Providenz und Kontingenz: Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts [Reprint 2011 ed.] 3484150556, 9783484150553

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Providenz und Kontingenz: Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts [Reprint 2011 ed.]
 3484150556, 9783484150553

Table of contents :
VORWORT
EINLEITUNG
1. KAPITEL. METAPHYSISCHE MIMESIS: HEINRICH ANSHELM VON ZIGLER UND KLIPHAUSENS ›ASIATISCHE BANISE‹ (1689) UND DIE PHILOSOPHISCHEN VORAUSSETZUNGEN DES BAROCKEN GESCHICHTSROMANS
1. Ziglers ›Asiatische Banise‹ als Modell: Metaphysische und politische Aspekte im höfischen Barockroman
1.1 Literarische und literaturwissenschaftliche Rezeption
1.2 Kontingente Ereignisstruktur und teleologischer Erzählprozeß
1.3 Das Prinzip der doppelten Legitimation und die literarische Korrektur der Ereignisgeschichte
1.4 Historie im Zeichen der Vorsehung
1.5 Providenz und absolutistische Ordnung. Umrisse einer politischen Deutung
2. Die verborgene Notwendigkeit des Zufälligen. Philosophische Prämissen des barocken Geschichtsromans
2.1 ›Deus eligit optimum‹. Die Kontingenztheorie von Gottfried Wilhelm Leibniz
2.2 ›Un jeu de la perspective‹: Providentialismus und eschatologische Geschichtshermeneutik bei Jacques-Bénigne Bossuet
2.3 ›Der Erd den Himmel einverleiben›: Zur metaphysischen Axiomatik der barocken Romanpoetik
II. KAPITEL: PROVIDENZ, RATIONALITÄT, GESELLSCHAFT. – FUNKTIONEN DER VORSEHUNG IM EUROPÄISCHEN SOZIALROMAN DES FRÜHEN 18. JAHRHUNDERTS
1. Providenz und soziale Ordnung in Daniel Defoes ›The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe, of York, Mariner‹ (1719)
1.1 Dialektik von Norm und Normverstoß: Die narrativen Rahmenstrukturen im ›Robinson Crusoe‹
1.2 ›Of Listening to the Voice of Providence‹. Defoes aufgeklärter Puritanismus und die Providenzkonzeption in den ›Serious Reflections of Robinson Crusoe‹ (1720)
1.3 Exkommunikation und Reintegration. Die teleologische Bewegung des ›Robinson Crusoe‹
2. Liebe als Verhängnis. Die ›Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut‹ (1731) des Abbe Prévost
2.1 »Un chef-d’oeuvre d’ambiguïté« (Sgard). Die ›Histoire du Chevalier des Grieux‹ als Paradigma ambivalenten Erzählens
2.2 Der Konflikt der Normsysteme
2.3 Providence, Hasard, Fatalité? – Zur Funktion der heterogenen Schicksalsbegriffe
3. Providenz und Veränderung. Johann Gottfried Schnabels ›Insel Felsenburg‹ (1731)
3.1 Episierung des Utopischen
3.2 Erzählstruktur und Teleologie
3.3 Providenz und bürgerliche Autonomie – ein Sukzessionsverhältnis
III. KAPITEL: SÄKULARISIERUNG UND TRADITIONSBRUCH. ZU EINIGEN ASPEKTEN UND FOLGEPROBLEMEN DES PARADIGMENWECHSELS IN DER ERZÄHLPOETIK DES 18. JAHRHUNDERTS
1. Der Epochenübergang: Kritik und Kontinuität
1.1 Säkularisierung. Zur Legitimität des Theorems
1.2 Natürlichkeit als neues Paradigma. Das Beispiel Sulzer
2. Theologische Kritik am metaphysischen Erzählkonzept: Gotthard Heideggers ›Mythoscopia romantica‹ (1698)
2.1 Ablehnung des barocken Großromans: ästhetische und pragmatische Argumente
2.2 Fiktionales Erzählen als hybride Schöpfungskonkurrenz
2.3 Der ontologische Vorrang der Wirklichkeit und das Wahrheitskriterium der Faktizität
3. Die ›geschickte Fiction‹. Der kommunikative Wahrheitsbegriff in Schnabel/Gisanders Vorrede zur ›Insel Felsenburg‹ (1731)
4. Aufklärung als Entzauberung. Antiprovidentialistische Motive in Gottscheds ›Critischer Dichtkunst‹ (1730)
5. »Le dilemme du roman au 18e siècle« (May): Antagonismus von Realismus und Moralität
5.1 Der Roman als Korrektiv der Historie: Lenglet-Dufresnoys ›De l’usage des romans‹ (1734)
5.2 Fiktion als Innenansicht der Geschichte: ›Einige Gedanken und Regeln von den deutschen Romanen‹ (1744)
IV. KAPITEL: KATASTROPHISCHER WELTLAUF UND TUGENDIDEAL. GRENZEN DER AUFKLÄRUNG IN GELLERTS ›LEBEN DER SCHWEDISCHEN GRÄFIN VON G***‹ (1747/48)
1. Biographie als Katastrophenzyklus. Grundzüge einer Interpretation
1.1 Autobiographisches Schema und moralisches Modell
1.2 Die Zeitstruktur: Kontrast von Ereignisarmut und Extremsituationen
1.3 Kontingenzerfahrung: zur Typik der Katastrophensequenzen
1.4 Heteronomie und Zufallsangst in Gellerts ›Moralischen Vorlesungen‹
1.5 Ohnmächtige Gewissensethik und Verdrängungsbereitschaft
1.6 Die soziale Konstellation: Eskapismus und »innere Emigration«
2. Tugendaporien und Vorsehungsglaube im ›Leben der schwedischen Gräfin von G***‹
2.1 Doppeldeutige Motivierung: historisch-empirische versus finale Kausalität
2.2 Das Theodizeeproblem als Grenze der Aufklärung: Der Diskurs des Grafen mit Steeley
V. KAPITEL: KRITIK DER METAPHYSIK UND KULTURELLE PRAXIS IN VOLTAIRES ERZÄHLWERK
1. Voltaire als Protagonist der europäischen Aufklärung
1.1 Theoretische Leitmotive: Neue Physik, Empirismus, Geschichtsphilosophie
1.2 Voltaires experimentierendes Denken in den ›contes philosophiques‹
2. Kosmologischer Enthusiasmus und Wissenschaftsglaube: ›Micromégas‹
3. ›Le monde comme il va‹: Apologie der Durchschnittserfahrung und parataktisches Erzählen
4. ›Zadig‹ und ›Memnon‹ – Die problematische Vermittlung von Subjekt und Kosmos
4.1 Kontingente Individualität als Thema
4.2 ›Zadig‹: strukturelles Triptychon und Teleologie
4.3 Unglückliches Bewußtsein und mechanisches Universum
4.4 Negation der Kontingenz und Providence particulière
4.5 Die Ambiguität des Märchenfinales
4.6 ›Memnon‹: dissonanter Schluß und Ideologieverdacht
5. Metaphysische Persiflage und sozialer Meliorismus in ›Candide ou l’optimisme‹
5.1 ›Candide‹ als philosophisches Experiment. Zur Deutungsmethode
5.2 Episodenstruktur und parodistischer Effekt
5.3 Die Dialektik von Welterfahrung und Weltdeutung
5.4 Denkmodelle: Pangloss, Martin, Candide
5.5 Die Conclusion: spekulativer Verzicht und kulturelle Praxis
VI. KAPITEL: DAS SUBJEKT UND SEIN SCHICKSAL. KONTUREN DES TELEOLOGIEPROBLEMS BEI FRIEDRICH VON BLANCKENBURG UND KARL PHILIPP MORITZ
1. Theonome Wirklichkeit und integraler Charakter: Friedrich von Blanckenburgs ›Versuch über den Roman‹ (1774)
1.1 Geschichtsphilosophische Perspektiven: der Subjektsroman als Paradigma der Moderne
1.2 Primat des introspektiven Erzähltypus
1.3 Theologie des Subjekts und residualer Providentialismus: zur Einheit von Ontologie, Anthropologie und Romanästhetik
1.4 Das Finalkriterium des Romans: der Beruhigungspunkt
2. Kontingente Realität und zerrissener Charakter: Karl Philipp Moritz’ ›Anton Reiser‹ (1785–90)
2.1 Kausalanalyse oder Finalisierung? Die Autobiographie zwischen Fragmentarik und Harmonisierung
2.2 Die Erosion theologischer Sinnformeln
VII. KAPITEL: »QUID VIRTUS, ET QUID SAPIENTIA POSSIT ...« – MORALTELEOLOGIE UND SKEPTISCHER REALISMUS IN WIELANDS ›GESCHICHTE DES AGATHON‹ (1767)
1. Zur frühen Konzeption der ›Geschichte des Agathon‹ in Wielands Briefen an J.G. Zimmermann (1762)
1.1 Autobiographischer Bezug: Identifikation, Kompensation, Distanz
1.2 »Kopf-Arbeit« – Teleologisches Programm und Skepsis
2. Der ›Vorbericht‹ (1766): Wahrheitsbedingungen des Erzählens
2.1 Empirisierung und Erfahrungsbezug
2.2 Prinzipien der Subjektsgestaltung: deskriptive und normative Postulate
2.3 Wielands Poetik des philosophischen Romans
3. Philosophischer Polyperspektivismus und moralische Norm im ›Agathon‹
3.1 Monoperspektivisches Erzählen vor Wieland (Rekurs)
3.2 Ideologischer Pluralismus: Modalisierung des Weltbildes und Präferenz der Moral
3.3 Antiteleologische Gegenperspektiven: Die philosophischen Antagonisten und das Problem der Vermittlung von Subjekt und Welt
4. Entwicklungslinien und Deutungskonzepte: Strukturelle Ambivalenz und semantische Komplexität der ›Geschichte des Agathon‹
4.1 ›Fallende Linie‹ und Desillusionierung: Syrakus als Antiklimax
4.2 Die Unterstellung verborgenen Sinns: Kontingenztopoi, Teleologiesignale, Providenzmetaphern
5. Das Teleologieproblem im ›Agathon‹ und Kants Postulate der praktischen Vernunft
6. Die dementierte Lösung. Zur Problematik der Finalkonstruktion in der ›Geschichte des Agathon‹
6.1 Agathon im Glück: Tarent als trügerische Synthesis
6.2 Der »Sprung aus dem Fenster« – Aufspaltung der Erzählfunktion und ›Entblößung der Fiktion‹
SCHLUSS
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HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HANS FROMM UND HANS-JOACHIM MÄHL

BAND 55 Teill

WERNER FRICK

Providenz und Kontingenz Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts Teil 1

M A X NIEMEYER V E R L A G T Ü B I N G E N 1988

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Arbeit wurde 1985 mit dem Preis der Philosophischen Fakultät der ChristianAlbrechts-Universität Kiel ausgezeichnet.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Frick, Werner: Providenz und Kontingenz : Unters, zur Schicksalssemantik im dt. u. europ. Romand. 17. u. 18. Jh. / Werner Frick. Tübingen : Niemeyer. (Hermaea ; Bd. 55) N E : GT

Teil 1 (1988)

I S B N 3-484-15055-6

©

I S S N 0440-7164

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1988

Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Fotosatz Froitzheim, Bonn. Druck: Guide-Druck, Tübingen. Einband: Heinr. Koch, Tübingen.

VORWORT

Auch ein Buch über >Schicksalssemantik< hat seine Schicksale. Die vorliegende Untersuchung ist angestoßen durch Lektüreerfahrungen Faszinationen und Irritationen - mit der Literatur der europäischen Aufklärung während meines Studiums in Tübingen und Paris. In den Jahren 1979 und 1980 in Kiel konzipiert und zwischen 1981 und 1985 in Regensburg niedergeschrieben, wurde sie im Wintersemester 1985/86 von der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel als Dissertation angenommen. Die anschließende Überarbeitung für den Druck wurde im Sommer 1986 in Augsburg abgeschlossen. Besonderen Dank schulde ich meinem Lehrer Prof. Dr. Klaus-Detlef Müller, der das Entstehen der Arbeit in allen Stadien mit kritischer Aufgeschlossenheit und großem sachlichem Engagement verfolgt hat. Herrn Prof. Dr. Hans-Joachim Mähl danke ich für seine sorgfältig kommentierende Lektüre des Textes, ebenso Dorothea und Dr. Gerhard Baudy, Dr. Klaus Disselbeck, Dr. Heinz-Jürgen Frick und allen Freunden und Kollegen, die mich durch Hinweise, Rat und produktive Kritik unterstützt haben. Als Glücksfall ist es mir erschienen, daß ich wesentliche Thesen der Untersuchung im offenen Seminargespräch entwickeln und überprüfen konnte, bevor ich sie abschließend formulierte; ich danke Herrn Prof. Dr. Hans Joachim Kreutzer, der mir die Möglichkeit dazu bot, und »meinen« Regensburger Studenten, deren Freude an »Streit und Gelächter« (Brecht) mir zu mancher Klärung verhalf. Der Studienstiftung des deutschen Volkes sage ich Dank für langjährige Förderung, den Herausgebern der >Hermaea< für die Aufnahme der Arbeit in ihre Reihe, schließlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Universität Augsburg für die Gewährung namhafter Druckbeihilfen. Ohne die vielen quasi-providentiellen Fingerzeige meiner Frau hätte die an Kontingenzen reiche Entstehungsgeschichte dieser Untersuchung vielleicht nie ein Ende gefunden. Ihr ist das Buch dankbar gewidmet. Augsburg, im September 1986

Werner Frick

INHALT VORWORT

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EINLEITUNG

ι

1. K A P I T E L METAPHYSISCHE MIMESIS: H E I N R I C H A N S H E L M VON Z I G L E R UND KLIPHAUSENS >ASIATISCHE BANISE< ( 1 6 8 9 ) UND DIE PHILOSOPHISCHEN VORAUSSETZUNGEN DES BAROCKEN GESCHICHTSROMANS . .

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ι. Ziglers >Asiatische Banise< als Modell: Metaphysische und politische Aspekte im höfischen Barockroman 1.1 Literarische und literaturwissenschaftliche Rezeption. . . . 1.2 Kontingente Ereignisstruktur und teleologischer Erzählprozeß 1.3 Das Prinzip der doppelten Legitimation und die literarische Korrektur der Ereignisgeschichte ι .4 Historie im Zeichen der Vorsehung 1.4.1 Providentielles Geschichtsdiktat und menschliche Heteronomie 1.4.2 Prädetermination und Verrätselung: Zur hermeneutischen Funktion des Orakels 1.4.3 Die Position des Erzählers 1.5 Providenz und absolutistische Ordnung. Umrisse einer politischen Deutung 1.5.1 Das Problem legitimer Herrschaft: ratio status versus salus publica 1.5.2 Widerstandsverbot und Nemesis divina - ein K o m pensationsverhältnis 2. Die verborgene Notwendigkeit des Zufälligen. Philosophische Prämissen des barocken Geschichtsromans 2.1 >Deus eligit optimums Die Kontingenztheorie von Gottfried Wilhelm Leibniz 2.2 >Un jeu de la perspectivec Providentialismus und eschatologische Geschichtshermeneutik bei Jacques-Bénigne Bossuet

25 25 32 37 44 44 49 55 58 61 69

74 75

80 VII

2.3 >Der Erd den Himmel einverleibenc Zur metaphysischen Axiomatik der barocken Romanpoetik 2.3.1 Funktionen der Fiktion: Totalisierungskompetenz und figurativer Wahrheitsmodus des Romans bei Huet und Birken 2.3.2 Die Providenz als Fortuna apud Christianas. Gegen dualistische Deutungen

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87 96

II. KAPITEL: PROVIDENZ, RATIONALITÄT, GESELLSCHAFT. VORSEHUNG

IM

EUROPÄISCHEN

FUNKTIONEN DER

SOZIALROMAN

DES

FRÜHEN

1 8 . JAHRHUNDERTS

ι. Providenz und soziale Ordnung in Daniel Defoes >The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe, of York, MarinerRobinson Crusoe< 1.1.1 Der Editorenkommentar: Polarität von Ereignisvielfalt und Regularität 1.1.2 Robinson Crusoes original sin: Zur Konstituierung der moralisch-soziologischen N o r m in der Exposition 1.2 >Of Listening to the Voice of Providences Defoes aufgeklärter Puritanismus und die Providenzkonzeption in den >Serious Reflections of Robinson Crusoe< (1720) ι.2.ι Kritik der Schulmetaphysik und Pragmatismus . . . . 1.2.2 Die" theoretischen Leitmotive: Physikotheologie, Anthropozentrismus, order 1.3 Exkommunikation und Reintegration. Die teleologische Bewegung des >Robinson Crusoe< 1.3.1 Kontingenz der inneren Natur: Crusoes anthropologischer Defekt und sein Selbstausschluß aus der Gesellschaft 1.3.2 Crusoes Konversion. Zur Logik der Anpassung in der Inselepisode 2. Liebe als Verhängnis. Die >Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut< ( 1731 ) des Abbé Prévost 2.1 »Un chef-d'œuvre d'ambiguïté« (Sgard). Die >Histoire du VIII

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103 105 106

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Chevalier des Grieux< als Paradigma ambivalenten Erzählens 2.1.1 Des Grieux und Robinson Crusoe: parallele Konstellationen 2.1.2 Distanzierung oder Empathie? Die wirkungspoetische Doppelschichtigkeit der >Histoire< 2.2 Der Konflikt der Normsysteme 2.2.1 Der Vater: Aristokratisches Ethos und Apologie des Status quo 2.2.2 Tiberge: Askese, Caritas, bonheur de la vertu 2.2.3 Der Chevalier: amour passion als Gegencode 2.3 Providence, Hasard, Fatalité?-Zur Funktion der heterogenen Schicksalsbegriffe 2.3.1 Die Selbstdeutung des Erzählers: Biographie als Fatum 2.3.2 Schicksalssemantik als Außenprojektion seelischer Zwänge 2.3.3 Die Macht des Schicksals und die Macht der Wirklichkeit: Zur Dialektik von Fortune und fortune. . . . 3. Providenz und Veränderung. Johann Gottfried Schnabels >Insel Felsenburg< (1731) 3.1 Episierung des Utopischen 3.2 Erzählstruktur und Teleologie 3.3 Providenz und bürgerliche Autonomie - ein Sukzessionsverhältnis

IJ3 ij 6 158 162 163 167 170 173 173 178 181

186 186 190 193

III. KAPITEL: SÄKULARISIERUNG UND T R A D I T I O N S B R U C H . Z U EINIGEN A S P E K T E N UND

FOLGEPROBLEMEN

DES

PARADIGMENWECHSELS

IN

DER

E R Z Ä H L P O E T I K DES 1 8 . J A H R H U N D E R T S

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1. Der Epochenübergang: Kritik und Kontinuität 1.1 Säkularisierung. Zur Legitimität des Theorems 1.2 Natürlichkeit als neues Paradigma. Das Beispiel Sulzer . . .

199 201 202

2. Theologische Kritik am metaphysischen Erzählkonzept: Gotthard Heideggers >Mythoscopia romantica< (1698) 2.1 Ablehnung des barocken Großromans: ästhetische und pragmatische Argumente

207 209 IX

2.2 Fiktionales Erzählen als hybride Schöpfungskonkurrenz . . 2.3 Der ontologische Vorrang der Wirklichkeit und das Wahrheitskriterium der Faktizität

214

3. Die >geschickte FictionInsel Felsenburg< (1731) . .

217

4. Aufklärung als Entzauberung. Antiprovidentialistische Motive in Gottscheds >Critischer Dichtkunst (1730)

229

5. »Le dilemme du roman au 18e siècle« (May): Antagonismus von Realismus und Morali tat 5.1 Der Roman als Korrektiv der Historie: Lenglet-Dufresnoys >De l'usage des romans< (1734) 5.2 Fiktion als Innenansicht der Geschichte: >Einige Gedanken und Regeln von den deutschen Romanen< (1744)

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IV. KAPITEL: KATASTROPHISCHER

WELTLAUF

UND

TUGENDIDEAL.

GRENZEN

DER A U F K L Ä R U N G IN G E L L E R T S >LEBEN DER SCHWEDISCHEN G R Ä FIN VON G : : ' * * < ( 1 7 4 7 / 4 8 )

ι. Biographie als Katastrophenzyklus. Grundzüge einer Interpretation 1.1 Autobiographisches Schema und moralisches Modell. . . . 1.2 Die Zeitstruktur: Kontrast von Ereignisarmut und Extremsituationen 1.3 Kontingenzerfahrung: zur Typik der Katastrophensequenzen 1.4 Heteronomie und Zufallsangst in Gellerts >Moralischen Vorlesungen< 1.5 Ohnmächtige Gewissensethik und Verdrängungsbereitschaft 1.6 Die soziale Konstellation: Eskapismus und »innere Emigration« 2. Tugendaporien und Vorsehungsglaube im >Leben der schwedischen Gräfin von G::':;':;'< 2.1 Doppeldeutige Motivierung: historisch-empirische versus finale Kausalität

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2JJ 255 258 260 264 267 269

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2.2 Das Theodizeeproblem als Grenze der Aufklärung: Der Diskurs des Grafen mit Steeley

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KAPITEL:

K R I T I K DER M E T A P H Y S I K UND K U L T U R E L L E P R A X I S IN V O L T A I R E S ERZÄHLWERK

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ι. Voltaire als Protagonist der europäischen Aufklärung 1.1 Theoretische Leitmotive: Neue Physik, Empirismus, Geschichtsphilosophie 1.2 Voltaires experimentierendes Denken in den >contes philosophiques
Micromégas
Le monde comme il vac Apologie der Durchschnittserfahrung und parataktisches Erzählen

293

4. >Zadig< und >Memnon< - Die problematische Vermittlung von Subjekt und Kosmos 4.1 Kontingente Individualität als Thema 4.2 >ZadigMemnonCandide ou l'optimisme< 5. ι >Candide< als philosophisches Experiment. Zur Deutungsmethode 5.2 Episodenstruktur und parodistischer Effekt 5.3 Die Dialektik von Welterfahrung und Weltdeutung 5.4 Denkmodelle: Pangloss, Martin, Candide 5.5 Die Conclusion: spekulativer Verzicht und kulturelle Praxis

316 316 321 324 326 334

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VI. KAPITEL: D A S S U B J E K T UND SEIN S C H I C K S A L . K O N T U R E N DES T E L E O L O G I E PROBLEMS BEI F R I E D R I C H VON B L A N C K E N B U R G UND K A R L P H I L I P P MORITZ

ι. Theonome Wirklichkeit und integraler Charakter: Friedrich von Blanckenburgs >Versuch über den Roman< (1774) 1.1 Geschichtsphilosophische Perspektiven: der Subjektsroman als Paradigma der Moderne 1.2 Primat des introspektiven Erzähltypus 1.3 Theologie des Subjekts und residualer Providentialismus : zur Einheit von Ontologie, Anthropologie und Romanästhetik 1.4 Das Finalkriterium des Romans: der Beruhigungspunkt . . 2. Kontingente Realität und zerrissener Charakter: Karl Philipp Moritz' >Anton Reiser< (1785-90) 2.1 Kausalanalyse oder Finalisierung? Die Autobiographie zwischen Fragmentarik und Harmonisierung 2.2 Die Erosion theologischer Sinnformeln 2.2.1 Das blinde Ohngefähr. Geleugnete und bestätigte Kontingenz 2.2.2 »Verweltlichung« der Schicksalssemantik: der Vorsehungsglaube als ideologische Fiktion

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VII. KAPITEL: »QUID VLRTUS, ET QUID S A P I E N Z A POSSIT. . .« - M O R A L T E L E O L O G I E UND SKEPTISCHER R E A L I S M U S IN WLELANDS > G E S C H I C H T E DES AGATHON< ( 1 7 6 7 )

ι. Zur frühen Konzeption der >Geschichte des Agathon< in Wielands Briefen an J.G. Zimmermann (1762) 1.1 Autobiographischer Bezug: Identifikation, Kompensation, Distanz 1.2 »Kopf-Arbeit«-Teleologisches Programm und Skepsis . . 2. Der >Vorbericht< (1766): Wahrheitsbedingungen des Erzählens 2.1 Empirisierung und Erfahrungsbezug 2.2 Prinzipien der Subjektsgestaltung: deskriptive und normative Postulate XII

383

383 384 386 388 388 390

2.3 Wielands Poetik des philosophischen Romans

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3. Philosophischer Polyperspektivismus und moralische N o r m im >Agathon< 3.1 Monoperspektivisches Erzählen vor Wieland (Rekurs) . . . 3.2 Ideologischer Pluralismus: Modalisierung des Weltbildes und Präferenz der Moral 3.3 Antiteleologische Gegenperspektiven: Die philosophischen Antagonisten und das Problem der Vermittlung von Subjekt und Welt 3.3.1 Integrität durch Handlungsverzicht : Aristipp 3.3.2 Die Naturwidrigkeit moralischen Handelns : Hippias

401 401 403

408 410 422

4. Entwicklungslinien und Deutungskonzepte: Strukturelle Ambivalenz und semantische Komplexität der >Geschichte des Agathon< 4.1 >Fallende Linie< und Desillusionierung: Syrakus als Antiklimax

435

4.2 Die Unterstellung verborgenen Sinns: Kontingenztopoi, Teleologiesignale, Providenzmetaphern 4.2.1 Redundante Semantik 4.2.2 Theologumena und ethikotheologische Postulate . . . 4.2.3 Auktoriale Setzungen und Fiktionsironie

441 446 451 463

5. Das Teleologieproblem im >Agathon< und Kants Postulate der praktischen Vernunft

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6. Die dementierte Lösung. Zur Problematik der Finalkonstruktion in der >Geschichte des Agathon< 6. ι Agathon im Glück: Tarent als trügerische Synthesis 6.2 Der »Sprung aus dem Fenster« - Aufspaltung der Erzählfunktion und >Entblößung der Fiktion
Also sprach Zarathustra
Sur la Diversité de nos jugements
The Eighteenth Century confronts the Gods< - diese konzise Formel, Titel einer religionsgeschichtlichen Abhandlung des amerikanischen Ideenhistorikers Frank E. Manuel, 1 umschreibt den allgemeinsten Sachverhalt, aus dem die hier vorgelegten literaturwissenschaftlichen Untersuchungen ihre Orientierung und ihre Inspiration gewinnen. Denn diesseits aller Verästelungen einer bei näherem Zusehen äußerst voraussetzungs- und facettenreichen Problematik (von denen unser Diderotsches Motto spricht) gilt das leitende Erkenntnisinteresse aller folgenden Einzelstudien e i n e m umgreifenden Fragenkomplex: dem Zusammenhang und der Wechselwirkung zwischen der Erosion eines traditionellen, theologisch-metaphysisch fundierten Weltbildes im Gefolge aufklärerischer Säkularisierungstendenzen einerseits und strukturellen und semantischen Krisen- und Innovationsprozessen der Gattung >Roman< andererseits. Es ist unsere am historischen Material zu konkretisierende und zu überprüfende These, daß gerade das offenste, am wenigsten von poetologischen Reglementierungen und kanonisierten Traditionsvorgaben eingeengte (und darum in der zeitgenössischen Gattungshierarchie auch nur als inferior behandelte) literarische Genre, daß eben der Roman in besonderer Weise geeignet war, in seiner Form und in seinen Gehalten auf die epochalen Umbrüche zu reagieren, die, um und nach 1700, zugleich mit der politisch-sozialen Struktur der Gesellschaft auch ihre Leitsemantik und die Grundkategorien der Weltauslegung tiefgreifend veränderten. 2 Wenn es den folgenden Kapiteln gelänge, in möglichst textnahen und trennscharfen Analysen zu demonstrieren, 1 2

N e w Y o r k 1967. Vgl. grundlegend Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, 2 Bde., Frankf./M. 1980 und 1981.

I

wie Veränderungen im semantischen Repertoire der Gesellschaft, wie Transformationen zentraler Ideen, Begriffe und Denkfiguren, wie schließlich grundsätzliche epistemologische Innovationen im Bereich der soziokulturellen Plausibilitäten und Evidenzen in Abschlußfragen der Welterklärung auf den Roman nicht nur als auf ein passives Medium durchschlugen, sondern i m Roman durch ihre narrativ-fiktionale Konfiguration nicht selten sogar antizipiert oder induziert, präzisiert, vertieft oder popularisiert wurden, so wäre aus solcher Einsicht exemplarisch Aufschluß zu gewinnen über die kommunikativ-kulturelle Funktion literarischer Fiktion als eines Erkenntnismodus sui generis.' In diesem Sinn hat Karel Kosik die produktive Teilhabe von Kunst am Prozeß der kulturellen Selbstverständigung einer Gesellschaft als dialektische Einheit von >Reflex< und >Projekt< bestimmt,4 und analog kommt Pierre Bourdieus Entwurf >Zur Soziologie der symbolischen Formend zu dem Ergebnis, nicht in den Postulaten und Operationen von Wissenschaft oder Philosophie, sondern in den Kunstwerken - und insbesondere in den konkreten Weltentwürfen literarischer Werke - drückten sich »die sozialen Denkformen einer Epoche am elementarsten und vollständigsten aus.«6 i . Jeder Versuch, die Logik des gesellschaftlichen, kulturellen und literarischen Umbruchs an der Wende vom 17. zum 18.Jahrhundert ganz oder in Teilaspekten zu rekonstruieren, sieht sich einem Uberangebot an Deutungsvorschlägen und Evolutionskonzepten aus den verschiedensten Wissensdisziplinen konfrontiert. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Systematik seien einige der geläufigsten Synthese- und Prozeßformeln in Erinnerung gebracht, die durch ihre Beschreibung und Erklärung einschlägiger Entwicklungen eine gewisse interdisziplinäre Bekanntheit erlangt haben. Zu nennen sind etwa: das in vielen

3

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5 «

Eine gute Übersicht über gegenwärtige Forschungsperspektiven vermittelt der Sammelband: Funktionen des Fiktiven, hg. v. D. Henrich und W . Iser, München 1983 (= Poetik und Hermeneutik. X). S. ferner Wiklef Hoops: Fiktionalität als pragmatische Kategorie, Poetica 11, 1979, S. 2 8 1 - 3 1 7 . Karel Kosik: Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt, Frankf./M. 1973, S. 123. Kosik erläutert: »Jedes künstlerische Werk hat in unteilbarer Einheit einen doppelten Charakter: es ist Ausdruck der Wirklichkeit, aber es bildet auch die Wirklichkeit, die nicht neben dem W e r k und vor dem Werk, sondern gerade nur im Werk existiert.« Frankf./M. 1974. Ebd., S. 118.

2

Spielarten v e r b r e i t e t e T h e o r e m d e r S ä k u l a r i s i e r u n g ; 7 die s o z i o l o g i s c h k u l t u r h i s t o r i s c h e T h e s e einer z u n e h m e n d e n R a t i o n a l i s i e r u n g u n d > E n t z a u b e r u n g < d e r ( b ü r g e r l i c h - k a p i t a l i s t i s c h e n ) W e l t 8 u n d die aus ihr a b g e leiteten

religions-

und

ideengeschichtlichen

Deutungen

der

Aufklä-

r u n g s b e w e g u n g u n d ihrer V o r s t a d i e n als eines >D ecline o f M a g i c i o d e r eines >Rise of M o d e r n P a g a n i s m < ; 1 0 w i s s e n s c h a f t s h i s t o r i s c h - e p i s t e m o l o g i s c h e T h e o r i e n ü b e r einen W e g > F r o m the C l o s e d W o r l d t o the I n f i n i t e U n i v e r s e < , n ü b e r die z u n e h m e n d e M e c h a n i s i e r u n g u n d K a u s a l i s i e r u n g des W e l t b i l d e s i m G e f o l g e einer ( p r o b l e m a t i s c h e n ) U n i v e r s a l i s i e r u n g des Newtonschen

P a r a d i g m a s 1 * o d e r ü b e r den >Prozeß d e r

theoretischen

N e u g i e r d e < als A u s w e i s f ü r die L e g i t i m i t ä t der N e u z e i t < ; 1 3 s o z i a l s t r u k -

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Vgl. z . B . Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, 6. Aufl. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1973; Hans Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung. Erw. und Überarb. Neuausgabe von >Die Legitimität der NeuzeitDie Legitimität der NeuzeitÜbergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild«14 oder zur >Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung«,1' zur >Dialektik der Aufklärung«16 oder dem Strukturwandel der Öffentlichkeit«,17 zum Syndrom von >Kritik und Krise« als Ursache der Pathogenese der bürgerlichen Welt«18 oder zur Umstellung des sozialen Systems von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung mitsamt den dadurch ausgelösten Innovationsschüben auch im Bereich der >gepflegten Semantik«;1? die These eines Wandels der modalen Grundstrukturen der Weltauffassung »Von den m ö g lichen Welten« zur >Welt des Möglichen««20 bzw. eines Wandels im Wirklichkeitsbegriff vom Schema der metaphysisch garantierten Realität hin zur Konzeption der Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes«;21 schließlich die traditionellen geistesgeschichtlichen Auffassungen von einer >Crise de la conscience européenne«22 oder einem >Age of Crisis«23 und die verdienstvollen philosophie- und religionsgeschichtlichen Synthesen von Cassirer 24 über Philipp 2 ' bis zu Kondylis. 26 Das Spektrum dieser heterogenen, bisweilen rivalisierenden, häufiger jedoch einander ignorierenden Erklärungsansätze dürfte grosso modo

H Franz Borkenau: Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode, Paris 1934 ( = Schriften des Instituts für Sozialforschung. 4). 'S Bernhard Groethuysen: Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, 2 Bde., Frankf./M. 1978 (zuerst Halle/S. 1927/1930). ,6 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankf./M. 1969 (zuerst Amsterdam 1947). Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 6. Aufl. Neuwied 1974. 18 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 2. Aufl. Frankf./M. 1973. '9 Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik (wie Anm. 2). 20 Ingetrud Pape: Von den »möglichen Welten« zur »Welt des Möglichen«. Leibniz im modernen Verständnis. In: Studia Leibnitiana Supplementa, vol. I, Wiesbaden 1968, S. 266-287. 21 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen 1963. Vorlagen und Verhandlungen. Hg. von H. R. Jauß, München 1964 ( = Poetik und Hermeneutik. I), S. 9 - 2 7 , hier S. 12. 22 Paul Hazard: La crise de la conscience européenne ( 1 6 8 0 - 1 7 1 5 ) , Paris 1935. Vgl. ders.: La pensée européenne au XVIIIe siècle de Montesquieu à Lessing, Paris 1946. 23 Lester Gilbert Crocker: An Age of Crisis. Man and World in Eighteenth Century French Thought, 2. Aufl. Baltimore 1963. 2 4 Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932. 25 Wolfgang Philipp: Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht, Göttingen 1957. 26 Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981.

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die gegenwärtige Forschungslage zur Aufklärung und ihrer Genese spiegeln. Eine einheitliche Theorie, die die diversen Zugänge umgreifen und integrieren könnte, scheint derzeit nicht verfügbar zu sein,27 weil insbesondere die wissenssoziologische Problematik der »transhermeneutischen Relationen zwischen sozialen Strukturen auf der einen Seite und Erfahrungsinhalten sowie deren kultureller Formulierung auf der anderen«28 noch keinesfalls zureichend geklärt ist.2? Indessen verdient gerade das Eingeständnis dieser offenen Problemlage in den differenziertesten Entwürfen der gegenwärtigen wissenssoziologischen Forschung den Vorzug gegenüber dogmatisch behaupteten Basis-Überbau-Modellen und ihrer verhängnisvollen Tendenz zur Annahme direkter und unilateraler »Punkt-für-Punkt-Beziehungen« 30 und mechanischer Entsprechungen ζ. B. von Literatur- und Sozialgeschichte oder allgemeiner: von sozialstruktureller Evolution und Ideenevolution. In Anbetracht dieser forschungsgeschichtlichen Situation dürfte sich für die konkrete Arbeit in Einzeldisziplinen - und ganz besonders für die Literaturwissenschaft, für die sich durch die Fiktionalität ihrer Untersuchungsgegenstände noch besondere Probleme ergeben3' - die Annahme einer >morale par provision< empfehlen: ein pragmatischer und lernfähiger Pluralismus ohne Theorieabstinenz, aber mit einer guten Dosis Skepsis gegenüber der Endgültigkeit der eigenen Einsichten und Konstruktionen erscheint als das wissenschaftliche Gebot der Stunde. Dieser Uberzeugung getreu, werden sich die literarhistorischen Analysen der folgenden Kapitel Einsichten aller skizzierten Syntheseversuche zunutze machen, wo immer dies aus dem Lektürebefund an individuellen Texten opportun erscheint und Erkenntnisgewinn verspricht; sie werden sich aber keinem 2

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In materialer Hinsicht kommen die der Aufklärung gewidmeten Bände in Georges Gusdorfs monumentaler Untersuchung >Les sciences humaines et la pensée occident a l diesem Ziel am nächsten; vgl. Les principes de la pensée au siècle des Lumières (wie Anm. 12); Dieu, la nature, l'homme au siècle des Lumières, Paris 1972; L'avènement des sciences humaines au siècle des Lumières, Paris 1973; Naissance de la conscience romantique au siècle des Lumières, Paris 1976.

Luhmann, Funktion der Religion, S. 182. Zu Problem und Forschungsstand siehe Niklas Luhmann: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. In ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik, op. cit., S. 9 - 7 1 , bes. S. 9 - 1 7 . Vgl. auch Luhmanns Aufsatz: Geschichte als Prozeß und die Theorie sozio-kultureller Evolution. In: Historische Prozesse, hg. v. K . - G . Faber und Chr. Meier, München 1978 ( = Beiträge zur Historik. 2), S. 4 1 3 - 4 4 0 . 3° Luhmann, Funktion der Religion, S. 182. 31 Vgl. den Diskussionsüberblick bei Hoops, Fiktionalität (wie Anm. 3); ferner Gottfried Gabriel: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur, Stuttgart 1975 ( = problemata. 51) und Stanislaw L e m : Philosophie des Zufalls. Zu einer empirischen Theorie der Literatur, Bd. 1, Frankf./M. 1983. 28 2

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Paradigma so weit anbequemen, daß sie in die Texte hineinsehen müßten, was nicht aus ihnen herauszulesen ist. 3. Die Reflexion über den notwendigen Pluralismus der Deutungskonzepte betrifft die folgenden Studien zentral. Deren leitender Aspekt: die tiefgreifende Veränderung der Schicksalssemantik in der Romangeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, liegt im Schnittpunkt verschiedenster Sparten der Ideen-, Kultur- und Religionsgeschichte ebenso wie der Sozialgeschichte und kann ohne die angemessene Berücksichtigung des Erkenntnisstandes dieser Disziplinen nicht zureichend beschrieben werden. Diesem weiten »Hof« des Themas wird sich die Untersuchung am besten durch eine Darstellungsweise anpassen, die im hermeneutischen Wechselspiel von problembezogenen Einzelinterpretationen repräsentativer Romane des genannten Zeitraums einerseits und abstrahierendsystematischer Reflexion andererseits die transliterarischen Weiterungen und Anschlußmöglichkeiten scheinbar spezifisch »innerliterarischer« Fragen (wie ζ. B . jener nach der Begründungsfähigkeit, der Plausibilität und dem »ontologischen Status« von Erzählinhalten und Erzählprozessen) erkennbar macht. Dieser betont »weite« Problemansatz bei nicht schon per se und ex definitione »literaturwissenschaftlichen« Fragestellungen wie der Evolution der Schicksalssemantik und epochalen Veränderungen in der Auffassung einschlägiger Konzepte wie Vorsehung, Fatum, Glück oder Zufall, wie Finalität oder Kausalität bedeutet gegenüber der konkreten Individualität jedes einzelnen literarischen Werkes eine methodische Abstraktion, deren Ziel indes gerade nicht in einer einsinnigen Reduktion innerliterarischer Faktoren auf Positionen der philosophischen Ideengeschichte oder auf Daten der Sozialgeschichte - nach dem Muster literaturwissenschaftlicher Vulgärsoziologien - bestehen soll: die Untersuchung erhofft sich vielmehr von der Thematisierung des allgemein ontologischen Problems der Kontingenz der Welt in seiner literaturgeschichtlichen Relevanz und Ausprägung ein Kriterium der Vergleichbarkeit von Literatur mit anderen Phänomenbereichen der soziokulturellen Evolution, durch das gerade die spezifische Modalität, Reichweite und Leistungsfähigkeit »literarischer Erkenntnis« gegenüber möglichen, weil an denselben Bezugsproblemen orientierten »funktionalen Äquivalenten« (Luhmann) im Rahmen einer gegebenen epochalen Gesamtkonstellation unterschieden und verdeutlicht werden kann. Jenseits der sterilen Alternative von Werkimmanenz oder soziologischem bzw. geistesgeschichtlichem Reduktionismus (der der Literatur nur eine illustrierende

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oder trivialisierende Funktion zubilligt) sollte es nach der Prämisse dieses korrelativen Untersuchungsansatzes möglich sein, den Anschlußpunkt und die Konsequenzen transliterarischer Problemkonstellationen - im Sinne etwa von Bourdieus »Gesamtheit obligater Fragen [ . . . ] , die das kulturelle Feld einer Epoche bestimmen«' 2 - in den literarischen Phänomenen selbst aufzufinden und dabei deren spezifische Qualität als »Objekte der Reflexion und Imagination«» im Blick zu behalten, ja überhaupt erst eigentlich zu erfassen. Gerade die Thematisierung der um das Kontingenz-Problem zentrierten Fragenkomplexe scheint die Erkenntnischance zu bieten, »den Gegensatz zwischen einer immanenten Ästhetik, die es sich zur Vorschrift macht, das Werk als ein System zu behandeln, das seinen Sinn und seinen Grund in und aus sich selbst hat und aus der eigenen Kohärenz die Prinzipien und Normen seiner Dechiffrierung bestimmt, und einer auf die äußere Verflechtung des Werks bezogenen Ästhetik [zu] überwinden, der es gewöhnlich nur um den Preis einer verstümmelnden Reduzierung gelingt, das Werk mit den ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen seiner künstlerischen Erzeugung in Beziehung zu setzen.«'* Eine Analyse, die im jeweils romanimmanenten Nachvollzug des Antagonismus kontingenter und teleologisch-providentieller Werkanteile und in der Untersuchung der daraus resultierenden Begründungsschwierigkeiten und semantischen Binnenspannungen des Erzählens bis zu den legitimatorischen Weltbildprämissen und (impliziten oder expliziten) ontologisch-modaltheoretischen Vorannahmen narrativer Entwürfe und Positionen durchzudringen vermag, also bis zu jenen Postulaten oder Axiomen, die Bourdieu unter dem Titel des »kulturell Unbewußten« als »Grundlage der logischen Integration einer Gesellschaft oder eines Zeitalters«" und ihrer »obligaten Themen- und Problemkon-

32 Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, S. 122. Ähnlich spricht Arthur O . Lovejoy: The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, 14. Aufl. Cambridge/Mass, und London 1978, S. 7, von den »implicit or incompletely explicit assumptions, or more or less unconscious mental habits, operating in the thought of an individual or a generation. It is the beliefs which are so much a matter of course that they are rather tacitly presupposed than formally expressed and argued for, the ways of thinking which seem so natural and inevitable that they are not scrutinized with the eye of logical self-consciousness, that often are most decisive of the character of a philosopher's doctrine, and still oftener of the dominant intellectual tendencies of an age.« 33 Bourdieu, ebd., S. 124. 34 Ebd., S. 123 f. 35 Ebd., S. 117.

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stellationen«'6 beschrieben hat, kann auf dieser Grundlage den Vergleich mit anderen symbolvermittelten Konzeptionen der Welt- und Geschichtsdeutung (z.B. Philosophie, Geschichtstheorie, Theologie, Politik, Recht etc.) unternehmen, um nach der spezifischen Leistung von Literatur als Reflexions- und Konstitutionsmedium historischer Prozesse und nach ihrem spezifischen Ort in der Relation zu analogen oder konkurrierenden Deutungssystemen zu fragen. Eine solcherart abstrahierende, das einzelne Werk in von Fall zu Fall wechselnden Richtungen transzendierende Fragestellung geht nicht zu Lasten konkreter und akribischer Werkinterpretation, sondern ist - wie sich in der Durchführung des Programms zeigen wird - deren Konsequenz und folgerichtige Weiterführung. Bei behutsamem Vorgehen dürfte eine Untersuchung unter den genannten Prämissen in einer der Eigenart des Gegenstandes >Literatur< angemessenen Weise und an konkreten Fallbeispielen Zusammenhänge einsichtig machen »zwischen der Evolution des Gesellschaftssystems und der Art, wie im Gesellschaftssystem und in seinen Teilsystemen Probleme gestellt werden und problembezogene Erfahrungen anfallen.«^ Die Aufgabe, diese Zusammenhänge systematisch zu explizieren, fällt nicht mehr in das Ressort und die Fachkompetenz des Literaturwissenschaftlers, sondern gehört in allgemeinere Theoriezusammenhänge der Wissenssoziologie und der Kulturwissenschaft. Aber indem sie diesen Disziplinen zuarbeitet und ihnen Materialien für empirisch verantwortbare Theoriekonstruktionen übergibt, erweist auch die Literarhistorie ihre Kontaktfähigkeit im Ensemble der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, erfüllt sie eine Bringschuld, die ihr von keiner anderen Wissenschaftsdisziplin abgenommen werden kann. Einen überzeugenderen Beweis ihrer Daseinsberechtigung aber als den einer notwendigen Leistung für andere Wissenschaftsgebiete kann sich keine Einzelwissenschaft wünschen. 4. Die für alle Einzelstudien dieser Untersuchung konstitutive Dichotomie wird durch ihren Titel bezeichnet: Providern und Kontingenz. In der komplementären Relation dieses Begriffspaars drückt sich ein ideengeschichtlich äußerst weitläufiger und voraussetzungsreicher Sachverhalt 36 Ebd., S. 1 1 9 . Dasselbe meint Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff, S. io, mit der Frage nach den präformierten Implikationen im Realitätsverständnis eines Zeitalters: »Im Grunde geht es dabei um das, was einer Epoche als das Selbstverständlichste und Trivialste von der Welt erscheint und was auszusprechen ihr nicht der Mühe wert wird, was also gerade deshalb die Stufe der überlegten Formulierung kaum je erreicht.« 37 Luhmann, Funktion der Religion, S. 182.

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aus, dessen historischer und dogmatischer Variationsreichtum hier nicht einmal im Ansatz skizziert werden kann. Wie religionsphänomenologische und kulturkomparative Forschungen zeigen,' 8 stellt das Erfordernis, modale Kategorien für die Notwendigkeit« oder >ZufälligkeitZweckmäßigkeit< oder >Sinnlosigkeit< von Begebenheiten oder Schicksalen auszubilden und diese Kategorien in einer konsistenten Semantik gegeneinander auszutarieren, eine A r t von soziokulturellem Universal dar, das in mythischen Weltbildern ebenso seinen O r t hat wie in den dogmatischen Formenbeständen der Hochreligionen" und in philosophischen Weltbildsynthesen. Nicolai Hartmann hat in einer luziden Kritik teleologischer Denkformen 40 die Attraktivität und die weite Verbreitung der »Vorstellung einer zweckgeleiteten Gesamtordnung« 41 der Welt auf tiefverwurzelte anthropologische Sinn-, Orientierungs- und Entlastungsbedürfnisse zurückgeführt und im einzelnen dargelegt, welche Motive das »naive Bewußtsein« zur »Populärmetaphysik« einer »Teleologie des Ganzen« führen können. 42 Es sind anthropozentrische und anthropomorphe Denkvorstellungen von erstaunlicher historischer Stabilität, die den Aufbau eines in der Idee göttlicher Vorsehung oder einer göttlichen Weltvernunft zusammengeschlossenen

teleologischen

Weltbildes begünstigen; Variationen in der dogmatischen Ausgestaltung fallen gegenüber der konstanten Grundstruktur wenig ins Gewicht:

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Siehe z. B. C . J . Bleeker: Chance - Fate - Providence. Some religio-phenomenological reflections. In: Mélanges d'Histoire des Religions offerts à Henri-Charles Puech, Paris 1974, S. 6 0 1 - 6 1 0 und Günter Dux: Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Frankf./M. 1982. 39 Vgl. Robert N . Bellah: Religiöse Evolution. In: Seyfarth/Sprondel (Hg.), Religion und gesellschaftliche Entwicklung (wie Anm. 8), S. 267-302. 4° Teleologisches Denken, 2. Aufl. Berlin 1966. 41 Ebd., S. ι. Ahnlich bereits Schiller, >Uber das Erhabene« (in: Sämtl. Werke, hg. v. G. Fricke und H . Göpfert, 4. Aufl. München 1967, Bd. V, S. 802): »Wer freilich die große Haushaltung der Natur mit der dürftigen Fackel des Verstandes beleuchtet und immer nur darauf ausgeht, ihre kühne Unordnung in Harmonie aufzulösen, der kann sich in einer Welt nicht gefallen, w o mehr der tolle Zufall als ein weiser Plan zu regieren scheint und bei weitem in den mehresten Fällen Verdienst und Glück miteinander im Widerspruche stehn. Er will haben, daß in dem großen Weltlaufe alles wie in einer guten Wirtschaft geordnet sei, und vermißt er, wie es nicht wohl anders sein kann, diese Gesetzmäßigkeit, so bleibt ihm nichts anders übrig, als von einer künftigen Existenz und von einer andern Natur die Befriedigung zu erwarten, die ihm die gegenwärtige und vergangene schuldig bleibt.« 42 Hartmann nennt u. a. »die bedrückend empfundene Unerträglichkeit des Sinnlosen« (14), den eudämonologischen »Glauben an eine gerechte Verteilung von Glück und Unglück« (15), die »Ablehnung des Zufalls« (15), der durch Teleologisierung in ein »Gesandtes und weise Zugedachtes«, in »>Geschick< oder >Schicksal< im ursprünglichen Sinne des Wortes« (16) umgedeutet werde.

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Der philosophische Gottesbegriff ist, so möchte man sagen, von Anbeginn durch und durch reine Teleologie: aufgebaut auf der Grundanschauung, daß eine einheitliche, vernünftige, vorschauend bestimmende Macht in der Welt waltet und alles in ihr, den Menschen mit eingeschlossen, auf ein sinnvolles Ziel hinlenkt. Alles andere tritt gegen diese Zentralidee zurück. Es ist dafür relativ gleichgültig, ob die Gottheit in der Einzahl oder Vielzahl gedacht ist, ob sie schrankenlos oder durch einen mächtigen Gegenspieler (einen Zerstörer, Gegengott, Satanas usw.) gehemmt waltet, ob sie bloß Weltbaumeister, Erhalter und Lenker oder auch Weltschöpfer, ob sie Geber aller Gesetze des Seienden oder nur Geber von Geboten für den Menschen, Walter des Rechts und der Sitten ist. Auch die halb ohnmächtigen Götter des O l y m p sind ein Versuch, Ordnung, Einheit und planvolles Walten in der gegebenen Welt zu erblicken; und der schon von den Alten gerügte Mangel an Einheit und Kraft ist schließlich kein rein erfundener, sondern nur eine Konzession an die verwirrende Mannigfaltigkeit und den Widerstreit der Welt. 4 3 D e r s e l b e A u t o r hat auf ein grundlegendes, die Beständigkeit der teleologischen

Vorsehungs-Metaphysik

sicherndes

Motiv

aufmerksam

ge-

m a c h t : auf ihre Nicht-Falsifizierbarkeit. G e r a d e die i m D o g m a implizierte epistemologische Differenz v o n f i n i t e r menschlicher Einsicht u n d göttlicher Planung des W e l t g a n z e n in i n f i n i t e n

Dimensionen

u n d Z e i t r ä u m e n m u ß als Immunisierungsstrategie w i r k e n : U n d so scheint die Welt, im Ganzen wie im Teil und im privaten Leben doch annähernd sinnvoll verständlich, wennschon der Mensch nicht hoffen kann, die Zwecke der Gottheit im einzelnen zu durchschauen. Gerade dieses Nichtdurchschauenkönnen aber entlastet ihn weitgehend; denn was er nicht versteht oder von menschlichen Gesichtspunkten aus nicht billigen kann, das kann er so immer noch dem Walten höherer Weisheit, weiterer Planung und Zielsetzung zuschreiben, die ihm nicht mehr faßbar ist. Jedes Mißgeschick und jedes ungerechte Leiden kann ihm immer noch durch >unerforschlichen Ratschluß< gerechtfertigt scheinen. Diese teleologische Theologie ist von Grund aus anthropomorph. 4 4 Im

gedanklichen

Kontinuum

der

griechisch-römischen

u n d der christlichen Metaphysik n i m m t die

Philosophie

Providenz-Kontingenz-

D i c h o t o m i e in vielfältigen historischen A u s p r ä g u n g e n und mit einer

43 44

E b d . , S. 36. E b d . , S. 3 6 f . - Ü b e r weitere historische und systematische Bezüge des Teleologieproblems vgl. H a n s Poser ( H g . ) : Formen teleologischen Denkens. Philosophische und wissenschaftshistorische Analysen. Kolloquium an der T U Berlin, W S 1 9 8 0 / 8 1 , Berlin 1 9 8 1 , darin bes.: Friedrich R a p p : Kausale und teleologische Erklärungen, S. 1 - 1 5 ; Robert Spaemann/Reinhard L o w : Die Frage W o z u ? Geschichte und Wiederentdekkung des teleologischen Denkens, München 1 9 8 1 ; A n d r e w W o o d f i e l d : Teleology, C a m b r i d g e 1 9 7 6 ; G e o r g Henrik von Wright: Erklären und Verstehen, F r a n k f . / M . 1 9 7 4 , bes. K a p . 1.

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Reihe theologischer, ontologischer und ethischer Anschlußprobleme (Determinismus/Indeterminismus ; Notwendigkeit/(Willens-)Freiheit ; Theodizee und innerweltliche Gerechtigkeit etc.) einen kardinalen Rang ein. ανάγκη, ειμαρμένη, πρόνοια, fatum, Providentia Dei, Verhängnis, Vorsehung sind einige der dem Notwendigkeits-Pol zuneigenden Instanzen dieses traditionsreichen semantischen Feldes, während umgekehrt »Urworte« (Goethe) wie τύχη, αύτόματον, fortuna, contingentia, chance, hasard, Glück, Zufall zum Gegenpol tendieren, der, als defizienter Modus von Sinn, Kohärenz und finaler Ordnung, durch negative Bestimmungen wie Nicht-Notwendigkeit, Irregularität, Unselbständigkeit, Unbeständigkeit, Unberechenbarkeit, Unvorhersehbarkeit etc. charakterisiert ist. Die dogmengeschichtlichen Verzweigungen dieser Schicksalskonzepte und die historischen Pendelschläge in der Akzentuierung und Abstimmung der polaren Instanzen (Leugnung der Kontingenz im Fatum der Stoiker, Leugnung der Providenz im Indeterminismus der Epikureer etc.) können wir hier nicht im einzelnen verfolgen; eine umfangreiche Forschungsliteratur überhebt uns der Ausführung des Details.4' (Wir werden in den konkreten Interpretationszusammenhängen einzelner Kapitel die ideengeschichtlichen Linien jeweils so weit ausziehen, wie es die Problemkonstellation gebietet.) Der Vorgang, dessen romangeschichtlichen Aspekten die folgenden Untersuchungen gelten, ist die Problematisierung, ja die fortschreitende Krise und Auflösung der christlichen Providenz-Metaphysik und der ihr korrelierten teleologischen Wirklichkeitsauffassung. Diese vor allem durch Boethius, Augustin und die Scholastik geprägte, im Gedanken eines allmächtigen, weisen und gütigen Schöpfergottes kulminierende Ordnungssemantik hatte es, in origineller Weiterbildung aristotelischer, stoischer und neuplatonischer Ideen, vermocht, »the problem of integrating the element of chance into a providentially governed universe«46 verbindlich zu lösen, indem sie empirische Erfahrung als unzulänglich und trügerisch disqualifizierte und sich gegen den Anschein von Zufälligkeit und Sinnwidrigkeit in den Phänomenen der vordergründigscheinhaften Wirklichkeit auf die notwendige (zugleich jedoch einem menschlichen Erkenntnisvermögen nur approximativ mögliche) Trans45 Einen Eindruck von der Komplexität der ideengeschichtlichen Forschungslage vermittelt die (keinesfalls erschöpfende) Ubersicht einschlägiger Untersuchungen im Abschn. II.2.1 des Literaturverzeichnisses dieser Arbeit (»Literatur zu Schlüsselkonzepten«, unten S. 539 ff.). 46 Vincenzo Cioffari: Art. >Fortune, Fate, and Chances in: Dictionary of the History of Ideas. Studies of Selected Pivotal Ideas, New York o. J., Bd. ζ, S. 225-236, hier S. 229.

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zendierung der Empirie in Richtung auf ihren essentiellen »hinterweltlichen« Verweisungssinn berief. Nach dem durch Thomas von Aquin formulierten Grundgedanken dieser ontologischen Konzeption muß es »etwas geben, das durch sich selbst notwendig ist; etwas, das die Ursache der Notwendigkeit nicht außer sich selbst hat, sondern für das Andere die Ursache der Notwendigkeit ist. Dieses notwendige Sein ist Gott.«47 Einzig aus der Relation zu der mit der Existenz Gottes und seiner Providenz gesetzten Notwendigkeit ist die Welt der kontingenten Phänomene zu deuten: dieses Gradationsverhältnis begründet die »scholastische Lehre von der >distinctio realis< zwischen essentia und existentia, durch die ein der ganzen Schöpfung homogenes Strukturstigma angegeben werden soll«/8 - Dieses Grundschema der metaphysischprovidentiell garantierten Realität bleibt bis weit ins 17. Jahrhundert hinein die >idée maîtresse< der christlichen Ontologie, ein solide etabliertes Paradigma der Weltdeutung, das es auch erlaubt, die Kontingenzund Schicksalskategorien der paganen Tradition (fatum, Fortuna) in ein finales, spezifisch christliches Weltbild zu integrieren: die Providenz verbürgt den Sinn jedes einzelnen Schicksals, sie eliminiert den Zufall und fungiert als Fatum Christianum49 oder als Fortuna apud Christianas. s° Zweifellos wäre es eine unzulässige Vereinfachung, wenn man behaupten wollte, mit der Wende zur »Aufklärung« gerieten Vorsehungsglaube und theonomes Wirklichkeitsverständnis insgesamt außer Kurs. Mentalitätsgeschichtlich und bildungsstatistisch orientierte Forschungen'1 belegen eher das Gegenteil, nämlich die Beharrungsfähigkeit orthodox christlicher Schicksalsvorstellungen, die auch weiterhin

47 Heinrich Barth: Philosophie der Erscheinung. Eine Problemgeschichte. Erster Teil: Altertum und Mittelalter, 2. Aufl. Basel/Stuttgart 1966, S. 327. - Das 6. Kap. des Werkes (»Das kontingente Sein«, S. 326-390) gibt einen vorzüglichen Uberblick über die Kontingenzkonzepte der Scholastik und ihre Bezüge zur antiken Philosophie. 48 Hans Blumenberg: Art. >KontingenzFatumCausation in the Seventeenth Century, Final CausesMoralität< und >Glückseligkeit< zuwider, einem Anliegen, das Max Weber als das einer »Theodizee des Glückes« 6 8 präzise beschrieben hat: Der Glückliche begnügt sich selten mit der Tatsache des Besitzes seines Glückes. E r hat darüber hinaus das Bedürfnis: auch noch ein Recht darauf zu haben. E r will überzeugt sein, daß er es auch >verdienelegitim< sein. 69

Es ist kein Zufall, daß gerade im Zusammenhang dieses ethischen Kontingenzproblems des moralisch legitimen Glücks (und der notwendig glücklich-sein-sollenden Moralität) in einer säkular-empirischen Welt kausaler Bezüge die Versuchung zum Rückgriff auf die obsoleten Providenzschemata der metaphysischen Tradition virulent wird. Auf der Suche nach einer als Grundforderung der »Vernunft« angesehenen ethischen Ausgleichskausalität - und das heißt erzähltechnisch: beim Versuch, normativ-teleologische Erzählprozesse zum »glücklichen Schluß« zu führen und dies plausibel zu begründen - muß das aufgeklärte Bewußtsein entdecken, daß ihm zur Sicherung seiner moralfinalistischen Postulate andere Begründungen als die der überwunden geglaubten Metaphysik der providentiellen Intervention nicht zu Gebote stehen. Das führt zu einer Rückholung des Verdrängten, zu einer mit »schlechtem Gewissen« vollzogenen Reaktualisierung verabschiedeter Paradigmen, wie wir sie an verschiedenen Fallbeispielen studieren und auf ihre grundsätzliche Aporie zurückführen werden. Die ästhetische Signatur dieses notgedrungenen Rekurses auf anachronistische semantische Deutungsfiguren sind diverse Formen des Vorbehalts, der uneigentlichen Rede und der textinternen Distanzierung: Metaphorisierung, Eklektizismus, Ironisierung etc. - Im ganzen werden unsere exemplarischen Analysen dieser komplexen und widersprüchlichen Zusammenhänge Herbert Dieckmanns Thesen über die »Macht der Überlieferung«'" 3 im Denken der Aufklärung bestätigen: Auch der (wie immer ironisch gebrochene) Gebrauch von Elementen oder Splittern einer tradierten providentiellen Schicksalssemantik in wichtigen Romanen des 18. Jahrhunderts ist ein Beleg für die zahlreichen Rückfälle

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Ebd. S. 242. Ebd. Religiöse und metaphysische Elemente, S. 260.

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in die Tradition, von der man sich loslösen will. Der radikale Neuanfang, die tabula rasa sind nur Programm; in Wirklichkeit verwendet man Ideen, die in Metaphysik und Theologie eine feste Prägung empfangen haben. Die A u f nahme, das Eingliedern, Anverwandeln und Umwandeln dieser Ideen vollziehen sich in einem vielfältigen, wechselvollen Prozeß, der dem Denken des 18. Jahrhunderts seine Beweglichkeit und Spannung verleiht. Manches aus der Uberlieferung wird preisgegeben, manches umgeformt und auf neuer Grundlage neu durchdacht; manches wird übernommen, obwohl es nicht mehr zu den veränderten Voraussetzungen paßt. 7 '

5. Je weiter die theoretischen Verweisungshorizonte eines literaturwissenschaftlichen Themas, desto dringender empfiehlt sich ein Untersuchungsverfahren, das sich in enger Fühlung mit den Texten der konkreten Phänomenologie seiner Probleme versichert. In unserem Zusammenhang kann dies am sinnvollsten durch eine deskriptive Analyse von strukturellen und semantischen Merkmalen der untersuchten Romane geschehen. Als Ausgangspunkt und tertium comparationis wählen wir einen tektonischen Sachverhalt, der, mutatis mutandis, alle Texte unseres Korpus charakterisiert: den Antagonismus von kontingenter Ereignis· und Fabelstruktur einerseits und von teleologischer Ausrichtung auf ein (nach seiner gehaltlichen Konkretion je anders bestimmtes) ideales Erzählziel andererseits. Den Gegenstand unserer Untersuchung bilden Romane, die entweder direkt diesem Strukturtypus finalistischen Erzählens entsprechen, indem sie im Medium eines kontingenten Erzählprozesses die Genese eines »glücklichen Endes« 72 bieten und einen Idealzustand realisieren, oder aber diesen Typus problematisieren und damit gleichfalls, a l s Problematisierung oder Negation, im Bannkreis der Fragestellung verharren. Die teleologische Prozessualität des auf die Realisierung eines normativen Zieles ausgerichteten Erzählens muß dabei - in einer für jedes Werk konstitutiven, aber in den Einzelverhältnissen durchaus variablen Weise - in ein werkinternes Spannungsverhältnis treten zu den kontingenten Konstruktionszusammenhängen der Romanfabel, die dem angestrebten und oftmals auch programmatisch formulierten Telos indifferent oder gar prohibitiv gegenüberstehen. Damit wird die Vereinbarkeit beider Strukturmomente zum erzählerischen Grundproblem, das in der Leitsemantik der Romane thematisiert und gelöst werden muß.

7' 71

E b d . , S. 266. In Anlehnung an den Titel v o n G e r d a R ö d e r : G l ü c k und glückliches E n d e im deutschen Bildungsroman. Eine Studie zu Goethes > Wilhelm Meister«, M ü n c h e n 1968 ( = Münchener Germanist. Beiträge. 2).

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Dieser strukturproblematische Sachverhalt wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Titel >Kontingenz< nach seiner allgemeinsten modaltheoretischen Fassung ein Problem aus dem Umkreis possibilistischer Modalisierungen bezeichnet, nämlich »etwas Wirkliches (einschließlich wirklich Möglichem), sofern es auch anders möglich ist. Formal definiert wird Kontingenz durch Negation der Unmöglichkeit und Negation der Notwendigkeit. Kontingent ist demnach alles, was zwar möglich, aber nicht notwendig ist«.73 Von den beiden in der Modalkategorie des Kontingenten implizierten Negationsverhältnissen wird in unserem Zusammenhang nur eines wesentlich, dieses aber zentral: die Negation der Notwendigkeit. Denn aus dem logischen Aspekt des Auch-anders-Möglichen im Zufall, der ebensogut hätte ausbleiben können, wie er im konkreten Fall eingetreten ist, folgt ein fundamentales Begründungsproblem für jeden Erzähler, der kontingente Ereignisreihen nicht um ihrer selbst und um ihrer interessanten Einmaligkeit willen, sondern als prozessuale Stadien einer MittelZweck-Relation, als >Wege< zu einem vorgegebenen >Ziel< konstruiert. Die (für unsere Beispielwerke insgesamt charakteristische) Realisierung normativ verbindlicher und verallgemeinerungsfähiger Finalzustände mit deren ethisch-moralischer Exemplarität die Texte werben und zu deren didaktischer Applikation auf die außertextuelle, lebensweltliche Praxis des Lesepublikums sie auffordern - im Medium kontingenter, singulärer, wahrscheinlicherweise unwiederholbarer Geschehensabfolgen kann mithin als plausibel nur gelten, wenn es in der Deutungssemantik der Romane selbst gelingt, das interne Ambivalenzverhältnis von Ideal/Notwendigem und Partikular/Zufälligem, die Spannung von kontingenter Ereignisstruktur und teleologischem Idealisierungsprozeß zu vermitteln und durch zureichende immanente Deutungskategorien den Gegensatz von Partikularität (des Weges) und Universalität (des Zieles) zu reflektieren und aufzulösen. Novalis hat den hier in Rede stehenden strukturellen Sachverhalt mit einem treffenden Ausdruck als den einer »selbsttätige[n], absichtliche[n], idealischefn] Zufallsproduktion« 74 bezeichnet und vom Romanschreiber gesprochen, »der aus einer gegebenen Menge von Zufällen und Situationen - eine wohlgeordnete, gesetzmäßige Reihe macht - der Ein Individuum zu Einem Zweck durch alle

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Luhmann, Funktion der Religion, S. 187. Vgl. das gesamte 3. Kap. (»Transformationen der Kontingenz im Sozialsystem der Religion«), ebd. S. 1 8 2 - 2 2 4 . Werke, hg. u. kommentiert von Gerhard Schulz, München o.J., S.493 (aus dem »Allgemeinen Brouillon Wilhelm Meisters Lehrjahren», DVjs 49, 1975, Sonderheft 18. Jahrhundert, S. 190-223, hier S. 191. 78 Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff, S. 18. 79 Dazu Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976, bes. Teil II (»Funktionsgeschichtliches Textmodell der Literatur«), S. 87 ff. sowie

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nen untersuchten Werkes ins Blickfeld zu rücken, es also unter der dreifachen Hinsicht (i) seines internen narrativen Organisationsgefüges als einer »relativen Totalität«80 in sich, (2) des Bezuges dieser fiktionalen »Welt« auf transtextuelle Realitätsbereiche und deren Konzeptualisierungen und (3) seiner Qualität als Sprachhandlung und kommunikativer Akt, also unter dem Gesichtspunkt seiner sozialen Funktion, zu thematisieren. 6. Das im engeren Sinne literarhistorische Anliegen der folgenden Studien besteht in einer Reformulierung und differenzierten Bewertung des Epochenübergangs vom »Barock« zur »Aufklärung« aus dem systematischen Blickwinkel des bezeichneten Antagonismus von Kontingenz und normativer Teleologie, der als ein beiden Epochen gemeinsames fundamentales Erzählproblem beschrieben werden soll. Gerade die Permanenz des Problems verspricht einen entscheidenden Erkenntnisgewinn: sie erlaubt es, an die Stelle des in Selbstinterpretationen der Aufklärungspoetik vielfach postulierten Theorems einer radikalen Diskontinuität der Gattung >Roman< die wissenschaftlich fruchtbarere Fragestellung nach der Art der Differenz, nach dem »Konsensus im Dissensus«, 81 nach genauerer Differenzierung von Kontinuität (des Bezugsproblems) und Diskontinuität (seiner Lösungen) zu setzen. Die Stabilität des mit der Providenz-Kontingenz-Dichotomie umschriebenen Problemzusammenhangs bietet hier die methodische Chance, abstrakte durch bestimmte Negation zu ersetzen und ein tieferes Verständnis des Säkularisierungsprozesses von >Kritik und Krise< zu gewinnen, wie er sich romangeschichtlich als Paradigmenwechsel im Sinne verschärfter Reflexion auf die ontologischen Voraussetzungen des Erzählens und einer produktiven Suche nach neuen, kritikfähigen Erzählformen dokumentiert.

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ders.: Die Wirklichkeit der Fiktion. Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells der Literatur. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 2 7 7 - 3 2 4 . So Lucien Goldmann: Die strukturalistisch-genetische Methode in der Literaturgeschichte. In ders.: Soziologie des modernen Romans, Neuwied und Berlin 1970 (frz. Original: Pour une sociologie du roman, 1964), S. 2 3 3 - 2 5 6 , hier S. 245. » [ . · . ] die manifesten Konflikte zwischen Richtungen und Doktrinen verschleiern, zumindest den darin Befangenen, die verschwiegene Komplizität in ihren Voraussetzungen, die den außenstehenden Beobachter des Systems frappiert, verschleiern nämlich den Konsensus im Dissensus, der die objektive Einheit des kulturellen Kräftefeldes einer beliebigen Epoche bildet, eine unbewußt getroffene Verständigung über die Brennpunkte des kulturellen Feldes [ . . . ] « . Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, S. 123.

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Der Hauptakzent der Untersuchung liegt auf Texten und Problemzusammenhängen der deutschen Literatur. Komparatistische Weiterungen und namentlich die parallelisierende oder kontrastierende Berücksichtigung französischer und englischer Entwicklungen erweisen sich aber mehrfach als unabdingbar, wenn die Diskussion nicht a priori hinter der tatsächlichen historischen Komplexität und übernationalen Verflechtung ihres Gegenstandes zurückbleiben und so auf mögliche Erkenntnis verzichten soll. Methodisch kann sich dieses Vorgehen auf den Nestor der angelsächsischen >History of IdeasAsiatischer Banise< (1689) soll dargelegt werden, wie der barocke Geschichtsroman die Spannung von kontingenter Ereignisstruktur und teleologischem Prozeß, von Fortuna-Welt und göttlicher Providenz, nicht nur zum zentralen, strukturbestimmenden Erzählinhalt erhebt, sondern in ausdrücklichem Appell zur Textüberschreitung auch zur Grundverfassung der historischen Welt schlechthin erklärt. Diesem Erzähltypus wird der Roman zur mimetischen Funktion einer Metaphysik des Weltganzen, deren Grundlagen und literarhistorische Implikationen im Rückgriff auf Leibniz' Kontingenztheorie, Bossuets universalgeschichtliche Eschatologie und auf Positionen der zeitgenössischen Romanpoetik diskutiert werden. Das zweite Kapitel untersucht an je einem Beispiel aus der englischen, französischen und deutschen Romangeschichte des frühen 18. Jahrhunderts (Defoe, Prévost, Schnabel) die Funktion des Providenz-Motivs in Texten, deren Wirklichkeitsauffassung durch »bürgerliche« Normen und Denkweisen geprägt ist. Zentral ist die Frage, inwieweit die Verwendung traditioneller metaphysisch-providentieller Schicksalstopoi in der Leitsemantik dieser Romane kompatibel erscheint mit der Säkularisierung und Rationalisierung des Weltbildes und namentlich mit dem propagierten Anspruch auf zweckrationales Handeln autonomer Subjekte in einer verstehbaren Welt. Komplementär zu diesen Analysen stehen im dritten Kapitel Entwicklungen der Romanpoetik zur Diskussion, in deren Gefolge das metaphysische Wirklichkeitsparadigma des barocken Geschichtsromans durch das neue Leitbild eines »wahrscheinlichen«, am kausalmechanischen Gefüge der >Natur< bzw. an den Erfahrungsdaten der historischen Lebenswelt orientierten Erzählens verdrängt wird. Dabei zeigt sich, daß der Gewinn eines durchgängigen empirischen Realitätskontinuums erkauft wird mit beträchtlichen Plausibilisierungsschwierigkeiten des neuen Erzähltypus im Bereich der Prämiierung moralischen Handelns: der Antagonismus von Moralität und Realismus wird zum kardinalen Problem, zu dessen Lösung auch auf providentialistische Denk- und Erzählfiguren zurückgegriffen wird. Das vierte und fünfte Kapitel verfolgen diese spezifischen Schwierigkeiten normativ-teleologischen Erzählens unter den Bedingungen eines empirischen Realitätsbegriffs in Interpretationen von Gellerts >Leben der 23

schwedischen Gräfin von G * * * < und von Voltaires wichtigsten Erzählwerken. Dabei werden gegensätzliche Optionen deutlich, die generelle Möglichkeiten der Epoche markieren: in Gellerts Fall die Uberblendung der theoretisch unlösbaren Aporien durch einen christlich-providentialistischen Fideismus, bei Voltaire der (in einem mühsamen Ablösungsprozeß errungene) Verzicht auf finalistische Gesamtdeutungen der Welt und die Annahme einer kontingenten, aber verbesserungsfähigen Wirklichkeit ohne metaphysische Deckung. Das sechste Kapitel konfrontiert Friedrich von Blanckenburgs >Versuch über den Roman< und Karl Philipp Moritz' >Anton ReiserGeschichte des Agathon< und weist in detaillierter Analyse die Koexistenz moralfinalistischer und antiteleologischer Denkformen im Roman nach. Die komplexe Deutungssemantik des >Agathon< wird erklärt aus dem aporetischen Widerstreit einer auf das »Glück« des moralischen Protagonisten gerichteten Perfektionierungstendenz mit skeptisch-realistischen Vorbehalten. In der Folge dieser antagonistischen Konstellation kommt es zum (zugleich ironisch dementierten) Rekurs auf eklektische Schicksals- und Providenzkonzepte der antiken und christlichen Tradition und zu einer erkenntnisträchtigen Steigerung der narrativen Komplexität des Romans durch eine Aufspaltung der Erzählfunktionen. Das vieldiskutierte Finalproblem der >Geschichte des Agathon< wird aus der in der Romanform kritisch reflektierten Divergenz von Moralteleologie und skeptischem Realismus gedeutet.

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I. KAPITEL

Metaphysische Mimesis : Heinrich Anshelm von Zigler und Kliphausens >Asiatische Banise< (1689) und die philosophischen Voraussetzungen des barocken Geschichtsromans

Quelqu'un disait que la providence était le nom de baptême du hasard; quelque dévot dira que le hasard est un sobriquet de la providence. CHAMFORT, > M a x i m e s et Pensées
Asiatische Banise< als Modell: Metaphysische und politische Aspekte im höfischen Barockroman

ι. ι Literarische und literaturwissenschaftliche Rezeption »Es war einmal eine Zeit, da man sagte: der Herkules, die Banise und dergleichen ist das größte Buch, das Deutschland hervorgebracht hat.« Und noch immer, fast ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung, gilt Heinrich Anshelm von Zigler und Kliphausens >Asiatische BaniseGlaube< und >Vernunft< im Drama des 17. Jahrhunderts. In: Formkräfte (wie Anm. 37), S. 5-20 und Winfried Weier: Duldender Glaube und tätige Vernunft in der Barocktragödie, ZfdPh 85, 1966, S. 501-542. 48

nomie in Theorie und Praxis notwendig fremdbleiben muß, liegt in ihrer innersten Konsequenz. 1.4.2 Prädetermination und Verrätselung: Zur hermeneutischen Funktion des Orakels Ihren prägnantesten Ausdruck findet die heteronome Abhängigkeit menschlichen Handelns von der geschichtsmächtigen Providenz in einem System zukunftsungewisser Vorausdeutungen,' 6 einem dichten Netz von Vorzeichen und Omina, die die Existenz einer verborgenen, Gegenwart und Zukunft zusammenschließenden Geschichtsordnung jenseits des Handlungsbewußtseins individueller Subjekte suggerieren: Wenn Balacin gleich in der bewegten Eröffnungsszene des Romans einen Tiger im Kampf erlegt, so interpretiert er dieses Abenteuer, weit über seinen unmittelbaren Ereignisgehalt hinaus, »als ein gutes Vorzeichen« (20), mit dem ihm die eben noch »verhaßten Götter« (20) eine künftige Wendung seines Geschicks in Aussicht stellten: »Ja lasset dieses Tiger ein beglücktes Vorbild sein: daß auch der Tyranne durch meine Faust auf solche Art fallen müsse« (21). Weitaus häufiger sind indessen Unglückssignale, Menetekel katastrophischer Umschwünge: ein »schwerer Traum« läßt Balacin ahnen, daß Banise in höchster Gefahr schwebt, und veranlaßt ihn, »die erzürnten Götter anzuflehen, daß sie alle üble Deutung verhindern, und mich mit erwünschter Hülfe beseligen wollen« (25). Aber auch in Banises Elend erfüllt sich nur eine frühere Prophezeiung, denn schon bei der Verlobung des Paares »hatten die Götter abermals ein Vorzeichen künftiger blutigen Trennung geben wollen, indem der Prinzessin, als sie dero Herrn Vater [ . . . ] die Hand küssen wollen, drei Blutstropfen unversehens aus der Nasen auf des Kaisers Rock geschossen, worüber sie sich allerseits nicht wenig betrübet« (170). Endlich kündigt sich die schlimmste Katastrophe des Romans, der Untergang der Kaiserdynastie von Pegu, durch eine dichte Serie unglückverheißender Vorfälle an: Zugleich bemerkten wir an dem heitern Himmel einen entsetzlichen K o m e t stern, welcher seinen Strahl recht über Pegu stellete, worüber sowohl der Kaiser als auch wir uns nicht wenig entsetzten. Wie wir um Mitternacht vor Pegu anlangeten, und zu den Toren einritten, stürzete der Kaiser auf ebener Erde, ob wir gleich Schritt vor Schritt ritten, mit dem Pferde, daß ihm das

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V g l . Schramek, Die Komposition der >Asiatischen BaniseFallen großer Herrenblutig- doch muthigen PeguZufälle< künden auf unspezifische Weise an, daß sich das »Rad des wandelbaren Glücks« (i $4) bald wieder drehen werde, 97 aber den betroffenen Protagonisten ist keine Möglichkeit gegeben, sich anders auf die Kontingenz der Fortunawelt einzustellen, als indem sie »dem Verhängnis sich geduldig unterwerfen« (154). So unbezweifelt der Bedeutungsund Verweisungscharakter der Omina sein mag - völlig ungewiß bleibt, w a s sie bedeuten und w o r a u f sie verweisen : Geschichte erscheint als Chiffrenschrift mit unbekanntem Code. Das wird noch deutlicher an jenem zentralen Kompositionselement, mit dessen Hilfe der Roman seine providentialistische Geschichtsmetaphysik nicht nur, wie in den dargestellten Vorausdeutungen, fallweise und situationsbezogen, sondern in systematischer Perspektive und mit strukturbildender Konsequenz entfaltet: dem Orakel der »allwissenden Gottheit« (104) Apalita aus dem Tempel zu Pandior.' 8 Auf die Häufigkeit spruchhafter Orakelformen im höfischen Barockroman (wie auch im zeitgenössischen Roman der französischen Klassik) und auf den spätgriechischen Ursprung des Motivs hat Haslinger99 hingewiesen; am Wahrspruch der Delphischen Pythia in Heliodors >Aithiopika< benennt er eine Reihe von Merkmalen, die für die spätere Tradition bestimmend blieben: »Grundzüge der Handlung im weiteren Schicksalsweg, geheimnisvolle Hinweise auf Requisiten und die völlige Undeutbarkeit des dunklen Spruchs gehören dieser Bauform hier schon funktional zu.« 100 Zigler hält sich an die topischen Vorgaben und nutzt sie geschickt für die teleologische Umgestaltung seiner Quellen zum Exempel heilsgeschichtlicher Ordnung. Sein sibyllinischer Götterspruch gibt, in sieben meta97 Zur hier wirksamen ikonologischen Tradition vgl. grundlegend Kirchner, Fortuna in Dichtung und Emblematik, op. cit. (über das auf Boethius zurückgehende Sinnbild vom Rad der Fortuna ebd., S. 21-24); s · ferner Leo Farwick: Die Auseinandersetzung mit der Fortuna im höfischen Barockroman, Diss. phil. Münster 1941. 98 Vgl. A B , S. 1 0 2 - 1 0 7 . Als religionsgeschichtliche Quelle nennt Zigler in einer Anmerkung Rogers >Heydenthum< (wie Anm. 68). 99 Epische Formen im höfischen Barockroman, S. 221-227. 100 Ebd., S . 2 2 1 .



phorisch verrätselten Alexandriner-Zeilen, einen prophetischen Aufriß der wesentlichen Handlungsstationen; er enthält in nuce das chronologische Gerüst der Hauptfabel und das metaphysisch-geschichtstheologische Programm des ganzen Werkes. Wir suchen im folgenden einige erkenntnistheoretische und geschichtshermeneutische Implikationen dieser finalistischen Erzählkonstruktion zu verdeutlichen. Aufschlußreich ist bereits die Einführung des Motivs: Wegen der Intrigen Chaumigrems bei seinem Vater, König Dacosem, ist Balacin für ein Jahr vom Hof in Ava verbannt worden. Er ist ratlos, wohin er sich wenden solle. Sein Diener Scandor, dem solches »sonder Zweifel die Götter in Sinn« (102) geben, rät dem Prinzen, die Gottheit im Tempel von Pandior zu befragen. Die Begründung ist signifikant: »>Gnädigster Herrman soll zwar in allen Dingen die Vernunft fleißig zu Rate ziehen; allein wo diese nicht zulänglich ist, da ist wohl der beste Weg, den Rat der Götter anzuflehenBanise< bleibt die politische Handlung auf einen engen Kreis von Regenten, Feldherren, hohen Hofbeamten und Priestern beschränkt, also auf ein durchweg höfisches Personal aus hochadeligen Standespersonen oder Angehörigen der Geistlichkeit. Die durch die Kriegs- und Staatsaktionen bewegten riesigen Volksmassen des Romans bleiben passives Objekt der P o l i t i k , e i n e pöbelhafte Komparserie ohne Ethos und ohne individuelle Gesichtszüge, von der sich ohne kritischen Unterton konstatieren läßt, was bereits wenige Jahrzehnte später, im Kontext eines frühbürgerlichen Romans, einem Affront gleichkäme: »Es weiß schon ein jeder, wenn sich große Herren raufen, daß die Untertanen ihre Haare dazu hergeben müssen, und wenn " 3 Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee. In: Werke, Akad.-Ausg. Bd. VIII, S. 264. " 4 Zur realgeschichtlichen Triftigkeit dieser Darstellung vgl. Wilhelm Mommsen: Zur Beurteilung des Absolutismus, in: W . Hubatsch (Hg.): Absolutismus, Darmstadt 1973 ( = W d F Bd. C C C X I V ) , S. 6 5 - 9 3 , bes. S. 77.

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gekrönte Häupter Nüsse aufbeißen wollen, so muß es mit den Zähnen der Untertanen geschehen« ( 2 3 1 ) . 1 1 ' Das allein maßgebliche adelige Personal des Romans verkörpert jenen T y p u s repräsentativer Öffentlichkeit, den Jürgen Habermas als für feudale Gesellschaftsformationen konstitutiv beschrieben hat: »Solange der Fürst und seine Landstände das Land >sindvertretenvor< dem Volk.« 1 1 6 Die Identität von Herrscher und Staat muß konsequent auch jeden Unterschied von öffentlichem und privatem Handeln nivellieren, denn »>politische< und erotische Bindung gehören zusammen, w o nur der höfisch-gesellschaftliche Mensch einer belangvollen Liebe fähig ist und w o jede erotische Passion von einem staatlichen Funktionsträger auf eine Repräsentantin staatlicher Wirklichkeit gerichtet ist.« 1 ' 7 Daher sind alle Liebesgeschichten der >Asiatischen Banise< zugleich auch Staatsaffären: Balacin nennt Banise in genauer Metaphorik seine >Krone< - denn in der Tat fällt ihm durch die Heirat der Kaisertitel von Pegu zu - , und sein Ziel ist es, »in einer Hand den Szepter, mit der andern meine Prinzessin zum Thron« (41) zu führen." 8

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s Symptomatisch ist die Tötung einer Sklavin anstelle Banises nach der Eroberung von Pegu (AB, S. 227): Zwar äußert der Erzähler Verständnis für die Schwester des Opfers, der »der Tod ihrer so nahen Freundin dermaßen zu Herzen ging«, daß sie die Täuschung denunzierte. Aber das bleibt eine unmaßgebliche Privatperspektive; der Erzähler enthält sich jeder moralischen Wertung und unterstreicht die raffinierte List, durch die Abaxar Banise das Leben rettete. 116 Jürgen Habermas: Öffentlichkeit (ein Lexikonartikel). In ders.: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankf./M. 1963, S.63. Vgl. ders.: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 6. Aufl. Neuwied 1962, § 2, S. 17-25. 11 7 Günther Müller: Höfische Kultur. In: R. Alewyn (Hg.): Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche, 4. Aufl. Köln und Berlin 1970, S. 182-204, hier S. 188. 118 Für ein »privates« Verständnis von Liebe hat der Roman nur Spott übrig: lange vor Schopenhauer gilt ihm, daß »alle persönliche Liebe eine Einbildung wäre, derer Wirkung doch auf eine Gleichheit hinausliefe« (226). Vgl. auch Alewyn, Der Roman des Barock (wie Anm. 40), S. 25: »Da die Hauptpersonen regierenden Häusern angehören, hängt von ihren Verbindungen und Trennungen stets auch das Schicksal von Thronen und Reichen ab. Keine ihrer Handlungen oder Unterlassungen, die nicht zugleich ein Staatsakt von unabsehbarer politischer, geschichtlicher und geographischer Tragweite wäre.« - Zu den soziologischen und semantischen Entwicklungszusammenhängen vgl. grundsätzlich Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankf./M. 1982.

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i . j . i Das Problem legitimer Herrschaft: ratio status versus saluspublica Seitdem Barclays >Argenis< (1621), das Muster der Gattung, die absolutistische Staatsrechtstheorie von Jean Bodins >Six livres de la république< (1576) in den fiktiven Kontext eines höfisch-politischen Schlüsselromans integrierte, der seinerseits wieder in die politische Praxis zurückstrahlte - die >Argenis< »gehörte zur ständigen Lektüre Richelieus, ihre Gedankengänge, damalige topoi, finden sich wieder in seinem Testament« 11 ' - , blieb die »Verbindung von Roman und Politik«120 ein Konstituens des höfisch-heroischen Genres. Volker Meid hat an so bedeutenden Beispielen wie der (von Opitz 1626 übersetzten) >ArgenisBanise< eminent politisch: ihr globales Ordnungskonzept, die hierarchische Schichtung einer ständisch differenzierten Gesellschaft, die Organisationsformen und Rechtsnormen "9 Koselleck, Kritik und Krise, op. cit., S. 14. 1 2 0 Volker Meid: Absolutismus und Barockroman. In: W . Paulsen (Hg.): D e r deutsche Roman und seine historischen und politischen Bedingungen, Bern und München 1977, S. 5 7 - 7 2 , hier S. 58. 1 2 1 Ebd. 1 2 2 So exemplarisch in Birkens >Vor-Ansprache< zur >Aramena< (wie A n m . 80): »Der Roman stellet auf/ einen H o f - und Welt-Spiegel/ darinn die/ so sich selber nicht kennen/ ihre Gestalt ersehen können. Sie [die >AramenaAsiatischen BaniseThéâtre d'amour< ihr - im Roman idealisierend überhöhtes - Vorbild an der »dynastische[n] Heiratspolitik« 1 ' 1 des Absolutismus : »Die höchste diplomatische Devise war die Heirat - eine Maßnahme, zu der man sich zur Verhinderung eines Krieges oft entschloß. Taktische Eheschließungen als Mittel zur territorialen Ausdehnung kosteten viel weniger als kriegerische Auseinandersetzungen.« 1 ' 2 Somit war, wie im Roman, so in der Realität, die Liebe fürstlicher Dynasten nicht ein privater Gegensatz zur Politik, sondern deren mögliche Spielart. Für dieses hochgradig personalisierte, den >pouvoir absolu< des Herrschers sowohl von der Zustimmung der Regierten wie von der Bindung an positive Gesetze dispensierende Konzept inner- und zwischenstaatlicher Ordnung war es vordringlich, eine verbindliche Semantik politischer Legitimität zu entwickeln, die es gestattete, befugte Machtausübung von Machtmißbrauch, rechtmäßige Besitz- oder Sukzessionsansprüche von Usurpationen, monarchische Souveränität von despotischer Tyrannis zu unterscheiden. 1 " Jedenfalls mußte diese Differenzierung so lange notwendig erscheinen, wie nicht überhaupt zugestanden wurde, daß j e d e wirkungsvolle Exekution von Macht sich rein durch sich selbst, als factum brutum, rechtfertige - eine Annahme, die der rigorosen »Technisierung des Rechts« (Carl Schmitt) 134 in der Theorie Machiavellis, »wo die Staatsräson jede andere Rücksicht verzehrte«, 1 " und tendenziell auch dem Souveränitätsgedanken in H o b b e s ' >Leviathan< zugrundelag. 1 ' 6 Für die Mehrzahl der Staatsrechtstheoretiker des absolu-

'3° »Der Friede war eine sozusagen meteorologische Ausnahme in den Jahrhunderten seiner [des Absolutismus, W F ] Herrschaft in Westeuropa. Man hat errechnet, daß es im ganzen sechzehnten Jahrhundert nur 25 Jahre ohne größere militärische Operationen in Europa gab, während im siebzehnten Jahrhundert nur sieben Jahre ohne entscheidende Kriege zwischen Staaten vergingen.« Ebd. '31 Mommsen, Beurteilung, S. 78. •32 Anderson, Entstehung, S. 78. •33 Vgl. Fritz Härtung und Roland Mousnier: Quelques problèmes concernant la monarchie absolue, in: Comitato internazionale di scienze storiche. X . Congresso di R o m a 1955, Relazioni, vol. IV, 1955, S. 3 - 5 $ . •34 Zit. bei Reinhard Wittram: Formen und Wandlungen des europäischen Absolutismus, in: Hubatsch (Hg.), Absolutismus, S. 9 4 - 1 1 7 , hier S. 103. •35 Ebd. •36 Zum Grundsatz »Auctoritas, non Veritas facit legem« bei Hobbes vgl. die konzise Darstellung Kosellecks, Kritik und Krise, S. 1 8 - 3 2 .

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tistischen Zeitalters 1 ' 7 war diese radikale Tautologisierung einer Macht, die im Recht war, weil sie die Macht war, unannehmbar; ihrer Vermeidung dienten die zahlreichen Versuche im Gefolge Bodins, die dem Fürsten zugesprochene >summa in cives ac subditos legibusque soluta potestasRepublikVermaledeiet sei das Gesetzes hub er an, >welches die Macht eines freien Königes einzuschränken sich bemühet. Ratio status ist die einzige Richtschnur großer Herren, und hat die Gerechtigkeit zur Stiefschwester« (233). Das konträre Regierungsprogramm, das Balacin in Aracan'» und in Pegu1'4 verkündet, entspricht genau jenem Ideal einer »Fundamentaldis-

'$0 F ü r Chaumigrem sind Hinrichtungen »die schönste Augenlust und das Wehklagen der Alten ein erfreulicher Spott« (228), beim M o r d an Frauen und Kindern empfindet er »Vergnügung an ihrer Q u a l « (ebd.) - diese Unzugänglichkeit für elementare G r u n d sätze des ius naturale wird durch einen monströsen religiösen Z y n i s m u s noch bekräftigt: »Denn euch, o ihr Götter, danken wir billig, daß ihr unser H e r z e von Stahl und unsere Seele unempfindlich erschaffen habet« (228). Z u m Zusammenhang psychischer und politischer Passionen in der Figur des Tyrannen vgl. die Bemerkungen bei O t t o Woodtli: D i e Staatsräson im R o m a n des deutschen Barocks, Leipzig 1 9 4 3 ( = W e g e zur Dichtung. Zürcher Schriften zur Literaturwissenschaft. X L ) , S. i j i - 1 5 3 . Z u r Begriffsgeschichte vgl. die klassische Darstellung bei Friedrich Meinecke: D i e Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, hg. u. eingel. v . Walther H o f e r , 3. A u f l . München 1 9 6 3 sowie den v o n R o m a n Schnur herausgegebenen Sammelband: Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs, Berlin 1 9 7 5 . ' S 1 V g l . A B , S. 2 3 0 - 2 3 4 , passim. 'S3 A B , S. 2 8 4 f f . M4 A B , S . 4 i o f f .

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ziplinierung«1'5 - einer Sozialdisziplinierung aller Gesellschaftsglieder unter Einschluß auch des absoluten Souveräns! - , das der anarchische Triebegoismus Chaumigrems als Fesselung eines >freien Königes« verwirft und das die neuere historische Absolutismus-Forschung als ein Hauptziel der intendierten »geistig-moralischefn] und psychologische[n] Strukturveränderung des politischen, militärischen, wirtschaftlichen Menschen« im absolutistischen Staat beschrieben hat: D e n n darüber besteht kein Zweifel, daß die absolute Monarchie sich gebunden fühlte an das göttliche und natürliche Gesetz. Sie w a r eine moralische und auch eine rechtliche monarchie limitée im Sinne der korporativen Privilegien und der anerkannten Grundgesetze, der leges fundamentales, die T h r o n o r d nung, Veräußerung des königlichen G u t e s , Veränderung des Herrschaftsoder Staatsgebietes usw. regelten. 1 ' 6

Balacin, der Träger legitimer Souveränität, bekennt sich am Schluß der >Asiatischen Banise< - mit einer Formulierung aus dem Politischen Testament Ludwigs XIV. 1 ' 7 - zur conservation et défension du peupleLustigen Schau-Bühne< gibt Francisci eine Machiavellismus-Kritik für das breite Publikum; seine zahlreichen historischen Belege über das schlimme E n d e machiavellistischer Despoten münden in das Fazit: »Dergestalt rächet und straffet G o t t alle die jenige/ welche das noch übrige Füncklein menschlichen Vernunfft-Liechts/ so viel an ihnen ist/ ausleschen/ die Wahrheit Gottes verfinstern/ und solche Policey-Sätze schreiben/ oder ertichten/ die/ wider alle Billigkeit/ und Moderation/ ja wider die Menschlichkeit selbst/ streiten« (ebd., S. 578 ff., das Zitat S. 590). I7

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2. Die verborgene Notwendigkeit des Zufälligen. Philosophische Prämissen des barocken Geschichtsromans Ein Erzählen, das sich, wie jenes der >Asiatischen BaniseAsiatischen Banise< zu rekurrieren, soll die dort aufgewiesene Dialektik von Vorder- und Hintergrund, von kontingenter Ereignisstruktur und eschatologischer Finalität einer Wirklichkeit, die den in ihr agierenden Subjekten undeutlich ist und dennoch unter göttlicher Garantie steht,177 noch weiter expliziert und entfaltet werden. Gerade diese »dissociation entre le décor et ce qu'il y a >derrièreDeus eligit optimums Die Kontingenztheorie von Gottfried Wilhelm Leibniz Den systematischen Fluchtpunkt der metaphysischen Geschichtsdeutung, wie sie Ziglers >Banise< zugrundeliegt und für den hohen Barockroman insgesamt konstitutiv ist, bildet der christliche Piatonismus von Leibniz; im Zusammenhang der Frage nach der Vereinbarkeit von kontingenter Weltstruktur und teleologischem Erzählen ist es besonders seine systematische Fassung des Kontingenzproblems, die Leibniz ins Zentrum des Interesses rücken muß.l8° Die bestimmende Intention der Philosophie von Leibniz ist der Aufweis der Vernünftigkeit des Wirklichen; bei aller Verschiedenheit der Methode und der Begründung macht ihn dies zum Vorläufer von Hegels objektivem Idealismus.' 81 Zwei Prinzipien stehen im Mittelpunkt der Konzeption: der Satz des Widerspruchs und der Satz des zureichen180 Vgl d a z u die v o r z ü g l i c h e n Darstellungen bei H e i n r i c h Schepers: Z u m P r o b l e m d e r K o n t i n g e n z bei Leibniz. D i e beste der möglichen W e l t e n . I n : C o l l e g i u m P h i l o s o p h i cum. Studien J. R i t t e r z. 60. G e b u r t s t a g , Basel/Stuttgart 1965, S. 3 2 6 - 3 5 0 ; I n g e t r u d Pape: V o n den »möglichen Welten« z u r »Welt des M ö g l i c h e n « (wie A n m . 20 z u r Einleitung); H a n s H e i n z H o l z : Leibniz. Die K o n s t r u k t i o n des K o n t i n g e n t e n . I n : K. Peters, W . Schmidt, H . H . H o l z : E r k e n n t n i s g e w i ß h e i t u n d D e d u k t i o n . Z u m A u f b a u d e r p h i l o s o p h i s c h e n Systeme bei Descartes, Spinoza, L e i b n i z , D a r m s t a d t u n d N e u w i e d 1975, S. 1 2 9 - 1 7 8 . 181

Darauf h a t b e s o n d e r s H a n s H e i n z H o l z : Leibniz, Stgt. 1958, hingewiesen. Vgl. auch W a l t e r Schulz: D i e A u f h e b u n g der Metaphysik D e s c a r t e s ' in den k o n s t r u k t i v e n Systemen d e r N e u z e i t . In ders.: D e r G o t t der neuzeitlichen M e t a p h y s i k , 5. A u f l . Pfullingen 1974, S. 57—85 sowie, speziell zu L e i b n i z ' p h i l o s o p h i s c h e r Theologie,

75

den Grundes. Mit Hilfe des Satzes vom Widerspruch werden zwei Arten von Wahrheiten, nämlich Vernunftwahrheiten (>vérités de raisonnem e n t ) und Tatsachenwahrheiten (>vérités de faitTheodizeeCaesar< oder >Judas< (oder >ChaumigremGeschichte< bezeichnete.« 202 Ihrem logischen Status nach zufällig, d. h. auch anders möglich, bleiben die historischen Tatsachen dennoch »angelegt und aufgehoben im göttlichen Plan der optimalen Welt. Unter dem Gebot der Theodizee zeigen sich auch die kontingenten — die geschichtlichen - Ereignisse als notwendig, nicht notwendig im Sinne eines geometrischen Beweises, sondern als n é c e s s a i r e . . . ex hypothesi, pour ainsi dire par accidentCandideEssai sur les mœursAsiatischen Banise< (und des höfischen Barockromans im ganzen) zugrundeliegt und deren sukzessive Auflösung wir mitsamt ihren romangeschichtlichen Konsequenzen im Fortgang dieser Untersuchung darstellen wollen. Der Begründungszusammenhang von Metaphysik und absolutistischer Politik in Bossuets Denken ist evident20? - man denke nur an die programmatische >Politique tirée des propres paroles de l'Écriture sainteSermon sur la ProvidenceSermons< (vgl. A n m . 159), S. 29. Siehe auch Georgiana Terstegge: Providence as Idée-Maîtresse in the W o r k s of Bossuet. T h e m e and Stylistic M o t i f , Washington D . C . 1948.

20

5 V g l . unten, K a p . 5, A b s c h n . 5.

206 V g l Werner Kaegi: Voltaire und der Zerfall des christlichen Geschichtsbildes. In ders.: Historische Meditationen, Zürich 1 9 4 2 , S. 2 2 1 - 2 4 8 . 2

°7 D a z u Viner, T h e Role of Providence in the Social O r d e r , op.cit., S. 109: »Bossuet presented an elaborate defense of the providential character of social and economic inequality«; und: »I w o u l d insist that he stood out, even in his o w n time, in his unqualified defence of absolute monarchy.«

208

Kurt Kluxen: Politik und Heilsgeschehen bei Bossuet. Ein Beitrag zur Geschichte des Konservatismus, H Z 1 7 9 , 1 9 5 5 , S . 4 4 9 - 4 6 9 , hier S . 4 5 1 . Ebd., S . 4 5 0 .

210

In: Sermons, S. 7 5 - 1 0 1 .

8l

>Discours sur l'histoire universelle^" - ergibt sich der politische Aspekt der theologischen Rede schon aus Anlaß und Adressatenkreis: die Predigt über die Vorsehung hielt Bossuet am 10. März 1662 vor Ludwig XIV. und dem versammelten Hof im Louvre, 212 die geschichtsphilosophische Abhandlung aus dem Jahr 1681 diente als Erziehungsschrift für den Dauphin und sollte, im Wortsinn, einen eschatologischen Grundriß der Weltgeschichte ad usum Delphini bieten. Entsprechend stellt Bossuet die Unabdingbarkeit historischer Bildung gerade für den künftigen Herrscher heraus: »Quand l'histoire serait inutile aux autres hommes, il faudrait la faire lire aux princes.«213 Wer dazu berufen ist, selbst aktiv den Gang der politischen Dinge zu bestimmen, tut gut daran, sich beizeiten ein historisches Erfahrungswissen und Einsicht in die Bewegungsgesetze der Geschichte anzueignen.2'4 Der Topos von der Historia magistra vitae ist in dieser Maxime noch fraglos gültig, Geschichte bedeutet auch für Bossuet noch »eine Art Sammelbecken multiplizierter Fremderfahrungen« und also »eine Schule, ohne Schaden klug zu werden«.21' Es verdient notiert zu werden, daß dasselbe Argument eines von den Zwängen und Risiken der Handlungspraxis entlasteten Lernens auch in der Romanpoetik der Epoche Konjunktur hat2'6 - wo es weniger um authentische Tatsächlichkeiten als vielmehr um die Exemplifizierung invarianter Struktursachverhalte und Wahrheitsgehalte von Geschichte überhaupt und an sich geht, gleichen sich res factae und res fictae bis zur funktionalen Äquivalenz an. Letztmals in der abendländischen Theoriegeschichte entwirft Bossuet eine (tatsächlich allerdings auf den antiken und jüdisch-christlichen Kulturbereich eingeschränkte)2'7 Universalhistorie als konsequente Eschatologie: die Weltgeschichte ist Heilsgeschehen.2'8 Nicht jedoch der 211

Zit. nach der A u s g a b e von J . Truchet, Paris 1966.

212

V g l . Truchets V o r w o n , S. 2 9 - 3 1 .

21

3 Histoire universelle, A v a n t - P r o p o s , S. 39.

21

4 » A u lieu qu'ordinairement ils n'apprennent qu'aux dépens de leurs sujets et de leur propre gloire à juger des affaires dangereuses qui leur arrivent; par le secours de l'histoire, ils forment leur jugement, sans rien hasarder, sur les événements passés.« Ebd.

2I

s Koselleck, Historia Magistra Vitae (wie A n m . 8 1 ) , S. 39.

2,6 21

V g l . die Ausführungen zu H u e t und Birken, unten A b s c h n . 2 . 3 . 1 .

7 T r e f f e n d kommentiert G u s d o r f , L'avènement des sciences humaines, op. cit., S. 3 8 2 : »Ii faut la candeur de Bossuet pour appeler >universelle< une histoire limitée au bassin méditerranéen et ensuite à l'Europe occidentale. L e reste, l'immensité du monde, est exclu de l'histoire, comme nul et non avenu; il ne s'y passe rien qui mérite de retenir l'attention.«

218

V g l . L ö w i t h , Weltgeschichte und Heilsgeschehen, op.cit. (über Bossuet S. 1 2 9 - 1 3 5 ) .

82

konkrete Epochengang dieser Konstruktion, die bei der Weltschöpfung im Jahr 4004 v. Chr. beginnt und mit Karl dem Großen endet,21? interessiert in unserem Zusammenhang, sondern der theologische Totalaspekt des Historischen selbst, die Leugnung von Geschichtskategorien wie Zufall, Fortuna oder Chaos in Bossuets providentiellem Finalismus. Diese Globalvision von Geschichte erklärt der Autor der >Histoire universelle< zum wichtigsten Erkenntnisanliegen seiner Schriften, denn Universalgeschichte ist ex definitione der Versuch, die »carte générale«220 des großen Ganzen (»tout l'ordre des temps«)221 zu zeichnen und so den von konkreten Situationsbezügen absorbierten Leser zu lehren, »à situer ces parties du monde dans leur tout«.222 Dem geschichtsphilosophisch instruierten Regenten dient die Kenntnis vergangener Jahrhunderte unter dem zweifachen Entwicklungsaspekt der Religionsgeschichte und der Abfolge der weltlichen Imperien - die konstitutive Doppelperspektive der »suite de la religion« und der »suite des empires«223 markiert deutlich den Anschluß an das Vorbild von Augustins >Gottesstaat< mit der analogen Unterscheidung von >civitas Dei< und >civitas terrenaKurzer Weg-Weiser zur Deutschen Tichtkunst< in seinem 2. Kapitel (>Von der Materi des PoetenVordergrund
Verwirrung< und >AuflösungChaos< und >Ordnung< oder >Zufall< und >Notwendigkeit< im fiktionalen Modell abzubilden und zu veranschaulichen. - Das sei an den Romantheorien Huets und Birkens etwas eingehender dargelegt. Schon bei der Interpretation Bossuets hat sich gezeigt, daß eine Geschichtstheorie, die in Einzelsachverhalten das Typische und exemplarisch Invariante sucht, dazu tendiert, den Gegensatz von res factae und res fictae zu nivellieren oder zumindest abzuschwächen - wo Ereignisse, erfundene u n d authentische, als Zeichen eines Allgemeinen fungieren, interessiert weniger ihre einmalige Faktizität als ihre prinzipielle Möglichkeit und, mehr noch, ihre Eignung zur möglichst prägnanten und vollständigen Repräsentation des angezielten Allgemeinen. Aus diesem Ansatz entwickelt Pierre Daniel Huets auch in Deutschland überaus einflußreicher >Traité de l'origine des romans< von 167ο253 seine Rechtfertigung literarischer Fiktion.2*·' Zwar ist nach der Theorie des Bischofs von Avranche an der kategorialen Unterscheidung von authentischen histoires véritables und auf Erfindung beruhenden fictions festzuhalten,2" aber daraus folgt nicht automatisch eine Verurteilung erfundener Geschichten und jener »inclination aux fables, qui est commune à tous les hommes«.25i Abzulehnen ist freilich die Lektüre jener, die sichr e s enfans et les simples«2'7 - an die phantasie- und leidenschaftserregende Außenseite des Erzählten halten, sich also von der äußeren Hülle (»l'escorce«) blenden lassen und »se contentent de cette apparence de vérité, & s'y plaisent«.2'8 Aber grundlos ist nicht minder der Abscheu verständigerer Leser, die »se rebutent de cette image de vérité, à cause de la fausseté effective qu'elle cache«.2" Die extremen Positionen verfehlen, jede für sich, den nach Huet konstitutiven Wahrheitsmodus von Literatur: jene primitive Lektüre der »esprits des simples«, weil sie zur Transzendierung vordergründiger Erzählgehalte und also zur Auffas2

53 Zit. nach dem Faksimiledruck der Erstausgabe (und der Happelschen Ubersetzung v o n 1682), mit einem N a c h w o r t v. H . Hinterhäuser, Stuttgart 1 9 6 6 (Slg. Metzler. 54). (Im folgenden: >Traitéfausseté< erfundener Begebenheiten rechtfertigt sich zum einen durch die Beachtung des vorgegebenen ästhetischen Regelkanons, also durch »l'excellence de l'invention et de l'art«,260 zum anderen aber durch jenen Endzweck, dem die technische Virtuosität als Mittel dient: die Wahrheitstransparenz der Erfindung, ihren philosophischen Zeichencharakter. Unter Berufung auf Augustin bestimmt Huet den Erkenntnisstatus literarischer Fiktion als den einer figura veritatis; der Kirchenvater nämlich dit en quelque endroit que ces faussetés qui sont significatives, & enveloppent un sens caché, ne sont pas des mensonges, mais des figures de la vérité; dont les plus sages, & les plus saints personnages, & nostre Seigneur mesme se sont servis. 261

Es ist die Wahrheit seines philosophisch-metaphysischen Gehalts, die das Erzählte vom Makel des (bloß) Erfundenen befreit und es in den Rang eines heilsgeschichtlichen Gleichnisses erhebt. Der Roman vermittelt Einsicht, indem er den verborgenen Sinn (sens caché) der Geschichte in fiktionaler Antizipation enthüllt; ineins damit trägt er zur moralischen Besserung (correction des mœurs)162 des Publikums bei, weil er beispielhaft demonstriert, daß der Verlaufssinn der Geschichte mit moralischen Handlungsprämissen übereinstimmt: »il faut toujours faire voir la vertu couronnée; & le vice chastié.«263 Diese Legitimation der Fiktion aus ihrem figurativen Wahrheitswert kommt der aristotelischen Unterscheidung nahe, nach der die Geschichtsschreibung darstellt, was wirklich geschehen ist, während Dichtung zeigt, »was geschehen könnte und was möglich wäre nach Angemessenheit oder Notwendigkeit«.26·· Allerdings geht es Huets Ver260

E b d . , S. 87.

261

E b d . In Happels Übersetzung von 1 6 8 2 lautet die Stelle: »Der H . Augustinus spricht an einem gewissen O r t / daß diese Falschheiten/ welche etwas bedeuten/ und einen verborgenen Sinn bedecken/ keine Lügen/ sondern vielmehr Abbildungen der W a h r heit seyen/ deren sich die allerweisesten und heilichsten Personen/ ja unser H e y l a n d selber z u m offtern bedienet.« (Ebd., S. 1 5 2 ) . Traité, S. 6.

î6

3 E b d . , S. 5.



4 Aristoteles, Poetik, Kap. 9, Ubersetzung von Olof G i g o n , Stuttgart 1 9 7 1 ( R U B 2 3 3 7 ) ,

90

gleich von >histoire véritable< und >fiction< nicht um den Gegensatz von Indikativ und Optativ, etwa gar in der Absicht, der realen Wirklichkeit ihre Defizienz gegenüber literarisch ausdenkbaren Wunschwelten vorzuhalten. Ihre philosophische Dignität erhält die literarische figure de la vérité nicht als Gegenentwurf zur Realität, sondern als ihr deutlicheres Modell; der >non-visibilité du sens< (Michel de Certeau)26' als einem erkenntnistheoretischen Grundproblem der Epoche und ihrer metaphysischen Wirklichkeitskonzeption begegnet literarische Fiktion durch den Versuch einer Visibilisierung des latenten Sinnes. Dem figurativen Wahrheitsbegriff des >Traité de l'origine des romans< in mehrfacher Hinsicht nahestehend, formuliert Siegmund von Birkens Poetik des Geschichtgedichts2" den theologisch-metaphysischen Erkenntnis- und Vermittlungsanspruch des Romans noch prononcierter: besser als abstrakt-dogmatische >Lehrschriften< können die »Historien oder Geschichtsschriften< den Leser »zur Gottes erkentnis füren/ und zur Tugend anweisen«,16? weil nur sie den a l l w e i ß e n / g e r e c h t e n / g ü t i g e n / a l l m ä c h t i g e n u n d w a r h a f t e n G o t t /

aus

seinen w e r k e n / aus d e r w u n d e r b a r e n R e g i r u n g / aus d e n e n ü b e r die T y r a n n e n und Boshaftigen verhängten

Straffen/ aus b e s c h i r m -

und belohnung

der

G o t t l i e b e n d e n u n d T u g e n d h a f t e n / und aus d e r e r f ü l l u n g seiner V e r h e i s s u n gen/ erkennen

lehren.268 Das ist zunächst, allgemein und konventionell, ein Plädoyer für die Uberredungskraft des konkreten Beispiels, für die Historie als Sammelbecken jederzeit abrufbarer heilsgeschichtlicher Erfahrung: »Wir lernen auch daraus/ die Tugend lieben und die Laster hassen: weil wir lesen/ wie es mit beiden endlich wol und übel abzulaufen pflege.«26» Die ganze Bedeutung dieser Theorie wird aber erst evident, wenn man

S. 36. Vgl. dazu Van Ingen, Roman und Geschichte (wie Anm. 69); Georges M a y : L'Histoire a-t-elle engendré le roman ? Aspects français de la question au seuil du siècle des Lumières, in: Revue d'Histoire littéraire de la France 55, 1955, S. 1 y5—176; Klaus Heitmann: Das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung in älterer Theorie, in: Archiv für Kulturgeschichte Bd. 52, 1970, S. 2 4 4 - 2 7 9 . 2é s L'écriture de l'histoire, S. 144. 266 Vgl. Birkens Vorrede zu Anton Ulrichs >Aramena< (wie Anm. 77) sowie ders.: Ternsche Rede- bind- und Dicht-Kunst, Nürnberg 1669 (Nachdruck Hildesheim/New York 1973), S. 303 ff. - Zur Affinität der Positionen Huets und Birkens s. auch Van Ingen, Roman und Geschichte, S. 453 f. z6 7 >AramenaGeschichtschriften< unmittelbar aus den Voraussetzungen einer eschatologischen Geschichtsphilosophie entwickelt. Deren zentrales Anliegen ist das Verhältnis von Konstanz und Varianz im Fortgang der Weltgeschichte, und zwar mit einer entschiedenen Akzentuierung der stetigen und invariablen Geschehensanteile. Ziel jeder historischen Betrachtungsweise muß es nach Birken sein, den Schein epochaler Wandlungen oder Neuerungen als Folge einer optischen Täuschung, eines auf den akzidentiellen Vordergrund der Historie fixierten Blicks zu entlarven; erst im Durchdringen der kontingenten Nahansicht der Geschichte offenbart sich deren repetitives Schema, die strukturelle Stereotypik einer Historie unter providentiellem Dekret: Die Welt/ ist eine Spiel-biine/ da immer ein Traur- und Freud-gemischtes Schauspiel vorgestellet wird: nur daß/ von zeit zu zeit/ andere Personen auftretten. Was ist (predigt der allerweiseste Staatsfürst) das geschehen ist? eben das/ so hernach geschehen wird. Geschihet auch etwas/ davon man sagen möchte: Sihe/ das ist neu! dann ist es zuvor auch geschehen/ in den Zeiten/ die vor uns gewesen sind. Es geschihet nichts neues unter der Sonne. Ist dannenhero eine grosse torheit/ daß man [ . . . ] nicht gedenket/ wann man auf diesen Staat-Schauplatz seine person zu spielen auftritt/ wie es zuvor einem anderen gerahten ist. 270

Diese Theorie der ewigen Wiederkehr des Gleichen in der Geschichte gibt den Maßstab für Birkens Klassifikation der >Geschichtschriften< ab, und sie erklärt bündig den überlegenen Rang des Romans gegenüber pragmatischen Versionen der Historiographie. Wenn nämlich G e schichte verstanden werden muß als Abfolge invarianter Strukturen und Konstellationen, die es unter der Oberfläche vermeintlicher Veränderungen, Fortschritte und Epochendifferenzen freizulegen und sichtbar zu machen gilt, dann wird jener Darstellung das höchste philosophische Interesse und der größte Nutzen zugesprochen werden müssen, die sich durch Akzidenzien am wenigsten irritieren läßt und das ihnen zugrundeliegende Muster am klarsten aus der Fülle der kontingenten Erscheinungen herauspräpariert. Das macht verständlich, warum die >Annales oder Jahrbücher^? 1 für Birken nur den Stellenwert einer gnoseologia inferior besitzen: die Geschichte »in ihrer angebornen Ordnung/ mit benennung der personen/ zeit und orte« 2 7 2 beschreibend, registrieren sie zufällige 270 271 271

Ebd., S. 78 f. Ebd., S. 79 f. Ebd., S. 79.

92

Daten und Phänomene, ohne ihrer Logik auf die Spur zu kommen; wie Bossuet gilt auch Birken ein empiristischer Standpunkt a priori als geschichtsblind. Gefordert ist demgegenüber die Distanznahme eines metaphysischen Geschichtsverständnisses - ein Verfahren, das wir bei der Interpretation der >Asiatischen Banise< als Abstraktion bestimmt haben - , das nicht allein in weitesten räumlichen und zeitlichen Dimensionen denkt und vergleicht, sondern darüber hinaus seine Gewißheiten immer schon mitbringt, sie deduktiv an die Ereignisse heranträgt und in die >Fakten< hineinsieht, was die Annalen vergebens aus ihnen herauszulesen versuchen. Birkens mittlere Gattung der >Gedichtgeschicht-SchriftenGeschichtgedichtswarhaften Historien< sollen am besten dazu taugen, die für alle Geschichte geltenden invarianten Grundwahrheiten darzustellen und zu vermitteln - die von Birken am höchsten geschätzten Spielarten der >Geschichtschriften< sind ja zugleich auch jene, die sich von der Wiedergabe empirischer Realität am weitesten entfernen - , sondern im Gegenteil die >Geschicht-mähren< der Romanautoren. Diese 73 Vgl. >AramenaGeschichte an sich< und ihrer in keinem empirischen Einzelereignis vollständig und adäquat greifbaren Wahrheit figuriert. Das Ganze der unter providentiellem Gesetz stehenden Weltgeschichte übersteigt nach seiner räumlich-zeitlichen Ausdehnung jedes menschliche Maß, es ist zudem unabgeschlossen und zukunftsoffen, folglich auch der empirischen Historiographie nicht in extenso zugänglich. In keinem einzelnen historischen Segment jedoch ist die Wahrheit des Ganzen restlos und idealtypisch präsent, nie findet man »alles darinn [ . . . ] , womit man gern den verstand üben und zur tugendliebe bereden wolte«. Daß die Totalität des Geschichtssinnes nicht im Modus empirischer Tatsächlichkeit gewußt und nachgewiesen werden kann, ist das unhintergehbare Dilemma des Historikers - es ist zugleich die Chance des Romanautors. Dieser hat die Möglichkeit, in der Gestalt des abgeschlossenen Werkes - hier berührt sich Birkens Poetik mit Huets Konzept der >figura veritatis< als Illustration des >sens caché< der historischen Welt - einen fiktionalen Vorgriff auf die Finalität der Geschichte zu vollziehen und, gewissermaßen in metaphysischer Mimesis, ein Modell des Ganzen zu entwerfen, das selbst noch Konjekturen über die futura contingentia einschließen kann, schildert es doch »begebenheiten/ die einmal und irgendwo mögen geschehen seyn/ oder noch geschehen möchten«. Auch Birken aber geht es nicht um eine Opposition von Fiktion und Realgeschichte, gar um eine Korrektur dieser durch jene denn selbstverständlich steht die empirische Historie unter providentieller Garantie - , sondern um eine Verdeutlichung des transzendenten Sinnes der Geschichte und um die Antizipation ihrer harmonischen Auflösung. Birkens und Huets Konzept der Erkenntnisleistung und des Möglichkeitsentwurfs romanhafter Fiktion bleibt eine gewisse Zweideutigkeit eigentümlich, die sich am besten in den Begriffen der Leibnizschen >Théodicée< erhellen läßt. Einerseits nämlich gilt, unter allen denkbaren und literarisch fingierbaren Wirklichkeiten, die existierende Realwelt als

94

das Optimum. Leibniz selbst spricht metaphorisch vom »roman de la vie humaine, qui fait l'histoire universelle du genre humain« : 27 ' dieser von Gott selbst verfaßte und zuvor mit einer »infinité d'autres« 2 ^ verglichene >Roman< der Geschichte ist das beste überhaupt mögliche Werk. 277 Insofern muß, gemessen am autoritativen >Text< der wirklichen Welt, tatsächlich jede literarische Fiktion als aussichtslose und eigentlich hybride Schöpfungskonkurrenz erscheinen - ein Argument, das in Heideggers calvinistischer Romankritik zu Ehren kommen wird. 278 Andererseits ist der göttliche Geschichtsroman von einer Kompliziertheit, die kein menschlicher Leser jemals wird begreifen können. Leibniz umschreibt das mit einem treffenden Aperçu: »Ii faudrait juger des ouvrages de Dieu aussi sagement que Socrate jugea de ceux d'Héraclite en disant: C e que j'en ai entendu me plaît, je crois que le reste ne me plairait pas moins si je l'entendais.« 27 ' In dieser epistemologischen Situation erfüllt literarische Fiktion eine notwendige und legitime Ubersetzungsfunktion : während ein endlicher Verstand gegenüber dem Ganzen der Welt(geschichte) dauerhaft auf Konjekturen und fideistische Unterstellungen (bzw. in unserem Zitat: auf die optimistische Extrapolation beschränkter Erfahrungen und Einsichten) angewiesen bleibt, also über den sein Wissen übersteigenden >reste< der Welt allenfalls gläubig spekulieren kann, liefert das literarische Werk eine vereinfachte, aber strukturhomologe Version der Welt oder eines relevanten Weltausschnitts, eine verdichtete Fiktivwelt, die den Vorzug hat, dem Erkenntnisvermögen endlicher Leser angepaßt zu sein, also auch nach deren Einsicht >restlos< aufzugehen und alle scheinbaren Dissonanzen in Harmonien aufzulösen.

2

7S Essais de Théodicée, II, § 149, S. 200.

2

7« E b d . 77 V g l . auch Essais de Théodicée, I, § 10, S. 109, w o (bezeichnenderweise wiederum unter

2

V e r w e n d u n g der Roman-Metapher!) statuiert w i r d : »II est vrai qu'on peut s'imaginer des mondes possibles sans péché et sans malheur, et on en pourrait faire c o m m e des romans, des utopies, des Sévarambes ; mais ces mêmes mondes seraient d'ailleurs fort inférieurs en bien au nôtre.« *78 V g l . unten, K a p . 3, A b s c h n . ζ. 2

79 Essais de Théodicée, II, § 146, S. 198 f.

95

2.3-2 Die Providenz als Fortuna apud Christianos - gegen dualistische Deutungen Der Primat des vernünftigen, durch Gott geordneten Zusammenhangs der objektiven Welt vor der Subjektivität des einzelnen Seins und Bewußtseins, wie ihn die metaphysischen und geschichtsphilosophischen Systeme der Epoche formulieren, findet seine literarische Entsprechung in der an Ziglers >Banise< beobachteten und für den höfischen Barockroman insgesamt charakteristischen Priorität der Fabel und des teleologischen Handlungsnexus vor der Individualität der Charaktere, die ohnehin - von der psychologischen >Verinnerung des ErzählensRömischen Octavia< des Herzogs

rühmt, im teleologischen Bau der >Asiatischen Banise< beobachtet und 280

281

282

Siehe Erich von Kahler: Die Verinnerung des Erzählens, in ders.: Untergang und Ubergang. Essays, München 1970, S. 52-197. - Vgl. auch unten, Kap. 6. Leibniz an Anton Ulrich, 26. April 1 7 1 3 (zit. bei D. Kimpel/C. Wiedemann (Hg.): Theorie und Technik des Romans im 17. und 18. Jahrhundert, Bd. I, Tübingen 1970, S. 67). - Dasselbe meint Anton Ulrichs Mitteilung an Leibniz (10. März 1713), er habe »den Confutius [ . . . ] mit in die Octavia gebracht, da Er die confusionem hilft innen vermehren« (ebd.): die Personen werden zu frei verfügbaren Funktionen in der Absicht des Autors, einen möglichst komplexen Handlungszusammenhang als Nachahmung der undurchschaubaren Weltstruktur zu erfinden. Das verkennt Heinz Otto Burger (Deutsche Aufklärung im Widerspiel zu Barock und >NeubarockOctavia/Römische Geschichte< Herzog Anton Ulrichs von Braunschweig, Diss. Köln 1964.

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sie als Applikation eschatologischer ordo-Theoreme interpretiert. Der Kerngedanke dieser Deutung war, daß es sich beim Spannungsverhältnis von Providenz und Kontingenz im barocken Roman nicht um einen objektiven Konflikt handle, sondern um die Verdeutlichung eines hermeneutischen Perspektivenspiels, das - nach Leibniz und Bossuet - infolge humaner Erkenntnisdefizite die Wahrnehmung der Geschichte durch die Geschichtssubjekte bestimme und verzerre. Aus zwei Gründen greifen wir diesen Problemzusammenhang noch einmal abschließend auf: zum einen liegt, wie die späteren Kapitel zeigen werden, gerade im konsequenten Anti-Empirismus dieser eschatologischen Erzählkonzeption diejenige Voraussetzung des Barockromans, die die aufklärerische Kritik am sichersten auf den Plan rufen mußte, also gewissermaßen die »Sollbruchstelle« der Romanentwicklung vor und nach 1700; zum anderen ist unsere eigene Interpretation nicht communis opinio der Forschung.28' Eine abweichende Deutung haben Richard Alewyn und Gerda Röder vorgetragen. Nach ihrer Auffassung sehen sich die Protagonisten des barocken Romans einer von zwei rivalisierenden Instanzen regierten Welt gegenüber: Im irdischen Bereich herrsche »Fortuna, die Unberechenbare, mit Rad oder Kugel«,284 »deren Wirken stets im Zeichen des Zufälligen und Zusammenhanglosen steht« 28' - ihre Regentschaft sei gekennzeichnet durch ständige Veränderlichkeit, »Fehlen jeder Kausalität« und jeder »Finalität«.286 Der Barockroman greife mit diesem Motiv zurück »auf von der Antike stammende Vorstellungen«.2Í7 Gegen das blinde Spiel der Fortuna aber setze sich am Ende doch die göttliche Vorsehung durch, »auch wenn die Fortunawirren, welche den Hauptinhalt des Romans bilden, bis zur Undurchdringlichkeit zunehmen«.288 Damit erscheint der Romanverlauf bestimmt durch den Antagonismus zweier geschichtsbestimmender Mächte: Fortuna dominiert den wechselhaften Verlauf des Romans, die Providenz ermöglicht sein versöhnliches Ende, an dem »die Vorsehung dem Wüten Fortunas Einhalt gebietet und die Ord28

3 Die hier vorgetragene Deutung weiß sich besonders den Arbeiten von Lugowski (Die märchenhafte Enträtselung der Wirklichkeit), Spahr (Der Barockroman als Wirklichkeit und Illusion) und Haslinger (Epische Formen im höf. Barockroman) verpflichtet. 28 4 Alewyn, Der Roman des Barock, S. 32. 28 s Röder, Glück und glückliches Ende (wie Anm. 72 zur Einleitung), S. 31. 286 Ebd., S . 2 5 . 2g 7 Ebd., S. 30. 288 Ebd., S. 34.

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nung wiederherstellt, die, wenn auch unerkennbar, immer schon vorhanden war«. 2 8 ' Es soll »wiederhergestellt« werden, was, »wenn auch unerkennbar, immer schon vorhanden war« - in diesem mit leichter Hand überspielten Widerspruch tritt die Problematik der Deutungen von Alewyn und Röder zutage: Interpretationen nämlich, die den barocken Roman bestimmt sehen vom Gegensatz zweier objektiver Geschichtsmächte als literarischer Konfigurationen antagonistischer Geschichtsphilosophien einer antik-stoischen und einer christlichen - , müssen beim notwendigen Versuch, das Verhältnis beider Instanzen zu klären, in unüberwindliche Schwierigkeiten geraten. Denn wie könnte in einem christlichen Geschichtsbild, das getragen ist von der Vorstellung einer allmächtigen und omnipräsenten Providenz und der durch sie garantierten Sinnhaftigkeit allen Geschehens, Raum bleiben für eine Gegeninstanz heidnischen Ursprungs, deren Insignien gerade blinde Willkür und sinnlose Zufälligkeit sein sollen? Es scheint, daß jedes Zugeständnis an eine dem gesetzlosen Chaos verpflichtete Fortuna-Instanz notwendig zu Abstrichen an der Allmacht der auf universale Ordnung gerichteten Providenz führen muß : wird diese dennoch behauptet, sind Widersprüche wie bei Alewyn und Röder unvermeidlich. Die unterstellte partielle Sinnlosigkeit und Zufälligkeit und die ebenfalls postulierte universale providentielle Ordnung schließen sich aus; auch der Versuch, ihr Verhältnis als das der zeitlichen Sukzession zu denken - anfängliches Chaos und schließliche Auflösung - , ändert daran nichts. Eine Providenz, die die Herrschaft über die geschichtliche Welt (und sei es auf Zeit) der Fortuna überließe oder überlassen müßte, gäbe damit ihre Allmacht, ihr wichtigstes Attribut überhaupt, preis. Natürlich sind diese Widersprüche nicht ungeprüft den Interpreten anzulasten; sie könnten auch solche der Sache selbst sein, und in diesem Fall wäre den literaturwissenschaftlichen Exegeten allenfalls eine harmonisierende, über textimmanente Gegensätze hinweglesende Deutung vorzuhalten. Tatsächlich jedoch ergab die Analyse der >Asiatischen BaniseZufall< also in ein universales Ordnungskonzept integriert und so die mit der FortunaTheorie verbundenen Schwierigkeiten vermeidet. Schließlich findet der Vorbehalt gegenüber dualistischen Auslegungen des barocken G e schichtsromans und seiner Deutungssemantik eine Bestätigung auch von motivgeschichtlicher Seite: Gottfried Kirchners Untersuchungen zu Geschichte und Bedeutungswandel des literarischen FortunaMotivs 2 ' 0 belegen in imponierender Materialfülle den Prozeß einer interpretatio Christiana der Fortuna, eine Ideenevolution mit dem Ziel, das pagane Motiv in eine spezifisch christliche Geschichtsdeutung einzubauen. 29 ' Dieser Prozeß, den Kirchner in seinen historischen Stadien beschreibt, war im 17. Jahrhundert völlig abgeschlossen, so daß etwa der Lexikograph Laurentius Beyerlinck ( 1 5 8 7 - 1 6 2 7 ) Gott als Fortuna apud Christianas und, in einer verblüffenden Analogiebildung zur >natura naturansFortuna< darf im barocken Roman trotz fortdauernden Gebrauchs der einschlägigen Motivik und Metaphorik nicht mehr einfach mit ihrer Genese aus paganen Geschichtstheorien identifiziert werden; sie hat einen Prozeß der Christianisierung durchlaufen und darin ihre Eigenständigkeit eingebüßt. Aus der durch A l e w y n und Röder behaupteten Opposition von Fortuna und Vorsehung, Providenz und Kontingenz ist ihre Identität geworden. 2 ' 2 Durch diesen

2

' ° Fortuna in Dichtung und Emblematik, op. cit.

2

' · »Ausschlaggebend für den Sturz des Fortunakults aber ist die Instanz der göttlichen Vorsehung, die keine andere M a c h t neben sich duldet.« Kirchner, ebd., S. 1 0 7 . D a s gelte schon für Augustin und Boethius und bestimme danach ein ganzes Jahrtausend christlich-metaphysischer Geschichtsdeutung.

2 2

'

Kirchner, ebd., S. 1 1 7 , faßt den Prozeß der interpretatio Christiana des F o r t u n a Motivs bündig zusammen: »Fortunas Macht bleibt geborgen in der göttlichen E i n heit von Wille und V o l l z u g ; nur falsche Lehren versuchten, sie von der Substanz z u trennen und ihre Eigenständigkeit

zu verkünden. Jene Verschmelzung

stellt die

höchste Stufe der interpretatio Christiana des Fortunathemas dar. Sie verhilft z u einer glaubwürdigen Erklärung des unbegreiflichen Weltgeschehens, dessen Finalität die Providenz bestimmt. [ . . . ] W e n n der Christ die Metamorphosen der F o r t u n a welt als vielfältige Erscheinungsformen einer festen Himmelsordnung begreift und ihr Wirken als weise Fügung annimmt, dann ist die Glücksgöttin kein Widersacher mehr.«

99

Befund ist einer Auslegung, die die Orientierungslosigkeit der Romanprotagonisten zwischen zwei antagonistischen Geschichtslegislationen statuiert, die Grundlage entzogen. Als wesentliche Pointe eines Erzählens aus dem Begründungshorizont einer christlichen Geschichtsmetaphysik erscheint somit im Gegensatz zu der diskutierten dualistischen Deutung gerade die Nivellierung des Gegensatzes von Fortuna und Providenz, Zufall und Notwendigkeit. Die Kontingenz ist keine objektiv geschichtsbestimmende Macht, sondern eine bloße façon de parier, ein Hilfsbegriff der verworrenen und fehlbaren menschlichen Perzeption, die lange Zeit nicht einzusehen vermag, daß, im Roman wie in der Realität, »das künstliche zerrütten/ voll schönster Ordnung ist«. 2 '' Nicht der Korrektur objektiver Unstimmigkeiten und der schließlichen Restauration einer stabilen Ordnung in einer zeitweilig heillosen Wirklichkeit soll der Erzählprozeß dienen, sondern der Korrektur einer subjektiven, endlichen Optik, die die zu jeder Zeit garantierte Notwendigkeit und optimale Organisation des kontingent erscheinenden Weltganzen so lange nicht zu erfassen vermag, wie sie es nicht in Richtung auf seinen göttlichen Urheber zu überschreiten weiß. Gegen jede Fixierung an die Empirie propagiert der barocke Geschichtsroman deren Transzendierung als einen Erkenntnisprozeß, der sich über die geschichtlichen Erscheinungen so weit erhebt, daß er sie als »Fügungs-Bild« 294 zu sehen lernt. Die preziose Beschreibung der Catharina Regina von Greiffenberg trifft diese Intention genau: der Roman ist ein »Himmel-volles Bild« und »ein Spiegel seines Spiels [...]/ in dem man schicklich siht die Himmels-Schickungs Sach«. 2 " — »Die schönste Kunst im Schreiben/ ist, unvermerkt der Erd den Himmel einverleiben«: 2 ' 6 ein Erzählen, das unter solcher metaphysischen Dekkung steht, bleibt immun gegen den vordergründigen Einspruch der historischen Empirie. Das Junktim mit der zeitgenössischen Philosophie bestimmt den Barockroman in seinem Zenit wie in seinem Niedergang: aus ihren metaphysischen Prämissen absolut legitimiert und prinzipiell unwiderlegbar, wird er gemeinsam mit seinen philosophischen Axiomen der Kritik der Aufklärung verfallen.

2

'3 Catharina Regina von Greiffenberg: Lobgedicht auf Anton Ulrichs >Aramena< (1671), zit. nach Kimpel/Wiedemann (Hg.), Theorie und Technik des Romans, S. 16.

2

94 Ebd. 95 Ebd. 2 s« Ebd., S. 17. 2

IOO

II.

KAPITEL

Providenz, Rationalität, Gesellschaft. Funktionen der Vorsehung im europäischen Sozialroman des frühen 18. Jahrhunderts

C ' e s t l'ordre qui fait le paradis, et le désordre qui fait l'Enfer. Jean CRASSET, C o n s i d é r a t i o n s sur les principales actions chrétiennes< ( 1 7 3 2 ) W a r s and storms are best to read of, but peace and calms are better to endure. J e r e m y BENTHAM

Die Metaphysik des barocken Geschichtsromans wird im 18. Jahrhundert obsolet, seine formkonstituierende Dialektik von

täuschender

Erscheinung und verborgenem Wesen der Realität muß einem Zeitalter als suspekt gelten, das in seiner erkenntnistheoretischen Orientierung einem resoluten Empirismus huldigt und metaphysischer Spekulation im ganzen eher reserviert und skeptisch gegenübersteht.' Zugleich bringt die Verbürgerlichung von Kunst und Literatur neue Gehalte und thematische Interessen zur Geltung, ein Wandel, der sich im Roman an der zunehmenden Verinnerung, Subjektivierung und Psychologisierung des Erzählens ablesen läßt:2 nicht mehr die Makroperspektive des hohen Barockromans in seiner enzyklopädisch-kosmologischen Totale und seiner (nun als hybrid erscheinenden) Strukturhomologie mit den eschaZur dadurch bewirkten Neuorientierung auch der Erzählpoetik vgl. unten Kap. 3. - Uber die europäischen Zusammenhänge des neuen Erkenntnis- und Wissenschaftsideals informiert Gusdorf, Les principes de la pensée, op. cit., bes. Teil 2, S. 1 5 1 - 2 8 9 : »Les principes de la connaissance«. Für einen Überblick s. Leo Balet/E. Gerhard: Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert. Hrsg. u. eingel. v. Gert Mattenklott, Frankf.a.M./Berlin/Wien 1973 (zuerst Leipzig/Straßburg/Zürich 1936); Bernhard Groethuysen: Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, 2 Bde., Frankf./M. 1978 (zuerst Halle/S. 1927); Rudolf Vierhaus: Deutschland im 18.Jahrhundert: soziales Gefüge, politische Verfassung, geistige Bewegung. In: Lessing und die Zeit der Aufklärung. Vorträge, gehalten auf der Tagung der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg am 10. und 1 1 . Juni 1967, Göttingen 1968, S. 1 2 - 2 9 ; Erich von Kahler: Die Verinnerung des Erzählens, op. cit. ΙΟΙ

tologischen Ordnungszusammenhängen des Universums bestimmt das Erscheinungsbild der neuen Romane, sondern privatere, nicht selten fiktiv-autobiographische Formen^ und Inhalte, die die Nähe zur lebensweltlichen Erfahrung eines mittelständisch-bürgerlichen Lesepublikums suchen. - Diese Entwicklung bedeutet nicht per se den »Tod Gottes« im Roman; noch für Jahrzehnte sind teleologische Erzählverläufe kaum denkbar, in deren Deutungssemantik nicht ausdrücklich Bezug genommen würde auf das planvolle Wirken der göttlichen Providenz hinter der Ereigniswirklichkeit der individuellen und sozialen Realität. Gleichwohl bleiben Konfiguration und Funktion des Göttlichen im Text von den skizzierten Umbruchsentwicklungen nicht unbetroffen, gerät der Rekurs auf providentielle Interventionen im Kontext eines empirischwirklichkeitsnahen Erzählens unter stärkeren Begründungs- und Plausibilitätsdruck, kommt es zu Reibungen zwischen der jedem Providentialismus inhärenten Vorstellung menschlicher Heteronomie und dem Anspruch neuer, bürgerlich geprägter Ethiken auf Autonomie und rationale Selbstbestimmung des innerweltlichen, innergesellschaftlichen Handelns. Bedürfte es einer eingängigen Formel, um Qualität und Richtung des im frühen 18. Jahrhundert einsetzenden Erscheinungs- und Funktionswandels der literarischen Providenz zu bezeichnen, so böten sich Begriffe wie >Rationalisierung< oder tendenzielle Säkularisierung< an. Indessen bleiben, im Kontext philologischer Erkenntnis, alle geistesoder sozialgeschichtlichen Abstraktionen dürr und unverbindlich, solange nicht gezeigt werden kann, wie sie sich mit der konkreten Wirklichkeit von Texten vermitteln, wie sie, buchstäblich, in ihnen »am Werk« sind. Die folgenden Interpretationen zu Romanen Daniel Defoes, des Abbé Prévost und Johann Gottfried Schnabels suchen diesem Bedenken Rechnung zu tragen; sie wollen, einander komplementär ergänzend, den Blick freigeben auf verschiedene nationale und sachliche Facetten und Implikationen eines vielschichtigen Entwicklungszusammenhangs.

3

Die Affinität und das produktive Austauschverhältnis fiktionaler und pragmatischer Versionen des Ich-Erzählens im 18. Jahrhundert untersucht eingehend Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit, Tübingen 1976 ( = Studien zur dt. Literatur. 46). Müller weist detailliert nach, daß sich die pragmatische Zweckform der Autobiographie progressiv literarisiert, während zugleich der Roman eine Fülle pseudo-biographischer und -autobiographischer Fiktionstechniken ausbildet.

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ι. Providenz und soziale Ordnung in Daniel Defoes >The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe, of York, Mariner< ( 1 7 1 9 ) Daniel Defoes im April 1719 veröffentlichter Roman >The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe, of York, Marinerà gehört in den Kreis jener nicht-antiken europäischen Literaturmythen, in denen (wie in Cervantes' >Don QuixoteFaustDon JuanRobinson Crusoe< Literaten, Philosophen und Ökonomen von Coleridge und Wordsworth bis zu Taine, Marx und Max Weber fasziniert, 10 denen die eindringliche Unmittelbarkeit der Inselgeschichte als Modellsituation menschlicher Grundbefindlichkeiten dienen konnte: Robinson Crusoe auf seiner Insel als Urbild des homo faber oder eines frühkapitalistischen homo oeconomicus im elementaren, nichtentfremdeten Austausch mit der umgebenden Natur, ein »natürlichefs] Gleichnis allen menschlichen Ringens mit der Natur«, das »zum Hohenlied des tätigen Menschen schlechthin« werde und »den Triumph der menschlichen Arbeitskraft und des tapferen, unbesiegbaren menschlichen Geistes«" bekunde. Nicht zufällig

6

7

8

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10

11

Jean-Jacques Rousseau : Emile ou de l'éducation (hg. von François und Pierre Richard, Paris 1964, Classiques Garnier), 3.Buch, S . 2 1 1 . Z u r Bearbeitungs-, Publikations- und Rezeptionsgeschichte vgl. Erhard Dahl: D i e K ü r z u n g e n des >Robinson Crusoe< in England zwischen 1719 und 1819 vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Druckgewerbes, Verlagswesens und Lesepublikums, Frankf./M. 1977. Siehe Petzold, D e f o e : »Robinson C r u s o e s S. 42 ff. sowie Reinhard Stach: Robinson der Jüngere als pädagogisch-didaktisches Modell des philanthropistischen Erziehungsdenkens, Wuppertal 1970. Elke Liebs: D i e pädagogische Insel. Studien zur Rezeption des »Robinson Crusoe< in deutschen Jugendbearbeitungen, Stuttgart 1977; Beate Scheunemann: Erziehungsmittel Kinderbuch. Z u r Geschichte der Ideologievermittlung in der Kinder- und Jugendliteratur, Berlin 1978 (Kap. 1, S. 24-62: »»Robinson Crusoe< - Darstellung bürgerlicher Ideologie als Fiktion«); Peter Zupancic: Die Robinsonade in der Jugendliteratur, B o c h u m 1976. Stationen der Rezeptionsgeschichte dokumentiert Pat Rogers (Hg.): Defoe. T h e critical Heritage, London und Boston 1972. Robert Weimann: D e f o e : »Robinson Crusoei, in: Der englische Roman, hg. von Franz Stanzel, Bd. I, Düsseldorf 1969, S. 108-143, hier S. 120.

104

haben gerade marxistische Interpreten in zuweilen erstaunlich ahistorischer Direktheit und Einseitigkeit Defoes Roman verklärt zur utopischantizipatorischen »Ruhmesgeschichte, an der auch die zukünftigen Generationen einer von Krieg und Unterdrückung befreiten Welt teilhaben werden. [...] Die Gestade an Robinsons Insel bleiben sonnig, auch wenn der Held sich des Sonnenscheins nicht zu erfreuen verstand«. 12 ι. ι Dialektik von N o r m und Normverstoß : Die narrativen Rahmenstrukturen im >Robinson Crusoe< Solche Vereindeutigungen und Vereinnahmungen aus sympathisierender Anteilnahme haben den eminenten Erfolg des Textes ohne jeden Zweifel befördert. Aber unübersehbar ist die Gefahr, daß sich der RobinsonMythos gegen die originäre Gestalt des Werkes selbst kehrt, dessen Intention er verdeckt oder als unwesentlich beiseite schiebt und dessen Komplexität er unterschätzt. In dieser Situation kommt der literarhistorischen Analyse (sofern sie sich nicht a priori als reine Rezeptionsgeschichte definieren will und Lektüren schon deshalb für triftig erklärt, weil sie historisch möglich waren) die Aufgabe zu, wirkungsgeschichtlich eingespielte Deutungstraditionen, Perspektivierungen und Selektionen zu überprüfen, sie nötigenfalls aufzulösen und gegen sie die komplexere Gestalt des originalen Textes wieder ins interpretatorische Spiel zu bringen. Das bedeutet konkret, daß gegen die unmittelbare Faszination der Inselepisode (deren besonderes Gewicht darum nicht geleugnet werden muß) daran zu erinnern ist, daß diese zentrale Handlungssequenz in werkinternen Sinnbezügen steht und aus ihnen ihre spezifische Funktion erhält: N u r aus ihrer Relation zur »präinsularen« Vorgeschichte und zum »postinsularen« Nachspiel von Robinsons Vita läßt sich der intentionale Sinn des g a n z e n Werkes, auch seiner berühmtesten Szenen, rekonstruieren. Wir richten daher unser Augenmerk zunächst und vergleichsweise ausführlich auf die Eröffnungspartien des Romans und interpretieren sie als einen normativen Rahmen, der die Kriterien und Perspektiven vorgibt, unter denen der Lebenslauf des Helden verstanden und in seiner stringenten teleologischen Folgerichtigkeit erfaßt werden soll. Gewiß bleibt es ein signifikanter Befund, daß die immanenten Rezeptionsvorga-

12

E b d . , S. 1 4 3 ; s. auch J a n K o t t : Kapitalismus auf einer öden Insel. In: V i k t o r Z m e g a c ( H g . ) : Marxistische Literaturkritik, Bad H o m b u r g 1 9 7 0 , S. 2 5 9 - 2 7 3 .

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ben des Textes durch dessen eigene Wirkungsgeschichte unterlaufen oder ignoriert werden konnten, daß die erzählerischen Sicherungsvorkehrungen offenbar nicht ausgereicht haben, um das Faszinosum der Inselepisoden zu brechen oder zu relativieren. Aber der Versuch, die ursprüngliche Intention des originalen Textes zu verstehen, darf sich über die Existenz des normativen Rahmens nicht schon deshalb hinwegsetzen, weil die Dämme nicht gehalten haben und die Interpretationsgeschichte des Romans dessen eigene Leseanweisungen mißachtet hat. Zwar bleibt auch die im folgenden entfaltete Interpretation des >Robinson CrusoeRobinson Crusoe< einleitet, 1 ' lassen sich beispielhaft die Kategorien entwickeln, in deren Spannungsfeld das neue, »private« Erzählen steht. 16 Defoes >Editor< behauptet, die Lebensgeschichte des Privatmannes Robinson Crusoe verdiene ein öffentliches Interesse: »If ever the story of any private man's adventures in the world were worth making publick, and were acceptable when publish'd, the editor of this account thinks this will be so«(i). Worauf stützt sich dieser Anspruch? Zunächst, so scheint es, auf ein ebenso unproblematisches wie konventionelles Argument: die Verallgemeinerungsfähigkeit des Individuellen. Robinson Crusoes Lebensgeschichte ist mitteilenswert, weil sie zugleich unterhaltsam und lehrreich ist; sie dient »as well to the diversion as to the instruction of the reader« ( i ) , kurz: sie gehorcht der traditionellen Doppelformel des >prodesse et delectaren Aber der Befund ist komplizierter. Bei genauerem Zusehen zeigt sich nämlich, daß die Gründe, mit denen der Editor für Robinsons Geschichte wirbt, nicht einfach in einem additiven und komplementären, sondern in einem spannungsvoll-polaren Verhältnis zueinander stehen.' 7 Die Legitimität der Veröffentlichung privater Begebenheiten und die Erfolgsaussichten eines derartigen Sujets beim Lesepublikum sollen aus zwei durchaus gegensätzlichen Bedingungen folgen, die erst in ihrer spezifischen dialektischen Kombination die besondere Qualität des offerierten Werkes begründen. Einerseits ist es die Singularität der von Robinson erlebten und erzählten Begebenheiten, die den Reiz und den Wert seines Berichts ausmachen soll: The wonders of this man's life exceed all that [ . . . ] is to be found extant; the life of one man being scarce capable of a greater variety (i).

Diese Ankündigung greift das bereits im Titel des Romans gegebene Versprechen auf, das Werk enthalte Unerhörtes und Sensationelles (»strange surprising adventures«), es biete eine Fülle (»variety«) von Ereignissen (»events«, ι) und Glückswechseln (»vicissitudes«, 6), die, an der lebensweltlichen Alltagserfahrung einer mittelständischen Leserschaft gemessen, nicht nur außerordentlich selten seien (»exceed all that is to be found extant«), sondern geradezu wunderbar (»the wonders of 'S

R C , S. ι . - Z u den erzähltheoretischen und didaktischen Aspekten der Editorenvorrede vgl. Walter Pache: Profit und Delight. Didaktik und Fiktion als Problem des Erzählens, dargestellt am Beispiel des Romanwerks von Daniel D e f o e , Heidelberg 1980 ( = Anglistische Forschungen. 141), S. 100-109.

16

Grundlegend für das Verständnis von Defoes literaturtheoretischer Position ist Maximilian E. N o v a k : Defoe's Theory of Fiction, Studies in Philology 61, 1964, S. 650-668 (auch in: Daniel D e f o e (WdF), S. 182-202). So auch Weimann, D e f o e : >Robinson Crusoe«, S. 130 f.

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this man's life«) anmuteten. Das literarische Werk lockt mit der Faszination des Unalltäglichen und Unvertrauten, mit einem Wirbel vielfältiger und abenteuerlicher Kontingenzen, von denen allein durch die Art der Ankündigung klar ist, daß keinem Leser Vergleichbares widerfahren ist, daß freilich auch kein vernünftiger Leser sich wünschen würde, sie selbst realiter zu erleben.' 8 In ungemildertem Kontrast zu dieser Werbung mit der Kategorie der Besonderheit des Erzählten, mit der Differenz von Abenteuerbiographie des Helden und Lebenswelterfahrung des Publikums, führt der Editor jedoch ein zweites Argument ins Feld, das die Kontingenzaspekte des Romans wieder zu relativieren, wenn nicht gar ganz aufzuheben scheint. Trotz der extremen Ereignisvielfalt soll nämlich der Rückbezug aller staunenswerten Begebenheiten auf eine einheitliche und durchgängige Erklärungsnorm gewährleistet sein: The story is told [ . . . ] with a religious application of events to the uses to which wise men always apply them, viz. to the instruction of others by this example, and to justify and honour the wisdom of Providence in all the variety of our circumstances, let them happen how they will (i).

Daß auch das scheinbar ungewöhnlichste Geschehen stringent aus der Weisheit der Providenz erklärt werden könne und daß diese apriorische Gewißheit für alle denkenden Menschen (»wise men«) grundsätzlich immer (»always«), mithin selbst in bezug auf die futura contingentia des noch Ungeschehenen gelte - denn eben dies impliziert die alle Möglichkeiten apodiktisch umfassende Rede von der »variety of our circumstances, let them happen how they will« —: diese Uberzeugung ist die zweite, mit dem Besonderheitskriterium antithetisch rivalisierende Normvorstellung, die das poetologische Konzept des Defoeschen Editors grundiert. 1 ' Die Pointe der Vorrede besteht demnach, modern gesprochen, in

18

John J . Richetti (Defoe's Narratives. Situations and Structures, O x f o r d 1 9 7 5 ) k o m mentiert zutreffend: »This preface claims that C r u s o e has connected the public and the private, implying that in being himself he has lived the kind of private existence that is of >public< interest. But [ . . . ] that interest does not arise because Crusoe's life resembles those of his contemporaries, not because he is the typical private man. Rather, his life is one of >wonders< unparalleled, >variety< without precedent. H o w , then, is C r u s o e ' s story so w o r t h y of public notice? It is, obviously, being sold as an extravaganza to people w h o like all of us value the exotic and the various as a pleasurable relief f r o m the humdrum and uniform quality of daily life.« (S. 24).

'9

V g l . Richettis pointierte Feststellung: »Crusoe [ . . . ] discovers c o m m o n providential arrangement in variety. H e lives in an uncommon c o m m o n fashion. H i s life is public, that is, attractive and meaningful to the typical private person, because he introduces private and c o m m o n order into thrilling and u n c o m m o n events.« E b d . , S. 24 f.).

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der Statuierung der Möglichkeit einer theologisch verstandenen Reduktion von Ereigniskomplexität und Kontingenzerfahrung auf ein identisches, wandelloses Begründungsmuster: »the wisdom of Providence«. 20 Es ist jedoch auffällig, daß Defoe den Providenzbezug der >adventures< im Vorwort nicht in extenso erörtert; die Vereinbarkeit von Ereignisvielfalt und Regularität im Zeichen göttlicher Weisheit wird durch den Editor lapidar und implizit unterstellt. Diese eigentümliche und unaufgelöste Dichotomie, die mit b e i d e n polaren Qualitäten - Singularität u n d Konformität, Kontingenz u n d Providenz - für den Roman wirbt, anstatt, wie der Barockroman, die Außerordentlichkeit des Kontingenten pauschal zu negieren, dürfte auf ein ästhetisches Dilemma hindeuten: auf die in Begriff und Sache des frühbürgerlichen Abenteuerromans enthaltene contradictio in adiecto. Denn wenn die Romane Defoes oder Prévosts, Schnabels, Richardsons oder Gellerts einer Weltund Handlungskonzeption der Kalkulierbarkeit, des enttäuschungsfreien Gleichmaßes und der vernunftgemäßen Normierbarkeit zuzuneigen und unstete oder riskante Alternativen als moralisch bedenklich und psychologisch abträglich zu verwerfen scheinen, so tendiert diese positive Vernunftnorm ihrerseits unverkennbar zu Spannungslosigkeit und Monotonie und muß in ihrer Bevorzugung des Regelfalles gerade dasjenige diskreditieren, was unter dem Gesichtspunkt literarischer Wirkung am ergiebigsten, ja schlechterdings unverzichtbar erscheint: das Moment des Einmaligen, Unvorhersehbaren, nicht von vornherein unter die Norm des Bekannten und Erwarteten Subsumierbaren. Wir werden diesem Dilemma im Verlauf der Untersuchung noch verschiedentlich begegnen: im Verhältnis von >vernünftiger< Sozialordnung und Normverletzung bei Defoe und Prévost; in Schnabels fiktivem Entwurf eines geordneten Staatswesens, in das die individuellen Leidenswege der Protagonisten einmünden, um sich in der Vernunft des Kollektivs zu verlieren; schließlich in der auffälligen Disproportionalität von moralkonformer Normalität und schockhaften Krisenperioden in Gellerts Schwedischer Gräfinvariety< der >wonders< und >vicissitudes< fungiert als ästhetisches Signal, dem der Rezeptionseffekt der >diversion< korrespondieren soll, während umgekehrt das paradox anmutende Postulat der trotz aller sensationellen Begebenheiten unproblematischen Subsumtion des Besonderen unter die vorausgesetzten Normen als religiöse und moralische Qualität des Werkes erscheint, dem das didaktische Wirkungsmoment der instruction of the reader< zugeordnet ist." Diese Unterscheidung von diversion und instruction macht begreiflich, warum, nach der Poetik des Editors, das Leben des Robinson Crusoe gerade für seine Wechselfälle, für den Leichtsinn und die rebellischen »rambling thoughts« (5) des Helden ästhetisches Interesse und die Aufmerksamkeit des Publikums beanspruchen darf, also für eben jene Aspekte, die es in moralischer Hinsicht disqualifizieren und den Selbstausschluß des integrationsunwilligen Subjekts aus der Gesellschaft eines privilegierten bürgerlichen Mittelstandes bewirken, einer sozialen Schicht, deren Lebensideal darin besteht, »[to go] silently and smoothly thro' the world, and comfortably out of it« (6). A u f diese Weise kann das angezeigte ästhetische Problem der interessanten und individualisierenden Darstellung einer auf Gleichmaß, Sekurität und Regelkonformität eingeschworenen Gesellschaftsschicht und ihrer Gruppenethik w o nicht gelöst, so doch in signifikanter Weise umgangen werden: die spannungslose N o r m wird nicht direkt, sondern via negationis thematisiert, indem ihre Alternativen in einer fiktiven »Probehandlung« zugelassen und durchgespielt, schließlich in ihrem Scheitern vorgeführt

21

22

Siehe exemplarisch Helmut Petriconi: Die verführte Unschuld. Bemerkungen über ein literarisches Thema, Hamburg 1953 (bes. S. 49 ff. über Richardson) und Peter Horst Neumann: D e r kleine Heilsweg der Fanny Hill. Zum ideologischen Charakter p o r n o graphischer Romane (Neue Rundschau, 86.Jahrg., 1975, H. 1, S. 78-90) mit dem Nachweis, der pornographische Roman des frühen Bürgertums praktiziere durch seine Darstellungskonventionen (Bekenntnischarakter, Ich-Erzählung, Beteuerung echter Reue) »dieselbe doppelte Sexualmoral, gegen die er als literarische Gattung rebelliert« (79)· Vgl. Novak, Defoe's Theory of Fiction, S. 662 ff.

III

Dieses Verfahren erlaubt die Häufung dramatischer Abenteuer, Verwicklungen und Konflikte und befriedigt so die ästhetische curiositas des Publikums, ohne es in seinen weltanschaulichen Gewißheiten zu verunsichern. Ganz im Gegenteil: Die a priori intendierte »Negation der Negation« in der reumütigen Konversion des »verlorenen Sohnes« 24 trägt zur Befestigung der geltenden sozialen N o r m bei, deren überlegene Rationalität sie sinnfällig demonstriert.

werden.23

U m der Gefahr vorzubeugen, daß sich die >diversioninstructionstrange surprising adventures< unter Kontrolle zu halten und ihre Aufnahme durch den Leser in die vorgesehenen Bahnen zu lenken. Natürlich reicht es zu diesem Zweck keineswegs aus, die moralischen Absichten des Werkes - »the good design of making it publick« 17 - in einer Editorenvorrede zu beteuern, aber dabei läßt es Defoe auch nicht bewenden. Vielmehr erfindet er eine Rahmenhandlung und konstruiert eine Erzählperspektive, die keinen Zweifel lassen sollen, wie Robinsons Lebensgeschichte aufzufassen sei und welche Rückschlüsse der Leser für seine eigene Lebenspraxis aus ihr zu ziehen habe. - Der Analyse dieses normativen 2

3 Zur Konzeption eines von den Risiken der lebensweltlichen Praxis entlasteten »Probehandelns« im phantasierenden Nachvollzug literarischer Weltentwürfe vgl. Dieter Wellershoff: Fiktivität in fiktionalen und nichtfiktionalen Texten. In: Harald Weinrich (Hg.): Positionen der Negativität, München 1975 (= Poetik und Hermeneutik. VI), S. 529 f. Nach Wellershoff werden unerledigte Lebensprobleme »durch die Verschiebung ins Fiktive so weit neutralisiert und von der Person abgerückt [ . . . ] , daß man sie wieder relativ angstfrei aktualisieren kann.« Gerade das Medium des fiktionalen Textes eröffne dem Autor wie dem Rezipienten »unter den Bedingungen einer gelockerten Zensur [ . . . ] die Chance, seine Probleme als die von anderen (fiktionalen) Personen kennenzulernen, sie gleichsam als Attrappen durchzuspielen und sich auf diesem Umweg wieder mit sich selbst zu vermitteln.« 2 4 Zum Leitmotiv des prodigal son vgl. ζ. Β. RC, S. 9, 13, 28, 32, 66 u. ö. 2 5 So das >Authors's Preface« zu den >Farther Adventures of Robinson Crusoe< (1719), S.i. Ebd. 27 Ebd.; über die Schlüsselbedeutung der >moral intention* für Defoes Literaturverständnis siehe Novak, Defoe's Theory of Fiction, S. 662 ff.

112

Rahmens i n n e r h a l b der Erzählhandlung wenden wir uns nunmehr zu. 1.1. ζ Robinson Crusoes original sin: Zur Konstituierung der moralischsoziologischen Norm in der Exposition Die Erzählhandlung des >Robinson Crusoe< beginnt, nach einigen Bemerkungen zur Herkunft des Helden, mit der Schilderung eines Vater-Sohn-Konflikts. Gegenstand der Auseinandersetzung ist die Zukunft des Sohnes, über die dieser, abenteuerhungrig und in jugendlichem Ungestüm, gänzlich andere Vorstellungen hegt als sein lebenserfahrener, zu Vorsicht, Besonnenheit und sozialer Anpassung mahnender Vater. Berichtet wird die Szene vom Erzähler des ganzen Romans, von Crusoe junior, der sich jedoch aus der Distanz autobiographischer Rückschau - zum Zeitpunkt des Erzählens ist er selbst ein alter Mann, sein Vater tot, das zwischen beiden umstrittene Leben hat den vom Vater vorhergesagten Verlauf genommen - nicht mehr mit der eigenen Position identifiziert, sondern die überlegene Weisheit der väterlichen Warnungen rückblickend anerkennt. Ein Leben, das in Opposition zum Willen des Vaters begann und dessen maßgebliche Stationen eine direkte Konsequenz dieser ursprünglichen Revolte waren,28 wird erzählt aus der retrospektiven Identifikation des zur Vernunft gekommenen Helden mit der väterlichen Autorität, die diese Vernunft von Anbeginn an vertrat und den Sohn vor den absehbaren Folgen seiner Aufsässigkeit zu bewahren suchte. In diesem Sinn ist der Lebensweg des Helden die Geschichte einer Entfernung vom und einer Rückkehr zum Vater und zu den durch ihn repräsentierten Ordnungs- und Normvorstellungen, die instruktive biographische Fallstudie einer individuellen anarchischen Rebellion und, diese korrigierend, einer konservativen Konversion. Dabei ist unschwer zu erkennen, daß die Normverstöße und Auflehnungen in Robinsons Biographie, also ihre gleichsam zentrifugalen Aspekte, dem Kontingenz- und wncij-Argument der Vorrede zuzuordnen sind, während die zentripetalen Ordnungsgesichtspunkte, die der Vater (und mit ihm der autobiographische Erzähler) vertritt, offenbar mit the wisdom of Providence korrelieren und die religious application des Romans gewährleisten sollen: Ohne Robinsons Ungehorsam gäbe es 28

Richetti, Defoe's Narratives, S. 26, spricht sogar von der »destruction of the father« als dem Ziel »behind Crusoe's desire to go to sea, that is, to become rich above his father's station.«

"3

über sein Leben kaum Außergewöhnliches zu erzählen, aber erst durch seine Konversion erhalten die Erlebnisse ihren finalen Sinn, wird der Bericht über sie nicht nur zur spannenden, sondern auch zur moralisch legitimen Lektüre.2? Bevor wir diese Hypothese konkretisieren und zu einer Interpretation des Romans und seiner teleologischen Struktur entfalten, stellen wir zwei in der Defoe-Forschung zu Einfluß gelangte Deutungen der Expositionspartie vor, die zu einem von unserer Auslegung abweichenden Verständnis des Werkes führen, aber auch untereinander im Streit liegen: Einige marxistische Interpreten (verwiesen sei stellvertretend auf die Aufsätze Weimanns'0 und Kotts31 sowie auf das einschlägige Kapitel in Ian Watts epochemachender Studie'2) neigen erkennbar dazu, in der Kontroverse der Romanexposition die Partei des Sohnes zu ergreifen und dessen scheinbar unaufhaltsamen ökonomischen Elan gegen das lethargische Sicherheitsdenken des Vaters auszuspielen. Crusoe père gerät dann leicht zum karikierten Exponenten einer durch die historische Entwicklung überholten konservativ-merkantilistischen Wirtschaftsgesinnung, die dem von kapitalistischen Expansions- und Eroberungsinstinkten und einer unstillbaren Profitgier umgetriebenen Sohn wenig mehr zu bieten habe als »die viel gerühmte Aussicht auf das friedliche Leben eines Spießbürgers«.33 Robinson selbst hingegen erscheint in merkwürdiger Verklärung als Inkarnation >progressiver< Geschichtstendenzen: ein wagemutiger Vertreter »jener Generation, die das koloniale Empire aufbaute«,3t getrieben durch einen »protestantisch-utopische[n] Doppelimpuls«,35 wird der Held zum Agenten einer kapitalistischfortschrittlichen Zukunft »im Spannungsfeld zweier Welten, einer historisch-bürgerlichen und einer utopisch-menschlichen«.36 Wohl am konsequentesten hat, unter Verzicht auf die bei Weimann anklingenden 9 3° 31 32

Vgl. Novak, Defoe's Theory of Fiction; Pache, Profit and Delight, S. 107. Weimann, Defoe: >Robinson CrusoeRobinson Crusoes S. 125. 3 e Ebd., S. 122. Weimanns problematische Deutung von Crusoes »utopischer Menschlichkeit« ist auch von marxistischer Seite auf Kritik gestoßen: Manfred Wojcik (Zur Interpretation des >Robinson Crusoes ZfAA 27, 1979, S. $ - 3 4 ) verwirft sie als den Irrglauben, in einem »situationsbedingten Denken und Handeln Züge einer Mensch2

114

utopischen Züge, Ian Watt diese Lesart entworfen: Robinson ist der Vertreter eines aggressiven, streng utilitaristischen »Wirtschaftsindividualismus«, 37 der sich von traditionellen, familiären oder nationalen Bindungen ebensowenig domestizieren läßt wie von religiösen oder ästhetischen Rücksichten; auch Crusoes original sin, sein Ausbruch aus der durch den Vater vorgezeichneten soliden mittelständischen Laufbahn, »ist in Wahrheit die dynamische Tendenz des Kapitalismus selbst, der niemals nur darauf gerichtet ist, den Status quo zu behaupten, sondern ihn ununterbrochen umzuwandeln. Von zuhause wegzugehen, die Bedingungen, unter denen man geboren wurde, zu verbessern, ist ein grundlegender Zug im Lebensschema des Individualismus«.' 8 Folgerichtig gehe es in der Auseinandersetzung der Generationen »nicht um Kindespflicht oder Religion, sondern darum, was in materieller Hinsicht das Vorteilhafteste zu sein verspricht, Gehen oder Bleiben: beide Seiten akzeptieren das ökonomische Argument als vorrangig«. 39 Am Ende sei Crusoes >original sin< »tatsächlich ja auch ein Gewinn, und er wird reicher als sein Vater war«. 4 ° - Diese Interpretation besticht zunächst durch die Entschiedenheit, mit der sie den Helden zum Typus des modernen, säkularen homo oeconomicus stilisiert; zwanglos scheint sich der Roman der Entwicklungslogik vom Siegeszug des Kapitalismus in der Phase kolonialistischer Expansion zu fügen. Aber die Geschlossenheit dieser Lesart ist teuer erkauft, sie gewinnt Stringenz nur um einen philologisch unannehmbaren Preis : den der nur partiellen Textwahrnehmung, der allzu selektiven Lektüre. Es ist kein Zufall, sondern eine notwendige Konsequenz des dem Roman oktroyierten wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklungsmodells, daß Watt die Bedeutung der theologischen Deutungssemantik des Werkes zur bloßen »Sonntagsreligion« 4 ' herunterspielen und ihr jede strukturbildende Konsequenz absprechen m u ß / 2 während sich Kott, in völlig unhistorischer Manier, über den Providentialismus des Romans, gewiß eines der textbeherrschenden Motive, gar nur noch lustig macht und durch sein amüsiertes Unverständnis doch nur die Grenzen des eigenen Deutungs- und Toleranz-

lichkeit entdecken zu können, die erst unter kommunistischen Verhältnissen möglich« seien (ebd., S. 20). 37

D e r bürgerliche R o m a n , S. 74.

38

E b d . , S. 7 3 .

39

Ebd.



Ebd.

4'

E b d . , S. 9 1 .

42

E b d . , S. 9 1 f.

" 5

spielraums absteckt.-» Denn philologische Erkenntnis hätte sich dem Text in seiner Ganzheit - und gerade in seiner Alterität! - zu stellen; erst an den widerständigsten und fremdesten Partien entfaltet sich die Kraft einer Interpretation. Dieser Forderung genügen die genannten Auslegungen nicht; sie verzeichnen die komplexe Textwirklichkeit um glatter und vorgefaßter Einsichten willen. Wie verhängnisvoll sich dieser ideologische parti pris für die Überlegenheit von Robinsons vermeintlich kapitalistischem Elan und für die latente Rationalität seiner Ausbruchsimpulse auswirkt, zeigt die Verlegenheit der Interpreten gegenüber der retrospektiven Selbstverurteilung des Autobiographen Crusoe: sie ist nach der Version von der >success story< des kühnen Unternehmers schlechterdings unbegreiflich und bleibt, obgleich als narrativer Rahmen eines der wichtigsten Strukturprinzipien des Romans, in allen Deutungen unterbelichtet. Dieser Verlegenheit entgeht eine konkurrierende, vor allem in der angelsächsischen Defoe-Forschung verbreitete Interpretationsrichtung, für die Ungehorsam und Schuld des Sohnes gegenüber dem Vater im Verein mit seiner späteren Umkehr zu Angelpunkten einer theologischen Deutung werden: in dieser Optik figuriert der Roman als stringente religiöse Parabel, sein Held als homo religiosus in der Tradition der geistlichen Erbauungsliteratur des Puritanismus und im Gefolge von Bunyans >The Pilgrim's Progressi Die Vertreter dieser Lesart^ führen eine Fülle typologischer Muster und Parallelen aus der im 17. Jahrhundert florierenden religiösen Autobiographik und Traktatliteratur ins Feld,·" um zu belegen, daß es sich bei Defoes Roman um eine Variante des in der geistlichen Autobiographie verbreiteten Strukturschemas der spiritual pilgrimage mit einer identifizierbaren Abfolge obligater Heils43

» A m meisten amüsiert mich im >Robinson< die Schilderung der göttlichen Vorsehung, die jede Vernachlässigung und Geringschätzung des eigenen Interesses auf so gerechte Weise bestraft, dagegen die Arbeitsamkeit, Ausdauer und Geduld reich belohnt.« Kott, Kapitalismus, S. 267.

44

A m einflußreichsten: George A . Starr: D e f o e and Spiritual A u t o b i o g r a p h y , Princeton 1965 und J . Paul Hunter: T h e Reluctant Pilgrim: Defoe's Emblematic Method and Quest for F o r m in >Robinson CrusoeRobinson CrusoeRobinson C r u s o e c >Allusive Allegoric HistoryRobinson Crusoe< zu erhellen: die Teleologie des Konversionsstufenschemas von original sin/disobedience und punishment, repentance und deliverance, den Anschluß an eine reiche Guide- und ProvidenceTradition der puritanischen Paränese46 und an Darstellungsformen des Seelentagebuchs, die strukturbildende Bedeutung des Leitmotivs vom verlorenen Sohn etc. Doch auch in diesem Fall führt gerade die Verabsolutierung des gewählten Deutungsparadigmas dessen Grenzen vor Augen und macht deutlich, daß es kurzschlüssig ist, Intention und Sinn eines literarischen Werkes allein aus der Herkunft seiner Motive und Metaphern zu erklären - auch für die literaturwissenschaftliche Hermeneutik bleibt die Differenz von Genesis und Geltung wesentlich. Die konsequent emblematische und theologisch-allegorische Lesart des Romans verfährt in Wahrheit nicht minder reduktiv als ihre säkulare Gegenversion. Typische Behauptungen wie jene von Martin Greif, »Defoe's novel« biete »the record of a notable spiritual pilgrimage across the sea of life, from a lawless course of living to true Christian repentance: a symbolic voyage from sin and folly to the gift of God's grace attained through sincere belief in Jesus Christ«,-·7 und es sei »exactly this progress from Fear to Love in the act of conversion that Robinson Crusoe experiences in his spiritual journey«48 - solche formelhaftessentialistischen Abstraktionen offenbaren einen so eklatanten Mangel an Sensibilität für die konkrete Welthaltigkeit, den genauen Empirismus des Defoeschen Erzählens in seiner »mitreißende[n] Poesie der realen Dinge«,4? daß sie den Roman schon aus diesem Grunde verfehlen. Wir geben im folgenden, anknüpfend an Untersuchungen von

46 Siehe Hunters, The Reluctant Pilgrim, Kap. 2 (»The Guide Tradition«, S. 23-50) und Kap. 3 (»The Providence Tradition«, S. 51-75). 47 Greif, The Conversion of Robinson Crusoe, S. 5 51 f. Ebenso Hunter, The Reluctant Pilgrim, S. 188: »Crusoe, who begins as a rebel wandering through life without purpose, becomes at last a pilgrim bound for paradise.« 48 Greif, ebd., S. 553. 49 Kott, Kapitalismus, S. 264; ähnlich Weimann, Defoe: >Robinson Crusoerealistischen< Auffassung ab und versucht, in Defoes Providenzauffassung eine Distanzierung und Umdeutung von Traditionen der puritanischen Schultheologie in Richtung einer stärkeren Betonung diesseitiger Gehalte und rationaler Weltbeherrschung, also einer tendenziellen Säkularisierung nachzuweisen. Wir sehen den Roman bestimmt durch eine im Vater-Sohn-Konflikt der Eröffnungsszene programmatisch entfaltete Wirtschafts- und Sozialtheorie mit religiösem Uberbau, eine Theorie, zu deren tragenden Elementen die Uberzeugung von der providentiell sanktionierten sozialen Vorrangstellung eines kaufmännisch-handelsbürgerlichen Mittelstandes und der Entwurf einer entsprechend ausgerichteten puritanischen Anthropologie und Sozialethik gehören. Der Exponent und eloquente Verkünder dieses »mittelständischen Credos« als eines Ensembles theologischer, ethischer und soziologischer Gewißheiten ist Crusoe senior; seine Ausführungen im Prolog beschreiben den normativen Rahmen, der der weiteren Entwicklung als Relief und Maßstab dient." Der Roman selbst in seinem teleologischen Verlauf jedoch gilt der langwierigen Rehabilitation des lost prodigal, der als s°

Rudolf Stamm: Der aufgeklärte Puritanismus Daniel Defoes, Zürich/Leipzig 1936 ( = Schweizer Anglistische Arbeiten. 1). 51 Maximilian E. Novak: Economics and the Fiction of Daniel Defoe, Berkeley/Los Angeles 1962; ders.: Defoe and the Nature of Man, London 1963; ders.: >Robinson Crusoe< and Economic Utopia, The Kenyon Review 25, 1963, S. 474-490 (auch in Defoe, W d F , S. 1 6 5 - 1 8 1 ) . 52 Klaus Degering: Defoes Gesellschaftskonzeption, Amsterdam 1977 ( = Bochumer anglist. Studien, j). 53 Wolfgang Mackiewicz: Providenz und Adaptation in Defoes >Robinson CrusoeRobinson Crusoe< »den locus classicus der Gesellschaftskonzeption des Romanwerkes« (ebd., S. 246). - Siehe ferner Michael Shinagel: Daniel Defoe and Middle-Class Gentility, Cambridge/Mass. 1968, bes. Kap. 6 (»Major Middle-Class Themes«), S. 1 2 2 - 1 4 1 . 55 Wie Degering zeigt, hat »das >Mittelständische Credo* eine strukturierende Funktion, indem es - vergleichbar mit einem magnetischen Plus-Pol - den Helden anzieht, wenn

118

unbesonnener Rebell die Norm mißachtet, ihr in einem harten Erziehungsprozeß und in sozialer Isolation gefügig gemacht wird, um sie am Ende, als Biograph seiner selbst, mit derselben Entschiedenheit zu verfechten wie vordem sein Vater. Die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn Crusoe kreist um die Gestaltung der offenen Zukunft des Sohnes. Dieser selbst möchte einer übermächtigen »wandring inclination« (j) nachgeben, er ist »satisfied with nothing but going to sea« (5) und hängt den irrationalen Eingebungen seiner »young desires« (7) in einem Maße an, »that there seem'd to be something fatal in that propension of nature tending directly to the life of misery which was to befal me« (5). Der Vater, ein erfolgreicher und welterfahrener Kaufmann, wittert das Unheil und setzt alles daran, den Sohn durch vernünftiges Zureden »in the most affectionate manner« (6) - »My father, a wise and grave man, gave me serious and excellent counsel against what he foresaw was my design« ( j) - zu einer Ordnung zurückzurufen, von deren Attraktivität er »by long experience« (6) überzeugt ist. Der »truly prophetick discourse« (7), in dem diese Lehre entfaltet wird, ist äußerst erhellend: nicht nur, weil das darin entworfene Bild der Gesellschaft einen konzisen Abriß von Defoes eigener Sozial- und Wirtschaftstheorie darstellt,'6 sondern auch, weil aus diesen Ausführungen unter der Leitvorstellung eines dauerhaft gesicherten Lebensglücks Licht fällt auf zentrale Fragen unserer Untersuchung. So erfährt das erkenntnistheoretische Problem der futura contingentia bei Defoe eine gegenüber dem barocken Geschichtsroman so grundlegend neue Akzentuierung, daß man nachgerade von einem Paradigmenwechsel sprechen kann: Die für den höfisch-heroischen Roman konstitutive Denkweise von den unvorhersehbaren und im Verstehens- und Aktionshorizont endlicher Subjekte prinzipiell unkalkulierbaren Wechselfällen des Schicksals in einer hintergründigen und überkomplexen Welt verliert ihre beherrschende Geltung als universales Geschichtsgesetz ebenso wie die ihr korrespondierende Ethik der constantia und eines fideistischen, d. h. empirisch nicht abzusichernden Weltvertrauens. es ihm schlecht ergeht (er sich also >minus< nähert) und ihn abstößt, w e n n er sich selbst in einer mittelstandsähnlichen Position (also >plusmock world< seiner Romane lasse » D e f o e seine Figuren konkret auf Regeln und Gesetze reagieren, die er außerhalb der R o m a n e als Theorien aufgestellt und diskutiert hatte. D e r R o m a n dient ihm als Experimentierfeld zur Ü b e r p r ü f u n g der Richtigkeit eben dieser Theorien, die nicht einfach illustriert, sondern in die >Wirklichkeit< der Romanwelt umgesetzt werden.« - V g l . ebenso die in A n m . 51 genannten Arbeiten N o v a k s sowie James Sutherland: T h e Relation of D e f o e ' s Fiction to his Non-Fictional Writings, in: D e f o e ( W d F ) , S. 3 0 6 - 3 1 9 .

II9

Aber - und erst darin liegt die eigentliche Pointe! - diese Weltsicht gerät nicht einfach in Vergessenheit oder wird stillschweigend durch eine neue Theorie ersetzt; sie taucht in der Rede des Vaters vielmehr ausdrücklich auf, wird jedoch, im Rahmen eines dreistufigen soziologischen Schichtenmodells und in einer quasi-wissenssoziologischen Reflexion, relationiert'7 und damit auch relativiert: ein vordem universales, geschichtstheologisch begründetes Weltgesetz erscheint nunmehr, transformiert und eingegrenzt, als Handlungsvoraussetzung einer spezifischen Gesellschaftsklasse: des »upper part of mankind« (6), der Aristokratie. Der ontologische RegeliiW des barocken Geschichtsromans figuriert aus der perspektivischen Wahrnehmung des bürgerlichen Kaufmannes Crusoe als soziologischer Grenzfall, dem er selbst und die Angehörigen der Mittelschicht zu ihrem Glück nicht unterstehen. An die Stelle einer mit den Mitteln literarischer Mimesis oder spekulativer Geschichtsmetaphysik abbildbaren, aber nicht begreiflichen Weltkomplexität tritt damit die Analyse sozial bedingter Verhaltensweisen nach dem Kriterium der Klassen- oder Schichtenzugehörigkeit und aus dem Blickwinkel einer normativen Anthropologie. Die von Crusoe senior als summum bonum gepriesene Lebensweise des >middle state< mit ihrer Handlungsethik der Sekurität und Verläßlichkeit steht in schroffem Gegensatz zu den Existenzbedingungen sowohl der Ober- als auch der Unterschicht: herrschen unten, beim »mechanick part of mankind« (6),'8 vor allem physische »miseries and hardships, [...] labour and sufferings« (6), also die Beschwernisse, Unwägbarkeiten und Wechselfälle (»calamities«, »vicissitudes«, »distempers«) eines materiell ungesicherten Standes vor, so haben an der Spitze der sozialen Pyramide sogar Könige »frequently lamented the miserable consequences of being born to great things« - eine soziologisch verallgemeinerte >HamletRelationierung< die Z u o r d n u n g weltanschaulicher Positionen zu sozialen Gruppen und Trägerschichten. V g l . Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, 6. unveränd. A u f l . , F r a n k f . / M . 1 9 7 8 (insbes. K a p . 5: »Wissenssoziologie«, S. 2 2 7 - 2 6 7 ) .

s8

Z u r Hierarchie der sozialen Schichten vgl. die genauen Analysen von Degering, Defoes Gesellschaftskonzeption, bes. S. 1 7 2 - 2 4 1 .

120

treffen sich in dem gemeinsamen Defizit, daß sie die gesicherten Lebensverhältnisse der middle station entbehren und von unbeherrschbaren Kontingenzen umgetrieben werden, die ihnen niemals Ruhe bescheren und besonders die Aristokratie auch in moralischer Hinsicht permanent gefährden. Von solchen Bedrohungen weiß sich der bürgerliche Mittelstand frei; er ist die soziale Schicht, »[that] had the fewest disasters, and was not expos'd to so many vicissitudes as the higher or lower part of mankind« (6). Was hier geschieht, läßt sich in soziologischer Sprache beschreiben: In der Theorie des Vaters werden die Existenzbedingungen und damit auch die individuellen Glückserwartungen aller gesellschaftlich handelnden Subjekte soziologisiert nach dem Modell einer dreifach stratifizierten Gesellschaft, in der die Zugehörigkeit zu einer der drei distinkten sozialen Großgruppen' 9 über die Lebens- und Erfolgsaussichten der Individuen, über die ihnen offenstehenden (oder verschlossenen) Karrieren und also über die jeweils schichtspezifisch erwartbaren »Zukünfte« entscheidet. Die Einzelschicksale in jeder sozialen Klasse folgen mit kalkulierbarer Zwangsläufigkeit aus den vorgegebenen Rollenmustern, die Biographien der Subjekte erscheinen, auf jedem Niveau der Gesellschaft, als »natural consequences of their way of living« (6). Es ist offenkundig, daß in dieser sozialen Vorstrukturierung privater Möglichkeitsspielräume und in der Reduktion biographischer Kontingenz, die sie impliziert, das metaphysische unhd erkenntnistheoretische Problem des prinzipiell offenen und ungewissen Zukunftshorizonts individueller Aktion auf gleichsam statistische Weise entschärft wird: die Vorstellung, jedem beliebigen Subjekt könne an jedem O r t und zu jeder Zeit »alles Mögliche« widerfahren, erscheint als weltfremde Dramatisierung, als Folge eines unrealistischen metaphysischen Pathos. Nicht umsonst treten sowohl der alte Crusoe als auch der weise gewordene Erzähler als Repräsentanten eines durch Verstand kontrollierten Empirieprinzips auf, Träger eines pragmatischen Erfahrungswissens, das seinen Ursprung in der Verallgemeinerung lebensweltlicher Beobachtungen und im Einblick in das Regelsystem, die gesetzmäßigen Abläufe und Normen eines rational strukturierten Gesellschaftskörpers findet. Eine normative, radikal anti-heroische Anthropologie, die eine materiell gesicherte und psychisch wie moralisch entlastete Lebensform zum S» Für interne Differenzierungen vgl. Degerings Untersuchung des Gesellschaftsbildes im >Robinson Crusoe< (ebd., S. 2 4 2 - 3 1 1 ) und sein klares graphisches Strukturmodell des >Mittelständischen Credosmiddle state< selbst, daß sie in optimalen Verhältnissen leben, [ . . . ] in easy circumstances sliding gently thro' the world, and sensibly tasting the sweets of living without the bitter, feeling that they are happy, and learning by every day's experience to know it more sensibly (6).

Die >trading class< erfährt sich auch gesamtgesellschaftlich als »the state of life which all other people envied« (6), und diese Spiegelung der eigenen Erwähltheit im Neid der anderen trägt noch einmal, in reflexiver Verstärkung, zu ihrer Selbstzufriedenheit bei.éo Diese soziale Theorie läßt die traditionelle Nomenklatur der etablierten Ständeordnung unangetastet: die >middle station< bleibt nach Rang und politischem Einfluß der aristokratischen Oberschicht untergeordnet. Zugleich jedoch sorgt eine divergierende Klassifikation für eine andere Bewertung: Nach dem Kriterium sozialer Zufriedenheit und der verläßlichen Erwartbarkeit eines sorgenfreien und risikoarmen Lebens ist die Mittelschicht »the best state in the world«, denn sie ist »most suited to human happiness« (6). Die Aristokratie bleibt der (politisch und nominell) ranghöchste, aber das Handelsbürgertum ist nach ethischen und anthropologischen Kriterien der beste und attraktivste Stand: in der Interferenz dieser beiden Modelle sozialer Hierarchie und in der offensiven Selbstsicherheit, mit der Crusoe senior die Glückslehre einer soziologisch definierten μεσάτης vorträgt, liegt ein bezeichnendes Indiz für den Wandel des sozialen Kräfteverhältnisses in England nach der Glorious Revolution. 61 Halten wir fest: Der Vater versucht den Sohn von seinen »rambling thoughts« abzubringen, indem er ihm die immanente Rationalität des englischen Sozialsystems vor Augen führt und ihn an sein wohlverstandenes Eigeninteresse erinnert.62 Diese Argumentation basiert auf sim60

Einen besonders deutlichen Reflex dieses handelsbürgerlichen Selbstbewußtseins bietet Defoes Schrift >The Complete English Tradesmandiscourse< des Vaters vgl. N o v a k ,

Economics,

plen Klugheitsregeln: angesichts der Erfolgschancen, die Robinson in »my father's house and my native country« vorfindet, »where I might be well introduced, and had a prospect of raising my fortune« (5), wäre es töricht, ungewisse Abenteuer in der Fremde zu suchen. Der Mittelstand bürgt für Zukunftssicherheit, für den Ausschluß unliebsamer Überraschungen und die Abblendung riskanter Alternativen. Ja, man könnte (in einem alsbald zu präzisierenden Sinn) formulieren: Im Diskurs des Vaters wird die >middle station< mit ihren Vorzügen propagiert als die zur sozialen Institution geronnene Providenz im Sinn einer Regularisierung der futura contingenta. 6 ' Tatsächlich legt der Wortlaut der Rede es nahe, an eine Art von funktionaler Übertragung klassischer Leistungen der metaphysisch-transzendenten Instanz der Providenz auf immanente Vorsorge- und Sicherungsqualitäten des Sozialsystems selbst zu denken : After this, he press'd me earnestly, [ . . . ] not to play the young man, not to precipitate my self into miseries which n a t u r e and the s t a t i o n o f l i f e I w a s b o r n i η seem'd to have p r o v i d e d a g a i n s t (6).6*

Nach dieser Logik ist es die Zugehörigkeit zum Mittelstand selbst und die Befolgung seiner spezifischen Ethik, die den Mitgliedern Schutz vor riskanten Zukünften und Zufällen bietet. Aber auch das Gegenteil gilt: Normabweichlern vom Schlage Robinsons lassen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit Turbulenzen und »misfortunes« vorhersagen, denn wer sich der Sicherheit garantierenden Vorstrukturierung seiner Existenz in der providentiell sanktionierten Sozialordnung des >middle state< mutwillig entzieht, reaktualisiert damit die Flut virtueller Zukunftsmöglichkeiten, und es ist absehbar, daß er im Strudel ihrer Kontingenzen umkommen wird. Das ist die Ratio hinter der Prophetie des Vaters : [ . . . ] and tho' he said he would not cease to pray for me, yet he w o u l d venture to say to me, that if I did take this foolish step, G o d would not bless me, and I would have leisure hereafter to reflect upon having neglected his counsel, when there might be none to assist in my recovery (7).65

6i

D e f o e s Plan der G r ü n d u n g v o n Versicherungsgesellschaften in seinem >Essay u p o n Projects< ist die rationale K o n s e q u e n z dieses D e n k e n s , das Stamm ( D e r aufgeklärte Puritanismus, S. 140 f.) als »Vision einer risikofreien, volle Sicherheit genießenden Welt« beschreibt. D e f o e s D e v i s e : »All the contingencies of life might be fenced against b y this m e t h o d . . . » (zit. bei Stamm, ebd.).

β4

H e r v o r h . v o n mir, W F .

ÄS

V g l . ebenso R C , S. 13, w o es über R o b i n s o n s D i a l o g mit d e m erfahrenen Seemann heißt: » H o w e v e r he afterwards talk'd v e r y gravely to me, exhorted me to g o b a c k to m y father, and not tempt Providence to m y ruine; told me I might see a visible hand o f H e a v e n against me, >and, y o u n g man,< said he, >depend u p o n it, if y o u d o n o t g o b a c k ,

123

Die leitmotivische Parallelisierung von väterlicher und göttlicher Autorität durch den Erzähler 66 dürfte hier ihre Wurzel haben: beide Instanzen scheinen in der Idee einer gesetzmäßig-rationalen Natur- und Sozialordnung zu konvergieren, der Vater als ihr bewußter Nutznießer und Propagandist, die Providenz als ihr oberster Garant und als Legitimationsinstanz von kritikenthobener Geltung. - Bevor wir mit der Interpretation des Romans fortfahren, wollen wir diese Hypothesen überprüfen. Wir wählen dazu einen relativ unbekannten Aufsatz Defoes, der genaueren Aufschluß verspricht über die Providenzkonzeption im >Robinson CrusoeOf Listening to the Voice of Providences Defoes aufgeklärter Puritanismus und die Providenzkonzeption in den >Serious Reflections of Robinson Crusoe< (1720) Die Sammlung religions- und moralpädagogischer Aufsätze, die Defoe ein Jahr nach dem Erscheinen der beiden Romanbände als >Serious Reflections during the Life and Surprising Adventures of Robinson CrusoeSerious Reflections< mit einer Kompilation zu tun haben, die nur sehr gezwungen mit dem Namen und Roman Robinson Crusoe verbunden ist. Es ist als Ganzes betrachtet ein innerlich ziemlich zusammenhangloses Elaborat [.. .]«.6? Dieses Urteil ist nicht ungeprüft zu übernehmen; das bloße Erfolgskalkül eines erfahrenen Autors ist ja kein zureichendes Indiz für die where-ever you go, you will meet with nothing but disasters and disappointments till your father's words are fulfilled upon youLVPRobinson Crusoe«, Die neueren Sprachen N . F . Bd. 16, 1967, S. 5 2 4 - 5 3 4 ; Everett Zimmerman: Defoe and the Novel, Berkeley/Los Angeles/London 1975, S. 3 6 f . Albert Liithi: Daniel Defoe und seine Fortsetzungen zu >Robinson CrusoeThe Farther Adventures« und >Serious Reflections«, Stuttgart 1920, S. 19.

124

Bedeutungslosigkeit seiner Schrift. Wenn es also legitim ist (und eine maßgebliche Forschungstendenz der letzten zwanzig Jahre galt diesem Versuch), 70 Defoes Romane mit theologischen Denkvorstellungen des Puritanismus in Beziehung zu setzen, so sollte es noch viel näherliegen, auch Defoes eigene »theoretische« Bemühungen, so unzulänglich sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, zur Interpretation der literarischen Werke heranzuziehen. Da schon die Analyse der Eröffnungsszene des >Robinson Crusoe< gezeigt hat, daß der Providenz-Idee eine Schlüsselfunktion für das Verständnis des gesamten Romans zukommt, bietet es sich an, den Essay >Of Listening to the Voice of Providence< aus den >Serious Reflections< einer genaueren Prüfung zu unterziehen und zu klären, inwieweit er tatsächlich, seinem eigenen Anspruch gemäß, als Kommentar zum Roman gelesen werden kann. Zumindest wird sich der Exempelanspruch der fiktiven Lebensgeschichte noch genauer fassen lassen, wenn man berücksichtigt, welche theoretischen Folgerungen und Verallgemeinerungen der Autor selbst seinem nun zum räsonierenden Philosophen erhobenen Helden in den Mund legt.71 Dabei wird man, die in der Tat nur schwach und aus durchsichtigen Gründen betonte Rollenfiktion bedenkend, von einer weitgehenden Ubereinstimmung der Denkposition des Autors Defoe und seines fiktiven Verfassers >Robinson Crusoe< ausgehen dürfen.7* I.2.I Kritik der Schulmetaphysik und Pragmatismus Stil und Duktus der Abhandlung sind aufschlußreich: durch eine betont laienhafte und pragmatische, auf Handlungsanleitung statt auf schulgerechte Begriffsartistik zielende Reflexions- und Darstellungsweise setzt sich der Autor bewußt und teilweise polemisch von den Usancen der

70

V g l . die in A n m . 44 genannte Literatur.

71

Pache, Profit and Delight, S. 1 3 7 , formuliert z u Recht: »Den modernen Leser mögen die >Serious Reflections< wie eine heterogene und ungenügend durchgeformte Materialsammlung anmuten. Dennoch stehen die drei Teile nicht beziehungslos nebeneinander. Sie lassen sich vielmehr als Versuch einer universalen Weltdarstellung auf verschiedenen Stufen der Abstraktion begreifen. Voraussetzung für eine solche Betrachtungsweise ist allerdings der Verzicht auf die A n w e n d u n g der erst in späterer Zeit ausgeformten Maßstabe des realistischen Romans.«

72

N a c h Pilgrim, Z u Defoes Weltverständnis, S. 5 2 5 , sind die >Serious Reflections< »eine A r t Kommentar zu den ersten beiden Teilen, in dem sich D e f o e zusammenhängend und allgemein über religiöse, wirtschaftliche und politische Fragen äußert.«

125

theologischen Schultradition 7 ' ab. >Robinson Crusoe< wird nicht müde, die Begrenzung seiner Erkenntnisabsicht zu betonen: die Providenz soll lediglich in ihrer Bedeutung für die innerweltlich-soziale Handlungspraxis des Menschen, den »human conduct«, untersucht werden, während alle metaphysischen Spekulationen über das Wesen und die Attribute Gottes ausgeschlossen bleiben.74 Solche gelehrsamen Dissertationen sind das Anliegen von »critical annotators«, die sich in den eitlen »formalities of the schoolmen« gefallen und vergeblich versuchen, das göttliche Handeln in »specific distinctions« zu zergliedern. Der Autor läßt keinen Zweifel an seiner Geringschätzung scholastischer Begriffsartistik und setzt gegen sie den moderaten Charakter der »short description I shall give« (179): seine eigene Schrift thematisiere die Providenz nur, insofern sie »influences, governs and directs [ . . . ] all things which concern us in the world« (ebd.). Diese ausdrückliche Begrenzung ist in doppelter Hinsicht wichtig: Einerseits nämlich gibt der Autor zu erkennen, daß er sich der Prominenz seines Gegenstandes bewußt ist; er weiß, daß er sich mit der Frage nach der Providenz auf ein klassisches Problemfeld der metaphysischen Schultradition begibt, auf ein Gebiet überdies, das auch auf die theologischen Gelehrten seiner eigenen Gegenwart eine ungebrochene Anziehung ausübt. Zugleich jedoch - und im Gegenzug zu solchem Kontinuitätsbewußtsein - läßt er keinen Zweifel daran, daß er nicht gesonnen ist, sich den eigenen Zugang zum Thema durch die Autorität der Tradition und ihrer Denkvorgaben verstellen zu lassen. Im Gegenteil: die als nominalistisches Spiel mit leeren Worten karikierte theologische Providenz-Dogmatik wird eigens in Erinnerung gerufen, um desto ausdrücklicher ad acta gelegt zu werden; die Ehre einer Uberprüfung ihrer immanenten Logik oder wenigstens einer schrittweisen Widerlegung ihrer Argumente wird ihr nicht zuteil, es dominiert der Gestus ostentativer Verachtung und Verdrängung. Diese Verweigerung einer kritischen Prüfung der Tradition im Unterlaufen ihres metaphysischen Erkenntnisanspruchs erweckt den Eindruck gewollter Diskontinuität. An die Stelle von Traditionskritik als Emendation falscher oder unzulänglicher Begriffe tritt die Abkehr von metaphysischer Spekulation überhaupt und als solcher, und zwar bezeichnenderweise mit einem pragmatischen, quasi »denkökonomischen« Argument: 73 Dazu ausführlich Hunter, The Reluctant Pilgrim, bes. Kap. 2-5 sowie Mackiewicz, Providenz und Adaptation, S. 34—69. 74 Vgl. L V P , S . 179 f., 1 8 1 , 2 0 0 .

126

der in die Metaphysik investierte Denkaufwand stehe in keinem sinnvollen Verhältnis zu ihrem schmalen Ertrag, gemessen an ihrer Fähigkeit, in der alltäglichen Lebenspraxis zu orientieren. Gerade hier jedoch sieht »Robinson Crusoe< die Stärke seiner eigenen Methode, der Beschränkung auf Erfahrung (experience) und Beobachtung (own

observation).7'

Es liegt auf der Hand, daß Defoes pragmatischer Reduktionismus den Konsistenzerfordernissen

einer

philosophischen

Abhandlung

nicht

genügt, daß er insbesondere den Maßstäben der geschmähten »schoolmen«, »divines« und »critical annotators« alles schuldig bleibt. N i c h t nur ist das am Beginn des Aufsatzes eingeführte erkenntnistheoretische Axiom, der menschlichen Vernunft seien, in einer A r t von göttlich veranlaßter

prästabilierter

Harmonie

von

Erkenntnissubjekt

und

Erkenntnisobjekt, nur solche Probleme aufgegeben, zu deren Lösung sie auch befähigt sei, während unbeantwortbare Fragen sich ihr gar nicht erst stellten,76 ein unbegründetes dogmatisches Postulat, dessen naiver Optimismus schon allein durch die Aporien im Argumentationsverlauf der eigenen Abhandlung Lügen gestraft wird; nicht nur bleibt die suggestive und persuasive Strategie der >Serious ReflectionsRobinson Crusoe< in seinem Essay durchgängig treu, und das wird gerade dort am deutlichsten, w o seine eigenen Überlegungen an klassische Grenz- und Abschlußprobleme der ProvidenzMetaphysik (wie das Verhältnis von individueller Freiheit und providentieller Allmacht oder das damit verwandte Theodizeeproblem) rühren. Wiederholt brechen die Ausführungen an solchen neuralgischen Punkten unvermittelt ab, sei es, »to avoid needless distinctions« (i88), sei es, weil deren Erörterung nichts zum a priori beschnittenen Thema beitrage. Natürlich ist diese Position denkgeschichtlich keineswegs so voraussetzungslos, wie Defoe (aus Gründen der Rollenfiktion?) glauben machen will. Sie wurzelt in Errungenschaften des englischen Empirismus, aus dessen Einfluß sich wesentliche Elemente von Defoes Denken erklären, dem Novak (Defoe and the Nature of Man, S. ζ) »a certain eclectic originality« zuspricht. Der Einfluß vor allem John Lockes ist in der DefoeForschung seit langem betont worden, vgl. Stamm (Der aufgeklärte Puritanismus, S. 22 f. und S. 31 : »In einzelnen Forderungen ging der Philosoph dem Presbyterianer zu weit; aber die hinter Lockes Werk stehende Grundstimmung war seine eigene«) und Novak, ebd. - Es ist jedoch bezeichnend für Defoes Taktik und Stil, daß er sich auf solche Gewährsleute in seinem Essay nicht beruft, sondern die Voraussetzungslosigkeit einer >common sense«-Argumentation zu suggerieren sucht. 76 »The case is better with us than it was with Adam. We have not the tree of knowledge first planted in our view, as it were tempting us with its beauty, and within our reach, and then a prohibition upon pain of death; but blessed be God, we may eat of all the trees in the garden, and all those of which we are not allowed to take are placed both out of our sight and out of our reach.« LVP, S. 177. Genau entgegengesetzt bekanntlich Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede, A VII.

127

heitskriterium, 77 das sich der inhaltlichen Auseinandersetzung mit gravierenden Einwänden durch den Hinweis auf die Ernsthaftigkeit und Frömmigkeit der eigenen >exposition< entziehen zu können meint, hält der Prüfung nicht stand. - Solche gedanklichen Unzulänglichkeiten, der Mangel an intellektueller Stringenz und die rhapsodische Durchführung des Themas dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich aus >Robinson Crusoes< Erörterungen wichtige Aufschlüsse nicht nur für das Verständnis des Romans, sondern auch für epochale Umbrüche der Providenz-Theologie insgesamt gewinnen lassen. Denn ein nur immanenter Nachweis der Schwächen und Verkürzungen in den >Serious Reflections< bleibt auf halbem Wege stehen, wenn es der Kritik nicht zugleich gelingt, den Symptomcharakter dieser diskontinuierlichen Reflexionsstruktur zu erfassen und zu zeigen, wie unter der brüchigen Oberfläche von Defoes Syllogismen der Strom einer geschichtlichen Säkularisierungstendenz sich Bahn bricht. Nicht umsonst hat sich in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre78 die Einsicht durchgesetzt, daß die Logik historischer Umbruchsituationen und Krisen nicht notwendig, ja nicht einmal vorrangig dem linearen Prozeßmodell »bestimmter Negation« oder expliziter Falsifizierung des >Alten< durch das >Neue< folgt, und ebensowenig wird für komplexe Verläufe der Ideenevolution,79 für wissenschaftliche Revolutionen oder literarhistorische Paradigmenwechsel anzunehmen sein, daß nur anspruchsvollere Gedankensysteme in der Lage seien, weniger komplexe Denkgebäude zu integrieren und in sich »aufzuheben«. Entgegen solcher idealistischen Verlaufslogik und dem von ihr hypostasierten linearen Verlaufssinn von Geschichte als Steigerung ist gerade der evolutionäre Sinn auch historischer Diskontinuität, von Suspensionen und Traditionsbrüchen, »Vergleichgültigung« oder wie im vorliegenden Fall - von radikaler Vereinfachung in Betracht zu ziehen. Denn sowenig zu bestreiten ist, daß Defoes Umgang mit der Tradition der theologischen Metaphysik hinter deren internem Differenzierungsgrad weit (und eingestandenermaßen) zurückbleibt und wesent-

77

Z u Parallelen in D e f o e s Fiktionstheorie vgl. N o v a k , Defoe's T h e o r y of Fiction, S. 662 f.

7s

Grundlegend:

Thomas

S.

Kuhn:

Die

Struktur

wissenschaftlicher

Revolutionen,

F r a n k f . / M . 1 9 7 3 (amerik. Original 1962); s. ferner die einschlägigen Diskussionsbeiträge in dem Band: Historische Prozesse, hg. von K a r l - G e o r g Faber und Christian Meier, München 1 9 7 8 ( = Theorie der Geschichte. 2). 79

D a z u grundsätzlich: Niklas L u h m a n n : Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. In ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik, op. cit., B d . I, S. 9 - 7 1 .

128

lichen Problemen einfach ausweicht, sosehr ist andererseits zu vermuten, daß gerade im Gestus dilettantischer Simplifizierung, im Abwerfen spekulativer Gewichte und im entschiedenen Riickschnitt der Providenz-Thematik auf die Dimension empirischer Beobachtung und alltäglicher Lebenspraxis ein Erfolgskriterium der neuen, zeitgemäßeren Anschauung zu suchen ist. -

Diese Hypothese gilt es durch eine

Darlegung der zentralen Argumente von Defoes Abhandlung zu bekräftigen. Der Interpretation fällt es dabei zu, die konstruktiven Partien des Essays zu beleuchten, ihren gedanklichen Kern und ihre historisch fortwirkenden Konturen nachzuzeichnen und zu verdeutlichen, welcher Sinn und welche Funktion der Providenz in Defoes drastisch zurückgeschnittenem Konzept verbleiben.

1.2.2 Die theoretischen Leitmotive: Physikotheologie, Anthropozentrismus, order Das Bewußtsein geschichtlichen Wandels, das >Robinson Crusoes< Polemik gegen Schulphilosophie und orthodoxe Theologie zugrundeliegt, durchzieht auch seine eigene Neukonzeption der Providenz. Z u deren Grundüberzeugungen gehört die Auffassung, die Offenbarungsweisen des göttlichen Willens hätten sich seit biblischer Zeit verändert, und zwar im Sinne einer Begradigung (>straighteningQuerelle des Anciens et des Modernes< - die Autonomie, ja die Superiorität einer aufgeklärten Moderne gegenüber den Epochen biblischer Uberlieferung; sie führt zugleich zu einer revidierten Standortbestimmung des Menschen in diesem rationalen Weltkörper und damit, besonders folgenreich, zu einer Neufassung aller Aspekte individueller und kollektiver Lebenspraxis. 81 Zur Begründung seiner Auffassung beruft sich Defoe auf »the two grand principles upon which all religion depends« (177): die Annahme eines allmächtigen Schöpfergottes als »first great moving cause of all things« und die permanente Oberaufsicht dieses Schöpfers über sein Werk. Diese Axiome werden in zwei weiteren (in unserem Zusammenhang entscheidenden) »propositions« genauer entfaltet, welche besagen: ι . T h a t this e t e r n a l G o d g u i d e s b y H i s p r o v i d e n c e the w h o l e w o r l d , w h i c h h e has created b y H i s p o w e r . 2 . T h a t this P r o v i d e n c e m a n i f e s t s a p a r t i c u l a r c a r e o v e r a n d c o n c e r n in t h e g o v e r n i n g a n d d i r e c t i n g m a n , the b e s t a n d last c r e a t e d c r e a t u r e o n e a r t h . (178)

80

Ü b e r Defoes N ä h e zum zeitgenössischen Deismus s. Stamm, D e r aufgeklärte Puritanismus; zur hier sich auswirkenden »généralisation du paradigme newtonien« vgl. G u s d o r f , L e s principes de la pensée, bes. S. 1 8 0 - 2 1 3 .

81

In D e f o e s Fall geht die Tendenz zur Rationalisierung des Weltbildes allerdings mit einem regen Interesse für Phänomene des Okkulten und Ubernatürlichen einher; vgl. R o d n e y M . Baine: Daniel D e f o e and the Supernatural, Athens 1968 und ders.: D e f o e and the Angels, Texas Studies in Literature and Language 9, 1 9 6 7 , S. 3 4 5 - 3 6 9 .

130

Beide Setzungen sind gleich gewichtig; sie stützen sich wechselseitig und bringen in ihrer argumentativen Entfaltung alle wesentlichen Lehren der Theorie aus sich hervor. Der erste Satz, vorgestellt als eine Aussage der »natural religion«, betrifft das Verhältnis von Gott und »the whole world«, d.h. der universitas rerum als eines durch göttliche Weisheit geschaffenen (»created by His power«) und in seinem Fortbestand dauerhaft gesicherten (»guides by His providence«) kausalen Ordnungsgefüges, bezüglich dessen »Providence decrees that events shall attend upon causes in a direct chain, and by an evident necessity« (182). Der göttliche Maschinist selbst garantiert das reibungslose Funktionieren seines mechanischen Kunstwerks, denn es wäre paradox, wenn er die Welt nur erschaffen hätte, um sie dann zunehmender Unordnung zu überlassen: It would be absurd to conceive of G o d exerting infinite power to create a world, and not concerning His wisdom, which is His providence, in guiding the operations of Nature, so as to preserve the order of His creation, and the obedience and subordination of consequences and causes throughout the course of that nature, which is in part the inferior life of that creation. ( i 7 8 f . )

Es ist dieser (hier besonders in seinem Naturaspekt hervorgehobene) We/ibegriff, auf dem Defoes empiristische Wendung der Vorsehungsidee basiert: w o die Schöpfung selbst das deutlichste Signum ihres Schöpfers ist, da wird metaphysische Spekulation über G o t t und seine verborgenen Motive zur nutzlosen Beschäftigung »with things which we cannot fully comprehend, such as the w h y , to what end, and the how, in what manner it [i. e. Providence, WF] acts so and so« (200). Der einzig verläßliche Erkenntnisweg ist, als »irdisches Vergnügen in Gott«, der induktive Schluß aus den »immediate actions of divine Providence« (200) in ihren Werken, 82 also der Rekurs auf die erfahrungsweltliche »experience of every man living« (198) als erkenntnistheoretische »rule, where their own observation is to be the judge« (196). Der andere tragende Pfeiler der Theorie ist ihr in der zweiten Proposition vorgetragener Subjektsbtgrúí, der zugleich auf den Sozialaspekt der

82

N o v a k , D e f o e and the Nature of Man, S. 6, formuliert: »Defoe's Providence w o r k s entirely through nature and is often indistinguishable from nature. A l t h o u g h he drew a firm distinction between his o w n theory of G o d as Nature Naturing and the pantheist's Nature Natured, Defoe's decision to seek G o d in natural causes results in almost the same view of the phenomenal world.« - Z u gleichgerichteten Denkströmungen der Epoche vgl. den informativen Uberblick bei W o l f g a n g Philipp: Physicotheology in the age of Enlightenment: appearance and history, in: Studies on Voltaire and the eighteenth century, vol. L V I I , 1967, S. 1233-1267.

131

Schöpfung verweist: »revealed religion« lehrt die Sonderstellung des Menschen im Kosmos und »the goodness of Providence, in that it is, as I say, particularly employed for the advantage of mankind« (180): For him [i. e. man, WF] the peace of the creation is preserved, the climates made habitable, the creatures subjected and made nourishing, all vegetative life made medicinal; so that indeed the whole creation seems to be entailed upon him as an inheritance, and given to him for a possession, subjected to his authority, and governed by him as a viceroy to the King of all the earth; the management of it is given to him as tenant to the great Proprietor, who is Lord of the manor, or Landlord of the soil. (179)

Der Mensch als Vizekönig des Weltmonarchen, als Verwalter oder Bevollmächtigter des göttlichen Großgrundbesitzers, als Universalerbe der Schöpfung und als ihr »Geschäftsführer«: in dieser soziologischen Metaphorik eines hierarchisch gestuften Herrschaftsverhältnisses findet der Anthropozentrismus von Defoes Weltkonzeption seinen Ausdruck. Erst menschliche Praxis überführt die unendliche Potentialität der Schöpfung in die Aktualität ihrer Bestimmung: Landstriche sind klimatisch »habitable«, der Mensch nimmt sie zu seiner Wohnung; Tiere sind »nourishing«, der Mensch verspeist sie; Pflanzen haben Heilkraft, der Mensch macht sie sich zunutze. Die Inthronisation der instrumentellen Vernunft und das freie Verfügungsrecht (unter Titeln wie »authority«, »possession«, »government«, »management«) des homo oeconomicus über die Natur als Substrat seiner Tätigkeit finden ihre alleinige Begrenzung in der Maßgabe, sich an die durch göttliches Dekret gesetzten Regeln zu halten, und das heißt: sich der Vernunftordnung >Welt< nicht anders als auf »vernünftige« Weise, ihrer Sachgesamtheit nur »sachgemäß« zu bemächtigen, um das komplizierte Gesamtgefüge nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aus beiden Propositionen, dem kausalmechanischen Weltbegriff und der anthropozentrischen Schöpfungskonzeption, folgt übereinstimmend die Pflicht und das Interesse der Menschen, auf die Stimme der Vorsehung zu hören: B y listening to the voice of Providence, I mean to study its meaning in every circumstance of life, in every event; to learn to understand the end and design of Providence in everything that happens, what is the design of Providence in it respecting ourselves, and what our duty to do upon the particular occasion that offers. ( 1 8 i f . )

132

Da die Schöpfung, zu deren Beherrschung der Mensch autorisiert ist, einem kohärenten providentiellen Plan (»end«, »design«) folgt und in sich einen rationalen Gesetzeszusammenhang konstituiert, muß es Ziel der menschlichen Akteure sein, in den Besitz möglichst umfassender Weltkenntnis zu gelangen, weil sich nur durch Regelbeherrschung zuverlässig und erfolgversprechend handeln läßt. So erklärt sich der zentrale Stellenwert von Kategorien wie >Beobachtung< und >Erfahrung< und eines induktiven Lernverfahrens in Defoes Theorie: The dispositions of Heaven to approve or condemn our actions are, many of them, discovered by observation; and it is easy to k n o w when that hand of Providence opens the door for, or shuts it against, our measures, if w e will bring causes together, and compare former things with present, making our judgment b y the ordinary rules of Heaven's dealing with men. ( i 8 7 f . )

In einer quasi-statistischen Reflexion eignet sich demnach das menschliche Bewußtsein trotz seiner begrenzten Einsicht und trotz seiner Unfähigkeit zur spekulativen Nachkonstruktion der Motive Gottes - »we are short-sighted creatures at best, and can see but a little way before us« (188) - ein Erfahrungswissen über die »ordinary rules of Heaven's dealing with men«, d. h. über die von der Vorsehung üblicherweise beförderten oder vereitelten Formen und Ziele menschlicher Lebenspraxis, an. Dieses induktive Analogie- und Schlußverfahren mit den Mitteln der Beobachtung, der Ermittlung von Gründen (»bring causes together«) und des Vergleichs aktueller mit früheren Situationen (»compare former things with present«) versetzt den »wise man« in die Lage, aus vergangenen Lebenskonstellationen zu lernen, also wahrscheinliche Aussagen auch über den Zukunftserfolg von Handlungen zu treffen und damit sein individuelles Existenz- und Handlungsrisiko zu vermindern.83 Ihren argumentativen und normativen Konvergenzpunkt finden Defoes unsystematische Ausführungen zum Providenz-Problem im Begriff der >OrdnungFortune and Chance are heathen terms. F o r if all success is blessing from G o d , and calamity and adversity are his curse, there is no place left in human affairs for Fortune and Chance.< If any of D e f o e ' s fictional characters fall into difficulties, D e f o e will present a variety of natural causes to explain the situation, but the final cause is G o d . «



Ein konsequenter Determinismus bedürfte, wie D e f o e ausführt, keiner moralischen Ermahnungen mehr, aber er ließe sich mit der Erfahrung (»experience of every man

136

orientierten angelsächsischen Forschung zuweilen überbewertet erscheinen, läuft dieses Konzept nach seiner Sozialfunktion darauf hinaus, den Zwang zur permanenten Selbstreflexion und Selbstkontrolle in einer rationalen Welt zu unterstreichen und in einem kritikenthobenen Absolutum der Reflexion zu verankern: It is in vain for me to run into a collection of stories; for example, where the variety is infinite, and things vary as every particular man's circumstances vary; but as every event in the world is managed by the superintendency of Providence, so every providence has in it something instructing, something that calls upon us to look up, or look out, or look in. (205 f.) 9 '

Die Angleichung von Providenz und natural-sozialer Ordnung vermag schließlich auch die heftigen Ausfälle zu erklären, mit denen sich >Robinson Crusoe< am Schluß seines Aufsatzes gegen die Attribution welthaften Geschehens an die »mock goddess« (203) des Glücks, an den Teufel oder sonstige »embryos of the fancy« (203) verwahrt: Mit äußerster Schärfe und in sich überbietenden polemischen Tiraden»2 wird das ganze Arsenal paganer wie christlicher Gegeninstanzen zur Providenz dem Orkus überantwortet: With what face can any man say, this was as the d e v i l would have it, or as b a d l u c k would have it, or it h a p p e n e d , or c h a n c e d , or f e l l o u t ? all which are our s i m p l e a n d e m p t y w a y s o f t a l k i n g of things that are ordered b y the immediate hand or direction of G o d ' s providence. (204) 9 3

Unverkennbar schlägt in diesen Invektiven mit ihrer forcierten Metaphorik psychisch-mentaler Zerrüttung?1· neben puritanischer Empörung über jene »poor blind fellows« und »wicked thoughtless natures« (204), die, »robbing Heaven of the honour due to it« (202), der Providenz die schuldige Achtung verweigern, die Furcht durch vor anarchischen Negationen des universalen Ordnungsgefüges aus dem Horizont blinder, durch kein Prinzip gebändigter Kontingenz und vor Auflösungen des vernünftigen, in seiner Konstitution begreifbaren Gesellschaftskörliving«) nicht vereinbaren und widerspräche nicht nur menschlicher, sondern ebenso göttlicher Freiheit; vgl. LVP, S. 198. 9' Man beachte die Triplizität der Hinsichten: »to look up« bezeichnet den theologischen, »to look out« den extravertiert-sozialen, »to look in« den introvertiert-psychologischen Aspekt eines bewußt und kontrolliert geführten Lebens. f 2 Vgl. etwa L V P , S. 202 f. 93 Hervorh. von mir, WF. 94 Der Glaube an Zufall, Fortuna oder ein paganes Fatum ist »the most ungrateful piece of folly, or to speak more properly, the maddest and most foolish piece of ingratitude« (203), die Bereitschaft, sich durch »embryos of the fancy« (205) narren zu lassen. J

37

pers in eine Folge inkohärenter Zufallsakte ohne absichernde Garantien, Kontrollen und Sanktionen des individuellen Handelns. 1.3

Exkommunikation und Reintegration. Die teleologische Bewegung des >Robinson Crusoe
Robinson Crusoe< um diesen anthropologisch-psychologischen Aspekt der i n n e r e n Naturbeherrschung ergänzen, um die geschlossene Weltbildversion des Romans richtig würdigen zu können: Es ist zuallererst seine Unfähigkeit, unter vorteilhaftesten äußeren Bedingungen den eigenen status naturalis zu überwinden und »der Suprematie des planvollen Wollens zu unterwerfen«, 100 die den mittelständischen Dissidenten gefährdet und die »variety« seiner »Strange surprising adventures« heraufbeschwört. Deren unvorhersehbare Folge ist zugleich Spiegelung und Konsequenz von Robinsons unklarem Selbstverhältnis, denn gerade in einer durch göttliche Rationalität konstruierten, von >natural laws< und einem festen sozialen Regelsystem regierten Welt läßt sich - das war die Prämisse von Defoes Providenztheorie - weltgemäß, d. h. mit Aussicht auf Erfolg, nur handeln, wenn auch im Verhältnis der Individuen zu sich selbst die vernünftigen Persönlichkeitsanteile die Oberhand behalten gegenüber der Kon-

>miserable condition« but not the cause. Providence had simply not seen fit to favor him with >confined desires< and he therefore could not be content to remain in his >stationComplete English Tradesman«. A l s Hauptgefahren erfolgreichen Unternehmertums gelten, neben dem Verlust der Selbstkontrolle, »projects and adventures, and especially such as promise mountains of profit, and are therefore the more likely to ensnare the avaricious tradesman« (ebd., S. 66). Wiederum dominiert die »konservative« Sicherheitskomponente!

IO

S D a z u Barth, Prudence, bes. S. 1 4 6 f f . ; vgl. >The Complete English Tradesman«, bes. Kap. V ( » O f diligence and application in business«, S. 3 1 ff.).

106 pu,.

e

¡ n e n Uberblick siehe N o v a k , Economics, K a p . 1 (»Defoe the Mercantilist«),

S. 1 - 3 1 . 10

7 V g l . >The C o m p l e t e English Tradesman«, Kap. V I ( » O f over-trading«), S. 3 6 ff.

142

turers«,108 die, »vain of their strength«10? und getrieben von einem »rash and immoderate desire of rising faster than the nature of the thing admitted« (30), ihre eigenen Kräfte über- und »the contingent nature of trade« 110 unterschätzen, um im vorhersehbaren Bankrott zu enden. 11 ' 1.3.2 Crusoes Konversion. Zur Logik der Anpassung in der Inselepisode Crusoe, der Rebell, muß sich bis zum extremen Gegenpol von seiner englischen Heimat entfernen, um ihrer zivilisatorischen Rationalität auf die Spur zu kommen und sich ihr zu unterwerfen. Die karibische Insel, auf die es den von innerer Unruhe und kontingenten Leidenschaften Umgetriebenen während der Seereise von Brasilien nach Afrika verschlägt, stellt als exotisches Eiland im vorzivilisatorischen Naturzustand gerade in ihrer üppigen, unbeschnitten wuchernden Vegetabilität das äußerste Gegenbild zur entwickelten, rational geordneten und ausdifferenzierten Gesellschaftsordnung Englands dar. Ganz im Sinn von Defoes anthropozentrischer Schöpfungsteleologie ist Robinsons Insel reine, unerfüllte Potentialität, >nature< in Erwartung ihres >maître et possesseur«. Im ersten Büchsenschuß des Schiffbrüchigen - »I believe it was the first gun that had been fir'd there since the creation of the world« (41) - manifestiert sich symbolisch das Ende der Naturgeschichte durch den verwandelnden Eingriff menschlicher Technik. Von diesem Ereignis an vollzieht sich ein Prozeß wechselseitiger Anpassung von Held und Milieu: Um in der Einsamkeit zu überleben, muß Robinson die Wildnis

108

»All rash adventures are condemned by the prudent part of mankind; but it is as hard to restrain youth in trade as it is in any other thing where the advantage stands in v i e w , and the danger out of sight.« E b d . , S. 36.

'°9 110

Ebd. E b d . , Kap. X I V , S. 1 1 8 . - In diesem Zusammenhang ist die dezidiert ökonomische V e r w e n d u n g traditioneller Fortuna-Topoi bemerkenswert: »If then the contingent nature of trade renders every tradesman liable to disaster, it seems strange that tradesmen should be unmerciful to each other w h e n they fall. [ . . . ] A n d yet, speaking in the ordinary language of men w h o are subject to vicissitudes of fortune, where is the man that is sure he shall meet with no shock? A n d h o w have w e seen men, w h o have to-day been immensely rich, be t o - m o r r o w , as it were, reduced to nothing?« (Ebd.).

111

»But as abus'd prosperity is oftentimes made the very means of our greatest adversity, so was it with me. [ . . . ] and n o w increasing in business and in wealth, m y head began to be full of projects and undertakings beyond m y reach; such as are indeed often the ruine of the best heads in business.« ( R C , S. 29 f.). - Die schlüssigste Interpretation des Romans unter ökonomischen Vorzeichen gibt N o v a k , E c o n o m i c s , bes. Kap. 3 ( » T h e economic meaning of >Robinson CrusoeRobinson Crusoe< über das gesamte übrige Romanwerk des Autors hinaushebt) hat hier ihren O r t : in der außerordentlichen Meisterschaft, mit der ein prosaisch-nüchterner Protokollstil ohne jeglichen rhetorisch-metaphorischen Ornatus und unter vollständigem Verzicht Daher kann Richetti, Defoe's Narratives, S. 50, mit Recht formulieren: »Crusoe's entire career on the island as a bringer of order is, by extension, a taming of his externalized self.« " 3 So auch N o v a k , Economics, S. 38. " 4 Providenz u n d Adaptation, op. cit. (wie A n m . 53). 112

144

auf »ästhetische« Überhöhung, dafür jedoch in größtmöglicher Präzision und Anschaulichkeit die Konversion des Helden nicht allein postuliert, sondern sinnfällig-konkret, in höchster empirischer und rationaler Evidenz vorstellt. Die über viele Stationen laufenden Kausalketten, die Zweck-Mittel-Relationen, die akribischen Inventarisierungen von Realien in Robinsons Bericht über seine sukzessive Inbesitznahme der Insel werden zum unmittelbaren Ausdruck eines (implizit philosophischen) Modus praktischer Weltaneignung: Defoes Stil ist das zwingende narrative Komplement seiner utilitaristisch-ökonomischen Rationalitätsideologie, das adäquate literarische Medium einer empiristischen Logik der wirklichen Dinge. Zweckmäßigkeit und gesetzmäßiger order sind die höchsten ontologischen Kriterien der Romanwelt; die prosaische Schönheit des Zweckmäßigen ist zugleich das erzählästhetische Programm des Romans selbst. Sich auf der Insel einrichtend, wächst Crusoe in die universell gültigen Verhaltensnormen zivilisatorischer Rationalität hinein, um sie später weiterzuvermitteln: an Friday, den guten Wilden, und an die englischen Meuterer, seine Nachfolger, Ausgestoßene der bürgerlichen Gesellschaft wie einst er selbst. Neben harter physischer Arbeit ist es seine erst unter nacktem Uberlebenszwang sich ausbildende Fähigkeit zur Anpassung zur Beobachtung der neuen Umgebung und ihrer inhärenten >natural lawsRobinson Crusoe< in ein Sukzessionsverhältnis um. Die Providenz entkräftet rationale menschliche Praxis nicht, sondern sie ermöglicht und begünstigt sie. Mit vollem Recht kann Mackiewicz daher formulieren, im >Robinson Crusoe< werde die »Vorsehung selbst in den Dienst säkularer Klugheit genommen«,"3* gewönnen religiös interpretierte Ereignisse »auf der pragmatischen Ebene die Funktion von Katalysatoren für außerordentliche autonom-menschliche Adaptationsleistungen«.13 5 Selbst die Eingriffe der spedai Providence, ja sie in ganz besonderem Maße, sind von diesem Umdeutungsprozeß betroffen. Wo in den puritanischen >sea deliverances< des 17. Jahrhunderts die Intervention Gottes den Subjekten passiv widerfuhr und ihre Ohnmacht und Heteronomie unterstrich,'3' da arbeiten die providentiell interpretierten Hilfen im >Robinson Crusoe< dem aktiven Eigenhandeln des Subjekts nur vor. Die Vorsehung treibt das Wrack des Schiffes in die Nähe von Robinsons Küste:' 37 so gelangt der Held, der das Angebot versteht und nützt, unter großen eigenen Anstrengungen an die Werkzeuge, die sein künftiges

3 Vgl. Stamm, Der aufgeklärte Puritanismus, S. 22f.; Novak, Defoe and the Nature of Man, Kap. I, S. 1 - 2 : . •33 Vgl. Mackiewicz, Providenz und Adaptation, Kap. I (»Die Providenz-Vorstellung im englischen Protestantismus des 17. Jahrhunderts«), S. 34-69, bes. S. 49Íf. •34 Ebd., S. 271. •35 Ebd., S. 275. •3« Ebd., S. 55-69. •37 RC, S. 37. J 2

!5I

Überleben ermöglichen. Aber die Werkzeuge selbst sind reine Potentialität, nützlich nur dem, der sie handhabt, ihnen durch sinnvollen Gebrauch ihre Aktualität verschafft. Noch aufschlußreicher ist die berühmte Episode von den Gerstenkörnern, 1 ' 8 die sogar über mehrere Stufen zu der neuen Sichtweise hinführt: Das überraschende Aufkeimen einiger Getreidehalme »in a climate which I know was not proper for com« hält Crusoe zunächst für ein zu seinen Gunsten veranstaltetes, die Naturgesetze außer Geltung setzendes göttliches Wunder; er nimmt an, »that God had miraculously caus'd this grain to grow without any help of seed sown«. Als sich der Irrtum herausstellt - es handelt sich keineswegs um »such a prodigy of nature [ . . . ] upon my account«, sondern der Vorfall hat natürliche Ursachen: Crusoe selbst hat an der Stelle einen Beutel mit Hühnerfutter ausgeschüttet, und die Saat ist aufgegangen - , schwindet die Dankbarkeit dahin: [ . . . ] the wonder began to cease; and I must confess, m y religious thankfulness to G o d ' s providence began to abate too, upon the discovering that all this was nothing but what was common. (59)

Der zur Einsicht gekommene Erzähler weiß es besser: Die Vorsehung bedarf keiner Wunder, sie braucht die selbstgesetzten natural laws nicht zu suspendieren, wenn sie helfen will, denn sie agiert innerhalb der Naturordnung und bedient sich ihrer. Das Wunderbare des Vorgangs besteht also nicht in seiner Ubernatürlichkeit, sondern in seiner extremen Un Wahrscheinlichkeit; sie fungiert als Indiz einer göttlichen concurrence: [ . . . ] I ought to have been as thankful for so strange and unforseen providence, as if it had been miraculous; for it was really the w o r k of providence as to me, that should order or appoint, that 10 or 1 2 grains of corn should remain unspoil'd (when the rats had destroy'd all the rest) as if it had been dropt from heaven [ . . . ] (59)

Auch hier aber gilt: Die providentielle Intervention bietet keine fertige Lösung, sondern Materialien zu einer Lösung, Hilfe zur Selbsthilfe. Die »10 or 12 grains of corn« sind ein (notwendiges) Anfangskapital, doch bevor es sich auszahlt, vergehen Jahre, in denen Crusoe immer wieder den unmittelbaren Genuß zurückstellen, die Ernte wieder säen, eine Vielzahl anderer Arbeitsleistungen erbringen muß. Was Robinson am Ende dieser langen Kette zweckmäßiger Verrichtungen genießt, sein •J« RC, S. 58f. 152

selbstgebackenes Brot, hat sich weit entfernt von der providentiellen Gabe, ist angereichert um die Arbeitsinvestitionen und die Verzichte des Helden selbst. Robinsons täglich' Brot ist Gottesgabe und Lohn eigener Anstrengung zugleich.

2.

Liebe als Verhängnis. D i e >Histoire du Chevalier des G r i e u x et de M a n o n Lescaut< ( 1 7 3 1 ) des A b b é Prévost

2.1 »Un chef-d'œuvre d'ambiguïté« (Sgard). Die >Histoire du Chevalier des Grieux< als Paradigma ambivalenten Erzählens Die >Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut< des Abbé Antoine-François Prévost d'Exilés 1 " steht Defoes erstem Roman nicht nur zeitlich nah: zwölf Jahre nach dem >Robinson CrusoeMémoires et Aventures d'un homme de qualité< erschienen, mit diesem umfangreichen Fortsetzungsroman freilich in keinem zwingenden Zusammenhang stehend, erzählt Prévosts unbestrittenes Meisterwerk die Begebenheiten eines ungleichen Liebespaares, dessen Geschichte sich nach zahlreichen Indizien 140 auf die Jahre 1719/1720 datieren läßt, also genau auf den Entstehungszeitraum des >Robinson CrusoeMLManon LescautHistoire du Chevalier des Grieux< verfolgen das doppelte Ziel, die relative Nähe und die spezifische Differenz beider Romane hinsichtlich dieser systematischen Leitfragen zu erhellen; dabei wird sich eine gegenüber den Ausführungen zu Defoe noch nuancierte Einsicht in Möglichkeitsspielräume und Problemhorizonte teleologischen Erzählens im ersten Drittel des 18.Jahrhunderts eröffnen. Das exegetische Interesse so zu formulieren, bedeutet im Fall von Prévosts Roman auch bereits, eine interpretatorische Vorentscheidung zu treffen, die schon deshalb nicht als selbstverständlich gelten kann, weil sie dem Hauptstrom der rezeptionsgeschichtlichen Tradition1·'4 entgegenläuft: Unleugbar nämlich hat die Geschichte der beiden ungleichen Liebenden im Bewußtsein nachfolgender Lesergenerationen vor allem durch den sinnlichen Reiz ihrer weiblichen Hauptfigur gewirkt, 14 ' durch den erotischen Nimbus und die Verführungskraft einer unschuldig-erfahrenen Kindfrau, deren von moralischen Bedenklichkeiten ungezähmte kreatürliche Körperlichkeit und Sensualität an kulturelle Tabus rühren und die sexuelle Phantasie einer männlichen Leserschaft um so stärker affizieren mußte, als die äußerst sparsame Zeichnung der Figur genügend Raum ließ für libidinose Projektionen, imaginäre 14

3 Den möglichen Einfluß Defoes auf Prévost (insbesondere von >Moll Flanders< auf >Manon LescautRobinson Crusoe< erlauben.

146 Vgl, d¡ e glänzenden Bemerkungen von R. Picard in seiner Einleitung zur zitierten Ausgabe (»Signification de >Manon LescautManon< gehuldigt, dessen Schlußstrophe lautet: »Ich halte mich wie das Glück auf seinem Balle,/ Doch werd ich wackelig, wenn ich lange steh./ Stelle mich nicht zu hoch, mein Freund. Ich falle/ Sonst herunter, und du tust dir weh.« (Den Hinweis verdanke ich Ernst Osterkamp.) '49 So auch Erich Köhler: Der Abbé Prévost und seine >Manon LescautimpersonnelHistoire< konstituieren, liegt ein Zeitraum von »près de deux ans« (ML, S. 15). •s8 Sgard, Prévost romancier, S. 29. - Zu den literatur- und ideengeschichtlichen Zusammenhängen vgl. Gusdorf, Naissance de la conscience romantique, op. cit.

159

die durch den Marquis de Renoncour erzählten Rahmenepisoden (die berühmte Eröffnungsszene im Hof der Hôtellerie von Pacy-sur-Eure und das zwei Jahre spätere Wiedersehen mit Des Grieux in Calais) eine Vielzahl positiver Wertungen und Sympathiesignale einbaut, deren emotiv-persuasive, zur Identifikation einladende Appellfunktion offenkundig ist. Es ist eben nicht nur Des Grieux, der Verblendete und sexuell Hörige, dem Manon über den Tod hinaus als »l'idole de mon cœur« (200), als »une créature si charmante« (157), ja als »le plus parfait [ . . . ] ouvrage« (ebd.) des Himmels erscheint, dem abzuschwören über seine Kraft ginge; vielmehr sind auch der Marquis und das einfache Landvolk von Pacy augenblicklich ergriffen von der Schönheit und Hoheit einer Ausnahmeerscheinung, in der sie noch unter dem Auswurf der Gesellschaft, inmitten einer Karrenladung von Pariser Prostituierten, »une personne du premier rang« (12) vermuten, deren beklagenswerter Anblick jedem Fühlenden »du respect et de la pitié« (12) abpressen muß. Nicht anders Des Grieux, an dem der Erzähler trotz der demütigenden Lage alle Züge adeliger Bildung und Haltung wahrnimmt, die ihn dem Fremden sofort gewinnen, ihn diesem mit der unter Gleichrangigen geschuldeten Achtung zu begegnen heißen: »je découvris dans ses yeux, dans sa figure et dans tous ses mouvements, un air si fin et si noble que je me sentis porté naturellement à lui vouloir du bien« (13). Solche frühen Wertungen, die mit der Entlastung der Protagonisten bereits beginnen, bevor über die Gründe ihres Elends, über ihr Vergehen und ihre Schuld noch das Geringste ausgesagt ist, sind nicht nur Mittel einer souveränen erzählerischen Technik der Spannungssteigerung; sie stellen auch ambivalente Signale dar, die darauf hindeuten, die folgende >Histoire< werde sich unter verschiedenen Gesichtspunkten lesen lassen, sie berichte ein Schicksal, wie es dem »caractère ambigu« des Helden entspreche: »un mélange de vertus et de vices, un contraste perpétuel de bons sentiments et d'actions mauvaises« (5). Wenn Renoncour, seine eigene Betroffenheit verallgemeinernd, die Leser in wirkungsästhetischen Empfindsamkeitstopoi auf eine Folge von Abenteuern vorbereitet, »[qui] me parut des plus extraordinaires et des plus touchantes« (14), und wenn Des Grieux am Beginn seiner Beichte die Hoffnung äußert, seine Geständnisse möchten ihm nicht nur moralische Verurteilung und soziale Verachtung eintragen, sondern auch das Verständnis und das Mitgefühl seines Zuhörers — »Je veux vous apprendre, non seulement mes malheurs et mes peines, mais encore mes désordres et mes plus honteuses faiblesses. Je suis sûr qu'en me condamnant, vous ne pourrez pas vous empêcher de me plaindre« (16) - , so ist in beiden Fällen derselbe Sachverhalt, dieselbe

160

grundlegende Ambivalenz der Perspektiven bezeichnet. Der Roman wird ein Geschehen berichten, das sich auf zwei diametral entgegengesetzten Ebenen verstehen und bewerten läßt, gleichsam aus der Sicht der Anklage und der Verteidigung. Der Leser, der die Logik hinter Des Grieux' Schicksal dechiffrieren will, kann sich verschiedener Codes bedienen, und zwar, wohlgemerkt, solcher heterogenen Sicht- und Deutungsweisen, die der Text selbst ihm anbietet: Hält er sich an den Maßstab des durch die gesellschaftlichen Verhaltensnormen oder durch die Dogmen der Religion Gebotenen, so werden die actions mauvaises der Protagonisten, ihre Verstöße gegen Sitte und Gesetz, ihm vor allem relevant erscheinen und sein Urteil bestimmen. Er wird sich dann von den anerkennenden Bemerkungen Renoncours über Des Grieux oder gar von dessen eigenen apologetischen Deutungen unbeeindruckt zeigen und Montesquieus lapidarem Sarkasmus zustimmen: »Le héros est un fripon et l'héroïne une catín.«'59 - Läßt sich der Leser hingegen, wie Erzählperspektive und Sympathiesignale es ihm nahelegen, auf die gewinnenden Charakterzüge und die bons sentiments des Chevalier tatsächlich ein, versucht er sogar, sich in die selbstbezügliche Erlebnisunmittelbarkeit einer so aufrichtigen wie bewußtlosen Liebespassion mitsamt ihrer spezifischen, in den Außenweltbezügen pathologisch getrübten Wahrnehmung einzufühlen, so wird er zu einer wesentlich anderen Lesart gelangen: Des Grieux wird ihm dann weniger als moralisch verurteilenswerter T ä t e r denn als bedauernswertes, von einer verhängnisvollen Leidenschaft stigmatisiertes O p f e r erscheinen, sein Schicksal nicht so sehr als normbestätigendes Scheitern einer antisozialen Revolte, sondern als passiv erlittene Konsequenz fataler Konstellationen, Abhängigkeiten, Zufälle. Noch aufschlußreicher ist es jedoch, diese divergenten, vom Text in stetem Wechsel angebotenen Perspektiven - die Außensicht der raison und die Innensicht des amour passion — zu e i n e r Optik zusammenzuschließen. In diesem Fall tritt eine paradoxe Doppelschichtigkeit des Werkes hervor, die der klassischen Schicksalsformel der Tragödie verblüffend nahekommt: der Vorstellung einer schuldlosen Schuld und ihrer Sühne. Dieser Befund kann nicht völlig überraschen, wenn man bedenkt, daß die Prévost-Forschung in Des Grieux' Diskurs seit langem Stilelemente und Pathosfiguren der Tragödie und insbesondere den

M» Zit. bei Picard, Signification, S . X C I V . Für weitere zeitgenössische Urteile siehe ebd., S. C L V I I - C L X X V I I .

161

Einfluß Racines ausgemacht hat;'60 auch wir werden, wenn wir uns der Schicksalssemantik des Romans näher zuwenden, auf die Spuren eines tragischen Fatalismus stoßen, dessen rhetorischer Pomp seine Herkunft aus der >haute tragédie< nicht verleugnet. Freilich ist die semantische Situation der >Histoire du Chevalier des Grieux< noch um eine entscheidende Stufe komplexer. Die Auslegung darf nämlich nicht außer acht lassen, daß es sich auch bei der Synthese der Codes von passion und raison im Zeichen eines tragischen Schicksalsbegriffs noch immer nicht um die ultima ratio des Werkes schlechthin, sondern abermals um eine werkinterne Perspektive handelt, erzähltechnisch gesprochen: um Figurenrede. Es ist der Ich-Erzähler Des Grieux selbst, der in der Deutung seiner Geschichte auf ein reiches Traditionsrepertoire christlicher, tragischer und fatalistischer Schicksalsformeln zurückgreift, um das Versagen seiner Vernunft im Angesicht seiner Leidenschaft für Manon Lescaut zu erklären und zu entschuldigen. Der Chevalier aber ist alles andere als ein olympisch überparteilicher, er ist vielmehr ein äußerst interessierter und insofern »verdächtiger« Erzähler; daher besteht Anlaß, seine Deutung einer besonders strengen Plausibilitätsprüfung zu unterziehen. Anders formuliert: daß Des Grieux den fundamentalen Konflikt von raison und vertu einerseits und von amour und passion andererseits in den Begriffen eines tragischen Fatums interpretiert, ist nicht bereits die »Lösung« des Romans, sondern selbst noch einmal ein hochgradig interpretationsbedürftiger Sachverhalt. Einer so verwickelten Problemlage können wir uns nur behutsam und in mehreren Schritten nähern. Wir skizzieren daher zuerst die maßgeblichen Codes (und ihre Repräsentanten), deren Antagonismus das semantische Gefüge des Romans bestimmt, und diskutieren sodann Inhalt und Funktion der heterogenen Schicksals- und Providenzbegrifflichkeit, die der autobiographische Erzähler zur Deutung seiner Abenteuer heranzieht.

2.2 Der Konflikt der Normsysteme Wie Robinson Crusoe verletzt Des Grieux durch sein aufsässiges Verhalten geltende Ordnungen und Normen. Diese haben ihre wichtigsten Fürsprecher in den beiden Antipoden des Helden: seinem Vater und dem Freund Tiberge. Während sich bei Defoe der auf starren binären Ii0

Vgl. ebd., S . C X X X .

162

Schematismen basierende Konflikt der Handlung in der einen Opposition von Vater und Sohn vollständig und adäquat ausdrücken ließ, verteilt Prévost die Argumente der Ordnungssemantik auf zwei Antagonistenfiguren mit deutlich unterschiedenem Charakter- und Rollenprofil und erzielt dadurch eine bedeutsame Differenzierung des semantischen Spektrums seiner >HistoireRobinson Crusoebarbarischen< und >denaturierten< Vater. Dieser urteilt in den Augen des Sohnes nach einem abstrakten Standeskodex, nach den »lois arbitraires du rang et de la bienséance« (190) bzw. gemäß seinen »idées fantastiques de l'honneur« (180), aber solche Kriterien verkennen das Wesentlichste: die nur der unmittelbaren, »natürlichen« Gefühlserfahrung zugängliche Authentizität des individuellen Charakters. 16 ' Erst unter den Wilden in Amerika hofft Des Grieux auf eine Gesellschaft zu treffen, die nicht der Herrschaft entfremdender Zwänge wie Rang, Ehre, Stand, Schicklichkeit, sondern allein den »lois de la nature« (180) folgt. Dieses (erkennbar auf Rousseau vorausweisende) antisoziale Pathos naturhafter Gefühlsunmittelbarkeit und ihrer höheren Wahrheit166 wird sich im Roman unter den Lebensbedingungen der Neuen wie der Alten Welt schließlich als Illusion erweisen; aber das hindert nicht, daß von Des Grieux' Code der passion und des sentiment her Licht fällt auf Verhärtungen und Zynismen im herrschenden Code der raison, ihrer Konventionen und Zwänge.167 An die Stelle klar erkennbarer Positivität und Negativität bei Defoe scheint in Prévosts Werk die s Vgl. Köhler, Der Abbé Prévost, S. 164f.: »Prévosts Romane sind Apologien des Gefühls und der Leidenschaft. [ . . . ] Tugend (vertu) hat nicht mehr die Bedeutung des Gehorsams gegenüber einer überpersönlichen Gesetzlichkeit, sondern die eines Befolgens der Gebote des eigenen Herzens, des individuellen Wesens, das sich in seiner Fähigkeit zum Gerührt- und Erschüttertwerden erkennt.« 1 6 6 Siehe Gusdorf, Naissance de la conscience romantique, bes. S. I44ff. 167 Diese Diagnose gilt nicht nur dem Ancien régime in Frankreich; sie trifft ebenso den harten Rechtsstandpunkt des Gouverneurs von New Orleans in der tragischen Schlußepisode des Romans (S. 191 ff.). Die vermeintliche amerikanische Gegenwelt untersteht derselben Zwangslogik wie die französische Gesellschaft: wo Menschen sind, da sind auch Herrschaft und Unterdrückung. l6

166

Reziprozität sich wechselseitig kritisierender Codes zu treten - eine zweifellos diffuse, ja tendenziell aporetische Reflexionsstruktur als Ursache der von Sgard konstatierten Ambiguität des Romans.l6S 2.2.2 Tiberge: Askese, Caritas, bonheur de la vertu Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man die Rolle des Freundes Tiberge betrachtet. Als Vertreter einer streng asketischen Theologie ist dieser milde Charakter während der ganzen Liebesgeschichte präsent: er warnt den Chevalier von Anbeginn an vor den Verführungen der Sinne und der »vanité des biens qui vous ont follement enivré« (65), betreibt unermüdlich die Rückkehr des Gestrauchelten zur Tugend und leiht ihm doch, als hilfloses Opfer der eigenen Hilfsbereitschaft, ein über das andere Mal das notwendige Geld, ohne das Des Grieux seinen lasterhaften Lebenswandel nicht fortsetzen könnte.'6» Am Ende ist es wieder »le bon Tiberge« (59), der dem Verlorenen bis zum Mississippi nachreist, um dort von ihm selbst die versöhnliche Nachricht zu empfangen, »que les semences de vertu qu'il avait jetées autrefois dans mon coeur commençaient à produire des fruits dont il allait être satisfait« (204). In der für ihn kennzeichnenden Mischung aus kompromißloser ethischer Rigorosisät und tätigem Mitleid für den vom »poison du plaisir« (39) korrumpierten Freund ist Tiberge ein Sinnbild christlicher Caritas, bleibt er der »conseiller sage« des Chevalier, sein inkarniertes religiöses Gewissen. Bei so klar geschnittenen Alternativen bedarf es keiner weiteren Belege: der Gegensatz der Codes von volupté und vertu, von Erotik und Religion (bzw. von Liebe als Passion und von Liebe als Agape) im Roman entspricht dem von Max Weber idealtypisch beschriebenen kulturhistorischen Spannungsverhältnis zwischen der erotischen 168 V g l . in diesem Sinne auch das Fazit der Untersuchung v o n Odile A . K o r y : Subjectivity and Sensitivity in the novels of the A b b é Prévost, Paris 1 9 7 2 , die die >Histoire du Chevalier des Grieux< geprägt sieht von einer grundsätzlichen Dichotomie »that makes it difficult to estimate with any real certainty Prévost's stand on moral, intellectual, and literary matters«. Die Intensität des dargestellten Gefühlslebens zwinge den Leser, »to see it as the only possible life for heroes w h o , although despicable if judged b y official standards, appear to be w o r t h y of our pity and even of our admiration«. ( E b d . , S. 1 2 5 ) . 16

9 Diese problematische Komplizenschaft sucht Tiberge mit spitzfindiger Kasuistik z u rechtfertigen: E r finanziert die Ausschweifungen des Freundes nur unter der Bedingung »que vous souffrirez que je fasse du moins mes efforts pour vous ramener à la vertu, que je sais que vous aimez, et dont il n ' y a que la violence de vos passions qui vous écarte« ( M L , S. 60).

167

Variante der Weltablehnung als einer »innerweltlichen Erlösung vom Rationalen« 170 und der »unvermeidlich ebenso radikalen Ablehnung durch jede Art von außer- oder überweltlicher Erlösungsethik, für welche der Triumph des Geistes über den Körper gerade hier sich aufgipfeln sollte und der das Geschlechtsleben geradezu den Charakter der einzigen unausrottbaren Verbindung mit dem Animalischen gewinnen konnte«. 171 Wie Weber zeigt, »mußte im Falle der systematischen Herauspräparierung der Sexualsphäre zu einer hochwertigen, alles rein Animalische der Beziehung verklärend umdeutenden erotischen Sensation« die Spannung gerade dann am schärfsten werden, w e n n die Erlösungsreligiosität den Charakter der Liebesreligiosität: der B r ü derlichkeit und Nächstenliebe, annahm. Gerade deshalb, weil die erotische Beziehung unter den angegebenen Bedingungen den unüberbietbaren G i p f e l der E r f ü l l u n g der Liebesforderung: den direkten D u r c h b r u c h der Seelen von Mensch zu M e n s c h , zu gewähren scheint. A l l e m Sachlichen,

Rationalen,

Allgemeinen so radikal wie möglich entgegengesetzt, gilt die Grenzenlosigkeit der H i n g a b e hier dem einzigartigen Sinn, welchen dies Einzelwesen in seiner Irrationalität für dieses und nur f ü r dieses andere Einzelwesen hat.' 7 2

Die semantischen Folgen im Roman sind die durch Weber beschriebenen: Des Grieux sucht das ihn völlig gefangennehmende Mysterium seiner Sexualgemeinschaft mit Manon »durch geheimnisvolle Bestimmung füreinander: Schicksal« 1 " zu rechtfertigen, aber für seinen theologischen Kontrahenten »ist dies >Schicksal< nichts anderes als der reine Zufall des Entbrennens der Leidenschaft. Die so gestiftete pathologische Besessenheit, Idiosynkrasie und Verschiebung des Augenmaßes und jeder objektiven Gerechtigkeit muß [Tiberge] als die vollendetste Verleugnung aller Bruderliebe und Gottesknechtschaft erscheinen«.174 In der Tat gelten die »faiblesses de l'amour« (43) dem frommen Asketen als »unwürdiger Verlust der Selbstbeherrschung und der Orientierung« 17 ' oder anders: als »Kreaturvergötterung schlimmster Art«.' 76 Auch dieser Kritik gegenüber ist Des Grieux nicht so sprachlos, wie es 170

Vgl. Max Webers berühmte »Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung« aus der Schrift >Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen< (Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie, 7. Aufl., Tübingen 1978, 5 . 2 5 7 - 5 7 3 ) . Das Zitat ebd. S. 560. 171 Ebd. I7Î Ebd. 17 3 Ebd., S. 562. 174 Ebd. •7$ Ebd. 176 Ebd., S. 563.

168

Robinson Crusoe gegenüber den Vernunftgründen seines Vaters notwendig bleiben mußte. Als es in Saint-Lazare zur grundsätzlichen Aussprache kommt, 177 wissen b e i d e Kontrahenten zu argumentieren: Tiberge mit den klassischen Dogmen einer christlichen ZweiweltenMetaphysik und ihren ethischen Derivaten, Des Grieux mit der Skizze einer »religion de l'amour et du plaisir«. 178 Das hedonistische Glück aus Leidenschaft und tendresse, nach dem der Chevalier strebt, ist für Tiberge nur ein »faux bonheur du vice« (90), aber seiner eigenen, auf sinnlichem Verzicht beruhenden Heilsvorstellung eines »bonheur de la vertu« (90) hält Des Grieux ihren ungewissen Postulatcharakter entgegen: [ . . . ] le bonheur que j'espère est proche, et l'autre est éloigné; le mien est de la nature des peines, c'est-à-dire sensible au corps, et l'autre est d'une nature inconnue, qui n'est certaine que par la foi. ( 9 1 )

Allein in diesem provozierenden Vergleich von Sinnenglück und Seelenheil erblickt Tiberge den äußersten Frevel, und er behauptet que, non seulement ce que je venais de dire blessait le bon sens, mais que c'était un malheureux sophisme d'impiété et d'irréligion: car cette comparaison, ajouta-t-il, du terme de vos peines avec celui qui est proposé par la religion, est une idée des plus libertines et des plus monstrueuses. ( 9 1 )

Aber Des Grieux beansprucht für seine sensualistische Position die höhere anthropologische Einsicht: »De la manière dont nous sommes faits, il est certain que notre félicité consiste dans le plaisir« (92); jeder Aufrichtige müsse zugeben »que, de tous les plaisirs, les plus doux sont ceux de l'amour« (92). Die »délices de l'amour« mögen vergänglich und aus religiöser Sicht verwerflich sein - für Des Grieux bleiben sie »ici-bas nos plus parfaites félicités« (93). Körperliche Lust ist das dem Menschen einzig gemäße Kriterium sinnlicher Gewißheit und Erfüllung, »Vernunft, Tugend und Jenseitshoffnung bieten nichts, was gewiß wäre«.' 79

177

M L , S. 90-93. Picard, Signification, S. C X V I . '79 Köhler, Der Abbé Prévost, S. 170. 178

169

2.2.3 Der Chevalier: amour passion als Gegencode Des Grieux' Rebellion gegen den adeligen Vater wie die Opposition gegen den religiösen Freund stehen im Zeichen seiner Auflehnung gegen die geltenden Spielarten ständischer und ethischer Rationalität. In beiden Fällen negiert der Held (durch seine Handlungen wie durch seine Argumente) die intersubjektive Verbindlichkeit der Vernunftmaßstäbe, nach denen zu handeln ihm die Antagonisten ansinnen. Diese Weigerung geschieht im Medium eines Gegencode des amour passion, einer Rhetorik des sentiment und der erotischen Faszination, für die die geltenden Hierarchien suspendiert scheinen: an die Stelle der sozialen oder religiösen .A#y?eraperspektive, der mannigfachen Rücksicht auf die objektiven Vermittlungen und Verbindlichkeiten individuellen Handelns, tritt in Des Grieux' »philosophie de l'amour« 1 ® 0 das Erkenntnisprivileg einer verklärten Liebesunmittelbarkeit und damit der Primat der Innensicht. 18 ' Bezeichnend für die Radikalität dieser Innenwendung und der mit ihr einhergehenden Entwertung der objektiven Standards von raison, sagesse oder vertu ist die fast traumwandlerische Sicherheit, mit der Des Grieux es versteht, katastrophische Ereignisse seiner Biographie als Glücksfälle eines ganz der Liebe geweihten Lebens zu interpretieren. Was sich, von außen betrachtet, als sozialer Ruin oder als religiöse Sünde ausnimmt, bedeutet für das leidenschaftliche Subjekt selbst einen weiteren Schritt zur vollkommenen Erfüllung eines ausschließlich auf sich selbst gerichteten Liebesverhältnisses. Den Musterfall solcher Ambiguität stellt die Episode von Des Grieux' Rückfall in Saint-Sulpice182 dar, der ihn buchstäblich in einem Augen-Blick für immer an Manon ausliefert.' 83 Gewiß wirkt die ganze Passage, die den vorhersehbaren Verlust der bürgerlichen Ehre und der moralischen Integrität gegen den erhofften Liebesgewinn aufrechnet, eminent rhetorisch.184 Aber hinter der 180

Picard, Signification, S. C X V . Picard hat in seiner brillanten Analyse den essentialistischen Grundzug dieser Konzeption herausgearbeitet, nach der die Menschen nicht aus ihren Taten, sondern zuverlässig allein aus einer Wesensidentität diesseits der akzidentiellen Vorfälle ihrer Biographie zu beurteilen seien. Demnach zeige sich Des Grieux erst im Rekurs auf »l'intimité première du cœur« (ebd., S. C X ) als ein essentiell guter Charakter: »un homme de bien qui agit mal.« (Ebd., S. C X I ) . 181 Vgl. M L , S . 4 2 f f . 18 3 Vgl. M L , S.46. 18 4 »Les faveurs de la fortune ne me touchent point; la gloire me paraît une fumée; tous mes projets de vie ecclésiastique étaient de folles imaginations; enfin tous les biens différents de ceux que j'espère avec toi sont des biens méprisables, puisqu'ils ne sauraient tenir un moment, dans mon cœur, contre un seul de tes regards.« M L , S. 46. 181

170

pathetischen Dialektik von sozialer Vernichtung und erotischem Überschwang, hinter der ambivalenten Teleologie eines als rauschhafte Steigerung erlebten Niedergangs steht Des Grieux' halluzinatorische Vorstellung von der Liebe als einer Totalkompensation aller durch sie verursachten Übel. Alles, worauf der Chevalier um Manons willen verzichten muß, glaubt er in ihr gesteigert wiederzufinden: E n dépit du plus cruel de tous les sorts, je trouvais ma félicité dans ses regards et dans la certitude que j'avais de son affection. J'avais perdu, à la vérité, tout ce que le reste des hommes estime; mais j'étais maître du cœur de Manon, le seul bien que j'estimais. Vivre en Europe, vivre en Amérique, que m'importait-il en quel endroit vivre, si j'étais sûr d ' y être heureux en y vivant avec ma maîtresse? T o u t l'univers n'est-il pas la patrie de deux amants fidèles? (180)

Die Liebenden ersetzen einander »père, mère, parents, amis, richesses et félicité« (180), die Strafkolonie von Louisiana erscheint Des Grieux als »un lieu de délices« (188), seine Hütte ist ihm »un palais digne du premier roi du monde« (188), weil er sich hier für immer in Manons Besitz wähnt: O Dieu! m'écriai-je, je ne vous demande plus rien. J e suis assuré du cœur de Manon. Il est tel que je l'ai souhaité pour être heureux; je ne puis plus cesser de l'être à présent. Voilà ma félicité bien établie, ( i 8 8 )

Dieser kompensatorische Code der amourösen Ekstase funktioniert als autosuggestive Immunisierungsstrategie gegen alle Reputationsverluste nur solange zuverlässig, wie Manons physische Präsenz durch ihren überwältigenden Zauber alle Einwände entkräftet. Nicht erst der Tod der Geliebten, der Des Grieux besinnungslos und am Ende seiner Kraft in der Einsamkeit der Wildnis zurückläßt,' 8 ' macht das Risiko einer Existenzform deutlich, die sich um des Absolutismus der Liebespassion willen über alle Bindungen und Gebote sozialer Räson hinwegsetzt: 186 indem der Chevalier den Gegenstand seiner Leidenschaft verliert, hat er alles verloren. Schon vor diesem endgültigen Zusammenbruch gibt es genügend Anlässe, Zwischenstadien der Rationalität, die den Chevalier nötigen, seine passionierte Innenperspektive preiszugeben und sein eigenes Schicksal mit den Augen der Normapologeten anzusehen. Denn die Grenze der Codes von sozialer Rationalität und antigesellschaftlicher passion verläuft nicht einfach zwischen dem Chevalier und seinen >ver-

" s s M L , S. i 9 8 f . l8< Zur semantischen Tradition dieses Gegensatzes vgl. Luhmann, Liebe als Passion, op. cit., bes. Kap. 9 (»Liebe gegen Vernunft«), S. 1 1 9 - 1 2 2 .

171

nünftigen< Kontrahenten; sie durchschneidet den >caractère ambigu< des Helden selbst. Der dreifach betrogene Liebhaber weiß um Manons Schwächen: ihren Hang zu Luxus, Vergnügen und Verschwendung, ihre Unbeständigkeit, die gewisse Vulgarität ihrer Lebensanschauung,l8? und er verachtet sie dafür. Aber alle Distanzierungen des Aristokraten, der sich in periodisch wiederkehrenden Momenten der Ernüchterung mit den Normen seines Standes identifiziert und in selbstkritischer Außensicht erkennt, wie triftig die Vorhaltungen des Vaters waren - »Je reconnaissais trop clairement qu'il avait raison« (37) -, l88 bewirken keine grundlegende Verhaltenskorrektur. Des Grieux' Eingeständnis, er müsse »du mépris pour l'infidèle Manon« (36) empfinden, hebt seine Hörigkeit nicht auf, die erotische Faszination bleibt von der moralischen Verurteilung unberührt, das Begehren folgt seiner eigenen Logik: Il est certain que je ne l'estimais plus; c o m m e n t aurais-je estimé la plus volage et la plus perfide de toutes les créatures? M a i s son image, ses traits charmants que je portais au f o n d du c œ u r y subsistaient toujours. J e le sentais bien. J e puis m o u r i r , disais-je; je le devrais même, après tant de honte et de d o u l e u r ; mais je souffrirais mille morts sans p o u v o i r oublier l'ingrate M a n o n . (3 6)

Die Schizophrenie des Helden, seine temporäre Einsicht in das Entwürdigende seiner Abhängigkeit bei gleichzeitigem Unvermögen, die aus solcher Einsicht sich aufdrängenden Konsequenzen zu ziehen und von Manon abzulassen, verweist auf jenes verstörende Grundproblem, auf das die Schicksalssemantik des Romans zu antworten sucht: Ist Des Grieux' Tragödie die Folge eigener schuldhafter Verfehlung oder ein heteronomes Verhängnis, ist der Held Täter oder Opfer? - Die Repräsentanten der objektiven Codes von raison und vertu, der Vater und Tiberge, aber auch der Rahmenerzähler Renoncour, neigen der ersten Auffassung zu. Denn anders wäre ihr Appell zur Umkehr sinnlos : Nur weil sie Des Grieux' verhängnisvolle Leidenschaft als Folge einer willentlichen Abirrung, als Fehlentscheidung eines »jeune aveugle« begreifen, »qui refuse d'être heureux, pour se précipiter volontairement dans les dernières infortunes« (4), können sie hoffen, ihn von seinem »par choix« (5) eingeschlagenen Weg ins Unglück wieder abzubringen. 18

7 Vgl. z . B . Manons Standpunkt »que, dans l'état où nous sommes réduits, c'est une sotte vertu que la fidélité. Crois-tu qu'on puisse être bien tendre lorsqu'on manque de pain?« (69). Dieser Materialismus schockiert den Chevalier: »Elle appréhende la faim. Dieu d'amour! quelle grossièreté de sentiments! et que c'est répondre mal à ma délicatesse!« (70). Zum »fond de vulgarité« in Manons Charakter siehe Sgard, Prévost romancier, S. 2 3 7 ^

188

Entsprechend M L , S. 61.

172

Anders: wenn der Chevalier die Freiheit besaß, sich für Manon und gegen die Ordnung zu entscheiden, muß er auch frei sein, diesen Fehler zu korrigieren. Der Verpflichtungscharakter der Rationalitätscodes basiert auf einer Philosophie menschlicher Willensfreiheit und vernünftiger Autonomie. Dem widerspricht Des Grieux. Er erklärt seine Unfähigkeit, der Verachtung Manons Taten folgen zu lassen, aus einem »mouvement involontaire qui me faisait prendre ainsi le parti de mon infidèle« (37), und er leugnet kategorisch, daß er, dem in der Gestalt Manons sein Schicksal erschienen sei - »Je vais perdre ma fortune et ma réputation pour toi, je le prévois bien; je lis ma destinée dans tes beaux yeux« (46) - , frei sei, sich dieser Bestimmung zu widersetzen: »Tout ce qu'on dit de la liberté à Saint-Sulpice est une chimère« (46). Gewiß, dies ist das Idiom der Leidenschaft, ein interessierter Diskurs triebhafter Heteronomie. Aber in der Selbstdeutung des Erzählers entsteht aus diesen Voraussetzungen eine so komplexe, freilich ebenso widersprüchliche Schicksalssemantik, eine den gesamten >récit< charakterisierende »morale de l'irresponsabilité«,'8' daß wir über den teleologischen Verlauf des Romans nur urteilen können, wenn wir diese Argumentation in ihren Grundzügen aufhellen. 2.3

Providence, Hasard, Fatalité ? - Zur Funktion der heterogenen Schicksalsbegriffe

2.3.1 Die Selbstdeutung des Erzählers: Biographie als Fatum Eine einfache Formel des Erzählers bezeichnet bündig die doppelte Abhängigkeit, die den Protagonisten der >Histoire< zum Verhängnis wird: »Manon était passionnée pour le plaisir; je l'étais pour elle« (50). Das Mädchen kann nicht von den Vergnügungen lassen, die der Tugend gefährlich sind; der Chevalier kommt von ihr nicht los und wird mit in den Abgrund gerissen. Mit seinem sarkastischen Kommentar zu dieser Konstellation steht Montesquieu nicht allein; auch andere zeitgenössische Kritiker wollten in ihr nichts anderes erkennen als den Fall »d'un escroc et d'une catin«.1'0 Dennoch räumte derselbe Rezensent die Doppelgesichtigkeit von Prévosts Erzählen ein und vermutete, im Blick auf i8

9 Picard, Signification, S. C V . So die erste Besprechung des Romans im Journal de la Cour et de Paris< vom 2 1 . Juni 1 7 3 3 , zit. bei Deloffre/Picard, Jugements contemporains, S. C L X I .

173

des Verfassers >Le Pour et le Contres es sei offenbar ein Grundanliegen dieses Autors »de faire voir que, chaque chose de la vie a deux faces, et qu'il n'en est point de si mauvaise que l'on ne puisse justifier«. 1 ' 1 In der Tat: der einsinnigen Reduktion des Romans auf die krude Faktizität krimineller oder moralisch verwerflicher Delikte, wie sie der These von der Dirne und dem adligen Spitzbuben zugrundeliegt, widersetzen sich andere Befunde, und keineswegs allein jener Erzählduktus der Sentimentalisierung und Pathetisierung, den wir an den Sympathiesignalen der Rahmenerzählung beobachtet haben. Noch wichtiger nämlich erscheint der durchgängig apologetische Grundzug von Des Grieux' eigenem Diskurs. Sein Erzählerkommentar entspricht dem Wirkungskalkül der Rahmenpartien durch ein deutliches Bestreben, die unglückliche Romanze ihrer trivialen Alltäglichkeit zu entkleiden und sie zum Exempel einer tragischen Metaphysik der menschlichen Existenz zu überhöhen.1'2 Darin mag man eine Selbststilisierung erblicken, das habituelle Bedürfnis des Aristokraten nach Würde und Besonderheit noch in den schmachvollsten Lebensverhältnissen. Aber die pathetische Providenzsemantik, die die Geschehensdeutung des Erzählers bestimmt, zielt auf mehr als auf bloße Figurencharakterisierung, sie enthält auch Des Grieux' Antwort auf die Vorhaltungen der an den raison- und vertu-Coâts orientierten Antagonisten. Deren Vorwürfen und Appellen soll durch den Nachweis ihrer Unangemessenheit die Voraussetzung entzogen werden: Wenn der seiner Leidenschaft verfallene Chevalier gar kein eigenmächtig handelndes Subjekt ist, sondern ein Spielball anonymer Schicksalsinstanzen, Figur in einem vorherbestimmten Szenar, dann wird es ebenso sinnlos sein, ihn zur Entsagung und zur Rückkehr zu den sozialen Konventionen zu mahnen, wie es ungerecht wäre, ihn für die katastrophenrei-

'9'

Ebd.

'S 2 Allerdings

wird

diese Tendenz

zur Rhetorisierung

und

Pathetisierung

mitunter

durch subtil ironische Effekte konterkariert. Ein besonders deutliches Beispiel bietet die sorgsam komponierte Szene, in der Manon und der Chevalier in flagranti verhaftet werden ( M L , S. 1 5 2 f f . ) . D e s G r i e u x ' heroische Deklamation (vgl. S. i j 6 f . ) steht in krassem (und komischem) Mißverhältnis zu seiner erniedrigenden und peinlichen Lage ( » U n homme en chemise est sans résistance«, S. 1 5 2 ) . Picard, Signification, S. C X L , erkennt im »contraste entre la noblesse des attitudes et du verbe et d'autre part la bassesse ou le ridicule des circonstances« eine »désharmonie calculée entre la situation et son langage« aus dem Repertoire der Burleske. Die planmäßige Mischung

tragischer und komischer Erzählanteile betont auch Charles

Mauron:

>Manon Lescaut< et le mélange des genres, in: Colloque d'Aix-en-Provence A n m . 144), S. 1 1 3 - 1 1 8 .

174

(wie

chen Folgen seiner passion zu verurteilen. 1 " Der wehr- und schuldlos von fataler Liebe Geschlagene hätte einzig Mitleid verdient.194 Daß sich gerade der stigmatisierte Held 19 ' selbst fortwährend auf den über ihn verhängten Willen der Vorsehung und anderer Schicksalsmächte beruft und seine Ohnmacht zur Rationalität aus solcher heteronomen Abhängigkeit begründet, ist ein bedeutsamer Gegensatz zu Defoes Roman. Dort war es allein der Vater (bzw. der mit ihm verbündete Erzähler), der die Autorität der Providenz beschwor, um sein mittelständisches Credo zu bekräftigen. Der junge Robinson, unfähig, seine Wildheitsimpulse zu bändigen, blieb ein unphilosophischer Charakter, den >rambling desires< mit solcher Energie zum falschen Handeln trieben, daß er kaum je zur Besinnung kam. In Des Grieux' Selbstdeutung - und nicht erst in der Rückschau des erzählenden Ich, sondern ebensosehr bereits im unmittelbaren Erleben des Liebenden unter Manons Bann - sind die reflexiven Momente hingegen so zahlreich, daß sie sich in ihrer Summierung zu einer Leitsemantik der Fatalität und damit zu einem Gegencode zu den Ordnungsappellen des Vaters und Tiberges zusammenschließen. Der Chevalier versteht sich selbst als das Opfer numinoser Gewalten, sein Schicksal als ihr Werk. Allerdings weist diese »Theologie« irritierende Züge auf: ihre Leitkategorien wirken diffus und widersprüchlich und sind tatsächlich den verschiedensten religiösen Traditionen entlehnt, und ihre Auslegung zentraler christlicher Theologumena gerät nicht selten höchst eigenwillig. Einige Beispiele mögen das belegen: Wo immer es ihm um die Rechtfertigung fragwürdiger Handlungsweisen zu tun ist, zeigt sich der entlaufene Zögling von Saint-Sulpice als ein gewiegter Kasuist. So gibt er seinen Entschluß, das für Manons aufwendigen Lebensstil erforderliche Geld durch Betrügereien beim Glücksspiel aufzutreiben, kurzerhand als göttliche Inspiration aus (»Le Ciel me fit naître une idée«, 53) und versteigt sich zu einer fadenscheinigen Providenz-Rabulistik und zur Idee einer Theodizee des sozialen Ausgleichs, nach der die Dummheit der Reichen ein Gottesgeschenk für die Armen bedeute, die sich durch Gerissenheit an ihnen schadlos hielten:

19

3 V g l . Köhler, D e r A b b é Prévost, S. 1 7 2 f.

'94 Z u r Motivtradition der schicksalhaften erotischen Abhängigkeit im frz. R o m a n v o r l

Prévost vgl. Roddier, L ' A b b é Prévost, S. 75 ff. 9s Z u m Begriff siehe Erving G o f f m a n : Stigma. U b e r Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, F r a n k f . / M . 1 9 6 7 (amerik. Original 1 9 6 3 ) .

175

La

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p e t i t s , q u e la s o t t i s e d e s r i c h e s et d e s g r a n d s . ( 5 3 f . ) 1 ' 6

Diese Travestie metaphysischer Rede, die parasitäre und kriminelle Existenzformen als »but de la divine Sagesse« (54) ausgibt, ist kein Einzelfall. Sie wiederholt sich, mit derselben Scheinschliissigkeit, im Verhalten gegenüber dem Freund Tiberge; die Möglichkeit, dessen Hilfswilligkeit zu mißbrauchen und ihn zur Finanzierung der eigenen kostspieligen Eskapaden um sein armseliges Stipendium zu prellen, preist der Chevalier euphemistisch als »un effet de la protection du Ciel« (57). Daß es sich bei zynischen Syllogismen dieser Güte, die die Vorsehung selbst als Kronzeugin gegen die Maßstäbe der Moral aufrufen und abgeschmackte Gaunereien zu Beweisgründen für die prästabilierte Harmonie der Gesellschaft verklären, um groteske Verkehrungen ursprünglich religiöser Glaubensgehalte in Argumentationshilfen der Selbstbeschwichtigung handelt, mithin um eine verschleiernde Providenz-Rhetorik des schlechten Gewissens, ist offenkundig: »Ces pensées me remirent un peu le cœur et la tête« (54), beschreibt der Chevalier diesen Entlastungseffekt selbst. 1 ' 7 Andere Bezüge auf verborgene Absichten der Vorsehung hinter der Ereigniswirklichkeit der >Histoire< wirken beliebig und funktionslos, so das Erstaunen nach der Ermordung von Manons Bruder: »C'est quelque chose d'admirable que la manière dont la Providence enchaîne les événements« (107). Warum gerade dieses gewöhnliche Verbrechen, eine Abrechnung unter Straßenganoven, die wunderbaren Wege des Himmels offenbaren soll, bleibt unerfindlich; es scheint sich um eine rein konventionelle Reminiszenz an Geschehensverknüpfungsformen des pikaresken Abenteuerromans zu handeln, 1 ' 8 um eine erzählerische Pseudobegründung für Plötzlichkeit. Doch nicht alle Geschehensdeutungen, in denen der Erzähler auf *96 H e r v o r h . von mir, W F . l97 Dieselbe Strategie der Selbstentlastung kennzeichnet Des G r i e u x ' Verhalten nach dem M o r d in St.-Lazare ( M L , S. 97): die M ö r d e r sind die anderen. Picard, Signification, S. C V I I ,

kommentiert treffend: »Ainsi un homme

est tué; il y

a deux

responsables, et aucun d'eux n'est celui qui a tiré, bien que ce dernier ait agi en pleine connaissance de cause.« •98 Köhler, D e r A b b é Prévost, S. 168, verweist darauf, daß die »Kompositionsformen des alten heroisch-galanten Romans, des Abenteuer- und des Pikaro-Romans« in

176

transzendente Schicksalsinstanzen rekurriert, wirken als bloße Rabulistik oder als leere Erzählkonvention. Interessanter und für die Interpretation des Romans gewichtiger sind gerade jene Episoden, in denen Des Grieux aufrichtig zu reden scheint, wenn er seine Liebespassion und seinen gesellschaftlichen Ruin aus der Konsequenz eines unentrinnbaren Verhängnisses zu begreifen sucht. - Hier ist es zuallererst die Vielfalt der Kategorien, die der Auslegung Probleme aufgibt. Die Spanne der Erklärungen oszilliert auf eigentümliche Weise zwischen spezifisch christlichen Providenzvorstellungen, nach denen Ereignisse als Folge der »colère du Ciel« (194) und der souverän-planvollen Verfügungen der göttlichen Vorsehung zu begreifen sind, 1 " und einer Vielzahl paganer Denkbilder und Metaphern, die die Liebenden als Sklaven von Venus und Fortuna200 beschreiben und den Chevalier seine passion als »un de ces coups particuliers du destin« erfahren lassen, »qui s'attache à la ruine d'un misérable, et dont il est aussi impossible à la vertu de se défendre qu'il l'a été à la sagesse de les prévoir« (59). Neben der besonders häufig evozierten Fortuna-Vorstellung201 finden sich verwandte Fatum-Konzeptionen mit pessimistischem Tenor: die Idee einer »malignité de mon sort« (60)202 oder eines »mauvais génie [qui] travaillait à nous perdre« (151), ebenso der astrologische Gedanke unheilvoller Sternenkonstellationen, eines »ascendant de ma destinée qui m'entraînait à ma perte« (20).20' Die vielfältigen Dämonisierungen des amour fou gehören in dasselbe Spektrum wehrlos erlittener Fatalitäten: Des Grieux liest sein Schicksal in Manons Augen, er ist ihr beim ersten Anblick verfallen, »enflammé tout d'un coup jusqu'au transport« (19); nach dem Fluchtversuch ins Seminar von St.-Sulpice genügt ein »instant malheureux« (43), um ein rigides »système de vie paisible et solitaire« (40) einzustürzen und den Chevalier, diesmal endgültig, in »nouveaux désordres« (43) zu verstricken. Schließlich registriert der rückblickende Erzähler eine

Prévosts erzählerischem Werk »durch die unwahrscheinliche Häufung katastrophenhafter Geschehnisse überfordert« würden. w Vgl. M L , S. 53, 57, 78, 107, 1 1 3 , 124f., i$6f., 173, 187, 190, 1 9 1 , 194, 199, 200. 100 »L'augmentation de nos richesses redoubla notre affection; Vénus et la Fortune n'avaient point d'esclaves plus heureux et plus tendres.« M L , S. 66. 201 Vgl. u. a. M L , S. 66, 75, 175, 184. 202 Ebenso M L , S. 129: »La résolution fut prise de faire une dupe de G . . . M . . . , et par un tour bizarre de mon sort, il arriva que je devins la sienne.« 2°3 Vgl. M L , S. 2 f . : »S'il est vrai que les secours célestes sont à tous moments d'une force égale à celle des passions, qu'on m'explique donc par quel funeste ascendant on se trouve emporté tout d'un coup loin de son devoir, sans se trouver capable de la moindre résistance, et sans ressentir le moindre remords.«

177

Reihe verhängnisvoller Zufälle,204 die gleichfalls zu bestätigen scheinen, daß er seinem Geschick nicht entgehen konnte. Fatale Veränderungen traten immer dann ein, wenn der Chevalier sich seines Glückes sicher wähnte: »J'ai remarqué, dans toute ma vie, que le Ciel a toujours choisi, pour me frapper de ses plus rudes châtiments, le temps où ma fortune me semblait le mieux établie« (124). Im Gesamteindruck entsteht aus dieser verwirrenden Vielfalt von Erklärungen und Deutungen das Bild eines durch die Providenz oder durch numinose Mächte unabwendbar vorgezeichneten Lebensweges in die finale Katastrophe: Biographie als Fatum. Es hat seine innere Folgerichtigkeit, daß Des Grieux sich mit dem Entschluß, Manon in die Verbannung zu folgen, zur freiwilligen Einstimmung in das Unvermeidliche bekennt, zu einer Philosophie des Amor fati: »Adieu, je vais aider mon mauvais sort à consommer ma ruine, en y courant moi-même volontairement« (177). 2.3.2 Schicksalssemantik als Außenprojektion seelischer Zwänge Wie ist die diffuse Vielfalt der heterogenen Schicksalskategorien, zwischen denen der Erzählerkommentar in stetem Wechsel changiert, zu deuten? Einer der kompetentesten Ausleger, Raymond Picard, hat darin eine tendenzielle Paganisierung der Leitsemantik erkennen wollen: »En fait, il s'agit plus d'une paganisation du christianisme que d'une christianisation de l'univers païen. Des Grieux constamment invoque le Ciel, mais il invoque en même temps la puissance d'amour ou la fortune, et il est clair que tous ces termes sont équivalents.«20' Diese These bezeichnet treffend zwei grundlegende Merkmale von Des Grieux' Diskurs: das quantitative Ubergewicht paganer oder »neutraler« Schicksalskategorien (sort, destin, fatalité, fortune) gegenüber Elementen einer spezifisch christlichen Vorsehungsdogmatik und die gleichzeitige Austauschbarkeit sämtlicher Termini untereinander. Allerdings : gerade der Eindruck einer nahezu beliebigen Attribution des Geschehens an Transzendenzinstanzen von historisch und dogmatisch so heterogenem Gehalt muß bei näherem Zusehen wohl eher g e g e n die Formel von der >paganisation du christianisme< sprechen, sofern damit ein irgend konsistenter Prozeß 10

4 D a z u Walter Müller: Die Grundbegriffe der gesellschaftlichen Welt in den Werken des A b b é Prévost, M a r b u r g / L . 1 9 3 8 , S. 7 3 - 8 1 , sowie Köhler, D e r A b b é Prévost, S.

17zi.,

über den »Zufall als Herrschaftsmodus der Fatalität« ( 1 7 3 ) und Negation menschlicher Entscheidungsfreiheit. 20

s Signification, S. C X X V I I I .

178

der Aufhebung christlicher Theologumena durch eine schlüssige nichtchristliche Philosophie gemeint sein soll. In Wahrheit dürfte eine andere Lesart der Textwirklichkeit sehr viel näherkommen, die Annahme nämlich, die semantischen Splitter dieser deutenden Figurenrede fügten sich überhaupt nicht zu einem sinnvollen philosophischen Mosaik zusammen, weder unter christlichen (etwa, wie die ältere Prévost-Forschung wahrhaben wollte: jansenistischen 20é ) noch unter in irgendeinem identifizierbaren Sinn des Wortes »paganen« Vorzeichen. Vom barocken Geschichtsroman her gesehen, der seine stoizistisch-paganen Fortunaund Kontingenzaspekte stringent in eine christliche Providenz-Metaphysik einbaute und in dieser Integration ein spekulatives Hauptanliegen besaß, wirkt die Abstimmung der Kategorien in Des Grieux' Diskurs völlig mangelhaft, ja, sie scheint nicht einmal angestrebt zu sein. Die Deutung des Erzählers ist offenkundig inkonsistent, ihre disparaten Kategorien und Zuordnungen sind unvereinbar und erwecken den Eindruck willkürlich und nach Bedarf herbeiassoziierter rhetorischer Beglaubigungs- und Pathosformeln. Ein so dezidiert negativer Befund scheint unweigerlich auf das Werk im ganzen zurückzuschlagen und das gedankliche Vermögen seines Autors in ein trübes Licht zu rücken. Allenfalls könnte sich das landläufige Vorurteil bestätigt sehen, demzufolge literarische Texte prinzipiell nicht mit der Elle philosophischer Stringenz zu messen seien. Aber dieses Verdikt macht es sich zu leicht. Weil es in der Rede des Ich-Erzählers Des Grieux nicht findet, was es einzig dort erwarten zu dürfen glaubt: einen kohärenten philosophischen Gehalt, spricht es dem Werk die gedankliche Konsequenz insgesamt ab. Wir wollen dieses Urteil als einen Fehlschluß erweisen, indem wir eine Lesart des Romans vorschlagen, die den monierten Sachverhalt: die diffuse Widersprüchlichkeit der Providenz-Semantik, positiv integriert und zum Angelpunkt der Deutung erhebt. Eine solche Sichtweise wird möglich, wenn sich die Interpretation nicht mehr allein an die irritierende Vielfalt unabgestimmter Schicksalskategorien hält und deren Vertauschbarkeit als einen Mangel rügt, sondern hinter der Divergenz der Termini die Einheit ihrer Verwendung durch das deutende Subjekt, durch Des Grieux, erkennt. Damit ist die Frage nach der F u n k t i o n gestellt, welche die heterogenen Geschehensattributionen für den Helden erfüllen, und sie in der Tat führt zum Vereinigungsgesichtspunkt des Romans. Denn aus diesem 106

Repräsentativ: Paul Hazard: Études critiques sur Manon Lescaut, Chicago 1929. Zur Kritik s. Picard, Signification, S. C X X V .

179

Blickwinkel zeigt sich, daß a l l e Zuschreibungsversuche an »christliche« oder »heidnische« Schicksalsinstanzen ungeachtet ihrer internen Rivalität für Des Grieux e i n e n identischen Sinn haben : die elementare Gewalt der Passion zu umschreiben, die ihn erfaßt und aus den sozialen Bindungen seines Standes herausgesprengt hat. Indem der Chevalier die Zwangsgewalt seiner >fatale tendresse< für Manon mythisch überhöht, negiert er seine eigene Freiheit und schreibt seinem Handeln, das die geltenden Normen außer Kurs setzt, einen tragisch-fatalistischen Sinn zu: die schicksalhafte Eigenlogik einer Leidenschaft bis zum Tod. Dem Walten numinoser Mächte unentrinnbar aufgeliefert, entfällt für den von Liebe Geschlagenen jede Möglichkeit der disziplinierten Abwehr, denn gegen das Fatum greift jedes Eigenhandeln zu kurz. Des Grieux' Providentialismus ist eine »théologie de la faiblesse humaine«, 20 ? sein Fatalismus dient der Apologie: wer unter dem Zwang des Schicksals handelt, kann nicht zur Verantwortung gezogen werden. 208 Für die Entwicklung der Providenz- und Schicksalssemantik im Roman des 18. Jahrhunderts ist der skizzierte Vorgang hochbedeutsam: Nicht mehr die Abbildung eines konstitutiven metaphysischen Strukturverhältnisses, nach dem die Welt der Erscheinungen und menschlichen Handlungen nur im Rückgang auf ein sie determinierendes göttliches Arrangement hinter den Phänomenen verstanden und gedeutet werden kann, bildet das Ziel des Erzählens, sondern die exemplarische Analyse der Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen ein problematisches Subjekt dahin gerät, zu dieser Providenzmetaphysik seine Zuflucht zu nehmen. An die Stelle des Wahrheitsanspruchs einer objektiven Metaphysik tritt bei Prévost ihre psychologische Funktionalisierung, denn unverkennbar liegen die Wurzeln von Des Grieux' Schicksalsglauben in seiner seelischen und sexuellen Abhängigkeit von Manon. Seine ihm selbst unfaßliche Triebbindung an eine Unwürdige übersetzt der Chevalier in vorgegebene, durch versprengte religiöse Traditionsbestände offerierte Sprachformeln der äußeren Abhängigkeit vom Schicksal, von den Göttern, von Gott. Aber die Eklektik seiner Erklärungen verrät, welcher Souverän sich in Wahrheit hinter den geliehenen Titeln

20

7 Picard, ebd., S. C X X V . Zu Recht betont Picard, ebd., S. C X X I X , das Selbstrechtfertigungsinteresse hinter Des Grieux' >TheologieManon LescautRobinson Crusoe< zog die Mißachtung der Regeln und rationalen Einrichtungen einer Gesellschaft, deren Organisation sich auf göttlich dekretierte >natural laws< berufen konnte, das Scheitern des Aufbegehrenden zwangsläufig nach sich, so daß es besonderer providentieller Abstrafungen letztlich nicht mehr bedurfte. Wesentliche Sicherungsleistungen der traditionellen Vorsehung waren an das Sozialsystem und seine inhärente Vernunft übergegangen; abweichendes Verhalten eliminierte sich selbst. Wenn wir in >Manon Lescaut< eine ähnliche Dialektik des Realitätsverstoßes am Werk sehen, so freilich mit jenem oben schon bemerkten signifikanten Unterschied, den wir hier noch einmal unterstreichen müssen: Prévosts Roman fehlt die normative Emphase Defoes, seine moralische Lehre bleibt zutiefst zweideutig. Bewies Crusoes Scheitern an der Realität deren überlegene, providentiell beglaubigte Vernünftigkeit, so exemplifiziert Des Grieux' Unglücksweg, in gleichsam analytisch-deskriptiver Beleuchtung, allein eine fundamentale Aporie: die Unmöglichkeit schrankenloser Hingabe in einer Welt der Beschränkungen, Zwänge und ständischen >principes d'honneurpassion< notwendig unrealisierbar bleiben muß, spricht nicht nur ihr selbst, als einer rauschhaften Illusion, das Urteil; ein Schatten fällt ebenso auf die Realität, an deren harter Ordnung das Glücksverlangen eines überwältigenden >sentiment< abprallt und zerschellt.213 So allgemein formuliert, mag die These vom widerständigen »pouvoir de la réalité«214 als Ursache von Des Grieux' Scheitern wenig plausibel 211

Ebd., S. 245. Ebd., S. 269. 21 3 Zum Pessimismus hinter dieser Aporie vgl. die ausgezeichneten Bemerkungen bei Sgard, ebd., S. 251. Ebd., S. 269. 212

182

und allzu abstrakt erscheinen. Aber die große Kunst des Erzählers Prévost beweist sich gerade in seiner Fähigkeit, die Mechanik der Kollision von innengeleitetem Helden und sozialer Wirklichkeit zu versinnlichen, sie in plastischen Details sich manifestieren zu lassen. Einem Motiv wächst dabei eine überragende Bedeutung zu: der zentralen Rolle des Geldes. 21 ' Tatsächlich gibt es, wie Erich Köhler zutreffend festgestellt hat, in >Manon Lescaut< »kaum eine Seite, auf der nicht von Geld, bestimmten Summen und Zahlen die Rede ist«,216 ein Befund, der schon für sich allein als Indiz eines Bruches mit den Gattungskonventionen gelten muß. »In den heroisch-idealistischen Liebesromanen des 17. Jahrhunderts, bei den d'Urfé und Scudéry, spielte das Geld keine Rolle. Noch in der >Princesse de Clèves< von Mme de Lafayette kommt das Wort >argent< überhaupt nicht vor.«217 Für Prévost hingegen wird die gewissenhafte Verzeichnung der prekären Vermögensumstände des Chevalier, den Manons verschwenderischer Lebensstil zu immer kostspieligeren Ausgaben nötigt und in stets neue Geldnöte und Schulden verstrickt, zum probaten Erzählmittel, um den Niedergang des Helden, das Unseriöse und Verblendete seines Verhaltens, zu versinnbildlichen. Manon hängt am >plaisir< und der Chevalier an Manon. Er weiß aus bitterer Erfahrung, daß er sich der Geliebten und ihrer Anhänglichkeit nur so lange sicher sein darf, wie er ihre Ausschweifungen finanzieren kann: »Je connaissais Manon; je n'avais déjà que trop éprouvé que, quelque fidèle et quelque attachée qu'elle me fût dans la bonne fortune, il ne fallait pas compter sur elle dans la misère. Elle aimait trop l'abondance et les plaisirs pour me les sacrifier« (53). So wird seine Zahlungsfähigkeit für Des Grieux zur Schicksalsfrage und er selbst zum Opfer einer heimtückischen Paradoxie: das vermeintlich Unmittelbarste und Unverwechselbarste, die leidenschaftliche Spontaneität seines Gefühls für Manon, bleibt gebunden an das abstrakteste Element gesellschaftlicher Vermittlung, an die universelle Tauschkategorie des Geldes.2'8 Eine Erzählerreflexion formuliert diese fundamentale Dialektik von amour und biens du monde in geradezu bestechender Klarheit: J e la tiens du moins, disais-je; elle m'aime, elle est à moi. Tiberge a beau dire, ce n'est pas là un fantôme de bonheur. J e verrais périr tout l'univers sans y prendre intérêt. Pourquoi? Parce que je n'ai plus d'affection de reste. C e

2I

s Siehe dazu J.-L. Bory: Manon, l'amour et l'argent, Revue de Paris, 1958, S. 83-90. Köhler, Der Abbé Prévost, S. 174. 21 7 Ebd.; vgl. auch Sgard, Prévost romancier, S. 273. 218 Dies in Übereinstimmung mit Köhler, Der Abbé Prévost, S. 174. 216

183

s e n t i m e n t é t a i t v r a i ; c e p e n d a n t , d a n s le t e m p s q u e j e f a i s a i s si p e u d e c a s d e s b i e n s d u m o n d e , j e s e n t a i s q u e j ' a u r a i s eu b e s o i n d ' e n a v o i r d u m o i n s u n e p e t i t e p a r t i e , p o u r m é p r i s e r e n c o r e p l u s s o u v e r a i n e m e n t t o u t le r e s t e . L'amour est plus fort que l'abondance, plus fort que les trésors et les richesses, mais il a besoin de leur secours; et rien n'est plus désespérant, pour un amant délicat, que de se voir ramené par là, malgré lui, à la grossièreté des âmes les plus basses. (io8f.) 2 1 ?

Zu Recht erkennt Picard in dieser Stelle den Einbruch des materiellen Lebens in die Welt des galanten Romans.220 Des Grieux muß sich, in verhängnisvoll verspäteter Erkenntnis, eingestehen, daß seine Verklärung der Liebe zum fundamentum inconcussum eines »anderen«, authentischeren, an den sozialen Gütern und Normen desinteressierten Lebens eine Selbsttäuschung war.221 Eine tragische Ironie will, daß die Liebe noch in der Verachtung alles Materiellen und entfremdend Äußerlichen ihren eigenen Erdenrest nicht abstreifen, sich ihren materiellen Erhaltungsbedingungen nicht entziehen kann. Diese Dialektik muß Des Grieux um so gewisser treffen, als er sich systematisch über sie betrügt. Denn die kontingenten Sprünge und der désordre seiner Biographie, die er sich selbst nur als Fatum und »malignité de mon sort« (6o) zu erklären vermag, lassen sich plausibler als zwangsläufige Folge einer Passion deuten, die sich in der Exaltation ihrer Selbstüberhöhung für rationale Zusammenhänge und die Notwendigkeit vernünftiger Vorsorge blind zeigt. Nirgends wird dies deutlicher als in einem etymologischen Detail: der Homonymie von Fortune als launischer Glücksgottheit und fortune im Sinne von Geld und Vermögen. Dieses reizvolle Wechselspiel bewirkt, daß Ereignisse, die der Chevalier zu Schickungen der fortune cruelle hypostasiert - »Mais la fortune avait rejeté impitoyablement mes vœux« (175), heißt es über den mißlungenen Angriff auf den Transport der Freudenmädchen - , transparent bleiben für ihren realen Anlaß, und nur allzu oft ist dieser Anlaß eine von Des Grieux selbst zu verantwortende Leichtfertigkeit im Umgang mit seinem Vermögen. So reden sich die Hals über Kopf Verliebten, die beschließen, ihr Heil in der Flucht nach Paris zu suchen, im Rausch ihrer Leidenschaft und in grenzenloser ökonomischer Naivität ein, ihre geringen Ersparnisse könnten ebensowenig versiegen wie ihre Liebe selbst: »Nous nous imaginâmes, comme des enfants sans expérience, que cette 2I

9 Hervorh. von mir, WF. Vgl. M L , S. 109, Anm. 1. 221 So auch Sgard, Prévost romancier, S. 251. 184

somme ne finirait jamais, et nous ne comptâmes pas moins sur le succès de nos autres mesures« (22). Als schon nach wenigen Wochen in der Hauptstadt die ganze Barschaft aufgebraucht ist und »la nécessité« (26) sich ankündigt, neigt auch die Liebe sich ihrem ersten Ende zu: Der noch immer üppig gedeckte Tisch ist bereits aus Quellen finanziert, die Manon auf ihre Weise erschlossen hat," 2 und bald dämmert es selbst dem vertrauensseligen Chevalier, daß all die »petites acquisitions de Manon, qui me semblaient surpasser nos richesses présentes«, ihren Preis gehabt haben müssen: »Cela paraissait sentir les libéralités d'un nouvel amant« (28). Von dieser Einsicht ist es nicht mehr weit bis zu jenem durch Auerbachs Studie berühmten »unterbrochenen Abendess e n « " 3 . . . - Des Grieux jedoch lernt nichts dazu. Wieder mit Manon vereint, wiegt er sich erneut in hybriden, halluzinatorischen Sicherheiten, die ihm der Uberschwang der Gefühle suggeriert - »Mon bonheur me parut d'abord établi d'une manière inébranlable« - , und ergeht sich in wirklichkeitsfremden Spekulationen »sur la solidité de notre fortune« (49). Aber alle phantastischen Rechnungen und Glücksträume, zu denen sich noch die zynische Spekulation auf den Tod des Vaters und ein reiches Erbe gesellt,"* werden von der Realität widerlegt: Ein verschwenderischer Lebensstil und einige »funeste[s] accident[s]« (52): ein Brand, ein Diebstahl, das Auftauchen des Sergeanten Lescaut, genügen, um endgültig »le dernier désordre dans nos affaires« (51) zu verursachen. Alles, was der Chevalier künftig noch unternimmt, um seine Geliebte, die ihm nur »dans la meilleure fortune« (109)" 5 ausschließlich gehören will, an sich zu binden, führt nur tiefer in die Misere. In seinem »besoin des plus grandes faveurs de la fortune« (62) nimmt Des Grieux seine Zuflucht zu trügerischen und unseriösen, schließlich gar zu kriminellen Projekten und Praktiken und baut das »édifice de mon bonheur« ( 1 1 9 ) auf den »hasard du jeu« (62), auf Schulden, Leih- und Pumpverhältnisse. Später erhöht er die Einsätze im Glücksspiel und setzt darauf »de hâter le progrès de ma fortune en jouant plus gros jeu« (120) - all dies, um die ihn peinigende Drohung abzuwenden, Manon werde »le ménagement de notre fortune« (69) mit Hilfe ihrer eigenen Talente übernehmen. In den letzten, von Renoncour berichteten Szenen auf französischem Boden ist aus dem hoffnungsvollen Sproß aus bester aristokratischer Familie ein

Vgl. M L , S. 27. " 3 Auerbach, Mimesis, S. 371 ff. " 4 Vgl. M L , S. 50 und 117. " 5 Ebenso M L , S. 53.

185

Verzweifelter geworden, der noch das Bestechungsgeld zusammenbetteln muß, für das ihm die Wächter stundenweise seinen einzigen Wunsch gewähren: in Manons Nähe zu sein. So verdichtet und materialisiert sich Des Grieux' gestörtes Verhältnis zur Realität in seinem gestörten Verhältnis zum Geld, und die immer ausweglosere Zerrüttung seiner Vermögensverhältnisse, mit der eine abenteuerliche Projekteschmiederei einhergeht, wird zur Chiffre seines Ausstiegs aus der sozialen Wirklichkeit seines Standes. Nicht Fortuna oder die Vorsehung strafen Des Grieux, und sie brauchen ihn nicht zu strafen: er richtet sich durch die Unbedachtsamkeit seines Gebarens selbst zugrunde. Der Psychologisierung der traditionellen Schicksalssemantik entspricht komplementär eine ökonomische Rationalisierung und Säkularisierung des Schicksalsbegriffs selbst: in dem Maße, in dem dem hörigen Liebhaber die Sinne für die Außenwelt schwinden und ihm die Autonomie über sein Leben entgleitet, muß er an der Wirklichkeit und ihren prosaischen Ordnungen scheitern. Die psychologische Studie über menschliche Abhängigkeitsverhältnisse und die bewußtseinsmäßigen Mechanismen ihrer Verarbeitung oder Verdrängung ist zugleich ein präzis imaginierter Musterfall soziologischer Analyse : die exemplarische Darstellung eines sozialen Realitätsverlustes und seiner ruinösen biographischen Konsequenzen.

3.

P r o v i d e n z und Veränderung. J o h a n n Gottfried Schnabels >Insel Felsenburg< ( 1 7 3 1 )

3.1 Episierung des Utopischen Wir runden unsere Untersuchungen zur Funktion des Providenz-Motivs im Sozialroman des frühen 18.Jahrhunderts durch einige kursorische Bemerkungen zu Johann Gottfried Schnabels >Wunderliche F A T A einiger See-Fahrer [.. .]Insel FelsenburgInsel Felsenburg< weder an die psychologische Subtilität und Abgründigkeit der 226

Zitiert wird nach der Ausgabe von Volker Meid und Ingeborg Springer-Strand, Stuttgart 1979 ( R U B 8419), in den Anmerkungen mit der Sigle >IFManon Lescaut< (mit der ihr erster Band das Erscheinungsjahr, 1 7 3 1 , teilt) noch an den präzisen Empirismus und die dinghafte Logik des >Robinson CrusoeUtopia< von Thomas Morus, Campanellas >Civitas solisNova AtlantisInsel Felsenburg< diskutieren H a n s M a y e r : D i e alte und die neue epische F o r m : Johann Gottfried Schnabels Romane. In

189

auch eines seiner beherrschenden Themen. 2 ' 6 Schnabels insulare Idealgemeinschaft wird in ihrer Genese gezeigt, sie hat eine Geschichte nach der Vergangenheit wie nach der Zukunft hin, und mehr Aufmerksamkeit als der Ausmalung der idealen Inselwirklichkeit per se widmet der Roman den Bedingungen ihres Entstehens, der Integration des Utopischen in einen epischen Prozeß. 237 Mit der Frage nach der Genese des utopischen Ideals, nach seiner sukzessiven Realisierung im Rahmen eines teleologischen Erzählprozesses stellt sich zugleich das Problem der Legitimation einer solchen finalen Geschichts- und Erzählkonstruktion : Wie läßt sich die Antizipation eines in der zeitgenössisch-sozialen Wirklichkeit noch unrealisierten, ja unrealisierbaren Zieles im Medium literarischer Fiktion darstellen und beglaubigen? 3.2 Erzählstruktur und Teleologie Die Frage nach der Legitimation des erzählten Geschehens setzt jene andere nach den immanenten Deutungsinstanzen und Interpretationskategorien im Werk selbst voraus. Im Gegensatz zur Auktorialperspektive der >Asiatischen Banise< und generell zum höfischen Barockroman fehlt in der >Insel Felsenburgs genau wie bei Defoe und Prévost, eine dem Geschehen selbst transzendente, es jedoch zugleich organisierende und deutende Erzählinstanz. Der Herausgeber des Romans, als den sich Schnabel unter dem Pseudonym >Gisander< in einer kurzen Vorrede darstellt, präsentiert sich dem Publikum nur als >primus lector inter paresInsel Felsenburg< und ihre formengeschichtliche Einordnung, G R M N.F. I i , 1 9 6 1 , S. 5 1 - 6 1 . 23Ä Den Aspekt der religiösen Initiation und der biblischen Bildlichkeit des Eintritts ins Paradies betont Rosemarie Haas: Die Landschaft auf der Insel Felsenburg, Zeitschr. f. dt. Altertum 9 1 , 1 9 6 1 / 6 2 , S. 6 3 - 8 4 . 2 37 Hohendahl, Zum Erzählproblem des utopischen Romans, S. 83, hat einleuchtend darauf hingewiesen, wie die Episierung die Utopie an Konkretheit zwar gewinnen läßt, dies aber möglicherweise durch größere Unscharfe der Theorie erkauft. »Die >Insel Felsenburg< ist dafür ein gutes Beispiel. Die Darstellung der Normen und Institutionen, also das, was für die klassische Utopie eines More oder Campanella wesentlich ist, bleibt vage. Da das epische Geschehen primär ist, werden theoretische Erwägungen, warum gerade diese oder jene Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens als die beste gewählt ist, zurückgedrängt.« 2 3 s Zur poetologischen Bedeutung der Vorrede s. unten Kap. 3, S. 217-229.

190

keiner Stelle ein, sein kurzes >Avertissement< am Ende des ersten Band e s 1 " ist ohne jede inhaltliche Bedeutung und verspricht allein die künftige Fortsetzung der Berichte. Die eigentliche Erzählerfunktion der >Insel Felsenburg< übernimmt Eberhard Julius, der Großneffe des Staatsgründers und Patriarchen Albertus Julius. Aus seiner Feder stammen die dem Herausgeber per Zufall in die Hände geratenen Manuskripte, die auch von ihm bereits zur Veröffentlichung vorgesehen sind, wie Nachrichten über seine diesbezügliche Korrespondenz mit einem europäischen »Literato« (8) ebenso belegen wie die direkte Leser-Anrede in den Erzählpartien. Eberhard Julius erzählt seine eigene Lebensgeschichte bis zur Ankunft auf der Felseninsel und stellt deren gegenwärtigen Zustand vor, indem er über eine »General-Visitation« der einzelnen Siedlungen in Begleitung des »Stammvaters« berichtet.2··0 Allein in diesen jeweils nur sehr kurzen Schilderungen wird die Verfassung des Gemeinwesens selbst beschrieben, und außer sehr pauschalen Informationen über die wohlorganisierte Wirtschaftsweise der Insulaner und die Stabilität ihrer religiösen Institutionen erfährt der Leser nicht allzu viel Konkretes. 241 Den schon quantitativ bedeutendsten Teil des Romans bilden die abenteuerlichen Lebensgeschichten der Inselbewohner, wie sie entweder von diesen selbst vorgetragen oder aus hinterlassenen Dokumenten vorgelesen werden. Der Haupterzähler Eberhard Julius notiert zwar alle diese Berichte noch einmal und faßt sie in seinem Manuskript zusammen, doch legt Schnabel auf dieses Moment des redigierenden Eingriffs keinen Nachdruck. Es soll im Gegenteil der Eindruck von Authentizität und Unmittelbarkeit erweckt werden. Damit stellt sich der Roman formal als ein Konvolut autobiographischer Berichte dar, 242 deren jeder zwar von dem Erzähler Eberhard Julius mit einleitenden Situationsschilderungen versehen, von dem jeweiligen Binnenerzähler aber selbst formuliert und verantwortet wird. So verschiedenartig diese Berichte jedoch inhaltlich sind, so identisch ist ihre Struktur: Jeder Erzähler berichtet von seinem Vorleben in Europa und seiner Ankunft auf der Insel. Damit verlagert sich der Akzent des Romans auf den Gegensatz

2

39 I F , S - 4 I 7 Í .

4° Zur strukturbildenden Funktion der >General-Visitation< vgl. Müller, Autobiographie und Roman, S. 89 f. und Stockinger, Ficta Respublica, S. 404 ff. 2 4' Uber die Schwierigkeiten bei der epischen Konkretisierung der utopischen Wirklichkeit vgl. Müller, Johann Gottfried Schnabel, S. 879-881 ; Brunner, Die poetische Insel, S. 109; Stockinger, Ficta Respublica, S. 434ff. 2 4* Vgl. Müller, Autobiographie und Roman, S. 87ff. 2

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von Europa und Felsenburg und speziell auf das Moment des Übergangs in die utopische Gesellschaft, der mit jedem erzählten Lebenslauf eines Europamüden erneut vollzogen wird. Diese multiplikative Erzählstruktur macht es Schnabel möglich, bei einer größtmöglichen Vielfalt in der Darstellung der Laster, Greuel, Gefährdungen und Unsicherheiten »Europas« — das als pauschaler Gegenbegriff zur Insel Felsenburg dient zugleich deren einheitliche Aufhebung im Staat der Felsenburger zu proklamieren. Einem Kaleidoskop europäischen Unrechts, einem Prisma privaten, wirtschaftlichen und politischen Mißerfolges wird die gerechte Ordnung Felsenburgs als universale Remedur gegenübergestellt. Die universalistische Moral, die dabei als Wertungsnorm für alle Personen, Gesellschaftsklassen und Handlungen fungiert, ist die protestantische, hier stark lutheranisch-pietistisch gefärbte Ethik mit ihren Imperativen der frommen Askese und Pflichterfüllung, der Sinnenfeindlichkeit und optimaler Zeitausnutzung - die spezifische Weltanschauung der aufstrebenden bürgerlichen Mittelschichten. 2 « Der Aspekt der Wertung verweist auf eine zweite Leistung der Erzählstruktur, die sich aus der Identität von erlebenden und erzählenden Personen ergibt: Jeder Erzähler liefert mit der eigenen, teleologisch nach Felsenburg hinführenden Biographie zugleich deren providentiellheilsgeschichtliche Deutung, und in der Gesamtheit aller Selbstdarstellungen bekräftigt sich, ähnlich nachhaltig wie im >discourse< des alten Crusoe, das Selbstverständnis einer Gesellschaftsklasse, die sich mit den Absichten der Vorsehung zutiefst einig weiß. Die Felsenburger, die sich ihre Lebensgeschichten gegenseitig erzählen, finden darin, nach dem Muster der pietistischen Erbauungsliteratur, immer wieder die Bestätigung, »gewisse auserlesene Leute« (404) zu sein, und so könnte die Aufforderung des >Ertzvaters< an seine 80jährige Schwiegertochter Judith van Manders, etwas von ihrem europäischen Vorleben zu erzählen, über jedem der selbstaffirmativen Lebensläufe stehen:

2

43 V g l . W e b e r , Protestantische Ethik; s. ferner Stockinger, Ficta Respublica, S . 4 1 2 f f . ; A r n o l d H i r s c h : Barockroman und Aufklärungsroman, Etudes Germaniques 9, 1 9 5 4 , S. 9 7 - 1 1 1 , bes. S. 1 0 2 f f . V e r s c h w o m m e n bleiben die Ausführungen Jan Knopfs (Frühzeit des Bürgers. Erfahrene und verleugnete Realität in den Romanen Wickrams, Grimmelshausens, Schnabels, Stuttgart 1 9 7 8 ; zu Schnabel S. 8 5 - 1 1 0 : »Flucht v o r der Wirklichkeit. Sicherheit und Ruhe in Schnabels >Insel FelsenburgAsiatischen Banise< stellt für die Mitglieder der Inselrepublik die kontingente Ereignisstruktur ihrer Biographien ein Problem dar, weil sie Kontingenz als Schein begreifen und in ihrer gottgewollten Notwendigkeit akzeptieren können. Damit scheint es nahezuliegen, die teleologische Struktur der >Wunderlichen Fata< nach demselben metaphysischen Legitimationsmuster zu deuten wie im vorigen Kapitel den barocken Geschichtsroman. 24 ' In der Tat überwiegen bei der Etablierung der Utopie heteronome, dem rationalen Einfluß der Protagonisten entzogene Ereignisse, die von ihnen erst jeweils nachträglich in ihrer Sinnhaftigkeit erkannt und als Gottes weise Fügungen interpretiert werden. So gerät der Staatsgründer Albertus Julius wie weiland Robinson Crusoe durch Schiffbruch auf die Insel. Sein Stellvertreter, der Capitain Leonhard Wolffgang, wird von meuternden Seeleuten ausgesetzt, die ihm damit gewiß keinen Gefallen erweisen wollen; gegen die finsteren Pläne der Meuterer aber setzt sich die List der Providenz mühelos durch: »Mit mir habt ihrs böse zu machen gedacht, aber GOtt hats gut gemacht« (397). Weitere heteronome Aspekte erinnern an die Handlungsstruktur des Barockromans : In Gestalt des vor 1 jo Jahren gestorbenen ersten Bewohners der Insel, des Spaniers Don Cyrillo de Valaro, erscheint dem Albertus Julius verschiedene Male ein Orakel, »gewiß kein blosser Traum, sondern ohnfehlbar ein Göttliches Gesichte« (212), das ihm, ähnlich wie das Orakel in der >Asiatischen BaniseInsel Felsenburg< »die gleiche Passivität des Helden [ . . . ] wie im Barockroman. N e b e n dem >Glück< bestimmt das >grausame Verhängniß< das Geschehen; es bringt den Menschen in eine gefahrvolle Situation, in der dann der >Himmel< um Hilfe angefleht wird.« (S. 42). D a ß eine solche Beschreibung Schnabels Roman nicht gerecht wird, scheint der Verf. bereits wenige Seiten später klar geworden zu sein: H i e r liest man, der Mensch als W e r k z e u g Gottes sei in Schnabels R o m a n »nicht mehr nur passiv [!]; es führt einsehbare A u f t r ä g e aus.« (47).

I

9)

dir vor hat« (163). Die im einzelnen prognostizierten »Fatalitäten« treffen sämtlich ein. Als schließlich die Kinder von Albert und Concordia herangewachsen sind und den Inselbewohnern nur die traurige Alternative zwischen Inzest oder absehbarem Aussterben offenzustehen scheint, beschließen sie, »alle Ungedult zu verbannen, und mit aller Gelassenheit die fernere Hülffe des Himmels zu erwarten« (236), die auch nicht lange auf sich warten läßt und durch weitere Schiffbrüche tugendhafte und fleißige Heiratskandidaten heranschafft, welche den Fortbestand und Ausbau des Staates ermöglichen. Die providentiell determinierte, den Personen heteronom gegenüberstehende Wirklichkeit des Romans und die ihr entsprechende demütiggeduldige Haltung der Protagonisten geraten nun aber notwendig in ein Spannungsverhältnis mit der gerade durch die positiven Romanpersonen vertretenen Ethik methodischer Lebensführung, rationaler Selbst- und Naturbeherrschung und planvoller Aktivität. In dem hier sich andeutenden Konflikt zwischen Autonomie und Heteronomie der Lebensführung bricht eine der Zentralfragen der künftigen aufklärerischen Säkularisierung auf. Im Roman selbst erscheint der Gegensatz jedoch noch nicht als unüberwindlich. Schnabels Lösung, die völlig mit derjenigen Defoes übereinstimmt, ist es, Providenz und rationale Autonomie einander anzunähern, anstelle ihrer Unvereinbarkeit ein Sukzessionsverhältnis zwischen ihnen zu setzen. Dies hat zur Voraussetzung, daß die »wunderbare Vorsehung G O T T E S « (87) selbst mit jener bürgerlichen Ethik übereinstimmt, die die Romanfiguren vertreten, daß sich göttliche Providenz und menschliches Handeln in der Identität ihrer Ziele treffen: die bürgerlich-rationale Gruppenmoral verwirklicht das providentiell garantierte universale Sittengesetz. Für das Erzählen bedeutet dies, daß, im Gegensatz zum hohen Barockroman, die Protagonisten nicht mehr grundsätzlich einer scheinhaft-vordergründigen Perspektive auf Ereignisse unterliegen, deren metaphysischer Hintersinn ihnen verborgen bleibt. Vielmehr entsprechen sie gerade in ihrer bürgerlichen Rationalität und auf die empirische Welt fixierten Aktivität dem göttlichen Geschichtswillen am besten. Die unterschiedlichen Reaktionen der vier zuerst auf die Insel verschlagenen Personen sind hierfür signifikant: Der Schurke Lemelie, der aus französischem Adel stammt und zwei Makel in sich vereinigt: er ist Aristokrat und Katholik, glaubt nicht an eine gütige Vorsehung, hadert daher mit dem für ihn sinnlosen und grausamen Verhängnis und - besäuft sich. Bei dieser Haltung bleibt er auch weiterhin:

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Lemelie that nichts als essen und trincken, Toback rauchen, und dann und wann am Felsen herum spatzieren, worbey er sich mehrentheils auf eine recht närrische Art mit Pfeiffen und Singen hören ließ, vor seine künfftige LebensErhaltung aber, trug er nicht die geringste Sorge (143). Van Leuven und Concordia glauben, wegen ihrer Übertretung des 4. Gebots sei das Strafgericht des Himmels über sie hereingebrochen; nach anfänglicher Verzweiflung fügen sie sich resigniert und passiv in ihr Schicksal. Die Kritik des Albertus ist bezeichnend: der Holländer habe »bey seiner Liebsten lauter tieffsinnige Calender« gemacht, und wenn es nach seinem »speculieren« gegangen wäre, wären sie alle Sorgen losgewesen. N u r der Erzähler selbst bleibt nicht »verdüstert«; er beweist Initiative und Aktivität, hält sich »in beständiger H o f f n u n g etwas neues und guts anzutreffen. U n d eben diese meine H o f f n u n g Betrog mich nicht« (143). Dieses Postulat einer Entsprechung von göttlicher Providenz und menschlicher Autonomie liegt dem Roman insgesamt zugrunde, seine Grundannahme ist, »daß Gott dem hilft, der sich selber hilft«/ 4 0 Die Vorsehung wird zur Garantin bürgerlicher Rationalität und Moralität, sie schafft die Bedingungen, unter denen moralisches H a n deln G e w ä h r auf Erfolg findet. Dies war in Europa nicht möglich gewesen, ja, das dortige Unglück der Felsenburger resultierte gerade aus der Diskrepanz ihrer subjektiven Moralität mit der Beschaffenheit der absolutistischen Gesellschaft. Je tugendhafter sie waren, desto unglücklicher mußten sie dort zwangsläufig werden. 1 4 7 Umgekehrt ist die in Europa zum Scheitern verurteilte Moralität das Kriterium, nach dem die Providenz die Inselmitglieder auswählt; den Lasterhaften bleibt der Zugang verwehrt, und die einzige Ausnahme, eine »Schand-Hure, die zwar dem Gesichte nach eine weisse Christin, aber ihrer A u f f ü h r u n g nach ein von allen Sünden geschwärtztes Luder war«, bestätigt drastisch die Regel: »Dieser Schand-Balg, deren Geilheit unaussprechlich, und die, so wohl mit dem einem als dem anderen, das verfluchteste Leben führete, ist nebst uns noch biß hieher auf diese Insul gekommen, doch aber gleich in den ersten Tagen verreckt« (296).

246 Weber, Protestantische Ethik, S. i n . Z u m Junktim von christlich motivierter » G e l a s senheit« und aktiver Lebensbewältigung als imperativer Verhaltensnorm vgl. auch Stockinger, Ficta Respublica, S. 4 1 2 - 4 1 4 . 24

7 A b w e g i g erscheint jedoch Knopfs (Frühzeit des Bürgers, S. 9 8 f . , passim) D e u t u n g , »den europäischen Lebensweg der Redlichen« kennzeichne ein »pagane[r] Fatalismus«, E u r o p a sei identisch mit »der bösen W e l t der Fortuna«, und der Begriff >Fata< im Titel des Romans sei » A u s d r u c k der europäischen Politik [ . . . ] , die die Menschen den >Fata< aussetzt.«

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Noch einmal tritt damit die Thematik des Übergangs in den Blick: Wenn Providenz und bürgerliche Moralität als prinzipiell gleichgerichtet erscheinen, dann wird die Vorsehung nur noch dort benötigt, wo es der autonomen Rationalität an der Möglichkeit gebricht, sich aus eigener Kraft zu verwirklichen. Dadurch verlagert sich der Aspekt der Heteronomie. Als fremdbestimmt erfahren sich die nach Felsenburg Exilierten nicht so sehr durch die Providenz, die ihnen zwar unendlich überlegen ist, mit deren Zwecken sie sich aber im Einklang wissen, als vielmehr durch die korrupte politische Ordnung Europas, die diesen Zwecken nicht gemäß ist: »Denn es ist ja bekannt, daß die böse Welt fast gar keine Frommen mehr, sie mögen auch jung oder alt seyn, unter sich leiden will« (339). Indem die Providenz auf nur ihr selbst bekannten Wegen die moralischen Subjekte der ihnen feindlichen Umwelt entzieht und sie nach Felsenburg versetzt, verleiht sie ihnen allererst die Möglichkeit zu autonomem und zweckrationalem Handeln.248 Ist eine Ordnung, in der »die Tugenden in ihrer angebohrnen Schönheit anzutreffen, hergegen die Laster des Landes fast gäntzlich verbannet und verwiesen sind« (325), erst einmal providentiell etabliert, dann können die Funktionen der Vorsehung in die Eigenbestimmung der Felsenburger übergehen, werden providentielle Eingriffe überflüssig: Waren die ersten Neuankömmlinge noch durch die Vorsehung geschickt, so gehört schon der Erzähler, Eberhard Julius, zu der von den Inselbewohnern selbst eingeladenen Generation. Und wie zuvor »das Verhängniß« (163) nur würdige Personen auf die Insel gelangen ließ, so prüft nun der Capitain Leonhard Wolffgang jeden der reisewilligen Aspiranten auf die Utopie nach denselben strengen moralischen Grundsätzen, die in der Gründungsphase die Vorsehung selbst beobachtet hatte.2·" Damit schließt sich der Kreis unserer Interpretation, und wir können genauer formulieren, in welcher Weise Schnabels Roman, wie eingangs behauptet, auf die deutschen Verhältnisse im frühen 18.Jahrhundert reagiert. Habermas und Koselleck haben gezeigt, wie das innerhalb des Strukturrahmens des absolutistischen Staates ökonomisch erstarkende, 2 8

4

Die v o m D o g m a her naheliegende Frage, warum die doch allmächtige Providenz nicht schon in E u r o p a selbst der Moral den Boden bereitet, muß Schnabel überspielen; sie müßte entweder den Glauben an die Allmacht oder an die G ü t e der Vorsehung in Gefahr bringen.

2

49 M i t dieser D e u t u n g übereinstimmend formuliert Hohendahl, Z u m Erzählproblem des utopischen Romans, S. 98 : »Die wunderbaren Eingriffe sind als >Anfangshilfen< der göttlichen Vorsehung zu verstehen, die dazu gedacht sind, die Inselbewohner in den Stand zu setzen, sich zu behaupten. N a c h d e m die Kolonie ihre Autarkie erreicht hat, entfällt die N o t w e n d i g k e i t solcher Eingriffe von außen.«

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jedoch politisch weiterhin machtlose Bürgertum sich der politischen Sphäre entfremdet und aus ihr zurückzieht, um aus der Position privater Innerlichkeit heraus eine moralische Gegenöffentlichkeit zu etablieren: »Die Bürger ordnen sich nicht mehr nur der Staatsgewalt unter, sondern sie bilden zusammen eine society, die ihre eigenen moralischen Gesetze entwickelt, die neben die Gesetze des Staates treten.«2'0 - Diesem sozialgeschichtlichen Prozeß entspricht unser Roman sehr genau: Auch in den > Wunderlichen Fata< setzt sich eine auf bürgerlich-moralische und religiöse Prämissen gegründete Gesellschaft der schlechten bestehenden entgegen. Daß es zu ihrer Konstituierung des heteronomen göttlichen Eingriffs bedarf, mag man - gerade im Vergleich mit der als verwirklicht und selbsttragend dargestellten bürgerlichen Ordnung Englands im >Robinson Crusoe< - als Eingeständnis der realhistorischen Unzeitigkeit eines solchen Unternehmens deuten. Dennoch ist die Berufung auf die Providenz mehr als nur ein schlechtes Relikt der »alten epischen Form« in einem seiner Substanz nach »neuen«, d. h. »realistischen« Roman, wie Hans Mayer möchte. 1 ' 1 Mutet Mayers Versuch, die wunderbaren Erzählelemente als unwesentlich und eigentlich unzugehörig zu eskamotieren, ohnehin künstlich an, so versperrt sich eine Interpretation, die das Dasein providentieller Erzählstrukturen per se als Konzession an den höfisch-feudalen Geschmack interpretiert, 2 ' 2 den Blick für die gewandelte Funktion der Providenz: Die Vorsehung, die im Barockroman »ihre Hand meist über die Gekrönten« hielt 2 » und für den bürgerlichen Pöbel nur das Gebot parat hatte, »die vorgesetzte Obrigkeit zu ehren und zu lieben«, 2 ' 4 hat bei Schnabel die Fronten gewechselt und protegiert nicht mehr den Status quo, sondern dessen Veränderung. Damit ist sie zur höchsten Beglaubigungsinstanz für jene neuen bürgerlichen Schichten geworden, die in der Berufung auf ihre Übereinstimmung mit den religiösen und moralischen Dekreten der göttlichen Vernunft nicht nur affirmativ ihre eigene Identität finden, sondern zugleich ihren gesamtgesellschaftlichen Führungsanspruch anmelden.

Koselleck, Kritik und Krise, S . 4 3 . M 1 Eine selektiv auf den sozialgeschichtlich »progressiven« A s p e k t des Romans gerichtete Lektüre läßt M a y e r , Die alte und die neue epische F o r m , S. 6 3 , behaupten:

»Das

Gemeinwesen aber, die Felsenburger Utopie, wird von Schnabel durchaus als Realität behandelt. Kein Wunderelement wirkt mit [!], um die eigentümliche Felsenburger Gemeinschaft entstehen zu lassen.« 2 2

' Ebd., S.65. 2 S3 Zigler-Kliphausen, Die Asiatische Banise, S. 1 1 1 . 2

'4 Ebd., S . 2 3 0 .

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III. K A P I T E L

Säkularisierung und Traditionsbruch. Zu einigen Aspekten und Folgeproblemen des Paradigmenwechsels in der Erzählpoetik des 18. Jahrhunderts Das erste Wunderbare, so die Götter verursachen, ist wohl zweifelsohne der Beistand, den sie dem Poeten selbst leisten. J. Chr. G O T T S C H E D , >Critische Dichtkunst
Geschichte< zu heißen.' Und dennoch läßt sich, was zeitgenössisch als absoluter Bruch und Neuanfang erscheint, aus der interpretierenden Distanz und in sorgfältiger Differenzierung der Kontinuität von Problemen und der Diskontinuität ihrer Lösungen, als dialektisches Reflexionsverhältnis erkennen. Denn die Selbstinterpretationen einer Epoche können niemals ultima ratio des nach-denkenden Historikers sein, weil sonst auch die Literarhistorie sich das Odium zuzöge, stets die »Geschichte der Sieger« zu schreiben. Anstatt also lapidar (und insgeheim zustimmend) zu konstatieren, daß die Aufklärungspoetik für den hohen Barockroman nur noch Geringschätzung übrig gehabt habe, ist es in jedem Fall wissenschaftlich ergiebiger, nach den Gründen, Voraussetzungen und Folgen des Phänomens zu fragen und es interpretierend zu begreifen. Gerade die Permanenz des Bezugsproblems der Kontingenz der Welt bietet hier die methodische Voraussetzung, abstrakte durch bestimmte Negation zu ersetzen und einen tieferen Einblick zu gewinnen in jenes Übergangssyndrom von Kritik und Krise, wie es sich für die Geschichte des Romans und seiner Poetik als Paradigmenwechsel im Sinne verschärfter Reflexion auf die ontologischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des Erzählens und einer produktiven Suche nach neuen, kritikfähigen Erzählformen beschreiben läßt. Erst in der Auflösung zeitgenössischer Selbstverständlichkeiten aus der Perspektive des Historikers und in der Reformulierung epochentypischer Oppositionen erweist sich, in welchem Maße die neuen Erzählformen, die sich aus der vermeintlich endgültigen Kritik romanhafter Traditionen konstituieren, durch deren Negation bestimmt bleiben und wie konsequent die ästhetischen Probleme der >moderni< aus ihrer Destruktion der für die >antiqui< verbindlichen Schreibart folgen. 4

3

V g l . neben den Darstellungen Voßkamps und Hillebrands auch Ernst Weber: Die poetologische Selbstreflexion im deutschen R o m a n des 18. Jahrhunderts. Z u Theorie und Praxis von >RomanHistorie< und pragmatischem Roman, Stgt./Berlin/Köln/

4

Mainz 1974. Einsicht in T y p o l o g i e und Verlaufslogik literaturgeschichtlicher

Umbruchsphasen

vermittelt H a n s G e r d Rotzer: Traditionalität und Modernität in der europäischen Literatur. Ein Uberblick v o m Attizismus-Asianismus-Streit bis zur >Querelle des Anciens et des ModernesNatürlich< im 3. Band desselben W e r k e s v o n 1 7 9 3 , S. 5 0 7 - 5 1 1

b z w . S. 5 1 1 - 5 1 4 :

» A l s würkende Ursache betrachtet, ist die N a t u r die

Führerin und Lehrerin des Künstlers; als W ü r k u n g ist sie das allgemeine Magazin, woraus er die Gegenstände hernimmt, die er zu seinen Absichten braucht« (507). D e r Ehrentitel des >Natürlichen< gebührt Werken, die »uns nichts schimärisches, nichts phantastisches, der N a t u r widerstreitendes vorlegen« ( 5 1 2 ) . In A n w e n d u n g auf die Dichtkunst (und hier besonders auf die Anlage von Fabelzusammenhängen) folgt daraus die Forderung nach genauer und einsichtiger Motivierung: »In Handlungen, die sich zur epischen und dramatischen Poesie schiken, wird die V e r w i k l u n g und allmählige A u f l ö s u n g oft durch eine Menge kleiner Umstände bestimmt, die zusammengenommen das G a n z e bewürken. Läßt der Dichter einen davon w e g , oder setzet er einen falschen an die Stelle eines wahrhaften, so wird alles unnatürlich.«

203

der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste< entfaltete und Sulzers Urteil über das >Romanhafte< zugrundeliegende Begriff des N a t ü r lichem ist selbst keinesfalls voraussetzungslos und in einem geschichtsenthobenen Sinn »natürlich«. Vielmehr erweist sich Sulzers erkenntnistheoretische Norm ihrerseits als Resultat eines vom Autor nicht explizierten, ja möglicherweise in seiner vollen philosophischen und weltbildpraktischen Tragweite gar nicht durchschauten ideenevolutionären Prozesses und, in dessen Konsequenz, einer Umschichtung in den kategorialen und erkenntnistheoretischen Grundaxiomen der Erzählpoetik. Schon eine einfache Reflexion auf Stil und Duktus der Argumentation in der >Allgemeinen Theorie der Schönen KünsteNatürlichkeit< im letzten Viertel des Jahrhunderts alles andere als ein avantgardistisches Postulat; 14 in der konsolidierten Selbstverständlichkeit seines dogmatischen Urteils ist der Artikel bereits selbst nicht mehr frei von Zügen einer neuen spätaufklärerischen Orthodoxie. 1 ' Denn die Leidenschaftslosigkeit von Sulzers Rückblick ist weit mehr als nur eine Frage gelehrten Stils, lexikographischer Nüchternheit oder interpretatorischen Temperaments; sie ist zugleich Indiz eines definiti-

•3

Ü b e r Sulzer als »Enzyklopädiker der Ästhetik« vgl. A r m a n d Nivelle: Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik. 2., durchges. A u f l . B e r l i n / N e w Y o r k 1 9 7 1 , S. 4 7 - 5 j , mit der Charakterisierung, Sulzer sei » z w a r Eklektiker, läßt aber oft ein leitendes Prinzip vermissen.« (47) - S. ferner O s k a r Walzel: Johann G e o r g Sulzer über Poesie, Z f d P h 62, 1 9 3 7 , S. 2 6 7 - 3 0 3 .

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V g l . etwa Sulzers konservative Invektiven gegen die Dichter des Sturm-und-Drang und deren Tendenz, die »rohere N a t u r , wegen ihrer vorzüglichen Energie zu poetischen Schilderungen vorzuziehen« (Art. >Natürlichnatürliche< Version des Erzählens wird der alten, dem Verdikt des gesunden Menschenverstandes verfallenen >romanhaften< Schreibart pauschal konfrontiert, genauer: das Alte, die antiquierte Tradition, erscheint nur noch als »ohngefähr gerade das Entgegengesetzte« des Neuen, als sein negativer Reflex. 17 Eigentlicher Begründung, auch nur differenzierter Argumentation weiß sich der aufgeklärte Systematiker überhoben, weil wirkungsvoller als jede Darlegung von Gründen bereits der faktische Verlauf einer fast hundertjährigen Romangeschichte geurteilt hat. Für die literarhistorische Forschung, die sich dem vermeintlich eindeutigen Spruch der Ideenevolution nicht lediglich im affirmativen Nachvollzug historischer Selbstinterpretationen beugen möchte, wird es angesichts des begründungslosen Desinteresses der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste< zum um so dringlicheren Desiderat, den Verlauf der Kontroverse nachzuzeichnen, ihre historischen und systematischen Angelpunkte zu rekonstruieren. N u r so kann es gelingen, ideenge-

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Art. >RomanhaftNatürlichkeit< geführt hat. Für die Verlaufslogik dieses poetologischen Traditionsbruchs ist es charakteristisch, daß die in Sulzers Artikel als Folge einer »natürlichen Einstellung« dargestellte, dem aufgeklärten Zeitgeist voraussetzungslos evidente und daher einläßlicher Begründung nicht mehr bedürfende Kritik der kontingenten Ereignisstruktur des hohen Barockromans und seines metaphysischen Geschichtsbildes ursprünglich selbst im Zeichen theologisch-metaphysischer Argumente einsetzt und sich erst allmählich, auf dem Weg eines stufenweisen Säkularisierungsprozesses und der Entsakralisierung zentraler Begriffe wie >Wirklichkeit< oder >NaturMythoscopia romantica< mit starkem antiaristokratischem Affekt auch den pädagogischen Anspruch des barocken Romans als eines Mediums der Prinzenerziehung mit Schärfe verwirft. 1 ? Gegenüber dieser inhaltsbetonten Analyse der Romane und der Kritik ihrer negativen, sittenverderbenden Exempelwirkung, der schon quantitativ das Hauptaugenmerk von Heideggers Streitschrift gilt, bilden poetologische Fragen im näheren Sinn und bildet besonders auch das Providenz-Problem lediglich einen sekundären Aspekt, und selbst die über die >Mythoscopia< verstreuten Aussagen zu diesem Themenkomplex müssen durch interpretatorische Reflexion allererst erschlossen werden, bevor sie im übergreifenden systematischen Horizont zu sprechen beginnen. Gleichwohl bedeutet schon dieser negative Befund eine erste aufschlußreiche Erkenntnis: daß nämlich ein so zentrales Erzählanliegen des Barockromans wie das Strukturverhältnis von verwirrender Weltkomplexität und providentieller >Entknötung< bereits am Ausgang des 17. Jahrhunderts von einem bei aller scharfen Ablehnung zugleich äußerst gelehrten und belesenen Kritiker wie Heidegger hinter die Kritik spezifischer amoralischer ErzählzwAd/ie zurückgestellt und nicht mehr zureichend und seiner romanimmanenten Bedeutung entsprechend reflektiert wird, muß als bedenkenswertes Faktum erscheinen und ist bereits per se ein Symptom künftiger romantheoretischer Entwicklungen.

bezeichnen die Kapitel-, arabische die Seitenzahl; in den Anmerkungen wird die Sigle >MR< verwendet. 26

So V o ß k a m p , Romantheorie in Deutschland, S. 1 2 2 .

2

V g l . den sarkastischen Kommentar M R , C X I I , S. 1 3 3 f.

7

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2.1 Ablehnung des barocken Großromans: ästhetische und pragmatische Argumente Neben der »außführliche[n] Beschreibung der Buhlerey und FleischesWerck in den Romanen« (LXIII, 135) und der »kunstgeheime[n] Anpflanzung derselben in dem Gemüth des Lesers« (ebd.) sind die komplexe Fabelstruktur barocker Romane und der zu ihrer Lektüre erforderte Zeitaufwand dem calvinistischen Kritiker ein Dorn im Auge: Es sollte einer wol etlich mahl die Heil. Bibel durchlesen können/ eh er mit dem grossen und schwähren Arminio zu E n d kommet. E r schüttet dem Leser den Kopf so voll/ daß es anders alß zu Nachtheil andrer Studien nicht gedeyen kan. Seine Erzehlungen sind (wie ich vermeine/ auß Mißverstand der Roman-Gesetzen) so abscheulich verviertheilt/ und an weit entlegne Ohrt zerstreuet/ daß sie das Gemüth ohne greuliche fatiques und abschleiffen des Gedechtnuß nicht zusamen schmiegen kan. ( L X X I V , 88)

In den »vilerley Episodiis und Episodiorum Episodiis« gehe dem Leser die Orientierung verloren, und darum solle, wer eben Roman schreiben wil/ [ . . . ] sie entweder kurtz machen/ wie die verschmizte Alte/ oder in etliche vollkomne Handlungen eintheilen/ wie also Marini seinen Calliandro abgetheilt. Der muß ein Monstrum memoriae seyn/ der über dem letsten Buch des Arminii sich noch erinnert/ was er in den ersten gelesen. ( L X X V , 89)

Die nachgerade ironisch anmutende Pointe dieser Kritik Heideggers liegt darin, daß sie dem barocken Geschichtsroman, als dessen Paradigma der Autor besonders häufig Lohensteins >Arminius< zitiert, das Gelingen seiner eigenen Erzählintention attestiert und ihn gerade dafür angreift: weder die komplizierte Tektonik der Romanstruktur mit der Vielzahl ihrer Episodia, oder Zwischen-spiele. Die in einander stecken wie die Tunicae einer Zwiebel/ oder die Ptolemaischen Sphaerae, oder die Pfefferhäusel eines Marck-Schreyers/ oder die Räder in einem Uhrwerck ( X L I X , 59),

noch ihre verwirrende Wirkung auf den Leser sind ja, nach den Dogmen barocker Romankonstruktion, Symptome poetischen Unvermögens »auß Mißverstand der Roman-Gesetzen«, wie Heidegger unterstellt, sondern, gerade entgegengesetzt, Inbegriff höchster Virtuosität in der Handhabung der literarischen Kunstmittel, und so läßt sich pointiert, aber mit sachlichem Recht - behaupten, daß ein barocker Roman, je vollkommener er das eigene formale Telos rational-struktu209

relien Kalküls und komplexer Tektonik erfüllt, desto sicherer dem Verdikt Heideggers verfallen muß. D i e scheinbare Paradoxie, daß eine zutreffende und auch sprachlich originelle Deskription der Struktureigenschaften des barocken G r o ß r o mans nicht zu dessen ästhetischer Anerkennung, sondern zu seiner vehementen Ablehnung führt, ist Indiz einer massiven Verschiebung literaturphilosophischer Positionen und Orientierungen. W i r werden zeigen, daß sie in letzter Konsequenz auf tiefgreifende Umschichtungen im Wirklichkeitskriterium

und im Wahrheitsbegriff

des

Erzählens

sowie, in deren Gefolge, in der Legitimitätseinschätzung fiktionaler Mimesis der metaphysischen Weltstruktur zurückführt, doch wenden wir uns zuvor, darin der inneren Logik von Heideggers Argumentation folgend, den ästhetischen und erzähltechnischen Gesichtspunkten seiner Romankritik zu. Ein auffälliges Charakteristikum der >Mythoscopia romantica< ist ihre Berücksichtigung pragmatischer Aspekte der Romanlektüre, ihre die Werkästhetik

durch

wirkungspoetische

Überlegungen

ergänzende

Argumentation. Diese Kontextanalyse begründet nicht allein die Kritik an der moralisch korrumpierenden Wirkung heroisch-galanter Romane, sondern, mehr noch, die vom Ethos protestantischer

Zeitökonomie

getragene Verurteilung des hohen Zeitaufwandes der Lektüre. Dieser wird erklärt als Folge struktureller Gegebenheiten von Texten, deren Komplexität und Diskontinuität dem Leser äußerste Konzentrationsleistungen und eine notgedrungen chronologische Lektüre abverlangten: Denn solche Bücher sein also geschoben/ daß man sie nicht hin und her lesen/ sonder das gantze Drama in seiner Ordnung durchlauffen muß. (LUI, 63) Solchem Verständnis erscheint die Bauform der Barockromane weder, wie Birken oder Leibniz, als strukturhomologes Modell der eschatologischen Universalgeschichte noch, wie Huet, als Mittel zur Ersatzbefriedigung der vagierenden, durch die gegebene Realität unausgelasteten menschlichen

Neugierpotentiale

mittels

künstlicher

Steigerung

der

Erkenntnisanforderungen, sondern vielmehr, in pejorativer Umkehrung dieses letzteren Arguments, als illegitimer leserbezogener Kunstgriff mit dem einzigen Ziel, selektive Lektüren zu verhindern und das Publikum unvermeidlich und unentrinnbar in das Geflecht der Romanhandlung zu verstricken. 2 8 Einmal vom Sog der Romankomplexität erfaßt, muß der

28

Die Struktur des höfisch-historischen Romans ist nach Heideggers Auffassung »eingerichtet nach deß Menschen meisterlosen/ Curieusen Appetit/ hat einer angefangen (ich

2IO

Leser darin untergehen - sein »Kopf« wird »vollgeschüttet«, sein »Gemüth« mit »greulichen fatiques« geplagt, das »Gedechtnuß abgeschliffen« : Ein Leser, der zur Synthesis der überkomplexen Information in der Lage wäre, ist, anders als für Huet, aber - den deskriptiven Befund betreffend - durchaus im Einklang mit Leibniz und den deutschen Theoretikern des hohen Barockromans, für Heidegger nicht vorstellbar: er müßte ein »Monstrum memoriae« sein. 2.2 Fiktionales Erzählen als hybride Schöpfungskonkurrenz (

Das Argument einer denkökonomischen Uberforderung des Lesers durch die verschlungene Großstruktur und die inhaltliche Abundanz barocker Romane ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Zum einen reagiert der Kritiker Heidegger auch mit diesem Vorwurf durchaus sensibel und gegenstandsangemessen, wenn er, noch im Widerspruch, den Erfolg einer Romankonzeption bestätigt, die sich in der Konstruktion ihrer vielsträngig-kontingenten Fabel nicht am intellektuellen Fassungsvermögen endlicher Subjekte ausgerichtet, sondern das Transzendieren dieses »menschlichen Maßes« zu ihrem zentralen Form- und Wirkungsprinzip erhoben hatte. Zum anderen aber belegt Heideggers unbeirrtes Beharren auf Kürze, Ubersicht und Ordnung der Erzählstruktur nach Maßgabe ihrer rezeptiven Zumutbarkeit - in der Tat ließe sich zutreffend von einem poetologischen homo me«5«ra-Postulat sprechen - , daß der reformierte Theologe es ablehnt, sich auf den impliziten Appell des barocken Geschichtsromans einzulassen, demzufolge der turbulente vordergründige Augenschein des kontingenten empirischen Geschehens in Richtung auf seine geschichtstheologisch begründete eschatologische Wahrheit zu transzendieren sei. Die an dieser Stelle aufbrechende Zäsur kann in ihrer Bedeutung für künftige Umorientierungen im Realitätskriterium des Erzählens nicht hoch genug eingeschätzt werden. Eine kurze Besinnung auf die Prämissen der beiden divergierenden Erzählkonzeptionen macht dies klar: Das Wahrheitskriterium des barocken Geschichtsromans ist in einem emphatischen und programmatischen Sinne kontrafaktisch, da ja empirische Faktizität gerade als Schein desavouiert werden soll. Einer fundamentalen Unsicherheit in der Beurteilung der Erscheinungswelt einschließlich

rede von den Einfältigeren) so kriegt er bald lange Zähne/ wird als in einem Netz verstrickt/ daß er alles versäumt und biß zu End fortfahret.« M R , L I I I , S. 63.

211

des kontingenten Bezirks der Historie steht das Postulat eines verborgenen, endlicher Einsicht nur approximativ oder fideistisch zugänglichen providentiellen Sinnes der Welt entgegen. Dieser sens caché19 ist zugleich die maßgebliche Referenzdimension des Erzählens: der Roman ist »wahr« nicht als empirische, durch die Tatsächlichkeit überprüfbarer Sachverhalte oder Quellenbelege verbürgte, sondern als metaphysischstrukturelle Mimesis. Indem er ein unüberschaubar komplexes Geflecht fingierter oder historisch authentischer Personen, Daten und Tatsachen - deren jede sich dem Primat des Ganzen über seine Teile unterzuordnen hat und insofern den Status eines »monadischen« Repräsentanten besitzt - in einem harmonischen Schlußtableau sich ordnen und >entknöten< läßt, verdeutlicht er, via analogiam, den komplexen heilsgeschichtlichen Strukturzusammenhang der historischen Welt, und eben weil literarische Fiktion diese modellhafte metaphysische Klärungsleistung zu erbringen vermag, ist sie nicht mensonge, sondern figure de la vérité·3° Dieses Unterfangen einer narrativen Rekonstruktion der Universalgeschichte in ihrer metaphysisch begründeten Dialektik von Erscheinung und Wesen begegnet Heideggers scharfer und kompromißloser Ablehnung, und es ist für das Verständnis seines Verdikts gleich bedeutsam, Ubereinstimmung wie Divergenz mit der Poetik des Barockromans und ihren philosophisch-theologischen Voraussetzungen deutlich herauszuarbeiten. Ausdrücklich teilt der calvinistische Theologe die Annahme eines eschatologischen Richtungssinnes der Weltgeschichte, und nicht anders als für Birkens Poetik, Leibniz' Metaphysik oder Bossuets >Histoire universelle< stellt für die >Mythoscopia romantica< die Welt ein providentiell etabliertes und garantiertes Optimum dar. Aus dem identischen Axiom einer transzendenten Letztbegründung der historischsozialen Erscheinungswelt und aus der ebenfalls übereinstimmenden Prämisse, diese intelligente Einrichtung der Welt übersteige definitiv das Fassungs- und Urteilsvermögen endlicher Subjekte, zieht Heidegger jedoch diametral entgegengesetzte erzählpoetologische Folgerungen: für ihn bedeutet die nicht zu überwindende epistemologische Differenz von Weltkomplexität und humanem Erkenntnisvermögen die theoretische Vergeblichkeit und, gravierender, die moralisch-theologische Illegitimität jedes Versuchs, über die Weltstruktur in ihrer Totalität zu spekulieren oder sie gar im ästhetischen Modell abzubilden und zu wiederholen. Diese Synthesis ist ein ausschließlich göttliches Prärogativ, und jede 2

9



M i t der F o r m u l i e r u n g aus H u e t s >Traité de l'origine des romansRomanen-MacherMythoscopia< der Briefwechsel zwischen Leibniz und Anton Ulrich noch einmal als erkenntnistheoretisches und poetologisches Fundament des Geschichtsromans bekräftigen wird,31 verfällt dem Vorwurf der Blasphemie und sündhafter Hybris. Anders nämlich als die barocken Theoretiker betont Heidegger an der dichterischen imitatio Dei nicht den Aspekt strukturgetreuer Mimesis zum Zwecke modellhaft-didaktischer Verdeutlichung und nicht die Parallelität teleologischer Verläufe in Historie und historischem Roman, sondern die spezifische Differenz von Welt- und Wer^struktur. Das Moment der Erfindung einer nicht-authentischen Quasirealität, der Fiktionalisierung von Geschichte als eines eigenmächtigen Eingriffs in das göttliche Schöpfungsprivileg, muß den Roman als zugleich defizienten Modus und als illegitimen Konkurrenten der »wirklichen Welt« diskreditieren. Für den calvinistischen Verfasser des >Discours von den so benanten Romans< folgt aus dem Status der e i n e n historischen Welt als eines durch göttliche Weisheit ins Werk gesetzten Optimums die unhintergehbare und autoritative Geltung eben dieser Wirklichkeit, dergegenüber jedes kreative Spiel mit neuen Arrangements und produktiven Rekombinationen von Wirklichkeitselementen, gar mit alternativen Erzählweiten als hybride Idealkonkurrenz und folglich als »Traum und Phantasien« (LX, 72) zu verwerfen 1st.32 Sein dogmatisches Beharren auf dem theologisch privilegierten Status der Faktizität muß Heidegger notwendig zum Ausschluß anderer Modalitäten führen: die Modi der Wirklichkeit und der Notwendigkeit werden in seiner Konzeption in einem Maße kongruent gesetzt, das für Alternativen keinen Raum mehr läßt. Es ist daher konsequent, wenn die >Mythoscopia romantica< die prospektive und universalisierende Perspektive des barocken Geschichtsromans durch retrospektives und fallweises Lernen aus der Geschichte ersetzt: an die Stelle struktureller Verdeutlichung und prognostischer Antizipation des einheitlichen metaphysischen Verlaufssinnes der Heilsgeschichte, von deduktiver Historie ü b e r h a u p t , tritt die induktive und aposteriorische Kenntnisnahme bezeugter Historie - der >Historia Magistra Vitae< - in ihrer segmentären

31 32

Siehe oben, K a p . 1, A b s c h n . 2 . 3 . 2 und A n m . 2 8 1 . »Jeder Verstoß gegen die Historie muß zugleich als eine Verfälschung des göttlichen Wirkens aufgefaßt werden, weil alles Geschehen der Providenz unterworfen ist.« V o ß k a m p , Romantheorie in Deutschland, S. 1 2 4 .

213

Evidenz, Exemplarität und Erbaulichkeit: >Geschichten< statt >GeschichteKirchenund KetzerhistorieHistoria der Wiedergebornen< oder in den religiösen Autobiographien und Tagebüchern calvinistischer und pietistischer Provenienz manifestieren.34 2.3 Der ontologische Vorrang der Wirklichkeit und das Wahrheitskriterium der Faktizität Heideggers orthodoxer »Wahrheitsrigorismus«3' verbietet es, das Verhältnis von Historie und Roman anders denn als »Oppositum« (LVIII, 70), als exklusive Distinktion zu fassen: einzig der e i n e n , faktischen Wirklichkeit kommt der Seinsrang gottgewollter Notwendigkeit zu, denn nur das tatsächlich Existierende ist von der Vorsehung zum Sein erwählt worden, und nur der Providenz, dem göttlichen Autor, kommt das Recht zu, Mögliches zu realisieren. Daher kann allein die aufmerksame Lektüre »wahrer Historien/ (als Beweisthumen der heiligen Vorsehung Gottes)« (CIX, 130) zu wirklicher Erkenntnis führen: Historienlesen gebieret schöne Wissenschaft/ pflantzet andächtige Gedancken über der heiligen Providenz des Höchsten/ gibet nöthige Conduite, und Lebenskünst (LVIII, 70),

während sich Romane durch ihre Abweichung vom ausschließlichen Wahrheitskriterium der Faktizität als »Lügen und Fabien« (LIX, 71) diskreditieren, in denen »Sachen/ die niemahl in der Welt geschehen/ und mich zum Thoren zumachen erdacht seyn« (LX, 72), für wahr ausgegeben werden. 33

V o ß k a m p , Romantheorie in Deutschland, S. 1 2 3 .

34

V g l . Martin Schmidt: Pietismus, 2. A u f l . Stgt./Berlin/Köln/Mainz 1 9 7 8 , bes. S. 8 2 f f . ; Gerhard Sauder: A r t . >ErbauungsliteraturDiscours Wunderlichen Fata einiger See-Fahrer< unter dem Datum des 2. Dezember 1730 mit der Bitte verabschiedet, »die in dieser Vorrede mit untergelauffenen SchertzWorte nicht zu Poitzen zu drehen, denn ich bin etwas lustigen humeurs, aber doch nicht immer« (13),42 tut gut daran, sich der cartesischen Maxime zu erinnern. Denn wie sehr auch der grobianische Tonfall und die in ihrer derben Drastik wenig schulmäßige Ausdrucksweise des »dienstwilligen Gisander« seine eigenen Ausführungen in bedenkliche Nähe jener von ihm geschmähten literarischen »Ollebutterien« zu rücken scheinen, bei denen »man kaum die gantz zu Matsche gekochten Brocken der Wahrheit, noch auf dem Grunde der langen Titsche finden kan« (6), so bestimmt erschließt sich genauerer Lektüre die Oberflächlichkeit dieses Eindrucks, erweist sich der zum illiteratus stilisierte Editor, dessen eigenes Sprachniveau erheblich unter dem der von ihm publizierten autobiographischen Berichte rangiert, als wirkungsvoll kalkulierte Kunstfigur im Zentrum einer erzählpoetologischen Versuchsanordnung von einigem Raffinement. Ist nämlich bis etwa zur Jahrhundertmitte die Vorrede ohnehin der privilegierte, ja fast exklusive Ort der »poetologischen Selbstreflexion« des Romans,43 so gewinnen vollends die den >Wunderlichen Fata< vorgeschalteten Erzählkommentare des »Herausgebers« durch ihr verblüffendes Arrangement einen Eigenwert, der es erlaubt, sie zumindest heuristisch aus ihrem werkimmanenten Kontext zu lösen und im Rahmen der übergreifenden Frage nach Entwicklungen im Wahrheitsbegriff des Erzählens als vollgültiges und bedeutsames Dokument zu betrachten.··4 Ein auf Heidegger zurückblickender Vergleich macht dabei unmittelbar deutlich, wohin die systematische TenΊ1

» C e u x qui ont le raisonnement le plus fort, et qui digèrent le mieux leurs pensées, afin de les rendre claires et intelligibles, peuvent toujours le mieux persuader ce qu'ils proposent, encore qu'ils ne parlassent que bas breton, et qu'ils

n'eussent

jamais appris de rhétorique.« Discours de la Méthode, I, 9, zit. nach der A u s g a b e 42

v o n Lüder G ä b e , H a m b u r g i960 ( = Philosophische Bibliothek. 261), S. 1 2 . Schnabels R o m a n wird, wie in Kapitel 2, zitiert nach der A u s g a b e von V o l k e r Meid und Ingeborg Springer-Strand, Stuttgart 1 9 7 9 ( R U B 8419).

43

V g l . W e b e r , Poetologische Selbstreflexion (wie A n m . 3).

44

D i e erzähltheoretische Bedeutung der Vorrede hat zuerst Wilhelm V o ß k a m p : T h e o rie und Praxis der literarischen Fiktion in J . G . Schnabels R o m a n >Die Insel Felsenburg«, G R M

N.F.

1 8 , 1968, S. 1 3 1 — 1 5 2 , überzeugend herausgestellt;

einläßlichere

Interpretationen im Kontext übergreifender Theorieanalysen finden sich bei Weber, Poetologische Selbstreflexion, bes. S. 28 ff., und bei Wahrenburg, Funktionswandel, S. 2 2 4 - 2 2 8 .

218

denz Schnabel/Gisanders zielt: auf eine Überwindung der starren O p p o sition von Tatsachenwahrheit und Fiktion und auf ein nicht länger nur theologiebestimmtes Plausibilitätskriterium literarischer Erfindung. 4 ' Gisanders programmatische Ankündigung an den Leser, es werde diesem »in folgenden Blättern eine Geschichts-Beschreibung vorgelegt« (5), bildet den Auftakt zu einer mehrstufigen Reflexionsbewegung mit dem Ziel, das problematische Verhältnis von Wahrheit und Fiktion im nachfolgenden Roman noch vor dessen Beginn zu thematisieren und zu klären. Der Topos >Geschichts-Beschreibung< entspricht dabei der konventionellen und für Romane des Robinsonaden-Typus charakteristischen Formel für den Wahrheitsanspruch des Erzählens im Sinn eines Berichts historischer Tatsachenwirklichkeit und authentisch-chronistischer Wiedergabe empirischer Faktizität ohne erfundene Zusätze. 4 ^ Bereits der folgende Argumentationsschritt modifiziert das tradierte Schema, indem er es einer kritischen Reflexion aussetzt:

Gisander

antizipiert den Einwand möglicher Leser, die aus ihrer Kenntnis der Konventionen des zeitgenössischen Romans, also aus eigener Leseerfahrung und einer daraus abgeleiteten objektivierten Erwartung im Sinn einer skeptisch bewerteten Gattungsnorm, den bloßen Alibi-Charakter der Beglaubigungsformel von der

>Geschichts-Beschreibung
FelsenburgMythoscopia< erstaunlicherweise nichts einzuwenden wußten!« Mit Schnabel wendet sich das Blatt. 46 Vgl. Voßkamp, Theorie und Praxis der literarischen Fiktion, sowie, mit zahlreichen Belegen, Weber, Poetologische Selbstreflexion. Daß Gisanders >Geschichts-Beschreibung< gleichwohl e r f u n d e n e Sachverhalte berichtet, müßte sie in Heideggers dogmatischer Perspektive natürlich diskreditieren, während Schnabel auf eine Poetik der Wahrheitsähnlichkeit und der moralischen Plausibilität zielt. Diese erst am Ende der Vorrede erreichte Position ist zwar in der einleitenden Rede von der >GeschichtsBeschreibung< bereits implizit vorausgesetzt; dennoch liegt der weiteren Argumentation kein logischer Zirkel zugrunde, sondern eine Art von reflexivem Begründungsgang: die coram publico demonstrierte Selbstbestätigung des neuen Wahrheitsanspruchs durch gedanklich-experimentelle Außerkraftsetzung der alten Gegenposition! 47 So Voßkamp, Theorie und Praxis der lit. Fiktion, S. 1 3 1 , mit einem Terminus von Weinrich. Vgl. zum systematischen Problem auch Harald Weinrich: Fiktionssignale, in ders. (Hg.): Positionen der Negativität, München 1975 ( = Poetik und Hermeneutik VI), S. 525 f. Zum Problembereich >Fiktion und Nichtfiktion< vgl. die Diskussionsbeiträge desselben Symposions, ebd. S. 519 ff., sowie den ausgezeichneten Forschungsüberblick bei Hoops, Fiktionalität (wie Anm. 3 zur Einleitung).

219

Gedichte, Lucianische Spaas-Streiche, zusammen geraspelte Robinsonaden-Späne und dergleichen« (j) mißtrauen. Der Hauptakzent dieses Einwandes zielt auf die Diskrepanz von Erzählanspruch und Erzähl Wirklichkeit: die behauptete Authentizität des Erzählens stehe im Widerspruch zur Unglaubwürdigkeit, Abstrusität und Willkür des Erzählten, und es gehöre »ein Baumstarcker Glaube darzu«, wenn der Leser den Inhalt der inkriminierten zeitgenössischen Romane »als eine Wahrheit in den Back-Ofen seines physicalischen Gewissens schieben« (6) solle. Der Urteilsmaßstab des GesetzmäßigRealen und der alltäglichen Welterfahrung (»physicalisches Gewissen«) entlarvt die vorgeblich »wahrhafftige« (6) Geschichte als »lautere Fiction« (6). In diesem aus der Perspektive des imaginierten Lesers und des ihm idealtypisch unterstellten Erwartungshorizonts 48 vorgetragenen Argumentationsschritt ist Fiction,49 in genauer Entsprechung zu Heideggers Polemik, ein defizienter Modus der Aussage, der pejorative Gegenbegriff zu einer als Ubereinstimmung mit empirisch-historischen Sachverhalten definierten >WahrheitMythoscopia romantica< noch als ultima ratio gegolten hätten, behält bei Gisander nicht mehr das letzte Wort: Zwar läßt es Schnabels Herausgeber einstweilen dahingestellt, ob die Vorwürfe des »Freundes«, dem er alsbald beschwichtigend ins Wort fällt, für ihn »gerechter oder ungerechter Eiffer« (7) sind, aber in seiner Erwiderung entwickelt er, noch immer allgemein-theoretisch und ohne jeden konkreten Bezug auf die >Wunderlichen Fata< formulierend, eine dezidierte Gegenposition, die der Identifizierung von Wirklichkeit qua Faktizität mit Wahrheit schlechthin, wie sie der Leser vorausgesetzt hat, eine Apologie der Fiktion entgegensetzt. - Der Argumentationsgestus dieser Entgegnung bleibt allerdings zunächst - und das entspricht dem

48

Das Fehlen exakter Daten z u Schnabels Roman, »die eine soziologische Eingrenzung seines Publikums - außerhalb des Fiktionszusammenhangs - ermöglichten«, konstatiert Wahrenburg, Funktionswandel, S. 224, der die plausible Konsequenz zieht, Interessenlagen aus den Indizien des Romaninhalts selbst, z. B. dem »Angebot an Identifikationsmustern« und der »Häufung sozialtypischer Lebensläufe«, zu rekonstruieren. 49 Z u r historischen Semantik von fictio im europäischen Zusammenhang vgl. Sauder, Argumente der Fiktionskritik, bes. S. 129 f.

220

zeitgenössischen poetologischen Status quo — verhalten und defensiv; der konziliante Gisander räumt dem Kritiker von vornherein die generelle Unsicherheit des Urteils in literarischen Geschmacksfragen ein, unterstellt den angegriffenen Autoren dann immerhin eine möglicherweise »gantz besondere gute Absicht [...], die du und ich erstlich errathen müssen« (7), um sich doch augenblicklich wieder vorsichtig auf die Harmlosigkeit der Fiktionen zurückzuziehen: selbst wenn sie »dem gemeinen Wesen nicht eben zu gantz besondern Vortheil« gereichten, fügten sie ihm ebenso auch »keinen Nachtheil und Schaden« (7) zu. In summa: Der >Herausgeber< bemüht sich keineswegs besonders engagiert, die hypothetisch erwogene Möglichkeit einer »Defensión« (7) der geschmähten Romane auch tatsächlich zu demonstrieren. Doch Schnabel stilisiert gerade hier: Gisanders Toleranz und die laienhafte Beiläufigkeit seiner Bemerkungen sind ein raffiniertes und suggestives Kunstmittel, um mit feiner Ironie die dogmatische Selbstsicherheit der Leser-Argumentation und ihres ausschließlichen Wertungskriteriums der Faktentreue zu konterkarieren, und angesichts der unaufgeregt-naiven Maxime des illiteraten Editors, die »Políticos ungehudelt« zu lassen, »sie mögen schreiben und lesen was sie wollen« (7),'° relativiert sich die Empiriefixierung des romanfeindlichen Lesers ihrerseits zur bornierten Forderung »dieser oder jener, eigensinniger Köpffe [...], die sonst nichts als lauter Wahrheiten lesen mögen, nur eben lauter solche Geschichte [zu] schreiben, die auf das kleineste Jota mit einem cörperlichen Eyde zu bestärcken wären« (7). Wenn Heideggers Wahrheitskriterium der Faktizität sich noch aus calvinistischer Empörung über die hybride Poetik möglicher Welten in Konkurrenz zum provi-



Die forcierte D e u t u n g K n o p f s , Frühzeit des Bürgers, op. cit., Schnabel identifiziere (?!) »die >Politicos< grundsätzlich mit den >eigensinnigen KöpffenPolitici< von Gisander in offenkundig apologetischer A b s i c h t genannt werden. - K n o p f s Arbeit laboriert an einer verhängnisvollen sprachlichen Uberzeichnung ihrer Einsichten. Formulierungen wie: »Die Mimesis-Forderung verkehrt sich, kommt man ihr nach, in ihr Gegenteil: jede N a c h a h m u n g der Wirklichkeit bedeutet N a c h a h m u n g der L ü g e , heißt eben zu lügen, sich den Gesetzen der Politik auszuliefern« (96) oder: »die Wirklichkeit« sei »so schlecht [ . . . ] , daß sie nicht in der Poesie noch einmal wiederholt werden darf« (ebd.), verselbständigen sich ahistorisch, wenn sie dem T e x t eine »negative Dialektik« unterstellen, die weder Schnabel noch der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule gerecht werden kann, als deren A h n v a t e r Gisander unversehens (»fato«!) erscheint.

221

dentiellen Schöpfungsprivileg gespeist hatte, so ist aus den schwachen theologischen Reminiszenzen von Gisanders ostentativ arglosen Betrachtungen statt metaphysischen Protests nur noch amüsiertes Unverständnis ob des Starrsinns theologischer Zunftgelehrter zu vernehmen, die sich in ihrem fiktionsfeindlichen Rigorismus rechtens noch nicht einmal auf die Heilige Schrift berufen können: W a r u m soll den eine geschickte Fiction, als ein Lusus Ingenii, so gar verächtlich und verwerfflich seyn? W o mir recht ist, halten ja die Herren Theologi selbst davor, daß auch in der Heil. Bibel dergleichen Exempel, ja gantze Bücher, anzutreffen sind. Sapienti sat. (7)

Mit der Einführung des Leitbegriffs der geschickten Fiction als eines freien Spiels der Einbildungskraft hat die Erwiderung Gisanders ihren, wiewohl noch unentfal teten, Zielgedanken erreicht, denn zwar bleiben das Qualitätsmerkmal der »Geschicklichkeit«, das die propagierte Version der Erfindung als ihre differentia specifica gegenüber den »nur den Mondsüchtigen gläntzende[n] Mährlein« (6) offenbar auszeichnen soll, und der Wirklichkeitsbezug des »Lusus Ingenii« noch unerörtert, doch enthält diese poetologische Zentralkategorie Schnabels in nuce bereits jenes neue Erzählparadigma nach den Wahrheitskriterien lebensweltlicher Wahrscheinlichkeit und weltanschaulicher Plausibilität, dessen Durchsetzung die ganze Vorrede Gisanders zuletzt dient. Die nun folgende letzte Stufe bedeutet den Höhepunkt der Argumentationsbewegung, denn sie leitet zur Diskussion des Fiktionalitätsproblems in der >Insel Felsenburg< selbst über und unternimmt, in einer völlig überraschenden Volte, eine Demonstration des Wahrheitswertes ihrer Erzählinhalte. - Mit Bezug auf »gegenwärtige Geschichte« rekurriert Gisander auf den zentralen Streitpunkt seiner Kontroverse mit dem imaginierten Leser und formuliert, ganz im Sinne der >Mythoscopia romantica«, die ursprüngliche Alternative von Wahrheit und Fiktion erneut als exklusive Distinktion: Allein, w o gerathe ich hin? Ich soke Dir, geneigter Leser, fast die Gedancken beybringen, als ob gegenwärtige Geschichte auch nichts anders als pur lautere Fictiones wären? Nein! dieses ist meine Meynung durchaus nicht, jedoch soll mich auch durchaus niemand dahin zwingen, einen E y d über die pur lautere Wahrheit derselben abzulegen. (7 f.)

Die zugespitzte Opposition von reiner Tatsachenwahrheit oder reinem Lügencharakter des Erzählten scheint eine ultimative Auflösung im Sinne des ausgeschlossenen Dritten zu verlangen, aber gerade an der Stelle, an der der theoretische Diskurs seiner Lösung unausweichlich 222

nahe scheint, b r i c h t sein U r h e b e r die E r ö r t e r u n g a b u n d leistet d e n theoretischen O f f e n b a r u n g s e i d : Anstatt d e m A n s i n n e n n a c h z u k o m m e n , als A u t o r ü b e r die A u t h e n t i z i t ä t des M i t g e t e i l t e n z w e i f e l s f r e i R e c h e n s c h a f t z u g e b e n (»einen E y d a b z u l e g e n « ) , w e c h s e l t G i s a n d e r das T e x t genre u n d

zieht

sich, T h e o r i e

durch

Erzählung

ersetzend,

auf

die

P o s i t i o n eines b l o ß e n H e r a u s g e b e r s d e r i h m » f a t o « (8) in die H ä n d e geratenen >Fata< z u r ü c k . ' 1 D i e s e Schlüsselstelle hat d u r c h ihre l i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n E x e g e ten eine S k a l a v o n D e u t u n g e n

erfahren, deren

Spannweite von

u n v e r b i n d l i c h e n F a b u l i e r l u s t des s c h e l m i s c h e n G i s a n d e r bis z u r

der pro-

g r a m m a t i s c h e n P r e i s g a b e der aristotelischen M i m e s i s f o r d e r u n g r e i c h t ; ' 2

s2

Die Frage, ob diese plötzliche Enthüllung für ein zeitgenössisches Lesepublikum in ihrem Fiktionscharakter eindeutig zu identifizieren war, ob sie ζ. B. als formale Konvention des neueren Romans (»Herausgeberfiktion«) durchschaut werden konnte, so daß klar war, daß sich Schnabel zur Explikation des Wahrheitsanspruchs von Fiktion selbst wiederum auf eine fingierte Konstellation bezog, ist kaum mit Sicherheit zu beantworten; die Wirksamkeit von Schnabels Versuchsanordnung wird durch diese Ungewißheit aber in keinem Fall berührt. - Das Problem der Historizität von Fiktion und eventueller diachroner Verschiebungen in den Plausibilitätsgrenzen literarischer Weltentwürfe sowie im Fiktionsbewußtsein der Rezipienten ist m . W . bisher nicht systematisch aufgearbeitet worden. Nach Hans Steffen: J . G . Schnabels >Insel Felsenburg< und ihre formengeschichtliche Einordnung, G R M N . F . 1 1 , 1961, S. 5 1 - 6 1 , soll hier »die Fiktion als Fiktion betont werden« (53), die »Preisgabe der Wahrscheinlichkeit zugunsten des >Gemüths-VergnügensInsel Felsenburg< sei »das Ergötzliche, die Lust am Fabulieren« (53), die »scherzhafte Intention« (54) des Erzählers sei offenkundig. Schnabel setze sich »unbekümmert« über »das Vernünftige, Ähnlichkeit und Wahrscheinlichkeit« (54) hinweg. Konsequent leugnet Steffen die Bedeutung des Romans als Sozialutopie; diese wird unverbindlich wie das unbekümmert-ergötzliche Fabulieren selbst. - Für Weber, Poetologische Selbstreflexion, S. 30, läßt Schnabel »den Wahrheitsgehalt der eigenen Erzählung in der Schwebe. Als Herausgeber, darin folgt er dem Schema der Herausgeberfiktion, brauche er sich zu nichts zu verpflichten.« — »Aus dem Hinweis, daß die Geschichte des Manuskripts erfunden sein könnte, folgt, daß auch der Roman nicht unbedingt und überall auf Tatsachen beruhen muß«; somit scheine die Vorrede »darauf hinauszulaufen, daß dem Leser bedeutet wird, die >Wunderlichen Fata< enthielten sowohl erfundene wie wahre Geschichten.« (30). Webers Schlußfolgerung bliebe auch dann erläuterungsbedürftig, wenn sie durch den Text der Vorrede gedeckt wäre. - Auch für Voßkamps anspruchsvolle Interpretation der Vorrede (Theorie und Praxis der lit. Fiktion) gilt es als ausgemacht, daß Schnabel weder Wahrheitsanspruch noch Wahrscheinlichkeitsforderung akzeptiere und die aristotelische Mimesisforderung ignoriere (141); im Gegensatz dazu würden »die literarische Fiktion und der bewußte Anspruch des Erzählers auf das Recht zur Fiktion in den Vordergrund gerückt.« (139). Allerdings muß Voßkamp von dieser Voraussetzung her eine Diskrepanz von Vorrede und Roman einräumen: »Schnabel formuliert zwar [ . . . ] keine Wahrscheinlichkeitsforderung oder -theorie und lehnt eine Bindung daran [ . . . ] ab - das im Roman Dargestellte vermag aber dennoch Wesenszüge der (historischen) Wirklichkeit im Rahmen des Wahrscheinlichen aufzuzeigen.« (143). - Die Annahme solcher Inkonsistenzen läßt sich vermeiden, wenn man mit Iser, Die Wirklichkeit der 223

zureichend dürfte sie bislang nur von W a h r e n b u r g , " Stockinger' 4 und M ü l l e r " kommentiert worden sein, deren A n s a t z die folgende Lesart zu bestätigen und zu vertiefen sucht: Durch Gisanders Herausgeberrolle wird, in sorgfältiger Inszenierung, die Unfähigkeit fingiert, die auf der Linie romanpoetologischer Orthodoxie durch den imaginierten Leser aufgeworfene Alternative zwischen »pur lauterer Wahrheit« im Sinne historischer Faktizität und »pur lauteren Fictiones« als reiner Erfindung ohne Korrespondenz mit empirischer Realität im konkreten Fall der >Insel Felsenburg< triftig zu entscheiden. D e r Herausgeber, selbst kein »literatus« von Profession, ist »zu dieser Arbeit gekommen [ . . . ] wie jener zur Maulschelle« (10) und hat sich des »Paquet[s] Schrifften« eines verunglückten H o m m e de lettres und vermeintlich »starcken Capitalisten« nur aus - nach offenherzigem Eingeständnis stark mit Besitzmotiven durchwirkter - Pietät angenommen. Selbst wenn Gisander an den ererbten Manuskripten schließlich wider Erwarten »eine ziemliche Belustigung« (9) findet und sich die Kenntnisse anzueignen sucht, »wie ich mich bey Edirung derselben zu verhalten hätte« (10), bleibt seine Distanz gegenüber »Möns. Eberhard Julii kunterbunde[r] Schreiberey« ( 1 1 ) bestehen, ändert sich nichts an seiner Unzuständigkeit in der aufgeworfenen Wahrheitsfrage, zu deren Beantwortung

er sich, als

6

>secundus lector inter paresDas Verschwinden im Bild. U b e r Blendwerke und Fiktion e n in der Aufsatzsammlung gleichen Titels (Köln 1980, S. 2 3 5 - 2 8 3 ) . 57

Theorie und Praxis der lit. Fiktion, S. 1 3 9 , 1 4 1 , 1 4 3 .

225

verunglückten Literaten' 8 oder durch das positive Urteil seines Hamburger Bekannten »in meinem Vorhaben gestärckt« (10) sieht, so sollen jedem Leser - »es möchte gleich einem oder den andern viel, wenig oder gar nichts daran gelegen seyn« (10) - die >Wunderlichen Fata< ohne präjudizierende Wahrheitsversicherung und mit der Maßgabe offeriert werden, »daß er darvon glauben kan, wie viel ihm beliebt« (10). Die Delegation des Wahrheitsentscheides an die Urteilsfähigkeit eines kritischen Lesepublikums wäre mißverstanden, wollte man sie als Votum für die Unverbindlichkeit und rezeptive Beliebigkeit des literarischen Textes interpretieren. Das Gegenteil ist der Fall: die Einbeziehung des Lesers in das Wahrheitsfeld des Textes, der Appell zur kommunikativen Verständigung" über die mögliche Wahrheit des Erzählten impliziert einen Paradigmenwechsel, in dem an die Stelle der problematisch gewordenen binären Identifikationen von Faktizität mit Wahrheit und Fiktion mit Lüge auf der Grundlage einer dogmatischen Wirklichkeitsinsistenz offenere Kriterien der intersubjektiven, soziokulturellen Verständigung über den Geltungsanspruch literarischer Wirklichkeitsentwürfe treten. Das Wahrheitskriterium faktischer Wirklichkeit wird als solches irrelevant; auf der Basis eines Wirklichkeitsbegriffs linearer Kausalität der Erscheinungswelt wird es transformiert in die Forderung nach wirklichkeitsanaloger, gesetzeskonformer Erfindung - >WahrscheinlichkeitNatürlichkeitMöglichkeit< - , öffnet sich über diesen »physikalisch«-empirischen Aspekt hinaus jedoch zugleich für normativ-praktische, von der historisch-sozialen Lebenswelt des Lesepublis8

»Er ließ den gantzen Tag über auf den Wagen vortrefflich mit sich reden und umgehen, so bald wir aber des Abends gespeiset, muste man ihm gemeiniglich ein Licht alleine geben, womit er sich von der übrigen Gesellschaft ab- und an einen andern Tisch setzte, solchergestalt beständig diejenigen geschriebenen Sachen laß, welche er in einem zusammen gebundenen Paquet selten von Abhanden kommen ließ.« (IF, S. Β). - Man könnte formulieren, daß Schnabel die Faszinationskraft seines Romans - »le plaisir du texte«, um mit Roland Barthes zu reden - als suggestive Rezeptionsanweisung gleich mitinszeniert habe. 59 Vgl. die grundlegenden Bemerkungen Isers, Wirklichkeit der Fiktion, S. 304 f., über literarische Weltentwürfe als »Artikulation des Problemüberhangs« (305) in den dominanten Sinnsystemen einer Epoche; die »massive Moralisierung von Roman und Drama im 18. Jahrhundert« belege, wie durch Fiktion »etwas darüber ausgesagt wird, was die herrschenden Systeme ausklammern und folglich nicht in die von ihnen organisierte Lebenswelt einzubringen vermögen. Konstituiert die Fiktion einen solchen Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit, dann ist sie nicht mehr deren Opposition, sondern deren Kommunikation« (304). Die Affinität dieses Konzepts einer literarischen Verständigung über Orientierungsdefizite gesellschaftlicher Sinnsysteme zu den von Habermas und Koselleck untersuchten Selbstverständigungs- und Selbstbehauptungsprozessen des Bürgertums im 18. Jahrhundert ist evident.

226

kums her generierte Plausibilitäten und weltanschauliche Identifikationen. In dieser theoretisch-praktischen Doppelseitigkeit des neuen Wahrheitsbegriffs literarischer Fiktion liegt, wie unsere weiteren Untersuchungen noch zeigen werden, eine für die Romangeschichte des 18. Jahrhunderts grundlegende Ambivalenz, die erzähltechnische Neuerungen ebenso stimuliert, wie sie »glatte« Erzähllösungen immer wieder vereitelt, in jedem Fall aber einen entscheidenden Anstoß bedeutet für das Reflexivwerden und die interne Komplexitätssteigerung des Romans. Wenn es zutrifft, daß der an das lebensweltliche Erfahrungs- und Urteilungsvermögen des Lesepublikums appellierende Wahrheitsanspruch des Erzählens von vornherein mehr meint als dessen nur theoretisch-»physikalische« Widerspruchsfreiheit und Wirklichkeitskongruenz (von der Realkorrespondenz der Erzählsachverhalte ganz abgesehen), und wenn gelten kann, daß dieses konsensualistisch-diskursive Wahrheitsverständnis moralisch-praktische Evidenzkriterien einschließt und die Wünschbarkeit eines narrativen Weltentwurfs zu einer wesentlichen Begleitbedingung seiner Glaubwürdigkeit und rezeptiven Attraktivität macht, dann partizipiert das Erzählen nicht nur an jener Temporalisierung und »Possibilisierung der Welt«, die neuere sozialwissenschaftliche Analysen als ein konstitutives Differenzierungsmoment der neuzeitlichen - und insbesondere der »bürgerlichen« - Gesellschaftsentwicklung herausgestellt haben/ 0 sondern dann wird es im Grenzfall sogar denkbar, daß die e r z ä h l t e Geschichte eben a 1 s Fiktion beansprucht,

60

Nach Pape, Von den »möglichen Welten« zur »Welt des Möglichen« (wie Anm. 20 zur Einleitung), setzt die moderne Möglichkeitstheorie der Mehrheit möglicher Welten bei Leibniz eine »Welt des Möglichen« entgegen, die »nicht als Vorstufe der Wirklichkeit, sondern um ihrer selbst willen interessiert: als diejenige Dimension, in der sich alle möglichen Strukturen, Modelle, Entwürfe des Wirklichen systematisch ausbreiten lassen« (274). - Niklas Luhmann (Selbst-Thematisierung des Gesellschaftssystems. Uber die Kategorie der Reflexion aus der Sicht der Systemtheorie, in ders.: Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 7 2 - 1 0 2 ) leitet aus diesem Befund eine mit dem Ubergang zur modernen Gesellschaft einsetzende »Possibilisierung der Welt« ab; »während zuvor das Reale die perfekte Ordnung war, die aus den Möglichen durch die Schöpfung ausgewählt worden war, wird nun der Entwurf von Möglichkeiten zum Orientierungssystem für die Selektion einer angestrebten Wirklichkeit und in dieser Funktion auf Erkenntnis- bzw. Selektionsvermögen abgestimmt«. Für das Gesellschaftssystem gelte damit, daß seine Einigungspunkte »zunehmend in Prämissen über das Mögliche, in der Zukunft, vor allem in bewerteten Steigerungsrichtungen, nicht in der Akzeptierung des Vorhandenen oder Geltenden« (89) lägen.

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die - hegelisch gesprochen - »Wahrheit des bloß Wirklichen« zu sein, und daß sie von ihrem Publikum dafür erkannt wird. 61 Es ist offenkundig, daß sich unter diesen Prämissen kritisch-diskursiver Weltbildabstimmung gerade das Erzählproblem des sozialutopischen Romans (aber generell des Romans als eines Alternativprojekts zur Wirklichkeit) zureichender erfassen läßt als von der Warte eines durch theologische Begründung gedeckten autoritativen Privilegs der e i n e n Erfahrungswelt aus. Das Gemeinwesen von Felsenburg ist dann nicht schon deshalb >unwahrVersuch einer Critischen Dichtkunst wird zitiert nach dem reprografischen Nachdruck der 4., verm. Aufl., Leipzig 1 7 J 1 , Darmstadt 1982. (In den Anmerkungen mit der Sigle >CDWunderbaren< und speziell mit jener Art des Wunderbaren, die »von Göttern und Geistern herrühret« (171), also mit der Inanspruchnahme der göttlichen Vorsehung als Legitimationsinstanz des Erzählens, ist kritisch, oft ironisch. An den »menschlichen Fabeln, die in Heldengedichten, Schauspielen und Schäfergedichten hauptsächlich herrschen«, rügt der Verfasser der >Critischen Dichtkunst mangelhafte Motivation, »Verwirrungen« und »die mannigfaltigen unvermutheten Zufälle, die ihren Hauptpersonen begegnen«, durch die »eine sonst ganz wahrscheinliche Fabel oft so wunderbar« werde, »als ob Bäume und Thiere mit einander geredet hätten; oder als ob ein halb Dutzend Götter sichtbar erschienen wären« (171). Den Anspruch des barocken Romans, in der Rückführung seiner Erzählinhalte auf göttliche Verfügungen und providentielle Eingriffe die metaphysische Struktur der Welt nachzuahmen, nimmt Gottsched nicht mehr ernst. Für ihn ist die providentielle Legitimation eine Ausflucht, Symptom dichterischer Unfähigkeit, der es nicht gelingt, einen in sich selbst stimmigen Handlungszusammenhang zu konstruieren und aus innerer Kausalität aufzulösen. Die Berufung auf die Providenz ist dem aufgeklärten Kritiker schon um ihrer Motive willen suspekt; er mutmaßt darin ein Alibi mit dem leicht durchschaubaren Ziel, Inhalt und Technik des Erzählens einer rationalen Beurteilung und kunstkritischen Wertung zu entziehen und den Dichter selbst mit den Weihen göttlicher Inspiration zu versehen: »Der Schluß war also richtig: haben sie es nicht von sich selbst; so hat es ihnen ein höheres Wesen, eine Gottheit, oder eine Muse eingegeben« (172). Die bei den Alten gebräuchliche Anrufung der Musen und Götter »klang [ . . . ] in den Ohren des Pöbels so andächtig, als wenn heutiges Tages Prediger Gott um seinen Beystand zu ihrer Arbeit anflehen, ob sie gleich studiret haben; und folglich machte es dem Dichter ein gutes Ansehen« (172 f.). Mit ebenso lapidarem Sarkasmus kommentiert Gottsched die innertextuelle Rechtfertigungsfunktion der Providenz und nimmt dabei bereits kritisch vorweg, was später der Ironie von Wielands Erzählen' 7 zugrundeliegen wird: »Das erste Wunderbare, was die Götter verursachen, ist wohl zweifelsohne der Beystand, den sie dem Poeten selbst leisten sollen« (172). Demselben Verdikt, exemplifiziert an Schauspiel und Oper, verfallen alle Varianten der Dens ex machinaTechnik. Ein Poet, der es nötig hat, sich zur Auflösung seiner verwirrten Handlungsfäden auf die Providenz zu berufen, leistet damit den künstlerischen Offenbarungseid und zeigt sich als unfähiger Werkmeister: 6

7

V g l . unten, K a p . 7, bes. S. 463 ff. und S. 4 8 / f f .

230

In der That erfodert es nicht viel Verstand, alle Augenblick einen Gott vom Himmel kommen zu lassen, um dem Schauspiele auszuhelfen, wenn es widerwärtig ablaufen will; w o nicht ein höherer Beystand dazu kömmt. Das heißt mehrentheils den Knoten zerschneiden, aber nicht auflösen. U n d darinn verstoßen gemeiniglich unsere Opernschreiber. Weil sie ihre Schauspiele gern so wunderbar machen wollen, als es möglich ist; so denken sie fleißig auf Maschinen, das ist, auf göttliche Erscheinungen, Verwandlungen, und andre poetische Seltenheiten, welche die Augen des Pöbels blenden. U n d weil sich dieselben nicht in alle Fabeln schicken wollen, so werden sie mit den Haaren dazu gezogen; damit nur ja etwas vom Himmel herunter komme, wie man zu reden pflegt. ( 1 8 5 )

Die Kritik, die tendenziell auf alle epischen und dramatischen Gattungen übertragbar ist, weil sie dem poetischen Grundvorgang par excellence, der Erfindung der Fabel/ 8 gilt, gipfelt in einer an Heideggers Argumentation gemahnenden ironischen Volte: Würde und Größe der Providenz müssen gegen die hybriden dichterischen Versuche, von ihnen eine Vorstellung zu vermitteln und die göttliche Allmacht in literarischer Analogie nachzuahmen, in Schutz genommen werden: »Es würde auch bey so vielem magern Zeuge nicht leicht zu besorgen seyn, daß man ihre Einfälle für etwas Ubermenschliches halten möchte« (174). Erst im Zusammenhang mit ihrem positiven Korrelat, dem Wahrscheinlichkeitsbegriff, wird Gottscheds Polemik gegen das Wunderbare und gegen die mißbräuchliche Legitimation einer kontingenten Fabel aus transzendenten Prämissen in ihrer Zielrichtung ganz verständlich. Hatte die barocke Poetik ein Weltverständnis aus empirischer Perspektive als inadäquat und scheinhaft desavouiert und gerade seine trügerische Scheinhaftigkeit zum Gegenstand eines erzählerischen >jeu de la perspective< (Bossuet) erhoben, so bestimmt eben diese Dimension empirischrationaler Kausalität Gottscheds poetologischen Entwurf als positives Leitbild. Für den Autor der >Critischen Dichtkunst gilt, [ . . . ] daß d a s W u n d e r b a r e in der Dichtkunst nicht ohne Unterscheid statt findet: es m u ß a u c h g l a u b l i c h h e r a u s k o m m e n , und zu dem Ende, weder unmöglich noch widersinnisch aussehen. Daher kömmt es denn, daß man auch im Dichten eine Wahrscheinlichkeit beobachten muß: ohne welche eine Fabel, Beschreibung, oder was es sonst ist, nur ungereimt und lächerlich seyn würde. Ich verstehe nämlich durch die p o e t i s c h e W a h r s c h e i n l i c h k e i t nichts anders, als die A e h n l i c h k e i t d e s E r d i c h t e -

68

»Die Fabel ist hauptsächlich dasjenige, was der Ursprung und die Seele der ganzen Dichtkunst ist« ( C D IV, § 7, S. 148).

231

ten, mit d e m , was w i r k l i c h zu g e s c h e h e n p f l e g t ; oder U e b e r e i n s t i m m u n g d e r F a b e l m i t d e r N a t u r . (198) 6 '

die

Das Erzählen soll ein zwar überraschender, aber stringent aus sich selbst erklärbarer, in sich konsistenter Kausalnexus sein, Nachahmung der empirisch erfahrbaren Natur und ihrer gesetzlich-regelhaften, daher »schönen« Ordnung, 70 nicht Mimesis einer jeglicher rationalen Einsicht unzugänglichen metaphysischen Substruktur der Welt. Diese Umakzentuierung gegenüber der Barockpoetik führt zu einer neuen und wesentlich engeren Auslegung des dichterischen Möglichkeitskriteriums. Die Providenz als Geschichtslegislation des barocken Romans war frei, alle nicht gegen den Satz des Widerspruchs verstoßenden kontingenten Möglichkeiten zu realisieren. Darüber hinaus blieb sie dem aus ihrem Begriff folgenden Vorsatz verpflichtet, die beste aller möglichen Welten zu erschaffen. Aus der uneinholbaren Differenz von unendlichem Verstand Gottes und begrenzter menschlicher Einsicht folgte die Unmöglichkeit, göttliche Entscheidungen aus menschlicher Perspektive zu beurteilen: Begriffe wie >WunderZufall< oder >Wahrscheinlichkeit als Hilfskonstruktionen eines endlichen Verstandes drückten allein das Bewußtsein dieser epistemologischen Differenz aus. Ihnen kam keine objektive Realität zu, sie formulierten nur die Verständnisgrenze des Menschen gegenüber den unbegrenzten Möglichkeiten Gottes in der Kombination der Welt und ihrer Elemente. Dies verlieh dem Roman, als Nachahmung der providentiell geordneten Welt, die Lizenz, für Protagonisten und Leser unübersehbare Zusammenhänge zu konstruieren: Weder die Providenz noch ein aus ihrer Nachahmung legitimiertes Erzählen richteten sich nach den Erwartungen der Subjekte; vielmehr konnten sie das für einen endlichen Verstand Unwahrscheinlichste verfügen. Auf dieser philosophischen Grundlage mußte gerade die Verwirrung des Lesers, die Enttäuschung seiner Vermutungen und Deutungshypothesen, zu einer zentralen Wirkungsabsicht des als metaphysische Mimesis begriffenen Geschichtsromans werden. Gottsched schränkt den weitgefaßten modallogischen Möglichkeitsbegriff der barocken Konzeption (möglich ist, was sich nicht selbst widerspricht) drastisch ein und nähert ihn seinem stärker erfahrungsgebundenen Begriff von Wahrscheinlichkeit als Naturnachahmung bzw. als »Aehnlichkeit des Erdichteten, mit dem, was wirklich zu geschehen pflegt« (198), an. Da auch die Providenz nur Mögliches erschaffen kann, 6

9 Hervorh. von mir, WF. 70 Vgl. zentral C D III, § 20, S. 132.

232

wird letztlich auch sie dem Wahrscheinlichkeitskriterium unterstellt; ihre bislang wichtigste Erzählfunktion der Beglaubigung unerwarteter Fügungen, überraschender Koinzidenzen und empirisch unwahrscheinlicher Peripetien wird dabei zwangsläufig stark relativiert: Die göttliche Macht erstreckt sich auf alles Mögliche; aber auf nichts U n m ö g liches: daher muß man sich nicht auf sie berufen, seine ungereimten Einfalle zu rechtfertigen. ( 1 8 1 )

Die Unterordnung auch des providentiell legitimierten Erzählens unter das Kriterium einer dem endlichen Verstand einsichtigen Kausalität nach dem Vorbild der Naturgesetze erklärt Gottscheds bisweilen heftige Ausfälle gegen renommierte Autoren der literarischen Tradition: Ovidius hat gar ein ganzes Buch mit solchen poetischen Wundern angefüllet, und die Sache aufs höchste getrieben: so, daß seine Verwandlungen, auch bey den Heiden selbst, alle Wahrscheinlichkeit überstiegen haben. ( 1 8 1 )

Alle »falschen Wunder« und unglaublichen Zufälle eines poetischen Handlungsnexus sind zu verwerfen, wenn sie »entweder ohne Noth, oder nicht mit genügsamer Wahrscheinlichkeit erdacht« (181) sind. Aufschlußreich ist die (freilich nur angedeutete) geschichtsphilosophische Argumentation, mit der Gottsched sein Verdikt begründet. Seine Maßstäbe sind die einer »aufgeklärten«, vom Optimismus zu sich selbst findender Vernunft getragenen Epoche, für die das Wunderbare zur obsoleten Kategorie geworden ist: Das erste Weltalter hat bey allen Völkern das Vorrecht, daß man ihm gern viel Wunderbares zuschreibt: ja was man itzo seinen eigenen Augen nicht glauben würde [!], das dünket den meisten sehr möglich und wahrscheinlich; wenn es nur vor drey oder vier tausend Jahren geschehen seyn soll. (184)

Der veränderte Bewußtseinsstand aber erfordert literarische Konsequenzen: Ein heutiger Poet hat also große Ursache in dergleichen Wunderdingen sparsam zu seyn. Die Welt ist nunmehr viel aufgeklärter, als vor etlichen Jahrhunderten, und nichts ist ein größeres Zeichen der Einfalt, als wenn man, wie ein andrer D o n Quixote, alles, was geschieht, zu Zaubereyen macht. (183)

Dieses Fortschrittstheorem einer zunehmenden Aufklärung des Publikums und einer daraus folgenden Steigerung seiner Ansprüche an die Plausibilität literarischer Werke ist für den Aufbau der Gottschedschen Poetik bedeutsam; es schlägt eine Brücke von der systematischen Dich2

33

tungslehre im ι. Teil der >Critischen Dichtkunst< zu den Ausführungen des 2. Hauptteils, die dem Entwurf einer speziellen Gattungspoetik vorbehalten sind. An vielen Stellen, ganz besonders aber bei der Diskussion von Epos und Tragödie, betont Gottsched hier die Historizität literarischer Maßstäbe und unterstreicht (in einer Weise, die schlecht zum Klischee vom ahistorisch-dogmatischen Regelpapst passen will) die gegenüber der Antike gewandelten Rezeptionsbedingungen, mit denen ein moderner Autor nicht nur realistischerweise zu rechnen, denen er vielmehr ausdrücklich Rechnung zu tragen hat. Es liegt auf der Hand, daß diese Differenz der Erwartungshorizonte gerade auch den Themenkomplex der providentiellen Intervention bzw. ihrer Surrogat- und Trivialformen in Epos und Drama berühren muß. Dem modernen Tragödiendichter rät Gottsched, ohne allerdings ein direktes Verbot auszusprechen, zum äußerst vorsichtigen Umgang mit »den Maschinen und andern Zierrathen der Schaubühne«, also mit dem Instrumentarium der Dens ex machina-Lösung, denn die »Erscheinungen der Götter in neuern Zeiten kommen uns sehr unglaublich vor. Wir haben selbst dergleichen nie gesehen; und können uns nicht einbilden, daß es vor hundert oder zweyhundert Jahren anders gewesen seyn sollte« (624). Zwar sei »aus der alten fabelhaften Zeit« das Publikum »es längst gewohnt, von Erscheinungen zu hören: und also nimmt es nicht Wunder, wenn wir davon lesen« (ebd.). Aber was der unaufgeklärten Vorzeit als eine Art poetisches Gewohnheitsrecht zugestanden werden mag, muß dem gegenwärtigen Autor als Unvermögen ausgelegt werden : »Es ist nämlich keine Kunst, durch einen unmittelbaren Beystand des Himmels, und durch Wunderwerke, eine Fabel glücklich auszuführen« (625). Analoges gilt für [ . . . ] die Zaubereyen, welche man die Maschinen der neuern Zeiten nennen könnte. Sie s c h i c k e n s i c h f ü r u n s r e a u f g e k l ä r t e Z e i t e n n i c h t m e h r , w e i l s i e f a s t n i e m a n d m e h r g l a u b t : also enthält sich ein Poet mit gutem Grunde solcher V o r s t e l l u n g e n , d i e n i c h t m e h r w a h r s c h e i n l i c h s i n d , und nur in der ernsthaftesten Sache ein Gelächter erwecken würden. (625) 7 1

Hier schlägt die Geschichtlichkeit außerliterarischer Erkenntnis- und Plausibilitätsmaßstäbe ersichtlich bis in die Formulierung poetologischer Regeln hinein durch. Der Syllogismus der soeben zitierten Stelle (Niemand glaubt mehr an Zaubereyen, a l s o hat der Poet tunlichst auf sie zu 7'

Hervorh. von mir, WF.

2

34

verzichten) macht musterhaft deutlich, daß Gottsched, weit davon entfernt, einen abstrakten und zeitlos gültigen Regelkanon zu dekretieren, primär wirkungspoetisch argumentiert und produktionsästhetische Grundsätze als abhängige Funktionen historisch variabler Kontextbedingungen versteht. 72 Kurz: Was das Publikum als wahrscheinlich zu akzeptieren bereit ist, entscheidet über die Plausibilität eines literarischen Weltentwurfs; der Poet hat sich danach zu richten. N a c h dieser Logik werden auch providentialistische Werkstrukturen in dem historischen Moment problematisch, in dem ihnen das Lesepublikum »unsre[r] aufgeklärte[n] Zeiten« den Kredit entzieht. Weniger nachdrücklich, aber in derselben Kombination historischer und wirkungspoetischer Erwägungen behandelt Gottsched die Fabelkonstruktion in den epischen Gattungen. Die Frage nach der Legitimität providentieller Erzählfiguren wird hier zu einem

unterscheidenden

Merkmal von Epos und Roman. Grundsätzlich zwar gilt für beide Genres die Forderung, »das Wahrscheinliche mit dem Wunderbaren geschickt zu verbinden« (497). Während Gottsched aber für das durch eine erlauchte Tradition sanktionierte und durch die Erhabenheit seiner Handlung ausgezeichnete Epos den Rekurs »auf die Erscheinungen und den Beystand der Götter« (501) wenigstens prinzipiell billigt, nicht ohne zugleich zu sparsamer Dosierung, 73 zur Rücksicht auf die religiösen Uberzeugungen des Publikums 74 und zur Allegorisierung 7 ' zu raten,

72

Die »Einführung einer historischen Dimension in die Bestimmung des Wahrscheinlichen wie des Unwahrscheinlichen und Lächerlichen« beobachtet auch Wetterer, Publikumsbezug u n d Wahrheitsanspruch, S. 100, die »die Konsequenz f ü r die Auslegung des Mimesis-Gebotes« wie folgt formuliert: »um die publikumsbezogene Glaublichkeit zu gewährleisten, hat die Poesie nicht notwendig einer letztlich immer objektiv vorhandenen N a t u r ähnlich zu sein, sondern den historisch je verschiedenen Kenntnissen des Publikums von N a t u r . Eine N a c h a h m u n g , die auch der vernünftigen Naturerkenntnis Rechnung trägt, ist entsprechend allein dann geboten, wenn beim Publikum eben diese vernünftige Naturerkenntnis vorausgesetzt werden kann u n d muß.« 73 »Ein Poet m u ß aber die Götter nicht ohne N o t h in seine Fabeln mischen, wie H o r a z ausdrücklich erinnert hat: >Nec Deus intersit, nisi dignus vindice nodus incideritVon milesischen Fabelnd 6 dasselbe Mittel für den modernen Roman kategorisch aus, und wiederum ist es das wirkungspoetische Glaubwürdigkeitskriterium, das für dieses Verbot den Ausschlag gibt: A u c h d a r i n n d a r f ein R o m a n d e m H e l d e n g e d i c h t e n i c h t g l e i c h k o m m e n , d a ß er den w u n d e r b a r e n E i n f l u ß der G ö t t e r , o d e r Geister, H e x e n , u. d. m. nöthig h ä t t e . D i e s e S t ü c k e w ü r d e n i h n m e h r v e r u n z i e r e n , w e i l sie i h n u n g l a u b l i c h machen würden. (528)

Diese gattungspoetische Unterscheidung von Epos und Roman ist gewiß noch weit entfernt von Blanckenburgs späterer geschichtsphilosophischer Zuordnung beider Gattungen zu Antike bzw. Neuzeit. 7 7 Indem sie dem Roman jedoch dezidiert versagt, was sie dem Heldengedicht gewährt: die Lizenz, das Göttliche in der Fabel zu berufen, scheint sie implizit auch über den geschichtsphilosophischen Ort beider Genres zu urteilen und den Roman zur adäquaten künstlerischen Reflexionsform einer Moderne im Zeichen der Säkularisierung zu erheben.?8 Trotz ihrer möglichen geschichtsphilosophischen Latenzen bleibt Gottscheds Argumentation in ihren manifesten Aussagen ausgeprägt pragmatisch. Anliegen der >Critischen Dichtkunst ist nicht die erkenntnistheoretische Prüfung des Wahrheitsanspruchs der philosophischen Theodizee und ihrer Folgesätze - in allen metaphysischen Fragen zieht sich Gottsched rasch auf die Autorität seines Gewährsmannes Christian Wolff zurück - , sondern die Statuierung ihrer p o e t i s c h e n Illegitimität: Das für die barocke Romanpoetik grundlegende Analogieverhältnis von providentiell garantierter Welt- und literarischer Wer&struktur wird aufgesprengt, indem sich die aufgeklärte poetologische Vernunft in einem Akt der Selbstbescheidung auf das ihr Einsehbare und ihrer rationalen Kritik - in der Kategorie des >Wahrscheinlichen< - Zugängliche beschränkt. Nicht mehr aus dem Erkenntnisabstand eines endlichen Verstandes gegenüber einer unendlichen göttlichen Weisheit soll

76

C D , I I . T h e i l , I. Abschn., V . Hauptstück ( » V o n milesischen Fabeln, Ritterbüchern

77

und Romanen«), S. 5 0 5 - 5 2 8 . V g l . unten, K a p . 6 , Abschn. i . i .

78

D a s gemahnt von fern an die berühmte Charakterisierung des Romans als »Epopöe der gottverlassnen Welt« in G e o r g Lukács' >Theorie des Romans< (Sonderausg. N e u w i e d u. Berlin 1 9 7 1 , S. 77). Vgl. auch V o ß k a m p , Romantheorie in Deutschland, S. 145 ff. (»Der R o m a n im Spannungsfeld zwischen Fabel und E p o s (J.Chr. Gottsched)«) und H a n s Hiebel: Individualität und Totalität. Z u r Geschichte und Kritik des bürgerlichen Poesiebegriffs v o n Gottsched bis Hegel anhand der Theorien über E p o s und Roman, Bonn 1 9 7 4 ( = Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft. 148).

236

das Erzählen seinen Impuls und seine Thematik beziehen, sondern aus der (wie immer unvollkommenen) Dimension menschlicher Rationalität. Einer solchermaßen veränderten Funktionsbestimmung von Literatur, deren Ziel die für jeden verständigen Leser nachvollziehbare »Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes« 7 ' nach dem Muster der erkennbar gesetzlichen Natur ist, muß die providentielle Legitimation entweder (sofern sie sich auf ohnehin und aus sich selbst Wahrscheinliches« bezieht) als überflüssig gelten oder (so sie >wunderbare< Erzählinhalte und kontingente Fabelstrukturen rechtfertigen soll) als Ausflucht suspekt werden. 80 Die Providenz als das Unerkennbare kat'exochen ist kein legitimer poetischer Gegenstand; damit ist das Anathema über das Zentralthema des hohen Barockromans verhängt.

5. »Le dilemme du roman au i8e siècle« ( M a y ) : Antagonismus von Realismus und Moralität Die am Beispiel Heideggers, Schnabels und Gottscheds aufgewiesene Neuorientierung der Romanpoetik, wie sie um die Jahrhundertwende mit der Kritik an der strukturellen Komplexität der barocken Großromane und ihrer geschichtstheologischen Rechtfertigung einsetzt, um sich dann kontinuierlich zu verstärken, war, nach ihrem Grundgedanken, zu bestimmen als Zurückweisung metaphysischer Erzähllegitimationen und als Ablehnung der durch die Geschichtsdialektik von Erscheinung und Wesen begründeten romaninternen Spannung von chaotisch-kontingenter Oberflächenstruktur und harmonisch-teleologischer Tiefenstruktur der Fabel. Die Bipolarität dieser spekulativen Konstruktion wurde ersetzt durch eine progressive Empirisierung im Wirklichkeitskriterium des Erzählens, wobei die Selbstlimitierung der Erkenntnisfähigkeit und, als Konsequenz, die Beschränkung des literarisch legitim Darstellbaren auf den Bereich des sinnlich Gegebenen und rational Einsichtigen durch den Gewinn eines linearen Realitätskontinuums 8 ' mehr als wettgemacht schienen: die Orientierung am Ordnungs-

79

Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff, S. 12.

80

So

auch

Fuhrmann,

Antike

Dichtungstheorie,

in

seinem

Gottsched-Abschnitt,

S. 2 5 7 - 2 6 7 , bes. S. 264. 81

Z u r Genesis dieses Weltbildes vgl. die große wissenschaftshistorische Untersuchung von E d u a r d J a n Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin/Göttingen/ Heidelberg 1 9 5 6 (holl. Original 1950). Siehe ferner Heribert M . N o b i s : Frühneuzeitliche Verständnisweisen der N a t u r und ihr Wandel bis z u m 18. Jahrhundert. In: A r c h i v

23 7

gefüge einer - bei Heidegger noch theologisch hergeleiteten, von Schnabel bereits an den innerweltlichen Vergleichs- und Bewertungsmaßstab des aus eigener lebensweltlicher Erfahrung urteilenden Lesepublikums überwiesenen, also soziologisch-kulturell gefaßten, bei Gottsched schließlich erkenntniskritisch explizierten und im geschichtsphilosophischen Bewußtsein der eigenen aufgeklärten Modernität propagierten - durchgängig geordneten und kausal strukturierten Natur fungiert als neues Wirklichkeitsparadigma, ihre getreue Nachahmung als oberster ästhetischer Zweck. In dieser Wendung zur Leitkategorie eines innerweltlich-empirischen Kausalnexus der Sachgesamtheit Welt,*2 in der »Phänomenalisierung von Raum und Zeit«8' liegt unstreitig ein zentrales erkenntnistheoretisches Anliegen der europäischen Aufklärung, dessen weltbildpraktischen, literarästhetischen und vor allem erzählpoetologischen Implikationen und Folgeproblemen wir uns in den Kapiteln über Geliert, Voltaire und Wieland noch eingehender widmen werden. Zuvor jedoch wird die Analyse zweier romantheoretischer Abhandlungen aus der ersten Jahrhunderthälfte belegen, daß der neue empirisch-kausale Wirklichkeitsbegriff, so rückhaltlos er zum Signum der Modernität des Zeitalters erhoben wird, das moralinduzierte Erzählen der frühen Aufklärung - und der Epoche insgesamt - vor jenes gravierende Folgeproblem stellt, das Georges May überzeugend als fundamentales Dilemma des Romans im 18.Jahrhundert dargestellt hat: die Diskrepanz von Realismus und Moralität.'4 Gerade im Kontext der vorliegenden Studien zu Struktur und Inhalt normativ-teleologischer Erzählprozesse unter Bedingungen religiöser Säkularisierung wird dieses Grundproblem in immer neuen Schattierungen und mit den verschiedensten literarischen Lösungsversuchen wieder und wieder begegnen und damit nicht nur die Einheit der Epoche, sondern auch die

für Begriffsgeschichte u , Seventeenth-Century

1 9 6 7 , S. 3 7 - 5 8

und Westfall, Science and Religion

England, op. cit., der feststellt:

»During the

17th

in

century

physical causation, prediction, and control became pressing intellectual problems. N o longer w a s nature considered as an element in the providential plan. It might be identified with general providence because G o d was thought to have created it with the maximum inherent beneficience and goodness, but nature itself was taken to be an order of static, immutable, and impersonal laws. Material causes, once created, were supposed to act by their o w n necessity in accordance with natural laws« (76). 82 8

3

8

4

D a z u L u h m a n n , Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition, S. 54. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 1 7 3 . L e dilemme du roman au X V I I I e siècle. Etude sur les rapports du roman et de la critique ( 1 7 1 5 - 1 7 6 1 ) , N e w Haven/Paris 1 9 6 3 , bes. K a p . V , S. 1 3 9 - 1 6 1 .

238

mitunter in Abrede gestellte Kontinuität von Romantheorie und Romanpraxis im 18. Jahrhundert unterstreichen. Die Destruktion metaphysischer Erzähllegitimationen beraubt die Romanpoetik des 18.Jahrhunderts eines entscheidenden Merkmals des konsequent providentialistischen Weltbildes: der Einheit von Weltstruktur und Weltanschauung, von Ontologie und Ethik. Die Providenz des barocken Romans hatte ja, in einem empirischen Falsifikationen unzugänglichen Geschichtsmodell, als Einheitsgrund der dargestellten Welt fungiert, in deren optimaler Anordnung prinzipiell auch das individuelle Geschick der Protagonisten vorgesehen und »aufgehoben« war. Dennoch auftretende Diskrepanzen im Verhältnis von Individuum und Weltlauf erwiesen sich als transitorisch, genauer: als Folge unzureichender Einsicht, vorübergehend nachlassender constantia, vielleicht als heilsame Prüfung; immer gingen sie zu Lasten des skeptischen Subjekts, und stets bewies der glückliche Romanschluß die objektive Grundlosigkeit solcher Zweifel: Held und Weltlauf, Subjekt und Geschichte waren a priori providentiell vermittelt, auch wenn der Schein vorübergehend trog. Die essentialistische Sicherheit dieser von Fakten unbeeindruckten, die Individuen um den Preis prinzipiellen Autonomieverzichts psychisch entlastenden Konzeption zerfällt mit der Erosion ihres theologischen Fundaments; das empirische Realitätskontinuum der kohärenten, kausal strukturierten Gesetzesnatur und das ihm korrespondierende Subjektsideal vernünftiger Selbstbestimmung lassen den Rekurs auf eine zweite, metaphänomenale Wirklichkeit ebensowenig zu wie die - aller Erfahrung widersprechende - Annahme einer prästabilierten Harmonie von Ich und Welt. Die hier sich eröffnende Kluft von subjektivintentionaler Gewissensmoral und objektiver Beschaffenheit der inneren und äußeren Natur, von Lebens entwarf und Lebens lauf, wird zum vermittlungsbedürftigen Kardinalproblem der Epoche, das sich, im Roman und seiner Poetik, als Frage nach der Vereinbarkeit deskriptiver und präskriptiver Erzählanteile, von Kausalität und Finalität, von »Realismus« und moralisch-edukativem Engagement niederschlägt. Ebenso erhebt sich angesichts einer hintergrundlos und selbstbezüglich gewordenen empirischen Wirklichkeit, die es nicht mehr zuläßt, die Parallelität von Geschichte und Roman fundamentaltheologisch oder philosophisch-spekulativ aus einem transmundanen Tertium zu deduzieren, die Frage der Verhältnisbestimmung von Historie und Literatur erneut, sind der ontologische Status und der Wahrheitswert literarischer Weltentwürfe neu zu bestimmen. Und schließlich verschärft sich im Kontext der 239

auf sich selbst verweisenden Wirklichkeit das Lebens- und Erzählproblem der Kontingenz radikal: durch die Unmöglichkeit, ihn weiterhin in einem transzendenten Reflexionsakt buchstäblich aus der Welt zu schaffen, wird der Zufall zum existentiellen Risiko und zum ästhetischen Skandalon, entwickelt sich die jeweilige situative Besonderheit der historisch-sozialen Lebensumwelt auch für die moralisch gesonnenen Subjekte zur conditio sine qua non eines gelingenden, eines »glückseligen« Lebens. 5.1 Der Roman als Korrektiv der Historie: Lenglet-Dufresnoys >De l'usage des romans< (1734) »L'imperfection de l'histoire doit faire estimer les romans.« Noch nicht vier Jahrzehnte sind seit Gotthard Heideggers Verurteilung aller romanhaften Fiktion aus dem Horizont einer göttlich privilegierten Erfahrungswirklichkeit vergangen, als der Abbé Nicolas A . Lenglet-Dufresnoy 8 ' mit dieser Programmformel das 2. Kapitel seiner Abhandlung >De l'usage des romansLenglet-DufresnoyURhistoire< realisiert: der Autor bezeichnet mit diesem Terminus sowohl die reale Ereignisgeschichte, die Historie, als auch ihre wissenschaftliche Beschreibung, die Historiographie. Den Defiziten beider soll der Roman positiv entgegengesetzt werden. Die Gattungsdifferenz von Roman und Historiographie87 bestimmt Lenglet-Dufresnoy in Anlehnung an die aristotelische Poetik durch ihren unterschiedlichen Wirklichkeitsbezug: Die >histoire< - und nur sie! - erhebt den, rein deskriptiven, Anspruch, authentisches Geschehen darzustellen. Sie hat ihr disziplinspezifisches Wahrheitskriterium in der getreuen Rekonstruktion empirischer Faktizität: Wirklichkeitskorrespondenz und Wahrheit der Geschichtsschreibung fallen zusammen. Der Wahrheitswert eines Romans hingegen ist nicht von der empirischen Korrespondenz seiner Erzählinhalte abhängig; im Gegenteil suspendiert der Leser a priori und mit vollem Bewußtsein die Erwartung lebensweltlicher Entsprechungen des Gelesenen, akzeptiert eine Art von »Fiktionalitätsklausel« und ist dann um so angenehmer überrascht, wenn ihm außer kurzweiligem Zeitvertreib auch noch »Wahres« (du vrai) offeriert wird: die normative, trans-empirische Wahrheit moralischer Exempla: O n a beau blâmer le Roman, je n'y trouve pas tous ces inconveniens. Rien ne m ' y jette dans l'erreur; & si je suis séduit, c'est à mon avantage. E n commençant à le lire, je sçai que tout en est faux; on me le dit, & je me le persuade: tant mieux s'il y a du vrai; c'est autant de profit dès qu'on me le fera connoître. Aulieu qu'il y a toujours à perdre pour moi dans la lecture de l'Histoire, dès qu'un fait vient à se trouver faux. J e suis au desespoir d'être la dupe d'un homme qui veut que je l'en croye sur sa parole, parce qu'il me parle d'un ton grave 8C magistral. (59Í.)

Diese gattungstheoretischen Definitionen Lenglets, seine Diskriminierung fiktionaler und nicht-fiktionaler Rede in Roman und Historiographie, verfolgen ein doppeltes Ziel: sie sollen den nicht-empirischen

8

7 May, Le dilemme du roman, S. 1 3 9 - 1 4 3 , mißt Lenglet-Dufresnoys Überlegungen zum Verhältnis von Roman und Historie eine Ausnahmestellung im Kontext der zeitgenössischen französischen Gattungspoetik bei.

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Wahrheitsstatus literarischer Texte postulieren - ein Anliegen, das erst aus der nachfolgenden Rückbeziehung des Romans auf die historische Lebenswelt ganz klar wird - und zugleich die scheinbar unproblematische Gewißheit historiographischer Erkenntnis unterminieren; denn kaum ist die historische Faktentreue als Wissenschaftsideal der Geschichtsschreibung bestimmt, läßt Lenglet-Dufresnoy nichts unversucht, um mittels einer möglichst umfassenden Auflistung aller »incertitudes qui se rencontrent dans les circonstances des faits mêmes qui sont vrais« (61) die Unrealisierbarkeit des historiographischen Objektivitätsideals der Faktizität zu demonstrieren: Marie Stuard a-t-elle été aussi méchante qu'on l'a prétendu: Buchanan le dit, & Camden le nie: Tout cela m'inquiète, je n'aime point cet embaras, je voudrois que l'Histoire me dévelopa mieux la vérité. Mais cela n'est pas possible, dit-on, ce sont des hommes qui écrivent; & en écrivant, ils se livrent à toutes les passions humaines. J'en suis fâché; mais je ne vois pas toutes ces incertitudes dans le Roman. (74 f.)

Die Geschichtsschreibung, so lautet das Fazit von Lenglet-Dufresnoys »Pyrrhonisme Historique« (76), kann sich als hermeneutische Disziplin der subjektiven Interessiertheit der Historiker nicht entziehen, ohne andererseits diesen Sachverhalt positiv, im Sinne methodischer Selbstreflexion, in ihr Wissenschaftsprogramm zu integrieren. Sie bleibt daher von undurchschauten epistemologischen Voraussetzungen abhängig, und gerade ihre dogmatisch, »d'un ton grave & magistral« (60) vorgetragenen, vermeintlich gesicherten Erkenntnisse verfallen dem skeptizistischen Verdikt: der Anspruch der >histoire< auf die Wahrheit des Authentischen ist selbst eine undurchschaute, ihrer subjektiven Filtrierung unbewußte Fiktion. Anders der Roman: als in expliziter Übereinkunft von Autor und Lesern bewußt gesetzte Fiktion ist er ex definitione salviert; die realistischen Einwände gegen die Historiographie treffen ihn nicht, weil er auf deren deskriptivem Niveau Wahrheit gar nicht beansprucht, sie also auch nicht verfehlen kann. Die Motive, die den französischen Theoretiker dazu bewegen, die Wahrheit der Literatur so nachdrücklich von jener der Geschichtsschreibung und damit von der empirischen Verfassung der historischen Lebenswelt abzuheben, werden klar, wenn man seine Ausführungen zum zweiten Bedeutungsaspekt von histoire, dem der Ereignisgeschichte selbst, analysiert. Der skeptische Relativismus der Bemerkungen über die Unzuverlässigkeit der Historiographie steigert sich hier zum dezi242

dierten Geschichtspessimismus88 angesichts einer heillos sich selbst überlassenen kontingenten Welt in ihrer völligen Indifferenz gegenüber moralischen Intentionen und Verdiensten: O n ne sçauroit donc desavoüer que l'Histoire ne livre de terribles assauts aux bonnes mœurs, lorsqu'on y voit des Tirans mourir tranquilement dans leurs lits; des Rois vertueux porter leurs têtes sur un échafaut, ou périr c o m m e devroit faire un mauvais Prince; un Caligula & bien d'autres gens de m ê m e étoffe faire impunément leur plaisir d'un inceste: les obscénités, les impuretés mêmes les plus affreuses paraître en triomphe jusques dans l'Histoire de nos derniers Règnes, c o m m e on voit en Daubigné

& Dupleix.

Quelle instruction

peut-on tirer de tant de turpitudes? [ . . . ] O n dit que l'Histoire est le Portrait de la misère humaine. C ' e s t le mal que j ' y trouve. (81 f.)

Der straflose Triumph des Bösen und die auf dem Schafott endende Tugend sind für Lenglet-Dufresnoy die ostinaten disharmonischen Grundakkorde der Weltgeschichte, und an ihre harmonische Auflösung in der eschatologischen Partitur einer, bei richtiger Betrachtungsweise, dennoch sinnvollen Universalgeschichte ist nicht einmal zu denken. In der Tat fehlt es in Lenglets Traktat an jedem, selbst polemischen, Hinweis auf den spekulativen Ausweg einer Theodizee-Konzeption; die Providenz als Geschichtsinstanz ist kein Thema, 8 ' und angesichts der Permanenz des Schreckens verbietet sich auch jeder Gedanke an eine mit Blut und Tränen erkaufte Fortschrittstendenz der Geschichte im ganzen. Daß die empirische Lebenswirklichkeit, daß die weltgeschichtliche Abfolge von Schändlichkeiten (»turpitudes«) als Grundlage moralischdidaktischer Erbauung und Belehrung (»instruction«), gar als »Beweisthumen der heiligen Vorsehung Gottes« im Sinne Heideggers nicht mehr zu fungieren vermag, ist evident. Aber dieser Hiatus von ethischem Anspruch und verfehlter Realisierung setzt nach Lenglet-Dufresnoy keineswegs die Geltung moralischer Postulate außer Kraft: die weltlos 88

Allerdings erscheinen in Lenglet-Dufresnoys nur zwei Jahre später (173 6) publizierter Gegenschrift >L'Histoire justifiée contre les romans< die Dinge in einem völlig anderen Licht. Man nimmt an, daß sich Lenglet durch die Veröffentlichung dieser zweiten Abhandlung von dem Verdacht befreien wollte, der Autor der (unter dem Pseudonym Gordon de Percel erschienenen, heftig angefeindeten und bald verbotenen) Romantheorie zu sein. Uber die Vorgänge vgl. im einzelnen Des Essarts, S. 143 f., der über die spätere réfutation bemerkt: »c'était le contrepoison du livre précédent; mais l'antidote parut plus faible que le venin.« (144). 8 9 Auch weil metaphysischer Ernst und ästhetisches Spiel einander ausschließen: »Les anciens ont dit sagement qu'il faut parler sobrement de la Divinité; mais il est essentiel & pour l'ame Si pour l'honneur, de ne l'exposer jamais aux enjouëmens de l'esprit & aux saillies de l'imagination: ce qui est l'objet de nos respects, ne doit jamais l'être de nos jeux & de nos railleries.« U R , S. 135f.

243

gewordene, ihrer Wirklichkeitsbasis beraubte Moralität emigriert in den Kontext einer tugendkonformen ÄomÄWwirklichkeit. Die zitierte Passage über den Schreckenscharakter der Weltgeschichte fährt fort: [ . . . ] ; au lieu que dans le Roman le Prince vicieux, ou le Roi Tiran périt toujours comme son crime le demande. [ . . . ] Ainsi laissons à l'Histoire ce Titre glorieux d'être le Portrait de la misère humaine; & reconnoissons au contraire que le Roman est le Tableau de la sagesse humaine. (82f.) Die Angleichung von Geschichte und Roman in der providentialistischen Romanpoetik des 17. Jahrhunderts wird von den neuen Gegebenheiten aufgesprengt und in eine schroffe Opposition verwandelt: wenn die Historie sich nicht mehr in prästabiliertem Einklang mit den moralischen Zwecken der Subjekte bewegt, sondern in deprimierender Gegenläufigkeit, dann bleibt es die kompensatorische Aufgabe des Romans, den Primat der moralischen Ideale gegen die schlechte Faktizität der »misère humaine« aufrechtzuerhalten und ihren Anspruch auf Verwirklichung in teleologischer Kontrafaktur der historischen

Kontingenz

einzulösen. V o m strukturellen Analogon der Historie wird der Roman zu ihrem ästhetischen Korrektiv: Laissons à l'Histoire à traverser les hommes vertueux, à détrôner les bons Princes, à faire prospérer les Tirans, à établir des Scélérats sur la ruine des plus gens de bien; elle n'a que trop d'occasions de s'en aquiter: Mais le Roman doit faire tout le contraire, la vertu y doit être honorée, la probité s'y doit faire estimer des Princes, la sagesse y être récompensée. Cela n'arrive pas toujours, direz-vous: N'importe, cela ne laisse pas de donner des idées favorables du bien & de la vertu. (21 of.) Lenglet-Dufresnoys Versuch, den nicht-empirischen Wahrheiten von vertu,

probité

und sagesse wenigstens im fiktionalen Spielraum des

Romans eine Wirklichkeit zu konstruieren, »où ces qualités ayent toujours le dessus« ( 2 1 2 f.) und in der die positiven Helden »parviennent à une fin honnête« (210), ist als Beispiel moralischer Intransigenz ebenso beeindruckend wie der resolute Gestus, mit dem er die Realitätsprüfung seiner kontrafaktischen Erzähllösungen um ihrer handlungsstimulierenden Suggestivkraft willen für irrelevant erklärt. Aber der ästhetischmoralische Dezisionismus der Abhandlung vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß Lenglets fiktionale Korrektur der geschichtlichen Welt schon darum in ein unauflösliches Dilemma gerät, weil sie zur strikten Orientierung an der ethisch negierten Erfahrungswirklichkeit gezwungen bleibt: Auch für den Verfasser des Traktats vom Nutzen der Romane bleiben le vraisemblable und le naturel unhintergehbare Erzähl-

244

prämissen einer Moderne, deren rigoroses Deskriptionsprinzip linearer Kausalität er, genau wie Gottsched, aus der geschichtsphilosophischen und erkenntniskritischen Distanz zu den miracles und prodiges der anciens begründet;»0 die Helden der Romane sollen wirkliche Menschen sein, und was ihnen selbst in den überraschendsten Erzählepisoden widerfährt, muß sich »tous les jours« (207) in der Erfahrungswirklichkeit des Lesers ebenso zutragen können. Die Versöhnung dieser divergenten »maximes à observer dans les romans« (188) kann nicht gelingen, weil nach Lenglet-Dufresnoys eigener Analyse des Geschichtszustandes einer säkularisierten Erfahrungswelt empirische Kausalität und moralischer Finalismus sich ausschließen, deskriptive und präskriptive Intention des Romans nicht in Einklang zu bringen sind. Dem metahistorischen Geltungsanspruch der Tugendnorm als eines regulativen Prinzips der Wirklichkeitserfahrung mag dies keinen Abbruch tun, aber ihre plausible »realistische« Vermittlung mit der Lebenswelt des Lesepublikums bleibt - die weitere Romangeschichte wird dies lehren - ohne riskante literarische Korrekturen der geschichtlichen Erfahrung und ohne den erzählerischen Rekurs auf providentielle Interventionen oder deren teleologische Substitute unerreichbar. 5.2 Fiktion als Innenansicht der Geschichte: >Einige Gedanken und Regeln von den deutschen Romanen< (1744) Der anonyme Verfasser, der 1744 in den >Critischen Versuchen< der Königlichen Deutschen Gesellschaft zu Greifswald >Einige Gedanken und Regeln von den deutschen Romanen< veröffentlicht,91 verfolgt mit seinem Beitrag das doppelte Ziel, den prinzipiellen Nutzen gut geschriebener Romane gegen ihre Verächter zu erweisen und ineins damit das 9°

So, mit dezidiert »modernem« Selbstbewußtsein, U R , S. 2 0 7 f . : » C h e z nous les H é r o s sont toujours des hommes, au lieu que chez les anciens ce sont quelquefois de grands fous. L e s événements de nos Romans peuvent arriver tous les jours, &

s'ils sont

traversés par des conjonctures inespérées, elles ne sont pas moins naturelles que les événements. C h e z les anciens, l'événement est plein de prodiges & peut arriver tout au plus une fois en dix ou douze Siècles; & l'inconvénient qui le fait manquer est quelquefois extravagant. O ! c'est en cela que nous avons mieux conservé le vraisemblable. N o u s sommes dans le naturel; mais ce naturel est beau, agréable, enjoué.« 91

Zit. nach dem Faksimileabdruck des Originals bei Ernst W e b e r ( H g . ) : Texte z u r Romantheorie II ( 1 7 3 2 - 1 7 8 0 ) , München 1 9 8 1 , S. 7 8 - 1 0 8 . D i e Schrift wird im folgenden nach der originalen Paginierung und unter A n g a b e der Paragraphen zitiert; in den Anmerkungen mit der Sigle >GRGedanken und Regeln< hat durchaus seine sachliche Berechtigung: nicht nur lesen sie sich über weite Strecken wie ein vorweggenommener Kommentar zu Gellerts Schwedischer Gräfin« und bestätigen darin die theoretische Aktualität und die literaturpraktische Realisierbarkeit ihrer Empfehlungen; sie bieten auch eine kohärente und konzise Summe des erzählpoetologischen Problembewußtseins ihrer Epoche, der vierziger Jahre, wie sie in der deutschen Romanpoetik vor Blanckenburg durchaus Seltenheitswert besitzt.' 2 Es ist diese kritische Sensibilität für die gattungstheoretischen Schlüsselfragen des zeitgenössischen Romans - sein Verhältnis zur Historie und zur Lebenswelt, seine moraldidaktische Exempelfunktion, die Vereinbarkeit von Kausalität und Finalität im Erzählprozeß - , die den Erörterungen des Greifswalder Anonymus im systematischen Problemzusammenhang der Frage nach dem Wirklichkeitsbegriff und dem Wahrheitsstatus der romanhaften Fiktion zum Rang eines der aufschlußreichsten Dokumente aus der ersten Jahrhunderthälfte verhilft. Den Realitätsbezug des Romans klärt der Verfasser in einem gattungstheoretischen Vergleich mit der Fabel; läßt sich diese als »heterocosmische Erdichtung« beschreiben, »von welcher man versichert ist, daß sie sich auf unserer Erdkugel ohnmöglich habe zutragen können« (§ 3, 24), so kennzeichnet umgekehrt den Roman sein strikter Bezug auf die e i n e geschichtliche Erfahrungswelt seiner Leser:

91

Dies mit N a c h d r u c k gegen Hillebrand, Theorie des Romans, S. 86 ff., der die Schrift einerseits (wegen ihres Tugendideals!) für »poetologisch anachronistisch« hält und in ihr einen Rückschritt »gegenüber weiterreichenden Perspektiven, selbst des deutschen 1 7 . Jahrhunderts« (87) erkennen will, ihr andererseits aber (wegen der Forderung nach psychologischer Motivierung) einen »erstaunlichefn] Einblick in die Konzeptionsbedingungen des modernen, damals aufkommenden Seelenromans« (88) nachrühmt. Die dieser Wertung zugrundeliegende antithetische Gleichung von moralischen Erzählelementen mit »rückschrittlichen« und von psychologischen Werkanteilen mit »fortschrittlichen« Gattungstendenzen erscheint mir unhaltbar.

246

Die Fabel ist also eine Erzählung eines Theiles entweder von einer möglichen Welt, oder doch zum wenigsten eines andern Planeten. D a hingegen der Romanschreiber uns zu überreden suchet, daß er uns eine Begebenheit von unserer Erdkugel erzähle. (§ 3, 24)

Die unzweideutige Fundierung des Romans in seinem Korrespondenzverhältnis mit dem empirisch-kausalen Realitätskontinuum der Lebenswelt bedeutet eine wichtige Klarstellung gegenüber den Inkonsequenzen und Äquivokationen der in der Poetik der ersten Jahrhunderthälfte verbreiteten, durch Wolffs trivialisierende Leibniz-Rezeption vermittelten Rede vom Roman als »Begebenheiten aus einer anderen möglichen W e l t « , e i n e r Theorie, die ihren eigenen Rückbezug auf das durch die Erfahrungswelt des Autors und seines Publikums konstituierte Realitätskriterium meist nicht zu explizieren wußte und damit auch den Verbindlichkeitsanspruch des Erzählten in der Schwebe hielt. Demgegenüber läßt der Greifswalder Beiträger keinen Zweifel an der lebensweltlichen Referenz der Romane, die so komponiert sein müssen, daß »der Leser nicht mit völliger Gewißheit beweisen kann, daß sich die erzählten Begebenheiten nicht auf unserer Erdkugel zugetragen haben«. (S 8. 37)' 4 In der Konsequenz bedeutet diese Forderung den Appell an das Lesepublikum, den fiktiven Text am realen Kontext der vorgängigen Alltagserfahrung einer kausal verfaßten Lebenswelt zu überprüfen; deren lineares Kontinuum gibt den Romanen die Regel vor, verpflichtet sie zu genauer Motivierung 9 ' und zur Eliminierung jeglicher nichtempirischen Begründungen. Dieses Verdikt schließt providentielle Interventionen ein: Ein Romanschreiber beobachtet nicht seine Pflicht, wenn er seine fromme und gottlose Personen in solche Umstände setzet, daß entweder Gott durch seine Allmacht, oder doch ein über die Substanzen unserer Erdkugel erhabenes Geschöpf die ersten aus ihrem Elende herausreissen, und die andern

93 D a z u (mit kritischer Tendenz vor allem gegen Breitinger) ausgezeichnete Bemerkungen bei Herrmann, Naturnachahmung und Einbildungskraft, S. 253-257. - Ahnliche Unklarheiten gelten für Gottsched, Critische Dichtkunst, S. 151, wenn er, ebenfalls unter ausdrücklicher Berufung auf W o l f f , erklärt, »daß ein wohlgeschriebener R o m a n , das ist ein solcher, der nichts widersprechendes enthält, für eine Historie aus einer andern Welt anzusehen sey«. 94 Ebenso die Gattungsdefinition G R , § 2, S. 23. 9! »Daferne auf unserer Erdkugel alle Dinge in einer genauen Verbindung stehen, so m u ß auch überhaupt unter den erzählten Begebenheiten eines Romans ein Zusammenhang seyn. Keine darf daher den andern wiedersprechen, und überhaupt muß eine genaue Wahrscheinlichkeit beobachtet seyn.« G R , § 8, S. 37.

247

bestrafen muß. Diese Auflösung des Knotens beleidiget die Wahrscheinlichkeit, und giebet eine schlechte Erfindungskraft des Dichters zu erkennen. (§ 6,

31) Die symptomatischen Schwierigkeiten dieser Konzeption erfahrungskonformen Erzählens beginnen mit der Einführung des >moralischen Endzwecks< in den Kausalnexus der Romanhandlung. Wie vor ihm Lenglet-Dufresnoy - und im selben Bewußtsein der schwierigen erfahrungsmäßigen Verifizierung dieses Postulats — fordert der Greifswalder Anonymus das romaninterne Junktim von Moralität und Glückseligkeit als suggestiv-lehrhaften Wirkungszweck des Romans und seiner über Identifikationen und lebensweltliche Übertragungen funktionierenden Pädagogik.96 Aber im Gegensatz zum Traktat >De l'usage des romansroman< und >histoire< in ein Oppositionsverhältnis rückt und dem Roman die kontrafaktische Kompensation geschichtlicher Defizite zumutet, halten die >Gedanken und Regeln< an der realgeschichtlichen Entsprechung ihres ethischen Optimismus fest und dekretieren, der Romanschreiber müsse seine Leser zu überreden suchen, daß Gott die Welt also eingerichtet habe, daß auch die Dinge in derselben, welche nicht von unsern freyen Handlungen abhangen, etwas zur Belohnung der Frommen, und zur Bestrafung der Gottlosen beytragen. (§ 6, 30)

Diese Bemerkungen, deren persuasiver Unterton (»seine Leser zu überreden suchen«) immerhin andeutet, der Autor sei sich ihrer problematischen Evidenz, wohl gar ihres Als o£-Charakters bewußt, supponieren eine göttlich instituierte, aber sich eigengesetzlich realisierende teleologische Weltordnung in Harmonie mit den vernunftmäßigen Zwekken der Subjekte, eine Ordnung, die auch jenseits des Bewußtseins- und Aktionshorizonts der Protagonisten mit deren Handlungsmotiven korreliert und nach Verdienst auf sie erwidert. Ausdrücklich diesseitig gedacht - »In den Romanen soll gezeiget werden, daß die Tugend natürlicher Weise [!] zuletzt belohnet, und das Laster bestrafet werde« (§ 6,29); »Das Ende eines Romans lehret uns [...], daß die Liebhaber der Tugend auch in diesem Leben [!] eine Belohnung bekommen [...]« (§ 5, 28 f.) - , geht das moralfinalistische Postulat in den Realismusanspruch des Romans ein und behauptet die mögliche Extension des linear-kausalen Erzählens über den Bereich der φυσικά hinaus in die Sphäre der moralia und metaphysial. 96 Vgl. bes. GR, § 10, S. 48 und § 5, S. 27.

248

Aber der Verfasser der >Gedanken und Regeln< ist realistisch und seine Ausführungen sind nuanciert genug, u m die gefährliche U b e r d e h n u n g zu erkennen, die dem Ideal des wahrscheinlichen, erfahrungskonformen Erzählens durch das Junktim mit der Moralteleologie zugemutet wird. Zwar hält er an der objektiven Realität dieser Vorstellung fest, schreibt die Schwierigkeit, sie empirisch zu identifizieren, mangelnder B e o b a c h tungsschärfe zu und leitet gerade aus diesem D e f e k t eine H a u p t a u f g a b e des R o m a n s , die der Verdeutlichung des immanent tugendkonformen Finalismus der Geschichte, ab : Alle erlaubte und unerlaubte Handlungen haben gewisse Folgen, welche uns glückselig und unglückselig machen, nachdem jene mit den göttlichen Gesetzen übereinstimmen, oder denselben zuwider sind. Es ist keine einzige löbliche That, welche nicht eine gute Belohnung haben sollte, und w i r begehen kein Laster, auf welchen nicht eine Strafe folgete. Unsere U n a c h t samkeit ist nur die Ursache, daß wir dieselben nicht allezeit merken. Diese Belohnungen und Strafen muß ein Romanschreiber den Menschen bekannter zu machen suchen, und darinnen muß sein E n d z w e c k bestehen. (§ 5 , 1 6 Í . ) 9 7

A b e r zugleich sieht sich der Greifswalder Theoretiker zu einer bedeutsamen, romangeschichtlich symptomatischen K o n z e s s i o n veranlaßt, die er in der F o r m einer gattungstheoretischen Unterscheidung von R o m a n und Geschichtsschreibung so zu wenden versteht, daß sie abermals als positives A r g u m e n t für den R o m a n , ja als sein entscheidender V o r z u g gelesen werden kann. Geschichte, so lautet die Ausgangsüberlegung dieser interdisziplinären Gebietsabgrenzung, läßt sich unter verschiedenen Aspekten betrachten und thematisieren: der Historiker bemüht sich, auf dem methodischen Weg der präzisen Erhebung von Daten, u m eine möglichst vollständige deskriptive Rekonstruktion der Ereignisgeschichte, aber er »darf nur dasjenige aufzeichnen, was der Mensch ausser sich verrichtet, und er darf uns nur von denjenigen Umständen benachrichtigen, welche bey ihm ausser seiner Seele vorhanden gewesen sind« (§ 5, 28). D i e historiographische Außensicht vermag nach dieser Definition zwar ein weites Spektrum sozialen Handelns zu erfassen, insofern »die Menschen ihre meisten Handlungen vor den Augen ihrer Mitbürger verrichten« (§ 5> 2 7)> a b e r sie bleibt prinzipiell auf das Studium dokumentierter 97 Die Stelle fährt fort, der Romanschreiber müsse »durch Exempel zeigen, daß die Tugendhaften aller Arglistigkeit der Gottlosen ohngeachtet dennoch nicht völlig unterdrücket werden können, und daß die Thaten der Lasterhaften endlich einen schlechten Ausgang haben, wenn sie auch gleich von einer grossen Macht und List unterstützet werden«. G R , § J, S. 27.

249

Intersubjektivität verwiesen. Fixiert auf den Öffentlichkeitscharakter, auf die Sozialität ihrer Erkenntnissachverhalte, ist der Geschichtsschreibung das Nicht-Veröffentlichte, Nicht-Kommunizierte an ihnen notwendig fremd, vermag sie öffentliche »Handlungen« (§ 9, 43 u. ö.) zwar zu registrieren, ihnen aber kein normatives Relief zu geben, weil ihr die ethisch allein relevanten subjektiven »Bewegungsgründe« (ebd.) verborgen bleiben. Ein aufrichtiger Geschichtschreiber weiß daher nicht von allen bekannten Handlungen die Ursachen. Diese leeren Plätze kann ein Romanschreiber erfüllen, und uns die berühmten Menschen in ihren Geheimzimmern und Schlafkammern fürstellen. [ . . . ] Man kann daher mit Recht behaupten, daß der Dichter da anfange, w o der Geschichtschreiber aufgehöret hat. (§ 9, 4 3 )

Wo die Historiographie an ihre Grenze stößt, an der Schwelle der »Geheimzimmer und Schlafkammern«, und das heißt: an der Trennlinie von privater Gesinnung und öffentlichem Handeln des Subjekts,'8 da eröffnet sich der Imagination des Romanautors ein unermeßlicher Innenraum. Indem der Roman die Geschichte um ihre intentionale Innendimension komplettiert, erschließt er allererst ihr ethisches Wahrheitskriterium: das individuelle Gewissen jedes Akteurs, die Moralität des seiner tugendhaften Handlungsmotive gewissen Selbstbewußtseins. Die dem Roman als fiktionale Klärungsleistung zugeschriebene Rückvermittlung des objektiv-welthaften Handelns mit der privaten mentalen und psychischen - Handlungsdisposition der Subjekte hat eine deutliche Relativierung der Erzählbedeutung der objektiven Welt zur Folge, und es ist dieser Primat der subjektiven Handlungs^tócAí einerseits, der mentalen Handlungs/o/ge» andererseits gegenüber dem äußeren Handlungserfolg, der es dem Greifswalder Autor zu ermöglichen scheint, sein moralteleologisches Postulat der Belohnung der Tugendhaften mit dem Erzählanliegen empirisch wahrscheinlicher Darstellung zu verknüpfen. Denn die wesentlich auf Gewissensmotive und subjektive Bewußtseinszustände zurückgenommene Moral, sosehr sie in konkreten geschichtlichen Handlungsbezügen auf ihre objektive Verwirklichung drängen mag, trägt ihr Telos bereits in sich, sie ist als Selbstzweck und oberster Bewertungsmaßstab der Geschichte — auf 98

Dazu

Habermas,

Familie S. 6 0 - 6 9

und un

die

Strukturwandel

der Öffentlichkeit, bes.

Institutionalisierung

§ 6 (»Die

publikumsbezogenen

bürgerliche Privatheit«),

d Koselleck, Kritik und Krise, S. 3 o f f . , über den apolitischen Innenraum

im Staat als Einsatzpunkt der Aufklärung.

250

einer

ein a u ß e n w e l t l i c h e s K o r r e l a t nicht n o t w e n d i g a n g e w i e s e n , v o n e x t r a p s y c h i s c h e n F a l s i f i k a t i o n e n d a h e r a u c h nicht m e h r z u b e t r e f f e n : Man ist gewohnet, einen Menschen für einen Tugendhaften oder Lasterhaften zu halten, nachdem er in äusserliche glückselige oder unglückselige Umstände gesetzet ist. Dieses ist aber ein betrügliches Merkmal; denn obgleich eine iede freye Handlung entweder eine natürliche Belohnung oder Strafe bey sich führet, so sind dieselben dennoch nicht allezeit sichtbar, sondern nur in der Seele des Menschen gleichsam eingeschlossen. [ . . . ] Ein Gottloser ist sehr oft in besseren äusserlichen Umständen, als er verdienet, und ein Tugendhafter ist wegen seines Schicksals zu beklagen. (§ 5, 28) N u r der R o m a n a u t o r , als » v e r t r a u t e r F r e u n d « ( 2 8 ) seiner F i g u r e n m i t deren

»geheimsten

Gedanken«

vertraut

und

mit

der

erzählerischen

L i z e n z b e g a b t , » d e n Z u s t a n d ihrer Selen den L e s e r n z u e n t d e c k e n « ( 2 8 ) , k a n n angesichts d e r Internalisierung u n d P s y c h o l o g i s i e r u n g des E r f o l g s u n d S t r a f k r i t e r i u m s sozialer A k t i o n die »in d e r Seele des gleichsam

eingeschlossen[e]«,

nicht-öffentliche

Geschichte, den individuell-moralischen

Menschen

Wahrheit

der

Erlebnisreflex äußerer E r e i g -

nisse, enthüllen, u n d er d e m o n s t r i e r t in einem A k t n a r r a t i v e r E m p a t h i e , d u r c h das E r z ä h l m i t t e l plausibler F i g u r e n p s y c h o l o g i e ,

daß

Moralität

u n d G l ü c k s e l i g k e i t w i r k l i c h k o i n z i d i e r e n , w e i l sich das lautere G e w i s s e n d e r T u g e n d h a f t e n i m m e r s c h o n selbstreferentiell b e l o h n t u n d entlastet, w ä h r e n d u n e r t r ä g l i c h e r G e w i s s e n s d r u c k den H a n d l u n g s e r f o l g d e r G o t t losen z u s c h a n d e n m a c h t . "

99 Die ganze Konzeption steht und fällt mit einer problematischen »tiefenhermeneutischen« Annahme: der insgeheimen Anerkennung einer universalistischen Moral auch durch jene, die gegen ihre Maximen verstoßen. O b aber tatsächlich »die inneren Vorwürfe des Gewissens den Lasterhaften ärger noch als Furien plagen«, hat schon Kant (Uber das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee, Akad.Ausg. Bd. VIII, S. 2 5 3 - 2 7 1 , hier S. 261) mit Fug bezweifelt: »Denn der tugendhafte Mann leiht hierbei dem lasterhaften seinen Gemüthscharakter, nämlich die Gewissenhaftigkeit in ihrer ganzen Strenge, welche, je tugendhafter der Mensch ist, ihn desto härter wegen der geringsten Übereilung, welche das sittliche Gesetz in ihm mißbilligt, bestraft. Allein w o diese Denkungsart und mit ihr die Gewissenhaftigkeit gar fehlt, da fehlt auch der Peiniger für begangene Verbrechen; und der Lasterhafte, wenn er nur den äußern Züchtigungen wegen seiner Frevelthaten entschlüpfen kann, lacht über die Ängstlichkeit der Redlichen, sich mit selbsteigenen Verweisen innerlich zu plagen; die kleinen Vorwürfe aber, die er sich bisweilen machen mag, macht er sich entweder gar nicht durchs Gewissen, oder, hat er davon noch etwas in sich, so werden sie durch das Sinnenvergnügen, als woran er allein Geschmack findet, reichlich aufgewogen und vergütet.«

251

IV. KAPITEL

Katastrophischer Weltlauf und Tugendideal. Grenzen der Aufklärung in Gellerts >Leben der schwedischen Gräfin von G***< (1747/48)

Der bescheidene Gebrauch seiner Vernunft machte, daß er die Nachforschungen entweder nicht dahin zu treiben sich erlaubte, wo die Schwierigkeiten anfangen; oder daß er die einmal empfundene Gewißheit mehr bey sich gelten ließ, als alle nachfolgende Zweifel. Christian GARVE, >Vermischte Anmerkungen über Gellerts Moral, dessen Schriften überhaupt, und Charaktere (1771)

Die Entwicklungen der Erzähltheorie von Heideggers Kritik der barocken Großromane und der Romanlektüre überhaupt hin zu neuen, im Prinzip positiven Bestimmungen fiktionalen Erzählens und seiner moraldidaktischen Vermittlungsfunktion reflektieren - so hatte sich an Beispielen gezeigt - erkenntniskritische Umorientierungen einer Epoche, die zunehmend dahin tendiert, theologisch-metaphysische Letztbegründungen des Denkens durch innerweltlich-empirische Maßstäbe der Erfahrung zu ersetzen, zumindest aber solche Varianten christlichtheologischer Dogmatik zu vertreten, die mit den Kategorien vernünftig-rationaler, diesseitsorientierter Welterfahrung kompatibel erscheinen. Sosehr demnach die innerweltliche Wendung der Romantheorie vermittelt ist mit der philosophisch-epistemologischen Revolution einer entstehenden und progredierenden »Aufklärung«, so notwendig verbleiben die zentralen Postulate der neuen Erzählpoetik wie Wahrscheinlichkeit und >Kausalität< auf dem Niveau kategorialer Abstraktheit: welche Erzählinbalte, welche politisch-soziale Semantik in diesen Forderungen mitgemeint sind, läßt sich den theoretischen Texten trotz ihres moraldidaktischen Akzents nicht ohne weiteres ablesen, und selbst wenn - wie deutlich bei Schnabel, Lenglet-Dufresnoy oder dem anonymen Verfasser der Greifswalder >Gedanken und Regeln< Geschichte und Fiktion in ein Oppositionsverhältnis mit pejorativen Implikationen für die Deutung der >wirklichen Welt< gerückt werden, beläßt es die Theorie bei pauschalen moralischen Räsonnements und 253

hochabstrakten Dichotomien wie Tugend und Laster, Belohnung und Strafe, Erlebnisinnenraum des Gewissens und Handlungsaußenraum der Aktion. 1 Dieses Moment des semantisch notwendig Unspezifischen und Postulatorischen wird aber in den Poetiken der ersten Jahrhunderthälfte durchaus erkannt und häufig eigens thematisiert: als Gegensatz von sinnlich-anschauender und begrifflicher Erkenntnis, von cognitio viva bzw. cognitio intuitiva und cognitio rationalis, vermag es das Verhältnis

von Literatur und Philosophie zu erläutern und dient, unter wirkungspoetologischem Aspekt, den Autoren zur anthropologischen Begründung der Überlegenheit des Romans gegenüber reiner Theorie So sind es nach Lenglet-Dufresnoy erklärtermaßen die sinnfällige Anschaulichkeit und die emotionale Direktheit des vorgestellten Einzelfalls, die der Literatur zu ihrer überlegenen Suggestions- und Uberzeugungskraft, ihrer ungleich größeren vis persuadendo gegenüber der postulatorischen Allgemeinheit des Sittengesetzes verhelfen; die Romane leiten zum richtigen Leben an »non par des discours dogmatiques sur ces vertus, ce seroit le moyen de n'y pas réüssir, mais par des caracteres avantageux, par des portraits vifs & touchans«.' Daß Christian Fürchtegott Gellerts Literaturtheorie und die von ihm bevorzugt gepflegten literarischen Gattungen und pragmatischen Vermittlungsformen'' auf analogen Überlegungen beruhen, hat die Forschung seit langem erkannt5 und besonders für Gellerts Fabeldichtung und ihr zentrales Anliegen, »dem, der nicht viel Verstand besitzt, die 1

2

3 4

!

Das schließt, wie beispielhaft die einschlägigen Arbeiten von Habermas und Koselleck gezeigt haben, eine soziologische Lektüre auch der Theorie nicht aus (vgl. oben, Kap. 3), nur wandelt sich dabei der Interpretationstypus von Ideen und Intentionen rekonstruierender »Innenbetrachtung« zu funktionaler »Außenbetrachtung«. Zur systematischen Unterscheidung vgl. Karl Mannheim: Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde. In ders.: Wissenssoziologie, 2. A u f l . Neuwied und Berlin 1970 ( = Soziologische Texte. 28), S. 388-407; ähnlich auch Michel de Certeau: L'écriture de l'histoire, Paris 1975, bes. S. 148f. Vgl. Dietrich Harth: Christian W o l f f s Begründung des Exempel- und Fabelgebrauchs im Rahmen der Praktischen Philosophie, DVjs 52, 1978, S. 4 3 - 6 2 . De l'usage des romans (wie Kap. 3, A n m . 86), S. 212. Dazu Bernd Witte: Der Roman als moralische Anstalt. Gellerts >Leben der schwedischen Gräfin v o n G . . .< und die Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, G R M N.F. 30, 1980, S. 150-168. Siehe nur Alessandro Pellegrini: Die Krise der Aufklärung. Das dichterische W e r k C.F. Gellerts und die Gesellschaft seiner Zeit, Litwiss. Jb. N.F. 7, 1966, S. 3 7 - 9 6 ; Jürgen Jacobs: Gellerts Dichtungstheorie, Litwiss. Jb. N.F. 10, 1969, S. 9 5 - 1 0 8 ; Wolfgang Martens: Ü b e r Weltbild und Gattungstradition bei Geliert, in: Festschrift f. Detlev W . Schumann z. 70. Geburtstag, hg. v. A . R . Schmitt, München 1970, S. 7 4 - 8 2 .

254

Wahrheit durch ein Bild zu sagen«, deutlich herausgestellt;6 entsprechend häufig findet sich der Hinweis auf die Parallelität von fabulesker Kleinform und Romanstruktur bei Geliert in Analysen der Schwedischen GräfinNatürlichkeit< oder Korrespondenz mit empirischer Wirklichkeit« im Rahmen der Romanpoetik theorieimmanent zu verfolgen oder aber analytisch zu konkretisieren, welche Erzählinhalte zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt und in bestimmten politischen, soziokulturellen und intellektuellen Situationszusammenhängen tatsächlich für sich beanspruchen dürfen, diesen Forderungen zu genügen und als >natürlich< und >wirklichkeitskonform< zu gelten. ι.

Biographie als Katastrophenzyklus. Grundzüge einer Interpretation

i.i Autobiographisches Schema und moralisches Modell Der autobiographische Lebensbericht8 der schwedischen Gräfin von G * * ' erstellt seinem ausdrücklichen Anspruch nach ein moralisches 6

7

8

9

Vgl. bes. den Abschnitt »Von dem Nutzen der Fabel« in Gellerts Abhandlung >Von denen Fabeln und deren Verfassern< (1744). In: Chr.F. Gellen: Schriften zur Theorie und Geschichte der Fabel, histor.-krit. Ausgabe, bearb. v. S. Scheibe, Tübingen 1966 ( = Neudrucke dt. Literaturwerke. N . F . 17), S. 2 - 1 2 1 , hier S. 57ff. Uber Gellerts Fabelpoetik s. Kurt May: Das Weltbild in Gellerts Dichtung, Frankf./M. 1928 ( = Deutsche Forschungen. 21), S. 1 9 - 2 6 . Oft mit dem pejorativen Unterton, Geliert sei eigentlich gar kein Romanautor, weil es ihm nicht gelinge, einen kohärenten Erzählzusammenhang zu konstruieren. Besonders kräftig, aber in der Tendenz typisch sind die Formulierungen bei D.M. Van Abbé: Some Unspoken Assumptions in Geliert's »Schwedische Gräfin«, Orbis Litterarum XXVIII, 1973, S. 1 1 3 - 1 2 3 , der Geliert vorhält, sein Roman lese sich »like a lendinglibrary novelette« (113), der >plot< sei »clouted together« (113), der Graf und die Gräfin »cardboard ideals« (116), der ganze Roman ein einziger »mishmash« (114). Zur Autobiographiefiktion und ihren erzähltechnischen Konsequenzen in Gellerts Roman s. Müller, Autobiographie und Roman, S. 93-99. Zitiert wird der Roman nach der 2. Auflage von 1750 in der Ausgabe von J . - U . Fechner, Stuttgart 1968 ( R U B 8536/37), in den Anmerkungen mit der Sigle >SGGelassenheit< tritt wieder an die Stelle der Verzweiflung, und zugleich wenden sentenziose K o m mentare und moraldidaktische Betrachtungen das einzelne Erlebnis ins Allgemeine: 2 ? 2

So zuletzt Brenner, Die Krise der Selbstbehauptung, op. cit., der konstatiert, »die härtesten Schicksalsschläge« würden »nur mit kontrollierten Affektausbrüchen beantwortet; die Darstellung unkontrollierter Gefühlsausbrüche findet sich nicht, das Unglück wird vielmehr mit Gelassenheit ertragen« (132). Brenner räumt abschwächend ein: »zwar taucht im Horizont des Berichts über das eigene Gefühl auch der unkontrollierte Affektausbruch als Möglichkeit auf, aber diese Möglichkeit wird entschieden durch vernünftige Reflexion zurückgewiesen.« (133). 2 4 Als einer der ersten Interpreten hat Israel S. Stamm: Geliert: Religion and Rationalism, Germanic Review X X V I I I , 1953, S. 195-203, auf die häufige Darstellung eines »hard and resistant life« bei Geliert aufmerksam gemacht: »In this concreteness Geliert does not distill human suffering into abstract verbalizations. We might say that the more impersonal Geliert was in his consideration of life, the more he allowed to rationalistic philosophy; the more personal he was, the more concerned with his concrete human situation, the more religious he was.« (202). 2 s Zu Begriff und Problem vgl. Hermann Lübbe: Dezisionismus - eine kompromittierte politische Theorie. In ders.: Praxis der Philosophie, Praktische Philosophie, Geschichtstheorie, Stuttgart 1978, S. 6 1 - 7 7 . 26 Zur »ständigen Folge von individuellem Ausbruch und kontrollierter Abstraktion« als »Gegenüber von realer und idealer Lebensführung« vgl. Spaethling, Schranken der Vernunft, S. 227. 2 7 Dazu Wolfgang Martens: Lektüre bei Geliert. In: Festschrift für Richard Alewyn, hg. v. H . Singer u. B.v. Wiese, Köln/Graz 1967, S. 1 2 3 - 1 5 0 . 3

263

U n s e r U n g l ü c k schien nunmehr besänftiget zu sein. W i r schmeckten die R u h e eines stillen Lebens nach und nach wieder. W i r kehrten zu unseren Büchern zurück, und die Liebe versüßte uns das Leben und benahm den traurigen Erinnerungen des Vergangenen ihre Stärke. Mein M a n n schrieb um diese Z e i t ein B u c h : D e r standhafte Weise im U n g l ü c k . (59)

Uber zunehmende zeitliche Distanzierung, vor allem aber durch das Mittel retrospektiver Rationalisierung/ 8 die den schrecklichen Vorfall in ein Medium psychohygienischer Katharsis umdeutet und damit biographisch positiv integriert, erreichen diejenigen Romanpersonen, die zur moralischen Geschehensbewältigung in der Lage sind - Gegenfiguren wie Carlson und Mariane gehen an ihrer Unfähigkeit, von affektiver auf »vernunftgeleitete« Reaktion umzuschalten, zugrunde - , allmählich die letzte, mit dem Ausgangsstadium identische Phase kontemplativer »Zufriedenheit« (53 u. ö.), und der Kreis ist geschlossen, um sich allerdings jederzeit, und in der Spanne eines Lebens prinzipiell usque ad mortem, wieder öffnen zu können. ι .4 Heteronomie und Zufallsangst in Gellerts »Moralischen Vorlesungen< Das ethische Verhaltensmodell, das die Erzählerin an den Extremsituationen ihrer Biographie zu veranschaulichen sucht, entspricht bis ins letzte dem in Gellerts popularphilosophischen Abhandlungen und Schriften2» entworfenen Programm richtigen Lebens in einer unsicheren, die tugendhaften Individuen vielfältig und heteronom bedrohenden Welt. Ob sie >Von den Trostgründen wider ein sieches Lebend 0 handeln oder, des Unheilscharakters der futura contingentia gewiß, darzulegen suchen, >Warum es nicht gut sey, sein Schicksal vorher zu wissen^ 1 »Zuvor fürchteten wir nur mögliche, oder wahrscheinliche Zufälle. Von dieser Furcht sind wir befreyt. Hingegen fürchten wir nunmehr gewisse 28

»Wir lebten wieder ruhig. [ . . . ] Das Unglück, das uns zeither betroffen, hatte unsere Gemüter gleichsam aufgelöset, die Ruhe nunmehr desto stärker zu schmecken. Man dürfte fast sagen, wer lauter Glück hätte, der hätte gar keines. Es ist wohl wahr, daß das Unglück an und für sich nichts Angenehmes ist; allein es ist es doch in der Folge und in dem Zusammenhange. Wenigstens gleichet es den Arzneien, die unserm Körper einen Schmerz verursachen, damit er desto gesünder wird.« S G , S. 5 2 f. 2 9 Eine detaillierte Untersuchung von Gellerts popularphilosophischem Œuvre bleibt ein Desiderat der Forschung. Die Bemerkungen bei May, Das Weltbild in Gellerts Dichtung (wie Anm. 6), sind veraltet und entschieden revisionsbedürftig. 3° In: Sämmtliche Schriften. Fünfter Theil, Leipzig 1769, S. 2 1 - 7 5 . 3- Ebd., S. 1 - 2 0 .

264

Uebel. 1st dieses ein vortheilhafter Tausch?«3 2 - , ob sie die psychischen Gefährdungen des Menschen durch seine eigene anarchische Triebnatur beschwören und dazu raten, »seinen Begierden die angewiesenen G r e n zen [zu] setzen, seine Leidenschaften [zu] unterdrücken, daß sie das Reich der Ordnung und die Wohlfahrt des Geistes nicht umstürzen«,» oder ob sie die sozialen Kollisionen tugendhafter Individuen in einer indifferenten Umwelt als unvermeidlich beschreiben 34 W a s ist der beste Mensch, der auf der Bahn dieses Lebens noch so vorsichtig wandelt? E i n schwacher und ohnmächtiger Mensch, der dabey mit vielen Hindernissen seiner R u h e zu streiten hat. Seine besten Absichten mißlingen oft und gewinnen einen traurigen A u s g a n g . [ . . . ] Selbst seine T u g e n d e n setzen ihn oft manchen Widerwärtigkeiten

aus. E r ist hilfreich, und w i r d

mit

U n d a n k e bestraft. E r ist aufrichtig, und seine Wahrheitsliebe stürzt ihn. [ . . . ] E r eifert über die U n o r d n u n g e n seines Hauses oder des gemeinen W e s e n s , und das geahndete Laster rächet sich an ihm mit zehnfachem Verdrusse, den es ihm erweckt.

— durchgängig und mit leitmotivischer Obsession stellen Gellerts Schriften der conditio humana eine skeptische Diagnose, entwerfen sie eine Phänomenologie naturaler und sozialer Kontingenzen, »die von der menschlichen Natur nicht können getrennet werden«," und skizzieren eine »Gebrechlichkeit der Welteinrichtung«, wie sie in der deutschen Literatur wohl erst wieder bei Kleist eine Parallele finden dürfte. Die geschärfte Sensibilität für alle Varianten menschlicher Leiderfahrung mag in Gellerts Fall durchaus charakterliche und konstitutionelle Wurzeln haben,' 6 aber sie ist von weit mehr als nur individueller

3* 33

Ebd., S . 9 . >Von der Beschaffenheit, dem Umfange und dem Nutzen der Moral. Eine Vorlesung, auf Befehl und in hoher Gegenwart Sr. Churfiirstl. Durchlauchtigkeit zu Sachsen, Friedrich Augusts, den 29Sten April, 1765, auf der Universitätsbibliothek zu Leipzig gehaltene In: Sämmtliche Schriften. Fünfter Theil, Leipzig 1769, S. 1 8 7 - 2 1 2 , hier S. 202. 34 2 1 . Vorlesung (>Von der Menschenliebe, dem Vertrauen auf Gott, und der Ergebung in seine SchickungenVon der Beschaffenheit, dem Umfange und dem Nutzen der M o r a l s S. 203. 36 So bereits Gellerts Selbstverständnis: »Ich halte es nicht für unnöthig, meinen Lesern zu sagen, ehe ich mit ihnen von den Trostgründen wider ein sieches Leben rede, daß ich selber mit diesem Uebel seit verschiedenen Jahren beschweret bin. Es ist wahr, daß ich deswegen nicht gründlicher, deutlicher und ordentlicher von diesen Gründen handeln werde, als ein Anderer; aber vielleicht kann man kräftiger und nachdrücklicher von einer Sache sprechen, wenn man sie selber empfunden hat.« >Von den Trostgründen wider ein sieches LebenVon der Beschaffenheit, dem U m f a n g e und dem N u t z e n der MoralErkenntnisaufklärerischer< Absicht denunziert wird: die

268

1.6 Die soziale Konstellation: Eskapismus und »innere Emigration« Die auf Gewissensmotive eingeschränkte Intentionsmoral hat in Gellerts pessimistischer Sicht kein welthaftes Korrelat. Während aber die moraltheoretischen Schriften dahin tendieren, diesen Sachverhalt zu ontologisieren und zu einem zeitlosen Existenzial des Menschen in einer kontingenten Umwelt zu hypostasieren, reflektiert das >Leben der schwedischen Gräfin von G * * ^ , dem literarischen Primat der Anschauung und des präzise imaginierten Einzelfalls gegenüber abstrakter Allgemeinheit der Theorie entsprechend, dieselbe Diskrepanz von Tugend und Weltlauf im Zusammenhang konkreter politischer und gesellschaftlicher Konstellationen. Erst an seinem literarischen Weltentwurf wird deutlich, daß Gellerts pessimistische Diagnose nicht im sozialen Niemandsland moraltheologischer Spekulation entstanden ist, daß sie vielmehr in der Präsentation verschiedener europäischer Gesellschaftsformen wenngleich unter sorgfältiger Aussparung der deutschen Verhältnisse die politische Topographie der Zeit zu vermessen, ihren historischen Phänotyp zu entwerfen sucht. Nur in den engen Grenzen privater Interaktion, in der Intimität kleinfamilial-kontemplativer Lebensformen und mit einiger Bestandssicherheit nur im Rahmen bürgerlich verfaßter Sozialordnungen wie in Holland oder England darf die moralische Gesinnung der Romanfiguren erwarten, ein ihr günstiges soziales Umfeld vorzufinden. 4 * Im holländischen Exil kann die Gräfin bei ihrer Ankunft darauf zählen, daß »mein Unglück schon die beste Empfehlung« (31) darstellt, weil die Unbilden, die sie im feudalistischen Schweden erfahren hat, im mittelständischen Kaufmannsmilieu Amsterdams als Ausweis weltanschaulicher Zugehörigkeit empfunden werden: »Man schätzt uns hoch, weil wir viel erlitten oder viel verloren haben, und man macht unsern Unfall zu unserm Verdienste« (31). Und allein in der bürgerlichen Handelsmetropole Amsterdam findet die Gräfin die sehr spezifischen Voraussetzungen vor, die es ihr erlauben, in einer Nische des sozialen Geschehens ein Rentiersdasen zu führen und, auf äußerliche

affektiven Deformationen »reiner Vernunft«, w i r d von Geliert unter psychologischen Funktionsgesichtspunkten nachdrücklich gutgeheißen. A u c h v o n hier aus wäre eine Neueinschätzung des janusköpfigen Aufklärers Geliert fällig. Z u m allgemeinen P r o blemzusammenhang vgl. K u r t L e n k ( H g . ) : Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie, 8. A u f l . Darmstadt und N e u w i e d

1 9 7 8 , bes. die

»problemgeschichtliche

Einleitung« des Herausgebers, S. 13 ff. 44

Vgl. John Van Cleve: A

countess in name only: Geliert's S c h w e d i s c h e

Gräfin«,

Germanic R e v i e w , vol. L V , 1980, S. 1 5 2 - 1 5 5 .

269

Standesattribute und -privilegien verzichtend, aber weiterhin von ihrem aus adeligem Großgrundbesitz stammenden Vermögen lebend, ihrem Ideal stiller Beschaulichkeit und gelegentlicher opera caritatis zu huldigen: W i r lebten an dem volkreichsten Ort in der größten Stille. Dieses war unser Verlangen. W i r konnten uns beide mit dem edelsten Zeitvertreibe, mit Lesen und Denken unterhalten. [ . . . ] W i r studierten zu unserer eigenen Ruhe (38).

Der Preis für die relative Integrität der moralischen Gesinnung bleibt für die Gräfin selbst noch im holländischen Exil ihr sozialer Eskapismus, die Abstinenz von den Geschäften und von jeder bürgerlichen Tätigkeit; ihre Aufmerksamkeit für gesellschaftliche und ökonomische Vorgänge erschöpft sich denn auch darin, holländischen Kaufleuten zinsgünstige Kredite zu geben oder Freunden mit finanziellen Zuwendungen beim Aufbau einer eigenen Existenz zu helfen, um im übrigen - »Weder ich noch mein Mann, noch Caroline wußten recht mit dem Gelde umzugehen« (59) — das stetige Anwachsen ihres Vermögens mit religiös getönter Verwunderung und sachlicher Inkompetenz zu registrieren: W i r lebten wieder ruhig. Es schien, als ob uns der Himmel mit Gewalt reich machen wollte. Unsere Kapitalia brachten mehr ein, als wir verlangten, und weit mehr, als w i r brauchten (52f.).

Sind aber sogar in der bürgerlichen Gesellschaft, in Holland oder England, weite Distanz von den Zentren gesellschaftlicher Aktivität und der Rückzug in soziale Enklaven Voraussetzung für die Kongruenz von Gesinnung und Existenz, so stehen der »Hof« (22), die »großen Gesellschaften« (23), die »große Welt« und die »öffentlichen Geschäfte« ( 1 5 1 ) der moralischen Intention eindeutig heteronom und feindselig gegenüber: weder das absolutistische System in Schweden noch die vorzivilisatorischen Zustände in Rußland, »einem Lande, wo die Barbarei die Stelle der Tugend zu vertreten scheint« (91), lassen erfolgreiches moralisches Handeln anders als in raren, und dann notgedrungen subversiven, Einzelaktionen einer real unterdrückten ethischen Elite45 zu. So steht in Gellerts Roman dem Solidaritätsverband einer zahlenmäßig schwachen und sozial in die Defensive gedrängten philanthropischen Internationale 45 Van Cleve, ebd., S. 15}, definiert die positiven Trägerfiguren des Romans als »a middle-class projection of the ideal noble« und erklärt diese Projektion als einen »meritocratic shift [which] could not help but clear a path for the educated«.

270

der Tugendhaften 4 6 die überwältigende M a c h t des

katastrophischen

Weltlaufs gegenüber, und der ideellen Universalität der mittelständischbürgerlich gedachten Moral, wie sie H e r r R * * programmatisch f o r m u liert - »Sein Verlangen war, alle Menschen vernünftig und alle V e r n ü n f tige glücklich z u sehen« (23) - , kontrastiert schroff ihre realhistorischsoziale Partikularität in politischen Verhältnissen, in denen nur w e n i g e Menschen vernünftig und diese meistens nicht glücklich sind. 47

2.

Tugendaporien und Vorsehungsglaube im >Leben der schwedischen Gräfin von G*!:'*
contes philosophiques
Micromégas
Le monde comme il vac Apologie der Durchschnittserfahrung und parataktisches Erzählen

293

4. >Zadig< und >Memnon< - Die problematische Vermittlung von Subjekt und Kosmos 4.1 Kontingente Individualität als Thema 4.2 >ZadigMemnonCandide ou l'optimisme< 5.1 >Candide< als philosophisches Experiment. Zur Deutungsmethode 5.2 Episodenstruktur und parodistischer Effekt 5.3 Die Dialektik von Welterfahrung und Weltdeutung 5.4 Denkmodelle: Pangloss, Martin, Candide 5. j Die Conclusion: spekulativer Verzicht und kulturelle Praxis

316 316 321 324 326 334

IX

VI. KAPITEL: D A S SUBJEKT U N D SEIN SCHICKSAL. K O N T U R E N DES T E L E O L O G I E PROBLEMS BEI F R I E D R I C H VON BLANCKENBURG UND K A R L P H I L I P P MORITZ

343

ι. Theonome Wirklichkeit und integraler Charakter: Friedrich von Blanckenburgs >Versuch über den Roman< (1774) 1.1 Geschichtsphilosophische Perspektiven: der Subjektsroman als Paradigma der Moderne 1.2 Primat des introspektiven Erzähltypus 1.3 Theologie des Subjekts und residualer Providentialismus: zur Einheit von Ontologie, Anthropologie und Romanästhetik 1.4 Das Finalkriterium des Romans: der Beruhigungspunkt . . 2. Kontingente Realität und zerrissener Charakter: Karl Philipp Moritz' >Anton Reiser< (1785-90) 2.1 Kausalanalyse oder Finalisierung? Die Autobiographie zwischen Fragmentarik und Harmonisierung 2.2 Die Erosion theologischer Sinnformeln 2.2.1 Das blinde Ohngefähr. Geleugnete und bestätigte Kontingenz 2.2.2 »Verweltlichung« der Schicksalssemantik: der Vorsehungsglaube als ideologische Fiktion

344 347 352

355 363

365 365 373 374 378

VII. KAPITEL: » Q U I D V I R T U S , ET Q U I D SAPIENTIA P O S S I T . . . « -

MORALTELEOLO-

GIE U N D SKEPTISCHER REALISMUS IN WLELANDS >GESCHICHTE DES

(1767) 1. Zur frühen Konzeption der >Geschichte des Agathon< in Wielands Briefen an J.G. Zimmermann (1762) 1.1 Autobiographischer Bezug: Identifikation, Kompensation, Distanz 1.2 »Kopf-Arbeit«-Teleologisches Programm und Skepsis . .

AGATHON
Vorbericht< ( 1766) : Wahrheitsbedingungen des Erzählens 2.1 Empirisierung und Erfahrungsbezug 2.2 Prinzipien der Subjektsgestaltung: deskriptive und normative Postulate X

383 383 384 386 388 388 390

2.3 Wielands Poetik des philosophischen Romans 3. Philosophischer Polyperspektivismus und moralische Norm im >Agathon< 3.1 Monoperspektivisches Erzählen vor Wieland (Rekurs) . . . 3.2 Ideologischer Pluralismus: Modalisierung des Weltbildes und Präferenz der Moral 3.3 Antiteleologische Gegenperspektiven: Die philosophischen Antagonisten und das Problem der Vermittlung von Subjekt und Welt 3.3.1 Integrität durch Handlungsverzicht: Aristipp 3.3.2 Die Naturwidrigkeit moralischen Handelns: Hippias

396

401 401 403

408 410 422

4. Entwicklungslinien und Deutungskonzepte: Strukturelle Ambivalenz und semantische Komplexität der >Geschichte des Agathon< 4.1 >Fallende Linie< und Desillusionierung: Syrakus als Antiklimax 4.2 Die Unterstellung verborgenen Sinns: Kontingenztopoi, Teleologiesignale, Providenzmetaphern 4.2.1 Redundante Semantik 4.2.2 Theologumena und ethikotheologische Postulate . . . 4.2.3 Auktoriale Setzungen und Fiktionsironie

441 446 451 463

j . Das Teleologieproblem im >Agathon< und Kants Postulate der praktischen Vernunft

466

6. Die dementierte Lösung. Zur Problematik der Finalkonstruktion in der >Geschichte des Agathon< 6. ι Agathon im Glück: Tarent als trügerische Synthesis 6.2 Der »Sprung aus dem Fenster« - Aufspaltung der Erzählfunktion und >Entblößung der Fiktion
L'Homme révolté< [ . . . ] conter n'est jamais que conte redire, qui s'écrit aussi contredire [ . . . ] Claude LÉVI-STRAUSS, >Mythologiques IV
Herz< propagierte, wo »es von seinem Lichte [ . . . ] noch mehr zu befürchten« hatte,1 stehen die Versatilität, der offensive, polemische Witz, die kristallene Rationalität und das Engagement Voltaires gegenüber, dem Goethe in wunderbar treffender Formulierung als »dieser allgemeinen Quelle des Lichts« huldigte.2 Mit einer singulären Auffassungs- und Lernfähigkeit begabt und gegenüber allen Sparten der zeitgenössischen Wissensentwicklung gleichermaßen aufgeschlossen, war Voltaire zum idealen Vermittler und Popularisator aufklärerischer Gedanken prädestiniert, und in der Tat dürfte das von Topazio gezeichnete Bild eines »eloquent and

Leben der schwedischen Gräfin von G * * * , S. 75. Z u Eckermann, 16. Dezember 1828.

281

skillful transmitter of ideas and illuminator of recondite questions«^ dem Selbstverständnis dieser säkularen Gestalt sehr nahekommen. Voltaires offenes Denken, dessen zentrale Intention nicht auf »the creation of a body of thought, but of a way of life«4 zielte, bewegte sich im Rahmen eines festen Koordinatensystems geistiger Affinitäten und Gegnerschaften: Einer entschiedenen Ablehnung metaphysischer Spekulation, deren sarkastische Ironie Plato, Aristoteles oder die Scholastik sowenig verschonte wie Pascal, Bossuet oder Leibniz,' entsprach als positives Komplement die Bewunderung für die Leitfiguren des englischen Empirismus und der neuen mechanistischen Physik: Bacon, Locke, Newton, und die Sympathie für skeptisch-kritizistische Positionen wie jene Montaignes oder Pierre Bayles. Dem neuen empirisch-pragmatischen Paradigma von Wissenschaft zollen alle bedeutenden Schriften ihren Tribut: die frühen >Lettres philosophiques< oder >Lettres anglaisesEssai sur les mœurs«, der ersten >philosophie de l'histoireDictionnaire philosophique portatif< von 1 7 6 4 (Art. >Bien, tout estLettres philosophiques< von 1 7 3 3 / 3 4

( A u s g . v o n R a y m o n d N a v e s , Paris 1 9 6 4 , Classiques

Garnier,

S. 1 - 3 2 ) . - S. ferner René Pomeau: L a Religion de Voltaire, 2. A u f l . , Paris 1 9 7 4 ; Isolde D u m k e : Voltaire als Religionskritiker im Spiegel der Forschung ( 1 9 5 6 - 1 9 6 9 ) , Diss, phil. Berlin 1 9 7 2 . 9

Siehe die Abschnitte >Des oracles< und >Des miracles< aus der Einleitung z u m >Essai sur les mœurscontes philosophiques< Als Voltaire, zunächst noch unter ironischer Verleugnung der Autorschaft, 11 seinen ersten Roman veröffentlicht - 1747 erscheint in London unter dem Titel >Memnon. Histoire orientale< die Erstfassung des >ZadigSiècle d'or< für die Literatur und die Bühne des achtzehnten Jahrhunderts zu konservieren. Gerade diese klassizistische Voreingenommenheit dürfte denn auch den späten Einsatz von Voltaires erzählerischer Produktion am bündigsten erklären:^ mit Romanen und Erzählungen ganz außerhalb des sakrosankten poetologischen Kanons oder doch am Fußpunkt der literarischen Gattungshierarchie waren keine Meriten zu erwerben, ^ und in der Tat deuten alle biographischen und entstehungsgeschichtlichen Befunde darauf hin, daß Voltaires ersten, über ein Jahrzehnt rein privat bleibenden Versuchen auf dem Gebiet des conte philosophique durchaus kein höherer Stellenwert zukommt als der eines amüsanten Zeitvertreibs während des philosophi-

11

Vgl. den Kommentar des Herausgebers zu den Romans et Contes, Texte établi sur l'édition de 1775, avec une présentation et des notes par Henri Bénac, Paris i960 (Classiques Garnier), S. 616. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert. 12 Zu den biographischen Bezügen siehe A . Owen Aldrige: Voltaire and the Century of Light, Princeton und London 1975, hier S. 1 4 3 f f . und Theodore Besterman: Voltaire, N e w Y o r k 1969. 1 3 Das Problem hat die Voltaire-Forschung vielfach beschäftigt. Einen wertenden Überblick über die vorgetragenen Hypothesen gibt Laurence L. Bongie: Crisis and the Birth of the Voltairian conte, M L Q 28, 1962, S. 5 3 - 6 4 . '·» So auch W . H . Barber: Voltaire: >Candideconte philosophique* (ebd. S. 63 ff.) erscheint aber zu rigoros; sie basiert auf dem ahistorischen Begriff eines »dreidimensionalen«, personal erzählten Romans, der an der Literatur des 19. Jahrhunderts orientiert sein dürfte. Daß gerade bei Voltaire die Grenzen viel fließender sind, zeigt schon dessen Parodieverfahren, das Erzählformen verschiedener Äomantraditionen spielend in den Kontext des >conte philosophique< zu integrieren vermag.

285

eminenten Möglichkeiten des Genres und dessen besondere Affinität zur Offenheit seines experimentierenden Denkens erfaßt hat, um sie von da an kontinuierlich und virtuos zu nutzen 18 - insgesamt erscheinen zwischen Voltaires fünfzigstem und achtzigstem Lebensjahr 22 Romane und >contes< - , ist außerordentlich eindrucksvoll. Im »stets erneuten Reduzieren der variablen Vorkommnisse auf die Identität der wenigen Gesetze, die das Menschenleben regieren«, erkennt Hugo Friedrich das Grundmerkmal von Voltaires Romantechnik, die »die Welt als eine empirische Vielfalt über der Einheit ihres Gefüges« 19 zu erkennen lehre, und in der Tat scheint diese Formel ergänzt um die ebenso durchgängigen Charakteristika der Parodie und Travestie herkömmlicher Erzählformen, eines in mitunter halsbrecherischem Tempo durch Räume und Zeiten jagenden, zu grotesker Episodenhäufung neigenden Prestissimo-Stils,20 einer Schraffur- und Skizzentechnik von unverwechselbarer Meisterschaft 21 und einer Erzählhaltung scheinbar unbeteiligter antipsychologischer Außensicht und pointiertsarkastischer Indifferenz - Voltaires erzählerisches Œuvre präzise auf einen Nenner zu bringen. Aber die formale und stilistische Homogenität dieses Erzählkorpus, die belegt, mit welcher künstlerischen und intellektuellen Reife Voltaire von seinem ersten Roman an über die Palette seiner spezifischen erzählerischen Mittel gebietet, darf nicht dazu verleiten, in den >contes< auch inhaltlich die Stabilität und Statik eines gesicherten, nur noch repetitiv variierten Weltmodells zu suchen. Im Gegenteil weist wohl kein anderer Teil des Voltaireschen Gesamtwerkes eine ähnlich dynamische Entwicklungsstruktur auf wie seine Romane, läßt sich nirgendwo sonst die Verlaufslogik eines philosophischen Dekompositionsprozesses in vergleichbarer Anschaulichkeit studieren 18

'9 10

11

Die beste Gesamtuntersuchung des Erzählwerks ist die Monographie Van den Heuvels, op. cit. Vgl. daneben Dorothy Madeleine McGhee: Voltairian Narrative Devices as considered in the Author's >contes philosophiquescontesconteMicromégasVoyage dans les pays de la lune et du soleil< (1657) und, im Roman selbst verschiedentlich angespielt, in Swifts >Gulliver's Travels< (1726) vorgebildet fand. Zugleich gibt Voltaire seiner Version des Motivs jedoch eine entschieden »wissenschaftliche« Note, um sie, im Gewand eines »conte scientifique«,28 zu öffnen für die spielerische Diskussion jener Zentralfragen der neuen Physik und ihrer weltanschaulichen Konsequenzen, die dem Propagandisten Newtons besonders am Herzen liegen. Bereits vor Antritt ihres »petit voyage philosophique« ( ι ο ί ) ergehen sich die beiden ungleichen Reisenden in langen Diskussionen über Natur und Reichweite ihres Erkenntnisvermögens: der saturnische Akademiker fühlt sich mit seinen 72 Sinnen und seiner Lebenserwartung von gerade 15 000 Jahren vom Schicksal ebenso schlecht bedient wie Micromégas, dem sogar seine fast tausend Sinne und seine siebenhundertfach

2

s

Eine enge Verwandtschaft mit dem verlorengegangenen >Voyage du baron de Gangan< für Friedrich den Großen (und damit eine Entstehung im Frühjahr 1 7 3 9 ) vermuten Ira O . W a d e , Voltaire's >MicromégasMicromégas< evident. Zu Recht hat Hans Blumenberg gerade diesen conte scientifique zum Beleg für die »philosophische Paradigmatisierung Newtons« in Voltaires Œuvre gewählt,J7 und Jacques van den Heuvel verfolgt in seiner sorgfältigen Untersuchung die gedanklichen Anschlußlinien an Locke, Newton und Pope jeweils bis ins Werkdetail.'8 Gewiß: auch im >Micromégas< - und insofern ist der Name ein anthropologisches Programm - bleibt die conditio humana zuletzt ambivalent, wird über der möglichen Grandiosität der Menschheit als Trägerin akkuraten und weitausgreifenden Wissens die Erbärmlichkeit geschichtlich-sozialer Verhältnisse und das Ungegründete einer Metaphysik der leeren Worte nicht völlig unterschlagen.w Aber aufs ganze gesehen - und >Micromégas< ist ein Roman der emphatischen Totalität! - , überwiegt in dieser Erzählung aus dem Geist der >nouvelle science< wie in keinem der späteren Romane mehr ein enthusiastisches Novitäts- und Fortschrittsbewußtsein: die makrostrukturelle Erzählperspektive der weitestmöglichen Totale suggeriert den Primat, die höhere Dignität, ja den ausschließlichen Zweckcharakter des G a n z e n , eines deistisch gedachten physikalischen Weltbaus der harmonischen Stufung und der in Zahlenverhältnissen, Maßen und Beziehungen, in Proportionen und Naturgesetzlichkeiten formulier- und kalkulierbaren »analogie universelle«,40 gegenüber dem Schicksal e i n z e l n e r Menschen, jener »mites philosophiques«, deren faktische Bedeutung für den Bestand des Kosmos sich umgekehrt proportional verhält zu ihrem überzogenen Selbstverständnis, sie seien die Krone der Schöpfung. Akzidentiellem, durch unzulängliches Denken und egoistisches Handeln selbstverschuldetem menschlichem Leid in seiner Kontingenz begegnet emphatisch eine Religion der demiurgischen Physik, wie sie in der »ivresse cosmique«, der heiter-gelösten »atmosphère de familiarité mathématique« und jenem gewissen »savoir-vivre interstellaire«4' des >Micromégas< aufscheint und dessen buchstäblichen Kosmopolitismus begründet. Es gehört zu den Paradoxien dieser Phase eines

37

Blumenberg, D e r Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 2 1 6 .

38

Voltaire dans ses contes, S. 7 9 f f . , 9 2 f f . , ι ο ί ff.

59

So auch Barber, T h e Genesis of Voltaire's >Micromégasobjet trouvé< aus dem Fundus seiner gemischten Erfahrungen tritt er vor den Engel:

45

A m bekanntesten sind Montesquieus »Lettres persanes< von 1 7 2 1 . Zur Tradition vgl. Marie-Louise Dufrenoy: L'orient romanesque en France (1704-1789), Montreal 1946; René Etiemble: L'Orient philosophique au X V I I I e siècle, 2 Bde., Paris 1 9 5 6 - 5 8 ; Pierre Martino: L'Orient dans la littérature française au* X V I I e et X V I I I e siècles, Paris 1906.

46

Buch Jonas, Kap. 3 und 4.

294

»Casserez-vous, dit-il, cette jolie statue parce que tout n'y est pas or et diamants?« Ituriel entendit à demi-mot; il résolut de ne pas même songer à corriger Persépolis, et de laisser aller le monde comme il va »car, dit-il, si tout n'est pas bien, tout est passable.* (8o)47

Baboucs plakative Schlußmoral des >tout est passable< richtig zu verstehen und in den Entwicklungszusammenhang von Voltaires Erzählwerk einzuordnen, heißt vor allem, die Reichweite und die Grenzen seiner Konzilianz des >Laisser-aller< zu bestimmen: ist ohne weiteres klar, daß in der Negation des >tout est bien< ein auf »realistische« Erfahrung sich berufender Einspruch gegen einen populären Optimismus Popescher Observanz 4 ' und dessen Grundformel >Whatever is, is rightMicromégasLe monde comme il va< als »suspense by antithesis« (ebd., S. 49). íS i6

McGhee, ebd., S. 50, spricht von einem »neutral plane of reality« als Resultante der divergierenden Erzählvektoren. Auch das hat zuerst McGhee, ebd., erkannt (»Hence our term vacillating fortune< applies in the present case, not to a person, but to the fate of a city as it is about to be determined by a heaven-appointed observer«, S. 53), die aber keine weiteren interpretatorischen Schlüsse aus dem Befund zieht.

296

Abstraktion dafür gesorgt, daß die Erkenntnisavantgarde einer G r u p p e Newtonscher Physiker die Menschheit insgesamt vorstellen und damit deren virtuellen Einklang mit der mechanistischen Ordnung des demiurgisch erzeugten Kosmos repräsentieren konnte, so gewährleistet in >Le monde comme il va< gleichfalls nur eine heuristische Abstraktion: die fiktionale Versuchungsanordnung des zugleich omnipräsenten und externen Beobachters, sowohl die formale Kohärenz der Episoden als auch ihre Äquivalenz für die Apperzeption eines wertenden Bewußtseins. »Passabel« nämlich kann der Sozialzusammenhang von Persepolis (das Totum des >tout est passableVoltaire -

Goethe< v o n 1 9 1 0 : »Goethe hat zur

Menschheit die hohe, ferne Liebe eines Gottes zu seiner S c h ö p f u n g ; Voltaire k ä m p f t für sie im Staub. E r ist einseitig und will nicht anders sein. E r ist die Revolte des Menschen gegen die N a t u r , gegen ihre Stumpfheit und Langsamkeit, Ungerechtigkeit und Härte.« - V g l . ferner Lester G . Crocker: Voltaire's struggle for humanism, Studies on Voltaire and the Eighteenth C e n t u r y I V , 1 9 5 7 , S. 1 3 7 - 1 6 9 .

2 97

ment her muß >Le monde comme il va< als Werk des Durchgangs erscheinen, das trotz der Preisgabe metaphysischer Perfektionstheoreme die Priorität des e i n e n G a n z e n gegenüber den v i e l e n E i n z e l n e n zu halten versucht. Baboucs überparteiliche Indifferenz und ihre Schlußfolgerungen nehmen sich, aus der Retrospektive des >Candide< betrachtet, als Konsequenz einer trügerischen ethischen »Unschärferelation« aus, das parataktische Kompensationsprinzip seiner >VisionZadig< und >Memnon< - die problematische Vermittlung von Subjekt und Kosmos

4. ι Kontingente Individualität als Thema Signifikant für die Weiterentwicklung des Voltaireschen >conte philosophique< und für die Zuspitzung der Kontingenzproblematik im Erzählwerk ist ein strukturelles Moment: der Funktionswandel der handlungsexternen Beobachterfiguren. Souveräne Kommentatoren mit weitestmöglichem Überblick und scheinbar unfehlbarer Welterklärungskompetenz bleiben zwar - Beispiele wie der Engel Jesrad in >Zadig< oder der >Esprit céleste< in >Memnon< belegen es - ein Standardmotiv, aber nicht erst im >CandideJe suis donc enfin heureux!Micromégas< läßt sich unter dem Vorzeichen des Interesses am einzelnen Subjekt nicht mehr anknüpfen. Zadig selbst muß das exemplarisch erfahren: Von seinem dauerhaften Mißgeschick niedergeschlagen, sucht er sich durch Selbstverkleinerung und einen kosmischen Relativismus aufzurichten und in der Kontemplation des unendlichen Weltraums zu beruhigen. Bei der Betrachtung des Sternenhimmels schrumpft ihm die Erde zum »point imperceptible dans la nature« (23), erscheinen die Menschen als »des insectes se dévorant les uns les autres sur un petit atome de boue« (23), verengt sich der Nahhorizont der eigenen Lebenswelt bis zur völligen Bedeutungslosigkeit: C e t t e i m a g e v r a i e s e m b l a i t a n é a n t i r ses m a l h e u r s , e n lui r e t r a ç a n t le n é a n t d e s o n ê t r e et c e l u i d e B a b y l o n e .

S o n â m e s ' é l a n ç a i t j u s q u e d a n s l ' i n f i n i , et

c o n t e m p l a i t , d é t a c h é e d e ses s e n s , l ' o r d r e i m m u a b l e d e l ' u n i v e r s . ( 2 3 )

Der Dimensionsvergleich des eigenen Schicksals mit der Totalität eines gesetzlich geordneten Weltalls verschafft Zadig vorübergehende Entlastung, auch er erfährt den Newtonianismus als seelische Therapie. Aber - und hier zeigt sich ein neuer Realismus Voltaires - die großmaßstäblichen Orientierungen eines physikalischen Deismus sind zu abstrakt, um ein dauerhaftes Selbst- und Weltverständnis begründen zu können, die kosmische Ataraxie läßt sich gegen den Widerstand der unmittelbaren Lebensinteressen nicht stabilisieren.76 Mit dieser psychischen Uberforderung nicht genug, klafft zwischen der Globalperspektive kosmischer 74

» L a destinée humaine, pour Voltaire, n'a pas ce tragique grandiose, et l'homme, en quête d'un bonheur si fugace, ne peut même pas se nourrir de la certitude d'être nécessairement vaincu. L a vérité est moins terrible, plus humiliante. L ' h o m m e a ses chances de succès dans la chasse au bonheur. Mais elles sont réparties le plus absurdement du monde.« Mauzi, ebd.

75 76

Zadig, S. 2 3 - 2 5 . Eine spätere Variante desselben Problems bietet der philosophische Dialog >Les Adorateurs ou les louanges de Dieu< von 1 7 6 9 (in: Voltaire, Dialogues et Anecdotes philosophiques,

304

hg.

von

Raymond

Naves,

Paris:

Classiques

Garnier

1966,

Harmonie und der Individualperspektive kontingenter Lebenserfahrung auch erkenntnistheoretisch eine unüberbrückbare Kluft: sie kann durch die ichleere, selbstvergessene Bewunderung des Kosmos nur zeitweilig verdeckt, aber nicht gedanklich geschlossen werden. >Zadig< macht dies durch eine schroffe Antithese deutlich; der zitierten Passage über den »ordre immuable de l'univers« schließen sich unmittelbar die folgenden Sätze an: M a i s lorsque ensuite, rendu à lui-même et rentrant dans son c œ u r , il pensait q u ' A s t a r t é était peut-être morte p o u r lui, l'univers disparaissait à ses y e u x , et il ne v o y a i t dans la nature entière q u ' A s t a r t é m o u r a n t e et Z a d i g infortuné.

(23 f·) Die Unruhebewegung der Reflexion zwischen kosmisch-emphatischem Aufschwung und verstörender Rückwendung in die Misere des eigenen Herzens kann nicht zum Stillstand kommen, und Zadig überläßt sich ausweglos »à ce flux et à ce reflux de philosophie sublime et de douleur accablante« (24). So verschwindet - in der genauen Metaphorik dieser Zeilen - vor dem Gedanken an den möglichen Tod Astartés die Grandiosität des Universums, und die Perfektion der Natur wird zur Spiegelflucht, die das eigene Unglück tausendfach zurückwirft. Was hier gefordert wäre, ist der Aufweis einer speziellen Providenz im Leben jedes Individuums, die die universale Providenz in der Architektur des Kosmos ergänzen müßte, anstatt auch diese durch ihre Abwesenheit zu diskreditieren. Das Mais im Auftakt der Antithese weist leitmotivisch voraus auf jenes fünffach wiederholte Schlüsselwort, mit dem Zadig die dogmatischen Offenbarungen des Engels skeptisch kontern wird; es antizipiert die verweigerte Synthese, die Diskordanz der Perspektiven von Individuum und Totum. Weil Zadig der von ihm nicht in Frage gestellten providentiellen Ordnung des Universums in der Summe seiner individuellen Erfahrungen - die nach der Logik des märchenhaften Schlusses schließlich doch nur eine verfrüht gezogene Zwischensumme sein soll - trotz des Wissens um die eigene Glückswürdigkeit keine entsprechende Ordnung glaubt an die Seite stellen zu können, begehrt er auf dem Tiefpunkt seiner Depression gegen die Vorsehung auf und muß

S. 346-364). Der erste Unterredner spricht aus kosmologischer Emphase, der zweite akzentuiert demgegenüber das individuelle Leiden.

305

entweder an ihrer Güte und Gerechtigkeit oder aber an ihrer Allmacht verzweifeln -P Il lui échappa enfin de m u r m u r e r c o n t r e l a P r o v i d e n c e , et il fut tenté de croire que tout était gouverné par une destinée cruelle qui opprimait les bons et qui faisait prospérer les chevaliers verts. (51) 7 8 D a ß Voltaire sich hier unmittelbar in den gedanklichen Bahnen der Leibnizschen

Theodizee

bewegt,

zeigt nicht nur

die von

Leibniz

geborgte Formulierung vom Murren gegen die V o r s e h u n g ; 7 ' schon die Anerkenntnis, daß im individuellen Leiden, in der Existenz des Übels und in der Kontingenz der Welt Probleme vorlägen, die durch keinen physikotheologischen Hinweis auf die Perfektion des Weltganzen mehr zu verwischen seien, mußte Voltaire zwangsläufig mit jener ausgefaltetsten Metaphysik seiner Zeit konfrontieren, die die gesuchte Synthese zu demonstrieren behauptete. 80 O b freilich aus der Berührung in Fragestellungen und der Anerkennung ihrer Legitimität und Gewichtigkeit schon auf eine Identität der Lösungen geschlossen werden darf, wie manche Interpreten des >Zadig< zu unterstellen scheinen, 8 ' bedarf durchaus noch der kritischen Prüfung.

77 Eine klare Formulierung des Problems - mit gutem Hinweis auf Pierre Bayles Artikel >Pauliciens< im »Dictionnaire historique et critique< und auf Voltaires eigene Fassung im Artikel >Bien, tout est bien< des »Dictionnaire philosophique< - bietet June Sigler Siegel: Voltaire, >ZadigThe Hermit< ( 1 7 2 1 ) in Betracht. Vgl. Aldridge, Voltaire and the Century of Light, S. 159. Für diesen göttlich inaugurierten ordre de sagesse wird jedoch nicht der Anspruch erhoben, er sei die beste aller möglichen Welten und folglich auch die einzige realisierte Welt. Vielmehr spricht - im Gegensatz zur Leibnizschen Theodizee - der Engel

307

aus d e m

kein

Element

herausgelöst

werden

könnte,

d a s G a n z e dieser b e s t i m m t e n W e l t a u f z u h e b e n , der

Kontingenz

zugleich

folgen -

behauptet

»il

n'y

a point

ein n o r m a t i v e r Z u s a t z

84

ohne

zugleich

d i e strikte N e g a t i o n

de h a s a r d «

-,

und

die F e i n a b s t i m m u n g

und

strikte K o n v e r g e n z der universalen O r d n u n g m i t d e n

(56)

Zwecksetzun-

gen i n d i v i d u e l l e r M o r a l , also die v o n Z a d i g in seiner V e r z w e i f l u n g s o d r i n g e n d ersehnte E x i s t e n z einer speziellen P r o v i d e n z : 8 ' die n o t w e n dige B e l o h n u n g d e r G u t e n , das U n g l ü c k d e r S c h l e c h t e n , d e r i n s t r u mentelle G ü t e c h a r a k t e r a u c h des B ö s e n , d e r verläßliche jedes b e l i e b i g e n w e l t h a f t e n V o r f a l l s ou

récompense,

ou

prévoyance«

Moralbezug

» t o u t est é p r e u v e , o u p u n i t i o n ,

(56)

-

mit

der

sind

einige

der

Konse-

Apotheose

des

Helden

quenzen. Der

Märchenschluß

des

>Zadig
Zadig< à >Candide< ne consiste pas dans un passage de l'optimisme au pessimisme, mais dans le fait que la pensée de l'auteur s'est dégagée de ses prudences antérieures pour atteindre son plein

309

Lektüre warnen schon stilistische Beobachtungen: der für Voltaire ungewöhnliche Ton ungebrochener Positivität, die provozierend unkomplizierte Auflösung des Glücksproblems (»Zadig fut roi, et fut heureux«), der verschwenderische Umgang mit Superlativen (»le plus beau siècle de la terre«)8' und mit den Attributen politischer und privater Vollkommenheit (paix, gloire, abondance, justice, amour) - allein die Engführung dieser Motive kann beim Leser den Eindruck einer ostentativen Erfüllung, ja den Verdacht einer parodistischen Ubererfüllung eines konventionellen Schlußschemas aufkommen lassen. Auch steht die perennierende Statik eines spannungslosen geschichtlichen Idealzustandes in allzu eklatantem Kontrast zu den bewegten Wechselfällen der Vorgeschichte; der providentiell verfügte Stillstand der Geschichte ist vom Verfasser des >Essai sur les mceurs< anders denn als literarische Konvention schwerlich zu akzeptieren.»0 Doch damit nicht genug, ist die Finalkonstruktion des >Zadig< auf ironische Weise zirkulär, wird doch der Märchenschluß nur plausibel aus den Prämissen der Rede Jesrads, deren Triftigkeit er andererseits erst beweisen soll. Uberzeugen kann er demnach nur den bereits überzeugten Leser; nur für ein immanentes Verständnis, das sich die metaphysische Dogmatik des Engels bereits zu eigen gemacht hat und bereit ist, das Geschehen nach ihren Kategorien zu interpretieren, ist das Finale unanstößig. Damit aber büßt der Schluß seinen scheinbaren Beweisstatus ein und wird zur reinen Ausmalung eines per se unbeweisbaren Credos.' 1 Einer skeptischen Lesart steht es épanouissement« (272). Ein Unterschied mithin nicht der Konzeption, sondern der Konsequenz! 8

s

H i e r muß schon ein vergleichender Blick auf das Eldorado-Kapitel des >Candide< zur



W a d e , Intellectual Development, S. 6 7 5 , geht aber w o h l zu weit, wenn er aus der

Vorsicht mahnen. Beobachtung gedanklicher Unstimmigkeiten auf den philosophischen Unernst der ganzen Finalkonstruktion des >Zadig< schließt: »Voltaire had nothing better to offer. A s a matter of fact, w e can hardly resist the conclusion that Voltaire brought Leibniz into the picture because he knew no other w a y to end the

conte

[ . . . ] « . Ähnlich sieht

auch Sareil, D e >Zadig< à >CandideTheodizee< und des >Essay on Man< parat.' 3 Nachdrücklicher jedoch als ein inhaltlich bestimmter Widerspruch, der als solcher die Berechtigung metaphysischer Spekulation ja unterstreichen müßte, wirkt die Insistenz von Zadigs stereotypem Mais als Dementi. Dieser semantisch unausgefüllte Einspruch ist ein vieldeutiges Signal: es betont gegenüber der dogmatischen Endgültigkeit des Engels die Offenheit, Vorläufigkeit, Widersprüchlichkeit von Zadigs Erfahrung, es akzentuiert die Unabgeschlossenheit, ja vielleicht Unabschließbarkeit der Diskussion, unterstreicht das Paradoxe und die verstehensmäßigen Zumutungen der Botschaft, legt schließlich verhaltenen Protest' 4 ein im Namen dessen, was die providentialistische Theorie verleugnet und zum Verschwinden bringt: der konkreten Endlichkeit. V o r allem aber wirft Zadigs endloses Weiterfragen ein bezeichnendes Licht auf das Wesen metaphysischer Rede: sie ist Credo und dogmatische Verkündigung, sie appelliert nicht an Einsicht, sondern fordert Bewunderung und Unterwerfung: 92 '3

Vgl. Wade, Intellectual Development, S. 675. Dazu gehören die Statuierung des menschlichen Erkenntnisdefizits, die Leugnung des Zufalls, die Behauptung des notwendigen Instrumentalcharakters des Bösen in einer durchkonstruierten Welt der Zweck-Mittel-Relationen - »il n'a y point de mal dont il ne naisse un bien« (56) - , das Gebot fideistischer Unterwerfung. - Zur Logik der einschlägigen Kompensationsfiguren, bes. zur Teleologisierung des Unglücks, vgl. Odo Marquard: Glück im Unglück. Zur Theorie des indirekten Glücks zwischen Theodizee und Geschichtsphilosophie, Allg. Zeitschr. für Philosophie, Bd. 3, 1978, S. 2 3 - 4 2 . 94 Sinngemäß, aber mit überzogener Formulierung Wade, Intellectual Development, S. 6/6: »We know, further, that Voltaire was here very close not only to protest but to open revolt. It would not take much more exasperation for Zadig to send Jesrad packing, back to the ethereal realm. But he did not revolt - not this time - and that is the really important thing.«

311

Faible mortel! c e s s e d e d i s p u t e r contre ce qu'il faut a d o r e r . - »Mais«, dit Z a d i g . . . C o m m e il disait mais, l'ange prenait déjà son vol vers la dixième sphère. Zadig, à genoux, a d o r a l a P r o v i d e n c e , et se s o u m i t . ( 5 7 ) " Entgegen

einer vereindeutigenden

Interpretation,

die in >Zadig< das

optimistische Z w i s c h e n s p i e l eines simplifizierten L e i b n i z i a n i s m u s à la V o l t a i r e sehen m ö c h t e u n d damit auf erhebliche Schwierigkeiten der biographischen

und

denkgeschichtlichen

Einordnung

stößt, 9 6

ist

es

ergiebiger, die A m b i g u i t ä t des T e x t e s z u m Leitgedanken seiner A u s l e g u n g z u machen. 9 7 D a s setzt die Bereitschaft v o r a u s , den H a n d l u n g s k o m m e n t a r e i n e r F i g u r auch dann nicht z u r G e s a m t a u s s a g e des T e x t e s zu hypostasieren,

wenn

ihm

keine G e g e n ä u ß e r u n g e n

von

gleichem

A r g u m e n t a t i o n s g e w i c h t entgegenstehen. G e r a d e an >ZadigZadig< nicht mehr als Vehikel zur trivialisierenden Propagierung einer bestimmten - Leibnizschen oder Popeschen - Metaphysik gelesen wird, sondern als Versuch, mit spezifisch literarischen Mitteln Einsicht zu eröffnen in den Status und die Problematik von Metaphysik überhaupt als einer postulativen Form der Welterklärung aus transempirischen Prämissen. Mit Ira O. Wade läßt sich dann, nur scheinbar paradox, behaupten, daß »Voltaire's use of Leibnizian optimism in >Zadig< is philosophically irresponsible, but artistically correct«, 100 weil literarische Texte anderen Konsistenzforderungen unterliegen als philosophische Traktate. In dem Maße, in dem die gegenstrebigen, nichtaffirmativen Aspekte von Voltaires >conte< zum Verständnis herangezogen werden, erschließt sich seine Funktion als die der Deixis, der Problemanzeige und des fiktionalen Gedankenexperiments. Nicht daß die Antworten der zeitgenössischen Metaphysik so überzeugend ausfielen, wäre demnach der Aussagesinn des >ZadigZadigTractatusMemnon< als Zeugnis einer biographischen Krise und als Voltaires Widerruf des »optimistischen« >ZadigZadigMemnon< schließt, akzentuiert eben diese existentielle Folgenlosigkeit der physikalischmechanistischen Grandiosität des Kosmos : Ah! je ne croirai cela, répliqua le pauvre Memnon, que quand je ne serai plus borgne. (86)

Memnons Replik bekräftigt Zadigs >Mais< und verschärft dessen Skepsis zur ausdrücklichen Weigerung, die Immediaterfahrung des eigenen Unglücks hinter die Kontemplation des großen Ganzen zurückzustellen. Im Gegenteil erhält der Einzelne Priorität, denn nur unter der Bedingung der Aufhebung seines individuellen Unglücks wäre Memnon bereit, sich auf die harmonistischen Aussagen der kosmologischen Metaphysik überhaupt einzulassen. Hier wird nicht nur der alte Vorwurf der Nutzlosigkeit metaphysischer Spekulation erneuert; erstmals in den Voltaireschen >contes< gerät die Metaphysik unter einen ausdrücklichen Ideologieverdacht, der jedwede Totalerklärung als totalitär und die Subsumtion des konkreten Einzelnen unter den Primat allgemeiner Gesetze oder übergeordneter Vernunftzwecke und Zielsetzungen als eine Form der Inhumanität und des Unrechts brandmarkt.106 Es ist unverkennbar, daß sich in Memnons neuer sagesse humaine - denn der hintersinnige Untertitel signalisiert nicht nur eine Beschränkung, sondern auch eine Emanzipation - die Perspektiven des >Candide< ankündigen: wenn sich die Engel (als ästhetische Agenten einer abschließenden Metaphysik der Welterklärung) in die Sprachlosigkeit des Weltraums 106 F ü r eine gegenwärtige Reformulierung desselben Ideologievorwurfs unter sehr weitem ideengeschichtlichem

Blickwinkel vgl. Marquard, G l ü c k im U n g l ü c k , bes. S. 27 f.

N a c h Marquard tendiert die Leibnizsche Theodizee ebenso wie ihre Nachfolgegestalt, die moderne Geschichtsphilosophie, zu einer Relativierung des U n g l ü c k s durch T e l e o logisierung: »Teleologisiert wird ein malum, wenn es als Bedingung der Möglichkeit des Optimum verstanden w i r d ; das bedeutet einschlägig: das U n g l ü c k wird begriffen als Mittel z u m Z w e c k des bestmöglichen Glücks. M i r scheint nun: die prinzipielle Struktur dieser Lösung wird - horribile dictu - formuliert durch den Satz: der Z w e c k heiligt die Mittel.«

315

zurückziehen, dann geben sie den empirischen Raum der Sozial- und Geschichtserfahrung frei für eine provisorische Philosophie der endlichen Praxis.

5.

Metaphysische Persiflage und sozialer Meliorismus in >Candide ou l'optimisme
Candide< als philosophisches Experiment. Zur Deutungsmethode Im Kapitel >Von der Nichtigkeit und dem Leiden< aus dem zweiten Band seines Hauptwerkes >Die Welt als Wille und VorstellungCandide< (wie Anm. 14), S. 10. 111 Belege bei Barber, ebd., S. iof.

316

überhaupt, einen fatalen Stoß versetzt und ihn beim breiten Publikum dauerhaft diskreditiert: »A partir de >CandideTheodizeeCandideCandide< ist reich an ungenauen Konzepten; pauschale Vorstellungen von Pessimismus und resignativer Bescheidung herrschen auch hier vor,"' und nicht selten bestimmt ein naiver biographischer Reduktionismus die Auslegung. Kunstwerke vom Rang des >Candide< - nach Jean Sareils treffendem Bonmot »le meilleur des contes possibles«" 6 - vertragen jedoch eine differenzierte Analyse nicht nur, sie machen sie zum Imperativ: die

Paul Hazard, Le problème du mal (wie Anm. 48), S. 163. Neuere Interpreten fügen dem allerdings differenzierende Hinweise an; vor allem Wade, Intellectual Development, S. 686 ff., hat herausgearbeitet, daß der späte Voltaire sich Leibniz im Grunde vielfach angenähert, dies zugleich jedoch verdeckt (oder verkannt) habe. - Harald Weinrich (Literaturgeschichte eines Weltereignisses: Das Erdbeben von Lissabon, in ders.: Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft, Stuttgart/ Berlin/Köln/Mainz 1971, S. 64-76) will für »das 18. Jahrhundert einen phasenartigen Ablauf von Optimismus, Pessimismus, Optimismus erkennen, wobei die Jahre 1755 und 1789 die geschichtlichen Phasenwechsel bezeichnen. Der erste Phasenwechsel durch Voltaires Tun, der zweite nicht ohne sein Zutun«, ebd., S. 71. " 3 Welt als Wille und Vorstellung II, op. cit., S. 737. " 4 Ebd., S. 733. 11 s Die wohl gründlichste Diskussion des fast unüberschaubaren Deutungsspektrums zum >Candide< enthält Bottiglias Monographie »Voltaire's >CandideCandideCandide< ist dicht und mit genauem Kalkül gewoben, sie zeigt Voltaire auf der Höhe seiner erzählerischen Virtuosität und einer präzisen Imagination, die den Bezug auf die einflußreichen philosophischen Systeme der Zeit nicht allein thematisch sucht," 7 sondern sich auch selbst an gedanklicher Logik und Genauigkeit mit ihnen messen kann. >Candide< ist, als literarischer Versuch über den Wahrheitsanspruch und den lebenspraktischen Ertrag der Metaphysik, selbst ein Stück experimenteller Philosophie." 8 Gegenüber der Beweglichkeit dieses erzählenden Denkens sind daher so kompakte Deutungskonzepte wie >Optimismus< oder >Pessimismus< nur zu halten, wenn sie in geklärter Bedeutung verwendet, nach ihren konkreten Bezugsproblemen differenziert und insgesamt stark dynamisiert werden; nicht die Lektüre des >Candide< im Zeichen des >Pessimismus< ist Schopenhauer ja vorrangig anzulasten, sondern daß er darunter wenig mehr versteht als eine zeitlose Haltung pauschaler Weltablehnung. Wie der Autor der >Welt als Wille und Vorstellung< muß jeder auf Etikettierung und rasche Stillstellung bedachte Ausleger den Text notwendig verfehlen; dieser spiegelt die falsche Eindeutigkeit glatter Begriffssynthesen zurück, und der Interpret macht die scheinbar paradoxe Erfahrung, daß »>Candide< is [...] in its inner substance not wholly optimistic, or pessimistic, or skeptical, or cynical: it is all of these things at the same time«.11» Die Versatilität des Werkes ist aber nicht zu verwechseln mit Verschwommenheit oder Beliebigkeit, nicht einmal mit Vieldeutigkeit; 120 sie ist im Gegenteil ästhetisches Indiz eines philosophischen Stils,121 der, metaphysisches Denken als ungenau attackierend, vor der Offenheit und Vielfalt geschichtlicher Erfahrung durch Genauigkeit zu bestehen sucht. Dieser Erfahrungsbezug macht eine zweite methodische Reflexion erforderlich: Unmittelbarer als die orientalischen Erzählungen, die ihm vorausgehen, nimmt der >Candide< authentische Zeitereignisse ins " 7 Mit ausführlichen Nachweisen: Ira O. Wade: Voltaire and >CandideCandideZadig< die wesentlich schwierigeren Interpretationsprobleme; vgl. oben Abschnitt 4.5. 121 Vgl. die ausgezeichnete Analyse von Jean Starobinski: Sur le style philosophique de >CandideCandideCandide< sich einordnen lassen, und sogar direkte philosophische Abhängigkeiten und mögliche Filiationen zu klären. Aber selbst wenn diese Forschungen ein insgesamt einheitlicheres Bild ergäben und nicht dazu tendierten, noch einmal akribisch das ohnehin Bekannte zu beweisen: daß nämlich Voltaire mit eklektischer Belesenheit an den Denkbewegungen seiner Epoche teilnahm und als ihr größter Popularisator anzusprechen sei128 - selbst dann fände die Methode der ideengeschichtlichen Zuordnung ihre Grenze am erzählerischen Allusionsverfahren des >CandideCandidecontes< erweisen sich Stilfragen hier als Wahrheitsfragen, dient das literarische Arrangement als gedankliche Versuchsanordnung, um abstrakte philosophische Wahrheitsansprüche einer Realitätsprüfung zu unterziehen. 128

So Topazio, Voltaire, Philosopher of Human Progress, bes. S. 357.

321

Prima facie bedeutet der >Candide< eine Wiederholung der typischen Stilmittel und Erzählkonstellationen von Voltaires Erzählwerk: extremes Tempo und ironische Skizzierung sorgen für rasche Episodenwechsel und die Uberbrückung weitester Räume. Diese unverkennbare Technik der Binnenverknüpfung hatte in >Le monde comme il va< zu einer tendenziell unendlichen episodischen Reihenform geführt, in deren parataktischem Gliederungsprinzip und offenem Schluß eine widerspruchsvoll-facettenreiche Wirklichkeit ihre adäquate formale Entsprechung fand. >Zadig< und >Memnon< hatten diese Technik in den Expositionspartien aufgegriffen, sie dann jedoch mit einem gegenläufigen »Offenbarungsschema« überformt; in beiden Fällen kam der Gleichlauf der Episoden durch diese Intervention zum Stillstand und mündete in ein Finale: im >ZadigMemnon< in die Dissonanz eines unüberbrückbaren Hiatus von kosmischer Ordnung und individueller Kontingenz. - Im >Candide< gruppiert Voltaire die Episoden neu; er ordnet sie - wie im Ansatz schon im >ZadigHistoire de la vieilles Kap. i i und 12; Paquette und Bruder Giroflée, Kap. 24); es kombiniert weiteste räumliche Ausgriffsmöglichkeiten und damit größtmögliche »Welthaltigkeit« bei relativer Unabhängigkeit der Episoden (die Stationen von Candides Irrfahrten durch die Alte und Neue Welt) mit einer durch das Trennungs- und Wiedervereinigungsschema jederzeit gewährleisteten Finalorientierung (der Weg von Westfalen über Eldorado nach Konstantinopel) ; es ist damit strukturell prädestiniert für die Thematisierung philosophischer Dichotomien wie Weg/Ziel, Kausalität/Finalität, Zufall/Notwendigkeit, Chaos/Ordnung (die Diskussionen und Theorien der Romanfiguren, aber auch die implizite philosophische These des Romans). ll

9 Dazu Van den Heuvel, Voltaire dans ses contes, S. 285 ff. Vgl. oben Kap. 1.

322

Die Massierung konventioneller Standardsituationen des Abenteuerromans tut ein übriges, um >Candide< an die Tradition anzuschließen: Sturm und Schiffbruch vor Lissabon (Kap. 5), Gefangennahme durch Piraten (Kap. 12, 27) oder durch Kannibalen (Kap. 16), Verkauf in die Sklaverei (Kap. 12, 27), Diebstahl durch Zufallsbekanntschaften oder in Gasthäusern (Kap. 10, 22), Entführung Cunégondes durch Candide, dessen Duell mit dem jungen Baron (Kap. 15), dazu zahlreiche Verfolgungs-, Wiedererkennungs- und »Auferstehungs«-Szenen, drastisch gehäufte Koinzidenzen, in denen sich Protagonisten an den verschiedensten Plätzen und oft in den abenteuerlichsten Verkleidungen wiederfinden (Kap. 4, 7, 12, 24, 26, 27, 30), schließlich die Zusammenführung aller wichtigen Figuren am Ort des Finales, das hier programmatisch >Conclusion< überschrieben ist - all dies gehört in das Arsenal romanesker Kolportage. - Was jedoch der barocke Geschichtsroman in voluminösen Kompendien als großes Welttheater auseinanderlegt und sich entfalten läßt, das jagt Voltaire in 30 knappen Kapiteln, in grotesker Zeitraffung'^ 1 und mit so aberwitzig sich überschlagenden Knalleffekten, Peripetien und Katastrophen über eine außer Rand und Band geratene Marionett e n b ü h n e , d a ß es dem Leser nicht nur völlig unmöglich wird, einen Zeitverlauf der Handlung festzuhalten, sondern auch, sich mit den Figuren zu irgendeinem Zeitpunkt zu identifizieren. Der kalkulierte Erzähleffekt ist eine konsequente und entsentimentalisierte Außensicht und, als deren Folge, eine wesentlich kritische Distanz des Lesers (der Terminus »Verfremdung« ist hier durchaus am Platz). Im Lesenden entsteht ein Bewußtsein »of the caricature and exaggeration, the deliberate implausibilities, the bathetic contrasts, which Voltaire employs in making fun of a naïve and hackneyed genre«. 1 » Unter dem Uberdruck und der absurden Beschleunigung der komprimierten Sequenzen zer•3 1 Barber, Voltaire: >CandideCandide< mit entsprechenden Effekten im Stummfilm-Kino. 1 2

3

D e r Vergleich der Romanpersonen mit Marionettenfiguren findet sich (mit unterschiedlicher Wertung) in vielen Interpretationen; er bezeichnet treffend das antipsychologische Abstraktionsverfahren des >CandideCandidecontesesprit céleste< - die Möglichkeit einer überlegenen Ordnung immerhin noch suggeriert, auch wenn damit nicht schon immer, wie im Extremfall des >ZadigCandide< die Probleme transgeschichtlich-kosmischer Ordnung und der Existenz einer >Providence universelle< von Anfang an eine völlig untergeordnete Rolle;' 36 statt dessen tritt in einer für Voltaires gesamtes •34 Mythologiques I V , L ' H o m m e N u , Paris 1 9 7 1 , S. 184. 1

3 s V g l . die ausgezeichneten Bemerkungen Sareils, Essai sur >CandideCandide< and the problem of secularization, P M L A L X V I I , 1952, S. 886-888. 1 J7 Van den Heuvel, Voltaire dans ses contes, S. 284.

325

philosophischen Dialogromanen, die Konstellation vom Erzähler kaum genutzt); jede dieser privaten Weltanschauungen wird darüber hinaus durch eben jene Realität, auf die sie sich mit Erklärungsanspruch bezieht, auch ihrerseits geprüft und kommentiert, ohne daß die reflexive Bewegung zwischen Welt erfahrung und Weltinterpretation jemals zu einem unzweideutigen Abschluß kommen könnte, weil es am Ende immer noch einmal vom reflexiven Selbstbezug und der theoretischen Entscheidung eines Pangloss abhängt, ob er sich durch seine Erfahrungen in und mit einer von ihm apriorisch gedeuteten Realität bestätigt oder widerlegt sehen möchte. Erst in der >Conclusion< wird der Roman diese Spiralbewegung der Reflexion durchbrechen und unterlaufen, aber vor der Untersuchung dieser vielschichtigen Lösung muß unsere Analyse zunächst versuchen, das aufgewiesene Reflexionsverhältnis von Figurenkonstellation und Ereignisstruktur für die konkrete Interpretation fruchtbar zu machen.

5.4 Denkmodelle: Pangloss, Martin, Candide Alle Personen des Romans haben unter der katastrophischen Wirklichkeit zu leiden, viele erzählen im Lauf der Handlung ihr persönliches Unglück, aber nur wenige suchen es sich zu deuten. Unter diesen denkenden Köpfen nehmen drei eine exponierte Stellung ein: Maître Pangloss aus Westfalen, »le plus grand philosophe de la province, et par conséquent de toute la terre« (138), als Repräsentant eines unbeirrbaren Optimismus; sein Kontrahent Martin, der ebenso unveränderlich von der Bosheit der Menschen und der Schlechtigkeit der Welt überzeugt ist (»En un mot, j'en ai tant vu et tant éprouvé que je suis manichéen«, 187); schließlich, als >anima candidas der Titelheld selbst - »Ii avait le jugement assez droit, avec l'esprit le plus simple« (137) - , der sich unter dem Eindruck seiner Erfahrungen vom unbedingten Bewunderer seines Lehrers Pangloss zu dessen Kritiker entwickelt, ohne deshalb zum »Manichäismus« Martins zu konvertieren. Um der analytischen Deutlichkeit willen soll jede der drei Figuren zunächst für sich charakterisiert und in ihrer Reaktion auf das Geschehen beschrieben werden. Pangloss, ein spekulativer Don Quixote, ist der heimliche Heros der Geschichte, die ja seinem Lehrgebäude im Untertitel ihre Reverenz erweist. Aus seiner Darstellung bezieht >Candide ou l'optimisme< seine satirische Verve, und gegen seinen metaphysischen Uberschwang opponiert noch die pragmatische Schlußformel des travaillons sans raison326

nerCandidePauliciensCandideCandideCandidespirituelincisifsarcastique< - doit son caractère spécifique à la double visée agressive dont il est chargé.«'72 Voltaires dialektisches Erzählen läßt metaphysische Weltentwürfe an der Erfahrung einer schlechten Wirklichkeit zerbrechen, aber der Ruin der Spekulation gibt l6g

l6

I

9



1 I

7 •72

Diese Deutung vertritt Bottiglia, Voltaire's >CandideConclusion< zurück und belegt mit einer Fülle von Parallelstellen das weite allegorische Bedeutungsspektrum des Finales. Der schönste Beleg: Voltaires Brief an D'Alembert vom 14. Juli 1773: »Ii faut cultiver les lettres ou son jardin...« (ebd. S. 733). So auch Van den Heuvel, Voltaire dans ses contes, S. 281. Starobinski, Style philosophique, S. 198 f.

340

dem empirischen Status quo darum nicht recht. Vielmehr gehen beide Negationsbewegungen auseinander hervor: erst die Destruktion einer apriorischen

(optimistischen

oder pessimistischen) Philosophie

und

eines starren Systemdenkens hebt die Lähmung des individuellen H a n delns auf und gibt den Impuls für praktische Veränderung. Metaphysische Desillusionierung und pragmatischer Meliorismus bedingen sich, Geschichte muß als kontingent erfahren werden, um der Formierung durch menschliche Arbeit und kultivierenden Eingriff zugänglich zu sein. N u r das Nicht-Notwendige ist v e r ä n d e r b a r . O d e r , mit Bertolt Brechts lapidar zustimmender N o t i z : »Im >Candide< lernt ein Jüngling, alles, was sei, müsse so sein, und erfährt, daß diese Lehre nicht für alle gleich gut ist.« 174

•75 Diese Kritik erneuert im 20. Jahrhundert Hartmann, Teleologisches Denken, S. 125, in seinen - gedanklich genau parallelen - Ausführungen über das »Fiasko des Finaldeterminismus« : »Nur in einer Welt, in der nicht alles auf Endstadien festgelegt ist, kann der Mensch noch Entscheidungen treffen, >seine< Zwecke setzen und realisieren und dadurch an seinem eigenen Tun Schuld und Verdienst haben. Der streng zuende gedachte Finaldeterminismus ist der eigentliche Fatalismus, das Ausgeliefertsein des Menschen an das vorbestimmte Geschick. Unter seiner Voraussetzung wird es im Grunde gleichgültig, was der Mensch tut, und noch gleichgültiger, was er plant oder sich vornimmt: er ändert mit seinen kleinen Entschlüssen nichts mehr am festgelegten Lauf der Dinge. Diese Weltordnung läßt dem Menschen nichts übrig, als die Hände in den Schoß zu legen.« ! 74 Komisches. In: Schriften zur Literatur und Kunst 2 ( = Gesammelte Werke Bd. 19), Frankf./M. 1967, S. 458-464, hier S. 460.

341

VI. KAPITEL

Das Subjekt und sein Schicksal. Konturen des Teleologieproblems bei Friedrich von Blanckenburg und Karl Philipp Moritz Der Glaube an die Vorsehung ist der Glaube an den eigenen Wert [ . . . ] , der Glaube des Menschen an sich selbst. L u d w i g FEUERBACH, >Das Wesen des Christentums< Kein Sieger glaubt an den Zufall. Friedrich NIETZSCHE, >Die fröhliche Wissenschaft

Die Selbstbeschränkung der poetologischen Theorie, die im Anschluß an allgemeine erkenntniskritische Säkularisierungstendenzen der providentiellen Legitimation traditioneller Handlungsverknüpfungen entweder ganz abschwört (Gottsched, Lenglet-Dufresnoy, Greifswalder Anonymus), sie aus agnostizistischer Sicht und in grotesker Übersteigerung ironisiert (Voltaire) oder aber vom geschichtstheologischen Strukturprinzip zum Funktionsprinzip individueller psychischer Entlastung mediatisiert (Geliert), um zugleich neue Strategien der erzählerischen Geschehensverbindung zu entwickeln,1 muß der Aufklärung um so leichter fallen, als sie das Verhältnis von Fabel und Charakter im Roman insgesamt und grundlegend neu definiert. Erst dieser zweite Urawertungsprozeß, gemeinsam mit der oben skizzierten Wendung zur Wahrscheinlichkeit eines Erzählens von kausaler, an der lebensweltlichen Empirie orientierter Konsistenz, stellt alle Voraussetzungen bereit, unter denen Wieland in der >Geschichte des Agathon< das Programm eines psychologisch-realistischen Romans entwerfen und realisieren kann. Gerade Wielands epochale Leistung ist aber zureichend nur zu verstehen, wenn es gelingt, zuvor einige philosophische Prämissen des neuen, subjektzentrierten Erzählens zu klären. Zu diesem Zweck suchen wir in einem ersten Schritt die Apotheose des Subjekts, das teleologische Wirklichkeitsverständnis und die semantischen Restbestände des Vorsehungsglaubens in Friedrich von Blanckenburgs >Versuch über den Für einen Überblick siehe Victor Lange: Erzählformen im Roman des achtzehnten Jahrhunderts, Anglia 76, 1958, S. 129-144. 343

Roman< zu erläutern. Anschließend konfrontieren wir die idealistischen Annahmen dieser Theorie mit der Subjekts- und Realitätsauffassung in Karl Philipp Moritz' autobiographischem Roman >Anton Reiser18. Jahrhunderts S. 1 - 8 2 ; Aufklärung und literarische Öffentlichkeit, hg. v. C h r . Bürger, P. Bürger u. J . Schulte-Sasse, F r a n k f . / M . 1980 ( = H e f t e f. Kritische Literaturwissenschaft. 2) mit mehreren einschlägigen Einzelstudien; Rolf Grimminger: Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen. U b e r den notwendigen Zusammenhang v o n Literatur, Gesellschaft und Staat in der Geschichte des 18.Jahrhunderts. In ders. ( H g . ) : Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution ( 1 6 8 0 - 1 7 8 9 ) , Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur Bd. 3 / 1 , München

1980, S. 1 5 - 9 9 ;

Peter

Michelsen: D e r unruhige Bürger. D e r Bürger und die Literatur im 18. Jahrhundert, in: Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, hg. v. R . Vierhaus, Heidelberg 1 9 8 2 ( = Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. V I I ) , S. 1 0 1 - 1 3 0 .

344

kehrt sich das Prioritätsverhältnis um: Die Fabel wird vom zentralen Erzählzweck des Romans zum funktionalen Mittel mit der Aufgabe, Situationen bereitzustellen, in denen, wie exemplarisch in Gellerts Schwedischer GräfinHamburgischen Dramaturgie< von der die Konstruktion der Fabel betreffenden zur psychologischen Wahrscheinlichkeit,3 der die Geschichte »nur noch als Repertorium glaubwürdiger Charaktere« dient,4 gehört in diesen systematischen Zusammenhang ebenso wie Johann Jakob Engels an Lessing anschließender Traktat >Uber Handlung, Gespräch und ErzählungTraité
Versuch
Bildungsromans< nicht unterschätzt werden«12

darf.

Die

zentrale

Bedeutung

Blanckenburgs

für

die

G e s c h i c h t e der deutschen R o m a n t h e o r i e ist bereits in den f r ü h e n D a r stellungen v o n M i n n e r s u n d S o m m e r f e l d gebührend herausgestellt w o r d e n , u n d eine R e i h e späterer U n t e r s u c h u n g e n u. a. v o n M i c h e l s e n , D y e , L ä m m e r t , W ö l f e l , H a h l u n d M ü l l e r ' 3 hat diesen R a n g nachhaltig u n d

9 10

11

11

'3

Ebd., S. 201. Blanckenburgs >Versuch über den Roman< (im folgenden: >VRVorberichtVersuch< im Kontext der zeitgenössischen Romantheorie vgl. bes. Wolfgang Lockemann: Die Entstehung des Erzählproblems. Untersuchungen zur deutschen Dichtungstheorie im 17. und 18. Jahrhundert, Meisenheim am Glan 1963 ( = Deutsche Studien. 3), S. 166-184; Werner Hahl: Reflexion und Erzählung. Ein Problem der Romantheorie von der Spätaufklärung bis zum programmatischen Realismus, Stgt. 1971, S. 12-43; Wilhelm Voßkamp: Blanckenburg und Blanckenburgrezeption. Probleme der Romanpoetik im 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Akten des V. Internat. Germanisten-Kongresses Cambridge 1975, Jb. f. Internat. Germanistik, Reihe A, Bd. 2/3, 1976, S. 193-200. Voßkamp, Blanckenburg und Blanckenburgrezeption, S. 193. Zur Bedeutung des >Versuchs< für die Geschichte des Bildungsromans siehe Fritz Martini: Der Bildungsroman. Zur Geschichte des Wortes und der Theorie, DVjs 3 y, 1961, S. 44-63, bes. S. 55ff., sowie Martin Swales: The German Bildungsroman from Wieland to Hesse, Princeton 1978 (bes. Kap. I: »The Bildungsroman as a Genre«, ebd., S. 9-37); entschieden zu kurz kommt Blanckenburg bei Lothar Köhn: Entwicklungs- und Bildungsroman. Ein Forschungsbericht, Stuttgart 1969, S. 53. Kurt Minners: Die Theorie des Romans in der Deutschen Aufklärung: Mit besonderer Berücksichtigung von Blanckenburgs >Versuch über den Romans Phil. Diss. Hamburg 346

unter wechselnden Gesichtspunkten bekräftigt; die Erörterungen können sich daher unbedenklich auf den tischen Zusammenhang von Subjektdarstellung und >Versuch< sowie, damit verbunden, auf Blanckenburgs videntialismus und seine Funktion konzentrieren.

nachfolgenden engeren themaTeleologie im residualen Pro-

i . i Geschichtsphilosophische Perspektiven: der Subjektsroman als Paradigma der Moderne Auch die Frage nach finalen Denkfiguren im >Versuch über den Roman< muß zurückgreifen auf Blanckenburgs grundlegende und epochemachende Differentialdiagnose von Epos und Roman. Bekanntlich entwickelt Blanckenburg schon im >Vorbericht< und danach besonders im Einleitungskapitel des ersten, >Von dem Anziehenden einiger Gegenstände< handelnden Hauptteils14 seiner Schrift in einer methodisch an ungefähr gleichzeitige Positionen Herders (etwa in dessen >ShakespeareHeldengedichtsc beide Genres korrespondieren, je in ihrer weltgeschichtlichen Epoche, mit den »Sitten der Zeit« (XIII), die »ihnen das Daseyn« (XIII) geben; beide sind »zur Unterhaltung ihrer Zeit geschrieben« (XIV) und entsprechen ihrem spezifischen »Publikum« (XIV), ihrem »Volk [...] mit seinen Besondernheiten« (XVIIf.). Der neuzeitliche Romanautor ist also »in seiner Art so national [...], als es die Griechischen Dichter für ihr Volk waren« (XVIII), und alle Gattungsunterschiede »lassen sich aus dem Unterschiede herleiten, der sich zwi-

'4

1922 (masch.); Martin Sommerfeld: Romantheorie und Romantypus der deutschen Aufklärung, D V j s 4, 1926, S. 4 5 9 - 4 9 0 ; Peter Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1962 ( = Palaestra. 232) (bes. Kap. 5: »Darstellung des Inneren. Die Romantheorie Friedrich von Blanckenburgs, S. 1 4 1 - 1 7 6 ) ; Robert Ellis D y e : Friedrich von Blanckenburg's Theory of the Novel: A n Exposition and Evaluation, Ph.D. thesis Rutgers University, N e w Brunswick 1966; Eberhard Lämmert, Nachwort zum >VersuchVersuch über den RomanVersuchs über den Roman< 'S

Z u m Terminus >Relationierung< vgl. oben, Kap. 2, A n m . 57.

16

Müller, Autobiographie und Roman, S. 1 1 0 .

1

7

E b d . ; W ö l f e l , Blanckenburgs >Versuchheroischen< Trauerspiel abrückte«.

348

mit seiner in der Nachbarschaft Herders beheimateten historistischen »Relativierung« 18 des Unterschieds zwischen Antike und Moderne das relative Eigenrecht des Romans als der modernen epischen Gattung kat'exochen (oder als der »modernen Epopöe«, wie, von Blanckenburg auf Wezel und Hegel vorausdenkend, mehrere Interpreten formuliert haben).1» Der antiklassizistischen Absage an den überhistorischen Vorbildcharakter der griechischen Kunst entspricht nach allgemeiner Sicht ein konsequent historisch-soziologisches Deutungsverfahren, das es erlaubt, literarische Kunstwerke, aber auch die philosophische Kunsttheorie und die Dichtungslehre - Blanckenburg fordert ja den »neuen Aristoteles« und eine »deutsche Poetik« (13) - nach Kriterien des Nationalcharakters" und des politisch-kulturellen Milieus genetisch abzuleiten und zuzuordnen und sogar Phänomene wie das »Altern« und das Unzeitgemäß-Werden literarischer Formen überzeugend zu erklären. Konsequent ersetzt nach dieser Lesart Blanckenburg »die normative Abstufung durch den historischen Vergleich« 21 und postuliert »Gleichrangigkeit«22 und »künstlerische Gleichberechtigung«^ des Romans mit dem Epos: »Als zeitgemäße Entsprechung des Epos kann der Roman dessen seit jeher unangefochtene Stellung im ästhetischen System einnehmen und ist damit von dem Makel seiner ungeklärten Herkunft und von der Problematik seiner Zwischenstellung zwischen Dichtung und Geschichte befreit. «2·» Es bedeutet keine prinzipielle Infragestellung dieses solide etablierten Konsensus der Forschung, der ja zu Recht bereits die de facto-Gleichstellung von Epos und Roman als »etwas Unerhörtes« 2 ' rühmt, vielmehr eine notwendige Differenzierung und Modifikation, wenn im folgenden auf eine gegenläufige Argumentationstendenz des >Versuchs< aufmerksam gemacht wird, die, soweit ich sehe, in der bisherigen BlanckenburgLiteratur weitgehend außer acht geblieben ist. Keineswegs zielt der aus den nachfolgenden Beobachtungen abgeleitete Vorschlag, die These von 18

20

21 22

2

3 4 2 5 2

Michelsen, Laurence Sterne, S. 149. Z . B . Voßkamp, Blanckenburgrezeption, S. 196; Lämmert, Nachwort, S. 553; Hillebrand, Theorie des Romans, S. 1 1 2 . Zu Blanckenburgs Forderung eines deutschen Nationalromans vgl. Lämmert, N a c h wort, S. 5 70 f. Lämmert, ebd., S. 552. Wölfel, Blanckenburgs >VersuchRelativismus< zu relativieren, auf eine Bedeutungsminderung seiner romantheoretischen Position: sie wird in gewissem Sinne nur noch »unerhörter« ! - Die Gleichrangigkeit behauptende historistische Parallelisierung von Epos und Roman wird nämlich umgriffen von einer spekulativ-anthropologischen Geschichtsteleologie des menschlichen Gattungsprogresses, und dem methodischen, möglicherweise auch taktischen (weil im Effekt die Aufwertung des Romans durch Anlehnung an das ehrwürdige Epos promovierenden) Relativismus des >Versuchs< begegnet ein latenter, gleichwohl aber entschiedener geschichtsphilosophischer Modernismus. Eine derartige Koexistenz genetisch-relativierender, die historische Singularität von Kunstformen behauptender, sie gewissermaßen in ihrer konstitutiven Unvergleichlichkeit vergleichender Argumentationen mit absoluten und normativen ästhetischen Theoremen ist in der Kunst- und Literaturphilosophie der Zeit nicht ohne Parallele; Peter Szondi hat sie etwa - mit umgekehrtem Vorzeichen: der schließlichen paradoxen Entscheidung für den Vorbildcharakter der antiken Kunst - am »Widerspruch [ . . . ] zwischen der eingesehenen Einzigartigkeit des Griechischen und seiner postulierten Vorbildlichkeit, also Wiederholbarkeit« 16 in Winckelmanns Klassizismus demonstriert. Den entscheidenden Hinweis auf das geschichtsphilosophische Fortschrittstheorem des >Versuchs< gibt überraschenderweise gerade sein historisch-soziologischer Vergleich der Milieukorrespondenz von Epos und Roman: Aus der politischen Freiheit und Partizipation des griechischen Publikums und seinem kulturbedingten Interesse für die Darstellung »offentliche[r] Thaten und Begebenheiten« (17) im Heldengedicht zieht Blanckenburg eben nicht, wie man mit Grund erwarten könnte, den Rückschluß auf den Defizienzcharakter des »für den bloßen Unterthanen« (15) geschriebenen Romans, und auch die Erwägung, daß »vielleicht [ . . . ] in unserer jetzigen ganzen politischen Verfassung, Denkungsart und Sitten« sich nichts finden lasse, »auf das sich ein Kunstrichter bey Abfassung seiner Vorschriften mit beziehen könnte, wie es Aristoteles [ . . . ] thun konnte« (13), begründet mit dem Verzicht auf eine politisch-soziale Fundierung von Poetik und Ästhetik in der Neuzeit keineswegs auch schon die apriorische Unterlegenheit der Erzählkunst in der Moderne. Ganz im Gegenteil: Der Konzeption des epischen

16

Peter Szondi: Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. In ders.: Poetik und Geschichtsphilosophie I, hg. v. S. Metz u. H . - H . Hildebrandt, Frankf./M. 1974, S. 1 1 - 2 6 5 , hier S. 30.

350

Helden als eines »Täters« und des antiken Stadtbürgers als ζφον πολιτικόν setzt Blanckenburg das neuzeitliche Subjektsideal des aus allen heteronomen Sozialverhältnissen abgelösten, sich zum individuellen seelischen Reichtum seiner charakterlichen Einzigartigkeit organisch entfaltenden »reinen« Menschen als höherwertiges anthropologisches Telos entgegen, und als Abstraktion und humane »Schwundform« erscheint ihm, im Horizont dieses normativen Menschenbildes, nicht das soziale »detachment« des Romanhelden, sondern das »involvement« der Protagonisten des Epos. 2 ? Diese die Dignität des Romans begründende gattungstheoretische Differenzierung aus dem Blickwinkel seines idealistischen Anthropologumenons vertritt Blanckenburg mit großem spekulativem Nachdruck: die »Veränderung in unsrer Theilnehmung«, d.h. die Innenwendung vom Menschen als »Bürger« und »Glied eines gewissen Staats« ( X V ) auf »das, was den Menschen eigentlich angeht« (XV), könne »das menschliche Geschlecht seiner Vervollkommnung näher bringen. Der Romanendichter soll es mit dahin führen helfen« (XV), und vor allem »für den Philosophen« werde die durch den Roman und seinen Anthropozentrismus gebotene »Aussicht [ . . . ] nicht unangenehm seyn« (XVI). Es lohnt sich, den erstaunlichen Passus genau zu lesen, der dieser Ankündigung folgt: Wenn wir zuerst Menschen sind, und seyn sollen; wenn wir nur, indem wir Menschen sind, unsre Bestimmung erreichen können: so muß es ihm [dem Philosophen, W F ] lieb seyn, daß die Theilnehmung der Menschen vorzüglich auf das geht, was den Menschen allein trift, und nicht den Menschen, als Bürger. - Vielleicht folgert er hieraus, daß ein Theil dieses Alls, dieser Erde seiner Vervollkommnung näher ist, als je ein andrer Theil es war, - daß einige Krümmungen und Umwege auf der Bahn zum Ziel, und allgemeinen Endzweck der Natur, mehr durchlaufen sind; - daß alle die von den Morgenländern und Griechen besessene Vollkommenheiten und Vorzüge nicht das sind, was man eigentlich glaubt; [ . . . ] (XVIf.).

Was Blanckenburg hier emphatisch formuliert, geht über die bloße Anerkenntnis einer epochenrelativen Äquivalenz von Epos und Roman weit hinaus und ist in historistischen Vergleichskategorien allein nicht mehr zu erfassen: die Konstruktion der Weltgeschichte als eines finalistischen Vervollkommnungszusammenhanges zwingt Antike und Moderne unter e i n e r Optik zusammen, und dabei zeigt sich dem 2

7

Mit diesen Termini beschreibt Norbert Elias: Sociology of Knowledge: N e w Perspectives, Sociology 5, 1 9 7 1 , S. 1 4 9 - 1 6 8 u. 3 5 5 - 3 7 0 , den Grad der Teilnahme bzw. Nichtteilnahme von Individuen oder Gruppen am sozialen Prozeß; vgl. bes. S. 162.

351

geschiehtsphilosophischen Blick - »Glücklich der Dichter, der etwas beytragen kann, diese Aussichten für den Philosophen zu erweitern« (XVII) - , daß das literarische Paradigma der modernen Subjektskultur als jenem »Theil dieses Alls«, der »seiner Vervollkommnung näher ist, als je ein andrer Theil es war«, daß eben der Roman durch seinen Subjektzentrismus an der universalgeschichtlichen Teleo-Logik unmittelbar partizipiert und demnach »die Abänderung und Umschmelzung unsers Geschmacks hierinn [im Wechsel vom Epos zum Roman, WF] nicht Verfall, und die Vollkommenheiten der Griechischen Litteratur nicht die höchsten Vollkommenheiten sind« (XVII). Mag jedes Weltalter sein eigenes ästhetisches Optimum, seine den jeweiligen Milieubedingungen spezifisch angemessene »Vollkommenheit« besitzen - und in dieser Hinsicht dürfen Epos und Roman in der Tat als gleichwertig gelten - , so behauptet doch Blanckenburg zugleich eine geschichtsphilosophisch-teleologische »Hierarchie der Vollkommenheiten«: in dem Maße, in dem das Individualprinzip der Moderne, »das Seyn des Menschen, sein innrer Zustand« (18), den anthropologischen Vorrang gegenüber dem Sozialprinzip der Antike, den »Thaten des Bürgers« (17), beanspruchen darf, hat der Roman, als moderne Gattung par excellence, dem Epos nicht nur epochenrelativ und faktisch, sondern auch universalhistorisch-normativ den Rang abgelaufen. 1.2 Primat des introspektiven Erzähltypus Die anthropologischen Leitideen seines latenten geschichtsphilosophischen Modernismus liegen auch den im engeren Sinne romanpoetologischen und erzähltheoretischen Gedankengängen zugrunde, wie sie Blanckenburg besonders im zweiten Hauptteil des >Versuchs< - nach Wölfel28 der Erörterung der dispositio gegenüber jener der inventio im ersten Teil - unter dem Titel >Von der Verbindung und dem Ganzen eines Romans< entwickelt. Dabei ist die Sicherheit, mit der der Autor, ein dreißigjähriger Offizier und - nach eigenem Bekenntnis - ein literaturtheoretischer Dilettant,29 Geschichtsphilosophie und Poetik vermittelt, soziologisch-kulturelle Argumentationen in konkrete literarische Formanaly28 2

9

Blanckenburgs >VersuchVersuch< - vor allen möglichen Einwänden und gegenüber manchen gleichgerichteten Gedankengängen von Zeitgenossen, etwa Garves oder Engels - als romanästhetischen Entwurf obersten Ranges ausweisen. Aus dem Subjektfinalismus seiner spekulativen Geschichtstheorie leitet Blanckenburg das Programm des Figuren- bzw. Charakterromans mit der Zentralstellung des e i n e n Helden als >causa finalis< des Erzählens ab, wie er ihn beispielhaft nur in Wielands >Agathon< vorgebildet findet. Daß diese Grundlegung im Bestreben nach rigoroser Deutlichkeit und scharfer kategorialer Klassifizierung, wohl auch im Uberschwang ihres Novitätsbewußtseins, gelegentlich über das Ziel hinausschießt und zu Uberpointierungen neigt, ist bereits von zeitgenössischen Rezensenten bemängelt worden;' 0 zweifellos ist eine Formulierung wie die, »der Mensch selbst« sei »ehe, als Begebenheit oder Vorfall; er läßt sich ohne sie; ein Vorfall, eine Begebenheit, eine That nicht ohne Menschen denken« (335), ein riskantes Axiom, dessen enthusiastische Akzentuierung des neuen Subjektsideals dazu tendiert, die Konstitution des Subjekts um die Dimension ihrer sozialen Interaktionsaspekte zu verkürzen und die Weltbindung des Individuums aufzusprengen; analoge Formulierungen verwickeln sich mitunter in offene Widersprüche.' 1 Aber Einwände dieser Art sind, für sich genommen, marginal, sie tangieren kaum die Substanz von Blanckenburgs Entwurf. Aufschlußreich werden solche Vereinseitigungen erst, wenn man sie als Problemanzeige liest, als Fingerzeige auf Untiefen der Theoriekonstruktion dann, in der Tat, verweisen sie auf das zentrale Problem der Verhältnisbestimmung von Subjekt und Außenwelt im idealistischen Denkzusam-



V o ß k a m p , Blanckenburgrezeption, S. 196, resümiert die Blanckenburgs Vorstellungen modifizierenden oder korrigierenden Positionen der zeitgenössischen Kritik:

»Die

einseitige Festlegung des Romans auf die Darstellung singulärer Charaktere w i r d zurückgewiesen und statt dessen versucht, eine Romantheorie zu entwerfen, die v o n der Bedeutungsgleichheit von Charakteren und Begebenheiten im R o m a n ausgeht. Ansätze dazu gibt es in den beiden letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts v o r allem bei J . C . W e z e l und J . J . Eschenburg, aber auch bei J . H . M e r c k , G . C h r . Lichtenberg oder J.Friedr. Bährens und A . Freiherr v. Knigge.« 3'

»Ich weis es, daß unser Inneres und Aeußeres so mit einander verwebt sind, daß beyde gleich sehr zu unsrer Glückseligkeit bey tragen; aber ich weis auch, daß dies Innre allein von unserm G l ü c k oder U n g l ü c k , Verdienst oder Unverdienst entscheidet.«

VR,

S.357.

353

menhang des >VersuchsVersuchs< nicht nur seine grundlegende gattungstypologische Unterscheidung eines außenweltorientierten Romans der >Begebenheiten< und eines subjektzentrierten Charakterromans, sondern auch bereits die Entscheidung über ihr Rangverhältnis ab. Zwar hatte Blanckenburg diese Strukturtypen des Romans zunächst noch deskriptiv, als die beiden überhaupt möglichen und scheinbar gleichberechtigten Modi teleologischen Erzählens eingeführt,' 2 aber anthropologische Erwägungen geben den Ausschlag zugunsten des introspektiven Erzähltypus: Es scheint auf den ersten Blick schon eine Beleidigung, - wenigstens eine strafbare Geringschätzung und Gleichgültigkeit für das, was wir selbst sind, wenn wir aus den Begebenheiten, aus dem Aeußern des Menschen das Hauptwerk in Fällen machen, w o es uns frey steht, aus dem Innern desselben, aus dem, was eigentlich Mensch ist, und heißt, unsern Entzweck zu bilden.

(355) Mit dieser unzweideutigen Formulierung eines Subjektsbegriffs, der die Innerlichkeit der Person als Ort ihrer Autonomie, Freiheit und Identität, die >Umstände< und >Begebenheiten< hingegen als einschränkende Akzidenzien konzipiert - eine Vorstellung, deren sozialgeschichtliche Deutbarkeit auf der Hand liegtJ' - , ist das Urteil gesprochen über alle auf dem Strukturprimat der Fabel vor den Charakteren beruhenden Varian32

»Jeder R o m a n ist eine Masse von Begebenheiten und Personen. In einem solchen W e r k kann entweder eine Person oder eine Begebenheit das H a u p t w e r k seyn. Das E n d e nämlich, der A u s g a n g eines Werks kann die Vollendung einer Begebenheit, so daß w i r uns dabey beruhigen können, oder die Vollendung eines Charakters seyn, so daß dieser im L a u f des W e r k s entstandene und ausgebildete Charakter jetzt so weit ist, als er der A b s i c h t des Dichters zufolge seyn soll, und w i r nun nichts mehr wissen dürfen, um uns zu befriedigen.« V R , S. 2 J 4 .

33

V g l . v o r allem die Ausführungen Voßkamps, Blanckenburgrezeption, S. 197Í.,

über

»Blanckenburgs Konzeption des sich selbst aufklärenden, vervollkommnenden Individuums im R o m a n als eines utopischen Versuchs der Selbstverständigung und Selbstbestimmung des Menschen«; V o ß k a m p weist die These einer »untertanenmäßigen V e r i n nerlichung« für Blanckenburg zurück und spricht statt dessen v o n der privaten Geschichte

individueller Vervollkommnung

als »Utopie der Selbstaufklärung

im

Modell des psychologischen Romans«, die ihm als »adäquate F o r m der für das

354

ten romanhaften Erzählens, also über die verzweigte Tradition des Abenteuer- und Liebesromans heliodorscher Observanz (einschließlich seiner metaphysischen Sublimierungen im Schema des barocken Geschichtsromans) als einer Erzählform, die »geradeswegs dem Endzweck des Dichters, und der Natur der Sachen zuwider« (337) läuft. Zugleich folgen aus ihr erzähltechnische Forderungen auch an den neuen Roman des Subjekts: er darf, unter dem Zwang zur minutiösen Charakteranalyse, »der einzelnen Vorfälle nicht mehr so viel« enthalten »als bis jetzt in den gewöhnlichen Romanen zusammen gepfropft sind« (308), und er muß auf die ausschließlich personenbezogene Bedeutung äußerer Handlungselemente achten,'"t weil - mit einer von Blanckenburg zustimmend zitierten Formulierung aus Garves >Gedanken über das Interessirende< — »verwickelte Unglücksfälle bloß dadurch interessiren, weil wir eines weisen Mannes Entschlüsse dabey sehen wollen; wir sehen, daß nicht die Begebenheit interessirt, sondern der Charakter [...]« (61). 1.3 Theologie des Subjekts und residualer Providentialismus : zur Einheit von Ontologie, Anthropologie und Romanästhetik Aber auch ein noch so entschieden propagierter Subjektfinalismus vermag Blanckenburg nicht darüber hinwegzutäuschen, daß reine solipsistische Innerlichkeit weder gelebt noch - abgesehen vielleicht von der zerebralen Assoziationsartistik eines >Tristam Shandy< oder von pathologischen Extremformen psycho-religiöser Introspektion, etwa bei Adam Bernd - mit den literarischen Mitteln des 18. Jahrhunderts erzählt werden kann und daß zumal das Prozeßmoment jener individuellen Bildungsgeschichte, die der Roman (im Gegensatz zur Statik des Dramas, das »nach der Natur seiner Gattung, nichts, als schon fertige und gebildete Charaktere zeigen« (390) will») in der Abfolge ihrer Stadien veranschaulichen soll, es unabdingbar macht, das Individuum mit seiner Umwelt in einem Austausch- und Kommunikationsverhältnis darzustellen. Auch Blanckenburg erkennt an, »das All« sei »so eingerichtet, daß deutsche Bürgertum historisch >notwendigen< Identitätsstiftung über die Begriffe >Entwicklung< und >BildungVersuch< mit Entschiedenheit die neue Wirklichkeitsauffassung vertritt, nach der die Welt einen geschlossenen Kausalnexus darstellt. Blanckenburgs Metaphern für diesen Sachverhalt: das »All« als ein »Gewebe«, in dem »nichts um sein selbst willen da« ist; die »Natur« als »bis ins Unendliche fortgehende Reihe verbundener Ursachen und Wirkungen« oder als »in einander geschlungenes Gewebe, das, wenn es aus einander zu wickeln wäre, ganz ununterbrochen einen Faden enthielte« (313), gehören in das gängige Repertoire zeitgenössischer Umschreibungen einer physikotheologisch interpretierten »great chain of being«.37 Und Kausalität als Ordnungskategorie liegt ebenso dem ästhetischen Nachahmungspostulat vom Kunstwerk als kleinmaßstäblichem Weltmodell zugrunde: die Dichter, die »in der Verbindung, der Anordnung« ihrer Werke so verfahren sollen, »wie die Natur in der Hervorbringung der ihrigen verfährt« (313), erreichen durch rigoros genaue Motivation, »daß das Ende, das Resultat des Werks eine nothwendige Wirkung alles des vorhergehenden ist« (314), so w;e in der auch darin musterhaften >Geschichte des Agathon< »das ganze jetzige moralische Seyn« des Helden in Tarent als »das Resultat, die Wirkung« aller vorhergehenden Begebenheiten erscheint, »so daß diese Schrift ein vollkommen dichterisches Ganzes, eine Kette von Ursach und Wirkung ausmacht« (10). Welches Argument, welche Instanz gewährleistet dann aber jene gefor3* 37

Wölfel, Blanckenburgs >VersuchChain of Beings in: Dictionary of the History of Ideas. Studies of Selected Pivotal Ideas, N e w York o.J., Bd. 1, S. 3 2 5 - 3 3 5 sowie Gusdorf, Les principes de la pensée, S. 1 5 1 - 2 8 9 .

356

derte Koinzidenz von kausaler Weltordnung und individueller Perfektionierung (bzw., im Kontext des Romans: von Erzählmotivation und Erzählziel), an deren Möglichkeit etwa Voltaires Skeptizismus verzweifelt war? Blanckenburg präsentiert seine Lösung zunächst als erzähltheoretische, indem er den Befund eines lückenlosen Kausalzusammenhanges im »Gewebe« des »Alls« in ein Selektionsproblem des Romanautors umdeutet: angesichts der unabschließbaren, prinzipiell endlosen Kausalreihe alles Wirklichen gilt es ein Kriterium der Diskretierung zu finden, das Auswahl und Perspektivierung der Erzählereignisse und damit recht eigentlich ein Erzählen erst ermöglicht, das sich in der aleatorischen Reihung an sich kontingenter Kausalverbindungen nicht erschöpft. Diesem Zweck, der Verhinderung von Beliebigkeit, dient die Einschaltung einer Zweckursache (>causa finaliscausae efficientesAgathon< vgl. das folgende Kapitel.

358

so g e s c h a f f e n , daß, w e n n w i r ü b e r unser S e y n d e n k e n gelernt h a b e n , w i r diese V e r b i n d u n g a u s z u s p ä h e n uns b e m ü h e n « ( 3 8 0 ) . F ü r das V e r s t ä n d n i s dieser s p e k u l a t i v e n P o e t i k ist es b e d e u t s a m , k l a r z u sehen, w a s sie n i c h t m e i n t : K e i n e s w e g s f o r d e r t B l a n c k e n b u r g d e n R o m a n als ästhetische K o n t r a f a k t u r einer W i r k l i c h k e i t , w i e sie a n g e m e s sener u n d e m p i r i s c h triftiger d u r c h die B i o g r a p h i e ( o d e r a u c h

durch

>realistische< A u t o b i o g r a p h i e n der Z e i t ) b e s c h r i e b e n w ü r d e . D e r > V e r such< schlägt keine idealistische R i p o s t e gegen die v o r g ä n g i g e E r f a h r u n g einer z w e c k l o s e n L e b e n s w e l t , 4 2 u n d kein I n d i z w ü r d e die U n t e r s t e l l u n g rechtfertigen, B l a n c k e n b u r g s B i o g r a p h k ö n n e einen V e r e i n i g u n g s p u n k t seiner disparaten I n f o r m a t i o n e n allein deshalb n i c h t f i n d e n , w e i l es die teleologische K o n v e r g e n z d e r E i n z e l d a t e n , n a c h d e r er s u c h t , » o b j e k t i v « gar nicht ( m e h r ) g e b e . Z u eindeutig sind die F o r m u l i e r u n g e n , m i t d e n e n d e r >Versuch< die L e g i t i m i t ä t m e t a p h y s i s c h e r

Letztbegründungsfragen

u n d biographischer Finalisierungsbedürfnisse unterstreicht:

Blancken-

b u r g b e s c h r e i b t ein P r o b l e m d e r finiten E r k e n n t n i s , ein P r o b l e m » u n s r e r Schwachheit«

( 3 1 4 ) , keines d e r o n t o l o g i s c h e n O b j e k t i v i t ä t . «

Schließ-

lich: n a c h i r o n i s c h e n B r e c h u n g e n u n d d i s t a n z i e r e n d e n G e s t e n i m Stile

Eben dies unterstellt Michelsen, Laurence Sterne, S. 174: »Der Vergleich Blanckenburgs zwischen Dichter und Weltschöpfer setzt nur scheinbar eine Analogie zwischen beiden; tatsächlich besagt er etwas anderes. Denn nicht Abbildung der ewigen Ordnung ist für Blanckenburg das dichterische Tun, sondern Schaffung der Ordnung im ewigen Chaos mechanischer Abläufe. In Wahrheit löst also der Dichter Gott in seinem Amte ab. Von Mimesis wäre hier nur noch in dem Sinne zu sprechen, daß nicht mehr die Schöpfung, sondern der Schöpfungsprozeß - im Akt des Dichtens - nachgeahmt werden soll.« Michelsens Unterstellung eines nur noch ästhetisch aufgefangenen Quasi-Nihilismus des >Versuchs< findet am sehr viel konventioneller denkenden Text Blanckenburgs keinen Anhalt. 43 Dies gegen Brenners (Die Krise der Selbstbehauptung, S. 65) Deutung, Blanckenburg verzichte darauf, »ausdrücklich die objektive Gültigkeit seines Idealnexus zu behaupten«, er gestehe »ansatzweise [?] selbst ein«, daß »der Roman mit der Konstruktion eines derartigen Finalnexus [ . . . ] nicht mehr fraglos den Anspruch erheben kann, Nachahmung eines objektiv in der Wirklichkeit vorhandenen Moments zu sein.« Nach Brenner reklamiert Blanckenburg ein Wirklichkeitskorrelat nur noch für das Erzählprinzip der Kausalität, kann dies hingegen »für den Finalnexus des Romans nicht mehr ausdrücklich [?] versuchen. Die Konstruktion dieses Nexus erscheint als wesentliche Leistung des Dichters [...]«. - Brenner bewegt sich mit dieser Lesart auf die von ihm kritisierte Position Michelsens zu; das gilt auch für seine - nicht völlig klare - Deutung, Blanckenburg gebe den Gedanken »einer objektiven Sinnordnung der Realität [ . . . ] der Intention nach nicht preis«, doch komme bei ihm »eine Ahnungf?] dessen zum Ausdruck, daß auch die rationalistische Deutung der Welt de facto nicht deren objektive Ordnung trifft, sondern eine Leistung des Subjekts darstellt.« (Ebd., S. 63). Gegen diese These vgl. die nachfolgende Behauptung der idealistischen Einheit von Ontologie, Anthropologie und Ästhetik im Begründungszusammenhang des >VersuchsAgathon< - und mit dem Anspruch, ihn zu beschreiben - entstandenem Entwurf einer subjektbezogenen Finalisierung der Erzählwelt vergebens Ausschau halten; von Wielands Roman her muß man geradezu von einer Re-Theonomisierung des Weltbildes bei Blanckenburg sprechen. Denn die Bedingung der Möglichkeit, richtiger: die Bedingung der W a h r h e i t eines subjektgerichteten teleologischen Vervollkommnungsprozesses im Roman bleibt für Blanckenburg das vorgängige Postulat einer objektiven Teleologie der Welt und einer privilegierten Stellung des Menschen im Kosmos. Noch einmal hält die Romantheorie am Junktim von Welt und Werk, am disziplinaren Zusammenhang von Ontologie, Anthropologie und Ästhetik fest, auch wenn elliptische Formulierungen wie jene, die Welt sei ein verschlungenes Gewebe, »dessen verschiedene Fäden sich alle in einen Anfang — die Weisheit des Schöpfers vereinen, und dessen Ende vielleicht in unsrer höhern Vervollkommnung... doch wer kann dies, wer kann das Ganze übersehen?« (313), neben der vorsichtigen Behauptung des Anthropozentrismus der Welt zugleich die Möglichkeit des Zweifels einzuräumen scheinen und jedenfalls nahelegen, der gesamten Konstruktion eher den Status eines regulativen Prinzips als den eines positiven metaphysischen Dogmas zuzuschreiben. - Dabei mag unentschieden (und angesichts ihres hohen Allgemeinheitsgrades und ihrer Unschärfe vielleicht auch unentscheidbar) bleiben, aus welchen geistesgeschichtlichen Quellen sich Blanckenburgs idealistische Konzeption speist: ob, nach Michelsen, 4 ' aus einer »Version« oder, nach Müller,46 »einer ins Individuelle gewendeten Übernahme des Leibnizschen Theodizeegedankens«, ob, mit Wölfel, 47 aus »dem pietistischen Vertrauen in das Wirken Gottes« und einer durch Lessing vermittelten, die Harmonie des poetischen Mikrokosmos betonenden »aristotelischen Unterscheidung von Geschichte und Poesie«, ob schließlich gar, nach Hillebrands48 freilich sehr allgemeiner Vermutung, aus der »spezifisch ontologischen Mentalität der Deutschen« - weitere Erklärungen und Traditionszusammenhänge, auch solche, die auf Parallelen im Teleologieproblem von Kants >Kritik der Urteilskraft und auf Vermittlungsversuche von Subjekt und Objekt in den Systementwürfen 44

Z u diesen in Wielands Anlage seiner Erzählerfigur sich kristallisierenden Differenzen vgl. unten, Kap. 7, bes. A b s c h n . 6.

45

Laurence Sterne, op. cit., S. 1 5 7 .

46

Autobiographie und Roman, S. 1 1 1 .

47

Blanckenburgs >VersuchVersuchVersuch< von metaphysischen Denktraditionen her, die er zugleich anthropologisch »verfremdet«; der Vorstellung vom literarischen Werk als mikrokosmischer Wiederholung der göttlichen Schöpfung liegt eine Theologie des Subjekts zugrunde, ein residualer Providentialismus ad maiorem perfectionem hominis. Indem der Roman im fiktionalen Modell die prästabilierte Harmonie von Subjekt und Welt als um der Perfektionierung des Menschen willen göttlich dekretiertes Faktum präsentiert, transzendiert er zugleich die ästhetische Grenze, das reine Für-sich-Sein des literarischen Werkes und trägt in einem wirkungspoetisch-pädagogischen Akt der Annäherung von >signifiant< und >signifié< zur realen Steigerung jener Harmonie bei, von der er fiktional erzählt: So wie »es das Werk der weisen Vorsehung ist, daß sie [ . . . ] zur Vervollkommnung unsrer selbst und ihres Ganzen [ . . . ] in die Schöpfung Veranlassungen gelegt hat«, so kann »der Dichter, er, der eigentliche Nachahmer des Schöpfers durch die Schöpfung seiner kleinen Welt, die Absichten des höhern Schöpfers befördern, und ihre Erreichung erleichtern helfen« (432), indem er die subjektive Disposition seiner Leser noch weiter verstärkt, an dieser grandiosen Synthese von Metaphysik und Anthropologie mitzuwirken. Die Vervollkommnung des e i n e n literarischen Helden als möglich demonstrierend, ermutigt er ein reales Publikum zur eigenen Bildung, Perfektion der Welt in literarischer Mimesis antizipierend, arbeitet der Romanautor an ihrer geschichtlichen Perfektionierung mit, so daß sich geradezu von einer metaphysisch beglaubigten und wirkungspoetisch ausgerichteten Romanästhetik des »Vorscheins« sprechen ließe. Oder, in Wölfeis gedrängter Formulierung: »Der Roman ist als innere Geschichte Entwicklungsroman, als Entwicklungsroman die Geschichte des sich vervollkommnenden Menschen, zum Zweck der Vervollkommnung des Romanlesers erzählt.«' 1

51

Wülfel, Blanckenburgs >VersuchVersuch über den RomanAgathon< oder in >Wilhelm Meisters LehrjahrenVersuchs< klar hervortreten. Dessen Insistenz auf »Ganzheit« in anthropologischer und werkästhetischer Perspektive schließt es von vornherein aus, »daß der Dichter das Recht habe, mitten im Lauf der Begebenheiten aufzuhören« (393); eine Anthropologie des integralen Charakters und eine Ästhetik des Fragments sind unvereinbar. Das heißt aber gerade nicht, daß der Roman Totalität in Blanckenburgs Sinn durch die vollständige Darbietung eines individuellen Lebenslaufs in seiner gesamten lebenszeitlichen Erstrekkung erreichen könnte: Fazit einer so verstandenen Totalisierung wäre ja unausweislich die Erkenntnis des 39. Psalms, »das ein Ende mit mir haben mus/ Vnd mein Leben ein ziel hat/ vnd ich dauon mus«,52 und diese negative Finalität des individuellen Charakters in seiner Endlichkeit liefe der Setzung des autonomen Subjekts in seiner Perfektibilität diametral entgegen : E s hat das A n s e h n , als ob dies umsonst Dichten heißen könne, weil dies E t w a s machen hieße, das wieder aufhörte zu seyn. W a r u m hätte der Dichter erst geschaffen, w e n n er wieder untergehen lassen wollte? W a r u m hätte er sein W e r k erst ins Seyn gerufen, wenn er es z u m N i c h t s e y n wieder z u r ü c k führen wollte? (396)

5*

In der Übersetzung Martin Luthers.

363

Der Tod, als absolute Negation und »stärkste Nicht-Utopie«,» kann nicht Ziel eines zu idealistischer Positivität verpflichteten Erzählens sein, er wäre dessen Selbstaufhebung, denn die »Vorstellung von einer Verwandlung in Nichts, ist für die Menschheit, in aller Art, der trostloseste, der schrecklichste aller Gedanken« (397), während doch der Romanautor »seine Leser bis zu einem beruhigenden Punkte« (394) führen soll. Noch einmal zieht sich Blanckenburg auf die anthropologische Priorität der Innerlichkeit zurück: das Finalkriterium des Todes, als realistisches Telos, unterwirft die Biographie dem äußerlich-quantitativen Maßstab der Zeitdauer, aber »der bessere Romanendichter hat andre und muß andre Absichten mit seinen Personen haben, als die bloße Bestimmung ihres äußern Geschicks« (395). Darum bildet weder das natürliche Lebensende noch etwa der Zeitpunkt der »Hochzeit«, der freilich als gewöhnlicher »Ruhepunkt unsers äußern Lebens [ . . . ] so ganz übel nicht« (395) ist, einen zureichenden Erzählschluß: ein in anthropologischer, ästhetischer und wirkungspoetischer Hinsicht »wahrhaftes Ganzes« (395) bildet der Roman einzig, wenn er sich am ideellen Telos der organischen Entfaltung eines individuellen Charakters zu seiner stabilen Identität und spezifischen Vollkommenheit orientiert und alle äußeren Konstellationen diesem Ziel unterwirft. Das durch seine »innere Geschichte« (401) hindurchgegangene und bei sich selbst angekommene Subjekt im auktorial arrangierten Einklang mit seiner »äußren Situation« (401) bleibt für Blanckenburg der allein legitime »Beruhigungspunkt« (401) des Romans. Daß dem Erzählen mit dieser so folgenreichen wie letztlich vagen und konkretionsbedürftigen Zielvorgabe darstellerische und lebensweltbezogene Probleme erwachsen, die in praxi, unter den historisch-sozialen Bedingungen des 18. Jahrhunderts, so gut wie unlösbar sind, sollen in unterschiedlicher Beleuchtung die anschließenden Bemerkungen zu Moritz' >Anton Reiser< sowie die Ausführungen des folgenden Kapitels über Wielands >Agathon< zeigen.

S3 Ernst Bloch: Das Prinzip H o f f n u n g , Wiss. Sonderausg. in 3 Bänden, Frankf./M. 1969, Bd. 3, S. 1297.

364

2.

Kontingente Realität und zerrissener Charakter: Karl Philipp Moritz' >Anton Reiser< ( 1 7 8 5 - 9 0 )

2. ι Kausalanalyse oder Finalisierung? Die Autobiographie zwischen Fragmentarik und Harmonisierung Die durch providentielle Letztgarantien gestiftete teleologische Synthesis von Subjekt und Welt, die Komplementarität eines reichen >Charakters< und der ihm zustoßenden >Begebenheitenäußren Situations und das Erreichen dieses harmonischen >Beruhigungspunkts< gewährleistete, daß das Werk selbst in ästhetischer Hinsicht darstellte, was es thematisch, als Geschichte eines Subjekts auf dem Weg zu seiner ausgebildeten Identität, vorstellte: ein >wahrhaftes Ganzes«.54 - Derselben Finalorientierung scheint sich der Erzähler von Karl Philipp Moritz' psychologischem Roman >Anton Reisen» zu verpflichten, wenn er nach einer Geschichte permanenter Krisen, Erniedrigungen und Unterdrückungen durchaus überraschend - die Vorrede zum 4. und letzten Teil seines Werkes mit der auf die autobiographische Titelfigur bezogenen Bemerkung schließt: »Widerspruch von außen und von innen war bis dahin sein ganzes Leben. - Es kömmt darauf an, wie diese Widersprüche sich lösen werden!« (383). Tatsächlich kündigt sich mit dem nach dieser Erzählerreflexion berichteten Abschied von Hannover und mit dem Antritt seiner Wanderschaft ein grundlegender Glückswechsel im Leben des Helden an - »Er dachte sich den Faden seines bisherigen Lebens gleichsam wie abgeschnitten - er war nun aus allen Verwickelungen auf einmal befreiet« (384) - , und bereits kurze Zeit später, mit der Aussicht auf eine akademische Laufbahn in Erfurt und eine allgemeine Verstetigung seiner Verhältnisse, scheint die versprochene Auflösung der Widersprüche endgültig Realität zu werden: Der Student Reiser glaubt sich am »Ziel aller seiner Wünsche und Hoffnungen«, weil er 54 Einen differenzierten Vergleich von Blankenburgs und Moritz' Konzeption des psychologischen Romans bietet Josef Fürnkäs: Der Ursprung des psychologischen Romans. Karl Philipp Moritz' >Anton Reisen, Stuttgart 1977, S. 6-46 (»Die bürgerliche Innerlichkeit und der Roman«), 55 Der Roman wird zitiert nach der Ausgabe von Wolfgang Martens, Stuttgart 1972 (RUB 4813) ; Seitenangaben im Text nach dieser Ausgabe, in den Anmerkungen mit der Sigle >ARVersuch über den Roman< als endgültiges Telos meint, in dessen Realisierung das Erzählen Höhepunkt und Stillstand zugleich finde, bleibt im >Anton Reiser< bloße transitorische Episode, das fragile Glück einer momenthaft aufscheinenden Hoffnung auf die Aussöhnung des problematischen Subjekts mit den Umständen seiner Lebensgeschichte. Der >beruhigende Punkt< der Erfurter Zukunftsaussichten bietet eine buchstäblich punktuelle, allzu s6

Zur analogen Problematik in Moritz' theoretischen Schriften vgl. Peter Rau: Identitätserinnerung und ästhetische Rekonstruktion. Studien zum Werk von Karl Philipp Moritz, Frankf./M. 1983 ( = Literatur und Kommunikation. 1), bes. S. i04ff.: »Versuche der Selbstheilung. Die Illusion der versöhnenden Erinnerung der Lebensgeschichte«. S7 Zur Gattungsproblematik des >Anton Reisen zwischen Roman und Autobiographie vgl. Müller, Autobiographie und Roman, S. 1 4 5 - 1 6 9 . Siehe ferner Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankf./M. 1970, S. I27ÍÍ.; Ralph-Rainer Wuthenow: Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert, München 1974, S. 1 1 0 - 1 2 0 ; Georges Gusdorf: De l'autobiographie initiatique à l'autobiographie genre littéraire, Revue d'Histoire littéraire de la France 75, 1975, S. 957-994, bes. S. 990ff.; Günter Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung, Stgt. 1977, bes. S. 68ff.

366

rasch sich w i e d e r v e r f l ü c h t i g e n d e , ja vielleicht ü b e r h a u p t n u r i l l u s o r i s c h e Sicherheit - z u m >Schlußpunkt< w i r d er nicht. W e n i g später endet d e r R o m a n , » b e w u ß t fragmentarisch«,'8 mit der E n t t ä u s c h u n g v o n Reisers T h e a t e r t r ä u m e n auf einem grell d i s s o n a n t e n A k z e n t : » D i e S p [ e i c h ] s c h e T r u p p e w a r also n u n eine zerstreuete H e r d e «

( 4 9 9 ) . In e i n e m

Bild

allgemeiner A u f l ö s u n g u n d K o n f u s i o n spiegelt sich die f o r t d a u e r n d e Zerrissenheit und Richtungslosigkeit v o n A n t o n Reisers Existenz. Dieses auffällige Wechselspiel v o n Ordnungspostulaten und Desinteg r a t i o n s m o m e n t e n v e r w e i s t , ü b e r die E r f u r t e r B e i s p i e l e p i s o d e w e i t h i n aus, auf eine g r u n d l e g e n d e A m b i g u i t ä t v o n M o r i t z ' R o m a n , die b e s o n ders d a n n u n ü b e r s e h b a r hervortritt, w e n n m a n die D e u t u n g s s e m a n t i k des > A n t o n Reiser< e t w a m i t jener v o n H e i n r i c h J u n g - S t i l l i n g s > L e b e n s geschichte< ! 9 v e r g l e i c h t . I m G e g e n s a t z z u d e r autoritativen u n d d o g m a t i schen

Sicherheit,

mit der

Stilling

seine

steile soziale

Karriere

vom

B a u e r n j u n g e n z u m H o f r a t als »die G e s c h i c h t e d e r V o r s e h u n g in seiner F ü h r u n g « ' " 0 beschreibt, i n d e m er alle e i n z e l n e n b i o g r a p h i s c h e n nisse d u r c h ihre Z u s c h r e i b u n g an eine f ü r s o r g l i c h e göttliche

Ereig-

Lenkung

finalisiert u n d e i n e m sinnvollen L e b e n s p l a n integriert, 6 ' ist die I n t e r p r e tation des A u t o b i o g r a p h e n M o r i t z v o n einer latenten

Zweideutigkeit

58

Hans Joachim Schrimpf: Karl Philipp Moritz. In: Deutsche Dichter des 18.Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Unter Mitarbeit zahlr. Fachgelehrter hg. v. Benno v. Wiese, Berlin 1977, S. 8 8 1 - 9 1 0 , hier S. 883. (Im folgenden zit. als: Schrimpf, K.Ph. Moritz (1)). 59 Zit. nach der Ausgabe von G . A . Benrath, Darmstadt 1976. Uber den Verfasser siehe auch Dieter Gutzen: Johann Heinrich Jung-Stilling. In: Deutsche Dichter des 18. Jh.s, ebd., S. 446-461, über Stillings Vorsehungsglauben S. 451 f. mit dem Fazit: »Die Autobiographie [ . . . ] dient nicht der Darstellung der seelischen Prozesse, sondern hat das Ziel, mit dem Walten der Vorsehung Mission zu treiben. Das göttliche Wirken in den Zufällen des Lebens soll sichtbar gemacht werden, damit dem Zweifel an der Religion der Boden entzogen wird.« (452). 60

61

Lebensgeschichte, ebd., S. 437. Uber den Gegensatz der Autobiographien Stillings und Moritz' bemerkt Hans Joachim Schrimpf: Karl Philipp Moritz, Stuttgart 1980 (Slg. Metzler. 195; im folgenden: Schrimpf, Moritz (2)) pointiert: Stillings »Selbstdarstellung ist noch durchaus pietistische Autobiographie. Es ist eine bürgerlich individualisierte Heilsgeschichte in erbaulicher Absicht. >Anton Reiser< dagegen eine individualund sozialpathographische Unheilsgeschichte in therapeutischer Absicht.« (S. 41 f.). Die polemischen Thesen Neumanns, Identität und Rollenzwang, der in Stillings Religiosität eine »archaische Vaterimago« (123) am Werk sieht und diagnostiziert, auf die »Vergöttlichung der Vaterfigur« folge auf der Seite des Sohnes »eine >ReinfantilisierungAnton Reiser< mit einer grundsätzlichen Reflexion über Zweck und Berechtigung des Vorhabens, eine »wahre und getreue Darstellung eines Menschenlebens, bis auf seine kleinsten Nuancen« (122) zu geben. Dort heißt es zunächst: W e m nun an einer solchen getreuen Darstellung etwas gelegen ist, der wird sich an das anfänglich Unbedeutende und unwichtig Scheinende nicht stoßen, sondern in Erwägung ziehen, daß dies künstlich verflochtne Gewebe eines Menschenlebens aus einer unendlichen Menge von Kleinigkeiten besteht, die alle in dieser Verflechtung äußerst wichtig reden, so unbedeutend sie an sich scheinen. ( 1 2 2 )

Bis hierher gelesen, erscheint die Stelle als Skizze eines Projekts minutiöser lebensgeschichtlicher Rekonstruktion, einer Programmatik akribischer Erinnerung und Wiederholung, deren besonderes Augenmerk der Bedeutung gilt, die für sich scheinbar belanglosen Einzelereignissen im Entwicklungsgang einer Kindheits- und Jugendbiographie zuwachsen kann. Offenbar geht es dieser Anamnese vergangener Lebenssituationen um die Aufdeckung prägender Begebenheiten und Konstellationen, die, im Zeitfluß des gelebten Augenblicks fast unbemerkt, aus der Retrospektive analytischer Distanz als charakterbildende biographische Schlüsselereignisse entzifferbar werden. Die Autobiographie, indem sie diese Zusammenhänge nacherzählt und exemplarisch dechiffriert, eröffnet Einsicht in die seelische Logik menschlicher Identitätskonstitution; ihr kausalanalytisches Verfahren rekonstruiert entscheidende Stadien einer individuellen Sozialisationsgeschichte und erklärt die gegenwärtige Beschaffenheit des Charakters in allen seinen Schründen und Verwerfungen aus den Bedingungen seiner Genese. Damit entspricht »Moritz' analysierende und die Kausalzusammenhänge zurückverfolgende Erzählweise [ . . . ] genau dem Verfahrensmuster und der Fragetechnik Grenzen seines heimischen Köhler- und Häuslermilieus erhoben, sondern der unerforschliche Ratschluß einer ihm wohlgesonnenen Providenz. E r g o : Stilling ist an seinem E r f o l g »unschuldig«.

368

des Erfahrungsseelenkundlers«,62 ein fließender Funktionsübergang von Literatur und »wissenschaftlicher« Seelenanalyse, der sich auch darin bestätigt, daß hier wie dort alle moralisch-normativen Implikationen zurückgedrängt erscheinen: Wenn Hans Joachim Schrimpf am Gesundheitsbegriff des >Magazins für Erfahrungsseelenkunde< dessen »betont antinormative« Konnotation unterstreicht und erläutert, daß dieser Begriff »theologie-, metaphysik- und moralkonventionsfrei und rein anthropologisch« intendiert sei, 6 ' so scheint der psychologische Roman dem zu entsprechen, indem er sich gleichfalls primär um den diagnostischen Nachvollzug eines psychogenetischen Ursache-Folge-Nexus bemüht, ohne die auf den je besonderen lebensgeschichtlichen Einzelfall gerichtete Erinnerungsarbeit durch von außen herangebrachte moralische Perfektionserwartungen oder anthropologische Idealvorstellungen zu belasten. Zu begreifen, durch welche Umstände ein bestimmter Mensch zu dem wurde, der er ist, erscheint als das allgemeinste Anliegen dieser empirischen Psychologie. Der zitierte Passus fährt nun jedoch fort: W e r auf sein vergangnes Leben aufmerksam wird, der glaubt zuerst oft nichts als Zwecklosigkeit, abgerißne Fäden, Verwirrung, Nacht und Dunkelheit zu sehen; je mehr sich aber sein Blick darauf heftet, desto mehr verschwindet die Dunkelheit, die Zwecklosigkeit verliert sich allmählich, die abgerißnen Fäden knüpfen sich wieder an, das Untereinandergeworfene und Verwirrte ordnet sich - und das Mißtönende löset sich unvermerkt in Harmonie und W o h l klang auf. ( 1 2 2 )

Diese Fortsetzung ist höchst bemerkenswert, entwirft sie doch eine Phänomenologie des autobiographischen Rückblicks, die weit über das skizzierte Programm kausalanalytischer Rekonstruktion hinausgreift. Hatte die zuvor zitierte Passage allein auf das Verhältnis von äußeren Ursachen und einschneidenden charakterbildenden oder -mißbildenden Folgen abgehoben und in diesem Bedingungszusammenhang eine elementare Voraussetzung psychologischer Pathographie und Therapie erkannt, so scheint die Weiterführung der Stelle jeden Gedanken an einen bruchstückhaften Lebenslauf, gar an dessen Mißlingen kategorisch zu verwerfen. Bei zureichender Intensität des analytischen Blicks soll sich der Eindruck des Disharmonischen auflösen, sollen diffuse Lebenslinien sich zu Konturen einer organisch-planvollen Entwicklungsgeschichte verklären: »das Untereinandergeworfene und Verwirrte ordnet 62

Schrimpf, K.Ph. Moritz (2), S. 51. «3 Ebd., S. 42. 369

sich - und das Mißtönende löset sich unvermerkt in Harmonie und Wohlklang auf.« Dieser Zielvorgabe ist es offenbar nicht mehr allein um den A u f w e i s der biographischen Prägewirkung zufälliger äußerer K o n stellationen zu tun, sondern um die Negation

lebensgeschichtlicher

Kontingenz schlechthin. Eine idealistische Ordnungssemantik, deren Wortlaut an Blanckenburgs Postulate erinnert, behauptet die teleologische Latenz und den finalen Sinn aller kontingenten Lebensereignisse, und die Autobiographie wird zum literarischen Organon der inneren Wahrheit des Subjekts: was Zersplitterung schien, soll als Zusammenhang erkannt werden, und zwar ausdrücklich nicht als Krankheitszusammenhang eines neurotischen Syndroms, sondern als Vervollkommnungszusammenhang einer konsistenten Identitätsbildung. 64 In diesem letzteren Sinn ist die Autobiographie nicht mehr nur Diagnose vergangener psychophysischer Verkettungen und Kausalreihen als Voraussetzung zum gegenwärtigen Verständnis des Charakters und als erster Schritt zu seiner möglichen künftigen Therapie, sondern Sichtbarmachung der bereits vorhandenen und lediglich nicht offen zutageliegenden positiven Zweckförmigkeit einer individuellen Existenz. W o vorher »Nacht und Dunkelheit« zu herrschen schienen, erhellt der insistierende Blick des Autobiographen das Dunkel der gelebten Augenblicke, und je mehr Zusammenhänge und zweckmäßige Entwicklungen er beleuchtet, »desto mehr verschwindet die Dunkelheit, die Zwecklosigkeit verliert sich allmählich [. ..]«. 6 ' Obwohl dieser Gedankengang nicht ausdrück-

6

4 Anders interpretiert Müller, Autobiographie und Roman, S. 154: »Von >Harmonie und Wohlklang* kann in bezug auf Anton Reisers Leben inhaltlich natürlich keine Rede sein: gemeint ist der Erkenntnisvorgang, in dem das Chaos des scheinbar Zufälligen sich zu der Konsequenz einer folgerichtigen Entwicklung ordnet, auch wenn diese im Ergebnis noch so problematisch ist.« Diese These bietet m. E. keine zureichende Erklärung für Moritz' denn doch merkwürdig euphemistische Wortwahl. Instruktive Fallstudien zur schwierigen »Vermittlung von Konsistenz und Kontingenz« in Lebensläufen des 18. Jhs. neuerdings bei Ulrich Herrmann: Biographische Konstruktionen und das gelebte Leben, Prolegomena zu einer Biographie- und Lebenslaufforschung in pädagogischer Absicht, in: Zeitschr. f. Pädagogik 33, 1987, S. 303-323. 6 s Auf verwandte Perspektivierungen in Moritz' »Beiträgen zur Philosophie des Lebens< (1780) macht Rau, Identitätserinnerung, S. 108, aufmerksam: »Nur als künftige Vergangenheit rundet sich die Gegenwart zum gelungenen Teilabschnitt der lebensgeschichtlichen Progression. Bei der Betrachtung der Gegenwart bietet nur der Prospekt auf Zukunft die Möglichkeit, das Jetzt als Damals gleichsam episch zu stilisieren und einem Sinnzusammenhang zu integrieren, der sich aus der Gegenwart selbst nicht entnehmen läßt und der [ . . . ] objektiv überhaupt abwesend ist.« N u r das Vergangene lasse sich so »zu einer individuellen lebensgeschichtlichen Ganzheit ästhetisieren und gerinnt zum schönen Bild des trotz allen Leidens gelungenen Lebenslaufs, dessen Sinnhaftigkeit und Harmonie allein durch die Perspektivierung vom Ende her garan-

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lieh Bezug nimmt auf eine zwecksetzende Instanz hinter den verwirrenden Erscheinungen der Biographie - denn der Rückblick des Biographen setzt die Zwecke nicht, er legt sie nur frei - , erinnert, strukturell betrachtet, die teleologische Dialektik von verwirrender Oberflächenund stringenter Tiefenstruktur der Biographie, der Ubergang von »Mißtönende[m]« zu »Wohlklang«, an jenes jeu de la perspective (Bossuet)66 und an die Kontrastierung von kontingentem Schein und finalem Sein, von >Verwirrung< und >EntknötungAnton Reiser< liegt auf der Hand. Der Roman im ganzen führt eben nicht zu jener im Sinne Blanckenburgs theoretisch beschworenen Vermittlung des Subjekts mit sich selbst und seiner Geschichte; vielmehr bleiben die Harmoniepostulate der Erzählerreflexion uneingelöst, folgenlose Reminiszenzen eines theologisch-finalistischen Weltund Menschenbildes in augenfälliger Isolation von der konkret-phänomenalen Verlaufsrhythmik des erzählten Lebens, dem ziellos-monotonen Wechsel seiner Hoffnungen und Enttäuschungen, Aufschwünge und Depressionen/' Dabei ist es keineswegs allein der fragmentarischdissonante Schluß des >Anton Reisers der die emphatische Sinnsuggestion der zitierten Vorredenpostulate dementiert. Auch die vielen einzelnen im Fortgang der Biographie hervorgehobenen Zufälle und Benachtiert scheint«. Freilich bleibt das Postulat retrospektiver Verklärung im >Anton Reiser« weitgehend folgenlos. 66

Vgl. oben, K a p . i , A b s c h n . 2.2.

6

V g l . òben, K a p . 1, A b s c h n . 2.3.

7

68

G u s d o r f , D e l'autobiographie initiatique à l'autobiographie genre littéraire, S. 9 7 4 .

6

Schrimpf, K . P h . M o r i t z (2), S. 52, spricht zutreffend v o m »eintönigen R h y t h m u s des

9

Romans«, der aus den »fortgesetzten jähen Ubergängen zwischen Selbstüberschätzung und Egotismus auf der einen, Selbstverachtung und Selbstverneinung auf der anderen Seite« resultiere.

371

teiligungen, Demütigungen und Mißgeschicke sind nicht dazu angetan, »das Mißtönende [ . . . ] unvermerkt in Harmonie und Wohlklang« zu verwandeln; sie bleiben kontingente Daten einer individuellen Leidensgeschichte ohne harmonische Auflösung oder Kompensation, gleichviel ob es sich um das grundsätzliche soziale Handicap »der durch bürgerliche Verhältnisse unterdrückten Menschheit« (366), um das psychischemotionale Drama des begabten Kindes in beengtesten Familienverhältnissen oder um die zahllosen penibel registrierten Details einer schäbigen Wirklichkeit handelt, die sich in Reisers Imagination zu ebenso vielen Niederlagen und Blessuren addieren: der Haarausfall, der seine Schauspielerkarriere zu durchkreuzen droht, trifft den Erfurter Studenten »gerade jetzt [...], da er einen Körper ohne Fehl am notwendigsten brauchte«, und ist ihm ein »Zufall, der ihn schon im voraus gegen sich selber mit Abscheu erfüllte« (485); daß er die Barzantische Theatertruppe, der er sich anzuschließen hofft, um wenige Stunden verfehlt, bedeutet ihm einen »gar zu unerwarteten und hämischen Streich des Schicksals« und wirkt auf den Ubersensiblen, »als ob ein feindseliges Schicksal ihm immer auf dem Fuße nachfolgte, und ordentlich wie mit Absicht alle seine Hoffnungen vereitelte« (428). Und selbst noch der Zustand seines desolaten Schuhwerks kann für Reiser zur Schicksalsfrage werden: E s ist merkwürdig, wie die verächtlichsten wirklichen Dinge, auf die Weise in die glänzendsten Gebäude der Phantasie eingreifen und sie zerstören können, und wie auf eben diesen verächtlichen Dingen eines Menschen Schicksal beruhen kann. Reisers Glück, das er in der Welt machen wollte, hing jetzt im eigentlichen Sinne von seinen Schuhen ab; denn von seinen übrigen Kleidungsstücken durfte er nichts veräußern, wenn er mit Anstände erscheinen wollte: und doch machten zerrissene Schuhe, die er durch neue nicht ersetzen konnte, seinen ganzen übrigen A n z u g unscheinbar und verächtlich. (405 f.)

Gegenüber der realistischen Uberschärfe solcher Kontingenzerfahrungen und der präzisen analytischen Rekapitulation ihrer verstörenden Folgen verlieren die abstrakten Beteuerungen finaler Harmonie und Kohärenz ihre Uberzeugungskraft und werden zu formelhaften Lippenbekenntnissen. Tatsächlich beschreibt die im Text mehrfach wiederholte Labyrinth-Metapher das Bewegungsgesetz dieser Biographie sehr viel zutreffender als das begütigende Bild von den sich wieder anknüpfenden >abgerißnen Fädenc »So labyrinthisch wie sein Schicksal war, wurden auch nun seine Wanderungen, er wußte sich aus beiden nicht mehr

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herauszufinden« (430).7° Den verstreuten Harmoniepostulaten zum Trotz ist der autobiographische Roman nach seiner dominierenden Tendenz eine von jeglicher Verklärung freie, scharf gezeichnete Fallstudie über Ursachen und Symptomatik seelischer Deformation oder, in Schrimpfs ausgezeichneter Formulierung, »ein negativer Bildungsroman, ein Anti-Bildungsroman, ja man kann sagen ein sozialpsychologisch demaskierter >VerbildungsromanAnton Reiser< an ihren typologischen Endpunkt gelangt: die Autobiographie, die »den Blick der Seele in sich selber schärfen und die Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst [ . . . ] heften« (6) soll, ist vom Medium religiöser Introspektion und Selbstprüfung zum Instrument einer aufklärerisch-analytischen Psychologie und Pädagogik mit quasi-wissenschaftlichem Demonstrations- und Dokumentationsanspruch mediatisiert worden. In bezug auf die empirische Fallgeschichte und ihre pädagogisch-pragmatische Verallgemeinerung kommt dem Gedanken einer providentiellen Führung offenbar keine Erklärungsrelevanz mehr zu, und Sachverhalte, die durch psychologische oder soziologische Bedingungsfaktoren nicht hinreichend determiniert erscheinen, um sie linear-genetisch aus ihnen abzuleiten (ζ. B. der Haarausfall Reisers in Erfurt oder die Auflösung der Schauspielertruppe in Leipzig), bleiben eher als irreduzible Kontingenzen und Koinzidenzen, als schicksalhafte Zufälle«, stehen, als daß sie 70 Vgl. auch A R , S. 420. 7 1 Schrimpf, K.Ph. Moritz (1), S. 892. 7 1 Die Säkularisation des Pietismus zur Erfahrungsseelenkunde, S. 1 4 4 - 1 5 8 .

ZfdPh

72,

1953,

373

sub specie providentiae mit Sinn aufgeladen und entschärft würden. Gusdorfs glückliche Formulierung von der »désacralisation de l'espace du dedans«73 trifft genau den hier gemeinten veränderten Selbstbezug des Subjekts; ihm entspricht eine parallele Desakralisierung der SubjektWelt-Bezüge. Dennoch steht Moritz' autobiographischer Roman den verdrängten theologisch-providentiellen Erklärungsfiguren noch nah genug, um sie im Horizont des Erzählens präsent zu halten: nicht zwar als verbindliche Interpretamente, aber als Thema und Problem. So gut wie die subjektsteleologischen Reminiszenzen der Vorredenkommentare als Widerstände gegen ein rein kausalanalytisches Erzählprogramm (bzw. gegen dessen desillusionierende Ergebnisse und Einsichten) zu lesen waren und insofern zu erkennen gaben, daß sich die neue Semantik deskriptiver Rekonstruktion noch nicht endgültig konsolidiert habe, so gut ist auch der kritische Bezug des Romans auf Elemente einer theologisch-providentiellen Weltsicht - und sei es in der Absicht, sie ideologiekritisch zu »entlarven« — ein Indiz des kaum schon ganz vollzogenen Ubergangs. Dorothee Solle hat diese Situation mit der Bemerkung umschrieben, der >Anton Reiser< enthalte »eine Schicht moderner Religiosität, der alle traditionellen Antworten fraglich, aber alle traditionellen Fragen geblieben sind«.74 2.2.1 Das blinde Ohngefähr. Geleugnete und bestätigte Kontingenz Auf der unmittelbaren Handlungsebene des Romans gibt es für diese semantische Umbruchsituation einen aufschlußreichen Beleg: die gespaltene Haltung des jungen Anton Reiser gegenüber den Sinnpostulaten der christlichen Tradition. Da sind einerseits die dem offiziellen theologischen Code nachgesprochenen Bekenntnisse des Halbwüchsigen, der in pubertär-narzißtischen Predigtimitationen »von den vorzüglichsten Beweisen der Existenz Gottes, gegen die Freigeister, wie ein Buch zu reden« (112) weiß, der in brillanter Kanzelrednermanier »mit vielem Pathos die Beweise für das Dasein Gottes nacheinander« herbeten und »die Lehre vom Ohngefähr in ihrer ganzen Blöße« (112) entlarven kann. Freilich muß der ironische Erzählton die Botschaft unterminieren: bei Antons orthodoxen Tiraden gegen die Auffassung vom »blinden Ohnge7i

D e l'autobiographie initiatique, S. 990.

74

Dorothee Solle: Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der A u f k l ä r u n g , Darmstadt und N e u w i e d 1 9 7 3 , S. 1 1 3 .

374

fähr«,7? von der Kontingenz der Welt, handelt es sich nur allzu offenkundig um ein Kompensationsritual, um die Größenphantasien und posenhaften Identifikationen eines frühreifen, unter Minderwertigkeitsgefühlen leidenden Kindes mit den Sprachgesten seiner bewunderten Vorbilder, jener protestantischen Pastoren, die durch die schiere Macht der Rede nach Belieben über die Gemüter ihrer Zuhörer zu herrschen scheinen.76 - Einer »geliehenen Sprache« bedient sich gleichfalls die religiöse Lyrik des Gymnasiasten Reiser, dessen Gedicht >Der Gottesleugner in die Schlußstrophe mündet: Wer seinen G o t t verkennt, dem wird die Welt zur Hölle E r selbst ist nur ein Traum, und um ihn her ist W a h n D o c h denke einen Gott, und schnell wird's um dich helle U n d deine Seele schwingt sich mächtig himmelan. - (306)

Die dezisionistischen Untertöne dieses »hypothetischen Credos« sind unüberhörbar: hier handelt es sich ersichtlich nicht um die Glaubenssicherheit eines unproblematisch Frommen, sondern um die versuchte Selbstberuhigung eines religiös zutiefst Verunsicherten, dem die beschriebenen Gefährdungen der Selbstentfremdung (»Er selbst ist nur ein Traum«) und des Wirklichkeitsverlustes (»um ihn her ist Wahn«) in einer als »Hölle« erlebten Welt vertraute Erfahrungen sind. Bezeichnenderweise folgt der Wiedergabe des versifizierten Glaubensbekenntnisses eine Reflexion des Erzählers, die das Erschrecken vor der sinn- und richtungslosen Zufälligkeit des Daseins als den eigentlichen Erfahrungshintergrund des dichterischen Gottespostulats benennt: [ . . . ] - er bebte vor dem schrecklichen Abgrunde des blinden Ohngefährs, an dessen Rande er schon stand, mit Schaudern und Entsetzen zurück, und schmiegte sich gleichsam mit allen seinen Gedanken und Empfindungen in die tröstende Idee von dem Dasein eines alles regierenden und lenkenden gütigen Wesens hinein. (306)

Werden die Versuche des Knaben Anton, durch verbale Anpassung den Anschluß an die offizielle theologische Doktrin zu gewinnen, sich »mit allen seinen Gedanken und Empfindungen in die tröstende Idee von dem

75 Adelungs Wörterbuch definiert: »Ungefähr [...], als ein Hauptwort gebraucht [...], dasjenige unbekannte Wesen, von welchem nach der Philosophie des großen Haufens die zufälligen Begebenheiten, d.i. die, deren Ursachen uns unbekannt sind, abhängen sollen, und welches auch wohl der blinde Zufall, das Schicksal genannt wird.« (Zit. bei Martens, Anm. zu A R , S. i i 2 f . ) . 76 Exemplarisch: Antons schwärmerische Bewunderung für den Braunschweiger Pastor Paulmann, A R , S. 7 5 - 8 6 .

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Dasein eines alles regierenden und lenkenden gütigen Wesens« >hineinzuschmiegenblindes Ohngefähr< zugunsten der Vorstellung einer göttlichen Vorsehung verworfen, so offenbaren die Zerstörungsorgien mit den in Schlachtordnung arrangierten Obstkernen, mit Armeen »von Blumen und Pflanzen« oder mit den aus Papier gebastelten »Helden aus dem Telemach« (28) eine andere Erlebniswahrheit des Subjekts, eine Wahrheit vor jeder rationalisierenden Uberblendung und Zensur: In seinen martialischen Spielen schwingt Anton sich zum Herrn des Schicksals auf und agiert nun nicht als gütige Vorsehung, sondern als grausames Fatum; er stellt »mit zugemachten Augen das blinde Verhängnis vor, indem er den Hammer bald hie-, bald dorthin fallen« (230) läßt - »und wen es traf, den traf's« (29). Unverkennbar tut sich in den gewalttätigen, zugleich sadistischen und masochistischen Eruptionen 7 ' dieser »kindischen Spiele«, die immer »auf Zerstörung hinausliefen« (229), ein Selbstund Weltverhältnis kund, das, indem es dem providentialistischen Lippentribut Hohn spricht, dem inneren Empfinden des von seiner Umwelt unterdrückten und psychisch schwer gestörten Kindes zweifellos nähersteht. A n den seiner Wut preisgegebenen Objekten exekutiert 77

AR, S. 28-29 u n d S. 229-230. Mark Boulby: Karl Philipp Moritz: A t the Fringe of Genius, Toronto/Buffalo/London 1979, S. 9, erkennt in Antons Spielen »a sinister quality, as symptoms of neurosis«, zugleich aber auch »a sense of fate, of the unpredictability of the universe«. 79 Die blindwütigen Aggressionen des Kindes schließen lustvoll erlebte symbolische Selbsttötungen mit ein: »[...] oft erblickte er mit einer sonderbaren wehmütigen und doch angenehmen Empfindung sich selbst unter den Gefallenen« (AR, S.28); »Selbst der Gedanke an seine eigene Zerstörung war ihm nicht nur angenehm, sondern verursachte ihm sogar eine Art von wollüstiger Empfindung« (AR, S. 29). 78

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Anton selbst »eine Art von blindem Fatum« (28), »ein blindes Schicksal« (29), »das blinde Verhängnis« (230), richtet er »schreckliche Verwüstung« (230), »Verderben und Zerstörung« (29) an - in der grausamen Realität seiner Spiele also herrscht genau jenes blinde Ohngefähr, gegen das sich der Knabe in seinen altklugen Predigten kategorisch verwahrt. Man mag versucht sein, angesichts solcher Widersprüche von Bewußtseinsspaltung zu sprechen. Aber die erzählerische Präsentation der gegensätzlichen Deutungen macht unzweideutig klar, daß allein die sprachlose Gewalt seiner aggressiven »Spiele« Antons bedrückende Kindheitserfahrungen reflektiert, weil diese stummen Psychodramen jene Verletzungen und Verstörungen spiegeln, über die der verordnete providentielle Optimismus blind hinweggeht. Der distanziert analysierende Erzähler läßt keinen Zweifel an der Erkenntnisfunktion gerade der nicht durch sprachliche und religiöse Konventionen zensierten Momente unmittelbarer physischer Expression: [ . . . ] seine ohnmächtige kindische Rache am Schicksal, das ihn zerstörte, schuf sich auf die A r t eine W e l t , die er wieder nach Gefallen zerstören konnte - so kindisch und lächerlich dieses Spiel jedem Zuschauer w ü r d e geschienen haben, so w a r es doch im G r u n d e das fürchterlichste Resultat der höchsten V e r z w e i f l u n g die vielleicht nur je durch die Verkettung der D i n g e bei einem Sterblichen bewirkt wurde. ( 2 3 0 )

Im ganzen zeigt sich, daß Reisers providentialistisches Credo und seine Leugnung des >blinden Ohngefährs< als reine Figurenrede behandelt werden, deren wahres Verständnis sich erst auf der Metaebene einer psychologischen Hermeneutik erschließt: Antons theologische Sinnpostulate, verständlich aus dem Kompensationsbedürfnis eines Leidenden, wirken als konventionelle Floskeln und ideologisch harmonisierende Sprachformeln, die die Wahrheit seiner unterdrückten Existenz nicht offenbaren, sondern verdecken. Nur die stummen Destruktionsrituale, vom autobiographischen Analytiker richtig, d. h. als symbolische Wiederholung, gedeutet und in Sprache übersetzt, sagen die Wahrheit aus. Dieser Befund bestätigt Schrimpfs These, »die pietistische Frömmigkeit« werde »bei Moritz - als undurchschaute, der Wirklichkeit entfremdete Ideologie und als Eskapismus der abgedrängten Innerlichkeit - selbst zum Gegenstand einer säkularisierten seelenanalytischen Erkenntnismethode«.80 Folglich auch präsentiert der >Anton Reisen, »anders als Jung-Stillings Biographie, kein religiöses Identifikationsan-

80

Schrimpf, K.Ph. Moritz (i), S. 892.

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gebot mehr, sondern im Gegenteil eine klare Distanzierungsaufforderung«.81

2.2.2 »Verweltlichung« der Schicksalssemantik: der Vorsehungsglaube als ideologische Fiktion Einige stichpunktartige Beispiele genügen, um zu veranschaulichen, mit welcher Planmäßigkeit der Erzählerkommentar des >Anton Reiser< die destruierende Umwertung christlicher Theologumena und die A u f l ö sung traditioneller Schicksals- und Vorsehungstopoi betreibt. - So gerät, exemplifiziert an der Gestalt des Braunschweiger Hutmachers Lobenstein, der Anton und alle anderen »Hausgenossen« mit calvinistischer Strenge und Intoleranz zur Arbeit antreibt,82 eine bigotte Frömmigkeit in den Verdacht, noch anderen als nur religiösen Zwecken zu dienen allzu nahtlos gehen im Fanatismus des Hutmachers religiöses Bekenntnis und wirtschaftliches Interesse ineinander über. Lobensteins pseudochristliche Askese entlarvt der sarkastische Erzählerkommentar als harsche Ausbeutungs- und Unterdrückungsideologie: D i e N u t z a n w e n d u n g lief d e n n i m m e r , p o l i t i s c h g e n u g , darauf hinaus, d a ß er seine L e u t e z u m E i f e r u n d z u r T r e u e - in seinem D i e n s t e e r m a h n t e , w e n n sie n i c h t e w i g i m h ö l l i s c h e n F e u e r b r e n n e n w o l l t e n . Seine L e u t e k o n n t e n i h m nie g e n u g arbeiten - u n d er m a c h t e ein K r e u z ü b e r das B r o t u n d die B u t t e r , w e n n er a u s g i n g (62 f.).

Leitsätze der christlichen Spiritualität und Tugendlehre erscheinen hier verfremdet zu ideologischen Fiktionen, mit deren Hilfe Herrschaft ausgeübt und abgestützt werden kann. Auf andere Weise aufschlußreich ist der Fall des Erfurter Armenarztes Doktor Sauer, eines selbst in elendesten Umständen lebenden Wohltäters der unteren Stände. Das Schicksal dieses tätigen Moralisten wird für Anton zur Probe aufs Exempel einer sozialen Theodizee: »Es war ihm als müßte dieser Mann noch glücklich werden, wenn die Dinge in ihrem Gleis bleiben sollten« (464). Aber das Postulat einer ausgleichenden innerweltlichen Gerechtigkeit bricht sich an der indifferenten Realität, die Dinge bleiben nicht >in ihrem Gleis< - Sauer stirbt verlassen und 81 82

Schrimpf, K.Ph. Moritz (2), S. 52. Vgl. zu dieser Episode die klassische Untersuchung von Robert Minder: Glaube, Skepsis und Rationalismus. Dargestellt aufgrund der autobiographischen Schriften von K.Ph. Moritz, Frankf./M. 1974 (zuerst Berlin 1936), bes. S. 71 ff. : »Der Guyonismus des Lehrmeisters Lobenstein: calvinistische Nuancen«.

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völlig verarmt: »Reisern trog aber diesmal, so wie nachher noch oft seine Ahndung, und sein Glaube an eine Entschädigung für erlittenen Kummer, die notwendig noch auf Erden stattfinden müsse« (464). Die Dogmen der Theodizee versagen vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit; aus moralischer Sicht herrscht in den sozialen Beziehungen das >blinde OhngefährDe l'Allemagne
Geschichte des AgathonAgathon< liefert: 1 Unter dem Datum des j.Januar 1762 schreibt Wieland an den Schweizer Briefpartner, er habe trotz der nervenaufreibenden Ärgernisse im Biberacher Stadtamt vor etlichen Monathen einen Roman angefangen, welchen ich die Geschichte des Agathon nenne; Ich schildre darinn mich selbst, wie ich in den Umständen Agathons gewesen zu seyn mir einbilde, und mache ihn am Ende so glüklich als ich zu seyn wünschte. Die Moralisten mögen sagen was sie wollen, so behaupte ich daß man nur in gewissen Umständen glüklich seyn könne, und da sich nicht leicht ein Mensch in Umständen befindet die ihm angemessen sind, so macht meine Unzufriedenheit sehr oft hieraus den Schluß, daß Leute von meiner A r t dazu bestimmt seyen unglüklich zu seyn. 3

Dieses aufschlußreiche Dokument der literarischen Verarbeitung lebensgeschichtlicher Erfahrung gewinnt noch an Bedeutsamkeit, wenn man es nicht, wie in der biographisch orientierten Forschung weithin üblich, auf den Aspekt der Identifikation von Autor und literarischer Figur verkürzt; unüberhörbar meldet sich nämlich neben dem Anspruch des Autors, im Roman einen Abriß der eigenen intellektuellen Biographie zu geben, also sich selbst zu schildern, »wie ich in den Umständen Agathons gewesen zu seyn mir einbilde«, ein nicht minder prononciertes Differenzbewußtsein: wo der Autor Wieland - ein Leitmotiv der frühen Biberacher Korrespondenz mit den Schweizer Literatenfreunden und mit Sophie von LaRoche - aus dem Bedrückenden seiner realen Existenz kein Hehl macht, ja seine individuelle »Unzufriedenheit« zum sozialen Erfahrungssatz verallgemeinert, »daß Leute von meiner Art dazu bestimmt seyen unglüklich zu seyn«, da soll dem literarischen Double 2

3

Eine konzise Darstellung (mit gutem Uberblick über die ältere Forschung) bietet Müller, Autobiographie und Roman, S. 99 ff. Zitate aus Briefen durchgehend nach: Wielands Briefwechsel. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Literatur, hg. von Hans Werner Seiffert, Berlin 1963 ff. (Im folgenden zit. als >Br.< mit nachstehender Band- und Seitenzahl). - Das vorliegende Zitat ebd., Br. 3, S. 61.

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ein besseres Schicksal widerfahren. Im Bewußtsein demiurgischer Verfügungsgewalt über die Identifikationsfigur seines fiktiven Doppelgängers (»Ich [...] mache ihn [...] glüklich«) verspricht der Autor, er werde seinen Protagonisten »am Ende so glüklich« machen, »als ich zu seyn wünschte«. - Die Kompensationslogik hinter diesem Vorhaben liegt unmittelbar zutage, und es wäre reizvoll, sie in der Richtung einer Psychologie der literarischen Erfindung bei Wieland - aber auch einer Analyse zur Genese künstlerischer Produktions- und Projektionsvorgänge generell - weiterzuverfolgen. 4 Im systematischen Zusammenhang dieser Arbeit sehen wir jedoch von den spezifisch psychologischen Implikationen unserer Briefstelle ab, um sie in anderer, in näherem Sinne literaturphilosophischer Richtung zu problematisieren. Unter diesem Blickwinkel fällt alsbald die Gegenläufigkeit zweier Argumentationstendenzen des Textes ins Auge: verspricht das Kompensationsargument die stellvertretende fiktionale Erfüllung real unerfüllter (und womöglich unerfüllbarer) Wünsche und etabliert damit eine normativ-teleologische Zielrichtung des zukünftigen Romans, dessen Held »am Ende [...] glüklich« werden soll, so schränkt ein deutlich gegen alle moralischen Apriorismen (»Die Moralisten mögen sagen, was sie wollen [...]«) gerichteter empirischer Vorbehalt die Teleologie des individuellen Glücks in ihrer Möglichkeit sofort drastisch ein, indem er milieutheoretisch darauf beharrt, »daß man nur in gewissen Umständen glüklich seyn könne« und daß sich »nicht leicht ein Mensch« in solch »angemessenen« Umständen befinde. Zwar scheint, genau gelesen, dieser Hinweis auf die soziale Kontextualität jedes individuellen Glücksstrebens im Zusammenhang der Briefstelle nur der lebensweltlichen Situation des realen Autors (wie eines jeden empirischen Subjekts in einer soziokulturellen Umwelt) zu gelten und gerade nicht der Kondition des literarischen Helden im fiktiven Geschichtsmilieu; gleichwohl stellt sich mit der Erinnerung an die Kontextabhängigkeit menschlicher Erfüllung unabweisbar zugleich die Frage nach dem Status der literarischen Fiktion, die solches - lebensweltlich unwahrscheinliche - Glück inszenieren soll. Verweist der Autor Wieland nämlich einerseits, die Kontinuität von >Welt< und >Werk< betonend, auf die A n a l o g i e seiner eigenen vergangenen Lebensumstände mit denen der literarischen Figur, so dehnt er damit notwendig auch die Geltung des milieutheoretischen Arguments der sozialen Relativität von Glückschancen auf den fiktionalen Kontext 4

V g l . einschlägig W o l f g a n g Paulsen: Christoph Martin Wieland. D e r Mensch u n d sein W e r k in psychologischen Perspektiven, Bern/München 1 9 7 5 .

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aus: in der logischen Konsequenz dieses postulierten Welt-Werk-Kontinuums müßte sich der Romancier Wieland demnach die literarische Gestaltung einer (nach eigenem Eingeständnis erfahrungsweltlich äußerst unwahrscheinlichen) Realität zutrauen, in der das programmatisch angestrebte Glück des Helden möglich wäre. Unterstreicht Wieland hingegen - dies die gegenläufige Tendenz des Briefes - den H i a t u s von eigener, illusionsloser Wirklichkeitssicht und teleologischer Fiktion, betont damit also die Diskontinuität von Realität und Roman und dispensiert so das literarische Werk von allen Rücksichten auf die empiristischen Theoreme der Milieutheorie, dann ist zwar der glückliche Held kein Skandalon mehr, dafür jedoch wird jede pragmatische Relation des nun völlig eigengesetzlichen literarischen Kunstwerks auf eine historische Erfahrungswelt a priori preisgegeben und damit, neben anderen denkbaren Applikationen, auch der autobiographische Bezug des Romans. - Der Brief an Zimmermann - darin liegt sein symptomatischer Wert - evoziert beide Denkmodelle und entscheidet sich für keines : fiktionales Glück postulierend und reales Glück zur Ausnahme deklarierend, verweigert er die angesichts dieser Opposition unabdingbar gewordene Auskunft über die >Realität der FiktionAgathonGeschichte des Agathonc Der Held soll sich in einer Reihe von Realitätserfahrungen (media) mit der Welt vermitteln, um schließlich in einer Zyklusstruktur, die erst die dritte Fassung einlösen wird 7 — zu seinem Ursprung zurückzukehren. Vom schließlichen Glück Agathons ist hier nicht expressis verbis die Rede; um so deutlicher aber artikuliert sich ein offenbar gewachsenes Bewußtsein des Autors von der Schwierigkeit der selbstgestellten Aufgabe. Nicht von ungefähr verknüpft sich Wielands Skepsis, ob für seinen Helden »am Ende alles gut ablauffe[n]« werde, mit dem Stolz des Autors auf die »sehr verführerische[n] Sachen« im »Diseurs des Hippias«, in der Erkenntnistheorie und Morallehre des philosophischen Antipoden: Wielands vielfach zu belegendes Eingeständnis der philosophischen Gewichtigkeit eines sensualistischen, antiteleologischen und anti-metaphysischen Materialismus,8 wie er, an vorwiegend französischen Vorbildern orientiert, seiner eigenen »empiristischen Wendung«» und in deren Gefolge auch der Konzeption der Antagonisten-Figur des Sophisten zugrundeliegt, muß naturgemäß zu

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Zu den mit dieser Lösung verbundenen Problemen vgl. die erhellende Diskussion bei Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman, 2. Aufl. München 1983, S. 57-65. Jacobs erkennt in der rückläufigen Kreisstruktur der 3. Romanfassung die Aufhebung des >Agathon< als Bildungsroman: »Das idealische Tarent, Archytas und seine Philosophie nehmen den Abenteuern in Smyrna und Syrakus ihren Sinn. Sie sind nur noch Sündenfälle oder Irrtümer und werden offensichtlich nicht mehr als fruchtbarer Beitrag oder unentbehrliche Vorbereitung für das spätere Stadium der Reife angesehen.« (S. 61). Zur intellektuellen Biographie vgl. Victor Michel: Christoph Martin Wieland. La formation et l'évolution de son esprit jusqu'en 1772, Paris 1938 und Friedrich Sengle: Wieland, Stuttgart 1949. - Ein aufschlußreiches Dokument für Wielands geistige Neuorientierung unter dem Einfluß der französischen Aufklärung ist der Brief vom 1 6 . 7 . 1 7 6 4 an Julie Bondeli: »J'ai été autrefois Enthousiaste en fait de religion, de Métaphysique et de Morale; je l'ai été de bonne foi: telle étoit ma façon d'être alors, ou le résultat de cent mille causes physiques et morales. Quoique ayant cessé d'être enthousiaste dans un sens, je ne suis pas moins ami de la vérité, je ne trouve pas la vertu moins aimable, pour ne pas croire à la préexistence de l'âme, ou pour ne m'extasier plus à l'image d'un séraph couleur de rose, aile d'or et d'azur. — [ . . . ] J'ai été obligé ou de reformer mon Platonisme, ou d'aller vivre dans quelque désert du Tyrol. L'expérience m'a désabusé d'une illusion après l'autre, enfin je me suis trouvé au niveau. Je pense sur le Christianisme comme Montesquieu sur son lit de mort; sur la fausse sagesse des esprits sectaires et les fausses vertus des fripons comme Lucien: sur la morale spéculative comme Helvetius, sur la métaphysique - rien du tout; elle n'est pour moi qu'un objet de plaisanterie.« Br. 3, S. 289. So die kenntnisreiche Untersuchung von Horst Thomé: Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik, Frankf./M.-Bern-Las Vegas 1978 ( = Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B, Bd. 15), S. H 7 f f .

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Reibungen mit den moral- und glücksteleologischen Postulaten des Romanprojekts führen. Auch hier beläßt es der Brief bei der Formulierung einer die Werkkonzeption bestimmenden, aber eher intuitiv erahnten als klar erkannten Antinomie und unternimmt keinerlei theoretischen Lösungsversuch. Immerhin jedoch indiziert die Metapher von der noch zu leistenden »Kopf-Arbeit« Wielands illusionslose Einsicht in den intellektuellen Schwierigkeitsgrad der im >AgathonVorbericht< (i766): Wahrheitsbedingungen des Erzählens Den Gestus des literarischen Gedankenexperiments nimmt der >Vorbericht< zur ersten >AgathonVorberichtAgathonMetaphysikers< und ihre nicht-diskursive, höchstens implizit theoretische, in ihrer Methode rein praktische Falsifizierung durch Diogenes. Dabei ist durchaus wesentlich, daß die konkrete Widerlegung keinesfalls an das Merkmal vorgängigen Wissens bzw. impliziten Besserwissens des Diogenes gebunden ist. Zwar unterstellt eben dies die historische Anekdote ganz offenkundig: hier handelt es sich ja um eine gerade durch ihre kalkulierte Schlichtheit nur um so raffiniertere philosophische Demonstration. Falsifiziert wäre die These des antiken Scholastikers aber sogar in dem denkbaren Grenzfall, daß Diogenes selbst ihr vor seinem Weggehen zugestimmt und keiner der beiden Kontrahenten den anschließenden Widerspruch von Theorie (Bewegungslosigkeit) und Praxis (Fortgehen) bemerkt hätte! In diesem Fall wäre jeder beliebige Dritte, als Beobachter der Szene oder als Leser oder Hörer der Anekdote, in der Lage, die falsche Theorie zu korrigieren. - Die Anwendung auf den Roman fällt leicht: auch hier soll eine theoretische Kontroverse nicht auf dem Niveau explizit-argumentativer Auseinandersetzung, sondern durch den Rekurs auf kontrollierende (und höchstens implizit theoriegeleitete bzw. virtuell theoriefähige) Praxis entschieden werden, und wiederum soll der argumentativ weniger spektakuläre Protagonist (Agathon) gegenüber dem intellektuellen und rhetorischen Virtuosen (Hippias) den Sieg davontragen. Allerdings unterschlägt Wieland eine ganz entscheidende Differenz von Anekdote und Roman: der >Metaphysiker< der antiken Beispielgeschichte stellt gegen alle sinnfällige Erfahrung ein Dogma auf, das Diogenes durch Rekurs auf den bloßen Augenschein entkräften kann (dies freilich nur unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß Ubereinstimmung mit der Empirie das ausschlaggebende Kriterium von Wahrheit sei»); im Roman hingegen bezieht gerade Hippias den konse-

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In Wahrheit dürfte der »Metaphysiker« der antiken Anekdote schon diese Voraussetzung schwerlich anerkannt haben: er hätte seinen - empirisch sinnlosen - Satz von der Bewegungslosigkeit sonst kaum formuliert! Es ist folglich auch keineswegs anzunehmen, daß ihm die Demonstration des Diogenes Kopfzerbrechen bereitet habe, er sich durch sie gar widerlegt sah. Der Philosoph wird im Gegenteil bestritten haben, daß Diogenes sich überhaupt bewegt haben könne, da er ja »leugnete, daß eine Bewegung sei«! Kurz: die Anekdote ist zirkulär; sie setzt bereits voraus, was sie scheinbar beweist: die Überlegenheit einer empiristischen Wirklichkeitsauffassung! - Zum »Sonderling« wird der Metaphysiker also nicht durch seine Leugnung der Bewegung - sie ist ein bloßes Epiphänomen, ja als solches ein Indiz konsequenten Denkens - , sondern bereits früher: indem er sich aus dem lebensweltlich anerkannten, auch vom Anek-

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quent empiristischen Standpunkt der »Erfahrung aller Zeiten«,' 6 während Agathons normengeleitetes, am moralphilosophischen Ideal der >Tugend< orientiertes Verhalten auch nach der Preisgabe seiner schwärmerischen orphisch-pythagoreischen Jugendphilosophie immer in Gefahr bleibt, zum Status quo seiner realen geschichtlichen Lebensumwelten in eine prekäre Gegenlage zu geraten. Daß dies unter den im >Vorbericht< formulierten empiristischen Wahrheitsbedingungen einer schweren Hypothek für den Versuch des Erzählers gleichkommt, Agathon auf plausible Weise und in praxi gegen Hippias obsiegen zu lassen, liegt auf der Hand. Die poetologische Pointe der Behauptung, nicht isolierte philosophische Aussagen, sondern »das ganze Werk« und damit die Vita Agathons in toto kämen einer Entkräftung von Hippias' Position gleich, liegt in dem impliziten Anspruch, Literatur könne auf eine ihr spezifisch eigene, nicht-diskursive Weise zur Klärung weltanschaulicher Kontroversen und zur, genuin aufklärerischen, Entscheidung über den Wahrheits- und Realitätsgehalt rivalisierender Philosophien beitragen. Das Demonstrationsverfahren, dessen sich der philosophische Roman zu diesem Zweck bediente, bestünde in der exemplarischen und plausiblen Realisation eines lebensweltlich erstrebenswerten, in seiner Gültigkeit oder Möglichkeit jedoch theoretisch bestreitbaren Zieles im fiktionalen, aber realitätsgerecht modellierten Versuchsmedium eines literarischen Experiments. U m die durch Hippias vertretene Negation einer universalisierbaren Moral zu entkräften oder doch als selbst Standort- und interessengebundene, also ihrerseits nur partikulare Einsicht zu relativieren und zurückzuweisen, bedarf es nach dieser Poetik keiner explizit moralphilosophischen Gegengründe und nicht der Aufhebung von Anschauung durch Begrifflichkeit, von >Literatur< durch >PhilosophieGeschichte des Agathon< - und zwar »das ganze Werk« in seiner Totalität - als anschauliches Korrektiv eines moralfeindlichen philosophischen Materialismus fungieren, indem sie, mit den Mitteln literarischer Fiktion, in vitro ein idealistisches Biographiemodell erstellt, dessen Verwirklichung in vivo, in geschichtlich-sozialen Lebenszusammenhängen, möglich und erstrebenswert wäre. Die nachfolgende Interpretation des Romans wird immer wieder auf diesen Wahrheitsanspruch der Entscheidung philosophischer Kontroversen durch literarische Evidenz zurückkommen müssen, weil sich von ihm her »das ganze Werk« organisiert und somit auch kritischer Einsicht öffnet. Dabei wird sich zeigen, daß die gravierenden Schwierigkeiten Wielands, sein Ideal exemplarisch-konkreten Gelingens gelebter Moral narrativ zu realisieren (und Hippias zu ent-täuschen), eindeutig nicht auf der Subjektseitt des Erzählens, bei der Darstellung der psychologischen Entwicklung des Helden, liegen; das Kardinalproblem des philosophischen R o m a n s wird vielmehr in der Erfindung denkbarer Gesellschaftsumwelten und plausibler Situationsbezüge zutagetreten, in denen sich das Programm, Moral und Realität erfolgreich zu vermitteln, einsichtig erfüllen ließe. In diesem Problem der Vermittlung des Helden mit seinem Milieu konvergieren alle Aspekte der weiteren Deutung: in erzähltechnischer Perspektive ist angesichts der der Fabel aufgebürdeten philosophischen Beweislast nach der Plausibilität der Episodenverknüpfung und ihrer teleologischen Zielrichtung zu fragen; sodann muß die textinterne Reflexion des Sachverhalts auf der Metaebene des ErzählerLeser-Dialogs untersucht werden; zugleich eröffnen sich weitere Horizonte der ideengeschichtlichen und soziologischen Analyse. Jeder dieser Untersuchungsschritte wird, in je eigener Beleuchtung, Aufschluß geben über den quasi-transzendentalen Status des Erzählens in Wielands philosophischem >roman expérimental·.

37 Wir finden uns hier in weitgehender Übereinstimmung mit den Ausführungen Beddows, The Fiction of Humanity, S. í 9 f . : »The >Geschichte des Agathon< is not a philosophical novel in the sense of a work which airs philosophical notions under a more or less discardable fictional guise. But it is a narrative with essentially philosophical aims. Wieland tries to focus upon the central philosophical problem of his age and display its resistance to discursive resolution. H e then embarks on an attempt, using the ability of prose fiction to unite in a single representation mimesis of empirical reality and rendering of human inwardness, to take the philosophical issue further towards resolution than philosophical discourse proper had been able to manage.«

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3· Philosophischer Polyperspektivismus und moralische N o r m Wenn nach den Ausführungen der Romanvorrede das zentrale Anliegen der >Geschichte des Agathon< in der Darstellung der psychologisch und handlungsmäßig sorgsam motivierten Entwicklung des moralisch gesonnenen Helden liegt, der sich nach dem läuternden Durchgang durch prägende und repräsentative media sozialer und privater Erfahrung, also nach persönlichkeitsbildenden Lern- und Erkenntnisprozessen, erfolgreich und dauerhaft mit einer ihm gemäßen Umwelt ins Mittel setzen soll, wenn also Wielands Intention teleologisch auf ein Balanceverhältnis von moralischer »Glückswürdigkeit« und tatsächlicher »Glückseligkeit« Agathons zielt, so muß der erzählerischen Realisierung dieses Vermittlungsvorhabens naturgemäß das Hauptaugenmerk der kritischen Werkanalyse gelten. Die volle Dimension des Projekts der Versöhnung von Held und Milieu erschließt sich aber erst, wenn man es in seinen romangeschichtlichen Kontext piaziert. Wir nähern uns der Diskussion des Schlüsselthemas daher zunächst durch eine kurze Rückbesinnung auf verwandte Problemstellungen und charakteristisch abweichende Lösungsversuche in einigen der früher behandelten Romane und skizzieren sodann einige allgemeine Voraussetzungen und Implikationen des Vermittlungskonzepts im >AgathonAsiatischer BaniseCandideGeschichte des Agathon< vergeblich suchen. Schärfer als in irgendeinem seiner hier diskutierten Vorläufer kommt es in diesem Roman zur Auffächerung der Welt in eine Pluralität von Deutungs- und Normsystemen," und das Erzählen erhält eine Experimentqualität, die es erlaubt, sogar das in der >Vorrede< formulierte und vom Erzähler sympathetisch kommentierte zentrale Erzählanliegen, die Vermittlung des Helden mit seiner Welt in moralisch verdientem Glück, romanintern mit stärksten, argumentativ triftig entwickelten Zweifeln zu konfrontieren. Nicht mehr, wie noch bei Voltaire, sondert in Wielands Erzählwelt die Realität selbst aus dem Spektrum sie interpretierender Denkformen die e i n e adäquate, ihr standhaltende und damit in ihr standgebende Theorie aus; vielmehr ist es eine Grundvoraussetzung der >Geschichte des AgathonAgathon< nicht mehr 39

Sengle, Wieland, S. 198, formuliert: » E s gibt im Unterschied z u m Barockroman und noch zur >Insel Felsenburg< keinen Glauben mehr, welcher die einzelnen Schicksale verweben, überwinden und z u m krönenden Abschluß führen könnte; es gibt kein Weltbild mehr, sondern nur noch einzelne Ichs und ihre Weltbilder. E s gibt die W e l t nur in verschiedenen Perspektiven und höchstens in der Sphäre der Diskussion, welche hier durch das Nebeneinanderstellen der einzelnen Ich- und Weltbilder vertreten wird.«

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ausschließlich Kontemplation, nicht nur einen passiven Modus, im Medium des Begriffs Welt abzubilden und in ihrer Objektivität zu verstehen. Vielmehr gestaltet - mit der einen symptomatischen Ausnahme des Aristipp! - jede Philosophie, die in Wielands Roman ihren Exponenten findet, aktiv die ihr gemäße Lebensumwelt, wird Denken selbst zu Wirklichkeit schaffender und verändernder Praxis. Das wird exemplarisch deutlich bei der Einführung des Hippias zu Beginn des 2. Buches: das luxurierende, sinnlich-aufreizende Interieur seines Hauses in Smyrna spiegelt seine hedonistische Weltanschauung, der Sophist hat dem Milieu den Stempel seines Denkens aufgeprägt, denn er »besaß eine Tugend, welche nicht die Tugend der Moralisten zu sein pflegt; er lebte nach seinen Grundsätzen« (45). In diesem Verständnis wird die Wirklichkeit selbst, als Substrat des Denkens, nicht mehr begriffen als die e i n e distinkte, kohärente und zugleich bestmögliche universitas rerum,'·0 wie sie durch providentielle Wahl vor dem Beginn aller Geschichte aus der logisch existierenden Vielzahl möglicher Welten privilegiert und allein zur Verwirklichung zugelassen wurde. Im fiktionalen Geschichtsraum von Wielands Roman koexistieren und rivalisieren heterogene Realitäten und Realitätsentwürfe, die lediglich darin übereinstimmen, daß sie allesamt möglich und bei aller inhaltlichen Differenz sämtlich als Funktion von Denkweisen zu verstehen sind.··1 Gerade dieser Aspekt einer multiperspektivischen, durch den Filter verschiedener philosophischer Systeme gesehenen und durch sie in ihrer Vielfalt noch einmal multiplizierten Wirklichkeit ist in der neueren Forschungsdiskussion als ein Charakteristikum des >Agathon< erkannt und unter verschiedenen Gesichtspunkten thematisiert worden. So hat Wolfgang Preisendanz die Theorieabhängigkeit äußerer Realität in der >Geschichte des Agathon< mit treffenden Formulierungen als »die Polarität von Bewußtseinsvorgängen und faktischen Vorgängen«



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So noch Leibniz (Théodicée, I, § 8): »J'appelle monde toute la suite et toute la collection de toutes les choses existantes, afin qu'on ne dise point que plusieurs mondes pouvaient exister en différents temps et différents lieux. Car il faudrait les compter tous ensemble pour un monde, ou si vous voulez pour un univers.« Das deckt sich mit der von Hans Blumenberg (»Nachahmung der Natur«. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, S. 5 5 - 1 0 3 , hier S. 89) dargestellten Konsequenz des Zusammenbruchs von Leibniz' metaphysischem Optimismus um die Mitte des 18. Jahrhunderts: »Was von Leibniz' >bester aller möglichen Welten< ontologisch nachhaltig übrigbleibt, ist nicht die >beste WeltAgathon< her ihre Bestätigung und Begründung. Unter weiterem Blickwinkel ordnet sich das Prisma philosophischer Fragmentierungs- und Modalisierungstechniken in der >Geschichte des Agathon< jener Entwicklungsrichtung des neuzeitlichen modalen und ontologischen Denkens ein, die Ingetrud Pape überzeugend als den Weg von den vielen »möglichen Welten« zur einen »Welt des Möglichen« beschrieben hat.46 Diese Veränderung, die im Effekt auf eine Zunahme innerweltlich und besonders auch iozid/weltlich - existierender Alternativen, also, mit einem Ausdruck Luhmanns, auf eine Possibilisierung 47 der Lebenswelt und in ihrer Folge auf ein erweitertes Spektrum weltanschaulicher Optionen 48 hinausläuft, zieht notwendig einen komplementären Wandel auf der Subjektseite des geschichtlich-sozialen Handelns nach sich: In einer Welt offener Möglichkeitshorizonte muß den Individuen, anders als in der deterministischen Anthropologie des Barockromans, ideelle Autonomie zugestanden werden, die von Gott unbehinderte Freiheit

42

Preisendanz, Nachahmungsprinzip, S. 84.

43

J a n - D i r k Müller: Wielands späte Romane. Untersuchungen zur Erzählweise

und

erzählten Wirklichkeit, München 1 9 7 1 , S. 78. 44

45

Klaus Oettinger: Phantasie und Erfahrung. Studien zur Erzählpoetik C . M . Wielands, München 1 9 7 0 , bes. S . 9 o f . Buddecke, Wielands Entwicklungsbegriff, bes. S. i 9 2 f f .

46

V o n den »möglichen Welten« zur »Welt des Möglichen« (wie A n m . 20 zur Einleitung).

47

Selbst-Thematisierung des Gesellschaftssystems (wie K a p . 3, A n m . 60), S. 89.

48

Z u den wissens- und religionssoziologischen Konsequenzen siehe die ausgezeichneten Bemerkungen bei Michel de Certeau: L a formalité des pratiques. D u système religieux à l'éthique des Lumières ( X V I I e - X V I I I e siècle), in ders.: L'écriture de l'histoire, Paris 1 9 7 5 , S. 1 5 3 - 2 1 2 , bes. S. ι J 4 f f .

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n ä m l i c h , s i c h zwischen verschiedenen Optionen der Realitätsgestaltung mit Gründen zu entscheiden. Ohne diesen Begriff von Freiheit als begründbarer Entscheidung zwischen alternativen Denkmodellen und Lebensweisen (mithin nicht mehr als posthumer Einsicht in vorgegebene und unbeeinflußbare Notwendigkeiten) und ohne die korrespondierende Konzeption von Vernunftautonomie als kultureller, wirklichkeitsprägender Praxis - hier liegen offenkundige Parallelen zur >Conclusion< von Voltaires >Candide< - wäre der moralische Roman ein paradoxes und letztlich sinnloses Unterfangen: Nur in einer Welt, die auch die Möglichkeit eines auf Uberzeugung beruhenden amoralischen oder ausdrücklich antimoralischen Verhaltens prinzipiell eröffnet, ohne sie mit metaphysischen Strafen und Sanktionen zu bedrohen, kann >Tugend< zum Verdienst werden.' 0 Die denkbare Existenz eines Hippias oder Aristipp ist also geradezu die Bedingung der Möglichkeit von Agathons Moralität; daß er sich auch anders, nämlich im Sinne seiner Kontrahenten, hätte entscheiden können, wird zur theoretischen Voraussetzung der sittlichen Würde, die der Held am Ende seiner Karriere, in seinem verdienten Glück, erlangen soll. Indessen ist eine Gegentendenz zur Eröffnung ideologischer Wahlfreiheiten unverkennbar, die den scheinbar unbegrenzten theoretischen Spiel- und Experimentierraum des Romans unter praktisch-normativen Vorzeichen wieder einzuengen sucht und so erst Wielands Erzählen seine volle Kontur gibt: Aus der Erweiterung des Spektrums möglicher Einstellungen zur Welt, die der Roman in deskriptiver Tendenz vorstellt 49

»Denn die M a c h t der menschlichen Freiheit lebt von der Ohnmacht Gottes. D a ß der Mensch - modern - selber zum Macher, Schöpfer und Erlöser wird, hat eben darin seinen G r u n d , daß G o t t seinerseits aufhört, es zu sein. Die A u t o n o m i e des Menschen lebt von der Depotenzierung Gottes.« O d o Marquard: E n d e des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren. In ders.: Abschied v o m Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1 9 8 1 , S. 6 7 - 9 0 , hier S. 74. Allerdings k o m m t es nach Marquard am »Ende des Schicksals« zu einer philosophisch komplexen Dialektik von »offizieller Defatalisierung« und »inoffizieller Refatalisierung« ( 7 5 ) der Welt, weil das frei gewordene Handeln sich die Unverfügbarkeit seiner Vorgaben und Folgen eingestehen muß: »Resultat der modernen Entmächtigung der göttlichen Allmacht ist nicht nur der offizielle Triumph der menschlichen Freiheit, sondern auch die inoffizielle Wiederkehr des Schicksals.« (85 f.).



Z u r verbreiteten Ablehnung einer »Lohnmoral« (auch zur Ablehnung entsprechender christlicher Auffassungen) in den ethischen Entwürfen der auf die A u t o n o m i e des sittlichen Lebens setzenden neuzeitlichen Philosophie vgl. den Uberblick bei R . Hauser: A r t . >Lohn/Verdienst< (1.) in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J . Ritter u. K . Gründer, Bd. 5, Darmstadt 1980, Sp. 5 0 3 - 5 0 7 . A l s M o t t o dieser Negationsbewegung kann Spinozas Satz gelten: »Beatitudo non est virtutis praemium, sed ipsa virtus.« (Ethica V , prop. 42).

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und als lebensweltlich praktikabel beschreibt, folgt im Weltentwurf der >Geschichte des Agathon< nämlich noch nicht jener skeptische und gleichsam proteische Relativismus, den Jan-Dirk Müller in überzeugender Analyse als einen Grundzug von Wielands erzählerischem Spätwerk aufgewiesen hat.' 1 Das eigentümliche gedankliche Faszinosum des >Agathon< hat seine Ursache vielmehr gerade darin, daß sich die an der >Vorrede< konstatierte spannungsvolle Kontamination deskriptiver und normativer Erzählintentionen im Roman konsequent fortsetzt: sie findet ihren deutlichsten Ausdruck in der parteilichen Sympathie, die der Erzähler, ungeachtet der eingestandenen Vieldeutigkeit der Welt und trotz der Nähe seiner empiristischen Poetik der Erfahrungsnähe zu den von Hippias gegen Agathon vertretenen epistemologischen Theoremen, der Figur und der moralischen Position seines Helden entgegenbringt und mit allen Registern seiner Urbanen Uberzeugungs- und Überredungskunst auch im Leser zu erwecken sucht. Der Pluralität als möglich beschriebener und in ihren lebenspraktischen Folgen illustrierter Philosophien steht die normative Präferenz des Erzählers für Agathons Streben nach verwirklichter Tugend gegenüber; die faktische Existenz verschiedener Weltsichten impliziert für ihn nämlich keineswegs deren gleiche Geltung, vielmehr, genau entgegengesetzt, die Notwendigkeit, mit Gründen zwischen ihnen zu entscheiden. Das Kriterium dieser Theoriewahl bleibt für Wieland ein ausschließlich normatives: Moral. Daß aber die ethisch favorisierte Position Agathons in den Wirklichkeitsräumen des Romans zugleich als die gnoseologisch riskanteste und in ihrem Gelingen »unwahrscheinlichste« Haltung erscheint, weil der Erzähler grundlegende empiristische Uberzeugungen mit Hippias teilt, enthüllt Wielands realistische Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen des moralischen Bewußtseins in einer nicht moralkonformen Welt. - Den damit vorprogrammierten Zwiespalt von S e i n und S o l l e n , von sozialem Realitätsprinzip und moralischer Norm, der den Roman im ganzen charakterisiert, gilt es nunmehr in genauerer interpretierender Hinwendung zum Werk selbst zu präzisieren und zu entfalten.

s1

J . - D . Müllers Resümee: In Wielands Spätwerk komme es z u m »radikalen Perspektivismus des Erzählens«, denn: » E s gibt nicht mehr die eine totale Sicht der Wirklichkeit, vermittelt durch den allwissenden Erzähler, sondern nur noch verschiedene einander ergänzende A s p e k t e : jeder kann nur sagen, was er von seinem Standpunkt aus für w a h r hält. [ . . . ] D i e Wahr-Falsch-Relation [ . . . ] spielt keine Rolle mehr: grundsätzlich sind die verschiedenen Perspektiven

einander gleichwertig.« (Wielands späte

Romane,

S.195).

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3·3 Antiteleologische Gegenperspektiven: Die philosophischen Antagonisten und das Problem der Vermittlung von Subjekt und Welt Seit der wichtigen Arbeit Wolfram Buddeckes, die der neueren WielandForschung Einsicht in die Technik der epischen Integration und in zentrale Strukturzusammenhänge des >AgathonFigurenroman< als durchgesetzt gelten: Wie Buddecke, zum Teil in ausdrücklichem und produktivem Rückgriff auf Kategorien Blanckenburgs,' 2 dargestellt hat, ist bei der Analyse des >Agathon< von einer klaren Mittelpunktstellung des Helden auszugehen, dessen einzelne Lebensstationen in ihrer Abfolge die Großstruktur des Romans bestimmen und seine formale Geschlossenheit gewährleisten. 53 Als zwangsläufige Folge dieser Zentralkomposition ergibt sich die perspektivische Funktionalisierung nicht nur aller Schauplätze und Handlungsräume, sondern auch aller übrigen Romanfiguren: selbst statisch und entwicklungslos konzipiert, erscheinen sie in paradigmatischer Verkürzung als Repräsentanten verschiedener Milieus, verleihen, durch Kontrastwirkungen oder Parallelisierung, der Entwicklung des sich verändernden Helden Maßstab und Kontur und treten ab, sobald sie diese mediale Rolle gespielt haben. N u r Danae läßt Buddecke mit Einschränkungen als dynamische Parallelfigur gelten.' 4 Diesem strukturtypologischen Befund ist nicht zu widersprechen. Eine gewisse Beschränkung liegt aber in der ausschließlich formaldeskriptiven Orientierung der Analyse, die es unterläßt, die plausibel beschriebene Tektonik des um den zentralen Protagonisten gruppierten Figurenromans mit der philosophischen Thematik des Werkes zu vermitteln. Form und Gehalt des Romans bleiben sich äußerlich, wenn man die Statik seiner Nebenfiguren und ihr scheinbar unproblematisches Verweilen in den ihnen zugeordneten Lebens- und Gesellschaftsräumen nur aus der legitimen Abstraktion eines funktionalen Erzählarrangements heraus versteht, das seinerseits keiner weiteren Begründung bedarf. Hier vermag die Interpretation viel tiefer zu dringen, wenn sie auch den philosophischen Nebenfiguren ein reflektiertes Weltverhältnis konzes2

Buddecke, Wielands Entwicklungsbegriff, S. 2 0 6 f f . Z u m Subjektzentrismus der Weltdarstellung bei Blanckenburg vgl. oben, Kap. 6, A b s c h n . 1 . 2 .

53 54

Buddecke, ebd., S. i6ç>ii. »Sie ist die einzige Figur, die nicht statisch, sondern dynamisch konzipiert ist, die ihre eigene Geschichte hat und ähnlich wie A g a t h o n eine Entwicklung durchmacht, in deren Verlauf sie mehrfach ihre U m w e l t wechselt, um endlich den ihr wirklich gemäßen Lebenskreis ebenfalls in Tarent zu finden.« E b d . , S. 2 1 3 .

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diert und sie aus dem teleologischen Vermittlungsprogramm des Romans begreift bzw. zu diesem idealistischen Programm ins Verhältnis setzt. Auch dann bleibt der >Plan< des Erzählers, Agathon durch einen Lernprozeß zu läutern und »am Ende [...] glüklich« zu machen, das bestimmende Anliegen des Romans; das Werk gewinnt aber entscheidend an gedanklicher Tiefe, wenn gezeigt werden kann, daß den moralfinalistischen Aspirationen Agathons (und des parteilichen Erzählers) in den Lebens- und Denkweisen der Antagonistenfiguren äußerst schwerwiegende Alternativen erwachsen. Ein latentes Präjudiz der These von den funktionalen Nebenfiguren liegt ja gerade darin, daß sie implizit auch die gedankliche Unterlegenheit der weltanschaulichen Widersacher Agathons nahelegt. Zwar hat eine solche Interpretationsentscheidung den Schein der Ubereinstimmung mit dem bereits in der >Vorrede< ausgesprochenen Erzählprogramm für sich. Wenn aber zu diesem teleologischen, den Helden favorisierenden Vorhaben in der konkreten literarischen Durchführung erkennbare textinterne Gegenperspektiven aufgebaut werden, dann muß die Interpretation das Gewicht dieser Einwände angemessen berücksichtigen. Räumt man also ein - und das erscheint als die allein sinnvolle hermeneutische Prämisse - , daß Gegenfiguren wie Hippias oder Aristipp nicht bloße Demagogen, sondern ernstzunehmende Repräsentanten divergierender Weltbilder sind, dann wird notwendig Agathons Vorrangposition vom a priori gesetzten und strukturell ablesbaren Faktum zum problematischen Demonstrandum. Als erläuterungsbedürftig erscheint dann vorab die Frage, warum unter allen philosophisch reflektierten Figuren des Romans die Vermittlung von Weltkenntnis, Tugend und Erfolg offenbar einzig für den Helden selbst ein kardinales Existenzproblem darstellt, nicht dagegen für die Kontrahenten Aristipp und Hippias und auch nicht für die positive Leitbildfigur des Archytas. Selbst die »dynamische« Konzeption der Titelfigur muß dann nicht schon per se als Symptom ihrer Höherrangigkeit verstanden werden, denn mit gleicher Plausibilität ließe sich eine entgegengesetzte Version vertreten: Agathons unstete Wanderschaft durch wechselnde Sozialräume wäre auch als Indiz des prekären Milieu- und Erfahrungsbezugs moralischer Weltanschauung interpretierbar, die »Statik« im Realitätsverhältnis der philosophischen Opponenten entsprechend als Ausdruck ihrer mit der Umwelt gewonnenen Balance. In letzter Konsequenz werden uns diese Fragen zu einem tieferen Verständnis des aporetischen Verhältnisses von moralisch-postulativem und erfahrungskonform-deskriptivem Erzählen im >Agathon< führen und den Blick schärfen für Wielands Versuche, dem Dilemma mit 409

literarischen Mitteln zu entgehen. Zunächst sind aber die textinternen Gegenperspektiven inhaltlich präziser zu bestimmen: Wie stellt sich die in Agathon verkörperte Aspiration auf vernunftkonforme Vermittlung von Subjekt und Welt aus der Sicht seiner Gegenspieler dar? 3.3.1 Integrität durch Handlungsverzicht: Aristipp A m Hof von Syrakus begegnet Agathon einem alten Bekannten: Aristipp, dem »Philosophen von Cyrene« (443). In diesem Antipoden, der bereits das Scheitern seiner politischen Karriere in der Republik von Athen aus kritischer Distanz verfolgt hatte," erwächst dem Helden ein Dialogpartner, dessen in der Forschung in aller Regel übersehener zentraler Rang für Thematik und argumentative Dichte des Romans' 6 einzig mit der Bedeutung des Hippias verglichen werden kann. Schon in der asymmetrischen Inszenierung dieser Konfrontation — mit Agathon als dem im Zentrum des öffentlichen Interesses spektakulär agierenden politischen Reformer und Aristipp als skeptischem, aber engagiertem Beobachter am Rande des Geschehens - zeigt sich Wielands erzählerische Meisterschaft: hier findet eine gedankliche Problematik ihren unmittelbaren Ausdruck in der Plastizität einer sinnbildhaften Figurenkonstellation. Dieselbe Sorgfalt einer auf die Leitlinien des philosophischen Experiments ausgerichteten Erzählkonstruktion (in um so auffälligerem Kontrast zur ostentativ unbekümmerten und formelhaften Verknüpfung der äußeren Handlung) ist bereits in der auf symptomatische Weise gegensätzlichen Motivierung des Zusammentreffens beider Protagonisten in Syrakus am Werk: Agathon, der ernüchterte theosophische Mystiker,

55

Ü b e r das Verhältnis beider Charaktere in Athen heißt es rückblickend: » D i e Wahrheit war, daß A g a t h o n mit allen seinen schimmernden Eigenschaften in Aristipps A u g e n ein Phantast, dessen U n g l ü c k er seinen Vertrauten öfters vorhersagte - und Aristipp mit allem seinem W i t z nach Agathons Begriffen ein bloßer Sophist war, den seine Grundsätze geschickter machten, weibische Sybariten noch sybaritischer, als junge Republicaner z u tugendhaften Männern zu machen.« G d A , S. 441 f.

i6

V g l . aber H e m m e r i c h , Wielands >AgathonAgathon< zu Jean Pauls >HesperusSystème de la Naturec »Alles beweist uns also, daß wir die Gottheit nicht außerhalb der Natur suchen dürfen. Wenn wir eine Idee von ihr haben wollen, so müssen wir sagen, sie sei die Natur.« (Zit. bei U . Dierse: Art. >GottVernunft< vertritt u n d n u n m e h r das F a k t u m

gesetzte

bewältigen

u n d interpretieren m u ß , daß es m ö g l i c h ist, anders z u d e n k e n u n d z u h a n d e l n , als er selbst es t u t . " 4 -

D i e Irritation des S o p h i s t e n w i r d in

f o l g e n d e r R e f l e x i o n deutlich: Agathon, wenn er das würklich wäre, was er zu sein schien, wäre (dachte der weise Mann nicht ohne Grund) e i n e l e b e n d i g e W i d e r l e g u n g s e i n e s S y s t e m s . Wie? sagte er zu sich selbst, (ein Umstand, der ihm selten begegnete) ich habe mehr als vierzig Jahre in der Welt gelebt, und unter einer unendlichen Menge von Menschen von allen Ständen und Classen, nicht einen einzigen angetroffen, der meine Begriffe von der menschlichen Natur nicht bestätiget hätte, und d i e s e r j u n g e M e n s c h s o l l t e m i c h n o c h a n d i e T u g e n d g l a u b e n l e h r e n ? Es kann nicht sein; er ist ein Phantast oder ein Heuchler. ( ι ι γ ί . ) ι ι >

112

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Akad.-Ausg. Bd. IV, S. 429. - Genau entgegengesetzt Hippias: »Dasjenige, was man die Weisheit der Sophisten nennt, ist die Geschicklichkeit sich der Menschen so zu bedienen, daß sie geneigt sind, unser Vergnügen zu befördern, oder überhaupt die Werkzeuge unsrer Absichten zu sein.« (GdA III/4, S.96). n 3 So auch Mayer, Die Begründung des Bildungsromans durch Wieland (wie Anm. 19), S. 16 ff. " 4 Bezeichnend sind die zahlreichen semantischen Konflikte der Kontrahenten, in denen sich weltanschauliche Konkurrenz als wechselseitige Sprachkritik bzw. als Streit um die Legitimität und den >richtigen< definitorischen Gebrauch von Schlüsselbegriffen äußert. - Agathon zum Sophisten: »O! Hippias, was ist das, was du G l ü c k s e l i g k e i t nennest? Niemals wirst du fähig sein, zu wissen was Glückseligkeit ist. Was du so nennst ist Glückseligkeit, wie das L i e b e ist, was dir deine Tänzerinnen einflößen. Du nennst die meinige S c h w ä r m e r e i ; laß mich immer ein Schwärmer sein, und sei du ein W e i s e r . « (67). - Hippias über Agathon: »Er nennet seinen E i g e n s i n n T u g e n d , weil er sich einbildet, die Tugend müsse die Antipode der Natur sein; er hält die A u s s c h w e i f u n g e n s e i n e r P h a n t a s i e für V e r n u n f t , weil er sie in einen gewissen Zusammenhang gebracht hat; und sich selbst für w e i s e , weil er a u f e i n e m e t h o d i s c h e A r t r a s e t . « (125) (Hervorhebungen von mir, WF). 11 s Hervorhebung von mir, WF. 430

Natürlich steht hier nicht des Hippias eigene moralische Konversion zur Debatte - sie ist an keiner Stelle des Romans ein Thema, und sie braucht es nicht zu sein, weil die Vieldeutigkeit der Welt zu dessen Grundkonzeption gehört. Dennoch muß es für den materialistischen Monisten ein Problem bedeuten, daß augenscheinlich noch aus anderen Antrieben gehandelt werden kann als aus jenen, die seine naturalistische Anthropologie als allein relevant unterstellt. Da der Verdacht bloßer Verstellung (»Heuchelei«) in Agathons Fall nicht greift, Hippias aber an der ausschließlichen >Vernünftigkeit< sinnlich-egoistischer Motive nicht zweifeln darf, müssen die übersinnlichen Beweggründe, auf die Agathon sich beruft: die unmittelbar intuitive Evidenz des moral sense,"6 die Fähigkeit zu sittlicher Autonomie," 7 die Möglichkeit freiwilligen Vorteilsverzichts im altruistischen Handeln," 8 als widernatürlich und unvernünftig denunziert und pathologisiert werden. Moral erscheint dann als riskante, weil unnatürliche Handlungsprämisse; ihr Scheitern in einer Realität, die ausschließlich unter Naturgesetzen steht, läßt sich mit Verläßlichkeit vorhersagen. Implizit ist damit ein Junktim von Moral und Unglück postuliert, und dies nicht nur im Sinne der eigenen hedonistischen Glücksvorstellungen des Hippias (die Agathon ja geringschätzt, so daß ihre Enttäuschung ihn nicht enttäuschen müßte), sondern auch in ausdrücklichem Gegensinn zum Plan des Erzählers, an seinem Helden beispielhaft zu demonstrieren, >quid Virtus, et quid Sapientia possitZum Exempel?< Das Vergnügen eine gute Handlung zu tun. >Was nennest du eine gute Handlung?< Eine Handlung, wodurch ich, mit einiger Anstrengung meiner Kräfte, oder Aufopferung eines Vorteils oder Vergnügens, andrer Bestes befördere.« (Ebd., S. i n ) .

43 1

Hippias' Weltsicht zu beweisen; 11 ' Agathon hat den sinnlichen Ichanteilen, die sein Gegner ins Zentrum seines Denkens stellt, ein zu geringes Gewicht eingeräumt, und um so sicherer mußten ihn seine schwärmerisch-platonisierenden Neigungen in praxi betrügen. Auch wenn diese Ent-Täuschung des Helden noch keinen >Sieg< des Hippias darstellt, muß sie die Frage nahelegen, ob sich Agathons Idealismus auf eine Weise korrigieren läßt, die den sinnlichen Persönlichkeitsanteilen ihr Recht einräumt, ohne das Subjekt ihrer Tyrannis auszuliefern. Ist eine anthropologische Konzeption denkbar, die die gnoseologischen Defekte eines reinen Spiritualismus in der Richtung einer naturgemäßeren Lebens- und Denkweise überwinden und dennoch am überindividuellen Leitbild der Sittlichkeit festhalten kann? Läßt sich zur inneren und äußeren Natur als der Grundlage von Leben und Erkenntnis ein zugleich realitätsgerechtes und nicht-egoistisches Verhältnis gewinnen, sind also Natur und Tugend prinzipiell harmonisierbar? Und, literarisch gewendet: Ist es möglich, den Entwicklungsroman zu schreiben, dessen Held den Gewinn theoretischer Einsicht und eines realistischeren Selbst- und Weltverhältnisses nicht mit der Enttäuschung und schließlich mit der Preisgabe seiner moralisch-normativen Intentionen bezahlen muß? Erneut stellt sich hier das Problem des faktischen Romanausgangs. Obwohl moralisches Handeln sich s u b j e k t i v an der Lauterkeit von Gesinnungen bemißt und nicht an Lohn- und Erfolgskalkülen orientiert sein darf, muß Hippias' Behauptung, der Moralist werde notwendig scheitern, weil seine ethischen Prämissen im Widerspruch zur Verfassung der Wirklichkeit stünden, o b j e k t i v die Einheit der dualistisch gedachten Vernunft des Idealisten Agathon (und des Erzählers) in Frage stellen. Wenn das durch den Sophisten in seiner Legitimität bestrittene teleologische Tugendprogramm des Romans verwirklicht werden soll, darf sich das sittlich Gebotene zwar als schwierig, nicht jedoch als real unmöglich erweisen. Das gibt dem Erzählen schwere Probleme vor: Auf welche Instanzen kann sich, philosophisch und narrativ, der Erzähler berufen, wenn er es unternimmt, die Synthese von Realitätssinn und moralischer Vernunft als möglich zu demonstrieren? Wie läßt sich diese Vermittlung lebensweltlich plausibilisieren und literarisch darstellen? Ist In Wahrheit erringt Hippias allerdings einen Pyrrhussieg. E r behält recht mit seiner Spekulation auf Agathons Verführbarkeit und auf die Macht der Sexualität. In dem Maß, in dem Danae sich von der Hetäre in die Schöne Seele (zurück-)verwandelt, die sie virtuell ist, und in dem sich die erotische Faszination zwischen ihr und Agathon zu personaler, sinnlich-geistiger Liebe sublimiert, verliert dieser prognostische Triumph jedoch seinen Sinn.

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die Ankündigung einzulösen, der Lebensgang des Helden selbst werde die Theorie seines Antagonisten widerlegen?

4. Die Ambivalenz des Entwicklungskonzepts im >Agathon< und die strukturelle Doppeldeutigkeit des Romans A m Verhältnis von empirisch-kausaler und theologisch-finaler Geschichtsperspektive in der >Asiatischen Banise< oder in Gellerts S c h w e discher Gräfin< hatten sich uns Varianten der konstitutiven Doppeldeutigkeit literarischer Weltentwürfe im Horizont der metaphysischen Säkularisierungstendenzen der Neuzeit dargestellt. Nicht nur in der beschränkten figuralen Sicht einzelner Protagonisten, sondern auch auf dem kategorial höheren Niveau der expliziten oder impliziten Aussagen des Gesamttextes wurde dort die verschiedenartige Lesbarkeit der Welt tentativ fingiert, sei es, um die empirische Version desto nachhaltiger ihrer ontologisch-erkenntnistheoretischen Illegitimität, ihres Scheincharakters, zu überführen (Zigler), sei es, um - bei ungeklärtem ontologischem Wahrheitsstatus - die existentielle Unzuträglichkeit der diagnostizierten Ungewißheit und damit die Notwendigkeit fideistischer Sinnsetzungen vor Augen zu führen (Geliert). Hier wie dort endete der Mut zur Zweideutigkeit, zur Darstellung des Anderen der jeweils maßgeblichen >Ordnung< - und das heißt modallogisch: der Mut zur Kontingenz der Welt als Eingeständnis ihres Auch-anders-sein-Könnens - , im Versuch, dem Werk und seinem welthaften Substrat ihre positive, providentiell garantierte Eindeutigkeit zurückzugewinnen. Solches Erzählen war wesentlich restitutiv, indem es auf die suggestive Befestigung brüchig gewordener Sicherheiten und damit auf den Rezeptionseffekt der Entlastung zielte. - Uber diese Tradition geht Wieland entscheidende Schritte hinaus: Sein Erzählverfahren ist essentiell reflexiv und kritisch, und dies, wie sich noch klarer zeigen wird, in bedeutsamer methodischer Affinität zu jenem philosophischen Verständnis von Aufklärung, für das gegen alle dogmatischen Setzungen und Überlieferungsautoritäten »der kritische Weg [ . . . ] allein noch offen« ist.120 Als ein deutliches Indiz der philosophischen Reflexivität von Wielands Erzählform haben wir im vorigen Abschnitt die Aufwertung der werkimmanenten Antagonisten beobachtet. Diese gedankliche Polyperspektivität hat strukturelle Konsequenzen: Weder müssen Aristipp und Hippias zur Weltanschauung 20

Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 884.

433

Agathons konvertieren, noch werden die durch sie verkörperten antiteleologischen Gegenpositionen durch faktisches Scheitern auf der Handlungsebene ihrer inneren Unwahrheit überführt. Ganz im Gegenteil: die theoretischen Einwände der Kontrahenten erweisen sich im Verlauf des Romans als gravierend, ihre ungünstigen Prognosen für den Helden treffen in zentralen Aspekten zu; die Beweislast für die Realisierbarkeit seiner Position liegt bei Agathon. So muß auch der Romanschluß, weit davon entfernt, die in der Vorredenpoetik in Aussicht gestellte eindeutige literarische Entscheidung philosophischer Kontroversen zu bieten, zutiefst zweideutig, gedanklich und strukturell ambivalent bleiben. Man sollte sich nicht scheuen, geradezu von einem »Doppelschluß« der >Geschichte des Agathon< zu sprechen und zugleich der klassizistischen Voreingenommenheit für den höheren ästhetischen Wert geschlossener Werke, die in dieser strukturellen Ambivalenz einen Makel erblicken könnte, mit dem Hinweis auf den Erkenntniswert und den philosophischen Reiz dieser brüchigen und spannungsvollen Finalkonstruktion zu begegnen. Der chiastische, Antiklimax und Klimax schroff nebeneinanderstellende Bau des Romanschlusses wird so zum strukturellen Symptom eines beunruhigenden Dilemmas: Einerseits nämlich führt Agathons Entwicklung mit plausibler, aber moralisch verstörender Geradlinigkeit und Konsequenz ins Gefängnis von Syrakus ; andererseits gewinnt der Held zum guten Ende Anschluß an die tugendhafte Enklave von Tarent, doch bedarf es dazu eines kontingenten Erzählarrangements, das sich nicht mehr ohne weiteres mit dem >Lauf der Welt< synthetisieren läßt. Soll mithin, nach der ethisch-parteilichen Setzung des Erzählers, das resignative Fazit Agathons in Syrakus letztlich nur ein episodischer Trugschluß gewesen sein, weil der Macht des schlechten Bestehenden Normativität und Dauer nicht zuerkannt werden dürfen, so unternimmt umgekehrt das Tarent-Finale den nach den empiristischen Glaubwürdigkeitskriterien der poetologischen Vorrede äußerst prekären Versuch, die faktische Kraft des Normativen gegen alle vorausgegangenen Enttäuschungen anschaulich zu demonstrieren. - In jedem dieser polaren Finales erfüllen sich strukturelle und gedankliche Tendenzen des Romans; deren Vereinbarkeit hat die Interpretation daher zu prüfen, weil sich nur so eine Antwort auf die Frage nach der Kompositions- und Problemeinheit des >Agathon< erwarten läßt. Zuvor müssen aber die beiden auseinanderstrebenden Entwicklungskonzepte - die »fallende Linie< zum biographischen Krisenpunkt Syrakus, die »steigende Linie< zum Telos Tarent — je für sich herauspräpariert und nach ihren Voraussetzungen befragt werden. 434

4·ΐ >Fallende Linie< und Desillusionierung: Syrakus als Antiklimax Agathons Weigerung, auf Aristipps Rat zu hören und sich nach dem Mißlingen seiner Erziehungspläne vom Hof des Dionys und von der Politik überhaupt ins Privatleben zurückzuziehen, mußte schließlich in die politische Verschwörung münden; 121 die moralische Revolte endet, vorhersehbar, im Kerker von Syrakus. Dieser tiefe Absturz wird - in dem zentralen 5.Kapitel des X.Buches: >Moralischer Zustand unsers Heidend" - zum Anlaß einer biographischen Krise und einer Generalabrechnung des Helden mit seinem bisherigen Werdegang. Agathon muß sich eingestehen, daß die Stationen seines Weges von Delphi über Korinth nach Athen und weiter nach Smyrna und Syrakus ihn immer tiefer in Erfahrungen verstrickt haben, die mit seinen Tugendidealen inkompatibel und daher von ihnen her nicht zu bewältigen waren. So unterschiedlichen Sphären diese Erlebnisse angehörten - und die Forschung hat die kontrastsymmetrische Anordnung und Korrespondenz von Schauplätzen, Figuren und Themenbereichen seit langem als d a s charakteristische Struktur- und Kompositionsprinzip des Romans erkannt und im Detail nachgewiesen 1 ^ - , so einheitlich folgten sie einem identischen Muster: dem Enthusiasmus des Beginns (für die orphischpythagoreischen Mysterien und Spekulationen, für das republikanische Gemeinwesen Athens, für die vollkommene Geliebte Danae, für die Beförderung allgemeiner Glückseligkeit in der philosophisch inspirierten Monarchie) entsprachen im Rückblick keine Wirklichkeiten, und ideale Zielsetzungen, die sich über die tatsächlichen Situationszusammenhänge hinwegsetzten, mußten zwangsläufig dem Mechanismus des Scheiterns, der Dialektik von Täuschung und Enttäuschung zum Opfer fallen. Wenn unverstellte Wahrnehmung objektiver Gegebenheiten die Voraussetzung erfolgreichen Handelns auch dort gewesen wäre, w o dieses selbst auf Veränderung zielte, mußte jeder überschwengliche Apriorismus des Herzens, jeder unbedingte Wille zum abstrakten Guten durch die Widerständigkeit konkreter Erfahrung ernüchtert werden. Reinhard Döhl hat Logik und Richtung der Karriere des Schwärmers Agathon zutreffend beschrieben als »Stationen einer Erprobung, die stets mit einer Desillusionierung enden. Agathons äußerer und innerer 121

Vgl. G d A X / 3 (»Große Fehler wider die Staatskunst, welche Agathon beging - Folgen davon«), S. 505 ff. > " G d A , S. 5 3 3 - 5 5 1 . I2 3 Für eine gute Zusammenfassung der Forschungslage vgl. Döhls Nachwort zur ReclamAusgabe, S. 671 f.

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Lebensweg, betrogen in seinem Idealismus, scheiternd an den Hypertrophien dieses Idealismus wie an der Realität der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit, vollzieht sich in fallender Linie«.124 In der Tat bringt die konzise Formel vom »Desillusionsroman mit fallender Linie« 12 ' Agathons Schicksale zwischen Delphi und Syrakus glücklich auf den Begriff. Daß diese ernüchternde Laufbahn sich vom erklärten Plan des Autors, seinen Helden »am Ende [...] glüklich« zu machen, bis zum extremen Gegenpol entfernt hat und über die soziale Leistungsfähigkeit von virtus und sapientia günstigstenfalls ein Urteil im Sinne von Aristipps distanzierter Skepsis gestattet, liegt auf der Hand. Fraglos ist die Krisis von Syrakus die realistische Antiklimax des teleologisch entworfenen Romans, von der her die idealistische Klimax des Tarent-Finales, der jähe Umschlag von Negativität in Positivität, unter eminenten Plausibilitätsdruck gerät. Immerhin wäre es zu einseitig, die Kerkerszene nur als Illustration der Diskrepanz von moralischen Ambitionen und faktischer Realität aufzufassen. In der Reflexion von Agathons >moralischem Zustand< tritt zugleich die Zwiespältigkeit der Entwicklungsvorstellung des Romans heraus. Die unbestreitbare Ernüchterung des Helden als Folge seiner unglücklichen Erfahrungen ist ja per se keine Katastrophe, sondern im Gegenteil die unverzichtbare Voraussetzung einer Korrektur seiner Weltorientierung. Agathons tiefer Fall und die ihm folgenden Selbstzweifel könnten, so betrachtet, Anlaß geben zur Revision einer lebensgefährlichen Erfahrungsblindheit, die Krisis selbst wäre ein erstes Symptom der Gesundung, und Desillusionierung erschiene als Katharsis in einem personalen Reifungsprozeß. Diese Argumentation, obwohl tendenziell auf der gedanklichen Linie des Hippias liegend, müßte darum noch nicht zwangsläufig als Billigung der radikalen sozialtheoretischen Folgerungen des Sophisten aufgefaßt werden. Eher sähe sie Agathon unterwegs zu einem realitätsgerechteren Selbst- und Weltverhältnis, zu dem maßgeblich auch die in der Schule der Danae vollzogene anthropologische Konversion vom leibfeindlich-asketischen Spiritualisten zum alle Persönlichkeitsanteile harmonisch integrierenden Individuum gehörte. Dieser positive erkenntnistheoretische und psychische Aspekt der Desillusionierung ist in der Tat unleugbar; er entspricht der integralen " 4 Döhl, ebd., S. 657. I2 5 Ebd., S. 664.

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Anthropologie des Neuhumanismus. Gleichwohl zeigt sich ebenso klar, daß die Kollision des Wielandschen Helden mit seinen sukzessiven Lebenssphären nicht nach dem Entwicklungs- und Konfliktmodell von Hegels Theorie des >Romanhaften37 •3« •3»

x/j,

Vgl. G d A S. 540. Fantasy and Reality, Kap. 3 (»Agathon: Idealism versus Materialism«), S. 71-106. Ebd., S. 77. Ebd., S. 92.

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thon in Syrakus quält,140 und können sich zudem auf die in Wielands Aufsatz >Was ist Wahrheit?feelings, thoughts, presentiments, instincts, and aspirations< for Truth. F o r it is within us that our spiritual egos sort and shift the multitudinous inputs, reducing the many to one, forming the universal from the particular, separating the necessary from the accidental. 143

Mit dieser Deutung sieht McCarthy nicht nur von vornherein vom Plan des Erzählers ab, auf eine mit dem >Lauf der Welt< übereinstimmende Weise zu demonstrieren, was Tugend und Weisheit in der Gesellschaft vermögen; er gesteht Agathons >moralischem Zustand< in Syrakus auch eine viel größere Stabilität zu als der Erzähler selbst. Der nämlich möchte »nicht verbergen, daß dieser Zustand für seine Tugend gefährlich ist« (548): eine Moral, die sich auf die innere Evidenz eines elitären Selbstgefühls beschränkte, jeden Gedanken an ihre objektive Verwirklichung als empiristisches Mißverständnis von sich wiese und für die Außenwelt nichts empfände als ohnmächtige Verachtung, stünde in der Gefahr, schließlich jeden Impetus einzubüßen und, als »bloße Speculation, endlich ein so abgezogenes, so feines, so delicates Ding« zu werden, »daß sich kein Gebrauch davon machen läßt« (550). Daher hat Döhl recht, der trotz der vom Erzähler mehrfach hervorgehobenen

I4

° V g l . G d A X / j , S. 546.

141 142

In: C . M . Wielands sämmtliche Werke, Leipzig: Göschen 1 8 5 7 , B d . 29, S. 1 3 9 - 1 4 9 . » Z u m G l ü c k ist der Glaube an sein eignes G e f ü h l gerade das, w a s sich der Mensch am schwersten und seltensten nehmen läßt, ja, was sich schwerlich irgend ein Mensch, w i e schwach er immer sey, in irgend einem Falle nehmen läßt, w o er sich innigst bewußt ist, daß er gefühlt hat. [ . . . ] Ich kann von der N a t u r , von unsichtbaren Mächten, kurz, v o n Ursachen, die ich nicht kenne, getäuscht werden; aber, solange ich mir bewußt bin, daß ich etwas gefühlt, beschaut, betastet habe - so glaube ich meinem Gefühl mehr als einer ganzen Welt, die dagegen zeugte, und als allen Philosophen, die mir a priori beweisen wollten, ich träume oder rase.« (Ebd., S. 1 4 3 - 1 4 5 , passim).

'43 M c C a r t h y , Fantasy and Reality, S. 92.

440

Unterscheidung zwischen den äußeren Milieu- und Lebensumständen einer Person und ihrem »Character« als einem intangiblen substantiellen Wesenskern 144 in Agathon »die Voraussetzungen zu einer Tragödie der weltlosen Introversion« erkennt. 145 Wenn der Erzähler über den Häftling von Syrakus bekennt, »daß wir nicht Bürge dafür sein wollten, was aus unserm Helden hätte werden können, wofern er mit solchen Dispositionen in eine Gesellschaft von Hippiassen und Alcibiaden, oder zurück in die schöne Welt zu Smyrna versetzt worden wäre« (550), so räumt er damit ein, daß Moralität sich gegen die Empirie nicht dauerhaft verschließen und auf die intuitive Gewißheit ihrer normativen Überlegenheit zurückziehen kann. Der Hiatus von Normativität und Erfahrung, von Sollen und Sein wäre unerträglich. Aus diesem Grund braucht Agathons ihrer selbst gewisse Tugend eine soziale Umgebung, in der sie sich verwirklichen und entfalten kann. Das ist die gedankliche Voraussetzung des Tarent-Finales. 4.2 Die Unterstellung verborgenen Sinns: Kontingenztopoi, Teleologiesignale, Providenzmetaphern Die fallende Bewegungslinie der Desillusionierung, endend in der politischen Haft des moralischen Rebellen Agathon im Staatsgefängnis von Syrakus, bestimmt die Entwicklungsrichtung des Erzählens nicht allein. Dieser realistische, die philosophischen Gegenspieler gegen die idealistischen Ambitionen des Helden ins Recht setzende Strang der Begebenheiten wird vielmehr gekreuzt von einer aufsteigenden Linie zum Telos Tarent und überformt von einer teils personalen, teils auktorialen Geschehensdeutung, die, mit heterogenen Argumenten und bezeichnend vieldeutiger Semantik, den verborgenen, aber eindeutig positiven Sinn und die Finalität von Agathons Lebensgeschichte unterstellt. Durch den Rekurs auf »die Romantypik des 17. Jahrhunderts«, 146 durch zahlreiche strukturelle und topische Reminiszenzen, ja »durch ganze Zufallsketten [...], in denen die traditionellsten und konventionellsten Erzählmotive des heroischen Abenteuerromans zitiert werden«, 147 stellt sich

'44 V g l . die zentrale Passage G d A I X / 5 , S. 4 7 0 f . "45 D ö h l , N a c h w o r t , S. 656. '46 E b d . , S. 643. S. auch Hemmerich, Wielands >Agathon47 Müller, D e r Zufall im R o m a n (wie A n m . 76 zur Einleitung), S. 269.

441

die >Geschichte des Agathon< als »virtuose Variation der Schemata des spätantiken Romans und seiner barocken Weiterbildungen«'48 dar: offenkundig sucht Wielands Erzählen den rückwärtigen Anschluß an die Tradition jenes metaphysisch beglaubigten hohen barocken Geschichtsromans, in dessen kontingenter Fabel sich, hinter dem Rücken der Subjekte und auf empirisch nicht überprüfbare Weise, eine göttliche Ordnung ereignete und vollzog. Diese Suggestion einer metaphysisch verbürgten Sinnlatenz in der Lebensgeschichte des Helden und einer Theonomie der objektiven Wirklichkeit muß in einem Roman, dessen Autor sich a limine zu einer Erzählpoetik empirisch-lebensweltlicher Uberprüfbarkeit bekennt, dessen eloquentester, philosophisch radikalster Protagonist expressis verbis die atheistische Immanenz einer selbstbezüglichen materialistischen Natur verfechten darf und dessen idealistisch gesonnener Held aus einer Enttäuschung in die nächste fällt, überraschen, ja befremden. Tatsächlich rührt der Gegensatz realistischdeskriptiver und teleologisch-postulativer Tendenzen, der in der Gegenstrebigkeit von fallender und aufsteigender Entwicklungslinie zutagetritt, an den philosophischen Nerv des ganzen Werkes, und es wird noch zu zeigen sein, daß, von Inkonsequenz oder bloß unverbindlichem Spiel mit traditionellen Erzählformeln weit entfernt, Wielands Romanform über die Mittel verfügt, die bewußt erzeugte äußerste Spannung von Empirie und Metaphysik, von naturalem Monismus und idealistischer Zwei-Welten-Lehre zu reflektieren und die Irritation des Lesers in Erkenntnis zu überführen. Vor diesem fundamentalen Dualismus sind zunächst jedoch die Funktion und die strukturellen und gehaltlichen Konsequenzen des anachronistischen Rückgriffs auf einen zeitgenössisch ja keineswegs mehr unbestrittenen, in der Romanpoetik des 18. Jahrhunderts sogar vielfach ausdrücklich verworfenen Romantypus 14 ' und seine obsoleten Erzählformeln genauer zu bedenken. - Daß die Anleihen beim heroischen Abenteuerroman vor allem das äußere Handlungsgerüst des Romans, die Konstruktion seiner Fabel und die Verknüpfung seiner Episoden und Stationen prägen, ist unschwer zu erkennen: es sind die We/iaspekte der Biographie des Helden, ihre Außenbezüge, die unter Zuhilfenahme traditioneller Topoi und Koinzidenzen arrangiert und einer supponierten Ordnung unterworfen werden. Im Falle eines Romans, der programmatisch die Geschichte eines Subjekts und seiner Charakterent•48 E b d . , S. 268. •49 Z u Aspekten und Stadien dieses Distanzierungsprozesses vgl. oben, K a p . 3.

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wicklung schreiben möchte, könnte man geneigt sein, aus dieser Beobachtung auf die relative Bedeutungslosigkeit der romanesken Traditionsanleihen zu schließen: Wieland scheint sich den freizügig zitierenden Umgang mit obsoleten Topoi gerade deshalb so unbedenklich gestatten zu können, weil seinem Erzählen, dort, wo es auf der Höhe seiner Zeit zu sein beansprucht, ein gänzlich verschiedenes analytisches Interesse zugrundeliegt. Wo alle Aufmerksamkeit der Seelengeschichte des Subjekts und der psychologisch raffinierten Zergliederung seiner reichen Innerlichkeit gilt, sind - konträr zu den ontologischen Prioritäten in der barocken Erzählpoetik - Lizenzen in der Weltdarstellung und also auch im Entwurf der Fabel unanstößig. - Tatsächlich findet sich die entsprechende These vom absoluten Vorrang des Subjekts in der neueren Forschung in zwei Varianten, einer ontologischen und einer psychologischen. Nach McCarthys platonisierender Deutung thematisiert der Roman den unauflösbaren Gegensatz von >visible world< und invisible worldempiricism< und >transcendentalismphenomenal world< und spiritual egoAgathonAgathon< beweist schon die eine Figur des Hippias, daß sein Verfasser sich durch die antike Einkleidung nicht im

i6

GdA VIII/5, S. 361 ff. 3 Dies die (stärkere) Formulierung der J.Fassung (GdA 1794, S. 297); Hervorh. von mir, WF. Die Editio princeps sinngemäß, aber mit geringerer rhetorischer Emphase; vgl. S. 361. 448

mindesten einschränken ließ, wo es ihm darum zu tun war, radikal Zeitgenössisches zu gestalten. Gerade an die sprachliche und gedankliche Präzision der Hippias- oder Aristipp-Partien, die, aus der Nähe zu empirisch-geschichtlicher Erfahrung argumentierend, den desillusionierenden Abstieg des Helden plausibel begründen und vorhersagen, reichen jene reflektierenden Passagen nicht heran, die im Rekurs auf das heliodorsche Erzählschema und seine philosophischen Möglichkeiten die idealistische Teleologie des Romans legitimieren sollen. Es ist die übergroße Varietät der Deutungsangebote selbst, die hier, im Verein mit einer bemerkenswerten kategorialen Unschärfe, in Unverbindlichkeit umschlägt; die Redundanz der Teleologiesignale und Providenzmetaphern tendiert am Ende zur Deutungsbeliebigkeit. Ein Beispiel soll das illustrieren: Im 10. Kapitel des i. Buches, >Ein Selbstgesprächs 164 gibt sich der soeben wieder von Psyche getrennte und ob ihres Verlustes verzweifelte Agathon Rechenschaft über das Unzusammenhängende seines Lebens, dessen »schneller Wechsel von Umständen« (35) ihm wie ein wirrer Fiebertraum erscheint: »Wenn Ordnung und Zusammenhang die Kennzeichen der Wahrheit sind, o! wie ähnlich dem ungefähren Spiel der träumenden Phantasie sind die Zufälle meines ganzen Lebens!« (34). Der selbstquälerischen Rekapitulation aller Lebensstadien, in denen Agathons tugendhafte Aspirationen »von auswärtigen Beleidigungen« (35) zunichte gemacht wurden, folgt, in der Form eines großen rhetorischen Ausbruchs, der Versuch des Helden, der Logik und dem finalen Sinn seiner zerrissenen Biographie auf die Spur zu kommen: Wie ähnlich ist alles dieses einem Traum, w o die schwärmende Phantasie, ohne Ordnung, ohne Wahrscheinlichkeit, ohne Zeit oder Ort in Betracht zu ziehen, die betäubte Seele von einem Abenteur zu dem andern, von der Crone zum Bettlers-Mantel, von der Wonne zur Verzweiflung, vom Tartarus ins Elysium fortreißt? - U n d ist denn das Leben ein Traum, ein bloßer Traum, so eitel, so unwesentlich, so unbedeutend als ein Traum? Ein unbeständiges Spiel des blinden Zufalls, oder unsichtbarer Geister, die eine grausame Belustigung darin finden, uns zum Scherz bald glücklich bald unglücklich zu machen? Oder, ist es eben diese allgemeine Seele der Welt, deren Dasein die geheimnisvolle Majestät der Natur ankündiget; ist es dieser allesbelebende Geist, der die menschlichen Sachen anordnet; warum herrschet in der moralischen Welt nicht eben diese unveränderliche Ordnung und Zusammenstimmung, w o durch die Elemente die Jahres- und Tages-Zeiten, die Gestirne und die Kreise des Himmels in ihrem gleichförmigen Lauf erhalten werden? Warum leidet

é

4 GdA, S. 33-39.

449

der Unschuldige? Warum sieget der Betrüger? Warum verfolgt ein unerbittliches Schicksal die Tugendhaften? Sind unsre Seelen den Unsterblichen verwandt, sind sie Kinder des Himmels; warum verkennt der Himmel sein Geschlecht, und tritt auf die Seite seiner Feinde? O d e r hat er uns die Sorge für uns selbst gänzlich überlassen, warum sind wir keinen Augenblick unsers Zustandes Meister? Warum vernichtet bald Notwendigkeit, bald Zufall, die weisesten Entwürfe? -

Diese Inszenierung einer vorgeblich radikalen Sinn- und Orientierungskrise entbehrt nicht einer gewissen pompösen Theatralik. Zu eloquent und metaphorisch erlesen, um (in einem Roman, dessen größte Leistung in der Glaubwürdigkeit und Modernität seiner Figurenpsychologie bestehen soll' 6 ') die Depression des Helden wirklich plausibel zu vermitteln, aber auch zu wortreich und überladen,166 um einen substantiellen philosophischen Gehalt preiszugeben, wirkt die Passage in erster Linie durch ihr deklamatorisches Pathos und eine - im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts - deutlich archaisierende Stilisierung: mit dem Thema der Fallhöhe menschlicher Schicksale (»von der Crone zum BettlersMantel«; »vom Tartarus ins Elysium«), der Auslieferung des Individuums an das »unbeständige Spiel« der Fortuna und der Gleichung von Leben und Traum im Zeichen der vanitas sind nicht umsonst prominente Motive der Barockliteratur angeschlagen. Die Namen des Göttlichen im zitierten Textausschnitt sind von eklektischer Vielfalt: »unsichtbare Geister« treiben ihren grausamen Scherz mit den Menschen, aber als »allgemeine Seele der Welt« offenbart sich die göttliche Providenz in der »geheimnisvollen Majestät der Natur«, und als »allesbelebender Geist« dirigiert sie »die menschlichen Sachen«; die tugendhaften Menschen selbst, deren Seelen »den Unsterblichen verwandt« sind, heißen das »Geschlecht des Himmels«. Diese gleichsam rhapsodisch aneinandergereihten Aussagen, Sedimente verschiedenster Gottesvorstellungen, bleiben in ihrem Verhältnis zueinander höchst unklar und auch je für sich in ihrem Wahrheitswert ganz offen: ein theologisches Potpourri von klischeehafter Vordergründigkeit. - Schließlich die scheinbar bohrende metaphysische Insistenz des ausschließlich aus Interrogativsätzen komponierten Monologs mit der rhetorisch wirkungsvollen Anapher einer IÉ

5 Vgl. die eingangs diskutierten Auffassungen von Preisendanz (wie Anm. 18) und Paulsen (wie Anm. 4). Die »zugleich unbeholfene und überladene Sprache solcher Passagen« bemängelt auch Hemmerich, Wielands >AgathonAgathon< sei »animé« und »enthousiaste, et cependant il veut être sceptique«169 — war ja durchaus anerkennend gemeint, und wir fügen dem Hinweis auf den »charme« dieser Konstellation mit Nachdruck die Behauptung ihres genuinen Erkenntnischarakters hinzu. Von aufschlußreicher Zweideutigkeit ist bereits das Verknüpfungsargument, durch das die Episoden und Stationen des Romans in technischem Sinn miteinander verbunden, zugleich aber, gegen den Anschein chaotischer Beziehungslosigkeit, in philosophischer Deutung einer einheitlichen Verlaufslogik integriert werden sollen. Als Leitbegriffe dieser Deutungsschicht fungieren die Termini Ordnung und Wahrheit; genauer: Zusammenhang und Kohärenz der Episoden, ihre >OrdnungWahrheit< sein. Dieses Ordnungspostulat, hinter dem sich genetisch unschwer die Schein-Sein-Dialektik des Barockromans ausmachen läßt, tritt im >Agathon< sowohl in auktorialer Reflexion, als Rechtfertigung unwahrscheinlicher Handlungsarrangements durch den Erzähler, wie auch in figuralem Diskurs, als Prämisse der Erlebnisverarbeitung des Helden, zutage. In beiden Fällen zeigt sich jene Ambiguität, die schon in den entsprechenden Überlegungen von Blanckenburgs >Versuch< zu erkennen war: >Ordnung< bezeichnet den physi168 Vorlesungen über die Ästhetik III, Werkausgabe B d . 1 5 , S. 546: »Solch einem H e r o s könnte man nichts Schlimmeres nachsagen, als daß er unschuldig gehandelt habe. E s ist die E h r e der großen Charaktere, schuldig zu sein.« 16

9 D e l'Allemagne (hg. von Simone Balayé, Paris 1968), Bd. I, S. 1 7 4 . D o r t auch das M o t t o unseres Kapitels.

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kalisch-mechanischen Nexus einer unter erkennbaren Gesetzlichkeiten stehenden Welt, deren kausale Organisation literarisches Erzählen zu beobachten und nachzuahmen hat; aber >Ordnung< meint zugleich eine dem Subjekt und seinen moralisch-vernunftmäßigen Zwecksetzungen entgegenkommende Welt- und Erzählstruktur, die auf die Biographie des Helden und seine Perfektibilität ausgerichtete, seinen positiven Lebenssinn verbürgende finale Zweckmäßigkeit der kausal verknüpften Begebenheiten. Zwei Beispiele aus dem i . B u c h können das verdeutlichen. Schon zu Anfang des 2. Kapitels, >Etwas ganz Unerwartetes^ 1 ? 0 sieht sich der Erzähler genötigt, sich für den Rückgriff auf romaneske Stereotypen des heliodorschen Romans und für die bevorstehenden raschen Peripetien der Handlung vorbeugend zu rechtfertigen: Wenn es seine Richtigkeit hat, daß a l l e D i n g e i n d e r W e l t i n d e r g e n a u e s t e n B e z i e h u n g a u f e i n a n d e r stehen, so ist nicht minder gewiß, daß d i e s e V e r b i n d u n g u n t e r e i n z e l n e n D i n g e n oft g a n z u n m e r k l i c h ist; und daher scheint es zu kommen, daß die Geschichte zuweilen viel seltsamere Begebenheiten erzählt, als ein RomanenSchreiber zu dichten wagen dürfte. Dasjenige, was unserm Helden in dieser Nacht begegnete, gibt mir neue Bekräftigung dieser Beobachtung ab.' 7 1

Dieser Passus behauptet, pointiert gesagt, die Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen: Einerseits soll »in der Welt« eine universale, kausal verstandene Interdependenz aller Sachverhalte herrschen, andererseits soll »diese Verbindung unter einzelnen Dingen oft ganz unmerklich« sein und »seltsame Begebenheiten« einschließen. Dieser Vorbehalt zielt darauf ab, das Kausalitätstheorem so weit auszudehnen, daß es, auf Kosten unmittelbarer erfahrungsweltlicher Plausibilität der Erzählsachverhalte, mit subjektsteleologischen Setzungen kompatibel wird. Eine hintergründige Konvergenz von Kausalität und subjektbezogener Finalität der Welt soll entsprechende Erzählverknüpfungen legitimieren, ja, gegenüber den Skrupeln der »Romanen-Schreiber«, die sich, aus Scheu, unglaubwürdig zu werden, an einem Mittelmaß vordergründiger Erwartbarkeiten o r i e n t i e r e n , p r o p a g i e r t der Erzähler den Mut zur >Seltsamkeit< der Begebenheiten geradezu als >realistisches< Erzählprinzip: die >Geschichte des Agathon< soll, gerade weil sie >Geschichte< ist

"70 G d A , S. 1 7 - 2 0 . '71 Hervorhebung v o n mir, W F . ' 7 2 und sich dabei etwa auf Gottscheds Wahrscheinlichkeitspostulat und auf seine A r i s t o teles-Auslegung berufen können; vgl. oben, Kap. 3, A b s c h n . 4 .

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und kein >RomanLauf der Welt< auch darin übereinstimmen, daß es in ihr zuweilen ebenso überraschend zugeht wie in der Wirklichkeit selbst. Gewiß: hier soll nicht der empiristische Erfahrungsgrundsatz der Romanvorrede widerrufen oder gar das Wunderbare des barocken Romans rehabilitiert werden. Aber schon der Versuch, das Außergewöhnliche und Unerwartete subjektdienlicher Glücksfälle und Koinzidenzen - und um deren Vorbereitung geht es bei dieser Aufwertung »seltsamer Begebenheiten« - in einen erweiterten Begriff von Erfahrung und Kausalität aufzunehmen, ist nicht ohne Risiko für ein Erzählen, das so entschieden die empirische Generalisierbarkeit seiner Begebenheiten proklamiert hatte. Das wird alsbald deutlich, denn schon am Ende desselben Kapitels, beim angekündigten Bericht dessen, »was unserm Helden in dieser Nacht begegnete«, macht der Erzähler von der Lizenz zur »seltsamen Begebenheit« Gebrauch: Agathon wäre »von den thracischen Mänaden zerrissen worden [...], wenn nicht die Unsterblichen, die das Gewebe der menschlichen Zufälle leiten, in eben dem Augenblick ein Mittel seiner Errettung herbeigebracht hätten, da weder seine Stärke, noch seine Tugend ihn zu retten hinlänglich war« (20). Die »Schar Cilicischer Seeräuber« (21), deren Überfall dem orgiastischen Spektakel ein abruptes Ende setzt, wird zu Erfüllungsgehilfen einer für das Wohlergehen des Helden besorgten Providenz. Unsere zweite Beispielstelle steht mit der eben zitierten in engem Zusammenhang. In jenem Selbstgespräch, dessen kategoriale Redundanz wir oben analysiert haben, klagt Agathon: »Wenn Ordnung und Zusammenhang die Kennzeichen der Wahrheit sind, o ! wie ähnlich dem ungefähren Spiel der träumenden Phantasie sind die Zufälle meines ganzen Lebens!« (34). In dem, was der desorientierte Held an seiner eigenen Biographie vermißt - »Ordnung und Zusammenhang« als »Kennzeichen der Wahrheit« - , wird ex negativo deutlich, daß das Verknüpfungsaxiom des Erzählers, seine Annahme, »daß alle Dinge in der Welt in der genauesten Beziehung auf einander stehen« (17), nicht nur eine physikalisch-kosmologische Kausalität unterstellt, sondern zugleich, gewissermaßen als anthropologischen Sonderfall von >Ordnungs das moralische Subjekt des Helden in den Rang einer obersten finalen Zweckursache der erzählten Welt erhebt. '73 Erst wenn sich die "73 Diese Setzung trifft sich mit den (sehr schwierigen) Überlegungen Kants über die notwendige A n n a h m e einer finalen Kohärenz der Welt, die ebenfalls davon ausgehen, »daß ohne den Menschen die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne E n d z w e c k sein würde«. (Kritik der Urteilskraft, § 86, A k a d . - A u s g . B d . V , S. 442). O h n e den Menschen als Telos der Schöpfung wäre nach Kant »die Kette der einander

454

scheinbar chaotischen Kontingenzen im Schicksal Agathons als ein notwendiges Medium verborgenen Lebenssinns erwiesen haben werden, wird die Finalität der Weltordnung manifest geworden sein. Die Vollendung des zu sich selbst findenden und mit der Welt in Einklang versetzten moralischen Helden fungiert als Probe auf das Exempel einer vernünftigen Welt, als »Kennzeichen der Wahrheit«. W i e eine den Absichten moralischer Subjektivität förderliche finale Ordnung der Wirklichkeit begründet und literarisch gestaltet werden könnte, deutet Wielands Roman auf verschiedene Weise an. Auch hier überwiegt die Varietät und Widersprüchlichkeit der angebotenen Erklärungen gegenüber ihrer philosophischen Stringenz; aber gerade die Deutungsvielfalt ist Ausdruck eines experimentierenden Erzählens, das das kardinale Problem der Vereinbarkeit von subjektiver Glückswürdigkeit und faktischer Glückseligkeit auf alle Weise zu lösen versucht. Eine Version haben wir anläßlich jenes rhetorischen Aufbegehrens des Helden gegen die Zusammenhanglosigkeit und moralische Indifferenz seines Schicksals bereits kennengelernt: sie bestand in der Minimalisierung des Problems selbst. Den intellektuell unlösbaren Aporien des Theodizeeproblems in konkreten Lebenszusammenhängen entzog sich Agathon schließlich unter Berufung auf eine enthusiastisch geschaute Natur, auf die ideale Schönheit der Tugend und auf ein intuitives Bewußtsein seiner Teilhabe an beiden. Diese Szene hat Parallelen in späteren Partien des Romans, so in Agathons rückblickender Bewertung seines politischen Scheiterns in Athen: Ich verwies es der Tugend nicht, daß sie mir den Haß und die Verfolgungen der Bösen zugezogen hatte; ich fühlte, daß sie sich selbst belohnt. Das Unglück schien mich nur desto stärker mit ihr zu verbinden; so wie uns eine geliebte Person desto teurer wird, je mehr wir um ihrentwillen leiden. (297)

In dieser Argumentationslinie, die an den Romantraktat des Greifswalder Anonymus erinnert,174 wird Tugend radikal selbstbezüglich, wird das Junktim von Verdienst und Erfolg aufgesprengt. Durch konsequente Verinnerlichung immunisiert sich das moralische Subjekt so weitgehend gegen den »Druck widerwärtiger Zufälle« (300), daß Agathon von sich behaupten kann, er habe sich »gegen alle Bitterkeiten meines widrigen

untergeordneten Z w e c k e nicht vollständig gegründet; und nur im Menschen, aber auch in diesem nur als Subjecte der Moralität ist die unbedingte Gesetzgebung in A n s e h u n g der Z w e c k e anzutreffen, welche ihn also allein fähig macht ein E n d z w e c k zu sein, dem die ganze N a t u r teleologisch untergeordnet ist«. ( K d U , § 84, S. 43 5 f.). •74 S. oben, K a p . 3, A b s c h n . 5.2.

4Î5

Schicksals unempfindlich« (298) gemacht. N a c h dieser Vorstellung liegt in der moralischen Autarkie des seiner inneren Werthaftigkeit gewissen Subjekts, in seinem »Stolz« (300), ein stoisches Remedium gegen alle kontingenten Außenweltbezüge; das Problem seiner erfolgreichen Vermittlung mit akzidentiellen Lebensmilieus ist für das moralische Subjekt gänzlich irrelevant geworden. 1 7 ' Im Extremfall kann das Ideal tugendhafter Selbstbelohnung einhergehen mit dem Postulat geschichtsjenseitiger Kompensation; Tugend findet dann ihr objektives Korrelat nicht in empirisch-kontingenten

Sozialmilieus,

sondern

im

eschatologischen

Aeternum einer christlich-platonischen Transzendenz. Mit dem Gedanken an ein Paradies der Moralisten tröstet sich Agathon denn auch, wenn er über den Mißerfolg seiner politischen Ambitionen zu verzweifeln droht: Nach diesen Grundsätzen habe ich in meinem öffentlichen Leben gehandelt, und diese Handlungen, deren s i c h s e l b s t b e l o h n e n d e s B e w u ß t s e i n mir in eine b e s s e r e W e l t , den u n v e r g ä n g l i c h e n W o h n p l a t z d e r t u g e n d h a f t e n S e e l e n , folgen wird: diese Handlungen haben mir euern Unwillen zugezogen. (302f.) 176

Dieser Strang des radikalen Rückzugs auf die unbetreffbare Superiorität moralischen Selbstgefühls markiert eine äußerste hypothetische M ö g lichkeit, das Glücksproblem des Romans z u erledigen. A b e r die A u f gabe, die Erfolgsaussichten und objektiven Glücksmöglichkeiten moralischen Handelns im literarischen Exempel zu demonstrieren, wäre damit nicht gelöst, sondern allenfalls durch eine petitio principii umgangen. Z u d e m läßt, wie wir gesehen haben, der Psychologe Wieland keinen Zweifel daran, wie unrealistisch die Zumutung wäre, das Subjekt möge sich von allen Weltbindungen um der Reinheit seiner Gesinnung willen dispensieren. Die gesellschaftsfeindliche Misanthropie Agathons in Syrakus vermochte ja keine dauerhafte Identität zu begründen; sie bedeutete einen labilen, exzentrischen, permanent gefährdeten Übergangszustand. A u s diesem Grunde müssen der Tugend objektive Korrelate schon in dieser Welt in Aussicht gestellt werden. In der Tat rekurriert der Roman auf das Postulat einer innerweltlichen Entsprechung von Verdienst und Erfolg und versucht, auch bereits vor dem Tarent-Finale, es im Handlungsgang einzulösen. Welcher Mittel sich Wielands Erzählen z u diesem m 176

M c C a r t h y , Fantasy and Reality, Kap. 3, sieht darin die idealistische Pointe des ganzen Romans. Hervorhebung v o n mir, W F .

456

prekären Zweck bedient, läßt sich am leichtesten an einem Beispiel veranschaulichen; wir wählen wiederum eine Gelenkstelle zwischen zwei topographischen Stationen in Agathons Lebenslauf: Durch die erotischen Kabalen der Priesterin Pythia von Psyche getrennt und zur Flucht aus Delphi genötigt, irrt der Held, auf der Suche nach der Geliebten, ziellos umher. »Der Zufall oder eine mitleidige Gottheit« (259) führt ihn nach Korinth. Hier weiß sich der Ermattete keinen Rat mehr. Vor einem prächtigen Landgut, im Schatten einer Zypresse, überläßt er sich seiner Niedergeschlagenheit und »melancholischen Gedanken«, welche »durch die Erinnerung meiner vergangnen Glückseligkeit, und durch das Bewußtsein, daß ich mein Elend durch keine Bosheit des Herzens oder irgend eine entehrende Übeltat verdient hätte, noch empfindlicher« (259) werden. In dieser mit konventionellen Elends- und Verlassenheitstopoi übersäten Standardszene unverschuldeten Unglücks sucht der Held schließlich Erleichterung, indem er sich, in einem suggestiven Monolog - er selbst spricht gegenüber Danae, der er die Szene berichtet, vom »wohltätigen Einfluß dieser glückseligen Schwärmerei, welche die Natur dem empfindlichsten Teil der Sterblichen, zu einem Gegenmittel gegen die Übel, denen sie [ . . . ] ausgesetzt sind, gegeben zu haben scheint« —, an die »Unsterblichen« wendet, »mit denen meine Seele schon so lange in einer Art von Gemeinschaft gestanden war« (260). Die Elevation zu den Göttern, die Überzeugung, ihnen sei kein Lebensumstand verborgen, hat große affektive Wirkungen. Sie ermöglicht Agathon eine positive Sinnvermutung gegenüber dem eigenen Schicksal und die visionäre Gewißheit, auch der Freundin könne unter dem Schutz der Götter nichts Schlimmes widerfahren sein: »Ich sehe meine Psyche unter ihre Flügel gesichert« (260). Die wiedergewonnene Zuversicht mündet, in steilem rhetorischem Kontrast gegen die anfängliche Verzweiflung, in einen hymnischen Lobpreis des ganzen Weltalls und seiner moralisch gerechten Einrichtung: Nein, rief ich aus, d i e U n s c h u l d k a n n n i c h t u n g l ü c k l i c h s e i n , n o c h d a s L a s t e r s e i n e A b s i c h t e n g a n z e r h a l t e n ! In diesem majestätischen All, worin Sphären und A t o m e n sich mit gleicher U n t e r w ü r figkeit nach den Winken einer weisen und wohltätigen Macht bewegen, w ä r es Unsinn und Gottlosigkeit, sich einer entnervenden Kleinmut zu überlassen. - Mein Dasein ist der Beweis, daß ich eine Bestimmung habe. [ . . . ] U n d g i b t m i r n i c h t d i e N a t u r e i n u n v e r l i e r b a r e s R e c h t an E r h a l tung und jedes wesentliche Stück der Glückseligkeit,

457

s o b a l d ich meine K r ä f t e a n w e n d e die P f l i c h t e n zu

erfüllen,

d i e m i c h m i t d e r W e l t v e r b i n d e n ? (26ο)177

Bemerkenswert ist diese Passage zunächst durch die Entschiedenheit, mit der sie ethikotheologische Postulate (die notwendige Inkommensurabilität von Unschuld und Unglück bzw. von Laster und Erfolg; den »Beweis« einer teleologischen »Bestimmung« des Menschen aus dem reinen Faktum seiner Existenz) aus physikotheologisch interpretierten Beobachtungen ableitet: das mechanische Kontinuum eines im Größten (»Sphären«) wie im Kleinsten (»Atome«) durch einen göttlichen Demiurgen geordneten »majestätischen Alls« - die Attribute jener »weisen und wohltätigen Macht«, nach deren »Winken« sich alles bewegt, sind identisch mit denen der metaphysischen Tradition: Allmacht, Allwissenheit, Allgüte - soll den Analogieschluß nahelegen, auch in den menschlichen Belangen herrschten prinzipiell Ordnung und Verläßlichkeit. Diese fundamentale Sinnunterstellung gilt unter einer einzigen Voraussetzung: daß das Subjekt sich den Geboten jener Moral gemäß verhalte, durch die der spezifisch humane und soziale Bereich an die kosmische Ordnung angeschlossen und mit ihr vermittelt sei. Man muß sich die Quasi-Gesetzlichkeit der hier postulierten weltimmanenten Reziprozität von Pflichterfüllung und Glücksanspruch ganz klarmachen, um den exorbitanten Optimismus des Dogmas zu begreifen. Wenn Agathon annehmen darf, er erwerbe durch gewissenhafte Erfüllung der moralischen Pflichten, die ihn »mit der Welt verbinden«, ein »unverlierbares Recht an Erhaltung und jedes wesentliche Stück der Glückseligkeit«, so läuft diese Behauptung in letzter Konsequenz auf die quasi-juridische Wechselverpflichtung eines ethikotheologischen Do ut í/es-Prinzips hinaus. Erinnert man sich daran, daß Hippias (und in modifizierter Form auch Aristipp) das notwendige Unglück eines moralisch bestimmten Verhaltens in den gegebenen Wirklichkeiten des Romans behauptet hatten, so tritt in Agathons Junktim von Moralität und Glückseligkeit schlaglichtartig die äußerste Antithetik der Weltanschauungen hervor. Nun ließe sich gerade dieses Postulat erzählperspektivisch relativieren; man bräuchte es nur als Figurenrede des >Schwärmers< Agathon zu 177

Hervorhebung von mir, WF. - Für Entsprechungen und Varianten dieser Postulate im Denken der Epoche siehe auch Gonthier-Louis Fink: »Laster ist oft Tugend«. Das 18. Jahrhundert im Spiegel des moralischen Paradoxes. In: L. Forster und H . G . Roloff (Hg.): Beiträge zum Symposion >Deutsche Literatur des 18.JahrhundertsLauf der Welt< verpflichteten Erzählkontext wahrscheinlicherweise nur schlecht ergehen kann, müssen es die Unsterblichen so unwahrscheinlich gut mit Agathon meinen. An den Grenzen der Autonomie des moralisch bestimmten Subjekts, dort, wo Agathon Niederlagen drohen, bedarf Wielands Erzählen also einer heteronomen, zu den Gesinnungen der Zentralfigur komplementären Überinstanz, die empirische Widerstände bricht und trotz der realen Ohnmacht des Helden seinen objektiven Erfolg gewährleistet und sichert. Das erzählstrukturelle Indiz solcher Korrekturen der Erfahrungswelt durch transzendente Intervention sind die glückhaften Zufälle und providentiell verfügten Koinzidenzen der Handlung, ihr hermeneutisches Prinzip ist das der Umdeutung manifesten Übels in ein Medium latenten Heils. Ohne diese teleologische Kompensationslogik müßte es, nach einer auktorialen Bemerkung, die das Heilsame an Hippias' denunziatorischen Enthüllungen über Danaes Vorleben zu erläutern sucht, als »ganz natürliche Folge« der »fast alltäglichen Erfahrungs-Wahrheit« gelten, »daß das Böse in einer immer wachsenden Progression zunehmen, und, wenigstens in dieser sublunarischen Welt, das Gute zuletzt gänzlich verschlingen« (332) werde. Aber diese pessimistische Extrapolation negativer Erfahrung soll eben unbegründet sein, weil es, wie der Erzähler in exemplarischer Formulierung der Dialektik von malum und optimum*™ fortfährt, »aus einer eben so gemeinen Erfahrung [!] richtig« sei, daß die Bemühungen der Bösen, so glücklich sie auch in der A u s f ü h r u n g sein mögen, doch gemeiniglich ihren eigentlichen Z w e c k verfehlen, und das G u t e

•79 Siehe Marquard, Glück im Unglück (wie Kap. 5, Anm. 93), bes. S. 27f.

461

durch eben die Maßregeln und Ränke, w o d u r c h es hätte gehindert werden sollen, weit besser befördern, als wenn sie sich ganz gleichgültig

dabei

verhalten hätten. ( 3 3 2 )

Die These vom Instrumentalcharakter des Bösen, das trotz zeitweiliger vordergründiger Erfolge im Endeffekt in sein Gegenteil umschlage und sich als Medium einer teleologischen Mittel-Zweck-Relation zur Optimierung der Welt erweise, ist im Verlauf dieser Untersuchung bereits vielfach begegnet; sie gehört in das Repertoire der gängigen optimistischen Repliken auf die im Prozeß der Theodizee vorgebrachten Anklagen.'80 Konnte aber der barocke Geschichtsroman, wenn er sich auf dieses metaphysische Dogma berief, erfahrungsmäßige Einwände als illegitim zurückweisen, weil die in ihrer Reichweite beschränkte menschliche Wahrnehmung und Einsicht zum Urteil über die Ordnungszusammenhänge des komplexen Weltganzen gar nicht befähigt sei - man denke an das nicht zu enträtselnde Orakel der >Asiatischen BaniseAgathonAlls< zu begreifen sind (wie Blanckenburg fraglos unterstellte) oder nur mehr als, womöglich kontrafaktische, Setzung des Erzählers kraft ästhetischer Legitimation. Die >Geschichte 18

4 Z. B. durch Oettinger, Phantasie und Erfahrung, S. 9 4 I

18

5 Laurence Sterne, op. cit., S. 197.

46 J

des Agathon< hält ihren eigenen ontologischen Status auf bemerkenswerte Weise in der Schwebe: Ist der Erzähler in der Souveränität seiner Verfügungen noch immer, wie in der >Asiatischen BaniseAgathon< und Kants Postulate der praktischen Vernunft Daß die bisherige Deutungsgeschichte des >Agathon< zu einem guten Teil dem Nachweis literarisch-stilistischer Abhängigkeiten und philosophischer Einflüsse und Filiationen galt, ist nicht erstaunlich, wurde ein entsprechendes Vorgehen doch schon durch Wielands eklektische Belesenheit in den antiken und zeitgenössischen Schriftstellern nahegelegt und durch die Quellenverweise und gelehrten Kommentare des poeta doctus - man denke nur an die Ausführungen >Uber das Historische im AgathonCitatio edictalis< aus dem zweiten Jahrgang des >Athenäum< (1799), in der »über die Poesie des Hofrat und Comes Palatinas Caesareus Wieland in Weimar, auf Ansuchen der Herren Lucian, Fielding, Sterne, Bayle, Voltaire, Crebillon, Hamilton und vieler andern

l8Ä

Vgl. GdA (1794), S. 19-29.

466

Autoren Concursus Creditorum eröffnet«18? wurde, ist ja, sieht man von dem unsinnigen Plagiatsvorwurf ab, ein Moment objektiver Berechtigung, ein durch literaturtaktische Ranküne nur pervertierter Sinn für die europäische und kosmopolitische Dimension von Wielands Œuvre nicht abzusprechen. Diese Einsicht kann heute als literarhistorischer Gemeinplatz gelten, und zumindest für die Interpretation des Hauptromans hat die Forschung die Konsequenz gezogen und das mögliche Spektrum genetisch-philologischer Quellenanalysen so weit ausgemessen, daß künftige Untersuchungen hier kaum noch grundlegend Neues zutage fördern werden. Es ist denn auch keineswegs beabsichtigt, mit den folgenden Überlegungen aus dem gedanklichen Horizont der kantischen Philosophie etwa neue Hypothesen zur Genese des >Agathon< und zu Wielands intellektueller Biographie zu formulieren oder bestehende Theorien zu stärken. Zwar hat, neben den Verweisen auf Plato, Leibniz, Shaftesbury oder pietistische Frömmigkeitsspuren einerseits, auf Einflüsse des englischen Empirismus und des französischen Sensualismus und Materialismus andererseits, in der Interpretationsgeschichte unseres Romans stets auch die Vermutung einer kantischen Inspiration besonders der dritten Fassung eine gewisse Rolle gespielt (so deutlich bei Erich Groß in seinem stark typologisierenden Fassungsvergleich188 und, speziell für die Deutung des Archytas und seiner >LebensweisheitGeschichte des AgathonAgathon«, Germanic Review X X I V , 1949, S.8-17. '9° Zit. bei Groß, Entstehungsgeschichte, S. 142.

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Bemerkungen zu einigen philosophischen Schlüsselfragen des Romans aus dem Blickwinkel der systematischen Philosophie Kants ist daher allein die Konvergenz der Probleme in literarischem Werk und philosophischem System, oder anders: Wir wählen den philosophischen Gedanken Kants zum Erklärungshintergrund unserer Romaninterpretation, weil hier mit einer für die ganze Epoche einzigartigen Stringenz Fragestellungen erfaßt und auf den Begriff gebracht sind, die sich uns in der Deutungssemantik des literarischen Weltentwurfs bei Wieland bereits dargestellt haben. Angesichts dieser Ubereinstimmung aus der Logik der Sache ist die Suche nach direkter Beeinflussung unerheblich; daß Kant und Wieland auf unabhängigen Wegen zu parallelen Erwägungen in Zentralfragen der Welterklärung gelangen konnten, ist in Anbetracht einer Thematik, die das Jahrhundert faszinierte wie kaum eine andere, nichts weniger als sensationell und spricht im übrigen für die objektive Triftigkeit der Problematik und der Lösungsversuche. Das Merkmal der Zeitgenossenschaft, der Zeitbindung von Philosophie wie Literatur, liefert einen zureichenden hermeneutischen Rechtfertigungsgrund unseres Vorgehens. Dessen Prämisse hat Rüdiger Bubner bündig so formuliert: Die Zeit tritt der Philosophie gegenüber in Gestalt eines konkret strukturierten Komplexes von Fakten und Traditionen, der sich einheitlich zur Physiognomie einer Epoche zusammenschließt. Die historische Substanz, die der bestimmten Zeit das Gepräge verleiht, entbehrt des Begriffs und kommt gänzlich ohne Philosophie aus. Was im herrschenden Zeitbewußtsein aber unerkannt bleibt, die insgeheim wirkenden Elemente, die tiefsitzenden D o g men, die gemeinsam getragenen Aporien, ruft Philosophie auf den Plan und ist die Herkunft ihrer Probleme. 1 ' 1

Weil Analoges für die Literatur gilt, sofern auch diese Medium von Erkenntnis zu sein beansprucht - ihre Zeit in Gedanken u η d in Bilder der sinnlichen Vorstellung gefaßt - , weil also Literatur und Philosophie in denselben historischen Konstellationen fundiert sind, sind sie überhaupt vergleichbar, und erst die Annahme eines beiden gemeinsamen Substrats lebensweltlicher Erfahrung als tertium comparationis läßt es dann auch zu, die jeweilige Leistung und den spezifischen Erkenntnismodus beider Disziplinen zu differenzieren. In diesem Sinn soll Wielands Roman in den folgenden Überlegungen weder genetisch-quellen-

•91 Rüdiger Bubner: Ü b e r die wissenschaftstheoretische Rolle der Hermeneutik. Ein Diskussionsbeitrag, in ders.: Dialektik und Wissenschaft, Frankf./M. 1973, S. 8 9 - 1 1 1 , hier S. 110.

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geschichtlich aus der kantischen Philosophie erklärt noch via reductionis in sie hinein »aufgehoben«, vielmehr in sachgemäßer und bestimmter Weise von ihr abgehoben werden. Wenn es ein Proprium literarischer Erkenntnis gibt, dann wird es sich gerade im Vergleich mit philosophisch-systematischen Behandlungsweisen derselben epochalen Bezugsprobleme darstellen. Unsere Analyse der ambivalenten Entwicklungslinien und der heterogenen Deutungssemantik der >Geschichte des Agathon< hat, in mannigfacher Verzweigung, ein konstitutives Dilemma des moralphilosophischen Romanexperiments sichtbar gemacht: das programmatisch auf Empirisierung und lebensweltliche Plausibilität verpflichtete Erzählen sah sich regelmäßig zu epistemologisch prekären Ausdehnungen, wo nicht gar zur Suspension seines Erfahrungsbegriffs genötigt, um die ebenfalls apriorisch postulierte Entsprechung von moralischem Verdienst und Lebenserfolg im Schicksal des Helden veranschaulichen zu können. Aus der Gegenläufigkeit empirisch-deskriptiver und moralischnormativer Erzählpostulate resultierte ein hochkomplexes literarischgedankliches Gefüge: das teilweise überlegene argumentative Gewicht der moralisch fragwürdigen philosophischen Antagonisten gegenüber dem ethisch favorisierten tugendhaften Helden, ein häufig unklares Verhältnis von Kausalität und Finalität, ein zwischen den Extremen klassischer Theodizee- und Providenz-Argumente und deren ironischer Mediatisierung zur artifiziellen Setzung aus ästhetischer Souveränität vieldeutig oszillierender Status des Erzählten mit einer entsprechend vielschichten Semantik, schließlich der zwischen sittlichem Elitarismus und realer Hoffnungslosigkeit, zwischen Selbstbestimmung aus Gewissensautonomie und heteronomer Abhängigkeit von transzendenten Instanzen instabil schwankende Werdegang Agathons mit seinem latenten Doppelschluß waren einige der Folgen. Wir haben diese dichte Bündelung von Problemen nicht als den Makel gedanklicher Inkonsequenz, sondern als ein Symptom philosophischer Aktualität, ja als das eigentlich >aufklärerische< Moment des Romans bestimmt und wollen diese Behauptung durch einige Hinweise auf Kant nunmehr präzisieren und erhärten. Dessen philosophisches Werk der kritischen Periode stößt, im Berührungsbereich von Erkenntnistheorie, Metaphysik und Ethik, auf dasselbe Syndrom von Fragen, das Wielands Roman grundiert, und trägt ihren Antagonismus mit unerbittlicher systematischer Schärfe aus. Die erkenntnistheoretischen Zusammenhänge sind bekannt: Mit der Eingrenzung aller möglichen Erkenntnis auf den Gegenstandsbereich 469

möglicher Erfahrung verfällt die gesamte Tradition der philosophischen Metaphysik als »einer ganz isolierten spekulativen Vernunfterkenntnis, die sich gänzlich über Erfahrungsbelehrung erhebt«192 und sich als ein »bloßes Herumtappen [...] unter bloßen Begriffen« 1 " darstellt, dem Verdikt epistemologischer Illegitimität. In der Überschreitung der »Erfahrungsgrenze« 194 begibt sich die spekulative Vernunft ihres unverzichtbaren Substrats; daher muß ihr »alles Fortkommen in diesem Felde des Ubersinnlichen abgesprochen« 19 ' werden. Die transzendentale Dialekt i k der >Kritik der reinen VernunftGlückseligkeit< definiert Kant präzise als den »Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht«. K p V , S. 124. 221 Vgl. Becks Kommentar (wie Anm. 207), S. 2 5 0 - 2 5 6 . Ebd., S. 227. 120

474

wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, g a r n i c h t men

zusam-

bestehen.213

Kants theoretische Antwort ist der Entwurf einer Postulatenlehre der praktischen Vernunft, die, unter dem Leitbegriff des höchsten Guts214 (und wiederum in Parallele zu Wielands Erzählprogramm), die strikt proportionale Entsprechung von Verdienst und Erfolg oder von Moralität und Glückseligkeit als durch Vernunft geforderte Synthesis zu deduzieren sucht. Dieser Doktrin liegt die Ablehnung zweier Lösungsversuche der philosophischen Tradition zugrunde, die sich durch jeweils einseitige Akzentuierung e i n e r Komponente des >höchsten Guts< als unzulänglich erwiesen: nach Kants Auffassung sind eine Ethik aus epikureischem und aus stoischem Geist gleichermaßen unhaltbar. Die Begründung ist lapidar: »Der Begriff der Tugend lag nach dem Epikureer schon in der Maxime, seine eigene Glückseligkeit zu befördern; das Gefühl der Glückseligkeit war dagegen nach dem Stoiker schon im Bewußtsein seiner Tugend enthalten.«22' Die hedonistische Ethik der Epikureer - die Weltsicht des Hippias im Roman - vertritt also von vornherein »ein ganz falsches Princip der Sitten«;226 ihr oberstes Ziel: Glückseligkeit, verstanden als je individuelle Erfüllung heterogener Neigungen und sinnlicher Begierden, vermag keine vernunftmäßigen Verallgemeinerungen mit dem Anspruch auf gesetzliche Autorität zu tragen, denn sie läßt allein pragmatische Imperative und Klugheitsregeln, kurz: vom Eigeninteresse diktierte Verhaltensmaximen, zu. - Die Stoiker dagegen haben zwar »ihr oberstes praktisches Prinzip, nämlich die Tugend, als Bedingung des höchsten Guts ganz richtig gewählt.« 227 Sie unterliegen aber einer anthropologischen Illusion, wenn sie ihr Ideal des von Leiden unbetreffbaren Weisen »als in diesem Leben völlig erreichbar« vorstellen, alle natürlichen Prädispositionen der conditio humana als ethisch irrelevant abtun, was »aller Menschenkenntniß widerspricht«,228 und in summa eine Verhaltenslehre des reinen Vorsatzes konstruieren, für die Glückseligkeit tautologisch mit dem Bewußtsein

22

î KpV, S. n o (Hervorh. von mir, WF). Beck, Kommentar, S. 253, verweist auf die aus der britischen Philosophie übernommene »Figur des interesselosen Beobachters« in Kants Argumentation. " 4 Zur Definition vgl. K p V , 2. Buch, 2. Hauptstück (»Von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut«), S. 1 i o f . " 5 KpV, S. 1 1 2 . KpV, S. 126. " 7 Ebd. 128 KpV, S. 127.

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sittlicher V o r t r e f f l i c h k e i t unter A b s e h u n g v o n jeglicher R e a l i t ä t s p r ü f u n g zusammenfällt.22' Seine eigene L e h r e versteht K a n t dezidiert als p h i l o s o p h i s c h e E n t f a l t u n g einer christlichen E t h i k . 2 ' 0 H i e r n a c h m ü s s e n alle atheistischen o d e r auch

nur

nicht-theologischen

Begriindungsversuche

im

Bereich

der

M o r a l p h i l o s o p h i e a m E n d e in R a t l o s i g k e i t m ü n d e n , w e i l es ihnen n i c h t gelingt, ein G a r a n t i e p r i n z i p z u f i n d e n , das s u b j e k t i v - i n t e n t i o n a l e M o r a lität m i t d e r A u ß e n w e l t z u s a m m e n s c h l i e ß t u n d eine z u v e r l ä s s i g e G e w ä h r ihres o b j e k t i v e n E r f o l g e s bietet: der N e x u s v o n M o r a l i t ä t u n d G l ü c k s e ligkeit w i r d

kontingent.231

Demgegenüber

e n t w i c k e l t die >Kritik

der

Diese Kritik der stoischen Ethik wirkt nicht ganz überzeugend; sie ist von eigentümlich empirisch-anthropologischen Rücksichten geprägt, die gerade Kants transzendentalem Ansatz eigentlich fernliegen sollten. Ich kann mich daher der Auffassung von John Leslie Mackie (Die Ohnmacht moralischer Gottesbeweise. In: Glaube und Vernunft. Texte zur Religionsphilosophie, hg. von N . Hoerster, München 1979, S. 73-80) nicht verschließen, der in Kants Junktim von Moralität und Glückseligkeit den »Schatten der populären Sichtweise von der Funktion von Belohnungen und Strafen« gewahrt und der stoischen Konzeption die höhere moralische Dignität zugesteht: »Müßte die konsequente Anerkennung einer autonomen Moral nicht zu der stoischen Anerkennung führen, wonach Sittlichkeit kein reales Glück erfordert - außer dem Bewußtsein, das mit dem moralisch richtigen Handeln als solchem verbunden ist?« (Ebd., S. 77). 2 )° Vgl. insbesondere KpV, S. 128, mit der Statuierung eines Komplementärverhältnisses von moralischer Autonomie und christlicher Sittenlehre: »Aber das moralische Gesetz für sich verheißt doch keine Glückseligkeit; denn diese ist [ . . . ] mit der Befolgung desselben nicht nothwendig verbunden. Die christliche Sittenlehre ergänzt nun diesen Mangel [ . . . ] durch die Darstellung der Welt, darin vernünftige Wesen sich dem sittlichen Gesetze von ganzer Seele weihen, als eines Reichs Gottes, in welchem Natur und Sitten in eine jeder von beiden für sich selbst fremde Harmonie durch einen heiligen Urheber kommen, der das abgeleitete höchste Gut möglich macht.« Die Christen haben also den Vorteil, daß »wir hoffen können, daß, was nicht in unserm Vermögen ist, uns anderweitig werde zu statten kommen, wir mögen nun wissen, auf welche Art, oder nicht«. Die Parallelen zur Autonomie-Heteronomie-Thematik im >Agathon< liegen auf der Hand! - Für Friedrich Delekat (Immanuel Kant. Historischkritische Interpretation der Hauptschriften, 2. Aufl. Heidelberg 1966, S. 307) ist Kants Postulatenlehre »ein durch den Pietismus vorbereiteter, ins Philosophische gewendeter Versuch, den Gegensatz zwischen der radikalen ethischen Norm und den begrenzten Möglichkeiten ihrer innerweltlichen Verwirklichung rational begreiflich zu machen. Das Postulat tritt an die Stelle der eschatologischen Spannung, in der man >vom Ende her< lebt.« 2 I 3 Welche affektiven Widerstände sich dem Gedanken einer moralisch kontingenten Welt entgegenstellen, belegt eindringlich eine Passage aus dem § 87 der >Kritik der UrteilskraftGeschichte des A g a thons in deren moralteleologischer Deutungssemantik das Postulat weltimmanenter Reziprozität von Pflichterfüllung und Glücksanspruch als quasi-juridisches Do ut des-Prinzip

eine Schlüsselrolle spielt. 23 ' Wie

bei Wieland, so findet auch in der kantischen Argumentation ein Wechselspiel von Autonomie und Heteronomie des moralischen Subjekts statt: frei in der subjektiven Motivation seiner Handlung, bleibt der Handelnde bezüglich des faktischen Erfolgs von äußeren Bedingungen abhängig, die seiner Verfügung entzogen sind. Selbst ein sittlich vollkommener Wille (Kant belegt ihn mit dem Prädikat der »Heiligkeit« und leitet aus seiner empirischen Unmöglichkeit den Gedanken einer unendlichen Approximation an die vollendete Tugend ab: daraus folgt das Postulat der Unsterblichkeit) 236 wäre daher zwar subjektiv vollkommen glückswäWtg - sein tatsächliches Glück, wie das Ideal des >höchsten

vielmehr nur das Gute stiften, wozu jenes heilige Gesetz allen seinen Kräften die Richtung giebt. Aber sein Bestreben ist begränzt; und von der Natur kann er zwar hin und wieder einen zufälligen Beitritt, niemals aber eine gesetzmäßige und nach beständigen Regeln [ . . . ] eintreffende Zusammenstimmung zu dem Zwecke erwarten, welchen zu bewirken er sich doch verbunden und angetrieben fühlt. Betrug, Gewaltthätigkeit und Neid werden immer um ihn im Schwange gehen, ob er gleich selbst redlich, friedfertig und wohlwollend ist; und die Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft, werden unangesehen aller ihrer Würdigkeit glücklich zu sein dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes gleich den übrigen Thieren der Erde unterworfen sein und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesammt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt und sie, die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurück wirft, aus dem sie gezogen waren.« (S.452). 232 KpV, S. 126. 233 Vgl. Beck, Kommentar, S. 236-238. »Vor Kant entsprach der Gegensatz zwischen Glaube und Vernunft dem Gegensatz zwischen Offenbarungstheologie und Philosophie. Indem Kant mehrere Arten von Glauben unterscheidet, kann er eine davon gleichsam gezähmt und domestiziert in die Philosophie hineinnehmen.« (Ebd., S. 236). 2 54 KpV, S. 1 1 0 . 2 JS Vgl. oben, S.457Í. 236 Vgl. K p V , S. 122 ff. (»Die Unsterblichkeit der Seele, als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft«); K r V , Β 839ff. - Siehe dazu Beck, Kommentar, S. 244-2 $0.

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Guts< es fordert, ginge aus der Güte seines Charakters indes keineswegs hervor.23? Daher ist auch die Moral nicht eigentlich die Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen. Nur dann, wenn Religion dazu kommt, tritt auch die Hoffnung ein, der Glückseligkeit dereinst in dem Maße theilhaftig zu werden, als wir darauf bedacht gewesen, ihrer nicht unwürdig zu sein.238

Das ist der Kern von Kants Argument: Um das praktische Vernunftideal des höchsten Guts als realisierbar denken zu können, muß der objektiven Wirklichkeit, d.h. der Natur als der Gesamtheit des welthaft Seienden unter Einschluß auch der Sphäre sozialer Intersubjektivität, eine moralische Teleologie zugeschrieben werden dürfen. >Natur< selbst muß so vorgestellt werden, daß sie mit subjektiv-moralischen Zwecksetzungen aus Freiheit kompatibel ist, ja letztlich konvergiert. Dies aber ist für Kant »nur möglich, so fern eine oberste Ursache der Natur angenommen wird, die eine der moralischen Gesinnung gemäße Causalität hat«, 23 ' und das besagt: »es ist moralisch nothwendig, das Dasein Gottes anzunehmen.«2*0 Nur durch die Annahme eines »heiligen und gütigen Welturhebers«, 241 durch das Postulat einer »moralische[n] Weltursache« 242 hat ein Handeln aus moralischen Prinzipien Grund, mit seinem objektiven Gelingen zu rechnen. Freilich sind diese postulatorischen Sätze »nicht theoretische Dogmata, sondern Voraussetzungen in nothwendig praktischer Rücksicht.« 243 Der moralische Gottesbeweis bleibt eine abhängige Funktion des Vernunftglaubens an die Wirklichkeit und Wirkungsmächtigkeit des Sittengesetzes und an die notwendige Verknüpfung von Sittlichkeit und Glückseligkeit; er hat den Charakter des »Fürwahrhaltens«244 und konstituiert keine Erkenntnis im strengen theoretischen Sinn. 24 ' 2

37 Für eine gründliche Diskussion siehe neuerdings Steven G . Smith: Worthiness to be Happy and Kant's Concept of the Highest Good, in: Kant-Studien 75, 1984, S. 1 6 8 - 1 9 0 .

3 8 K p V , S. 130; Hervorh. im Original. 39 K p V , S. 125. 2 4® Ebd.

2

2

241

K p V , S. 129. K d U , § 87 (»Von dem moralischen Beweise des Daseins Gottes«), S. 450. 243 K p V , S. 132. 2 44 Vgl. K p V , S. 142 ff. (»Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der reinen Vernunft«); K d U , § 90 (»Von der Art des Fürwahrhaltens in einem teleologischen Beweise des Daseins Gottes«); KrV, Β 848ff. (»Vom Meinen, Wissen und Glauben«). 2 45 Nach O d o Marquard: Kunst als Antifiktion - Versuch über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive. In: Funktionen des Fiktiven, op. cit., 8 . 3 5 - 5 4 , sind Kants Postulate 242

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Wir überlassen es der philosophischen Forschung, Tiefen und Untiefen der kantischen Konstruktion auszuloten, 146 und wenden uns statt dessen noch einmal zum Vergleich mit Wielands >Agathon< zurück. Die Affinität in Problemansatz und Lösungsversuch dürfte deutlich geworden sein: hier wie dort ein strenger, erfahrungsgebundener Begriff von Wahrheit und Erkenntnis, hier wie dort zugleich die Ablehnung einer naturalistischen, epikureischen Ethik, aber auch Skepsis gegenüber der Weltverzichtshaltung stoischer Ataraxie. Kants Philosophie wie W i e lands philosophischer Roman halten am Ideal einer objektiven Entsprechung und Erfüllung subjektiver Moralität, also an einem notwendigen Junktim von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit, fest und sind doch realistisch genug, um, für die historisch-empirisch gegebenen Sozialzusammenhänge, die Wirklichkeitsferne dieses Leitbildes einzuräumen. Beide Konzeptionen beziehen aus dieser eingestandenen Seins-SollensDiskrepanz ihren eigentümlich kontrafaktischen und postulatorischen Charakter, und beide versuchen, die Vorstellung der Natur als eines durchgängigen mechanischen Kausalzusammenhangs mit dem Gedanken einer moralischen Teleologie der objektiven Welt zusammenzudenken. Die damit geforderte problematische Synthesis von empirischer Kausalität und normativer Finalität konstruieren Kant wie Wieland trotz ihres auf mögliche Erfahrung festgelegten Wahrheitsbegriffs unter R ü c k griff auf traditionelle theologische Denkmotive, und zwar zentral durch

»Als-obs«, »handlungsdienliche Fiktionen«: »Wir müssen - meint Kant - handeln, >als ob< Gott existierte; denn: wir müssen Gott postulieren, um zuversichtlich bleiben zu können, daß über Folgen und Nebenfolgen des sittlich unbedingten Handelns hinweg ein guter Ausgang der Dinge sich herstellt. Wo die Gesinnungsethik auf Kosten der Verantwortungsethik regiert, kann nur noch Gott helfen: darum muß er notfalls fingiert werden; in diesem Sinne braucht auch gerade der autonome Mensch Religion.« (S. 38). Zu Recht erinnert Marquard an Voltaires Diktum: »Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer« (S. 43). 2 6 4 Mackie, Die Ohnmacht moralischer Gottesbeweise, S. 79, benennt die m. E. entscheidende Schwäche der gesamten Konstruktion: »Eine Reihe von Uberzeugungen oder >Intuitionen< darüber, wie man handeln soll, kann keinen guten Grund für die Entscheidung einer Tatsachenfrage abgeben. Auf dieser Basis können wir nicht herausfinden, was der Fall ist, oder auch nur entscheiden, was wir für praktische Zwecke als wahr ansehen sollen. Praktische Entscheidungen müssen auf Faktenannahmen gestützt werden und nicht umgekehrt.« - Triftig auch der Einwand Weischedels, Der Gott der Philosophen, S. 2 1 2 : daß alle Menschen nach Glück strebten, sei »als Aussage über ein Faktum sicherlich unbestreitbar. Anders steht es dagegen mit der weiteren These, daß die Glückseligkeit dem zukommen müsse, der dem moralischen Gesetz gehorcht. Das mag ein einsichtiger Wunsch des moralisch existierenden Menschen sein. Daß es aber, wie Kant behauptet, aus der Sache heraus eine solche Verknüpfung geben müsse, ist keineswegs ebenso einsichtig.«

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die Annahme einer moralkonformen göttlichen Weltursache, die, jenseits subjektiver Autonomie, die Koinzidenz von moralischer Gesinnung und Weltgeschehen sicherstellt. Beide Denkmodelle kommen demnach darin überein, daß sie die Vermittlung von Subjekt und Welt nicht, wie Hegel, von der vernünftigen Realität sozialer Institutionen erwarten, in deren objektiver Sittlichkeit die durch Freiheit konstituierte Identität des Subjekts sich konkretisiere und, wiedererkenne,247 und ebenso unterscheiden sich beide Konzeptionen von Schillers Entwurf einer ästhetischen Regeneration des mit seiner Umwelt entzweiten Subjekts, 248 mit dem sie nur die Skepsis gegenüber politischen Lösungen teilen. Kants und Wielands Versuche, eine moralische Teleologie der objektiven Welt zu begründen, bleiben in stärkerem Maße der christlichtheologischen Tradition verpflichtet: als Bedingung der Möglichkeit einer Synthese von Tugend und Erfolg gilt in beiden Fällen die Annahme einer transempirischen göttlichen Uberinstanz der Geschichte, durch deren absolute Verfügungsgewalt >Natur< zum objektiven Komplement subjektiver Moralität modelliert wird. Schließlich aber ist Kants wie Wielands Synthesis geprägt von einem klaren Bewußtsein ihres heuristisch-funktionalen Status; mit den je eigenen - transzendentalphilosophischen bzw. narrativ-diskursiven - Mitteln reflektieren beide Entwürfe den Geltungsanspruch und die Tragweite ihrer Lösung und manifestieren so, gerade im Rekurs auf Theologumena aus der Tradition christlicher Dogmatik, ihre aufklärerisch-kritische Dimension. Hier nun hat es den Anschein, als falle Kant die vergleichsweise leichtere Aufgabe zu. Indem die Postulatenlehre ihren eigenen Status von vornherein als praktischen >Vernunftglauben< bestimmt und vom Modus theoretischer Erkenntnis sensu stricto klar unterscheidet, indem sie sich also auf noumenale und nicht auf phänomenale Gegebenheiten beruft (den >mundus intelligibilishöchsten Guts< 47 Vgl. Joachim Ritter: Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik. In ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankf./M. 1977, S. 2 8 1 - 3 0 9 . 2 4 8 Dazu jetzt vorzüglich Klaus Disselbeck: Geschmack und Kunst. Eine systemtheoretische Untersuchung zu Schillers Briefen >Über die ästhetische Erziehung des MenschenTeutschen M e r k u r < a u s d e n a c h t z i g e r J a h r e n ( n a m e n t l i c h in den > G e d a n k e n ü b e r d e n f r e i e n G e b r a u c h d e r V e r n u n f t in G e g e n s t ä n d e n des G l a u b e n s « , 2 ' 1 i m A u f s a t z > U e b e r d e n H a n g d e r M e n s c h e n , an M a g i e u n d G e i s t e r e r s c h e i n u n g e n z u glauben< 2 ' 2 s o w i e i m > G e h e i m n i ß

des K o s m o p o l i t e n - O r d e n s * ) 2 ' 3

sehr

w e i t r e i c h e n d e , ja m i t u n t e r f r a p p i e r e n d e g e d a n k l i c h e Parallelen z u d e n Vorstellungen und Postulaten Kants nachzuweisen.2'4 - D e r G e g e n s a t z , u m dessen P r o f i l i e r u n g es uns hier z u t u n ist, ist d e n n a u c h k e i n e r d e r p h i l o s o p h i s c h e n O r i e n t i e r u n g o d e r des d e n k e r i s c h e n R a n g e s , er b e t r i f f t 2

49 KpV, S. 130. Ebenso KrV, Β 841: »Ohne also einen Gott und e i n e f ü r u n s j e t z t n i c h t s i c h t b a r e , a b e r g e h o f f t e W e l t , sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung [...].« (Hervorh. von mir, WF). 1 5° Vgl. die (streckenweise scharf polemische) Kant-Kritik bei Rudolf zur Lippe: Zu einigen geschichtsphilosophischen Aspekten in der »Kritik der teleologischen Urteilskrafthöchste GutAgathonLauf der Welt< verpflichtetes) ist notwendig anschauungsgebunden und konkretionspflichtig, die reine Intelligibilität noumenaler Welten und die übersinnliche Potentialität philosophischer Postulate in Kants Sinn weigern sich ex definitione der literarischen Darstellung. Der Zwang zur Sinnfälligkeit schließt natürlich generalisierende Wirklichkeitsaussagen auch im literarischen Kontext keinesfalls aus255 - wir haben ja sowohl auf der Ebene der philosophischen Protagonisten als auch auf der des kommentieren-

Für weitere prägnante Formulierungen vgl. in derselben Schrift S. 2 5 - 2 7 (Christus als Stifter einer spezifisch moralischen Religiosität und als Verkünder eines »Reichefs] Gottes, dessen Sitz in den Herzen der Menschen ist«, S. 27); S. 54^, S. 8of. (mit nachhaltiger Warnung vor den sozialen Folgen einer kritisch-aufklärerischen Zersetzung der ethikotheologischen Gewißheiten, Kompensationen und Fiktionen; eine derartige Destruktion »kann nicht nur zu gar nichts helfen, sondern ist im Grunde um nichts besser, als ein öffentlicher Angriff auf die Grundverfassung des Staats, wovon die Religion einen wesentlichen Theil ausmacht, und auf die öffentliche Ruhe und Sicherheit, deren Stütze sie ist. - Die Philosophie hat nützlichere Dinge zu thun, als die Schärfe ihrer Werkzeuge an den Grundpfeilern der moralischen Ordnung und an dem, was zu allen Zeiten der Trost und die Hoffnung der besten Menschen gewesen ist, zu probiren; und der Philosoph ist kaum dieses Namens werth, der nicht bedenkt, daß gegen e i n e n Menschen, der der Religion ohne Nachtheil seiner Moralität und Gemüthsruhe entbehren kann, zehntausend sind, die, wofern sie auch ihren edelsten Zweck an ihnen verfehlte, doch ohne den Zaum, den sie ihnen anlegt, schlimmer, oder ohne die Hoffnung, die sie ihnen gibt, unglücklicher seyn würden, als sie sind.«, S. 81). - Sehr weitreichende Entsprechungen zu Kants anthropologischem Dualismus (der Mensch als sinnlich-empirisches und intelligibles Doppelwesen) finden sich in der Kosmopoliten-Schrift, die postuliert, »daß der Mensch, seiner scheinbaren Kleinheit ungeachtet, nicht blos als organisirter und belebter Stoff ein blindes Werkzeug fremder Kräfte, sondern als denkendes und wollendes Wesen selbst eine wirkende Kraft ist und, auf diese zweifache Art in den allgemeinen Plan des Ganzen verflochten, eine viel größere Rolle spielt, als er selbst zu übersehen fähig ist«. A.a.O., S.4o6f. 2 S5 Uber die Rolle von »generalizations about the world« in fiktionalen Texten vgl. Weitz, Truth in Literature, bes. S. 122; Hospers, Implied Truths in Literature; Hugh Mellor, Literarische Wahrheit, Ratio 10, 1968, S. 124-140, bes. S. 13 3 f.

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den Erzählers im >Agathon< eine Fülle solcher Verallgemeinerungen vorgefunden, ja, die Semantik des Romans wies deutliche Parallelen zu Kants Postulatenlehre auf - , aber die Rückführung aller begriffsförmigen Sätze in exemplarische Anschauung, ihre »Phänomenalisierung«, bleibt ein definierendes Merkmal von Literatur als Erkenntnis sui generis. Für das teleologische Programm des Romans, der die Überlegenheit der Tugend gegenüber ihren materialistischen und skeptischen Negationen ex exemplo demonstrieren sollte, entsteht hier ein Dilemma: Einerseits kann sich der Erzähler nach allen desillusionierenden Erfahrungen seines tugendhaften Helden in den verschiedenen Wirklichkeitssphären der Romanwelt nicht auf kompensatorische Postulate und Zukunftsprojektionen beschränken und also etwa Agathons >dereinstiges< Glück in einer erfahrungsjenseitigen intelligiblen Welt in Aussicht stellen oder gar die Unsterblichkeit seiner Seele versprechen. Andererseits hat die Analyse gezeigt, wie problematisch, wie archaisch stilisiert, ja eigentlich wie unernst sich jene providentiellen Interventionen ausnehmen, die schon für die (plausibel dargestellte) geschichtliche Erfahrungswelt des R o mans und für die Biographie des Helden in ihr die Existenz des h ö c h sten Guts< gewährleisten, sie als verläßliche Erfahrungstatsache erscheinen lassen sollen.

6. Die dementierte Lösung. Zur Problematik der Finalkonstruktion in der »Geschichte des Agathon< Nach dem teleologischen >Plan< der »Geschichte des Agathon< sollte Wielands philosophischer Roman im anschaulichen Exempel einer plausiblen literarischen Fiktion, in der Darstellung der beispielhaften Vita eines glückswürdigen Charakters die überlegene Wahrheit und Erfolgsträchtigkeit einer auf vernünftige Moral gegründeten Lebensführung gegenüber materialistischen oder skeptischen Gegenpositionen demonstrieren. Die Entwicklungsgeschichte des Helden zwischen Delphi und Syrakus allerdings las sich völlig anders, nämlich als Prozeß einer fortlaufenden Desillusionierung, in dem sich Gewinn an Weltkenntnis und Verlust an Tugendenthusiasmus komplementär entsprachen. Vom realitätsblinden Schwärmer zum sarkastischen Welt- und Menschenkenner »geläutert«, bekam der Häftling Agathon die Ambivalenz dieses Enttäuschungsvorgangs zu spüren: der trügerischen Voraussetzungen seines Weltverhaltens innegeworden, mußten ihn die schlech483

ten Erfolgsaussichten moralischer Intentionen in moralindifferenten Sozialverhältnissen tief enttäuschen, ja in seiner Identität erschüttern. Zwar gelang es durch den Rückgriff auf eine traditionell-romaneske Erzählsemantik providentieller Intervention, die sich durch den erzählstrukturellen Anschluß an das Schema des heliodorschen Liebes- und Abenteuerromans anbot, den Helden von Fall zu Fall aus Katastrophen zu retten, ihm den Neuanfang an anderem Ort zu ermöglichen und damit die Suggestion letztlich garantierter metaphysischer Ordnung aufrechtzuerhalten. Wenn aber schon der immanente Nachvollzug dieser formelhaften, unscharf theologischen Sinnbeteuerungen auf zahlreiche argumentative Unstimmigkeiten und auf offenkundige auktoriale Ironisierungen stieß, so zeigte sich im Vergleich mit der sehr ähnlichen Problemstellung in Kants moralphilosophischer Postulatenlehre vollends, daß ein auf exemplarische Sinnfälligkeit, auf einen Wahrheitsbegriff phänomenaler Evidenz programmatisch festgelegtes Erzählen sich nicht auf die Setzung handlungsdienlicher Als o£>-Fiktionen bzw. auf das Versprechen künftiger über-empirischer Kompensationen in rein intelligiblen Idealwelten beschränken könne. Wieland hat seinen Roman mittels einer poetologischen Theorie, die das Proprium literarischer Erkenntnis (und zugleich ihren Vorzug gegenüber philosophischbegrifflicher Spekulation) in ihre empirische Plausibilität verlegte, so dezidiert auf die nachprüfbare Übereinstimmung mit lebensweltlicher Wirklichkeitserfahrung verpflichtet, daß das gesamte Erzählvorhaben, auch dort, wo es sich transzendenter Prämissen bedient, nur dann als erfüllt gelten dürfte, wenn es gelänge, Agathon mit einer ihm gemäßen Umwelt glaubwürdig zu vermitteln. Diese Möglichkeit hatten die philosophischen Kontrahenten des Helden prinzipiell in Abrede gestellt; die Frage ihres Gelingens wird so zum Prüfstein für die Praktikabilität jener Tugend, in deren Zeichen Agathon siegen sollte. Der Ort, an dem das Problem der teleologischen Synthesis von Held und Welt unabweisbar aufbricht, ist naturgemäß der Schluß des Romans. Solange sich nämlich, im Durchgang durch die verschiedenen topographisch-thematischen media der Lebensgeschichte, Agathons Enttäuschungen und Niederlagen, seine Verluste an moralischem Enthusiasmus, noch zugleich als notwendige Ernüchterungen und Läuterungen, als Gewinne an Einsicht, interpretieren ließen, schien die Hoffnung auf eine schließliche Umkehr der Desillusionierungstendenzen des Werkes nicht völlig ungegründet, ließ sich zumindest das Problem der Synthesis von Station zu Station verschieben. Das Werkende zwingt den Erzähler zur Offenbarung: Kann Agathons Biographie trotz der 484

verheerenden Bilanz, die der Held im Gefängnis von Syrakus ziehen muß, schließlich zu jenem beruhigenden Punkt< geführt werden, den Blanckenburg als idealistisches Telos des Charakterromans gefordert hatte? 2 ' 6 Daß sich Wieland des Finalproblems der >Geschichte des Agathon< in aller Schärfe bewußt ist, weist schon die Werkgenese aus; keiner anderen Partie des Werks galten ja in der Bearbeitungsgeschichte so grundsätzliche Revisionen und Erweiterungen. 2 ' 7 Der Sachverhalt ist in der Forschung seit langem bekannt und hat seinen Widerhall u. a. in der Diskussion darüber gefunden, ob der Schluß der Editio princeps von 1766/67 oder jener der dritten Fassung von 1794 als stimmiger und künstlerisch gelungener anzusehen sei.2'8 Wir gehen auf diesen Streit, dessen Pro und Contra ausgelotet sein dürfte, nicht näher ein und beschränken uns darauf, aus der Perspektive unserer leitenden Fragestellung, dem Interesse an der »Geschichte des Agathon< als moralteleologischem Erzählexperiment, einige Überlegungen zur prekären Finalgestaltung des philosophischen Romans beizutragen. Diesen Ausführungen liegt die Uberzeugung zugrunde, daß weder die erste noch die dritte Fassung des Romans einen Schluß bieten, der als vollgültige Einlösung des teleologischen Erzählprogramms z u betrachten wäre, ja, daß das Projekt einer fiktiven, aber lebensweltlich plausiblen emphatischen Vermittlung von moralischem Subjekt und sozialer Wirklichkeit unter den Voraussetzungen des 18.Jahrhunderts von vornherein unerfüllbar bleiben mußte. Schon aus diesem Grund optieren wir für die Schlußversion der Erstfassung: das »reflektierte Scheitern« ihrer Synthese verdient, wegen ihres erzählerischen Raffinements wie aufgrund ihrer kalkulierten und erkenntnisfördernden Doppelbödigkeit, den Vorzug gegenüber der geschlosseneren, durch eine postulatorische Philosophie unterbauten, mit dem Ganzen des Romans jedoch nur noch notdürftig vermittelten und insgesamt recht dogmatischen Finalvariante von 1794. Folgerichtig liegt das Schwergewicht unserer Überlegungen zum >Agathonhistorische Wahrh e i t verpflichteter >Geschichtsschreiber< auch Selbstgespräche seines Helden mitteilen könne, 267 hatte sich der Erzähler auf eine einigermaßen komplizierte Quellenlage berufen: 268 ihm selbst diene eine »Urkunde« (34), ein antikes Manuskript, zur Vorlage, dessen »ungenannte[r] Verfasser die Vorsicht gebraucht« habe, »uns zu melden, daß seine Erzählung sich in den meisten Umständen auf eine A r t von Tagebuch gründe, welches (sichern Anzeigen nach) von der eignen Hand des Agathon sei, und w o v o n er durch einen Freund zu Crotona eine Abschrift erhalten« (33). Bis zum Ende der Syrakus-Partien blieb diese mit ironischer Akribie rekonstruierte Filiationsgeschichte des Textes ungenutzt und, abgesehen

von

der

Rechtfertigung

psychologischer

Introspektion,

eigentlich funktionslos. Das ändert sich grundlegend mit dem Eintritt in die Finalproblematik des Romans; für deren Bewältigung wird die Aufspaltung des Textes in eine basale Handlungs- und Geschehensebene, die Manuskript-Erzählung des griechischen Autors, und eine kritische Kommentar- und Reflexionsebene, gebildet durch den modernen Herausgeber im Diskurs mit seinen fiktiven Lesern, 26 ' konstitutiv. 2

«5 Vgl. Kap. 3, Abschn. 3. Vgl. G d A I/io, S. 33 ff. 167 Vgl. die parallelen Überlegungen des anonymen Verfassers der Greifswalder b e d a n ken und Regeln von den deutschen Romanen«, oben Kap. 3, Abschn. 5.2. 268 Nach Müller, Autobiographie und Roman, S. 103, ermöglicht die »Annahme einer schriftlich vorliegenden Darstellung, die ihrerseits auf autobiographischem Material beruht, [ . . . ] eine durchgängig kritisch-kommentierende Erzählweise, die psychologisierend verfährt und analytisch vorgeht und deren Reiz in der Aufdeckung der geheimen Zusammenhänge hinter dem vermeintlich geschlossenen Kontinuum reiner Faktizität beruht«. l6 9 Aus einer umfangreichen Sekundärliteratur zum Erzähler-Leser-Verhältnis bei Wieland sei auf die folgenden Beiträge besonders verwiesen: Wolfgang Dittrich: Erzähler und Leser in C . M . Wielands Versepik, Diss. phil. Berlin 1971 (Druck 1974); Otto Fiene: Das humoristisch-ironische Spiel des Erzählens bei Wieland und Thomas Mann. Studien zur fiktiven Erzähler-Leser-Beziehung, Diss. phil. Basel 1967, Druck: Aachen 1974; Sven-Aage Jergensen: Warum und zu welchem Ende schreibt man eine Vorrede? Randbemerkungen zur Leserlenkung, besonders bei Wieland. In: Text & Kontext 4, 1976, S. 3 - 2 0 ; Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen zu Romananfängen des 18. Jahrhunderts (Kap. II: Wieland und die Geburt des Erzählers, S. 85—134), München 1968; Steven R. Miller: Die Figur des Erzählers in Wielands Romanen, Göppingen 1970 ( = Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 19); Michael von Poser: Der abschweifende Erzähler, Bad Homburg v.d.H. 1969 (bes. S. 68-84:

488

Diese Verdoppelung der Hinsichten unterscheidet sich wesentlich von den eingeschalteten Erzähler-Leser-Diskursen in den früheren Partien des Romans : zwar wurde auch dort bereits über dem basalen Text, der Wiedergabe der Fabel, ein vermittelndes Kommunikationssystem errichtet, das die Reflexivität des Erzählens maßgeblich steigerte, indem es auf die >wissenschaftliche< und didaktische Diskussion des Erzählten, auf seine mögliche Generalisierung und Aktualisierung, zielte ;2?0 nicht ohne Grund polemisierte der Erzähler daher gegen triviale Lesererwartungen, die mehr am Fortgang der Handlung als an ihrer psychologischen und philosophischen Zergliederung interessiert seien.271 Fraglos jedoch galt die Fabel, galt Agathons Lebensgeschichte zwischen Delphi und Syrakus als glaubwürdiges Modell einer möglichen Biographie und damit allererst als würdiger und triftiger Anlaß der Reflexion. - Dieses Schema von plausibel gestaltetem exemplarischem Einzelfall und analytischer Verallgemeinerung kann das Finale so nicht beibehalten, weil im Gegensatz zur Desillusionsgeschichte bis Syrakus, die empirisch plausibel, aber moralisch enttäuschend verlief, die im Erzählprogramm geforderte schlußendliche Positivität, die teleologische Synthesis von Tugend und Glückseligkeit, lebensweltlich nicht ohne weiteres glaubhaft gemacht werden kann : die Tarent-Episode soll die Erfüllung des moralteleologischen Plans bringen und ist gerade daher am schwersten plausibel zu machen. Die Aufspaltung der narrativen Funktionen in einen durch den griechischen Autor des ursprünglichen Manuskripts verantworteten literarischen »Urtext« (basierend auf dem Rohmaterial von Agathons »Art von Tagebuch«) und einen modernen Editorenkommentar dient denn auch einzig dem Ziel, die beiden zentralen Erzählpostulate der >VorredeDon Sylvio< und >AgathonGeschichte des AgathonGeschichte des AgathonApologie des griechischen Autors< durch den modernen Herausgeber, die als erstes Kapitel des 1 1 . Buches 27 ! das Tarent-Finale eröffnet und die entscheidenden Fingerzeige gibt, wie dieser Schluß zu lesen sei. Hier wirft der Editor das Wahrheitsproblem auf, indem er den in der >Vorlage< berichteten glücklichen Ausgang der Lebensgeschichte Agathons mit extratextuellen, lebensweltlichen Wirklichkeitserwartungen konfrontiert, zu deren Sprecher er sich selbst macht. Dabei ergibt sich eine entscheidende Diskrepanz: wenn von der Desillusionsgeschichte bis Syrakus noch habe gelten können, daß sie mit »dem ordentlichen Lauf der Natur und den strengesten Gesetzen der Wahrscheinlichkeit« (522) übereinstimme, so scheine sich mit dem Tarent-Finale »der Autor aus dieser unsrer Welt, welche [ . . . ] zu allen Zeiten nichts besseres als eine Werkel-Tags-Welt [ . . . ] gewesen ist, ein wenig in das Land der Ideen, der Wunder, der Begebenheiten, welche gerade so ausfallen, wie man sie hätte wünschen können, und um alles auf einmal zu sagen, in das Land der schönen Seelen, und der utopischen Republiken verirret« (552) zu haben. Der Leser möge sich (wie in der >Insel FelsenburgApologieHerausgebers< gegenüber den teleologischen Eingriffen des antiken >AutorsAgathonDon Sylvio von Rosalvaarmen Autors< - »Man hilft sich wie man kann« - wirkt vielmehr auf die gesamte Fabel des Romans zurück und trifft retrospektiv auch jene früheren Interventionen providentieller Tugend- und Glücksgaranten, die dem passiven >Helden< nach jedem Sturz zum Neuanfang verholfen hatten. Agathon immerhin, zermürbt und erschöpft, darf sich nach dieser reflexiven Einstimmung des Lesers reflexionslos fallenlassen in die auktorial prästabilierte Harmonie einer utopischen Gemeinschaft, die ihn »am Ende so glüklich« werden läßt, wie sein >Schöpfer< es ihm von Anbeginn an zugedacht hatte. Mit diesem Ausgang ist allen philanthropischen Neigungen des Autors und seines Publikums Genüge getan, bleibt ein konzilianter »humaner Schein« gewahrt, wird das Formgesetz des harmonisch geschlossenen Werkes pro forma erfüllt. Zugleich jedoch hält der Erzähler, im Medium seiner ironisch problematisierenden >HerausgeberGeschichte des Agathon< bleibt - und darin jedenfalls >schickt sich das Ende zu dem Anfang< - , was der ganze Roman gewesen war: Problemanzeige, Gedankenspiel, Umkreisung einer verstörenden Aporie. Lösungen sind nicht in Sicht.

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SCHLUSS itaque inposuistis in cervibus nostris sempiternum dominum, quem dies et noctes timeremus. quis enim non timeat omnia providentem et cogitantem et animadvertentem et omnia ad se pertinere putantem curiosum et plenum negotii deum? CICERO, >De natura deorum« For none deny there is a God but those for whom it maketh that there were no G o d . Francis BACON, >Essay of Atheism< LEONCE. O Zufall! LENA. O Vorsehung! VALERIO. Ich muß lachen, ich muß lachen. Georg BÜCHNER, >Leonce und Lena< Der Mensch denkt: Gott lenkt Keine Red davon! Bertolt BRECHT, >Mutter Courage«

1. >The Eighteenth Century confronts the G o d s c Wir haben, in einer Serie von Einzelstudien, die romangeschichtlichen Konfigurationen dieses fundamentalen ideen- und gesellschaftsgeschichtlichen Sachverhalts in größtmöglicher Phänomennähe beschrieben und in ihrer verzweigten Symptomatik bestimmt. N u n , bei Wieland, halten wir inne und suchen uns abschließend noch einmal des Richtungssinns der dargestellten Verläufe und einiger künftiger Perspektiven zu versichern. Dabei ist es zuallererst diese Zäsur selbst, die der Begründung bedarf: In welchem sachlichen Sinne eignet sich Wielands Roman, der selbst so mühsam zu seinem problematischen Ende fand, zum Schlußpunkt unserer Untersuchung? Es scheint: durch seine symptomatische Offenheit selbst. Denn die im Erzählerkommentar in aller Schärfe bezeichneten Finalaporien der >Geschichte des Agathon< dokumentieren den Plausibilitätsschwund providentieller und teleologischer Erzählfiguren ebenso wie den Fortbestand der traditionell durch sie gelösten Probleme oder, pointiert gesprochen: die (endgültige) Unverfügbarkeit der literarisierten Providenz ebenso wie ihre (vorläufige) Unverzichtbarkeit. Das Erzählschema der transempirischen, göttlichen Intervention ist erkenntnistheoretisch diskreditiert, aber ein funktionales narratives Äquivalent für die klassi497

sehen moralteleologischen Garantie- und Begründungsleistungen des transzendenten Rekurses ist weltimmanent nicht in Sicht. So kommt es, durch die Darstellung nicht kaschiert, sondern prononciert ins Leserbewußtsein gerückt, zum Nebeneinander von Affirmation und Kritik, von traditionskonformer Lösung und skeptisch-realistischem Dementi, zu einem Moralfinalismus des ironisch akzentuierten »schlechten Gewissens« und gewissermaßen zu einem Erzählen aus »leerer Transzendenz«. Diese erzählerische Problemkonstellation in ihrer reflexionsträchtigen Instabilität hat einen janusköpfigen Doppelaspekt: Trotz aller spielerisch-skeptischen Distanzierungen, semantischen Vieldeutigkeiten und metaphorischen Auflösungen in letzter Konsequenz noch t h e o l o g i s c h gedacht, blickt sie noch einmal zurück auf jene metaphysisch legitimierte Erzähltradition des heliodorschen Romans und seiner höfisch-barocken Adaptationen, aus deren Formen- und Formelbestand sie sich in inflationärer Eklektik und mit dem ausdrücklichen Gestus des Zitierens bedient, ohne darum doch die dogmatische Schlüssigkeit der imitierten Vorbilder noch zu erreichen. Zugleich aber hat sie - dies ihre «moderne«, prospektive Tendenz - gerade im eingestandenen und reflektierten Scheitern ihres moralteleologischen Programms teil an jener Destruktionsbewegung der Säkularisierung, Verweltlichung und Verdiesseitigung aller relevanten Parameter, in deren Kontinuität und an deren (vorläufigem) Ende sich noch der gegenwärtige Interpret selbst weiß. Die bei Wieland (aber auch bei Voltaire oder Moritz) sich manifestierende intellektuelle Sensibilität für die Auflösung des theonomen Weltbildes, für den Geltungsverlust providentieller und die gestiegene Begründungsbedürftigkeit finalistischer Wirklichkeitsannahmen, ja sogar für das neue Pathos einer individuellen Existenz, die, aus ihren transzendenten Garantien entlassen, kontingent und endlich wird, in ihrer kontingenten Endlichkeit aber f r e i - diese Sensibilität für die conditio humana einer entgötterten Welt gehört in das weltanschauliche Kontinuum des postmetaphysischen Zeitalters, in das sich bildende Traditionsfeld einer dezidiert »modernen« Schicksalssemantik. Die Erosion jener transzendenten Garantien kann erlebt (und literarisch gestaltet) werden als Krisis aller Weltbezüge des Subjekts, als Erschütterung seines elementaren Weltvertrauens, als Syndrom kosmischer Einsamkeit und »transzendentaler Obdachlosigkeit«, als Vereitelung moralischer Ambitionen oder als Affront gegen metaphysische Ausgleichs- und Gerechtigkeitsbedürfnisse - und soweit diese Verstörungen und Sinnkrisen das Bewußtsein einer Ubergangsepoche vorrangig prägen, standen sie notwendig auch im Zentrum unserer Untersuchungen. Aber der 498

Sicherheitsverlust ist auch ein Freiheitsgewinn, interpretierbar (im Sinne unseres Ciceroschen Mottos) als Emanzipation des Menschen aus der Heteronomie providentieller Bevormundung, als Erweiterung von Wahlmöglichkeiten, Entscheidungs- und Handlungsspielräumen, als Voraussetzung autonomer Praxis, schließlich gar als Grundlage eines neuen Ethos der Weltimmanenz, der Endlichkeit, der Vergänglichkeit, kurz: der Würde des Kontingenten 1 . In den hier sich andeutenden innerweltlichen Freiheitsräumen wären - nach einer von Bacon so kaum verstandenen, in seinem oben zitierten Diktum gleichwohl latent angelegten Dialektik - die Gewinne jener metaphysischen Agnostiker zu vermuten, »for whom it maketh that there were no God«. Dabei bedarf es kaum des Hinweises, daß diese Perspektiven auf das historische Textsubstrat Verdeutlichungen und Unterstreichungen aus dem Horizont eines gegenwärtigen Problembewußtseins sind, das sich seiner eigenen Genese in der Auseinandersetzung mit den produktiven Krisen einer vergangenen Epoche vergewissert, indem es sein eigenes postmetaphysisches Wirklichkeitsverständnis in statu nascendi aufsucht und studiert. In diesem Sinn, als Subjekt einer erinnernden Rekonstruktion der eigenen geistigen Vorgeschichte, ist auch der Literarhistoriker zuletzt ein »rückwärts gekehrter Prophet«. Ihm dieses, seine exegetische Arbeit als Stimmungs- und Inspirationshintergrund begleitende, Bewußtsein des >tua res agitur< etwa als unwissenschaftlich und nicht zur Sache gehörig zu verweisen und ihn auf ein Ideal desinteressierter Objektivität einzuschwören, müßte ihn zugleich auch seines empfindlichsten diagnostischen Instruments berauben: des Sensoriums für Affinitäten und Differenzen, für Identität und Alterität, Konstanz und Variation. Literaturwissenschaft, als hermeneutische Erkenntnisdisziplin und nicht als archivalisch-positivistische Quellenkunde verstanden, kann sich der Zirkelbewegung des Eigenen und Fremden nicht durch Absehung vom Eigenen entziehen wollen. Es muß gerade umgekehrt ihr Ziel sein, im Fremdgewordenen das Andere des Eigenen zu verstehen, d.h. die Alterität des Anderen gelten zu lassen, um aus ihm die Eigenheit des Eigenen desto klarer zu erkennen. 2

Dies in Übereinstimmung mit O d o Marquard: Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen z u m Menschen, in ders.: A p o l o g i e des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1 9 8 6 , S. 1 1 7 - 1 3 9 . In der Literaturtheorie v o n H a n s Robert Jauß (Einführung des

hermeneutischen

Begriffs der Alterität. In ders. : Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1 9 5 6 - 1 9 7 6 , München 1 9 7 7 , S. 1 4 - 1 8 ) benennt der Terminus >Alterität< »die eigentümlich gedoppelte Struktur eines Diskurses [ . . . ] , der uns als

499

2. Nach ihrem kleinsten gemeinsamen Nenner galten die Studien unserer Untersuchung der Weltbildentwicklung und dem Wandel der Schicksalssemantik im Roman zwischen Ziglers >Asiatischer Banise< und Wielands >Geschichte des AgathonNaturWilhelm Zeugnis einer fernen, historisch abgeschiedenen Vergangenheit in befremdender >Andersheit< erscheint, gleichwohl aber als ästhetischer Gegenstand dank seiner sprachlichen Gestalt auf ein anderes, verstehendes Bewußtsein bezogen ist, mithin auch mit einem späteren, nicht mehr zeitgenössischen Adressaten Kommunikation ermöglicht«.

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j oo

Meisters Lehrjahren< zu belegen, doch belassen wir es hier bei einer Andeutung, weil wir die einschlägigen Zusammenhänge bald an anderer Stelle mit der gebührenden Genauigkeit zu entwickeln hoffen: Diderot spielt in einem strukturell äußerst komplexen, in vielen Einzelzügen am Roman Sternes geschulten Werk die ethischen Aporien jenes materialistisch-naturwissenschaftlich begründeten, Willensfreiheit und moralische Verantwortlichkeit negierenden Determinismus durch, den er selbst in seinem theoretischen Œuvre vertritt, ohne indes seine ethischen Konsequenzen wirklich zu akzeptierend An die traditionelle Funktionsstelle der transzendenten Vorsehung rückt dabei der vom Diener Jacques gegen seinen Maître, einen Anhänger der Willensfreiheit, vertretene, philosophisch durch Spinoza inspirierte weltimmanente Fatalismus des grand rouleau und der écriture là-haut: alles künftige Geschehen steht nach einem unkorrigierbaren Verlaufsplan der Welt a priori fest. Dieser These widerspricht nicht nur das tatsächliche Verhalten der Protagonisten - Jacques, der theoretische Determinist, ist in praxi ein aktiv und umsichtig handelnder Täter, sein idealistischer Herr neigt zu schicksalsergebener Passivität und Lethargie - , sondern mehr noch die extrem sprunghafte, zerrissene, Indeterminismus und Inkohärenz der Wirklichkeit suggerierende Konstruktion der Romanfabel selbst. Die kontingente Chaotik der Handlungsführung (die vom Erzähler mit poetologischen Invektiven gegen die simplifizierende Unwahrhaftigkeit teleologisch-geordneter, »romanhafter« Erzählformen gerechtfertigt und im Dialog mit dem Leser durch stets erneute Verweise auf seine erfinderische Souveränität, auf die artistische Wahlfreiheit aus einer unendlichen Menge alternativer Erzählmöglichkeiten womöglich 3

Die Sekundärliteratur ist kaum überschaubar; vgl. zu den hier interessierenden Zusammenhängen bes. J . Robert L o y : Diderot's determined Fatalist, N e w Y o r k 1950; Hans Mayer: Diderot und sein Roman Jacques le fataliste«. In ders.: Deutsche Literatur und Weltliteratur, Berlin 1957, S. 3 1 7 - 3 4 9 ; Roger Laufer: La structure et la signification de Jacques le fataliste«, Revue des sciences humaines, oct.-déc. 1963, S. 5 1 7 - 5 3 5 ; Erich Köhler: »Est-ce que l'on sait où l'on va?« - Zur strukturellen Einheit von Diderots Jacques le Fataliste et son Maître«, Romanistisches Jahrbuch X V I , 1965, S. 1 2 8 - 1 4 8 ; Robert Mauzi: La parodie romanesque dans Jacques le fataliste«, Diderot Studies V I , 1964, S. 8 9 - 1 3 2 ; Rainer Warning: Illusion und Wirklichkeit in >Tristram Shandy« und Jacques le fataliste«, München 1965; Gabrijela Vidan: Jacques le fataliste entre les jeux de l'amour et du hasard, Studia Romanica et Anglica Zagrabiensia 24, 1967, S. 6 7 - 9 5 ; Jean Ehrard : Lumières et roman, ou les paradoxes de Denis le fataliste, in : A u siècle des lumières, Paris/Moskau 1970, S. 1 3 7 - 1 5 5 ; Ernest Simon: Fatalism, the Hobby-Horse and the Aesthetics of the Novel, Diderot Studies X V I , 1973, S. 2 5 3 - 2 7 4 ; Aram Vartanian: Jacques le fataliste«: A Journey into the Ramifications of a Dilemma. In: Essays on Diderot and the Enlightenment in Honor of Otis Fellows, ed. by John Pappas, Genf 1974, S. 3 2 5 - 3 4 7 .

501

noch weiter gesteigert wird) und der aprioristische >Fatalismus< planmäßiger Vorherbestimmung, >le hasard< und >la nécessités >le décousu< und >l'enchaînement nécessaire des causes et des effetsle déterminé< und >l'indéterminé< wirken einander im Spannungsfeld des Textes vektoriell entgegen, ohne daß Diderot sich unterfinge, »in seinem Roman eine Paradoxie aufzulösen, für die er selber keine Auflösung wußte.«4 Das Ergebnis ist eine virtuose, die Möglichkeiten des Romans noch weit über die bei Voltaire und Wieland beobachteten Möglichkeiten polyperspektivischen Erzählens ins Experimentelle hinaustreibende Studie über ein aporetisches Dilemma: »The philosophical truth of fatalism and the practical truth of free-will constitute a dialectic without synthesis.«' Ein dem Autor in vielen Zügen wahlverwandter begeisterter Leser von Jacques le fataliste^ Friedrich Schlegel/ hat in einem (nicht eigens auf den Roman gemünzten) Athenäums-Fragment das paradoxe Erzählund Reflexionsprinzip des Diderotschen Experiments auf seine kürzeste Formel gebracht: »Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.«? Anders, aber nicht weniger kompliziert liegen die Verhältnisse in > Wilhelm Meisters LehrjahrenLehrjahreWilhelm MeisterDeutsche Literatur des i8.JahrhundertsVersuch über den Romane, Diss. phil. Hamburg 1922. MOG, Paul: Ratio und Gefühlskultur. Studien zu Psychogenese und Literatur im 18. Jahrhundert, Tübingen 1976 ( = Studien zur deutschen Literatur. 48). MÜLLER, Günther: Barockromane und Barockroman. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 4, 1929, S. 1-29. - Höfische Kultur. In: Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche, hg. v. Richard Alewyn, 4. Aufl. Köln und Berlin 1970, S. 182-204. - und Helene KROMER: Der deutsche Mensch und die Fortuna, DVjs 12, 1934, S. 3 2 9 - 3 5 !· MÜLLER, Joachim: Hegel und die Theorie des Romans. In: Wiss. Zeitschrift der Univ. Jena 19, 1970, S. 637-644. - Goethes Romantheorie. In: Deutsche Romantheorien, hg. v. R . Grimm, bearb. Neuaufl. Frankf./M. 1974, Bd. 1, S. 6 1 - 1 0 4 . MÜLLER, Klaus-Detlef: Die Kleidermetapher in Grimmelshausens >SimplicissimusGrüner HeinrichWilhelm Meisters WanderjahreWilhelm MeisterQuerelle des Anciens et des ModernesAramenaArminius< als Zeitroman. Sichtweisen des Spätbarock, Bern/München 1970. SZONDI, Peter: Uber philologische Erkenntnis. In ders.: Hölderlin-Studien, STIERLE,

Frankf./M. 1970, S . 9 - 3 4 .

- Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. In ders.: Poetik und Geschichtsphilosophie I, hg. v. S. Metz u. H.-H. Hildebrandt, Frankf./M. 1974, S. 1 1 - 2 6 5 .

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Eckermann, Johann Peter 281, 502 f. Ehrard, Jean 501 Elias, Norbert 271, 351 Engel, Johann Jakob 345 f., 3 53 f. Eschenburg, Johann Joachim 353 Etiemble, René 294 Í54

Faber, Karl-Georg 128 Faguet, Emile 287 Falke, Rita 332 Farr, Wolfgang 282 Farwick, Leo 50 Favre, Robert 278 Fechner, Jörg-Ulrich 255 Fénélon, François de Salignac de la Mothe 246 Feuerbach, Ludwig 343 Fielding, Henry 466 Fiene, Otto 488 Fink, Gonthier-Louis 438, 458 Fohmann, Jürgen 187 Fontenelle, Bernard de Bouvoir de 288 Formigari, Lia 356 Foulet, Alfred 298 Francisci, Erasmus 30, 38, 41 f., 72f. Franklin, Julian H. 66, 70 f. Freier, Hans 229 Friedrich II. 284, 288, 298 Friedrich, Hugo 154, 286, 29j, 300 Fürnkäs, Josef 365 Fuhrmann, Manfred 215, 237, 345 Gabriel, Gottfried 5, 389, 394 Galilei, Galileo 13 Garve, Christian 253, 347, 353, 355 Gay, Peter 3 Gehlen, Arnold 333 Geliert, Christian Fürchtegott 23, 110, 187, 246, 253-279, 281, 343, 345, 402, 433 Gerhard, E. 101 Geulen, Hans 3of. Gillespie, Gerald 391 Goethe, Johann Wolfgang 27, 281, 297, 363,500ff. Goffman, Erving 175 Goldmann, Lucien 21 Goodfield, June 3 Gottsched, Johann Christoph 25f., 199, 229-237,238,343,453 Gove, Philip Babcock 288 Graevenitz, Gerhart von 344 Greif, Martin 116 f. Greiffenberg, Catharina Regina von 100 Grimm, Melchior 26 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 187 Grimminger, Rolf 344 Groethuysen, Bernhard 4, 101 Groß, Erich 383, 422, 427, 467, 485 Guirguis, Fawzy D. 29 f.

G u s d o r f , G e o r g e s 3, $, nil., IJ9,

22, 82, 130,

166, 202, 206, 217, 257, 290,

356,361,366,371.374.

338,

H o l z , H a n s H e i n z 75, 78 f. H o m e r 9 3 , 2 3 5 , 348 H o o p s , W i k l e f 2, 5, 219, 228

427

G u t z e n , D i e t e r 367

H o r a z 2 3 5 , 394

H a a c , O s c a r H . 302, 312

H o s p e r s , J o h n 312, 394, 4 8 2

H o r k h e i m e r , M a x 4, 145 H o y t , Giles R . 47

H a a s , R o s e m a r i e 190 H a b e r m a s , J ü r g e n 4, 6 0 , 196, 226, 2 5 0 , 254, 344 Hahl, Werner

H a m a n n , J o h a n n G e o r g 26 H a m i l t o n , Alexander 4 6 6 H a n k a m e r , Paul 2 7 Í . , 3 o f . Happel, E b e r h a r d G u e r n e r 90

H ä r t u n g , F r i t z 63 f. Haslinger, A d o l f 30, 3 2 f f . , 4 8 , $of.,

96L

H a s s , H a n s - E g o n 503

J a c o b i , J o h a n n G e o r g 493 J a u c o u r t , Chevalier de 268

Hauser, R . 4 0 6

Jauß, Hans Robert 499

Havens, G e o r g e R . 288

J o r g e n s e n , Sven-Aage 488

H a z a r d , Paul 4, 179, 2 9 5 , 302, 312, 317 H e g e l , G e o r g W i l h e l m Friedrich 4 0 , 75, 228, 293, 349, 353, 437Í., 452, 480, 504

95,

207-217,

218,

221, 228f., 231, 237Í., 240, 253

Jung-Stilling, J o h a n n H e i n r i c h 25, 28, 36, 3 6 7 f . , 373, 377

K a f k a , F r a n z 505

H e i t m a n n , Klaus 91

Kahler, E r i c h von 9 6 , 101

H e l i o d o r 34, 50, 260, 355, 4 4 6 Helvétius, Claude-Adrien 268, 387, 4 2 7 G e r d 393, 397, 4 1 0 ,

J o y c e , J a m e s 505

Kaegi, W e r n e r 81, 282

H e i n e , Heinrich 4 7 2

4i8f.,

422ff., 426f., 441, 450, 486 H e n r i c h , D i e t e r 267, 473 H e n r y , Patrick 282 H e r a k l i t 95 H e r d e r , J o h a n n Gottfried 347, 349 H e r o d o t 317 H e r r m a n n , H a n s Peter 229, 247 H e r r m a n n , U l r i c h 370 H e r z o g , U r s 32 Heuss, Theodor 487 Hiebel, Hans 236 Hillebrand, B r u n o 87, 1 9 9 f . , 246, 3 4 9 , 360 H i r s c h , A r n o l d 192 H i t z i g , U r s u l a 207 H o b b e s , T h o m a s 63 f., 7 1 , 81 H o f f m e i s t e r , G e r h a r t 27, 30, 32 H o h e n d a h l , Peter U w e i 8 8 f f . , 216 H o l b a c h , P a u l - H e n r i T h i r y , Baron d' 2 6 8 , 428

J a c c a r d , J e a n - L u c 159 J a c o b s , J ü r g e n 254, 387, 391, 503 f.

H a u s e r , A r n o l d 153

H o l m e s , A r t h u r F . 116

5> i i o f f . ,

Iser, W o l f g a n g 2 o f . , 2 2 3 f . , 2 2 6 , 4 9 0

H a r t m a n n , N i c o l a i 3, 341

Hemmerich,

20

Ingen, Ferdinand van 4 0 , 91

H a r t h , Dietrich 2 0 7 , 254, 2 5 6

Gotthard

H u e t , Pierre Daniel 82, 8 9 - 9 5 , 3 4 6 . 371 H u g o , V i c t o r 297 H u l t s c h , Paul 29 H u m e , David 317, 389 H u n t e r , J . Paul i i 6 f . , 126, 149

6i.

i4

H a i e w o o d , William H . 116

Heidegger,

H u b a t s c h , W a l t e r 62

K a h n , Ludwig W . 325 Kaiser, G e r h a r d 3 K a m i a h , W i l h e l m 3, 189 K a n t , Immanuel 59, 127, 2 5 1 , 3 1 3 ^ , 3 6 0 , 416, 429Í., 433, 454, 4 6 6 - 4 8 3

K a r l der G r o ß e 83 K e n d r i c k , Sir T h o m a s D . 320 Kettler, H a n s K u h n e r t 29 f. Kiesel, H e l m u t h 411 K i m p e l , D i e t e r 2 5 6 f . , 262 K i r c h n e r , Gottfried 12, 50, 99 K l e e , Paul 323 Kleinschmidt, Erich 4 8 9 Kleist, Heinrich von 265 K l u x e n , K u r t 81 Knigge, A d o l f Freiherr von 353 K n o p f , J a n 192, 195, 221 K ö h l e r , E r i c h 19, 155, 166, 169, 175 f., 178, 1 8 3 , 5 0 1 f.

K ö h n , L o t h a r 346 K o n d y l i s , Panajotis 4, 425 K o r y , O d i l e A . 167

555

Koselleck, Reinhart 4, 1 5 , 43, 61 f f . , 65, é p f . , 80, 82, 85, 1 5 8 , 1 9 6 f . , 226, 228, 250, 254. 344 K o s i k , Karel 2 K o t t , J a n 105, 1 1 4 f f . K o y r é , Alexandre 3, 13 Kraus, Andreas 39 Kreutzer, H a n s J o a c h i m 265 f. K r o m e r , Helene 45 Kubrin, David 3 K u h n , Thomas S. 128, 205 Kurth-Voigt, Lieselotte 438 L a Calprenède, Gautier de Costes de 2 1 5 Lämmert, Eberhard 30, 3 4 6 ^ , 349, 352 Lafayette, Comtesse de 183 L a f o n , Henri 355 L a Mettrie, Julien O f f r a y de 268 Lange, Victor 343, 394 L a R o c h e , Sophie von 384 L a u f e r , R o g e r 501 Leibniz, Gottfried Wilhelm 23, 47, 5 1 , 7 5 - 8 0 , 8 1 , 84, 8 6 f f . , 9 4 f f . , 205, 2 i o f f . , 247, 282, 2 9 1 , 3 0 i f „ 306f., 3 i o f f . , 327, 3 3 é f - , 339. 360, 404. 467. 4 7 ° L e m , Stanislaw 5 L e n g l e t - D u f r e s n o y , Nicolas A . 2 4 0 - 2 4 $ , 248, 2 5 3 f . , 343 L e n k , K u r t 269 Lepenies, Wolf 266 Lessing, Gotthold Ephraim 3 1 7 , 340, 34 j , 360, 388, 421 Lévi-Strauss, Claude 2 8 1 , 324 Lichtenberg, G e o r g Christoph 353 Liebs, E l k e 104 L o c k e , J o h n 1 2 7 , 268, 282, 284, 289, 291 ff. Lockemann, W o l f g a n g 346 L o w , Reinhard 10 L ö w i t h , Karl 3, 8 2 f . , 2 0 1 , 282 Lohenstein, Daniel Casper von 29, 31 f., 61, 203, 2 1 5 L o o s , Erich 285 L o v e j o y , A r t h u r O . 7, 22, 295, 356 L o y , J . Robert 501 L u d w i g X I V . 66, 68, 82 L u d w i g X V . 284, 3 1 9 L ü b b e , Hermann 3, 263, 4 1 4 Liithi, Albert 124 L u g o w s k i , Clemens 55, 97, 358 Luhmann, N i k l a s 1 , 3 ff-, 1 3 , 18, 60, 1 1 0 , 128, 1 7 1 , 206, 2 2 7 Í . , 238, 272, 2 7 7 f . , 40 j Lukács, G e o r g 43, 45, 236, 3 3 7

556

Lukian von Samosata 220, 387, 466 Luther, Martin 363 Machiavelli, N i c c o l ò 63, 7 1 , 73 Mackie, J o h n Leslie 476, 478 f. Mackiewicz, Wolfgang 1 1 8 ,

126,

144,

147 fi· Mähl, Hans-Joachim 188 Malebranche, Nicolas de 2 9 1 , 427 Mandeville, Bernard de 29 j M a n d r o u , Robert 6z, 66, 1 2 2 , 1 5 3 M a n n , Heinrich 8 Mannheim, Karl 120, 254, 380, 420 Manuel, Frank Ε . 1 Marahrens, G e r w i n 503 Marini, Giovanni A m b r o g i o 209 Marquard, O d o 46, 3 1 1 , 3 1 5 , 3 2 5 , 3 3 7 , 4 0 6 , 461 f., 478, 486, 499, 505 Martens, Wolfgang 254, 257, 263, 278, 365, Martini, Fritz 346, 388 Martino, Alberto 29 Martino, Pierre 294 M a r x , Karl 104, 308 Mason, H a y d n 3 1 2 , 330 Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de 290 Mauron, Charles 174 Mauzi, Robert 303 f., 308, 339, 501 M a y , Georges 9 1 , 2 3 7 ^ , 2 4 1 , 257, 493 M a y , K u r t 255, 264 M a y e r , Gerhart 3 9 1 , 430 M a y e r , Hans 189, 197, 501 M a y e r , Jürgen 31 M c C a r t h y , J o h n 437, 4 3 9 L , 4 4 3 f . , 456 M c G h e e , D o r o t h y M . 286, 296, 299^ Meid, V o l k e r 2 9 f . , 61 Meier, Christian 128 Mellor, H u g h 207, 3 1 2 , 482 Mendez-Pinto, Ferdinao 38 M e r c k , J o h a n n Heinrich 353 M e y e r , Herman 422 Meyer-Krentler, Eckhard 259, 266, 275 Michel, Victor 387, 422 Michelsen, Peter 344, 346 f., 349, 3 59 f., 465 Miller, N o r b e r t 488 Miller, Steven R . 488 Minder, Robert 378 Minners, K u r t 346f. Mitrovich, Mirco 29 M o m m s e n , Wilhelm 59, 62f. Montaigne, Michel de 282 Montesquieu, Charles-Louis de Secondât, Baron de 1 5 , 1 6 1 , 1 7 3 , 294, 387, 427

Moreau, Jean-Michel 323 Moritz, Karl Philipp 24, 26, 343 f., 365-382, 498 Mortier, Roland 502 Morus, Thomas 188, 190 Mousnier, Roland 63 Müller, Günther 45, 60 Müller, Jan-Dirk 405, 407, 439, 444f., 463 Müller, Klaus-Detlef 19, 1 0 2 , 1 0 7 , 1 8 8 , 191, 224, 255f., 259, 346ff., 360, 366, 370, 380, 384, 389, 441 f., 446, 463, 488, 503f. Müller, Walter 178 Musset, Alfred de 15 5 Mylne, Vivienne 286, 296, 300, 320 N e f , Ernst 18 Neumann, Bernd 366 f. Neumann, Peter Horst 1 1 1 Newton, Sir Isaac 3, 13, 282ff., 2.88ff., 297, 304 Nies, Fritz 154 Nietzsche, Friedrich X V , 343 Niggl, Günter 214, 3 66 Nivelle, Armand 204 Nobis, Heribert M. 237 Novak, Maximillian E. 108, i n f . , 1 1 4 , 1 1 8 , 122, i 2 7 f . , 1 3 1 , 1 3 5 f . , 139, 141 ff., 148, 151 Novalis 18 f., 503 Obereit, Jakob Hermann 386 Oelmüller, Willi 470 f. Oestreich, Gerhard 62, 64, 68 Oettinger, Klaus 405, 426, 439, 443ff., 465 Opitz, Martin 61 Osterkamp, Ernst 15 5 Ovid 233 Pabst, Walter 199 Pache, Walter 108, 1 1 4 , i 2 4 f . Pape, Ingetrud 4, 75, 227, 405 Parnell, Thomas 307 Pascal, Blaise 282, 303, 335 Paulsen, Wolfgang 385, 391, 450 Pellegrini, Alessandro 254 Pernetti, Jacques 246 Peters, Jürgen 379 Petrarca, Francesco 3 1 7 Petriconi, Helmut 1 1 1 Petzold, Dieter 103 f. Pfeiffer-Belli, Wolfgang 2 6 f „ 29f., 4of., 52, j 6 Philipp, Wolfgang 4, 1 3 1

38,

Picard, Raymond 153, 155, 161 f., 169f., I73Í., 176, 178 ff., 184 Pichois, Claude 22 Pilgrim, Konrad 124 f. Pistorius, Martin 29 Piaton 215, 282, 332, 439, 467 Plinius 3 1 7 Pomeau, René 283 Pope, Alexander 292, 295, 301, 307, 3 1 1 , 313.315 Popkin, Richard H . 51, 303, 330 Popper, Sir Karl 340 Poser, Hans 10 Poser, Michael von 488 Preisendanz, Wolfgang 391 ff., 404 f., 450 Prévost, Abbé Antoine-François 102, n o , 1 5 3 - 1 8 6 , 190, 246, 402 Profitlich, Ulrich 19 Pythagoras 332 Quaritsch, Helmut 69 ff. Rapp, Friedrich 10 Ratz, Alfred E. 438 Rau, Peter 366, 370 Réaumur, René Antoine Ferchault de 290 Reckwitz, Erhard 187 Reichert, Herbert W. 467 Reiner, H . 4 1 7 Reinhold, Karl Leonhard 467 Reinkingk, Dietrich 64 Reitz, Johann Henrich 214 Renié, Fr. 240 Reuter, Christian 187 Ricardo, Ilona 306, 3 1 2 , 3 1 7 , 340 Richardson, Samuel n o f . Richelieu, Kardinal 61 Richetti, John J . 109, 1 1 3 , 144 f. Richter, Peyton 306, 3 1 2 , 3 1 7 , 340 Riedel, Friedrich Justus 396 Ritter, Joachim 480 Robins, Harry F. 146 Roddier, Henri 154, 175 Röder, Gerda 17, 97ff., 193, 503 Röder, Rudolf 30 Rötzer, Hans Gerd 200 Rogan, Richard George 489 Roger, Abraham 39, 50 Rogers, Pat 104 Rohrer, Bernhard 320 Roloff, Hans-Gert 30, 38 Rouché, Max 425

557

Rousseau, A n d r é - M . 2 2 Rousseau, Jean-Jacques

103f.,

166, J 3 2 ,

336 Ruhnau, J. 12 Sabine, G e o r g e H . 64, γοί. Sagmo, Ivar 272, 277 f., 503 ff. Samuel, Richard 438 S a n g j ü r g e n 352 Sareil, Jean 3 0 8 ff., 3 1 7 , 3 2 0 , 3 2 3 f., 3 2 7 , 329> 332. 339ÍSauder, Gerhard 2 i 4 f . , 219L Schaefer, Klaus 486 Schäfer, Walter Ernst 206 f. Scheibe, Siegfried 255 Scheler, Max 417 Schelle, Hansjörg 489 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 47 Schepers, Heinrich 75, 78 f. Scherpe, Klaus R. 345, 355 Scheunemann, Beate 104 Schick, Ursula 286, 300 Schiller, Friedrich 9, 480, 502 Schings, Hans-Jürgen 266 Schlegel, A u g u s t Wilhelm 467 Schlegel, Friedrich 467, 502 ff. Schlüter, D . 470 Schmidt, Martin 214 Schmitt, Carl 63 Schmucker, Josef 471 Schnabel, Johann Gottfried 23, 26, 102, 110, 186-197, 2 I 7 - 2 2 9 > 237Í-> 253> 259> 402, 488, 491 Schnur, Roman 67 Schön, Erika 30, 36 Schopenhauer, Arthur 60, 3 i é f f . , 334 Schräder, Monika 391 Schramek, Eva-Maria 30, 32, 34, 36, 4of., 49. 5 5 f · Schrimpf, Hans Joachim 367, 369, 371, 373, 377f., 381 Schulz, Walter 75, 77, 8o, 473 Schutte, Lilith Eva 30 Schwarz, Elisabeth 30 Scott, Walter 317 Scudéry, Mlle de 183 Seckendorff, Veit L u d w i g von 64 Seiffert, H a n s Werner 384 Seiler, Christiane 489 Seneca, Lucius Annaeus 47, 413 Sengle, Friedrich 349, 387, 403, 422 Sgard,Jean 153, 156, 158f., 167, 181 ff. Shaftesbury, A n t h o n y Earl of 439, 467

558

Shakespeare, William 103, 317 Shinagel, Michael 118, 139, 147 Siegel, June Sigler 306 Simon, Ernest 501 Singer, Herbert 31 Skalweit, Stephan 64 ff. Smith, A d a m 504 Smith, Steven G . 478 Solle, Dorothee 374 Sokrates 95 Sommerfeld, Martin 346f. Sorg, Klaus-Dieter 503 f. Spaemann, Robert 10, 413 f., 427, 429 Spaethling, Robert H . 262ff., 276 Spahr, Blake Lee 33, 55, 97 Spinoza, Benedictus de 406, 476f., 501 Spitzer, Leo 286 Stach, Reinhard 104 Staël, Germaine de 383, 452, 494 Stahl, Karl-Heinz 229 Stalder, Xaver 47 Stamm, Israel S. 263 Stamm, Rudolf 118, 123, 127, 130, 134ff., 151

Starobinski, Jean 318, 333, 340 Starr, George Α . 116 Steffen, Hans 190, 223 Stemme, Fritz 373 Sterne, Laurence 3 j y, 466, 501 Stockfleth, Heinrich Arnold 61 Stockfleth, Maria Catharina 61 Stockinger, L u d w i g 188, 191 f., 195, 216, 224 Stolleis, Michael 64 Stone, Lawrence 75 Stuke, Horst 425 Sulzer, Johann George 202-207 Sutherland, James 119 Swales, Martin 346, 391, 493 Swammerdam, Jan 290 Swift, Jonathan 288 Szondi, Peter 350 Taine, Hippolythe 104 Terstegge, Georgiana 81 Thaies von Milet 332 Thomas von A q u i n 12, 291 Thomas, Keith 3, 12, 149 Thomé, Horst 387, 391, 420, 422ff., 426, 429 Thorson, Thomas L , 64, 7of. Tolstoi, Leo 505 Topazio, Virgil W . 281 f., 321

Toulmin, Stephen 3 Trevor-Roper, Hugh 12 Truchet, Jacques 81 Urfé, Honoré d' 183 Valéry, Paul 81, 281 Van Abbé, Derek M. 255, 271, 278 Van Cleve, John 269 ff. Van den Heuvel, Jacques 285ff., 292, 295, 2 9 7 f f · . 3 0 2 > 3 o 6 » 3°9» 3 1 2 » 3 ! 4> 3 ! 9> 3 2 2 > 325> 34° Vartanian, Aram 501 f. Vergil 93, 464 Versini, Laurent 154 Vidan, Gabrijela 501 Vierhaus, Rudolf 101 Viner, Jacob 13, 81 Voltaire 24, 81, 83, 2 8 1 - 3 4 1 , 343, 402f., 406, 462, 466, 479, 487, 498, 502 Voßkamp, Wilhelm 37, 43, 87, 89, 188, 199f-> 2 ° 7 f · » 2 I 3 f - > 346, 349, 353f.

2ΐ8ί

·»

22

3>

22

5> 2 3 6 »

Wade Ira O. 282, 285, 287^, 301 f., 306, 3 1 0 f f . , 3 i / i . , 330 Wagener, Hans 34 Wahrenburg, Fritz 89, 207, 218, 220, 224 Wais, Kurt 154f. Walzel, Oskar 204 Warning, Rainer 501 Watt, Ian 1 1 4 f f . , 153 Weber, Ernst 200, 218, 223 Weber, Max 3, 1 5 f . , 104, 140, 1 6 7 ^ , 187, ' 9 2 · 195 Weier, Winfried 48 Weimann, Robert i04f., 108, 1 1 4 f f . Weinrich, Harald 219, 3 1 7 , 320, 336

Weischedel, Wilhelm 76, 282, 47of., 479 Weitz, Morris 228, 3 1 2 , 394, 482 Weizsäcker, Carl Friedrich von 3 Wellershoff, Dieter 1 1 2 , 225, 228 Welzig, Werner 47 Wentzlaff-Eggebert, Friedrich-Wilhelm 48 Westfall, Richard S. 1 3 , 238 Wetterer, Angelika 229, 235 Wezel, Johann Carl 104, 349, 353 Wieland, Christoph Martin 24, 187, 325 f., 343. 353» 3 J " f f · » 363f·» 383-495. 497ff· Winckelmann, Johann Joachim 350 Witte, Bernd 254, 260 Wittgenstein, Ludwig 3 1 3 Wittram, Reinhard 63 Wölfel, Kurt 34öff., 352, 356, 358, 36off. Wojcik, Manfred i i 4 f . Wolff, Christian 236, 247, 327 Wolff, Erwin 107 Woodfield, Andrew 10 Woodtli, Otto 67 Wordsworth, William 104 Wright, Georg Henrik von 10 Würzner, Hans 438 Würzner, M. H . 489 Wuthenow, Ralph-Rainer 366 Zedier, Johann Heinrich 13 Zeeden, Ernst Walter 64 Zesen, Philipp 29, 61 Zigler und Kliphausen, Heinrich Anshelm von 23, 2 5 - 7 3 , 78f·» 8 1 , 85 f., 96, 197, 2 1 5 , 322, 324, 333, 401, 433, 462, 466, j 00 Zimmerman, Everett 124 Zimmermann, Johann Georg 383 ff. Zupancic, Peter 104 Zur Lippe, Rudolf 481

559