische Merkmale und Verlaufskriterien. Eugen Bleuler stimmte schon 1902 dem Kraepelinschen Krankheitskonstrukt, verstanden als reale Entität, zu und schlug 1908 erstmals den Namen Schizophrenien vor. Auch 1911 schreibt er ausdrücklich:

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„Die Kraepelinsche Dementia praecox ist ein wirklicher Krankheitsbegriff“ (227), „…nach aussen abgegrenzt, nach innen in verschiedenen Zustandsbildern erscheinend“ (229). Diagnostische Gruppen galten damals noch als reale Krankheiten: Diagnostik repräsentierte Nosologie. Krankheiten – das hiess für die damalige Psychiatrie Erkrankungen des Gehirns. Bleuler bekannte sich wie Kraepelin und beider Lehrer von Gudden zur Neuropathologie als Krankheitsgrund. 1911 legte Bleuler die Monographie über die Schizophrenien vor. Darin bringt der erfahrene Anstaltspsychiater zur Hauptsache drei Denkmodelle ein, für welche die drei Namen stehen können: Emil Kraepelin, Pierre Janet, Sigmund Freud. Bleuler relativierte Kraepelins Krankheitsumgrenzung, indem er auf spätere Ersterkrankungen (also auch im Erwachsenenalter) und auf die nicht immer schlechte Prognose hinwies. Die zerebralpathologische Grundlage der Krankheit blieb ein Postulat. Pierre Janet steht für das Stichwort Dissoziationsmodell (Übersicht: van der Hart und Friedman 1989). Dieses kam aus der Elementenpsychologie von Herbart. Die Assoziationspsychologie war damals dominierend: elementaristisch (als Bausteine) konzipierte mentale Funktionen wurden als assoziiert gedacht. Dem entsprach im Pathologischen das Fehlen, Nichtzustandekommen oder Zerbrechen eines assoziativ Verbundenen: Dissoziation verschiedener psychischer Funktionen: des Bewusstseins, des Gedächtnisses, exekutiver und afferenter Funktionen, auch der Persönlichkeit resp. ihrer Identität. Es ist die Zeit der dissoziierten, der alternierenden, der multiplen Persönlichkeiten. Dass es eine Gruppe von psychischen Krankheiten gäbe, die durch eine Uneinheitlichkeit, gar Zerrissenheit, einen Zerfall der Ichheit (Heinroth 1828), des Ich (Griesinger 1845), der Persönlichkeit charakterisiert sei, das war um 1900 eine verbreitete Anschauung. Daraus kamen auch viele Namensvorschläge für solche psychopathologischen Syndrome. Der Namensvorschlag Bleulers setzte sich durch. Und so wurde er zum Taufpaten der Kraepelinschen „Krankheit“. In manchem Klinikjargon gab es sogar bis weit

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ins 20. Jahrhundert den Ausdruck „Morbus Bleuler“, womit sich selbst als Kenner verstehende Psychiater ihre diagnostische Befähigung zum Ausdruck brachten. Die Semiotik und Pragmatik der Psychiatrie Bleulers ist geschichtlich vorbereitet in der Tradition des 19. Jahrhunderts, im Somatosepostulat und in der Psychopathologie des Ich- oder Persönlichkeitsbewusstseins. Griesinger (1845, 1861) und Kahlbaum (1863, 1874) hatten die Pathologie des „zerrissenen Ich“ dargestellt. Ähnlich viele andere Autoren (s. Scharfetter 2006, 170). Zur Krankheitsauffassung und Umgrenzung von Kraepelin, zur Deutung vieler psychopathologischer Manifestationen mittels des Dissoziationsmodells nahm Bleuler nun die frühe Psychoanalyse Freuds begeistert auf. Ja, er war der erste Lehrstuhlinhaber, der sich zu Freud bekannte, ihn verteidigte. Im Gegensatz zu Freud wollte Bleuler aber nicht die Entstehung der Krankheit aus psychoanalytisch aufzuklärenden Libidobewegungen im psychischen Apparat ableiten. Da blieb er bei dem Postulat einer Hirnkrankheit. Aber die vielfältigen klinischen Erscheinungen „seiner“ Schizophrenie wollte er mittels der Lehre Freuds deuten, wobei er bei allen Schizophrenien Sexualkomplexe „fand“. Das psychoanalytische Denkmodell von Komplexen (bes. Sexualkomplexen) verband Bleuler interpretativ mit dem Dissoziationsmodell (1906). Gestörte Assoziationen waren in seiner Sicht der Schlüssel zur Deutung der meisten Symptome „seiner“ Krankheit. Die Assoziationspsychologie lernte Bleuler schon als Student bei Forel kennen. Jedenfalls schreibt Bleuler 1914, er „besitze“ sie seit 34 Jahren, also seit 1880, ein Jahr vor Abschluss des Medizinstudiums. Im Denkmodell der Assoziationspsychologie enthielten Affekte die Ballungskräfte für Komplexe. Diese wurden als in unterschiedlichem Grad verbunden vorgestellt, worin die Non-Integration, ausbleibende Synthese, eben Dissoziation schon implizit waren. Assoziation wurde zum dominierenden Interpretationsinstrument für Psychisches in gesunden und kranken Zeiten (s. Scharfetter 2006, 235 ff.). Auch im Somatischen dient das Modell: Hirnregionen und ihre Faserverbindung konnten als disseziert, d.i. dissoziiert gedacht werden – für

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manche Grundlage psychopathologischer Symptome (z.B. Meynert). Die experimentelle Psychologie suchte mittels des Assoziationsexperimentes verborgene „Komplexe“ aufzudecken: Galton, Ebbinghaus, Wundt. Von Wundt übernahm es Kraepelin (damals in Heidelberg). Von dort brachte Ricklin den Test zu Bleuler ins Burghölzli (1901). Bleulers Mitarbeiter, besonders Ricklin und Jung, arbeiteten mit diesem Test. Daraus entstand Jungs Habilitationsschrift über das Assoziationsexperiment. (1906). Die Diskussionen zwischen Bleuler und seinen Ärzten über ihre klinischen und testpsychologischen Beobachtungen banden mit der Suche nach sexuellen Komplexen und deren Dynamik die Psychoanalyse Freuds ein. Die Katamnese der Schizophrenien Die von Kraepelin gesetzte Krankheitseinteilung (Diagnostische und Krankheits-Einheiten wurden damals noch nicht unterschieden) dominierte die Psychiatrie der ganzen Welt im 20. Jahrhundert. Als Neo-Kraepelin-Schema bestimmt sie die International Classification of Diseases (ICD) der Weltgesundheitsorganisation und das Diagnostic and Statistical Manual (DSM) der American Psychiatric Association. Die Forschung zwischen Psychopathologie (stark von Kurt Schneider beeinflusst), Epidemiologie, Genetik, Neurobiologie (-morphologie und -physiologie, -metabolismus), Behandlungsversuchen mittels materieller Eingriffe (Leukotomie, Elektro- und Chemoschock, Psychopharmaka) orientiert sich heute noch stark an dieser Diagnostik und Nosologie. Bleuler selbst hatte auf die Heterogenität der Gruppe der Schizophrenien hingewiesen. Aber bis heute gibt es keine befriedigende ätiopathogenetische und therapeutisch zugängliche Gruppenbildung. Spätestens an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert ist deutlich geworden: die Kraepelin-Bleulersche Krankheit Schizophrenie gibt es nicht. Es gibt sie nicht als klar abgegrenzte diagnostische Entität (darauf hatte Kraepelin selbst schon 1920 trotz Beibehaltung der Annahme „natürlicher“ Krankheiten hingewiesen, das wurde aber zu wenig beachtet). Es gibt sie nicht als nosologische Entität i.S. einheit-

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liches psychopathologisches Bild, Ursache(n), Verlauf, Therapieansprechbarkeit, Ausgang. Die Diagnosen-Entität Schizophrenie hat keine klar aufweisbare Ätiologie. Es findet sich keine krankheitsspezifische Neuropathologie, -physiologie. Die Genetik verweist auf den hohen Anteil an nichtgenetischen Bedingungen und ausserdem immer deutlicher auf eine diagnosenunspezifische Vulnerabilität für psychische und somatische Erkrankungen. Die Schizophrenien haben keinen „gesetzmässigen“ Verlauf und Ausgang (das hat Manfred Bleuler 1972 gezeigt, ähnlich viele andere Autoren). Die Schizophrenien weisen keine einheitliche Therapieansprechbarkeit auf. Was bleibt als wichtige Feststellung: die Uneinheitlichkeit der unter diesem Namen zusammen gefassten Syndrome. Der Rückblick auf ein Jahrhundert Schizophrenie zeigt aber auch anderes: die psychoanalytischen Deutungen blieben zwar konzeptuell ein Nebengeleise. Aber psychodynamisches Denken wurde fruchtbar in den Versuchen zur Psychotherapie Schizophrener nach psychoanalytischen Ansätzen. Das hat befruchtend weiter gewirkt zu stärker auf Psychosynthese zielenden Therapien (Benedetti 1992). Und es hat Mut entfacht zur Familientherapie, zu sozialrehabilitativen Ansätzen. Dazu kamen von ausserhalb der psychodynamischen Tradition die kognitv-behavioralen Therapien, fokussiert auf Einzelsymptome und den Umgang des Patienten mit diesen (Halluzination, Wahn, z.B. Bentall 2003). Der Status praesens Zu Beginn des 21. Jahrhundert anerkennen wir die Uneinheitlichkeit der seit Kraepelin und Bleuler als Schizophrenie zusammengefassten Syndrome: kein einheitliches Krankheitsbild, Verlauf, Ausgang, Therapieansprechbarkeit, keine nur für diese Gruppe gültige zerebralpathologische oder/und genetische Grundlage. Aber wir haben gelernt: 1. dass diese Syndrome einen phänomenologisch und empirisch beforschbaren gemeinsamen Erlebniskern haben: die IchPsychopathologie (Scharfetter 1995, 1996).

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2. dass solche ich-psychopathologischen Widerfahrnisse offenbar ein anthropologisches Grundmuster darstellen, in das ein Mensch aus ganz verschiedenen Vorbedingungen geraten kann und das quantitativ und qualitativ in einem Kontinuum von gesund – krank gesehen werden muss. 3. dass die vom kranken Ich- und Welterleben bestimmten „Symptome“ und Verhaltensweisen in einer therapeutischen Beziehung mit einem bedürfnis- und zugänglichkeitsangepassten Behandlungsangebot (psychosozialer und pharmakologischer Art) positiv beeinflussbar sind. Dass ich-konsolidierende Psychosynthese die Kranken zu einem besseren Bewältigen ihrer Störungen (wenn auch oft nicht zu derer Beseitigung) führen kann. Die gegenwärtige Diskussion zeigt, was auf dem normalwissenschaftlichen Trampelpfad der Schizophrenieforschung des 20. Jahrhunderts fast vergessen ging: das Dissoziationsmodell. Eugen Bleuler gewann aus diesem Denkmodell ja den Namensvorschlag. Und er deutete die Symptomatik der Schizophrenien mittels des Dissoziationsmodells. Das Dissoziationsmodell bei Eugen Bleuler 1884 schrieb E. Bleuler über Hypnotismus (spez. die Bernheimschule) und 1887 berichtete er von eigener Erfahrung hypnotisiert zu werden. In beiden Texten erwähnt er Pierre Janet (ohne Zitat). Ausdrücklich geht er auf Dissoziation ein 1894 in seinem Aufsatz „Versuch einer naturwissenschaftlichen Betrachtung der psychologischen Grundbegriffe“. Bleuler spricht von der Assoziation dynamischer Komplexe mit Erinnerungsbildern, welche die Persönlichkeit formten. Das kann im Bewussten oder im Unbewussten geschehen (7). In der Fussnote 1 von Seite 9 merkt er an: „Wir sehen bei Geisteskranken starke Störungen der Organgefühle meist oder immer mit Zertrümmerung der Persönlichkeit und umgekehrt eine Zertrümmerung der Persönlichkeit mit Störungen der Organgefühle verbunden“.

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„Bei unbewussten oder weniger bewussten Handlungen hat der Ich-Komplex keine oder nur geringe Verbindung mit der der Handlung vorausgehenden Überlegung“(14). „Im Ich selbst liegt eine grosse Anzahl von Assoziationsgruppen“ (15). „Wenn ... Erinnerungsbilder ... mit dem Ich-Komplex sich verbinden“ (17). „Bei den meisten Psychosen ist in erster Linie der Ablauf der Assoziationen alteriert“ (19, ähnlich 21). Also: die von Bleuler monistisch, materialistisch, deterministisch verstandene Assoziationspsychologie dient zum Entwurf einer Psychologie. In der Rede von nicht gelingenden oder erschwerten Assoziationen ist das Dissoziationsmodell impliziert; aber er gebraucht das Wort hier noch nicht. 1902 Dementia praecox: In diesem ersten englischsprachigen Aufsatz Bleulers ist das Dissoziationsmodell mehrfach eingebracht. „All cases of dementia praecox are characterized by a definite alteration of the emotions and in the association of ideas; this alteration is proper to this disease and is not met with in any other psychic conflicts“ (115). “The association of ideas in dementia praecox is disturbed in such a way that on the one hand the mental connections are interrupted … on the other hand, there appear thoughts, the connection of which with the preceding ones, either in part or as a whole, is not traceable” (116). „… it may be difficult to find any association of ideas at all … disturbances of connection … disturbances of association”.

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Also auch hier die gestörten Assoziationen, aber nicht das Wort Dissoziation. 1906 Über die Bedeutung von Assoziationsversuchen: „Alle aktive psychische Tätigkeit beruht auf ... Assoziationen. Die Assoziation ist ein Grundphänomen der psychischen Tätigkeit. ... Wir diagnostizieren jetzt schon in vielen Fällen aus Assoziationen Dementia praecox...“ Hier (1902, 1906) ist also Bleulers erste Bezugnahme von (sc. gestörten) Assoziationen zu „seiner“ späteren Schizophrenie. 1906 In „Bewusstsein und Assoziation“ verweist Bleuler auf P. Janet, seine experimentellen Studien über unbewusste Vorgänge. Er spricht von der „Abtrennung des Unbewussten“ (242), von der Spaltung der Persönlichkeit (250). Bleulers Mitarbeiter in den regen Diskussionen war seit Dezember 1900 C.G. Jung. Jungs Schrift von 1907 „Über die Psychologie der Dementia praecox“ ist bestimmt von der Suche nach den gefühlsbetonten Komplexen bei Dementia praecox und Hysterie. Diese Arbeit spiegelt die lebhafte Diskussionskultur im Burghölzli mit den Denkmodellen Assoziation/Dissoziation und Psychoanalyse. Darin wird auch (anhand der besprochenen Literatur) deutlich, wie sehr das Dissoziationsmodell damals gängig war zur Interpretation polymorpher Psychopathologien, keineswegs nur der Kraepelinschen Dementia praecox, sondern auch der „Neuropsychosen“ Freuds, der Hysterie in all ihrer Vielfalt. Pierre Janet war damals noch sehr geschätzt, bevor seine Psychologie, -pathologie durch die Psychoanalyse verdrängt wurde. Jung widmet ein Kapitel seines Buches von 1907, das vierte, dem Aufzeigen zahlreicher Parallelen zwischen der Psychopathologie der Hysterie und der Dementia praecox. Die Überschneidung ist offensichtlich: es sind nicht zwei klar getrennte klinische Gestalten. Daher wirkt es forciert als petitio principii, wenn Jung schreibt (82): „Es handelt sich ja um total verschiedene Krankheiten“. Aber beide Krankheiten haben als gemeinsame psychologische Grundlage vom Ich-Komplex abgetrennte und mehr oder weniger „autonom“ ge-

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wordene Komplexe. Jung fügt für die Dementia praecox die Toxinhypothese als Rettung des zerebral-pathologischen Substrates an. Bleuler (1911) hingegen stellt auf die gestörte Assoziation im Denken ab, um die Schizophrenien von der Hysterie abzugrenzen (264). 1908: In dem Aufsatz über die Prognose der Dementia praecox, in dem erstmals offiziell der Name Schizophrenie erscheint, bezieht sich Bleuler wieder auf das Dissoziationsmodell (auch ohne diesen Begriff zu verwenden). Es heisst da (460): „...dass die psychischen Relikte eines ... Prozesses … von der Persönlichkeit abgespalten werden.“ 1911: In der Schizophrenie-Monographie ist das Dissoziationsmodell voll entfaltet. „Ich nenne die Dementia praecox Schizophrenie, weil ... die Spaltung der verschiedensten psychischen Funktionen eine ihrer wichtigsten Eigenschaften ist“ (5). Im Abschnitt „Die Symptomatologie“ stellt Bleuler die Assoziationsstörung mit der Affektstörung und der Ambivalenz als Grundsymptome dar (10; die „drei A“ Bleulers). Die gestörten Assoziationen sind Bleulers Grundmodell für seine Darstellung der Symptomatologie. Er behandelt es sowohl als deskriptives Merkmal, am deutlichsten in der Denkstörung (10) und in der Verwirrtheit (184, 260), aber auch als Interpretationsinstrument (z.B. Autismus als Loslösung von der Wirklichkeit, 52). „Die Assoziationen verlieren ihren Zusammenhang“ (10), das zeigt sich im mündlichen und schriftlichen Ausdruck von Denken, Sprache, Schrift, besonders in den Sperrungen. Die Affektstörung („gemütliche Verblödung“, 31) beruht darauf, dass die Einheitlichkeit und Angepasstheit der Affektäusserung fehlt (33): Parathymie und Paramimie (42). Die Ambivalenz...„sie ist eine so direkte Folge der schizophrenen Assoziationsstörung...“ (43). Der Autismus (51) ist die „Loslösung von der Wirklichkeit zusammen mit dem relativen oder absoluten Überwiegen des Binnenle-

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bens“ (52). Darin können „die Beziehungen zu der von der Psyche abgesperrten Wirklichkeit verloren“ gehen (54). Die Aufmerksamkeit (51) kann gespalten sein und zu Sperrungen im Denken und Sprechen führen. „Die Spaltung der Persönlichkeit kommt nirgends so auffällig zum Ausdruck, wie in der Stellung der Wahnideen zu der übrigen Psyche“ (104). Die Person, „das Ich kann die mannigfachsten Veränderungen erleiden“ (117). „Einzelne gefühlsbetonte Ideen ... bekommen eine gewisse Selbständigkeit, so dass die Person in Stücke zerfällt. Diese Teile können nebeneinander bestehen und abwechselnd die Hauptperson, den bewussten Teil des Kranken einnehmen. Es kann aber auch der Kranke von einem gewissen Zeitpunkt an definitiv ein anderer sein“ (117). Hier ist das Feld der heute Dissoziative Identitätsstörung genannten Phänomene angsprochen und ihre Konfluenz mit der Symptomatik von Schizophrenien. Bleuler erwähnt den Wechsel der Identitäten (118), verschiedene Sprache und Affektwechsel (120), verschiedenes Schriftbild (132), je nach dominanter Identität. Das grosse Spektrum der damals als Hysterie bezeichneten Symptome kommt auch bei Schizophrenen vor: Anfälle (145), „motorische“ Störungen wie Zittern, Rülpsen, Grunzen (147), Manieren (157), Dämmerzustände und Ekstasen (178), Ganser Symptome (180), Fugues, Wanderepisoden (185). „Kein hysterisches oder neurasthenisches Symptom ist der Schizophrenie fremd“ (261). Solche Symptome führt Bleuler auf die supponierte „schizophrene Hirnveränderung“ zurück, die „eine der häufigsten disponierenden Ursachen hysterischer Symptome“ sei. Daher gilt, „dass jedes hyste-

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rische Symptom auch auf dem Boden der Schizophrenie entstehen kann“ (220). Bleuler betont, dass Spaltungen nicht diagnosenspezifisch sind: „Die systematischen Spaltungen, die z.B. die Persönlichkeit betreffen, finden sich in vielen psychotischen Zuständen, bei Hysterischen noch viel ausgesprochener als in der Schizophrenie (mehrfache Persönlichkeiten). Deutliche Spaltung aber in dem Sinn, dass die verschiedenen Bruchstücke der Person bei guter Orientierung in der Umgebung nebeneinander existieren, wird sich wohl nur bei unserer Krankheit finden“ (243). Entsprechend schwierig ist die Differentialdiagnose der Schizophrenien gegen Hysterie und Neurasthenie (261ff). Es bleibt die Einschätzung des Rapportes (262), der Affekte (262), stabiler Wahn (263). Und der Blick des Klinikers: „Wenn ein angeblicher Hysteriker verrückt wird oder verblödet, so ist er eben ... kein Hysteriker, sondern ein Schizophrener“ (235). Und der Begriffszerfall: „Die Dissoziation der Begriffe kommt bei der Nervosität nicht vor, ist also, wenn vorhanden, ein sicheres Zeichen der Schizophrenie“ (264). Im Abschnitt „Theorie“ steht die Assoziationsstörung als primäres Symptom (285), das den Krankheitsprozess ausdrücke, die mannigfachen „Spaltungen psychischer Funktionen“ (293) im Zentrum. „Die Spaltung betrifft immer Komplexe“ (295). Die Spaltung dieser ist „keine absolute ... sie [die Komplexe] sind ja mit dem Ich mehr oder weniger verbunden und können somit wenigstens via Persönlichkeit einander beeinflussen ... so erscheinen die Patienten entsprechend ihren Komplexen in verschiedene Personen gespalten“ (295).

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„Die Spaltung ist die Vorbedingung der meisten komplizierten Erscheinungen der Krankheit“ (296). Hier werden zwei Arten der Spaltung mit einem Namen genannt: die primäre Lockerung der Assoziationen und die Abspaltung bestimmter Ideenkomplexe (296). Auch Affekte werden abgespalten (298). Bleuler gebraucht 1911 das Wort Dissoziation mehrfach: „dissoziierte Psyche“ (263), „Dissoziation der Begriffe“ (264). Und in der Theorie der Symptome wieder: „Für ähnliche Beobachtungen ist schon längst auch das Wort Dissoziation gebraucht worden“ (296). Er verweist auch auf ähnliche Deutungen und Namensvorschläge (Gross, Wernicke u.v.a.). Bleuler fasst Dissoziation als Kontinuum von gesund („physiologisch“) zu krank auf: „Die schizophrene Spaltung ist wieder nur eine Übertreibung physiologischer Vorgänge“ (296). Entsprechend versteht Bleuler die Symptome der Schizophrenie als „Verzerrungen und Übertreibungen von normalen Vorgängen“ (239). Die Nähe zur Hysterie und die differentialdiagnostischen Schwierigkeiten sind ihm bewusst, bes. bei florierender produktiver Symptomatik und den Dämmerzuständen (51, 179, 261 ff). Aber: „Die Dissoziation der Begriffe kommt bei der Nervosität nicht vor, ist also, wenn vorhanden, ein sicheres Zeichen der Schizophrenie“ (264). Im 20. Jahrhundert ging das Denkmodell Dissoziation (mit sehr unscharfer Definition des Begriffes) lange unter, blieb wie verdrängt (Repression, Suppression) oder gar abgespalten (Dissoziation) vom Nachdenken über diese Syndrome. Das Somatosepostulat und der Dominanzanspruch der Psychoanalyse mit ihrem Verdrängungskonzept (Freud gegen P. Janet) sind da in eine Kollusion geraten – gegen

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ein beiden fremdes Denkmodell. Dabei war das Dissoziationsmodell durchaus auch somatologisch gebraucht worden (z.B. Meynert, Wernicke). Erst mit dem Wiederernstnehmen der Traumaätiologie (bes. Kindesmissbrauch, physisch, psychisch, inzestuös, neglect) polymorpher psychopathologischer Manifestationen einschliesslich der Partialisierung, Separierung, temporären Ausschaltung psychischer Funktionen (z.B. Perzeption, Mnesis), gar der personalen Identität gewann im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts das Dissoziationsmodell wieder an Gewicht. Dazu kam die Ethnopsychiatrie und -psychologie, die das Spektrum des Dissoziativen in anderen Kulturen und deren besonderen Funktionsträgern (Schamanen) vom Pathologischen bis ins Gesunde i.S. von Funktionstüchtigen erweitern half. Eine Woge von Dissoziations-Denken kam in den USA auf, es offerierten sich Dissoziationsexperten in Privatpraxen und Spezialkliniken (mit einer Flut von Zeitschriften und Literatur zwischen Populäraufklärung und empirisch-standardisierten Erhebungen)5. Die Kriterien dessen, was als dissoziativ diagnostiziert werden dürfe, sind fragwürdig (s. dazu Scharfetter 1999). Im Eifer der Dissoziationsnovizen ging „vergessen“, dass Dissoziation ein Deutungsinstrument zur Interpretation bestimmter Beobachtungen ist und nicht selbst ein Beobachtbares. Die Ethnopsychosen sowohl wie die innerethnischen Psychopathologien der Borderline-Störungen, der Multiplen Persönlichkeit (heute Dissoziierte Identitätsstörung genannt), die Erfahrung mit den (nichtinzest-bedingten) Posttraumatischen Belastungs-Störungen, mit den verschiedenen Wachbewusstseinszuständen (und ihren möglichen Induktoren) – sie alle flossen ein in die erneute Zuwendung zu den Dissoziativen Störungen. Da hielten die Symptomkriterien für die Schizophrenie von Kraepelin, Bleuler, Kurt Schneider nicht mehr stand. Die tradierte Diagnostik wurde verschwommen. Waren viele „Schizophrene“ „eigentlich“ Menschen mit Dissoziierter Persönlichkeit? Ethnozentrische Selbstherrlichkeit hatte schon früher Schama5

s. auch deutschsprachiges Sammelwerk Eckhardt-Henn und Hoffmann 2004

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nen als Schizophrene deklariert. Später hat man Schizophrene als verkappte Schamanen „erkennen“ wollen. Die diagnostische Trennung von Schizophrenie und Dissoziierter Identitätsstörung gelang immer weniger. Die Differentialdiagnose wurde aber im kategorialen Denken lange nicht in Frage gestellt, ja als fragwürdiges Artefakt antezedenter nosologischer Konstruktionen erkannt. Ross (2004) fordert zwar, eine erhebliche Teilgruppe (40%) der heute als schizophren diagnostizierten Menschen als „dissoziative“ Untergruppe (mit Traumaätiologie) anzuerkennen. Ross unterscheidet diese Gruppe gegenüber der non-dissoziativen Schizophrenie durch eine deutliche Erhöhung von Traumen (spez. Abusus in der Kindheit), positiver (oder produktiver) Symptomatik (spez. kommentierende und befehlende Stimmen) und hoher Inzidenz weiterer Syndrome (Depression, Sucht, Automutilation, Angst, Phobie, Zwang etc.) und von Borderline-Störungen. Hingegen weise diese Gruppe seltener einen Zerfall des Denkens und der Sprache sowie Negativ-Syndrome auf. Sie spreche weniger auf Pharmaka an und besser auf strukturierte, am Traumamodell orientierte Psychotherapie. Mein Vorbehalt gegenüber Ross ist, dass er doch einem Kern von „Kraepelinschen“ Schizophrenien treu bleibt. Diese sind vorwiegend symptomarme chronische Negativschizophrenien mit geringen Angaben über Traumen, mit schlechter Prognose und Therapiechance. Die Pathologie des Ich in den verschiedenen Dimensionen und ihre Bedeutung für die Entwicklung dieser Menschen bleibt in diesem Denkmodell leider ausgespart vom Dissoziativen. Die Aufgabe weiteren Nachdenkens Die Pathologie des Ich/Selbst-Bewusstseins als Erfahrungs-Kern der schizophren genannten Syndrome mit ihren Schicksalen von dem Ersteinbruch, der ja selbst auch ein schweres Trauma darstellt, bis zum weiteren Verlauf mit remissionsfördernden Begegnungen, aber auch restitutionshindernden Folgen der Erkrankung (Hospital, soziales Image, neuroleptische Dauerdämpfung u.ä.) sollte als besonderer

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Angriffspunkt (Ich/Selbst) und damit besondere Form der Dissoziativen Störung betrachtet werden. Mein eigenes Nachdenken über die „schizophrene“ Ich-Pathologie und über das Dissoziationsmodell (1999) führte auch zu einem dimensionalen Kontinuitäts-Spektrum des Dissoziativen (mit kritischer Reserve gegen ein Overdiagnosing von Dissoziation) von funktionell nötig, sogar tauglich bis zur schweren Pathologie in der Dissoziativen Identitätsstörung und den Schizophrenien. Zwischen diesen beiden Gruppen sind Übergänge und Überschneidungen anzunehmen. Die Schizophrenien haben einen gemeinsamen Nenner: die Pathologie des Ich/Selbst-Bewusstseins, geordnet in den Dimensionen Identität, Demarkation, Kohärenz-Konsistenz, Aktivität, Vitalität. Sie ist empirischen Studien zugänglich (1996). Innerhalb dieser IchStörungen sind Grade der Pathologie anzunehmen: Patienten mit einer dauerhaften megalomanen Überkompensation ihrer Identität (z.B. sie seien omnipotente Heiler) können stabil und kaum dysfunktionell in einer ökologischen Nische leben. Hingegen ist der Zerfall des Ich, die Konsistenzzerstörung, der Vitalitätsverlust bis zum Totsein mit einem Bestehen der Lebensaufgaben nicht vereinbar. Auch die Störung der Ich-Aktivität, das Gemachtwerden efferenten und afferenten, kognitiven und affektiven Geschehens, wirkt ebenso wie die Lahmlegung jeder eigenen Intention und Handlungsfreiheit stark behindernd. Eine solcherart differenzierte Ich-Psychopathologie reiht die „Schizophrenien“ mit ihrem Anschluss an die Dissoziierte Identitätsstörung (Multiple Persönlichkeitsstörung) in das Spektrum des Dissoziativen ein. Dies bedeutet eine Heimkehr der Schizophrenien in das ursprünglich gemeinte polymorphe Feld der Dissoziativen Störungen. Dies war ja im Namen Schizophrenie und in Bleulers Theorie der Symptomatik (1908, 1911) gemeint, ging aber in der somatologischen Prozess-Morbus-Tradition Kraepelin-K. Schneider-DSM/ICD verloren. Im Rahmen des Denkmodells Dissoziation ist sinnvoll ein Spektrum anzunehmen von gesund (i.S. von funktionstüchtig) bis krank. Am „gesunden“ Pol sind einzuordnen die verschiedenen „discrete states

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of waking consciousness“ im Sinne von Charles Tart (1978), verschiedene Ego-states (Watkins), Bannungs-, Versunkenheitszustände (absorption), Ekstase, Enstase. Das Wegtreten im Bewusstsein als Selbstrettungsmassnahme zum Überstehen von Missbrauch ist noch funktionell sinnvoll, kann aber als eingespielter mentaler Mechanismus später im Leben dysfunktionell werden. Ob und wieweit die intensitativen Herabsetzungen des Selbstgefühls in der Depersonalisation, des Umgebungsbezugs in der Derealisation sinnvoll als dissoziativ bezeichnet werden sollen, daran zweifle ich. Die Abtrennung einzelner Funktionen (perzeptive wie Sehen, efferente wie Phonation, mnestische in der psychogenen Amnesie) kann sinnvoll als dissoziativ gedeutet werden. Die Dissoziativen Identitätsstörungen schliessen sich an, solche mit und solche ohne dominantes Teilselbst, mit und ohne Interaktion zwischen den Subselves, mit graduell verschiedener Verborgenheit vs. Deutlichkeit, instabil oder dauerhaft, mit und ohne mnestische Verbindung der Hauptperson zu den altered states. Bei den Dissoziativen Identitäts-Störungen fluktuieren verschiedene Teilselbste (subselves, subpersonalities), aber es bleiben identifizierbare „Gestalten“; das Wort (von Wilber öfter verwendet) Subholon bietet sich an. Ich habe die runden Kügelchen von Quecksilber als Gleichnis gebraucht (1999), um diese Untereinheiten der Dissoziativen Identitätsstörung als nicht fragmentierte Teilidentitäten zu kennzeichnen – und mit dem Kontrastbild des zersplitterten Glases die schizophrene Ich-Dissoziation (Fragmentation) zu verdeutlichen. Dem bis zum Psychotischen gehenden Feld der Dissoziativen Identitäts-Störung folgen mit breitem Übergang die so genannten schizophrenen Störungen mit ihrer Topik der Dissoziation im Ich/Selbst. Auch im Spektrum dieser Ich-Fragmentierung kann man noch quantitative und qualitative Variationen sehen zwischen solchen IchStörungen (Identität), die nahe der Dissoziativen Identitätsstörung sind, und solchen, bei denen das Ich bis zur Devitalisierung ausgelöscht erscheint. Freilich ist die Auslöschung der Ich-Vitalität auf dem Boden des Kohärenzverlustes (d.i. Dissoziation, Fragmentation) nicht vollständig. Der beobachtende Teil kann erhalten bleiben, sogar sehr sprach-

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mächtig kundgeben von diesem Leiden (s. Texte von Monique in Scharfetter 2000, 132 und von Myriel 2006). Man könnte gegen diese Wiedereingliederung der schizophrenen Syndrome in das Spektrum der mittels des Dissoziationsmodells gedeuteten Phänomene einwenden, dass in manchen Skalen die Scores dissoziativer Symptome bei Schizophrenen niedriger sind als bei Menschen mit nach heutigen Kriterien als dissoziativ diagnostizierten Störungen (ICD, DSM). Aber das ist kein Gegenargument gegen die hier entwickelte Auffassung. Denn die hypothetische Dissoziation spielt sich beim Schizophrenen im Ich/Selbst ab und nicht in anderen psychischen Funktionen wie bei der heute anerkannten Dissoziativen Störung. Mit dieser Skizze des Spektrums der mittels Dissoziation zu deutenden Psychologie und Psychopathologie ist auf weitere Aufgaben der Forschung hingewiesen, nämlich die Psychopathologie aus der Perspektive der Ich-Betroffenheit weiter auszuarbeiten. Danach sind ego-kohäsive Störungen (Entwicklungs-, Reifungsstörungen, viele Persönlichkeitsvarianten, viele Syndrome von Depression, Angst, Phobie, Zwang) von den non-kohäsiven, eben dissoziativen Störungen (im Spektrum des oben Skizzierten) zu unterscheiden. Der Untergang des Ich/Selbst durch den progredienten Verlust der Werkzeuge (kognitiv, affektiv, mnestisch etc.) des Ich-Bewusstseins in den Demenzen (und im tiefen Dauerwachkoma) bedeutet Verlöschen des (in der 3. Person-Perspektive noch erkennbaren) Ich.

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Nachwort „Der Lebenslauf des Menschen ist die Geschichte seines Seelenlebens, und aus diesem Lebenslauf entwickelt sich, wenn er abnorm ist, die Seelenstörung.“ (Heinroth 1827, 568). Der Psychiater muss immer „die ganze Lebensweise und Lebensgeschichte eines Menschen“ (553) nach den ursächlichen Bedingungen absuchen. Die Biographie enthält die „psychologische Entwicklungsgeschichte“ (Ideler 1838, 19). Darin liegt die „Entwicklungsreihe“ (433), „die geheime Geschichte seines Verstandes und Herzens“ (707). Psychopathologie beleuchtet „wie mit dem Mikroskop“ (Ideler 1847, 20) den Menschen auch „in nicht-krankem Zustand“ (14). Wahn ist verstanden als idiosynkratische Ersatzwelt (Ideler 1838, 503): Die Kranken leben, eingeschlossen in eine „selbstgeschaffene Welt“ (1835, 742), den „Roman ihrer selbst“ (627). Da leuchtet der Respekt vor dem um Selbstrettung ringenden und weltschaffenden Bewusstsein auf. Diese kosmopoetische Potenz des Bewusstseins – man sieht sie im Wahnkranken wie auch im spekulativen Gebäude von Philosophen und Psychiatern. Wie der chronisch Paranoide sich in innerer Notwendigkeit in seine Eigenwelt einschliesst, so schufen sich manche „Experten“ der Psychiatrie ihre Denkgehäuse ohne selbstkritische Relativierung der eigenen Konzepte und der zu ihrer Darstellung gebrauchten Sprache. Sprache verführt zum Reifizieren der angesprochenen „Sachen“, von Gewusstem, Erkanntem, Verstehens- d.s. Interpretationszusammenhängen. Das bloss Verweisende auf ein Gemeintes geht verloren, wenn das Gesprochene als positiv gegeben (Positivismus) angenommen wird. Im Konkretismus geht „vergessen“, dass Sprache vielfach Bilder entlehnt: Energie, Libido, Kanal, Feld, Struktur ... Solcher Sprachgebrauch verleitet zu unscharfen Globalbegriffen, die wieder dazu führen können, allzu viel hinein zu projizieren, umso mehr, je nebuloser und komplexer die zur Beobachtung kommenden Erscheinungen sind. Was wurde nicht alles ins Unbewusste hinein verlegt, nicht nur an Inhalten, sondern auch an Geschehnissen (Dyna-

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mik, aber sogar Beobachten, Erkennen, Wissen: „das Unbewusste weiss“). Bewusstheit und Unbewusstheit sind Qualitäten. Bewusstes und Unbewusstes – diese Ausdrücke beziehen sich auf Inhalte; unbewusste Inhalte sind bestenfalls vermutend zu erschliessen, aber mit aller Vorsicht, dass in die Interpretation nicht allzuviel Attribution des Deutenden selbst einfliesst. Die Intentio lectoris (s. Eco 1999), ist zu befragen, seine u.U. „unbewusste“ Absicht, Projektion, Attribution seiner selbst. Dann wird die Interpretation zum Psychogramm des Autors. In manchen Schriften zu Schizophrenie, Borderline, früher zur Hysterie drängt sich dieser Gesichtspunkt auf, so auch z.B. in den Texten zur Objektbeziehungstheorie und der pathologisierenden Rekonstruktion der Kleinkindentwicklung (Melanie Klein). Goethe sprach die Gefahr an, dass das Eigene das Angetroffene, in Erscheinung Tretende, sich Zeigende verhülle: „Aber der Mensch ist ein wahrer Narziss: er bespiegelt sich überall gern selbst, er legt sich als Folie der ganzen Welt unter.“ Wahlverwandtschaften, 1.T., 4. Kap., S. 270, Zeile 16-18

Was wir brauchen und worin wir uns stets weiter üben müssen, ist eine durch analytische (Sprach-)Philosophie kritisch reflektierte Phänomenologie. Diese wird auch Theorien als überformend oder vereinfachend kritisch betrachten (s. Reulecke). Kritisches Infragestellen muss nicht (grandiose) Abwertung bedeuten: sie kann im Respekt vor einer geschichtlichen Stufe des Wissens dennoch dieses zurücklassen, als nur temporär brauchbar im Prozess des Forschens einstufen. Grosse Krankheitskonstrukte ohne Validierung, noch dazu gleichgesetzt mit Diagnosengruppen, wie die Kraepelin-Bleulersche Schizophrenie sind auf die Länge nicht haltbar. Was tun? Weiter neugierig und geduldig Anchibasía und Peripatía üben: nah herangehen und mit vielen Gesichtspunkten fragend umkreisen. Mit dem fragenden Suchen ist eine Fülle von Perspektiven zu gewinnen und ist die dazu passende Methodik zu pflegen, wie es Jaspers 1913 in der ersten Auflage seiner Allgemeinen Psychopatho-

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logie forderte. Und das Fragen sollte nicht zu früh durch Deutungen und spekulative Antworten abgewürgt werden. Lieber mit noch unbeantworteten Fragen oder nur heuristisch-tentativ gewagten Antworten schwanger gehen und den Prozess des Erkennens und Einordnens reifen lassen. Im Wissenschaftsprozess bannen zu frühe Antworten und Gewissheiten die Erfahrung von Phänomenen, engen sie ein oder löschen sie aus. Fragen, forschendes Fragen und Suchen, da wird nicht ein bleibendes Etwas als Besitz gewonnen. Aber im Suchen wird der Weg gegangen, der einmal im Rückblick als der je eigene der Selbstverwirklichung angenommen wird – eigen im Suchen, nicht im Finden, im Haben.6 Zu diesem Weg gehört das Annehmen auch der leidvollen Seiten des Menschen. Die Leiderfahrung braucht Mut, nicht davon zu laufen in die mannigfachen Verschleierungen der duhkha-Realität: Heilsillusionen, Verleugnung, Flucht, Rausch, Suchten, Wahnwelten. Ohne Leid keine Freude, keine Seligkeit des Aufschwungs in der spirituellen Bezogenheit auf das All-Eine; ohne Leid kein Wachsen, keine Wandlung, kein Reifen. Ohne Mut, Leid zu zulassen, und ohne Leidensfähigkeit fehlt auch das Mitleiden. Über die tolerantwohlwollende Freundlichkeit (metta), Mitleid (karuna), Mitfreude (mudita) kann der Mensch zur Gelassenheit (upekkha) reifen (nach der Lehre des Buddha). Dies im Gewahrsein der Wechselseitigkeit (modern: systemische Interdependenz) von Selbstentwicklung und heilsamen Wirken für alle Lebewesen und ihre Mutter Erde: „Schützt euch selbst, so schützt ihr andere. Und: indem ihr andere schützt, schützt ihr euch selbst.“ Das Dasein des Einzelwesens ist eingebunden in die Gemeinschaft alles Lebendigen; im Annehmen, Sich-zurVerfügung-halten und im Antworten auf den darin liegenden ethischen Auftrag erfüllt sich der Sinn des Lebens. Der Mensch ist grundsätzlich zur Freiheit der Entscheidung befähigt, sein Leben in den Dienst des überindividuellen Lebendigen zu stellen, in welcher Funktion immer: als Mutter, Vater, Therapeut, Seelsorger, als Helfende, als Pflegerin von Mensch, Tier, Pflanzen, Feld. Indem wir so leben, werden wir wir selbst. 6

Der Lebensgang von Jaspers von der Psychiatrie zur Philosophie ist dafür beispielhaft.

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Darin liegt Freiheit und Entfaltung des Menschen, leider auch Verfehlen, Versäumen seiner eigentlichen Möglichkeiten des Selbstseins (sanskrit sva-dharma). Dies ist das Risiko des Menschen, des „ersten Freigelassenen der Schöpfung“ (Herder 1784), des „nicht festgestellten Tieres“ (Nietzsche 1885). Darin liegt der Auftrag an den Menschen, seine Zeit zu nützen. Ich erinnere mich an den Grabspruch eines Benediktinerabtes (den Schipperges 1995, 85, zitiert): Tempora – tempore – tempera. Zum leichteren Verständnis kann man die Worte umstellen: Tempera (sua) tempora in tempore. D.h.: Teile dir deine Lebensspanne in der Zeit ein.

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