Protreptik und Rhetorik: Werbung für die Beredsamkeit in der römischen Literatur 9783515132916, 9783515132923, 3515132910

Die antike Rhetorik dient nicht nur der Produktion und Rezeption von Texten, sondern ist auch Teil des Erziehungswesens

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Protreptik und Rhetorik: Werbung für die Beredsamkeit in der römischen Literatur
 9783515132916, 9783515132923, 3515132910

Table of contents :
Vorwort und Danksagungen
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Protreptik für die Rhetorik – Motive und ihre Entstehung
1.1 Was ist Protreptik?
1.2 Isokrates: Von der Paränese zur Protreptik
1.2.1 An Nikokles und Nikokles (Isoc. 2 und 3)
1.2.2 Euagoras (Isoc. 9)
1.3 Von Isokrates zu Dionysios von Halikarnassos
1.3.1 Ps.-Isokrates, An Demonikos ([Isoc.] 1)
1.3.2 Ps.-Demosthenes, Erotikos ([or. 61])
1.3.3 Dionysios von Halikarnassos
1.4 Zu den Protreptikoi in der Philosophie
1.5 Zusammenfassung
2. Von Athen nach Rom: Wege der Protreptik für die Rhetorik
2.1 Begrifflichkeiten: protreptische Motive und das Motiv der Protreptik
2.2 Autoren in Rom: Cato d. Ä., Cicero und Seneca d. Ä.
2.3 Protreptik für die Rhetorik zwischen Konstanz und Wandel
3. Cato der Ältere
3.1 Cato als Redner und Vorbild
3.2 Cato und Karneades
3.3 Cato und sein Sohn (zu Ad filium und zur Epistula ad M. filium)
3.4 Zusammenfassung
4. Cicero
4.1 Einleitung
4.2 Vorbetrachtungen: Cicero als Berater
4.2.1 Ein paränetischer Brief: zu Cic. ad Q. fr. 1,1
4.2.2 Mahnbriefe Ciceros
4.2.3 Zum Commentariolum petitionis
4.3 Zur Protreptik in De oratore
4.3.1 Das erste Buch
4.3.2 Das zweite Buch
4.3.3 Das dritte Buch
4.3.4 Zusammenfassung
4.4 Aufruf zur Philosophie: Lucius Tullius Cicero in De finibus
4.5 Zur Protreptik in De officiis
4.5.1 Marcus Tullius Cicero der Sohn
4.5.2 Prologe und Epilog von De officiis – ein protreptischer Rahmen
4.5.3 Protreptik im eigentlichen Text von De officiis?
4.5.4 Zusammenfassung: die Bücher und ihr Rahmen – ein Widerspruch?
5. Seneca der Ältere
5.1 Die Adressaten der controversiae
5.2 Werbung für das eigene Urteil und Aufforderung zur imitatio
5.3 Die Rhetorenschule als ein Markt der Möglichkeiten
5.3.1 Beredsamkeit
5.3.2 Philosophie
5.3.3 Geschichtsschreibung
5.3.4 Poesie
5.4 Zusammenfassung
6. Ergebnisse
7. Literaturverzeichnis
8. Register
Index locorum
Stichwörter

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Roderich Kirchner

Protreptik und Rhetorik Werbung für die Beredsamkeit in der römischen Literatur

Klassische Philologie Franz Steiner Verlag

Altertumswissenschaftliches Kolloquium | 31

Altertumswissenschaftliches Kolloquium Interdisziplinäre Studien zur Antike und zu ihrem Nachleben Herausgegeben von Rainer Thiel und Meinolf Vielberg Wissenschaftlicher Beirat: Walter Ameling (Köln), Susanne Daub ( Jena), Michael Erler (Würzburg), Angelika Geyer ( Jena), Jan Dirk Harke ( Jena), Christoph Markschies (Berlin), Norbert Nebes ( Jena), Tilman Seidensticker ( Jena), Timo Stickler ( Jena) und Christian Tornau (Würzburg) Band 31

Protreptik und Rhetorik Werbung für die Beredsamkeit in der römischen Literatur Roderich Kirchner

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13291-6 (Print) ISBN 978-3-515-13292-3 (E-Book)

Vorwort und Danksagungen Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2020 vom Rat der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Habilitationsschrift angenommen; für den Druck wurde sie nur geringfügig überarbeitet. Ganz besonderen Dank möchte ich Herrn Prof. Dr. Meinolf Vielberg, Jena, sagen; er hat die Arbeit in allen Phasen ihrer Entstehung mit freundlicher und sehr hilfreicher Kritik und zahllosen Hinweisen unermüdlich gefördert. Ohne seine Anregungen, seine Ermunterungen und seine intensive Begleitung wäre sie nicht vorangekommen, geschweige denn fertiggestellt worden. Ich danke den beiden weiteren Gutachtern, Herrn Prof. Dr. Rainer Thiel, Jena, und Herrn Prof. Dr. Wilhelm Blümer, Mainz; sie haben mich ebenfalls bereits im Prozess des Schreibens mit vielen Hinweisen und Ratschlägen unterstützt und das Verfahren meiner Habilitation entscheidend gefördert. Frau Prof. Dr. Susanne Daub, Jena, und Herrn Prof. Dr. Matthias Perkams, Jena, danke ich für ihre Lehrgutachten. Einen herzlichen Dank sage ich hier auch Herrn PD Dr. Oliver Ehlen, Jena, und Herrn Prof. Dr. Christian Tornau, Würzburg, für ihre Anregungen, ihre Korrekturen und Kritiken und die förderlichen Gespräche über einen langen Zeitraum. Ein großer Dank gilt meinen Eltern Irmela und Dr. Dankwart Kirchner, Berlin; mein Vater hat die Mühen des Korrekturlesens auf sich genommen, viele Verbesserungen verdanke ich ihm. Und schließlich danke ich meiner Frau Susanne Kirchner und unseren Kindern Alione und Eduard Kirchner für ihre Geduld und ihre liebevolle Unterstützung.

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1 Protreptik für die Rhetorik – Motive und ihre Entstehung. . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Was ist Protreptik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Isokrates: Von der Paränese zur Protreptik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 An Nikokles und Nikokles (Isoc. 2 und 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Euagoras (Isoc. 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Von Isokrates zu Dionysios von Halikarnassos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Ps.-Isokrates, An Demonikos ([Isoc.] 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Ps.-Demosthenes, Erotikos ([or. 61]) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Dionysios von Halikarnassos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Zu den Protreptikoi in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 13 18 18 24 27 28 30 31 34 36

2 2.1 2.2 2.3

Von Athen nach Rom: Wege der Protreptik für die Rhetorik . . . . . . . . . . . . Begrifflichkeiten: protreptische Motive und das Motiv der Protreptik . . . . . . . . Autoren in Rom: Cato d. Ä., Cicero und Seneca d. Ä. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Protreptik für die Rhetorik zwischen Konstanz und Wandel . . . . . . . . . . . . . . . .

37 37 39 44

3 3.1 3.2 3.3 3.4

Cato der Ältere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cato als Redner und Vorbild. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cato und Karneades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cato und sein Sohn (zu Ad filium und zur Epistula ad M. filium) . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48 49 52 55 62

4 Cicero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Vorbetrachtungen: Cicero als Berater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Ein paränetischer Brief: zu Cic. ad Q. fr. 1,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Mahnbriefe Ciceros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Zum Commentariolum petitionis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63 63 66 66 73 74

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Inhaltsverzeichnis

4.3 Zur Protreptik in De oratore. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4.3.1 Das erste Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 4.3.1.1 Zum Vorwort (de orat. 1,6–20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 4.3.1.2 Zu den einleitenden Gesprächen und Reden (de orat. 1,24–95) . . 83 4.3.1.3 Zum ersten Zwischengespräch (de orat. 1,96–112) . . . . . . . . . . . . . . . 89 4.3.1.4 Begabung, Lerneifer, Übung (de orat. 1,113–159) . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4.3.1.5 Zum zweiten Zwischengespräch (de orat. 1,160–165) . . . . . . . . . . . . 97 4.3.1.6 Zum dritten Zwischengespräch (de orat. 1,202–209) . . . . . . . . . . . . 99 4.3.1.7 Zum Schluss des ersten Buches (de orat. 1,256–265) . . . . . . . . . . . . . 101 4.3.2 Das zweite Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.3.2.1 Zum Vorwort (de orat. 2,1–11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.3.2.2 Zu Antonius’ Lob der Beredsamkeit (de orat. 2,33–38) . . . . . . . . . . 107 4.3.2.3 Zu de orat. 2,85–96 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4.3.2.4 Zum Schlussgespräch (de orat. 2,361–367) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4.3.3 Das dritte Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.3.3.1 Zum Vorwort (de orat. 3,1–16). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.3.3.2 Zum einleitenden Gespräch (de orat. 3,17–18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4.3.3.3 Über die virtutes elocutionis (de orat. 3,19–55) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4.3.3.4 Über Rhetorik und Philosophie (de orat. 3,56–81) . . . . . . . . . . . . . . 123 4.3.3.5 Über vita activa und vita contemplativa (de orat. 3,82–90) . . . . . . . . 127 4.3.3.6 Zu de orat. 3,91–143 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 4.3.3.7 Das Zwischengespräch (de orat. 3,144–147) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 4.3.3.8 Das Schlussgespräch (de orat. 3,228–230) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 4.3.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4.4 Aufruf zur Philosophie: Lucius Tullius Cicero in De finibus. . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 4.5 Zur Protreptik in De officiis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 4.5.1 Marcus Tullius Cicero der Sohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4.5.1.1 Die Studien eines Zwanzigjährigen in Athen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4.5.1.2 Ein Bericht aus Athen: Trebonius an Cicero den Vater (Cic. fam. 12,16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 4.5.1.3 Noch ein Bericht aus Athen: der junge Cicero an Tiro (Cic. fam. 16,21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 4.5.2 Prologe und Epilog von De officiis – ein protreptischer Rahmen . . . . . . . . . . . 158 4.5.2.1 Das Vorwort zum ersten Buch (off. 1,1–6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 4.5.2.2 Das Vorwort zum zweiten Buch (off. 2,1–8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4.5.2.3 Das Vorwort zum dritten Buch (off. 3,1–6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 4.5.2.4 Der Epilog der drei Bücher (off. 3,121). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176

Inhaltsverzeichnis

4.5.3 Protreptik im eigentlichen Text von De officiis? 4 5 3 1 Lernen und Erkenntnis 4 5 3 2 Rhetorische Studien in De officiis 4 5 3 3 Cicero als Vorbild seines Sohns 4.5.4 Zusammenfassung: die Bücher und ihr Rahmen – ein Widerspruch? 5 51 52 53

9 178 180 182 190 193

Seneca der Ältere Die Adressaten der controversiae Werbung für das eigene Urteil und Aufforderung zur imitatio Die Rhetorenschule als ein Markt der Möglichkeiten 5.3.1 Beredsamkeit 5.3.2 Philosophie 5.3.3 Geschichtsschreibung 5.3.4 Poesie 5 4 Zusammenfassung

196 198 200 207 211 212 214 216 218

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Ergebnisse

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Literaturverzeichnis

225

8 Register Index locorum Stichwörter

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Einleitung Die antike Rhetorik ist nicht nur ein System zur Produktion und Rezeption von Reden und anderen Texten, sondern auch Teil des Erziehungswesens der Antike.1 Wer Unterricht in der Beredsamkeit anbietet, muss sein Selbstverständnis darstellen und für sich werben, besonders wenn er mit den Angeboten anderer um die Gunst der Schüler konkurriert. Diese unter dem Begriff der Protreptik zusammengefasste Werbung findet auch in literarischen Formen ihren Niederschlag; für die Rhetorik gibt es zwar keine eigene voll entwickelte Gattung der Werbeschrift, es lässt sich aber beobachten, dass bestimmte Motive und Topoi – die zum Teil der Philosophie entlehnt sind bzw. sich der gleichen Prinzipien wie die philosophische Protreptik bedienen – immer dort wieder verwendet und tradiert werden, wo junge Menschen angesprochen werden, die nach heutigen Begriffen am Beginn ihrer Studienzeit stehen und sich zwischen verschiedenen Angeboten entscheiden können und die außerdem zur Anstrengung und zum Engagement motiviert werden sollen. In einer herausgehobenen Form versteht die Rhetorik sich – durchaus unabhängig von der jeweiligen Staatsform und gültig für ganz verschiedene Staatsformen – als Erzieherin eines künftigen Politikers und formuliert den Anspruch, dass ihre Bildung eine notwendige Qualifikation sei und ein Staatsmann auf das hier vermittelte Wissen nicht verzichten dürfe. Umgekehrt wird der Eindruck erweckt, dass ein erfolgreicher Schüler der Rhetorik mit ihr einen Zugang zur Verantwortung im Staat erwerben könne. 1

Vgl. den Überblick bei P. Kuhlmann, Zur Rolle der Sprache in der Bildung von der griechisch-lateinischen Antike bis zur Frühen Neuzeit, in: J. Kilian, B. Brouër und D. Lüttenberg (Hrsg.), Handbuch Sprache in der Bildung, Berlin/Boston 2016, 163–182; in erster Linie zur Schulbildung in der Kindheit vgl. die Beiträge in: J. E. Grubbs und T. Parkin (Hrsg.), The Oxford Handbook of Childhood and Education in the Classical World, Oxford 2013. Eine sehr gute Darstellung der Materie wie auch der Forschung bei: J. Christes, R. Klein und Chr. Lüth (Hrsg.), Handbuch der Erziehung und Bildung in der Antike, Darmstadt 2006, darin besonders der Abschnitt von Chr. Lüth, K. Vössing und R. Klein, Studium: Griechenland, Rom – Republik und Kaiserzeit, Spätantike, 125–155. Von der älteren Literatur seien genannt S. F. Bonner, Education in Ancient Rome. From the Elder Cato to the Younger Pliny, Berkeley/Los Angeles 1977, und H.-I. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, hrsg. von R. Harder, Freiburg/München 1957 (Original: Histoire de l’éducation dans l’Antiquité, Paris 1948).

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Einleitung

Daraus folgt, dass wir es mit einer Werbung im doppelten Sinn zu tun haben: Werbung für einen Lehrer sowie eine bestimmte Bildung und Werbung um einen vielversprechenden Schüler, der wiederum aufgrund seiner Stellung oder seiner Erfolge ein Aushängeschild für die Rhetorik ist. Die Werbung zeigt sich als Motivation des Schülers und als Aufruf zu Anstrengung und Leistung und hebt die hohen Ansprüche und den Wert der Rhetorik hervor. Traditionell eng verknüpft damit ist die Beratung; neben der Protreptik steht oft die Paränese, mit der derjenige, der für die Rhetorik wirbt, einen Ausweis seiner Fähigkeiten sowohl in den res als auch in den verba liefern kann. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, die jeweiligen literarischen Motive und Formen der Werbung für die Beredsamkeit und für den Unterricht in der Rhetorik in der römischen Literatur zu beschreiben. Da bei Cato dem Älteren, insbesondere aber bei Cicero und schließlich bei Seneca dem Älteren protreptische Motive aus dieser Tradition aufgegriffen, angewendet und weiterentwickelt werden, stehen sie als einschlägige Autoren im Zentrum der Untersuchung (Kapitel 3 bis 5). Zuvor sollen jedoch die sachlichen Grundlagen dafür anhand der Betrachtung der griechischen Literatur und insbesondere einiger Stellen bei Isokrates gelegt werden. Es wird skizziert, wie die griechische Rhetorik in Auseinandersetzung mit der Sophistik und der Philosophie protreptische Motive und Formen herausbildet und verwendet. Die zentrale Gestalt ist hier Isokrates, der sich als Lehrer an seine Schüler richtet und dabei mehrere Punkte miteinander verbindet: Werbung für die Rhetorik in literarischer Form, den Anspruch, einen jungen Herrscher mit rhetorischer Bildung zu erziehen und ihn zu beraten, sowie die Formulierung von Forderungen an einen Schüler und an dessen Anstrengung beim Studium der Rhetorik. Weil diese Muster, derer Isokrates sich bedient, auch bei zeitgleichen und späteren Autoren mit kontextabhängigen Modifikationen zu finden sind, kann von der Herausbildung von Motiven gesprochen werden. Diese Autoren, deren Texte zumindest kurz diskutiert werden sollen, haben gemeinsam, dass sie für den rhetorischen Unterricht bzw. die rhetorische Bildung werben. Hier entsteht eine Tradition, die in der römischen Literatur aufgegriffen und fortgeführt wird (Kapitel 1). Aus den Ergebnissen dieser Vorbetrachtungen ergeben sich Überlegungen zum Vorgehen der Arbeit und zur Einordnung ihres Themas; hinzu kommt eine genauere Begründung der Auswahl der römischen Autoren, die Gegenstand der Untersuchung sind (Kapitel 2).

1 Protreptik für die Rhetorik – Motive und ihre Entstehung

1.1 Was ist Protreptik? Unter Protreptik versteht man in der modernen Forschung die Werbung für einen bestimmten Unterricht, für einen bestimmten Lehrer und um einen bestimmten Schüler.1 Diese konkreten Absichten und Ziele unterscheiden sie von der allgemeinen Präsentation von Regeln für ein richtiges und tugendgemäßes Verhalten und Handeln, die man als Paränese bezeichnet.2 Die Protreptik hat ihren Ursprung in den – schriftlich nicht fixierten bzw. uns verlorenen – Reden, mit denen die Sophisten und Philosophen für ihren Unterricht geworben haben und die neben Aufforderungen zur Tugend und zur Bildung auch Proben des Könnens (ἐπίδειξις) der Lehrer enthalten haben.3 Die Forschung hat zahlreiche Spuren und Reflexe dieser Reden insbesondere in den Werken Platons und Xenophons aufgezeigt.4 So unterscheidet Slings in seiner grundlegenden Darstellung zwischen Protreptik im engeren und im weiteren Sinn; während Protreptik im weiteren Sinne später in der Diatribe eine Entsprechung finde, ist der engere Sinn dadurch gekennzeichnet, dass nicht nur zur Tugend, sondern zu

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Zum Begriff vgl. K. Gaiser, Protreptik, HWPh 7 (1989), 1540–41: Protreptik „[…] ist die Kunst der werbenden, gewinnenden, bekehrenden Überredung zu einem erstrebenswerten Tun, besonders auch zur Aneignung des dafür erforderlichen Wissens.“ Dazu siehe auch unten S. 18. Zwischen Paränese und Protreptik (im engeren Sinn als Werbung für ein Wissen und seinen Erwerb) unterscheidet sehr deutlich bereits P. Hartlich, De exhortationum a Graecis Romanisque scriptarum historia et indole, Leipziger Studien zur classischen Philologie 11 (1889), 207–336, hier 222–224. Zur Entwicklung der sophistischen Bildung und zu den Konflikten, die zwischen Sophisten, Philosophen und Rhetoren ausgetragen werden, vgl. die grundlegende Darstellung bei H. von Arnim, Leben und Werke des Dio von Prusa mit einer Einleitung: Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jugendbildung, Berlin 1898, 1–114. Aus diesem Grund werden hier zunächst diese eher philosophischen Texte betrachtet, danach die, die eher der Rhetorik zuzuordnen sind. Die chronologische Reihenfolge kann – je nach Datierung einzelner Texte – anders ausfallen.

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Protreptik für die Rhetorik – Motive und ihre Entstehung

einem Studium aufgerufen wird.5 Hinzu kommt nach Slings eine Differenzierung zwischen einer expliziten (d. h. direkten) Protreptik und einer nur implizit (d. h. indirekt) vorhandenen Form. Für die Frage, wie bei den Sophisten die explizite Protreptik im engeren Sinne ausgesehen haben könnte, nennt Slings im Anschluss an Gaiser drei mögliche Formen,6 die bei Platon und anderen zu finden sind: 1) eine epideiktische Rede, die sowohl für den Erwerb der Tugend als auch für einen Lehrer wirbt; 2) eine Verteidigung der Lehrbarkeit der Tugend; 3) ein Lob der Techne.7 Als Beispiel einer protreptischen Rede sei hier (nach Slings) der Beginn von Platons Kurzdialog Kleitophon angeführt.8 Kleitophon erzählt in der Fiktion des Dialogs dem Sokrates, wie er von den Reden eben des Sokrates erschüttert worden sei und davon wiederum dem Lysias erzählt habe. Sokrates habe seine Mitmenschen getadelt, dass sie nicht nach Lehrern der Gerechtigkeit für sich und ihre Kinder suchten.9 Er habe sie aufgefordert, sich um ihre Seelen zu kümmern und die Gerechtigkeit zu erlernen (Pl. Clit. 407a–408c). Dann habe er, so Kleitophon weiter, die Gefährten des Sokrates gefragt, was denn nach der bloßen Aufforderung zur Tugend komme (Pl. Clit. 408c–410a).10 Aus der Fortführung dieser Frage entwickelt sich das weitere Gespräch über das Thema Gerechtigkeit.

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S. R. Slings, Plato, Clitophon. Ed. with Introduction, Translation and Commentary, Cambridge 1999, 58–63. Diese Unterscheidung zeigt bereits, dass die Bezeichnung eines Textes als protreptisch nicht immer eindeutig ist und dass die Forschung zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gelangt ist. K. Gaiser, Protreptik und Paränese bei Platon, Untersuchungen zur Form des platonischen Dialogs, Stuttgart 1959, insbesondere 33–70. Slings, 64–65. Slings, 69–74, ordnet folgende Texte einem „corpus of philosophical protreptic“ zu: die (größtenteils verlorenen) Protreptikoi von Antisthenes (D. L. VI 1; SSR V A 11), Aristippos (D. L. II 85; SSR IV A 144) und Aristoteles, Passagen aus Platon (Euthd. 278e–282d; 288d–292e und 306d bis zum Schluss des Dialogs sowie Ap. 29d–e; 30b und 36c–d), die Fragmente des Alkibiades des Aischines von Sphettos (SSR VI A 41–54), Xenophon Mem. 4,2 und schließlich den pseudoplatonischen Dialog Alkibiades 1. Hinzu kommt eine Gruppe von Texten, die Slings (zum Teil abweichend von Gaiser, 1959) als protreptische Situationen charakterisiert (vgl. die Liste bei Slings, 76). Slings grenzt zwar ein bestimmtes Corpus protreptischer Texte ab, räumt aber durchaus ein, dass das auch unter pragmatischen Aspekten geschehe. Das zeigt besonders sein Verzicht auf Texte aus Xenophons Memorabilien (bis auf X. Mem. 4,2; vgl. Slings 75), die eindeutig protreptische Motive enthalten. Als ein Beispiel kann das Gespräch zwischen Sokrates und Glaukon, dem Bruder Platons, herangezogen werden (X. Mem. 3,6): der junge Glaukon möchte gerne eine gestaltende Rolle im Staat übernehmen (προστατεύειν ἡμῖν διανενόησαι τῆς πόλεως, 2) und dadurch Ruhm erlangen. Sokrates führt ihm aber im Gespräch sein Nichtwissen in vielen Bereichen vor und fordert ihn auf, ein handlungsorientiertes Wissen zu erwerben (εἰ οὖν ἐπιθυμεῖς εὐδοκιμεῖν τε καὶ θαυμάζεσθαι ἐν τῇ πόλει, πειρῶ κατεργάσασθαι ὡς μάλιστα τὸ εἰδέναι, ἃ βούλει πράττειν, 18). Slings, 209–234, hält den Dialog durchaus für echt und sieht in ihm eine kritische Auseinandersetzung Platons mit den Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Protreptik. Zur Forschung und zur Frage der Echtheit vgl. auch G. S. Bowe, In Defense of Clitophon, CPh 102 (2007), 245–64, besonders 245 mit Anm. 2. Kleitophon gibt diese Rede des Sokrates wörtlich wieder (Pl. Clit. 407b–e), Sokrates hört zu. Vgl. dazu Gaiser, 1959, 140–147.

Was ist Protreptik?

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Platons Dialog Euthydemos gibt eine gute Vorstellung davon, wie eine kohärente protreptische Argumentation in der Philosophie aufgebaut ist. Erler gliedert und paraphrasiert die entsprechenden Passagen des Dialogs wie folgt: „1. Jeder strebt nach einem glücklichen Leben (278e). 2. Man glaubt, Glück bestehe im Besitz vieler Dinge (279a ff.). 3. Zu traditionellen Gütern wie Geld, Gesundheit, Unsterblichkeit gehört rechter Gebrauch (280be). 4. Wissen ist folglich notwendig für das Glück und intrinsisch gut (281de). 5. Jeder muss nach Wissen streben – philosophieren (282ad). 6. Nicht jedes, nur das für das Glück notwendige, nützliche Wissen ist zu suchen (288de). Da nützlich allein das ist, was wir richtig gebrauchen, muss es also um ein Wissen gehen, bei dem Tun, d. h. das Erkennen, mit dem Wissen konvergiert, wie man das Erkannte oder Getane richtig verwendet (289b). 7. Die Frage nach der Existenz eines solchen Wissens führt in die Aporie (292e–293a). Vor allem erweist sich die Politik (βασιλικὴ τέχνη, 291bd) nicht als das gesuchte Wissen.“11 Die Aporie am Ende steht dabei mit dem Anliegen des Protreptikos nicht in Widerspruch, da sie – wie Erler zeigen möchte – nur scheinbar existiert und sich mithilfe der Philosophie Platons, die eben das gesuchte rechte Wissen bieten kann, leicht lösen lässt.12 Damit im Zusammenhang steht, dass sich Platons Euthydemos nicht nur als protreptischer Dialog deuten lässt, sondern auch als ein Dialog, in dem es um Protreptik und ihre Darstellung geht.13 Hier ist also die Aufforderung, ein entsprechendes Wissen zu erwerben, das zum Glück führen kann, verbunden mit der Person des Sokrates, der sich als der richtige Lehrer mit dem richtigen Angebot erweist. Elemente protreptischer Argumentation und ihre literarische Darstellung werden ebenfalls gut sichtbar in dem Dialog Alkibiades 1,14 der in die Nähe der Schriften Platons gehört und den Slings als einen philosophischen Protreptikos charakterisiert.15 Die Person des Alkibiades, die bei Ps.-Platon, Aischines von Sphettos und nach der Vermutung Gaisers auch in Xenophons Vorlage für Mem. 4,2 auftritt,16 steht für einen 11

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M. Erler, Platon, Werke, Übersetzung und Kommentar, Bd. VI 1, Euthydemos, Göttingen 2017, 83–84, gliedert die Argumentation in die oben zitierten sieben Teile, die durch ein Zwischenstück voneinander getrennt sind, und bezeichnet diese Abschnitte als „Modell eines protreptischen Argumentes“. Zu den Passagen des Dialogs, die Slings als protreptisch im engeren Sinn bezeichnet, siehe oben Anm. 7. Erler, 2017, 84–85. So Erler, 2017, 83. Diese Deutung berührt sich mit der Interpretation, die Slings für den Kleitophon entwickelt. Zur Frage der Authentizität des Alkibiades 1 vgl. M. Erler, Grundriss der Geschichte der Philosophie, Die Philosophie der Antike, Bd. 2/2, Platon, Basel 2007, 291 f., 663–665 (mit Literatur). Siehe oben Anm. 7. Der Dialog weist Ähnlichkeiten auf mit dem (in nur wenigen Fragmenten erhaltenen) Alkibiades des Aischines von Sphettos (fr. 1–11 Dittmar = SRR VI A 42–52), dem Alkibiades 2 aus dem Umfeld der Schriften Platons und dem Gespräch zwischen Sokrates und Euthydemos in Xenophons Memorabilien (4,2); vgl. Gaiser, 1959, 92–95, sowie K. Döring, Der Sokrates des Aischines von Sphettos und die Frage nach dem historischen Sokrates, Hermes 112 (1984), 16–30. Gaiser, 1959, 77–81; zurückhaltender Slings, 73, der meint, Xenophons Vorlage sei nicht zu identifizieren.

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Protreptik für die Rhetorik – Motive und ihre Entstehung

jungen Erwachsenen mit starken politischen Ambitionen und großem Ehrgeiz und somit für die Zielgruppe, an die sich ein Protreptikos zuerst richtet. Hier soll es genügen, kurz den Alkibiades 1 zu betrachten und dabei die Frage nach seiner philosophischen Absicht auszuklammern, da sie vom Gegenstand dieser Untersuchung wegführt. Der noch nicht zwanzigjährige Alkibiades des Dialogs ist eine ebenso ehrgeizige wie glänzende Figur und scheint alle wegen seiner Schönheit und seiner Herkunft und dank seines Pflegevaters Perikles zu überragen ([Pl.] Alc. 1 104a–b). Er wird bald in der Volksversammlung auftreten und dort Einfluss auf die Politik Athens gewinnen können (107b–c). Der deutlich ältere Sokrates ist sein hartnäckiger Verehrer (ἐραστής), dem es bislang nicht gelungen ist, die Aufmerksamkeit des jungen Mannes zu gewinnen. Auch wenn Sokrates im Verlaufe des Dialogs vieles, was an Alkibiades außerordentlich ist, hinterfragt und mit dem Blick auf seine deutlich reicheren und besser erzogenen Konkurrenten in Sparta und in Persien relativiert und ihm insbesondere nachweist, dass sein Wissen um die Gerechtigkeit (109b–116c) äußerst mangelhaft ist, zweifelt er doch nie an, dass es seine Bestimmung sei, als Politiker zu wirken und dort Ruhm zu erwerben. Sokrates verspricht dem jungen Mann, dass er ihm als sein Lehrer den Weg dorthin zeigen werde.17 Dieser Weg führt zur Sorge um sich selbst, die auf der Selbsterkenntnis und der Tugend der Besonnenheit beruht (118b–134c), verlangt aber keine Änderung des eigentlichen Ziels im Leben. Die Protreptik ist radikal auf die Person des Sokrates und das, was er alleine vermitteln kann, ausgerichtet, andere Vorbilder werden als defizitär oder aber als unerreichbar dargestellt: Perikles kann seine Kompetenz als Staatsmann selbst nicht weitergeben, wie das schlechte Gedeihen seiner eigenen Söhne und des Kleinias, des Mündels des Perikles, zeigt. Vorbildlich an ihm ist nur, dass er bei Pythokleides, Anaxagoras und Damon Unterricht hatte.18 Seine potentiellen Gegner sind dem Alkibiades weit voraus: die Spartaner sind an Herkunft, an Erziehung, an etlichen Tugenden und an Besitz überlegen, die Perser verfügen über hohe Kultur und über Reichtum, der unermesslich ist.19 Der Vergleich mit den Politikern Athens, die ebenfalls nicht über das richtige Wissen verfügen, verbietet sich für einen jungen Mann mit den Ambitionen eines Alkibiades.20 17

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Vgl. zum Motiv des Ruhms [Pl.] Alc. 1 105e4–5 οὐδεὶς ἱκανὸς παραδοῦναι τὴν δύναμιν, ἧς ἐπιθυμεῖς, πλὴν ἐμοῦ, μετὰ τοῦ θεοῦ μέντοι und 124c9–10 […] λέγω, ὅτι ἡ ἐπιφάνεια δι᾽ οὐδενὸς ἄλλου σοι ἔσται ἢ δι᾽ ἐμοῦ. Zur Bedeutung von ἐπιφάνεια an dieser Stelle vgl. LSJ s. v. A II,2 (outward show, fame, distinction). [Pl.] Alc. 1 118c–119a; vgl. Pl. Prt. 319e–320b: Sokrates sagt, dass Perikles seine Söhne nicht das lehre, was er selbst am besten beherrsche, und argumentiert damit an dieser Stelle gegen den Sophisten Protagoras, dass die politische Kunst nicht lehrbar sei. [Pl.] Alc. 1 121b–124a; bemerkenswert ist der ‚Tugendkanon‘, der der Prinzenerziehung der Perser zugrunde liegt. [Pl.] Alc. 1 119b–c; dagegen erscheint bei Aischines von Sphettos (insbesondere fr. 8 Dittmar) Themistokles als Vorbild für Alkibiades in der Frage, wie man Einsicht gebrauchen müsse, vgl. Döring, 19–21.

Was ist Protreptik?

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Die Ausführlichkeit dieser Argumentation zeigt zumindest indirekt, wie wichtig die Orientierung an Vorbildern bzw. die Hinwendung an einen Lehrer in der Protreptik sind. Alkibiades bleiben nur Sokrates und sein Angebot. Der steht nicht in Konkurrenz mit anderen und warnt nicht vor falschen Lehrern.21 Der Anteil der Paränese und der Belehrung ist im Dialog vermutlich deswegen gering, weil dem jungen Alkibiades die Tätigkeit im Staat noch bevorsteht und weil es zunächst darauf ankommt, ihn für Selbsterkenntnis, Sorge um sich selbst und Besonnenheit zu gewinnen. Dennoch spielen politische und gesellschaftliche Themen eine zentrale Rolle im Dialog: so die Fragen nach dem δίκαιον im ersten Teil und dessen Relevanz für einen Politiker, kurz darauf nach dem Zusammenhang von Gerechtigkeit und Nutzen, wo Sokrates seinem Schüler an Beispielen aus dem Krieg zeigt, dass das Gute und Gerechte auch immer nützlich sei (114e–116d), und schließlich die Frage nach dem scheinbaren Widerspruch, der zwischen der Sorge um die eigenen Angelegenheiten bzw. um sich selbst und der Eintracht (ὁμόνοια) in der Gesellschaft (126a–127e) besteht. Diese Wahl der Themen zeigt deutlich die Verknüpfung der Protreptik zur Philosophie mit der Politik bzw. mit der Beratung einer Herrscherpersönlichkeit. Die λόγοι im Sinne der Rhetorik werden dagegen im Alkibiades 1 nicht wie bei dem unten zu behandelnden Isokrates enkomiastisch überhöht.22 Explizit rhetorisch gefärbte Protreptik liegt in diesem Dialog, der eine große Nähe zur Philosophie Platons aufweist, nicht vor. Einen Weg, der sich von Slings’ Kriterien für explizite und implizite Protreptik deutlich unterscheidet, wählt Collins in seiner groß angelegten Studie; unter Rückgriff auf die Theorie literarischer Gattungen gelangt er zu einem sehr flexiblen Begriff von Protreptik.23 Da es ihm dieser Ansatz erlaubt, Texte einzubeziehen, in denen Slings aus methodischen Gründen nur protreptische Situationen sieht (z. B. Platons Protagoras), kann Collins größere Zusammenhänge betrachten und den grundlegenden Unterschied zwischen einer ‚direkten‘ protreptischen Rede und einer ‚indirekten‘ protreptischen Rede in einem Bericht oder einem Dialog herausarbeiten.24 Collins verweist dabei zu Recht darauf, dass der Unterschied zwischen Philosophie und Rhetorik im 4. Jahrhundert schwer zu bestimmen sei, das Angebot der Schule des Isokrates allerdings zum Unterschied von Platon eher auf praktischen Nutzen abziele.25 21 22 23

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[Pl.] Alc. 1 119a wird Zenon von Elea als Lehrer des Pythodoros und des Kallias genannt – ein weiteres Beispiel für den Unterricht führender Politiker bei Philosophen. [Pl.] Alc. 1 109c6 setzt Sokrates voraus, dass Alkibiades sich mit Reden an die Volksversammlung wenden werde. J. H. Collins II, Exhortations to Philosophy. The Protreptics of Plato, Isocrates, and Aristotle, Oxford 2015, 16–34, mit der Diskussion der Modelle insbesondere von F. Cairns, Generic composition in Greek and Roman poetry, Edinburgh 1972. Collins verwendet zwar den Begriff der Gattung („genre“), beschreibt aber Formen, die zunächst offen seien und sich schließlich zu einer Gattung festigen würden (33): „Protreptic discourse in the fourth century consists of competing ways of seeing the world, and at this point in time is only a genre in the making.“ Collins, 34; diese Unterscheidung ist besonders auch für Ciceros De oratore von Bedeutung. So Collins, 33.

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Protreptik für die Rhetorik – Motive und ihre Entstehung

Auch wenn hier die Brücke von der Philosophie zur Rhetorik geschlagen wird, fehlen doch in der Beschreibung, die Collins zur Entwicklung der ‚Gattung‘ der Protreptik von den Sophisten bis zu Aristoteles entwirft,26 Anknüpfungen an Entwicklungen, die maßgeblich von Isokrates ausgehen und deutlich in den Bereich der Beredsamkeit gehören. Sie können zwar nicht in den Kontext einer gefestigten Gattung gestellt werden, sind aber doch Zeugnisse einer Werbung für die Beredsamkeit und die rhetorische Bildung mithilfe wiederkehrender Motive. Diese Texte sollen hier, ausgehend von Isokrates, näher skizziert werden. 1.2 Isokrates: Von der Paränese zur Protreptik 1.2.1 An Nikokles und Nikokles (Isoc. 2 und 3) Isokrates’ Reden An Nikokles (Isoc. 2) und Nikokles oder An die Kyprier (Isoc. 3) werden als paränetische Reden bezeichnet;27 sie haben gemeinsam, dass in ihnen das Element der spruchhaften Belehrung besonders deutlich hervortritt. Unter Paränese lassen sich die Aufforderung und Ermahnung verstehen, sich an bestimmte Regeln für die richtige Gestaltung des Lebens bzw. eines Lebensbereiches zu halten, und zugleich die Präsentation wichtiger Regeln.28 In der beratenden Rede (λόγος συμβουλευτικός) fordert der Sprecher den Adressaten auf, in einer bestimmten Weise zu handeln. So legt Isokrates Philipp nahe, einen Krieg gegen die Perser zu unternehmen (Isoc. 5). Auch hier steht neben den konkreten Absichten ein moralisches Anliegen. So meint

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Vgl. den Titel des Schlusskapitels „Epilogue. Aristotelian Protreptic and a Stabilized Genre“ bei Collins, 242–264; vgl. auch unten S. 34 f. Die Gruppierung der paränetischen Reden (1–3) stammt aus der Antike ([Hermog.] Meth. 25, [D. H.] Rh. 5,1 und die Hypothesis von [Isoc.] 1). Zur gesamten Anordnung der Reden seit Hieronymus Wolf (1516–1580) vgl. E. Drerup in der praefatio seiner Ausgabe (Leipzig 1906, CLXVIII). Die Reden 2 und 3 bilden gemeinsam mit dem Euagoras (or. 9) die Gruppe der kyprischen Reden. Die in den Ausgaben an der ersten Stelle stehende Rede An Demonikos (or. 1) wird heute von der Forschung dem Isokrates zumeist abgesprochen (siehe unten S. 28, Anm. 79). Zur Einführung in die Forschung zu Isokrates vgl. P. Roth, Isokrates: Redenschreiber und Vorkämpfer Griechenlands, in: M. Erler und Chr. Tornau (Hrsg.), Handbuch Antike Rhetorik, Berlin/Boston 2019, 231–247, und T. L. Papillon, Isocrates, in: I. Worthington (Hrsg.), A Companion to Greek Rhetoric, Oxford 2007, 58–74. Zum Begriff und dessen Geschichte vgl. H.-W. Bartsch, Paränese, HWPh 7 (1989), 115–6. Zum Wort und seiner Verwendung im 4. Jh. v. Chr. vgl. W. W. Fortenbaugh, Παραίνεσις: Isocrates and Theophrastus, Hyperboreus 15 (2009), 251–262. Zur Kampfparänese, die bei Homer im Kontext des Epos, bei Kallinos und Tyrtaios mit einem starken Bezug zur zeitgenössischen Realität auftritt, vgl. die Untersuchung von J. Latacz, Kampfparänese, Kampfdarstellung und Kampfwirklichkeit in der Ilias, bei Kallinos und Tyrtaios, München 1977; Latacz, 1, Anm. 1, sieht in der Kampfparänese einen Ausgangspunkt („Strukturmodell“) für Entwicklungen in anderen Gattungen (Geschichtsschreibung, Philosophie und erotische Dichtung).

Isokrates: Von der Paränese zur Protreptik

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Dionysios von Halikarnassos, dass Herrscher, wenn sie diese Rede läsen, von erhabenerer Gesinnung erfüllt würden und sich stärker für die Tugend interessierten.29 In der paränetischen Rede fehlt dagegen der pragmatische Zweck, und die häufig in Imperativen gehaltene Belehrung überwiegt. Auf die Herkunft der Paränese aus der Spruchdichtung weist Isokrates selbst hin, indem er die Dichter Hesiod, Theognis und Phokylides nennt, deren Lehren (ὑποθῆκαι) zwar allgemein gelobt, aber allzu selten befolgt würden und die somit vor ähnlichen Problemen wie der paränetische Redner stünden.30 Die Rede An Nikokles (Isoc. 2), die in die Zeit zwischen 374 und 370 datiert wird,31 hält – so jedenfalls suggeriert es der Text – Isokrates dem Nikokles, dem jungen Herrscher über Salamis auf Zypern,32 während auch dessen Untertanen zugegen sind; denn in der Rede, mit der sich Nikokles selbst an die Kyprier richtet (Isoc. 3), heißt es, das Publikum habe die vorangegangene Rede gehört und höre nun den anschließenden Teil:33 Isoc. 3,11 Τὸν μὲν οὖν ἕτερον (sc. λόγον), ὡς χρὴ τυραννεῖν, Ἰσοκράτους ἠκούσατε, τὸν δ’ ἐχόμενον, ἃ δεῖ ποιεῖν τοὺς ἀρχομένους, ἐγὼ πειράσομαι διελθεῖν, οὐχ ὡς ἐκεῖνον ὑπερβαλούμενος, ἀλλ’ ὡς προσῆκόν μοι περὶ τούτων μάλιστα διαλεχθῆναι πρὸς ὑμᾶς.

Das zentrale Thema von Isoc. 2, wie ein König herrschen solle,34 wird im Mittelteil der Rede (9–39) behandelt, um den der Prolog (1–8) und der Epilog (40–54) als Rahmen gelegt sind. Nikokles selbst kann man sich, auch wenn explizite Hinweise im Text fehlen, als sehr jung vorstellen; der historische Nikokles gelangte vermutlich unerwartet früh auf den Thron, nachdem sein Vater Euagoras und sein Bruder Pnytagoras ermordet worden waren.35 Ein weiteres Argument dafür, dass Nikokles sehr jung ist, ergibt 29 30 31

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D. H. Isoc. 6,3 πολλὴ γὰρ ἀνάγκη τοὺς ἀναγιγνώσκοντας ταῦτα δυνάστας φρονήματός τε μείζονος ὑποπίμπλασθαι καὶ μᾶλλον ἐπιθυμεῖν τῆς ἀρετῆς. Isoc. 2,43. Vgl. Chr. Eucken, Isokrates, Seine Positionen in der Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Philosophen, Berlin/New York 1983, 215, der Isoc. 2 an den Anfang der Regierung des Nikokles (seit 374/3 v. Chr.) setzt. Terminus post quem von Isoc. 3 ist der Krieg zwischen Sparta und Theben von 371 v. Chr., auf den vermutlich in Isoc. 3,33 angespielt wird. Über ihn ist sehr wenig bekannt, vgl. H. Schaefer, Nikokles 2), RE XVII (1936), 350–1, und P. Högemann, Nikokles [I], DNP 8 (2000), 918. – In der Hypothesis wird die Nachricht aus Hermippos zitiert, Isokrates habe von Nikokles 20 Talente erhalten und ihm daraufhin die Rede gewidmet; vgl. F. Wehrli, Hermippos, der Kallimacheer, Die Schule des Aristoteles, Supp. 1, Basel/Stuttgart 1974, ad fr. 64. Eucken, 1983, 216, Anm. 18, sieht das Verhältnis von Rede und Bezahlung wohl zu Recht umgekehrt. Zum Problem der Adressaten und der Adressatenkreise vgl. W. Jaeger, Paideia, Die Formung des griechischen Menschen, Berlin 1933–1947, Bd. 3, 148, und S. Usener, Isokrates, Platon und ihr Publikum, Hörer und Leser von Literatur im 4. Jahrhundert v. Chr., Tübingen 1994, 36. Isokrates selbst blickt in der Antidosis-Rede auf die Rede An Nikokles zurück (15,67–73). Davon zu unterscheiden sind Schriften περὶ βασιλείας, denen der appellative Charakter fehlt; vgl. unten S. 66 f. Theop. FGrHist 115 F 103,12.

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Protreptik für die Rhetorik – Motive und ihre Entstehung

sich aus der Nachahmung in [Isoc.] 1, wo Demonikos so jung ist, dass er nach Ansicht des Sprechers viele Ratschläge noch gar nicht würdigen kann (44).36 Der Auffassung von Blass,37 dass Isokrates hier nur einen bunten und unsystematischen Kranz von Mahnungen und Regeln biete, ist zuerst Jaeger entgegengetreten mit dem Nachweis, dass der Redner hier die „innere Bildung“ des Herrschers grundlegend darstelle.38 Über Jaegers Ergebnisse hinaus betont Eucken in seiner gründlichen Analyse der kyprischen Reden die Bedeutung, die die kritische Auseinandersetzung mit Platon und insbesondere mit dessen Politeia für Isokrates habe, und sieht in Isokrates’ Herrscherbild eine Art realistischen Gegenentwurf zu Platons Ideal.39 Hier sollen allerdings nicht die paränetischen Abschnitte, sondern der Prolog und insbesondere der Epilog der Rede An Nikokles näher betrachtet werden, da sich in ihrem Rahmen Aussagen über das allgemeine didaktische Anliegen des Isokrates finden. Der Redner präsentiert seine Rede als Gabe, die der König von ihm empfange. Während andere den Herrschern teure Kleider oder Kunstgegenstände aus Bronze oder Gold brächten und mit diesen Geschenken auf eine einträgliche Gegenleistung spekulierten, sei die Gabe des Isokrates von anderer Natur:40 Isoc. 2,2 ἡγησάμην δ’ ἂν γενέσθαι ταύτην καλλίστην δωρεὰν καὶ χρησιμωτάτην καὶ μάλιστα πρέπουσαν ἐμοί τε δοῦναι καὶ σοὶ λαβεῖν, εἰ δυνηθείην ὁρίσαι, ποίων ἐπιτηδευμάτων ὀρεγόμενος καὶ τίνων ἔργων ἀπεχόμενος ἄριστ’ ἂν καὶ τὴν πόλιν καὶ τὴν βασιλείαν διοικοίης.

Die Bedeutung dieser Gabe wird daran erkennbar, dass Privatleute von den Zwangslagen des täglichen Lebens und den Gesetzen täglich erzogen würden und ferner die Möglichkeit besäßen, einander offen und freimütig (vgl. παρρησία, 3) zu loben und zu tadeln, während Herrscher nur mit wenigen Umgang hätten, die ihnen zudem nach dem Munde redeten (οἱ δὲ συνόντες πρὸς χάριν ὁμιλοῦσιν, 4). Das Ergebnis davon sei, dass diejenigen, die eigentlich einen viel höheren Bedarf an Wissen und Bildung hätten, in einem Zustand ohne Belehrung blieben (ἀνουθέτητοι διατελοῦσιν, 4).41 Im Grunde sei daher für viele der Stand des Herrschers weniger attraktiv als der des Untertanen. Daraus ergibt sich, dass Isokrates für sich eine ganz besondere Leistung in Anspruch nimmt, indem er dem Herrscher das vermittle, was eigentlich nur Privatleute 36 37 38 39 40 41

Siehe unten S. 28. F. Blass, Die attische Beredsamkeit, 2. Abth., Isokrates und Isaios, Leipzig 21892, 271–5. Jaeger, Band 3, 161–164. Eucken, 1983, 213–269, hier besonders 231; zusammenfassend ders., Zum Konzept der πολιτικοὶ λόγοι bei Isokrates, in: W. Orth (Hrsg.), Isokrates – Neue Ansätze zur Bewertung eines politischen Schriftstellers, Trier 2003, 34–42, hier 39. Collins, 203–4, zeigt die Nähe dieser Stelle zur Poesie. Das Bild des Tyrannen, dem es aufgrund seiner Lebensumstände an der richtigen Belehrung fehlen muss, findet sich ähnlich [D.] Ep. 3,11: Θαυμάζω δ’ εἰ μηδεὶς ὑμῶν ἐννοεῖ, ὅτι τῶν αἰσχρῶν ἐστιν τὸν δῆμον τὸν Ἀθηναίων, συνέσει καὶ παιδείᾳ πάντων προέχειν δοκοῦντα, ὃς καὶ τοῖς ἀτυχήσασιν ἀεὶ κοινὴν ἔχει καταφυγήν, ἀγνωμονέστερον φαίνεσθαι Φιλίππου, ὃς ἀνουθέτητος ὢν εἰκότως, τραφείς γ’ ἐν ἐξουσίᾳ, ὅμως ᾤετο δεῖν, ἡνίκ’ ηὐτύχησεν μάλιστα, τότ’ ἀνθρωπινώτατα πράττων φαίνεσθαι […].

Isokrates: Von der Paränese zur Protreptik

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erreichen könnten, nämlich den eigenen Fortschritt (vgl. 3: βελτίους γίγνεσθαι) dank einer Belehrung. Die Rahmenthemen von Isoc. 2 sind somit die Bildung und das Verhältnis von Lehrer und Schüler im Kontext der Fürstenerziehung, die Isokrates verspricht.42 Die Bemerkungen dienen Isokrates jedoch nicht nur dazu, den Wert der eigenen Leistung hervorzuheben, sondern auch als Ermahnung des Nikokles, sich in der richtigen Weise bilden zu lassen. Diese Aufforderung wird im Proömium, das ja primär einleitenden Charakter hat,43 allerdings noch zurückgehalten und tritt erst am Schluss der Rede deutlich hervor, wo der Fürst aufgefordert wird, sich die richtigen Lehrer auszuwählen, indem er darauf achte, wer ihm am besten eine allgemeine Fähigkeit vermitteln könne, sich zu beraten;44 denn darauf komme es an bei der Entscheidung zwischen den konkurrierenden Lehrern, die ihren Schülern mithilfe von ἐριστικοὶ λόγοι, πολιτικοὶ λόγοι bzw. anderen λόγοι einen Fortschritt versprächen. Die beste Probe sei, zu betrachten, wie sie in einer konkreten Situation (ἐπὶ τῶν καιρῶν, 52) Rat erteilten.45 Die Verknüpfung von Anfang und Schluss ist in or. 2 augenfällig: so wird das Motiv der Gabe (δωρεά) am Schluss (54) explizit wiederaufgenommen; die Rolle der lehrhaften Dichtung wird zu Beginn erwähnt, am Schluss ausführlicher diskutiert.46 Die stärkste Klammer ist jedoch das Stichwort der Erziehung (παιδεύειν bzw. παίδευσις), das den Anfang (Isoc. 2,2.4.8.12) durchzieht und am Ende erneut erscheint (51). Diese Struktur verleiht dem Rahmen ein so großes Gewicht, dass neben das Thema der Rede πῶς δεῖ βασιλεύειν ὀρθῶς47 ein weiteres tritt, nämlich wie und wo ein Fürst lernen solle. In der Paränese des Hauptteils war die Aufforderung an den Tyrannen, sich möglichst gut zu bilden, eine neben anderen.48 Wegen der augenfälligen Gestaltung des Rahmens tritt dieses Thema jedoch in den Vordergrund und wird beherrschend.

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Isokrates sieht in der Ausbildung und Beratung von ‚Fürsten‘ eines seiner Kernthemen, auch wenn das Konzept seiner Schule weiter ausgerichtet ist und alle anspricht, die eine herausgehobene Position anstreben; vgl. die programmatische Stelle im Panathenaikos (Isoc. 12,11): […] ἐπὶ τὸ φιλοσοφεῖν καὶ πονεῖν καὶ γράφειν, ἃ διανοηθείην, κατέφυγον, οὐ περὶ μικρῶν τὴν προαίρεσιν ποιούμενος οὐδὲ περὶ τῶν ἰδίων συμβολαίων οὐδὲ περὶ ὧν ἄλλοι τινὲς ληροῦσιν, ἀλλὰ περὶ τῶν Ἑλληνικῶν καὶ βασιλικῶν καὶ πολιτικῶν πραγμάτων […]. Insofern ist Isokrates’ Werben um Nikokles vergleichbar mit dem Interesse, das dem jungen Alkibiades entgegengebracht wird. Vgl. dazu allgemein auch E. Haskins, Logos and Power in Sophistical and Isocratean Rhetoric, in: T. Poulakos und D. Depew (Hrsg.), Isocrates and Civic Education, Austin 2004, 84–103. Zum Proömium und seinen Funktionen vgl. H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Stuttgart 42008, § 263–279. Isoc. 2,51 […] δεῖ τὸν καλῶς πεπαιδευμένον ἐξ ἑκάστου τούτων φαίνεσθαι βουλεύεσθαι δυνάμενον. Zur Rolle der καιροί für die Anwendung des Gelernten vgl. Isoc. 12,30 und 15,184 sowie H. Wersdörfer, Die φιλοσοφία des Isokrates im Spiegel ihrer Terminologie. Untersuchungen zur frühattischen Rhetorik und Stillehre, Leipzig 1940, 62–72. Isoc. 2,3 und 2,43–44. So der Scholiast in der Hypothesis. Isoc. 2,13 […] τῶν τε παρόντων τοῖς φρονιμωτάτοις πλησίαζε καὶ τῶν ἄλλων οὓς ἂν δύνῃ μεταπέμπου, καὶ μήτε τῶν ποιητῶν εὐδοκιμούντων μήτε τῶν σοφιστῶν μηδενὸς οἴου δεῖν ἀπείρως ἔχειν […].

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Protreptik für die Rhetorik – Motive und ihre Entstehung

An dieser Stelle lässt sich feststellen, dass die Paränese in Isoc. 2 um die Protreptik ergänzt und von ihr geradezu abgelöst wird. Die im Anschluss an Gaiser und Slings für Isokrates’ Rede An Nikokles und andere Texte zu betonende Unterscheidung zwischen Paränese und Protreptik ist freilich nicht an der in den Texten selbst verwendeten Terminologie festzumachen, sondern daran, ob nicht nur etwas geraten wird, sondern ob Werbung für einen Lehrer bzw. für das Lernen an sich und somit in eigener Sache vorliegt.49 Der Unterschied verschwindet natürlich stellenweise, da sowohl Paränese als auch Protreptik zur Aneignung der bzw. einer Tugend aufrufen. So sagt Isokrates im paränetischen Hauptteil von An Nikokles, der junge Fürst solle nicht zulassen, dass Menschen ohne Einsicht über Vernünftige herrschten.50 Da nun die Tugend eine Ausbildung verlangt, enthält die Tugendparänese einen im Sinne Slings’ impliziten Aufruf zur Bildung. Dennoch besteht das Eigentümliche der Protreptik in der Aufforderung, dass sich die Schüler an bestimmte Lehrer und an den von ihnen angebotenen Unterricht halten sollen, um zur Tugend zu gelangen. Vorausgesetzt wird dabei eine Konkurrenz verschiedener Angebote, zwischen denen der künftige Schüler entscheiden muss. Isokrates fordert Nikokles auf, mit Dichtern und mit Philosophen (σοφισταί) Umgang zu haben und ihr Hörer (ἀκροατής) bzw. sogar Schüler (μαθητής) zu werden. Dabei solle er die ‚schlichteren‘ beurteilen, mit den ‚bedeutenderen‘ von ihnen aber in den Wettbewerb treten.51 Hier sagt Isokrates nicht nur, dass der Schüler seine Lehrer sorgfältig wählen müsse, sondern betont auch, dass es Unterschiede in ihrer Bedeutung und Qualität gebe und die einen weniger relevant (ἐλλάττονες), die anderen aber größer (μείζονες) seien; wenn man das von den Personen auf die Stoffe überträgt, klingt hier das später für Ciceros Protreptik sehr zentrale Motiv an, dass die Rhetorik etwas Größeres (maius) sei, als viele vermuteten.52 Isokrates selbst grenzt sich bekanntlich häufig von anderen Lehrern ab.53 Hier soll auf eine Passage der Antidosis-Rede verwiesen werden, wo gegen diejenigen polemisiert wird, die mit einem ganz eigenen Verständnis von Tugend Schüler anwürben,54 während Isokrates für sich selbst in Anspruch nimmt, nicht nur einzelne, sondern alle zu erziehen und zwar auf der Grundlage allgemein anerkannter Begriffe.55 Es wird also 49 50 51 52 53 54 55

So z. B. Isoc. 4,75 ohne Bezug auf die Bildung: τὰ πλήθη προτρέψαντες ἐπ’ ἀρετήν. Isoc. 2,14 (wiederholt in 15,72–73): μάλιστα δ’ ἂν αὐτὸς ὑπὸ σαυτοῦ παρακληθείης, εἰ δεινὸν ἡγήσαιο τοὺς χείρους τῶν βελτιόνων ἄρχειν καὶ τοὺς ἀνοητοτέρους τοῖς φρονιμωτέροις προστάττειν. Isoc. 2,13 […] καὶ παρασκεύαζε σεαυτὸν τῶν μὲν ἐλαττόνων κριτήν, τῶν δὲ μειζόνων ἀγωνιστήν· διὰ γὰρ τούτων τῶν γυμνασίων τάχιστ’ ἂν γένοιο τοιοῦτος οἷον ὑπεθέμεθα δεῖν εἶναι τὸν ὀρθῶς βασιλεύσοντα καὶ τὴν πόλιν ὡς χρὴ διοικήσοντα. Dazu siehe unten S. 80 f. Zum Beispiel in der Rede ‚Gegen die Sophisten‘ (Isoc. 13); dazu vgl. Eucken, 1983, 5–43. U. von Wilamowitz-Moellendorff, Platon, 2. Bd., Berlin 21920, 122–3, bezieht diese Kritik des Isokrates auf Platons Akademie, andere auf den – allerdings schwer zu datierenden – Protreptikos des Aristoteles (so z. B. Ross, der diese Stelle als Testimonium zitiert). Isoc. 15,84–5 ἀλλὰ μὴν καὶ τῶν ἐπὶ τὴν σωφροσύνην καὶ τὴν δικαιοσύνην προσποιουμένων προτρέπειν ἡμεῖς ἂν ἀληθέστεροι καὶ χρησιμώτεροι φανεῖμεν ὄντες. Οἱ μὲν γὰρ παρακαλοῦσιν ἐπὶ τὴν ἀρετὴν

Isokrates: Von der Paränese zur Protreptik

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deutlich, dass die Protreptik des Isokrates eine doppelte Natur hat: mit dem Aufruf zur Tugend eng verbunden ist die Werbung für einen bestimmten Unterricht und für die Entscheidung, den Umgang (ὁμιλία) eines ganz bestimmten Lehrers zu suchen.56 Diese Werbung ist bei Isokrates allerdings kein vordergründiger Selbstzweck, sondern Teil des größer angelegten Konzepts seiner λόγων παιδεία und seiner Schule.57 Auch der Schluss der Rede An Nikokles enthält, wie bereits angedeutet, genau diesen Imperativ: Isoc. 2,52–3 καὶ τοὺς μὲν μηδὲν γιγνώσκοντας τῶν δεόντων ἀποδοκίμαζε· δῆλον γὰρ ὡς ὁ μηδὲν ὢν αὐτὸς χρήσιμος οὐδ’ ἂν ἄλλον φρόνιμον ποιήσειεν· τοὺς δὲ νοῦν ἔχοντας καὶ δυναμένους ὁρᾶν πλέον τι τῶν ἄλλων περὶ πολλοῦ ποιοῦ καὶ θεράπευε, γιγνώσκων, ὅτι σύμβουλος ἀγαθὸς χρησιμώτατον καὶ τυραννικώτατον ἁπάντων τῶν κτημάτων ἐστίν.

Unter dem guten Berater darf man sich eben nicht so etwas wie einen Kabinettsminister des Fürsten vorstellen, sondern, wie der Gedankengang von Isoc. 2,51–2 zeigt, einen Lehrer, der Tugend, richtiges Verhalten und vor allem Bildung lehren kann (vgl. φρόνιμον ποιήσειεν sowie φρονιμωτέρους ἔσεσθαι τοὺς αὑτοῖς πλησιάζοντας, 51). Die an Nikokles gerichtete Protreptik demonstriert daher zugleich das Selbstbewusstsein des Isokrates. Während die oben erwähnte Metaphorik des Geschenks den Umstand impliziert, dass der Redner kommt und bringt, der Fürst aber bereits da ist und entgegennimmt, ist Nikokles als Schüler automatisch derjenige, der sich zu seinem Lehrer begibt und dessen Nähe sucht. Dabei wird das Wort πλησιάζειν gleichermaßen von den Untertanen und den Schülern gebraucht,58 so dass sich das Verhältnis von ‚Herrschen‘ und ‚Beherrschtwerden‘ fast umzukehren zu scheint, sobald aus dem Fürsten der Schüler wird. Dass der Rahmen der Rede An Nikokles (Isoc. 2) als Protreptik aufgefasst werden kann, beweist – besonders, wenn man die Reden in enger Folge liest – der Beginn des Nikokles (Isoc. 3). Isokrates legt dem Fürsten eine Verteidigung (1–5) sowie ein Lob (5–9) der λόγοι in den Mund und demonstriert damit anschaulich den Erfolg seiner

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καὶ τὴν φρόνησιν τὴν ὑπὸ τῶν ἄλλων μὲν ἀγνοουμένην, ὑπ’ αὐτῶν δὲ τούτων ἀντιλεγομένην, ἐγὼ δ’ ἐπὶ τὴν ὑπὸ πάντων ὁμολογουμένην· κἀκείνοις μὲν ἀπόχρη τοσοῦτον, ἢν ἐπαγαγέσθαι τινὰς τῇ δόξῃ τῶν ὀνομάτων δυνηθῶσιν εἰς τὴν αὑτῶν ὁμιλίαν, ἐγὼ δὲ τῶν μὲν ἰδιωτῶν οὐδένα πώποτε φανήσομαι παρακαλέσας ἐπ’ ἐμαυτὸν, τὴν δὲ πόλιν ὅλην πειρῶμαι πείθειν τοιούτοις πράγμασιν ἐπιχειρεῖν, ἐξ ὧν αὐτοί τ’ εὐδαιμονήσουσιν καὶ τοὺς ἄλλους Ἕλληνας τῶν παρόντων κακῶν ἀπαλλάξουσιν. Isokrates bildet mit seinem Unterricht auch Lehrer der Rhetorik aus (15,203–4). Zur λόγων παιδεία vgl. den instruktiven Überblick bei E. Alexiou, Der Euagoras des Isokrates, Ein Kommentar, Berlin/New York 2010, 6–20, sowie die weiteren Beispiele aus Isokrates bei Collins, 171–181. Isokrates eröffnete seine Schule ca. 390 v. Chr. und hatte in ihr nach dem Verlust des Familienvermögens im peloponnesischen Krieg zunächst auch eine Möglichkeit, mit Unterricht und Beratung Geld zu verdienen (Isoc. 15,161–2); zur Schule vgl. den Überblick bei M. Weißenberger, Isokrates, DNP 5 (1998), 1138–1143, besonders 1138, und die Zusammenstellung bei J. Engels, Antike Überlieferungen über die Schüler des Isokrates, in: W. Orth (Hrsg.), Isokrates – Neue Ansätze zur Bewertung eines politischen Schriftstellers, Trier 2003, 175–194. Isoc. 2,4.27 (Untertanen) und Isoc. 2,13.51 (Schüler).

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Protreptik für die Rhetorik – Motive und ihre Entstehung

Werbung.59 Spätestens hier betritt die eigentliche Hauptakteurin die Bühne, die Rhetorik bzw. die umfassende rhetorische Bildung, die von Isokrates vermittelt wird.60 Nikokles hebt die allumfassenden und kulturstiftenden Segnungen der Rhetorik hervor, ihre erzieherische Kraft und kommt dann auf das in Isoc. 2,51 vorliegende Konzept der εὔβουλοι zurück, die hervorragend in der Lage seien, bei sich selbst über die jeweiligen Situationen (πράγματα) nachzudenken.61 Isokrates selbst wiederholt diese Überlegungen in der Antidosis-Rede und misst ihnen daher eine große Bedeutung bei.62 Das in unserem Zusammenhang Entscheidende an diesem Lob der λόγοι, das gerade aus der Perspektive späterer Texte sehr topisch erscheinen kann, ist aber der Umstand, dass es aus dem Munde des Nikokles stammt und dass der Fürst sehr gut verstanden hat und nun umsetzt, wozu der Redner ihn eben aufgefordert hat.63 Er hat sich, wie nicht nur seine eigenen Untertanen, sondern vor allem die Leser des Isokrates sehen können, den richtigen Lehrer ausgewählt und trägt nun dessen Botschaft vor. Da ein eigentlicher Epilog in Isoc. 3 fehlt und somit kein Ring wie in Isoc. 2 vorliegt, kann der Bezug des Proömiums auf den Schluss der vorangehenden Rede als sehr eng empfunden werden. 1.2.2 Euagoras (Isoc. 9) Der Euagoras des Isokrates (9) gilt als das erste bedeutende Prosaenkomion auf eine historische Person.64 Die relative Chronologie der Reden 2, 3 und 9 ist in der Forschung umstritten. Alexiou setzt den Euagoras mit guten Gründen hinter die Reden 59

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Zum Proömium von Isoc. 3 und seiner Gliederung vgl. Eucken, 1983, 249–255, der betont, dass der Begriff λόγος an dieser Stelle ganz allgemein sei und vieles umfasse (353). Zur Geschichte der laus eloquentiae und besonders auch zu Gorgias’ Helena (8–13) vgl. H. K. Schulte, Orator, Untersuchungen über das ciceronianische Bildungsideal, Frankfurt am Main 1935, 9–58, der sehr eingehend den protreptischen Charakter der Reden 2 und 3 des Isokrates beschreibt (besonders 16–28). Die Bedeutung der Rhetorik im Bildungsprogramm des Isokrates wird auch in der (fragmentarisch erhaltenen) Rede Gegen die Sophisten (Isoc. 13) deutlich; vgl. W. Steidle, Redekunst und Bildung bei Isokrates, Hermes 80 (1952), 257–296, besonders 259–267. Eucken, 1983, 65–71, diskutiert Isokrates’ programmatische Darstellung seiner Redekunst in der Helena-Rede (Isoc. 10,8–13). Isoc. 3,8 […] ῥητορικοὺς μὲν καλοῦμεν τοὺς ἐν τῷ πλήθει δυναμένους λέγειν, εὐβούλους δὲ νομίζομεν οἵτινες ἂν αὐτοὶ πρὸς αὑτοὺς ἄριστα περὶ τῶν πραγμάτων διαλεχθῶσιν; hier wird zwischen dem Redner unterschieden, der das γένος συμβουλευτικόν in einer Versammlung praktisch anwendet, und demjenigen, der wie der Sprecher selbst dessen Methoden benutzt, um Erkenntnisse zu gewinnen und Entscheidungen zu treffen. Isoc. 15,253–7 = 3,5–9; vgl. auch 4,48–9 (380 v. Chr.). Zu den laudes eloquentiae bei Cicero siehe unten S. 84 ff. Das Arrangement der Reden 2 und 3 wird hier daher als weniger ironisch angesehen, als es Usener, 24, tut; auch Collins, 217, beschreibt den Schluss von Isoc. 2 (besonders 50–52) als „curious twist“. Vgl. zur Gattung und ihrer Geschichte Alexiou, 28–37; Isokrates selbst betont das Innovative seines Vorhabens (vgl. ἐπίδοσις, 9,7), während Aristoteles ältere Enkomien zu kennen scheint (Rh. 1368a17). Einen allgemeinen Überblick über Epideiktik und Lobrede gibt Th. Zinsmaier, Epideik-

Isokrates: Von der Paränese zur Protreptik

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An Nikokles (2) und Nikokles (3).65 Auch im Euagoras bilden Proömium und Epilog einen kunstvoll gestalteten Rahmen, in dessen zweitem Teil sich eine paränetische bzw. protreptische Partie findet.66 Hier richtet sich der Redner an Nikokles, den Sohn und Nachfolger des Euagoras.67 Nachdem die Reden wegen ihrer Eignung zum Lob des Euagoras über andere Kunstwerke wie Statuen oder Denkmäler gestellt worden sind (73–75), bezeichnet Isokrates seinen Euagoras als πόλυ καλλίστην […] παράκλησιν (76) für Nikokles und alle Nachfahren des Euagoras,68 da ihnen nun die Tugenden des Euagoras gesammelt und ausgeschmückt zur Betrachtung vorlägen. Doch Isokrates geht es um mehr als nur darum, Nikokles zum Leben nach dem Vorbild seines Vaters aufzufordern, so dass auch hier neben die Paränese die Protreptik zur rhetorischen Bildung (vgl. das emphatisch gebrauchte λέγειν in der folgenden Passage) tritt: Isoc. 9,77 τοὺς μὲν γὰρ ἄλλους προτρέπομεν ἐπὶ τὴν φιλοσοφίαν ἑτέρους ἐπαινοῦντες, ἵνα ζηλοῦντες τοὺς εὐλογουμένους τῶν αὐτῶν ἐκείνοις ἐπιτηδευμάτων ἐπιθυμῶσιν, ἐγὼ δὲ σὲ καὶ τοὺς σοὺς οὐκ ἀλλοτρίοις παραδείγμασιν χρώμενος, ἀλλ’ οἰκείοις παρακαλῶ, καὶ συμβουλεύω προσέχειν τὸν νοῦν, ὅπως καὶ λέγειν καὶ πράττειν μηδενὸς ἧττον δυνήσει τῶν Ἑλλήνων.

So kann Euagoras für Nikokles im besonderen Maße dadurch vorbildlich werden, dass sein Leben Gegenstand einer enkomiastischen Darstellung geworden ist.69 Nur auf diese Weise kann Euagoras, von dem Isokrates an keiner Stelle behauptet, dass er sich besonders für Reden oder Philosophie interessiert habe, zum Vorbild genau dafür werden.70 Auf die Verschmelzung von Enkomion und Protreptikos, die den Euagoras auszeichnet, weist bereits sehr deutlich Sykutris hin.71 Nikokles und über ihn hinaus

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tik zwischen Affirmation und Artistik. Die antike Theorie der feiernden Rede im historischen Aufriß, in: H. Schanze und J. Kopperschmidt (Hrsg.), Fest und Festrhetorik, München 1999, 375–398. Alexiou, 38–9, nimmt eine Abfassung des Euagoras um das Jahr 370 v. Chr. an. Dass die Platzierung der Paränese hinter dem Enkomion sinnvoll ist, hebt der Scholiast hervor (Euag. 1, p. 122 Dind.). Vgl. Usener, 37, zur Struktur der Anrede und zur Sprechsituation. Alexious (ad 76) Erklärung unter Verweis auf das Lexikon des Harpokration (s. v.), παράκλησις sei synonym mit προτροπή, ist durchaus richtig, wenn man Rh.Al. 1421b21–23 vergleicht: προτροπὴ μέν ἐστιν ἐπὶ προαιρέσεις ἢ λόγους ἢ πράξεις παράκλησις, ἀποτροπὴ δὲ ἀπὸ προαιρέσεων ἢ λόγων ἢ πράξεων διακώλυσις. Wenn man stärker zwischen Protreptik und Paränese differenziert, gehört die παράκλησις jedoch eher in den Bereich der Paränese. So auch Alexiou ad 77 (S. 182) „Das Enkomion auf Euagoras ist folglich Teil eines erzieherischen Prozesses, an dem auch Nikokles teilhat.“ Isokrates hebt an Euagoras die Förderung der Bildung hervor (9,50), nicht aber seine Bildung selbst. Euagoras erscheint in den Listen der Schüler bzw. Vertrauten (im weitesten Sinne) des Isokrates, vgl. dazu Engels, 194. J. Sykutris, Isokrates’ Euagoras, Hermes 62 (1927), 24–53, hier 35–36 (Nachdruck in F. Seck [Hrsg.], Isokrates, Darmstadt 1976, 74–121), der die Herkunft der Paränese aus der Grabrede betont. K. Münscher, Isokrates, RE IX (1916), 2146–2227, hier 2192, sieht in der Paränese einen „deutlich erkennbare[n] Nebenzweck“ von Isoc. 9. Hartlich, 329, verweist auf [D. H.] Rh. 6,4, wo für die Grabrede Protreptik empfohlen wird: μετὰ ταῦτα δὲ (nach dem Lob des Verstorbenen) ἐν μὲν τοῖς κοινοῖς ἐπὶ τὸ προτρεπτικὸν μεταβησόμεθα, προτρέποντες ἐπὶ τὰ ὅμοια τοὺς ὑπολειπομένους. Hier

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Protreptik für die Rhetorik – Motive und ihre Entstehung

sämtliche Fürsten, denen Nikokles seinerseits vorbildlich sein soll,72 werden, so Sykutris, von Isokrates zum Leben nach einem idealen Vorbild ermuntert, dessen Konstitution die Leistung des Isokrates ist und das als Ausweis der rhetorischen Fähigkeiten des Lehrers gelten kann.73 Diese Protreptik ist es, die den Euagoras mit der Rede An Nikokles und dem Beginn des Nikokles verbindet. Am Schluss (80–81) wird Nikokles nochmals und in allgemeinen Wendungen ([…] ἐπιμελεῖσθαι καὶ τὴν ψυχὴν ἀσκεῖν, […] περὶ πολλοῦ ποιεῖσθαι τὴν φρόνησιν […]) eindringlich gemahnt, sich an das zu halten, was sein Lehrer ihm vermittelt. Den Maßstab bilden dabei sein Vater – bzw. dessen Bild, das Isokrates gezeichnet hat – sowie die anderen Vorfahren, deren Reihe bis hinauf zu Zeus reicht. Gefordert wird dabei auch eine emotional gefärbte Technik der Selbstüberprüfung und Selbstkritik. So müsse Nikokles betrübt sein (ἀγανακτεῖν), wenn er sich nicht weit von denen unterscheide, die in gleichen Ehren stünden. Nikokles befindet sich in einem Prozess, wo die Möglichkeit des kontinuierlichen Fortschritts (ἂν γὰρ ἐμμένῃς τῇ φιλοσοφίᾳ καὶ τοσοῦτον ἐπιδιδῷς, ὅσονπερ νῦν, ταχέως γενήσει τοιοῦτος οἷόν σε προσήκει) ebenso besteht wie die des Scheiterns (ἔστιν δ’ ἐπὶ σοὶ μὴ διαμαρτεῖν τούτων). Wenn der Sprecher damit betont, dass der Lernende eigenverantwortlich sei, kann das zum einen als weitere Motivation und Ermunterung verstanden werden, zum anderen wird die Verantwortung stillschweigend vom Gebenden zum Nehmenden verlagert: die Schüler – nicht aber die Lehrer – müssen es sich in erster Linie zuschreiben, falls es mit dem Lernen nicht wie erhofft vorangeht. Dieses negative Szenario tritt jedoch sofort wieder in den Hintergrund und wird durch das Versprechen ersetzt, dass Nikokles beim Lernen schnellen Erfolg haben und sein Ziel erreichen könne (ταχέως γενήσει τοιοῦτος οἷόν σε προσήκει).74 Die Darstellung des Nikokles ist von Isokrates, wie bereits diskutiert worden ist, offensichtlich in hohem Maße literarisch geformt worden. Wie ist damit das, was wir über die historische Person wissen, ins Verhältnis zu setzen? Bei Theopomp und Anaximenes erscheint der Fürst gemeinsam mit Straton von Sidon als ausschweifender Herrscher, der ein gewaltsames Ende gefunden habe.75 Wir können nicht klären, ob die Bemerkung des Anaximenes von Lampsakos, dass Nikokles sich auf dem Gebiet

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geht es allerdings anders als im Euagoras nicht um die Aufforderung zur Bildung, sondern darum, das Vorbild des Verstorbenen nachzuahmen. So Isoc. 9,78 […] πολλοὺς τῶν βασιλέων ποιήσεις ζηλώσαντας τὴν σὴν παίδευσιν τούτων τῶν διατριβῶν ἐπιθυμεῖν […]. In ähnlicher Absicht, jedoch ohne Protreptik im Sinne von Bildungswerbung, wendet sich Isokrates an Philipp, Timotheos und Archidamos: Philipp soll sich Herakles (5,109–112) zum Vorbild nehmen, Timotheos den Tyrannen Kleomis von Methymna (Ep. 7,7–9) und Archidamos seinen Vater Agesilaos (Ep. 9,11). Vgl. Isoc. 15,199–200, wo Isokrates gegen falsche Erwartungen polemisiert, dass eine Ausbildung in seiner Schule in kürzester Zeit möglich sei. Aus Ath. 12,41 (ähnlich Ael. VH 7,2) Theopomp FGrHist 115 F 114 und Anaximenes FGrHist 72 F 18. Zur modernen Forschung siehe oben Anm. 32.

Von Isokrates zu Dionysios von Halikarnassos

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der Üppigkeit und der Ausschweifung eifrig bemüht habe (ἐσπουδακότι περὶ τρυφὴν καὶ ἀσέλγειαν), ein realistisches Bild enthält oder einer bestimmten Motivik gehorcht76 oder aus Isoc. 9,78 ([…] πρῶτος καὶ μόνος τῶν ἐν τυραννίδι καὶ πλούτῳ καὶ τρυφαῖς ὄντων φιλοσοφεῖν καὶ πονεῖν ἐπικεχείρηκας […]) herausgesponnen ist und zudem – falls der Gebrauch von σπουδάζειν hier doppeldeutig ist – eine ironische Spitze gegen den angeblichen Philosophen auf dem Thron enthält; denkbar ist auch, dass nicht nur eine dieser Annahmen zutrifft. Daher ist Alexious Erklärung, dass die Ermahnungen darauf schließen lassen, dass Isokrates mit seinem Schüler unzufrieden sei,77 nicht überprüfbar und wirft zudem die Frage auf, welches Motiv Isokrates gehabt hätte, den Fürsten als einen schlechten Schüler vorzuführen, der möglicherweise scheitern werde. Sinnvoller erscheint daher die Annahme, dass Isokrates die echte Person des Nikokles ebenso wenig im Auge hat wie die seines Vaters, von dem bekanntlich ein sehr ideelles Bild gezeichnet wird. Vielmehr geht es darum, Nikokles als einen Schüler darzustellen, auf dessen Weg zur Tugend bzw. Bildung naturgemäß zahlreiche Mühen und Anstrengungen warten (φιλοσοφεῖν καὶ πονεῖν ἐπικεχείρηκας, 78) und der – wie jeder andere Schüler auch – scheitern kann und deshalb ermahnt wird, für sich Verantwortung zu übernehmen. Zugleich steht Nikokles paradigmatisch für einen Schüler, dessen Ziel es selbstverständlich ist, Verantwortung als Politiker bzw. Herrscher zu übernehmen, und dem Isokrates das für ihn geeignete Wissen vermitteln kann. Der Euagoras des Isokrates hat auf nachfolgende Schriften, unter denen an erster Stelle Xenophons Agesilaos steht, prägend gewirkt.78 Die Gattung des Enkomions oder der enkomiastischen Biographie kann hier jedoch ausgeblendet werden, wenn man sich auf protreptische Texte beschränkt. 1.3 Von Isokrates zu Dionysios von Halikarnassos Im Folgenden sollen weitere Texte, bei denen Protreptik für die Rhetorik zu finden ist, betrachtet werden. Ps.-Isokrates, Ps.-Demosthenes und insbesondere Dionysios von Halikarnossos zeigen, dass die Werbung für die Beredsamkeit auch nach Isokrates fortgeführt wird, so dass Linien einer Tradition – die nicht zwingend auf direkter Abhängigkeit beruhen muss – sichtbar werden. 76 77 78

Zum Motiv der Tryphe und dem Interesse des Athenaeus daran vgl. R. J. Gorman und V. B. Gorman, The Tryphê of the Sybarites: A Historiographical Problem in Athenaeus, JHS 127 (2007), 38–60 (55–6 zu Nikokles). Alexiou ad 78 (S. 184–5) „Eine Erklärung für die vielfachen Ermahnungen des Isokrates an Nikokles ist wahrscheinlich die andersgeartete historische Realität.“ Die Schrift ist nach dem Tod des Agesilaos (360/59 v. Chr.) verfasst. Dazu Alexiou, 42–45, sowie zur weiteren Geschichte der Gattung G. Fraustadt, Encomiorum in litteris Graecis usque ad Romanam aetatem historia, Leipzig 1909.

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Protreptik für die Rhetorik – Motive und ihre Entstehung

1.3.1 Ps.-Isokrates, An Demonikos ([Isoc.] 1) Bei der unter dem Namen des Isokrates überlieferten Demonicea hat man zu Recht von einer „dublettenhaften strukturellen Ähnlichkeit“ mit An Nikokles gesprochen und aus diesem Umstand auf die Unechtheit geschlossen.79 Den Kern der Rede bildet eine längere Reihe von Sentenzen, mit denen der Sprecher den Adressaten belehren und gleichsam aus einer Schatzkammer (ὥσπερ ἐκ ταμιείου, 44) beschenken will.80 Das Motiv der Gabe wird im Proömium imitiert (δῶρον, 2). Der junge Mann Demonikos, Erbe eines reichen Vaters, lebt in einer Monarchie und wird einmal ein wichtiges Amt antreten.81 Demonikos selbst stellt sich der Scholiast noch als einen Knaben vor, dem gegenüber Isokrates einen etwas schlichteren Stil gebrauche.82 Er und sein verstorbener Vater Hipponikos sind allerdings vermutlich fingierte Personen.83 Nimmt man eine Nachahmung der Rede An Nikokles an,84 so hat der anonyme Verfasser auch die Konstellation Redner-Sohn-Vater übernommen. Da der Redner im Proömium die Freundschaft (συνήθεια, φιλία) betont, die ihn mit Hipponikos verbunden habe und nun auf Demonikos übergehe, und da der Adressat als Privatmann erscheint,85 ist die Beziehung zwischen ihnen symmetrischer und stärker gleichberechtigt angelegt als die zwischen Isokrates und Nikokles. Dem Sohn wird der Vater als Vorbild (οἰκεῖον καὶ καλὸν […] παράδειγμα, 9) zur Nachahmung empfohlen und ausführlich gelobt (9–12); eine dem Euagoras vergleichbare Lebensbeschreibung wird versprochen.86 Da Hipponikos bereits gestorben ist, übernimmt der Redner die Aufgabe der Tugendparänese, die eigentlich dem Vater zugekommen wäre.87

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So Usener, 35, mit einem Überblick über die Diskussion der Echtheitsfrage (Anm. 45); keine Zweifel an der Echtheit hat Papillon, 68. [Isoc.] 1,13–43; dazu vgl. C. Wefelmeier, Die Sentenzensammlung der Demonicea, Athen 1962, der (besonders 72) den ungeordneten Charakter der Sammlung betont. Das junge Alter wird in 44 erwähnt (die Formulierung lässt allerdings keine konkreten Rückschlüsse zu: πρὸς τὴν νῦν παροῦσαν ἡλικίαν), die Monarchie in 36 und das künftige Amt in 37 (εἰς ἀρχὴν κατασταθείς), wo mit ἀρχή wohl nicht die Alleinherrschaft gemeint ist (anders als an der vorbildlichen Stelle Isoc. 2,4 […] ἐπειδὰν εἰς τὴν ἀρχὴν καταστῶσιν). So in der Hypothesis zu Isoc. 1. So auch A. M. Milazzo, Un manuale retorico-pedagogico d’età attica: l’A Demonico attribuito ad Isocrate, in: M. S. Celentano (Hrsg.), Ars/Techne, Il manuale tecnico nelle civiltà greca e romana, Alessandria 2003, 31–42, hier insbesondere 31. Zur älteren Forschung vgl. die Ausgabe von O. Schneider, Isokrates, Ausgewählte Reden, 1. Bd., Leipzig 31888, 2. [Isoc.] 1,2. Auch der Verfasser der Hypothesis hebt hervor, dass Demonikos ein Privatmann ist. [Isoc.] 1,11 ἐπιλίποι δ’ ἂν ἡμᾶς ὁ πᾶς χρόνος εἰ πάσας τὰς ἐκείνου πράξεις καταριθμησαίμεθα. ἀλλὰ τὸ μὲν ἀκριβὲς αὐτῶν ἐν ἑτέροις καιροῖς δηλώσομεν […]. Vgl. die Rede des Sokrates Pl. Clit. 407b1–5 καὶ ἀγνοεῖτε οὐδὲν τῶν δεόντων πράττοντες, οἵτινες χρημάτων μὲν πέρι τὴν πᾶσαν σπουδὴν ἔχετε ὅπως ὑμῖν ἔσται, τῶν δ’ ὑέων οἷς ταῦτα παραδώσετε ὅπως ἐπιστήσονται χρῆσθαι δικαίως τούτοις, οὔτε διδασκάλους αὐτοῖς εὑρίσκετε τῆς δικαιοσύνης […]. Hier wird den Vätern vorgeworfen, ihre Pflicht zu vernachlässigen und sich nicht um die Bildung und die richtigen Lehrer ihrer Söhne zu kümmern.

Von Isokrates zu Dionysios von Halikarnassos

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Auch diese Rede wird von einer deutlichen Bildungsprotreptik gerahmt.88 Der Redner definiert dabei seinen eigenen Anspruch, der über bloße Pädagogik hinausgehe und die Schulung der φιλοσοφοῦντες bezwecke, und verweist zugleich auf seine eigene Erfahrung und Kompetenz. So sei es zwar ehrenhaft, protreptische Reden zu verfassen, nützlicher aber, statt der bloßen Tüchtigkeit in den λόγοι die Charakterbildung zu fördern.89 Dabei grenzt sich der Redner bewusst von denen ab, die den jungen Leuten lediglich anböten, sie in die Übung der Reden (δι᾽ ὧν τὴν δεινότητα τὴν ἐν τοῖς λόγοις ἀσκήσουσιν, 4) einzuführen, und fährt fort, dass es ihm nicht um eine Aufforderung, sondern eine Ermunterung im höheren Sinne handele: [Isoc.] 1,5 διόπερ ἡμεῖς οὐ παράκλησιν εὑρόντες, ἀλλὰ παραίνεσιν γράψαντες μέλλομέν σοι συμβουλεύειν, ὧν χρὴ τοὺς νεωτέρους ὀρέγεσθαι καὶ τίνων ἔργων ἀπέχεσθαι καὶ ποίοις τισὶν ἀνθρώποις ὁμιλεῖν καὶ πῶς τὸν ἑαυτῶν βίον οἰκονομεῖν.

Indem der Redner diese ausgeklügelte Unterscheidung macht, grenzt er sich von Konkurrenten ab, die etwas recht Ähnliches anbieten, und gibt seine protreptische Absicht zu erkennen.90 Dabei geht es ihm nämlich nicht nur darum, Demonikos zum Erwerb der Tugend und zum richtigen Leben aufzufordern (5–8), sondern auch, ihm die Wahl geeigneter Lehrer ans Herz zu legen. Besonders deutlich wird das am Schluss,91 wo der Schüler aufgefordert wird, von den Dichtern das Beste zu lernen und auch die anderen Sophisten zu lesen, indem er wie eine Biene überallher das Nützliche sammelt.92 Auch dieser Gedanke ist aus der Rede An Nikokles übernommen.93 Weil er jedoch aus dem gnomischen Teil dorthin versetzt ist, wo in Isoc. 2 die Aufforderung steht, sich für die richtigen Lehrer zu entscheiden, wird die Situation einer scharfen Konkurrenz, die das Proömium prägt, am Schluss zugunsten eines eher eklektischen Konzepts abgemildert. Die Möglichkeit des Scheiterns ist ebenfalls zumindest inhärent vorhanden in der fast leitmotivischen Antithese zwischen den φαῦλοι und den σπουδαῖοι,94 die in 50 mit Herakles und Tantalos illustriert werden. Da beide ausdrücklich als Söhne des Zeus bezeichnet werden, sind sie besonders gut geeignet, dem Demonikos, der ja seinen

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Zur zentralen Bedeutung der Erziehung vgl. Milazzo, 34: „L’educazione dunque risulta nell’ A Demonico il mezzo per conseguire formazione intellettuale, capacità de governo e superiorità sociale.“ [Isoc.] 1,3–4. W. Jaeger, Aristoteles, Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin 21955, 58–60, interpretiert diese Stelle bzw. die Rede als Antwort auf den Protreptikos des Aristoteles und als Polemik gegen die von den Philosophen angebotene Dialektik. In der Gnomik des Mittelteils in 19. [Isoc.] 1,52. Zum Bild vgl. J. von Stackelberg, Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Imitatio, RomForsch 68 (1956), 271–293, zur griechischen Literatur 273, Anm. 3 (mit einer missverständlichen Auffassung unserer Stelle) und besonders Ch. Gnilka, ΧΡΗΣΙΣ. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur, Bd. 1, Der Begriff des „rechten Gebrauchs“, Zweite, erweiterte Aufl., Basel 2012, besonders 177–185. Isoc. 2,13; vgl. oben Anm. 48. [Isoc.] 1,1.2.48.49.50.

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Protreptik für die Rhetorik – Motive und ihre Entstehung

eigenen Vater nachahmen soll, als positives und als abschreckendes Beispiel zu dienen und neben der ἀρετή auch die κακία darzustellen. Bei Ps.-Isokrates ist also Protreptik im engeren Sinne zu finden, und sie tritt insofern in eher impliziter Form auf, als sie einen Rahmen um einen paränetischen Text bildet. 1.3.2 Ps.-Demosthenes, Erotikos ([or. 61]) Die Verknüpfung eines Enkomions mit einer allgemeinen Protreptik ist wie auch im Euagoras des Isokrates im Erotikos des Ps.-Demosthenes zu beobachten.95 Nach einer Einleitung (1–2), wo sich ein Sprecher an einen Zuhörer wendet und ankündigt, ihm die Rede vorzutragen, und zuvor ihren Inhalt sowie ihren Stil skizziert, hält der Verfasser der eigentlichen Rede auf einen gewissen Knaben Epikrates ein nach dem Tugendschema gegliedertes Lob, wobei er mit dessen Schönheit beginnt und mit Besonnenheit und Tapferkeit fortfährt (10–32).96 Sein Ziel ist zunächst angeblich, um die Liebe des Knaben zu werben und dessen Vorbehalte gegenüber Liebhabern zu entkräften (3–6). In der Mitte der Rede endet jedoch das Lob abrupt; in ihrer zweiten Hälfte tritt das erotische Element in den Hintergrund und erscheint erst wieder im Epilog, während Epikrates aufgefordert wird, sich der Bildung (φιλοσοφία) zu widmen (33–57). Zu dieser habe er wegen seiner bedeutenden Anlagen eine besondere Verpflichtung (35). Die Werbung für die Philosophie und die Begründung ihrer Bedeutung bestimmen nun die Rede: [D.] 61,43: εὖ δ’ ἴσθι τὴν μὲν ἐκ τῶν πράξεων ἐμπειρίαν γιγνομένην σφαλερὰν οὖσαν καὶ πρὸς τὸν λοιπὸν βίον ἀχρήστως ἔχουσαν, τὴν δ’ ἐκ τοῦ φιλοσοφεῖν παιδείαν πρὸς ἅπαντα ταῦτ’ εὐκαίρως συγκεκραμένην.

Da unter Philosophie nicht eine abstrakte Reflexion, sondern sehr konkret die Beherrschung der πολιτικοὶ λόγοι mit Hilfe der διάνοια (41–43) verstanden wird, ist die Nähe zu dem rhetorischen Konzept des Isokrates greifbar. Ähnlich wie in den Nikokles-Reden des Isokrates, wenn auch vor dem Hintergrund der Verhältnisse der Athener Demokratie, richtet sich die Werbung an einen, der eine leitende Position

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Auf die Analogie zum Euagoras weist Sykutris, 35, Anm. 3, hin. Vgl. auch D. Brown, Demosthenes on Love, QS 3 (1977), 79–97, der die Rede auf 338/7 v. Chr. datiert und Demosthenes als Verfasser nicht ausschließt. Dionysios von Halikarnassos (Dem. 44,3) hält die Rede für unecht. Unentschlossen in Bezug auf die Frage der Echtheit ist D. M. MacDowell, Demosthenes the Orator, Oxford 2009, 23–29, er hält jedoch einen Bezug zum Privatleben des Redners für möglich. Zur Rede und zum Vergleich mit der Rede des Lysias in Platons Phaidros vgl. auch Gaiser, 1959, 66–70, der hervorhebt, dass die Verknüpfung von erotischer Werbung mit einem Protreptikos für die Sophisten typisch sei (68).

Von Isokrates zu Dionysios von Halikarnassos

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im Staat einnehmen kann.97 Hier ist das Ratsuchen bezüglich der eigenen Person eng verbunden mit dem Streben nach Erfolg und Ruhm.98 Zugleich wird eindringlich vor der Möglichkeit zu scheitern gewarnt.99 Daher wird dem Knaben Epikrates eine Reihe von Politikern vorgeführt, die alle den Wert der Bildung richtig eingeschätzt und sich mit Gewinn entsprechenden Lehrern anvertraut hätten: Perikles, Alkibiades, Timotheos und Archytas von Tarent (45–47). Der Sprecher der Rede möchte allerdings nicht für sich selbst werben, da er es vorziehe, ein politischer Akteur (ἀγωνιστὴς […] τῶν πολιτικῶν) zu sein, und nicht als Lehrer wirken wolle (48).100 Dem entspricht der Umstand, dass die Rede neben den enkomiastischen und protreptischen Elementen keinen paränetischen Teil enthält und die eigentliche Belehrung des Knaben noch folgen wird; das Geschenk (κάλλιστος ἔρανος; 54) ist bereits die Protreptik. 1.3.3 Dionysios von Halikarnassos Die Fortführung der rhetorischen Protreptik nach dem Muster des Isokrates lässt sich in der frühen Kaiserzeit bei Dionysios von Halikarnassos beobachten,101 insbesondere in dessen Schrift περὶ συνθέσεως ὀνομάτων (De compositione verborum).102 Hier finden sich deutliche Anzeichen dafür: ein Lehrer wendet sich an einen jungen Schüler, einen gewissen Rufus Metilius, dessen gesellschaftlicher Status (in Rom) eine glänzende Karriere erwarten lässt. Die Beziehung des Lehrers und des Schülers wird auch da-

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Das wird im Epilog nochmals unterstrichen: [D.] 61,55 καὶ γὰρ οὐδ᾽ ἐπὶ σοὶ νομίζω γενήσεσθαι ζῆν ὡς ἔτυχεν, ἀλλὰ προστάξειν σοι τὴν πόλιν τῶν αὑτῆς τι διοικεῖν […]. 98 Sorge um sich selbst: [D.] 61,34 […] μήτ᾽ ἀντὶ τῶν βελτίστων τὰ τυχόνθ᾽ ἑλόμενος χεῖρον περὶ σαυτοῦ βουλεύσῃ; 39 ἐπιμέλειαν τὴν αὑτοῦ; das Motiv des Ruhms z. B. 39.46.49.50.55. 99 [D.] 61,55 καλὸν οὖν παρεσκευάσθαι τὴν γνώμην, ἵνα μὴ τότε (sc. in einem wichtigen Amt) πλημμελῇς. 100 Das verspricht der Sprecher für die – nicht näher bestimmte – Zukunft [D.] 61,40: ἀλλὰ μὴν περί γε τῆς φιλοσοφίας ἀκριβῶς μὲν ἕκαστα διελθεῖν ἡγοῦμαι τὸν μέλλοντα χρόνον ἡμῖν ἐπιτηδειοτέρους καιροὺς παραδώσειν. 101 Vgl. Th. Hidber, Das klassizistische Manifest des Dionys von Halikarnass. Die Praefatio zu De Oratoribus veteribus. Einleitung, Übersetzung, Kommentar, Stuttgart/Leipzig 1996, und insbesondere die großen (einander teilweise überschneidenden) Studien von C. C. de Jonge, Between Grammar and Rhetoric. Dionysius of Halicarnassus on Language, Linguistics and Literature, Leiden u. a. 2008, und von N. Wiater, The Ideology of Classicism. Language, History, and Identity in Dionysius of Halicarnassus, Berlin/New York 2011. De Jonge gibt einen sehr guten Überblick über die Wortfügungslehre und ihre linguistischen und rhetorischen Voraussetzungen und Implikationen. 102 G. Aujac (Band 1 seiner Ausgabe, Paris 1978, 22–29, besonders 27) ordnet die Schrift den späten opuscula des Dionysios (ca. 60/55 v. Chr. bis nach 8/7 v. Chr.) zu. Die anderen Vorworte des Dionysios sind nicht protreptisch angelegt. Das liegt vermutlich daran, dass die zum Teil sehr speziellen Themen sich noch stärker als De compositione verborum an Fortgeschrittene richten. Über die Bildungsdiskussion und die Auseinandersetzung des Dionysios mit den (etwas schemenhaften) Vertretern einer ‚peripatetischen‘ Tradition, die versuchen, die Abhängigkeit des Demosthenes von Aristoteles nachzuweisen, im Ersten Brief an Ammaeus vgl. Wiater, 40–44.

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Protreptik für die Rhetorik – Motive und ihre Entstehung

durch geprägt und gewissermaßen vorstrukturiert, dass der Lehrer, wie er ausdrücklich hervorhebt, den Vater des Schülers schätzt und Beziehungen zur Familie pflegt.103 Auch wenn Dionysios mit der Lehre von den Fügungen der Wörter ein anscheinend enges und spezielles Feld der Rhetorik behandelt, unterstreicht er doch im Vorwort, dass er unverzichtbares Wissen und einen ganz praktischen Nutzen vermittle, da sein allgemeiner Gegenstand die Einübung der πολιτικοὶ λόγοι sei und somit die Ausbildung künftiger Politiker betreffe.104 Dionysios nennt daher seine Lehre: D. H. comp. 1,3 […] κτῆμα δὲ σοὶ τὸ αὐτὸ καὶ χρῆμα πρὸς ἁπάσας τὰς ἐν τῷ βίῳ χρείας ὁπόσαι γίνονται διὰ λόγων, ὠφέλιμον, ἀναγκαιότατον ἁπάντων χρημάτων […].

Der Adressat feiert seinen ersten Geburtstag seit dem Anlegen der toga virilis; diesen festlichen Anlass nutzt Dionysios dazu, dem jungen Mann seine Schrift zu widmen, und bezeichnet sie als Geschenk (δῶρον) zum Ehrentag. Dionysios variiert das bekannte Motiv der Gabe sehr virtuos, indem er auf den Spuren des Isokrates einen Vergleich mit einem Kleid zieht.105 Dieses Gewand erscheint nicht als ein materielles Geschenk, zu dem die Gabe der Schrift in einen Gegensatz gesetzt wird, sondern ist der Peplos, den die homerische Helena Telemachos bei seinem Abschied aus Sparta für seine künftige Braut schenkt.106 Dionysios knüpft damit zum einen indirekt an Isokrates an, zum anderen evoziert er mit seinem Zitat und seinem Vergleich von Metilius Rufus mit Telemachos eine gewissermaßen homerische bzw. aristokratische Szenerie mit einem starken Bezug zu den Themen der Entwicklung und des Erwachsenwerdens. Hinzu kommt, dass die Verbundenheit mit den Eltern des Adressaten mit diesem Zitat sehr plastisch illustriert wird. Im nun folgenden Vergleich des Peplos mit der Schrift wertet Dionysios – anders als Isokrates – das materielle Geschenk nicht zugunsten des immateriellen ab. Während das Kleid Telemachos später als Brautgeschenk dienen soll, besteht die beD. H. comp. 1,4 ὦ Ῥοῦφε Μετίλιε πατρὸς ἀγαθοῦ κἀμοὶ τιμιωτάτου φίλων. Über den Vater und den Sohn ist allerdings fast nichts bekannt; möglicherweise handelt es sich bei Metilius Rufus (die Schreibweise des Namens variiert allerdings: Melitius/Metilius) um den späteren Prokonsul von Achaea (vgl. das Material in PIR2 M 546 sowie de Jonge, 27–28). Der Umstand, dass Dionysios den Vater als seinen Freund erwähnt und kurz darauf seine Verbundenheit mit ihm (zu dem homerischen Peplos-Motiv siehe unten) unterstreicht, entspricht der protreptischen Tradition und darf daher nicht nur als persönliches Zeugnis gewertet werden. 104 G. Aujac und M. Lebel ad loc. (S. 197) verweisen zu Recht darauf, dass Dionysios mit den ‚politischen Reden‘ sowohl die anwendungsorientierte Rhetorik als auch die Literatur und deren Rezeption im weiteren Sinne bezeichne. Zur Tradition des Isokrates, in die sich Dionysios bewusst stellt, vgl. Wiater, 65–77. 105 Vgl. Isoc. 2,1 (ἐσθῆτας ἄγειν). Von einer direkten Nachahmung darf man vermutlich nicht ausgehen, auch wenn Dionysios ein exzellenter Kenner der attischen Redner ist; vgl. zur Stelle auch Wiater, 276. 106 Dionysios beginnt sein Werk mit einem Vers aus der Stelle Od. 15,125–128 und verwendet im Folgenden und im Epilog, offenbar auf die guten Homerkenntnisse seines Schülers und seines Publikums vertrauend, weitere Stücke daraus und aus anderen Homerversen (dazu siehe unten).

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Von Isokrates zu Dionysios von Halikarnassos

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sondere Qualität der Schrift in ihrem Nutzen für alle Zwecke, die etwas mit den λόγοι zu tun haben. Verbunden mit dem Motiv des Nutzens ist der Blick auf die vornehmlichen Rezipienten der Schrift, nämlich junge Leute und Anfänger in der Rhetorik, und auf ihr Lernen.107 Während die eigentliche Protreptik im Vorwort höchstens anklingt (mit den Formulierungen in comp. 1,3 ἀσκεῖν τοὺς πολιτικοὺς λόγους und τοῦ μαθήματος ἅπτεσθαι),108 findet sich im Epilog die explizite Aufforderung zum Studium. Hier wendet sich Dionysius erneut an Rufus Metilius und greift das Motiv der Gabe wieder auf, so dass ein Rahmen entsteht. Der Leser werde – so die im imperativischen Futur gehaltene Formulierung – den Wert des Geschenks erst dann gewinnen, wenn er den Willen habe, es sorgfältig wie einen wichtigen Alltagsgegenstand zu gebrauchen und sich selbst in täglichen Übungen zu trainieren. Daher folgt nun die Aufforderung zu Fleiß und Mühe, ohne die ein Erfolg des Unterrichts nicht möglich sei. Dionysios vergleicht seine Leser mit Teilnehmern an einem Wettkampf (ἀνταγωνισταί). Dazu treten ganz am Schluss der zwar knappe, aber unverhohlene Hinweis auf die Möglichkeit des Scheiterns und damit der Appell an die Eigenverantwortung des Lernenden: es hänge von der Intention derjenigen ab, die sich bemühten und abmühten, ob die Lehren erfolgreich und nennenswert seien oder schlecht und nutzlos. D. H. comp. 26,17–18 τοῦθ’ ἕξεις δῶρον ἡμέτερον, ὦ Ῥοῦφε, πολλῶν ἀντάξιον ἄλλων109, εἰ βουληθείης ἐν ταῖς χερσί τε αὐτὸ συνεχῶς ὥσπέρ τι καὶ ἄλλο τῶν πάνυ χρησίμων ἔχειν καὶ συνασκεῖν αὑτὸν ταῖς καθ’ ἡμέραν γυμνασίαις. οὐ γὰρ αὐτάρκη τὰ παραγγέλματα τῶν τεχνῶν ἐστι δεινοὺς ἀγωνιστὰς ποιῆσαι τοὺς βουλομένους γε δίχα μελέτης τε καὶ γυμνασίας· ἀλλ’ ἐπὶ τοῖς πονεῖν καὶ κακοπαθεῖν βουλομένοις κεῖται σπουδαῖ’ ἂν εἶναι τὰ παραγγέλματα καὶ λόγου ἄξια ἢ φαῦλα καὶ ἄχρηστα.110

Es lässt sich also zeigen, dass De compositione verborum einen protreptischen Rahmen hat, in dem sich Elemente der isokrateischen Protreptik (junger Schüler, Aufforderung zur Rhetorik, Betonung der Mühen, Warnung vor dem Scheitern) wiederholen, während anderes fehlt oder weniger stark ausgeprägt ist: so wird, da es sich um eine Spezialschrift zur Rhetorik handelt, der Bezug zu Herrschaft und Macht mit dem Hinweis auf das Konzept der πολιτικοὶ λόγοι lediglich angedeutet, ist aber durchaus vorhanden.111 107 D. H. comp. 1,4 […] μάλιστα δὲ τοῖς μειρακίοις τε καὶ νεωστὶ τοῦ μαθήματος ἁπτομένοις ὑμῖν […]. 108 Das Motiv des Übens hat Dionysios auch dort, wo er die eigene Tätigkeit ohne explizit protreptische Absicht beschreibt; vgl. das übersichtliche Glossar bei Aujac s. vv. ἀσκέω, γυμνάζω, μελετάω (Band 5 der Ausgabe, Paris 1992). 109 Anspielung auf Il. 11,514. Das Homerzitat verweist auf die Zitate am Beginn der Schrift und hat daher ebenfalls eine rahmende Funktion. 110 Vgl. zu dieser Stelle auch Wiater, 260–263. 111 Wiater, 263–276, sieht in De compositione verborum die Absicht des Dionysios, ein elitäres Programm zu entwerfen; das werde besonders in comp. 25,5 deutlich, wo unter Verwendung von Mys-

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Protreptik für die Rhetorik – Motive und ihre Entstehung

Auffällig ist, dass Dionysios den Wert der praktischen Übung (γυμνασία) sehr stark betont und damit gar nicht erst den Versuch unternimmt, das scheinbar Alltägliche und eher Selbstverständliche zugunsten höherer Ziele wie der Charakterbildung zu vernachlässigen.112 Dass Dionysios von Halikarnassos sich dieses isokrateischen Musters bedient, passt sehr gut zu seinem Konzept einer Renaissance der attischen Rhetorik, zu der er als Theoretiker und auch praktisch als Historiker (in den Antiquitates Romanae) beiträgt.113 1.4 Zu den Protreptikoi in der Philosophie Von den Schriften, deren Inhalt und Anliegen hier skizziert worden sind, unterscheiden sich die Protreptikoi der Philosophen, soweit wir es sehen können, wohl grundlegend. Aristoteles gestaltet seinen Protreptikos An Themison vermutlich nach dem Vorbild des Isokrates und in Auseinandersetzung mit ihm und seiner Schule. So will Einarson zeigen, dass Aristoteles auf Passagen der Antidosis-Rede eingehe.114 Soweit es die recht unterschiedlichen Rekonstruktionen der Schrift aus den erhaltenen Fragmenten erlauben, ergibt sich jedoch ein Bild, das von den bisher betrachteten Texten deutlich abweicht.115 Aristoteles richtet den Protreptikos zwar an einen Fürsten – Themison von Zypern – und scheint ihn nach dem Zeugnis des Stobaios (Teles) auch persönlich angeredet zu haben; da Themison über sehr großen Reichtum verfüge, be-

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terienmetaphorik die Rhetorik als eine Arkandisziplin erscheint. Vergleicht man die in der protreptischen Tradition angelegte Nähe von Rhetorik und Macht, erscheint aber Dionysios deutlich weniger elitär oder zumindest nicht elitärer, als es z. B. Isokrates ist. Da wir über die Adressaten des Dionysios so wenig wissen, ist es auch nicht ganz unproblematisch, Wiaters Annahme (269– 270) zu akzeptieren, „[…] that reading On Literary Composition, and the resultant acquisition of knowledge, defined the ‚practitioners of πολιτικοὶ λόγοι‘ as an elitist community of literati.“ Genau das findet sich [Isoc.] 1,4; dazu siehe oben S. 29. Zum Begriff ἦθος bei Dionysios vgl. wiederum Wiater, 75–77. Dazu vgl. Hidber, 44–80, Wiater, 165–223 (ausführlich zu den Antiquitates Romanae). Über den Einfluss des Dionysios von Halikarnassos bzw. der Tendenzen, die bei ihm sichtbar werden, auf die Entwicklung der Rhetorik in Rom vgl. D. Gall, Römische Rhetorik am Wendepunkt – Untersuchungen zu Seneca pater und Dionysios von Halikarnassos, in: B.-J. Schröder und J.-P. Schröder, Studium declamatorium. Untersuchungen zu Schulübungen und Prunkreden von der Antike bis zur Neuzeit, Joachim Dingel zum 65. Geburtstag, München/Leipzig 2003, 107–126. B. Einarson, Aristotle’s Protrepticus and the Structure of the Epinomis, TAPhA 67 (1936), 261–285, hier besonders 275–7. Rekonstruktionen der Schrift: I. Düring, Aristotle’s Protrepticus. An Attempt at Reconstruction, Göteborg 1961, und ders., Der Protreptikos des Aristoteles, Text, Übersetzung und Kommentar, Frankfurt 1969, und G. Schneeweiß, Aristoteles, Protreptikos, Hinführung zur Philosophie, rekonstruiert, übersetzt und kommentiert, Darmstadt 2005. Die Ausgabe von Schneeweiß ist aufgrund formaler Inkonsequenzen teilweise schwer zu benutzen. Vgl. auch Slings, 69–70, Collins, 242–264, und D. S. Hutchinson und M. R. Johnson, Aristotle, Protrepticus or Exhortation to Philosophy (citations, fragments, paraphrases, and other evidence), 2017, vorläufig (Stand (01/20) publiziert auf www.protrepticus.info.

Zu den Protreptikoi in der Philosophie

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rühmt und damit unabhängig sei, bringe er wichtige Voraussetzungen für ein Leben für die Philosophie mit.116 Abgesehen von dieser scheinbaren und im Grunde rein äußerlichen Parallele fehlen jedoch Spuren davon, dass Aristoteles die Schrift in ähnlicher Weise an den Adressaten richtet, wie es Isokrates bei Nikokles tut. Entsprechend verstehen daher spätere Rezipienten den Charakter der Schrift so, dass sie sich allgemein an die Jugend richte.117 Es fehlt zudem der Hinweis auf ein Vorbild, wie es Euagoras für Nikokles und Hipponikos für Demonikos sein sollen. Auch dort, wo gefordert wird, die Eltern zu achten,118 bleiben die Bemerkungen allgemein und eher unpersönlich. Schließlich fehlen, soweit man sehen kann, der Umschlag von Paränese zur Protreptik, wie er oben für die Rede An Nikokles festgestellt worden ist, und die anschließende Aufforderung, sich bestimmten Lehrern anzuschließen. Aristoteles wirbt vielmehr direkt und, soweit man das sehen kann, vom Anfang der Schrift an für die Philosophie und wiederholt und begründet immer wieder seinen Kerngedanken, dass man philosophieren müsse. Diese offene, systematisch angelegte und eher abstrakte Protreptik unterscheidet sich recht deutlich von den Strategien, die wir bei Isokrates und seinen Nachfolgern Ps.-Isokrates und Ps.-Demosthenes beobachten, und braucht daher nicht weiter untersucht zu werden. Es genügt,119 kurz auf die reichen Nachwirkungen zu verweisen, die über Epikurs Brief an Menoikeus120 und Ciceros Hortensius121 zur spätantiken Philosophie (Iamblichos von Chalkis) reichen.122 Bei den Kirchenvätern Clemens von Alexandrien und Basilios dem Großen findet eine Umformung zu einer Werbung für eine dezidiert christliche Bildung statt.123 Ein Vertreter aus dem Bereich außerhalb der Philosophie ist

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Stob. 4,32a,21 (= fr. 1 Ross) […] λέγων ὅτι οὐδενὶ πλείω ἀγαθὰ ὑπάρχει πρὸς τὸ φιλοσοφῆσαι· πλοῦτόν τε γὰρ πλεῖστον αὐτὸν ἔχειν ὥστε δαπανᾶν εἰς ταῦτα, ἔτι δὲ δόξαν ὑπάρχειν αὐτῷ. 117 So z. B. Elias in Porph. 3,18 (fr. 2 Ross) […] Ἀριστοτέλης ἐν τῷ Προτρεπτικῷ ἐπιγεγραμμένῳ, ἐν ᾧ προτρέπει τοὺς νέους πρὸς φιλοσοφίαν. 118 Iambl. Protr. 8 (p. 46,8–15 Pistelli = fr. 9 Ross). 119 Eine übersichtliche Zusammenstellung der Schriften bei Gaiser, 1989, 1540–41. 120 Zu Epikurs protreptischer Rhetorik vgl. J.-E. Heßler, τὸν σοφὸν οὐ δοκεῖ ῥητορεύσειν καλῶς? Rhetorik in Texten Epikurs, in: I. Männlein-Robert, W. Rother, S. Schorn, Chr. Tornau (Hrsg.), Philosophus orator. Rhetorische Strategien und Strukturen in philosophischer Literatur, Michael Erler zum 60. Geburtstag, Basel 2016, 161–179, hier besonders 166 ff. 121 M. Ruch, L’Hortensius de Cicéron. Histoire et reconstitution, Paris 1958, A. Grilli, Marco Tullio Cicerone, Ortensio. Testo critico, introduzione, versione e commento, Bologna 2010 (zuerst 1962), und L. Straume-Zimmermann, Ciceros Hortensius, Bern/Frankfurt am M. 1976. Etwas ausführlicher zum Hortensius vgl. unten S. 64 f. 122 Vgl. É. des Places (Hrsg.), Jamblique, Protreptique, Paris 1989. 123 Vgl. D. Rankin, Apologetic or protreptic? Audiences and strategies in Clement of Alexandria’s Stomateis and Protrepticus, Sacris Erudiri 44 (2005), 5–35, K. Döring, Vom Nutzen der heidnischen Literatur für eine christliche Erziehung. Die Schrift Ad adolescentes de legendis libris gentilium des Basilius von Caesarea, Gymnasium 110 (2003), 551–567, und F. Bräutigam, Basileios der Grosse und die heidnische Bildung. Eine Interpretation seiner Schrift Ad adolescentes, Diss. Jena 2003.

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Protreptik für die Rhetorik – Motive und ihre Entstehung

Galenos, dessen rhetorisch geprägter Protreptikos zum Studium der Medizin aufruft.124 Themistios (or. 9) wendet sich an Valentinianus Galates (366–370/72), den damals etwa dreijährigen Sohn des Valens, und wirbt für die Rhetorik.125 1.5 Zusammenfassung Die schriftlich fixierte Werbung für rhetorische Bildung ist spätestens seit Isokrates verbreitet und tritt besonders in Verbindung mit einer Paränese bzw. mit einem Enkomion auf. Dabei handelt es sich jedoch nicht so sehr um die Ausbildung einer eigenen Gattung, sondern eher um Motive und eine spezielle Topik. Mit der Protreptik für die Philosophie bestehen dort teils enge Verbindungen und deutliche Anlehnungen an ihre Motive, wo für Lernen und Anstrengung geworben wird und eine Verbindung zu Politik und Staat konstruiert wird. Die Unterschiede, die zwischen Philosophie und Rhetorik bei den Bildungsinhalten und den Zielen vorhanden sind, werden in der Protreptik insbesondere bei der Werbung für die ‚Sorge um sich selbst‘ sichtbar, die für die Philosophie kennzeichnend ist. Der Schüler, der von der Protreptik umworben wird, befindet sich in einer herausgehobenen Position im Staatswesen oder wird dank seiner gesellschaftlichen Stellung und seiner Anlagen später vermutlich dorthin gelangen. Dabei ist er das Ziel der Werbung und zugleich ihre beste Referenz, mit der die Lehrer der πολιτικοὶ λόγοι ihre eigene Bedeutung hervorheben können. Es scheint sogar – zumindest in der Fiktion der protreptischen Rede – eine Art wechselseitiger Förderung zu bestehen, wenn etwas vom Glanz des jeweils anderen sowohl auf den Lehrer als auch auf den Schüler fallen kann. Die Beziehung zwischen dem Redner und dem Adressaten ist zudem jeweils eine besondere: Isokrates wendet sich an den Sohn des Euagoras, auf den er ein Enkomion verfasst; bei Ps.-Demosthenes (or. 61) und bei Ps.-Platon (Alkibiades 1) ist die Protreptik in einen Erotikos gekleidet. Ein fester Bestandteil ist der Verweis auf den Ruhm als zentralen Wert. Auf die Möglichkeit des Scheiterns wird – mit der Strategie der eigenen Entlastung – von den Lehrern hingewiesen und vor ihr eindringlich gewarnt.

124 Vgl. M. Szarmach, Der Protreptik[os] von Galenos als rhetorisches Werk, AAntHung 33 (1990– 1992), 117–121. 125 Vgl. Hartlich, 326–333; B. Colpi, Die παιδεία des Themistios. Ein Beitrag zur Geschichte der Bildung im vierten Jahrhundert nach Christus, Frankfurt 1987, und Th. Gerhardt, Philosophie und Herrschertum aus der Sicht des Themistios, in: A. Goltz, A. Luther und H. Schlange-Schöningen (Hrsg.), Gelehrte in der Antike, A. Demandt zum 65. Geburtstag, Köln u. a. 2002, 187–218.

2 Von Athen nach Rom: Wege der Protreptik für die Rhetorik

2.1 Begrifflichkeiten: protreptische Motive und das Motiv der Protreptik Anders als in der Philosophie kommt es in der Rhetorik nicht zur Ausbildung einer mehr oder weniger festen Gattung der Werbeschrift. Trotzdem durchziehen deutlich wahrnehmbare protreptische Elemente und Spuren von Protreptik für die Rhetorik die römische Beredsamkeit und ihre literarischen Manifestationen. Für deren Untersuchung erscheint es sinnvoll, auf den Begriff des Motivs zurückzugreifen, weil er es erlaubt, partielle Ähnlichkeiten zwischen Texten zu benennen und beschreiben, auch wenn sie nicht unmittelbar voneinander abhängen bzw. sich das nur schwer nachweisen lässt.1 Unter einem Motiv wird hier nach der Charakteristik von Mathy eine „strukturelle Einheit als typische bedeutungsvolle Situation, welche generelle thematische Vorstellungen umfa[ss]t“, verstanden.2 Ganz ähnlich, aber mit einer stärkeren Trennung von allgemeiner und besonderer Bedeutung beschreibt Lubkoll den Begriff des Motivs als „[…] im weitesten Sinne kleinste strukturbildende Einheit innerhalb eines Textganzen; im engeren Sinne eine durch die kulturelle Tradition ausgeprägte und fest umrissene thematische Konstellation […].“3 Diese Beschreibungen, in denen quantitative mit qualitativen Elementen

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Hier geht es also nicht um die Erforschung von Intertextualität im engeren Sinn; dazu vgl. Th. A. Schmitz, Moderne Literaturtheorie und antike Texte. Eine Einführung, Darmstadt 22006, 91–99. D. Mathy, Motiv, HWRh 5 (2001), 1485–1495, hier 1489. Chr. Lubkoll, Motiv, literarisches, in: A. Nünning (Hrsg.): Grundbegriffe der Literaturtheorie, Stuttgart und Weimar 2004, 184–5, hier 184. Vgl. auch das oft zitierte Buch von E. Frenzel, Stoff-, Motiv- und Symbolforschung, Stuttgart 41978, mit der Definition, 29: „[…] eine kleinere stoffliche Einheit, die zwar noch nicht einen ganzen Plot, aber doch bereits ein situationsmäßiges Element und damit einen Handlungsansatz darstellt.“ Zu Elisabeth Frenzels Vita vgl. M. Kirsch, Frenzel, Elisabeth Maria, in: Chr. König (Hrsg.), Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, Bd. 1, 519–520. – Vgl. außerdem zur Geschichte des Worts U. Mölk, Zur europäischen Bedeutungsge-

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Von Athen nach Rom: Wege der Protreptik für die Rhetorik

gemischt sind und die auf viele Textsorten und Gattungen – mimetische und auch nicht-mimetische – anwendbar sein sollen, zeigen den sehr offenen Charakter des Begriffs Motiv. Er berührt sich eng mit dem des Topos in seiner modernen Ausprägung seit E. R. Curtius.4 Die literaturwissenschaftliche Motivforschung ist sich dabei der Unschärfe ihrer Prämissen und Definitionen durchaus bewusst.5 Die Offenheit des Begriffs führt auch dazu, dass ihn beispielsweise Schmitz in seiner Darstellung literaturwissenschaftlicher Methoden in der Klassischen Philologie gar nicht erst im Sinne einer Definition oder Kategorie präzisiert, aber doch wie selbstverständlich in unterschiedlichen Kontexten heranzieht und verwendet.6 Nimmt man diese beiden Beobachtungen zusammen – die in der Offenheit liegende Flexibilität des Begriffs und seine damit in Zusammenhang stehende einfache Anwendbarkeit – so ergibt sich seine Eignung für die vorliegende Untersuchung. Der Vorteil liegt darin, dass eine Beschreibung von Texten mithilfe ihrer Konstituenten und Elemente möglich wird. Es geht dabei nicht so sehr um die Analyse und Klassifizierung der isolierten Motive der Protreptik in ihren Gestalten, Formen und Entwicklungen, sondern primär um ihre Verwendung und Funktion in protreptischen Texten. Der Fokus liegt also nicht auf der Motivgeschichte, sondern auf den literarischen Werken, die sich der Motive bedienen. Ein Motiv der Protreptik ist beispielsweise das der Gabe; es ist hier keineswegs exklusiv, sondern auch in poetischen Kontexten und in Widmungen zu finden.7 Trotzdem kann man von einem Motiv in einem protreptischen Kontext sprechen, weil es – wie oben gezeigt worden ist bzw. noch zu zeigen sein wird – nicht nur bei Isokrates, sondern auch bei Dionysios von Halikarnassos und Cicero dort vorkommt,8 wo der Unterricht eines Lehrers bzw. seine einem Schüler gewidmete Schrift als Gabe beschrieben werden. Ein Motiv lässt sich also wiedererkennen, wiederverwenden und dabei an einen neuen Kontext anpassen. Auf diese Weise kann ein Autor außerdem deutlich signalisieren, dass er sich in eine bestimmte Tradition stellt und in dieser gesehen werden möchte. Das hängt damit zusammen, dass die Motive im einzelnen zwar

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schichte von ‚Motiv‘ vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, in: Th. Wolpers (Hrsg.), Ergebnisse und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Motiv- und Themenforschung. Bericht über Kolloquien der Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung 1998– 2000, Göttingen 2001, 11–20. T. Wagner, Topik, HWRh 9 (2009), 605–626, hier zu Curtius 622 f. Th. Anz, Ereignis, Handlung, Stoff und Motiv, in: id. (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1, Gegenstände und Grundbegriffe, Stuttgart 2007, 127–130, hier 127. Schmitz, 53 „das Motiv ‚Liebe‘“, 88 [Motiv der] „Darstellung abnormaler psychologischer Erfahrungen […] bei Petron“ und 89 „Motiv der Theatralik“. Vgl. für die Poesie den Kommentar von D. F. S. Thomson, Catullus, Edited with a Textual and Interpretative Commentary, Toronto u. a. 1997, zu Catull. 1,1. Siehe oben S. 32 f. und unten S. 117 ff.

Autoren in Rom: Cato d. Ä., Cicero und Seneca d. Ä.

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offen und in gewisser Weise unverbindlich sind, in bestimmten Kontexten aber die Wirkung einer eindeutigen Botschaft entfalten.9 Hinzu kommt der Begriff der Situation, den Mathy mit dem des Motivs verknüpft;10 da es in der Protreptik für die Rhetorik um literarische Darstellungen von Interaktionen zwischen Lehrern und Schülern geht, ist der Begriff der protreptischen Situation durchaus sinnvoll. Die einzelnen Motive (z. B. ‚Gabe‘, ‚Fortschritt‘, ‚Ruhm‘ usw.) können nämlich miteinander kombiniert werden; sie sind Elemente der Kommunikation und Teile von Handlungen bzw. von Aufforderungen zu Handlungen. Daher lassen sich auch protreptische Situationen bzw. ihre literarische Darstellung sinnvoll mit dem Begriff des Motivs in Zusammenhang bringen. Er erlaubt außerdem, sowohl das einzelne Element als auch das größere Ganze zu beschreiben. So kann man einerseits von protreptischen Motiven sprechen (z. B. von der bereits erwähnten Gabe), andererseits von dem Motiv der Protreptik für die Rhetorik, das in einer Schrift auftreten kann, sie aber nicht vollständig beherrschen und charakterisieren muss (z. B. im Rahmen der Rede An Nikokles des Isokrates). Auf diese Weise steht mit den Begrifflichkeiten ‚protreptisches Motiv‘ und ‚Motiv der Protreptik‘ ein flexibles Instrument zur Verfügung, das es erlaubt, literarisch fixierte Werbung für die Rhetorik in ihrer Entwicklung über verschiedene Texte hinweg zu beobachten und sie entsprechend zu interpretieren. 2.2 Autoren in Rom: Cato d. Ä., Cicero und Seneca d. Ä. Die drei römischen Autoren Cato d. Ä., Cicero und Seneca d. Ä. stehen im Fokus dieser Untersuchung, weil bei ihnen deutliche Protreptik für die Rhetorik zu finden ist. Hinzu kommt, dass sie in einer ganz bestimmten Konstellation für die Beredsamkeit werben: sie haben die auffällige Gemeinsamkeit, dass sie sich im Kontext sehr persönlicher Beziehungen äußern, indem sie sich mit ihren Schriften an ihre Söhne wenden bzw. diese zumindest indirekt – so Cicero in De oratore – im Sinn haben. Sie bewegen sich dabei in einem Raum, wo sich die Interaktionen realer Personen literarischer Formen bedienen. In der Forschung hat in jüngerer Zeit insbesondere Scholz sehr ausführlich und überzeugend dargestellt, wie die griechische Bildung in die römische Gesellschaft und insbesondere zu ihren Eliten Eingang gefunden hat und dort angenommen, angepasst

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Vgl. den Abschnitt „Topik – Motivkonstanz – Routinemäßige Motivübernahme und Absinken von Motiven“ bei Frenzel, 49–52. – Das Urteil darüber, ob ein Autor ein Motiv intentional und mit einer Botschaft an seine Leser oder nur der literarischen Konvention halber verwendet, hat naturgemäß einen großen Spielraum der Interpretation. Siehe oben Anm. 2.

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Von Athen nach Rom: Wege der Protreptik für die Rhetorik

und verwendet worden ist.11 In einem breit angelegten und sehr detailreichen Bild zeigt Scholz, dass die römische Oberschicht seit dem 2. Jh. v. Chr. in Erziehung, Gesellschaft und Politik sehr stark von einer Intellektualisierung erfasst werde, die von der griechischen Kultur geprägt ist.12 In der vorliegenden Untersuchung liegt der Schwerpunkt dagegen zum einen auf dem eng abgegrenzten Gebiet der Rhetorik und ihrer literarischen Selbstdarstellung; zum anderen werden literarische Formen und Motive und ihre Übernahme und Adaption untersucht. So wird weitgehend darauf verzichtet, die skizzierten Ansprüche der Rhetorik, künftige Herrscher auszubilden, an der Realität der antiken Gesellschaft zu messen; denn es ist von vornherein klar, dass es dort Herrschaft gibt, die sich nicht einmal teilweise auf die rhetorische Bildung beruft, und dass es im breiten und weitgefächerten Bildungsbetrieb der Rhetorik nur zu geringen Teilen um die Erziehung des Herrschers geht. Die hier aufgeworfene Fragestellung ist daher im Wesentlichen relevant für das Verständnis der Texte, von deren Autoren die Motive der Bildungswerbung verwendet werden. Gelingt es, hier Linien einer Tradition nachzuziehen und damit den Prozess eines Transfers zu betrachten, kann sich das als Gewinn für das Verständnis nicht nur der Texte, sondern auch der Personen erweisen, die in ihnen vorkommen, wenn sich zeigen lässt, wie deren Interaktionen sich stark literarisierter Formen bedienen und dass sie im Kontext dieser Formen besser zu erklären sind. Die Protreptik für die Beredsamkeit beginnt in Rom mit Cato d. Ä., in dessen vielfältigem Werk und Wirken, soweit sich das erschließen lässt, die Redekunst, ihre Weitergabe an junge Leute (unter ihnen ist sein älterer Sohn) und die Darstellung der eigenen Person als Vorbild eine große Rolle spielen. Da von Catos Werken nur Fragmente überliefert sind, ist es für deren Verständnis notwendig, verstärkt auf Quellen über Cato (z. B. Plutarchs Vita) zurückzugreifen. Im Zentrum der Untersuchung wird dann das Werk Ciceros stehen, weil bei ihm die Auseinandersetzung mit der Rolle der Bildung und die Werbung dafür eine erhebliche Rolle spielen. Zwar sind Ciceros Bildungstheorie und Bildungsideal im Allgemeinen von der Forschung immer wieder ebenso untersucht worden wie seine Beziehungen zu den Gelehrten seiner Zeit wie Varro oder zu bildungsbeflissenen Aristokraten wie Brutus;13 es fehlt jedoch eine zusammenfassende Darstellung der Passagen, in denen Cicero Bildungswerbung speziell an junge Menschen richtet und die in der Regel 11 12 13

Vgl. die grundlegende Untersuchung des sozialen und kulturellen Hintergrunds von P. Scholz, Den Vätern folgen, Sozialisation und Erziehung der republikanischen Senatsaristokratie, Berlin 2011. Besonders Scholz, 2011, 361–368. Der Begriff der Intellektualisierung ersetzt bei Scholz das geläufige Schlagwort der Hellenisierung. Vgl. Chr. Rösch-Binde, Vom „δεινὸς ἀνήρ“ zum „diligentissimus investigator antiquitatis“. Zur komplexen Beziehung zwischen M. Tullius Cicero und M. Terentius Varro, München 1998, und C. Rathofer, Ciceros ‚Brutus‘ als literarisches Paradigma eines Auctoritas-Verhältnisses, Frankfurt am Main 1986.

Autoren in Rom: Cato d. Ä., Cicero und Seneca d. Ä.

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Werbung für die Rhetorik in Ciceros umfassendem Sinn sind. Mag diese Fragestellung auch nicht zentral für das große Bild Ciceros sein, so gibt sich aus ihr doch die Möglichkeit, sein Selbstverständnis als Lehrer zu betrachten und damit Cicero als Pädagogen und Berater im Kontext der Tradition, in die er sich stellt, genauer zu fassen. Dazu werden sowohl Texte untersucht, die eher paränetisch sind, als auch solche, die direkte oder zumindest indirekte Protreptik enthalten. In De oratore sind für diese Fragestellungen sowohl die Vorreden, in denen sich Cicero an seinen Bruder Quintus wendet, als auch die Dialogpartien einschlägig. In der Schrift De officiis richtet Cicero sich mit einer deutlichen Bildungswerbung an seinen eigenen Sohn Marcus. Von deren Verständnis und Interpretation hängt daher auch ab, wie wir Cicero als Vater und Lehrer sehen können bzw. sollen. Umgekehrt ergibt sich für De officiis ein teilweise von bisherigen Sichtweisen abweichendes Verständnis, wenn man stärker hervorhebt, dass einzelne Passagen der Schrift einen protreptischen Charakter in Bezug auf die Rhetorik haben. In einem abschließenden Teil soll der ältere Seneca untersucht werden: er wendet sich an seine Söhne mit einer Haltung, die ebenfalls in den Kontext protreptischer Rede gehört, aber deutliche Veränderungen im Vergleich zu Cicero aufweist. Hier entwickelt die Beredsamkeit ihre Ansprüche zum einen scheinbar zurück, indem sie ihre eigenen Grenzen stärker diskutiert; zum anderen ergeben sich aus der rhetorischen Bildung neue Felder und Möglichkeiten, die wiederum Gegenstand der Werbung werden können. Quintilian und sein monumentales Werk Institutio oratoria fallen aus dem Bereich dieser Untersuchung.14 Das ergibt sich zum einen aus der hier gesetzten Begrenzung der Zeit mit Seneca dem Älteren; zum anderen gehört Quintilian – anders als Cato, Cicero und Seneca – nicht zu den Autoren, die sich direkt an junge Leute und insbesondere ihre Söhne wenden. Der Grund dafür ist, dass Quintilians Söhne bereits in jungem Alter gestorben sind – ohne diesen Schicksalsschlag hätte er sich wohl in die literarische Tradition gestellt, die hier untersucht wird, und auch protreptische Motive und Argumentationen stärker herangezogen. Diese Vermutung lässt sich aus dem Vorwort des sechsten Buchs gewinnen, wo Quintilian dem Adressaten des Werks, dem Gerichtsredner und Senator M. Vitorius Marcellus,15 die Trauer über den Verlust seiner Familie beschreibt. Sein Wunsch und sein Plan seien gewesen, seinem Sohn das Werk als besten Teil des Erbes zu hinterlassen für den Fall, dass er ihn nicht mehr selbst unterrichten könne. In dieser Formulie-

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Zu Quintilian allgemein vgl. E. Zundel, Lehrstil und rhetorischer Stil in Quintilians institutio oratoria. Untersuchungen zur Form eines Lehrbuches, Frankfurt 1981, Chr. Tornau, Quintilianus, RAC 28 (2017), 536–550, und H. Kalverkämper, Quintilian: Redner und Lehrer, in: M. Erler und Chr. Tornau (Hrsg.), Handbuch Antike Rhetorik, Berlin/Boston 2019, 435–469. Vgl. W. Eck, Vitorius [2], DNP 12/2 (2003), 264–5. Der Adressat ist consul suffectus im Jahr 105 n. Chr., Statius widmet ihm das 4. Buch seiner Silvae.

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Von Athen nach Rom: Wege der Protreptik für die Rhetorik

rung klingt das protreptisch verwendete Motiv der Gabe zumindest indirekt deutlich an.16 Dass dieser biographische Umstand nicht ohne Konsequenzen für die Ausgestaltung der Institutio oratoria bleibt, zeigen die persönlichen Einleitungen zu den Büchern 1, 4, 6 und 11, in denen Quintilian sein Werk Vitorius Marcellus und eben keinem Schüler oder jungen Menschen widmet und daher auch keine offenkundig protreptische Elemente verwendet. Quintilian äußert zwar die Hoffnung, dass die Bücher der Institutio für C. Vitorius Hosidius Geta, den Sohn des Vitorius Marcellus, nützlich sein würden, er wendet sich aber nicht direkt an ihn – vermutlich ist er zum damaligen Zeitpunkt schlicht zu jung.17 Auch mit seiner Hoffnung, talentierten Schülern (iuvenes boni) nützlich sein zu können, wendet sich Quintilian nur indirekt an diese selbst. Dem entspricht, dass Quintilian bereits im Ruhestand ist, als er die Bücher seiner Institutio verfasst.18 Wenn hier das Fehlen von Protreptik festgestellt wird, soll damit keinesfalls geleugnet werden, dass Quintilians Werk ein herausragendes Dokument und eine unerschöpfliche Quelle für die Pädagogik der Antike ist, für die Methoden des Studiums der Rhetorik und die Diskussionen darüber, wie Motivation bei Schülern erreicht werden kann.19 Diese Punkte berühren sich eng mit der Protreptik, sind aber nicht identisch mit ihr bzw. ergeben keine genuin protreptischen Motive und Texte. So beschreibt Quintilian beispielsweise – aus der eigenen Erinnerung – den Wettstreit der Schüler um den ersten Rang in der Klasse, der besser gewirkt habe als alle guten Zureden und Ermunterungen der Lehrer.20 Auch Quintilians laus eloquentiae (inst. 2,16)

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Quint. inst. 6 pr. 1–2 haec, Marcelle Vitori, ex tua voluntate maxime ingressus, tum si qua ex nobis ad iuvenes bonos pervenire posset utilitas, novissime paene etiam necessitate quadam officii delegati mihi sedulo laborabam, respiciens tamen illam curam meae voluptatis, quod filio, cuius eminens ingenium sollicitam quoque parentis diligentiam merebatur, hanc optimam partem relicturus hereditatis videbar, ut, si me, quod aequum et optabile fuit, fata intercepissent, praeceptore tamen patre uteretur. At me fortuna id agentem diebus ac noctibus festinantemque metu meae mortalitatis ita subito prostravit, ut laboris mei fructus ad neminem minus quam ad me pertineret. Illum enim, de quo summa conceperam et in quo spem unicam senectutis reponebam, repetito vulnere orbitatis amisi. Quint. inst. 1 pr. 6 quod opus, Marcelle Vitori, tibi dicamus, quem cum amicissimum nobis tum eximio litterarum amore flagrantem non propter haec modo, quamquam sint magna, dignissimum hoc mutuae inter nos caritatis pignore iudicabamus, sed quod erudiendo Getae tuo, cuius prima aetas manifestum iam ingenii lumen ostendit, non inutiles fore libri videbantur […]. Quint. inst. 1 pr. 1 post inpetratam studiis meis quietem, quae per viginti annos erudiendis iuvenibus inpenderam, cum a me quidam familiariter postularent, ut aliquid de ratione dicendi componerem, diu sum equidem reluctatus, quod auctores utriusque linguae clarissimos non ignorabam multa quae ad hoc opus pertinerent diligentissime scripta posteris reliquisse. Zu den ersten beiden Büchern, in denen die Rhetorik als lehrbare ars und ihr Erlernen auch aus der Perspektive der Schüler beschrieben werden, vgl. W. M. Bloomer, Quintilian on Education, in: id. (Hrsg.), A Companion to Ancient Education, Oxford 2015, 347–357, und T. Reinhardt und M. Winterbottom, Quintilian, Institutio oratoria, Book 2, Oxford 2006. Quint. inst. 1,2,25 id nobis acriores ad studia dicendi faces subdidisse quam exhortationem docentium, paedagogorum custodiam, vota parentium, quantum animi mei coniectura colligere possum, contenderim. Zu agonalen Motiven in der Protreptik vgl. oben S. 33.

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und seine Definition des Redners als vir bonus (inst. 2,16,11 und besonders inst. 12,1,1) gehören in dieses Feld.21 Signifikant ist hier gleichfalls Quintilians berühmte Werbung für die Nachahmung Ciceros, für die er mit nachdrücklichen Worten nicht spart: Cicero solle man vor Augen haben, er möge das Vorbild sein, und der Fortschritt eines Schülers sei für diesen selbst daran erkennbar, wie sehr ihm Cicero gefalle.22 Quintilian greift hier deutlich protreptische Motive auf: Vorbild (exemplum), Fortschritt beim Lernen (profecisse) und Selbstreflexion (sciat). Der Adressat bleibt aber unbestimmt, und die Formulierung wechselt vom Adhortativ der 1. Person Plural zu einem Iussiv in Verbindung mit einem nicht näher spezifizierten ille. Daher liegt auch hier keine protreptische Situation in konkreter Form vor. Die Nähe zu Politik und Macht und die Werbung um einen künftigen Politiker als Schüler sind in der Protreptik bei Isokrates und späteren angelegt. In Quintilians Person tritt nun die unmittelbare Verbindung der institutionellen Rhetorik mit der politischen Macht ganz besonders hervor und wird auch im Werk sichtbar. So erhält Quintilian im Jahr 70 n. Chr. oder im Jahr darauf in Rom als erster einen der öffentlichen Lehrstühle für Rhetorik (publica schola),23 die der Kaiser Vespasian hat einrichten lassen;24 er berichtet selbst, dass Kaiser Domitian ihm die Erziehung zweier Enkel seiner Schwester anvertraut habe.25 Die Söhne der Flavia Domitilla und des T. Flavius Clemens werden, als sie noch kleine Kinder sind, vom Kaiser schon zu seinen Nachfolgern bestimmt.26 Quintilian ist somit ein Prinzenerzieher am Hof in Rom und außerdem Träger der Insignia consularia (wohl 95 n. Chr.).27 Es ist daher ebensowenig verwunderlich, dass seine Haltung gegenüber Domitian in der Institutio außerordentlich positiv ist,28 wie es verständlich ist, dass Spätere ihn

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Vgl. auch die Formulierung zum ‚vollkommenen Redner‘ in der ersten Vorrede: Quint. inst. 1 pr. 9 oratorem autem instituimus illum perfectum, qui esse nisi vir bonus non potest, ideoque non dicendi modo eximiam in eo facultatem, sed omnis animi virtutes exigimus. Dazu siehe unten S. 202 f. mit Anm. 45. Quint. inst. 10,1,112 hunc igitur spectemus, hoc propositum nobis sit exemplum, ille se profecisse sciat, cui Cicero valde placebit. Suet. gramm. fr. 40 (Brugnoli) M. Fabius Quintilianus Romam a Galba perducitur (= Hier. chron. ad Ol. 211,4); ex Hispania Calugarritanus, primus Romae publicam scholam et salarium e fisco accepit et claruit (= Hier. chron. ad Ol. 216,4). Vgl. Suet. Vesp. 18,1. Quint. inst. 4 pr. 2. Suet. Dom. 15,1. Zu ihrem Vater T. Flavius Clemens vgl. W. Eck, Flavius II 16, DNP 4 (1998), 548. Auson. Gratiarum actio ad Gratianum imperatorem 7,31. Vgl. neben der erwähnten Passage über Domitians Großneffen inst. 4 pr. 2–3 (cum vero mihi Domitianus Augustus sororis suae nepotum delegaverit curam, non satis honorem iudiciorum caelestium intellegam, nisi ex hoc oneris quoque magnitudinem metiar. Quis enim mihi aut mores excolendi sit modus, ut eos non inmerito probaverit sanctissimus censor, aut studia, ne fefellisse in iis videar principem ut in omnibus, ita in eloquentia quoque eminentissimum?) Quintilians Bemerkungen über Domitian als Kenner der Literatur inst. 10,1,91–92. W. C. McDermott und A. E. Orentzel, Quintilian and Domitian, Athenaeum 57 (1979), 1–23, sehen darin jedoch keine bloße Heuchelei Quintilians, sondern

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Von Athen nach Rom: Wege der Protreptik für die Rhetorik

genau dafür tadeln.29 Trotzdem scheint auch hier die direkte Widerspiegelung des Erfolgs und des Zustands, den Quintilian selbst repräsentiert, in affirmativer Werbung für die Rhetorik, die sich in literarischen Interaktionen niederschlägt, nicht in größerem Ausmaß zu passieren, wobei keinesfalls geleugnet werden soll, dass Quintilians Werk ein Aushängeschild für den Unterricht in der Beredsamkeit par excellence ist. Nimmt man diese Beobachtungen zusammen, erscheint es daher angemessen und sinnvoll, Quintilians Institutio oratoria in diese Untersuchung nicht mit einem eigenen Abschnitt einzubeziehen. 2.3 Protreptik für die Rhetorik zwischen Konstanz und Wandel Wenn man sich den Platz vorstellen will, den die Werbung für die Rhetorik hat, ist die Vorstellung von drei aufeinander beruhenden Bereichen hilfreich. Als ersten und umfassendsten Bereich kann man dabei das allgemeine Wissenschafts- und Bildungswesen der Antike sehen, für das die Artes liberales in ihren ganz verschiedenen Ausformungen und Verzweigungen stehen.30 Einen Teilbereich davon stellen die Rhetorik und die Beredsamkeit dar; für sie gibt es eigene Lehrbücher und Schriften sowie literarische Produkte, die als vorbildhaft bzw. nützlich gelten. Darin wiederum ist die Protreptik für die Rhetorik ein sehr kleiner und nur punktuell ausgeprägter Bereich und ein weder notwendig noch permanent oder überall vorhandener Bestandteil, sondern nur dort zu finden, wo zur Selbstdarstellung für einen Unterricht, einen Lehrer bzw. um Schüler geworben wird und wo eine Konkurrenz mit anderen Angeboten bestehen kann. Das Wissenschafts- und Bildungswesen der Antike ist nun von Prozessen der Weitergabe, Übernahme und Modifizierung in Zeit, Raum und Kultur geprägt, für deren Deutung in der Forschung unterschiedliche Ansätze entwickelt worden sind. Ein häufig gewählter Weg ist es, von Rezeption zu sprechen. Ihre Erforschung fragt nicht nur aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nach der Art und Weise, wie ein echter oder

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eine Verbundenheit mit dem Herrscherhaus, die ihm später von Plinius und Juvenal übelgenommen worden sei. Vgl. Iuv. 7,197–8 si Fortuna volet, fies de rhetore consul; / si volet haec eadem, fies de consule rhetor und dazu McDermott und Orentzel (1979), 25–6. Vgl. zum Überblick U. Lindgren, Die Artes liberales in Antike und Mittelalter. Bildungs- und wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungslinien, Augsburg 22004, 4–46, R. F. Glei (Hrsg.), Die Sieben Freien Künste in Antike und Gegenwart, Trier 2006, und A. Schmitt, 2000 Jahre europäische Bildung. Die artes liberales und ihre theoretische Grundlage (ein Überblick), in: R. Bentzinger und M. Vielberg (Hrsg.), Wissenschaftliche Erziehung seit der Reformation: Vorbild Mitteldeutschland. Beiträge des 5. Erfurter Humanismuskongresses 2015, Erfurt 2016, 17–38. Wie breit gefächert allein der Bereich ist, der sich mit Sprache und Literatur im weitesten Sinn beschäftigt, zeigt die Darstellung von J. E. G. Zetzel, Critics, Compilers, and Commentators. An Introduction to Roman Philology, 200 BCE–800 CE, Oxford 2018.

Protreptik für die Rhetorik zwischen Konstanz und Wandel

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präsumtiver Leser einen Text wahrnimmt und auffasst,31 sondern betrachtet auch allgemein Spannungsfelder, die bei der Nachahmung und der Übernahme in politischen, sozialen und kulturellen Kontexten entstehen.32 Wenn sich die Rezeptionsforschung dahingehend verengt, dass unter dem Schlagwort der Identität in erster Linie nach dem besonderen und einzigartigen Charakter dessen gefragt wird, der von einem anderen etwas aufgreift und übernimmt, kommt es jedoch zu einer Herangehensweise, die für die Bedürfnisse der vorliegenden Untersuchung zu einseitig erscheint. So lässt sich z. B. Ciceros starke Polemik gegen die griechische Schulrhetorik in De oratore, die für seine Protreptik eine große Rolle spielt, am besten als ein Gemisch aus den Erfahrungen eines römischen Politikers und der Übernahme der griechischen Philosophie beschreiben.33 In jüngerer Zeit sind in der Forschung unter den Leitbildern Transformation und Transfer Konzepte entwickelt worden, die stärker nach der Dynamik solcher Vorgänge fragen und Modelle präsentieren, die viele Facetten und Möglichkeiten der Interpretation komplexer Übernahmeprozesse berücksichtigen. Unter Transformationen werden Prozesse und Resultate von Prozessen verstanden, die zwischen einem Referenz- und einem Aufnahmebereich in der Weise ablaufen, dass die Aneignung eines Gegenstands nicht nur die aufnehmende Kultur verändert, sondern auch die Referenzkultur erst geradezu erzeugt;34 die dabei entstehende Wechselwirkung wird mit dem Begriff der ‚Allelopoiese‘ beschrieben, der eine Konfiguration sowohl des ‚Neuen‘ als auch des ‚Alten‘ beschreibt.35 Es werden zahlreiche und sehr unterschiedliche Arten von Transformationen beobachtet und klassifiziert.36 Die Frage nach Herkunft und Vergangenheit und damit die Konstituierung eines Referenzrahmens im Sinne der Transformationstheorie spielen naturgemäß auch für die Rhetorik allgemein eine sehr große Rolle – man denke nur an Ciceros Darstellung der Geschichte der Beredsamkeit im Brutus oder an den Kanon der nachahmungswürdi-

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Zur Rezeptionsforschung und ihren verschiedenen Ansätzen vgl. Schmitz, 100–105; Schmitz stellt insbesondere die einflussreichen Konzepte der Rezeptionsästhetik vor, die von H. R. Jauß (1970) und W. Iser (1979) entwickelt worden sind. Vgl. die Beiträge in dem Band von G. Vogt-Spira und B. Rommel (Hrsg.), Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, Stuttgart 1999. Vgl. unten S. 77 ff. L. Bergemann, M. Dönike et al., Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, in: H. Böhme, L. Bergemann et al. (Hrsg.), Transformation, ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011, 39–56. Zu beachten ist natürlich, dass der Begriff der Transformation nicht durchgehend in diesem speziellen Sinn verwendet wird; vgl. zum Beispiel J. Leonhardt, Transformationen antiker Rhetorik vom Barock bis zur Moderne, in: M. Erler und Chr. Tornau (Hrsg.), Handbuch Antike Rhetorik, Berlin/Boston 2019, 761–792. Bergemann, Dönike et al., 39. Vgl. die Liste bei Bergemann, Dönike et al., 48–56; hier finden sich nach dem Alphabet geordnet 14 Transformationstypen mit Kurzbeschreibungen.

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Von Athen nach Rom: Wege der Protreptik für die Rhetorik

gen Attischen Redner, wie er bei Dionysios von Halikarnassos entwickelt ist.37 Für die Protreptik ist, wie oben gezeigt worden ist, z. B. das Motiv eines Vorbilds wichtig, das sich als eine Erzeugung eines Referenzrahmens im Sinne einer Transformation interpretieren lässt. Daher wird mit Blick auf die Ergebnisse dieser Arbeit durchaus die Frage gestellt werden können, ob Protreptik für die Beredsamkeit Merkmale eines Transformationsprozesses aufweist. Anders als das Konzept der Transformation und einer dabei zu beobachtenden Allelopoiese geht die Vorstellung des Transfers davon aus, dass Wissen stets in Bewegung ist, nur dort vorhanden ist, wo es auch vollzogen wird, und dabei einer andauernden Veränderung unterworfen ist.38 Typische Merkmale, wie ein Transferprozess ablaufen kann, sind Selektion, Integration und Negation;39 Wissen wird bei der Weitergabe bzw. Übernahme ausgewählt, eingegliedert oder ausgeschlossen.40 Eine große Rolle bei dieser Tradierung spielen dabei Institutionen; sie sind verantwortlich für die Bewahrung und Anpassung eines bestimmten Wissens, zugleich an seiner Weitergabe und Verbreitung interessiert und werden daher auch mit dem Begriff der Iteration charakterisiert. In ihnen manifestieren sich zudem soziale Beziehungen, Unterschiede und Positionen ihrer Akteure sehr deutlich. Der Begriff der Institution wird dabei von der Forschung möglichst niederschwellig verwendet: bereits ein Lehrer-Schüler-Verhältnis kann als eine solche Form von Institution beschrieben werden.41 Daraus ergibt sich, dass in der vorliegenden Untersuchung auch das Konzept eines Transfers für die Einordnung und Bewertung der Ergebnisse herangezogen werden kann. Das zeigt zum einen die Sache selbst: der Unterricht, für den zumindest in der literarischen Fiktion geworben wird, ist naturgemäß selbst ein Transfer von Wissen, das hier im Bereich der Artes liberales gerade in seiner Lehr- und Lernbarkeit praktisch wird und literarische Gestalt gewinnt. Dieser Transfer findet in einem Rahmen statt, der von Lehrern und Schülern geprägt ist und daher Züge einer Institution trägt. Zum anderen – und das ist der eigentliche Gegenstand der Untersuchung – vollzieht sich der Transfer durch die Iteration, indem ähnliches wiederholt und abgewandelt wird und demzufolge verglichen werden kann. Dass sich dieser Transfer jeweils in literarischen Formen abspielt, verändert seine Struktur nicht 37 38 39

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Dazu vgl. Hidber, 14–24. E. Cancik-Kirschbaum und A. Traninger, Institution – Iteration – Transfer. Zur Einführung, in: eaed. (Hrsg.), Wissen in Bewegung. Institution – Iteration – Transfer, Wiesbaden 2015, 1–13, hier 2. Ebenda; dass in dieser Aufzählung, auch wenn sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, der Zuwachs durch radikal Neues fehlt, ist kein Zufall. So schreiben Cancik-Kirschbaum und Traninger, 7, dass aus ihrer Sicht Innovation häufig zu verstehen sei als ein Prozess der „Überlagerung, Fusion und Einverleibung auf der Grundlage habitualisierter Verfahren, die zugleich in und trotz ihrer Repetitivität flexibel genug waren, um ihnen fundamental fremde Inhalte, Techniken und Lehrmeinungen zu integrieren“. Der Begriff der Integration impliziert also durchaus, dass etwas Neues und Eigenes im Verlauf des Transfers hinzugefügt werden kann. Cancik-Kirschbaum und Traninger, 2. Cancik-Kirschbaum und Traninger, 5.

Protreptik für die Rhetorik zwischen Konstanz und Wandel

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grundsätzlich: in zeitlicher, räumlicher und kultureller Hinsicht ist er trotzdem vorhanden und kann von Isokrates über Cato und Cicero bis Seneca maior beobachtet und untersucht werden.42 Das Ziel dieser Arbeit ist die Untersuchung der Protreptik für die Rhetorik in Rom bis Seneca maior. Es steht fest, dass es sich dabei um ein Phänomen handelt, das in einem Spannungsfeld zwischen Konstanz und Wandel steht; einerseits werden bestimmte Motive übernommen und kontinuierlich weiterverwendet, anderseits finden Anpassungen und Modifikationen statt. Mit Transformation und Transfer stehen dabei zwei Konzepte zur Verfügung, die für die Betrachtung von Übernahmeprozessen jeweils eigene Schwerpunkte setzen. Sie können geeignet und hilfreich sein, die Ergebnisse dieser Arbeit einzuordnen und so unterschiedliche Perspektiven auf das Phänomen der Protreptik für die Rhetorik zu gewinnen.

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Ein Beispiel für eine Arbeit, die eine solche Einordnung ihres speziellen Themas vornimmt, ist die Untersuchung von Chr. Vogel, Boethius’ Übersetzungsprojekt. Philosophische Grundlagen und didaktische Methoden eines spätantiken Wissenstransfers, Wiesbaden 2016. Vogel beschreibt und diskutiert für seine Untersuchung die Transferebenen ‚Begriff ‘, ‚Position‘ und ‚philosophisches Konzept‘ (159–166).

3 Cato der Ältere Marcius Porcius Cato, genannt Cato der Ältere, (234–149 v. Chr.) erscheint uns als starke, auf sehr vielen Gebieten höchst erfolgreiche und dabei durchaus widersprüchliche Persönlichkeit.1 In seinem sicherlich idealisierenden Porträt beschreibt ihn der Historiker Livius so, dass man bei allem, was Cato getan habe, hätte sagen können, er sei genau dafür geschaffen gewesen. Cato habe im Privatleben und in der Öffentlichkeit über alle Künste verfügt. Zusätzlich zu seinen militärischen Erfolgen sei er ein überragender Politiker, Anwalt und Redner gewesen.2 Seine Eloquenz zeige sich auch noch damals – zu Livius’ Zeit – in den erhaltenen Schriften.3 Dieses Lob als eloquentissimus alleine macht Cato und die Fragmente seiner Schriften noch nicht zum Gegenstand dieser Untersuchung; dazu wird er vor allem aus zwei Gründen: zum einen scheint er in gewissem Sinne auch als Vorbild und als Lehrer der Beredsamkeit gewirkt zu haben; zum anderen richtet er sich dabei an seinen Sohn mit der klar erkennbaren Absicht, diesen zu erziehen und zu fördern. Damit ist Cato der erste in einer Reihe, die über Cicero zu Seneca führt. Diese Schriftsteller eint der Umstand,4 dass in einer persönlichen Beziehung (real oder fiktiv) für rhetorische Bildung geworben wird und dafür die bei Isokrates und seinen Nachfolgern geprägten Schemata direkt oder indirekt übernommen, adaptiert und in neuen Kontexten angewendet

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Zu Catos Leben und Werken ausführlich W. Suerbaum, M. Porcius Cato, in: id. u. a. (Hrsg.): Die archaische Literatur. Von den Anfängen bis Sullas Tod. Die vorliterarische Periode und die Zeit von 240 bis 78 v. Chr. (HLL 1), München 2002, § 162 (S. 380–418). Die Fragmente der Origines sind in neueren Ausgaben gesammelt, übersetzt und kommentiert bei T. J. Cornell (Hrsg.), The Fragments of the Roman Historians, Oxford 2013, Nr. 5 (bearbeitet von T. J. Cornell), und bei H. Beck und U. Walter, Die Frühen Römischen Historiker, Bd. I, Von Fabius Pictor bis Cn. Gellius, Darmstadt 2001, Nr. 3. Die ältere Ausgabe von H. Jordan, M. Catonis praeter librum de re rustica quae extant, Leipzig 1860, ist für den Überblick sehr nützlich, auch wenn von der Forschung einzelne Stellen heute anders bewertet oder zugeordnet werden. Zu Catos Leben, Wirken und Werk vgl. die Monographie von A. E. Astin, Cato the Censor, Oxford 1978. Catos große Vielfalt hebt auch Quintilian hervor (inst. 12,11,23). Liv. 39,40,4–8; vgl. H. Tränkle, Cato in der vierten und fünften Dekade des Livius, Mainz 1971. Vgl. die Sammlung und Interpretation des Materials bei F. J. LeMoine, Parental Gifts: Father-Son Dedications and Dialogues in Roman Didactic Literature, ICS 16 (1991), 337–66.

Cato als Redner und Vorbild

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werden. Hier soll daher betrachtet werden, wie Cato in diese Entwicklung eingeordnet werden kann und ob bei ihm bereits von rhetorischer Protreptik gesprochen werden kann. 3.1 Cato als Redner und Vorbild Auch wenn das Lob des Livius, Cato sei eloquentissimus gewesen, nicht von allen Späteren geteilt wird, werden Catos Reden trotzdem lange Zeit (mindestens bis zu den Archaisten) mit großer Aufmerksamkeit rezipiert. Cicero findet und liest für seinen Brutus mehr als 150 Reden Catos,5 heute sind nur noch 256 meist kleinere Fragmente aus 79 Reden bekannt.6 Neben der – freilich programmatisch motivierten – uneingeschränkten Bewunderung, die Cato von Fronto und Gellius widerfährt und die so weit führt,7 dass Gellius ausführlich eine Kritik des Tiro an Catos Rede De Rhodiensibus (167 v. Chr.) zu widerlegen sucht,8 steht das eher knappe und nüchterne Urteil des Nepos in seiner Kurzbiographie, Cato sei ein probabilis orator.9 Für Quintilian ist Cato in dicendo praestantissimus, er warnt aber die Schüler seiner Zeit davor, sich die Schroffheit Catos und der Gracchen zum Vorbild zu nehmen.10 Cato verfasst seit früher Jugend Reden und zwar offenbar in der Form, dass er ausformulierte Manuskripte anfertigt.11 Die Stationen seiner Laufbahn als Redner und der Charakter der erhaltenen Fragmente können hier übergangen werden;12 für die zu behandelnde Frage, ob Cato als Redner eine protreptische Wirkung entfaltet und somit zumindest indirekt für die Rhetorik wirbt, ist Plutarchs Zeugnis erhellend, Cato sei nach seinem energischen Auftreten als Quaestor im Konflikt mit P. Cornelius Scipio Africanus (204 v. Chr.) von vielen ein ‚römischer Demosthenes‘ genannt worden:13

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Cic. Brut. 65. H. (E.) Malcovati, Oratorum Romanorum fragmenta liberae rei publicae, Band 1, Nr. 8, Turin 4 1976; etwas anders zählt M. T. Sblendorio Cugusi, M. Porci Catonis Orationum reliquiae, Introduzione, testo critico e commento filologico, Turin 1982. Die Stellen bei Suerbaum, T 38–40. Gell. 6,3,7–55. Nep. Cat. 3,2. Quint. inst. 12,3,9 und 2,5,21. Ähnlich urteilt Cic. Brut. 69 über die altertümliche Ungeschliffenheit Catos: nec vero ignoro nondum esse satis politum hunc oratorem et quaerendum esse aliquid perfectius; quippe cum ita sit ad nostrorum temporum rationem vetus, ut nullius scriptum exstet dignum quidem lectione, quod sit antiquius. Nep. Cat. 3,3 ab adulescentia confecit orationes; dazu und zu Catos Arbeitsweise vgl. Astin, 135–137. Zur Rede für die Rhodier, mit der Cato eine Bestrafung der Rhodier wegen ihrer Neutralität im Krieg Roms mit Makedonien zu verhindern sucht, (167 v. Chr., ORF 8, frgg. 163–171) vgl. Th. Baier, Römische Beredsamkeit von Appius Claudius bis zu Seneca d. Ä., in: M. Erler und Chr. Tornau (Hrsg.), Handbuch Antike Rhetorik, Berlin/Boston 2019, 249–270, hier 255–9. Catos Ruf als Demosthenes bezeugen auch Poseidonios und Appianos: Posidon. fr. 178 Theiler (= D. S. 34/35,33,3) μετὰ γὰρ τὸν Ἀννιβιακὸν πόλεμον Μάρκος μὲν Κάτων ὁ ἐπικληθεὶς Δημοσθένης

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Plut. Cat. Ma. 4,1–2 Τῷ δὲ Κάτωνι πολλὴ μὲν ἀπὸ τοῦ λόγου δύναμις ηὔξητο, καὶ Ῥωμαῖον αὐτὸν οἱ πολλοὶ Δημοσθένη προσηγόρευον, ὁ δὲ βίος μᾶλλον ὀνομαστὸς ἦν αὐτοῦ καὶ περιβόητος. ἡ μὲν γὰρ ἐν τῷ λέγειν δεινότης προέκειτο τοῖς νέοις ἀγώνισμα κοινὸν ἤδη καὶ περισπούδαστον […].

Hier geht es Plutarch nicht darum, dass Cato dank einer spezifischen Nachahmung der ‚römische Demosthenes‘ geworden sei;14 Catos intensive Beschäftigung mit der griechischen Literatur ist für sein Alter bezeugt,15 wobei in der Forschung zu Recht betont wird, dass litteras discere nicht den Spracherwerb, sondern eben die literarische Tätigkeit bezeichnet.16 Catos Ehrentitel beruht vielmehr zum einen darauf, dass Demosthenes als der Redner schlechthin wahrgenommen wird und somit sein Name für einen führenden Redner steht;17 diese Benennung passt zudem in das Selbstbewusstsein einer Zeit, in der auch der Dichter Ennius als ein zweiter Homer erscheint.18 Zum anderen eint Cato mit Demosthenes, dass mit ihnen beiden das verbunden wird, was das Wort δεινότης beschreibt, nämlich eine überragende Redegewalt und die Fähigkeit, sie richtig und angemessen zu gebrauchen.19 Dabei spielt es keine Rolle,

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εἰώθει λέγειν παρ᾽ ἕκαστον ἐν τῇ συγκλήτῳ κατὰ τὴν ἀπόφασιν τῆς ἰδίας γνώμης Καρχηδόνα μὴ εἶναι und App. Hisp. 160 αὐτὸν ἐπὶ τοῖς λόγοις ἐκάλουν οἱ Ῥωμαῖοι Δημοσθένη, πυνθανόμενοι τὸν ἄριστον ἐν τοῖς Ἕλλησι ῥήτορα γεγενῆσθαι Δημοσθένη. Vgl. Astin, 149 mit Anm. 39, zu Fragmenten Catos, in denen möglicherweise ein intertextueller Bezug auf Demosthenes vorliegt; nach Astins Ansicht sollte der Einfluss nicht überschätzt werden: Astin, 152,: „The remains of Cato’s speeches strongly suggest then that he did not engage in serious study of Greek rhetorical theory or seek to apply it in practice.“ Vgl. zur Rolle der griechischen Rhetorik für Cato und zur Diskussion in der Forschung auch Suerbaum, 398. Cic. Cato 26; Nep. Cat. 3,2; Plut. Cat. Ma. 2,5. So Astin, 159, und E. S. Gruen, Culture and National Identity in Republican Rome, Ithaca, NY 1992, 52–84 (Cato and Hellenism), hier 56. Vgl. Cic. opt. gen. 13 Graecorum oratorum […] princeps facile Demosthenes; D. S. 26.1.1 τίς γὰρ ἐπιφανέστερος τῶν μὲν ποιητῶν Ὁμήρου, τῶν δὲ ῥητόρων Δημοσθένους. Zur Vossianischen Antonomasie, die hier vorliegt, vgl. L. Drews, Antonomasie, HWRh 1 (1992), 753–754. Bei Cic. orat. 226 heißt Lysias ‚ein beinahe zweiter Demosthenes‘ (alter paene Demosthenes). Die Bemerkung des Valerius Maximus anlässlich der bekannten Anekdote über das Redetraining des Demosthenes, den einen Demosthenes habe seine Mutter zur Welt gebracht, einen zweiten sein Fleiß (Val. Max. 8,7 ext. 1 itaque alterum Demosthenen mater, alterum industria enixa est), spielt mit dieser Antonomasie bzw. diesem emphatischen Gebrauch des Namens. Horaz nennt den Dichter Ennius alter Homerus (epist. 2,1,50 mit Brink ad loc.) und zitiert damit Lucilius (bei Hieronymus In Michaeam 2,7,250 [über Vergil] sed et poeta sublimis – non Homerus alter, ut Lucilius de Ennio suspicatur, sed primus Homerus apud Latinos). Ennius selbst sieht sich als Homer und beschreibt im Proömium seiner Annales (besonders fr. 11 Skutsch […] memini me fiere pavum), wie er die Reinkarnation der Seele Homers erlebt habe. Zum pythagoreischen Hintergrund und zur literarischen Funktion dieser Aussage vgl. W. Suerbaum, Q. Ennius, in: id. u. a. (Hrsg.): Die archaische Literatur. Von den Anfängen bis Sullas Tod. Die vorliterarische Periode und die Zeit von 240 bis 78 v. Chr. (HLL 1), München 2002, § 117 (S. 137), und H. Prinzen, Ennius im Urteil der Antike, Stuttgart/Weimar 1998, passim und besonders 218. Vgl. zum Begriff der δεινότης und zu seiner charakteristischen Anwendung auf Demosthenes D. H. Amm. 1,3. Ciceros Urteil über Catos Reden Brut. 65 (licet ex his eligant ea quae notatione et laude dig-

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ob dieses Urteil für Cato im Lauf der Zeit Bestand hat – Cicero konstatiert etwa einen Mangel an Verfeinerung in Catos Stil20 –, entscheidend ist, dass die Zeitgenossen, wenn man Plutarchs Zeugnis Glauben schenkt, das so wahrnehmen und in Cato einen Demosthenes sehen. Catos Wirkung kann als protreptisch bezeichnet werden: der auf seiner δεινότης beruhende Erfolg löst bei den jungen Römern einen allgemeinen und intensiven Wettstreit (ἀγώνισμα) aus, in Nachahmung Catos in der Redekunst erfolgreich zu sein. Man kann vermuten, dass Cato diese Wirkung sehr wohl kalkuliert: im unmittelbaren Anschluss an die zitierte Stelle erzählt Plutarch, wie Cato über sein ganzes Leben hinweg mit seinem frugalen, altfränkischen und bescheidenen Lebensstil, der als deutlicher Kontrast zu seiner Zeit wahrgenommen wird, allgemeine Achtung gewinnt.21 Plutarch vergleicht das mit der Bewunderung für einen siegreichen Wettkämpfer (ἀθλητὴς νικηφόρος), der seinem Training (ἄσκησις) treu bleibt. Diese aus den Bereichen Wettkampf und Training stammende Metaphorik hat zumindest deutliche Berührungspunkte mit der Protreptik des Dionysios von Halikarnassos und ihren Motiven,22 auch wenn es sich natürlich um die literarische Ausformung Plutarchs handelt und es hier nicht primär um die Beredsamkeit alleine geht. Wenn Plutarch Catos ausgeprägte Neigung zum Selbstlob erwähnt und formuliert, er habe die Großsprecherei (μεγαλαυχία), die eine Folge großer Taten (μεγαλουργία) sei, keineswegs gemieden,23 ist das im Grunde die Kehrseite der Medaille, dass Cato den starken Willen hat, sich als Anführer des Staats und auch als Vorbild zu stilisieren. Hinzu kommt, dass Catos Erfolge in der Beredsamkeit ihm großen Ruhm einbringen. Es lässt sich heute nicht klären, ob Cato seine Reden veröffentlicht und auf diese Weise seine Position als Vorbild weiter ausgebaut hat;24 fest steht aber, dass er seine Reden Für die Rhodier und Gegen Servius Galba in sein Geschichtswerk Origines übernommen hat.25 Neben anderen Gründen mag ihn die Absicht bewogen haben, Proben seiner Beredsamkeit zu geben.26

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na sint: omnes oratoriae virtutes in eis reperientur) kann auch im Kontext des universellen Konzepts der δεινότης gesehen werden. Cic. Brut. 298 intelleges nihil illius liniamentis nisi eorum pigmentorum, quae inventa nondum erant, florem et colorem defuisse. Plut. Cat. Ma. 4,3. Siehe oben S. 33. Plut. Cat. Ma. 14,2 ὁ δὲ Κάτων ἀεὶ μέν τις ἦν ὡς ἔοικε τῶν ἰδίων ἐγκωμίων ἀφειδὴς καὶ τὴν ἄντικρυς μεγαλαυχίαν ὡς ἐπακολούθημα τῆς μεγαλουργίας οὐκ ἔφευγε und 19,7 καίτοι πλεῖστα πάντων ἑαυτὸν ἐγκεκωμίακεν, ὅς γε καὶ τοὺς ἁμαρτάνοντάς τι περὶ τὸν βίον, εἶτ᾽ ἐλεγχομένους λέγειν φησίν, ὡς οὐκ ἄξιον ἐγκαλεῖν αὐτοῖς· οὐ γὰρ Κάτωνές εἰσι· […] vgl. Liv. 34,15,9 (= FRH 3 5,1) […] haud sane detractor laudum suarum […]. Astin, 148, ist sehr skeptisch, was eine Veröffentlichung der Reden betrifft. FRH 3 5,3 und 7,1–4. Vgl. zu Catos Motiven ausführlich Beck und Walter im Kommentar zu FRH 3 5,3.

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3.2 Cato und Karneades Im Jahr 155 v. Chr. schicken die Athener eine Gesandtschaft zum Senat von Rom, da sie sich dort Hilfe in einer diplomatischen Angelegenheit erhoffen. Sie wird angeführt von den Philosophen Karneades von Kyrene, Diogenes von Babylon und Kritolaos von Phaselis.27 Diese hochkarätige und ganz besondere Gesandtschaft – die Athener haben niemand anders als die Scholarchen ihrer führenden Philosophenschulen Akademie, Stoa und Peripatos geschickt – erregt in Rom große Aufmerksamkeit; denn die Philosophen halten, wie Plutarch berichtet, Vorträge und gewinnen rasch die Bewunderung der Jugend.28 Plutarchs Schilderung klingt auf eine gewisse Weise euphorisch: insbesondere Karneades habe dank seinem anmutigen Auftreten (χάρις) und seiner Fähigkeit (δύναμις) mit seinen Lehrvorträgen wie der Wind die Stadt mit Geräusch (ἠχή) erfüllt. Plutarch fährt fort und beschreibt die Reaktion der Öffentlichkeit: Plut. Cat. Ma. 22,3 καὶ λόγος κατεῖχεν, ὡς ἀνὴρ Ἕλλην εἰς ἔκπληξιν ὑπερφυὴς πάντα κηλῶν καὶ χειρούμενος ἔρωτα δεινὸν ἐμβέβληκε τοῖς νέοις, ὑφ᾽ οὗ τῶν ἄλλων ἡδονῶν καὶ διατριβῶν ἐκπεσόντες ἐνθουσιῶσι περὶ φιλοσοφίαν.

Plutarchs scheinbar überschwängliche Wortwahl hat einen nüchternen Grund: er bedient sich der literarischen Mittel und ihrer Motive zur Beschreibung einer protreptischen Szene. Die Adressaten sind in ersten Linie die jungen Leute (οἱ νέοι) Roms, auf die sich auch Cato in seiner späteren Kritik eindeutig bezieht.29 Karneades hält epideiktische Vorträge als Werbung für seine Kunst; die jungen Zuhörer reagieren darauf überaus positiv und beginnen, für die Philosophie zu schwärmen. So lässt sich das Wort κηλεῖν (‚bezaubern‘) mit Platons Schilderung der Wirkung, die der Sophist Protagoras (im gleichnamigen Dialog) hervorruft, assoziieren: Protagoras verzaubere seine Anhänger wie ein Orpheus.30 Platon lässt Sokrates diese gewiss ironische Formulierung nach dem Ende der großen Epideixis des Protagoras (ἐπιδειξάμενος) noch einmal aufgreifen: er habe lange Zeit verzaubert (κεκηλημένος) auf ihn gesehen und begierig gewartet, ob er noch etwas sagen werde.31 So sind in Plutarchs Darstellung

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Plut. Cat. Ma. 22,1; Kritolaos wird genannt von Cicero (de orat. 2,155). Plut. Cat. Ma. 22,2 εὐθὺς οὖν οἱ φιλολογώτατοι τῶν νεανίσκων ἐπὶ τοὺς ἄνδρας ἵεντο καὶ συνῆσαν, ἀκροώμενοι καὶ θαυμάζοντες αὐτούς. Plut. Cat. Ma. 23,7. Pl. Prt. 315a6–b2 τούτων δὲ οἳ ὄπισθεν ἠκολούθουν ἐπακούοντες τῶν λεγομένων τὸ μὲν πολὺ ξένοι ἐφαίνοντο – οὓς ἄγει ἐξ ἑκάστων τῶν πόλεων ὁ Πρωταγόρας, δι᾽ ὧν διεξέρχεται, κηλῶν τῇ φωνῇ ὥσπερ Ὀρφεύς, οἱ δὲ κατὰ τὴν φωνὴν ἕπονται κεκηλημένοι – ἦσαν δέ τινες καὶ τῶν ἐπιχωρίων ἐν τῷ χορῷ. Vgl. zum Gebrauch von κηλεῖν in Zusammenhang mit der Beredsamkeit Eup. 102,5–7 PCG πειθώ τις ἐπεκάθιζεν ἐπὶ τοῖς χείλεσιν, / οὕτως ἐκήλει καὶ μόνος τῶν ῥητόρων / τὸ κέντρον ἐγκατέλειπε τοῖς ἀκροωμένοις. Pl. Prt. 328d4; Slings, 76, ordnet die vorangehende Szene im Protagoras als „protreptic situation“ ein.

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Karneades und seine Begleiter für Rom durchaus das, was Protagoras und die Sophisten mehr als 270 Jahre zuvor für Athen sind. Cicero möchte in diesem Auftreten der drei Philosophen ein entscheidendes Datum für Roms Begegnung mit der Philosophie sehen.32 In der modernen Forschung argumentiert Drecoll dagegen, dass eine solche Begeisterung für das Jahr 155 v. Chr. unwahrscheinlich und Plutarchs Bericht daher unhistorisch sei.33 Hier darf man allerdings den Begriff der φιλοσοφία nicht zu eng fassen; Plutarch spricht zudem allgemein von der παιδεία Ἑλληνική. In Ciceros (verlorener) Darstellung in De re publica ist diese Epideixis, bei der Karneades die Gerechtigkeit lobt und am Tag darauf widerlegt, vermutlich als eine Art rhetorische Übung zum Finden von Gegenargumenten bezeichnet worden.34 Daher kann, auch wenn es hier müßig ist, Rhetorik und Philosophie streng voneinander zu trennen, vermutet werden, dass Karneades’ neue Schüler sich vor allem einen praktischen Nutzen für ihre Fähigkeiten in der Redekunst versprochen haben. Es ist bezeugt, dass Cato die Lehrvorträge des Karneades persönlich angehört hat.35 Das ist für einen hohen römischen Beamten nicht ungewöhnlich, wie das Beispiel der von Cicero geschilderten Begegnung des Prätors Marcus Antonius Orator in Athen im Jahr 102 v. Chr. mit den Philosophen Mnesarchos und Charmadas und dem Rhetor Menedemos zeigt.36 Als die Öffentlichkeit Roms die Werbereden ausgesprochen positiv aufnimmt und diese dank der Übersetzung des Senators C. Acilius bis in den Senat vordringen,37 reagiert Cato und veranlasst die Ausweisung der Gesandtschaft unter Wahrung der Höflichkeit (μετ’ εὐπρεπείας), wobei er vor dem Senat anführt, dass die Philosophen zu ihren Vorlesungen für die griechische Jugend zurückkehren sollten, die römische Jugend aber wie früher auf die Gesetze und die Beamten hören solle.38 Plutarch erklärt nun, Catos Motiv sei nicht Unmut über Karneades gewesen, sondern mit einer grundsätzlichen Abneigung gegen die Philosophie habe er die ge-

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Cic. Tusc. 4,5. C. Drecoll, Die Karneadesgesandtschaft und ihre Auswirkungen in Rom. Bemerkungen zur Darstellung der Karneadesgesandtschaft in den Quellen, Hermes 132 (2004), 82–91, hier besonders 89–90; eine Rezeption griechischer Rhetorik lässt Drecoll allerdings gelten. Falls das aus der Formulierung des Laktanz geschlossen werden kann: Lact. inst. 5,14,4 (= Cic. rep. 3,6,9 Ziegler) sed idem (= Karneades) disputationem suam postridie contraria disputatione subvertit et iustitiam quam pridie laudaverat sustulit, non quidem philosophi gravitate, cuius firma et stabilis debet esse sententia, sed quasi oratorio exercitii genere in utramque partem disserendi. Dazu allgemein siehe unten S. 103 f. Lact. inst. 5,14,4 (= Cic. rep. 3,6,9 Ziegler); Plin. nat. 7,112; Quint. inst. 12,1,35. Dazu siehe unten S. 87 f. Zu C. Acilius und seinem auf Griechisch geschriebenen Geschichtswerk vgl. die Einleitung zu FRH 5. Plut. Cat. Ma. 22,7; vgl. auch zuvor (5) […] φοβούμενος μὴ τὸ φιλότιμον ἐνταῦθα τρέψαντες οἱ νέοι τὴν ἐπὶ τῷ λέγειν δόξαν ἀγαπήσωσι μᾶλλον τῆς ἀπὸ τῶν ἔργων καὶ τῶν στρατειῶν.

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samte griechische musische Bildung in den Schmutz gezogen – und zwar aus Ehrgeiz (ὑπὸ φιλοτιμίας).39 In der Forschung sieht Jehne in seiner fundierten Studie Catos Motivation darin, dass er die Gefährdung der Jugend durch die griechischen Philosophen und die von ihnen propagierte Relativität von Begriffen wie der Gerechtigkeit habe verhindern wollen; dagegen habe er den Orientierungsrahmen der mores maiorum setzen wollen.40 Gruen bezweifelt mit guten Argumenten, dass Cato grundsätzlich antihellenistisch eingestellt gewesen sei und verweist auf seine breite Rezeption der griechischen Kultur; Cato habe allerdings das Eigene durchaus bewahren wollen und sei so in eine scharfe Opposition zu den Griechen geraten, die oft als Antihellenismus missverstanden werde.41 In Ergänzung dazu soll hier der Nachdruck auf Plutarchs Bemerkung gelegt werden, Cato sei bei seiner Invektive von Ehrgeiz bzw. Ruhmsucht (ὑπὸ φιλοτιμίας) getrieben worden. Das kann man so verstehen, dass Cato als Roms führender Redner bislang selbst das Vorbild für die Jugend ist und nun nach dem Auftreten des Karneades fürchten muss, diese Position zu verlieren.42 Daher greift er Sokrates an, der ein Schwätzer gewesen sei und versucht habe, sich zum Tyrannen aufzuschwingen, und Isokrates, dessen Schüler ihr ganzes Leben mit dem Studium verbrächten, so dass sie das, was sie gelernt hätten, erst vor Minos in der Unterwelt anwenden könnten.43 Mit diesen Angriffen richtet sich Cato eindeutig sowohl gegen den Anspruch der Philosophie, künftige Herrscher auszubilden,44 als auch gegen den Anspruch der Rhetorik, dass die τέχναι nicht von Natur aus zur Verfügung stünden, sondern in einem längeren Prozess erlernt und eingeübt werden müssten.45 Damit greift Cato Motive auf, die für die Protreptik ganz zentral sind; indem er über Sokrates und Isokrates seinen 39

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Plutarchs Formulierung Ca. Ma. 23,1 […] πᾶσαν Ἑλληνικὴν μοῦσαν καὶ παιδείαν ὑπὸ φιλοτιμίας προπηλακίζων […] greift möglicherweise Platons Kritik derjenigen, die die Philosophie falsch handhaben, auf: Pl. R. 536c2 λέγων γὰρ ἅμα ἔβλεψα πρὸς φιλοσοφίαν, καὶ ἰδὼν προπεπηλακισμένην ἀναξίως ἀγανακτήσας μοι δοκῶ […]. M. Jehne, Cato und die Bewahrung der traditionellen Res publica. Zum Spannungsverhältnis zwischen mos maiorum und griechischer Kultur im zweiten Jahrhundert v. Chr., in: G. Vogt-Spira und B. Rommel (Hrsg.), Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, Stuttgart 1999, 115–134, hier besonders 122–124. Auf ähnliche Weise sieht F. Della Corte, Catone Censore. La vita e la fortuna, Florenz 21969, 59–66, in Catos Intention, die Jugend zu schützen, das Motiv seines Anti-Hellenismus. Vgl. auch Plin. nat. 7,112,5 (sc. Cato) legatos eos censuit dimittendos, quoniam illo viro argumentante, quid veri esset, haut facile discerni posset. Gruen, 64–67. Nach dem Bericht Plutarchs hält Catos Ehrgeiz als Redner sein Leben lang an; er habe auch später immer noch mit denen konkurriert, die erst am Anfang ihrer politischen Karrieren gestanden und dort besonderen Ehrgeiz gezeigt hätten (Cat. Ma. 11,4). Daher ist Catos Verhalten im Jahr 155 v. Chr. durchaus plausibel. Plut. Cat. Ma. 23,1–2. Zu Ciceros Rezeption des platonischen Konzepts eines Philosophenkönigs siehe unten S. 70. Zum Verhältnis von ars und ingenium in Ciceros De oratore siehe unten S. 93 ff.

Cato und sein Sohn (zu Ad filium und zur Epistula ad M. filium)

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Spott ausgießt und sie als falsche und schlechte Lehrer bloßstellen möchte, bestätigt Cato zugleich die Ansprüche und Ziele an sich; es geht ihm durchaus um die Bildung der künftigen Herrscher und um die Wahl des richtigen Lehrers. Er kann allerdings in dieser Situation bis auf seine überragende und erfolgreiche Persönlichkeit und seine Autorität kein eigenes Konzept oder Lehrgebäude entgegensetzen und greift daher zu Polemik und zur Verklärung der Tradition und Eigenständigkeit Roms. 3.3 Cato und sein Sohn (zu Ad filium und zur Epistula ad M. filium) Unmittelbar nach seinem Bericht über die Philosophengesandtschaft des Jahres 155 v. Chr. erwähnt Plutarch, dass Cato seinem jungen Sohn gegenüber mit einer Verwegenheit, die seinem Greisenalter nicht entsprochen habe,46 die griechische Bildung und Kultur dämonisiert und behauptet habe, die Römer würden an griechischer Bildung wie an einer Krankheit zugrunde gehen.47 Nun lässt Plutarch Catos auch von Plinius dem Älteren bezeugte maliziöse Invektive gegen die griechischen Ärzte folgen: sie hätten nach dem Vorbild des Hippokrates einen Eid geschworen, keine ausländischen Feinde der Griechen zu behandeln, man müsse sich daher vor ihnen hüten. Dieser Text stammt aus einer Schrift Catos, die in den Quellen Ad filium heißt und von der 16 Fragmente bekannt sind; sie werden teils wegen der Nennung eines Titels, teils wegen der markanten Anrede Marce fili dieser Schrift zugeordnet.48 Es finden sich Betrachtungen und Vorschriften zu den Gebieten Medizin, Landwirtschaft und Rhetorik. In dem bei Plinius überlieferten Fragment verwendet Cato das Wort vates für sich und stilisiert sich damit eindeutig in einer bestimmten Weise:49 Cato ad fil. frg. 1 Jordan (= Plin. nat. 29,14; vgl. Plut Cat. Ma 23,2) et hoc puta vatem dixisse, quandoque ista gens suas litteras dabit, omnia conrumpet, tum etiam magis, si medicos suos huc mittet.

Gruen, der Catos grobe Verleumdung der griechischen Ärzte ausführlich interpretiert, weist zu Recht darauf hin, dass Catos Aussage, mit den griechischen Ärzten und ihrer 46 47 48

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Plut. Cat. Ma. 23,2 […] φωνῇ κέχρηται θρασυτέρᾳ τοῦ γήρως […]. Das Wort ἀναπίμπλημι, das Plutarch Cat. Ma. 23,2, verwendet, kann die Ansteckung mit einer Krankheit bezeichnen (z. B. Th. 2,51,4). Der Titel, falls er überhaupt ursprünglich vorhanden war, ist nicht eindeutig bezeugt; vgl. dazu und zu den Fragmenten Suerbaum, 409–411, und Astin, 332–340; Astin, 336–337, geht davon aus, dass die Zitate bei Plinius nicht auf direkter Rezeption beruhen, sondern aus zweiter Hand stammen; dagegen nimmt O. Schönberger, Versuch der Gewinnung eines Cato-Fragments, Philologus 113 (1969), 283–287, an, dass Plinius Catos Werk selbst liest. Das Wort vates bezeichnet den ‚Seher‘, erst die augusteischen Dichter verwenden es auch zur Selbstbezeichnung und als Synonym von poeta; vgl. Skutsch ad Enn. ann. 213–214 scripsere alii rem / versibus quos Faunei vatesque canebant […]. Suerbaum, 410, charakterisiert Catos Gebrauch des Wortes als „autoritative Sprechhaltung“.

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Wissenschaft werde das Verderben nach Rom kommen, im zweiten Jahrhundert vor Christus ein Anachronismus sei, wenn man annehme, Cato habe sie als Prophezeiung ausgesprochen.50 Plutarch jedenfalls scheint Cato so zu verstehen oder missverstehen zu wollen, da er die vates-Metaphorik aufgreift und dafür das Wort προμαντεύειν benutzt.51 Bei anderen Autoren, die Cato rezipieren und zitieren, finden sich deutliche Spuren einer auf dem Wort oraculum fußenden Metaphorik im Kontext der Zitate aus ad fil. (z. B. in der Einleitung bzw. den kommentierenden Bemerkungen) und anderen Werken, so dass man hier Catos eigene Worte oder zumindest ein Bild bzw. Motiv, das auf ihn selbst zurückgeht, wiederfinden kann. Columella, Plinius der Ältere, Seneca der Ältere und Seneca der Philosoph präsentieren ihren Lesern Cato als ein oraculum.52 Wie dieses Wort zu verstehen ist, zeigt zunächst eine Stelle aus Ciceros De finibus, wo Epikurs κύριαι δόξαι als Orakel bezeichnet werden;53 Cicero paraphrasiert diesen Titel bekanntlich mit maxime ratae sententiae und beschreibt mit der Orakel-Metaphorik nicht den Bezug auf die Zukunft bzw. die Prognostik, sondern die Form des Ausdrucks: es handelt sich, so Cicero, um comprehensae gravissimae sententiae, knapp gehaltene, gedankenschwere und gut zu memorierende Formulierungen. Auch den Satz des Stoikers Zenon über die Autarkie der Tugend für die Glückseligkeit bezeich-

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So Gruen, 79–80, der davor warnt, alleine aus diesen Bemerkungen Catos Haltung zu den Griechen zu rekonstruieren; sie stünden in einem speziellen Kontext: „Cato fashioned them intentionally as dramatic exaggerations in an artificial construct.“ Ein ähnliches Argument führt Plutarch an, indem er auf die gelungene Symbiose von römischer Hegemonie und griechischer Bildung hinweist: Cat. Ma. 23,3 ἀλλὰ ταύτην μὲν αὐτοῦ τὴν δυσφημίαν ὁ χρόνος ἀποδείκνυσι κενήν, ἐν ᾧ τοῖς τε πράγμασιν ἡ πόλις ἤρθη μεγίστη, καὶ πρὸς Ἑλληνικὰ μαθήματα καὶ παιδείαν ἅπασαν ἔσχεν οἰκείως. Plut. Cat. Ma. 23,2 […] ἀποθεσπίζων καὶ προμαντεύων ὡς ἀπολοῦσι Ῥωμαῖοι τὰ πράγματα, γραμμάτων Ἑλληνικῶν ἀναπλησθέντες. Sen. contr. 1 pr. 9 erratis, optimi iuvenes, nisi illam vocem non M. Catonis sed oraculi creditis; quid enim est oraculum? (es folgt ad fil. frg. 14 Jordan); Colum. 11,1 Nam illud verum est M. Catonis oraculum: ‚Nihil agendo homines male agere discunt‘ (incert. libr. rel. fr. 3 Jordan); Plin. nat. 7,171 et cum innumerabilia sint mortis signa, salutis securitatisque nulla sunt, quippe cum censorius Cato ad filium de validis quoque observationem ut ex oraculo aliquo prodiderit, senilem iuventam praematurae mortis esse signum (ad fil. frg. 5 Jordan); Plin. nat. 18,174 In arando magnopere servandum est Catonis oraculum: ‚quid est bene agrum colere? […] (Cat. agr. 61); Plin. nat. 29,27 ita est profecto: lues morum, nec aliunde maior quam e medicina, vatem prorsus cottidie facit Catonem et oraculum: ‚satis esse ingenia Graecorum inspicere, non perdiscere‘ (ad fil. frg. 10 Jordan); Iul. Vict. rhet. p. 3 (Giomini/Celentano) in hanc rem constat etiam Catonis praeceptum paene divinum, qui ait: ‚rem tene, verba sequentur‘. (ad fil. frg. 15 Jordan). Vgl. auch O. Schönberger, M. Porci Catonis Scripta quae manserunt omnia, Vom Landbau, Fragmente, Alle erhaltenen Schriften, Lateinisch – deutsch, München 1980, 393, der auf die Orakel-Metaphorik als Bindeglied hinweist und dabei von einem „Bauernorakel“ sprechen möchte. Cic. fin. 2,20 (sc. Epicurus) in alio vero libro, in quo breviter comprehensis gravissimis sententiis quasi oracula edidisse sapientiae dicitur, scribit his verbis, quae nota tibi profecto, Torquate, sunt – quis enim vestrum non edidicit Epicuri κυρίας δόξας, id est quasi maxime ratas, quia gravissimae sint ad beate vivendum breviter enuntiatae sententiae? Vgl. fin. 2,102 idque (sc. die Gedenkfeier seines Geburtstags) testamento cavebit is, qui nobis quasi oraculum ediderit nihil post mortem ad nos pertinere?

Cato und sein Sohn (zu Ad filium und zur Epistula ad M. filium)

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net Cicero als eine Art Orakel.54 Diese sententiae stehen, was ihre Form betrifft, in der Tradition lehrhafter philosophischer ‚Sprüche‘ (γνῶμαι), die bereits Platon mit den Sieben Weisen und dem Gott Apollon und seinem Heiligtum in Delphi in Verbindung bringt.55 Catos Sprüche werden von Seneca dem Philosophen in genau diese Tradition von Sprüchen gestellt und zugleich als Orakel bezeichnet. Sen. epist. 94,27 Praeterea ipsa, quae praecipiuntur, per se multum habent ponderis, utique si aut carmini intexta sunt aut prosa oratione in sententiam coartata, sicut illa Catoniana: ‚emas non quod opus est, sed quod necesse est; quod non opus est, asse carum est‘ (ad fil. frg. 10 Jordan), qualia sunt illa aut reddita oraculo aut similia: ‚tempori parce‘, ‚te nosce‘.

Damit zeigt sich nicht nur, dass die Übertragung hier nicht besonders weit geht, da die Verbindung der Gnomik mit dem Apollo-Heiligtum in der Wirklichkeit angelegt ist und eine feste Tradition bildet,56 sondern auch, dass Cato als eine Art römischer Weiser rezipiert worden ist.57 Catos Gebrauch des Wortes vates zur Selbstbezeichnung legt die Vermutung nahe, dass bereits er selbst sich in einer solchen Weise stilisiert hat, wobei sein Denken weniger um Selbsterkenntnis und Besonnenheit kreist, sondern klare Regeln (praecepta) bis hin zu polemischen Zuspitzungen sucht. Für den Charakter der libri ad filium lässt der paränetische bzw. gnomenhafte Charakter einiger Fragmente auf eine eher freie Form schließen; es ist daher missverständlich, von einer isagogischen Schrift zu sprechen, wenn man damit ein systematisch angelegtes Vorgehen verbindet.58 Die auf Otto Jahn zurückgehende Vermutung der älteren Forschung, Cato habe für seinen Sohn eine Art Enzyklopädie verfasst,59 gilt als widerlegt, da die erhaltenen Fragmente schwerlich auf ein größeres und systematisch strukturiertes Werk schließen las-

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Cic. fin. 5,79 […] a Zenone, inquam, hoc magnifice tamquam ex oraculo editur: ‚Virtus ad beate vivendum se ipsa contenta est‘ (SVF 1,187). Pl. Prt. 342e–343b: Sokrates spricht in seiner ‚Urgeschichte der Philosophie‘ von den ῥήματα βραχέα ἀξιομνημόνευτα der Weisen. Sokrates erzählt die Geschichte, die Weisen seien gemeinsam nach Delphi gekommen und hätten dort ihre Sprüche dem Apoll dargebracht und auf den Tempel geschrieben (vgl. Denyer ad Pl. Prt. 343a7). Vgl. J. Wiesehöfer, Die Geheimnisse der Pythia – Orakel und das Wissen der reisenden Weisen, in: E. Stein-Hölkeskamp und K.-J. Hölkeskamp (Hrsg.), Die griechische Welt. Erinnerungsorte der Antike, München 2010, 336–352. In diesem Zusammenhang kann auf die spätere Tradition der Disticha Catonis hingewiesen werden; vgl. K. Sallmann, Dicta M. Catonis ad filium suum (sog. Disticha Catonis), in: K. Sallmann (Hrsg.), Die Literatur des Umbruchs. Von der römischen zur christlichen Literatur, 117 bis 284 n. Chr. (HLL 4), München 1997, § 488 (S. 608–612). Zu dieser Literatur allgemein: M. Asper, Zu Struktur und Funktion eisagogischer Texte, in: W. Kullmann u. a. (Hrsg.), Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike, Tübingen 1998, 309– 340. Zuerst vertreten von O. Jahn, Über römische Encyclopädien, Berichte über die Verhandlungen der königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. Classe, Leipzig 1850, 263–287, besonders 263–272.

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Cato der Ältere

sen. Quintilian bezeugt, dass Cato als erster Römer über Beredsamkeit geschrieben habe, und deutet mit seiner Formulierung, Cato habe gewisse Dinge zu diesem Thema verfasst (condidit aliqua in hanc materiam), zugleich an, dass er dessen Schrift nicht für etwas hält (geschweige denn, als etwas benutzt), was man heute als „frühes Standardwerk“ bezeichnet.60 Quintilian zitiert zwar an anderer Stelle Catos berühmte Definition des Redners, geht aber ansonsten nicht auf Catos Schrift ein.61 Zur Form der losen Paränese passt wiederum die an drei Stellen erkennbare Anrede Marce fili;62 denn sie greift zumindest indirekt auf das Grundmuster zurück, das bei Theognis bzw. den Theognidea zu finden ist. Isokrates hat sich wiederum in seiner Protreptik ausdrücklich auf die paränetische Hypothekai-Literatur von Hesiod, Theognis und Phokylides bezogen.63 Cato richtet sich in seiner Schrift Ad filium vermutlich an seinen älteren Sohn M. Porcius Cato Licinianus (ca. 192–152 v. Chr.).64 Die Anreden gehen, soweit sich das beurteilen lässt, über die literarische Konvention einer Widmung weit hinaus und bezeichnen den persönlichen Charakter der praecepta Catos für seinen Sohn. Ebenso wahrscheinlich ist, dass Cato, indem er für Ad filium die lose Form eines paränetischen Traktats wählt, über den Adressaten hinaus eine weitere Leserschaft ansprechen will. Plutarch berichtet, Cato habe seinen Sohn mit großer Sorgfalt und Fürsorge behütet und erzogen;65 er selbst habe ihn lesen und schreiben gelehrt, obwohl er einen fähigen Grammatiklehrer, einen Sklaven namens Chilon, in seinem Haushalt gehabt habe, weil er es abgelehnt habe, dass sein Sohn von einem Sklaven gegebenenfalls getadelt und bestraft werde oder einem Sklaven Dank für seine Erziehung schulden müsse.66

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Quint. inst. 3,1,19 (= T 53 bei Suerbaum). Quint. inst. 12,1,1. Cato ad fil. frg. 1, 6 und 14 Jordan. Dazu und zur Rezeption der Hypothekai-Literatur durch Isokrates siehe oben S. 19. So Suerbaum, 410, und Astin, 332. Über ihn und seine commentarii iuris civilis vgl. D. Liebs, M. Porcius Cato Licinianus, in: Suerbaum, HLL 1, § 194,3 (S. 563), und F. Miltner, Porcius (14), RE XXII (1959), 167–8. Gruen, 77–78, meldet unter Hinweis auf Plutarchs Notiz, Cato habe sich im Greisenalter an seinen Sohn gewendet (Cat. Ma. 23,2), Zweifel an dieser Zuordnung an; allerdings ist es aufgrund der in ad filium behandelten Themen plausibel, dass Cato sich an den knapp 20jährigen Sohn wendet und also vielleicht am Ende seines 6. Lebensjahrzehnts steht. – Cato überlebt seinen Sohn (er stirbt 152 v. Chr. als designierter Prätor), und Cicero lässt ihn am Ende von De senectute (Cato 84) seinen Schmerz darüber und auch seine Hoffnungen auf ein Wiedersehen eindrücklich beschreiben. Über die Rolle des pater familias und seine persönlichen Pflichten vgl. Marrou, 342–3, Scholz, 2011, 106–113, und R. P. Saller, Patriarchy, property and death in the Roman family, Cambridge 1994, 124–125. Plut. Cat. Ma. 20,1–6. Diese Haltung sollte man nicht vorschnell mit dem Attribut ‚römisch‘ versehen; so tadelt Ps.-Plutarch in De liberis educandis (Moralia 1,4c–d) Väter, die gedankenlos und ohne Prüfung unwürdige Lehrer auswählen: νῦν δέ τις κἂν καταπτύσειε τῶν πατέρων ἐνίων, οἵτινες πρὶν δοκιμάσαι τοὺς μέλλοντας διδάσκειν, δι᾽ ἄγνοιαν, ἔσθ᾽ ὅτε καὶ δι᾽ ἀπειρίαν, ἀνθρώποις ἀδοκίμοις καὶ παρασήμοις ἐγχειρίζουσι τοὺς παῖδας. καὶ οὔπω τοῦτ᾽ ἐστὶ καταγέλαστον εἰ δι᾽ ἀπειρίαν αὐτὸ πράττουσιν, ἐκεῖνο δ᾽ ἐσχάτως ἄτοπον. Cato treibt diese Skrupel mit seinem Vorgehen auf die Spitze.

Cato und sein Sohn (zu Ad filium und zur Epistula ad M. filium)

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Catos Rollenverständnis ist dabei in erster Linie von Standesdenken geprägt,67 so dass er selbst seinen Sohn in Grammatik, Rechtskunde, Gymnastik unterrichtet und ihn persönlich umfassend in militärischen Techniken trainiert. Hinzu kommt, dass Cato für seinen Sohn eine Römische Geschichte eigenhändig in großen Buchstaben schreibt, aus der er die Historie seines Landes kennenlernen soll und die sicherlich auch in den Anfangsunterricht gehört haben dürfte.68 Als junger Mann nimmt Cato Licinianus dann an mindestens zwei Kriegen teil: 173 v. Chr. in Ligurien unter dem Konsul M. Popillius Laenas und 168 v. Chr. im Krieg mit Perseus in der Schlacht bei Pydna unter dem Konsul L. Aemilius Paullus, seinem späteren Schwiegervater, wo er sich mit einer tapferen Handlung auszeichnet (er gewinnt das Schwert, das er verloren hat, unter hohem Einsatz zurück) und wegen seines Ehrgeizes (φιλοτιμία) und seines Eifers (σπουδή) von seinem Vater in einem Brief – nach dem Urteil Plutarchs – überschwänglich gelobt wird.69 Cicero referiert in De officiis diesen Brief, so dass der Inhalt zumindest teilweise erkennbar ist.70 Nach der Schlacht bei Pydna wird Cato der Sohn vom Konsul aus dem Militärdienst entlassen; sein Vater ermahnt ihn, nicht ohne erneuten Eid in den Kampf zurückzukehren, weil ansonsten für ihn kein Recht bestehe, mit den Feinden zu kämpfen. Da Cato seinem Sohn in dem Brief die Rechtslage, in der er sich befinde, erklärt und wahrscheinlich die verschiedenen Möglichkeiten beschrieben hat, sieht Schmidt hier eine „systematisch-didaktische Tendenz“: der Brief sei ein „situationsgebundener Rat“ des Vaters an den Sohn und zugleich eine Art „Traktat in Briefform“. Dabei habe Cato die Verbreitung seines Schreibens wohl beabsichtigt, um den Ruhm seines Sohnes in der Öffentlichkeit bekannt zu machen.71 Cato erscheint als paränetischer Berater (Cicero: monet; Plutarch: κελεύων) seines Sohnes und nutzt dazu gezielt die literarische Form eines für eine (spätere) Veröffentlichung bestimmten Privatbriefs. Tritt zu der Paränese nun auch Protreptik als Werbung für ein bestimmtes Lernen und als Werbung für die Rhetorik hinzu? Während das für den Brief an den Sohn und seinen militärischen Kontext ganz unwahrscheinlich ist, lassen die Reste von Ad filium möglicherweise eine Vermutung zu. Unter der modernen Rubrik De rhetorica stehen drei Fragmente: die Definition des Redners (ad fil. frg. 14 Jordan: orator est, Marce fili, vir bonus, dicendi peritus),72 die in ihrer Struktur der Definition des Landwirts (frg. 6) entspricht, ferner die Anweisung über die Priorität des Stoffs vor dem Ausdruck

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Vgl. Gruen, 67, „Status, rather than Chilon’s national origins, determined the decision.“ Plut. Cat. Ma. 20,6–7. Über die ‚Geschichte‘ vgl. Suerbaum, 410. Plut. Cat. Ma. 20,7; zum Brief ausführlich P. L. Schmidt, Catos Epistula ad M. Filium und die Anfänge der Römischen Briefliteratur, Hermes 100 (1972), 568–576, hier 569. Cic. off. 1,37 (mit einer Dublette in 1,36) und Plut. Moralia (quaest. Rom.) 273e10–f3; die Fragmente 1–5 Jordan stammen nach Schmidt aus einem einzigen Brief. Schmidt, 573–575. Zu ihrer Rezeption bei Seneca dem Älteren siehe unten S. 202 f.

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Cato der Ältere

(frg. 15: rem tene, verba sequentur)73 und schließlich der Ausdruck vires causae (frg. 16), den Ps.-Marius Victorinus zur Illustration der propositio facti anführt. Für die Frage, ob Cato für das Erlernen der Beredsamkeit wirbt und somit Protreptik in einem engeren Sinne vorliegt, ist es hilfreich, den Ausdruck dicendi peritus zu betrachten. Das Wort peritus beschreibt ein Wissen und eine Fähigkeit, die auf umfassender Erfahrung beruhen. So definiert Cicero ‚gelungene Beredsamkeit‘ (bene dicere) als scienter et perite et ornate dicere.74 Ebenfalls in De oratore lässt Cicero den Crassus an einer weiteren programmatischen Stelle sagen, dass gewitztes und kundiges Reden (callide […] et perite) nur möglich sei bei umfangreichen Kenntnissen der Staaten, des Rechts, der Bräuche und der Menschen.75 Hier ist die inhärente Aufforderung an den Redner, ein großes Wissen, das eben auch ein technisches Wissen einschließt, zu erwerben, deutlich erkennbar; allerdings ist das Bildungsprogramm des Crassus als der spezifische Anspruch von De oratore zu verstehen,76 der nicht ohne weiteres auf den Begriff peritus übertragen werden darf. Das zeigt eine dritte Stelle aus De oratore: Antonius polemisiert gegen die Theorie der Redeteile, die Rhetoren vornähmen, die von der Lebenswirklichkeit (veritas) keine Ahnung hätten. Ihre Gliederung sei feinsinnig (concinne), aber bar jeder praktischen Erfahrung (non perite).77 Daher sollte man in Catos Ausdruck dicendi peritus zunächst eine Forderung nach Kompetenz durch praktische Erfahrung sehen, die nicht zwingend ein systematisches Lernen voraussetzt. Allerdings zeigen Catos eigene profunde Kenntnisse auf den Gebieten z. B. der Geschichte, des Rechts und der Landwirtschaft, dass sein Begriff der Erfahrung auf konkretem Wissen, nicht auf vager Intuition beruht. Auch die Forderung rem tene, verba sequentur (frg. 15) scheint in diese Richtung zu gehen und dem Redner eine umfassende Aneignung und souveräne Beherrschung des jeweiligen Stoffs nahezulegen, allerdings ohne dass ein bestimmtes Methodenwissen postuliert würde. In einem etwas anderen Licht erscheint dagegen das bereits kurz besprochene frg. 1 ( Jordan). Seine Polemik gegen die griechischen Ärzte leitet Cato mit der Bemerkung ein: Cato ad fil. frg. 1 ( Jordan) Dicam de istis Graecis suo loco, Marce fili, quid Athenis exquisitum habeam, et quod bonum sit illorum litteras inspicere, non perdiscere.

Während der erste Teil des Fragments etwas unklar bleibt, weil man nicht weiß, was Cato mit der Formulierung ‚an geeigneter Stelle‘ meint, ist doch der folgende quod-

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Suerbaum, 411, versteht dieses Fragment als Anweisung für den Redner (nicht den Rechtsgelehrten). Die Unterscheidung zwischen Redner und Jurist ist vermutlich nicht ganz so scharf. Cic. de orat. 2,5. Cic. de orat. 1,48. Dazu siehe unten S. 138 f. Cic. de orat. 2,80–81.

Cato und sein Sohn (zu Ad filium und zur Epistula ad M. filium)

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Satz aufschlussreich: es sei gut, Literatur und Wissenschaft der Griechen nur zu mustern, nicht aber gründlich zu lernen. Zunächst klingt dieses praeceptum nach einer Ablehnung griechischer Bildung und nach einer Warnung vor einem vertieften Verständnis. Entscheidend ist aber der Umstand, dass Cato die Begegnung mit der griechischen Bildung keineswegs ablehnt, sondern schnelle Fortschritte und ein schnelles Verständnis verlangt – die nicht unbedingt nur als Oberflächlichkeit verstanden werden sollten. Vor diesem Hintergrund ist auch sein beißender Spott über das viel zu lange Studium bei Isokrates zu verstehen.78 Dabei übernimmt Cato eine protreptische Argumentation, die auch schon bei Isokrates zu finden ist und später bei Cicero in De oratore und De officiis eine große Rolle spielen soll: neben der Forderung nach Studium und Anstrengung steht nämlich zugleich die Verheißung, dass schnelle Fortschritte möglich sind.79 Wenn man Catos non perdiscere in diesem Sinne versteht, kann man durchaus von Protreptik in Ad filium sprechen,80 muss aber einschränkend zugeben, dass die Aufforderung zum Studium mit allerhand Kautelen verbunden ist. Diese rühren zum Teil offenbar daher, dass Cato in den griechischen Lehrern potentielle Konkurrenten sieht und für die Begegnung mit ihnen eine polemische Strategie wählt.81 Dass Cato sich selber als Lehrer präsentiert, zeigt nicht nur Ad filium insgesamt, sondern auch die Bemerkung in frg. 1, er wolle das darstellen, was er persönlich in Athen in Erfahrung gebracht habe (quid Athenis exquisitum habeam).82 Hier tritt Cato prinzipiell selbst als Vermittler griechischer Bildung auf, auch wenn er im konkreten Fall gerade eine Invektive gegen die griechischen Ärzte folgen lässt. In der Epistula ad M. filium verfolgt Cato auch das Ziel, das Ansehen seines Sohnes in der Öffentlichkeit zu fördern.83 Daher lässt sich vermuten, dass er eine ähnliche Strategie auch in Ad filium hat; der Sohn wird präsentiert als jemand, der vor einer erfolgreichen Laufbahn im Staat steht und dem die Rhetorik die passenden Werkzeuge bieten kann. Hinzu kommt der reziproke Charakter der Protreptik: Isokrates präsentiert den jungen Fürsten Nikokles als Schüler und macht damit auch für seinen eigenen Unterricht Werbung. Für Cato, dessen Erfolg als Politiker in Rom auch auf seinen Fähigkeiten und Erfolgen als Redner beruht, kann man vermuten, dass er dieses Modell seinem Sohn und anderen als vorbildlich empfiehlt.

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Plut. Cat. Ma. 23,2. Siehe oben S. 26 und unten S. 166. An der bei Jordan als ad. fil. frg. 12 gezählten Stelle verwendet Plutarch das Wort προτρέπειν im Zusammenhang mit einer Empfehlung Catos an seinen Sohn zur Ökonomie (Cat. Ma. 21,8 προτρέπων δὲ τὸν υἱὸν ἐπὶ ταῦτα, φησὶν οὐκ ἀνδρός, ἀλλὰ χήρας γυναικὸς εἶναι τὸ μειῶσαί τι τῶν ὑπαρχόντων). So auch Gruen, 80, „When he [sc. Cato] belittled Greek culture it was in a spirit of rivalry and contention for supremacy: φιλοτιμία.“ Cato ist 191 v. Chr. in Athen (Plut. Cat. Ma. 12,5); dazu und zu der Rede, die Cato dort hält, ausführlich Gruen, 64–65. Dazu siehe oben S. 59.

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Cato der Ältere

3.4 Zusammenfassung Cato der Ältere löst mit seinen Erfolgen auch als Redner und mit seiner Strahlkraft einen Wettbewerb in der römischen Jugend aus und gilt vielen als Vorbild. Diese Rolle pflegt er bewusst und über eine lange Zeit bis hin zu dem Ausmaß, dass er bereits seinen Zeitgenossen als ruhmredig gilt. Die Auseinandersetzung mit der Philosophengesandtschaft des Jahres 155 v. Chr. lässt sich so verstehen, dass Cato sich der äußerst erfolgreichen Protreptik des Karneades mit aller Kraft entgegenstellt, weil er die Griechen als seine Konkurrenten um die Vorbildhaftigkeit für die Jugend in Rom wahrnimmt und ihnen offensichtlich kein systematisches Lehrangebot entgegensetzen kann. In der Schrift Ad filium, die Cato an seinen älteren Sohn richtet und vermutlich zugleich für die Öffentlichkeit bestimmt, erscheint in deutlichen Ansätzen eine Protreptik für die Bildung der Griechen, deren praktischer Nutzen für die damalige Zeit in erster Linie auf dem Gebiet der Beredsamkeit liegt. Daneben steht die Empfehlung eines praktischen Erfahrungswissens. Cato der Ältere übernimmt Motive und Strukturen der Protreptik (Werbung für das Lernen und für die Wahl des richtigen Lehrers). Auch wenn bei ihm keine Spuren einer direkten Rezeption des Isokrates oder vergleichbarer Texte sichtbar sind, stellt er sich doch in die von den Griechen geprägte Tradition der Werbung für die Rhetorik. Die Bindungen des Lehrers an den Schüler über dessen Vater, die bei Isokrates (im Fall des Nikokles über Euagoras) und später bei Dionysios von Halikarnassos Gegenstand der Protreptik sind, finden in Rom ihre Entsprechung in der literarischen Darstellung der persönlichen Beziehung von Vater und Sohn (in Ad filium) bzw. der persönlichen Werbung für die Rhetorik. Damit begründet Cato eine Linie, in der auch Cicero und Seneca der Ältere stehen werden.

4 Cicero 4.1 Einleitung M. Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) hat ein Werk von einzigartiger Vielfalt, Breite und Tiefe hinterlassen.1 Gemäß dem Gegenstand dieser Untersuchung sollen hier die Werke bzw. die Stellen in Ciceros Werken näher betrachtet und in den Kontext eingeordnet werden, wo unter Verwendung protreptischer Motive für die Rhetorik in einer persönlichen Ansprache geworben wird. Von den rhetorischen Schriften fallen zunächst die Partitiones oratoriae ins Auge,2 weil Cicero sich in diesem Buch als Lehrer an seinen Sohn Marcus wendet, der damals etwa elf Jahre alt ist.3 Die Partitiones oratoriae sind ein Lehrgespräch in epitomeartiger Form, sie haben keinen Prolog und einen kurzen Epilog, der ins Gespräch integriert ist.4 Daraus ergibt sich, dass hier keine ausführlichere Protreptik für die Rhetorik in einem für diese Untersuchung relevanten Sinn zu finden ist. Das erklärt sich in erster Linie damit, dass der Lehrer (und Autor) annimmt, dass sein Schüler noch zu jung für eigene Entscheidungen zu seinen studia ist und deshalb dazu nicht aufgefordert und ermuntert werden muss. Ähnliches gilt auch für die frühe Schrift De inventione;5 Cicero verteidigt und lobt zwar die Rhetorik besonders im Vorwort zum ersten Buch in affirmativer Weise und verwendet damit ein für die Protreptik typisches Motiv 1

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Zum Überblick vgl. M. Gelzer, W. Kroll, R. Philippson, K. Büchner, Tullius (29): M. Tullius Cicero, der Redner, RE VII A (1939), 827–1274; J. M. May (Hrsg.), Brill’s Companion to Cicero. Oratory and Rhetoric, Leiden u. a. 2002, und C. Steel (Hrsg.), The Cambridge Companion to Cicero, Cambridge 2013. Die Einteilung in philosophische und rhetorische Schriften (libri oratorii) stammt von Cicero selbst (div. 2,1–4). Dazu vgl. die umfassende Untersuchung von A. Arweiler, Cicero rhetor, Die Partitiones oratoriae und das Konzept des gelehrten Politikers, Berlin/New York 2003; Arweiler, 211–214, datiert die Schrift in die Zeit nach der Entstehung von De oratore und vor das Jahr 51 v. Chr. Zur Rolle des Lehrer-Schüler-Verhältnisses zwischen Vater und Sohn vgl. Arweiler, 21–23. Zum äußerst knappen Rahmen, der mit den Wörtern studeo und studio deutlich gesetzt wird, vgl. Arweiler, 17 ff. Vgl. Chr. Schwameis, Die Praefatio von Ciceros De Inventione. Ein Kommentar, München 2014.

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Cicero

(inv. 1,1–5).6 Da die Hinwendung an einen echten oder fiktiven Schüler fehlt, erfüllt De inventione aber nicht die Kriterien für diese Untersuchung. Ciceros wichtigste rhetorische Schrift De oratore zu betrachten, ist dagegen unbedingt notwendig und sinnvoll. Dabei wird noch näher zu begründen und darzustellen sein, wie Cicero in De oratore das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern in den Vorreden und im Dialog selbst mit literarischen Mitteln so ausgestaltet, dass sich protreptische Konstellationen und Aussagen ergeben.7 Ciceros Protreptik für die Philosophie, die in den Philosophica zu finden ist, kann bis auf eine Ausnahme übergangen werden, weil sie sich von der Werbung für die Rhetorik nicht nur im Gegenstand selbst unterscheidet, sondern auch ein ganz anderes Ziel hat. Cicero geht es hier weder um eine Entscheidung am Beginn der Studien noch um eine direkte Konkurrenz zwischen Rhetorik und Philosophie. Ziel der Protreptik für die Philosophie ist es, ihren Wert und ihren Beitrag für ein glückliches Leben hervorzuheben und die Kritiker der Philosophie zu widerlegen.8 Das scheint so auch im verlorenen Dialog Hortensius (45 v. Chr.) der Fall gewesen zu sein.9 Aus dessen Fragmenten lässt sich zwar erkennen, dass Hortensius als Dialogfigur mit der Rhetorik verbunden ist und möglicherweise unter den Gesprächspartnern die Philosophie vom Standpunkt der Rhetorik aus kritisiert hat. Das deutet jedenfalls die ironische Stichelei eines Gesprächspartners an, Hortensius habe die Beredsamkeit in den Himmel gehoben, um zusammen mit ihr dorthin hinaufsteigen zu können.10 Doch bereits der fiktive Zeitpunkt des Dialogs, der in die Zeit zwischen 65 und 60 v. Chr. zu setzen ist,11 als Hortensius sein fünfzigstes Lebensjahr bereits überschritten hatte, zeigt, dass es hier nicht um die Frage geht, für welche 6 7 8 9 10

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Diese laus eloquentiae in De inventione ist für das Verständnis von De oratore wichtig; dazu siehe unten S. 100 und Schwameis, 46–48, der Ciceros laus eloquentiae als ein protreptisches Element in der Tradition der Sophisten sieht. Dazu siehe unten 77 ff. De oratore wird zitiert nach der Ausgabe: Marcus Tullius Cicero, De oratore, ed. K. F. Kumaniecki, Leipzig 1969. Die Interpunktion ist an einigen Stellen geändert, um die Lesbarkeit zu erleichtern. Besonders aus De oratore ergibt sich außerdem, dass die Philosophie für den idealen Redner und Politiker eine zentrale Funktion hat und bei Cicero nicht auf die therapeutischen Zwecke der Heilung der Seele beschränkt ist (siehe unten S. 114 ff.). Vgl. die programmatische Aussage in Cic. phil. frg. V (Hortensius) 58 Grilli (= 69 Straume-Zimmermann) beati certe omnes esse volumus. Cic. phil. frg. V (Hortensius) 19 Grilli (= 103 Straume-Zimmermann) eloquentia tueri, quam tu in caelum, Hortensi, credo, ut ipse cum ea simul ascenderes, sustulisses. Zur Ironie vgl. Grilli ad loc. Straume-Zimmermann (1976), S. 229–230, mit Anm. 499, hält es aus kompositorischen und inhaltlichen Gründen für sehr unwahrscheinlich, dass Hortensius eine formelle Lobrede auf die Beredsamkeit (laus eloquentiae) gehalten habe. Denkbar ist, dass Hortensius nach dem Vorbild von Antonius in De oratore zunächst eine Kritik nach dem Grundsatz des in utramque partem disputare vorträgt, sie später aber relativiert. Vgl. C. Mihai, Reconstructing Cicero’s Hortensius: A Note on Fragment 43 Grilli, Philologica Jassyensia 10 (2014), 451–56, hier 452–3, der gegen eine genaue Festlegung und für den Zeitraum zwischen 65 und 60 v. Chr. argumentiert.

Einleitung

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Studien sich ein junger Mensch entscheiden soll, sondern um den Wert der Philosophie allgemein. Der Widerspruch zur Rolle des jungen Hortensius am Schluss von De oratore wäre kaum zu erklären, wenn sich die Werbung des Dialogs Hortensius an junge Leute richtete.12 Hinzu kommt, dass aus den Fragmenten des Hortensius keineswegs hervorgeht, dass Cicero den Gedanken vertreten hätte, für das Studium der Philosophie sei eine bekenntnishafte Abkehr von der Rhetorik nötig.13 Aus diesen Gründen können die Fragmente des Hortensius hier ausgeklammert werden. Ähnliches gilt für die Vorreden der 5 Bücher der Tusculanae Disputationes (45 v. Chr.), die Koch als einen Protreptikos interpretiert,14 der in deutlicher Anknüpfung an den Hortensius15 zur Philosophie aufrufe und zum Thema „Heilung der Seele“ hinführe. Zugleich ermuntert Cicero seine Landleute dazu, in den geistigen Wettstreit mit Griechenland zu treten und die Philosophie nach Rom zu überführen.16 Der Höhepunkt wird zu Beginn des 5. Buchs im hymnischen Lob der Philosophie erreicht.17 Kochs Deutung ist durchaus zuzustimmen, allerdings mit der Einschränkung, dass Ciceros Protreptik in den Tusculanae Disputationes keine persönliche ist; Brutus wird in den Vorreden zwar angesprochen und erscheint nach der literarischen Konvention als derjenige, der Cicero zu seinem Werk ermuntert, er ist aber nicht der Adressat einer persönlichen Ermahnung. Es kommt noch ein weiterer Grund hinzu, weshalb die Tusculanae Disputationes hier nicht näher untersucht werden sollen: die Protreptik zur Rhetorik spielt in ihnen nur eine untergeordnete Rolle. So betont Cicero zwar, dass für

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Dazu siehe unten S. 139 ff. Das berühmteste Zeugnis für die protreptische Wirkung des Hortensius stammt von Augustinus von Hippo. Er beschreibt (conf. 3,4,7), wie er als junger Mann dank der Lektüre des Hortensius zur Philosophie gefunden habe, und stellt seine Konversion (bzw. seine Hinwendung zu den Manichäern) als eine Überwindung der Rhetorik dar: (Aug. conf. 3,4,7) […] ego inbecilla tunc aetate discebam libros eloquentiae, in qua eminere cupiebam fine damnabili et ventoso per gaudia vanitatis humanae. Et usitato iam discendi ordine perveneram in librum cuiusdam Ciceronis, cuius linguam fere omnes mirantur, pectus non ita. Sed liber ille ipsius exhortationem continet ad philosophiam et vocatur Hortensius. Ille vero liber mutavit affectum meum, et ad te ipsum, Domine, mutavit preces meas, et vota ac desideria mea fecit alia. Vgl. allgemein C. Megino Rodríguez, Topics of Aristotle’s „Protrepticus“ in Augustine of Hippo. The transmission of Cicero and the context of their use, Traditio 71 (2016), 1–31. Augustinus setzt die Rhetorik hier mit der Nichtigkeit und der Eitelkeit der Welt gleich; es ist mehr als unwahrscheinlich, dass er diese Argumentation von Cicero übernimmt, weil sie dessen Grundsätzen klar widerspräche. Zu der autobiographischen Absicht, die Augustin hier möglicherweise verfolgt, vgl. Th. Möllenbeck, Confessiones 3 – Angefangenes Denken der Wahrheit im Interesse des Selbst, in: N. Fischer und D. Hattrup (Hrsg.), Irrwege des Lebens. Augustinus: Confessiones 1–6, Paderborn u. a. 2004, 75–104, hier 83–89. B. Koch, Philosophie als Medizin für die Seele. Untersuchungen zu Ciceros Tusculanae Disputationes, Stuttgart 2006, 61–81. In Cic. Tusc. 2,4 und 3,6. Cic. Tusc. 2,5 Quam ob rem hortor omnes, qui facere id possunt, ut huius quoque generis laudem iam languenti Graeciae eripiant et transferant in hanc urbem […]. Cic. Tusc. 5,5.

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Cicero

die vollkommene Philosophie die Art, wie sie ausgedrückt wird, ganz entscheidend ist,18 leitet daraus aber keine weiteren Aufforderungen zu den studia der Rhetorik ab. Anders ist dagegen die Situation, in der sich Lucius Tullius Cicero, der Cousin Ciceros, in der literarischen Fiktion am Anfang des 5. Buchs von De finibus bonorum et malorum befindet; hier wird ein junger Mensch (adulescens), der am Beginn seiner Studien steht, zu einer bestimmten Entscheidung ermuntert.19 Dieser Text soll in diese Untersuchung einbezogen werden. In der philosophischen Spätschriftschrift De officiis wendet sich Cicero mit deutlicher Mahnung und Werbung an seinen Sohn; hier sollen der Gegenstand und die Absicht dieser Protreptik, die in ein Werk integriert ist, das die stoisch geprägte Pflichtenlehre behandelt, näher untersucht werden.20 Der eigentlichen Untersuchung vorgeschaltet sind Bemerkungen zu Cicero als Ratgeber; wegen der engen Verknüpfung von Paränese und Protreptik erscheint es sinnvoll, paränetische Techniken bei Cicero insbesondere im Kontext einer persönlichen Beziehung zu betrachten, auch wenn die Gefahr besteht, dass das eigentliche Thema der Untersuchung zunächst zurückgestellt wird. Hier soll insbesondere Ciceros Brief an seinen Bruder Quintus (ad Q. fr. 1,1) herangezogen werden, wo Cicero literarische Formen der Beratung und Ermahnung verwendet. 4.2 Vorbetrachtungen: Cicero als Berater 4.2.1 Ein paränetischer Brief: zu Cic. ad Q. fr. 1,1 Eine Mischung aus Ermunterung, Ermahnung und Belehrung findet sich in dem Brief ad Quintum fratrem 1,1, den Cicero Ende 60 oder Anfang 59 v. Chr. geschrieben hat.21 Quintus ist nach seiner Praetur (62 v. Chr.) in den Jahren 61–58 v. Chr. Statthalter (pro consule) der Provinz Asia. Sein imperium wird gegen seinen Willen mehrmals verlängert, so dass er länger, als ihm lieb ist, sein Amt verwalten muss. Cicero schreibt ihm und fordert ihn auf, die Verlängerung, gegen die auch er selbst nichts habe unternehmen können, als einen Gewinn zu betrachten. Im weiteren Verlauf entwickelt sich der Brief zu einem Leitfaden für die Provinzverwaltung, der Themen wie den richtigen Umgang mit Einheimischen, Vertrauten, Freigelassenen, Sklaven und Steuerpächtern behandelt (6–19). Hinzu kommt die Darstellung eines Tugendkanons, der für den Verwalter einer Provinz einschlägig ist (20–40). In diesem Zusammenhang redet Cicero

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Cic. Tusc. 1,7. Dazu siehe unten den Abschnitt 4.4. Dazu siehe unten den Abschnitt 4.5. Zur Datierung vgl. D. R. Shackleton Bailey, Cicero: Epistulae ad Quintum fratrem et M. Brutum, Cambridge 1980, 147.

Vorbetrachtungen: Cicero als Berater

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seinem Bruder ins Gewissen, dass er den Jähzorn, von dem er gelegentlich befallen werde, bändigen solle (37–40). Formal handelt sich es bei ad Q. fr. 1,1, zwar um einen Privatbrief mit – wie im Falle der iracundia – teils recht persönlichen Gesichtspunkten und einem sehr individuellen Hintergrund, doch aufgrund der außergewöhnlichen Länge von 46 Paragraphen und der systematischen Herangehensweise an das Thema hat man zu Recht von einem paränetischen Traktat gesprochen, der mehr ist als ein ephemerer und nur für Quintus’ Augen bestimmter Brief, und seine Vorbilder hat in Schriften wie der oben besprochenen Rede an Nikokles des Isokrates oder philosophischen Werken Platons und aus hellenistischer Zeit.22 Daher ist eine Betrachtung des Briefes im Rahmen dieser Untersuchung sinnvoll. Hinzu kommt der Umstand, dass die Paränese im Kontext der engen Beziehung zwischen den Brüdern erfolgt und in dieser Hinsicht der Protreptik vergleichbar ist. Cicero entschuldigt sich zwar zu Beginn dafür, dass er entgegen ihrer Abmachung nicht für eine schnelle Ablösung des Quintus gesorgt habe, schlägt dann aber den paränetischen Ton an, der den gesamten Brief durchzieht: Cic. ad Q. fr. 1,1,4 Quapropter hoc te primum rogo, ne contrahas ac demittas animum neve te obrui tamquam fluctu sic magnitudine negoti sinas contraque erigas ac resistas sive etiam ultro occurras negotiis.

Ciceros Brief unterscheidet sich von einer protreptischen Schrift wesentlich dadurch, dass Cicero seinen Bruder nicht auffordert, eine bestimmte Bildung zu erwerben. Vielmehr entschuldigt er sich dafür, dass er jemanden belehre, der bereits sehr gebildet, kompetent und erfahren sei.23 Dennoch kann man auf einige Gemeinsamkeiten verweisen, die zwischen diesem Brief und protreptischen Schriften wie denen des Iso-

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Den philosophischen Charakter der Gedanken des Briefes arbeitet heraus M. Plezia, The first of Cicero’s philosophical essays, in: A. Michel und R. Verdière (Hrsg.), Ciceroniana, Hommages à K. Kumaniecki, Leiden 1975, 196–205. P. B. Harvey, Cicero Epistulae ad Quintum Fratrem et ad Brutum: Content and Comment, Athenaeum 78 (1990), 319–350, hier besonders 324, verweist auch auf Isoc. 2. Auf die Ähnlichkeit mit Traktaten περὶ βασιλείας hat M. Rostovtzeff, A Social and Economic History of the Hellenistic World, Oxford 1941, 1566, hingewiesen. Zu den wenigen erhaltenen Zeugnissen dieser Schriften vgl. die Untersuchung von M. Haake, Warum und zu welchem Ende schreibt man Peri Basileias? Überlegungen zum historischen Kontext einer literarischen Gattung im Hellenismus, in: K. Piepenbrink (Hrsg.), Philosophie und Lebenswelt in der Antike, Darmstadt 2003, 83–138. Nach Haake, 90, haben diese Traktate keinen Charakter „appellativer Intention“ und unterschieden sich darin offenbar von Schriften des Isokrates. Vgl. Cic. ad Q. fr. 1,1,18 sed nescio quo pacto ad praecipiendi rationem delapsa est oratio mea, cum id mihi propositum initio non fuisset; quid enim ei praecipiam quem ego in hoc praesertim genere intellegam prudentia non esse inferiorem quam me, usu vero etiam superiorem? Cicero setzt die Bildung seines Bruders voraus: 1,1,7 […] ea autem adhibita doctrina est, quae vel vitiosissimam naturam excolere possit. Der Wert der Erfahrung wird betont in 1,1,10 his autem in rebus iam te usus ipse profecto erudivit […]. Vgl. auch 1,1,36 sed quid ego te haec hortor, quae tu non modo facere potes tua sponte sine cuiusquam praeceptis, sed etiam magna iam ex parte perfecisti?

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krates bestehen. Das Generalthema des Briefs an Quintus ist die richtige Ausübung der Herrschaft. Während für einen Kommandierenden im Krieg die Unwägbarkeiten des Zufalls eine große Rolle spielten,24 sei Quintus in einer Lage, in der es ganz auf seine persönliche Tugend und seine Selbstbeherrschung ankomme.25 Die Stellung eines römischen Statthalters in der Provinz Asia kommt in vielen Hinsichten der eines Königs gleich,26 daher gelten für beide ähnliche Ratschläge z. B. bezüglich der Wahl der richtigen Freunde und Ratgeber.27 Das oberste Ziel eines Herrschers muss sein, Glück und Wohlfahrt der Untertanen zu fördern.28 Cicero attestiert seinem Bruder Unbestechlichkeit und das Freisein von Willkür: Cic. ad Q. fr. 1,1,8 praeclarum est enim summo cum imperio fuisse in Asia biennium sic, ut nullum te signum, nulla pictura, nullum vas, nulla vestis, nullum mancipium, nulla forma cuiusquam, nulla condicio pecuniae, quibus rebus abundat ista provincia, ab summa integritate continentiaque deduxerit.

Auf ähnliche Weise betont Nikokles seine eigene Integrität, die es ihm verbiete, an den Ehefrauen und Kindern seiner Untertanen zu freveln.29 Eine wichtige Rolle spielen Ciceros Überlegungen zu Griechenland. Während er seinen Bruder in deutlichen Worten vor der Mehrheit der jetzigen Bewohner warnt, die sich durch Verschlagenheit und Schmeichelei auszeichne,30 wohnt der Provinz Asia selbst neben ihrem Reichtum und ihrer Opulenz auch der Glanz alter Bildung und Kultur inne.31 Daher habe ein Römer, der in Griechenland herrsche, eine ganz besondere Verantwortung: Cic. ad Q. fr. 1,1,27 cum vero ei generi hominum praesimus, non modo in quo ipsa sit, sed etiam a quo ad alios pervenisse putetur humanitas, certe iis eam potissimum tribuere debemus, a quibus accepimus.

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Zu diesem Gemeinplatz vgl. Caes. Gall. 6,30,2 multum cum in omnibus rebus, tum in re militari potest Fortuna; ähnlich 6,35,2; 6,42,1 u. ö. Cic. ad Q. fr. 1,1,5. Das lässt sich an der herausgehobenen und geradezu gottgleichen Position ablesen: Cic. ad Q. fr. 1,1,31 (ähnlich 1,1,7) in istis urbibus cum summo imperio et potestate versaris, in quibus tuas virtutes consecratas et in deorum numero collocatas vides […] id autem erit eius modi ut consulas omnibus, ut medeare incommodis hominum, provideas saluti, ut te parentem Asiae et dici et haberi velis. Vgl. Cic. ad Q. fr. 1,1,15–17 mit Isoc. 2,27–29. Isoc. 2,16 οἶμαι δὴ πάντας ἂν ὁμολογῆσαι προσήκειν αὐτοῖς πόλιν δυστυχοῦσαν παῦσαι καὶ καλῶς πράττουσαν διαφυλάξαι καὶ μεγάλην ἐκ μικρᾶς ποιῆσαι entspricht Cic. ad Q. fr. 1,1,24 ac mihi quidem videntur huc omnia esse referenda iis, qui praesunt aliis, ut ii, qui erunt in eorum imperio, sint quam beatissimi. Isoc. 3,36–39; Nikokles behauptet sogar, dass ihn dieses Verhalten über seine Untertanen stelle, weil die sich ganz anders verhielten. Cic. ad Q. fr. 1,1,16 Atque etiam e Graecis ipsis diligenter cavendae sunt quaedam familiaritates praeter hominum perpaucorum, si qui sunt vetere Graecia digni; nunc vero fallaces sunt permulti et leves et diuturna servitute ad nimiam adsentationem eruditi. Ähnliche Ressentiments: de orat. 1,47 […] Graeculos homines contentionis cupidiores quam veritatis. Reichtum: Cic. ad Q. fr. 1,1,8; Korruption: 19.

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Hinzu kommt, dass Quintus’ tugendhaftes Verhalten in Asia wie in einem Theater von einem sehr gebildeten Publikum wahrgenommen werde.32 Der Respekt vor der griechischen Kultur schlägt sich in der Bewunderung von Orten, Erinnerungen und geistigen Werten wie der humanitas nieder und verlangt ein angemessenes Verhalten.33 In Isokrates’ Enkomion des Euagoras kommt der griechischen Kultur ebenfalls eine vorbildhafte Funktion zu, deren Forderungen Euagoras auf Zypern bereits umgesetzt hat. Sein philhellenisches Programm habe dazu geführt, dass die Menschen auf Zypern griechische Frauen heirateten, die griechische Lebensweise schätzen und die griechischen Künstler und Lehrer nun bevorzugt dorthin kämen.34 Neben die Verpflichtungen, die sich aus Griechenland und seiner Kultur allgemein ergeben, lässt Cicero im Brief an seinen Bruder die Schriftsteller und Philosophen treten, die einem Politiker Orientierung bieten können. So nennt er Xenophons Kyrupädie als ein Vorbild für einen Herrscher, dessen Untertanen sich keine andere Herrschaft wünschten.35 Die Bedeutung dieser Schrift lasse sich auch daran ablesen, dass der jüngere Africanus sie sehr geschätzt habe.36 Da Cicero die Kyrupädie ausdrücklich als idealisierte Darstellung gerechter Herrschaft (scriptus […] ad effigiem iusti imperi) bezeichnet, ist hier eine zumindest implizite Protreptik zu finden. Cicero fordert seinen Bruder allerdings nicht direkt auf, Xenophon zu lesen, zeigt ihm aber mit dem Hinweis auf Scipio sehr gut und unaufdringlich, wie ein gestandener Politiker sich in die Rolle des Lernenden begeben kann. Neben Xenophon ist Platon in Ciceros Argumentation präsent,37 dessen Konzept der Philosophenherrschaft angeführt wird:

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Cic. ad Q. fr. 1,1,42. Plezia, 201, vergleicht Plut. Moralia (praec. ger. rp.) 800b3–4 αὐτὸς δ᾽ ὥσπερ ἐν θεάτρῳ τὸ λοιπὸν ἀναπεπταμένῳ βιωσόμενος, ἐξάσκει καὶ κατακόσμει τὸν τρόπον. Ein ähnlicher Bezug auf ein Handeln vor Publikum findet sich bei Isoc. 9,79 ἀλλ᾽ ὅμως ἐγὼ ταῦτ᾽ εἰδὼς οὐδὲν ἧττον καὶ ποιῶ καὶ ποιήσω ταὐτὸν ὅπερ ἐν τοῖς γυμνικοῖς ἀγῶσιν οἱ θεαταί. Als Beispiel lässt sich die Eingangsszene von Cic. fin. 5,1–2 nennen, dazu siehe unten S. 142 ff. Isoc. 9,50–51. Hinzu kommt, dass viele griechische Adlige (καλοὶ κἀγαθοί) sich in Zypern niederließen. – Im Lob des λόγος, das Isokrates dem Nikokles in den Mund legt (3,1–9), ist das Vorbild der griechischen Kultur zumindest implizit vorhanden. Cic. ad Q. fr. 1,1,22. Ähnlich Cic. Tusc. 2,62 itaque semper Africanus Socraticum Xenophontem in manibus habebat, cuius in primis laudabat illud, quod diceret eosdem labores non esse aeque graves imperatori et militi, quod ipse honos laborem leviorem faceret imperatorium. Xenophons Kyrupädie und andere seiner Schriften sind im ‚Scipionenkreis‘ beliebt, wie besonders die Stellen Cic. Cato 30.58 und 79 zeigen. Zur Kritik am Begriff ‚Scipionenkreis‘ vgl. H. Strasburger, Der ‚Scipionenkreis‘, Hermes 94 (1966), 60–72. Cic. ad Q. fr. 1,1,29. Shackleton-Bailey ad 1,1,24 est autem non modo eius, qui sociis et civibus, sed etiam eius, qui servis, qui mutis pecudibus praesit, eorum, quibus praesit commodis utilitatique servire verweist auf die sehr ähnliche Argumentation bei Platon R. 343b. Cicero übernimmt dabei nicht die Argumentation des Thrasymachos, dass der Eigennutz die treibende und einigende Kraft sei. Zu den Platonzitaten bei Cicero vgl. A. A. Long, Cicero’s Plato and Aristotle, in: J. G. F. Powell (Hrsg.), Cicero the Philosopher, Twelve Papers, Oxford 1995, 37–61.

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Cic. ad Q. fr. 1,1,29 atque ille quidem princeps ingeni et doctrinae Plato tum denique fore beatas res publicas putavit, si aut docti ac sapientes homines eas regere coepissent aut ii, qui regerent, omne suum studium in doctrina et sapientia collocarent.

Cicero bezieht sich auf den Beginn des Abschnitts der Politeia, der von den Philosophenkönigen handelt,38 und behauptet, dass Platons Vision eines Zusammenfalls von Macht von Philosophie bereits in der Vergangenheit einmal dem gesamten Staat widerfahren sei und nun der Provinz Asia. Cicero scheint sich hier aus dem gleichen Repertoire wie spätere Panegyrik zu bedienen und für das Lob seines Bruders sehr kräftige Farben zu wählen.39 Dennoch wäre es verkehrt, in Ciceros Worten bloße Rhetorik zu sehen. Plezia hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Cicero mit der Formulierung (ad Q. fr. 1,1,29) quod fortasse aliquando universae rei publicae nostrae […] contigit auf sein eigenes Konsulat anspiele und somit Selbstdarstellung und Selbstrechtfertigung zentrale Anliegen des Briefes seien.40 Und da jeder Schatten, der auf Quintus und seine Amtsführung fällt, zwangsläufig auch Ciceros Ruhm verdunkelt, muss der ältere auf den jüngeren Bruder und dessen Reputation achten.41 Wenn Plezia insbesondere Ciceros „propagandistic efforts“ (204) hervorhebt, scheint er jedoch die Muster der Paränese und Protreptik, die Cicero hier eindeutig heranzieht, nicht ausreichend zu berücksichtigen. Mit diesem Hinweis sollen eher utilitaristische oder tagespolitische Motive nicht geleugnet werden – im Gegenteil –, sie stehen jedoch nicht alleine und sind nicht unbedingt primär.42

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Pl. R. V 473c11–d5 ἐὰν μή, ἦν δ’ ἐγώ, ἢ οἱ φιλόσοφοι βασιλεύσωσιν ἐν ταῖς πόλεσιν ἢ οἱ βασιλῆς τε νῦν λεγόμενοι καὶ δυνάσται φιλοσοφήσωσι γνησίως τε καὶ ἱκανῶς, καὶ τοῦτο εἰς ταὐτὸν συμπέσῃ, δύναμίς τε πολιτικὴ καὶ φιλοσοφία, […] οὐκ ἔστι κακῶν παῦλα […] Vgl. die ähnliche Stelle Pl. Ep. 7 326a7– b4; die Korrektur bei Arist. περὶ βασιλείας fr. 2 Ross (aus Them. or. 8 107c) sowie Val. Max. 7,2, ext.4. Wie Platons Philosophenkönige rezipiert wurden, stellen dar Th. Sinko, Sententiae Platonicae de philosophis regnantibus fata quae fuerint, Krakau 1904, und P. Courcelle, La consolation de philosophie dans la tradition littéraire, antécédents et postérité de Boèce, Paris 1967, 60, Anm. 2, dar. Ergänzungen nennt J. Gruber, Kommentar zu Boethius, De consolatione philosophiae, Berlin u. a. 22012, ad Boeth. cons. 1, Prosa 4,5. Aus der Untersuchung M. Mauses, Die Darstellung des Kaisers in der lateinischen Panegyrik, Stuttgart 1994, 92–93, ergibt sich allerdings, dass die lateinischen Panegyriker zwar den Wert der Bildung anerkennen (Mause verweist auf Hist. Aug. Tac. 4,4 ecquis melius quam litteratus imperat?), aber das Ideal des Philosophenkönigs nicht explizit heranziehen. Ein Beispiel aus dem griechischen Bereich ist die 8. Rede des Themistios (368 n. Chr.), wo Kaiser Valens als idealer Herrscher erscheint, der über philosophische Bildung verfügt bzw. mit Philosophen Umgang pflegt. Plezia, 202–205 mit Hinweis auf Sinko, 23. Plezia belegt Ciceros Anspruch, Macht und Weisheit in seiner Person vereint zu haben, mit De consulatu suo (= Cic. carm. frg. 6 FPL Blänsdorf) 71–78 und leg. 3,14–15. Vgl. zu dieser Verknüpfung besonders Ciceros eigene Bemerkungen ad Q. fr. 1,1,43. E. Fallu, La première lettre de Cicéron à Quintus et la lex Iulia de repetundis, REL 48 (1970), 180– 204, betont mit guten Gründen den zeitgeschichtlichen Hintergrund: Cicero wolle seinen Bruder in der Öffentlichkeit vor einer Klage nach Caesars Repetundengesetz schützen.

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Auch das Platonzitat kann der Gedankenwelt der Protreptik im Sinne des Isokrates zugeordnet werden, wo eine Verbindung von Macht und Weisheit (bzw. Bildung in einem allgemeinen Sinne) postuliert wird. In der Terminologie des Isokrates beschäftigen sich die φιλοσοφοῦντες mit den λόγοι; da sich der Herrscher Nikokles in Isoc. 3 mit ihnen identifiziert und zudem über das Thema spricht, was Untertanen tun sollen,43 ist die Verbindung von Philosophie und Macht in dieser Rede gegeben, deren protreptischer Charakter oben gezeigt worden ist. Betrachtet man Ciceros Platonzitat vor diesem Hintergrund, wird sein Zweck deutlicher. Cicero fordert seinen Bruder jedoch weder dazu auf, sich der Philosophie zu widmen, noch soll er eine bestimmte eher rhetorische Bildung favorisieren. Es geht vielmehr um eine zu den Ansprüchen adäquate Haltung, zu der aufgefordert wird. In ihr spielt zunächst das Verlangen nach Lob, Ruhm und Ehre eine große und nicht angezweifelte Rolle und zwar nicht nur als Feststellung, sondern geradezu als Voraussetzung politischer Aktivität bzw. als Forderung an Quintus:44 wenn er sich zum Verlangen nach Ruhm motiviere (incitare), dann könne er auch Schwierigkeiten wie die Verlängerung des Amtes meistern.45 Auch bei Isokrates sind Ehrgeiz und Ruhmesstreben etwas, wofür sich ein Herrscher bewusst entscheidet und womit er – und das erscheint als der Hauptpunkt – das Andenken an seine Person über den Tod hinaus sichern möchte.46 Das Streben nach Tugend und die Orientierung an einem Tugendkanon dienen wiederum diesem Ziel und sind ihm untergeordnet.47 Eine Gefahr für Quintus’ richtige Haltung bedeutet seine Neigung zu Jähzorn (iracundia). Ciceros Kritik (ad Q. fr. 1,1,37–40) ist nicht allgemeiner Natur und betrifft auch nicht so sehr den Privatmann Quintus, sondern steht im Zusammenhang mit seiner Rolle und seiner exponierten Stellung als Herrscher und hat daher Elemente eines Fürstenspiegels.48 Cicero verzichtet unter Verweis auf die philosophische Literatur

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Isoc. 3,10 ἐγὼ δ᾽ ἀποδέχομαι μὲν ἅπαντας τοὺς λόγους τοὺς καὶ κατὰ μικρὸν ἡμᾶς ὠφελεῖν δυναμένους. J. Boes, La philosophie et l’action dans la correspondance de Cicéron, Nancy 1990, 107–114, betont, dass in ad Q. fr. 1,1 „l’idéologie de la gloire“ den Brief bestimme. Cic. ad Q. fr. 1,1,3 ac si te ipse vehementius ad omnes partes bene audiendi excitaris, non ut cum aliis sed ut tecum iam ipse certes, si omnem tuam mentem, curam, cogitationem ad excellentis in omnibus rebus laudis cupiditatem incitaris, mihi crede, unus annus additus labori tuo multorum annorum laetitiam nobis, gloriam vero etiam posteris nostris adferet. Vgl. auch 1,1,38.43.44.45 (gloria); 1,1,37.41.45 (laus); 1,1,24 (fama). Vgl. Isoc. 2,32 (im gnomischen Teil); 3,44 und besonders im Proömium des Euagoras (9,3): εὑρήσομεν γὰρ τοὺς φιλοτίμους καὶ μεγαλοψύχους τῶν ἀνδρῶν οὐ μόνον ἀντὶ τῶν τοιούτων ἐπαινεῖσθαι βουλομένους, ἀλλ᾽ ἀντὶ τοῦ ζῆν ἀποθνῄσκειν εὐκόλως αἱρουμένους, καὶ μᾶλλον περὶ τῆς δόξης ἢ τοῦ βίου σπουδάζοντας, καὶ πάντα ποιοῦντας ὅπως ἀθάνατον τὴν περὶ αὑτῶν μνήμην καταλείψουσιν. Das Motiv des Andenkens findet sich auch Cic. ad Q. fr. 1,1,44. Vgl. Cic. ad Q. fr. 1,1,9 quid autem reperiri tam eximium aut tam expetendum potest quam istam virtutem, moderationem animi, temperantiam non latere in tenebris neque esse abditam, sed in luce Asiae, in oculis clarissimae provinciae atque in auribus omnium gentium ac nationum esse positam? Cic. ad Q. fr. 1,1,37. Zur Behandlung des Zorns in einem Fürstenspiegel vgl. Sen. clem. 1,5–6. Vgl. auch Isoc. 9,60 (Euagoras ist über Zorn erhaben) und 2,23 ποίει μὲν μηδὲν μετ’ ὀργῆς, δόκει δὲ τοῖς

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darauf, Zorn zu definieren,49 und verwirft auch die rigorose Position, mit der eine vollständige Veränderung der Persönlichkeit (mutare animum) verlangt wird. Stattdessen geht es um die Aufforderung, das eigene Verhalten so gut wie möglich zu beherrschen: Cic. ad Q. fr. 1,1,38 te illud admoneo, ut, si hoc plane vitare non potes, quod ante occupatur animus ab iracundia, quam providere ratio potuit, ne occuparetur, ut te ante compares cottidieque meditere resistendum esse iracundiae, cumque ea maxime animum moveat, tum tibi esse diligentissime linguam continendam.

Der paränetische Charakter dieser Passage, in der eine bestimmte Lebensregel formuliert wird, ist sehr deutlich. Cicero empfiehlt, gerade weil sich ein Ausbruch des Zorns mithilfe der Vernunft alleine nicht vermeiden lasse, ein tägliches Training und eine ständige Vorbereitung, die daran besteht, den Kernsatz, dass man dem Jähzorn widerstehen müsse, zu wiederholen und zu verinnerlichen.50 Dabei besteht die Möglichkeit des Fortschritts ebenso wie die des Scheiterns.51 Wie Isokrates verwendet Cicero ein Bild aus dem Sport und sieht sich in der Rolle dessen, der einen Wettläufer anfeuert:52 Cic. ad Q. fr. 1,1,45 atque haec non eo dicuntur, ut te oratio mea dormientem excitasse, sed potius ut currentem incitasse videatur.

In den Bereich der Haltung und der Intentionalität gehört auch, dass Cicero nicht nur erwartet, dass sein Bruder seine Ratschläge befolgt, sondern dass er das gerne tut und sich freut, es getan zu haben.53 Nimmt man nach diesen Betrachtungen nun an, dass Cicero seinem Bruder einen paränetischen Brief mit Anleihen bei der Protreptik schreibt, so ergibt sich daraus folgendes: Quintus erscheint als ein Herrscher, der bestimmten Prinzipien folgt und sein Verhalten an der Philosophie orientiert. Die an ihn gerichteten Ermahnungen dienen nicht nur der Korrektur eines tatsächlich vorhandenen Fehlverhaltens, sondern folgen auch einem literarischen Muster. Indem Quintus die schlimmen Folgen der iracun-

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ἄλλοις ὅταν σοι καιρὸς ᾖ. – Cicero lehnt dagegen den praktischen Nutzen eines echten oder scheinbaren Zorns ab (vgl. Shackleton-Bailey ad Cic. ad Q. fr. 1,1,38 ex). Vgl. Ciceros eigene Behandlung der iracundia und anderer Affekte in Tusc. 3,10–19. Zum Gebrauch von comparare (‚rüsten‘) vgl. Cic. ad Q. fr. 2,3,4. Cic. ad Q. fr. 1,1,44 cavendum est, ne, si neglegentior fueris, tibi parum consuluisse, sed etiam tuis invidisse videaris. Isoc. 9,79 καὶ γὰρ ἐκεῖνοι (die Zuschauer bei einem Wettkampf) παρακελεύονται τῶν δρομέων οὐ τοῖς ἀπολελειμμένοις, ἀλλὰ τοῖς περὶ τῆς νίκης ἁμιλλωμένοις. Auf diese Parallele verweist Plezia, 198, und sieht in ihr einen Bezug auf die „topics of rhetoric“. Von paränetischer Topik zu sprechen, trifft den Sachverhalt etwas genauer. Das Bild ist allerdings häufig und hat sprichwörtlichen Charakter: Pl. Phd. 61a1 ὥσπερ οἱ τοῖς θέουσι διακελευόμενοι; Cic. Att. 5,9,1; 6,7,1; 13,45,2; Phil. 3,19; fin. 5,5; de orat. 2,186 facilius est enim currentem, ut aiunt, incitare quam commovere languentem. Cic. ad Q. fr. 1,1,8 atque haec nunc non, ut facias, sed ut te facere et fecisse gaudeas, scribo (mit Bezug auf die Unbestechlichkeit). Quintus’ Freude entsteht, wenn er merkt, dass sein intuitives Handeln mit den in der Paränese gegebenen Regeln übereinstimmt.

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dia vorgehalten werden, wird anderen Lesern des Briefes seine exponierte Stellung besonders deutlich,54 da Jähzorn gerade für einen Herrscher besonders schädlich ist. Cicero selbst erscheint als Ratgeber im Stile des Isokrates, dessen oratio seinem Bruder Belehrung bietet und zu einer bestimmten Haltung auffordert.55 Der Brief hat also nicht nur – wie Plezia richtig herausarbeitet – den Zweck, zu verhindern, dass Ciceros eigener Ruhm unter dem Verhalten seines Bruders in der Provinz Asia leiden könne, sondern ist auch eine Adaption von Rollen, die von der literarischen Tradition der Paränese bzw. der Protreptik geprägt sind. 4.2.2 Mahnbriefe Ciceros Der paränetische Charakter des besprochenen Briefs an Quintus ist durchaus singulär, wie folgende Bespiele aus dem Briefcorpus illustrieren.56 In Ciceros Briefen finden sich zwar zahlreiche Passagen, wo Mahnungen, Ratschläge und Forderungen nach tugendgemäßem Verhalten ausgesprochen werden. Wenn Cicero damit überwiegend einen konkreten Zweck verfolgt, liegt ein in erster Linie symbuleutischer Kontext vor. So schreibt er in einem Brief an Lentulus im Frühjahr 56 v. Chr.: Cic. fam. 1,5,4 tuae sapientiae magnitudinisque animi est omnem amplitudinem et dignitatem tuam in virtute atque in rebus gestis tuis atque in tua gravitate positam existimare.57

Ciceros Anliegen in diesem Brief und weiteren an Lentulus steht im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die Rückführung des Ptolemaios Auletes nach Ägypten; auch wenn Cicero gegenüber dem Prokonsul, dem er sich seit der Rückkehr aus dem Exil sehr verpflichtet fühlt, einen hohen Ton anschlägt und damit auch den res Rechnung trägt – es handelt sich um eine außenpolitische Affäre, in die auch Pompeius verwickelt ist –, tritt er doch nicht als paränetischer Berater im Sinne des Isokrates auf und bietet keine allgemeinen Belehrungen. Die hier als Beispiele angeführten

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Die Stellung der Provinzverwalter lässt sich an ihren Ehrungen ablesen; dazu vgl. D. Erkelenz, Optimo praesidi. Untersuchungen zu den Ehrenmonumenten für Amtsträger der römischen Provinzen in Republik und Kaiserzeit, Bonn 2003, hier besonders 172–182 zu den Gründen der Ehrungen. Von oratio spricht Cicero ad Q. fr. 1,1,14.18.15. Ciceros definiert seine Rolle als Berater allerdings nicht so explizit, wie Isokrates es tut; so fehlt etwa das Motiv der Gabe aus Isoc. 2. Eine systematische Untersuchung der Mahnbriefe Ciceros fehlt, vgl. S. McConnell, Philosophical life in Cicero’s letters, Cambridge 2014. Andere Beispiele für mahnenden Ton in den Briefen an Lentulus: Cic. fam. 1,7,5 sed ego te ut ad certam laudem adhortor sic a dimicatione deterreo redeoque ad illud quod initio scripsi, totius facti tui iudicium non tam ex consilio tuo quam ex eventu homines esse facturos und fam. 1,7,9 Te vero emoneo cum beneficiis tuis tum amore incitatus meo ut omnem gloriam, ad quam a pueritia inflammatus fuisti, omni cura atque industria consequare magnitudinemque animi tui, quam ego semper sum admiratus semperque amavi, ne umquam inflectas cuiusquam iniuria.

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Briefe an Lentulus zeigen somit den Unterschied vom Brief ad Q. fr. 1,1, der deutliche Züge eines Traktats aufweist.58 In fam. 2,7 (Dezember 51) gratuliert Cicero aus Kilikien dem Scribonius Curio zum Beginn seines Volkstribunats. An den Glückwunsch schließt sich die Mahnung an, Curio solle alles mit seiner eigenen Klugheit lenken und sich fremden Einflüssen entziehen. Diesen Gedanken baut Cicero im ersten Teil des Briefes aus und fordert unter Verweis auf die Unsicherheiten, die Curio umgäben, von ihm folgendes: Cic. fam. 2,7,2 tecum loquere, te adhibe in consilium, te audi, tibi obtempera.

Mit dieser Forderung verfolgt Cicero zunächst den praktischen Zweck, Curio vor dem übermächtigen Einfluss Caesars zu warnen. An den Rat, Curio solle auf sich selbst hören, schließt Cicero den Ausruf des Bedauerns an, dass er als Ratgeber im Moment nicht zur Verfügung stehe (2,7,2 cur ego absum vel spectator laudum tuarum vel particeps vel socius vel minister consiliorum?). Daraus lässt sich leicht schließen, dass Cicero bei Curio für sich selbst als idealen Berater wirbt. Er formuliert das – möglicherweise auch aus diplomatischen Gründen – so allgemein und abstrakt, dass indirekt die Forderung des Isokrates anklingt, ein Herrscher solle sich um sich selbst kümmern.59 In seinem Brief an Curio spielt Cicero also geradezu auf eine protreptische Situation an: bei seiner Ausübung des Tribunats solle Curio sehr überlegt und durchdacht handeln und Beratung suchen. Dafür könne Cicero ihm, sobald er aus Kilikien zurückgekehrt sei, zur Verfügung stehen. 4.2.3 Zum Commentariolum petitionis Das Commentariolum petitionis gibt sich als Brief, in dem Quintus Cicero seinen Bruder bei Bewerbung um das Konsulat berät. In der Forschung ist die Authentizität der Schrift umstritten, allerdings lassen etliche Anklänge an Stellen bei Cicero, die aus der Zeit nach der Bewerbung um das Konsulat stammen, auf die Arbeit eines späteren Verfassers schließen.60 Trotzdem ist ein kurzer Vergleich mit Cic. ad Q. fr. 1,1 sinnvoll, 58

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Weitere Beispiele für verschiedene Mahnungen in den Briefen: Cic. fam. 4,7.9 (46 v. Chr.) Marcellus soll nach Rom zurückzukehren; Cic. fam. 5,18 (52 v. Chr.) an T. Fadius; Trost wegen Exil, Mahnung, Schicksal zu ertragen; Cic. fam. 9,14 (44 v. Chr.) an Dolabella; Cic. fam. 10,5.6 (43 v. Chr.) an Plancus, der sich dem Staat widmen und in die Politik zurückzukehren soll; Cic. fam. 12,22.24 (43 v. Chr.) an Cornificius, Mahnung, sich dem Staat zu widmen. Isoc. 2,10–11 προσήκει […] γυμνάζειν […] τοῖς βασιλεῦσι τὴν ψυχὴν τὴν αὑτῶν· Den Stand der Forschung skizziert M. C. Alexander, The Commentariolum petitionis as an Attack on Election Campaigns, Athenaeum 97, 2009, 31–57 (Teil I) und 369–395 (Teil II), hier 33–37. Alexander selbst, besonders 391–392, datiert die Schrift in das 1. Jh. n. Chr.; seine Interpretation, dass es sich um eine Art Satire auf den Wahlbetrieb und seine Unarten handele, ist jedoch nicht durchschlagend, da die angeblichen Ironiesignale (ausführlich dargestellt 40–57) so subtil sind, dass sie nur wenigen verständlich sein konnten. So aber kann man im Grunde jeden Text auffassen,

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da auf diese Weise der paränetische bzw. indirekt protreptische Charakter des Briefes deutlicher werden kann. Zunächst fallen die Gemeinsamkeiten von Q. Cic. pet. und Cic. ad Q. fr. 1,1 auf:61 in imperativischer und paränetischer Sprache werden Regeln und Empfehlungen präsentiert,62 die um das Generalthema eines sehr hohen Amtes kreisen. Der Ratgeber ist ein naher Verwandter, der um Verständnis dafür bittet, dass er die Rolle eines Lehrenden bzw. Belehrenden ausübt.63 Auch im Commentariolum wird wie im Quintus-Brief an die Haltung appelliert, indem gleich zu Beginn gefordert wird, Marcus solle jeden Tag neu bedenken, dass er ein homo novus sei, das Konsulat anstrebe und das in der Stadt Rom und unter ihren spezifischen Bedingungen tue.64 Diese drei Punkte gliedern die Schrift und werden im Folgenden abgehandelt;65 auch im Commentariolum wird die Außenwirkung als entscheidend angesehen, wobei das Motiv des Ruhms sich auf Ciceros Erfolge als Redner beschränken muss.66 Etliche Passagen, die im Commentariolum den Eindruck eines pragmatischen und illusionslosen Utilitarismus erwecken, sind zumindest indirekt vergleichbar mit dem Brief an Quintus: der mehrfach erteilte Rat, sich im Wahlkampf zu verstellen,67 korrespondiert mit Ciceros ausführlicher Mahnung, dass Quintus in Asia im Umgang mit verschiedenen Gruppen von Heuchlern und falschen Freunden äußerst vorsichtig sein solle, auch wenn Quintus selbst nicht zur Verstellung, sondern nur zu Misstrauen und Argwohn aufgefordert wird;68 die Stadt Rom erscheint im Quintus-Brief als Ort der Arroganz und der Zügellosigkeit, im Commentariolum kommen noch Intrigen und Täuschung hinzu.69 Der Autor des Commentariolum verzichtet allerdings weitgehend auf die Elemente, die Ciceros Brief an Quintus in die Nähe der Protreptik rücken. So fehlt ein Gegenstück zum sehr negativen Bild der Stadt Rom, wie es Cicero mit dem idealen Griechenland vorführt. Vergleicht man die Politiker, die als vorbildlich genannt werden, so findet sich C. Octavius, der Vater des Augustus, als Beispiel für richtig verstandene

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als ob er eigentlich das Gegenteil aussage. G. Laser, Quintus Tullius Cicero: Commentariolum petitionis. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert, Darmstadt 2001, 5–7, neigt dagegen dazu, die Schrift für authentisch zu halten. Vgl. auch das Kapitel bei Scholz, 2011, 286–291. Zu den Parallelen vgl. die Übersicht bei L. Waibel, Das Commentariolum petitionis – Untersuchung zur Frage der Echtheit, München 1969, 42–44. Waibel kommt zu dem Ergebnis, dass das Commentariolum teilweise vom Brief an Quintus abhänge und nicht von Quintus stamme. Zur Gliederung vgl. Laser, 94–99. Vgl. Cic. ad Q. fr. 1,1,38. Q. Cic. pet. 2 prope cottidie tibi hoc ad forum descendenti meditandum est: ‚novus sum, consulatum peto, Roma est‘. Vgl. 54. Ähnlich formuliert ist Cic. ad Q. fr. 1,1,38 […] cottidieque meditere resistendum esse iracundiae. Vgl. Laser, 102–103. Mehrfach: Q. Cic. pet. 2.38.50. Vgl. Q. Cic. pet. 1 (vgl. Laser ad loc.).35 (Abstreiten einer Bekanntschaft).42 (Schmeichelei). Cic. ad Q. fr. 1,1,11–17. Cic. ad Q. fr. 1,1,22 und Q. Cic. pet. 54. Die Aufzählung im Quintus-Brief ist nicht ausschließlich negativ (tanta senatus auctoritas). Zur Topik vgl. wiederum Laser ad loc.

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Leutseligkeit, Milde und Freundlichkeit,70 während C. Cotta, dessen Umgang mit Versprechungen beschrieben wird, zwar als schlauer und souveräner Taktiker, aber nicht als Vertreter eines Wertes wie der humanitas erscheint.71 Im Bereich der Bildung, Theorie und Philosophie (doctrina) sind die Unterschiede ebenfalls handgreiflich. Im Commentariolum fehlt ein Leitprinzip, wie es der Quintus-Brief mit der Sorge um das Gemeinwohl formuliert, es wird nur angeraten, beim Senat, bei den Rittern, den Wohlhabenden und der Masse den Eindruck zu erwecken, dass der Bewerber die jeweiligen Interessen fördere.72 Cicero bezieht sich im Quintus-Brief auf Xenophon und Platon und deren Herrscherideale; auch der Autor des Commentariolum präsentiert die griechische Bildung und folgt damit der Topik der Paränese, aber mit einem deutlich schlichteren Anspruch. Er verweist nämlich auf das Beispiel des Demosthenes, von dem Demetrios von Phaleron berichte, und auf eine Gnome Epicharms; beide Anleihen bei griechischen Vorbildern beziehen sich auf eher praktische Belange: Demosthenes steht für Eifer und Training (studium et exercitatio), mit deren Hilfe ein Redner Schwächen seiner Konstitution bzw. Aussprache überwindet,73 Von Epicharm wird der Rat zitiert, Misstrauen zu pflegen und somit den gesunden Menschenverstand hochzuhalten.74 Platon erscheint im Commentariolum auch, aber bezeichnenderweise in einem negativen Kontext. Cicero solle sich beim Eingehen auf Bitten, die er nicht erfüllen könne, verstellen und, falls er doch seine Hilfe verweigern müsse, eine gewisse Zwangslage vorschützen, die ihn zu helfen hindere. Auf keinen Fall dürfe er eine Bitte mit der Begründung ablehnen, dass er bereits für andere tätig sei oder keine Zeit habe. Der Verfasser des Commentariolum gibt freimütig zu, dass diese Strategie für einen Menschen mit philosophischen Grundsätzen etwas hart sei.75 Auch wenn er nicht auf einen bestimmten Grundsatz Platons anzuspielen scheint,76 ist der Hinweis auf den Philosophen doch eine negative implizite Protreptik, indem Grundsätze, die aus der platonischen Philosophie stammen, als unzweckmäßig für einen Politiker erscheinen.

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Cic. ad Q. fr. 1,1,21. Q. Cic. pet. 47; Alexander, 53–57, sieht in dem Umstand, dass Cotta hier als Vorbild erscheint, einen Hinweis auf den ironischen Charakter des Textes, da er die Missstände des Wahlbetriebes vorführe. Dagegen lässt sich einwenden, dass der ungeschminkte Blick auf die Wirklichkeit nicht notwendig eine Kritik an ihr impliziert, sondern eher ein Zeichen von Parrhesie ist, wie sie einem Berater zukommt (dazu vgl. Haake, 94–95). Vgl. Cic. ad Q. fr. 1,1,13.24.27.31 mit Q. Cic. pet. 53. Q. Cic. pet. 3; vgl. Plut. Dem. 11 (= FGrHist 228 F 17) und Cic. div. 2,96. Q. Cic. pet. 39; vgl. Epich. frg. 218 PCG bei Cicero Att. 1,19,8. Q. Cic. pet. 46 illud alterum (sc. das beschriebene Vorgehen) subdurum tibi homini Platonico suadere, sed tamen tempori tuo consulam. Cic. off. 3,79–81 nennt als Beispiele für Zwecklügen im Wahlkampf das Vorgehen der beiden Marii und lehnt es ab: cadit ergo in virum bonum mentiri emolumenti sui causa criminari praeripere fallere. Laser ad Q. Cic. pet. 46 führt dagegen Cic. Cluent. 139 an, wo Cicero sich deutlich zur Verstellung im Parteiinteresse bekennt.

Zur Protreptik in De oratore

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Die Rolle der Bildung wird im Commentariolum also fundamental anders als im Quintus-Brief gesehen. Dieser Unterschied ist sicherlich nicht nur aus den unterschiedlichen Materien und den unterschiedlichen Situationen derjenigen, die beraten werden, zu erklären (Bewerbung um das Konsulat bzw. Amtsführung in Asia); denn Cicero selbst stilisiert im Quintus-Brief sein eigenes Konsulat zur Philosophenherrschaft, die kaum mit Hilfe von Winkelzügen errungen werden kann.77 Vielmehr unterscheiden sich die Berater in ihrem Selbstverständnis; während Cicero als Philosoph im Sinne Platons oder des Isokrates und zugleich als Mahner, der ein Fehlverhalten (im Falle der iracundia) zu korrigieren versucht, wahrgenommen werden möchte, erscheint der Quintus des Commentariolum als pragmatischer Ratgeber, dessen Absichten über seinen unmittelbaren Zweck nicht hinausgehen und der keine Kritik am Adressaten übt. 4.3 Zur Protreptik in De oratore Ciceros drei Bücher Über den Redner (abgeschlossen Ende 55 v. Chr.) sind, wie im Folgenden gezeigt werden soll, zwar nicht primär als Protreptikos angelegt, werben jedoch auf indirekte Weise durchgehend und sehr deutlich für die Rhetorik.78 In der Forschung hat besonders Steidle auf diesen Charakter der Schrift hingewiesen und die „gewaltige protreptische Energie“ von De oratore hervorgehoben.79 Er sieht Cicero zwar in der Tradition der „Selbstreklame griechischer Sophisten“,80 als Ursache der zahlreichen und augenfälligen Unterschiede, die zwischen De oratore und rein technischen Schriften bestehen, gilt Steidle jedoch der Umstand, dass die Bücher „im Dienst eines spezifisch römischen Anliegens“ stünden.81

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Siehe oben S. 70 f. Zur Datierung vgl. Cic. Att. 4,13,2. Eine sehr gute Einführung in die Schrift und den Forschungsstand gibt J. Wisse, De Oratore: Rhetoric, Philosophy, and the Making of the Ideal Orator, in: J. M. May (Hrsg.), Brill’s Companion to Cicero. Oratory and Rhetoric, Leiden u. a. 2002, 375–400. Unverzichtbar ist der monumentale Kommentar Leemans und anderer: M. Tullius Cicero, De oratore libri III: Bd. 1, A. D. Leeman und H. Pinkster, Buch I, 1–165, Heidelberg 1981; Bd. 2, A. D. Leeman, H. Pinkster und H. L. W. Nelson, Buch I, 166–265, Buch II, 1–98, Heidelberg 1985; Bd. 3, A. D. Leeman, H. Pinkster und E. Rabbie, Buch II, 99–290, Heidelberg 1989; Bd. 4, A. D. Leeman, H. Pinkster und J. Wisse, Buch II, 291–367, Buch III, 1–95, Heidelberg 1996; Bd. 5, J. Wisse, M. Winterbottom und E. Fantham, Book III, 96–230, Heidelberg 2008. W. Steidle, Einflüsse römischen Lebens und Denkens auf Ciceros Schrift De oratore, MH 9 (1952), 10–41, hier 25, eine ähnliche Formulierung 38. Auch Schulte stellt De oratore in die von den Sophisten und Isokrates ausgehende Tradition (9–27) und arbeitet den Einfluss protreptischer Argumentationen aus der Philosophie heraus (46–58). Steidle, 31 (zu de orat. 1,16). Steidle, 25; diese Form der Argumentation durchzieht den gesamten Aufsatz (so z. B. „ganz untechnisch und römisch“ 24, griechische Begriffe erfahren eine „römische Umbildung“ 36). In neuerer Zeit betont J. Dugan, Cicero’s rhetorical theory, in: C. Steel (Hrsg.), The Cambridge Companion

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Steidles durchgehender Verweis auf römische Besonderheiten darf sicherlich nicht mit der Argumentation mit einer Art Nationalcharakter verwechselt werden und mag seine Berechtigung haben, wenn man bedenkt, dass Cicero in De oratore eine Wirklichkeit konstruiert, die durchaus sehr eng verknüpft ist mit der zeitgenössischen Politik, dem Staat und dem Recht der Römer, und dass diese Wirklichkeit von Cicero selbst in einem gewissen Gegensatz und einer teils starken Konkurrenz zu der Griechenlands gesehen wird.82 So stützt Steidle seine Argumentation auf den Umstand, dass Rom ein öffentliches Bildungswesen fehlt, und auf die Institution des sogenannten tirocinium fori, die Cicero in De oratore beschreibt.83 In einem eher problematischen Licht erscheinen Aussagen dieser Art allerdings dann, wenn man bedenkt, dass die spezifisch griechische Lebenswirklichkeit – welcher Epoche auch immer – von Steidle nur ansatzweise beschrieben und gelegentlich mit einem engen Segment, nämlich dem der teils nur fragmentarisch oder indirekt erhaltenen rhetorischen Spezialschriften, gleichgesetzt wird. Man weiß also gar nicht, ob die Unterschiede zwischen Griechen und Römern wirklich so groß sind oder von Steidle (der im Grunde Cicero folgt)84 eher etwas übertrieben werden, um die Leistungen der Römer im besonderen Licht erscheinen zu lassen. Daher ist es hier sinnvoller, nach der Protreptik in De oratore im Zusammenhang mit der Tradition zu fragen, in die Cicero sich stellt, ohne leugnen zu wollen, dass sich diese Tradition entwickelt und Änderungen unterworfen ist. Die folgenden Bemerkungen über Protreptik erheben ihrerseits nicht den Anspruch, das zweifelsohne sehr komplexe pädagogische Anliegen Ciceros in De oratore in seiner Gesamtheit darzustellen; vielmehr kommt es darauf an, die einzelnen Elemente der Werbung für die Rhetorik hervorzuheben und zu charakterisieren. Wenn hier von der Tradition gesprochen wird, in der Cicero steht, so ist der Hinweis darauf wichtig, dass man davon ausgehen kann, dass Cicero mit den Reden und den Konzepten des Isokrates vertraut ist. In der Forschung hat insbesondere Weische gezeigt, dass Cicero die attischen Redner insgesamt und unter ihnen besonders Isokrates, Aischines und Demosthenes sehr genau kennt.85 So ahmt er in seinen Reden an einigen Stellen die attischen Redner direkt nach bzw. nimmt sie zum Vorbild.86 Wie

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to Cicero, Cambridge 2013, 25–40, die konstitutive Funktion des Gegensatzes von Griechenland und Rom für die Schrift De oratore. Vgl. den Titel des Buchs von E. Fantham, The Roman world of Cicero’s De oratore, Oxford 2004. Steidle 11–15 mit sehr eingehender Skizze des Bildungswesens in Rom; zum tirocinium fori vgl. ausführlich Scholz, 2011, 264–316, J. Regner, Tirocinium fori, RE VI A (1937), 1450–3. Sehr prägnant die Polemik in Tusc. 1,1. A. Weische, Ciceros Nachahmung der attischen Redner, Heidelberg 1972; vgl. auch W. Stroh, Die Nachahmung des Demosthenes in Ciceros Philippiken, in: W. Ludwig (Hrsg.), Éloquence et rhétorique chez Cicéron. Sept exposés suivis de discussions, Genève 1982, 1–40, und J. G. F. Powell, Cicero’s style, in: C. Steel (Hrsg.), The Cambridge companion to Cicero, Cambridge 2013, 41–72, hier 53–54 (mit weiterer Literatur). Weisches Übersicht (199) umfasst alleine 15 Stellen, an denen Cicero Isokrates nachahmt oder die als Vorbild für Ciceros Formulierungen in Frage kommen.

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sehr der rhetorische Unterricht in Rom von den attischen Rednern geprägt ist, lässt sich nach Weische besonders am Auctor ad Herennium ablesen, unter dessen Beispielen sich Nachbildungen entsprechender Stellen finden.87 4.3.1 Das erste Buch 4.3.1.1 Zum Vorwort (de orat. 1,6–20) In den Vorworten zu den drei Büchern Über den Redner richtet sich Cicero nicht an ein junges Publikum, sondern an seinen Bruder Quintus.88 Das Generalthema des ersten Vorworts (de orat. 1,6–20), die Seltenheit im empathischen Sinne echter Redner, scheint zudem in eine direkt entgegengesetzte Richtung zu führen: es bedarf keiner Werbung für die Rhetorik, sondern einer Erklärung, warum es trotz guten Möglichkeiten und zahlreichen Anreizen nur so wenige Redner gegeben habe – und das angesichts der großen Menge an bedeutenden Feldherren, Philosophen, Wissenschaftlern und Dichtern: Cic. de orat. 1,13 ac ne illud quidem vere dici potest aut pluris ceteris artibus inservire aut maiore delectatione aut spe uberiore aut praemiis ad perdiscendum amplioribus commoveri.

Cicero betont hier eigens, dass das, wozu Protreptik normalerweise auffordert, bereits wie selbstverständlich vorliegt: eine von Freude geprägte Einstellung (delectatio) und eine deutliche Motivation zum Lernen. Hinzu kommt der materielle Aspekt der Belohnungen.89 Diesen Gedanken, dass die Seltenheit der Redner nicht auf das Fehlen einer geeigneten Motivation zurückgeführt werden dürfe, wiederholt Cicero kurz darauf bei seiner Betrachtung der Verhältnisse in Rom seit dem 2. Jh. v. Chr., seit fast jeder ehrgeizige junge Mann meinte, er müsse sich mit ganzem Eifer bemühen, die Redekunst zu lernen.90 Zunächst werden hier der Ehrgeiz und der Ruhm (laus) aus-

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Weische, 114–125, untersucht das 4. Buch des Auctor ad Herennium. K. Barwick, Das rednerische Bildungsideal Ciceros, Berlin 1963, 20–25, sieht im Prolog von De inventione eine indirekte und weitere Nachahmung des Isokrates; dagegen möchte Schwameis, 17–29, den Einfluss Platons betonen. Die Quellenforschung ist nicht nur hier mit großen Unsicherheiten verbunden; dabei gilt die Vorstellung als überholt, dass Cicero von seinen Quellen abhängig sei und ihnen mechanisch folge. Vgl. die gute Beschreibung des Inhalts bei T. Janson, Latin Prose Prefaces, Studies in Literary Conventions, Stockholm 1964, 32–40, der sich kritisch mit der These Ruchs auseinandersetzt, die drei Vorreden bildeten einen zusammenhängenden Text (so M. Ruch, Le préambule dans les œuvres philosophiques de Cicéron, Essai sur la genèse et l’art du dialogue, Paris 1958, 194–196). Zur engen Verbindung von spes und praemia vgl. Leeman und Pinkster ad de orat. 1,13. Cic. de orat. 1,14 nam posteaquam imperio omnium gentium constituto diuturnitas pacis otium confirmavit, nemo fere laudis cupidus adulescens non sibi ad dicendum studio omni enitendum putavit.

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drücklich betont (ein für die Protreptik wichtiges Element),91 gleich darauf erscheint das Motiv des Lehrers (doctor). Auch an dieser Stelle hebt Cicero hervor, dass die Rhetorik keiner Werbung bedurfte, weil das Interesse an ihr ohnehin sehr groß und allgemein verbreitet gewesen sei: Cic. de orat. 1,14 post autem auditis oratoribus Graecis cognitisque eorum litteris adhibitisque doctoribus incredibili quodam nostri homines dicendi studio flagraverunt.

Aus diesen Bemerkungen darf nun allerdings nicht geschlossen werden, dass Cicero in De oratore nicht für die Rhetorik werbe oder solche Werbung für überflüssig halte. Im Vorwort geht es zunächst um den Beweis der zentralen These, dass wahre Redner wegen der ungeheuren Anforderungen an sie selten seien, und darum, andere mögliche Gründe auszuschließen. In der Formulierung […] maius est hoc quiddam quam homines opinantur et pluribus ex artibus studiisque collectum (de orat. 1,16) klingt dabei ein überhöhendes Lob sowohl der τέχναι (artes) als auch der studia an, das für eine protreptische Argumentation kennzeichnend ist.92 Zugleich erscheint hier zum ersten Mal das De oratore prägende maius-Motiv, dessen ebenso prägnante wie unbestimmte Aussage ist, dass es um etwas Größeres und Bedeutenderes geht.93 Sobald Cicero sein Beweisziel erreicht hat, kann er den scheinbaren Widerspruch zwischen automatisch vorhandener Motivation und der Unerreichbarkeit des Ziels lösen. Zunächst skizziert er jedoch die Größe und die Vielfalt der Aufgabe und verwendet dabei durchgehend und über einen längeren Abschnitt imperativische Ausdrücke des Müssens (de orat. 1,17–18).94 Daran schließt sich eine im adhortativen Konjunktiv formulierte Aufforderung an, mit der sich Cicero zum ersten Mal seit dem persönlichen Prolog wieder an seinen Bruder wendet:95 Cic. de orat. 1,19 quam ob rem mirari desinamus quae causa sit eloquentium paucitatis, cum ex illis rebus universis eloquentia constet quibus in singulis elaborare permagnum est, hortemurque 91 92 93

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Dazu vgl. oben S. 31 ff. Dazu siehe oben S. 22 ff. Vgl. weiterhin: 1,79; 1,204; 2,161; 3,15 und 3,97 und Steidle 31; es fehlt eine systematische Betrachtung des maius-Motivs in De oratore. Der Zusammenhang mit protreptischer Argumentation liegt auf der Hand, wo das allgemeine Versprechen gegeben, dass etwas Größeres kommen werde. So fordert Isokrates den Nikokles, ein ‚Konkurrent der größeren Lehrer‘ (μειζόνων ἀγωνιστής, Isoc. 2,13) zu werden, und formuliert am Schluss, dass der Empfänger die Gabe (also die Rhetorik bzw. den Unterricht darin) durch Gebrauch vergrößern und wertvoller machen werde: Isoc. 2,54 δωρεὰς […] μείζους καὶ πλείονος ἀξίας ποιήσεις (Dazu siehe oben S. 21). Zugleich hat das maius-Motiv eine deutliche Nähe zur Proömialtopik mit ihrem Hinweis auf die Bedeutung des behandelten Themas zur Erzeugung von Aufmerksamkeit, wie aus Rhet. Her. 1,7 hervorgeht: attentos habebimus, si pollicebimur nos de rebus magnis, novis, inusitatis verba facturos […]. Cicero benutzt es im Prooemium zum Brutus (Brut. 2) quid enim est maius quam, cum tanta sit inter oratores bonos dissimilitudo, iudicare quae sit optuma species et quasi figura dicendi? In diesen Abschnitten finden sich 7 Gerundiva mit einer notio necessitatis sowie eine Konstruktion mit oportet; daran lässt sich der präskriptive Charakter der Passage deutlich ablesen. Zur Struktur vgl. Leeman und Pinkster ad de orat. 1,18, die von einer „geordneten Unordnung“ sprechen. Der Gebrauch der ersten Person Plural in de orat. 1,15 und 18 ist generell (‚man‘).

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potius liberos nostros ceterosque quorum gloria nobis et dignitas cara est, ut animo rei magnitudinem complectantur neque eis aut praeceptis aut magistris aut exercitationibus quibus utuntur omnes, sed aliis quibusdam se id quod expetunt consequi posse confidant.

Aus der Antwort auf die Frage, warum es so wenige gute Redner gebe, folgt nun die Forderung, besonders die eigenen Kinder zu ermuntern, die Rhetorik auf richtige Weise zu lernen. Die Verknüpfung dieses Gedankens mit den Motiven des Ruhms (gloria […] et dignitas) und des Fortschritts (consequi) führt direkt in den Bereich der Protreptik. Freilich klingt der Anspruch, in den Kindern die feste Überzeugung zu nähren (confidant), sie bräuchten zum Erreichen ihres Ziels andere Lehrbücher, Lehrer und Übungen als die gewöhnlichen und von allen benutzten, zunächst offen und unbestimmt. Bei dem Konjunktiv hortemur handelt es sich zudem um eine Art Protreptik zur Protreptik, die die Aufforderung umfasst, andere (genauer: in erster Linie die eigenen Kinder) zum Lernen aufzufordern. Es lässt sich also für das Vorwort von De oratore festhalten, dass allenfalls von indirekter Protreptik (hier in dem Sinne, dass ein konkreter Adressat fehlt) gesprochen werden kann; diese ist allerdings recht deutlich nachweisbar, wenn man die folgenden Überlegungen berücksichtigt: Vergleicht man das Umfeld von De oratore, zeigt sich (wie besonders Leeman und Pinkster hervorheben),96 dass Cicero, wenn er von anderen Lehrbüchern, Lehrern und Übungen spricht, zwar eine gewisse Zurückhaltung in der Formulierung übt, aber doch deutlich wahrnehmbar für sich und seine eigene Schrift wirbt. So empfiehlt er sie dem Lentulus Spinther als Lektüre für seinen Sohn; Lentulus (cos. 57) verwaltet Kilikien und Zypern,97 als Cicero ihm Ende 54 v. Chr. schreibt, dass er der Bitte um Zusendung seiner neueren Schriften gerne nachkomme und ihm Reden und die Erzeugnisse der mansuetiores Musae schicken werde: Cic. fam. 1,9,23 scripsi igitur Aristotelio more, quemadmodum quidem volui, tres libros in disputatione ac dialogo ‚de Oratore‘, quos arbitror Lentulo tuo fore non inutiles.98

Die Verbindung zwischen der Empfehlung dieses Briefs zu de orat. 1,19 besteht im Motiv der Nützlichkeit bzw. Brauchbarkeit (utuntur : non inutiles). Aus der Briefstelle lässt sich also ablesen, dass Cicero vom praktischen Nutzen von De oratore für die Ausbildung junger Redner überzeugt ist. Der junge Lentulus ist damals etwa 19 Jahre alt und hält sich bei seinem Vater in der Provinz auf.99 Es ist sicherlich kein Zufall, dass Cicero mit dem Blick auf ihn für seine Schrift wirbt. Er befindet sich nämlich gerade 96 97 98 99

Leeman und Pinkster, Bd. 1, S. 24. F. Münzer, Cornelius (238), RE IV (1900), 1392–1398, hier 1396. Leeman und Pinkster, Bd. 1, S. 24, verweisen auf die Nachahmung dieser Stelle bei Quint. inst. 1 pr. 6 erudiendo Getae tuo, cuius prima aetas manifestum iam ingenii lumen ostendit, non inutiles fore libri videbantur […]. Zu dem Brief vgl. McConnell, 35–44. Über ihn vgl. F. Münzer, Cornelius (239), RE 4 (1900), 1398–1399. Cicero erwähnt im Jahre 56 in Sest. 144, dass der junge Lentulus im Jahr zuvor die toga virilis angelegt habe. Dem Hinweis von

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in dem Alter, das auch Lucius in fin. und der junge Marcus in off. haben und für das ein selbständiges und intrinsisch motiviertes Studium empfohlen und erwartet wird.100 Allerdings hat Cicero anscheinend trotz der in den Briefen dokumentierten Hochschätzung und Vertraulichkeit weder Lentulus noch dessen Sohn als Adressaten oder zumindest Ansprechpartner für De oratore selbst in Betracht gezogen.101 Gleichwohl lässt sich mit Hilfe von fam. 1,9,23 etwas genauer fassen, an wen Cicero denkt, wenn er de orat. 1,19 von den ceteri spricht, deren Ruhm und Würde ihm teuer seien und denen er offensichtlich zur Lektüre von De oratore rät. Anders scheint es mit dem Bezug auf Ciceros Neffen Quintus und auf seinen Sohn Marcus zu stehen, die zum Zeitpunkt, als Cicero De oratore beendet, 12 bzw. 10 Jahre alt sind. Sie beide sind de orat. 1,19 gemeint, wo Cicero an seinen Bruder gerichtet von den liberi nostri spricht. Leeman und Pinkster sehen darin einen Hinweis darauf, dass Cicero zumindest seinen Neffen mit Hilfe der Schrift De oratore habe unterrichten wollen,102 und verweisen auf einen Brief Ciceros an seinen Bruder, wo er von entsprechenden Plänen erzählt.103 Zunächst ist festzuhalten, dass Cicero in De oratore weder seinen Neffen noch seinen Sohn direkt anspricht und somit keine Protreptik ihnen gegenüber vorliegt. Der Grund dafür dürfte sein, dass beide schlicht für zu jung für selbständige Studien sind bzw. über ihre Studienwege nicht alleine entscheiden. Sie beschäftigen sich zwar bereits mit Rhetorik, und Cicero macht sich in dem angeführten Brief (ad Q. fr. 3,3,4) über die Ausbildung des Quintus Gedanken, indem er sich eine stärker an den allgemeinen Theseis ausgerichtete Methode wünscht,104 es lässt Leeman und Pinkster (Bd. 1, S. 24), Lentulus habe in Athen studiert, fehlt der Beleg. Auch aus Cic. fam. 1,7,11 geht hervor, dass der junge Lentulus sich bei seinem Vater in der Provinz aufhält. 100 Vgl. unten S. 143 und S. 148 f. 101 Unter den an Lentulus gerichteten Briefen fam. 1,1–9 (sie stammen aus den Jahren 56–54 v. Chr.) ragen die langen Briefe 1,7 und 1,9 hervor. Als Redner schätzt Cicero den Lentulus, da es ihm an Begabung gefehlt habe, nicht besonders hoch, wie Brut. 368 zeigt: […] instrumenta naturae derant; sed tantus animi splendor et tanta magnitudo, ut sibi omnia, quae clarorum virorum essent, non dubitaret asciscere eaque omni dignitate obtineret. 102 Leeman und Pinkster, Bd. 1, S. 24 „Cicero hofft, seinem jungen Neffen gegenüber den Crassus spielen zu können; dies müßte in einer Villa geschehen, und dabei würde ohne Zweifel De orat. als Lehrbuch benützt werden. Man kann sich leicht vorstellen, wie dem damals 13jährigen Burschen dabei zumute gewesen sein muß […].“ Die oben skizzierte Überlegung relativiert den Umfang dieser Zumutung ein wenig. 103 Cic. ad Q. fr. 3,3,4 (November 54) Cicero tuus nosterque summo studio est Paeoni sui rhetoris, hominis, opinor, valde exercitati et boni. sed nostrum instituendi genus esse paulo eruditius et θετικώτερον non ignoras. qua re neque ego impediri Ciceronis iter atque illam disciplinam volo et ipse puer magis illo declamatorio genere duci et delectari videtur. in quo quoniam ipsi quoque fuimus, patiamur illum ire nostris itineribus, eodem enim perventurum esse confidimus; sed tamen, si nobiscum eum rus aliquo eduxerimus, in hanc nostram rationem consuetudinemque inducemus. Vgl. zu dieser Stelle und zur Praxis, im Unterricht Hypothesen zu deklamieren, auch S. Feddern, Die Suasorien des älteren Seneca. Einleitung, Text und Kommentar, Berlin u. a. 2013, 17–19. 104 Zu dem Ausdruck θετικώτερον Cic. ad Q. fr. 3,3,4 vgl. W. Kroll, Studien über Ciceros Schrift de oratore, RhM 58 (1903), 552–597, hier 564 f., der den Bezug zu den allgemeinen Theseis sieht (im Gegensatz zu den konkreten Hypotheseis bzw. Staseis der Rhetoren). Dass es sich bei dem Wort nicht

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sich jedoch aus dem Brief nicht ableiten, dass Cicero plane, De oratore als Lehrbuch für Quintus zu verwenden.105 Damit soll hier keineswegs abgestritten werden, dass Cicero Quintus unterrichten möchte und überzeugt ist, im Besitz einer adäquaten Methode zu sein. Allerdings wendet er sich im Vorwort zu De oratore offenbar ganz bewusst nicht direkt an seinen Neffen und seinen Sohn, sondern lässt vielmehr eine allgemeine Protreptik anklingen. 4.3.1.2 Zu den einleitenden Gesprächen und Reden (de orat. 1,24–95) De oratore ist an vielen Stellen wie ein Lehrbuch präskriptiv angelegt,106 auch wenn Cicero im Vorwort betont hat, dass er ein Gespräch praxiserfahrener Männer wiedergeben und keine griechischen τέχναι reproduzieren wolle.107 Da die präskriptive Sprache von De oratore im Zusammenhang mit der Gattung des Lehrbuchs zu sehen ist und weniger in den Bereich der Paränese gehört, kann im Folgenden das Hauptaugenmerk auf der Frage nach der Protreptik liegen. Dabei fällt zunächst auf, dass auch in den Dialogpartien der ersten beiden Bücher nicht durchgehend und unmittelbar an die Teilnehmer des Gesprächs gerichtet für die Rhetorik geworben wird. Das lässt sich damit erklären, dass die Figuren der Schüler in De oratore keine Jugendlichen mehr sind, sondern zu dem Zeitpunkt, wo der Dialog spielt (91 v. Chr.), ihre Laufbahn als vielversprechende Redner und Politiker bereits begonnen haben und sich um das Volkstribu-

unbedingt um eine urbane Prägung des Briefschreibers handelt, sondern um einen Gebrauch im technischen Sinn, zeigt möglicherweise sein Vorkommen bei Aps. Contr. Fig. 409 Spengel. 105 Leeman und Pinkster, Bd. 1, S. 24, verweisen zum einen auf den Ausdruck θετικώτερον (siehe vorige Anm.); dieser kann jedoch auf jeden Ansatz bezogen werden, der stärker allgemein ausgerichtet ist. Zum anderen vergleichen sie Cic. ad Q. fr. 3,3,4 in hanc nostram rationem consuetudinemque mit de orat. 1,135–6 rationem consuetudinis meae, qua quondam solitus sum uti, cum mihi in isto studio versari adulescenti licebat. Hier verweist Crassus allerdings mit einer gewissen Tiefstapelei auf seine eher theorieferne eigene Erfahrung. 106 Ein Beispiel zur Illustration ist das prädikative Gerundivum de orat. 1,69 quare hic locus de vita et moribus totus est oratori perdiscendus, das seine Entsprechung in typisch lehrbuchartigen Formulierungen hat wie z. B. inv. 1,32 […] non verbis neque extraneis ornamentis animus auditoris tenendus est. Zum Begriff vgl. W. Vossenkuhl, Präskriptiv, HWPh 7 (1989), 1265–1266. Von der Forschung wird De oratore allerdings nicht zu den systematischen Lehrbüchern oder den Fachtexten gezählt; vgl. die Darstellungen von M. Fuhrmann, Das systematische Lehrbuch. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften in der Antike, Göttingen 1960, und von Th. Fögen, Wissen, Kommunikation und Selbstdarstellung. Zur Struktur und Charakteristik römischer Fachtexte der frühen Kaiserzeit, München 2009. – Für Fuhrmann zählt zudem, wie die entsprechenden Abschnitte zu den einzelnen Schriften zeigen (zu Cicero vgl. 67–69), die präskriptive Sprache nicht zu den zentralen Merkmalen des Lehrbuchs (ggf. im Kontrast zu eher deskriptiven Ansätzen), wichtiger sind für ihn Elemente wie Einteilung, Definition und Erläuterung. 107 Cic. de orat. 1,22–23. Zur Spannung zwischen Lehrbuch und philosophischem Dialog vgl. Kroll, 1903, 574–575.

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nat bemühen.108 Somit haben sie sich schon längst entschieden und mit ihren Studien begonnen, so dass eine auf Jugendliche abzielende Werbung von vorneherein scheinbar überflüssig ist. Es gibt allerdings gleich zu Beginn eine wichtige und signifikante Ausnahme: die von Crassus vorgetragene laus eloquentiae und ihre Einrahmung. Nachdem die Runde es sich unter der ‚platonischen‘ Platane bequem gemacht hat, beginnt Crassus – in der Fiktion von Cottas Berichts – folgendermaßen: Cic. de orat. 1,30 qui cum ita esset exorsus non sibi cohortandum Sulpicium et Cottam sed magis utrumque conlaudandum videri, quod tantam iam essent facultatem adepti, ut non aequalibus suis solum anteponerentur, sed cum maioribus natu compararentur, neque vero mihi quicquam, inquit, praestabilius videtur quam posse dicendo tenere hominum mentis, adlicere voluntates, impellere quo velit, unde autem velit deducere.

Über dieses elegante Lob der Zuhörer möchte Cotta in seinem Bericht mit Bescheidenheit hinweggehen und verwendet daher das überholende Plusquamperfekt (‚als Crassus so begonnen hatte‘). Crassus lobt die Kompetenz (facultas) von Cotta und Sulpicius; aus dem negativen Teil seines Arguments lässt sich der Schluss ziehen, dass Crassus rhetorische Protreptik (cohortandum) bei Schülern, die jünger und weniger weit fortgeschrittenen (vgl. adepti) sind als Sulpicius und Cotta, für selbstverständlich hält und hier also zumindest indirekt vorträgt. Außerdem impliziert er, dass beide in der Öffentlichkeit stehen und sich mit Erfolg in einer agonalen Situation befinden (anteponerentur; compararentur).109 Es handelt sich also um prominente Schüler, deren Erfolg der beste Ausweis für die Bedeutung der Rhetorik ist. Das Lob der Eloquenz selbst (de orat. 1,30–35) ist eng mit der protreptischen Tradition verknüpft und ein zumindest indirekter Rückgriff auf das Lob der λόγοι in Isokrates’ Nikokles (or. 3).110 Cicero beschreibt die Redekunst zunächst als psychagogisch und hebt ihre entscheidende Rolle hervor für Völker, die frei und befriedet seien. Der Gedanke, dass die Rede die Menschen von den anderen Lebewesen unterscheide und kulturstiftende Wirkung entfaltet habe, kommt erst an späterer Stelle und ist daher kein Argument von zentralem Gewicht.111 Der Einfluss des Redners vor Gericht und vor allem als Politiker 108 Cic. de orat. 1,25. P. Sulpicius Rufus, geboren ca. 124/123 v. Chr. (Cic. Brut. 301 werden Sulpicius und Cotta als 10 Jahre älter als Hortensius bezeichnet), trib. pl. 89/88, gest. 88, vgl. F. Münzer, Sulpicius (92), RE IV A (1931), 843–849, und C. Aurelius M. f. Cotta, geboren. 124/123 v. Chr., Verbannung 91–82, cos. 75, gest. 74, vgl. E. Klebs, Aurelius (96), RE II (1896), 2482–2483. 109 Vgl. oben S. 33 (zu Dionysios von Halikarnassos). 110 Dazu siehe oben S. 23 f. Die Frage nach Ciceros möglichen Quellen wird in der Forschung sehr unterschiedlich und aufgrund der dürftigen Überlieferung teils spekulativ (Philon, Antiochos, Poseidonios) beantwortet; vgl. dazu den Überblick bei Leeman und Pinkster, Bd. 1, S. 104–107. Cicero selbst hat weitere laudes eloquentiae: Cic. de orat. 2,33–35; nat. deor. 2,148; leg. 1,58–62 (im Kontext einer laus sapientiae). 111 Cic. de orat. 32–33; vgl. stärker betont Isoc. 3,5–6 und Cic. inv. 1,2–3 (eloquentia als Stifterin der Kultur).

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wird dagegen im ganzen Abschnitt sehr stark betont.112 Der Redner erscheint dabei als Einzelperson (unus),113 die andere überrage und Entscheidungen in der Volksversammlung, vor Gericht und im Senat herbeiführen (convertere) könne. Es wird also deutlich, dass es Crassus darauf anlegt, Rhetorik und Macht bzw. Herrschaft – im Kontext eines liber populus – miteinander eng zu verbinden, und damit ein für die Protreptik konstitutives Argument benutzt.114 Derjenige, der wie Cotta und Sulpicius in der Redekunst glänzt, überragt die anderen Menschen als Anwalt, Gesetzgeber bzw. Politiker: Cic. de orat. 1,33 quam ob rem quis hoc non iure miretur summeque in eo elaborandum esse arbitretur, ut quo uno homines maxime bestiis praestent in hoc hominibus ipsis antecellat?

Das hier bereits anklingende Motiv des Ruhms erscheint im zweiten Teil des protreptischen Rahmens, mit dem Crassus sein Lob der Eloquenz beschließt. Hinzu kommt an dieser Stelle, dass Cicero auf seine Formulierung in de orat. 1,16 (quibus de causis quis non iure miretur […]?) zu rekurrieren scheint, wo die Seltenheit echter Redner festgestellt wird.115 Damit verknüpft Cicero das agonale Motiv (antecellere = einer ist besser als der andere) mit dem durchaus ähnlichen Gedanken der Exzellenz: in einem Wettstreit schaffen es nur ganz wenige, an die Spitze zu gelangen. Dieser Zusammenhang passt sehr gut in eine protreptische Argumentation. Crassus wendet sich nun mit zwei Imperativen direkt an die ‚jungen Leute‘ Sulpicius und Cotta mit der Aufforderung,116 dass sie in ihren Studien beharrlich fortfahren sollten.117 Neben der Gestaltung des Trikolons im ut-Satz, die dem Gesetz der wachsenden Glieder folgt, fällt insbesondere die Verknüpfung von studium – honor – res publica (ergänzt um den Nutzen für die Freunde) auf, die den Grundgedanken der rhetorischen Protreptik enthält:

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Besonders Cic. de orat. 31–32 aut (sc. quid) tam potens tamque magnificum quam populi motus, iudicum religiones, senatus gravitatem unius oratione converti? Das Pronomen erscheint in de orat. 1,31 gleich zweimal. Dazu siehe oben S. 23. Das Motiv der Macht erscheint zudem auch in der implizierten ‚Herrschaft‘ der Eloquenz über andere Künste und Kulturtechniken (de orat. 1,30): haec una res […] praecipue semper floruit semperque dominata est. Leeman und Pinkster verweisen zu Recht auf die Parallele nat. deor. 2,148 iam vero domina rerum, ut vos soletis dicere, eloquendi vis quam est praeclara quamque divina. Leeman und Pinkster weisen ad de orat. 1,16 auf die unterschiedlichen Bedeutungen von mirari (‚sich wundern‘ bzw. ‚bewundern‘) hin. Die Anrede als ‚junge Leute‘ folgt der ersten Erwähnung von Sulpicius und Cotta in De oratore (adulescentes; 1,25); zu ihrer Funktion und Bedeutung vgl. unten Anm. 210. Zur Formulierung in studium incumbere nennen Leeman und Pinkster ad de orat. 1,34 die Parallelen ac. 2,77 (incubuit […] in eas disputationes) und Phil. 4,12 (incumbite in causam, Quirites, ut facitis). Wenn man außerdem Stellen heranzieht, an denen Cicero seine Briefpartner auffordert, etwas zu tun, so zeigt sich paränetisch-protreptische Charakter des Verbs incumbere noch deutlicher; paränetisch: Att. 3,23,5 und ad Q. fr. 1,1,27; direkt protreptisch: Att. 2,16,3 (59 v. Chr.) qua re incumbamus, o noster Tite, ad illa praeclara studia, et eo, unde discedere non oportuit, aliquando revertamur.

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Cic. de orat. 1,34 quam ob rem pergite ut facitis, adulescentes, atque in id studium in quo estis incumbite, ut et vobis honori et amicis utilitati et rei publicae emolumento esse possitis.

Diese Protreptik, die Crassus direkt an Sulpicius und Cotta richtet, hat eine besondere Bedeutung und wirkt im Dialog beinahe noch wie ein Fremdkörper. Crassus spricht zwar natürlich nicht à part, sondern direkt zu seinen jungen Zuhörern. Doch diese reagieren nicht; denn auf Crassus’ Rede und sein Lob der Redekunst folgt sogleich die harsche Replik des Juristen Scaevola (de orat. 1,35–44). Der Grund dafür ist sicherlich in der Dramaturgie des Dialogs zu sehen, nach der erst am Ende des ersten Buchs feststehen wird, dass Crassus und Antonius Sulpicius und Cotta in der Rhetorik unterrichten werden. Erst im dritten Buch wird es zu einer deutlichen Aufforderung des Lehrers an seine Schüler kommen, sich in einer bestimmten Weise zu entscheiden.118 Als Antwort auf Scaevolas Kritik entwickelt Crassus sein Bild des idealen Redners, der dank seiner Bildung kompetent sei, über jedes Thema angemessen zu sprechen (de orat. 1,45–73).119 Während Crassus die Argumente der Philosophen gegen die Rhetorik und gegen die Bedeutung des Redners widerlegt, werden mehrere Spannungsverhältnisse deutlich, die die Protreptik zumindest tangieren, da dort die Frage nach der Wahl des richtigen Lehrers im Hintergrund steht: Rhetorik und Philosophie, Fachbildung und Allgemeinbildung, Sache und Ausdruck.120 Es fehlt jedoch in diesem Abschnitt der explizite Bezug auf die Schüler Sulpicius und Cotta oder auf Schüler ganz allgemein; das wird insbesondere am Beginn der Ausführungen deutlich, wo Crassus von seinem Aufenthalt in der Athener Akademie bei den führenden Philosophen der damaligen Zeit berichtet.121 Crassus hört (audivi; de orat. 1,45) zwar die Vorlesungen der Philosophen, nimmt teil an einem close reading des Gorgias bei Charmadas (diligentius legi; de orat. 1,47) und ist damit scheinbar in der Rolle eines Lernenden.122 Cicero lässt ihn jedoch sehr eigenständig auftreten und der Rhetorikkritik der Athener Philoso118 119

Dazu siehe unten S. 138 ff. Zur Gliederung vgl. Leeman und Pinkster ad de orat. 1,45–73 (Vorbemerkungen). Zur Kernaussage vgl. de orat. 1,64 quam ob rem si quis universam et propriam oratoris vim definire complectique volt, is orator erit mea sententia hoc tam gravi dignus nomine, qui, quaecumque res inciderit, quae sit dictione explicanda, prudenter et composite et ornate et memoriter dicet cum quadam actionis etiam dignitate. 120 Allgemeine Literatur: S. IJsseling, Rhetorik und Philosophie, Eine historisch-systematische Einführung, Stuttgart 1988; F. Kühnert, Allgemeinbildung und Fachbildung in der Antike, Berlin 1961; H. Schanze und J. Kopperschmidt (Hrsg.), Rhetorik und Philosophie, München 1989; P. L. Schmidt, Brauchen wir philosophisch gebildete Politiker? (Cicero, De oratore 3,91–95), AU 37/6 (1994), 45–52; W. Stroh, Philosophie und Rhetorik in der antiken Bildungsgeschichte, in: R. Kussl (Hrsg.), Antike im Dialog, Speyer 2011, 11–105. Außerdem vgl. A. Hetzel, Die Wirksamkeit der Rede, Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie, Bielefeld 2010, besonders den groß angelegten allgemeinen Überblick 73–186. 121 Die Quästur des Crassus lässt sich nicht genau datieren (zwischen 112 und 109 v. Chr.), vgl. N. Häpke, Licinius (55), RE XIII (1926), 252–267, hier 256; Crassus (geboren 140 v. Chr.) ist damals also etwa dreißig Jahre alt. 122 Zu den Voraussetzungen des Abschnitts vgl. J. Wisse, The Intellectual Background of Cicero’s Rhe-

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phen energisch widersprechen (sed ego neque illis adsentiebar; de orat. 1,47); dabei ist Crassus ein Gesprächspartner auf Augenhöhe und kein Schüler mehr (haec ego cum ipsis philosophis tum Athenis disserebam; de orat. 1,57), so dass der Abschnitt zwar Crassus als Lehrer mit überzeugend vorgetragenen Argumenten zeigt, aber im Grunde frei von eigentlicher Protreptik ist bzw. keine protreptische Situation darstellt.123 Ganz anders kann dagegen das Gespräch aufgefasst werden, von dem Antonius berichtet, als er das Wort ergreift, um Crassus’ Ansichten zu unterstützen. Antonius erzählt von Debatten, die er bei einem Aufenthalt im Jahr 102 v. Chr. in Athen erlebt habe.124 Dort sprechen der Stoiker Mnesarchos, der Skeptiker Charmadas und der Rhetor Menedemos de officio et de ratione oratoris (de orat. 1,80–95);125 Charmadas tritt mit souveräner Eloquenz und Argumenten auf, mit denen er die Notwendigkeit philosophischer Bildung beweisen und den Führungsanspruch der (skeptischen) Philosophie in der Ausbildung der Redner anmelden will. Die Situation ist – und dieser Aspekt soll hier hervorgehoben werden – durchaus protreptisch:126 mehrere Lehrer streiten in Gegenwart eines prominenten und mächtigen Schülers über das richtige Lernen und damit implizit auch darüber, wer von ihnen den besten Unterricht anbieten könne. Das wird gleich zu Beginn deutlich, als Charmadas seine – von Antonius in indirekter Rede wiedergegebenen – Kernthesen formuliert (significabat; de orat. 1,84), dass die professionellen Rhetoren in der Ausbildung eines künftigen Redners nichts ausrichten könnten und niemand ein Redner werden könne ohne das von Philosophen stammende Wissen: Cic. de orat. 1,84 […] eos, qui rhetores nominarentur et qui dicendi praecepta traderent, nihil plane tenere neque posse quemquam facultatem adsequi dicendi, nisi qui philosophorum inventa didicisset.127

Aus der Formulierung ‚niemand kann‘ lässt sich ein apodiktischer Anspruch ablesen, dass Schüler der Rhetorik bei den Philosophen studieren müssen; zudem ist das Motiv des Fortschritts im Lernen greifbar (adsequi; discere). Antonius, der als Autodidakt die torical Works, in: J. M. May (Hrsg.), Brill’s Companion to Cicero. Oratory and Rhetoric, Leiden u. a. 2002, 331–374, hier 361–364. 123 Scaevola lobt Crassus nicht nur für seine Argumente, sondern auch für sein persönliches Vorbild, weil er das verwirkliche, was er fordere (de orat. 1,74–77); bemerkenswert ist, dass auch Scaevola von einer Begegnung mit einem Lehrer (Apollonios von Alabanda) erzählt. 124 Dazu Scholz, 2011, 22–25, mit einer Diskussion der Versinschrift CIL I 2662 (= ILLRP 342). Es handelt sich offensichtlich um mehrere Gespräche bzw. zumindest ein Gespräch, in dem die gleichen Argumente wiederholt vorgetragen werden; Antonius verwendet das Imperfekt: de orat. 1,83 disputabat und öfter. 125 Vgl. dazu Barwick, 32–34. 126 Vgl. oben S. 53 (zu Karneades in Rom). 127 Leeman und Pinkster ad 1,84 fassen tenere als ‚wissen‘ (wie de orat. 1,92); denkbar ist aber auch, dass tenere hier wie in der Wendung locum tenere (Caes. Gall. 2,8,3 u. ö.) die Bedeutung hat ‚behaupten‘, ‚durchsetzen‘. Diese Annahme einer zumindest latent vorhandenen agonalen Metaphorik passt gut zur Vorstellung einer Konkurrenz mit den Rhetoren, von der der Philosoph Charmadas hier spricht.

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Vorträge der Theoretiker hört, ist nun wie Crassus nicht der typische Schüler, seine Prominenz als erfolgreicher Redner und sicherlich auch die als Feldherr pro consule lassen ihn jedoch als attraktiven und zudem werbewirksamen Zuhörer erscheinen.128 Antonius selbst bleibt – anders als zuvor der selbstbewusste Crassus – bei dem Streit unbeteiligt; außerdem ist sein Bericht so angelegt, dass es ihm zwar auf eine genaue Beobachtung und Bewertung ankommt,129 nicht aber darauf, sich selbst gegenüber den am Streitgespräch mitwirkenden Personen zu äußern oder ein Urteil abzugeben. Antonius verlässt also keineswegs die Rolle des Rezipienten bzw. Schülers. Charmadas bemüht sich um Antonius’ Aufmerksamkeit und Gunst und führt ihn als Beispiel für einen glanzvollen Redner ohne theoretische (aus der Rhetorik stammende) Bildung an.130 Die Werbung um den Schüler – der im Rückblick seiner Erzählung dieses Kompliment allerdings nur widerstrebend akzeptieren möchte – und damit der protreptische Charakter der Szene treten hier deutlich hervor. Antonius selbst demonstriert deren Erfolg, indem er erzählt, dass sein libellus über die Rhetorik (de ratione dicendi) und seine These von den Ansichten des Charmadas (und damit paradoxerweise auch von dessen Ablehnung der Rhetorik als ars) inspiriert worden seien;131 Cicero macht also den Antonius – vermutlich gegen die historischen Tatsachen – zu seinem Vorläufer auf dem Gebiet einer philosophisch fundierten Rhetorik. Die von Cicero gewählte Struktur entspricht dabei dem Schema, das Isokrates in der Rede Nikokles verwendet, in der Weise, dass der Schüler den Erfolg der Werbung selbst mit seinem eigenen Werk demonstriert.132 Hinzu kommt, dass Antonius auf einen künftigen Redner verweist, der das skizzierte Ideal des orator eloquens verwirklichen werde und der sicherlich niemand anderes ist als Cicero selbst.133 Cic. de orat. 1,95 ego enim, quantum auguror coniectura quantaque ingenia in nostris hominibus esse video, non despero fore aliquem aliquando, qui et studio acriore, quam nos sumus atque

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Cic. de orat. 1,82 sed, cum cotidie mecum haberem homines doctissimos – eos fere ipsos qui abs te modo sunt nominati, – cum hoc nescio quo modo apud eos increbruisset me in causis maioribus sicuti te solere versari, pro se quisque eorum quantum quisque poterat de officio et de ratione oratoris disputabat. Ein Beispiel für die sehr zahlreichen Bewertungen im Bericht des Antonius ist de orat. 1,84: Charmadas vero multo uberius […]. Cic. de orat. 1,90. Zum Widerspruch mit der Forderung nach philosophischer Bildung vgl. Leeman und Pinkster ad loc. und S. 171 f. Cic. de orat. 1,94 itaque ego hac eadem opinione adductus scripsi etiam illud quodam in libello, qui me imprudente et invito excidit et pervenit in manus hominum, disertos me cognosse nonnullos, eloquentem adhuc neminem. Dazu vgl. Scholz, 2011, 96–114, sowie Suerbaum (HLL 1), § 182. Dazu siehe oben S. 23 f. Vgl. Leeman und Pinkster, S. 165. J. Dugan, Making a New Man. Ciceronian Self-Fashioning in the Rhetorical Works, Oxford 2005, diskutiert zwar ausführlich die Figur des Hortensius am Schluss von De oratore (169–171), übergeht aber die Stelle Cic. de orat. 1,95 trotz ihrer augenfälligen Bedeutung für Ciceros Selbstdarstellung.

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fuimus, et otio ac facultate discendi maiore ac maturiore et labore atque industria superiore, cum se ad audiendum legendum scribendumque dederit, existat talis orator, qualem quaerimus, qui iure non solum disertus, sed etiam eloquens dici possit.

Dieses Augurium des Antonius, in dem das maius-Motiv sehr deutlich erscheint, ist geprägt von protreptischen Begriffen; so finden sich die Motive ‚Fleiß‘, ‚Mühe‘, und ‚Lernen‘, die eingebettet sind in eine komparative Struktur und daher auf einen Fortschritt (von Antonius zu Cicero) verweisen. Der Umstand, dass Cicero hier so vorgeht, ist durchaus bemerkenswert, da er die Erfüllung des Ideals auch aus der Perspektive des Ergebnisses hätte beschreiben können; so aber wählt er die Perspektive des Prozesses und seiner Voraussetzungen: der künftige vir eloquens erscheint also nicht glänzender Redner oder erfolgreicher Politiker, sondern als Lernender. Das passt zum einen zur Schrift De oratore insgesamt, die Cicero selbst in den Bereich der studia stellt und die Werke wie Antonius’ Büchlein oder Ciceros De inventione ablösen soll,134 zum anderen dazu, dass Antonius das Ideal durchaus protreptisch anlegt und auf die jungen Zuhörer ausrichtet, indem er sie zum weiteren Lernen auffordert. 4.3.1.3 Zum ersten Zwischengespräch (de orat. 1,96–112) Daraufhin bitten Sulpicius und Cotta in einem Zwischengespräch den Crassus darum, seine Ansichten de omni genere dicendi darzulegen. Für die fiktive Situation von De oratore ist in unserem Zusammenhang entscheidend, dass Sulpicius, als er sich an Crassus und Antonius wendet, hervorhebt, dass er bereits seit seiner Jugend (ab ineunte aetate) von Crassus und Antonius motiviert (incensus) worden sei und von ihnen gelernt habe (de orat. 1,96–98). Da das aber eher auf einem praktisch-intuitiven Wege (me, quae soleres in dicendo observare, docuisti – an Antonius gewandt) geschehen sei, möge nun die systematische Theorie folgen, über die Crassus trotz intensiven Bitten immer geschwiegen habe. Indem Cicero diese Konstruktion eines „zweiten Bildungswegs“ – was die rhetorische Theorie anbelangt – erfindet, wird er zum einen seinem eigenen Anspruch gerecht, dass das in De oratore vermittelte Wissen aus der Praxis stamme und der bloßen Theorie überlegen sei; zum anderen wird deutlich, dass die Schrift auch in einem protreptischen Kontext zu sehen ist, weil sie das Wissen und die Themen bietet, für die sich diejenigen interessieren, die mit dem Studium der Rhetorik erst beginnen bzw. sich dazu haben motivieren lassen. Das zeigt der Rückgriff auf das für protreptische

134

Cic. de orat. 1,1 studia im Gegensatz zur Tätigkeit als Politiker und Anwalt.

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Situationen typische Alter, den Cicero dem Sulpicius de orat. 1,97 in den Mund legt (ab ineunte aetate).135 Hinzu kommt, dass die Wahl des richtigen Lehrers thematisiert wird. Crassus verweist auf die zuerst von Gorgias praktizierte Kunst, vor Publikum zu einem beliebigen Thema aus dem Stegreif einen Lehrvortrag zu halten.136 Wenn Sulpicius und Cotta den Wunsch hätten, einen solchen Vortrag nach Art der Sophisten zu hören, könne man, so Crassus, seinen Freund den Peripatetiker Staseas von Neapel, einen hochgebildeten Mann, darum bitten, da er sich gerade bei M. Pupius Piso aufhalte (de orat. 1,104). Auf diesen Vorschlag regiert Scaevola recht schroff und direkt: es bedürfe nicht des banalen Geplauders (cotidiana loquacitas) irgendeines Griechen, sondern der überragenden Kompetenz eines Crassus. Man darf diese Äußerungen nicht nur im Kontext der in De oratore durchaus präsenten Gegensätze Griechenland-Rom und Theorie-Praxis sehen,137 sondern muss auch ihren protreptischen Hintergrund berücksichtigen. Auf diese Weise wird klar, dass es sich nicht so sehr um Nationalstolz oder Theoriefeindlichkeit handelt, sondern um das Lob des richtigen Lehrers und die Warnung vor anscheinend ungeeigneten Lehrern; Scaevola verwendet also diese Argumente lediglich als Mittel zu einem bestimmten Zweck; beim Lob des Crassus geht er an unserer Stelle sogar so weit, dass er über das enthusiastische Lob der Eloquenz des Crassus noch das seiner Humanität stellt und ihn damit vor Cotta und Sulpicius als Vorbild und Persönlichkeit beschreibt: Cic. de orat. 1,106 equidem te cum in dicendo semper putavi deum, tum vero tibi numquam eloquentiae maiorem tribui laudem quam humanitatis.138

Betrachtet man nun die Dialogführung in De oratore, so richtet sich Scaevolas Protreptik an unserer Stelle gar nicht an die Schüler – die bereits motiviert und aufmerksam sind –, sondern an den noch zögerlichen Lehrer. Scaevola ermuntert im Folgenden den Crassus und schärft ihm geradezu ein, dass er sich dem Lehrgespräch nicht entziehen dürfe:

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Zu dieser Formulierung vgl. Leeman und Pinkster ad Cic. de orat. 1,97, die dort gegen Halm (ad Cic. Manil. 1) zeigen, dass die Formulierung ab ineunte aetate bei Cicero die erste Lebensphase bezeichne und nach unten nicht begrenzt sei. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, zu ergänzen, dass Sulpicius hier seinen Lehrern das artige Kompliment macht, er habe sich schon immer für ihren Unterricht bzw. ihr Vorbild interessiert. In sachlicher Hinsicht stimmt Halms Bemerkung sicherlich, dass die Zeit „von meinem Eintritt in das bürgerliche Leben nach Annahme der toga virilis“ gemeint ist. Cic. de orat. 1,102–3; vgl. Tusc. 1,7, wo Cicero erzählt, dass er genau das praktiziert habe. Vgl. Koch, 62–66, und I. Gildenhard, Paideia Romana. Cicero’s Tusculan disputations, Cambridge 2007. Zur Kritik an der Sichtweise Steidles, der an De oratore besonders das genuin römische Element hervorhebt, siehe oben S. 77 f. Im Grunde ähnlich wie Steidle interpretiert A. Corbeill, Cicero and the intellectual milieu of the late Republic, in: C. Steel (Hrsg.), The Cambridge Companion to Cicero, Cambridge 2013, 9–24, hier 22, diese Stelle: „Once again, pragmatism prevails over theory.“ Zum Begriff der humanitas vgl. unten Anm. 220.

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Cic. de orat. 1,106 qua (sc. humanitate) nunc te uti vel maxime decet neque defugere eam disputationem, ad quam te duo excellentis ingenii adulescentes cupiunt accedere.139

Cicero handhabt also die protreptischen Motive auf sehr subtile Art, indem er das traditionelle Verhältnis scheinbar umkehrt und die Motivation nicht des Schülers, sondern des Lehrers beschreibt. Das allgemeine und gewissermaßen übergeordnete Ziel bleibt jedoch durchaus das gleiche, da bei der Protreptik – wie oben gezeigt worden ist – die Werbung für einen Lehrer ebenso zentral ist wie die Werbung um einen Schüler. Crassus gehorcht nun Scaevolas Aufforderung (der sich auch noch Antonius anschließt), indem er die Frage, ob die Rhetorik eine ars sei, sehr zurückhaltend und skeptisch beantwortet. Cicero lässt den Scaevola sagen, dass die ‚Schüler‘ den Wunsch hätten (cupiunt), dass Crassus einen Lehrvortrag halte, und verwendet dabei ein Motiv, das für De oratore konstitutiv werden soll:140 bei den ‚wissbegierigen Zuhörern‘ handelt es sich um ein Element aus den Diskussionen bzw. Lehrgesprächen der Sophisten, das sich gut mit einer Stelle aus Platons Dialog Gorgias illustrieren lässt. Nach einem ersten Redeagon zwischen Sokrates und Gorgias kommt es zu einer kurzen Zäsur, als Gorgias zu bedenken gibt, dass man das Publikum fragen solle, ob nicht jemand eigentlich etwas anderes vorhabe, als ihnen weiter zuzuhören. Chairephon spricht für sich und die anderen, indem er auf den Beifall, der Gorgias und Sokrates entgegenschlägt,141 und das gewaltige Interesse der Zuhörer bzw. Schüler verweist, den Lehrern zuzuhören: Pl. Grg. 458c2–5 τοῦ μὲν θορύβου, ὦ Γοργία τε καὶ Σώκρατες, αὐτοὶ ἀκούετε τούτων τῶν ἀνδρῶν βουλομένων ἀκούειν, ἐάν τι λέγητε.142

Die Verbindung ‚hören wollen‘ kennzeichnet zum einen das rezeptive Element der Zuhörer, zum andern das intentionale. Zunächst geht es dabei um die schlichte Tatsache, dass ein Thema, über das gesprochen wird, irgendwie Interesse finden muss und dieses Interesse natürlich aus freien Stücken kommen muss.143 Im speziellen Kontext einer protreptischen Situation fordert der Lehrer den Schüler auf, zu sagen, was er hören Das Motiv des Fliehens verwendet zuvor Crassus selbst (de orat. 99, zu Sulpicius) me quidem semper a genere hoc toto sermonis refugisse et tibi cupienti atque instanti saepissime negasse tute paulo ante dixisti. 140 Das Grundschema findet sich auch am Beginn der Partitiones oratoriae (part. 1): studeo, mi pater, Latine ex te audire ea, quae mihi tu de ratione dicendi Graece tradidisti, si modo tibi est otium et si vis; dazu vgl. Arweiler, 18 ff. 141 Zur Bedeutung von θόρυβος („applause“) vgl. Dodds ad Pl. Grg. 458c. 142 Vgl. Pl. Grg. 448d9–10 ἐπιθυμεῖ Σωκράτης ἀκοῦσαι Γοργίου; 506b2–3 (Gorgias) βούλομαι γὰρ ἔγωγε καὶ αὐτὸς ἀκοῦσαί σου αὐτοῦ διιόντος τὰ ἐπίλοιπα; Pl. Ap. 33b3 (mit der Besonderheit der sokratischen Methode des Fragegesprächs): ἐάν τις βούληται ἀποκρινόμενος ἀκούειν, ὧν ἂν λέγω. 143 Vgl. den Kommentar Burnets zu Pl. Euthphr. 3d9 (Sokrates spricht) εἴ τίς μου ἐθέλει ἀκούειν: „‚if any one cares (not ‚wishes‘) to hear me‘“ Zunächst einmal geht es um das Interesse, nicht um einen heftigen Wunsch. Vgl. auch X. Mem. 3,6,2, wo sich Sokrates an den jungen Glaukon wendet und 139

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wolle, und lässt sich ein Thema nennen, für das sich ein Schüler interessiert, damit er dort eine Probe (πεῖρα) seines Könnens geben kann:144 Pl. Grg. 449a2–4 ἐκέλευε γοῦν νυνδὴ ἐρωτᾶν ὅτι τις βούλοιτο τῶν ἔνδον ὄντων, καὶ πρὸς ἅπαντα ἔφη ἀποκρινεῖσθαι.

Crassus bezieht sich in De oratore auf diese Praxis, die Gorgias eingeführt habe:145 Cic. de orat. 1,102–3 quod primum ferunt Leontinum fecisse Gorgiam, qui permagnum quiddam suscipere ac profiteri videbatur, cum se ad omnia de quibus quisque audire vellet esse paratum denuntiaret.

Dabei verwahrt er sich gegen die angeblich lächerliche Unverschämtheit (inrississe […] impudentiam), die sich darin äußere, dass jemand bereit sei, in der Öffentlichkeit auf Zuruf über ein beliebiges Thema aus der Philosophie zu sprechen. Im Irrealis formuliert Crassus die Hoffnung und Erwartung, dass Sulpicius und Cotta nicht den Wunsch nach solch einem Unterricht hätten: Cic. de orat. 1,104 quod si te, Cotta, arbitrarer aut te, Sulpici, de iis rebus audire velle, adduxissem huc Graecum aliquem, qui nos istius modi disputationibus delectaret; quod ne nunc quidem difficile factu est.

Trotz seiner Kritik und seiner vermeintlichen Geringschätzung dieser Praxis stellt Crassus jedoch die Grundstruktur nicht in Frage, dass die ‚Schüler‘ da sind, die einen Lehrvortrag hören wollen. Cicero übernimmt nun dieses Schema aus der sophistischen Praxis oder aus deren literarischer Darstellung und macht es zu einem immer wiederkehrenden Motiv.146 Das Besondere in De oratore ist dabei – wie jeweils zu zeigen sein wird –, dass die ‚Schüler‘ bzw. Zuhörer ihren Wunsch sehr hartnäckig verfolgen und sich, was zumindest den großen Vortrag des Crassus betrifft, bis zum Beginn des dritten Buchs gedulden müssen. Dabei wird die Werbung um den Lehrer zu einem protreptischen Element ausgebaut. – Plutarchs Schrift De audiendo zeigt, dass das Mo-

zunächst dessen Aufmerksamkeit gewinnen möchte: ἐντυχὼν γὰρ αὐτῷ πρῶτον μὲν εἰς τὸ ἐθελῆσαι ἀκούειν τοιάδε λέξας κατέσχεν […]. 144 Dazu siehe oben S. 21. 145 Vgl. de orat. 3,129 und fin. 2,1. Allgemein spielt Crassus auf diese Tradition auch de orat. 2,112 an: nam et saeculis multis ante gymnasia inventa sunt quam in iis philosophi garrire coeperunt, et hoc ipso tempore, cum omnia gymnasia philosophi teneant, tamen eorum auditores discum audire quam philosophum malunt; vgl. auch 2,153 (heimliches Hören der Lehrer, weil es sich für einen Römer in hoher Position bzw. von hohem Status nicht ziemt). 146 Cic. de orat. 1,137 audire cupiebas; 1,148 audire cupimus; 2,14 ne ipsum quidem a studio audiendi nimis abhorrentem; 2,16 sum cupidus in illa longiore te ac perpetua disputatione audiendi; 2,291 ea quae voluistis ex me audire; 2,367 est nobis, inquit, causa, cur te audire cupiamus; 2,367 omnes se vel […] quam primum tamen audire velle dixerunt; 3,18 magna cum audiendi expectatione; 3,129; 3,147 quae ego ex te audire volui. Vgl. auch die Figur des Hirtius in De fato: (3) […] possumne aliquid audire? Tu vero, inquam, vel audire vel dicere […].

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tiv des Hörens in einen größeren pädagogischen Kontext eingeordnet werden kann. Im philosophischen Unterricht wird – jedenfalls nach Plutarchs Darstellung – erwartet, dass die Schüler erst die Vorträge ihrer Lehrer anhören, bevor sie sich selbst im Reden üben dürfen.147 Neben didaktischen Überlegungen und Erfahrungen spielt hier sicherlich der Wunsch eine Rolle, dass die Autorität des Lehrers respektiert wird und die Schüler sich dem Lehrer unterordnen.148 Wenn nun in einem protreptischen Kontext die Schüler freiwillig zuhören, kann das als Beweis für die Ausstrahlung und Qualität des Lehrers gewertet werden. 4.3.1.4 Begabung, Lerneifer, Übung (de orat. 1,113–159) Die Abschnitte, in denen Crassus und Antonius über die Rollen der Begabung (natura, ingenium; de orat. 113–133), des Lerneifers und der Kunst (studium, ars; de orat. 134–146) sowie der Übung (exercitatio; de orat. 147–159) sprechen, sind in unserem Zusammenhang in doppelter Hinsicht wichtig. Einerseits wird aus ihnen deutlich, wann ein Schüler aus Sicht der Rhetorik die für den Unterricht notwendigen Voraussetzungen mitbringt;149 auch wenn dieses Feld eher dem Bereich der Selbstvergewisserung der Rhetorik gehört und hier nicht im ganzen behandelt werden kann, so hat es doch wichtige Verbindungen zu der Frage, an wen sich Protreptik eigentlich richten soll; andererseits wird auch in diesen Abschnitten die Dynamik, die zwischen den Lehrern und Schülern im Dialog herrscht, von Cicero weiter ausgestaltet. Bekanntlich entspricht die große Bedeutung, den Cicero der Begabung beimisst, dem Gedanken des Vorworts, dass echte Redner sehr selten seien, da eben ein Redner umfassend und zugleich herausragend begabt sein muss, um den hohen und vielfältigen Anforderungen zu genügen.150 Cicero vertieft diesen Gedanken, indem er Crassus 147 Plut. Moralia (De audiendo) 1,38d7–e3 ἐπεὶ καὶ τούτῳ κακῶς τοὺς πλείστους χρωμένους ὁρῶμεν, οἳ λέγειν ἀσκοῦσι πρὶν ἀκούειν ἐθισθῆναι· καὶ λόγων μὲν οἴονται μάθησιν εἶναι καὶ μελέτην, ἀκροάσει δὲ καὶ τοὺς ὁπωσοῦν χρωμένους ὠφελεῖσθαι. […] ἐν δὲ τῇ τοῦ λόγου χρείᾳ τὸ δέξασθαι καλῶς τοῦ προέσθαι πρότερόν ἐστιν, ὥσπερ τοῦ τεκεῖν τὸ συλλαβεῖν καὶ κατασχεῖν τι τῶν γονίμων. 148 Das wird mit einem Vergleich mit der Zähmung eines Pferdes illustriert: Plut. Moralia (De audiendo) 1,39a10–b2 τοὺς μὲν οὖν ἵππους οἱ καλῶς τρέφοντες εὐστόμους τῷ χαλινῷ, τοὺς δὲ παῖδας εὐηκόους τῷ λόγῳ παρέχουσι, πολλὰ μὲν ἀκούειν μὴ πολλὰ δὲ λέγειν διδασκομένους. Der Vergleich mit einem Pferd ist z. B. aus Ovids erotischer Didaktik bekannt: Ov. ars 1,472 tempore lenta pati frena docentur equi; Hollis ad loc. verweist auf Tib. 1,4,17–20. 149 Vgl. allgemein die Überblicke bei J. Engels, ingenium, HWRh 4 (1998), 382–417, besonders 389–394, und bei F. Neumann, natura, HWRh 6 (2003), 135–139. Einen von der Antike bis in die Neuzeit reichenden Überblick gibt C. Müller, Rhétorique de l’ingenium et personnalité littéraire, Emerita 69 (2001), 318–346; zum Unterschied zwischen natura und dem stärker mit intellektuellen Fähigkeiten assoziierten ingenium vgl. 326–8. 150 Besonders de orat. 1,113 sic igitur, inquit, sentio, Crassus, naturam primum atque ingenium ad dicendum vim adferre maximam. Zum geradezu göttlichen Wesen eines besonders begabten Redners vgl. be-

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und Antonius über das Lampenfieber sprechen lässt, das gerade die größten Redner am wenigsten ablegen könnten, weil sie am deutlichsten sähen, welche Schwierigkeiten die jeweilige Sache mit sich bringe und wie wenig das Publikum bereit sei, dem Redner – anders als dem Schauspieler – einen Fehler zu verzeihen.151 Die Möglichkeiten eines Lehrers und Lehrbarkeit der Rhetorik werden allerdings sehr stark beschränkt, wenn sich die Defizite der natura nicht beheben lassen. Crassus schränkt zwar ein, dass der hohe Anspruch nur für den idealen Redner formuliert werde, und akzeptiert und würdigt durchaus die in dicendo mediocritas eines C. Coelius und Q. Varius; sein Satz, dass er junge Schüler, wenn sie eine bestimmte Anlage vielleicht nicht hätten, nicht gleich vom Studium der Redekunst abhalte,152 scheint aber nur in dem Sinne zu gelten, dass Crassus immer wieder den Unterschied zwischen Ideal und eigener Wirklichkeit betont;153 denn etwas später greift Antonius genau diesen Gedanken auf und stimmt Crassus zu, dass ein Lehrer gegen einen Mangel an Begabung nichts ausrichten könne. Er nennt als Vorbild für diese Praxis Apollonios von Alabanda: Cic. de orat. 1,126 […] vel maxime probavi summum illum doctorem Alabandensem Apollonium, qui cum mercede doceret, tamen non patiebatur eos, quos iudicabat non posse oratores evadere, operam apud sese perdere dimittebatque et ad quam quemque artem putabat esse aptum, ad eam impellere atque hortari solebat.

Es entsteht also zunächst der Eindruck, dass mit Ciceros Behandlung der natura eher Apotreptik einhergeht. Der Zweck dieser negativen Werbung ist es, allen, die nicht die entsprechenden Voraussetzungen haben, vom Studium der Rhetorik abzuraten. Dabei scheint der Rhetor Apollonios, indem er ersatzweise für die jeweils richtige ars werben möchte, eine höfliche Verkleidung seiner Ablehnung zu wählen.154 Da Antonius als Gewährsmann für diese Haltung seinen eigenen ‚Lehrer‘ anführt, zeigt er zumindest stillschweigend, dass den hohen Anforderungen des Ideals in der Praxis zumindest gelegentlich entsprochen wird.155 Crassus stimmt dieser rigorosen Haltung des Apol-

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sonders de orat. 1,115 sunt autem quidam ita in isdem rebus habiles, ita naturae muneribus ornati, ut non nati, sed ab aliquo deo ficti esse videantur. Vgl. zum Zusammenhang mit dem Vorwort auch Leeman und Pinkster ad 1,122. De orat. 1,119–123 bzw. 128. De orat. 1,117. So auch de orat. 1,118 neque enim si multitudo litium, si varietas causarum, si haec turba et barbaria forensis dat locum vel vitiosissimis oratoribus, idcirco nos hoc quod quaerimus omittemus. Das zeigt indirekt das von Crassus später benutzte Verb detrudere (de orat. 1,130), das den gleichen Gedanken weitaus schroffer ausdrückt. Vgl. M. Weißenberger, Apollonios [5, Malakos], DNP 1 (1996), 879–80; die de orat. 1,126 geschilderte Haltung des Apollonios deutet wohl weniger auf dessen Perfektionismus (so Weißenberger) hin, sondern eher auf eine pädagogische Resignation und darauf, welche Bedeutung Apollonios der natura beimisst. Dass Antonius den Apollonios zumindest persönlich gehört hat, lässt sich anhand von de orat. 2,3 vermuten.

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lonios ausdrücklich zu und führt als Vorbild den Schauspieler Roscius an; dieser habe keinen Schüler akzeptieren können, weil er vorhandene Fehler nicht tolerieren könne. Crassus singt das Loblied auf die unerreichbare Meisterschaft (absolutio und perfectio) und versichert dabei, dass ihm das, was er bei anderen ankreidet, selbst verziehen werden müsse, und möchte daher seine eigene Person von dem Ideal, das auch er schildert, trennen.156 So ist es nicht verwunderlich, dass die Schüler Sulpicius und Cotta nun verunsichert reagieren. Sulpicius fragt nämlich, ob er und Cotta sich nicht doch lieber auf eine Karriere in der Rechtswissenschaft oder im Militär verlegen sollten, wenn das Ziel, ein guter Redner zu werden, praktisch unerreichbar sei.157 Darauf muss – andernfalls wäre das Gespräch zwischen Lehrern und Schülern beendet – Crassus erwidern, dass seine Rede durchaus protreptisch gemeint sei und dass Sulpicius und Cotta großes Potential hätten: Cic. de orat. 1,131 ego vero […] quod in vobis egregiam quandam ac praeclaram indolem ad dicendum esse cognovi, idcirco haec exposui omnia, nec magis ad eos deterrendos qui non possent quam ad vos qui possetis exacuendos accommodavi orationem meam.

Crassus lobt nun Haltung, Ausdruck und Stimme des Sulpicius und versichert auch Cotta, der hier an seinen Mitschüler nicht heranreichen kann, dass er sich auf einen maßvollen und klugen Gebrauch des Vorhandenen verstehe und den Anforderungen des decere genüge.158 Die protreptische Strategie des Crassus ist durchaus nachvollziehbar und bleibt im Rahmen dessen, was von Isokrates und seinen Nachfolgern vorgeprägt ist, insofern sie zum einen den eigenen Gegenstand in einem möglichst strahlenden Licht erscheinen lässt, zum anderen aber sich auf vielversprechende Schüler beschränkt und keine Wirkung in die Breite beabsichtigt. Bemerkenswert ist zudem, dass Crassus an unserer Stelle, als er illustrieren möchte, dass das decorum, weil es nicht lehrbar sei, nicht in den Bereich der ars falle und dass er hier keine Vorschriften geben könne, sagt, dass das nicht nur ihm so erscheine, der sich darüber wie ein beliebiger Familienvater (sicut unus pater familias; de orat. 1,132) äußere, sondern auch dem berühmten Schauspieler Roscius; denn Crassus wählt den Vergleich mit einem pater familias nicht nur aus Bescheidenheit (im Sinne des ἦθος τοῦ λέγοντος) und in der Absicht, die eigenen Ansichten als möglichst normal zu charakterisieren,159 sondern auch mit Rücksicht auf die protreptische Färbung des Gesprächs, zu der ein Vergleich mit einer 156 157 158 159

De orat. 1,130 nam quis ad ista summa atque in omni genere perfecta potest pervenire? De orat. 1,131; sehr ähnlich ist, wie Leeman und Pinkster ad 1,126 zu Recht vermerken, Mur. 29–30, allerdings überragen hier der Redner und der Feldherr gemeinsam den Rechtsgelehrten an Ruhm. Zum decorum ist der Überblick bei J. Ch. Th. Ernesti, Lexicon Technologiae Latinorum Rhetoricae, Leipzig 1797 (Nachdruck Hildesheim 1962), s. v., immer noch instruktiv. Leeman und Pinkster ad de orat. 1,132 heben zu Recht hervor, dass unus hier als Indefinitpronomen verwendet wird, und verweisen auf de orat. 1,159, wo sich Crassus wiederum auf den gesunden Menschenverstand eines beliebigen Familienvaters beruft und seinen eigenen Ausführungen alle

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engen persönlichen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler und der Verweis darauf sehr gut passen.160 Cotta bittet Crassus fortzufahren und aufzuzählen, was neben den Naturanlagen für einen Redner noch erforderlich sei.161 Da wendet sich Crassus dem Thema Eifer und Enthusiasmus (studium et ardor quidam amoris; de orat. 1,134–5) zu, das zu dem für die Protreptik zentralen Bereich der intentionalen Motivation gehört. Als Crassus diesen Aspekt behandelt, sagt er, dass er es für überflüssig halte, Cotta und Sulpicius zu ermuntern, da sie bereits das, was gefordert ist, erfüllten und ihm mit ihrer Wissbegier – so die ironisch-urbane Formulierung – sogar lästigfielen. Indem er unter Hinweis auf die Adressaten Protreptik ausdrücklich ausschließt, formuliert Crassus auch hier (wie schon de orat. 1,30) ein Lob seiner Schüler: Cic. de orat. 1,134 neque vero vos ad eam rem (sc. studium) video esse adhortandos, quos, cum mihi quoque sitis molesti, nimis etiam flagrare intellego cupiditate.

Als Crassus ankündigt, über die Rhetorik als ars so zu sprechen, dass er seine eigene Herangehensweise (ratio consuetudinis) darstellen werde, die er als junger Mann (adulescens) praktiziert habe, ruft er eine enthusiastische Reaktion des Sulpicius hervor. Sulpicius brennt nämlich schon lange darauf, das Erfolgsgeheimnis und die spezielle Methode des Crassus (quid Crassus ageret meditandi aut dicendi causa; de orat. 1,136) kennenzulernen und hofft, nun endlich ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen. Auch wenn Crassus diese Erwartung sofort enttäuscht und sagt, dass auch er nur die allgemein bekannten Regeln der Rhetorik (ista omnium communia et contrita praecepta; de orat. 1,137) gelernt habe und nur diese nun darstellen werde, gelingt es Cicero sehr gut, Crassus als Lehrer und als Vorbild zu beschreiben, indem er zeigt, wie sehr dessen Schüler darauf bedacht sind, ihn nachzuahmen. Das Besondere an der protreptischen Situation von De oratore ist, dass die Begeisterung der Schüler bereits vorhanden ist und man daher annehmen kann, dass es Ciceros eigentliches Ziel ist, diese bei möglichen Lesern von De oratore zu wecken und damit nicht zuletzt für sich selbst zu werben. Die anschließende Darstellung der ars (de orat. 1,137–146) ist zunächst summarisch und ein Vorgriff auf das zweite und dritte Buch von De oratore. Sie enthält neben der Feststellung, dass sich die Theorie aus der Praxis entwickelt habe und nicht umgekehrt die Praxis der Theorie gefolgt sei, auch die Anerkennung des Nutzens der ars.162 Fruchtbar werden die theoretischen Vorschriften jedoch erst in Verbindung mit den Exklusivität abspricht: effudi vobis omnia quae sentiebam; quae fortasse, quemcumque patrem familias adripuissetis ex aliquo circulo, eadem vobis percontantibus respondisset. 160 Vgl. oben S. 31 (zu Dionysios von Halikarnassos). 161 Cotta spielt ironisch mit der Bescheidenheit und Tiefstapelei des Crassus und akzeptiert sie zum Schein als wahr (de orat. 1,133 […] neque enim sumus nimis avidi; ista tua mediocri eloquentia contenti sumus […] ut ne plus nos adsequamur quam quantulum tu in dicendo adsecutus es […]). 162 Cic. de orat. 1,145–147: die ars sei besonders für die Bereiche der memoria und der actio hilfreich.

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Übungen (exercitationes), deren Rolle Crassus anschließend behandelt.163 Hier empfiehlt er insbesondere schriftliche Ausarbeitungen von Texten sowie die Lektüre griechischer Reden und ihre anschließende Übertragung ins Lateinische: Cic. de orat. 1,155 postea mihi placuit eoque sum usus adulescens, ut summorum oratorum Graecas orationes explicarem. quibus lectis hoc adsequebar, ut cum ea quae legeram Graece, Latine redderem, non solum optimis verbis uterer et tamen usitatis, sed etiam exprimerem quaedam verba imitando, quae nova nostris essent, dum modo essent idonea.

Im Zusammenhang mit der Frage nach der Protreptik fällt auf, dass Crassus hier nochmals (nach de orat. 1,135) hervorhebt, dass er als junger Mann (adulescens) sich auf diese Weise in der Rhetorik geübt habe und dabei nach anfänglichen Fehlversuchen (die Umformung lateinischer Vorbilder erwies sich als wenig fruchtbar) später (postea) Fortschritte (hoc adsequebar) habe erzielen können. So deutet Crassus (genauer: Cicero) nochmals an, wen diese Empfehlungen betreffen: junge Leute, die sich mit dem Studium der Rhetorik beschäftigen, also potentielle Leser von De oratore. 4.3.1.5 Zum zweiten Zwischengespräch (de orat. 1,160–165) Am Beginn des 2. Zwischengesprächs fordert Scaevola, als nach Crassus’ Rede alle schweigen, den Cotta auf, weitere Fragen an Crassus zu richten.164 Cotta reagiert und beschreibt zunächst mit einem Bild den Grund seines Schweigens, der darin bestehe, dass Crassus’ Rede mit großer Geschwindigkeit ihm vorbeigeeilt sei. Es sei ihm ergangen wie beim Betreten eines überaus reich ausgestatteten Hauses, dessen kostbare Einrichtung und Kunstgegenstände für den Besucher nicht oder nur schemenhaft (per transennam) sichtbar seien: Cic. de orat. 1,161 sic modo in oratione Crassi divitias atque ornamenta eius ingenii per quaedam involucra atque integumenta perspexi, sed ea contemplari cum cuperem, vix aspiciendi potestas fuit.

Scaevola ermuntert nun Cotta, dass er Crassus doch einfach auffordern solle, ihm die verborgenen Sehenswürdigkeiten seines Hauses zu zeigen. Cotta wiederum ziert sich und bittet Scaevola, das für ihn und Sulpicius zu tun, da es ihnen sehr unangenehm sei,

Cic. de orat. 149–159. Vgl. dazu und zur Darstellung der Übungen bei anderen Autoren den guten Überblick bei Leeman und Pinkster, Bd. 1, 245–254. 164 Leeman und Pinkster, Vorbemerkung zu de orat. 1,160–165, hier S. 267, beschreiben die Situation so „Das zweite Zwischengespräch gleicht dem ersten insofern, als es die didaktische Situation wiederherstellt.“ Im Grunde handelt es sich um eine Fortführung, da die Konstellation sich in der Zwischenzeit nicht verändert hatte. Zum Schweigen in de orat. 3,144 siehe unten S. 135. 163

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den Crassus um die Darstellung der puerorum elementa (de orat. 1,163) zu bitten. Der Dialog und der Vergleich mit einem neugierigen Besucher eines schönen Hauses dienen nicht nur als Scharnier zwischen dem vorangehenden Teil und den folgenden längeren Überlegungen des Crassus über die Rolle fundierter Rechtskenntnisse (de orat. 1,166–201).165 Vielmehr zeigt sich nun in der Rückschau, dass der summarische Vortrag des Crassus eine Art protreptischer Werberede ist und als solche den gewünschten Zweck sehr gut erfüllt hat.166 Crassus liefert eine Probe seiner Kunst und weckt damit das Interesse und die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. Cottas Enttäuschung ist dabei der beste Beweis für die Größe seines Interesses und seiner Begeisterung für das Thema. Als aber Crassus unter Hinweis sowohl auf seinen eigenen (angeblichen) Mangel an Wissen als auch auf die Weisheit des Scaevola versucht, sich dieser Bitte zu entziehen, erinnert ihn Scaevola sehr deutlich daran, wie hoch der Anspruch an den Redner und dessen Bildung sei, den er selbst formuliert habe und dessen weitere Ausführung keinesfalls versäumt werden dürfe.167 Besonders auffällig ist, dass Crassus für seinen Versuch, die Bitte abzulehnen, argumentiert, ein Lehrvortrag über die Rhetorik sei dem Alter Scaevolas schwerlich angemessen (vix huic aetati audiendum; de orat. 1,165). Indem er das sagt, setzt Crassus voraus, dass die Situation einer Belehrung einer bestimmten Verteilung der Generationen und ihrer Rollen unterliegt; denn den Scaevola hindert nicht sein Gesundheitszustand oder das hohe Alter, sondern allein sein Status: er kommt für die Rolle des Schülers nicht infrage.168 Auch auf diese Weise verfolgt Cicero in dem 2. Zwischengespräch ein durchaus protreptisches Anliegen.

165 So Leeman und Pinkster Bd. 1, S. 268. 166 Dazu vgl. oben S. 22 f.; hier folgt Cicero weniger dem Vorbild des Isokrates, sondern steht in der allgemeinen Tradition der Sophistik. 167 Cic. de orat. 1,165 ain tu?, inquit ille (sc. Scaevola), si de istis communibus et pervagatis vix huic aetati audiendum putas, etiamne illa neglegere possumus, quae tu oratori cognoscenda esse dixisti: de naturis hominum, de moribus, de rationibus iis quibus hominum mentes et incitarentur et reprimerentur, de historia, de antiquitate, de administratione rei publicae, denique de nostro ipso iure civili? 168 Mit Leeman und Pinkster ad 1,165 ist huic aetati zu verstehen als aetati meae. Man muss allerdings nicht unbedingt betonen, dass Scaevola zum Zeitpunkt des Gesprächs hochbetagt (so Leeman und Pinkster) gewesen sei (vgl. auch Cic. Lael. 1); entscheidend ist zunächst, dass er nicht der jungen Generation angehört, an die sich Crassus als Lehrer richtet, und dass Crassus sich prinzipiell scheut, seinen Schwiegervater, der älter und damit weiser ist als er selbst, zu belehren. Cicero selbst äußert sich über die Figur Scaevolas Atticus gegenüber (Att. 4,16,3) und begründet dort den späteren Abschied Scaevolas (de orat. 1,265) damit, dass der vielbeschäftigte und gelegentlich etwas scharfzüngige Alte (iaculator senex) nicht zum weiteren Gespräch passe, das den Charakter einer τεχνολογία habe. – Damit ist natürlich nicht gesagt, dass Alter und Lernen aus Sicht der Antike einander ausschlössen: vgl. Cic. Cato 26 litteras Graecas senex didici.

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4.3.1.6 Zum dritten Zwischengespräch (de orat. 1,202–209) Crassus schließt den Abschnitt, in dem er über die Notwendigkeit fundierter Rechtskenntnisse spricht, damit ab, dass er auf den vollkommenen Redner eingeht, der weit über einem gewöhnlichen causidicus stehe. Wie man dieses Ideal (haec vis) erreichen könne, könnten weder die konventionellen Lehrbücher noch er selbst darlegen. Crassus meint daher, dass er lediglich einen Weg (via) aufgezeigt habe, aber nicht selbst der Anführer sein könne.169 Scaevola lobt diese Haltung des Crassus und führt als Beleg dafür einen Satz an, den Sokrates gesagt haben soll.170 Mit der Figur des Philosophen greift Scaevola das Kolorit der sokratisch-platonischen Szenerie am Anfang von De oratore (1,28–29) wieder auf: Cic. de orat. 1,204 mihi vero, inquit Mucius, satis superque abs te videtur istorum studiis, si modo sunt studiosi, esse factum. nam ut Socraten illum solitum aiunt dicere perfectum sibi opus esse, si quis satis esset concitatus cohortatione sua ad studium cognoscendae percipiendaeque virtutis; quibus enim id persuasum esset, ut nihil mallent esse se quam bonos viros, iis reliquam facilem esse doctrinam: sic ego intellego, si in haec, quae patefecit oratione sua Crassus, intrare volueritis, facillime vos ad ea quae cupitis perventuros ab hoc aditu ianuaque patefacta.

Scaevola bedient sich einer vollständig ausgeformten Struktur des Vergleichs (ut […] sic); während jedoch auf der Seite der sokratischen Ethik klar formuliert wird, was das höchste und leitende Ziel ist (esse […] bonos viros), bleibt es auf der Seite der Rhetorik an dieser Stelle unbestimmt; denn Scaevolas Worte ea, quae cupitis beziehen sich, wenn man sie im engen Kontext des Gesprächs betrachtet, zunächst nur auf Cottas und Sulpicius’ konkreten Wunsch, dass Crassus sie Rhetorik lehren möge. Sulpicius bestätigt das in seiner Reaktion auf Scaevolas Worte. Dort greift er nämlich Crassus’ Bild vom Weg auf und formuliert in einem Wortspiel,171 dass es ihm und Cotta nicht ausreiche, wenn ihnen der Weg lediglich gewiesen werde, sondern sie ihn kennenlernen wollten: Cic. de orat. 1,205 nam nunc quibus studendum rebus esset accepimus, quod ipsum est tamen magnum; sed vias earum rerum rationemque cupimus cognoscere.172

169 Cic. de orat. 1,203 equidem vobis, quoniam ita voluistis, fontes, unde hauriretis atque itinera ipsa ita putavi esse demonstranda, non ut ipse dux essem, quod et infinitum est et non necessarium, sed ut commonstrarem tantum viam et, ut fieri solet, digitum ad fontes intenderem. 170 Vgl. SSR I C 478; da es für die Aussage des Sokrates keine eindeutige Parallele (Leeman und Pinkster ad loc. verweisen auf die nur für den zweiten Teil des Zitats einschlägige Stelle X. Mem. 2,6,39) gibt und da Scaevola sich eines vorsichtigen relata refero bedient (aiunt), ist es nicht ganz unwahrscheinlich, dass es sich um ein fingiertes Zitat handelt. 171 Die Verbindung von via und ratio ist sehr häufig und beschreibt das methodische, systematische bzw. dihäretische Vorgehen; vgl. Kroll ad orat. 116. Antonius beginnt dementsprechend seinen anschließenden Vortrag mit einer Definition des Begriffs orator (de orat. 1,209 ff.). 172 Das ‚Verlangen‘ hat geradezu leitmotivischen Charakter: vgl. Cic. de orat. 1,96 insperanti […] mihi et Cottae, sed valde optanti utrique nostrum cecidit, ut in istum sermonem, Crasse, delaberemini; 1,106

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Dahinter steht natürlich ihr – zumindest von Scaevola an früherer Stelle auch so formuliertes – Verlangen, das Vorbild des Crassus nachzuahmen.173 Aus der Tatsache, dass Scaevola seinen Vergleich auf diese Weise formuliert, darf man daher schließen, dass Crassus und Sokrates nicht so sehr gemeinsam haben, dass sie beide ein einfaches Ziel definieren, von dem sich alles andere ableiten kann, sondern dass beide Protreptiker sind, indem sie andere dazu ermuntern und motivieren, bestimmte studia aufzunehmen. Kennzeichnend für die Protreptik ist dabei die starke Betonung des intentionalen Moments (nihil mallent […] quam; intrare volueritis) und des Lernens (studium cognoscendae percipiendaeque virtutis; doctrinam). Dabei geben Sokrates und Crassus vor, lediglich Türen zu öffnen, da sich der Weg anschließend von selbst (facillime) ergebe. Die Tür-Metaphorik greift Crassus im Folgenden zumindest indirekt auf, als er die Zuhörer fragt, ob sie nicht Antonius auffordern sollten, an seiner Stelle die Rhetorik darzustellen und ihnen illa dicendi mysteria zu verkünden;174 Antonius habe schließlich einen libellus über das Thema verfasst. Da mysteria und das anderswo von Cicero gebrauchte initia synonym sind,175 liegt die Nähe zu aditus und ianua (de orat. 1,204) auf der Hand. Crassus spricht zwar im ironischen Sinn von den ‚Geheimnissen der Rhetorik‘, insofern als die ars dicendi allgemein bekannte Grundsätze und Lehren behandelt,176 und erlaubt sich einen Scherz, der den Widerspruch zwischen Antonius’ Publikation eines Lehrbuchs und seiner etwas gezierten Zurückhaltung im Gespräch von De oratore aufgreift; trotzdem lässt er in den dicendi mysteria auch das von Scaevola aufgebrachte Motiv des ‚Beginns‘ mitschwingen und verbleibt damit in der protreptischen Färbung des Dialogs. Als Antonius etwas widerwillig und unter Hinweis auf seine angeblich limitierten Möglichkeiten in die Bitte des Crassus einwilligt, führt auch er sowohl das Motiv des Eingangs als auch das des Verlangens der Zuhörer fort: Cic. de orat. 1,208 […] ingrediar ad ea quae vultis […].

Cicero verleiht hier erneut dem Gespräch eine protreptische Spannung, deren Besonderheit in der Umkehr der scheinbar zu erwartenden Rollen liegt: die Schüler sind

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(Scaevola spricht) qua (sc. humanitate) nunc te uti vel maxime decet neque defugere eam disputationem, ad quam te duo excellentis ingenii adulescentes cupiunt accedere; 1,136 id spero nos esse adeptos omniaque iam ex ipso, quae diu cupimus, cognituros; 1,148 ac tamen ista, quae abs te breviter de arte decursa sunt, audire cupimus, quamquam sunt nobis quoque non inaudita. Vgl. oben S. 91 f. zum Motiv des audire velle. Vgl. Cic. de orat. 1,105 […] consilio linguaque princeps, cuius vestigia persequi cupiunt […]. Leeman und Pinkster ad loc. beziehen die Tür-Metaphorik auf das Bild des Hauses mit reichem, aber für den Besucher unsichtbarem Schmuck (Cic. de orat. 1,161–162). Da an dieser Stelle nicht von Türen die Rede ist und da umgekehrt an der späteren Stelle Schmuck und Kunst keine Rolle spielen, scheint dieser Bezug nicht unbedingt den Kern zu treffen. Vgl. Cic. Verr. 2,5,187 und Catil. 1,16 (initiata sacris). Zu dem Bild vgl. R. Kirchner, Die Mysterien der Rhetorik, Zur Mysterienmetapher in rhetoriktheoretischen Texten, RhM 148 (2005), 165–180; zur Sache weitaus gründlicher M. Korenjak, Publikum und Redner. Ihre Interaktion in der sophistischen Rhetorik der Kaiserzeit, München 2000, 214–219.

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begierig und drängen,177 der Lehrer beginnt nur sehr zögernd und nur auf wiederholte Bitten aller anderen hin.178 Es ist evident, dass Cicero diese Situation auch in der Absicht konstruiert, sein Thema, nämlich die Rhetorik, zu bewerben und die These des ersten Vorworts, dass echte Redner selten seien, dahingehen zu ergänzen, dass auch die Vermittlung der Rhetorik eine äußert anspruchsvolle Aufgabe ist. 4.3.1.7 Zum Schluss des ersten Buches (de orat. 1,256–265) Daran ändert auch der nüchterne und eher skeptische Grundton nichts, den Antonius in seinem anschließenden Vortrag (de orat. 1,209–262) anschlägt. Die Gegenrede hat vor der Behandlung der officia oratoris in den Büchern 2 und 3 eine retardierende Funktion und bestreitet in ihrem Kern die Notwendigkeit philosophischer (1,219–233) und juristischer (1,234–256) Kenntnisse. Antonius kommt am Schluss zu einer reduzierten Definition des Redners und fordert, dass dieser vor allem in der Lage sein müsse, zieladäquat, das heißt accomodate ad persuadendum (de orat. 1,260), zu sprechen.179 Kurz zuvor nennt Antonius den Grund dafür, der gar nicht so sehr darin bestehe, dass er ein pragmatisches und nüchternes Bild vom Berufsalltag eines Anwalts voraussetze,180 sondern in dem Umstand zu suchen sei, dass er das Programm des Crassus aus didaktischen Gründen für sehr anspruchsvoll halte. Dass es ihm darum gehe, dass die Rhetorik lehrbar sei und zwar in einer angemessenen Zeit, bringt Antonius in einem affektgeladenen Ausruf vor: Cic. de orat. 1,256 neque repugnabo, quo minus id, quod modo hortatus es, omnia legant, omnia audiant, in omni recto studio atque humanitate versentur; sed mehercule non ita multum spatii mihi videtur,181 si modo ea facere et persequi volent, quae a te, Crasse, praecepta sunt.

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Für die Rolle des Schülers, der darauf brennt, einen Lehrer zu hören, gibt es zahlreiche Vorbilder, so beklagt sich z. B. Hippokrates in Platons Dialog Protagoras (310d5–6) über den Sophisten μόνος ἐστὶ σοφός, ἐμὲ δὲ οὐ ποιεῖ. 178 Diese Umkehr der Protreptik fasst Antonius selbst zusammen, indem er sich als denjenigen bezeichnet, der motiviert wird: (Cic. de orat. 1,208) meam facilitatem laudatote, cum vobis non meo iudicio, sed vestro studio inductus non gravate respondero. 179 Zur Charakterisierung der Antilogia des Antonius vgl. Leeman und Pinkster, Bd. 1, S. 131. 180 Das wirft ihm Crassus vor (de orat. 1,263) operarium nobis quendam, Antoni, oratorem facis. Ähnlich 2,40 hesterno sermone unius cuiusdam, ‚operis‘ ut ait Caecilius ‚remigem aliquem aut baiulum‘ nobis oratorem descripseras. Antonius selbst argumentiert allerdings zuvor ähnlich (de orat. 1,252): tantum in utroque (sc. in Gestik und Stimme) adsequi possumus, quantum in hac acie cotidiani muneris spatii nobis datur. 181 Der Text an dieser Stelle ist unsicher (vgl. Leeman und Pinkster ad loc.); eine Änderung der Überlieferung von V (der Kumaniecki folgt) ist nicht notwendig, wenn man den Gedanken so versteht, dass der Sprecher den Eindruck habe, alle Zeit der Welt reiche nicht aus, um das Programm des Crassus abzuarbeiten; vgl. zur Formulierung Cic. inv. 1,29 spatii satis […] fuisse ostendetur; ein Beispiel für das (seltene) Fehlen von esse ist Q. Rosc. 20 mihi causa non videtur.

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Der einschränkende Bedingungssatz, den Antonius mit si modo (‚wenn nur‘, ‚wenn überhaupt‘) einleitet,182 bezweifelt in gewisser Weise, schließt es aber auch nicht aus, dass die jungen Schüler alles das umsetzen wollen, was Crassus besonders für den Bereich der Übungen (de orat. 1,149–159) gefordert hat. Mit einem ähnlich schwankenden ‚Zwar-Aber‘ fährt Antonius fort und stellt auch hier das intentionale Moment heraus, das auf der Ebene des Dialogs die Schüler Sulpicius und Cotta auszeichnet.183 Er sagt nämlich, Crassus erlege den jungen Leuten fast schon allzu harte Gesetze auf; die seien aber nahezu unverzichtbar, um das begehrte Ziel (id, quod cupiunt) zu erreichen.184 Antonius weist auf die Mühen und die Schwierigkeiten der praktischen Umsetzung hin, nimmt aber zugleich an, dass es ehrgeizige Schüler gibt, die genau das anstreben. Hier bewegt er sich also noch nicht im scharfen Gegensatz zu Crassus; der wird erst dort sichtbar, wo Antonius der Forderung des Crassus widerspricht, dass jeder Redner auf seinem Gebiet so anspruchsvoll und überragend sein müsse, wie es der Schauspieler Roscius auf seinem Feld sei; wiederum ist der Punkt, an dem Antonius seine Kritik festmacht, die Wirkung auf mögliche Schüler. Cic. de orat. 1,258 illud vero fuit horribile, quod mehercule vereor, ne maiorem vim ad deterrendum habuerit quam ad cohortandum.

Das Tempus der Form habuerit wählt Antonius mit Bedacht in der Vorzeitigkeit; denn Sulpicius zeigte sich wirklich verunsichert und entmutigt, nachdem Crassus seine Forderungen zunächst so zugespitzt hatte. Allerdings lässt er aus, dass Crassus an dieser kritischen Stelle des Gesprächs sogleich klarstellte, dass er über ein Ideal spreche, das er selbst nicht erreiche, und dass er nur diejenigen, die wirklich unfähig seien, abschrecken wolle.185 Als Verkörperung des Ideals, accomodate ad persuadendum zu sprechen, gilt dem Antonius der Redner Demosthenes. An ihm hebt Antonius besonders hervor, dass er anfängliche Defizite in der Aussprache und der Atemtechnik durch beharrliche Anstrengung (studium und labor) überwunden habe.186 Der Hinweis auf das Vorbild des Demosthenes ist, so Antonius, die richtige Protreptik (cohortatio) für angehende Schüler der Rhetorik, alles andere, was Crassus dem Redner noch abverlangen will, führt entschieden zu weit. So schließt Antonius seine Überlegungen ab:

182

Vgl. R. Kühner, Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache, 2. Bd., Satzlehre, neubearbeitet von C. Stegmann, 2 Teile, 3. Aufl., durchgesehen von A. Thierfelder, Hannover 1955, 2,428,10. 183 Siehe oben Anm. 146. 184 Cic. de orat. 1,256. 185 Cic. de orat. 1,131–133. Zur Strategie der Provokation, die Antonius hier anwendet, so auch Leeman und Pinkster ad de orat. 1,257–258. 186 Vgl. dazu E. Drerup, Demosthenes im Urteile des Altertums. Von Theopomp bis Tzsetzes. Geschichte, Roman, Legende, Würzburg 1923, 30 mit Anm. 3.

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Cic. de orat. 1,262 hisce ego cohortationibus, Crasse, ad studium et ad laborem incitandos iuvenes vehementer adsentior; cetera quae collegisti ex variis et diversis studiis et artibus, tametsi ipse es omnia consecutus, tamen ab oratoris proprio officio atque munere seiuncta esse arbitror.

Das wichtigste Argument, das Antonius gegen den hohen Anspruch des Crassus vorträgt, besteht nicht so sehr darin, dass das Ideal nicht in die Praxis umgesetzt werden könne (die Person des Crassus selbst beweist gerade das Gegenteil), sondern dass sein Umfang mögliche Schüler abschreckt und entmutigt; daher schließt Antonius alles aus, was nicht unmittelbar unter die spezifischen Aufgaben des Redners fällt. Antonius und Crassus stimmen demzufolge darin überein, dass Schüler geworben und motiviert werden müssen. Über den richtigen Ansatz lässt Cicero beide im ersten Buch von De oratore allerdings miteinander streiten. Dass dieser Streit über die angemessene Form der Protreptik selbst in einer protreptischen Situation zwischen Lehrern und Schülern stattfindet und ein Teil von ihr ist, gehört zur Kunst, die Cicero in De oratore gestaltet. Als Antonius seine Rede beendet hat, sind sich Sulpicius und Cotta nicht sicher, wessen Rede näher an die Wahrheit herankomme, und beurteilen dabei die protreptische Situation, in der sie sich befinden, nach dem Maßstab des πιθανόν.187 Auch Crassus deutet an, dass Antonius sich der von der Skepsis gepflegten Technik bediene, eine Argumentation zu widerlegen (refellere), und dass diese Kernkompetenz eines Redners eine Methode sei, die aus der Philosophie stamme.188 Crassus widerlegt also die gegen die Philosophie gerichtete Haltung des Antonius, indem er ihn als skeptischen Akademiker entlarvt. Damit wird klar, dass Cicero die Konkurrenz der Lehrer um die Schüler nicht nur als protreptische Situation im Kontext der Rhetorik gestaltet, sondern als praktiziertes in utramque partem disputare und damit die Philosophie zur Grundlage der Rhetorik macht. 4.3.2 Das zweite Buch 4.3.2.1 Zum Vorwort (de orat. 2,1–11) Im persönlichen Vorwort des zweiten Buchs wendet sich Cicero erneut an seinen Bruder Quintus. Er schließt mit einer Abbruchformel, aus der hervorgeht, dass der Text davor eine adhortatio und damit protreptisch ist: 187 188

Cic. de orat. 1,262. Zum Begriff des πιθανόν (veri simile) vgl. W. Görler, Karneades, in: H. Flashar (Hrsg.), Grundriss der Geschichte der Philosophie, Die Philosophie der Antike, Bd. 4/2: Die hellenistische Philosophie, Basel 1994, 849–897, hier 860–866. Siehe auch unten S. 170 f. zu Cic. off. 2,8. Cic. de orat. 1,263 cuius quidem ipsius facultatis exercitatio oratorum propria est; sed iam in philosophorum consuetudine versatur maximeque eorum, qui de omni re proposita in utramque partem solent copiosissime dicere. Über die Geschichte des Erörterns des Für und Wider und die Theseis vgl. H. Throm, Die Thesis. Ein Beitrag zu ihrer Entstehung und Geschichte, Paderborn 1932, 160–189.

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Cic. de orat. 2,11 sed quo citius hoc quod suscepimus non mediocre munus conficere possimus, omissa nostra adhortatione ad eorum quos proposuimus sermonem disputationemque veniamus.189

Dass diese Charakterisierung auf das gesamte zweite Vorwort bezogen werden kann, zeigt der Beginn, zu dessen Formulierung Cicero am Ende einen Bogen schlägt. Als er dort die in seiner Kindheit verbreitete Ansicht erwähnt, dass der berühmte Redner Crassus höchstens über elementare theoretische Bildung verfüge und sein Kollege Antonius gar keine habe, sagt Cicero nämlich, dass dieses Urteil von vielen mit einer durchschaubaren Absicht verbreitet worden sei: Cic. de orat. 2,1 erantque multi qui, quamquam ita se rem habere arbitrarentur, tamen, quo facilius nos incensos studio discendi a doctrina deterrerent, libenter id quod dixi de illis oratoribus praedicarent, ut, si homines non eruditi summam essent prudentiam atque incredibilem eloquentiam consecuti, inanis omnis noster esse labor et stultum in nobis erudiendis patris nostri, optimi ac prudentissimi viri, studium videretur.

Hier beschreibt Cicero eine gewissermaßen apotreptische Situation: einige Leute, die er nicht beim Namen nennt,190 raten direkt vom Studium der Rhetorik ab (deterrere als Antonym zu adhortatio) und argumentieren wider besseres Wissen, gerade die größten Redner seien Naturtalente und frei von technischer und philosophischer Bildung gewesen. Diejenigen, an sie sich dabei richten, sind junge Schüler (pueri) und deren Vater, deren Mühe (labor) und Eifer – das Wort studium erscheint in sehr markanter Weise zweimal – gebremst werden sollen.191 Cicero widerlegt im Folgenden mit persönlichen Bemerkungen zur Biographie des Crassus und des Antonius die Behauptung, ihre Bildung sei mangelhaft gewesen (de orat. 2,2–4). Damit stärkt er zum einen die Glaubwürdigkeit der Figuren, die im Dialog De oratore auftreten;192 zum anderen wird ein Argument, das für die protreptische Argumentation ganz zentral ist, vorberei-

So auch Leeman und Pinkster ad Cic. de orat. 2,11. Das Wort omittere (im Ablativus absolutus) bezeichnet einen Gedanken oder eine Tätigkeit, die erst ausgeführt, dann aber zugunsten einer anderen zurückgestellt oder aufgeben wird; vgl. Cic. Brut. 249 nam et didicit et omissis ceteris studiis unum id egit seseque cotidianis commentationibus acerrume exercuit; Phil. 11,23; Catil. 2,25 (Figur einer praeteritio). Weitere Stellen ThLL IX,2 s. v. omitto I C 1. 190 Diese Technik der Auseinandersetzung mit ungenannten Gegnern ist gerade für ein Vorwort typisch; vgl. z. B. Cic. nat. deor. 1,5–12 und fin. 1,1–11. 191 Im Vorwort verwendet Cicero das Wort pueri gleich an drei Stellen und erinnert damit sehr deutlich daran, dass er und sein Bruder Crassus und Antonius nicht in dem Alter erlebt hätten, das für selbstständige Studien typisch ist. Auch wenn das Erlebnis der großen Redner prägend ist, sind doch Crassus und Antonius in der protreptischen Situation nicht die Figuren der Lehrer, sondern erscheinen allgemein als Vorbilder; vgl. Fantham 26–28. 192 Zu Recht weisen Leeman und Pinkster (Bd. 2, S. 186–189) auf den literarischen Charakter des Textes hin und warnen davor, Ciceros Aussagen den Wert einer historischen Quelle beizumessen.

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tet und im zweiten Teil des Proömiums formuliert: der Erwerb theoretischen Wissens ist unverzichtbar für den Erfolg als Redner. Es gelte der Grundsatz:193 Cic. de orat. 2,5 […] neminem eloquentia non modo sine dicendi doctrina, sed ne sine omni quidem sapientia florere umquam et praestare potuisse.

Da die Anforderungen an ihn vielfältig sind und zahlreiche Gebiete tangieren, kann ein Redner, wie Cicero im Folgenden einschränkt, nicht auf allen Gebieten das tiefste Wissen (summa rerum omnium scientia) haben. Hinter dem allgemeinen Ziel der Protreptik für die Rhetorik verfolgt Cicero in diesem Vorwort offenkundig noch ein spezielles: die deutlich wahrnehmbare Werbung für seine Schrift De oratore bzw. die Fortführung dieser Werbung nach dem ersten Proömium.194 Ebenso wie der Erfolg des Crassus und des Antonius die Bedeutung theoretischer Bildung beweist, kann man daraus, wie Cicero sich selbst darstellt, schließen, dass De oratore die richtige und unverzichtbare Lektüre für einen Studenten der Rhetorik ist; denn zu Beginn des Vorworts erscheinen der junge Cicero und sein Bruder selbst als incensi studio discendi. Sie sind also in der gleichen Situation gewesen wie nicht nur die ‚Schüler‘ in De oratore,195 sondern wie es von anderen nach ihnen angenommen und erwartet wird. Später zitiert Cicero seinen Bruder mit dem Bonmot, ein rhetor genüge in der Familie, ja im Grunde fast im ganzen Staat.196 So ironisch und urban Quintus sich hier auch ausdrückt, Cicero stellt sich in gewisser Weise in eine Reihe mit Isokrates und deutet an, er sei der einzige (unus) ernstzunehmende Verfasser rhetorischer Schriften in Rom.197

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Leeman und Pinkster (Bd. 2, S. 187) zeigen sehr deutlich, dass die Argumentation „Crassus und Antonius besaßen große Bildung, weil große Redekunst ohne Bildung nicht zustande kommt“ eine petitio principii ist. Für eine protreptische Argumentation ist das aber nicht unbedingt von Nachteil. 194 Cic. de orat. 1,19; dazu vgl. oben S. 81. 195 Vgl. Cic. de orat. 1,134 (Crassus über Sulpicius und Cotta) quos […] nimis etiam flagrare intellego cupiditate und de orat. 1,97 – persönlicher, aber auch mit Bezug auf die Rhetorik – (Sulpicius spricht) incensus essem studio utriusque vestrum. 196 Cic. de orat. 2,10. Leeman und Pinkster ad loc. ordnen das Wort rhetor, das Cicero hier in auffälliger Weise benutzt, dem Bereich der Selbstironie zu: „mit absichtlich herabsetzender Bedeutung (‚ein Redner à la grecque‘)“. Allerdings verweisen rhetor bzw. rhetoricus eindeutig (vgl. de orat. 1,52. 55. 84 u. ö.) auf die Rhetorik als ars, so dass es wahrscheinlich ist, dass Quintus insbesondere darauf anspielt, dass sein Bruder libri rhetorici schreibt. 197 Cicero spricht keinen von beiden Gedanken direkt so aus, sondern versteckt sie in der Aufzählung möglicher Gründe, weshalb Quintus sich nicht als Redner hervortue; in der langen und ziemlich unübersichtlichen Konstruktion des Satzes erscheinen aber beide Argumente zwischen den Zeilen (Cic. de orat. 2,10): […] sive iudicio, ut soles dicere, sive, ut ille pater eloquentiae de se Isocrates scripsit ipse, pudore a dicendo et timiditate ingenua quadam refugisti, sive, ut ipse iocari soles, unum putasti satis esse non modo in una familia rhetorem, sed paene in tota civitate […]. Die Charakterisierung des Isokrates als Vater der Redekunst ist, wenn man sie auf die Abstinenz des Quintus bezieht, insofern eine Parallele, als dass auch Isokrates sein Auftreten als Redner früh aufgegeben hat (or. 12,10); einen Sinn ergibt ebenfalls der Fingerzeig auf Cicero selbst.

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Die Überlegung, dass es sich bei de orat. 2,1–11 um einen protreptischen Text und eine Werbung für die Schrift im Besonderen handelt, lässt sich weiter untermauern, wenn man berücksichtigt, wie Cicero seinen Bruder, den Adressaten des Proömiums, gegen Ende anspricht. Da er anscheinend für das Studium der Rhetorik wirbt, muss er sich Quintus gegenüber in einer längeren Passage dahingehend erklären, dass er ihn nicht als Anfänger betrachte. Ähnlich wie wenige Jahre zuvor im Brief ad Q. fr. 1,1 betont Cicero, dass er seinen Bruder keineswegs erziehen (erudire) wolle.198 Cicero gelingt das mit einer doppelten Argumentation: zum einen hebt er die besondere Qualität von De oratore hervor. Die Schrift gleiche weder den ungehobelten (agrestis) Büchern, die Quintus verachte, noch leide sie unter einem Mangel an schönen Künsten, der unter den Verfassern rein technischer Schriften verbreitet sei.199 Sie spricht also nicht nur den Anfänger, sondern auch den anspruchsvollen und fortgeschrittenen Leser an. Zum anderen unterscheidet Cicero zwischen ratio dicendi (Theorie) und usus (Beispiele für die gelungene Umsetzung der Theorie).200 Da De oratore beides enthalte (optima doctrina, maximo usu; de orat. 2,11), werde die Schrift auch Quintus’ vorrangigem Interesse an der Praxis, die er nicht aus eigener Erfahrung kennt, gerecht.201 Daraus ergibt sich, dass die Werbung des 2. Proömiums sich durchaus an den unmittelbaren Adressaten richtet. Dabei ist an die Rezeption literarischer Rhetorik zu denken. Darüber hinaus spricht Cicero auch ein Publikum an, das die ratio dicendi lernen möchte. Hier handelt es sich in erster Linie um Schüler, die jünger bzw. in einer anderen Situation sind als Quintus und die die eigentliche Zielgruppe der Protreptik bilden. Für sie gilt insbesondere der Kerngedanke, dass die Theorie unverzichtbar sei, wenn man in der Praxis Erfolg haben wolle.

198 Dazu siehe oben S. 66 ff. 199 Cic. de orat. 2,10 nec vero te, carissime frater atque optime, rhetoricis nunc quibusdam libris, quos tu agrestis putas, insequor ut erudiam […] und kurz darauf: […] non tamen arbitror tibi hos libros in eo fore genere, quod merito propter eorum qui de dicendi ratione disputarunt ieiunitatem bonarum artium possit inludi. 200 Der Begriff usus (Praxis, praktische Erfahrung, Übung) ist sehr vielfältig; hier greift Cicero ein konstitutives Motiv des ersten Proömiums auf, dass die Theorie ohne Praxis wertlos sei (de orat. 1,15) […] usus frequens, qui omnium magistrorum praecepta superaret. 201 Cic. de orat. 2,11 […] prudentiam rationemque dicendi per te ipsum, usum autem per nos percipere voluisti. Cicero lobt den Stil seines Bruders de orat. 2,10 quid enim tua potest oratione aut subtilius aut ornatius? und sagt zugleich, dass Quintus nicht mehr als Redner in der Öffentlichkeit auftrete (vgl. oben Anm. 197).

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4.3.2.2 Zu Antonius’ Lob der Beredsamkeit (de orat. 2,33–38) Die Konstellation des zweiten Buchs von De oratore ist nach dem Abschied Scaevolas und dem Auftritt zwei neuer Gesprächsteilnehmer gegenüber dem ersten Buch deutlich verändert; denn Catulus, nun der Senior der Runde, greift zwar häufig in das Gespräch ein, ihm fällt aber nicht mehr die Rolle zu, Crassus und Antonius aus der Reserve zu locken und anzuspornen.202 Caesar tritt, auch wenn er eher zur Gruppe der Jungen gehört, von Anfang an mit selbstsicherer Eloquenz auf und ist später Lehrender und kein Schüler.203 Allerdings reiht auch er sich in die Gruppe derer ein, die Crassus zu einem Vortrag auffordern möchten. Cicero greift das protreptische Motiv des Wollens auf, das im ersten Buch deutlich zu greifen ist und mit dessen Hilfe in De oratore der Eifer der Schüler und das Zögern der Lehrer dargestellt werden: Cic. de orat. 2,16 […] equidem […], Crasse, ita sum cupidus in illa longiore te ac perpetua disputatione audiendi, ut, si id mihi minus contingat, vel hoc sim cotidiano tuo sermone contentus.204

Crassus reagiert im Folgenden reserviert und möchte, wie er länger erklärt (de orat. 2,21–25), ihr Gespräch lieber der Erholung (otium) und Spiel und Scherz (ineptiae) als einer ernsten Arbeit und seriösen Beschäftigung zurechnen. An Catulus gewendet sagt er: Cic. de orat. 2,25 nam quod addidisti tertium, vos esse eos qui vitam insuavem sine his studiis putaretis, id me non modo non hortatur ad disputandum, sed etiam deterret.

Das protreptische Wort hortari und sein Antonym deterrere, die Crassus hier in dem Sinne auf sich bezieht, dass er keineswegs gewillt sei, am Ferientag einen Schulvortrag zu halten, dienen in der Dramatik des Dialogs dazu, anzuzeigen, dass Crassus noch nicht bereit ist und weiter überredet werden muss, seine Kenntnisse weiterzugeben. Die protreptische Spannung ist gelöst, sobald allgemein klar ist, dass nun die eigentliche systematische Darstellung der Rhetorik durch Antonius folgen wird (ab de orat. 2,33). Während Catulus, Caesar und Crassus Zuhörer sind, bleiben Cotta und Sulpicius die wissbegierigen Schüler.205 Antonius selbst erlaubt sich zwar selbstironische

202 Zu Q. Lutatius Catulus (cos. 102 v. Chr.) vgl. F. Münzer, Lutatius (7), RE VII (1927), 2072–2082. 203 Vgl. besonders Cic. de orat. 2,16 (Caesar zu Crassus) sin tibi id (sc. die Teilnahme am Gespräch) minus libebit, non te urguebo neque committam, ut, dum vereare tu, ne sis ineptus, me esse iudices. Zu C. Iulius L. f. Caesar Strabo Vopiscus vgl. E. Diehl, Iulius (135), RE X (1917), 428–431. 204 Vgl. auch Cic. de orat. 2,14 hoc (sc. die Tatsache, dass Catulus und Caesar sich eingeladen haben) tu si cupidius factum existimas, Caesari attribues; si familiarius, utrique nostrum. 205 Cic. de orat. 2,26 (Caesar) sed cur impedimus Antonium? cuius audio esse partes, ut de tota eloquentia disserat, quemque iam dudum et Cotta et Sulpicius expectat?

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Scherze über seine Rolle als Lehrer und über seinen Mangel an Wissen, beginnt dann aber bald seinen Vortrag.206 Auf Bemerkungen über die Spannung von opinio und scientia und über den Charakter der Rhetorik als ars lässt er ein durchweg affirmatives Lob der Redekunst folgen (de orat. 2,33–38).207 Vergleicht man das mit Crassus’ laus eloquentiae (de orat. 1,30–34), so fällt das Fehlen eines protreptischen Rahmens ins Auge; Antonius liefert zwar – wie Catulus in seiner Reaktion hervorhebt – mit seinem Lob der Eloquenz einen hervorragenden Beweis der eigenen Beredsamkeit und somit eine Art Referenz im genus demonstrativum;208 er wendet sich jedoch damit nicht direkt an die jungen Zuhörer. Der Unterschied zum ersten Buch ist sicherlich aus der Dynamik zu erklären, die De oratore bestimmt: zu diesem Zeitpunkt des Gesprächs steht längst fest, dass sowohl die Zuhörer als auch die Vortragenden bereit und motiviert sind. 4.3.2.3 Zu de orat. 2,85–96 Im engen Zusammenhang mit der Protreptik des ersten Buchs steht der Abschnitt des zweiten Buchs, wo Antonius erzählt, dass Sulpicius seine Lehrzeit auf dem Forum als junger Redner bei Crassus und ihm selbst verbracht und in den Belangen der rhetorischen Praxis von den Koryphäen bereits einiges gelernt habe;209 auch hier wird – ein wenig gegen die historischen Tatsachen – das junge Alter des Sulpicius (adulescentulus und adulescens) von Cicero auffällig hervorgehoben.210

206 Cic. de orat. 2,28–29 […] audite vero, audite, inquit hominem enim audietis de schola atque a magistro et Graecis litteris eruditum. Leeman und Pinkster ad loc. sehen hier eine „ulkige[n] Parodie eines marktschreierischen griechischen Rhetors“. Daneben gibt es noch die Möglichkeit, dass Cicero den Antonius die Verkündung einer offenbarten und religiös überhöhten Wahrheit parodieren lässt; ein Beispiel dafür ist der Beginn der Rede, die der Epikureer Velleius in De natura deorum hält (1,18) tum Velleius fidenter sane, ut solent isti, nihil tam verens quam ne dubitare aliqua de re videretur, tamquam modo ex deorum concilio et ex Epicuri intermundiis descendisset, audite inquit […] – Es folgen bei Velleius zunächst ex negativo die abzulehnenden Lehren der anderen Schulen. Zieht man diese Deutung in Betracht, ergibt sich ein Bezug zur ironisch gebrauchten Mysterienmetaphorik in Cic. de orat. 1,206; die eigentliche Verkündigung beginnt erst hier. 207 Dazu wiederum Leeman und Pinkster, S. 221–222. 208 Cic. de orat. 2,39 ita mihi vim oratoris cum exprimere subtiliter visus es, tum laudare copiosissime; quod quidem eloquentem vel optime facere oportet, ut eloquentiam laudet; debet enim ad eam laudandam ipsam illam adhibere quam laudat. 209 Crassus erzählt de orat. 3,74 von seiner eigenen Lehrzeit auf dem Forum, wo er im Alter von 21 Jahren seinen ersten Prozess führte; dabei betont er die Theorieferne der praktischen Ausbildung. 210 Cic. de orat. 2,88–96. Das tirocinium fori des Sulpicius (nach Ciceros Darstellung) lässt sich anhand des Prozesses gegen C. Norbanus (95 v. Chr.) auf die Jahre 96 und 95 v. Chr. datieren. Dass Sulpicius damals bereits etwa 28/29 Jahre alt ist, scheint ungewöhnlich; zur Sache vgl. die ausführliche Darstellung bei Scholz, 2011, 260–317, und Leeman und Pinkster ad de orat. 2,89 sowie die Beschreibung bei Tac. dial. 34. Wenn Cicero den Sulpicius adulescentulus und adulescens (de orat. 2,88) nennt, ist das, wie F. Münzer, Sulpicius (92), RE IV A (1931), 843–849, hier 844, hervorhebt, kein

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Der Grund dafür könnte sein, dass Cicero ihn gewissermaßen etwas jünger erscheinen lässt, um die protreptische Situation glaubhafter zu gestalten; denn von einer solchen lässt er Antonius (der sich an Catulus wendet) erzählen. Mit Blick auf die reiche Begabung des Sulpicius schickt Antonius einen längeren Vergleich mit Weinreben voraus, bei denen es leichter sei, üppiges Wachstum zu beschneiden als dürftiges zu befördern;211 daher halte er es auch bei einem jungen Schüler für wünschenswert, dass etwas vorhanden sei, was er wegnehmen könne. Im Folgenden beschreibt Antonius, wie er seinerzeit beim begabten Sulpicius für den praktischen Unterricht geworben habe: Cic. de orat. 2,89 vidi statim indolem neque dimisi tempus et eum sum cohortatus, ut forum sibi ludum putaret esse ad discendum, magistrum autem quem vellet eligeret; me quidem si audiret, L. Crassum. quod iste adripuit et ita sese facturum confirmavit atque etiam addidit, gratiae scilicet causa, me quoque sibi magistrum futurum. vix annus intercesserat ab hoc sermone cohortationis meae, cum iste accusavit C. Norbanum, defendente me. non est credibile, quid interesse mihi sit visum inter eum, qui tum erat, et qui anno ante fuerat.

Neben der Betonung der Protreptik (cohortatus […] cohortationis), des Lernens (ad discendum) und des Lehrers (das Wort magister erscheint zweimal) fällt hier besonders auf, dass die Zeit sowie der schnelle und den Antonius überraschende Erfolg besonders hervorgehoben werden.212 Das Motiv des Fortschritts erscheint hier somit aus der Retrospektive und in Form eines Erfolgsberichts, indem Antonius Zeitbegriffe (statim, tempus, annus, tum, anno) geradezu häuft, um hervorzuheben, wie schnell Sulpicius innerhalb eines einzigen Jahres gelernt habe. Der Schüler befindet sich in der Situation einer Entscheidung, die von seinem persönlichen Willen abhängt (quem vellet eligeret), auch wenn ihm Antonius mit einer Geste der Selbstlosigkeit die Wahl des Crassus ans Herz legt. Dass Sulpicius souverän

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„großer Widerspruch“, aber doch der deutlich sichtbare Versuch, die Jugendlichkeit des begabten Schülers möglichst zu betonen. Von einem „protreptischen, pädagogischen Abschnitt[s]“ sprechen auch Leeman und Pinkster ad de orat. 2,89. E. Fantham, Comparative Studies in Republican Latin Imagery, Toronto 1972, 145, meint zu 2,88 „the long and detailed analogy […] is probably Roman.“ Aus einem etwas anderen Blickwinkel werden in der Schrift über die Kindererziehung des Ps.-Plutarch die Möglichkeiten pädagogischen Wirkens mit einem ähnlichen Bild beschrieben, das illustrieren soll, dass gelenkte Übung und Anstrengung selbst einen Mangel an Begabung kompensieren können: (Moralia 1,2e5–8) ποῖα δὲ δένδρα οὐκ ὀλιγωρηθέντα μὲν στρεβλὰ φύεται καὶ ἄκαρπα καθίσταται, τυχόντα δ᾽ ὀρθῆς παιδαγωγίας ἔγκαρπα γίγνεται καὶ τελεσφόρα; Der Vergleich zwischen der Erziehung von Pflanzen und Menschen scheint also eher aus dem allgemeinen pädagogischen Bildreservoir zu stammen. – Völlig zu Recht verweist Fantham auf die Wiederaufnahme des Bildes in 2,96: in qua (sc. der Rede des Sulpicius) nunc interdum, ut in herbis rustici solent dicere in summa ubertate, inest luxuries quaedam, quae stilo depascenda est. Antonius stellt seine Überraschung mit dem cum-inversum sehr lebendig dar. Mit der Verwendung des Wortes sermo erweckt er den Eindruck, dass bereits damals die Vertraulichkeit bestanden habe, die zwischen den Dialogpartnern von De oratore herrscht (vgl. 1,26.27 und öfter).

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und ohne großes Zögern wählt und seine Entscheidung mit großem Nachdruck darstellt, zeigen die Verben adripere und confirmare, die Cicero hier wählt.213 Es fehlt in der protreptischen Szene der explizite Bezug auf die Politik und die Herrschaft im Staat. Das scheint sich daraus erklären zu lassen, dass Cicero einerseits, wie schon die Wahl der Gesprächsteilnehmer zeigt, in De oratore Rhetorik und Politik selbstverständlich als Einheit sieht;214 andererseits scheut er sich – womöglich auch mit Blick auf die politische Realität der eigenen Zeit –, durchgehend für die Rhetorik einen exklusiven Führungsanspruch zu formulieren.215 Antonius setzt seinen Bericht fort, indem er erzählt, wie Sulpicius sein Ziel durch genaue und intensive Nachahmung (imitatio) seines Vorbilds Crassus sowie durch Übung (exercitatio) erreicht habe, und bleibt damit im Rahmen der die Protreptik kennzeichnenden Motive.216 Sucht man nun weiter nach dem Motiv der Herrschaft, das ja in der Protreptik auch das Moment des Exklusiven repräsentiert, so findet man einen Bezug in dem unmittelbar vorausgehenden Abschnitt (de orat. 2,85–86), wo Antonius allgemein berichtet, wie er einen bereits mit Vorkenntnissen ausgestatteten jungen Redner einer Prüfung unterziehe, was der mit seiner Stimme, seinen Kräften und seiner Atemtechnik erreichen könne, und fortfährt: Cic. de orat. 2,85 si intellegam posse ad summos pervenire, non solum hortabor, ut elaboret, sed etiam, si vir quoque bonus mihi videbitur esse, obsecrabo. tantum ego in excellente oratore et eodem bono viro pono esse ornamenti universae civitati.

Adripere bezeichnet de orat. 1,159 eine ebenso spontan wie effizient ausgeführte Handlung: effudi vobis omnia quae sentiebam; quae fortasse, quemcumque patrem familias adripuissetis ex aliquo circulo, eadem vobis percontantibus respondisset. Der Ton dieses Satzes ist kolloquial und humoristisch („Das gleiche hätte euch vermutlich auf eure Fragerei ein beliebiger Familienvater geantwortet, wenn ihr ihn euch auf der Straße gegriffen hättet.“), so dass man ähnliches auch für adripuit in de orat. 2,89 vermuten kann. 214 Cicero sagt in der Einleitung (de orat. 1,22), dass er seine Schrift auf die gerichtliche und die politische Beredsamkeit ausrichte; deutlich liegt die Verbindung auch in der Protreptik des Crassus vor (de orat. 1,34; dazu vgl. oben S. 85 f.) sowie im Tenor des Vorworts zu Buch 3: dort (de orat. 3,3–6) erinnert Cicero an Crassus’ wortgewaltiges Auftreten in dem hochpolitischen Konflikt mit dem Konsul L. Marcius Philippus am 13. September 91 v. Chr. 215 Cicero lässt besonders Scaevola hervorheben, dass ein Führungsanspruch der Rhetorik sich schwerlich aus der Geschichte Roms, die zahlreiche Negativbeispiele liefere, herleiten lasse; sein Argument gipfelt in einem Vergleich der eloquenten Gracchen mit ihrem nüchtern auftretenden Vater (de orat. 1,38); vgl. auch 3,226. Antonius’ Definition des idealen Politikers in de orat. 1,211 ist nicht mit der Eloquenz verknüpft. 216 De orat. 2,89–91; zur Bedeutung der exercitatio vgl. auch Steidle, 24–25, der auf die große Bedeutung verweist, die Cicero der Nachahmung und Übung beimisst, indem er sie an dieser Stelle behandelt. – Die Übung findet sich prominent bei Dionysios von Halikarnassos, vgl. oben S. 33. Allgemein zur Rolle der Progymnasmata, ihrer Strukturierung der rhetorischen Übungen und ihrer zentralen Funktion vgl. Th. D. Frazel, The Rhetoric of Ciceros „In Verrem“, Göttingen 2009, 23–70. Frazel zeigt, dass Cicero in den Verrinen die Ergebnisse derartiger Übungen und die Umsetzung der sich aus einem solchen ‚Training‘ ergebenden Möglichkeiten präsentiere.

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Aus der Aufforderung an einen jungen Redner mit besonders vielversprechendem Potential, sich anzustrengen, die ein Kennzeichen der Protreptik ist, wird hier die innige Bitte und Beschwörung (obsecrabo). Diese setzt allerdings voraus, dass es sich um einen vir bonus handele. Antonius’ Argumentation entspricht so dem Gedanken der äußersten Seltenheit exzellenter Redner, den Cicero im Vorwort formuliert hat. Hinzu kommt noch das Vertrauen in die hohen moralischen Qualitäten: Cicero greift Catos von stoischem Denken geprägte Definition des Redners auf, die später auch von Quintilian zitiert wird,217 und verbindet sie mit einem explizit politischen Anspruch, der aus der Formulierung tantum […] ornamenti universae civitati ablesbar ist; hier richtet sich Protreptik an jemanden, der in Rom ein hohes Amt bekleiden oder eine wichtige Funktion in der Gesellschaft ausüben kann.218 Die Gestalt des künftigen Herrschers ist also bei Cicero deutlich weiter und allgemeiner gefasst als etwa bei Isokrates, der sich an den jungen Fürsten Nikokles wendet. Das Motiv einer Warnung vor der Möglichkeit zu scheitern ist hier dahingehend verändert, dass der Lehrer seine Schüler einschätzt und ihnen entsprechend zu- oder eben abrät. Antonius nimmt eine Dreiteilung vor in vielversprechende Talente, eine mittlere Gruppe und Anfänger ohne jede Begabung.219 Während er für die dritte Gruppe die Ermahnung (admonebo) bereithält, sich bitte ein anderes Feld zu suchen, lehnt er das für die zweite mit einem emphatischen Verweis auf die humanitas ab, die auch das toleriere, was zwar nicht vollkommen, aber auch nicht ganz schlecht sei.220 Der begabte Redner, der mit dem Begriff der divinitas assoziiert ist, wird jedoch umworben und ist der eigentliche Adressat des Unterrichts, den Antonius zu geben verspricht: Cic. de orat. 2,87 de hoc igitur, qui erit talis, ut cohortandus adiuvandusque sit, ita loquamur, ut ei tradamus ea dumtaxat quae nos usus docuit, ut nobis ducibus veniat eo quo sine duce ipsi pervenimus, quoniam meliora docere non possumus.

Cato ad fil. frg. 14 ( Jordan); Leeman und Pinkster ad loc. betonen, dass Cicero nur an dieser Stelle in De oratore auf Catos Definition zurückgreift. Zu dieser vgl. die guten Überblicksdarstellungen von F.-H. Robling, Topik und Begriffsgeschichte am Beispiel des vir bonus-Ideals, in: Th. Schirren und G. Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium, Tübingen 2000, 67–80, sowie von M. Winterbottom, Quintilian and the Vir Bonus, JRS 54 (1964), 90–97, und von A. E. Walzer, Quintilian’s „Vir Bonus“ and the Stoic Wise Man, RSQ 33,4 (2003), 25–41. 218 Das Wort ornamentum in Verbindung mit civitas ist politisch zu verstehen, muss aber nicht direkt auf die höchsten Staatsämter bezogen werden, wie z. B. Cic. Planc. 23 (aus dem Jahr 54) zeigt, wo die Steuerpächter Zierde der Bürgerschaft genannt werden: flos enim equitum Romanorum, ornamentum civitatis, firmamentum rei publicae publicanorum ordine continetur. 219 Cic. de orat. 2,85. Die Rollen von natura und ingenium werden de orat. 1,113–121 behandelt. 220 Zu dem Begriff vgl. den Überblick, den J. Christes, Cicero und der römische Humanismus, Antrittsvorlesung, 24. Januar 1995, Humboldt-Universität zu Berlin, Phil. Fakultät II, Inst. für Klass. Philologie, Berlin 1995, gibt. Auf die hier behandelte Stelle geht Christes nicht ein. 217

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Im Folgenden vertritt Sulpicius in der bereits oben besprochenen Passage die Gruppe der sehr begabten Schüler, die Antonius zu unterrichten verspricht.221 4.3.2.4 Zum Schlussgespräch (de orat. 2,361–367) Antonius behandelt im Verlauf des zweiten Buches die Großkapitel über die inventio (2,114–216), die dispositio (2,307–332) und die memoria (2,350–361). Das Gespräch, das nun das Buch beschließt, ist in einem sehr urbanen Ton gehalten: Antonius hofft, mit seinen Ausführungen nicht unverschämt gewirkt zu haben, da er in Gegenwart des Catulus und des Crassus so viel über die technische Seite der Rhetorik (de dicendi ratione) gesprochen habe. Mit Blick auf die ‚jungen‘ Schüler (istorum aetas) meint er, dass er sich von ihnen vielleicht weniger stark hätte hinreißen lassen (movere) dürfen.222 Mit diesem Understatement erinnert Antonius an die Situation des Lehrgesprächs, das de oratore prägt, und an die besondere Protreptik in der Schrift, wo ja die Motivation der Lehrer eine zentrale Rolle spielt. Der eigentliche Anlass, so impliziert es Antonius, über die Regeln der Rhetorik zu sprechen, ist ihr Unterricht. Catulus dankt nun dem Antonius für seine Vorträge und lobt ihn; er habe sich immer gefragt, woher die Meisterschaft (divinitas) des Antonius in den Prozessreden stamme; nun aber wisse er, dass sie auf einer gründlichen und kritischen Auseinandersetzung mit der rhetorischen Theorie beruhten. Als exzellenter Redner kann Antonius nun als der beste Beweis für die Notwendigkeit dienen, die rhetorische Theorie zu kennen: Cic. de orat. 2,363 neque eo minus eloquentiam tuam et multo magis virtutem et diligentiam admiror, et simul gaudeo iudicium animi mei comprobari, quod semper statui neminem sapientiae laudem et eloquentiae sine summo studio et labore et doctrina consequi posse.

Cicero lässt den Catulus hier eine Formulierung des Vorworts zum zweiten Buch aufgreifen, wo die Notwendigkeit der doctrina betont wird, und schließt so einen Ring um das zweite Buch.223 Nimmt man noch die Bedeutung der sapientia für den Redner hinzu, so findet man einen zentralen Gedanken des Werks, der um die Notwendigkeit der rhetorischen Kunst und die Berechtigung ihrer Regeln kreist. Ciceros Gedankenführung ist hier, wie in der Forschung angemerkt worden ist,224 besonders mit Blick auf die Bildung des echten Antonius zirkulär; sie dient aber sehr gut der protreptischen Situation: Antonius ist das beste Vorbild für das Erlernen der rhetorischen Theorie,

Siehe oben S. 93 ff. In de orat. 1,126 (bei der Diskussion der Begabung als Voraussetzung) wird nur unterschieden, ob ein Schüler geeignet ist oder nicht. 222 Cic. de orat. 2,361 nam istorum aetas minus me fortasse movere debuit; zur Formulierung vgl. Leeman und Pinkster ad loc. 223 Cic. de orat. 2,5 (neminem […] sine dicendi doctrina); vgl. oben S. 105. 224 So Leeman und Pinkster ad Cic. de orat. 2,5 („Grundthese des ganzen Werks“). 221

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weil er als Redner selbst erfolgreich ist. Seine Fähigkeiten (copia und scientia) kommen auch den Lehrvorträgen zugute. Daher wundert sich Catulus, als Antonius sagt, er werde gleich verraten, was ihn zu seinen Vorträgen veranlasst habe; denn das Interesse der Schüler (studium adulescentium) und ihr aufmerksames Zuhören hätten bereits Grund genug sein können.225 Nun sagt Antonius, dass er, indem sein eigenes Zögern aufgegeben habe, dem Crassus jede Möglichkeit habe nehmen wollen, einen Lehrvortrag abzulehnen. Die Argumentation a minore des Antonius, womit er den Crassus lobt und umschmeichelt, zeichnet sich aus durch den Charme der Bescheidenheit; sie ist nicht nur dafür nützlich, dass der Vortrag des Crassus im dritten Buch sowie seine Themen elocutio und actio weiterhin mit Spannung erwartet werden, sondern erhöht auch die Figur des Crassus als Lehrers. Damit erreicht Antonius einen deutlich protreptischen Zweck, da Crassus als ein Vorbild für das Lernen erscheint: Cic. de orat. 2,364 quae ego sero, quae cursim arripui, quae subsicivis operis, ut aiunt, iste a puero, summo studio, summis doctoribus.

In seiner Antwort bezieht sich Crassus auf genau diese drei Punkte: Jugend, Fleiß, Lehrer. Bereits als Knabe sei er auf das Forum gekommen und dort mit Ausnahme seiner Zeit als Quästor immer gewesen; daher habe er nur wenig Gelegenheit gehabt (quid dico saepe? immo nonnumquam), Unterricht bei Rhetoriklehrern zu nehmen. Auch wenn die Aspekte Jugend und Fleiß eher in die praktische Seite der Ausbildung des Crassus fallen, sind sie doch deutlich sichtbar. An seinen Lehrern, die bereits im ersten Buch genannt worden sind,226 hebt Crassus hier die Gelehrsamkeit hervor (doctos homines […] doctissimos viros) und damit die Bedeutung der Theorie bzw. der systematischen Ausbildung. Daran schließt Crassus ein – für das Gespräch von De oratore typisches – Kompliment an, er habe niemanden gehört, der sich reicher (copiosius) und genauer (subtilius) als Antonius über das Thema geäußert habe. Es wird damit deutlich, dass das Schlussgespräch des zweiten Buchs nicht nur zu Crassus’ Rede im dritten Buch überleitet oder dem Austausch von Komplimenten dient, sondern eine protreptische Funktion hat, indem Crassus’ Rolle als Lehrer und Vorbild hervorgehoben wird. Hinzu kommt, dass ein letztes Zögern bei Crassus aufgehoben werden muss: Cicero führt die umgekehrte Protreptik – die Motivation der Lehrer durch die Schüler – auch an dieser Stelle fort und lässt Crassus sagen, dass er selbst, falls Antonius etwas ausgelassen und noch Platz für einen Vortrag gelassen hätte, nicht so bildungsfeindlich und unfreundlich wäre, einer Sache wegen ungehalten zu sein, die, wie er merke, die Schüler ausdrücklich wünschten (cupere).227 225 Cic. de orat. 2,363. 226 Vgl. Cic. de orat. 1,45. 227 Cic. de orat. 2,365 quod si esset aliter et aliquid intellegerem ab Antonio praetermissum, non essem tam inurbanus ac paene inhumanus, ut in eo gravarer, quod vos cupere sentirem.

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Hier erscheint wieder das für die Protreptik so wichtige Motiv des Wollens, das bereits für das Gespräch des ersten Buchs prägend war.228 Das Schlussgespräch dreht sich in einem heiteren Tonfall (Crassus wird an seine Pflichten als Gastgeber erinnert, deren Verletzung eine zensorische Rüge zur Folge hätte – arg peinlich für einen Mann, der das Amt des Zensors selbst gerade erst [92 v. Chr.] innehatte) scheinbar darum, dass Crassus sein Zieren und Zögern aufgeben und endlich einwilligen solle, den versprochenen Lehrvortrag zu halten. Das tut er dann auch, indem er für die Zeit nach der Mittagsruhe zumindest eine Art kleines Gespräch (loquemur aliquid) ankündigt. Cicero lässt das zweite Buch so ausklingen, dass das Gespräch von understatement geprägt ist und gerade im Scherzhaften die Bedeutung und die Würde der Dialogteilnehmer aufscheinen lässt. Er beendet das Buch jedoch mit dem Motiv des Wollens, das den letzten Satz des Buchs prägt: Cic. de orat. 2,367 omnes se vel statim vel si ipse post meridiem mallet, quam primum tamen audire velle dixerunt.

Vordergründig geht es um den Wunsch der Zuhörer, den Crassus möglichst bald (quam primum) und nicht erst am nächsten Tag zu hören; die prägnant am Schluss der indirekten Rede stehende Formulierung audire velle greift jedoch de orat. 2,365–7 te aliquando, Crasse, audiamus […] vos cupere […] te audire cupiamus […] auf. Die hohe Motivation der Zuhörer und die sich langsam ergebende der Lehrer – die protreptischen Grundthemen von De oratore – werden von Cicero so an das Ende des Buches gestellt, dass sich ein Rahmen ergibt, wenn man zum einen den protreptischen Charakter des Vorworts (de orat. 2,1–11) bedenkt, zum anderen das Auftreten des protreptischen Hören-Wollen-Motivs (de orat. 2,16 cupidus audiendi). 4.3.3 Das dritte Buch 4.3.3.1 Zum Vorwort (de orat. 3,1–16) Im Vorwort zum dritten Buch erinnert Cicero an den plötzlichen Tod des Crassus im Jahre 91 v. Chr. Der Nachruf würdigt zunächst allgemein den Hauptredner des Buchs und sein Andenken. In der Forschung ist dieser Text, der Elemente aus Historiographie, Biographie und Konsolationsliteratur miteinander kombiniert, ausführlich beschrieben worden.229 Wenn man nach seiner Funktion für die Protreptik in De oratore fragt, so liegt allgemein die Betonung der Vorbildhaftigkeit des Lehrers auf der Hand. Dabei wird Crassus zunächst als Politiker gewürdigt, und sein Tod wenige Tage nach 228 Vgl. Cic. de orat. 1,206 und oben S. 99 f. 229 Zur Topik der laudatio funebris und der consolatio, die Cicero hier anwendet, und zum Vorwort allgemein vgl. Leeman, Pinkster, Wisse, Bd. 4, S. 103–107.

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dem gegen den Konsul C. Marcius Philippus gerichteten Senatsbeschluss erscheint als eine Art Martyrium für die res publica. Crassus sei dadurch der Zeit beraubt worden, in der ein Politiker nach dem Höhepunkt seiner Laufbahn Würde und Ansehen genießen kann.230 Cicero verbindet dabei in sehr deutlicher und für die Protreptik kennzeichnender Weise Rhetorik mit Politik,231 indem er sagt, dass Crassus auf dem Höhepunkt der Krise das Glanzstück seiner Beredsamkeit abgeliefert habe. Cic. de orat. 3,3 hic, ut saepe inter homines sapientissimos constare vidi, quamquam hoc Crasso, cum aliquid accuratius dixisset, semper fere contigisset, ut numquam dixisse melius putaretur, tamen omnium consensu sic esse tum iudicatum, ceteros a Crasso semper omnis, illo autem die etiam ipsum a se se superatum.

Auch wenn Crassus mit seiner Politik scheitert und – so Cicero – seinen Versuch, die Sache des Senats in einer schwierigen Stunde zu vertreten, mit dem Leben bezahlt, illustriert er doch den Gedanken, dass das Wirken eines Politikers im Staat auf seiner Beredsamkeit beruhen kann. Dabei gilt, dass sein Einfluss umso größer wird, desto größer die Beredsamkeit ist.232 Lässt man die Frage beiseite, wie sehr dieser Bezug Ciceros autobiographisch gedeutet werden kann,233 so ist besonders der Zusammenhang mit Crassus’ Lob der Beredsamkeit im ersten Buch der Schrift evident; denn Crassus ist – auch wenn er in der Sache keinen Erfolg hat – selbst ein Beispiel für die Macht der Rhetorik, die er preist. Cicero sagt, Crassus habe sich mit seiner Rede gegen Philipp selbst übertroffen (ipsum a se se superatum); dieser agonale Aspekt, der dadurch charakterisiert ist, dass es die Möglichkeit gibt, besser zu sein als ein anderer (oder eben als man selbst), verweist auf Crassus’ Lob der Rhetorik (de orat. 1,33 […] in hoc hominibus ipsis antecellat), wo er in Verbindung mit der These von der Seltenheit echter Redner steht.234 Der orator übertrifft die anderen Menschen dort, wo die Menschen den Tieren überlegen sind, nämlich im Gebrauch der Sprache.235 Wenn man diesen Bezug herstellt,

230 Cic. de orat. 3,7; der Gedanke ähnlich de orat. 1,1. 231 Siehe dazu oben S. 19 ff. (zu Isokrates). 232 Diese These wird von Dekadenzmodellen, wie sie bei Tacitus (dial. 40,1) zu finden sind, stillschweigend akzeptiert. Zur Verknüpfung von Beredsamkeit und Politik in der Zeit der späten Republik vgl. allgemein H. van der Blom, Oratory and Political Career in the Late Roman Republic, Cambridge 2016. 233 Vgl. unten S. 192 f. zu Cic. off. 1,77. 234 Cic. de orat. 1,32 quid tam porro regium tam liberale tam munificum quam opem ferre supplicibus, excitare adflictos, dare salutem, liberare periculis, retinere homines in civitate? Cicero bewertet Crassus’ Rede mehrfach; dabei überwiegen zunächst Bewertungen, die auf den Stil und die Qualität der Rede abzielen (de orat. 3,4 multa a Crasso divinitus dicta esse ferebantur); die politische Seite streift Cicero explizit erst dort, wo er den Tod des Crassus als großen Verlust für den Staat bezeichnet (de orat. 3,8). 235 Dazu siehe oben S. 85.

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dann findet sich in der Beschreibung, die Cicero von Crassus’ Auftritt im Senat am 13. September 91 gibt, ein deutlich protreptischer Zug. Es lässt sich nämlich schließen, dass so, wie Crassus durch eine gewaltige Anstrengung zu einer Höchstleistung gelangte, auch die, die ihn nachahmen oder als Vorbild nehmen, Großes erreichen können. Auf den enkomiastischen Abschnitt des Nekrologs, wo Cicero die Glückseligkeit des Crassus preist, weil er so früh gestorben sei, dass er viel Schlimmes in Rom nicht habe erleben müssen (de orat. 3,9–13), folgt am Schluss des Prologs ein für Ciceros Protreptik sehr aufschlussreicher Vergleich des Crassus als literarischer Figur mit Platons Sokrates (de orat. 3,15–16). Cicero knüpft an den Gedankengang des zweiten Vorworts an, wo er den historischen Crassus gegen Vorwürfe verteidigt und seine Bildung gelobt hatte, indem er nun fordert, dass die Leser von De oratore über den echten Crassus Größeres vermuten sollten, als sie es anhand der Figur des Dialogs tun könnten, weil es auch Platons Lesern so ergehe, dass sie bei der Lektüre seiner mit göttlicher Inspiration verfassten Werke trotzdem über den Haupthelden noch Größeres denken, als der Text ahnen lässt. Ciceros Geste schriftstellerischer Bescheidenheit (de orat. 3,14 […] nequaquam parem illius ingenio, at pro nostro tamen studio meritam gratiam debitamque referamus) ist in der Forschung zu Recht so gedeutet worden, dass es Cicero hier – wohl gegen die Evidenz der historischen Persönlichkeiten und mit einem Spiel literarischer Umkehrung – vor allem auf die Analogie Platon/Cicero zu Sokrates/Crassus ankomme. Das führe paradoxerweise dazu, dass später im Dialog der ciceronische Sokrates dem griechischen vorhalte, er sei für die Trennung von Rhetorik und Philosophie verantwortlich.236 Wenn man fragt, warum Cicero Crassus an dieser Stelle mit der Gestalt des Sokrates verknüpft und dabei auch einen Widerspruch dieser Art in Kauf nimmt, lässt sich zunächst allgemein auf Ciceros sehr vielfältige und kunstvolle Adaption sokratisch-platonischer Motive in De oratore hinweisen.237 Im Hinblick auf die Protreptik im Dialog ist ein Hinweis auf Scaevolas Vergleich von Sokrates mit Crassus im ersten Buch sinnvoll (de orat. 1,204).238 Auf den ersten Blick ist es wenig plausibel, dass Cicero im persönlichen Vorwort einen Bezug auf das Zwischengespräch des ersten Buchs herstellen will, weil Scaevola dort begründet, warum die knappen Ausführungen des Crassus für den Moment ausreichend seien für diejenigen, die die Rhetorik lernen wollten; im dritten Buch wird Crassus dagegen einen detaillierten Lehrvortrag halten, der sich vom eher propädeutischen Charakter des ersten Buchs merklich unterscheidet. Trotzdem lässt sich Ciceros Aufforderung an seine Leser, über Crassus etwas Größeres zu vermuten (de orat. 3,15 […] maius ut quiddam de L. Crasso, quam quantum a nobis exprimetur, suspicentur), nicht nur als Hinweis auf das erste Proömium (de orat. 236 Cic. de orat. 3,60–61. Vgl. Leeman, Pinkster, Wisse, S. 87 und ad de orat. 3,60. 237 Vgl. den Überblick bei D. Mankin, Cicero, De Oratore, Book III, Cambridge 2011, S. 21–23. 238 Siehe dazu oben S. 99 f.

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1,16) und Crassus’ Schlusswort des ersten Buches (de orat. 1,264) sehen, wo jeweils (wie bereits gezeigt worden ist) betont wird, dass die Rhetorik in vielen Beziehungen etwas Größeres sei. Auch im Gespräch von de orat. 1,204 wird genau darauf angespielt: Sulpicius wendet sich an Crassus und sagt, dass Cotta und er nun wüssten, worum man sich bemühen müsse, was alleine immerhin schon etwas Großes (quod ipsum est tamen magnum) sei; dass sie aber die genauen Methoden dafür kennenlernen wollten. Die jeweilige Parallelisierung Sokrates/Crassus und der Hinweis von magnum auf das maius-Motiv setzen beide Stellen miteinander in Bezug. Hinzu kommt, dass ein zumindest indirekter Verweis auf die Tür-Metaphorik aus de orat. 1,204 sehr gut an den Beginn des dritten Buchs passt. Dort hatte Scaevola gesagt, es sei zunächst genug, wenn ein Zugang (aditu ianuaque patefacta) geöffnet und ein Weg gezeigt worden sei; nun beginnt Crassus seinen Lehrvortrag. Cicero verknüpft also zwei Gedanken miteinander, die eigentlich verschieden sind, aber doch analog verstanden werden können: zum einen den, dass die Rhetorik etwas Größeres sei, als die Rhetoriklehrer ihren Schülern weismachen möchten, zum anderen den, dass Crassus eine bedeutendere Persönlichkeit gewesen sei, als man es selbst beim Lesen von De oratore vermuten könnte. Die Funktion dieser raffinierten Verbindung der Textebenen besteht sicherlich darin, dass sie einander illustrieren und ihre Aussagen mithilfe der Analogie glaubhaft erscheinen lassen. 4.3.3.2 Zum einleitenden Gespräch (de orat. 3,17–18) In der Szenerie, die Crassus’ Vortrag vorangeht und deren Ort möglicherweise an den Hain der platonischen Akademie erinnert (in media silva),239 fragt Caesar nach der ausgedehnten Mittagspause nun Crassus, ob man sich zum Gespräch setzen wolle; sie wollten ihn an sein Versprechen nur erinnern (admonere), keineswegs seine Einlösung verlangen (flagitare). Crassus erwidert, er sei nicht so dreist, ihnen das Geschenk länger vorzuenthalten: Cic. de orat. 3,18 tum Crassus: an me tam impudentem esse existimatis, ut vobis hoc praesertim munus putem diutius posse debere?

239 Die Kommentare (Leeman, Pinkster und Wisse sowie Mankin) verweisen auf Hor. epist. 2,2,45 atque inter silvas Academi quaerere verum. Zu denken geben sollte jedoch, dass der Kommentar des Porphyrio die metaphorische Bedeutung des Wortes silva betont: Bene Acad(emi) s(ilvas), [vel] quia contra omnem sectam Academici disputant, qui dicunt latere veritatem, et ideo semper esse quaerendam. Vielleicht hat auch Horaz nicht an einen wirklichen Wald gedacht. Cicero selbst bezeichnet die Akademie nicht als Wald (z. B. leg. 1,54), sondern als einsamen Platz bzw. Garten (hortuli in fin. 5,2). Zur Akademie, ihrer Lokalisierung und ihrer Zerstörung während des Mithridatischen Kriegs vgl. A. Caruso, Akademia. Archeologia di una scuola filosofica ad Atene da Platone a Proclo (387 a. C.–485 d. C.), Athen, Paestum 2013; dazu R. Lamberton, BMCR 2013.09.37. Die Anspielung von Cic. de orat. 3,18 auf Platon ist dagegen unstrittig wegen opacus et frigidus (Phaedr. 229b).

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Das Wort munus hat in Ciceros Schrift De oratore verschiedene Bedeutungen; in den meisten Fällen bezeichnet es eine ‚Aufgabe‘ oder einen ‚Aufgabenbereich‘, so ein ‚Amt‘ im Staat,240 die Aufgabe des Redners bzw. der Rhetorik,241 den Bereich, wo eine Tugend wirkt.242 Die Aufgabe des Schriftstellers bzw. des Sprechers im Dialog ist ebenfalls ein munus.243 Die ursprüngliche Bedeutung ‚Gabe‘ findet sich zum einen im Sinne von ‚Begabung‘, zum anderen im Sinne von ‚Geschenk‘.244 Diese Bedeutung kommt im übertragenen Sinne (‚geistiges Geschenk‘) in De oratore nur hier in 3,18 vor.245 Vergleichbar mit der Aussage an dieser Stelle ist die auch von Cicero gepflegte literarische Konvention, eine Schrift, die jemandem gewidmet wird, als ‚Geschenk‘ zu bezeichnen.246 So nennt Cicero sein Brutus gewidmetes Buch Orator ein munus.247 Von Varro erhofft er sich ein Geschenk als Erwiderung (remunerari) seiner vier Bücher Academica posteriora, die Varro gewidmet sind.248 Die Bücher De oratore bezeichnet Cicero dagegen dem Adressaten, seinem Bruder Quintus, gegenüber nicht als Geschenk (munus).249 Der Grund dafür ist sicherlich zum einen darin zu suchen, dass Cicero, wie im Vorwort zu Buch 1 zu sehen ist,250 gegenüber seinem Bruder die Asymmetrie einer Beziehung von Lehrer und Schüler vermeiden will. Das Überreichen einer Gabe ist, wie die Parallelen zeigen, aber gerade ein Hinweis auf eine solche Beziehung oder ein Verhältnis, das dem von Schüler und

240 Aufgabe bzw. Amt im Staat Cic. de orat. 1,199; 2,76. 241 Aufgabe des Redners: Cic. de orat. 1,116; 1,252; 1,262; 1,264; 2,88; 3,81. Aufgabe einer ars bzw. der Rhetorik: Cic. de orat. 2,38; 2,41; 2,62; 3,121. 242 Cic. de orat. 2,345. 243 Cic. de orat. 2,11; 3,176 bzw. 3,119. 244 Cic. de orat. 1,115 Begabung bzw. 2,286 Geschenk (Bestechung). Zum Unterschied zwischen donum (freiwillige Gabe) und munus (Geschenk, das einer Verpflichtung folgt) vgl. M. Corbier, munus, munera, DNP 8 (2000), 483–486, hier 483. 245 Vergleichbar ist allenfalls die Stelle Cic. de orat. 1,40 (munus als ‚Gabe‘ bzw. als ‚Amt‘, ‚Erfüllung eines Amts‘ eines Gelehrten an einen Schüler) tuo magis studio quam proprio munere aliquo disertorum ius a nobis civile didicisti. 246 Vgl. dazu die Untersuchung von S. Culpepper Stroup, Catullus, Cicero, and a Society of Patrons. The Generation of the Text, Cambridge 2010, allgemein zu munus 66–72; zur Verwendung des Begriffs bei Cicero besonders 88–97. Stroup hebt bei ihrer Analyse der Wortgeschichte besonders die sozioökonomischen Wurzeln hervor und bezieht sich auf das Verhältnis von Patron und Klient und seine wechselseitig wirkenden Mechanismen in der römischen Gesellschaft. 247 Cic. orat. 35 volo enim mihi tecum commune esse crimen, ut, si sustinere tantam quaestionem non potuero, iniusti oneris impositi tua culpa sit, mea recepti; in quo tamen iudicii nostri errorem laus tibi dati muneris compensabit und Cic. orat. 54 et quoniam coepi iam cumulatius hoc munus augere quam a te postulatum est – tibi enim tantum de orationis genere quaerenti respondi etiam breviter de inveniundo et conlocando – ne nunc quidem solum de orationis modo dicam, sed etiam de actionis; vgl. auch Cic. part. 140: Marcus der Sohn bezeichnet ein weiteres Werk, das sein Vater ihm ankündigt, als ein munus. 248 Der Brief an Varro: Cic. fam. 9,8,1. Zum Motiv des remunerari vgl. auch Cic. Brut. 15 mit der Diskussion von Strout 93–97; zu Cicero und Brutus vgl. allgemein Rathofer, der auf das Motiv des munus nicht näher eingeht. 249 Im Vorwort zu Buch 2, de orat. 2,11, heißt munus bezeichnenderweise ‚Aufgabe‘. 250 Dazu siehe oben S. 79 ff.

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Lehrer in gewisser Weise gleicht.251 In ähnlicher Weise stellt Cicero im programmatischen und seine Tätigkeit resümierenden Vorwort zum 2. Buch von De divinatione seine Bemühungen, die Jugend mit seinen Büchern zu unterrichten und zu erziehen, als ein Geschenk dar, das er dem Staat bringe: Cic. div. 2,4 quod enim munus rei publicae adferre maius meliusve possumus, quam si docemus atque erudimus iuventutem […]?

Zum anderen erwartet in De oratore Cicero von seinem Bruder offenbar nicht, dass er ihm als literarisches Gegengeschenk selber eine Schrift widme. Diese beiden Überlegungen ex negativo sind hilfreich für das Verständnis der Aussage in de orat. 3,18; denn Crassus spricht hier mit dem Signalwort munus in aller Knappheit und Urbanität so etwas wie eine Widmung des anschließenden Lehrvortrags über elocutio und actio aus, der das dritte Buch umfasst. Nimmt man den Verlauf der Protreptik in De oratore, so zeigt sich, dass die Spannung der umgedrehten Aufforderung der Schüler an die Lehrer auch hier noch zu spüren ist, da Crassus von den Schülern freundlich, aber bestimmt an seine Bereitschaft erinnert wird, einen Lehrvortrag zu halten.252 Diese Spannung löst der Hauptredner, indem er sich eindeutig mit seiner Rolle als Lehrer identifiziert und das mit der Aussage verdeutlicht, dass er seine Lehre den Schülern wie eine Gabe schenke. Hier ist also das protreptische Motiv der Gabe sehr deutlich wahrnehmbar. Nun geht die Gruppe in den Hain und lässt sich dort nieder unter großer Spannung auf das, was gleich kommen wird.253 Die Erwähnung der magna audiendi expectatio der Zuhörer steht prägnant am Schluss der Einleitung, ehe Crassus seinen Vortrag beginnt. Hier findet sich eine direkte Anknüpfung an das Gespräch am Ende des zweiten Buchs, das von dem Schlagwort audire velle geprägt ist:254 die Bereitschaft und die Freiwilligkeit, mit denen die Zuhörer den Vorträgen folgen, werden so im dritten Buch weiterhin betont. Das Motiv der expectatio erscheint zudem im Gespräch von De oratore an verschiedenen Stellen.255 Wenn Sulpicius im ersten Buch hofft, Crassus werde mit seinem Vortrag die Erwartung seines täglich gehegten Wunsches erfüllen, so spiegeln sich die Gesprächssituation und die besondere Protreptik des Dialogs wider: der 251

Zum protreptischen Motiv der Gabe siehe oben S. 20 (bei Isokrates) und S. 32 (bei Dionysios von Halikarnassos); zu den Stellen, wo Cicero seinem Sohn gegenüber von einem munus spricht und damit seine an ihn gerichteten Schriften meint (Cic. part. 132 isto enim exposito munus promissi omne confecero; 140 ego vero ac magno quidem studio, mi pater, multisque ex tuis praeclarissimis muneribus nullum maius expecto. Zu Cic. off. 3,121 habes a patre munus, Marce fili, mea quidem sententia magnum, sed perinde erit, ut acceperis), siehe unten S. 176 f. 252 Cic. de orat. 3,17 etsi admonitum venimus te, non flagitatum. Hier handelt es sich um Wortspiel mit der vordergründigen Bedeutung ‚erinnern‘ und der protreptischen ‚ermahnen‘. 253 Cic. de orat. 3,18. 254 Cic. de orat. 2,366–367; zum Zusammenhang mit dieser Stelle vgl. Leeman, Pinkster, Wisse ad 3,19. 255 Leeman, Pinkster, Wisse ad 3,18 erkennen hier eine typische Dialogsituation und verweisen auf Cic. rep. 1,37 permagnam tu quidem expectationem […] imponis orationi meae (Scipio vor seinem Vortrag).

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Lehrer ist zögerlich, die Schüler dagegen begierig.256 Es kommt aber noch ein weiterer Aspekt hinzu, der sich aus der expectatio im Kontext der ars ergibt. Sie begegnet zunächst in der Beschreibung des Lampenfiebers, die Antonius gibt (de orat. 1,119–121): gerade die besten Redner kennen, so Antonius, das Gefühl, sich vor der Erwartung des Publikums regelrecht zu fürchten, und geraten zu Beginn einer Rede schnell in große Verwirrung.257 Spätere Passagen zeigen, dass sich diese Furcht und insbesondere die Schwierigkeiten, aus denen sie erwächst, mithilfe der Rhetorik durchaus rational kontrollieren lassen. So beschreibt Antonius innerhalb der Lehre von den Affekten (über das movere in de orat. 2,185–216), dass er sich bemühe, mit einer möglichst feinen Nase zu erspüren, was das Publikum denke und erwarte.258 Wenn die allgemeine Stimmung der Absicht der Rede zuwiderläuft, muss der Redner versuchen, die Regeln der Affektbeeinflussung (movere) in seinem Sinne anzuwenden. In der Lehre von dispositio vertritt Antonius die Position, dass wichtige Argumente an den Anfang (und dann an den Schluss) eines Gedankengangs bzw. einer Rede gesetzt werden müssen, um der Erwartung der Hörer zu genügen.259 Aus diesen Stellen geht hervor, dass die expectatio in den Bereich der rhetorischen Techne fällt.260 Wenn Cicero in De orat. 3,18 nun die magna audiendi expectatio, die in Crassus’ Publikum herrsche, ausdrücklich hervorhebt, so werden damit nicht nur das Thema als interessant und das Publikum als interessiert charakterisiert, sondern Crassus erscheint auch als jemand, der einer solchen Situation gewachsen ist und ihr professionell be-

256 Sulpicius an Crassus de orat. 1,205 ea si paulo latius dixeris, expleris omnem expectationem diuturni desiderii nostri. Vgl. de orat. 2,26 (Caesar zu Catulus) sed cur impedimus Antonium? cuius audio esse partis, ut de tota eloquentia disserat, quemque iam dudum et Cotta et Sulpicius expectat? Vgl. auch de orat. 1,137 nihil expectatione vestra dignum und de orat. 2,74 tum Catulus: quo ista maiora ac mirabiliora fecisti, eo me maior expectatio tenet, quibusnam rationibus quibusque praeceptis ea tanta vis comparetur. 257 In de orat. 1,208 beschreibt Antonius dagegen die Situation, dass er auf ein gewisses Desinteresse des Publikums trifft, wenn er in einem Prozess im Anschluss an Crassus spricht, da niemand erwarte, dass nun noch etwas Besseres kommen könne: verum hoc ingrediar ad ea quae vultis audacius, quod idem mihi spero usu esse venturum in hac disputatione, quod in dicendo solet, ut nulla expectetur ornata oratio. Die Unsicherheit des Redners und sein Respekt vor der Aufgabe bzw. der Situation sind Gegenstand von Proömien, da sie die Bescheidenheit bzw. Besonnenheit des Sprechers gut zum Ausdruck bringen; vgl. Cic. Manil. 1. und Mil. 1. 258 Cic. de orat. 2,186–187 […] equidem cum adgredior in ancipiti causa et gravi ad animos iudicum pertractandos, omni mente in ea cogitatione curaque versor, ut odorer quam sagacissime possim quid sentiant, quid existiment, quid exspectent, quid velint, quo deduci oratione facillime posse videantur. 259 Cic. de orat. 2,313 res enim hoc postulat, ut eorum exspectationi qui audiunt quam celerrime succurratur; cui si initio satis factum non sit, multo plus sit in reliqua causa laborandum; male enim se res habet, quae non statim, ut dici coepta est, melior fieri videtur. 260 Die Behandlung des Begriffs expectatio in den einschlägigen modernen Lexika und Darstellungen (Ernesti, Lausberg, HWRh) ist sehr knapp gehalten bzw. fehlt ganz; vieles, was in diesen Bereich zu gehören scheint, fällt allerdings in den weiten Bereich des iudicem attentum parare (Lausberg, 269–271). Zur Figur παρὰ προσδοκίαν vgl. Leeman, Pinkster, Rabbie ad Cic. de orat. 2,289.

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gegnet. Das gehört durchaus in den Bereich der Protreptik in De oratore, wo Cicero die Persönlichkeit des Lehrers und ihre Wirkung auf die Schüler hervorhebt und als vorbildlich darstellt. 4.3.3.3 Über die virtutes elocutionis (de orat. 3,19–55) Crassus beginnt seine programmatischen Ausführungen über die Einheit der Rhetorik in res und verba (de orat. 3,19–25) mit Anleihen bei der Proömialtopik, indem er nachweist, dass er gar nicht anders könne, als das Wort ergreifen, weil ihm seine Verpflichtungen anderen gegenüber keine Wahl ließen: Cic. de orat. 3,19 tum Crassus: cum auctoritas atque amicitia vestra, tum Antoni facilitas eripuit, inquit, mihi in optima mea causa libertatem recusandi.261

Im Folgenden wird zunächst auf den allgemeinen Gedanken der συμπάθεια, des Zusammenhangs aller Dinge, verwiesen, dann auf (Ps.-)Platons (Epin. 992a) Konzept eines Bandes, das alle Künste (artes) miteinander verbinde, und schließlich auf die Einheit der Redekunst.262 Die kunstvolle und stufenartige Struktur dieser Argumentation ist von der Forschung diskutiert und gewürdigt worden.263 Hinzufügen lässt sich, dass Cicero hier auf allen drei Stufen das maius-Argument aufgreift. So sagt Crassus, jene alten Philosophen hätten, weil sie im Geist etwas Größeres erfasst hätten, offenbar viel mehr gesehen, als unser Scharfsinn beachten könne;264 Platons Aussage über das Band der Künste sei etwas Erhabeneres, als dass man es von einer niedrigen Position aus erblicken könne;265 schließlich könnten die, die in der Rhetorik nur oberflächlich gebildet seien, das Ganze nicht umfassen,266 weil es – wie sich leicht ergänzen lässt – zu groß ist. Cicero schafft hier also eine Verbindung besonders zu den Vorworten des ersten und des dritten Buchs, wo das maius-Motiv und seine protreptische Funktion deutlich

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Wiederum eine Anknüpfung an das Schlussgespräch von Buch 2: de orat. 2,364 tum ille (sc. Antonius), adimere, inquit, omnem recusationem Crasso volui und 3,367 (Caesar spricht) tibi causa non est, cur recuses. Vergleichbar hinsichtlich der Proömialtopik ist der Gedankengang in Cic. div. in Caec. 1–4; Cicero begründet den Bruch mit seiner Gewohnheit, nicht als Ankläger aufzutreten, damit, dass er in diesem Prozess ex meorum necessariorum tempore (4) handele. Zum platonischen Hintergrund dieses Gedankens vgl. Leeman, Pinkster, Wisse, S. 136, mit dem Hinweis auf Pl. Phdr. 261a–b. Leeman, Pinkster, Wisse, S. 131–2, sprechen von einer Gliederung in vier (drei und eine) Stufen. Cic. de orat. 3,20 ac mihi quidem veteres illi maius quiddam animo complexi plus multo etiam vidisse videntur, quam quantum nostrorum ingeniorum acies intueri potest […]. Cic. de orat. 3,22 […] hoc quoque videtur esse altius, quam ut id nos humi strati suspicere possimus […]. Cic. de orat. 3,24 […] oppressi iam sumus opinionibus non modo vulgi, verum etiam hominum leviter eruditorum, qui, quae complecti tota nequeunt, haec facilius divulsa et quasi discerpta contrectant […].

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greifbar sind.267 Daraus ergibt sich, dass Crassus am Beginn seiner Ausführungen für die Rhetorik (bzw. seine Auffassung davon) wirbt, indem er zum einen den Gegenstand und somit dessen Attraktivität erhöht und zum anderen – wie besonders in der Polemik gegen die homines leviter eruditi des letzten Arguments deutlich wird – auf die hohen Anforderungen an einen Lehrer hinweist. Die Protreptik hat nun im dritten Buch von De oratore ihren umgedrehten Charakter verloren, der darin bestand, dass die Schüler um die Lehrer werben. Crassus’ Ausführungen im dritten Buch sind ein Lehrvortrag, der sich immer wieder an die Schüler richtet. Diesen für den Verlauf der protreptischen Situation bzw. die Paränese wichtigen Umstand zeigt besonders das kurze Zwischengespräch in de orat. 3,46–47. Zunächst äußert sich Crassus aber über die dissimilitudo bzw. varietas der Redner und ihrer Stile (25–27); dabei lehnt er es ab, einer bestimmten Richtung den Vorzug vor anderen, die ebenfalls Lob verdienten, zu geben, solange nur die Qualität hervorragend sei (perfectum; 34). Für den Unterricht ergebe sich daraus, dass nicht die gleichen Vorschriften für alle gelten könnten und dass ein Lehrer auf die Anlage (natura) seiner Schüler achten müsse. Das illustriert Crassus mit einem Beispiel: so habe Isokrates bei Ephoros, der eher zögerlich und scheu war, die Sporen gebraucht, bei dem zum Überschwang neigenden Theopompos dagegen die Zügel; dabei sei es nicht seine Absicht gewesen, beide einander gleichzumachen, sondern in jedem das zu bestärken, was die jeweilige Begabung zulasse. Der Unterricht der Redekunst und das entsprechende Regelwerk kennen, wie man aus der Anekdote ablesen kann, die gezielte Förderung von Individualität.268 Anschließend spricht Crassus über die Latinitas, ein Gebiet, das im Kontext von De oratore eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint und aus dem Anfängerunterricht (puerilis doctrina) vorausgesetzt wird (37–46). Hier gelten wiederum nicht Toleranz und Vielfalt, sondern, wie besonders Crassus’ Ausführungen über die gute und richtige Aussprache der Wörter zeigen, ein bestimmtes Ideal, das sowohl bäurische Schroffheit (rustica asperitas) als auch Ungewöhnlichkeiten, wie sie Fremden unterlaufen, (peregrina insolentia) vermeidet (44). Als Crassus bemerkt, dass Cotta und Sulpicius dazu neigen, den Buchstaben I auszulassen, dagegen das E sehr voll auszusprechen, und dass sie damit nicht das Vorbild der alten Redner, sondern die Art von Schnittern nachahmten (46), kommt es zu einem kurzen Gespräch. Crassus sagt, er rede so, dass Cotta und Sulpicius etwas über ihre eigenen Fehler (vitia) hören könnten. Sulpicius stimmt sofort zu und meint, dass sie ja genau das wollten und dass sie so die Fehler gleich ablegen könnten. Das Gespräch bekommt einen ironischen Ton, als sich

267 Dazu siehe oben S. 80. 268 Cic. de orat. 3,36; zum Hintergrund dieser Wanderanekdote (bei Cicero auch noch Brut. 204 und Att. 6,1,12) vgl. Leeman, Pinkster und Wisse ad loc.

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herausstellt, dass einige Fehler der Nachahmung des Crassus zu verdanken seien;269 diese Punkte wolle er nun geflissentlich übergehen, sagt Crassus, um sich nicht selbst lächerlich zu machen, anderes aber, was kritikwürdig sei, im Folgenden immer wieder ansprechen. In diesem Zwischengespräch zeigt sich also, dass aus der Protreptik im dritten Buch von De oratore ein konkreter und individueller Unterricht geworden ist. Cicero zeigt dabei einen Crassus, der ähnlich wie Isokrates auf seine Schüler und ganz bewusst auf ihre jeweiligen Stärken und Schwächen eingeht. Als Crassus beim Übergang zum ornatus sich zum aptum äußert, knüpft er an die Bemerkung des Antonius im ersten Buch an, er habe zwar viele beredte Leute (diserti), aber noch keinen echten Redner (eloquens) gesehen (de orat. 1,94). Ebenso wie das bereits im ersten Buch der Fall war,270 wird auch hier die Ursache für diesen Missstand in der Qualität der Lehrbücher und des Unterrichts gesehen. Crassus fordert daher seine Zuhörer auf, auf die konventionellen Fachlehrer der Rhetorik mit Spott herabzusehen: Cic. de orat. 3,54 quare omnes istos me auctore deridete atque contemnite, qui se horum, qui nunc ita appellantur, rhetorum praeceptis omnem oratorum vim complexos esse arbitrantur neque adhuc, quam personam teneant aut quid profiteantur, intellegere potuerunt.

Die Wahl des richtigen Lehrers, die Crassus hier zum Gegenstand macht, gehört in den Kern der Protreptik; den Lehrern wird vorgeworfen, dass sie nicht das Ganze im Blick hätten und nicht in der Lage seien, ihre Rolle (persona) und das, was sie lehren (profiteri), zu reflektieren.271 Aus der Gesprächssituation lässt sich der Schluss ziehen, dass Crassus bei seinen Schülern, die sich die richtigen Lehrer wählen sollen, genau diese Fähigkeit voraussetzt und sie daher im Folgenden in den Bereich führt, wo die Rhetorik eine philosophische Grundlage bekommt. Von dieser Stelle hier spannt sich der Bogen bis de orat. 3,144–147,272 wo sich zeigen wird, wie unterschiedlich die Schüler auf diese Aufforderung reagieren. 4.3.3.4 Über Rhetorik und Philosophie (de orat. 3,56–81) Nun folgt Crassus’ große Erzählung von der ursprünglichen sapientia (55–73), wo Philosophie (cogitandi pronuntiandique ratio) und Rhetorik (vis dicendi) ungetrennt gewesen seien (56), und von der Tat des Sokrates, der eben diese Einheit dauerhaft aufgehoben habe (60–61).273 Crassus beginnt mit Charakterisierung der Rhetorik als

269 Vgl. oben S. 108 f. zu Cic. de orat. 2,89, wo Antonius die jungen Leute auffordert, die Vorbilder (also Crassus) nachzuahmen. 270 Vgl. dazu oben S. 81. 271 Zum Begriff persona siehe Leeman, Pinkster, Wisse ad loc. 272 Zur Struktur vgl. Leeman, Pinkster, Wisse, S. 197–198. 273 Vgl. dazu ausführlich Leeman, Pinkster, Wisse, S. 209–223.

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einer von den wichtigsten Tugenden (una quaedam de summis virtutibus; de orat. 3,55) und streift die Frage nach ihrem Missbrauch mit der Feststellung, dass sie mit Rechtschaffenheit und Klugheit einhergehen müsse.274 Dieser Abschnitt berührt die Frage nach der Protreptik insofern, als dass zum einen immer wieder betont wird, dass es bei allem im Kern um die Erziehung und Ausbildung junger Leute gehe. So erscheint der homerische Phoinix,275 der Erzieher des jungen Achill, als Beispiel aus der mythischen Zeit, wo es eins gewesen sei, richtiges Handeln und richtiges Reden zu lernen; den Spezialisten, die sich später auf einzelnen Fachgebieten wie der Poesie, der Geometrie usw. hervorgetan haben, wird bezeichnenderweise nachgesagt, sie hätten sich ganz den Künsten gewidmet, deren eigentlicher Zweck ein pädagogischer gewesen sei, nämlich die Ausbildung der Jugend.276 Auch bei der von Sokrates ausgegangenen Trennung von Philosophie und Rhetorik geht es um eine Spezialisierung der Lehrer und um den Streit um die Schüler: Cic. de orat. 3,61 hinc discidium illud extitit quasi linguae atque cordis, absurdum sane et inutile et reprehendendum, ut alii nos sapere, alii dicere docerent.

Crassus hebt bekanntlich aus allen Philosophenschulen die skeptische Akademie heraus, weil deren Methode, die Standpunkte anderer zu widerlegen,277 am besten zum idealen Redner passe. Dabei betont Crassus – sicherlich nicht nur aus Gründen der Chronologie –, dass Q. Mucius Scaevola (Augur), sein späterer Schwiegervater, und Q. Caecilius Metellus (cos. 109) als junge Leute (adulescentes) den Scholarchen Karneades in Rom bzw. Athen gehört hätten; auch hier ist der Umstand entscheidend, dass es um den Unterricht geht.278 Seinen Schülern Sulpicius und Cotta legt Crassus nun die Entscheidung zwischen zwei grundsätzlichen Möglichkeiten vor. Auf der einen Seite stehe das konventionelle Programm der Schulrhetorik, das dem Redner insbesondere die Argumentationsmus274 Cic. de orat. 3,55 quae quo maior est vis, hoc est magis probitate iungenda summaque prudentia; vgl. dazu Wisse, 2002a, 392–394, und grundlegend C. J. Classen, Ciceros orator perfectus: ein vir bonus dicendi peritus? in: S. Prete (Hrsg.), Commemoratio, Studi di filologia in ricordo di R. Ribuoli, Sassoferrato 1986, 43–55, hier 43–46 (ND in: C. J. Classen, Die Welt der Römer, Studien zu ihrer Literatur, Geschichte und Religion, unter Mitw. von H. Bernsdorff hrsg. v. M. Vielberg, Berlin/ New York 1993, 155–167); Classen betont, dass Cicero die Frage der moralischen Verantwortung des Redners in den Hintergrund treten lasse. 275 Cic. de orat. 3,57 mit Bezug auf Il. 9,443. 276 Cic. de orat. 3,59; vgl. allgemein R. Löbl, Τέχνη – Techne. Untersuchungen zur Bedeutung dieses Wortes in der Zeit nach Aristoteles, Band 3, Die Zeit des Hellenismus, Würzburg 2008; zum Begriff der ars bei Cicero vgl. Arweiler, 241–244. 277 Cic. de orat. 3,67 quem (sc. Carneadem) ferunt eximio quodam usum lepore dicendi aspernatum esse omne animi sensusque iudicium primumque instituisse – quamquam id fuit Socraticum maxime –, non, quid ipse sentiret, ostendere, sed contra id, quod quisque se sentire dixisset, disputare. Vgl. allgemein W. Nicgorski, Cicero’s Skepticism and His Recovery of Political Philosophy, New York 2016, und den Sammelband W. Nicgorski (Hrsg.), Cicero’s Practical Philosophy, Notre Dame, Ind., 2012. 278 Cic. de orat. 3,68.

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ter der Statuslehre an die Hand gebe und seine Tätigkeit damit auf ein enges Feld einschränke.279 Dagegen erfordere die Nachahmung eines Vorbilds, wie es Perikles oder Demosthenes sei, dass die Schüler die Methode des Karneades bzw. des Aristoteles erfassten. Indem Crassus die zweite Möglichkeit ans Ende stellt und zudem mit enkomiastischen Formulierungen ausschmückt, wird seine protreptische Absicht sehr deutlich: Cic. de orat. 3,71 sin veterem illum Periclen aut hunc etiam, qui familiarior nobis propter scriptorum multitudinem est, Demosthenen sequi vultis et si illam praeclaram et eximiam speciem oratoris perfecti et pulchritudinem adamastis, aut vobis haec Carneadia aut illa Aristotelia vis comprehendenda est.

Innerhalb des Dialogs wird diese Entscheidung aufgespart bis zum Zwischengespräch in 3,144–147. Bemerkenswert an dieser Alternative ist, dass keiner der beiden Wege den Schüler in die Irre führt oder direkt falsch ist. Da es vielmehr um eine konventionelle und eine eben exzellente Möglichkeit geht und eine echte Wahl besteht, unterscheidet sich die protreptische Situation, in die Cotta und Sulpicius von Crassus geführt werden, grundlegend von anderen. Als Beispiel kann hier der Sokrates Xenophons angeführt werden, der im Gespräch mit Euthydemos zeigt, dass der Weg der Selbsterkenntnis und der Philosophie der einzig mögliche ist, wenn der angehende Politiker Euthydemos totale Unwissenheit vermeiden wolle.280 Für die Figuren des Cotta und des Sulpicius in De oratore kommt freilich nicht infrage, dass ihr Nichtwissen bloßgestellt wird, da sie bereits fortgeschrittene und im praktischen Bereich sehr erfolgreiche Redner sind. Den Gedanken, dass es auf die Wahl der Methode und damit des richtigen Lehrers ankomme, lässt Crassus wie einen roten Faden seinen Vortrag durchziehen und kommt daher an einen Punkt, wo er über sich sprechen muss (de orat. 3,74–77). Cicero lässt den Crassus hier sagen, dass er die Philosophie, deren Studium er von jungen Leuten fordere, selbst nur oberflächlich und spät kennengelernt habe; dabei kommt er auf seinen Aufenthalt in Asien und Athen während seiner Quästur zurück (nach de orat. 1,45–47).281 In Asien habe er seinen Altersgenossen Metrodoros von Skepsis, ei-

279 Cic. de orat. 3,70. Die Statuslehre stellt Antonius im zweiten Buch dar (99–113); hinzu kommen, auch wenn Crassus sie hier nicht erwähnt, die weiteren Bereiche der inventio, dispositio und memoria, die Antonius dargestellt hat. 280 Sokrates bringt den Euthydemos dahin, dass er verzweifelt sein Nichtwissen eingesteht (καὶ φροντίζω, μὴ κράτιστον ᾖ μοι σιγᾶν· κινδυνεύω γὰρ ἁπλῶς οὐδὲν εἰδέναι; X. Mem. 4,2,39) und sich entschließt, Schüler des Sokrates zu werden. Dazu siehe oben S. 15 f. 281 Dazu siehe oben S. 86 f. Der scheinbare Widerspruch zwischen beiden Berichten (das Studium bei Charmadas passt nicht zu der Kürze des Athener Aufenthalts, die Crassus de orat. 3,75 betont) erklärt sich am besten damit, dass Crassus an der Stelle im dritten Buch unbedingt betonen möchte, er habe von der Philosophie nur ein wenig gekostet (paululum […] gustavi).

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nen Schüler der Akademie und Rhetoriklehrer,282 gehört und wäre auch in Athen gerne länger geblieben, hätte er den Athenern nicht wegen ihrer hartnäckigen Weigerung gezürnt, die Eleusinischen Mysterien extra für ihn zu wiederholen. Im Kontext von De oratore können Crassus’ Bemerkungen über die Dürftigkeit seiner philosophischen Bildung weder für einen Leser noch für die Schüler im Dialog eine Enttäuschung sein. Cicero hatte nämlich gefordert, über Crassus Größeres zu denken als allgemein angenommen;283 hinzu kommt, dass Crassus später hervorhebt, dass es beim Lernen nicht unbedingt auf die Dauer, sondern auch auf die Intensität und die Geschwindigkeit des Verstehens ankomme.284 Entscheidend ist aber, dass Crassus seinen Schülern hier eine Vorführung der skeptischen Philosophie gibt: Cic. de orat. 3,75 quare hoc, quod complector tantam scientiam vimque doctrinae, non modo non pro me, sed contra me est potius – non enim quid ego, sed quid orator possit disputo – atque hos omnes, qui artes rhetoricas exponunt, perridiculos.

Indem Crassus zugibt, dass seine hohen Forderungen und Ansprüche im Grunde gegen seine eigene Person sprächen, da er weit davon entfernt sei, sie zu erfüllen, und natürlich erst recht gegen die professionellen Rhetoren, wendet er nämlich die Methode an, Argumente gegen etwas zu finden. Und dadurch dass er das tut, zeigt er, dass er eben doch im Besitz bestimmter Kenntnisse und einer bestimmten Bildung ist, auch wenn diese, für die Crassus sich auf Aristoteles, Arkesilaos und Karneades beruft, keineswegs jahrelanges Lernen erfordern, wie es in den Fachwissenschaften wie z. B. der Geometrie unbedingt notwendig ist.285 Hier wiederholt Crassus die protreptische Alternative zwischen dem von der Schulrhetorik ausgebildeten vulgaris orator und dem orator perfectus, der über die philosophische Methode, für jedes Thema das Für und Wider aufzuzeigen, verfügt (79–80). Wiederum wird deutlich (nach 70–71), dass es sich um eine echte Alternative handelt, da auch der ‚einfache‘ Redner dank seiner praktischen Erfahrung über die Fähigkeit verfügt, selbst Philosophen im Rededuell zu besiegen, und sich von ihnen keineswegs verachten lassen muss.286 Trotz dem zunächst scharfen Angriff auf die Schulrhetorik (hos omnes […] perridiculos) räumt Crassus kurze Zeit später ein, dass keiner auf die Rhetorik als ars und auf die Grundlagen, die sie Anfängern vermittele, verzichten kann. Crassus nennt den Archegeten aller Rhetoriklehrer Korax (5. Jh. v. Chr.), mit dessen Lehre z. B. das Konzept der Redeteile (partes orationis) in Verbin-

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Zur Formulierung Cic. de orat. 3,75 ex Academia rhetorem vgl. Mankin ad loc. Cic. de orat. 3,15; dazu vgl. oben S. 116 f. Cic. de orat. 3,89; dazu vgl. unten S. 127. Cic. de orat. 3,79–80. Vgl. dazu Wisse (2002), besonders 381. Cic. de orat. 3,79 hinc hic noster vulgaris orator, si minus erit doctus ac tamen in dicendo exercitatus, hac ipsa exercitatione communi istos quidem nostros verberabit neque se ab iis contemni ac despici sinet. Zur umstrittenen Bedeutung von nostros vgl. Leeman, Pinkster, Wisse ad loc., die das Wort athetieren.

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dung gebracht wird,287 sowie einen gewissen Pamphilos. Crassus’ Formulierungen wirken zweifelsohne recht jovial (patiamur […] sinamus […]), wenn er mit einem Wortspiel konzediert, dass der Rabe Korax ruhig seine Küken ausbrüten solle, bis sie als lästige Schreihälse in die Welt flögen. Der Umstand, dass am Ende eines längeren Lobs auf die skeptische Philosophie die Notwendigkeit der Schulrhetorik hervorgehoben wird, zeigt jedoch, dass die Bücher De oratore nicht nur das Ideal eines vollkommenen Redners formulieren, sondern auch den Weg dorthin als gangbar (zumindest am Anfang) beschreiben. 4.3.3.5 Über vita activa und vita contemplativa (de orat. 3,82–90) Diese protreptische Tendenz wird auch in dem folgenden Abschnitt deutlich sichtbar, in dem Cicero den Crassus auf Catulus’ Frage antworten lässt, wie und wann er sich diese Kenntnisse habe aneignen können: wer das Leben des Crassus kenne, wisse, dass das praktisch unmöglich gewesen sei.288 Die Lösung dieses Widerspruchs liegt darin, dass es beim Erfassen der skeptischen Methode – anders als beim mühsamen Erwerb von Spezialkenntnissen – auf die Schnelligkeit des Verstehens ankomme.289 Crassus streitet zwar wiederum ab, dass das auf ihn selbst bezogen werden dürfe, hält aber fest: Cic. de orat. 3,89 res quidem se mea sententia sic habet, ut, nisi quod quisque cito potuerit, numquam omnino possit perdiscere.

Für das Verhältnis von Philosophie und Rhetorik in De oratore sagt diese Überlegung im Grunde mindestens ebenso viel aus wie die prinzipielle Unterordnung der Rhetorik unter die Philosophie. Wenn jemand in der Lage ist, die Methode der skeptischen Philosophie rasch zu erfassen und nutzbar zu machen, so hat er es nämlich auch schon geschafft und kann nach seinen Möglichkeiten auf dem trotzdem noch sehr beschwerlichen und langen Weg fortfahren, ein orator perfectus zu werden.290

287 Cic. de orat. 3,81. Vgl. die Belege bei L. Radermacher, Artium scriptores. Reste der voraristotelischen Rhetorik, Wien 1951, A V 16 und B II 23. 288 Cic. de orat. 3,82. 289 Dieses Argument wird sehr gut unter Hinweis auf Parallelen (de orat. 1,21; 1,249–50) in den Kontext eingeordnet und gegen den Vorwurf der Oberflächlichkeit und des Dilettantismus verteidigt von J. Hall, Persuasive Design in Cicero’s De Oratore, Phoenix 48 (1994), 210–225; hier 217–218. Es fügt sich zudem in den Anspruch, den Crassus bereits im 1. Buch formuliert, dass ein Redner in der Lage sein müsse, über jedes Thema (quaecumque res inciderit) zu sprechen (de orat. 1,64). 290 Hier kann die Frage nicht diskutiert werden, ob die Annahme, dass Cicero hier einen Philosophen rezipiere, vor diesem Hintergrund noch plausibel erscheint; von Arnim, 106, sieht Philon als Quelle; W. Kroll, Rhetorik, RE S VII (1940), 1086–1088, dagegen Antiochus; zurückhaltend und mit Verweis auf die Sophistik Barwick, 40. Geworben wird nämlich nicht für die Philosophie, sondern für die Rhetorik, die von der Philosophie zwar dominiert wird, aber ihr ganzes Wesen und ihre Ansprüche als Studienfach behält.

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Hier geht es also keineswegs um eine Hinwendung zur Philosophie als Lebensentscheidung, sondern darum, der Rhetorik ein Fundament zu geben und sie somit auch attraktiver zu machen. Dennoch ist mit dem, was Crassus hier vorträgt, eine Aufforderung an die Zuhörer verbunden, sich für oder gegen die philosophische Methode zu positionieren.291 4.3.3.6 Zu de orat. 3,91–143 Als Crassus über den ornatus spricht, erzählt er beiläufig, warum er als Zensor (92 v. Chr.) die Schule der Lateinischen Rhetoren habe schließen lassen.292 Es habe bei ihnen zwar Übung (exercitatio) gegeben, aber weder systematische Theorie (doctrina) noch Bildung (humanitas). Daher habe es sich um eine Schule der Schamlosigkeit (impudentiae ludus) gehandelt. Man könnte nun einwenden, dass, da die Protreptik eine Freiheit der Wahl voraussetze, sich staatliche Eingriffe und Verbote mit ihr nur schlecht vertragen. Dem trägt Crassus in diesem Abschnitt (de orat. 3,93–95) insofern Rechnung, als er zwar sein Vorgehen rechtfertigt, aber weit davon entfernt ist, einen richtigen Weg verordnen zu wollen. Deutlich wird wiederum die Konkurrenzsituation der verschiedenen Lehrangebote, in der die Kriterien Tradition, Herkunft und Qualität einander überlagern. Crassus’ Ideal ist eine einheimische Schule, die an die Tradition der Griechen anknüpft und einen philosophischen Anspruch hat: Cic. de orat. 3,95 […] hominibus opus est eruditis, qui adhuc in hoc quidem genere nostri nulli fuerunt; sin quando extiterint, etiam Graecis erunt anteponendi.

Crassus wirbt mit seiner Andeutung, es werde einst in Rom gebildete Lehrer geben, offenkundig für Cicero und besonders für De oratore.293 Der protreptische Charakter der Schrift besteht hier darin, dass Cicero seine Forderung nach neuen und anspruchsvollen Lehrbüchern der Rhetorik durchaus als erfüllt betrachtet. Die folgenden Abschnitte behandeln wiederum den ornatus (96–103), die Theseis (loci communes) (104–125) und die Einheit von Sprache und Wissen (126–143). In seinem Lehrvortrag wendet sich Crassus an mehreren Stellen seinem Publikum zu; am Beginn des Abschnitts über die Vermeidung des Überdrusses (satietas; 3,96–103) be291 Dazu siehe unten S. 137 f. 292 Dazu M. T. Luzzatto, Lo scandalo dei „Retori latini“. Contributo alla storia dei rapporti culturali fra Grecia e Roma, StudStor 43 (2002) 301–346; P. L. Schmidt, Die Anfänge der institutionellen Rhetorik in Rom, in: E. Lefèvre (Hrsg.), Monumentum Chiloniense, Studien zur augusteischen Zeit, FS E. Burck, Amsterdam 1975, 183–216. E. Norden, Die antike Kunstprosa vom VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance, 10. Aufl., Stuttgart/Leipzig 1995 (Neudruck der 3. Aufl., Leipzig/Berlin 1915), I,222, sieht in Ciceros De oratore sogar eine „auf großer Grundlage aufgebaute Streitschrift gegen die Latini rhetores“. 293 Leeman, Pinkster, Wisse, S. 95, sprechen von „einem erneuten vaticinium auf Cicero selber“.

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tont Crassus in einer Parenthese, er glaube nicht, elementare Dinge lehren zu müssen, wie dass eine Rede nicht dürftig, schmucklos, gewöhnlich oder alltäglich sein dürfe; denn die Talente und das Alter seiner Zuhörer forderten ihn zu etwas anderem und Größerem (aliud maius) auf.294 Wisse, Fantham und Winterbottom verstehen den Hinweis auf das Alter der Zuhörer (aetates) so, dass Crassus seinem Publikum attestiere, dass es fortgeschritten sei und keinen Anfängerunterricht mehr brauche. Was nun zumindest Sulpicius und Cotta betreffe, so ergebe sich ein Widerspruch zu den Stellen, wo beide entgegen ihrem tatsächlichen Alter als adulescentes bezeichnet und in die Rolle von Schülern versetzt werden.295 Wie lässt sich dieser Widerspruch verstehen? Zum einen steht fest, dass in De oratore der Unterricht in der Rhetorik mit dem Jugendalter verknüpft wird und sich an junge Leute richtet.296 Auf der anderen Seite hat Cicero bereits im Vorwort zum ersten Buch aus der Überlegung, dass die Rhetorik etwas Größeres als allgemein angenommen sei (maius-Motiv), die Forderung abgeleitet, dass die Jugend andere Lehrer und Lehrbücher als die vorhandenen haben solle.297 Genau daran knüpft Crassus aber mit seiner Aussage in de orat. 3,97 an. Das Wort aetas, das hier mit ingenium verbunden und durch das Possessivum spezifiziert ist, bezeichnet daher das junge Alter. Daraus ergibt sich nun, dass Crassus sich hier nur an Sulpicius und Cotta wendet298 und dabei ohne Widerspruch mit anderen Stellen in der Fiktion des Dialogs bleibt, nach der beiden die Rolle der jungen Schüler zugewiesen wird. Damit stimmt die Aufforderung überein, die Crassus fast am Ende des Abschnitts über die Wichtigkeit der Theseis, Fragestellungen philosophischer bzw. abstrakter Natur, an seine Schüler richtet.299 Eine Rede, die ein spezielles auf ein allgemeines Problem zurückführe, sei, so Crassus, besonders geschmückt: Cic. de orat. 3,121 hanc ad consuetudinem exercitationis vos, adulescentes, est cohortatus Antonius atque a minutis angustisque concertationibus ad omnem vim varietatemque vos disserendi traducendos putavit.

294 Cic. de orat. 3,97 non enim a me iam expectari puto, ut moneam, ut caveatis, ne exilis, ne inculta sit vestra oratio, ne vulgaris, ne obsoleta; aliud quiddam maius et ingenia me hortantur vestra et aetates. 295 So Wisse, Fantham und Winterbottom (in Leeman et al.) in ihrer sehr ausgewogenen Diskussion ad de orat. 3,97 mit dem Verweis besonders auf 1,34 und 3,121. Zu Recht betonen sie dabei den Umstand, dass Sulpicius und Cotta zwar als Schüler, nirgendwo aber als Anfänger dargestellt werden. 296 Siehe oben S. 98 f. zu Cic. de orat. 1,165: Scaevola nimmt an, Crassus halte sein Interesse an der Rhetorik für seinem hohen Alter nicht angemessen. 297 Cic. de orat. 1,16–19 (siehe dazu oben S. 80 f.). 298 So deutet Mankin, ad de orat. 3,97, die Stelle. 299 Vgl. zu Philon von Larissa und seiner Behandlung der Theseis auch T. Reinhardt, Rhetoric in the Fourth Academy, CQ 50 (2000), 531–547, sowie allgemein Ch. Brittain, Philo of Larissa. The Last of the Academic Sceptics, Oxford 2001. Zu Cic. de orat. 3,111–118 und Ciceros Versuch (im Anschluss an seine Quelle), die Gliederungen Theseis und der Hypotheseis in einer einheitlichen Systematik zusammenzufassen, vgl. Feddern, 18–21.

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Crassus bezieht sich hier auf die Behandlung der status im Rahm der inventio im zweiten Buch, wo Antonius gegen den Mangel an Abstraktion und Generalisierung in der Schulrhetorik polemisiert.300 Der folgende Abschnitt (3,121–125) wird von mehreren protreptischen Elementen durchzogen. Zunächst verwirft auch Crassus die Vorstellung, dass wenige Lehrbücher De dicendi ratione für das Erreichen des großen Ziels geeignet seien; selbst ihr eigenes Gespräch auf dem Tusculanum reiche nicht aus, da der ideale Redner die größten und vielfältigsten Stoffe beherrschen müsse. Daher fordert Crassus die richtige Praxis des Trainings (haec […] consuetudo) zu wählen. Im Gegensatz zu Antonius, der sich im zweiten Buch in dieser Beziehung zurückhaltend äußert, formuliert Crassus zudem für den Redner den Anspruch, im Staat eine führende Rolle zu spielen, und stellt so die für die Protreptik konstitutive Verbindung von Rede mit Politik und Herrschaft her:301 Cic. de orat. 3,122 […] si modo nos oratores, si in civium disceptationibus, si in periculis, si in deliberationibus publicis adhibendi auctores et principes sumus […].

Neben die gerichtliche Beredsamkeit, die in Zivil- und Strafprozessen tätig ist, treten hier die „öffentlichen Beratungen“, also Volksversammlungen und Senatsdebatten, die der emphatisch hervorgehobene echte Redner beherrsche. Crassus setzt sich im Folgenden wiederum mit der Philosophie auseinander, an der er kritisiert, dass sie entweder die Rhetorik ganz in Frage stelle wie Sokrates im Dialog Gorgias oder aber als ein enges Spezialgebiet betrachte und von den großen Themen Gerechtigkeit, Pflichtenlehre, Staat, Ethik und Natur, die sie gleichfalls behandele, in unzulässiger Weise trenne.302 Der Redner habe daher die Aufgabe, sich sein Eigentum, das ihm von den Philosophen genommen worden ist, zurückzuholen und für seinen Zweck, der als „Kompetenz in politischen Angelegenheiten“ (scientia civilis; 123) bezeichnet wird,303 nutzbar zu machen. Hier können zwei Punkte hervorgehoben wer300 Cic. de orat. 2,131–147; vgl. besonders die Polemik in 133. Es ist gut denkbar, dass die hier kritisierte Didaktik des Anfängerunterrichts aus guten Gründen auf eine zu starke Abstraktion verzichtet und es für sinnvoller hält, Rechtsfälle mit konkreten Personen durchzuspielen. 301 Dass der ideale Redner ein führender Politiker ist, wird bereits in de orat. 3,63 deutlich: […] (sc. die Philosophie Epikurs) procul abest tamen ab eo viro, quem quaerimus et quem auctorem publici consilii et regendae civitatis ducem et sententiae atque eloquentiae principem in senatu, in populo, in causis publicis esse volumus (vgl. dazu Mankin, ad loc., und Wisse, 379; ebenso de orat. 3,76). Trotzdem zeige, so Crassus, die Realität allzu deutlich, dass denen, die im Staat erfolgreich führende Rollen spielen, die rhetorische Bildung oft abgehe: de orat. 3,136 nunc contra plerique ad honores adipiscendos et ad rem publicam gerendam nudi veniunt atque inermes, nulla cognitione rerum, nulla scientia ornati; mit Wisse, Winterbottom und Fantham (in Leeman et al.) ad loc. lässt sich hier an einen Bezug auf Pompeius denken. 302 Cic. de orat. 3,122 […] quasi non illa sint propria rhetorum, quae ab isdem de iustitia, de officio, de civitatibus instituendis et regendis, de omni vivendi, denique etiam de naturae ratione dicuntur. 303 Zum Begriff vgl. Wisse, Winterbottom, Fantham (in Leeman et al.) ad loc. Die Bedeutung „politische Wissenschaft“ trifft für diese Stelle ebenso wenig zu wie für Cic. inv. 1,6 (gegen G. Kalivoda, Th. Zinsmaier, Rhetorik A I: Etymologie, Wortgeschichte, HWRh 7 (2005), 1423–1429, hier

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den: zum einen ist bei der Kritik der Philosophen die Konkurrenz der Lehrer – wie an sehr vielen Stellen in De oratore – deutlich wahrnehmbar. Zum anderen wirbt Crassus hier sehr pragmatisch und geschickt für die Rhetorik mit einem erkenntnistheoretisch gefärbten Argument, das zweigeteilt ist: Der menschliche Geist, auch wenn er noch so scharfsichtig ist, kann große Themen nur mit Hilfe erfassen und benötigt daher Belehrung. Kein Thema ist jedoch so dunkel und schwierig, dass ein scharfer Geist den Kern nicht rasch und auf einen Blick erfassen könnte.304 Somit kann die Rhetorik versprechen, dass ein Lernender, der die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt, zwar auf die Belehrung angewiesen ist, aber schnell ausreichende Fortschritte machen kann.305 Da das Wissen immer für einen bestimmten Zweck erworben wird, ist es keineswegs erforderlich, dass der angehende Redner sein ganzes Leben den Spezialproblemen einer Wissenschaft widmet.306 Catulus lobt den Crassus dafür, dass er mit seinem Vortrag den Redner wieder in seine alten Rechte eingesetzt und ihm den Anspruch, alle Themen behandeln zu können, zugeschrieben habe.307 Vertreter dieser universalen Beredsamkeit seien die Sophisten, von denen Catulus Hippias, Prodikos, Thrasymachos, Protagoras und schließlich Gorgias nennt; Gorgias wiederum steht auch für Platons literarische Figur, die von Sokrates im Gespräch nur deshalb bezwungen worden sei, weil dieser eine noch größere Beredsamkeit an den Tag gelegt und sich als überlegener Redner erwiesen habe. An den Sophisten hebt Catulus besonders hervor, dass sie Ruhm und Anerkennung genossen hätten, und nennt als Belege dafür den Auftritt des Hippias in Olympia und die Ehrung des Gorgias mit einer Statue aus purem Gold in Delphi. Neben das Lob des Crassus lässt Catulus einen Tadel der griechischen Lehrer seiner Zeit treten: sie hätten das ihnen anvertraute Erbe nicht bewahrt, geschweige denn vermehrt. Wenn man nach einer Funktion dieser Passage für die Protreptik in De oratore fragt,308 ist ein Vergleich mit dem ersten Zwischengespräch im ersten Buch (besonders 102–112) sinnvoll.309 Als Sulpicius dort den Crassus fragt, ob es seiner Ansicht nach eine lehrbare Redekunst gebe, antwortet Crassus ausweichend und distanziert sich von der

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1425 f.); allgemein vgl. E. Vollrath, Staatslehre, HWPh 10 (1998), 53–63, hier 55. Ähnlich praktisch ist Isokrates’ Konzept des guten Beraters (siehe oben S. 23 f.). Cic. de orat. 3,124 nam neque tam est acris acies in naturis hominum et ingeniis, ut res tantas quisquam nisi monstratas possit videre, neque tanta tamen in rebus obscuritas, ut eas non penitus acri vir ingenio cernat, si modo aspexerit. Dass das Versprechen schnellen Lernens aus der Protreptik stammt, zeigt Isoc. 9,81: ταχέως γενήσει τοιοῦτος, οἷόν σε προσήκει; vgl. auch unten S. 166 f. zu Cic. off. 1,2. Cic. de orat. 3,123 […] neque, ut ante (sc. 3,86) dixi, omnem teramus in his discendis rebus aetatem. Cic. de orat. 3,126–132. Die ausgezeichnete Kommentierung und Interpretation dieses und des folgenden Abschnitts bei Wisse, Winterbottom und Fantham (in Leeman et al.) betont zu Recht: „The passage moves gradually from Catulus’ intervention to the protreptic climax.“ (108). Dazu siehe oben S. 89 ff.

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Art, die als erster Gorgias praktiziert habe: in der Öffentlichkeit aus dem Stegreif über ein Thema zu sprechen, worüber ihn das Publikum hören wolle. Der Verweis auf genau diese Praxis, den Catulus im dritten Buch macht, zeigt, dass Crassus nun nicht nur seine Zurückhaltung aufgegeben hat, sondern das tut, wofür Gorgias das Vorbild ist. Crassus akzeptiert also die Rolle, die er zunächst vehement ablehnt. Wenn Catulus (cos. 102) genau wie Scaevola (cos. 117) den Crassus (cos. 95) vor den jungen Schülern lobt,310 so tut er das in der Rolle des älteren und erfahrenen Kollegen und Politikers; dabei zeigt die Ähnlichkeit der Formulierungen, mit denen Scaevola und Catulus den Crassus loben, dass Cicero beide Stellen aufeinander bezieht.311 Catulus ist zudem auf dem Gebiet der Literatur kompetent, wie seine Überlegungen zu Platons Gorgias zeigen (de orat. 3,129). Scaevola und Catulus greifen beide die zeitgenössischen griechischen Lehrer an, indem sie ihnen Praxisferne und Niedergang vorwerfen;312 in beiden Fällen dient diese Kritik als starker Kontrast zum Lob des Crassus, der dank seiner Beredsamkeit der führende Anwalt und Politiker in der mächtigsten Stadt der Welt sei.313 Dabei kann Catulus in Buch 3 stärker als Scaevola zuvor betonen, dass Crassus über ein umfangreiches und gewaltiges Wissen verfüge. Im ersten Buch agiert Scaevola als Fürsprecher der jungen Schüler und sagt Crassus klar und deutlich, dass sie ihn hören wollten. Im Lob des Catulus dagegen ist zwar der Lehrer überdeutlich präsent, die Schüler bleiben dagegen unerwähnt. Der Grund dafür liegt in einer Aussparung: Sulpicius und Cotta äußern sich erst nach dem Gespräch, das sich unmittelbar an die folgende Rede des Crassus (132–143) anschließt. Hier lobt Crassus die ursprüngliche Einheit des Wissens und sagt, dass zumindest einzelne Wissensgebiete wie Medizin, Musik, Mathematik und Grammatik von einzelnen ganz beherrscht worden seien (132). Von den Persönlichkeiten aus Roms Geschichte hebt Crassus den M. Cato hervor. Dieser habe – abgesehen von der Rhetorik als doctrina – auf allen Gebieten eine umfassende Bildung gehabt und sei als Redner, Politiker und Feldherr erfolgreich gewesen. Crassus beschließt dieses Lob damit, dass er betont, Cato habe sein Wissen auch in Büchern präsentiert, und weist damit auf Cato als Lehrer bzw. auf den didaktischen Aspekt dieses Wissens hin.314 Die Sieben Weisen und Peisistratos verkörperten, so Crassus, die Einheit der Bildung und Beredsamkeit mit der politischen Macht (137). Nun nennt Crassus eine ReiCic. de orat. 1,106 und 3,131. Vgl. de orat. 1,106 tibi numquam eloquentiae maiorem tribui laudem quam humanitatis mit de orat. 3,131 dubito tibine plus laudis an Graecis vituperationis statuam esse tribuendum. 312 De orat. 1,105 Graeci alicuius cotidianam loquacitatem sine usu und 3,131 otio diffluentes. 313 De orat. 1,105 in maximis causis et in hoc domicilio imperi et gloriae sit consilio linguaque princeps und de orat. 3,131 occupatissima in civitate vel privatorum negotiis paene omnibus vel orbis terrae procuratione ac summi imperi gubernatione destrictus. 314 Cic. de orat. 3,135 denique nihil in hac civitate temporibus illis sciri discive potuit, quod ille non cum investigarit et scierit tum etiam conscripserit.

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he griechischer Politiker, die gebildet und beredt gewesen seien und ihren Erfolg somit ihren Lehrern zu verdanken hätten: Perikles seinem Lehrer Anaxagoras, Kritias und Alkibiades dem Sokrates, Dion dem Platon, Timotheos dem Isokrates, Epaminondas dem Lysis, Agesilaos dem Xenophon, Archytas von Tarent dem Philolaos von Kroton (138–139). Mit dieser Aufzählung sucht Crassus nicht nur die ursprüngliche Einheit der Bildung zu beweisen, indem er gegen Rhetoriklehrer und deren Beschränktheit und Ablehnung der Philosophie polemisiert.315 Hinzu kommt der wichtige Aspekt, dass die Schüler dieser Lehrer allesamt in der Politik und im Staat tätig waren. Sie werden also nicht nur wegen ihrer Prominenz von Cicero genannt, sondern weil sich an ihnen ablesen lässt, dass eine allgemeine Bildung, die Philosophie und Rhetorik verbindet, sich in erster Linie an künftige Politiker richtet. Crassus formuliert diese Gleichsetzung des Gebildeten mit demjenigen, der auf dem Feld der Politik Ehrgeiz an den Tag legt und erfolgreich sein will, folgendermaßen: Cic. de orat. 3,140 sic enim video, unam quandam omnium rerum, quae essent homine erudito dignae, atque eo, qui in re publica vellet excellere, fuisse doctrinam.

Dabei klammert Crassus den ethischen Aspekt und die Frage nach der Gerechtigkeit aus und wählt mit Kritias und Alkibiades auch solche Beispiele aus, bei denen er selbst verneint, dass diese Politiker gut für ihre Bürger gewesen seien.316 Die Beispielreihe des Crassus gipfelt im Wettstreit des Aristoteles mit Isokrates um Schüler.317 Nachdem es Isokrates dank dem Ruhm, den er mit seinen epideiktischen Reden erlangt habe, gelungen sei, zahlreiche Schüler zu gewinnen, habe Aristoteles sein Lehrprogramm (disciplina) abgeändert und mit der Wissenschaft (rerum cognitio) die Beredsamkeit verbunden. Auch wenn die Legendenhaftigkeit dieser Geschichte erwiesen ist,318 wird doch die Absicht deutlich, mit der Crassus sie hier erzählt. Die Beispielreihe prominenter Schüler und Lehrer gelangt so zu ihrem Höhepunkt: denn König Philipp habe seinen Sohn Alexander von Aristoteles ausbilden lassen (141). Crassus spielt mit seiner Formulierung […] a quo eodem (sc. Aristoteles) ille (sc. Alexander) et agendi acciperet praecepta et eloquendi (de orat. 3,141) auf das große Vorbild von Achills Lehre bei Phoinix an, das am Beginn des Abschnitts über den Verlust der Einheit der Bildung zu finden ist.319 Dabei suggeriert Crassus, dass der Philosoph

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Besonders augenfällig: Cic. de orat. 3,138 at hunc (sc. den Perikles) non declamator aliqui ad clepsydram latrare docuerat, sed ut accepimus, Clazomenius ille Anaxagoras, vir summus in maximarum rerum scientia. Wisse, Winterbottom, Fantham (in Leeman et al.), S. 106–108, sehen Ciceros Hauptziel in diesem Abschnitt in der Polemik gegen zeitgenössische Rhetoren und deren Ablehnung der Philosophie. Cic. de orat. 3,139 quid Critias? quid Alcibiades? civitatibus quidem suis non boni, sed certe docti atque eloquentes, nonne Socraticis erant disputationibus eruditi? Vgl. oben S. 123 f. zu de orat. 3,55. Vgl. Cic. or. 62; Tusc. 1,7 und off. 1,4. Vgl. Kroll ad Cic. or. 62 „Die ganze Anekdote ist apokryph […].“ Cic. de orat. 3,57 […] idem erant vivendi praeceptores atque dicendi.

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diesen Schüler erst gewonnen habe, nachdem er sich entschlossen habe, auch Rhetorik zu lehren.320 Alexander der Große steht dabei wie kein anderer für die Verbindung von Bildung und politischer Macht. Den Einwänden, die sich aus der auch in Rom verschieden bewerteten Person Alexanders ergeben können,321 kommt Crassus zuvor, indem er nur die Entscheidung des Vaters lobt (sapientissimum regem), dass sein Sohn beim Philosophen auch Rhetorik lernen solle (acciperet). Crassus lässt seine Rede im Preis des orator doctus gipfeln (142–143). Dieser vereine Philosophie und Beredsamkeit und könne den Namen eines Philosophen oder eines Redners tragen. Wo diese Vereinigung nicht zustande komme, sei eine Klugheit, die nur über dürftigen Ausdruck verfüge, besser als eine rhetorisch glänzende Dummheit. An Crassus’ Argumentation ist zunächst hervorzuheben, dass dieser gelehrte Redner als Sieger aus einem Wettbewerb hervorgeht: Cic. de orat. 3,143 si quaerimus, quid unum excellat ex omnibus, docto oratori palma danda est.

Das agonale Motiv ist ein deutlicher Hinweis auf eine protreptische Argumentation. Das Bild des Siegeszweigs beschreibt dabei einen Wettstreit, der vor Publikum und Preisrichtern ausgetragen wird und dem Sieger Ruhm verspricht.322 Darauf deutet auch das Wort excellere hin, das Cicero hier verwendet.323 Überlegt man, wer der doctus orator des Crassus sei, lässt sich zunächst an Ciceros Vorstellung eines gebildeten Herrschers nach dem Vorbild der Philosophenkönige Platons denken. Cicero deutet zum einen an, dass er selbst dieses Ideal in seinem Konsulat verkörpert habe, zum anderen sind die Bücher De oratore unschwer als ein Vorverweis des Verfassers auf sich selbst zu verstehen.324 Crassus legt aber in seiner gesamten Rede, sieht man einmal von der Polemik gegen die ungebildeten Politiker der Gegenwart ab (136), das Hauptaugenmerk nicht unbedingt auf den Redner und dessen Tätigkeit. Auch wenn das Wort orator

320 Zu diesem Lehrer-Schüler-Verhältnis vgl. I. Düring, Aristotle in the Ancient Biographical Tradition, Göteborg 1957, Nr. 25 mit dem Kommentar (287–8), und M. Brocker, Aristoteles als Alexanders Lehrer in der Legende, Bonn 1966. 321 Vgl. Cic. Att. 13,28,3 quid? tu non vides ipsum illum Aristoteli discipulum, summo ingenio, summa modestia, postea quam rex appellatus sit, superbum, crudelem, immoderatum fuisse? Dazu H.-U. Wiemer, Held, Gott oder Tyrann? Alexander der Große im frühen Hellenismus, Hermes 139 (2011), 179–204, hier besonders 198. 322 Vgl. Cic. de orat. 2,227 illud quidem admiror te nobis in eo genere tribuisse tantum et non huius rei (gemeint ist der Witz) quoque palmam ut ceterarum Crasso detulisse. Der Bezug des Wortes palma auf die hippischen Agone wird deutlich in Cic. Brut. 173 und z. B. Hor. carm. 1,1,4–6. Zu agonalen Motiven in der Protreptik siehe oben S. 33 (bei Dionysios von Halikarnassos). 323 Das in De oratore sehr häufige Wort benutzt Crassus in diesem Abschnitt im Zusammenhang mit Ruhm (excellere sapientiae gloria; 3,133) und in Bezug auf führende Politiker (Perikles; 3,138 und qui in re publica vellet excellere; 3,140). Zugleich ist es ein Vorverweis auf Hortensius, dem im Schlussgespräch von Catulus Ruhm prophezeit wird (quem quidem ego confido omnibus istis laudibus, quas tu oratione complexus es, excellentem fore; 3,228). Vgl. auch de orat. 1,33 (antecellere) und de orat. 3,3 (superare). 324 Dazu siehe oben S. 105 f.

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eindeutig einen ‚Redner‘ bezeichnet,325 so gibt es doch eindeutige Hinweise darauf, dass Crassus hier den idealen Lehrer im Sinn hat und für diesen wirbt. So schließt sich diese Passage unmittelbar an die Anekdote über die Konkurrenz der Lehrer Aristoteles und Isokrates um die vornehmen Schüler an. Hinzu kommt, dass bei der Diskussion, ob philosophus oder orator die richtige Bezeichnung für denjenigen sei, der die alte Spaltung überwunden habe, der Philosoph als derjenige bezeichnet wird, der seinen Schülern eine Fülle des Inhalts und der Form vermittle, und damit eindeutig Lehrer ist.326 Dem entspricht, wenn Crassus am Schluss des Abschnitts sagt, dass die eloquentia, auch wenn sie von den Philosophen verachtet werde, trotzdem den Wert ihrer Lehrwerke (artes) bzw. allgemein ihrer Art, Wissen zu vermitteln, erhöhe.327 Auch hier geht es um die Präsentation des Wissens zu pädagogischen Zwecken. Nimmt man diese Hinweise zusammen, ergibt sich daher, dass Crassus mit dem doctus orator jemanden vor Augen hat, der nicht nur ein idealer Redner, sondern vielmehr auch ein idealer Lehrer ist, weil er Philosophie und Rhetorik in sich vereint. Diese Überlegung lässt sich in gewisser Weise auch auf die frühere Darstellung des orator perfectus in de orat. 3,80 übertragen. Der vollkommene Redner beherrscht die Technik, über ein ihm gegebenes Thema das Für und Wider zu erörtern. Das Vorbild für die Stegreifrede ist Gorgias, die skeptische Methode stammt von Karneades; beide sprechen nicht in einem iudicialen oder deliberativen Kontext, sondern als Lehrer vor ihren Schülern, denen sie Lehrvorträge oder paradigmatische Reden in durchaus protreptischer Absicht halten. Cicero selbst beruft sich auf die Methode des Gorgias in den Tusculanae disputationes, wo er seine Tätigkeit als Lehrer beschreibt.328 4.3.3.7 Das Zwischengespräch (de orat. 3,144–147) Nach der Rede des Crassus herrscht langes Schweigen von epischer Feierlichkeit, da sich der Redner außergewöhnlich anstrengt und großen Eindruck auf die Zuhörer gemacht hat.329 Das kurze Zwischenstück zeigt nun die Entscheidungen der Schüler 325 326 327 328 329

So ausführlich Leeman, Pinkster, Wisse, ad 3,81, die als einzige Ausnahme Phil. 3,22 anführen. Die professionellen Redelehrer heißen magistri oder rhetores; dazu vgl. Wisse, Winterbottom, Fantham (in Leeman et al.) ad de orat. 3,122. Cic. de orat. 1,142 qui copiam nobis rerum orationisque tradat. Wisse, Winterbottom, Fantham (in Leeman et al.) verweisen ad loc. auf diese Funktion: „[…] emphasizes the philosopher’s educational role […].“ Cic. de orat. 1,143 quae quamquam contemnatur ab eis, necesse est tamen aliquem cumulum illorum artibus adferre videatur. Zum Wort ars (‚Lehrbuch‘) vgl. de orat. 1,5. Cic. Tusc. 1,7 (dazu siehe oben Anm. 136) Vgl. Cic. de orat. 1,160 (dazu siehe oben S. 97). Wisse, Winterbottom und Fantham (in Leeman et al.) ad de orat. 3,143. vergleichen Pl. Phd. 84c1–2 (eine Schnittstelle im Dialog). Sinnvoll ist bestimmt, auch auf das Ende der großen Ich-Erzählung des Odysseus zu verweisen Od. 13,1–2 (vgl.

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Cotta und Sulpicius. Unterbrochen werden sie kurz von Caesars witziger Bemerkung, dass es nicht schaden könne, die Methode der philosophischen Rhetorik einmal auszuprobieren, weil man sie nur dann lerne, wenn man gleich zu Beginn das Wesentliche erfasst habe, und sich daher, wenn es nicht funktioniere, ganz schnell anders entscheiden könne (146). In der Forschung ist diskutiert worden, warum Antonius und auch Catulus an dieser Stelle nicht zu Wort kommen.330 Versteht man dagegen den bisherigen Verlauf des dritten Buchs als eine protreptische Situation, so wird klar, dass Crassus sich an die Schüler wendet und diese sich angesprochen fühlen. Zunächst aber spricht Cotta (144–145) und sagt, dass Crassus von seinem Plan, die virtutes elocutionis darzustellen, abgewichen sei. Dabei greift Cotta das maius-Motiv auf, indem er sagt, Crassus habe bedeutend mehr (plus aliquanto) vorgetragen, als sie von ihm ursprünglich gewünscht hätten. Die große Digression des Crassus beschreibt Cotta mit einer kühnen Metaphorik: gewissermaßen die Flut seines ingenium habe Crassus plötzlich weit von der Küste weg gerissen und aufs offene Meer aus den Blicken fast aller fortgezogen.331 Mit dem Bild eines Schiffs auf offener See wird hier nicht wie üblich eine Gefahr, der jemand ausgeliefert ist, assoziiert,332 sondern die Kühnheit und der Weitblick, die Crassus vor anderen auszeichnen.333 Möglicherweise spielt Cotta mit der Wahl dieses zumindest in seiner Aussage ungewöhnlichen Bildes an die Metaphorik an, die Crassus zuvor in de orat. 3,69 gebraucht hat. Dort sagt er nämlich, dass man die Trennung von Philosophie und Rhetorik mit der Wasserscheide im Apennin vergleichen könne. Die Philosophen seien die Flüsbereits 11,333–4) ὣς ἔφαθ’, οἱ δ’ ἄρα πάντες ἀκὴν ἐγένοντο σιωπῇ, / κηληθμῷ δ’ ἔσχοντο κατὰ μέγαρα σκιόεντα bzw. die Nachahmung Verg. Aen. 3,718 conticuit tandem factoque hic fine quievit; denn so wird deutlich, dass Crassus wie Odysseus seine Zuhörer sehr beeindruckt und dass Cicero hier eine geradezu epische Feierlichkeit und Stilhöhe erzeugt. Vgl. auch W. Görler, Untersuchungen zu Ciceros Philosophie, Heidelberg 1974, 39, der auf die Parallelität mit Cic. Tusc. 1,82 hinweist. 330 Wisse, Winterbottom, Fantham (in Leeman et al.), S. 164, sehen den Grund darin, dass eine enthusiastische Reaktion des Antonius auf Crassus’ Rede aufgesetzt wirkte. Fantham (2004), 206, zeigt, dass in Buch 3 immer wieder auf Antonius angespielt und hingewiesen wird, auch wenn er wenig zu Wort kommt. 331 Cic. de orat. 3,145 repente te quasi quidam aestus ingeni tui procul a terra abripuit atque in altum a conspectu paene omnium abstraxit. 332 Besonders in Vorwort zu Buch 3 (de orat. 3,7) o fallacem hominum spem fragilemque fortunam et inanis nostras contentiones! quae medio in spatio saepe franguntur et corruunt aut ante in ipso cursu obruuntur, quam portum conspicere potuerunt. Vgl. außerdem in der Dichtung Lucr. 2,1–2 suave, mari magno turbantibus aequora ventis / e terra magnum alterius spectare laborem; Ov. epist. 17,235–6 omnibus invenies, quae nunc iactantur in alto, / navibus a portu lene fuisse fretum; Germ. 303 ast alii procul a terra iactantur in altum mit G. Maurach, Germanicus und sein Arat. Eine vergleichende Auslegung von V. 1–327 der Phaenomena, Heidelberg 1978, ad loc. Weiterhin vgl. L. Schlimme, Hafen, RAC 13 (1986), 297–305. 333 So E. Fantham (1972), 159 („ […] he has been carried beyond their comprehension by the swift current of his thought.“). Zur Beschreibung geistiger und im engeren Sinne literarischer Tätigkeit mit nautischer Metaphorik vgl. G. Lieberg, Seefahrt und Werk. Untersuchungen zu einer Metapher der antiken, besonders der lateinischen Literatur. Von Pindar bis Horaz, GIF 21 (1969), 209–240.

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se, die in die hafenreiche Adria flössen, die Redner dagegen Flüsse, die in die klippenreiche und gefährliche Tyrrhenische See flössen.334 Falls man akzeptiert, dass das Meer ein ausreichend starkes Bindeglied zwischen beiden Bildern ist (immerhin fallen beide Stellen durch ihre ungewöhnlich ausgeprägte Metaphorik und Allegorie auf), so scheint Cotta darauf anzuspielen, dass Crassus, dessen Seefahrt ausdrücklich nicht lokalisiert wird, sowohl als Philosoph als auch als Redner erfolgreich und dank diesem kühnen Vorgehen zugleich eine einzigartige Person ist. Den Gedanken, dass Crassus die Spaltung zwischen Philosophie und Rhetorik überwunden habe, deutet Cotta im Folgenden an, indem er sagt, dass Crassus wie die Philosophen vor Sokrates die gesamte Kenntnis der Welt umfasst habe.335 Dabei macht er deutlich, dass Crassus keinen Lehrvortrag über sein Thema gehalten (das wäre in der kurzen Zeit gar nicht möglich gewesen), sondern sein Ideal in einer Werberede skizziert habe; er wisse nicht, was Crassus bei den anderen erreicht habe, ihn selbst habe er aber zu einem Schüler der skeptischen Akademie gemacht.336 Crassus’ protreptische Absicht wird aus Cottas Reaktion also sehr deutlich. Er verspricht nämlich, dass er sich anstrengen und lernen (percipere) werde. Cic. de orat. 3,145 […] numquam conquiescam neque defatigabor ante quam illorum ancipites vias rationesque et pro omnibus et contra omnia disputandi percepero.

Cottas Entscheidung bedeutet keine Konversion von der Rhetorik zur Philosophie,337 sondern muss im Rahmen der Wahl zwischen orator perfectus und orator vulgaris gesehen werden. Trotzdem verweist Cicero hier auf das Interesse des C. Aurelius Cotta an der skeptischen Philosophie; im Dialog De natura deorum (entstanden 45/44; dramatisches Datum 77 oder 76 v. Chr.) lässt Cicero ihn als gelehrigen Schüler des Philon von Larissa und scharfsinnigen Denker auftreten.338

334 Cic. de orat. 3,69 haec autem, ut ex Appennino fluminum, sic e communi sapientiae iugo sunt doctrinarum facta divortia, ut philosophi tamquam in superum mare Ionium defluerent, Graecum quoddam et portuosum, oratores autem in inferum hoc Tuscum et barbarum, scopulosum atque infestum laberentur, in quo etiam ipse Ulixes errasset. 335 Vgl. Cic. de orat. 3,55 (Crassus über die mit der sapientia identische eloquentia) […] haec vis, quae scientiam complexa rerum sensa mentis et consilia […] verbis explicat; und 3,126 (Catulus spricht) quantam rerum varietatem, quantam vim, quantam copiam, Crasse, complexus es. 336 Cic. de orat. 3,145 omnem enim rerum scientiam complexus non tu quidem eam nobis tradidisti, neque enim fuit tam exigui temporis, sed apud hos quid profeceris, nescio, me quidem in Academiam totum compulisti. Das Verb compellere hat hier die Bedeutung ‚zwangsläufig hinführen‘ in einem protreptischen Kontext wie Cic. Tusc. 5,2 cuius (sc. der Philosophie) in sinum cum a primis temporibus aetatis nostra voluntas studiumque nos compulisset […]. 337 Zu Recht lehnen Wisse, Winterbottom, Fantham (in Leeman et al.) ad loc. diese Ansicht ab, die Görler, 38–42, vertritt. 338 Cic. nat. deor. 1,17; 59; 113. Dass Cotta die Verbindung von Rhetorik und Philosophie verkörpert und auf beiden Gebieten glänzt, erkennen seine Gesprächspartner Velleius und Balbus zu Beginn des 2. Buchs (nat. deor. 2,1–2) voller Bewunderung an.

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Sulpicius entscheidet sich dagegen für die zweite Möglichkeit und damit für den konventionellen Weg. Seine Ablehnung der philosophischen Beredsamkeit und der Methoden eines Aristoteles oder Karneades begründet er damit, dass er nicht glaube, das ganze Programm der Philosophie lernen zu können, und dass er es auch verachte. Sulpicius’ unverblümte Schroffheit wird jedoch sofort durch die Bescheidenheit gemildert, mit der er höflich eingesteht, vieles aus der herkömmlichen Beredsamkeit noch nicht zu wissen. Daher bittet er Crassus, gemäß seiner ursprünglichen Disposition fortzufahren und den ornatus darzustellen (147). Sulpicius schließt seine Bitte mit dem Hinweis darauf, dass dies genau das sei, was er lernen wolle und worum er Crassus gebeten habe, und verweist damit auf die umgekehrte Protreptik besonders des ersten Buchs, wo die Schüler um den Lehrer werben. Cic. de orat. 3,147 quae (sc. die konventionelle Rhetorik) ego ex te audire volui, non ut desperarem me eloquentiam consequi posse, sed ut aliquid addiscerem.

Auch Sulpicius bleibt davon überzeugt, dass er sein Ziel, die eloquentia im Sinne des orator vulgaris durch Lernen erreichen könne. Seine Kritik an Crassus’ Ideal besteht darin, dass er es für unerreichbar hält und es ablehnt, sich von dieser Tatsache demotivieren und am Lernen in seinen Möglichkeiten hindern zu lassen. Auch wenn Crassus zwar etwas ungehalten reagiert und meint, es handele sich um Allerweltslehren (148), fährt er trotzdem bis zum Schluss des dritten Buchs genau in diesem Sinne fort.339 Es zeigt sich nun, dass Crassus ein Ideal skizziert, das er in De oratore gar nicht systematisch lehrt, sondern das über die Bücher hinausweist.340 Das ist kein Widerspruch, wenn man die Passagen als protreptischen Text verstehen will, in dem für das Erlernen einer Sache geworben wird, die keineswegs vollständig dargestellt, sondern nur in Umrissen skizziert wird und deren herausragenden Vorzüge gelobt werden. 4.3.3.8 Das Schlussgespräch (de orat. 3,228–230) Der Dialog endet mit einem kurzen Gespräch zwischen Crassus und Catulus. Catulus lobt den Crassus, weil er seinen Vortrag nicht von den Griechen übernommen habe, sondern umgekehrt in der Lage sei, auch diesen Unterricht zu erteilen.341 Mit diesem Lob, dessen Kern ist, dass Crassus als Lehrer überragend ist und seine Vorbilder bzw. 339

Hall, 219–220, betont ebenfalls, dass die Reaktion des Sulpicius eine positive und konstruktive Funktion für den Fortgang des Dialogs hat. 340 Damit wird keineswegs bestritten, dass Ciceros Ideal in der Forschung besonders von Kroll, 1903, und Barwick sehr genau aus De oratore beschrieben wird. Über die Verbindung von Philosophie und Rhetorik in den Reden vgl. I. Gildenhard, Creative Eloquence. The Construction of Reality in Cicero’s Speeches, Oxford 2011, besonders den Überblick 1–11. 341 Cic. de orat. 3,228 tu vero, inquit Catulus, collegisti omnia, quantum ego possum iudicare, ita divinitus, ut non a Graecis sumpsisse, sed eos ipsos haec docere posse videare.

Zur Protreptik in De oratore

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Konkurrenten übertrifft, wird ein Bogen zum ersten Buch geschlagen, wo Scaevola und die jungen Schüler Crassus als Lehrer fordern. Catulus schätzt sich nun glücklich, dass er an diesem Gespräch teilgenommen hat, und wünscht, sein Schwiegersohn Hortensius wäre ebenfalls dabei gewesen. Er vertraue nämlich darauf, dass Hortensius in allen Qualitäten, die Crassus für einen Redner gefordert habe, überragend sein werde. Crassus widerspricht ihm und sagt, dass er das bereits sei, und nennt als Belege zwei Reden, die Hortensius als ganz junger Mann (95 v. Chr. im Alter von 19 Jahren bzw. 91 v. Chr.) vor dem Senat gehalten hat. Crassus’ Urteil über Hortensius steht daher fest: Cic. de orat. 3,229 nihil enim isti adulescenti neque a natura neque a doctrina deesse sentio.

Der Verweis auf Hortensius ist Teil der Platon-Imitation im Rahmen von De oratore und entspricht formal der Erwähnung des Isokrates am Ende des Phaidros. Cicero scheint dabei das Lob, das Sokrates dem jungen Isokrates zuteil werden lässt, keineswegs als ironisch oder doppelbödig aufgefasst zu haben.342 Da den Lesern von De oratore bekannt ist, dass Cicero selbst als Redner seit dem Verres-Prozess seinen Konkurrenten Hortensius überflügelt hat, ist dessen Lob zugleich ein indirekter Vorverweis auf Cicero und seine eigene alles überragende Bedeutung.343 Zugleich kann in der Erwähnung des Hortensius eine literarische Höflichkeit dem Kollegen gegenüber gesehen werden.344 Es besteht aber insofern ein großer Unterschied zwischen Platons Verweis auf Isokrates und dem auf Hortensius bei Cicero, als Sokrates vermutet, Isokrates werde das enge Gebiet der Rhetorik verlassen und sich etwas Größerem, nämlich der Philosophie, widmen.345 An Hortensius lobt Crassus zwar die doctrina (das Wort erwähnt er gleich zweimal), aber das muss mit Blick auf die Rhetorik als ars verstanden werden, deren Regeln er perfekt beherrscht. Daher steht Hortensius gewissermaßen abseits der Wahl zwischen orator doctus und orator vulgaris und ist auf seine ganz eigene Weise ein non […] mediocris orator (230). Cicero hat natürlich vermutlich bewusst unterlassen, Hortensius zu einem philosophisch gebildeten Redner zu machen, weil er dieses Ideal sich selbst vorbehält und auch darin seinen Kollegen übertrifft. Zugleich 342 So Wisse, Winterbottom, Fantham (in Leeman et al.), S. 377, unter Hinweis auf Cic. orat. 41–42 und mit Diskussion der kontroversen Ansichten in der Forschung. 343 Zum Bezug des Autors der Schrift auf sich selbst vgl. oben S. 134. 344 Atticus rät seinem Freund Cicero, dem Hortensius eine Schrift zu widmen (Cic. Att. 4,6,3). Cicero tut das zu Lebzeiten des Hortensius nicht und gleicht das mit der Erwähnung am Ende von De oratore gewissermaßen aus; so A. R. Dyck, Rivals into Partners: Hortensius and Cicero, Historia 57 (2008), 142–173, hier 163, der mit guten Gründen die Vorstellung Dugans, 2005, 170–171, ablehnt, dass Ciceros Lob des Hortensius als Ironie aufzufassen sei. 345 Pl. Phdr. 279a5–b1 ὥστε οὐδὲν ἂν γένοιτο θαυμαστὸν προϊούσης τῆς ἡλικίας εἰ περὶ αὐτούς τε τοὺς λόγους, οἷς νῦν ἐπιχειρεῖ, πλέον ἢ παίδων διενέγκοι τῶν πώποτε ἁψαμένων λόγων, ἔτι τε εἰ αὐτῷ μὴ ἀποχρήσαι ταῦτα, ἐπὶ μείζω δέ τις αὐτὸν ἄγοι ὁρμὴ θειοτέρα· φύσει γάρ, ὦ φίλε, ἔνεστί τις φιλοσοφία τῇ τοῦ ἀνδρὸς διανοίᾳ.

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lässt sich aus Ciceros Vorgehen auch hier ablesen, dass das Ideal des orator doctus eine Lehrerpersönlichkeit beschreibt und daher auf den jungen Hortensius, der am Anfang seiner glänzenden politischen Karriere steht (cos. 69), auch als Prophezeiung (wie bei Platon) nicht gut zutreffen kann. Umgekehrt kann ein Leser aus der Referenz auf Platons Isokrates leicht auf den Philosophen Cicero schließen. Sehr deutlich ist die protreptische Funktion, die die Figur des Hortensius hier hat. Crassus sagt nämlich zu Cotta und Sulpicius, dass sie sich angesichts der glänzenden Erfolge des etwa 10 Jahre jüngeren Konkurrenten umso mehr anstrengen und abmühen (vigilandum ac laborandum) müssten. Um die Bücher De oratore schließt sich nun ein protreptischer Ring, da sich Crassus auf seine Formulierung in der großen Protreptik des ersten Buchs bezieht, wo er über Sulpicius und Cotta sagt, sie überträfen nicht nur die Redner ihrer Generation, sondern würden bereits auch mit den älteren verglichen (1,30).346 Nun ist Hortensius der Stern seiner Generation und droht, die älteren in den Schatten zu stellen. Wenn Crassus das nutzt und sich nicht scheut, Cotta und Sulpicius ganz offen zu beschämen und bei ihrer Ehre zu packen, dann steht er in der Tradition der Protreptik, wo die Möglichkeit des Scheiterns der Gegenpol zum Motiv des Ruhms ist. Cic. de orat. 3,230 cui quamquam faveo, tamen illum aetati suae praestare cupio, vobis vero illum tanto minorem praecurrere vix honestum est.

Dass nun mit Hortensius plötzlich eine wesentlich jüngere Konkurrenz für Cotta und Sulpicius auftaucht, ist nur auf den ersten Blick überraschend; denn der Dialog verweist immer wieder in die Zukunft und weit über das Gespräch kurz vor dem Tod des Crassus hinaus.347 Da sich Crassus wieder ganz auf den Anfang des Dialogs bezieht, ist seine Protreptik auch wieder allgemein auf die Redekunst ausgerichtet und geht im Grunde zurück hinter die besondere Entscheidungssituation des dritten Buchs. Crassus fordert seine Schüler auf, sich in ihren Studien und Übungen anzustrengen, und appelliert an ihren Ehrgeiz. 4.3.4 Zusammenfassung Ciceros Bücher De oratore sind kein Protreptikos, zeigen aber eine große Vielfalt von Elementen eindeutig protreptischer Natur. Die dialogexterne Ebene der Vorworte ist dabei mit dem Dialog selbst eng verbunden, da Cicero in beiden für sich selbst und für sein Programm eines orator doctus wirbt. 346 Über die Analogie von de orat. 1,30 zu 3,230 vgl. Wisse, Winterbottom, Fantham (in Leeman et al.), S. 377: „The position of Hortensius as described in our passage is remarkably similar.“ 347 Wiederum völlig zu Recht verweisen Wisse, Winterbottom, Fantham (in Leeman et al.), S. 377, auf de orat. 3,80 und die Deutung dieser Stelle auf Cicero selbst.

Zur Protreptik in De oratore

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In den Vorworten zum ersten und zum zweiten Buch wirbt Cicero für die Rhetorik im Allgemeinen und für sein Lehrbuch De oratore im Besonderen, indem er zunächst die gewaltige Größe seines Stoffs zeigt (maius-Motiv) und dann die Notwendigkeit der doctrina, einer theoretischen Bildung, herausstellt. Mit seiner Werbung wendet sich Cicero nicht so sehr an den Adressaten, seinen Bruder Quintus, der vor allem rezeptiv interessiert ist, sondern an junge Schüler, die eine andere und bessere Ausbildung als die, die von der konventionellen Rhetorik angeboten werde, verdienten. Im Vorwort zum dritten Buch wird die (historische) Person des Crassus erhöht, so dass für die Figur des Lehrers geworben wird. Den Dialog umgibt ein protreptischer Ring bzw. Rahmen, der von Crassus’ indirekt formulierter cohortatio am Beginn (1,30) zum Schlussgespräch (3,230) reicht, wo die Schüler aufgefordert werden, sich anzustrengen und nicht zuzulassen, dass der junge Hortensius sie überrage. Die protreptische Situation des ersten Buchs ist davon geprägt, dass die ‚Schüler‘ Sulpicius und Cotta sehr motiviert erscheinen und die Lehrer (besonders Crassus) auffordern, sie zu unterrichten und ihnen die Systematik der Rhetorik und damit das Geheimnis ihres eigenen Erfolgs zu zeigen. Diese Umkehr der gewöhnlichen Protreptik und vor allem das Zögern und Sträuben der Lehrer führen dazu, dass die Bedeutung und die Schwierigkeit der Aufgabe in einem ganz besonderen Licht erscheinen und zwar sowohl für die Teilnehmer am Dialog als auch für Ciceros Leser. Die Werbung um den Lehrer Crassus hält bis zum Schluss des zweiten Buchs an, wo sich das Motiv des ‚Hören-Wollens‘ an prägnanter Stelle findet. Der Streit zwischen Crassus und Antonius im ersten Buch darüber, wie hoch die Ansprüche sein dürfen, die man an einen Redner stellt, ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass beide an den Unterricht von Schülern denken und beide – besonders aber Antonius – die Anforderungen so gestalten wollen, dass der Schüler sein Ziel auch erreichen kann. Hier wird also eine pädagogische und damit auch protreptische Diskussion geführt. Sowohl Crassus (1,45–57) als auch Antonius (1,80–95) erzählen von Gesprächen, die sie mit griechischen Lehrern geführt haben. Der Vortrag des Philosophen Charmadas, von dem Antonius erzählt, ist eine protreptische Werberede in Gegenwart eines prominenten Schülers. Eine weitere protreptische Situation spielt dagegen in Rom: Antonius erzählt, wie er die Begabung des Sulpicius erkannt habe und ihn aufgefordert habe, sich von einem geeigneten Lehrer unterrichten zu lassen (2,88–92). Im dritten Buch stellt Crassus die Schüler vor die Entscheidung zwischen dem orator vulgaris und dem orator perfectus. Die Werbung für den philosophisch gebildeten vollkommenen Redner weist dabei über De oratore hinaus auf die Philosophie, auch wenn keineswegs verlangt wird, von der Rhetorik zur Philosophie zu konvertieren. Da Crassus sich auf Gorgias und Sokrates beruft, ist evident, dass es ihm vor allem um die Wahl des richtigen Lehrers und der richtigen Schule für einen Redner geht. Die Methode der skeptischen Philosophie verspricht dabei, dass ihre Grundzüge sehr schnell gelernt werden können.

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Das Besondere an dieser protreptischen Situation in De oratore ist, dass die Schüler sich unterschiedlich entscheiden: Sulpicius wählt den normalen Weg, Cotta will sich in der akademischen Philosophie schulen. Neben weiteren Stellen in De oratore verweisen besonders Crassus’ Werbung für einen Lehrer, der die Methode des Für und Wider an allen Gegenständen vorführen kann, und Cottas Hinwendung zur skeptischen Akademie auf Cicero selbst. De oratore kann also eine Werbeschrift ihres Verfassers pro domo und für sein Konzept der Aussöhnung von Rhetorik und Philosophie gelesen werden. 4.4 Aufruf zur Philosophie: Lucius Tullius Cicero in De finibus Cicero verfasst die Schrift De finibus bonorum et malorum im Frühsommer 45 v. Chr. Die Buchpaare 1 und 2 sowie 3 und 4 umfassen jeweils ein Gespräch, Buch 5 ein weiteres. In dem Gespräch, das Buch 3 einleitet und dessen dramatisches Datum 52 v. Chr. ist, trifft Cicero im Tusculanum des Lucullus auf Cato und spricht mit ihm kurz über den jungen Lucullus, für dessen Erziehung sein Onkel Cato verantwortlich ist.348 Auch wenn es sich nicht um eine direkte protreptische Situation handelt – der junge Lucullus ist gar nicht zugegen –, klingen doch die Themen Erziehung und Bildung an, die mit der Erwartung verknüpft sind, dass Lucullus den Vorbildern seiner Familie entspreche. So sagt über ihn Cicero zu Cato: Cic. fin. 3,8 est enim mihi magnae curae – quamquam hoc quidem proprium tuum munus est –, ut ita erudiatur, ut et patri et Caepioni nostro et tibi tam propinquo respondeat.349

Der etwa zwölfjährige Knabe nimmt an dem folgenden Gespräch in fin. 3 und 4 nicht teil, da er dafür zu jung ist und bei ihm erst die Grundlagen seiner Bildung gelegt werden.350 Die Gestalt des jungen Lucullus nimmt in gewisser Weise die des etwas älteren Lucius in Buch 5 vorweg, dessen Handlung Cicero in das Jahr 79 v. Chr. nach Athen verlegt. Lucius Cicero, ein Cousin des Redners, ist damals etwa so alt wie Ciceros Sohn Marcus, als er nach Athen geht.351 Cicero dürfte also, also er fin. 5 verfasste, für die Figur

348 M. Licinius Lucullus, geb. ca. 64 v. Chr.; vgl. Th. Frigo, Licinius I,28, DNP 7 (1999), 168. Der Tod des L. Licinius Lucullus, seines berühmten Vaters (cos. 74 v. Chr.), wird auf 57/56 v. Chr. datiert. 349 Zu patri respondere vgl. Cic. Planc. 51. 350 Cic. fin. 3,9 addo etiam illud, multa iam mihi dare signa puerum et pudoris et ingenii, sed aetatem vides. Video equidem, inquam, sed tamen iam infici debet iis artibus, quas si, dum est tener, conbiberit, ad maiora veniet paratior. 351 Vgl. J. Fündling, Tullius I,6, DNP 12/1 (2002), 902. 79 v. Chr. war Lucius etwa 19 Jahre alt. Zu Cic. fin. 5,2 vgl. ausführlich A. Hartmann, Zwischen Relikt und Reliquie. Objektbezogene Erinnerungspraktiken in antiken Gesellschaften, Berlin 2010, 31–35; Hartmann untersucht diese Stelle im Kontext der modernen Forschung zu Erinnerungskultur und Gedächtnisorten.

Aufruf zur Philosophie: Lucius Tullius Cicero in De finibus

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des Lucius seinen eigenen Sohn vor Augen gehabt haben, der zu der Zeit in Athen ist. Cicero lässt die Dialogpartner vom Dipylon-Tor zum Hain der Akademie, die seit dem Ersten Mithridatischen Krieg verlassen ist, spazieren und dort miteinander darüber sprechen, welche Plätze und welche mit diesen Plätzen verbundene Persönlichkeiten in Athen sie besonders beeindruckt hätten. Hier ist zu beobachten, dass – wie auch im Brief an Quintus – dem Ort eine besondere Rolle zukommt.352 Während Piso die Akademie Platons und seiner Nachfolger, Quintus den Kolonos und den Ödipus des Sophokles, Atticus den Garten Epikurs und Cicero selbst schließlich die Exhedra des Karneades bewundern, bekennt Lucius, als er von Piso angesprochen wird, dass er eigens die Küste am Hafen von Phaleron besucht habe, wo einst Demosthenes seine berühmten Redeübungen gehalten habe, und dass er eben an das Grabmal des Perikles herangetreten sei, und offenbart damit seine Interessen für die symbuleutische Rhetorik.353 Das folgende Gespräch zwischen M. Pupius Piso, Cicero und dem jungen Lucius Cicero trägt deutlich protreptische Züge, die an der geradezu leitmotivisch verwendeten Formulierung hortor […] hortatio […] hortandus in fin. 5,6 zu erkennen sind. Zunächst fordert Piso, der von den dreien der älteste ist,354 den Lucius auf, diejenigen, deren Spuren er in Athen kennengelernt habe, auch nachzuahmen.355 Cic. fin. 5,6 te autem hortamur omnes, currentem quidem, ut spero, ut eos, quos novisse vis, imitari etiam velis.

Darauf folgt eine Ermunterung, Lucius bei seiner Annäherung an die Philosophie zu unterstützen. Dessen Ziel dabei ist die Nachahmung seines in der Philosophie bereits fortgeschrittenen Vetters bzw. die Verbesserung der Fähigkeiten und Möglichkeiten auf dem Gebiet der Rhetorik dank philosophischer Kenntnisse: Cic. fin. 5,6 Nos vero, inquit, omnes omnia ad huius adolescentiam conferamus, inprimisque ut aliquid suorum studiorum philosophiae quoque impertiat, vel ut te imitetur, quem amat, vel ut illud ipsum, quod studet, facere possit ornatius.

Dazu E. Mango, Tanta vis admonitionis inest in locis. Zur Veränderung von Erinnerungsräumen im Athen des 1. Jahrhunderts v. Chr., in: R. Krumeich und Chr. Witschel (Hrsg.), Die Akropolis von Athen im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit, Wiesbaden 2010, 117–155. Vergleichbar und bemerkenswert ist auch Ciceros Bericht (de orat. 3,6), er habe die Stelle, wo Crassus seine letzte Rede gehalten habe, besucht in der Erwartung, dort den Nachhall des ‚Schwanengesangs‘ (dazu Leeman, Pinkster, Wisse ad loc.) des Crassus zu hören: illa tamquam cycnea fuit divini hominis vox et oratio, quam quasi expectantes post eius interitum veniebamus in curiam, ut vestigium illud ipsum, in quo ille postremum institisset, contueremur. 353 Das wird zuvor bereits aus Pisos Worten deutlich: (Cic. fin. 5,5) an eum locum libenter invisit, ubi Demosthenes et Aeschines inter se decertare soliti sunt? suo enim quisque studio maxime ducitur. 354 Geboren ca. 114 v. Chr.; vgl. J. Bartels, Pupius I,3, DNP 10 (2001), 601. 355 Zur Metaphorik des Laufs vgl. besonders Pl. Phd. 61a1, Isoc. 9,79 und Cic. ad Q. fr. 1,1,45 sowie oben S. 72. 352

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Die Formulierung facere […] ornatius darf dabei nicht nur auf den Bereich des ornatus und damit die Stilistik im engeren Sinne bezogen werden, sondern auch auf das stoffliche und argumentative Rüstzeug eines Redners, das er mithilfe der Philosophie erwerben kann.356 Als Cicero andeutet, dass Lucius bereits freiwillig und eifrig den Antiochos von Askalon höre, und Lucius – mit großer Bescheidenheit und großem Respekt (timide vel potius verecunde) – erzählt, er interessiere sich ebenso für den Skeptizismus des Karneades wie für die vetus Academia des Antiochos,357 folgt eine Rede des Piso, mit der er für die Schule des Antiochos wirbt. Der eindrückliche Imperativ ad eos (sc. die von der vetus Academia anerkannten Autoritäten) igitur converte te, quaeso ist jedoch – auch wenn der Wortlaut das zunächst vermuten lässt – keine Aufforderung, von der Rhetorik zur Philosophie zu konvertieren. Aus dem, was unmittelbar folgt, ergibt sich vielmehr, dass die Philosophie der vetus Academia als eine Quelle universaler Bildung dienen solle, deren Erwerb für viele Tätigkeiten unerlässlich sei. So argumentiert Piso: Cic. fin. 5,7 ex eorum (sc. der Philosophen, die Antiochos für seine vetus Academia in Anspruch nimmt) enim scriptis et institutis cum omnis doctrina liberalis, omnis historia, omnis sermo elegans sumi potest, tum varietas est tanta artium, ut nemo sine eo instrumento ad ullam rem illustriorem satis ornatus possit accedere. ab his oratores, ab his imperatores ac rerum publicarum principes extiterunt. ut ad minora veniam, mathematici, poetae, musici, medici denique ex hac tamquam omnium artificum officina profecti sunt.

Die Werbung geschieht hier mit dem Verweis auf erfolgreiche und in der Gesellschaft exponierte Schüler, die aus einer Schule hervorgegangen sind, wobei Politiker bzw. Anwälte (oratores) an erster Stelle stehen. Das Bild der ‚Werkstatt‘ (officina) gebraucht Cicero anderswo im Zusammenhang mit der Schule des Isokrates und ihren gleichfalls auf vielen Gebieten prominenten Schülern.358 Dass Piso in seiner protreptischen Rede eine Argumentation verwendet, die von Cicero auch auf Isokrates bezogen wird,359 scheint kein Zufall zu sein, da Isokrates, wie oben gezeigt worden ist, mit Protreptik in einem engen Zusammenhang steht.

356 Das zeigt sich aus dem Umstand, dass der ornatus von Cic. de orat. 2,78 mit verbis ornare umschrieben wird; die eher der inventio zuzuordnende Ausstattung einer Rede mit Fakten (res) und Gedanken (sententiae) kann ebenfalls mit dem Wort ornare bezeichnet werden (vgl. de orat. 2,145 mit Leeman, Pinkster, Nelson ad loc.). 357 Zum Text von Cic. fin. 5,6 und zur Erwähnung des Karneades (214/213–129/128) vgl. Madvig ad fin. 5,2. 358 Cic. de orat. 2,57 (ex clarissima quasi rhetoris officina), Brut. 32 (cuius domus cunctae Graeciae quasi ludus quidam patuit atque officina dicendi) und orat. 40 (domus eius officina habita eloquentiae est). Als besonders erfolgreich und exponiert erscheinen die Schüler in de orat. 2,94 cuius e ludo tamquam ex equo Troiano meri principes exierunt. 359 Für Isokrates selbst lässt sich die Metapher der Werkstatt wohl nicht nachweisen; zum Anspruch, die gesamte Stadt und somit auch ihre Anführer auszubilden, vgl. Isoc. 15,85.

Aufruf zur Philosophie: Lucius Tullius Cicero in De finibus

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Somit hat auch die protreptische Situation in fin. 5 einen Bezug auch auf die rhetorische Bildung, auch wenn die Rede des Piso (fin. 5,9–74) bekanntlich die Ethik des „Peripatos“ (nach Antiochos von Askalon) zum Thema hat.360 Der genannte Bezug erweist sich auch dann als schwächer, wenn man sich vor Augen führt, dass Lucius eher einer Figur wie dem jungen Kleinias in Platons Dialog Euthydemos entspricht als dem Muster von Isokrates’ Nikokles, das hier untersucht wird; denn Kleinias wird in Platons Dialog von verschiedenen Parteien umworben und steht zwischen dem Sophisten Euthydemos und dessen Bruder Dionysodoros auf der einen und Sokrates auf der anderen Seite.361 Bei Cicero zielt Pisos Rede direkt auf die Belehrung des jungen Lucius Cicero ab,362 er wird im Epilog der Rede mit der imperativischen Forderung angesprochen, er solle sich die Erhabenheit der Tugenden vorstellen.363 Das Zwischengespräch, das Cicero und Piso anschließend führen (5,75–86), wird gerahmt vom Motiv des Streits um den Schüler:364 zunächst sagt Piso zu Cicero, er wolle nicht ihn, sondern den Lucius überzeugen und ihn als Schüler entführen (abducere),365 nach einer kurzen Diskussion behauptet Piso, dass Cicero fürchte, dass ihm der Schüler entführt werde; Cicero erwidert konziliant, dass Lucius bei ihm selbst sein werde, auch wenn er dem Piso folgen werde,366 und beginnt seine Erwiderungsrede (5,86–95) mit einer Aufforderung an Lucius, er solle nun ihm zuhören.367 An deren Ende greift Cicero das Schüler-Motiv auf: wenn ihm Piso die Richtigkeit des Satzes beweise, dass alle Weisen glücklich seien, aber der eine mehr als der andere, dann wolle er nicht nur den Lucius, sondern auch sich selbst von Piso entführen lassen.368

360 Zu den vielfältigen Problemen, die sich im Zusammenhang mit dem Verständnis der Rede ergeben, vgl. O. Gigon und L. Straume-Zimmermann, Marcus Tullius Cicero, Über die Ziele des menschlichen Handelns, herausgegeben, übersetzt und kommentiert, München/Zürich 1988, 539–564. 361 Vgl. dazu Gaiser, 1959, 137–140. Die Ähnlichkeit zwischen Platons Euthydemos und Ciceros De finibus erschöpft sich allerdings in den Figuren des Kleinias und des Lucius. Umgekehrt könnten weitere Beispiele junger Leute, die am Anfang eines Bildungswegs stehen und daher mit Lucius Cicero vergleichbar sind, aus Platons Dialogen angeführt werden: etwa Hippokrates im Protagoras. 362 Cic. fin. 5,8 Et ille ridens: Age, age, inquit, – satis enim scite me nostri sermonis principium esse voluisti – exponamus adolescenti, si quae forte possumus. 363 Cic. fin. 5,71 Age nunc, Luci noster, extrue animo altitudinem excellentiamque virtutum. 364 Dass dieser Streit in einem ironischen Licht zu sehen ist und in den Kontext der Gesprächskultur des Dialogs gehört, signalisiert Pisos Lächeln (fin. 5,86 ridens). 365 Cic. fin. 5,75 Quamquam ego non quaero, quid tibi a me probatum sit, sed huic Ciceroni nostro, quem discipulum cupio a te abducere. 366 Cic. fin. 5,86 Et ille ridens: Video, inquit, quid agas; ne discipulum abducam, times. Tu vero, inquam, ducas licet, si sequetur; erit enim mecum, si tecum erit. 367 Cic. fin. 5,86 Audi igitur, inquit, Luci; tecum enim mihi instituenda oratio est. 368 Cic. fin. 5,65 Atqui iste locus est, Piso, tibi etiam atque etiam confirmandus, inquam; quem si tenueris, non modo meum Ciceronem, sed etiam me ipsum abducas licebit.

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Das Buch schließt mit Bemerkungen von Quintus und Atticus, während Piso und der junge Lucius nicht mehr zu Wort kommen. Das im Gespräch zwischen Piso und Cicero dreimal (5,75.86.94) verwendete Motiv der Entführung des Schülers ist eine Art Selbstzitat Ciceros aus De oratore.369 Nachdem Antonius in De oratore seine Lobrede auf die Rhetorik gehalten hat (de orat. 2,28–39) und dafür selber von Crassus gelobt worden ist, rechtfertigt er seine am Vortrag geäußerten Positionen, in denen er große Vorbehalte gegen eine Überbewertung der Bildung und der Rhetorik äußert, damit, dass er mit seiner scharfsinnigen Widerlegung dem Crassus die ‚Schüler‘ Sulpicius und Cotta habe abspenstig machen wollen.370 Die Funktion dieser Anspielung in fin. 5 auf de orat. 2,40 scheint in dem Verweis zu bestehen, dass für den jungen Lucius Cicero neben der Philosophie die Rhetorik eine sehr wichtige Rolle spielt und er sich in einer ähnlichen Situation befindet wie die ‚Schüler‘ in De oratore. Auch wenn man, wie hier geschehen, den Inhalt der philosophischen Diskussion im Dialog weitgehend ausblendet, zeigt sich doch, dass Cicero in fin. 5 eine protreptische Situation konstruiert. Dabei ist die Figur des Lucius zunächst eng mit dem Interesse an der Rhetorik verknüpft; später wird er von Piso und Cicero umworben und implizit aufgefordert, der richtigen philosophischen Schule zu folgen. Damit haben wir es in fin. 5 trotz aller Betonung der Rhetorik mit einer auf die Philosophie ausgerichteten bzw. aus dieser stammenden Protreptik zu tun. Der Grund dafür liegt auf der Hand: die Form des philosophischen Dialogs (in seiner spezifisch ciceronischen Form) und die Themen des Buchs (Tugend und Eudaimonie) verlangen eine Orientierung an entfernten Vorbildern wie z. B. Platons Euthydemos und nicht am Muster der rhetorischen Protreptik. Festzuhalten bleibt, dass Cicero die Rolle der Bildung sehr hervorheben lässt (besonders zu Beginn fin. 5,6); hinzu kommt, dass innerhalb des protreptischen Gesprächs ein sehr enges Verwandtschaftsverhältnis besteht, nämlich das der Vettern Marcus und Lucius. 4.5 Zur Protreptik in De officiis Im folgenden Kapitel wird untersucht, wie Cicero in seinen Büchern De officiis für die Rhetorik wirbt und dabei Formen literarischer Protreptik aufgreift und anwendet. Die Grundsituation legt nahe, dass wir Protreptik in diesem Text finden: ein junger Studierender aus ‚gutem Haus‘ und ein Ratgeber bzw. Lehrer, der für seine Vorstellungen

369 In fin. 5,86 ducas licet spielt Cicero zudem auf die Formel im Schuldrecht an, mit der einem Gläubiger die Verhaftung seines Schuldners gestattet wird; vgl. Madvig ad loc. und Leeman, Pinkster und Rabbie ad Cic. de orat. 2,255. 370 Cic. de orat. 2,40 tum Antonius heri enim, inquit, hoc mihi proposueram ut, si te refellissem, hos a te discipulos abducerem; nunc Catulo audiente et Caesare, videor debere non tam pugnare tecum quam, quid ipse sentiam, dicere.

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wirbt. Zu dieser weiteren und abstrakten Bindung kommen noch die viel engere und reale Bindung zwischen Cicero dem Sohn und Cicero dem Vater sowie eine Trennung, weil der Sohn in Athen studiert, der Vater dagegen in Rom bzw. Italien ist, so dass es einen äußeren Anlass für Briefverkehr und schriftliche Kommunikation gibt. In diesem Rahmen sind nun ‚Leben‘ und ‚Literatur‘ derartig miteinander verbunden und ineinander verwoben, dass es unmöglich zu sein scheint, so etwas wie Ursache und Wirkung voneinander zu trennen.371 Daher liegt das Hauptaugenmerk im Folgenden auf der Literatur und den Texten in der Hoffnung, dass ein Verständnis der Formen und ihrer Traditionen dazu führt, dass man mit Schlüssen über das ‚Leben‘ sehr vorsichtig und zurückhaltend ist. Trotzdem soll zunächst die Situation skizziert werden, in der sich der junge Student Marcus Tullius Cicero in Athen befindet. 4.5.1 Marcus Tullius Cicero der Sohn 4.5.1.1 Die Studien eines Zwanzigjährigen in Athen Marcus Tullius Cicero wird im Jahre 65 (oder 64) v. Chr. als zweites Kind und einziger Sohn Terentias und seines gleichnamigen Vaters geboren. Über ihn und seine Familie sind wir aus den Quellen allgemein sehr gut informiert;372 daher und weil der junge Cicero so etwas wie ein Paradebeispiel eines Sohns eines berühmten Vaters in der turbulenten Umbruchszeit der ausgehenden Republik ist, gibt es in der Forschung zahlreiche Darstellungen besonders seiner Jugend.373 371

Die Durchdringung aller Lebensbereiche der Oberschicht mit Bildung und Literatur bezeichnet Scholz, 2011, besonders 361–372, als „Intellektualisierung der politischen Praxis“ und möchte mit diesem Begriff den der Hellenisierung ersetzen bzw. präzisieren. 372 Die Quellen sind übersichtlich zusammengestellt in PIR2 (2009), T 378, und von R. Hanslik, Tullius (30): M. Tullius Cicero: Sohn des Redners und der Terentia, RE VII A (1948), 1281–1286. Die Festlegung des Geburtsjahres hängt davon ab, wie die Angabe der Konsuln in Cic. Att. 1,2,1 interpretiert wird, dazu vgl. Hanslik, 1281. 373 M. van den Bruwane, Cicéron éducateur de ses enfants, N&V 15 (1933), 53–63. Eine ausführliche und gute Präsentation der Zeugnisse findet sich bei M. Testard, Le fils de Cicéron, destinataire du De officiis, BAGB (1962), 198–213. Testards Schlussfolgerungen, die er aus den Texten zieht, sind teilweise etwas problematisch, weil er versucht, die Spannungen in der Persönlichkeit des jungen Marcus zu rekonstruieren (besonders 206). Scholz, 2011, 329–350, zieht den jungen Marcus und seinen Cousin Quintus als Fallbeispiele heran und legt den Fokus weniger auf persönliche Konflikte in der Familie als auf die Methoden, mit denen Angehörige der Oberschicht in Zeiten großer Umbrüche ihre Kinder erzogen und gefördert haben. Eine exzellente Skizze liefert S. Treggiari, The Education of the Ciceros, in: W. M. Bloomer (Hrsg.), A Companion to Ancient Education, Oxford 2015, 240–251. Eine Darstellung des allgemeinen Hintergrunds bietet B. Rawson, Children and Childhood in Roman Italy, Oxford 2003, vgl. besonders 247–248 (zum Verhältnis der Geschwister Tullia und Marcus). Zu den Spannungen, die zu verschiedenen Zeiten und zwischen verschiedenen Mitgliedern der Familie Ciceros herrschen, vgl. den Beitrag von S. Dixon, Conflict in the Roman Family, in: B. Rawson und P. Weaver (Hrsg.), The Roman Family in Italy. Status,

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Als Marcus Tullius Cicero der Sohn im März 45 v. Chr. mit 19 Jahren nach Athen geht, ist er nicht zum ersten Mal in Griechenland, da er im Jahre 51 v. Chr. seinen Vater, der damals Prokonsul ist, gemeinsam mit seinem Cousin Quintus nach Kilikien begleitet und Athen auf der Durchreise besucht.374 Im Jahre 48 v. Chr. nimmt er im Heer des Pompeius als Kommandeur einer Reiterala an der Schlacht bei Pharsalos teil.375 Der Aufenthalt des jungen Cicero in Athen, dessen Zustandekommen und Umstände sich aus einigen Briefen teilweise rekonstruieren lassen, teilweise im Dunkeln bleiben müssen, sollen hier nur einige Punkte herausgegriffen werden.376 Im Herbst 46 v. Chr. spielt der junge Marcus mit dem Gedanken, nach Spanien zu Caesar zu gehen, und sich dafür von seinem Vater mit Geld ausstatten zu lassen. Cicero der Vater orientiert sich dabei an dem, was Publilius und Lentulus für ihre Söhne aufwenden.377 In der für Cicero nach der Scheidung von seiner Frau Terentia (Ende 47 oder Anfang 46 v. Chr.) und dem Tod seiner Tochter Tullia (Februar 45 v. Chr.) persönlich und auch finanziell sehr schwierigen Zeit entscheidet sich spätestens im März 45 v. Chr., dass sein Sohn Marcus nach Athen zum Studium gehen wird.378 Bereits Ende Mai erfahren wir indirekt von Briefen des Atticus an den jungen Marcus und die beiden Freigelassenen L. Tullius Montanus und Tullius Marcianus, die ihn begleiten. Cicero hält gegenüber Atticus ausdrücklich die Weise für angemessen, wie dieser seine Mahnungen formuliert habe: weder zu streng noch zu gemäßigt.379 Im Frühjahr und Sommer des Jahres 44 v. Chr. studiert Marcus weiter in Athen. Cicero berichtet Atticus von einem Brief seines Sohns, dessen Stil er lobt und hervorhebt, weil er ein unverfälschter Nachweis von Fortschritt in der Bildung sei, wohingegen andere Punkte nicht unbedingt den Tatsachen entsprechen müssten.380 Zwei

374 375 376 377 378 379 380

Sentiment, Space, Canberra/Oxford 1997, 149–167. Eine ähnliche Skizze der Familie findet sich bei K. R. Bradley, Discovering the Roman Family. Studies in Roman Social History, New York/Oxford 1991, 177–204. Die Konflikte zwischen den Generationen stellt dar E. Eyben, Restless Youth in Ancient Rome, London/New York 1993, zu Cicero und zu seinem Sohn Marcus vgl. 105–212; vgl. auch E. Eyben, Fathers and Sons, in: B. Rawson (Hrsg.), Marriage, Divorce, and Children in Ancient Rome, Oxford 1991, 114–143, besonders 139–140. Cic. Att. 5,17,3 und 6,1,12. Der Aufenthalt in Athen geht aus Cic. Att. 5,10,1 und 5,11,4 hervor. Cic. off. 2,45; vgl. A. R. Dyck, A Commentary on Cicero, De Officiis, Ann Arbor 1996, ad loc. Ciceros Briefe an seinen Sohn lagen in mindestens 2 Büchern (Non. 4,275 Mercier) vor und sind heute verloren; vgl. K. Büchner, Tullius (29), RE VII A (1939), 1204. Cic. Att. 12,7; vgl. auch Att. 12,32,2 (über Mieteinnahmen zur Finanzierung) und Saller, 124–125. Auch das Terentia zustehende Vermögen spielt eine große Rolle bei Ciceros Überlegungen, wie er das Studiums seines Sohns finanziert (Att. 12,19,4). Cic. Att. 12,24,1, wo Cicero überlegt, wie das Geld für Marcus in Athen zur Verfügung gestellt werden soll. Er folgt dann der Empfehlung des Atticus (Att. 12,27,2). Vgl. zu Ciceros Ehefrau und Tochter auch S. Treggiari, Terentia, Tullia and Publilia. The Women of Cicero’s Family, London/New York 2007. Cic. Att. 13,1,1 (23. Mai 45); ob es bei diesem Tadel um das Studium oder um Geldangelegenheiten gegangen ist, wird nicht ganz deutlich. Vgl. zu diesem Brief auch O. E. Schmidt, Der Briefwechsel des M. Tullius Cicero von seinem Prokonsulat in Cilicien bis zu Caesars Ermordung, Leipzig 1893, 286. Cic. Att. 14,7,2 (April 44 v. Chr.) […] πίνος litterarum significat doctiorem. Zum Ausdruck πίνος vgl. unten Anm. 394 zu Cic. Att. 15,16,1.

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Aspekte werden aus diesen Worten deutlich: zum einen ist Cicero sehr bestrebt, die Studien seines Sohns zu verfolgen und geradezu zu überwachen; Marcus’ Vorankommen ist dabei in Ciceros Augen durchaus messbar (vgl. den Komparativ doctiorem); zum anderen legt Cicero sehr großen Wert auf den Stil seines Sohns; daher kann man annehmen, dass die philosophischen Studien im Vergleich damit fast im Hintergrund stehen oder zumindest nicht das entscheidende Kriterium sind, wenn Cicero den Fortschritt und den Erfolg des Studiums messen möchte. Etwa einen Monat nach Caesars Ermordung plant Cicero für den Juli 44 v. Chr., selbst nach Griechenland zu reisen. Als Atticus gute Nachrichten über Marcus hat, bittet Cicero ihn, seinem Sohn weitere Mittel zur Verfügung zu stellen.381 Kurze Zeit später ist Cicero sehr entschlossen, nach Athen zu fahren und in das Studium seines Sohns direkt einzugreifen (intervenire discenti); denn Leonidas aus Athen äußert sich sehr reserviert über Marcus und will ihn anscheinend nicht direkt loben;382 von Herodes, dem vornehmen Mentor seines Sohn, hört Cicero nichts und interpretiert dieses Schweigen als ein Unterdrücken schlechter Nachrichten.383 Trotzdem möchte Cicero, dass es seinem Sohn an nichts fehle, was dessen Pflichterfüllung (officium) und die Reputation des Vaters (existimatio) nun einmal verlangen. Hier zeigt sich, wie geringen Spielraum Cicero dem Verhalten seines Sohnes lassen möchte. Darauf verweisen auch die beiden vornehmen Athener Leonidas und Herodes, die die Rolle von Supervisoren übernommen zu haben scheinen. 4.5.1.2 Ein Bericht aus Athen: Trebonius an Cicero den Vater (Cic. fam. 12,16) Von Ende Mai des Jahres 44 v. Chr. stammt ein Brief, in dem C. Trebonius, der designierte Prokonsul von Asia (für das Jahr 43 v. Chr.), Cicero von seinem Aufenthalt in Athen berichtet.384 Trebonius hat den jungen Marcus in Athen gesehen und lobt ihn sehr.

381 Cic. Att. 14,11,2 (Ende April 44 v. Chr.) und 14,13,4 (Reise als legatus). 382 Zu Leonidas (bzw. Leonides) vgl. F. Münzer, Leonidas (13), RE XII (1925), 2021, und E. Rawson, Cicero and the Areopagus, Athenaeum 63 (1985) 44–67, hier 49–50 (Nachdruck in: E. Rawson, Roman Culture and Society. Collected Papers, Oxford 1991, 444–467). Es scheint sich eher um einen vornehmen Bekannten Ciceros als um einen Lehrer gehandelt zu haben. Offenbar bittet Cicero Leonidas um Nachrichten und Berichte über seinen Sohn. 383 Cic. Att. 14,16,3 (3. Mai 44 v. Chr.) und 14,17,5 (3. Mai 44 v. Chr.). Einen vermutlich weiteren und aus seiner Sicht unerfreulichen Brief des Leonidas erwähnt Cicero Att. 14,18,4 (9. Mai 44 v. Chr.). Zu Herodes, der als ehemaliger Archon (60/59 v. Chr.) Mitglied des Areopags ist und einer einflussreichen Athener Familie angehört, vgl. W. Ameling, Herodes Atticus, Bd. 1. Biographie, Hildesheim 1983, 6–10, und Rawson, 1985, 44–49. 384 Cic. fam. 12,16,1–2 (25. Mai 44 v. Chr.). Zu diesem Brief vgl. P. White, Cicero in Letters, Epistolary Relations of the Late Republic, Oxford 2010, 6–10, und G. O. Hutchinson, Cicero’s Correspondence. A Literary Study, Oxford 1998, 17.

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Cic. fam. 12,16,1 […] vidi filium tuum deditum optimis studiis summaque modestiae fama. qua ex re quantam voluptatem ceperim scire potes etiam me tacente. non enim nescis, quanti te faciam et quam pro nostro veterrimo verissimoque amore omnibus tuis etiam minimis commodis, non modo tanto bono, gaudeam.

Auffällig sind mehrere Punkte: Trebonius weiß, dass Cicero sehr großen Wert auf den Studienerfolg seines Sohnes legt, und informiert ihn deshalb darüber als ein Gewährsmann, der mit eigenen Augen gesehen habe, wie es in Athen um ihn stehe. Neben Marcus’ eigentlichem Studium spielt auch die Bewertung eine große Rolle, wie sich der junge Cicero verhält. Daher berichtet Trebonius, welch positiven Eindruck dessen modestia hergerufen habe, und fährt fort, dass der junge Marcus von allen jungen Leuten, die sich gerade in Athen aufhielten, der liebenswürdigste und zugleich eifrigste in den Künsten sei.385 Seine eigene Reaktion darauf beschreibt Trebonius mit sehr emotionalen Formulierungen: er gratuliere Cicero zum Erfolg seines Sohnes und auch sich selbst, weil er ihn, den er in jedem Falle habe lieben müssen, nun wirklich gerne lieben könne. Diese Verknüpfung des Lernens mit einer positiven Emotion weist auf die Motive einer protreptischen Situation hin.386 Im Folgenden schreibt Trebonius, er habe den jungen Cicero, als er Interesse geäußert habe, eine Reise nach Asien zu machen, geradezu gebeten, das zu tun, wenn er selbst als Statthalter in der Provinz sei. Nun will er mögliche Bedenken des Vaters zerstreuen, die darin bestehen, dass eine solche Reise alleine dem Vergnügen dienen könne, und erklärt kurzerhand, dass der Lehrer Kratippos seinen Schüler selbstverständlich begleiten werde:387 Cic. fam. 12,16,2 illud quoque erit nobis curae, ut Cratippus una cum eo sit, ne putes in Asia feriatum illum ab iis studiis, in quae tua cohortatione incitatur, futurum. nam illum paratum, ut video, et ingressum pleno gradu cohortari non intermittemus, quo in dies longius discendo exercendoque se procedat.

Trebonius weiß offenbar genau, dass zwischen Vater und Sohn eine protreptische Situation (cohortatio) besteht, und ist gerne bereit, ersatzweise die Rolle des Vaters zu übernehmen und den Sohn unablässig zum Lernen aufzufordern sowie seine Fortschritte zu beobachten und zu kontrollieren. Aus diesem Umstand lässt sich ablesen,

Cic. fam. 12,16,2. Zu Recht weist White, 9, darauf hin, dass Cicero diese Informationen mit einer gewissen Skepsis aufgenommen haben dürfte. 386 Cic. fam. 12,16,1. Es steht fest, dass die Brieftopik sehr emotionale Formulierungen kennt. Vgl. Hutchinson, 17 (über Freundschaft) und 165 f. (über Liebe). Vgl. auch allgemein A. Wilcox, The Gift of Correspondence in Classical Rome. Friendship in Cicero’s Ad Familiares and Seneca’s Moral epistles, Madison, Wis. 2012. 387 Zu Kratippos ausführlicher unten Anm. 440. – Dieses Gedankenspiel des Trebonius setzt voraus, dass Kratippos durch keine offizielle Verpflichtung an Athen gebunden ist; vgl. auch Dyck, 1996, ad off. 3,5–6 (S. 502). Es ist nicht ganz deutlich, ob Trebonius mit der Formulierung, dass er sich um die Angelegenheit kümmern werde, auch an ein finanzielles Engagement denkt. 385

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dass Cicero in seiner Sorge für das Studium seines Sohns nicht nur eine Privatangelegenheit sieht oder dass Trebonius das zumindest annimmt. Dabei lässt sich vermuten, dass Trebonius die Begriffe cohortatio, incitari, discere und se exercere hier so verwendet, dass er nicht nur Ciceros tatsächliche Bemühungen um Erziehung damit beschreibt, sondern auch auf die literarische Tradition seit Platon und den Sophisten anspielt, die allgemeinen Motive und Züge der Protreptik kennt und sehr virtuos handhabt.388 Auch der weitere Verlauf des Briefes zeigt nämlich, dass Trebonius versucht, mit Cicero über Literatur und mit deren Hilfe zu kommunizieren und ihn auf diese Weise für sich zu gewinnen.389 Seine eigentlichen Interessen gehen dabei vermutlich über das Literarische hinaus und betreffen seine politische und persönliche Zukunft.390 Trebonius erzählt, er habe auf seiner Überfahrt die Muße gefunden, einen für ihn ehrenvollen Ausspruch Ciceros in Verse zu fassen und damit eine Invektive gegen eine weitere Person zu verbinden.391 Am Schluss des Briefes bittet er Cicero darum, ihn in einem seiner Dialoge bzw. in einer Schrift über Caesars Tod auftreten zu lassen.392 An Atticus schreibt Cicero Mitte Juni 44 v. Chr., dass er von seinem Sohn einen Brief bekommen habe.393 Er lobt wie schon bei einem früheren Brief dessen an alten Vorbildern geschulten Stil und möchte daraus schließen, dass sein Sohn mit seinen Studien vorankomme.394 Cic. Att. 15,16,1 […] mehercule litterae πεπινωμένως scriptae, id quod ipsum προκοπὴν aliquam significat.

388 Vergleichbar ist in gewisser Weise der Trostbrief fam. 4,5 (März/April 45 v. Chr.) des Servius Sulpicius Rufus an Cicero nach Tullias Tod, da auch hier literarische Motive gewissermaßen für eine Situation im Leben angewendet werden: Sulpicius zieht in sehr persönlicher Weise die Konsolationstopik heran, um gegen Ciceros schlimme Niedergeschlagenheit anzukämpfen; zu diesem Brief ausführlich Hutchinson, 65–77. 389 Die Briefe Cic. fam. 15,20 und 15,21 zeigen das Interesse des Trebonius an der Rhetorik und seine Unterstützung für Cicero im Streit mit Calvus um das Stilideal des ‚Attizismus‘ (15,21,4). 390 Vgl. wiederum Scholz, 2011, besonders 361–372. 391 Cic. fam. 12,16,3–4; in der Forschung wird diskutiert, gegen wen sich Trebonius gerichtet haben könnte. Vgl. K. Heldmann, Trebonius und seine Lucilische Satire aus dem Jahre 44 v. Chr., SO 63 (1988), 69–75 (Satire gegen Dolabella, seinen späteren Mörder [vgl. Cic. Phil. 11,1–9], gerichtet), und I. Goh, Trebonius’ Allusion to Lucilius (Cic. Fam. 12.16.3), SO 87 (2013), 79–89 (Satire gegen Caesar gerichtet). Diese Briefstelle ist zudem für die Geschichte der Satire zwischen Lucilius und Horaz ein wichtiges Zeugnis. 392 Zur Rolle des Trebonius bei Caesars Ermordung vgl. J. T. Ramsey, Cicero, Philippics I–II, Cambridge 2003, ad Cic. Phil 2,34. 393 Cic. Att. 15,16 (etwa Mitte Juni 44 v. Chr.). 394 Zum Begriff ὁ πίνος bzw. zu dem Ausdruck πινοῦν vgl. Cic. Att. 14,7,1 und die sehr gute Übersicht bei J. Ch. Th. Ernesti, Lexicon Technologiae Graecorum Rhetoricae, Leipzig 1795 (Nachdruck Hildesheim 1962), s. v. Aus Stellen wie D. H. Dem. 45,3 geht hervor, dass es sich nicht um einen Archaismus handelt, der ausgestorbene oder museale Formen und Konstruktionen wiederbelebt, sondern um die Nachahmung dessen, was man in der klassizistisch geprägten Rhetorikschule an den ‚alten‘ Schriftstellern wie Demosthenes als kräftig und vital empfunden hat.

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Das mit der Protreptik im Zusammenhang stehende Motiv des Fortschritts nennt Cicero hier explizit: προκοπή.395 Zugleich schreibt er, dass ihm auch die Athener Freunde geschrieben hätten: Leonidas sei in seinem Urteil noch etwas reserviert, Herodes dagegen optimistisch. Ciceros Plan, selbst nach Athen zu reisen, zerschlägt sich. Nicht zuletzt haben sowohl der Vater als auch der Sohn Schwierigkeiten, ihre Ausgaben zu finanzieren.396 4.5.1.3 Noch ein Bericht aus Athen: der junge Cicero an Tiro (Cic. fam. 16,21) In Athen studiert Cicero der Sohn Philosophie bzw. Rhetorik. Dabei tut er das, was viele vornehme Römer in seinem Alter bzw. in den Lebensjahren zwischen 20 und 30 zeitweise tun. So hört Cäsar 75 v. Chr. Vorlesungen bei Ciceros Lehrer Molon auf Rhodos,397 der Jurist Ser. Sulpicius ein paar Jahre zuvor ebenfalls,398 in Athen studiert Varro bei Antiochos.399 Insofern bewegt sich der junge Cicero auf für die Oberschicht konventionellen Bahnen.400 Der Privatcharakter dieses Unterrichts hängt nicht nur mit dem gesellschaftlichen Rang der Schüler zusammen und damit, dass viele Institutionen seit dem 1. Mithridatischen Krieg (Einnahme Athens 86 v. Chr.) nicht mehr beste-

395 Zu diesem Begriff siehe auch unten Anm. 550 (zu Cic. off. 3,14). 396 Cic. Att. 15,15,3–4 (13. Juni 44 v. Chr.) berichtet Cicero über seine eigenen Schwierigkeiten und darüber, dass Marcus seit April kein Geld habe und deswegen an Tiro geschrieben habe; Att. 16,1 (8. Juli 44 v. Chr.) berichtet Cicero, dass Marcus geschrieben habe, welche Summe ihm ausreichend sei (80000 Sesterzen [Text unsicher]); Xeno aber sehr langsam zahle. Zu dem reichen Athener Xeno vgl. E. Rawson, 1985, 51–52. Cicero schreibt an Atticus (16,3,4 vom 17. Juli 44 v. Chr.) und zählt die Gründe auf, warum ihm der Plan, nach Athen zu geben, inzwischen missfalle. 397 Plut. Caes. 3; vgl. Groebe, Iulius (131), RE X (1918), 186–259, hier 188: „Caesars Aufenthalt auf Rhodus dauerte ungefähr ein Jahr.“ 398 Cic. Brut. 151. 399 Cic. ac. 1,12 – vermutlich zwischen 84 und 82 v. Chr., also nach seinem 30. Lebensjahr; vgl. H. Dahlmann, Terentius (84), RE S VI (1935), hier 1175. Die Begegnung des Pompeius mit Poseidonios (62 v. Chr. auf Rhodos) ist kein ‚Studienaufenthalt‘, da ein Herrscher dem Philosophen seine Reverenz erweist: Plut. Pomp. 42,5 ἐν δὲ Ῥόδῳ γενόμενος πάντων μὲν ἠκροάσατο τῶν σοφιστῶν, καὶ δωρεὰν ἑκάστῳ τάλαντον ἔδωκε· Ποσειδώνιος δὲ καὶ τὴν ἀκρόασιν ἀνέγραψεν ἣν ἔσχεν ἐπ’ αὐτοῦ πρὸς Ἑρμαγόραν τὸν ῥήτορα περὶ τῆς καθόλου ζητήσεως ἀντιταξάμενος (vgl. Plin. nat. 7,112). 400 Vgl. R. Syme, The Roman Revolution, Oxford 1939, 198. Syme skizziert die Zeit, in der Brutus nach Athen kommt (September 44 v. Chr.). In Athen studieren neben dem jungen Cicero auch noch L. Bibulus, Manlius Acidinus und Valerius Messalla (Cic. Att. 12,32,2), der Dichter Horaz (Hor. epist. 2,2,41–52), möglicherweise sein Freunde Manlius Torquatus – F. Münzer, Manlius (72a), RE XIV (1928), 1193 – und, wie E. Fraenkel, Horace, Oxford 1957, 10, Anm. 3, vermutet, Pompeius (Hor. carm. 2,7). Sollten sich Horazens Verse cum quo morantem saepe diem mero / fregi coronatus nitentis / malobathro Syrio capillos auf die gemeinsame Zeit in Athen beziehen, so ist das ein Zeugnis für das schöne Leben neben dem Studium. Anders als der junge Cicero wird Horaz von den Späteren dafür nicht gerügt. – Brutus selber hört ebenfalls Vorlesungen bei Kratippos (Plut. Brut. 24).

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hen, sondern auch mit der Auffassung der Philosophie als einer Lebensform,401 die sich darin ausdrückt, dass der Schüler mit seinem Lehrer eine gewisse Zeit zusammenlebt. Cicero selbst erzählt im Brutus von seinem eigenen Aufenthalt in Athen in den Jahren zwischen 79 und 77 v. Chr. folgendes: Cic. Brut. 315 Cum venissem Athenas, sex menses cum Antiocho veteris Academiae nobilissumo et prudentissumo philosopho fui studiumque philosophiae numquam intermissum a primaque adulescentia cultum et semper auctum hoc rursus summo auctore et doctore renovavi.402

Die Formulierung esse cum gebraucht Cicero hier im Sinne von ‚leben mit‘, ‚sich aufhalten bei‘.403 Genauso beschreibt der junge Marcus sein Leben bei dem Philosophen Kratippos in einem sehr elaborierten und zugleich persönlichen Brief an Tiro, den Freigelassenen seines Vaters, vom Sommer 44, der im Folgenden diskutiert werden soll.404 Der junge Cicero beginnt seinen Brief mit der Bemerkung, dass er die Briefboten sehnlichst erwartet habe und sie nun endlich angekommen seien, nachdem sie von Rom 46 Tage unterwegs gewesen seien. Der Brief seines Vater habe ihn sehr erfreut,405 Tiros sehr freundlicher Brief habe ihm jedoch die Krönung seiner Freude – so die artige Formulierung – gebracht. Nun habe er das gute Gefühl, dass er sein vorangegangenes längeres Schweigen nicht bereuen müsse, weil es ihm den Genuss von Tiros artiger Höflichkeit (humanitas) beschert habe. Nach der Bemerkung, dass er sicher sei, dass gute Nachrichten (rumores) über ihn Tiro lieb und willkommen seien, sagt der junge Cicero, dass er sich anstrengen werde (enitar) und daran arbeiten werde, dass sein guter Ruf wachse. Ausdrücklich erlaubt er Tiro, der mutige und beharrliche Verbreiter seiner Reputation zu sein.406 Offensichtlich hatte ihm Tiro angeboten, ihm dabei behilflich zu sein, den beschädigten Ruf zu

401 Vgl. allgemein P. Scholz, Der Philosoph und die Politik. Die Ausbildung der philosophischen Lebensform und die Entwicklung des Verhältnisses von Philosophie und Politik im 4. und 3. Jh. v. Chr., Stuttgart 1998, und P. Hadot, Exercices spirituels et philosophie antique, Paris 1981 (Deutsche Übersetzung von I. Hadot und Chr. Marsch: Philosophie als Lebensform, Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991). 402 Zur Datierung vgl. A. E. Douglas, M. Tulli Ciceronis Brutus, Oxford 1966, ad loc. 403 Vgl. ThLL IV (1906–09), s. v. cum, 1349,62sqq. und besonders die häufige Verwendung von συνεῖναί τινι in diesem Sinne z. B. Pl. Ap. 25e3 und X. Mem. 1,2,8.24. 404 Zur Datierung auf Anfang August vgl. D. R. Shackleton Bailey, Cicero: epistulae ad familiares, Vol. II, 47–43 B. C., Cambridge 1977, ad 337 (S. 476). Gelegentlich wird angenommen, dass der junge Cicero hier gewissermaßen indirekt über Tiro mit seinem Vater kommuniziert (Scholz, 2011, 345); das ist zweifellos richtig, da der Schreiber mit einer scherzhaften Formulierung hofft, Tiro werde seinen guten Ruf verbreiten. Trotzdem wissen wir nicht, ob der Sohn nicht auch dem Vater geschrieben hat und sich von Tiro zusätzliche Unterstützung erbittet. Zu dem Brief vgl. auch W. C. McDermott, M. Cicero and M. Tiro, Historia 21 (1972), 259–286, hier besonders 269–271. 405 Möglicherweise handelt es sich um Ciceros Antwort auf den Brief seines Sohns von Mitte Juni, der Cic. Att. 15,16 erwähnt wird. 406 Cic. fil. Cic. fam. 16,21,2 qua re quod polliceris te bucinatorem fore existimationis meae, firmo id constantique animo facias licet.

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reparieren, und ihm versichert, dass er an seinem Kummer (dolor) und seiner Beunruhigung (sollicitudo) großen Anteil nehme; der junge Cicero antwortet ihm nun, dass er das sehr zu schätzen wisse. Hat es in Athen einen Skandal gegeben? Der junge Cicero spricht ausweichend von den errata aetatis meae, bei deren Erwähnung sich seine Ohren verschließen wollten. Wir erfahren aus diesem Brief nicht, was vorgefallen ist, es scheint aber, dass Tiro in seinem Brief daran sehr deutlich erinnert und sein Bedauern darüber ausgedrückt hat. Die Passage schließt mit der Bemerkung, dass der junge Cicero sich bemühen werde, den Kummer, den Tiro seinetwegen empfunden habe, durch eine Verdopplung der Freude aus der Welt zu schaffen.407 Hervorzuheben ist hier die starke Verbindung von Einschätzungen des Rufs und des Betragens mit Emotionen (besonders gaudium und dolor). Der junge Cicero fährt fort mit einem Bericht über seine Lehrer und stellt den Philosophen Kratippos an die erste Stelle: Cic. fil. Cic. fam. 16,21,3 Cratippo me scito non ut discipulum sed ut filium esse coniunctissimum. nam cum audio illum libenter tum etiam propriam eius suavitatem vehementer amplector. sum totos dies cum eo noctisque saepe numero partem; exoro enim, ut mecum quam saepissime cenet.

Die Lebensgemeinschaft, die mit Kratippos und seinem Kreis besteht, erstreckt sich auch auf die Mahlzeiten, bei denen – fährt der junge Cicero fort – der Philosoph öfter auch als Überraschungsgast erscheine und mit seinem gebildeten Humor ein angenehmer Tischgenosse sei. Die Redewendung cenare cum aliquo wird, wie die Parallelen zeigen,408 vom demjenigen gebraucht, der einen Gast bei sich zum Essen hat. Der Lehrer, ein in seiner Zeit führender und von der Stadt Athen geehrter Philosoph, besucht den Schüler, den Sohn eines führenden Konsulars, und leistet ihm bei Tisch Gesellschaft. Auch mit den weiteren Lehrern und Kameraden besteht, wie Cicero der Sohn an Tiro schreibt, eine Gemeinschaft, in der Lernen und Mußezeit miteinander geteilt werden. So sei er mit einem gewissen Bruttius eng verbunden, dessen Lebensführung ebenso einfach sei wie seine Gesellschaft angenehm. Mit Bruttius, der möglicherweise dem Vorbild Epikurs nacheifert, möchte der junge Marcus Deklamationsübungen auf Lateinisch abhalten;409 um das gemeinsame Leben

407 Cic. fil. Cic. fam. 16,21,3. 408 Vgl. Hor. epist. 1,7,69–70 sic ignovisse putato me tibi, si cenas hodie mecum; vgl. auch Plaut. Amph. 735.804; Sen. epist. 55,11; Cic. Deiot. 19. 409 Über Epikur als Vorbild des Bruttius lässt sich spekulieren, weil die Formulierung non est enim seiunctus iocus a φιλολογίᾳ et cottidiana συζητήσει (Cic. fil. Cic. fam. 16,21,4) möglicherweise einen entfernten Anklang enthält an ἐν φιλολόγῳ συζητήσει πλεῖον ἤνυσεν ὁ ἡττηθεὶς καθ’ ὃ προσέμαθεν (Epicur. Sent. Vat. 74); zudem enthält auch die Beschreibung des epikureischen Freundschaftsideals bei Cicero (fin. 1,65) den auffälligen Gegensatz von beengten Verhältnissen ([…] una in domo, et ea quidem angusta […]) und dem Wert der Freundschaft für ein glückseliges Leben ([…] omnium rerum, quas ad beate vivendum sapientia comparaverit, nihil esse maius amicitia, nihil uberius, nihil iucundius).

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zu ermöglichen, habe er ihm mit seinen bescheidenen Mitteln eine Bleibe in der Nähe angemietet. Mit einem Mann namens Cassius deklamiert Marcus auf Griechisch.410 Hinzu kommen die Schüler oder Mitarbeiter des Kratippos, die ihrem Lehrer aus Mytilene nach Athen gefolgt sind, sowie vornehme Leute aus Athen wie Epikrates, der in Ciceros Briefen erwähnte Leokrates und andere.411 An der letzten Stelle dieser Liste berichtet der junge Cicero wie in einem Nachtrag über Gorgias, von dem er sich auf Verlangen seines Vaters getrennt habe.412 In einer Art Loyalitätskonflikt habe er sich, so Ciceros Sohn an Tiro, für den Vater und gegen den Lehrer entschieden, alles hintangestellt, um den Befehlen seines Vaters zu gehorchen, und Gorgias entlassen: Cic. fil. Cic. fam. 16,21,6 De Gorgia autem quod mihi scribis, erat quidem ille in cottidiana declamatione utilis, sed omnia postposui, dummodo praeceptis patris parerem; διαρρήδην enim scripserat, ut eum dimitterem statim. tergiversari nolui, ne mea nimia σπουδὴ suspicionem ei aliquam importaret. deinde illud etiam mihi succurrebat, grave esse me de iudicio patris iudicare.

Diese Formulierungen wirken so, als hätte Tiro dem jungen Cicero die Trennung von Gorgias vielleicht nicht gerade vorgehalten, aber sich doch mit einer gewissen Verwunderung nach den Gründen dafür erkundigt. So schreibt der junge Cicero, Gorgias sei ihm bei den täglichen Deklamationsübungen nützlich gewesen. Anders als bei Kratippos und Bruttius spricht er nicht von einer Tisch- oder Lebensgemeinschaft; er habe mit seiner Entscheidung nicht zögern wollen, damit sein Übereifer beim Vater kein Gefühl von Argwohn wecke. Ferner sei ihm aufgegangen, dass es problematisch sei, wenn er als Sohn sich ein Urteil über das Urteil seines Vaters erlaube. Diese beiden Gedanken sind im Grund einer: der junge Cicero sagt, dass er erkenne, dass sein Engagement und seine Wertschätzung (σπουδή) für seinen Lehrer Gorgias verfehlt seien,413 sobald sie gegen das verstießen, was sein Vater wolle und entschieden habe (praecepta und iudicium). Wenn der junge Cicero Tiro nun versichert, dass ihm sein Interesse (studium) und sein Rat (consilium) trotzdem (tamen) willkommen seien, so deutet das auf eine kritische Nachfrage Tiros zur Entlassung des Gorgias hin. Plutarch, der weitere Briefe kennt, schreibt in seiner Biographie Ciceros, dass der Umgang mit Gorgias auf Anordnung des Vaters beendet worden sei, weil jener den

410 Cic. fil. Cic. fam. 16,21,4–5. E. Rawson, 1985, 47, diskutiert die Vermutung Shackleton Baileys ad loc., bei der Form Cassius könne es sich um einen falsch überlieferten griechischen Namen handeln, und verweist zur Verteidigung der Überlieferung auf Cic. Brut 310, wo Cicero erzählt, er habe als junger Mann mit Landleuten auf Griechisch deklamiert. 411 Zu Epikrates vgl. E. Rawson, 1985, 50–51. 412 Über den Rhetor Gorgias, der vermutlich kaum älter als der junge Cicero selbst ist, vgl. K. Münscher, Gorgias (9), RE VII (1912), 1604–19. 413 Das Wort σπουδή kann beides bedeuten; vgl. LSJ s. v. II und III.

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jungen Marcus zu Ausschweifungen und Trinkgelagen verführt habe.414 Die genauen Umstände dieser Trennung lassen sich auch aus Plutarchs Nachrichten nicht rekonstruieren, bemerkenswert ist aber, dass der junge Cicero nicht versucht, die Schuld für die zuvor erwähnten errata bei Gorgias zu suchen. Möglicherweise besteht zwischen beiden Ereignissen gar kein Zusammenhang, oder aber der junge Cicero will ihn – vielleicht aus Rücksicht auf Gorgias – gegenüber Tiro nicht zur Sprache bringen. Auch wenn wir die genauen Gründe nicht erfahren werden,415 so kann doch diese Entscheidung des Vaters in einem allgemeinen Zusammenhang gesehen werden. Cicero hat nämlich zweifellos eine ausgesprochen hellenophile Haltung, für die ihn auch Plutarch lobt und in deren Genuss zum Beispiel Kratippos und zuvor der Stoiker Diodotos kommen.416 Doch auf der anderen Seite steht eine allgemeine Reserviertheit, mit der die Beziehungen und der Umgang mit den Leuten in der Provinz und insbesondere mit den Einheimischen geregelt werden und in dem oben behandelten Brief Ciceros an seinen Bruder deutlich zum Ausdruck kommt.417 Hier spielen sicherlich mehrere Überlegungen eine Rolle: der berechtigte Wunsch nach Integrität und Unbestechlichkeit, ebenso wie eine gewisse Arroganz und Abfälligkeit der römischen Regierungsbeamten. Aus dem teils erheblichen Misstrauen und der Vorsicht, die Cicero seinem Bruder empfiehlt und die in der Furcht, sich zu kompromittieren, begründet sind, – übrigens nicht nur gegenüber den Einheimischen, sondern auch gegenüber den Römern in der Provinz und auch daheim –, ergibt sich eine Erklärung für die Schroffheit, mit der Cicero die Entlassung des Gorgias seinem Sohn anrät. Der befindet sich zwar nicht in der gleichen herausgehobenen Position wie seinerzeit sein Onkel, ist aber auch nicht nur eine Privatperson, sondern der Sohn eines römischen Konsulars.

414 Plut. Cic. 24,8–9 ἐπιστολαὶ δὲ περὶ τούτων (sc. über Kratippos in Athen) Κικέρωνος εἰσὶ πρὸς Ἡρώδην, ἕτεραι δὲ πρὸς τὸν υἱόν, ἐγκελευομένου συμφιλοσοφεῖν Κρατίππῳ. Γοργίαν δὲ τὸν ῥητορικὸν αἰτιώμενος πρὸς ἡδονὰς προάγειν καὶ πότους τὸ μειράκιον, ἀπελαύνει τῆς συνουσίας αὐτοῦ, καὶ σχεδὸν αὕτη γε τῶν Ἑλληνικῶν μία καὶ δευτέρα πρὸς Πέλοπα τὸν Βυζάντιον ἐν ὀργῇ τινι γέγραπται, τὸν μὲν Γοργίαν αὐτοῦ προσηκόντως ἐπικόπτοντος, εἴπερ ἦν φαῦλος καὶ ἀκόλαστος ὥσπερ ἐδόκει, πρὸς δὲ τὸν Πέλοπα μικρολογουμένου καὶ μεμψιμοιροῦντος, ὥσπερ ἀμελήσαντα τιμάς τινας αὐτῷ καὶ ψηφίσματα παρὰ Βυζαντίων γενέσθαι. Ganz eindeutig geht aus dieser Stelle nicht hervor, wem Cicero diesen Brief überhaupt schreibt, in dem er die schweren Vorwürfe gegen Gorgias erhebt. Wenn er an seinen Sohn schreibt (das legt Cic. fil. Cic. fam. 16,21,6 nahe), so ist dieser Brief auf Griechisch immerhin ein weiteres Zeugnis für Ciceros Hochschätzung der griechischen Bildung. 415 O. Seel, Cicero. Wort, Staat, Welt, Stuttgart 1953, 274–275, versteht diesen Brief so, dass der junge Cicero sich mit einer gewissen Verschlagenheit in der Absicht an Tiro wendet, seinen arglosen Vater über seinen ausschweifenden Lebenswandel in Athen zu täuschen und Gehorsam zu simulieren: „So kann es sich der Schlingel leisten, Reue und Gesinnungswandel reichlich dick aufzutragen.“ Seels Interpretation erweckt die Ereignisse sehr anschaulich zum Leben, ist aber nicht frei von romanhaften Zügen. 416 Cic. Att. 2,20. 417 Cic. ad Q. fr. 1,1,16.

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Führt man sich diese Haltung vor Augen, ist das, was damals eigentlich vorgefallen ist, möglicherweise viel harmloser und erscheint uns nur aufgrund der harschen Reaktion Ciceros wie ein Skandal, der allzu gut zu den Notizen beim älteren Seneca und dem älteren Plinius passt, wo Ciceros Sohn in späteren Jahren als notorischer Trunkenbold dargestellt wird.418 Es gibt jedoch – abgesehen von der Notiz bei Plutarch und den Andeutungen des jungen Ciceros selbst – keinen zwingenden Grund, diese Nachrichten aus späterer Zeit bereits auf den viel früheren Aufenthalt in Athen zu beziehen und daraus ein kohärentes Bild des Marcus Tullius Cicero filius zu gewinnen. Gegen Ende des Briefs gratuliert Cicero dem Tiro dazu, dass er ein Landgut gekauft habe.419 Nach scherzhaften Bemerkungen über Tiros neue bukolische Idylle schließt Cicero mit der Bitte um einen Sekretär und mit dem Wunsch, möglichst bald die gemeinsamen Studien (συμφιλολογεῖν) wiederaufzunehmen.420 Mit diesem Schlagwort kommt der junge Cicero noch einmal auf das Grundmotiv seines Briefs zurück: Gemeinschaft und zwar in einem doppelten Sinne; denn zum einen hebt er im ersten Drittel und am Schluss des Briefs die wechselseitige Verbundenheit in glücklichen und unglücklichen Lagen mit Tiro hervor,421 zum anderen erscheint das Leben und Lernen in Athen in der Gesellschaft von Kratippos, Bruttius und anderen in leuchtenden Farben. Dazu kommen als Motive die Loyalität gegenüber der Autorität des Vaters, für die er sich in einer kritischen Situation ohne Zögern entschieden habe, sowie die Reue über seine Fehler in der Vergangenheit. Der Brief des jungen Cicero unterscheidet sich daher deutlich vom oben besprochenen Brief des Trebonius. Während Trebonius sich protreptischer Topik bedient und von der Mahnung zum Studium, vom Fleiß des jungen Cicero und von seinen Fortschritten schreibt, verzichtet der junge Cicero selbst im Wesentlichen darauf und wählt stattdessen eine andere Strategie, um sein Ziel zu

418 Sen. suas. 7,13–14 (Geißelung des Cestius); Plin. nat. 14,147 (Cicero der Sohn erscheint in einer mit deutlicher Polemik versehenen Liste notorischer Trinker zusammen mit Tiberius, Drusus, Antonius und anderen; nach dem Zeugnis eines gewissen Tergilla soll er M. Agrippa einen Pokal an den Kopf geworfen haben); Sen. benef. 4,30,2 Ciceronem filium quae res consulem fecit nisi pater? D. C. 46,18,5 (Rede des Antonius) αὐτὸς μὲν ὕδωρ, ὥς φησι, πίνων, ἵνα τοὺς καθ᾽ ἡμῶν λόγους νυκτερεύων συγγράφῃ, τὸν δὲ υἱὸν ἐν τοσαύτῃ μέθῃ τρέφων ὥστε μήτε νύκτωρ μήτε μεθ᾽ ἡμέραν σωφρονεῖν. Die Reden bei Cassius Dio sind nicht unbedingt so komponiert, dass sie der Chronologie der Ereignisse entsprechen; vgl. z. B. E. Adler, Cassius Dio’s Agrippa-Maecenas Debate: An Operational Code Analysis, AJPh 133 (2012), 477–520. 419 Dazu vgl. McDermott, 1972, 271. 420 Cic. fil. Cic. fam. 16,21,8. Mit diesem sehr seltenen Wort greift der junge Cicero seine Formulierung […] φιλολογίᾳ et cottidiana συζητήσει […] auf (4); sein Vater könnte das etablierte Wort συμφιλοσοφεῖν in einem Brief an seinen Sohn verwendet haben (nach dem indirekten Referat bei Plut. Cic. 24,8). Tiros Gelehrsamkeit auf diesem Gebiet bezeugt sein (verlorenes) Werk in mehreren Büchern De usu atque ratione linguae Latinae (Gell. 13,9,2). 421 Vgl. besonders die Bemerkung, Tiro habe immer den Erfolg des jungen Ciceros um dessentwillen und um seiner selbst willen gewünscht (Cic. fil. Cic. fam. 16,21,2): cuius te sollicitudinis et doloris participem fuisse notum exploratumque est mihi, nec id mirum; nam cum omnia mea causa velles mihi successa, tum etiam tua. socium enim te meorum commodorum semper esse volui.

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erreichen. Dieses besteht offensichtlich in der Sorge um und für seinen guten Ruf (existimatio und opinio). Er erreicht es, indem er den ganzen Brief hindurch die Kontinuität seiner Studien und die Freude an der Gemeinschaft betont.422 Das lässt sich für Tiro ohne weiteres so verstehen, dass Protreptik bzw. die Reaktion darauf hier ganz und gar überflüssig sind. Hinzu kommt, dass Cicero mit Tiro wie mit einem Studienkameraden spricht und dabei den hohen Ton der Protreptik in Bezug auf sich und in Bezug auf den Adressaten meidet.423 Wenn er ihm schreibt, er solle sich bemühen, so bald wie möglich selbst die Gelegenheit zu finden, den Philosophen Kratippos kennenzulernen, so wirkt das eher wie eine begeisterte Empfehlung als eine Mahnung mit einem zweifelsohne unpassenden pädagogischem Ernst.424 Die Athener Zeit des jungen Cicero endet jedenfalls damit, dass er sich im späten Herbst 44 den Truppen des Brutus, der nach Athen gekommen ist, anschließt und dort ein Kommando erhält.425 Cicero unterstützt seinen Sohn im Jahre 43 und bittet Brutus, seine Wahl in das Kollegium der Pontifices zu fördern.426 Später – nach einer Zwischenstation bei Sex. Pompeius – fördert Caesar (Augustus) seine Karriere (consul suffectus 30 v. Chr.; legatus in der Provinz Syria ca. 27 bis 25 v. Chr. und – wie zuvor sein Onkel – Prokonsul in der Provinz Asia ca. 23 v. Chr.). Die Gründe dafür werden teils in der gemeinsamen Feindschaft mit Antonius,427 teils in dem Bedürfnis des Augustus gesucht, den schlimmen Verrat an Cicero wiedergutzumachen.428 4.5.2 Prologe und Epilog von De officiis – ein protreptischer Rahmen Im Folgenden sollen Ciceros Bücher De officiis dahingehend betrachtet werden, ob und wo sie protreptische Elemente aufweisen und wie diese literarischen Elemente zu verstehen sind. Damit wird zum einen die Untersuchung der Frage fortgeführt, wie Cicero für sein Konzept der Beredsamkeit wirbt und damit in einer Tradition rhetori422 Vgl. die Beispiele Cic. fil. Cic. fam. 16,21,3 ut filium esse coniunctissimum; totos dies; tam iucundum […] virum; 4 […] nullo tempore a me patior discedere; iucundissima convictio; cotidiana declamatione usw. 423 McDermott, 1972, 271, vermutet eher eine Beziehung zwischen Lehrer und Schüler: „Again the familiar tone leads me to suspect that as Marcus pater had probably been Tiro’s teacher, so too it is likely that Tiro had earlier been the teacher of the young man.“ Dafür spricht, dass Tiro etwa 25 Jahre älter als Ciceros Sohn ist. 424 Cic. fil. Cic. fam. 16,21,3 qua re da operam ut hunc talem, tam iucundum, tam excellentem virum videas quam primum. 425 Plut. Cic. 45; Brut. 24. Brutus äußert sich später (im April 43 v. Chr.) geradezu euphorisch über den jungen Cicero (Cic. ad Brut. 2,3,6). 426 Cic. ad Brut. 1,5,3. Zu dem Priesteramt, das Ciceros Sohn innehat, vgl. J. Rüpke (unter Mitarbeit von A. Glock), Römische Priester in der Antike. Ein biographisches Lexikon, Stuttgart 2007, Nr. 3291 (S. 218). 427 Vgl. Plut. Cic. 49,6. 428 So Hanslik, 1285, nach App. BC 4,221.

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scher Protreptik steht. Zum anderen soll ein Beitrag für das Verständnis von De officiis versucht werden, indem gefragt wird, inwieweit Aufforderungen und Ermahnungen, die der Vater in scheinbar ganz persönlicher Absicht an seinen Sohn richtet, von literarischen bzw. traditionellen Elementen geprägt sind und daher nicht ausschließlich individuell zu verstehen sind. Während De oratore als ein fiktiver Dialog bzw. als Lehrgespräch mit persönlichen Vorworten an den Bruder gestaltet ist und sich aus dieser Struktur verschiedene Ebenen ergeben, ist die literarische Form von De officiis einfacher: es handelt sich um einen Traktat in drei Büchern, die jeweils von persönlichen Vorworten eingeleitet und ganz am Ende von einem Epilog beschlossen werden. Cicero widmet die Bücher Über die Pflichten seinem Sohn Marcus und redet ihn in den im Briefstil gehaltenen persönlichen Vorreden der drei Bücher an. In De officiis stehen am Beginn des ersten und des dritten Buches und am Schluss des gesamten Werks Bemerkungen, die darauf schließen lassen, dass es zwischen Vater und Sohn eine Krise gibt und der Vater nicht zufrieden ist mit den Studienleistungen seines Sohns. So sieht Pohlenz im Verlauf der drei Bücher sogar ein Anwachsen der Besorgnis Ciceros: da Cicero immer schlechtere Nachrichten aus Athen erhalte, rede er seinem Sohne immer ernsthafter ins Gewissen.429 Lefèvre attestiert der Schrift, die er als politisches Lehrbuch und Vermächtnis Ciceros interpretiert, allgemein eine „ernsthafte pädagogische Tendenz“430 mit hoch gesteckten Ansprüchen und im Besonderen einen „durchgängige Bezug auf den in Athen studierenden Sohn Marcus“.431 Ciceros Ziel sei es, seinen Sohn Marcus in der Öffentlichkeit auf eine bestimmte Rolle zu verpflichten. Lefèvre geht noch weiter und kombiniert Ciceros Bemerkungen in De officiis mit dem, was wir über Cicero den Sohn aus weiteren Quellen wissen: „Man möchte mit aller Vorsicht verstehen, daß der Sohn dem Druck nicht gewachsen sein kann – ja wie August von Goethe zum Trinker wird […].“432 Es ist deutlich, dass Lefèvre auf den Spuren der Psychologie bzw. Psychoanalyse das Muster eines Familienkonflikts oder auch Generationenkonflikts für seine Interpretation heranzieht.433 Problematisch daran ist, dass mithilfe einer Theorie und aus wenigen, zum Teil spärlichen und unvollständigen Informationen eine Geschichte konstruiert wird und diese Geschichte wiederum nicht nur die Theorie bestätigt, sondern auch die Texte erklärt. Hier soll daher auf eine Rekonstruktion und Deutung ih429 M. Pohlenz, Antikes Führertum, Cicero De officiis und das Lebensideal des Panaitios, Leipzig/ Berlin 1934, 8–11. Zu diesem Buch und seinem Platz in der Zeitgeschichte vgl. das ausgewogene Urteil Dycks, 1996, 25 mit Anm 49. 430 E. Lefèvre, Panaitios’ und Ciceros Pflichtenlehre. Vom philosophischen Traktat zum politischen Lehrbuch, Stuttgart 2001, 11. 431 Lefèvre, 2001, 205. 432 Lefèvre, 2001, 206. 433 Zu diesen Interpretationen vgl. den instruktiven Überblick bei R. Schlesier, Psychoanalyse, DNP 15/2 (2002), 588–608, hier besonders 600–602.

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res Verhältnisses ebenso verzichtet werden wie auf eine ‚Rettung‘ der beiden Cicero; trotzdem sollen Lefèvres Hinweise auf die pädagogische Tendenz von De officiis ernstgenommen werden und die Schrift auch so gelesen werden. Das aber bedeutet, in ihr einen Text zu sehen, der etliche Elemente der Protreptik aufweist und auf ihre typischen Merkmale rekurriert. Auf diese Weise soll der Text so verstanden werden, dass er nicht nur oder in erster Linie auf persönliche und ephemere Umstände reagiert, sondern für eine bestimmte Bildung wirbt und mit dieser Werbung bestimmte Absichten verfolgt. Cicero der Vater erscheint als ein Erzieher in der Tradition des Isokrates und der platonischen Schule, Cicero der Sohn wird ganz selbstverständlich als künftiger Herrscher – im Rahmen der römischen Verhältnisse – präsentiert. 4.5.2.1 Das Vorwort zum ersten Buch (off. 1,1–6) Gleich zu Beginn von De officiis spricht Cicero seinen Sohn an,434 er habe die Pflicht (oportet), nach einem Jahr bei Kratippos in Athen mit philosophischen Lehren und Grundsätzen bestens vertraut zu sein.435 Der weitere Verlauf des Proömiums zeigt jedoch, dass es Cicero nicht um einen Aufruf zur Philosophie geht: es beginnt mit einer Flügelperiode (Konzessivsatz – Hauptsatz – Finalsatz), in deren Hauptsatz wiederum ein Vergleichssatz eingeschoben ist. Dieser komplexe Aufbau entspricht zum einen der allgemeinen Forderung an ein Proömium, Interesse zu wecken,436 zum anderen der Gedankenstruktur selbst, in der Cicero drei Paare aufstellt und zum Teil miteinander verknüpft: Griechisch-Lateinisch, Philosophie-Rhetorik und Vater-Sohn. Der Beginn mit einem Konzessivsatz ist typisch für den Briefstil, erinnert aber auch an das Muster, das Cicero am Beginn seiner Pompeius-Rede verwendet.437 Die rhetorische Wirkung entfaltet sich dadurch, dass das, was im Nebensatz eingeräumt

434 Das Vorwort zum ersten Buch (off. 1,1–6) ist Ciceros eigener Text und unabhängig von der Schrift des Panaitios; vgl. I. Frings, Struktur und Quellen des Prooemiums zum 1. Buch Ciceros De Officiis, Prometheus 19 (1993), 169–182. 435 Cic. off. 1,1 Quamquam te, Marce fili, annum iam audientem Cratippum idque Athenis abundare oportet praeceptis institutisque philosophiae propter summam et doctoris auctoritatem et urbis, quorum alter te scientia augere potest, altera exemplis, tamen, ut ipse ad meam utilitatem semper cum Graecis Latina coniunxi neque id in philosophia solum sed etiam in dicendi exercitatione feci, idem tibi censeo faciendum, ut par sis in utriusque orationis facultate. 436 Zuerst Arist. Rh. 3,14 (besonders 1415a9–40) sowie [Rh. Al.] 29,1 (1436a33–39). 437 Beispiele aus den Briefen: fam. 3,8; 3,10; 4,7; 5,5; 5,13; 5,16 (Trostbrief an Titius) sowie aus den Reden: Cic. Manil. 1 Quamquam mihi semper frequens conspectus vester multo iucundissimus, hic autem locus ad agendum amplissimus, ad dicendum ornatissimus est visus, Quirites, tamen hoc aditu laudis, qui semper optimo cuique maxime patuit, non mea me voluntas adhuc, sed vitae meae rationes ab ineunte aetate susceptae prohibuerunt. Weitere Einsätze mit Konzessivperioden Cic. Rab. perd. 1 etsi, Quirites, non est meae consuetudinis […] und Cic. Mil. 1 etsi vereor, iudices, ne turpe sit […].

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wird und als eine Art Widerspruch zum Gedanken des Hauptsatzes erscheint, nicht an sich problematisch, sondern durchaus positiv ist. Am Anfang der Maniliana werden die Volksversammlung (contio) und der Ort der Rede (das Forum) mithilfe dreier Superlative gelobt; neben das Lob des Publikums tritt dann die bescheiden klingende Versicherung des Redners, dass seine eigenen Ansprüche, Fähigkeiten und Tätigkeiten (rationes) ihn bislang an Volksreden gehindert hätten. Auf diese Weise verschafft sich Cicero das Wohlwollen der Hörer, dessen Gewinn eine wichtige Aufgabe des Proömiums ist.438 Diesen durch das konzessive Gefüge beschriebenen Widerspruch löst Cicero mit dem folgenden Hinweis auf seine glanzvolle Wahl zum Prätor auf, nach der er nun über genügend Autorität verfüge, vor dem Volk aufzutreten. Bescheidenheit und Selbstbewusstsein sind damit in das erforderliche Verhältnis getreten. Am Beginn von De officiis wird ebenfalls mithilfe des quamquam-Satzes ein Widerspruch konstruiert, der nur scheinbar besteht und dessen erstes Glied ein positives Element aufweist: das Philosophiestudium des jungen Cicero bei einem führenden Philosophen in einer bedeutenden Stadt. Die Wörter Cratippum und idque Athenis erscheinen auf den ersten Blick geradezu ornamental und dienen dazu, an den Anfang der Schrift eine Art πρόσωπον τηλαυγές zu setzen; denn Kratippos ist als Philosoph für die Argumentation in De officiis, soweit sich das beurteilen lässt, nicht weiter relevant. So vermutet Cicero, dass sein Sohn bei dem Philosophen auch die Pflichtenlehre hört, und scheint selbst dessen Ansichten dazu gar nicht zu kennen.439 Kratippos gilt Ciceros Zeitgenossen als bedeutender Philosoph und wird besonders von Roms Politikern geschätzt;440 Cicero selbst begegnet ihm im Sommer des Jahres 51 in Ephesos, als er dort auf dem Weg nach Kilikien in sein Prokonsulat Station macht. Kratippos reist dorthin von der Insel Lesbos aus der Stadt Mytilene, um Cicero seine Aufwartung (salutandi causa) zu machen. Damals lernt Cicero den berühmten Mann, wie er im (fragmentarisch) erhaltenen Vorwort zur Übersetzung von Platons Timaios berichtet, kennen.441 Von Caesar erwirkt Cicero unter dessen Herrschaft das römische Bürgerrecht für Kratippos und

438 Lausberg, 266. 439 Cic. off. 3,5. 440 Zu Pompeius’ Begegnung mit Kratippos vgl. Plut. Pomp. 75,3 und Ael. VH 7,21. Allgemein vgl. J. P. Lynch, Aristotle’s School. A Study of a Greek Educational Institution, Berkeley u. a. 1972, 204–5, P. Moraux, Der Aristotelismus bei den Griechen. Von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias, Band 1, Die Renaissance des Aristotelismus im 1. Jh. v. Chr., Berlin/New York 1973, 223–256, sowie H. B. Gottschalk, Aristotelian Philosophy in the Roman World from the Time of Cicero to the End of the Second Century AD, ANRW II 36,2 (1987), 1079–1174, hier 1095 ff. 441 Cic. Tim. 2 qui (sc. P. Nigidius Figulus) cum me in Ciliciam proficiscentem Ephesi exspectavisset Romam ex legatione ipse decedens, venissetque eodem Mytilenis mei salutandi et visendi causa Cratippus, Peripateticorum omnium, quos quidem ego audierim, meo iudicio facile princeps, perlibenter et Nigidium vidi et cognovi Cratippum.

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sorgt dafür, dass er vom Rat des Areopags gebeten wurde, in Athen als Lehrer der Jugend zu wirken.442 Wenn Cicero den prominenten Namen nun an den Anfang von De officiis stellt, hat das jedoch eine weitere Funktion innerhalb des Proömiums. Für den Leser deutet sich sogleich an, dass sich der junge Cicero in einer Situation befindet, wo es darauf ankommt, den richtigen Lehrer zu wählen und von ihm in der richtigen Weise zu lernen. Dyck meint in seinem für das Verständnis von De officiis maßgeblichen Kommentar, Ciceros Ziel im Proömium sei es, seinem Sohn die Bücher De officiis zu widmen und dabei den Eindruck zu vermeiden, er trete mit Kratippos in Konkurrenz.443 Die Lösung dieses Konflikts erfolge dadurch, dass Cicero den Wert seiner eigenen Schriften für seinen Sohn in erster Linie auf dem Feld der Stilistik sehe und ihn zur Übung auf den Gebieten des Griechischen und des Lateinischen ermahne. Dyck nimmt dabei im Grunde an, dass Cicero im Proömium der Schrift aus Höflichkeit oder einem ähnlichen Grund etwas anderes sagt, als er eigentlich meine und mit seiner Schrift verfolge; denn Dyck sieht in der gesamten Schrift Ciceros dezidierte Absicht, seinen Sohn zu erziehen und ihm Ratschläge an die Hand zu geben.444 Der Widerspruch, den Dyck sieht, ist jedoch weit weniger scharf, wenn man annimmt, dass Cicero hier eine protreptische Situation konstruiert, die voraussetzt, dass verschiedene Bildungsangebote zur Verfügung stehen, auf die man adäquat reagieren soll. Anders jedoch als Nikokles, den Isokrates auffordert, den richtigen Lehrer und Berater auszuwählen,445 muss Marcus keineswegs eine exklusive Entscheidung treffen, sondern kann verschiedene Möglichkeiten miteinander kombinieren, wie es Cicero selbst auch getan hat und in De oratore als Konzept entwirft.446 Eingeschoben in den Hauptsatz am Beginn des Prooemiums findet sich der Verweis auf die eigene Lebenserfahrung (ut […] ipse […] semper), womit Cicero auch in Ma-

442 Plut. Cic. 24,7–8 Κρατίππῳ δὲ τῷ περιπατητικῷ διεπράξατο μὲν Ῥωμαίῳ γενέσθαι παρὰ Καίσαρος ἄρχοντος ἤδη, διεπράξατο δὲ τὴν ἐξ Ἀρείου πάγου βουλὴν ψηφίσασθαι [καὶ] δεηθῆναι μένειν αὐτὸν ἐν Ἀθήναις καὶ διαλέγεσθαι τοῖς νέοις, ὡς κοσμοῦντα τὴν πόλιν. Der Beschluss einer Bitte ist so zu verstehen, dass es sich um eine Ehre ohne offizielles Amt oder Bezahlung gehandelt haben dürfte. Zu den Schwierigkeiten, Kratippos in die Geschichte des Peripatos einzuordnen, vgl. Moraux, 224–228. 443 Dyck, 1996, 60 (ad off. 1,1–4a): „Though it might seem at first redundant to be addressing a philosophical essay to his son studying philosophy in Athens with Cratippus, Cicero contrives to make his enterprise seem worthwhile without impugning either his son’s teacher or his philosophical school (the Peripatos).“ 444 Dyck, 1996, 14: „The personal agenda of Off. […] responds to Cicero’s felt need to take his son in hand and help him give a sense of direction at a critical juncture in life.“ 445 Isoc. 2,50–52. 446 Cic. Brut. 315: Cicero studiert bei dem Philosophen Antiochos und gleichzeitig bei dem Rhetor Demetrios dem Syrer. Der junge Marcus hat auch in Athen mehrere Lehrer (Cic. fil. Cic. fam. 16,21,4–6), Lucius Cicero (Cic. fin. 5,6) hört in Athen Antiochos und die Philosophen der skeptischen Akademie.

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nil. 1 im tamen-Satz argumentiert.447 In De officiis dient er jedoch nicht dazu, die eigene Bescheidenheit auszudrücken; vielmehr zeichnet der Verweis auf die eigene Person und die eigene Erfahrung gerade einen paränetischen bzw. protreptischen Sprecher aus.448 Cicero kommt von dem Vergleich mit dem eigenen Leben, wo er stets mit dem Griechischen das Lateinische verbunden habe, zu dem direkten Ratschlag an seinen Sohn, das gleiche zu tun.449 In Ciceros Reden findet sich die 1. Person censeo auffällig häufig in den Philippicae, die ab dem 2. September 44 gehalten werden.450 Dort verfolgt Cicero in den z. T. fingierten Situationen der Senatssitzungen damit zwei Ziele: zum einen übt er sein Recht aus, das ihm als Konsular besonders zusteht, zur Beratung und Entschlussfindung des Senats maßgeblich beizutragen.451 Zum anderen demonstriert er damit sehr deutlich, dass der Senat nach Caesars Tod und dem Ende der Diktatur wieder über seine Regierungsgewalt verfüge und überhaupt in der Lage sei, sich zu beraten und Beschlüsse zu fassen. Man kann also dem Wort censeo einen gewissen konsularischen Gestus zuschreiben, der auch zu einem allgemeinen Ratgeber gut passt. Das Ziel soll für den jungen Cicero darin bestehen, in jeder von beiden ‚Reden‘ (oratio) kompetent zu sein. Die Gleichheit, die mit dem Wort par gemeint ist, ist die zwischen dem Griechischen und dem Lateinischen. Cicero selbst gelingt es, bei seinem Lehrer Molon auf Rhodos ganz im Griechischen aufzugehen und es so perfekt zu beherrschen, dass Molon nach einer glänzenden griechischen Rede Ciceros meint, nun hätten die Römer auch das Gebiet der Bildung besetzt.452 Daher ist Ciceros inhärente Befürchtung, dass sein Sohn im Griechischen besser geübt sein könne als im

447 Vgl. den Verweis auf das eigene Leben im Proömium von Cic. Arch. 1. 448 Vgl. oben 28 f. zu [Isoc.] 1,3. 449 Vgl. Cic. Brut. 310 commentabar declamitans – sic enim nunc loquuntur – saepe cum M. Pisone et cum Q. Pompeio aut cum aliquo cotidie, idque faciebam multum etiam Latine sed Graece saepius, vel quod Graeca oratio plura ornamenta suppeditans consuetudinem similiter Latine dicendi adferebat, vel quod a Graecis summis doctoribus, nisi Graece dicerem, neque corrigi possem neque doceri; zu dieser Stelle und Ciceros Praxis der Übungsdeklamationen vgl. W. Stroh, Declamatio, in: B.-J. Schröder und J.P. Schröder (Hrsg.), Studium declamatorium. Untersuchungen zu Schulübungen und Prunkreden von der Antike bis zur Neuzeit, München/Leipzig 2003, 5–34, hier 27–28. 450 Von insgesamt 28 Belegen in allen Reden Ciceros stehen 23 Belege in den Philippischen Reden, besonders oft in der 5. Rede (gehalten am 1.1. 43 v. Chr.). Häufig in mit einem Gerundiale im AcI: Phil. 1,16; 5,21.31.34.38.40.45.53; 10,24; 11,40; 14,29. 35. 451 Als Beispiel für den Verweis auf die eigene Autorität und die Anerkennung ihrer Grenzen kann die Bitte um freundliche Anhörung und der anschließende Rat in Phil. 1,15–6 dienen: deinde a vobis, patres conscripti, peto ut, etiam si sequi minus audebitis orationem atque auctoritatem meam, benigne me tamen, ut adhuc fecistis, audiatis. Primum igitur acta Caesaris servanda censeo […]. 452 Plut. Cic. 4,6–7. Die Zweisprachigkeit des Bildungsbetriebs wird gut von Seneca pater belegt: contr. 10,4,23 Graecas sententias in hoc refero, ut possitis aestimare, primum quam facilis e Graeca eloquentia in Latinam transitus sit et quam omne, quod bene dici potest, commune omnibus gentibus sit, deinde ut ingenia ingeniis conferatis et cogitetis Latinam linguam facultatis [non] minus habere, licentiae minus. Ein Redner, der beide Sprachen nebeneinander praktiziert, ist Clodius Sabinus (Sen. contr. 9,3,13); vgl. auch Cic. Brut. 310.

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Lateinischen, zwar nicht unrealistisch, enthält aber vor allem einen Hinweis auf dessen Bildungsstand und dessen Lehrer, der einem Lob gleichkommt. Das Wort par setzt einen Bezug einer Sache oder Person zu einer anderen voraus, der hier durch die Wörter in utriusque orationis facultate hergestellt wird.453 Die Bedeutung dieses Begriffs ist umstritten: Pohlenz sieht in ihm die Antithese von πολιτικός und φιλόσοφος λόγος,454 Lefèvre deutet oratio in ähnlicher Weise als ‚Gattung‘ und die ‚beiden Gattungen‘ als Philosophie und Rede, die in der zweiten Antithese genannt würden und den ganzen ersten Paragraphen bestimmten; Cicero lenke von der Philosophie zur Beredsamkeit über und damit von der Theorie zur politischen Praxis.455 Dyck versteht dagegen unter den ‚beiden Reden‘ die Sprachen Griechisch und Lateinisch und bezieht sie auf die erste Antithese.456 Hier soll zunächst der Ausdruck facultas orationis verstanden werden als ‚Fähigkeit, den richtigen Ausdruck zu finden‘ und auf die Kompetenz des Redners im weitesten Sinne bezogen werden.457 So berichtet Cicero in einem Brief an Paetus von seinen Redeübungen, die er mit Dolabella und Hirtius im Jahre 46 auf seinem Tusculanum abhält: Cic. fam. 9,18,3 ipse melior fio, primum valetudine, quam intermissis exercitationibus amiseram; deinde ipsa illa, si qua fuit in me, facultas orationis, nisi me ad has exercitationes rettulissem, exaruisset.458

In seiner Aufzählung nennt Cicero zunächst die Turnübungen, die er wiederaufgenommen habe, und dann die rhetorischen Übungen, von denen schon am Anfang des Briefs die Rede ist (daher has) und ohne die seine facultas orationis längst vertrocknet wäre. Die Bemerkung „falls es je eine Redefähigkeit in mir gegeben hat“ ist eine bewusste Untertreibung, die, wenn man sie im Kontext von Ciceros Leben sieht, den Kern der eigenen Kompetenz sehr deutlich hervorhebt. Diese und weitere Parallelen,

453 Par ohne Dativ und mit Bezug auf Antithesen z. B. Lael. 58 ut par sit ratio acceptorum et datorum, wo et fast die Bedeutung eines ‚wie‘ hat, und Att. 9,13,3 quin etiam illud par in utroque nostrum, quod ab eisdem illecti sumus. 454 Pohlenz, 9, mit Verweis auf Cic. off. 1,132 ff. und 2,48 ff. 455 So Lefèvre, 2001, 15 mit Hinweis auf Cic. off. 1,3 aequabile et temperatum orationis genus. In Anm. 28 relativiert Lefèvre seine Argumentation ein wenig: „Cicero geht es an dieser Stelle nicht darum, den Sohn zu ermahnen, Fertigkeit in der griechischen und lateinischen Rede oder Sprache zu erlangen, sondern dasselbe (idem) wie der Vater zu tun, nämlich, wie es unmittelbar zuvor heißt, Griechisches und Lateinisches sowohl in der Philosophie als auch in der Redekunst zu vereinen.“ 456 Dyck, 1996, ad loc. unter Hinweis auf Cic. off. 1,2 orationem Latinam. Ähnlich L. Gavoille, Oratio ou la parole persuasive. Étude sémantique et pragmatique, Louvain u. a. 2007, 380–1, der unter oratio ‚langue‘ versteht und den gesamten Ausdruck übersetzt mit „les possibilités d’expression fournies par les deux langues“. 457 Vgl. dazu Gavoille, 262, und Kroll ad Cic. orat. 52 zu oratio im weiteren Sinne von λέξις. 458 Cicero erwähnt diese Übungen auch in dem Gespräch mit Hirtius in der Eingangsszene von De Fato (3). Zu den Übungen im rhetorischen Sinn vgl. Frazel, 23–70.

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die insbesondere aus De oratore stammen, zeigen,459 dass Cicero in off. 1,1 eine allgemeine Fähigkeit des Redners im Blick hat. Dieser untergeordnet sind sowohl die Sprachen als auch die Gattungen: orationis facultas Graeca philosophia dicendi exercitatio

philosophia

Latina dicendi exercitatio

Dieser Umstand soll hier deswegen betont werden, weil sich Ciceros orationis facultas mit dem Konzept, das Isokrates dem Nikokles vorträgt, eng berührt. Isokrates legt zwar im Fahrwasser der Sophistik besonderen Wert auf das βουλεύεσθαι, hat dabei aber durchaus auch die allgemeine Fähigkeit vor Augen, sich situationsadäquat ausdrücken.460 Da Cicero seinen Sohn dazu aufruft, kann man von Protreptik im Sinne der Rhetorik sprechen, die den Beginn von De officiis beherrscht. Wie schon in anderen Zusammenhängen scheint Cicero auch hier nur in indirekter und allgemeiner Form auf Isokrates zurückzugreifen.461 Das hängt offenbar auch damit zusammen, dass er sich im philosophischen Sinne als Platoniker versteht.462 Sehr gut vergleichen lässt sich die orationis facultas mit dem Anspruch, den Cicero in De oratore entwickelt, dass ein Redner kompetent sein müsse, über jedes Thema zu sprechen.463 Zum Wesen der Protreptik gehört der Aufruf zum Lernen, der im Proömium von De officiis nun in doppelter Weise erscheint. Zum einen wendet sich Cicero nach dem Hinweis, dass er mit den Philosophica seinen Mitbürgern einen großen Nutzen gebracht habe,464 wieder an seinen Sohn mit einem Satz, der ganz im imperativischen

459 Vgl. insbesondere Cic. off. 2,67 (dazu siehe unten S. 189 ff.) und auch Arch. 13 ex his studiis haec quoque crescit oratio et facultas, quae, quantacumque in me, numquam amicorum periculis defuit. Häufig ist der Ausdruck oratoris facultas in de orat. (1,44.61.76 und öfter). Zur stehenden Verbindung oratoris vis et facultas vgl. Leeman und Pinkster ad 1,142 („das, was den Redner eigentlich zum Redner macht, das Wesen des Redners“) und Gudemann ad Tac. dial. 30,5, wo Tacitus Cicero rezipiert. 460 Dazu siehe oben S. 22 f. 461 Vgl. oben S. 84 mit Anm. 110. 462 Auch im Vorwort (off. 1,2): Socratici et Platonici volumus esse. 463 Cic. de orat. 1,64; dazu siehe oben S. 86 f. 464 Cic. off. 1,1 quam quidem ad rem nos ut videmur magnum attulimus adiumentum hominibus nostris, ut non modo Graecarum litterarum rudes, sed etiam docti aliquantum se arbitrentur adeptos et ad discendum et ad iudicandum. Vgl. zu Ciceros eigenem Anspruch, seine Mitbürger mit seinen Schriften zum Lernen und Schreiben anzuregen bzw. ihnen nützlich zu sein, die Stellen nat. deor. 1,8 und div. 2,4. In off. 1,1 ist neben discendum auch dicendum überliefert. Während Dyck, 1996, ad loc. wegen der besseren Bezeugung und der Parallele in nat. deor. 1,8 discendum den Vorzug gibt, plädiert Lefèvre, 2001, 15, Anm. 28, für dicendum, das in der Antithese philosophia / dicendi exercitatio entspreche. Dagegen ließe sich anführen, dass Cicero schwerlich argumentiert, sogar die Gelehrten (unter

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Futur gehalten ist und mit dem er ihn auffordert, so lange zu lernen, wie er wolle; er habe jedoch die Schuldigkeit, so lange lernen zu wollen, wie ihn das Ausmaß seiner Fortschritte zufrieden stelle:465 hier haben wir nicht nur die Aufforderung, dass Marcus sein vermutlich teures Studium so schnell und effizient wie möglich absolvieren solle,466 sondern auch protreptische Topik, die in mehrfacher Hinsicht an den Schluss des Euagoras des Isokrates erinnert. Dessen Aufforderung, bei der Philosophie zu bleiben, war verknüpft mit dem Hinweis auf die Möglichkeit des Fortschritts (ἂν […] ἐπιδιδῷς) wie des Zurückbleibens oder Scheiterns (διαμαρτεῖν) und auf die erfolgsorientierte Dauer des Lernens (ταχέως γενήσει τοιοῦτος, οἷόν σε προσήκει).467 Während Isokrates von seinem Schützling verlangt, er solle sich ärgern (ἀγανακτεῖν), falls er die anderen nicht übertreffe, werden von Cicero die Reflexion des eigenen Wollens und der Maßstab der Zufriedenheit mit sich selbst betont. In beiden Fällen wird dabei zu einer Art Selbstkontrolle und Reflexion eigener Ansprüche gemahnt. Das Versprechen, dass sich beim Lernen ein schneller und unmittelbarer Fortschritt einstellen kann, findet sich auch bei Crassus in De oratore.468 Zum anderen fordert Cicero seinen Sohn Marcus wiederum im imperativischen Futur auf, seine oratio Latina zu bereichern, indem er die philosophischen Schriften (nostra) des Vaters lese. Er räumt zwar ein, dass viele im Bereich philosophischer Kenntnisse (philosophandi scientia) kompetent seien, nimmt jedoch dank seiner Erfahrung als Redner das Gebiet der verba und damit auch die gelungene Abfassung philosophischer Schriften für sich in Anspruch.469 Darauf folgt die Wiederholung der Aufforderung – nun als eindringliche Mahnung formuliert (magnopere te hortor) formuliert –, Marcus solle nicht nur die Reden, sondern auch die Philosophica seines Vaters lesen.470 Das Interesse an der Philosophie

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denen man sich eher Spezialisten wie Varro vorzustellen hat) könnten für ihre Redekompetenz einen Gewinn aus seinen Schriften ziehen. Das steigernde etiam und die Verbindung et […] et scheinen eher zu implizieren, dass selbst ein Fachmann aus Ciceros Darstellung lernen könne. Cic. off. 1,2 quam ob rem disces tu quidem a principe huius aetatis philosophorum et disces quam diu voles tam diu autem velle debebis, quoad te, quantum proficias, non paenitebit. Zum imperativischen Futur vgl. Kühner, Stegmann, Thierfelder 1,144. Dyck, 1996, ad loc. bezieht die Stelle ausschließlich auf die konkreten Umstände. Isoc. 9,81; vgl. oben S. 26. Lernen und Fortschritt werden auch [D.] 61,42 miteinander verknüpft: τότε γὰρ εἰκὸς καὶ τὸν βίον ἡμῶν μεγίστην ἐπίδοσιν λαβεῖν, ὅταν τῶν κρατίστων ὀρεγόμενοι τὰ μὲν διδακτὰ τέχνῃ, τὰ δὲ λοιπὰ γυμνασίᾳ καὶ συνηθείᾳ κατασχεῖν δυνηθῶμεν. Das zeigt, dass Cicero auf protreptische Topik zurückgreift. Cic. de orat. 3,89 (dazu siehe oben S. 127). In der Aufzählung off. 1,2 apte, distincte, ornate dicere fehlt die Latinitas. Der Umstand, dass das rein Sprachliche vorausgesetzt wird, zeigt, dass der Begriff oratio in einem sehr weiten und umfassenden Sinne gebraucht wird. Frings, 175–176, betont die Nähe dieser Gedanken zur Behandlung der virtutes dicendi in De oratore (besonders Buch 3); sie räumt aber auch ein, dass hier weniger von einer Quelle gesprochen werden kann als von einem allgemeinen Rückgriff Ciceros auf Vertrautes. Cic. off. 1,3 quam ob rem magnopere te hortor, mi Cicero, ut non solum orationes meas, sed hos etiam de philosophia libros, qui iam illis fere se aequarunt, studiose legas, – vis enim maior in illis dicendi, – sed hoc quoque colendum est aequabile et temperatum orationis genus.

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wird hier zunächst ganz aus der Beschäftigung des Redners mit der oratio erklärt.471 Während sich in den Reden Muster für δεινότης fänden (diese führt Cicero gleich am Beispiel eines Hyperbatons vor: vis enim maior in illis dicendi), stünden die Philosophica für den mittleren und ausgewogenen Stil,472 der ebenfalls gepflegt werden müsse, weil – wie Cicero an anderer Stelle betont – ein Redner die Pflicht habe, alle Stilhöhen zu beherrschen.473 Mit Blick auf diese Protreptik Ciceros entsprechen die Bücher De officiis und überhaupt die philosophischen Schriften einer Art ἐπίδειξις, der Probe des Könnens eines Lehrers.474 Das Motiv der oratio beherrscht das Proömium von De officiis in einem Maße, wie es in keiner anderen philosophischen Schrift Ciceros der Fall ist,475 und dieser Umstand bedarf durchaus der Erklärung. Marcus ist zwar in einem Alter, in dem – wie die Figur des Lucius Cicero in De finibus zeigt – das Interesse für die rhetorischen Studien besonders ausgeprägt sein soll,476 er muss aber nicht erst auf dem Umweg über die Rhetorik zur Philosophie geführt werden – schließlich studiert er bereits Philosophie in Athen. Die oben diskutierte Vermutung Dycks, dass Cicero mit höflicher Rücksicht auf Kratippos und dessen Unterricht vorspiegele, dass seine eigenen Interessen und sein eigener Beitrag auf einer stilistischen Ebene lägen,477 greift offenbar auch deswegen zu kurz, weil Cicero bei seiner Widmung von De officiis Kratippos nicht unbedingt in derart exponierter Form hätte erwähnen müssen. Dass er es tut, ist aber, wie oben argumentiert worden ist, Zeichen seiner protreptischen Strategie. In deren Kontext ist nun auch Ciceros Werbung für die oratio zu sehen. Cicero zählt zu seinen philosophischen Büchern auch die rhetorischen Schriften.478 Folglich ruft er seinen Sohn nicht nur zur Philosophie im engeren Sinne auf, sondern zu einer Beschäftigung mit einem sehr weiten Feld: Theologie, Naturphilosophie, Ethik, Staatslehre und eben auch Rhetorik.479 Wenn der Zweck dabei die Verbesse-

471 Zur Bedeutung von oratio an dieser Stelle (im Sinne von ‚Stil‘, ‚Gattungsstil‘) vgl. Gavoille, 353 mit Anm. 62. 472 Vgl. Dycks (1996, ad Cic. off. 1,3) sehr gute Erklärung der Begriffe vis […] dicendi und aequabile et temperatum orationis genus. 473 Vgl. Cic. orat. 99. 474 Dazu siehe oben S. 12. 475 Vgl. besonders die Rechtfertigung am Beginn von De finibus, wo Cicero sich mit verschiedenen Gegnern auseinandersetzt, und dazu J. Graff, Ciceros Selbstauffassung, Heidelberg 1963, 58–62. 476 Vgl. dazu oben S. 142 ff. 477 Vgl. z. B. die Aussage in einem Brief an Atticus (Att. 13,19,5) sunt enim vehementer πιθανὰ Antiochia; quae diligenter a me expressa acumen habent Antiochi, nitorem orationis nostrum, si modo is est aliquis in nobis. 478 Vgl. die Übersicht bei Dyck, 1996, ad off. 1,3, der mindestens 56 Bücher zählt, sowie Cic. div. 2,1–4; besonders 4 nostri quoque oratorii libri in eundem librorum numerum referendi videntur. 479 Vgl. dazu allgemein Barwick. K. Bringmann, Untersuchungen zum späten Cicero, Göttingen 1971, 104 (mit Anm. 51) interpretiert es als „Akzentverschiebung“, dass Cicero in De oratore (3,142–3) die Beherrschung der Philosophie dem perfekten Redner unterordnet, während später in den Tusculanen (1,7) die Philosophie die Quelle der Beredsamkeit und ihr damit vorgeordnet ist. Ciceros

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rung der oratio im Lateinischen ist, so darf man das nicht nur mit Sprache und Stil in Zusammenhang bringen, da Cicero ein ähnlich anspruchsvolles Konzept der oratio hat wie Isokrates, der bekanntlich λόγος und φρόνησις verbindet.480 In der nun folgenden Argumentation nimmt Cicero für sich in Anspruch, dass seine Tätigkeit als Schriftsteller, die sowohl Reden als auch die Philosophie umfasst, ohne Vorbild bei den Griechen sei.481 Auch wenn die Aussagen über Platon, Demosthenes, Aristoteles und Isokrates jeweils sehr von der anekdotenhaften biographischen Tradition geprägt zu sein scheinen,482 wird doch deutlich, dass Cicero sich selbst in die Reihe der großen Vorbilder und Lehrer stellt und diese an zumindest einem Punkt glaubt übertroffen zu haben.483 Diese enkomiastische Selbstdarstellung fügt sich wiederum in ihren protreptischen Kontext, wo es erforderlich ist, dass auf Vorbilder aufmerksam gemacht wird und für einen bestimmten Lehrer geworben wird. Cicero wählt allerdings nicht wie Isokrates, der seinen Schüler Nikokles das Lob des λόγος vortragen lässt, einen indirekten Weg, sondern verweist unvermittelt auf sich selbst.484 Dieses Vorgehen muss man aber nicht zwangsläufig mit der schon im Altertum kritisierten Neigung Ciceros zum Selbstlob in Verbindung bringen,485 wenn man sich Sokrates als den protreptischen Sprecher des Alkibiades 1 ins Gedächtnis ruft, der dem jungen Alkibiades unverblümt zu verstehen gibt, dass er alleine das vermitteln könne, was sein Schüler zum Erfolg brauche.486 Cicero knüpft hier an Formen einer Tradition an, in der der Hinweis auf die eigenen Kompetenzen legitim und erforderlich ist. Bei der Überleitung zum eigentlichen Thema der Bücher De officiis greift Cicero den Gedanken auf, den er bereits in einem Brief an Atticus ähnlich formuliert hat, dass er, da er beschlossen habe, seinem Sohn eine Schrift zu widmen, ein Thema habe wählen wollen, das sowohl der Jugend des Adressaten als auch der Autorität des Verfassers sehr angemessen sein sollte.487 Cicero knüpft mit der Verwendung der 1. Person in Haupt- und Nebensatz (statuissem und volui) an censeo (off. 1,1) an, dessen Intention

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Konzept der Verbindung und Aussöhnung von Philosophie und Rhetorik ändert sich dadurch jedoch nicht; die Unterschiede in den Formulierungen sind auch mit dem unterschiedlichen Charakter der Werke zu erklären. Im Lob der Logoi des Nikokles Isoc. 3,7; dazu siehe oben S. 23 f. Cicero selbst schränkt ein (nisi forte), dass Demetrios von Phaleron vielleicht der einzige Grieche sei, dem das zumindest teilweise gelungen sei (off. 1,4). Darauf weist Dyck, 1996, ad Cic. off. 1,4a (S. 68) zu Recht hin. Als Stilideal erscheinen Platon, Aristoteles und Theophrast (und indirekt Demosthenes) Brut. 120–1 und fin. 1,14; vgl. dazu Bringmann, 107–108. Auch sonst demonstriert Cicero freimütig seine Verdienste, die er sich mit den Philosophica erworben habe; in div. 2,4 begründet er sie mit dem Nutzen für den Staat: quod enim munus rei publicae adferre maius meliusve possumus, quam si docemus atque erudimus iuventutem? Vgl. unten S. 191 ff. zu Ciceros Vorstellung, dass er seinen Ruhm als Erbe hinterlassen werde (off. 1,78). Vgl. den Abschnitt bei Graff, 77–80, der insbesondere Plutarchs Aussagen diskutiert. [Pl.] Alc. 1 105e4–5; vgl. dazu oben S. 16. Cic. off. 1,4 sed cum statuissem scribere ad te aliquid hoc tempore, multa posthac, ab eo ordiri maxime volui, quod et aetati tuae esset aptissimum et auctoritati meae; vgl. Cic. Att. 15,13a,2 nos hic φιλοσοφοῦμεν

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oben diskutiert worden ist, und präsentiert sich weiterhin als belehrenden Sprecher. Betrachtet man Ciceros Antithese von aetas und auctoritas im Kontext des Vorworts, kann sie als weiterer Hinweis auf eine protreptische Situation gewertet werden, für die es typisch ist, dass der Adressat sehr jung ist und dessen Jugend hervorgehoben wird.488 Das unterscheidet das Vorwort von De officiis grundsätzlich vom oben besprochenen Brief Ciceros an seinen Bruder und von den Widmungen, die Cicero an Brutus ausspricht,489 da beide aufgrund ihres Alters für eine protreptische Situation nach dem Vorbild des Isokrates nicht infrage kommen und von Cicero nicht in diese Rolle gedrängt werden. Warum aber Cicero meint, der Inhalt von De officiis sei dem Alter von Marcus und damit auch dem Vorwort angemessen, wird noch zu untersuchen sein. Hier sollen zunächst die Vorworte des 2. und des 3. Buchs sowie der Epilog betrachtet werden, um zu fragen, ob von einem Rahmen gesprochen werden kann. 4.5.2.2 Das Vorwort zum zweiten Buch (off. 2,1–8) Am Beginn des zweiten Buchs redet Cicero wiederum seinen Sohn Marcus an.490 Da Cicero sein eigenes Leben und Verhalten rechtfertigt und seine Beschäftigung mit der Philosophie gegen Kritiker verteidigt und an seinen Sohn weder neue Aufforderungen noch Ermahnungen richtet, liegt jedoch kein protreptischer Text im engeren Sinne vor. Allerdings lässt sich Ciceros Apologie der eigenen Tätigkeit damit in Zusammenhang bringen, dass er sich im Vorwort zu Buch 1 selbst zum Vorbild für seinen Sohn erklärt hat und das nun weiter begründet.491 Cicero sieht seine Beschäftigung mit der Philosophie als Reaktion auf den Umstand, dass es ihm unter Caesars Herrschaft unmöglich geworden ist, als Politiker tätig zu sein.

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(quid enim aliud?) et τὰ περὶ τοῦ καθήκοντος magnifice explicamus προσφωνοῦμενque Ciceroni. qua de re enim potius pater filio? deinde alia; ähnlich Att. 16,11,4. Vgl. die Figuren des Nikokles, des Demonikos, des Epikrates und des Alkibiades sowie die Betonung der Jugendlichkeit des Sulpicius und des Cotta in De oratore. Im Brief an Quintus (ad Q. fr. 1,1,18, vgl. oben S. 66 f.) betont Cicero, dass er seinen Bruder nicht belehren wolle, da dieser bereits über Klugheit und Erfahrung verfüge – darauf folgt eine ausgiebige Paränese. Damit einher geht auch die Vorstellung, dass der Geist nur in der Jugend formbar sei (ad Q. fr. 1,1,38 neque ego nunc hoc contendo, quod fortasse cum in omni natura tum iam in nostra aetate difficile est, mutare animum), auf die – wenngleich sehr mit einem recht weiten Begriff von Jugend – auch Sokrates im Gespräch mit Alkibiades anspielt: [Pl.] Alc. 1 127d8–e2 Ἀλλὰ χρὴ θαρρεῖν. εἰ μὲν γὰρ αὐτὸ ᾔσθου πεπονθὼς πεντηκονταετής, χαλεπὸν ἂν ἦν σοι ἐπιμεληθῆναι σαυτοῦ· νῦν δ’ ἣν ἔχεις ἡλικίαν, αὕτη ἐστὶν ἐν ᾗ δεῖ αὐτὸ αἰσθέσθαι. Das Verhältnis von Cicero und Brutus, der 20 Jahre älter als Ciceros Sohn Marcus ist, untersucht Rathofer. Vgl. Dycks (1996) sehr gute Skizze des Vorworts (362–4). So erscheint auch der Begriff der auctoritas wieder (off. 2,2) und zwar im Zusammenhang mit Ciceros erzwungenen Schweigen unter der Herrschaft Caesars.

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Die Philosophie dient dabei als Therapie und als einziger Trost, da der Genuss von voluptates eines gebildeten Mannes unwürdig sei.492 Somit erwächst aus dem Unglück sogar ein gewisses Gutes, indem Cicero philosophische Schriften verfasst.493 An diesen Gedanken schließt ein großes und im hohen Ton (per deos) gehaltenes Lob der Philosophie an, das mit einem Verweis auf den Hortensius, Ciceros Protreptikos zur Philosophie, abbricht.494 Aus der Tatsache, dass dieses Enkomion im Wesentlichen allgemein anthropologisch begründet ist und das beate vivere als Ziel nennt,495 lässt sich ablesen, dass hier für die Philosophie geworben, nicht aber die Bildungsprotreptik des ersten Vorworts mit dem Schlagwort der oratio fortgesetzt wird. Der junge Marcus – so die inhärente Aussage des Textes – benötigt auch gar keinen Trost, er ist vielmehr in einer Lebensphase, wo man sich mit der Philosophie discendi causa beschäftige.496 Im Vorwort von Buch 2 lesen wir daher einen protreptischen Text, der sich nicht primär an Marcus richtet, sondern allgemein zur Philosophie aufruft. Im Folgenden verteidigt Cicero sich gegen gelehrte Kritiker, die einwenden, es sei inkonsequent, dass er als erkenntnistheoretischer Skeptiker und Anhänger des Probabilismus die Pflichtenlehre behandle.497 Ihnen entgegnet Cicero, dass im Gegenteil erst dann, wenn das Für und Wider einer Angelegenheit abgewogen worden sei, das Wahrscheinliche überhaupt sichtbar werden könne.498 Nun wendet sich Cicero nochmals an seinen Sohn und sagt ihm, er habe gewollt, dass ihm, auch wenn er bei Kratippos studiere, die Lehren seiner Akademie bekannt seien.499 Es ist deutlich, dass Cicero mit der Erwähnung des Kratippos und der indirekten Aufforderung, sich mit der Skepsis zu beschäftigen, an das Vorwort zum ersten Buch anknüpft. Nimmt man das aus De oratore bekannte Konzept hinzu, dass die 492 Cic. off. 2,2–3; die seelische Not wird mit den Begriffen angores, molestiae und curae beschrieben; vgl. auch Lefèvre, 2001, 84–5. Zum Gedanken der Heilwirkung der Philosophie vgl. Tusc. 2,11 efficit hoc philosophia: medetur animis, inanes sollicitudines detrahit, cupiditatibus liberat, pellit timores sowie Koch, passim. 493 Cic. off. 2,5, vgl. 3,3, wo der Gedanke der guten Seite des Unglücks wiederholt wird. 494 Vergleichbare Passagen sind leg. 1,58–62 und Tusc. 5,5–6; Dyck, 1996, charakterisiert daher zu Recht die Stelle in De officiis als „conventional“ (ad 2,5–6). 495 Cic. off. 2,5 quid enim est, per deos, optabilius sapientia, quid praestantius, quid homini melius, quid homine dignius? 496 So beschreibt es Cicero im Rückblick auf sein eigenes Leben in off. 2,4 cui (sc. philosophiae) cum multum adulescens discendi causa temporis tribuissem, posteaquam honoribus inservire coepi meque totum rei publicae tradidi, tantum erat philosophiae loci, quantum superfuerat amicorum et rei publicae tempori. 497 Cic. off. 3,7. 498 Vgl. Dyck, 1996, ad loc., der zeigt, dass Cicero hier Arkesilaos’ Skeptizismus, der jeweils Gegenargumente sucht und auf ein Urteil verzichtet (ἐποχή), mit der Methode des Peripatos (bzw. des Karneades) vermischt, nach der Diskussion beider Seiten das Wahrscheinliche (πιθανόν) zu bestimmen. 499 Cic. off. 2,8 tibi autem, mi Cicero, quamquam in antiquissima nobilissimaque philosophia Cratippo auctore versaris iis simillimo, qui ista praeclara pepererunt, tamen haec nostra finituma vestris ignota esse nolui.

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Technik des Für und Wider gerade für einen Redner wichtig sei, weist Cicero seinen Sohn hier zwar indirekt, aber deutlich wahrnehmbar auch auf die Rhetorik und die Aufgaben eines Redners hin. 4.5.2.3 Das Vorwort zum dritten Buch (off. 3,1–6) Im Vorwort zum dritten Buch vergleicht Cicero zunächst sein otium mit dem des älteren Scipio und beklagt, dass seine eigene Einsamkeit von dem schlimmen Zustand, in dem sich der Staat befinde, erzwungen werde. Die Beschäftigung mit der Philosophie sei ein Ergebnis dieser im Grunde unfreiwilligen Muße. Nach dieser Anknüpfung an die Gedanken des 2. Vorworts wendet er sich erneut an seinen Sohn mit einem deutlich protreptisch und mahnend formulierten Abschnitt (off. 3,5–6), der hier diskutiert werden soll. Cicero hebt den praktischen Nutzen der Philosophie hervor und vergleicht sie mit einem gut bestellten Feld (frugifera et fructuosa nec ulla pars eius inculta ac deserta); der fruchtbarste (ferax) und ergiebigste (uber) Bereich sei aber die Pflichtenlehre. Die Betonung der Fruchtbarkeit der Philosophie – hier mit vier Adjektiven fast übertrieben deutlich – ist an sich nicht ungewöhnlich,500 unterscheidet sich aber deutlich von dem Enkomion auf sie im Vorwort zum zweiten Buch, das nicht offen utilitaristisch argumentiert, sondern eher die anthropologische und erkenntnistheoretische Rechtfertigung der Philosophie betont. Dieser Umstand passt einerseits zum Thema der Pflichtenlehre, deren praktischen Nutzen Cicero gleich zu Beginn der Schrift hervorhebt,501 andererseits zu Marcus und zu der an ihn gerichteten rhetorischen Protreptik. Die Metaphorik der Reichhaltigkeit kann nämlich leicht als eine Art Bindeglied zwischen Philosophie und Rhetorik verstanden werden. Cicero selbst argumentiert im Vorwort zum Orator, er habe seinen Reichtum als Redner nicht aus den Werkstätten der Rhetoren, sondern aus dem Hain der Akademie. Von dort stamme der Stoff für den Redner, selbst wenn er im Alltag schlichtere Themen als ein Philosoph behandele.502 Mag diese Bemerkung sicherlich in gewisser Weise idealisiert sein, so zeigt sie doch, dass die Mahnung, die Cicero am Beginn des dritten Buches von De officiis an seinen Sohn richtet, vom Gedankengang des ersten Proömium (orationem […] Latinam efficies […] pleniorem; off. 1,2) gar nicht weit entfernt ist, auch wenn Marcus nun nicht 500 Vgl. z. B. Cic. Tusc. 1,119; ähnlich Tusc. 2,13 (der animus ist der Acker, den die Philosophie bestellt). 501 Cic. off. 1,4. 502 Cic. orat. 12, wo Cicero fortfährt: sed et huius (sc. Platonis) et aliorum philosophorum disputationibus et exagitatus maxume orator est et adiutus – omnis enim ubertas et quasi silva dicendi ducta ab illis est – nec satis tamen instructus ad forenses causas, quas, ut illi ipsi dicere solebant, agrestioribus Musis reliquerunt. Vgl. Ernesti, 1797, s. v. silva. – Fülle weist nicht unbedingt auf die Philosophie, so bezieht sich Cic. off. 1,133 uberior oratio L. Crassi (sc. als die der Catuli) nec minus faceta allgemein auf den Ausdruck und die Art des Sprechens.

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explizit zur Rhetorik, sondern zur Philosophie und zur Erlernung der constanter honesteque vivendi praecepta aufgerufen wird. Nun fährt Cicero fort und bemerkt, dass er, obwohl er bereits zuversichtlich sei, dass der junge Marcus auch bei Kratippos fleißig die Pflichtenlehre höre und auch verinnerliche, es dennoch für förderlich halte (conducere arbitror),503 wenn derartige Lehren beständig – also auch durch die Lektüre der vorliegenden Schrift – und sogar ausschließlich in seinen Ohren klängen. Cicero suggeriert hier zum einen, dass der Stoff eine überwältigende Wirkung habe;504 zum anderen verwendet er protreptische Motive, wenn er von seinem Sohn Fleiß (assidue) und Ausdauer (nec […] quicquam aliud audire) verlangt.505 Daran schließt sich der ebenfalls topische Hinweis an, dass der junge Marcus vielleicht sogar mehr als alle anderen,506 die ebenfalls eine vita honesta anstrebten, die Pflicht habe, das zu tun, und begründet diesen Gedanken damit, dass man von dem jungen Marcus durchaus erwarte, dass er den Ehrgeiz und den Fleiß (industria), die Karriere (honores) sowie vielleicht auch den Ruhm (nomen) seines Vaters nachahme.507 So sehr man zunächst geneigt ist, diese Aussage auf Ciceros Neigung zu überhöhter und etwas maßloser Selbstdarstellung zu beziehen und ausschließlich vor diesem persönlichen Hintergrund zu lesen und zu bewerten,508 so wenig darf außer Acht gelassen werden, dass Cicero auch hier durchaus traditionelle Elemente verwendet. So ruft Isokrates am Schluss des Euagoras den Nikokles auf, sich mit seinen Studien darum zu bemühen, seines Vaters – dessen Leben vom Redner eben in enkomiastischer 503 Diese Wendung stammt aus dem gehobenen Briefstil, vgl. Cic. fam. 4,7,1 saluti tuae conducere arbitrarer (Sept. 46; an M. Marcellus); fam. 6,22,3 saluti dignitatique tuae conducere arbitrabor (Anfang 46; an Cn. Domitius Ahenobarbus); fam. 10,26,3 rei publicae arbitramur conducere (43; an C. Furnius) u. ö. 504 Cic. off. 3,5 quare quamquam a Cratippo nostro principe huius memoriae philosophorum haec te assidue audire atque accipere confido, tamen conducere arbitror talibus aures tuas vocibus undique circumsonare nec eas, si fieri possit, quicquam aliud audire. Dyck, 1996, ad loc. verweist zu Recht auf den Schluss des Kriton (Pl. Crit. 54d2–5), wo Sokrates, überwältigt von der langen Rede (Prosopopoiie) der Gesetze, sich mit einem ekstatischen Korybanten vergleicht, der nur den Lärm der Flöten hören könne. Ebenso betäubt ist Scipio im Somnium, wenn er den Klang der Sphären hört: (Cic. rep. 6,18) quae cum intuerer stupens, ut me recepi, ‚quis hic‘, inquam‚ est, qui conplet aures meas tantus et tam dulcis sonus?‘ 505 Vgl. Isoc. 9,78 (φιλοσοφεῖν καὶ πονεῖν) und [D.] 61,40 πᾶσα μὲν παιδεία δι’ ἐπιστήμης καὶ μελέτης τινὸς συνέστηκεν, ἡ δὲ φιλοσοφία καὶ μᾶλλον τῶν ἄλλων und 41 τότε γὰρ εἰκὸς καὶ τὸν βίον ἡμῶν μεγίστην ἐπίδοσιν λαβεῖν, ὅταν τῶν κρατίστων ὀρεγόμενοι τὰ μὲν διδακτὰ τέχνῃ, τὰ δὲ λοιπὰ γυμνασίᾳ καὶ συνηθείᾳ κατασχεῖν δυνηθῶμεν. 506 Vgl. zu Cic. off. 3,6 (quod cum omnibus est faciendum, qui vitam honestam ingredi cogitant, tum haud scio an nemini potius quam tibi) vgl. die Stelle Isoc. 9,80 ἅπασιν μὲν προσήκει περὶ πολλοῦ ποιεῖσθαι τὴν φρόνησιν, μάλιστα δ’ ὑμῖν τοῖς πλείστων καὶ μεγίστων κυρίοις οὖσιν. 507 Cic. off. 3,6 sustines enim non parvam expectationem imitandae industriae nostrae, magnam honorum, non nullam fortasse nominis. 508 Zur Rezeption Ciceros und zu den verschiedenen Phasen und Gebieten der Cicerokritik vgl. die umfangreichen Beiträge bei C. Steel (Hrsg.), The Cambridge Companion to Cicero, Cambridge 2013, Part III, Receptions of Cicero, 233–373.

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Überhöhung geschildert worden ist – und seiner Vorfahren (unter ihnen befindet sich Zeus) würdig zu sein.509 Hinzu kommt, dass der Gedanke, dass Söhne die Karrieren ihrer Väter wiederholen, der römischen Gesellschaft – zumindest als Idealbild – vertraut ist.510 In off. 3,6 greift Cicero nun das Athen-Motiv aus dem Vorwort des ersten Buchs wieder auf und hält seinem Sohn vor, dass es äußerst schimpflich sei, wenn Marcus, nachdem er nach Athen und zu Kratippos gleichsam wie zu einem Kaufhandel der schönen Künste gereist sei, mit leeren Händen zurückzukehre und dem Ansehen der Stadt und des Lehrers schade.511 Cicero verwendet hier – wie auch im Brief an Quintus – das Motiv, dass von Griechenland eine besondere Verpflichtung ausgehe,512 und verbindet es mit dem Bild eines Kaufhandels (mercatura). Diese Metaphorik wirkt auf den ersten Blick etwas befremdlich, da Cicero selbst sie auch mit negativer Konnotation verwendet.513 Auch hier kann der Vergleich mit Isokrates und seiner Protreptik hilfreich sein. Am Beginn der Rede an Nikokles tadelt Isokrates, dass diejenigen, die Königen kostbare Kleider, Silber und Gold schenkten, das aus einem leicht zu durchschauenden Kalkül täten, da sie in Wirklichkeit Handel (ἐμπορία) betrieben und ihre Gaben auf raffiniertere Weise verkauften (πωλοῦντες) als diejenigen, die sich offen als Krämer zu erkennen gäben (οἱ ὁμολογοῦντες καπηλεύειν).514 Isokrates hebt nun hervor, dass seine eigene Gabe für den Herrscher bei weitem am schönsten und nützlichsten sei. Im Epilog greift Isokrates die Kaufmetaphorik wieder auf und fordert von Nikokles, dass er sich nicht die üblichen Geschenke wünschen solle, die er weitaus teurer von den Verschenkenden als von den Verkäufern erwerbe, sondern solche mit dauerhaftem Nutzen und steigendem Wert.515 509 Isoc. 9,80–1. Dazu siehe oben S. 26. Das Motiv der Nachahmung in Cic. off. 3,6 hat sein Vorbild in Isoc. 9,76–77 (ἐγὼ δὲ σὲ καὶ τοὺς σοὺς οὐκ ἀλλοτρίοις παραδείγμασιν χρώμενος, ἀλλ’ οἰκείοις παρακαλῶ). 510 Vgl. Cic. Rab. Post. 2 satis est homines imprudentia lapsos non erigere, urgere vero iacentis aut praecipitantis impellere certe est inhumanum, praesertim, iudices, cum sit hoc generi hominum prope natura datum, ut, si qua in familia laus aliqua forte floruerit, hanc fere qui sint eius stirpis, quod sermo hominum ac memoria patrum virtute celebret, cupidissime persequantur, siquidem non modo in gloria rei militaris Paulum Scipio aut Mucium filius, sed etiam in devotione vitae et in ipso genere mortis imitatus est P. Decium filius. Dazu vgl. C. Klodt, Ciceros Rede Pro Rabirio Postumo. Einleitung und Kommentar, Stuttgart 1992, ad loc. 511 Cic. off. 3,6. 512 Dazu siehe oben S. 68 f. 513 Cicero gebraucht das Wort in nat. deor. 1,122 abwertend (non erit ista amicitia, sed mercatura quaedam utilitatum suarum). In off. 1,151 wird der Kleinhandel als schmutzig abgelehnt, der Großhandel allerdings akzeptiert und gelobt. – Dyck, 1996, trifft, wenn er ad off. 3,6 auf die Metaphorik in D. 18,247 verweist, nicht den Kern, da es an der zitierten Stelle der Kranzrede um Bestechung bzw. Bestechlichkeit geht. 514 Isoc. 2,1–2. 515 Isoc. 2,54 βούλου δὲ καὶ τοὺς ἄλλους […] ὅπερ εἶπον ἀρχόμενος, μὴ τὰς εἰθισμένας ἄγειν σοι δωρεάς, ἃς ὑμεῖς πολὺ πλείονος ἀγοράζετε παρὰ τῶν διδόντων ἢ παρὰ τῶν πωλούντων, ἀλλὰ τοιαύτας, αἷς κἂν σφόδρα χρῇ καὶ μηδεμίαν ἡμέραν διαλείπῃς οὐ κατατρίψεις, ἀλλὰ μείζους καὶ πλείονος ἀξίας ποιήσεις.

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In unserem Kontext entscheidend ist nun, dass Isokrates die Handelsmetaphorik zwar mit Blick auf seine Gegner eindeutig pejorativ gebraucht, aber nirgendwo behauptet, dass sein eigenes Angebot an Nikokles das Gegenteil eines Geschäfts bzw. kostenlos sei. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Nikokles in Apologie der λόγοι, die ihm Isokrates in den Mund legt, den tugendkonformen Erwerb (μετ’ ἀρετῆς πλεονεκτεῖν) im Zusammenhang mit Erziehung und rhetorischer Bildung verteidigt.516 Daraus ergibt sich, dass in der Protreptik gar nicht geleugnet wird, dass Bildung verkauft wird bzw. gekauft werden kann, solange dieser Handel ehrenhaft sei und der Käufer wisse, wie große Mühen und Anstrengungen er auf sich nehmen müsse. Vor diesem Hintergrund kann Ciceros Metapher der mercatura einerseits eingeordnet, andererseits sogar als Beleg dafür gewertet werden, dass das protreptische Motiv auch im Vorwort des dritten Buches von De officiis anzutreffen ist. Ciceros Formulierung, es sei sehr schimpflich (turpissimum), vom Studium in Athen mit leeren Händen heimzukehren, erinnert zudem entfernt an eine Stelle aus Platons Protagoras. Hier ermuntert Hippias Sokrates und besonders Protagoras, ihr Gespräch nicht scheitern zu lassen. Es sei schimpflich (αἰσχρόν), wenn die weisesten Leute Griechenlands nach Athen, in das Zentrum der Weisheit, und in das prächtige Haus des Kallias gekommen seien und nichts zustande brächten, was diesem Ansehen (ἀξίωμα) gerecht würde.517 Augenfällig ähnlich ist, dass bei Cicero ebenso wie bei Platon aus der Bedeutung Athens für das Bildungswesen eine moralisch gefärbte Forderung sowie eine Warnung vor dem Scheitern abgeleitet werden. Da ein deutlicher Unterschied zwischen beiden Stellen darin besteht, dass Platon Hippias aus den größten Weisen, der Hauptstadt der Weisheit und dem prächtigsten Haus einen effektvollen Dreiklang herstellen lässt, Cicero dagegen die Verpflichtungen des Schülers gegenüber der Stadt und den Lehrern betont, ist es unwahrscheinlich, dass hier ein unmittelbarer Bezug vorliegt. Es lässt sich aber durchaus ablesen, dass sich Cicero protreptischer Motive bedient, wie sie ähnlich und mit möglicherweise etwas parodistischer Färbung bei Platon vorliegen.518 Der Tonfall der abschließenden Ermahnung, die Cicero an seinen Sohn richtet, wirkt zunächst harsch und schroff. Das liegt daran, dass Cicero hier das Motiv der Anstrengung sehr betont und mit dem des Scheiterns verknüpft, indem er seinen Sohn davor warnt, den Eindruck entstehen zu lassen, er habe sich selbst im Wege gestan-

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Isoc. 3,2. Zur Debatte, ob Bildung verkauft werden dürfe, vgl. Th. Buchheim, Händler des guten Lebens. Sophistische Erziehungsideen, in: Chr. Rapp und T. Wagner (Hrsg.), Wissen und Bildung in der antiken Philosophie, Stuttgart/Weimar 2006, 73–83. Pl. Prt. 337d–e. Vgl. dazu jeweils ad 337d5–6 B. Manuwald, Platon, Werke, Übersetzung und Kommentar, Bd. VI 2, Protagoras, Göttingen 1999, und N. Denyer, Plato, Protagoras, Cambridge 2008, mit den Parallelen zu Platos Formulierung […] τῆς τε Ἑλλάδος εἰς αὐτὸ τὸ πρυτανεῖον τῆς σοφίας. Vgl. H. Sauppe, Platons ausgewählte Dialoge, Protagoras, Berlin 31873, ad loc.: „Die stolze und zugleich schmeichelnde Art, mit der Hippias spricht, ist ohne Zweifel dem Leben nachgebildet.“

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den.519 Diese Formulierung erinnert nicht nur an paränetische Briefe Ciceros,520 sondern wiederum auch an Mahnungen des Isokrates an Nikokles, in denen ebenfalls die Mühe betont und vor dem Scheitern gewarnt wird.521 Von dort stammt auch das von Cicero verwendete Motiv, dass das Lernen einen Verzicht auf andere Freuden verlange (discendi labor est potius quam voluptas).522 Daher wirft Cicero seinem Sohn keineswegs vor, zu wenig persönlich engagiert zu sein, und deutet nicht an, dass Marcus das Lernen schwer falle und er daher wenig Vergnügen daran habe.523 Vielmehr geht es um eine Mahnung mihilfe protreptischer Topoi. Zu dieser gehört auch Ciceros Hinweis, dass seinem Sohn Marcus alle Voraussetzungen zu Verfügung stünden. Auch hier kann die Ansicht der Forschung, Cicero selbst wolle für den Fall, dass sein Sohn in Athen scheitere, vorsorgen und die eigene Verantwortung dafür ausschließen,524 mit dem Hinweis auf die Regeln der Protreptik ergänzt werden. So wird Nikokles von Isokrates deutlich darauf hingewiesen, dass ihm alles zur Verfügung stehe und er deshalb besonders verpflichtet sei.525 Selbst die Abbruchformel, die Cicero verwendet, hat ihr zumindest indirektes Vorbild bei Isokrates, der Nikokles ebenfalls auf die Wiederholungen seiner Ermahnungen hinweist.526

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Cic. off. 3,6 quare quantum coniti animo potes, quantum labore contendere, si discendi labor est potius quam voluptas, tantum fac, ut efficias neve committas, ut, cum omnia suppeditata sint a nobis, tute tibi defuisse videare. Cic. fam. 7,7,2 (aus dem Frühjahr 54 an den damals etwa dreißigjährigen Juristen Trebatius, der sich in Gallien aufhält und dem Cicero rät, mithilfe seiner Empfehlung die Nähe Caesars zu suchen) imperatorem liberalissimum, aetatem opportunissimam, commendationem certe singularem, ut tibi unum timendum sit, ne ipse tibi defuisse videare. Vgl. auch fam. 7,9,2, wo Cicero den Trebatius um ein Lebenszeichen bittet: tu tibi deesse noli; serius potius ad nos, dum plenior. Mühe: Isoc. 9,78 πονεῖν; Scheitern: Isoc. 9,81 ἔστιν δ’ ἐπὶ σοὶ μὴ διαμαρτεῖν τούτων. Vgl. auch oben S. 26. Isoc. 9,78 πολλοὺς τῶν βασιλέων ποιήσεις ζηλώσαντας τὴν σὴν παίδευσιν τούτων τῶν διατριβῶν ἐπιθυμεῖν, ἀφεμένους ἐφ’ οἷς νῦν λίαν χαίρουσιν. Der Redner setzt voraus, dass Lernen und Genüsse in einem antithetischen Verhältnis stehen. Anders sind die Bemerkungen Ciceros fin. 5,48 zu verstehen: qui ingenuis studiis atque artibus delectantur, nonne videmus eos nec valitudinis nec rei familiaris habere rationem omniaque perpeti ipsa cognitione et scientia captos et cum maximis curis et laboribus compensare eam, quae ex discendo capiant, voluptatem? Hier geht es nicht um die Phase des Erwerbs der Wissenschaften in der Jugend, sondern um deren Genuss in späteren Jahren. Dyck, 1996, ad off. 3,6 erklärt Ciceros Bemerkungen vor dem Hintergrund dessen, was wir über Marcus’ Athener Zeit wissen. So gehe aus Cic. fil. Cic. fam. 16,21,8, wo Marcus Tiro bittet, ihm einen griechischen Sekretär zum Abschreiben seiner Mitschriften (hypomnemata) zu schicken, hervor, dass Marcus sich bemühe, Arbeit zu vermeiden. Dagegen ließe sich vermuten, dass die Verwendung eines librarius auf einen besonderen Fortschritt in den Studien schließen lässt. Cicero selbst verwendet ganz selbstverständlich die Hilfe von Abschreibern für seine Schriften (z. B. im Falle der Consolatio Att. 12,14,3); in anderen Fällen bittet er Atticus, den Umstand zu entschuldigen, dass er für einen Brief die Dienste eines Schreibers in Anspruch nehme (z. B. Att. 4,16,1). So Dyck, 1996, ad off. 3,6. Isoc. 9,80 ὡς ἅπασιν μὲν προσήκει περὶ πολλοῦ ποιεῖσθαι τὴν φρόνησιν, μάλιστα δ’ ὑμῖν τοῖς πλείστων καὶ μεγίστων κυρίοις οὖσιν. Zu Cic. off. 3,3 sed haec hactenus multa enim saepe ad te cohortandi gratia scripsimus vgl. Isoc. 9,78 καὶ μὴ νόμιζέ με καταγιγνώσκειν, ὡς νῦν ἀμελεῖς, ὅτι πολλάκις σοι διακελεύομαι περὶ τῶν αὐτῶν.

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4.5.2.4 Der Epilog der drei Bücher (off. 3,121) Am Ende des dritten Buchs wendet sich Cicero wieder an seinen Sohn und nennt seine Schrift eine Gabe (munus), die bedeutend sei, deren Wert jedoch davon abhängen werde, wie sie ihr Empfänger aufnehme.527 Ganz ähnlich sagt Dionysios von Halikarnassos am Ende von De compositione verborum, dass der Wert seines Buchs in seinem Gebrauch liege und es auf die, die sich anstrengen wollten, ankomme, dass seine Lehren wirksam oder aber nutzlos seien.528 Dieser Vergleich mit der späteren Schrift, die eindeutig in der protreptischen Tradition steht, zeigt, dass auch Cicero hier auf diese rekurriert und deren Elemente verwendet. Das Motiv des munus, dessen Verwendung in De oratore oben diskutiert worden ist,529 findet sich, wie LeMoine gezeigt hat, häufig bei Widmungen von Werken, die Väter an ihre Söhne richten.530 Es kann daher einerseits der Dedikationstopik zugeordnet werden. Es lohnt sich aber andererseits auch, wieder auf das – von LeMoine nicht herangezogene – Vorbild des Isokrates und seiner Nachfolger und auf die protreptische Tradition zu verweisen; denn damit lässt sich auch erklären, warum Cicero das Ende seiner Schrift rahmenartig mit dem Anfang verbindet531 und warum er sich nur an seinen Sohn Marcus und nicht an die Leser von De officiis allgemein wendet.532 Mit dem Signalwort der commentarii erscheinen der Kontext des Studierens und Lernens und die Aufforderung dazu erneut: Marcus solle die drei Bücher De officiis wie Gäste unter die Kolleghefte aus den Vorlesungen des Kratippos aufnehmen. Cicero betont also in erster Linie nicht, welchen praktischen Nutzen seine Schrift für das Leben und das richtige Verhalten habe, sondern ihre Relevanz für das Lernen und kommt damit in gewisser Weise auf das mit dem Begriff der oratio verbundene Motiv der Bildung zurück, das das Vorwort des ersten Buchs prägt.

527 Cic. off. 3,121 habes a patre munus, Marce fili, mea quidem sententia magnum, sed perinde erit, ut acceperis; vgl. auch den Schluss des Partitiones oratoriae (140): Ego vero ac magno quidem studio, mi pater, multisque ex tuis praeclarissimis muneribus nullum maius expecto. 528 D. H. comp. 26,18 ἐπὶ τοῖς πονεῖν καὶ κακοπαθεῖν βουλομένοις κεῖται σπουδαῖ’ ἂν εἶναι τὰ παραγγέλματα καὶ λόγου ἄξια ἢ φαῦλα καὶ ἄχρηστα. Daraus ergibt sich auch ein Argument gegen die bereits von Dyck, 1996, ad loc. abgelehnte Vermutung M. Testards, Cicéron, bourreau de soi-même?, LEC 42 (1974), 149–162, hier 151, dass Cicero hier anspiele auf Ter. Haut. 195–196 atque haec perinde sunt ut illius animus, qui ea possidet. qui uti scit, ei bona; illi, qui non utitur recte, mala. 529 Cic. de orat. 3,18; vgl. oben S. 117 f. 530 Vgl. zu munus LeMoine, besonders 348–355 (bei Cicero) und 356–358 (bei Seneca contr. 4 pr. 1, Boethius arithm. pr. 3,1–16 Friedlein und Augustinus conf. 9,6,14). 531 So in Isoc. 2 und 9 und wiederum bei D. H. comp. 532 Lefèvre, 2001, 185 bewertet das als „erstaunlich“ und sieht die Erklärung darin, dass Cicero nach der Behandlung der temperantia (off. 3,11–120) und einer Polemik gegen die Epikureer seine abschließenden Betrachtungen an „den nach Meinung des Vaters durch die voluptas gefährdeten Adressaten“ richtet. Sieht man den Schluss als Teil eines protreptischen Rahmens, relativiert sich Lefèvres Interpretation, und es handelt sich nicht um eine unmittelbar pragmatische Warnung davor, dass Marcus auf die schiefe Bahn geraten könne.

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Diesen Bogen schlägt sehr deutlich auch die nun folgende, im imperativischen Futur formulierte Aufforderung, die Schrift De officiis zu lesen, mit der Cicero an die Aufforderung zum Lernen im Vorwort zum ersten Buch anknüpft. Auch hier wird die Komponente der Intention sehr betont: Marcus werde der Lektüre so viel Zeit widmen, wie er könne; wie viel Zeit er werde aufbringen können, hänge aber von seinem Willen ab.533 Davor formuliert Cicero in einem von einer Parenthese unterbrochenen und daher fast wie ein Anakoluth wirkenden Vergleichssatz den Gedanken, dass sein Sohn die Bücher so lesen solle, wie wenn er endlich einmal die Disputationen des Vaters gehört hätte,534 falls der – woran er vom Lauf der Ereignisse in Rom gehindert wurde – persönlich nach Athen gekommen wäre.535 Die Kommentatoren weisen zu Recht auf die Umstände und auf den Hintergrund dieser Bemerkungen hin:536 Cicero spielte tatsächlich zeitweise mit dem Gedanken, selbst nach Athen zu reisen. Ebenso wenig darf jedoch der literarische Charakter dieser Stelle übersehen werden. Cicero folgt nämlich seiner protreptischen Strategie, deren Bestandteil ist, dass er sich selbst zum Vorbild für seinen Sohn erklärt. So schließt sich auch an dieser Stelle der Rahmen der Schrift, indem Cicero nicht nur für die Lektüre seiner Reden und Schriften im Allgemeinen (im Vorwort zum ersten Buch) und für De officiis im Speziellen (im Vorwort zum dritten Buch und hier), sondern auch für sich selbst als Lehrer wirbt. Daher erscheint Ciceros Reise nach Athen, die als Kontrollbesuch beim jungen Marcus geplant gewesen sein mag, in ihrer literarischen Präsentation in einer Reihe mit der Einleitung der Tusculanae disputationes, wo Cicero beschreibt, wie er selbst als Lehrer – nicht nur als Teilnehmer an einem Gespräch – auftritt und scholae hält.537 Diese improvisierten Vorlesungen haben, wie Cicero selbst erklärt, sehr viel mit den Deklamationen der Rhetorik gemeinsam, indem das Für und Wider eines Themas kompetent in der Sache (copiose) und glänzend in der Form (ornate) diskutiert werde. Der Vergleich mit dieser Stelle kann zudem noch einmal sehr gut zeigen, wie sehr die

Cic. off. 3,121 tribues iis (sc. libris) temporis, quantum poteris; poteris autem, quantum voles ist ein strukturähnlicher und teils wörtlicher Bezug auf 1,2 disces, quam diu voles; tam diu autem velle debebis, quoad te, quantum proficias, non paenitebit. 534 Die Form audirem lässt sich wohl am besten als Potentialis der Vergangenheit verstehen, der in Verbindung mit dem Irrealis der Protasis auftreten kann (dazu Kühner, Stegmann, Thierfelder 2,396–7 mit Belegen); zu audire im engen Sinne von ‚den Vortrag eines Lehrers hören‘ vgl. Cic. off. 1,1 audientem Cratippum (auch hier bezieht sich der Schluss also auf den Anfang) und Tusc. 1,7 ponere iubebam, de quo quis audire vellet, ad id aut sedens aut ambulans disputabam. 535 Cic. off. 3,121 ut, si ipse venissem Athenas – quod quidem esset factum, nisi me e medio cursu clara voce patria revocasset – aliquando me quoque audires, sic, quoniam his voluminibus ad te profecta vox est mea, tribues […]. 536 Vgl. Dyck, 1996, ad loc. Zu Ciceros Plänen, nach Griechenland zu reisen und seinen Sohn dort zu unterstützen siehe oben S. 152. 537 Cic. Tusc. 1,7 in quam exercitationem ita nos studiose dedimus, ut iam etiam scholas Graecorum more habere auderemus.

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Protreptik in De officiis sich auf die Rhetorik bezieht, da auch die Tusculanae disputationes sich als rhetorische Übung auf dem Gebiet der Philosophie präsentieren. Die Schrift endet mit einem Appell an die Haltung des jungen Marcus: er solle nicht nur dem Rat folgen, De officiis zu lesen, sondern das mit Freude (gaudere; laetaberis) und intrinsischer Motivation tun. In der Grußformel fährt Cicero fort, sein Sohn sei ihm zwar lieb und teuer, werde es aber noch viel mehr sein, wenn er Freude finde an derartigen Mahnungen und Vorschriften.538 Von unserer modernen Warte aus könnten wir argwöhnen, dass Cicero seinem Sohn hier mit Liebesentzug drohe und ihn auf diese Weise schlichtweg emotional erpresse. Dass das nicht stimmen muss, lässt sich erweisen, wenn man wiederum auf die Methoden der Protreptik sieht; denn der Aufruf, Freude zu empfinden und etwas bewusst gerne zu tun, verknüpft das Handeln bzw. Lernen mit der gleichen emotionalen Komponente, die auch im Vorwort zum ersten Buch zu beobachten ist. Dort sollte Ciceros Sohn so lange lernen, wie er das Ausmaß seiner Fortschritte nicht bereue.539 Im Vergleich mit dieser negativen Formulierung ist der Ton im Schlusswort mit dem direkten Hinweis auf die Freude weitaus positiver; daher ist eine Verschärfung des Tons, von der Pohlenz spricht,540 schwerlich zu bemerken. Vergleicht man den Schluss von De oratore, so besteht die große Ähnlichkeit darin, dass Crassus die Schüler Sulpicius und Cotta geradezu beschämt, indem er ihnen vorhält, es sei schändlich (vix honestum), wenn Hortensius’ Stern heller als ihr eigener strahle.541 Beide – der Vater wie der Sohn – dürften sich über den literarischen bzw. topischen Charakter dieser Passage durchaus im Klaren gewesen sein und sie nicht so verstanden haben, dass zwangsläufig hier die Intimität eines persönlichen Konflikts nach außen getragen wird. Der junge Marcus wird vielmehr als jemand präsentiert, der sich um die richtigen Lehrer und den richtigen Unterricht bemühen muss, um später ihm angemessene Aufgaben übernehmen zu können. Diese Ermahnung ist aber keineswegs einseitig: der junge Marcus erscheint als ein prominenter Schüler, um den sich ein Lehrer bemüht und ihm verspricht, ihm die Bildung zu geben, die ihm zur Erfüllung der hohen Aufgaben dient, für die er bestimmt ist. 4.5.3 Protreptik im eigentlichen Text von De officiis? Im Folgenden soll untersucht werden, welche Rolle der Anspruch, den die Protreptik der Vorreden und des Epilogs formuliert, im eigentlichen Text der drei Bücher spielt. Später kann dann danach gefragt werden, ob und wie Cicero in De officiis Rahmen Cic. off. 3,121 vale igitur, mi Cicero, tibique persuade esse te quidem mihi carissimum, sed multo fore cariorem, si talibus monitis praeceptisque laetabere. 539 Cic. off. 1,2. Zum protreptischen Charakter dieser Stelle vgl. oben S. 165 ff. 540 Pohlenz, 11 (besonders zum Vorwort des 3. Buchs). 541 Cic. de orat. 3,230. 538

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und Text aufeinander bezieht und somit seine Schrift zu einer Einheit gestaltet. Cicero folgt in den ersten beiden Büchern von De officiis bekanntlich den drei Büchern περὶ τοῦ καθήκοντος des Panaitios von Rhodos, die heute verloren sind.542 Für das dritte Buch zieht er dagegen Poseidonios’ περὶ καθηκόντων (περὶ καθήκοντος) bzw. eine Zusammenfassung davon heran.543 In dem Brief an Atticus, in dem Cicero schreibt, er habe die ersten beiden Bücher vollendet, fügt er am Ende des Abschnitts eine Bemerkung über den Adressaten hinzu und sagt, dass er seinen Sohn anrede, weil ihm das nicht ganz unpassend erscheine.544 Cicero macht hier zweifelsohne ein Wortspiel, indem er zum einen sagt, dass seine Widmung gewissermaßen in der Familie (οἶκος) bleibe; zum anderen deutet er an, dass dieses Thema für seinen Sohn Marcus bzw. Leute in diesem Alter und dieser Lebenssituation genau passe.545 Da er diesen Gedanken gegenüber Atticus nicht näher begründet, nimmt Cicero wohl an, dass er klar und deutlich auf der Hand liege. Folgendermaßen lässt er sich nachvollziehen: Von Kratippos wissen wir, dass er gebeten wurde, in Athen mit den jungen Leuten (οἱ νέοι) über Philosophie zu sprechen.546 Nimmt man hinzu, dass Cicero vermutet, Kratippos halte in Athen Vorlesungen περὶ καθήκοντος, die für seinen Sohn deswegen nützlich seien, weil sich daraus Lehren für die Lebensführung ableiten ließen,547 so ergibt sich, dass die praktische Ethik, die unter dem Thema Pflichtenlehre (περὶ καθήκοντος) behandelt wird, als angemessen für junge Leute gilt, von denen man selbstverständlich annimmt, dass sie eine Laufbahn im Staat einschlagen. Es geht Cicero hier also keineswegs darum, dass sein Sohn lernt, mithilfe der Philosophie ein bestimmtes Fehlverhalten zu korrigieren und das Richtige zu tun, sondern er setzt voraus, dass der junge Cicero zu denen gehört, für die dieser Unterricht bestimmt ist. Da Kratippos zudem seinen Unterricht auf offizielle Bitte eines Athener Ratsgremiums erteilt, kann man daraus schließen, dass der hauptsächliche Zweck nicht darin liegt, künftigen Philosophen ein ausführliches und vertieftes Studium anzubieten oder dafür zu werben, sondern in der Ethik mit einem starken Bezug zur Lebenspraxis gesucht werden muss. Der allgemeine pädagogische Ansatz ist also bereits dem Thema inhärent, und seine praktische Umsetzung kann in De officiis gut beobach-

542 Cic. Att. 16,11,4. Allgemein dazu vgl. Dyck, 1996, 17–18, und die Zusammenstellung und die Kommentare bei F. Alesse, Panezio di Rodi, Testimonianze, Napoli 1997, test. 92–103. Dyck, 1996, 17, weist darauf hin, dass Cicero zwar nicht unmittelbar begründet, warum er Panaitios’ Bücher ausgewählt habe, dass es aber nahegelegen habe, gerade die Wahl zu treffen. 543 Att. 16,11,4 und 16,14,4. Zu der Frage, ob Cicero eine Art Zusammenfassung (κεφάλαια) eines gewissen Athenodoros benutzt habe, siehe W. Theiler, Poseidonios. Die Fragmente, Band 1: Texte. Band 2: Erläuterungen, Berlin/New York 1982, ad F 431a und b (Band 2, 365 f.). 544 Cic. Att. 16,11,4 προσφωνῶ autem Ciceroni filio; visum est non ἀνοίκειον. 545 Vgl. LSJ s. v. 546 Plut. Cic. 24,7. 547 Cic. off. 3,5.

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tet werden. Diese Lehrhaftigkeit ist zwar im besten Sinne paränetisch, da sie aber keine protreptischen Züge trägt (weder in Bezug auf die Philosophie noch auf die Rhetorik), ist sie für diese Untersuchung nicht relevant. Die Struktur von De officiis ist daher also aus dem Blickwinkel der Frage nach der Protreptik vergleichbar mit Isokrates’ Rede An Nikokles (or. 2), wo ein Rahmen, der als Werbung für Isokrates’ Rhetorik (φιλοσοφία) verstanden werden kann, um einen Text gelegt ist, der allgemeine Ratschläge besonders für Politiker bzw. Herrscher enthält.548 4.5.3.1 Lernen und Erkenntnis Dass die Bücher De officiis nicht als protreptischer Text angelegt sind, zeigt sich, wenn man die Themen ‚Lernen‘ und ‚Lehrer‘ betrachtet und besonders mit dem vergleicht, was Cicero in De oratore oder den Vorreden zu De officiis selbst sagt. Die Lehre von den Pflichten bzw. dem pflichtgemäßen Handeln setzt natürlich voraus, dass sie lernbar ist. Dieser Gedanke wird erst im dritten Buch anlässlich der Diskussion des Scheinwiderspruchs zwischen honestum und utile kurz ausgesprochen.549 Während das vollkommene officium (κατόρθωμα) nur der Weise, der im Besitz der richtigen Einsicht ist, leisten kann, ist das normale officium vielen zugänglich, wenn die Naturanlage (ingenii bonitas) und der Fortschritt des Lernens (progressio discendi) das erlauben. Die Einordung dieses Gedankens in die προκοπή-Lehre der Stoa kann hier ausgeblendet werden,550 es genügt festzustellen, dass – anders als in den Vorreden – dem Lernen eben keine exklusive Schlüsselrolle zum Erreichen des gewählten Ziels zugeschrieben wird und dass keine Aufforderungen oder Bemerkungen pädagogischer Natur folgen. Im Gegenteil zeigen die Illustrationen und Beispiele, die Cicero im Folgenden heranzieht, dass für die secunda honesta, also für die Pflichten, die jeder erfüllen kann, die Begabung für die Tugend (virtutis indoles) entscheidend ist und nicht so sehr ein Wissen, das ein Lehren und Lernen im Sinne eines geregelten Unterrichts voraussetzt.551 Auf diese Weise kann Cicero M. Cato und C. Laelius und später Q. Scaevola und Regulus als Vorbilder anführen, auch wenn sie weit davon entfernt sind, das stoische Ideal zu verkörpern. Daraus ergibt sich, dass in De officiis zwar ausführliche Lehren für das richtige Verhalten entwickelt und dargestellt werden, dass aber das Lernen, die Studi548 Dazu siehe oben S. 19 ff. 549 Cic. off. 3,14 haec enim officia, de quibus his libris disputamus, media Stoici appellant; ea communia sunt et late patent, quae et ingenii bonitate multi assequuntur et progressione discendi. Illud autem officium, quod rectum idem appellant, perfectum atque absolutum est et, ut idem dicunt, omnes numeros habet nec praeter sapientem cadere in quemquam potest. 550 Vgl. Dycks Kommentar ad Cic. off. 3,14, der auf O. Luschnat, Das Problem des ethischen Fortschritts in der alten Stoa, Philologus 102 (1958), 178–214, verweist. 551 Cic. off. 3,16. Dyck ad off. 3,17 verweist auf die Unterscheidung zwischen vollkommenen Weisen und viri boni in Cic. Lael. 18–19.

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en und die Lehrer nicht als entscheidend dafür erachtet werden.552 Der Umstand, dass für das Lernen oder für bestimmte Lehrer nicht geworben wird, bedeutet natürlich nicht, dass Cicero hier den Wert des Lernens ausdrücklich leugnet; es zeigt sich allerdings deutlich, dass De officiis keine Schrift mit protreptischen Elementen ist. Das lässt sich vor allem an den Stellen im ersten Buch beobachten, wo die Studien behandelt werden. Die Darstellung der Quellen der Pflichten folgt im ersten Buch bekanntlich einem besonderen Tugendschema von cognitio veri an erster Stelle (off. 1,18–19), dann iustitia und beneficentia (off. 1,20–60), ferner magnitudo animi (off. 1 61–92) und schließlich decorum (off. 1,93–151).553 In der sehr knappen und von Unklarheiten nicht freien Darstellung der ersten Tugend finden sich keine Hinweise auf das Lernen, die als protreptisch verstanden werden können.554 Cicero betont zunächst den Wert der cognitio und sieht sie in der Natur der Menschen verwurzelt. Alle Menschen würden angetrieben zum Verlangen nach Erkenntnis und Wissen und hielten es daher für schön, sich darin auszuzeichnen (excellere), und für schimpflich, zu scheitern (labi […], errare, nescire, decipi).555 Der Gegensatz von positiv empfundenem Erfolg und negativ wahrgenommenem Misserfolg auf diesem Gebiet sei in der Natur angelegt. Da aber ein Fehler darin bestehen könne, dass man das, was noch nicht erkannt sei, für bereits erkannt halte und dem ohne Überlegung zustimme, müssten die Umstände ohne Hast und sorgfältig geprüft werden. Für die Vermeidung dieses Fehlers ist ein bestimmter Wille, also ein intentionaler Akt, erforderlich. Ciceros Formulierung, dass alle die Pflicht hätten, diesen Willen aufzubringen, wirkt zunächst geradezu wie ein Selbstzitat der an seinen Sohn gerichteten Protreptik des Vorworts zum ersten Buch.556 Zum Unterschied von der Formulierung des Vorworts, wo der junge Marcus zum Lernen aufgefordert wird, spricht Cicero hier allerdings nur von ganz allgemein von der Notwendigkeit, Zeit und Sorgfalt aufzubringen. Daher liegt hier keine Protreptik vor, geschweige denn die Aufforderung, ein bestimmtes Wissen oder eine Methode bestimmter Lehrer zu erlernen.557 Ein weiterer Fehler auf dem Gebiet der cognitio besteht darin, dass die Beschäftigung mit komplizierten und zugleich nicht notwendigen Studien davon abhält, pflichtgemäß zu handeln.558

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Dass es sich bei der Pflichtenlehre um einen Gegenstand des Lernens und der Studien handeln kann, zeigen die Vorworte, besonders off. 3,5 (dazu siehe oben S. 171 f.). 553 Zur Gliederung vgl. Dyck, 58–59. 554 Vgl. Dyck, 102–103, über den Begriff der cognitio als Übersetzung von φρόνησις. 555 Cic. off. 1,94; zum Verb excellere in protreptischen Kontexten siehe oben S. 134. 556 Cic. off. 1,18 […] quod vitium effugere qui volet – omnes autem velle debent –, adhibebit ad considerandas res et tempus et diligentiam; vgl. Cic. off. 1,2 (dazu siehe oben S. 165). 557 Eine Aufforderung wie die in De oratore, die Methoden der skeptischen Akademie zu erlernen (siehe oben S. 134 f.), wäre innerhalb des auf stoischen Fundamenten ruhenden Gedankengebäudes von De officiis vermutlich unpassend. 558 Vgl. Cic. de orat. 3,58 mit einer ähnlichen Kritik an der vita contemplativa der Wissenschaftler auf Spezialgebieten: […] omne tempus atque aetates suas consumpserunt. Vgl. auch off. 1,28, wo die

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Nun lässt sich aus dem Fehlen deutlicher Werbung für das Lernen an dieser Stelle schwerlich irgendetwas ableiten; hinzu kommt, dass Cicero, sollte er hier den erkenntnistheoretischen Teil seiner Vorlage gekürzt und die erste Tugend der Erkenntnis des Wahren weitaus knapper als Panaitios behandelt haben, das in der Absicht tut, sich auf den praktischen Teil der Pflichtenlehre und auf die Konsequenzen für die Lebensführung zu beschränken.559 Trotzdem ist dieser Umstand, dass Cicero hier nicht für das Lernen wirbt, bemerkenswert, wenn man nach dem Verhältnis zwischen dem protreptischen Rahmen und dem nicht-protreptischen Text in De officiis fragt; denn auf diese Weise kann etwas genauer bestimmt werden, wofür Cicero seinem Sohn gegenüber eigentlich wirbt. 4.5.3.2 Rhetorische Studien in De officiis Zunächst ist es aber sinnvoll, die weiteren Stellen zu betrachten, wo Cicero die Themen ‚Lernen‘, ‚Lehrer‘ und insbesondere ‚Rhetorik‘ behandelt. Innerhalb des großen Abschnitts über beneficentia und liberalitas (off. 1,42–60) diskutiert Cicero die Gemeinschaft der Menschen (societas hominum coniunctioque; off. 1,50–60). Sie beruht auf dem Band der Vernunft (ratio) und der Rede (oratio).560 In deren Beschreibung erscheinen an erster Stelle geradezu signalartig die Verben ‚lehren‘ und ‚lernen‘, so dass man zunächst vermuten könnte, Cicero werde diese Themen hier behandeln. Doch in diesem Lob des λόγος wird aus dem Gedanken, dass die Menschen sich von Tieren dadurch unterschieden, dass sie über Vernunft und Rede verfügten, kein weiterer Aufruf zum Studium der Rhetorik abgeleitet, wie es Crassus im ersten Buch von De Oratore tut.561 Wiederum lässt sich schwerlich behaupten, dass der Text von De officiis eine Leerstelle habe, weil Cicero beim Stichwort der oratio im Allgemeinen darauf verzichte, die Qualitäten und den Wert der Redekunst im Besonderen hervorzuheben. Hier geht es nämlich gar nicht – und das dürfte auch in der Argumentation des Panaitios so gewesen sein – um den kulturstiftenden Wert der Redekunst. Es zeigt sich aber immerhin, dass weder an die Hervorhebung der oratio im Vorwort zum ersten Buch noch an die Gedankenführung von De oratore angeknüpft wird. Innerhalb der Vorschriften, die die vierte Tugend, das decorum, betreffen (off. 1,93– 151), beschreibt Cicero ein Modell von zunächst zwei (off. 1,107–114) und dann zwei studia (sc. der Philosophie) unter den möglichen Gründen dafür erscheinen, dass jemand seine Pflichten vernachlässigt. 559 So Dyck, 102–103. 560 Cic. off. 1,50 eius autem vinculum est ratio et oratio, quae docendo, discendo, communicando, disceptando, iudicando conciliat inter se homines coniungitque naturali quadam societate, neque ulla re longius absumus a natura ferarum, in quibus inesse fortitudinem saepe dicimus, ut in equis, in leonibus, iustitiam aequitatem, bonitatem non dicimus; sunt enim rationis et orationis expertes. 561 Cic. de orat. 1,32–33, dazu siehe oben S. 84.

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weiteren (off. 1,115–121) Rollen (personae), in denen sich jemand befindet, der seine Pflichten erfüllt. Neben der Rolle, die allen Menschen dank ihrer Teilhabe an der ratio und ihrer Überlegenheit über die Tiere gemeinsam sei, tritt zunächst die Rolle, die sich aus der Verschiedenheit aller und den besonderen Eigenschaften jedes einzelnen ergibt. Cicero nennt dafür zahlreiche Beispiele aus dem Mythos und aus der griechischen wie römischen Geschichte; bemerkenswert ist besonders, dass L. Crassus, die Hauptfigur in De oratore, hier nicht als überragenden Redner mit all seinen Fähigkeiten und Wirkungen präsentiert wird, sondern dass anders als in De oratore lediglich sein charmanter und geistvoller Witz (lepos) als besondere Qualität an ihm hervorgehoben wird.562 Cicero hat hier also gar nicht die Absicht, den Redner besonders zu rühmen oder als vorbildlich darzustellen. Ähnliches gilt auch für die dritte und die vierte persona; jene ergibt sich aus zufälligen Umständen, diese ist das Ergebnis einer persönlichen Wahl. Hier diskutiert Cicero den für junge Leute schwierigen Prozess, sich für das zu entscheiden, was am besten zu ihnen passt. Wenn die eigenen Vorfahren sich bereits auf einem Gebiet ausgezeichnet hätten, liege es nahe, ihrem Vorbild nachzueifern. Es sei auch möglich, ein zusätzliches Feld zu erobern oder ganz eigene Wege zu gehen. Dazu seien auch diejenigen gezwungen, die keine Vorbilder in der eigenen Familie hätten.563 Der Abschnitt ist in zwei Hinsichten interessant für die Frage nach der Protreptik: zum einen erscheint die Beredsamkeit als eine Möglichkeit, einen Lebensweg einzuschlagen, unter mehreren, ohne dass Cicero eine bestimmte Präferenz erkennen ließe.564 Während in De oratore an vielen Stellen die Spannungen besonders zwischen der Philosophie und der Rhetorik spürbar sind und insbesondere im maius-Motiv ein Vorrang der Rhetorik angelegt zu sein scheint,565 zumindest was das Gebiet der Sprache und des Ausdrucks von Gedanken und Sachverhalten betrifft, so fehlen hier in De officiis die Konkurrenz der Lehrer um die Schüler und die Werbung um den vermeintlich besten Weg. Das wird auch bei dem zweiten Punkt deutlich: der Abschnitt zitiert die bekannte Geschichte von Herakles am Scheideweg:566 der junge Herakles muss sich zwischen einem mühelosen, aber moralisch verwerflichen Weg und einem beschwerlichen, da562 Cic. off. 1,108 erat in L. Crasso, in L. Philippo multus lepos, maior etiam magisque de industria in C. Caesare, L. filio. Witz ist eine Voraussetzung, die ein großer Redner haben muss (de orat. 1,17). Vgl. zu dieser Charakterisierung des Crassus auch Cic. Brut. 143, wo neben dem Witz (facetiae und non scurrilis lepos) auch die gravitas betont wird und der Redner in seiner ganzen Wirkung erscheint. 563 Cic. off. 1,115–116. Das gilt auch für Ciceros eigene Bibiographie. 564 Cic. off. 1,115 itaque se alii ad philosophiam, alii ad ius civile, alii ad eloquentiam applicant, ipsarumque virtutum in alia alius mavult excellere. 565 Vgl. z. B. den Streit zwischen Rhetoren und Philosophen, von dem Antonius berichtet (de orat. 1,80–95); siehe dazu oben S. 87 f. 566 Vgl. X. Mem. 2,1,21–34 nach Prodikos von Keos (Diels-Kranz 84,2); die Geschichte ist häufig aufgegriffen worden: Clem. Al. Paed. 2,10,110; Lucianus Somn. 6; Them. or. 22 280; Bas. Caes. ad adol. 5,55–77.

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für aber tugendhaften Pfad entscheiden. Während sich Xenophons Sokrates nach dem Ende der Geschichte an Aristippos von Kyrene wendet und ihn auffordert, die Lehre dieser Geschichte für sein künftiges Leben zu beherzigen, und somit Tugendparänese und zumindest ansatzweise eine protreptische Situation erkennbar sind,567 erfährt die Geschichte bei Cicero (bzw. Panaitios) eine überraschende Kritik und eine Wendung ins Menschliche und Bürgerliche. Als Herakles jung und in einem Alter gewesen sei, wo man sich für den richtigen Lebensweg entscheide, habe er in Einsamkeit und Ruhe zwischen den beiden Möglichkeiten entscheiden können, die ihm Voluptas und Virtus präsentierten. Die Autonomie und Freiheit seien, wie unser Text kritisch anmerkt, bei einem Sohn des Zeus vorstellbar, nicht aber im normalen Leben, wo auf einen jungen Menschen verschiedenste Einflüsse treffen.568 Diese Überlegungen lesen sich wie eine Kritik aus empirischer oder soziologischer Sicht an der Vorstellung, die in protreptischen Texten stillschweigend vorausgesetzt wird, dass jemand bei entsprechender Begabung frei sei, sich für einen bestimmten Unterricht zu entscheiden, und dann durch Lernen und Anstrengung ein Ziel erreichen könne.569 In der Wirklichkeit gebe es die Prägung durch die Eltern und den Einfluss der communis opinio; nur wenigen gelinge es daher, den richtigen Weg dank dem Glück oder ihrer Veranlagung einzuschlagen; bei der Entscheidung darüber sei es von größter Bedeutung, das individuelle Wesen (natura) dessen zu beachten, um dessen Lebensführung es geht, da von ihr die Entscheidung abhängt, was sich jeweils ziemt bzw. den Bereich des πρέπον betrifft (decet; off. 1,119–121). Wenige Kapitel später findet sich ein Abschnitt über die oratio (off. 1,132–137); hier untergliedert Cicero das Gebiet der ‚Rede‘ in contentio und in sermo.570 Die drei Bereiche der ‚gehobenen Rede‘ (Gerichtsrede, Volksrede und Senatsrede) stehen dem Feld der ‚Gespräche‘ in kleinen Kreisen, bei Disputationen, Treffen mit Vertrauten und Gastmählern gegenüber.571 Für die contentio gebe es, wie Cicero fortfährt, die Lehren 567 X. Mem. 2,1,34 σοὶ δ᾽ οὖν ἄξιον, ὦ Ἀρίστιππε, τούτων ἐνθυμουμένῳ πειρᾶσθαί τι καὶ τῶν εἰς τὸν μέλλοντα χρόνον τοῦ βίου φροντίζειν. Slings, 75, schließt aus methodischen Überlegungen Xenophons Memorabilien aus seiner Untersuchung aus (mit Ausnahme von mem. 4,2), um die klare Trennung zwischen Paränese und Protreptik aufrechterhalten zu können. 568 Cic. off. 1,118 […] hoc Herculi Iovis satu edito potuit fortasse contingere, nobis non item, qui imitamur, quos cuique visum est, atque ad eorum studia institutaque impellimur. plerumque autem parentium praeceptis imbuti ad eorum consuetudinem moremque deducimur; alii multitudinis iudicio feruntur, quaeque maiori parti pulcherrima videntur, ea maxime exoptant; nonnulli tamen sive felicitate quadam sive bonitate naturae sine parentium disciplina rectam vitae secuti sunt viam. 569 Die äußeren Umstände werden natürlich nicht ganz ausgeblendet: so macht sich der junge Hippokrates in Platons Protagoras Sorgen, ob er überhaupt genug Geld habe, seinen künftigen Lehrer zu bezahlen, und will notfalls seine Freunde um Hilfe bitten (310d–e). 570 Vgl. zu diesen Begriffen Gavoille, 386–389 (mit dem Überblick über die Forschung in Anm. 182). Vergleichbar ist die λαλιά, die Menander Rhetor (388–394) behandelt; dazu vgl. Ernesti, 1795, s. v., und Th. Schirren, Lalia, Prolalia, B, HWRh 5 (2001), 24–28. 571 Zu den verschiedenen Bedeutungen von contentio in rhetorischen Schriften vgl. auch die nützliche Übersicht bei Ernesti, 1797, s. v.

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der Rhetoren, nicht aber für den sermo, für den sich die Rhetoren nicht interessiert hätten. Allerdings ließen sich die Vorschriften für die Bereiche der Wörter (verba) und der Gedanken (sententiae) bequem übertragen.572 Im Folgenden behandelt Cicero nun den sermo und dabei aus dem Bereich der Wörter die Stimme (vox).573 Zwei Qualitäten sind hier gefordert und müssen von Natur aus angelegt sein; von diesen wird die Deutlichkeit (vox clara) durch Übung, die Lieblichkeit (vox suavis) durch das Nachahmen guter Vorbilder wie Lutatius Catulus (Vater und Sohn), Crassus und Caesar Strabo gefördert. Auf diese Digression folgen Vorschriften, die in den Bereich der sententiae gehören und die Forderungen nach Sanftheit (lenitas) und Anmut (lepos) betreffen.574 Auch in diesem Abschnitt gibt es keine Hinweise darauf, dass Cicero eine protreptische Strategie verfolgt. Die Beredsamkeit ist zwar nützlich, weil mit ihrer Hilfe die Umgangsformen verfeinert werden können, sie erscheint aber nicht als der Schlüssel oder das unbedingt notwendige Werkzeug für den gesellschaftlichen Erfolg junger Leute.575 Auf die Rhetorik kommt Cicero im zweiten Buch von De officiis zurück. Innerhalb der breit angelegten und für dieses Buch zentralen Vorschriften über den Ruhm (off. 2,31–85) werden die officia diskutiert, durch deren Erfüllung insbesondere junge Leute gezielt Ruhm erlangen können (off. 2,43–51). Hier wird der Rede ein prominenter Platz zugewiesen (off. 2,48–51). Der Abschnitt beginnt mit einem Zitat des Sokrates, dass der schnellste Weg zum Ruhm der sei, wenn einer so handele, dass er tatsächlich so ist, wie er angesehen werden möchte.576 Daraus folgt, dass wahrer Ruhm nicht auf falschem Anschein beruhen könne.577 Cicero lässt diesen Gedanken eine hier überraschende Wendung nehmen: je größer die Aufmerksamkeit (celebritas et nomen) ist, die jemandem dank seiner Geburt oder dank einer Gunst des Schicksals bereits schon von früher Jugend an zuteil wird, desto

Cic. off. 1,132. Dyck, ad off. 1,33, weist auf die Ähnlichkeit dieser Digression mit dem Abschnitt de orat. 3,41–42 hin, wo Crassus innerhalb der Lehre von der Latinitas über Stimme und Aussprache spricht und ähnliche Kriterien gebraucht. 574 Cic. off. 1,134–137. 575 Dieser Anspruch wird im Grunde auch in De oratore nicht erhoben, auch wenn der vollkommene Redner überall dort, wo man kein Spezialwissen wie in der Geometrie oder der Musik braucht, argumentativ und formal überlegen ist (de orat. 3,76–78). 576 Cic. off. 2,43 nach X. Mem. 2,6,39 (nicht über Ruhm, sondern über das Schließen von Freundschaften); auf den inhärenten Widerspruch zwischen dieser Forderung des Sokrates und dem kalkulierenden Ansatz, Ruhm zu gewinnen, indem man ratio und praecepta befolgt, weist zu Recht Dyck hin ad Cic. off. 2,43. Die Forderung an die Jugend nach der Einheit von Sein und Schein findet sich auch beim Anonymus Iamblichi (fr. 2,1–2 = Protr. 96,1–11) und kann daher der frühen Sophistik und einem protreptischen Kontext zugeordnet werden; dazu siehe A. Th. Cole Jr., The Anonymus Iamblichi and His Place in Greek Political Theory, HSPh 65 (1961), 127–163, hier 129–130; zum protreptischen Charakter dieser Schrift vgl. 162, Anm. 64. 577 Das Wortspiel zwischen den Bedeutungen des Wortes δόξα ‚Schein‘ und ‚Ruhm‘, zwischen denen die Bedeutung ‚Ansehen‘ steht, geht im Lateinischen verloren. 572 573

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schärfer und kritischer ist die Beobachtung, der er von allen Seiten ausgesetzt ist.578 Indem sich Cicero hier an seinen Sohn mit der Bemerkung wendet, dass dieser genau in der beschriebenen Lage sei, knüpft er nun an die Stelle im ersten Buch an, wo er vom Erbe (hereditas) seines Ruhms spricht.579 Im Vorwort zum dritten Buch spricht er in ähnlicher Weise von der expectatio imitandae industriae nostrae.580 Da der Hinweis auf die Beobachtung der Öffentlichkeit der Herrschertopik angehört, präsentiert Cicero seinen Sohn hier als künftigen Herrscher bzw. erinnert ihn an diese Rolle.581 Dieser Gruppe der jungen Leute, die seit ihrer Geburt von der Öffentlichkeit beobachtet werden, stehen andere gegenüber, die eben nicht dank ihrer Geburt ausgezeichnet seien, sondern erst etwas werden müssten. Von ihnen fordert Cicero, dass sie ihr Augenmerk auf Großes richten und dieses Große mithilfe der richtigen Studien anstreben müssten, und verwendet dabei eine deutlich protreptisch gefärbte Formulierung.582 Besteht nun ein Widerspruch zwischen dem protreptischen Rahmen, wo der junge Cicero zum Lernen und zu den Studien der Rhetorik und der Philosophie aufgefordert wird, und unserer Stelle, wo er scheinbar gerade nicht zur Gruppe derer gehört, die sich anstrengen müssen? Zum einen wird natürlich keineswegs ausgeschlossen, dass Studium und Anstrengung auch für die ‚Prinzen‘ notwendig sind; die genaue Beobachtung ihrer Worte (dictum) und Taten (factum) erfordert im Gegenteil ein Verhalten gemäß der Norm und der allgemeinen Erwartung. Zum anderen wird im Folgenden deutlich, dass für junge Menschen der Weg, Ruhm mittels der Redekunst zu erlangen, sich auch dann empfiehlt, wenn sie aus berühmten und arrivierten Familien stammen. Das zeigen die Beispiele bzw. Vorbilder, die Cicero wählt. Er nennt zunächst (off. 2,46–47) P. Rutilius Rufus, der sich als junger Mann dem Juristen P. Mucius Scaevola angeschlossen hat,583

578 Cic. off. 2,44 nam si quis ab ineunte aetate habet causam celebritatis et nominis aut a patre acceptam – quod tibi, mi Cicero, arbitror contigisse – aut aliquo casu atque fortuna, in hunc oculi omnium coniciuntur atque in eum, quid agat, quemadmodum, vivat inquiritur et, tamquam in clarissima luce versetur, ita nullum obscurum potest nec dictum eius esse nec factum. Die Möglichkeit, dass jemand über eine Art angeborenen Ruhm verfügt, gibt es im Paralleltext des Anonymus Iamblichi nicht; vgl. die Synopse bei Cole, 129–130. 579 Cic. off. 1,78; dazu siehe unten S. 190 f. 580 Cic. off. 3,6; dazu siehe oben S. 173 f. 581 Vgl. oben S. 68 f. zum Brief Ciceros an seinen Bruder Quintus (Cic. ad Q. fr. 1,1,9) und z. B. Sen. dial. (de ira) 3,14,1 Cambysen regem nimis deditum vino Praexaspes, unus ex carissimis, monebat, ut parcius biberet, turpem esse dicens ebrietatem in rege, quem omnium oculi auresque sequerentur. Die häufige Mahnung zu tugendhaftem Verhalten fehlt an unserer Stelle bzw. ist nur implizit vorhanden. Cicero selbst beschreibt sein Leben im Licht der Öffentlichkeit vor der Diktatur im Vorwort zum dritten Buch (off. 3,3): ita qui in maxima celebritate atque in oculis civium quondam vixerimus, nunc fugientes conspectum sceleratorum, quibus omnia redundant, abdimus nos quantum licet et saepe soli sumus. 582 Cic. off. 2,45 quorum autem prima aetas propter humilitatem et obscuritatem in hominum ignoratione versatur, ii, simulac iuvenes esse coeperunt, magna spectare et ad ea rectis studiis debent contendere. 583 Zu tirocinium fori vgl. oben Anm. 83.

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und dann L. Crassus, der sich ohne einen Lehrer gewaltigen Ruhm erworben habe und in einem Alter, wo andere wie z. B. Demosthenes schon gelobt werden, wenn sie sich nur üben, gezeigt habe, dass er auf dem Forum hervorragend agieren könne. Ähnlich wie in De oratore betont Cicero hier, dass Crassus ein genialer Autodidakt gewesen sei.584 Später (off. 2,49) fügt Cicero auch noch die Beispiele des Antonius und des P. Sulpicius hinzu und nennt die Anklage des P. Sulpicius gegen C. Norbanus. Cicero unterscheidet wiederum zwischen sermo und contentio und behandelt nun den eigentlichen Bereich der Rede (eloquentia) in einer etwas längeren Passage (off. 2,48–51).585 Als Beispiele für den ‚Gesprächston‘ werden paränetische Briefe von Herrschern an ihre Söhne genannt, in denen sie sie mit Leutseligkeit auffordern, durch Redekunst das Wohlwollen der Menge und die Sympathie ihrer Soldaten zu gewinnen. Ruhm lasse sich dagegen durch die Reden gewinnen, die vor einer größeren Gruppe (multitudo) gehalten werden. Nun folgt eine knappe Bemerkung, die als laus eloquentiae aufgefasst werden kann: groß sei die Bewunderung für den, der wortgewaltig (copiose) und weise (sapienter) spreche und von dem die Zuhörer annähmen, er sei verständiger und weiser als seine Mitmenschen. Die größte Bewunderung verdiene aber eine Rede, in der Ernst und Mäßigung miteinander vermischt seien – und das besonders bei einem jungen Menschen.586 Crassus’ Lob der Redekunst im ersten Buch von De oratore weist große Ähnlichkeiten mit dieser Passage auf:587 das Verhältnis zwischen der Menge und dem Redner ist von Bewunderung (admiratio) geprägt und ruft Bewunderung hervor, weil der Redner dank seiner Rede seine Mitmenschen zu überflügeln scheint und diese das bereitwillig akzeptieren. Der Erfolg des Redners beruht auf dem Eindruck intellektueller und stilistischer Bravour und moralischer Festigkeit, den er bei seinen Zuhörern hinterlassen

584 Cic. off. 2,47 […] non aliunde mutuatus est […]; vgl. de orat. 3,74 (über Crassus) und 2,79 (über Antonius). Zum deutlichen Unterschied von De officiis werden Antonius und Crassus in De oratore aber als Lehrer dessen dargestellt, was sie selbst angeblich nie oder nur oberflächlich studiert haben. 585 Vgl. Cic. off. 1,132; dazu siehe oben S. 185. 586 Cic. off. 2,48 quae autem in multitudine cum contentione habetur oratio, ea saepe universam excitat [gloriam]. magna est enim admiratio copiose sapienterque dicentis, quem qui audiunt intellegere etiam et sapere plus quam ceteros arbitrantur. si vero inest in oratione mixta modestia gravitas nihil admirabilius fieri potest eoque magis, si ea sunt in adulescente. Dyck ad loc. verwirft die Athetese von gloria und den sich daraus ergebenden Bezug von universam auf multitudinem. Seinem Argument, dass in diesem Fall eine Präzisierung wie ad virtutem zu erwarten sei, kann jedoch entgegengehalten werden, dass Cicero sich hier auf das Pathos (movere) bezieht, das besonders im hohen Stil der politischen Rede vor dem Volk seinen Platz hat; hier liegt also ein Hinweis auf eine zentrale Kategorie der Rhetorik vor, nicht aber eine ethische Bemerkung. Zur Formulierung mit dem Verb excitare vgl. de orat. 2,187 und 189. 587 Cic. de orat. 1,31 quid enim est aut tam admirabile quam ex infinita multitudine hominum existere unum, qui id, quod omnibus natura sit datum, vel solus vel cum perpaucis facere possit? aut tam iucundum cognitu atque auditu quam sapientibus sententiis gravibusque verbis ornata oratio et polita? Vgl. dazu oben S. 84 f.

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kann. Zudem spielt Cicero in De officiis mit der Formulierung intellegere etiam et sapere plus quam ceteros auf das für De oratore konstitutive maius-Motiv an.588 Im Folgenden beschreibt Cicero, wie junge Leute besonders in Gerichtsreden Ruhm erlangen können, indem sie als Anwälte eine Verteidigung (was prinzipiell lobenswerter sei) oder eine Anklage (was sich in der Praxis oft bewährt habe) gewinnen (off. 2,49–51). Cicero illustriert das mit zahlreichen Beispielen, darunter auch mit seiner Anklage gegen Verres und später mit seiner Verteidigung des Roscius aus Ameria, und diskutiert die Grenzen, die besonders einer Anklage gesetzt sind, wenn sie die Laufbahn eines jungen Mannes fördern soll: sie muss dem Interesse des Staates dienen und dessen Feinde bekämpfen bzw. auf einem Patronatsverhältnis beruhen und in jedem Falle das richtige Maß beachten. Dass Cicero hier, wo er über ehrgeizige junge Anwälte schreibt, einen geläufigen Zusammenhang beschreibt, zeigt nicht nur seine eigene vita, auf die er hinweist, sondern auch eine Stelle in der Rede für Marcus Caelius (56 v. Chr.). Dort sagt Cicero, dass sein Mandant dem alten Brauch und Vorbild gefolgt sei, dank einer spektakulären Anklage berühmt zu werden, und zu seinem Leidwesen seinen Kollegen im Konsulat Antonius Hybrida angeklagt habe. Später sei Caelius in seiner Generation an Ruhm unübertroffen gewesen.589 In off. 2,46–51 skizziert Cicero den Weg, der junge Leute über Tätigkeiten des Geistes und insbesondere über die Redekunst zum Ruhm führt. Die Stationen dieses Wegs, das tirocinium fori und Prozesse mit großer Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, beschreibt Cicero auch in De oratore,590 und er illustriert sie mit zahlreichen Beispielen, die vorbildhaft wirken sollen. Aus dem Blickwinkel dieser Untersuchung sehr bemerkenswert ist aber der Umstand, dass Cicero in De officiis überhaupt nicht für ein Studium der Rhetorik wirbt, geschweige denn auf der Notwendigkeit einer systematischen Ausbildung beharrt. Das prominent platzierte Beispiel des Autodidakten Crassus scheint sogar das Gegenteil nahezulegen, weil Crassus anders als in De oratore keine Lehrerfigur ist. Die laus eloquentiae, die Nachahmung eines Vorbilds, das Streben nach Ruhm und danach, andere zu übertreffen, gehören eindeutig in den Bereich der Protreptik, es fehlen aber ganz entscheidende Elemente, die in De oratore trotz der durchgängigen Polemik gegen die Schulrhetorik immer wieder direkt oder zumindest indirekt präsent sind: die Werbung für Unterricht und die Grundannahme, dass ein bestimmtes Ziel durch Lernen und Lehren erreicht wird. Hier zeigt sich also, dass De officiis, was die Rede (oratio) betrifft, außerhalb des Rahmens keine Protreptik formuliert in dem 588 Dazu siehe oben S. 80 f. 589 Cic. Cael. 73–74 voluit vetere instituto et eorum adulescentium exemplo, qui post in civitate summi viri et clarissimi cives extiterunt, industriam suam a populo Romano ex aliqua inlustri accusatione cognosci. […] postea nemini umquam concessit aequalium, plus ut in foro, plus ut in negotiis versaretur causisque amicorum, plus ut valeret inter suos gratia. Vgl. dazu Dyck ad loc. und zur Sache ausführlich und mit gutem Überblick über das Material Scholz, 2011, 304–316 („Die Bewährung als Redner: Der erste Prozess“). 590 Der berühmte Prozess des P. Sulpicius gegen C. Norbanus und seinen Verteidiger Antonius (off. 2,49) wird in De oratore an mehreren Stellen erwähnt (de orat. 2,89; 2,107 u. ö.).

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Sinne, dass behauptet würde, dass jemand Ruhm mithilfe der Redekunst nur dann gewinnen könne, wenn er sich bestimmten Lehrern und Lehren angeschlossen habe. Auch bei dem letzten längeren Bezug auf die Redekunst, der sich in De officiis findet, ist Cicero weit davon entfernt, für die Rhetorik zu werben (off. 2,66–68). Ebenso wie die Rechtskenntnis gehört die eloquentia zu den Diensten (beneficia), die man nicht durch Großzügigkeit, sondern durch eigene Tätigkeit erweist. Auf ein kurzes Lob der Redekunst und die Bemerkung, dass ihr von den Vorfahren in innenpolitischen Angelegenheiten die Führungsrolle (dignitatis principatus) zugewiesen worden sei, lässt Cicero eine Klage über ihren Niedergang folgen.591 Er beklagt hier weniger die Kunstprinzipien der jungen Generation puristischer Redner, die sich ‚Attiker‘ nennen und sich im scharfen Gegensatz zu dem als ‚barock‘ empfundenen Cicero sehen, als vielmehr die politischen Umstände seiner Zeit, in der das Ende der Republik und ihrer Institutionen droht.592 Unsere Passage ist damit vergleichbar mit dem Vorwort zum dritten Buch und seiner Trauer über die Auslöschung des Senats und der Gerichte.593 Wenn Cicero fortfährt mit der Bemerkung, dass man nach dem Tod vieler Redner nun sehe, wie wenige Redner erfolgversprechend seien (spes), wie viel weniger zahlreich diejenigen seien, die über echte Fähigkeiten (facultas) verfügten, und wie viele dagegen Dreistigkeit (audacia) auszeichne, so wird das Motiv von der Seltenheiten echter Redner, das in De oratore dazu dient, das Ideal des orator perfectus zu gestalten und zu zeigen, dass die Redekunst ‚etwas Größeres‘ sei, hier in geradezu tragischer Weise aufgegriffen und verformt: die Seltenheit echter Redner erklärt sich mit dem Niedergang der Redekunst im Bürgerkrieg und dem Wandel der Verhältnisse.594 Cic. off. 2,67 admonebat me res, ut hoc quoque loco intermissionem eloquentiae, ne dicam interitum deplorarem, ni vererer, ne de me ipso aliquid viderer queri. 592 Dyck kommentiert die Stelle off. 2,67: „These remarks reflect Cicero’s disapproval in general of the younger generation of orators […]“ und verweist auf Brut. 21.157.330 ff. sowie auf orat. 23– 24.28 ff.89–90 und 234 ff. Insbesondere die Stellen im Brutus zeigen aber, dass Cicero den Niedergang der Beredsamkeit den politischen Umständen dieser Zeit wie z. B. dem Stillstand des Gerichtswesens während der Diktatur zuschreibt. Besonders deutlich ist die Stelle Brut. 21 […] deflevisse iudiciorum vastitatem et fori. Davon ist die Auseinandersetzung mit den Attici zu trennen; da auf stilistischer Ebene der audacior ornatus mit dem Tropos der Hyperbel (Quint. inst. 8,6,67) verbunden ist und damit zum hohen Stil bzw. zur politischen Rede gehört, richtet sich der Vorwurf der audacia schwerlich gegen die ‚Attiker‘, denen Cicero vorhält, dass sie den hohen Stil ablehnten (Brut. 289–291). Vgl. auch die Bemerkungen des Dionysios von Halikarnassos über Isokrates (Isoc. 1,2) […] σπουδὴν μὲν ἐποιεῖτο πράττειν τε καὶ λέγειν τὰ πολιτικά, ὡς δὲ ἡ φύσις ἠναντιοῦτο, τὰ πρῶτα καὶ κυριώτατα τοῦ ῥήτορος ἀφελομένη, τόλμαν (= audacia) τε καὶ φωνῆς μέγεθος, ὧν χωρὶς οὐχ οἷόν τε ἦν ἐν ὄχλῳ λέγειν, ταύτης μὲν ἀπέστη τῆς προαιρέσεως. 593 Cic. off. 3,2; dazu siehe oben S. 171 f. und vgl. insbesondere den Nachruf auf Crassus De oratore (3,10): […] ut ille (= Crassus), qui haec non vidit, et vixisse cum re publica pariter et cum illa simul exstinctus esse videatur. 594 Vgl. dazu die erschöpfende Darstellung bei K. Heldmann, Antike Theorien über Entwicklung und Verfall der Redekunst, München 1982, besonders 95–97 und 205. Zu Ciceros Klage über den Niedergang der Jurisprudenz in off. 2,65 vgl. Lefèvre, 2001, 118–119 und 202. 591

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Den Begriff der audacia benutzt Cicero nicht nur häufig zur Beschreibung bzw. Diffamierung politischer Gegner,595 sondern auch im Proömium von De inventione, wo die Geschichte der Redekunst und ihres Missbrauchs zu politischen Zwecken skizziert wird.596 Daher kann auch für unsere Stelle (off. 2,67) eine politisch gefärbte Bedeutung – im Gegensatz zu einer Debatte über den Stil – angenommen werden. Nach dieser Digression schließt Cicero seine Behandlung der beneficia, die durch Dienste auf den Gebieten des Rechts und der Beredsamkeit erwiesen werden, mit knappen Bemerkungen ab. Hier zeichnet sich also ein weiterer Grund (neben dem Charakter und dem Thema der Vorlage des Panaitios) dafür ab, dass Cicero im Text von De officiis keine rhetorische Protreptik formuliert: die politischen Verhältnisse zur Zeit der Entstehung sind anders als zur Zeit von De oratore, als Cicero noch glaubt, der orator perfectus könne nach dem Vorbild seines eignen Konsulats eine Art Leitfigur verkörpern.597 Die Philippischen Reden, die von September 44 v. Chr. bis März 43 v. Chr. entstehen, zeigen freilich, dass Cicero sehr wohl den Möglichkeiten politischer Beredsamkeit vertraut und sie intensiv nutzt. In dem offensichtlichen Widerspruch zur Klage über den Niedergang der Redekunst in off. 2,67 werden die extremen Spannungen und Wechsel der Zeit des römischen Bürgerkriegs deutlich sichtbar. 4.5.3.3 Cicero als Vorbild seines Sohns Cicero stellt sich selbst nicht nur in den Vorworten zum ersten und zum dritten Buch,598 sondern auch im Text von De officiis ganz offen und ganz selbstverständlich als Vorbild seines Sohns dar und erklärt, dass sein eigener Ruhm für seinen Sohn verbindlich sei. Lässt sich nun auch dieses unverblümte Eigenlob als protreptisch verstehen? Cicero weist seinen Sohn (an der oben besprochenen Stelle off. 2,44) darauf hin, dass er zu denen gehöre, die bereits bei ihrer Geburt berühmt seien und einen klangvollen Namen hätten.599 Im ersten Buch vergleicht er im Großkapitel über die magnitudo animi (61–92) den Wert militärischer und innenpolitischer Leistungen. Mit einem gerade-

595 So sehr oft, z. B. über Catilina orat. 129, über Clodius dom. 130, über Antonius Phil. 2,1 (mit Ramsey ad loc.). 596 Cic. inv. 1,4–5 mit geradezu leitmotivischer Häufung der Wörter audacia und audax. 597 Vgl. zum politischen Charakter der Schrift und zu den einschlägigen Ansätzen der Forschung die Zusammenfassung bei Lefèvre, 2001, 197–204. Wenn Lefèvre Ciceros praktische und didaktische Absichten betont und formuliert (198): „Das zweite Buch wird […] zu einem ‚Karriere-Handbuch‘ für den römischen Politiker, so kann man einwenden bzw. zumindest einschränken, dass das nicht für die Redekunst in einem Sinne wie in De oratore gilt. Allerdings findet sich auch dort schon im Nachruf auf Crassus, wie bereits erwähnt worden ist, die Klage über den Niedergang des Staats (zur Zeit des Bundesgenossenkriegs und der Epoche Sullas). 598 Dazu siehe oben S. 161 ff. und S. 171 ff. 599 Dazu siehe oben S. 186.

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zu hymnischen Lob seines Konsulats und seiner Niederschlagung der catilinarischen Verschwörung will Cicero zeigen, dass er Pompeius und dessen Triumphen um nichts nachstehe, und apostrophiert seinen Sohn: er dürfe sich vor ihm rühmen, da ihn das Erbe dieses Ruhms und die Nachahmung der Taten persönlich angingen.600 Scholz zieht diese Stelle heran, um die Verantwortung und besonders die Erwartungen eines Vaters im Kontext der Erziehung in der römischen Aristokratie zu illustrieren.601 Knoche sieht in Ciceros Formulierung einen Beleg für die Vorstellung der Römer, dass Ruhm eng mit der Familie verbunden sei und sich daher ganz ähnlich wie materielle Güter vererbe.602 Für das Verständnis der Stelle hilfreich ist außerdem, auf die Herkunft dieses Gedankens aus der Topik der Lobrede und im Besonderen des Epitaphios zu verweisen.603 Dort ist es eher unüblich, den Ruhm der Vorfahren als müheloses Erbe zu bezeichnen. So formuliert zwar Demosthenes im Epilog seines Epitaphios an die Kinder der Gefallenen von 338 v. Chr. gerichtet den Trost, dass es ehrenvoll sei, den Ruhm der Väter zu erben;604 sehr viel nüchterner liest sich die (frühere) Parallele bei Thukydides, der Perikles zu den Kindern und Brüdern der Gefallenen des Jahres 431 v. Chr. sagen lässt, dass es ihnen schwer fallen werde, dem Vergleich mit dem Ruhm ihrer Väter bzw. Brüder standzuhalten, weil man Verstorbene grundsätzlich positiv zu sehen pflege.605 Ähnlich äußert sich der Sokrates (bzw. die Aspasia) des Menexenos, wo eine Tugendparänese an die Athener Hinterbliebenen gerichtet wird, den Ruhm der Vorfahren durch eigene Tugend zu übertreffen; ein guter Ruf, der nur auf dem der Vorfahren beruhe, sei äußerst schändlich.606 600 Cic. off. 1,78 quae res igitur gesta umquam in bello tanta? qui triumphus conferendus? licet enim mihi, M. fili, apud te gloriari, ad quem et hereditas huius gloriae et factorum imitatio pertinet. Zu Ciceros Sicht auf sein Konsulat siehe oben S. 70 und S. 134 f. 601 Vgl. zur Vorstellung des Ruhms (gloria) Scholz, 2011, 48–49, und zur Rolle des Vaters, 96–106; zu off. 1,78 vgl. Scholz, 2011, 98, Anm. 39. 602 Vgl. U. Knoche, Der römische Ruhmesgedanke, Philologus 89 (1934), 102–124 (Nachdruck in: Vom Selbstverständnis der Römer, Gesammelte Aufsätze, Heidelberg 1962, 13–30, und in: H. Oppermann (Hrsg.), Römische Wertbegriffe, Darmstadt 1967, 420–445). Knoche diskutiert (109) die Vorstellung eines „ererbten Ruhms“ mit dem Verweis auf die Parallelen Cic. fam. 9,14,4 und Val. Max. 4,4,10. Knoches materialreiche Untersuchung ist eng verknüpft mit seiner nicht unproblematischen Vorstellung der römischen Gesellschaft und ihres Nationalbewusstseins. 603 Zur Rolle der εὐγένεια in den technischen Vorschriften für die Lobrede seit Aristoteles vgl. Fraustadt, 107–116, und Men. Rh. 370. 604 D. 60,37 λυπηρὸν παισὶν ὀρφανοῖς γεγενῆσθαι πατρός· καλὸν δέ γε κληρονομεῖν πατρῴας εὐδοξίας. Am Schluss der 4. Philippischen Rede wendet sich Demosthenes in einem ironisch-sarkastischen Tonfall gegen einen gewissen Aristomedes (73): ἀλλὰ νὴ Δία παππῴα σοι καὶ πατρῴα δόξ᾽ ὑπάρχει, ἣν αἰσχρόν ἐστιν ἐν σοὶ καταλῦσαι; hier werden in der Invektive die Regeln der Lobrede (Verweis auf den Ruhm des Vaters) sichtbar, wenn auch ironisch ins Gegenteil verkehrt – vgl. dazu ad loc. I. Hajdú, Kommentar zur 4. Philippischen Rede des Demosthenes, Berlin/New York 2002 mit dem Hinweis auf X. HG 7,5,16. 605 Th. 2,45 παισὶ δ᾽ αὖ ὅσοι τῶνδε πάρεστε ἢ ἀδελφοῖς ὁρῶ μέγαν τὸν ἀγῶνα (τὸν γὰρ οὐκ ὄντα ἅπας εἴωθεν ἐπαινεῖν), καὶ μόλις ἂν καθ᾽ ὑπερβολὴν ἀρετῆς οὐχ ὁμοῖοι, ἀλλ᾽ ὀλίγῳ χείρους κριθεῖτε. 606 Pl. Menex. 247a6–b4 μάλιστα δ᾽ ἂν νικῴμεθα καὶ ὑμεῖς (sc. die junge Generation) νικῴητε, εἰ παρασκευάσαισθε τῇ τῶν προγόνων δόξῃ μὴ καταχρησόμενοι μηδ᾽ ἀναλώσοντες αὐτήν, γνόντες ὅτι

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Diese Vorstellung, dass der Ruhm der Vorfahren kein statisches Erbe sei,607 sondern eine (mitunter nicht ganz unproblematische) Herausforderung an die Nachkommen, schwingt auch an der Stelle mit, wo Cicero in De officiis (1,121) die Nachahmung der Vorfahren diskutiert und gleichfalls von ‚ererbtem Ruhm‘ spricht. Zunächst sagt er, dass keine Fehler (vitia) nachgeahmt werden dürften und dass im Wesen eines Einzelnen durchaus Grenzen angelegt sein können. Als Beispiel nennt er P. Cornelius Scipio (Augur), den Sohn des älteren Scipio Africanus, der von seiner schwachen Konstitution gehindert worden sei, seinem Vater ähnlich zu sein.608 In diesem Fall komme es umso mehr darauf an, vorhandene Schwächen durch andere Tugenden auszugleichen. Nun fährt Cicero fort mit der Bemerkung, dass es als frevelhafter Fehler betrachtet werden müsse, wenn jemand sich schändlich verhalte und den Ruhm der Tugend und der Taten verringere, den er als Erbe von seinen Vorfahren erhalten habe.609 Die Formulierung ist der in Platons Menexenos durchaus vergleichbar, da es auch dort als schändlich (αἴσχιον οὐδέν) betrachtet wird, wenn ein ehrgeiziger Mensch Ehre nicht aus sich, sondern alleine aus dem Ruhm der Vorfahren beansprucht. Und schließlich ist hier wieder auf den Euagoras des Isokrates zu verweisen, in dessen Epilog der Sprecher erklärt, das eigentliche Ziel des Lobs des Euagoras sei, seinen Sohn Nikokles zur Nachahmung des Vorbilds und vor allem zum Erwerb von Bildung (λέγειν/ φιλοσοφία) zu ermuntern.610 Während der Zusammenhang von Ruhm, Lob und offener Protreptik bei Isokrates mit Händen zu greifen ist, muss er bei Cicero in off. 1,78 mehr oder weniger gesucht werden. Die Nachahmung der Taten (factorum imitatio), die Cicero seinem Sohn vorschreibt, bezieht er eindeutig auf den Höhepunkt seiner politischen Wirksamkeit, das Konsulat 63 v. Chr. und die Niederschlagung der catilinarischen Verschwörung. Doch hier kommt es ihm nicht so sehr darauf an, seine Erfolge als Redner herauszustellen, sondern vielmehr, seine consilia und damit seine Umsicht und sein Handeln als Politiker allgemein zu loben. Das zeigt auch die Form des Selbstzitats cedant arma togae, concedat laurea laudi am Beginn des Abschnitts (off. 1,77): Cicero entscheidet

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ἀνδρὶ οἰομένῳ τὶ εἶναι οὐκ ἔστιν αἴσχιον οὐδὲν ἢ παρέχειν ἑαυτὸν τιμώμενον μὴ δι᾽ ἑαυτὸν ἀλλὰ διὰ δόξαν προγόνων. Vgl. dazu S. Tsitsiridis, Platons Menexenos. Einleitung, Text und Kommentar, Stuttgart/Leipzig 1998, und V. Binder, Platon, Menexenos, in: ead., M. Korenjak, B. Noack, Epitaphien. Tod, Totenrede, Rhetorik. Auswahl, Übersetzung und Kommentar, Rahden 2007, 92–141 (zur Debatte über die Ernsthaftigkeit des Menexenos vgl. besonders 95–97). – Vgl. auch außerhalb der Epitaphien Isoc. 8,141 […] περιβλέπτους ἐπ᾽ ἀρετῇ γενομένους τὴν δόξαν τὴν τῶν προγόνων ἀναλαβεῖν. So auch Knoche, 110–112. Zu seiner Grabinschrift (CIL I2 10) vgl. ausführlich Scholz, 2011, 45–50. Cic off. 1,121 Optima autem hereditas a patribus traditur liberis omnique patrimonio praestantior gloria virtutis rerumque gestarum, cui dedecori esse nefas et vitium iudicandum est. Isoc. 9,77–81; dazu (insbesondere zu der protreptischen Absicht des Isokrates) siehe oben S. 25 f.

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sich gegen seine eigene Variante des Verses mit linguae am Schluss, die sich viel enger auf den Redner bezieht und deutlicher auf die studia verwiesen hätte.611 Man könnte natürlich einwenden, dass Cicero hier das Ziel für seinen Sohn so anspruchsvoll wie möglich formuliert und den Weg dorthin und die Mittel dafür für selbstverständlich bekannt hält und deshalb nicht näher beschreibt. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass Cicero auch hier nicht explizit für die Beredsamkeit wirbt. Die Stelle off. 1,77–78 scheint zwar nicht wie off. 2,67 die Ernüchterung zu belegen, die Cicero beim Blick auf den Zustand und die Möglichkeiten der Redekunst ergriffen hat, sie steht aber in ihrer literarischen Form, wie aus den Parallelen ersichtlich wird, einem vorweggenommenen Epitaphios (wobei der laudandus kurzerhand die Rolle des laudators übernimmt) sehr viel näher als einer deutlich protreptischen Wendung des Vaters an den Sohn, wie sie im Rahmen von De officiis zu finden ist.612 4.5.4 Zusammenfassung: die Bücher und ihr Rahmen – ein Widerspruch? Abschließend soll der Zusammenhang zwischen der deutlichen Werbung für die Beredsamkeit und die Studien, die Cicero, wie gezeigt worden ist, im Rahmen von De officiis an seinen Sohn Marcus richtet, und dem eigentlichen Inhalt der Bücher diskutiert werden. Da sich bereits die Beobachtungen ergeben haben, dass Cicero in De officiis weder dort, wo er seinen Sohn außerhalb der Vorreden anspricht, noch dort, wo er die Rolle und Funktion der Beredsamkeit im Kontext der Pflichtenlehre beschreibt, deutlich protreptisch argumentiert, kann nun überlegt werden, ob das ein Widerspruch zum Rahmen ist. Zum einen kann diese Frage eindeutig verneint werden, wenn man annimmt, dass Cicero hier die literarische Form eines Rahmens mit explizit protreptischer Argumentation und eines paränetischen Textes, der die Regeln für das Verhalten besonders künftiger Herrscher beschreibt, verwendet, wie wir sie von Isokrates aus or. 2 (An Nikokles) und or. 9 (Euagoras) kennen. Dabei ist der Text zugleich ein Muster (auf den Gebieten der res bzw. der verba) und eine Lehrprobe und steht damit in der

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Zu dem Selbstzitat aus De consulatu vgl. K. Volk und J. E. G. Zetzel, Laurel, tongue and glory (Cicero, De consulatu suo Fr. 6 Soubiran), CQ 65 (2015), 204–223, die die Möglichkeit erwägen, dass beide Varianten des Verses aus dem verlorenen Gedicht stammen und somit echt sind, und zu off. 1,77–78 zu Recht sagen (223): „Given the context, Cicero obviously chose to quote the line in the version with ‚praise‘: the contrast he is interested in is not that between general and orator, but more broadly between warfare and domestic politics.“ Man sollte allerdings nicht annehmen, dass sich Ciceros Optimismus oder Pessimismus bezüglich der Möglichkeiten der Redekunst seit De oratore wesentlich verändert hätte; auch im Nachruf auf Crassus (de orat. 3,1–13) findet sich schon eine Klage über das Ende der Republik.

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Tradition der sophistischen ἐπίδειξις.613 Bei Ciceros Vorgehen handelt es sich nicht so sehr um eine direkte Verwendung oder Nachahmung einer konkreten literarischen Vorlage, sondern um ein Aufgreifen einer bestimmten Tradition einer Form (charakteristischer Rahmen und Text) und einzelner Motive. Diese Art der Adaption zeigt, so könnte man argumentieren, Ciceros literarische Meisterschaft und Souveränität auch bei einem Werk, das in so kurzer Zeit wie De officiis entstanden ist. Dabei richtet sich die Vorlage des Panaitios, die Cicero für die Darstellung der Pflichtenlehre heranzieht, zwar an junge Leute (besonders im zweiten Buch), ist aber offensichtlich nicht als Werbetext gedacht – nicht für ein vertieftes Studium der Philosophie, geschweige denn der Rhetorik. Ciceros Idee ist also, den pädagogischen Zweck des Panaitios aufzugreifen und deutlich zu erweitern um eine Werbung in erster Linie für sein Konzept der Rhetorik als einer umfassenden Fähigkeit des Ausdrucks (orationis facultas), wie es in De oratore entworfen worden ist. Hinzu kommt, dass sein Sohn Marcus in dieser von literarischen Formen geprägten Kommunikation in die Rolle des prominenten und vielversprechenden Schülers versetzt wird, dem eine Laufbahn im Staat bestimmt ist. Die Ermahnungen zu Fleiß und Anstrengung und die Warnung vor dem Scheitern sind Teil der Werbung und zeigen auch das Bemühen des Lehrers um den Schüler. Man kann also sagen, dass Cicero seinen Sohn hier weniger in einem konkreten Sinn ermahnt und zurechtweist, sondern ihn als Schüler und ‚Prinzen‘ präsentiert und damit in eine Reihe prominenter Schüler von Alkibiades und Nikokles bis zu Sulpicius und Cotta in De oratore stellt. Der junge Marcus dürfte, wie bereits oben vermutet worden ist,614 dank seiner literarischen Bildung in der Lage gewesen sein, die Ermahnungen seines Vaters nicht nur persönlich, sondern auch in ihrer besonderen Form als das zu verstehen, was sie sind: Protreptik für die Beredsamkeit. Auf der anderen Seite sind der Rahmen und der eigentliche Text dort nicht kohärent, wo Cicero sich in De officiis über die Redekunst und die Studien äußert und ihnen anders als in De oratore keine zentrale Funktion für das Leben junger Leute zuweist. Es fehlt bei den Beschreibungen der Redekunst zumeist (bis auf off. 2,48) der exklusive und erhöhende Anspruch, wie er im maius-Motiv in De oratore formuliert wird. Der Widerspruch, der hier bestehen bleibt, lässt sich nur so lösen, wenn man annimmt, dass der Rahmen mit seiner Ermunterung zu rhetorischen Studien in gewisser Weise über dem engeren Inhalt der Bücher steht, ohne diese aufzuheben oder einzuschrän-

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Gegen die Charakterisierung als Epideixis könnte man einwenden, dass das Thema Pflichtenlehre wenig mit Rhetorik zu tun habe und daher keine Lehrprobe sei und dass die literarische Gestalt von De officiis hinter der von De re publica oder De oratore zurückbleibe. Gegen diese Einwände spricht, dass Ciceros Anspruch des philosophisch gebildeten Redners prinzipiell alle Themen aus der Philosophie umfassen kann und dass der Stil von De officiis einem Traktat entspricht und so die Anforderungen des aptum erfüllt. 614 Siehe oben S. 147 ff.

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ken. So kann Cicero zugleich den möglichen Konflikt von De officiis mit seinen anderen philosophischen Schriften entschärfen. Die praktischen Zwecke der Pflichtenlehre werden kurzerhand um den einen erweitert, dass ein umfassend philosophisch gebildeter Redner auch dieses Gebiet nutzen kann für eine Erweiterung seiner Fähigkeiten auf den Gebieten der res und der verba. Vergleichbar ist etwa die Rolle, die der Philosophie in De oratore zugeschrieben wird. Die für den Redner entscheidende Technik der skeptischen Akademie wird gleichfalls von Crassus nicht dargestellt, sondern nur angepriesen und zu weiteren Studien empfohlen. In ähnlicher Weise wird daher in De officiis das Programm der Bildung eines Redners beworben, aber nicht in toto ausgeführt. Cicero ermuntert seinen Sohn gerade deshalb zum Studium seiner philosophischen Werke, zu denen ja auch De oratore gehört.

5 Seneca der Ältere L. Annaeus Seneca, zum Unterschied von seinem Sohn genannt der Ältere oder rhetor, verfasst in hohem Alter die Bücher Oratorum et rhetorum sententiae, divisiones, colores (ca. 37 n. Chr.).1 Dabei handelt es sich um eine gemischte Sammlung von oft sehr knappen Auszügen aus Deklamationen, von geschliffenen Porträts bedeutender Deklamatoren, von Anekdoten und kleineren literaturkritischen Essays bis hin zu Auszügen aus Geschichtswerken. Seneca widmet die Bücher seinen drei Söhnen und wendet sich in den in Briefform gehaltenen Vorreden und einige Male auch im Text selbst an sie.2 In der Forschung wird zum einen der konventionellen Charakter der Vorworte und dabei besonders des Vorworts zum ersten Buch hervorgehoben;3 und in der Tat erinnert Senecas Bemerkung am Beginn, das, wozu er von seinen Söhnen aufgefordert werde,

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Er bezeichnet sich als senex (contr. 1 pr. 4); J. Fairweather, Seneca the Elder, Cambridge 1981, 3 (mit Anm. 2), nimmt ein Geburtsdatum in den 50er Jahren an und warnt vor einer zu genauen Festlegung diesbezüglich. Seneca sagt von sich, der Bürgerkrieg und nicht sein Alter hätten ihn gehindert, Cicero persönlich zu erleben (contr. 1 pr. 11). Zu Senecas Leben, das vor allem und mit einigen Wechseln in Corduba und in Rom verläuft, vgl. M. Griffin, The Elder Seneca and Spain, JRS 62 (1972), 1–19. Die Bücher Oratorum et rhetorum sententiae, divisiones, colores werden nach 34 n. Chr., vermutlich aber unter der Herrschaft Caligulas, publiziert. Von den zehn Büchern Controversiae vollständig erhalten sind die Bücher 1–2, 7 und 9–10; hinzu kommen umfangreiche Exzerpte einschließlich einiger Vorreden zu verlorenen Büchern, so dass zu den Büchern 1, 2, 3, 4, 7, 9 und 10 persönliche Vorreden erhalten sind. Auf die Controversiae folgt ein unvollständig erhaltenes Buch Suasoriae. Zur Datierung vgl. J. Fairweather, The Elder Seneca and Declamation, ANRW II 32,1 (1984), 514–556, hier 515–517. Suas. 2,22 und contr. 10 pr. 3 wird der Tod des Mamercus Aemilius Scaurus (gest. 34 n. Chr.) erwähnt; zur Stelle vgl. Feddern, 302. Unklar ist, ob Seneca d. Ä. seine Absicht, die Bücher zu publizieren (contr. 1 pr. 10), selbst verwirklicht hat oder ob sein Sohn sie aus dem Nachlass herausgegeben hat (vgl. Sen. fr. 98 Haase). Fairweather, 1981, 27, zum Vorwort von contr. 1 „To claim that one was writing at the request of some person was, like epistolary greeting, a standard convention among ancient writers of prefaces to works whose utility needed to be emphasized.“ Vgl. Janson, 49–50, die detaillierte Analyse von L. A. Sussman, The Elder Seneca, Leiden 1978, 46–58, besonders 53–54, und L. Håkanson, Unveröffentlichte Schriften, hrsgg. von F. Citti u. a., Bd. 2, Kommentar zu Seneca Maior, Controversiae, Buch I, Berlin/Boston 2016, 83 (ad contr. 1 pr. 1).

Seneca der Ältere

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sei zwar angenehm, aber alles andere als leicht,4 etwa an den Anfang von Ciceros Brutus, wo Cicero seine Unentschlossenheit in der Frage beschreibt, was denn schwieriger sei: die Bitte des Brutus um ein Urteil über die beste Form der Redekunst zu erfüllen oder sie abzulehnen.5 Seneca greift also die literarische Gepflogenheit auf, dass ein Autor scheinbar gebeten wird, sein Buch zu einem bestimmten Thema zu verfassen, und dabei auf die großen Schwierigkeiten hinweist, vor die ihn seine Aufgabe stelle.6 Andererseits zeigt insbesondere LeMoine, dass Seneca in der Tradition Catos, Ciceros und Livius’ stehe, die sich als Väter mit Schriften an ihre Söhne wenden.7 Fragt man danach, ob Seneca der Ältere diese Linie rezipiert und sich bewusst in sie stellt, so ist das schwer zu beantworten. Er zitiert im Vorwort zur ersten Controversia aus Catos Libri ad Marcum filium und kennt die Bücher zumindest indirekt.8 Aus Livius’ epistula ad filium führt Seneca dagegen weder Aussagen an, die das Verhältnis des Autors zum Adressaten betreffen,9 noch erwähnt er überhaupt die Tatsache, dass Livius sich als Vater an seinen Sohn wendet.10 Cicero ist für Seneca den Älteren eine zentrale Figur in der Geschichte der Deklamation und der Höhepunkt in der Geschichte der Beredsamkeit,11 auch wenn er nicht wie bei Livius und später Quintilian zum Maßstab und Vorbild erklärt wird.12 An Ciceros philosophische und rhetorische Schriften knüpft Seneca jedoch zumindest nicht deutlich wahrnehmbar an, es lassen sich, wie Fairweather zeigt,13 allenfalls verschiedene Spuren eines Nachhalls wahrnehmen. 4 5 6 7 8 9 10

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Sen. contr. 1 pr. 1 exigitis rem magis iucundam mihi quam facilem; iubetis enim quid de his declamatoribus sentiam, qui in aetatem meam inciderunt, indicare […]. Cic. Brut. 1. Vgl. die knappe Darstellung bei Janson, 49 f. Vgl. besonders LeMoine, passim, insbesondere die Liste 343. Sen. contr. 1 pr. 9; Fairweather, 1981, 83, neigt dazu, Senecas Zitat Catos für indirekt zu halten, da Catos berühmte Definition des Redners vielfach zitiert wird und die Rolle und die Bedeutung der Literatur vor Cicero für Seneca sehr gering sind; vgl. auch Fairweather, 1981, 317. Sen. contr. 9,1,14 (missgünstige Kritik an Sallust) und contr. 9,2,26 Livius de oratoribus, qui verba antiqua et sordida consectantur et orationis obscuritatem severitatem putant, aiebat Miltiaden rhetorem eleganter dixisse: ἐπὶ τὸ δεξιὸν μαίνονται. Das geht nur aus den bei Quintilian erhaltenen Fragmenten hervor: inst. 2,5,20 (Cicero als Ideal); 8,2,18 (Ablehnung der absichtlichen Dunkelheit) und 10,1,39 […] apud Livium in epistula ad filium scripta […] (Demosthenes und Cicero als Ideale). Vgl. zum isagogischen Charakter der Schrift vgl. E. Norden, Die Composition und Litteraturgattung der horazischen Epistula ad Pisones, Hermes 40 (1905), 481–528, hier 521 und 525 (ND in: Kleine Schriften zum klassischen Altertum, hrsgg. von B. Kytzler, Berlin 1966, 314–357); vgl. auch id., 101995, 1,234. Vgl. besonders Sen. contr. 1 pr. 11 ne Ciceronem quidem aetas mihi eripuerat sed bellorum civilium furor, qui tunc orbem totum pervagabatur, intra coloniam meam me continuit; alioqui in illo atriolo, in quo duos grandes praetextatos ait se cum declamare, potui adesse illudque ingenium, quod solum populus Romanus par imperio suo habuit, cognoscere et, quod vulgo aliquando dici solet, sed in illo proprie debet, potui vivam vocem audire; vgl. dazu Fairweather, 1981, 65, die zur Erklärung des überschwänglichen Tons ein Fragment aus Nepos (HRR II, 40) vergleicht. Vgl. das Urteil des Livius bei Quint. inst. 2,5,20 und 10,1,39 und Quintilians eigenes Urteil 10,1,112. Fairweather, 1981, 92–94.

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Ciceros Protreptik in De officiis kommt als literarisches Muster für Seneca den Älteren vermutlich auch deswegen nicht infrage, weil er Cicero den Sohn nicht besonders schätzt.14 Damit wird also deutlich, dass Seneca sich zwar in eine literaturgeschichtliche Linie stellt, diesen Schritt aber bis auf die Anknüpfung an Cato seinen Söhnen und seinen Lesern nicht sichtbar macht. Nun ist die Tradition von Vater-Sohn-Widmungen literarischer Werke nicht zwangsläufig mit Protreptik in der einen oder anderen Form verbunden.15 Hier soll daher betrachtet werden, ob Seneca gegenüber seinen Söhnen für eine bestimmte Bildung wirbt und ob er auf diese Weise mit Ciceros Werbung für die Rhetorik verbunden ist. 5.1 Die Adressaten der controversiae Auch wenn zum einen die Datierung unseres Textes unsicher ist, zum anderen die genauen Geburtsjahre von L. Iunius Annaeus Novatus (= L. Iunius Gallio Annaeanus),16 L. Annaeus Seneca,17 dem Philosophen, und Annaeus Mela,18 dem jüngsten der drei Brüder und Vater des Dichters Lucan, unbekannt sind, so lässt sich doch festhalten, dass die Adressaten keine Schüler oder Studenten der Rhetorik mehr sind. Alle drei Brüder (nicht nur der berühmte Philosoph, Dramatiker, Naturforscher und Politiker) sind Persönlichkeiten der römischen Geschichte und der Literaturgeschichte, über ihre Situation zur Zeit der Entstehung der Oratorum et rhetorum sententiae, divisiones, colores lässt sich jedoch – anders als über den jungen Cicero in De officiis – heute wenig Genaues sagen. Die beiden älteren Brüder stehen am Anfang ihrer Karrieren und bereiten sich auf Tätigkeiten als Anwälte und im Staatsdienst vor, Seneca der Philosoph ist im Jahr 39 n. Chr. bereits Senator in Rom und erregt, wie Cassius Dio berichtet, mit seiner Redekunst während einer Gerichtsverhandlung im Senat Caligulas Zorn;19 die Verban14 15 16 17

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Sen. suas. 7,13 […] homo qui nihil ex paterno ingenio habuit praeter urbanitatem […]. Die Geißelung des Cicerofeindes (vgl. Sen. contr. 3 pr. 17) Cestius findet aber durchaus Senecas Billigung. Man denke an Ciceros Partitiones oratoriae. Gest. 65 n. Chr. (D. C. 62,25), vgl. O. Rossbach, Annaeus (12), RE I (1894), 2236–2237, und PIR2 I 757. Besonders bekannt ist er aus Act 18,12–17, wo er als Prokonsul von Achaea in Korinth (51/52 n. Chr.) tätig ist. Vgl. zu Senecas Leben Th. Habinek, Imago suae vitae: Seneca’s Life and Career, in: G. Damschen und A. Heil (Hrsg.), Brill’s Companion to Seneca. Philosopher and Dramatist, Leiden/Boston 2014, 3–32, hier 6–7. Habinek, 6, nimmt an, dass Seneca zwischen 4 und 1 v. Chr. geboren ist. Vgl. auch die Darstellung von S. Braund, Seneca Multiplex: The Phases (and Phrases) of Seneca’s Life and Works, in: S. Bartsch und A. Schiesaro (Hrsg.), The Cambridge Companion to Seneca, Cambridge 2015, 15–28, hier besonders 24–26. Gest. 66 n. Chr. (Tac. ann. 16,17,1–5), vgl. O. Rossbach, Annaeus (11), RE I (1894), 2236, und PIR2 A 613. D. C. 59,19,7 (39 n. Chr.) ὁ δὲ δὴ Σενέκας ὁ Ἀνναῖος Λούκιος, ὁ πάντας μὲν τοὺς καθ᾽ ἑαυτὸν Ῥωμαίους πολλοὺς δὲ καὶ ἄλλους σοφίᾳ ὑπεράρας, διεφθάρη παρ᾽ ὀλίγον μήτ᾽ ἀδικήσας τι μήτε δόξας, ὅτι

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nung seines Sohns (ab 41 n. Chr.) erlebt der Vater nicht mehr.20 Eine Formulierung des Vaters, dass die beiden älteren Brüder sich auf höhere Ämter (honores) vorbereiten, schließt nicht aus, dass sie zur Zeit der Entstehung des Werks bereits die Quaestur bekleiden oder bekleidet haben.21 Daher lässt sich ihre Lebenssituation gut mit der von Sulpicius und Cotta in Ciceros De oratore vergleichen; allerdings findet keine ‚literarische Verjüngung‘ statt, wie sie Sulpicius und Cotta, wenn sie von den Älteren in Ciceros Dialog als adulescentes angesprochen werden.22 Seneca dagegen redet seine Söhne als iuvenes, ‚junge Erwachsene‘ bzw. ‚junge Leute‘ an.23 Von Seneca dem Jüngeren wissen wir, dass er bereits in jungen Jahren für die Philosophie begeistert ist und dass dieses Interesse möglicherweise so stark ist, dass es alle seine politischen Ambitionen zunächst deutlich dämpft.24 Die Begegnung mit seinem Lehrer Sotion von Alexandria, einem Schüler des Quintus Sextius, fällt noch in die Jahre als Knabe.25 Ihm folgt Seneca bei seiner Hinwendung zur vegetarischen Ernährung, die ein Jahr dauert und im Jahre 19 n. Chr. endet.26 Senecas leidenschaftliche Hinwendung zur Philosophie darf aber nicht als Abwendung von der Rhetorik verstanden werden;27 denn die Argumentation des Sotion von Alexandria gegen die Ernährung mit Fleisch, die Seneca im 108. Brief referiert, lässt sich als Beispiel einer rhetorisch brillanten Thesis verstehen. Auch bei Senecas Lob des Deklamators und Philosophen Papirius Fabianus im 40. Brief an Lucilius ist zwar eine Ordnung zu erkennen in dem Sinne, dass die Philosophie vor der Beredsamkeit kommt,28 aber keine exklusive Entscheidung für jene und

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δίκην τινὰ ἐν τῷ συνεδρίῳ παρόντος αὐτοῦ καλῶς εἶπε. Hier ist an einen Repetundenprozess oder eine maiestas-Klage zu denken; es ist gut möglich, dass Seneca hier in der Tradition derjenigen steht, die mit einem möglichst spektakulären Prozess ihre politischen Ambitionen sichtbar unter Beweis stellen wollen. M. Griffin, Seneca. A Philosopher in Politics, Oxford 1992, 53–54, wendet sich gegen Überlegungen, Caligulas Zorn sei eine Erfindung, womöglich sogar Senecas selbst. Sen. dial. 12,2,4; vgl. Fairweather, 1981, 331 (Anm. 51). Sen. contr. 2 pr. 4 (an den jüngsten Bruder gerichtet) […] fratribus tuis ambitiosa curae sunt foroque se et honoribus parant; vgl. Griffin, 1992, 44–45, mit Hinweis auf Tac. ann. 13,45,1. Dazu siehe oben S. 108 f. Sen. contr. 1 pr. 6.9.19; suas. 6,16. So B. Inwood, Reading Seneca. Stoic Philosophy at Rome, Oxford 2005, 8. Inwood, 1–22, gibt einen guten Überblick über Senecas philosophische Lehrer. Vgl. auch Th. Baier, Die Versöhnung von Philosophie und Rhetorik bei Seneca, in: I. Männlein-Robert, W. Rother, S. Schorn, Chr. Tornau (Hrsg.), Philosophus orator. Rhetorische Strategien und Strukturen in Philosophischer Literatur, Basel 2016, 239–258. Sen. epist. 49,2 […] apud Sotionem philosophum puer sedi […]. Sen. epist. 108,17–22. Zum Hintergrund, der in der Verfolgung ägyptischer und jüdischer Kulte und Lebensweisen in Rom durch Tiberius zu sehen ist, vgl. Griffin, 1992, 40–41. Sen. epist. 108,17 […] maiore impetu ad philosophiam iuvenis accesserim quam senex pergam […]. Sen. epist. 40,12 Fabianus, vir egregius et vita et scientia et, quod post ista est, eloquentia quoque, disputabat expedite magis quam concitate, ut posses dicere facilitatem esse illam, non celeritatem. Später unterrichtet Seneca den jungen Nero in Rhetorik (Tac. ann. 13,2,1); zu Senecas Stiltheorie in den Briefen 40, 75, 114 und 115 vgl. H. Cancik, Untersuchungen zu Senecas Epistulae morales, Hildesheim 1967,

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gegen diese. Daher ist es auch unwahrscheinlich, dass Anzeichen für einen Streit von Philosophie und Rhetorik in den Vorworten Senecas des Älteren deutlich sichtbar werden. Es gibt keine Situation der exklusiven Konkurrenz zwischen Rhetorik und Philosophie.29 5.2 Werbung für das eigene Urteil und Aufforderung zur imitatio Seneca der Ältere verwendet, wie bereits gezeigt worden ist, die literarische Konvention, nach der der Autor vom Adressaten scheinbar aufgefordert wird, sich an ihn zu wenden. Hinzu kommt aber noch eine zweite literarische Formung: Seneca stellt seine Söhne als interessiert und geradezu begierig dar, die sententiae der Deklamatoren zu hören. Damit greift er das Motiv des audire velle auf, das Cicero in De oratore Teil der protreptischen Strategie werden lässt.30 Bei Seneca hat es die Form, dass er seinen Söhnen unterstellt, im Wesentlichen nur an sententiae interessiert zu sein. Unter diesen sehr weiten Begriff fallen Proben des Stils und pointierte und geistreiche Formulierungen zum Thema der jeweiligen Deklamation;31 oft geht es dabei um den Versuch, den kunstvoll integrierten Konflikt, der in der jeweiligen Deklamation angelegt ist, aus der Perspektive einer bestimmten Rolle prägnant darzustellen und zu bewerten und das Ergebnis in geschliffener Form dem kritischen Publikum zu präsentieren. Seneca sagt im Vorwort zur ersten controversia, er werde dem Vorbild Latros folgen und an einigen Stellen die Fragestellungen (quaestiones) der jeweiligen Kontroversien skizzieren,32 aber darauf verzichten, auch die ausführlichen Beweisführungen (argumenta) anzufügen, weil alles, was von den sententiae ablenke, schlicht lästig (molestum) wäre.33 Seneca ist an dieser Stelle keineswegs ironisch, weil er die Leidenschaft für die sententiae mit einem Hinweis auf Marcus Porcius Latro (ca. 55–4 v. Chr.), dessen

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88–89, Anm. 158, und allgemein G. Williams, Style and Form in Seneca’s Writing, in: S. Bartsch und A. Schiesaro (Hrsg.), The Cambridge Companion to Seneca, Cambridge 2015, 135–149. Vgl. besonders den Abschnitt über den Philosophen Papirius Fabianus bei Sen. contr. 2 pr. (siehe unten S. 212 f.). Vgl. Sen. contr. 1 pr. 22 […] cum vos sententias audire velitis; contr. 7 pr. 9 video, quid velitis: sententias potius audire quam iocos; 10 pr. 1 interrogate, si qua vultis; zum Motiv bei Cicero siehe oben S. 91 f. Vgl. Fairweather, 1984, 528; Feddern, 36–38, versteht unter sententiae die (38) „ästhetisch ansprechend formulierten Gedanken“. Zu den Begriffen der quaestio (etwa: ‚Fragestellung‘) und divisio (etwa: ‚Plan oder Strategie zu ihrer Lösung‘) vgl. Fairweather, 1981, 153–165. Sen. contr. 1 pr. 22 interponam itaque quibusdam locis quaestiones controversiarum, sicut ab illo (sc. Latro) propositae sunt, nec his argumenta subtexam, ne et modum excedam et propositum, cum vos sententias audire velitis, et quidquid ab illis abduxerit molestum futurum sit. Sehr gut Fairweather, 1984, 523, „[…] Seneca […] addresses his sons as if, typical of their generation, they were interested in declamatory sententiae to the exclusion of all else, thus giving an impression of them which, we may be sure, does not represent the whole truth.“

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Porträt die Hälfte des ersten Vorworts füllt (contr. 1 pr. 12–24), und seine Vorliebe für sententiae durchaus gutheißt.34 Trotzdem ist in dem Wort ‚lästig‘ ein Hinweis versteckt, wenn man einige Stellen betrachtet, wo Seneca es verwendet. Zum einen bezeichnet Seneca damit die Last, die das Drängen seiner Söhne für ihn bedeute,35 und knüpft im weitesten Sinne an die allgemeine Topik des Dialogs an, wo ein Zuhörer höflich formuliert, dass er nicht lästig sein wolle,36 oder ein Sprecher diese Konvention radikal umdreht und wie Crassus in De oratore offen zugibt, dass ihm der Eifer und die Neugierde seiner Schüler unangenehm seien.37 Diese Stelle steht bei Cicero direkt im Kontext der ‚umgekehrten Protreptik‘ und der Motivation der Lehrer durch die Schüler. Seneca stellt sich selbst, wie schon das Motiv des audire velle gezeigt hat, durchaus in diese Linie, auch wenn er Cicero nicht direkt zu rezipieren scheint bzw. nicht auf De oratore anspielt. Zum anderen bezeichnet Seneca mit dem Adjektiv molestus etwas, das eigentlich notwendig wäre, aber zur Vermeidung lästiger Anstrengung unterlassen wird: so ist für den Dichter Ovid bei seinem Training der Deklamation in der Schule des Arellius Fuscus die stringente Argumentation der Kontroversien lästig, weshalb er sich lieber auf Suasorien, Übungsreden zum genus deliberativum, verlegt.38 Im Vorwort zur neunten controversia lässt Seneca Votienus Montanus mit einer Kritik am Wesen der Deklamation ausführlich zu Wort kommen.39 Dabei wirft dieser dem typischen Deklamator vor, sich nicht um Argumentationen zu kümmern, weil sie lästig seien und wenig Gelegenheit zu Glanz böten.40 Genau diese Bedeutung darf auch an der hier diskutierten Stelle contr. 1 pr. 22 angenommen werden, wo alles, was von den sententiae ablenkt, als seinen Söhnen lästig bezeichnet wird und wo diese Haltung zugleich gewertet wird; denn Seneca deutet zumindest auf einer unterschwelligen Ebene an, dass er seinen Söhnen etwas empfehle, das über das eigentliche Thema der sententiae hinausgeht. Daher soll hier im Folgenden eine Antwort auf die Frage gesucht werden, was Seneca seinen Söhnen empfiehlt und wofür er zumindest inhärent wirbt. Der Vorwurf, das Interesse der Söhne sei auf sententiae beschränkt, passt in gewisser Weise zum Ton des ersten Vorworts und vor allem zur Klage über den Verfall der Re34 35 36 37 38 39 40

Sen. contr. 1 pr. 22 hoc quoque Latro meus faciebat, ut sententias amaret. Zu ihm vgl. PIR2 P 859 und H. Bornecque, Les déclamations et les déclamateurs d’après Sénèque le père, Lille 1902, 188–194. Sen. contr. 10 pr. 1 quod ultra mihi molesti sitis, non est mit Fairweather, 1981, 35, zur Stelle und suas. 4,5. Cic. de orat. 2,13 f. (höfliche Bemerkungen des Catulus) und rep. 1,46 (Laelius zu Scipio). Cic. de orat. 1,134 neque vero vos ad eam rem video esse cohortandos, quos, cum mihi quoque sitis molesti, nimis etiam flagrare intellego cupiditate. Sen. contr. 2,2,12 molesta illi (sc. Ovid) erat omnis argumentatio. Sen. contr. 9 pr. 1–5 (Schluss fehlt); zu Votienus Montanus vgl. Bornecque, 200–201, zur Stelle Fairweather, 1981, 146–147. Sen contr. 9 pr. 1 argumentationes, quia molestae sunt et minimum habent floris, relinquit; zu flos vgl. Ernesti, 1797, s. v. mit Hinweis auf Cic. de orat. 3,96 ut porro conspersa sit quasi verborum sententiarumque floribus […].

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dekunst, der Seneca hier ausführlichen Raum gibt.41 Seneca selber spekuliert über dessen Gründe und sieht sie entweder in der allgemeinen Zügellosigkeit (luxuria) – also in einem moralischen Niedergang – oder in einem Verlust der ideellen und materiellen Attraktivität (pretium) der Beredsamkeit im öffentlichen Leben oder dem schicksalhaften Wirken eines Zyklus (maligna perpetuaque in rebus omnibus lex) von Blüte und Absterben. Bei der Generation, der seine Söhne angehören, sieht Seneca schwere Defizite, und zwar besonders bei dem, was man als ‚Persönlichkeit‘ verstehen könnte und was Seneca unter dem Schlagwort vir polemisch vereinfachend zusammenfasst: Sen. contr. 1 pr. 9 quis aequalium vestrorum quid dicam satis ingeniosus, satis studiosus, immo quis satis vir est?

Dem hält Seneca das Zitat Catos des Älteren entgegen, ein Redner sei ein trefflicher und redekundiger Mann. Sen. contr. 1 pr. 9 erratis, optimi iuvenes, nisi illam vocem non M. Catonis sed oraculi creditis. quid enim est oraculum? nempe voluntas divina hominis ore enuntiata; et quem tandem antistitem sanctiorem sibi invenire divinitas potuit quam M. Catonem, per quem humano generi non praeciperet sed convicium faceret? ille ergo vir quid ait? ‚Orator est, Marce fili, vir bonus dicendi peritus.‘

Cato wird hier als Autorität mit geradezu religiösem und prophetischem Nimbus angeführt, indem Seneca ihn als ein Orakel und menschliche Stimme des göttlichen Willens bezeichnet; dieser Überhöhung, die durchaus Catos Selbstverständnis widergibt,42 entspricht kurz darauf die Verklärung der sacerrima eloquentia.43 Fairweather hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Cato und die älteren römischen Redner für Seneca als Vorbilder für Sprache und Stil uninteressant sind und keine Rolle spielen.44 Cato erscheint hier daher nur als ein ganz bestimmtes Symbol und als das Gegenteil der Verweichlichung der eigenen Gegenwart, ohne dass er eine weitere programmatische Funktion hätte. Hinzu kommt, dass der Sinn des Zitats geändert wird: während Cato bei dem vir bonus die ethischen Anforderungen an einen Redner im Blick hat und dabei vermutlich in der Tradition der stoischen Tugendlehre steht,45 greift Seneca hier das Wort vir heraus und verleiht ihm einen emphatischen Klang im 41 42 43

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Sen. contr. 1 pr. 6–10, besonders 6 […] deinde, ut possitis aestimare, in quantum cotidie ingenia decrescant et nescio qua iniquitate naturae eloquentia se retro tulerit […]. Zu Catos Orakelmetaphorik vgl. oben S. 56. Aus diesem Grund erscheint es fragwürdig, ob Seneca die Parallelität, die zwischen Cato und ihm selbst mit der Ansprache an den Sohn bzw. die Söhne an dieser Stelle handgreiflich ist, stärker betonen möchte; er selbst sieht sich wohl kaum als zweiten Cato, geschweige denn als ein Orakel. Zu dem Zitat aus Cato siehe oben S. 56 ff. Fairweather, 1981, 83. Vgl. Robling, 67. Quintilian nimmt dieses Zitat zum Ausgangspunkt für seine Darstellung der moralischen Anforderungen an einen Redner: inst. 12,1,1 sit ergo nobis orator quem constituimus is qui a M. Catone finitur vir bonus dicendi peritus, verum, id quod et ille posuit prius et ipsa natura potius ac maius est, utique vir bonus.

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Gegensatz zur Verweichlichung (mollitia).46 Mit dem alten Cato hat er für das Wort vir, das in dem kurzen Abschnitt an nicht weniger als fünf Stellen zu finden ist, zugleich eine gute Illustration. Auf ähnliche Weise und mit ähnlicher Metaphorik charakterisiert später Quintilian die forensische Rhetorik als männlich und unverdorben, die Deklamationen dagegen als verweichlicht und libidinös.47 Bei Seneca verlaufen die Grenzen etwas anders: auch die Deklamatoren zumindest der alten Schule sind celeberrimi viri und disertissimi viri und stehen bei für eine entsprechend ‚männlich-unverdorbene‘ Redekunst.48 Cicero fragt am Anfang von De oratore bekanntlich, warum echte Redner so selten seien, und findet die Antwort in der Sache selbst: die Beredsamkeit sei so vielfältig und stelle so extrem hohe Anforderungen, dass kaum jemand sie erfüllen können, auch wenn er talentiert, ehrgeizig und strebsam sei (maius-Motiv). Hinzu kommen ungeheure Anforderungen an die Persönlichkeit.49 Bei Seneca dagegen liegt der Schwerpunkt auf dem Vorwurf, den er an seine Zeitgenossen und die aufstrebende Generation richtet, sie seien verdorben, träge und uninteressiert. Dass dadurch Ciceros maius-Motiv nicht außer Kraft gesetzt wird, zeigt Senecas Formulierung von der ‚hochheiligen Beredsamkeit‘ (sacerrima eloquentia), gegen die in der Gegenwart beständig gefrevelt werde. Hier liegt ebenfalls eine bewusste Erhöhung des Gegenstands vor. Es ändert sich also von Cicero zu Seneca nicht unbedingt der Grundgedanke, sondern nur die Perspektive: der Gegenstand – die Redekunst – ist etwas Außergewöhn46

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Die Metaphorik der allgemeinen ‚Verweichlichung‘ baut Seneca mit einem Feuerwerk an Wörtern zu einer ganzen Allegorie aus: contr. 1 pr. 8 torpent ecce ingenia desidiosae iuventutis, nec in unius honestae rei labore vigilatur: somnus languorque ac somno et languore turpior malarum rerum industria invasit animos; cantandi saltandique obscena studia effeminatos tenent; [et] capillum frangere et ad muliebres blanditias extenuare vocem, mollitia corporis certare cum feminis et immundissimis se excolere munditiis nostrorum adulescentium specimen est. Ob in dieser Üppigkeit des Stils, die mit Synonymenhäufung prunkt, so etwas wie Selbstironie liegt, ist durchaus erwägenswert. Wichtig für das Verständnis dieser Metaphorik ist, dass der Gegensatz zu ‚männlich‘ nicht ‚weiblich‘, sondern ‚verweiblicht‘ (effeminatus bzw. spado) lautet; Quint. inst. 5,12,20 quapropter eloquentiam, licet hanc (ut sentio enim, dicam) libidinosam resupina voluptate auditoria probent, nullam esse existimabo, quae ne minimum quidem in se indicium masculi et incorrupti, ne dicam gravis et sancti viri ostentet. Zur Bedeutung von resupinus vgl. J. N. Adams, The Latin Sexual Vocabulary, Baltimore 1982, 192. Dionysios von Halikarnassos charakterisiert Dem. 43,13 die Rhythmen des Demosthenes als männlich (ἀνδρώδης). Diese Metaphorik nimmt E. Gunderson als Ausgangspunkt für sehr weitreichende Überlegungen in seinen Monographien: Staging Masculinity. The Rhetoric of Performance in the Roman World, Ann Arbor 2000, und Declamation, Paternity, and Roman Identity. Authority and the Rhetorical Self, Cambridge 2003, hier besonders 39–41 zum Ideal des vir bonus. Auch wenn die Charakterisierung des Rhetorikbetriebs als exklusiv den Männern vorbehalten und seine Vorliebe für alle möglichen romanhaften Themen nicht von der Hand zu weisen sind, so ist doch fraglich, ob Gundersons in der Tradition Freuds und Foucaults stehende Interpretation Senecas der historischen Wirklichkeit gerecht wird. Andererseits könnte die Vermutung, dass die Deklamatorenschulen mit ihren Themen aus lediglich pragmatisch-pädagogischen Gründen die Neugier ihrer adoleszenten Schülerschaft wecken will, etwas zu kurz greifen. Cic. de orat. 1,17.

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liches; alle, die die hohen Anforderungen nicht erfüllen, erscheinen bei Cicero einfach als ungeeignet,50 bei Seneca dagegen als ausschweifend, moralisch verdorben oder als Plagiatoren.51 Hinzu kommt bei Seneca die Vorstellung, dass zur Verdorbenheit auch die Lust an ihr gehören kann.52 Seine Skizze des Niedergangs der Rhetorik ist in der Forschung unterschiedlich interpretiert worden. Während Sussman argumentiert, Seneca sehe die wesentliche Ursachen im Ende der Republik und ihrer Institutionen, betont dagegen Heldmann das Gewicht des moralischen (also unpolitischen) Arguments und Senecas Bestreben, die eigene Motivation zu begründen. Fairweather wiederum sieht die Krise zuerst in den Deklamatorenschulen und ihrem artifiziellen Wesen.53 Seneca ist natürlich weit davon entfernt, die Kultur der Deklamation und ihre klassischen Vertreter grundsätzlich abzulehnen, sondern will ihnen nach Möglichkeit ein Denkmal setzen. Seine berühmten Bemerkungen über sein Gedächtnis, das einst ausgezeichnet gewesen sei, nun im Alter schwächer werde, und über die exzellente Gedächtniskunst Latros korrespondieren unmittelbar mit diesem Bedürfnis nach memoria.54 Sen. contr. 1 pr. 11 ipsis quoque multum praestaturus videor, quibus oblivio imminet, nisi aliquid, quo memoria eorum producatur, posteris traditur.

In durchaus vergleichbarer Weise konstruiert Cicero den Dialog De oratore als Bewahrung des Andenkens an Crassus und an das Gespräch, das er kurz vor seinem Tod gehalten haben soll,55 und spricht dabei über seine Befürchtung, dass Crassus und die anderen Gesprächsteilnehmer vergessen werden könnten.56 Das Ziel, das Seneca verfolgt und in dem auch der Zweck der memoria liegt, ist aber, seinen Söhnen ein Urteil (iudicium) über die Deklamatoren zu ermöglichen.

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Vgl. de orat. 2,86–87 (Antonius über Schüler mit unterschiedlich ausgeprägten Begabungen). Sen. contr. 1 pr. 10 sententias a disertissimis viris factas facile in tanta hominum desidia pro suis dicunt et sic sacerrimam eloquentiam, quam praestare non possunt, violare non desinunt. Sen. contr. 1,5,9 adeo nullum sine amatore vitium est, ut hoc quidam disertum putaverint; über Ovid (als Dichter) contr. 2,2,12 verbis minime licenter usus est, non in carminibus, in quibus non ignoravit vitia sua sed amavit. Dazu vgl. Heldmann, 1982, 88–97, Sussman, 1978, 85–89, sowie id., The Artistic Unity of the Elder Seneca’s First Preface and the Controversiae as a Whole, AJPh 92 (1971), 285–291, und The Elder Seneca’s Discussion of the Decline of Roman Eloquence, CSCA 5 (1972), 195–210; Fairweather, 1981, 133–148, Fairweather, 1984, 535–537. Außerdem vgl. E. Fantham, Imitation and Decline. Rhetorical Theory and Practice in the First Century after Christ, CPh 73 (1978), 102–116. Sen. contr. 1 pr. 2–5; zu Latro 18–19. Cic. de orat. 3,14 […] sermonemque L. Crassi reliquum ac paene postremum memoriae prodamus atque ei, si nequaquam parem illius ingenio, at pro nostro tamen studio meritam gratiam debitamque referamus. Cic. de orat. 2,7 quo etiam feci libentius […] vel mehercule etiam ut laudem eorum iam prope senescentem, quantum ego possem, ab oblivione hominum atque a silentio vindicarem.

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Sen. contr. 1 pr. 1 iubetis enim quid de his declamatoribus sentiam, qui in aetatem meam inciderunt, indicare et si qua memoriae meae nondum elapsa sunt ab illis dicta colligere, ut, quamvis notitiae vestrae subducti sint, tamen non credatis tantum de illis sed et iudicetis.

Die Aufforderung zum Urteil bzw. die Vorstellung, dass die Söhne sich ein Urteil über das, was ihnen gezeigt worden ist, bilden können, ist auch an anderen Stellen zu finden und kann daher als ein zentrales pädagogisches Anliegen des älteren Seneca angesehen werden.57 Die Fähigkeit zum eigenen Urteil ist zum einen für den Redner eine essentielle Eigenschaft.58 So muss im Prozess der inventio fortlaufend entschieden werden, was für eine Rede relevant ist.59 Auch in den anderen Arbeitsschritten ist der Redner, wie Quintilian hervorhebt, auf sein Urteil angewiesen, um Regeln sinnvoll anwenden zu können.60 Zum anderen gibt es das ganz allgemeine Bewusstsein, dass jede Rede vor anderen von diesen auch beurteilt wird.61 Im besonderen Kontext der Deklamationen kommt noch hinzu, dass agonale Situationen zwischen den Deklamatoren bestehen und dass ein wesentlicher Bestandteil dieses Wettbewerbs das Urteil der Mitbewerber, der Zuhörer (bei denen es sich auch um sehr prominentes Publikum handeln kann62) bzw. der späteren Rezipienten ist. Seneca vergleicht daher sein Arrangement der Porträts einzelner Deklamatoren auch mit Gladiatorenspielen, wo die Kämpfer nacheinander so eingesetzt werden, dass die Spannung des Publikums erhalten bleibt.63 Senecas Vorreden mit ihren grundsätzlichen Überlegungen und Porträts der Deklamatoren werden dabei mit dem Eröffnungs- bzw. Rahmenprogramm der Zirkusspiele verglichen, das der Zuschauer, der auf den eigentlichen Wettkampf gespannt ist, mit Ungeduld über sich ergehen lässt.64 Dieser Vergleich illustriert nicht nur Senecas literarisches Prinzip, sondern auch die Natur der Schaukämpfe der Deklamatoren, bei denen es zumindest im übertragenen Sinne auch um eine Siegespalme geht: Seneca verrät seinen Söhnen, wen er für die vier besten Deklamatoren hält.

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Vgl. Sen. contr. 1,1,13 (über die Entwicklung der divisio); 3 pr. 3 (über Severus Cassius) und 10,4,23 Graecas sententias in hoc refero, ut possitis aestimare, primum quam facilis e Graeca eloquentia in Latinam transitus sit et quam omne, quod bene dici potest, commune omnibus gentibus sit, deinde ut ingenia ingeniis conferatis et cogitetis Latinam linguam facultatis [non] minus habere, licentiae minus. Vgl. W. Gast, Urteil, HWRh 9 (2009), 957–976, besonders 964–5, und ausführlich Arweiler, 215– 220, der zeigt, dass die Lehre vom iudicium für das Verhältnis von Theorie und Praxis ein entscheidendes Bindeglied ist. Cic. orat. 44; vgl. Rhet. Her. 3,17 über die flexible Anpassung der Gliederung. Quint. inst. 3,3,5 und Arweiler, 216. Cic. de orat. 1,125 quotiens enim dicimus, totiens de nobis iudicatur. Vgl. Sen. contr. 2,4,12 über eine Deklamation in Gegenwart von Augustus und Maecenas und 10,5,21 (über Kraton und Augustus). Sen. contr. 4 pr. 1. Sen. contr. 1 pr. 24 sed iam non sustineo diutius vos morari: scio, quam odiosa res mihi sit Circensibus pompa.

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Sen. contr. 10 pr. 13 primum tetradeum quod faciam, quaeritis? Latronis, Fusci, Albuci, Gallionis. Hi quotiens conflixissent, penes Latronem gloria fuisset, penes Gallionem palma.

In seiner Kritik an den Deklamatoren betont Montanus Votienus, dass das ständige Lob und der ständige Applaus in der Schule dazu führten, dass eine Tätigkeit als Anwalt unter den rauen Bedingungen des Forums geradezu unmöglich werde (contr. 9 pr. 2). Das bedeutet allerdings nicht, dass kein Tadel existiere, wenn man etwas als schlecht empfindet; im Gegenteil verfügt Seneca über ein sehr differenziertes Instrumentarium zur Beschreibung von Fehlern,65 in dem das Wort corruptus ein zentraler Begriff ist und das nicht nur von Seneca in der Rückschau verwendet wird, sondern offensichtlich auch unmittelbar vom Publikum.66 Der Zweck dieses Urteils, das Seneca seinen Söhnen ermöglichen will, ist nun wiederum nicht passiv-rezeptiver Natur und dient nicht nur der ästhetischen Schulung, sondern liegt eindeutig in der Befähigung zur Nachahmung. Wenn Seneca seinen Söhnen bescheinigt, dass ihr Interesse (vultis cognoscere) an den älteren Deklamatoren unerlässlich und nützlich für ihren eigenen Fortschritt (proficere) sei, berührt er hier zumindest unterschwellig protreptische Motive.67 Die Feststellung, dass nicht nur ein einziges Vorbild, auch wenn es noch so hervorragend sei, nachgeahmt werden dürfe, begründet Seneca mit der allgemeinen Erfahrung, dass der Nachahmer das Vorbild nie erreiche und die Kopie immer schwächer als das Original sei.68 Die Vorstellung, dass es eine Vielfalt der Vorbilder gebe, findet sich auch in Ciceros De oratore, wobei dort der Gedanke, dass die Auswahl eines passenden Vorbilds davon abhängt, welche Voraussetzungen ein Schüler hat, Senecas Deteriorationsmodell nicht teilt, dem pädagogischen Grundsatz der imitatio aber ebenso folgt.69 Später ergänzt Seneca noch zwei weitere Aspekte: Die exempla haben einer-

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Ausführlich Fairweather, 1981, 214–227. Eine gute Illustration bietet auch eine Anekdote über Latro, die Seneca erzählt. Um eine bestimmte Mode der Verwendung von Sätzen mit reimartigen Silben zu tadeln, liefert Latro seinen Kollegen ein besonders extremes Beispiel und lässt sie ihrer Begeisterung auflaufen (Sen. contr. 7,4,10): et cum scholastici maximo clamore laudarent, invectus est in eos, ut debuit, et hoc effecit, ut in relicum etiam quae bene dicta erant tardius laudarent, dum insidias verentur. Vgl. Sen. contr. 7,4,10 hoc (sc. eine sententia des Hybreas) quibusdam corruptum videbatur. Vgl. Quintilians Konzept der Nachahmung, bei dem das eigene Urteil gleichfalls eine zentrale Rolle spielt: inst. 10,1,8 nobis autem copia cum iudicio paranda est, vim orandi, non circulatoriam volubilitatem spectantibus. Zur Bedeutung der imitatio siehe besonders inst. 10,1,3 und 10,2,1. Sen. contr. 1 pr. 6 facitis autem, iuvenes mei, rem necessariam et utilem, quod non contenti exemplis saeculi vestri priores quoque vultis cognoscere; primum quia, quo plura exempla inspecta sunt, plus in eloquentiam proficitur. non est unus, quamvis praecipuus sit, imitandus, quia numquam par fit imitator auctori. haec rei natura est: semper citra veritatem est similitudo; dazu vgl. Fairweather, 1981, 28. Die Notwendigkeit, mehrere Vorbilder für die Nachahmung auszuwählen, findet sich bei Cicero im Vorwort zum zweiten Buch von De inventione (inv. 2,1–5). Illustriert wird dieses Konzept mit der Geschichte, wie Zeuxis von Herakleia in Kroton sein Bild der Helena gemalt habe. Cic. de orat. 3,34–35 […] videndum, quo sua quemque natura maxime ferre videatur.

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seits vorbildlichen, andererseits abschreckenden Charakter und lehren entsprechend Nachahmung (imitari) oder Vermeidung (vitare).70 Sein eigenes Urteil zumindest über die Proben der Deklamatoren hält Seneca dabei bewusst zurück, auch wenn er später dieses Prinzip etwas einschränkt.71 5.3 Die Rhetorenschule als ein Markt der Möglichkeiten Senecas Anthologie ist kein Lehrbuch der Rhetorik, auch wenn sich seine Darstellungen anhand der fünf Aufgaben eines Redners ordnen lassen.72 Daher findet sich keine direkte Werbung für das eigene Buch, wie sie in Ciceros De oratore deutlich wahrgenommen werden kann. Die Deklamationen, aus denen Seneca zitiert, üben zu einem großen Teil die Funktionen einer Schule und eines Unterrichts aus;73 die Kritik an den Deklamatoren, die in der Kaiserzeit vielfach geäußert wird,74 erfolgt häufig vom Standpunkt dessen, der sich zur Ausbildung und zur Erziehung junger Leute äußert, und hinterfragt dabei nur das Wie, nicht aber das Ob. Den Kontext des Unterrichts zeigt bei Seneca der Gebrauch der Wörter audire und auditor; sie beschreiben nicht nur die Zuhörer und das Publikum der Deklamatoren,75 sondern auch synekdochisch die eigentlichen Schüler;76 von Latros Schülern sagt Seneca sogar, sie seien, weil Latro es grundsätzlich abgelehnt habe, die Übungen seiner Schüler anzuhören, – zunächst in spöttischer Absicht – ‚Hörer‘, nicht ‚Schüler‘ (discipuli) genannt worden; von dort habe das Wort ohne wertenden Beiklang diese engere

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Sen. contr. 9,2,27 omnia autem genera corruptarum quoque sententiarum de industria pono, quia facilius et quid imitandum et quid vitandum sit docemur exemplo. Zum pädagogischen Wert schlechter Beispiele vgl. Quint. inst. 2,5,10. Sen. suas. 1,16 ex Graecis declamatoribus nulli melius haec suasoria processit quam Glyconi, sed non minus multa magnifice dixit quam corrupte. utrorumque faciam vobis potestatem, et volebam vos experiri non adiciendo iudicium meum nec separando a corruptis sana. potuisset enim fieri, ut vos magis illa laudaretis, quae insaniunt. et nihilo minus poterit fieri, quamvis distinxerim. Zum Gedanken, dass gegen die Attraktivität des Verdorbenen keine Warnhinweise helfen, vgl. Ov. am. 3,4,17 nitimur in vetitum semper cupimusque negata. Fairweather, 1981, 151–239. Vgl. z. B. Tac. Dial. 14,3. Seneca beschreibt den Prozess der Etablierung professioneller Schulen in contr. 2 pr. 5: der erste Lehrer in Rom sei Plotius Gallus gewesen, als noch unehrenhaft war, das zu lehren, was zu lernen als ehrenhaft galt; zu ihm vgl. Stroh, 2003, 32 mit Anm. 104. Vgl. die Stellen besonders bei Petron, Tacitus und Quintilian, die Fairweather, 1981, 144–148, diskutiert. Vgl. Sen. contr. 2,4,12–13 über Augustus, Agrippa und Maecenas als Zuhörer Latros. Aus der Reaktion des Maecenas auf die freimütigen Bemerkungen Latros und aus den Kommentaren darüber, von denen Seneca berichtet, geht hervor, dass audire einfach ‚zuhören‘ bedeuten kann (ohne emphatischen Sinn): (sc. Maecenatem) effecisse enim illum non ne audiret, quae dicta erant, Caesar, sed ut notaret. auditor wird auch für das gegenseitige Zuhören gebraucht: vgl. contr. 10,1,13 audit illum (sc. Bassum) declamantem Albucius, fastidiosus auditor eorum quibus invidere poterat. Vgl. Sen. contr. 2,2,8 über Ovid als Schüler des Arellius Fuscus.

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Bedeutung gewonnen.77 Daher lässt sich für etliche Stellen vermuten, dass audire auch auf einen – wenn auch nicht unbedingt festgefügten – Kontext von Lehrern und Schülern verweist und damit an den vergleichbar emphatischen Gebrauch des Wortes in Ciceros De oratore zumindest indirekt anknüpft.78 Professionelle Redelehrer und ihre Schüler sind in Senecas controversiae an vielen Stellen sichtbar; L. Cestius Pius, der aus Smyrna stammt und in Rom wirkt,79 ist ebenso prominent wie der aus Kleinasien stammende Arellius Fuscus, der der Lehrer des Philosophen Papirius Fabianus und des Dichters Ovid ist und den Seneca zu den vier größten Deklamatoren zählt.80 Auch die rivalisierenden Schulen des Apollodoros von Pergamon und des Theodoros von Gadara sind durch ihre Schüler bzw. Anhänger vertreten.81 Daneben stehen die Deklamatoren, die als vorbildlich und nachahmenswert erscheinen, aber keinem Schulkontext zuzuordnen sind und daher eher in der Tradition von Crassus als literarischer Figur in De oratore und Cicero selbst stehen; so gehört M. Aemilius Scaurus Mamercus, dessen Deklamationen Seneca und seine Söhne anhören,82 bis zu seinem Sturz und seinem erzwungenen Selbstmord zu den führenden Senatoren der tiberianischen Zeit. Hinzu kommt, dass die vielfältigen Verbindungen der Deklamatoren untereinander durch die Situationen von Bewunderung und Nachahmung sowie Abneigung und Konkurrenz auch als ein Werben um die Gunst des Publikums und potentieller Schüler verstanden werden können. So berichtet Seneca, Albucius, einer der vier von ihm am meisten geschätzten Deklamatoren, habe bei dem weitaus jüngeren Philosophen Papirius Fabianus studiert und sei ein leidenschaftlicher Bewunderer und Nachahmer des Rhetors Hermagoras gewesen,83 auch Iulius Bassus habe er bei einer Gelegenheit bewundert.84 Fulvius Sparsus sei ein Nachahmer Latros gewesen, mit Iulius Bassus habe ihn ein Wettstreit (certamen) verbunden.85 In dieser äußerst vielfältigen Welt wirbt nun Seneca nicht für einen bestimmten Lehrer. Das hat in allererster Linie wohl damit zu tun, dass im Mittelpunkt seiner Ex77 78 79 80 81 82 83 84 85

Sen. contr. 9,2,23. Sen. contr. 10 pr. 12 (über Senecas Söhne bei Iulius Bassus). Vgl. J. Brzoska, Cestius (13), RE III (1899), 2008–2011, und Bornecque, 160–162; seine Auseinandersetzung mit Cassius Severus über Cicero wird contr. 3 pr. 16–17 erzählt; Cicero der Sohn reagiert sehr empfindlich und brutal auf Cestius’ Kritik an seinem Vater (suas. 7,13). Sen. contr. 2 pr. 1; 2,2,8 und 10 pr. 13; zu den Lebensdaten vgl. J. Brzoska, Arellius (3), RE II (1895), 635–637; Bornecque, 150–152, und allgemein B. Huelsenbeck, Seneca Contr. 2.2.8 and 2.2.1: the Rhetor Arellius Fuscus and Latin literary history, MD 66 (2011), 175–194. Als Apollodoreer erscheinen Bruttedius Niger (contr. 2,1,36), Senecas Freund Clodius Turrinus pater (contr. 10 pr. 15), ein gewisser Dionysius Atticus (contr. 2,5,11) und der Redelehrer Moschus (contr. 2,5,13); Theodoreer sind Vallius Syriacus (contr. 2,1,36) und Kaiser Tiberius (suas. 3,7). Sen. contr. 10 pr. 2–3. Sen. contr. 7 pr. 5 memini admiratione Hermagorae stupentem ad imitationem eius ardescere. Sen. contr. 10,1,13. Sen. contr. 10 pr. 12. Die Reihe der Beispiele lässt sich fortsetzen: contr. 9,3,12 (Argentarius als auditor et imitator des Cestius.

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zerpte die Deklamatoren seiner eigenen Generation stehen, die er seinen Söhnen vorstellen möchte.86 Dass sein Urteil souverän und frei ist, zeigt Seneca damit, dass er seinen eigenen Lehrer, den Deklamator Marullus, als ‚saftlosen Menschen‘ beschreibt.87 Der bereits erwähnte Porcius Latro, dessen Andenken Seneca das erste Vorwort widmet, ist das herausragende Beispiel für einen Lehrer der vorangegangenen Generation; Seneca porträtiert ihn als führenden Deklamator und als durchaus zu Extremen neigende Persönlichkeit.88 Ebenso wie Latro gehören Arellius Fuscus, der vermutlich etwas älter als Seneca ist, und C. Albucius Silus (ca. 50 v. Chr.–16 n. Chr.)89 der Generation an, die nicht mehr aktiv ist und an die Seneca erinnern möchte; von den vier führenden Deklamatoren ist Iunius Gallio, Senator und Freund Senecas, der jüngste (32. n. Chr. von Tiberius verbannt).90 Hinzu kommt, dass Senecas Söhne sich bereits mit der Deklamation intensiv beschäftigt haben und gar nicht mehr in der Situation sind, sich für einen Lehrer oder einen bestimmten Unterricht zu entscheiden. Daher kommt es Seneca auf etwas anderes an: er wirbt für die Rhetorik, indem er die verschiedenen Möglichkeiten zeigt, die ihr Studium eröffnet, und indem er für deren richtigen und selbstbestimmten Gebrauch plädiert. Seneca steht damit in der Tradition rhetorischer Protreptik und folgt dem von Cicero in De oratore formulierten Anspruch der Rhetorik, für viele Zwecke die geeigneten Mittel bereitstellen zu können.91 So wendet er sich im Vorwort zur zweiten controversia an seinen Sohn Mela: er wisse, dass Mela kein Interesse an öffentlichen Ämtern zeige und keinen Ehrgeiz habe, außer dass er sich um die eloquentia bemühe.92 Wer über deren Grundlagen verfüge, könne sich leicht anderen Gebieten widmen:

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Sen. contr. 1 pr. 1 und besonders 6. Sen. contr. 1 pr. 22 […] cum condiscipuli essemus apud Marullum rhetorem, hominem satis aridum, paucissima belle sed non vulgato genere dicentem […]. Sen. contr. 1 pr. 13–24; seine Stellung wird nicht nur aus seinen ersten Rang im ‚Viergestirn der Deklamatoren‘ (contr. 10 pr. 13) deutlich, sondern auch aus der von Seneca prägnant an das Ende des ersten Vorworts gesetzten Formulierung, Latro habe schon in der Schule des Marullus begonnen, die erste Geige zu spielen (24: ordinem ducere; vgl. zu diesem Ausdruck Spalding ad Quint. inst. 1,2,24). Vgl. contr. 7 pr. 1–9; Bornecque 145–148, und W.-D. Lebek, Zur Vita des Albucius Silus bei Sueton, Hermes 94 (1966), 360–372. Vgl. PIR2 I 756. Vgl. Cic. de orat. 1,21 vis oratoris professioque ipsa bene dicendi hoc suscipere ac polliceri videtur, ut omni de re quaecumque sit proposita ornate ab eo copioseque dicatur und 1,263. Sen. contr. 2 pr. 3; der Text ist sehr unsicher: A. B. Chernjak, Seneca pater et Mela (Sen. Controv. praef. 3), Hyperboreus 4 (1998), 196–200, schlägt vor […] quia video animum tuum a civilibus officiis abhorrentem et ab omni ambitu aversum hoc unum concupiscentem, nihil concupiscere. At eloquentiae tamen studeas. Dagegen ließe sich einwenden, dass eine direkte Aufforderung des Vaters an den Sohn, sich der Beredsamkeit zu widmen, hier eher deplatziert wirkt, weil Mela bereits sehr erfolgreich ist (studium bene cedens); sinnvoller ist daher, der Argumentation Sussmans, 1978, 48, und dem Text Müllers zu folgen […] nihil concupiscere, nisi ut eloquentiae tantum studeas. Fairweather,

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Sen. contr. 2 pr. 3 facilis ab hac (sc. eloquentia) in omnes artes discursus est; instruit etiam quos non sibi exercet.93

Im Folgenden lässt Seneca nun seinem Sohn Mela scheinbar die Freiheit, sich seinen Interessen wie der Beredsamkeit oder der Philosophie zu widmen und auf eine Karriere zu verzichten.94 Doch seine Formulierung, Mela dürfe mit dem Stand seines Vaters zufrieden sein und sich den Launen der Schicksalsgöttin – im Falle einer unberechenbaren politischen Laufbahn – zum guten Teil entziehen, ergänzt Seneca sogleich um die protreptische und gnomisch formulierte Mahnung, dass Mela sein Talent, mit dem er seine Brüder durchaus überrage, als Verpflichtung verstehen und richtig nutzen solle: Sen. contr. 2 pr. 4 est et hoc ipsum melioris ingenii pignus non corrumpi bonitate eius, ut illo male utaris.

Da, fährt Seneca fort, bei den Tätigkeiten eines Politikers (curia) und eines Rechtsanwalts (forum), auf die Melas Brüder sich vorbereiteten, Hoffnung und Furcht, also Erfolg und Risiko, nahe beieinanderlägen, bedauere er Melas Mangel an Ehrgeiz nicht zwingend: Sen. contr. 2 pr. 4 sed quoniam fratribus tuis ambitiosa curae sunt foroque se et honoribus parant, in quibus ipsa quae sperantur timenda sunt, ego quoque, eius alioqui processus avidus et hortator laudatorque vel periculosae dum honestae modo industriae, duobus filiis navigantibus te in portu retineo.

Bemerkenswert ist hier das Grundverständnis, das Seneca durchschimmern lässt: die Rhetorik wird mit einem Hafen (portus) verglichen, und hat somit die Funktion einer Ausgangsbasis für eine politische Laufbahn, mit der der Gewinn von Ehren (einschließlich der in der Kaiserzeit fortbestehenden Ehrenämter), aber auch Gefahren verbunden sind. Die eigentliche ‚Reise‘ wird als Fortschritt (processsus) charakterisiert, also mit einem Begriff, der sich an das Motiv des ‚Fortschritt des Lernens‘ aus der Protreptik anlehnt.95 Seine eigene Rolle, die er ‚ansonsten‘ (alioqui) habe, beschreibt

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1981, 330–331, sieht das zentrale Interesse Melas auf dem Gebiet der Philosophie, nicht aber dem der Rhetorik. Seneca zitiert die Warnung des Cassius Severus, die Möglichkeiten eines Transfers von einer literarischen Gattung zur anderen zu überschätzen: es gebe im Gegenteil viele Beispiele für den Umstand, dass jemand, der auf dem einen Feld hervorragend sei, anderswo scheitern könne: (contr. 3 pr. 8) Ciceronem eloquentia sua in carminibus destituit; Vergilium illa felicitas ingenii oratione soluta reliquit; orationes Sallustii in honorem historiarum leguntur; eloquentissimi viri Platonis oratio, quae est pro Socrate scripta, nec patrono nec reo digna est. Dieses Argument zielt in erster Linie auf die hohen Ansprüche an einen Deklamator und steht daher in der Tradition Ciceros und seiner protreptischen Argumentation von der Seltenheit ‚echter‘ Redner in De oratore. Vgl. O. S. Due, Der alte Seneca und Annaeus Mela, in: K. Ascani u. a. (Hrsg.), Studia Romana in honorem Petri Krarup septuagenarii, Odense 1976, 60–63. Dazu siehe oben S. 26.

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Seneca als die eines affirmativen Mahners (hortator laudatorque). Damit ist eine Konstellation beschrieben, die eindeutig protreptisch ist und in der ein solcher Mahner bei anderen für ein bestimmtes Lernen bzw. für bestimmte Ziele wirbt. Wenn nun Seneca nicht nur den einen und einzigen Weg für gangbar hält, nämlich den des Anwalts und Politikers, dann beruft er sich auf eine Vielfalt, die in der Rhetorik durchaus angelegt ist und sich aus ihrem universalen Anspruch ergibt. Im Folgenden sollen einige dieser Möglichkeiten skizziert werden, die sich aus Senecas Darstellung ergeben. 5.3.1 Beredsamkeit Am Ende des Vorworts zum 10. Buch, das die Sammlung beschließt,96 lobt Seneca den Sohn seines Freundes Clodius Turrinus als iuvenis und Redner mit hohem Potential und kommenden Stern und lehnt sich dabei, wie Fairweather gezeigt hat,97 deutlich an den Schluss von Ciceros De oratore und damit an das berühmte vaticinium ex eventu auf den jungen Mann und Redner Hortensius an.98 Anders als Cicero (bzw. Crassus) verbindet Seneca diesen Fingerzeig nicht mit einer direkten Mahnung an die Schüler bzw. seine Söhne und konstruiert keine protreptische Konkurrenzsituation, er hebt vielmehr ihre Verbundenheit untereinander hervor: Sen. contr. 10 pr. 14 […] Turrinus Clodius, cuius filius fraterno vobis amore coniunctus est, adulescens summae eloquentiae futurus, nisi mallet exercere quantum habet quam consequi quantum potest.

Seneca stellt die Fähigkeiten des jungen Turrinus in direkten Bezug zu denen seines Vaters und sagt, er verfüge beim Reden über die gleiche Sorgfalt wie sein Vater und überwinde mit ihrer Hilfe die ungestümen Seiten seines Talents.99 Der Vater verdanke, so Seneca in seinem Porträt, seiner Beredsamkeit (eloquentia) Wohlstand und Ansehen in seiner Heimat und habe dadurch den Schaden, den seine Familie zur Zeit des Bürgerkriegs erlitten habe, mehr als ausgeglichen. Das von Seneca zweimal verwendete Wort dignitas könnte auch einen Hinweis auf öffentliche Ämter des Turrinus liefern

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In der Forschung fehlt offensichtlich eine Diskussion, ob Seneca sich bei der Anzahl seiner Bücher an Vorbildern wie Vergils Eklogen, Horaz’ Satiren oder Tibulls Elegien orientiert. Fairweather, 1981, 94; zu den beiden Clodius Turrinus vgl. auch PIR2 C 1188 und 89 und S. Mratschek-Halfmann, Divites et praepotentes, Reichtum und soziale Stellung in der Literatur der Prinzipatszeit, Stuttgart 1993, 289 f. Zu Clodius Turrinus Vater und Sohn vgl. auch PIR2 C 1188 und 89, Bornecque, 161–2. Sen. contr. 10 pr. 16 habet in dicendo conservatam paternam diligentiam, qua vires ingenii sui ex industria retundit (zum Text vgl. den Apparat Håkansons).

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oder zumindest auf eine in der Öffentlichkeit als wichtig wahrgenommene Position.100 Da er aber in einer langen Reihe von Redelehrern genannt wird, ist es wahrscheinlich, dass Seneca ihn hier in erster Linie ebenso als Rhetor vorstellt. Indem nun er den Sohn auf den Spuren des Vaters sieht und ihm eine glänzende Beredsamkeit voraussagt, können wir hier einen Beleg dafür sehen, dass Seneca in ihr eine Form der Lebensgestaltung sieht und durch die Platzierung an die hervorgehobene Stelle des letzten Vorworts auch selber gutheißt.101 Turrinus erscheint somit ein potentieller Erbe und Nachfolger des kurz vorher von Seneca genannten Quartetts der führenden Deklamatoren. Wenn nun Seneca an der oben diskutierten Stelle (contr. 2 pr. 4) zu seinem Sohn Mela sagt, er halte ihn im Hafen zurück, und man diesen Ausdruck so versteht, dass Mela wünsche, bei der Deklamation zu bleiben, so erscheint dieser Wunsch aus der Perspektive des Schlusses von Buch 10 in einem durchaus positiven Licht. Seneca ist freilich weit davon entfernt, die studia iuvenilia (contr. 10 pr. 1) zu verklären, und lässt auch ihre Kritiker ausgiebig zu Wort kommen.102 Hinzu kommt, dass Deklamation und eine Laufbahn in öffentlichen Aufgaben und Ämtern einander keineswegs ausschließen: Iunius Gallio ist Senator,103 ein gewisser Aetius Pastor deklamiert (als Schüler), als er bereits Senator ist.104 5.3.2 Philosophie Als prominentes Beispiel für einen Philosophen, der als junger Mann zunächst die Schule der Deklamatoren durchläuft, porträtiert Seneca Papirius Fabianus im Vorwort zur zweiten Controversia.105 Er ist der Schüler des Arellius Fuscus und des Ritters Rubellius Blandus und wird vorgestellt als jemand, der sich auf Höheres vorbereitet ([…] tam sanctis fortibusque praeceptis praeparans se animus […]).106 Die Beredsam-

100 Vgl. zum Bezug auf Ämter Cic. de orat. 1,25 exierant autem cum ipso Crasso adulescentes et Drusi maxime familiares et in quibus magnam tum spem maiores natu dignitatis suae conlocarent, C. Cotta qui tum tribunatum pl(ebis) petebat, et P. Sulpicius qui deinceps eum magistratum petiturus putabatur und H. Barschel, Dignitas – Genese eines römischen Wertbegriffs, Wiesbaden 2016, 201–210 zum Begriff dignitas in politisch-öffentlichen Kontexten. 101 Die Frage nach einem Beruf im heutigen Sinne stellt sich bei Seneca nicht stärker als in Ciceros De oratore, auch wenn es natürlich eindeutig auch um materielle Vorteile für Einzelne geht; es bleibt der Anspruch der Rhetorik, für wichtige Positionen zu qualifizieren. 102 Vgl. über den Wert der Deklamationen in der Praxis in der Praxis des Forums contr. 3 pr. 8–18 (Cassius Severus) und contr. 9 pr. 1–5 (Votienus Montanus). 103 Tac. ann. 6,3 und D. C. 58,18. 104 Sen. contr. 1,3,11 Pastor Aietius hanc controversiam apud Cestium dixit iam senator. 105 Zu Fabianus bei Seneca Rhetor vgl. die sehr gute Darstellung Fairweathers, 1981, 270 ff. 106 Sen. contr. 2 pr. 1. Eine übersichtliche Zusammenstellung der Quellen gibt H. Hoefig, De Papirii Fabiani philosophi vita scriptisque, Breslau 1852.

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keit (declamare) dient hier als Vorübung für die ernsthaftere Philosophie (disputare).107 Der Wechsel zur Philosophie in die Schule des Quintus Sextius, den Seneca kurz darauf ironisch als ‚Fahnenflucht‘ bezeichnet, beendet nicht sofort sein Studium und Training der Rhetorik,108 und Fabianus heißt auch als Deklamator ‚der Philosoph‘.109 Seine Schüler wiederum sind in der Rhetorik der deutlich ältere C. Albucius Silus110 und in der Philosophie der Philosoph Seneca; er hört als junger Mann den Fabianus und geht – anders als sein Vater – in seinen Schriften auch auf das philosophische Werk des Fabianus und den Stil dieses Werks etwas ausführlicher ein.111 Neben Fabianus ist der Stoiker Attalos, der Lehrer des jüngeren Seneca, ein weiteres Beispiel für einen eloquenten Philosophen.112 Es deutet nun nichts darauf hin, dass Seneca maior Wechsel von der Rhetorik zur Philosophie als vorbildlich und als Königsweg beschreibt, auch wenn man natürlich voraussetzen darf, dass er die philosophischen Interessen besonders seines zweiten Sohns kennt;113 vielmehr geht es zumindest indirekt auch darum, aufzuzeigen, dass ein Redner dank seinen formalen Fähigkeiten dem eigentlichen Experten bei entsprechenden Kenntnissen durchaus zumindest ebenbürtig ist und somit über eine allgemeine und adaptierbare Qualifikation verfügt.114 Das ergibt sich wiederum auch aus dem jüngeren Seneca, seinem Schüler: er diskutiert in epist. 100 durchaus kritisch vor allem die kompositorischen (compositio) und stilistischen (oratio) Aspekte im Werk des Fabianus und zeigt damit, für wie entscheidend er genau diese aus der Rhetorik stammenden Mittel für den Erfolg der Darstellung eines philosophischen Stoffes hält.

107 Sen. contr. 2 pr. 1–3; vgl. Bornecque, 185–186. 108 Sen. contr. 2 pr. 5 apud Blandum diutius quam apud Fuscum Arellium studuit, sed cum iam transfugisset, eo tempore quo eloquentiae studebat non eloquentiae causa. 109 Sen. contr. 2,1,25; 2,5,18 und suas. 1,9. 110 Sen. contr. 7 pr. 4. 111 Seneca maior kennt die philosophischen Schriften und beurteilt sie (contr. 2 pr. 2): obscuritatem non potuit evadere, haec illum usque in philosophiam prosecuta est. Seneca der Sohn hat ihn als junger Mann gehört und nimmt ihn später gegen die vermeintliche Kritik des Lucilius in Schutz (epist. 100); er beschreibt im Rückblick die protreptische Wirkung des Vortrags des Fabianus (12): cum audirem certe illum, talia mihi videbantur (sc. eius scripta), non solida, sed plena, quae adulescentem indolis bonae attollerent et ad imitationem sui evocarent sine desperatione vincendi, quae mihi adhortatio videtur efficacissima. Vgl. zu diesem Brief E. Cizek, À propos de la lettre 100 de Sénèque, Latomus 61 (2002), 388–397. 112 Seneca erwähnt sein Exil und seine Beredsamkeit: suas. 2,12. 113 Der eigenen Ehefrau untersagt er das genauere Studium der Philosophie, vgl. Sen. dial. 12,17,3; bei dem Zeugnis, Seneca der Vater habe die Philosophie verabscheut (epist. 108,22), darf nicht vergessen werden, dass es hier um eine ganz konkrete Änderung des Verhaltens (den Veganismus) geht, für die der Lehrer verantwortlich ist. 114 Vgl. Crassus bei Cic. de orat. 1,51 quicquid erit igitur quacumque ex arte, quocumque de genere, orator id, si tamquam clientis causam didicerit, dicet melius et ornatius quam ipse ille eius rei inventor atque artifex; dazu siehe oben S. 86.

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5.3.3 Geschichtsschreibung Senecas Interesse an der Geschichtsschreibung wird an vielen Stellen deutlich. So referiert er, wie Arellius Fuscus eine Thukydides zugeschriebene Gnome mit der gelungenen Nachahmung bei Sallust vergleicht und wie Livius diese Stelle beurteilt habe.115 Für Senecas zahlreiche Portraits der Deklamatoren nimmt Fairweather einen direkten Einfluss historiographischer bzw. biographischer Formen und Techniken an.116 Sein eigenes Geschichtswerk Ab initio bellorum civilium ist bezeugt im Fragment der Vita, die Seneca der Sohn über seinen Vater verfasst hat, und durch weitere Fragmente.117 Ebenso wie die rhetorischen Schriften sind auch die Geschichtsbücher ein Alterswerk. Die beiden erhaltenen Fragmente stammen aus der Beschreibung des Tods des Kaisers Tiberius und Einteilung der Epochen der römischen Geschichte, die mit den Abschnitten eines Menschenlebens beschrieben werden.118 Für Seneca steht die Historiographie über der Deklamation, da ihre Gedanken bzw. Formulierungen die Wahrheit enthielten. Sen. suas. 6,16 nolo autem vos, iuvenes mei, contristari, quod a declamatoribus ad historicos transeo. satisfaciam vobis, et fortasse efficiam, ut his sententiis lectis solidis et verum habentibus recedatis. et quia hoc si tamen recta via consequi non potero, decipere vos cogar, velut salutarem daturus pueris potionem sumpti poculi.

Mit diesem bei Rückgriff auf die Topik der Geschichtsschreibung und auf ihren Wahrheitsanspruch119 verbindet Seneca das Motiv des Übergangs von der Deklamation zu einer anderen Gattung bzw. Form (vgl. transeo an unserer Stelle mit contr. 2 pr. 3 facilis ab hac in omnes artes discursus est). Dass es sich dabei um einen Aufstieg handelt, liegt nicht nur an der Würde der Historiographie, sondern auch an dem Charakter der Deklamation, den Seneca bekanntlich mit Distanz betrachtet.120 Das hier von Seneca verwendete Bild von der Versüßung bitterer Medizin für Kinder kennt auch Lukrez Sen. contr. 9,1,13–14; dem vermeintlichen Zitat aus Thukydides am nächsten kommen zwei Stellen aus Demosthenes (2,20 und 11,13); zur Nachahmung vgl. Sall. or. Lep. 24. 116 Fairweather, 1981, 63–67. 117 M. Ch. Scappaticcio (Hrsg.), Seneca the Elder and his Rediscovered Historiae ab initio bellorum civilium, New Perspectives on Early-Imperial Roman Historiography, Berlin/Boston 2020. Die im Papyrus P.Herc. 1067 neuentdeckten Stücke sind umfangreich, aber äußerst fragmentarisch (F3 bei Scappaticcio, S. 356–368). 118 T. J. Cornell (Hrsg.), The Fragments of the Roman Historians, Oxford 2013, Nr. 74; vgl. ausführlich zum Werk und zu den Fragmenten Sussman, 1978, 137–52. 119 Dazu vgl. A. Mehl, Römische Geschichtsschreibung: Grundlagen und Entwicklungen. Eine Einführung, Stuttgart 2001, 22; ausführlicher und mit Bezug auf Ciceros Brief an Lucceius (fam. 5,12) A. J. Woodman, Rhetoric in Classical Historiography. Four Studies, London 2003, 73–75. 120 Vgl. Fairweather, 1981, 148 „He did not regard declamation as a form of literary activity of the same seriousness as true oratory or the writing of history.“ Vgl. zu der Formulierung sententiae solidae in suas. 6,16 die Stelle contr. 1,8,16 Diocles Carystius dixit sententiam, quae non in declamatione tantum posset placere, sed etiam in solidiore aliquo scripti genere, cum de fortunae varietate locum diceret.

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(den Quintilian zitiert) zur Illustration eines pädagogischen Tricks und einer heilsamen Täuschung.121 Das Thema der sechsten Suasorie lautet: ‚Cicero überlegt, ob er Antonius durch Bitten umstimmen solle‘. Hier führt nun Seneca diesen Übergang selber vor, indem er Exzerpte aus Historikern und einem Dichter zitiert, in denen zuerst Ciceros Ermordung geschildert wird und dann Nachrufe auf ihn zu finden sind.122 Seneca scheint nun die Absicht zu haben, seinen Söhnen, die eigentlich nur an sententiae interessiert seien, mit den geschliffenen sententiae aus den Nekrologen auf Cicero unter Anwendung einer List die Augen für die Historiographie zu öffnen.123 Der Gegenstand der Geschichtsschreibung ist hier allerdings Roms größter Redner, und Senecas Wahl dieses Umstands kann so gesehen werden, dass er damit die Bedeutung der Redekunst für die Historiographie demonstrieren möchte. So zitiert Seneca Livius und dessen Formulierung, dass es für ein angemessenes Lob Ciceros eines Ciceros bedürfe.124 Besonders deutlich wird diese Absicht Senecas ausgerechnet dort, wo er Asinius Pollio und seinen Cicero keineswegs wohlgesonnenen Nachruf zitiert. Senecas Kommentar lautet, dass Asinius Pollio hier Cicero offenkundig nicht gelobt, sondern mit ihm gerungen habe; das sage er keineswegs, um von einer Lektüre dieses Geschichtswerks abzuschrecken. Wenn seine Söhne Asinius Pollio läsen, vergingen sie sich allerdings an Cicero.125 Hier zeigt sich also, dass Senecas Aufruf an seine Söhne, sich mit der Geschichtsschreibung zumindest rezeptiv zu beschäftigen, neben einem Lob der Gattung auch einen Hinweis auf die Bedeutung der Beredsamkeit für die Historiographie enthält. Mit der ihm eigenen Selbstironie und in Anknüpfung an sein Bild von der Versüßung bitterer Medizin zweifelt Seneca schließlich im Epilog dieses Abschnitts am Erfolg seiner Werbung für die Geschichtsschreibung, indem er eine weitere Suasorie ankündigt, mit der der verhindern möchte, dass seine Söhne den Abschnitt mit den Historikerexzerpten ganz auslassen.

Lukrez’ Epilog des ersten Buchs (1,936–49) wird zitiert von Quint. inst. 3,1,4–5. Fairweather, 1981, 315, schließt nicht aus, dass Seneca die Stelle bei Lukrez vor Augen hatte. 122 Kritisch zu den Tendenzen der Historiker: A. Wright, The Death of Cicero. Forming a Tradition: The Contamination of History, Historia 50 (2001), 436–452. 123 Zum Verhältnis von Rhetorik und Geschichtsschreibung vgl. auch W. Ax, Die Geschichtsschreibung bei Quintilian, in: W. Ax (Hrsg.), Memoria rerum veterum. Neue Beiträge zur antiken Historiographie und Alten Geschichte. Festschrift für C. J. Classen zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1990, 133–168, Nachdruck in: Lexis und Logos. Studien zur antiken Grammatik und deren Rezeption, hrsg. v. F. Grewing, Stuttgart 2000, 209–229. 124 Sen. suas. 6,22. 125 Sen. suas. 6,25 adfirmare vobis possum nihil esse in historiis eius hoc quem rettuli loco disertius, ut mihi tunc non laudasse Ciceronem, sed certasse cum Cicerone videatur. Nec hoc deterrendi causa dico, ne historias eius legere concupiscatis; concupiscite et poenas Ciceroni dabitis. Zur Formulierung poenas dabitis vgl. Feddern ad loc.: „Gemeint ist wahrscheinlich, dass Asinius Pollios Geschichtswerk unter stilistischen Gesichtspunkten nicht mit Cicero zu vergleichen ist […].“ 121

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5.3.4 Poesie Die zumindest äußerliche und am Lebenslauf erkennbare Verbindung von Deklamatorenschule und Dichtung liegt in der Familie der Annaei bei Seneca dem Jüngeren klar auf der Hand. Senecas poetisches Werk umfasst neben den Tragödien und den entsprechenden Partien in der Apocolocyntosis auch Epigramme.126 Senecas Neffe Lukan – dessen Werk Pharsalia (bellum civile) die einen dem Epos, die anderen eher als Historiographie zuordnen127 – hat nach dem plausiblen Zeugnis der sogenannten Vacca-Biographie mit Bravour öffentlich deklamiert.128 Auch sein Studium in Athen ließe sich mit Deklamationsübungen in Verbindung bringen.129 Das prominenteste Beispiel für einen Dichter, der Schüler der beim älteren Seneca beschriebenen Deklamatorenschulen gewesen ist, ist Ovid.130 Seneca porträtiert ihn im zweiten Buch der controversiae ausführlich. Ovid ist – wie der Philosoph Papirius Fabianus – der Hörer (also Schüler) des Arellius Fuscus und ein Bewunderer des Porcius Latro, auch wenn er einem anderen Stil den Vorzug gegeben habe; die Verehrung Latros habe dazu geführt, dass Ovids viele von dessen sententiae in seine Dichtung übernommen habe.131 Seneca zitiert zur Illustration met. 13,121–122 und zeigt damit auch, dass dieser Einfluss nicht nur Ovids Jugendwerk betrifft. Ovid habe während seines Studiums als ein guter Deklamator gegolten. Seneca gibt eine Deklamation, die Ovid vor Arellius Fuscus gehalten hat, in einer längeren Passage wieder. Dabei lobt er Ovids Genie und tadelt zugleich dessen Angewohnheit, ohne eine bestimmte Ordnung die einzelnen Punkte zu durcheilen.132

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C. Prato, Gli epigrammi attribuiti a L. Anneo Seneca. Introduzione, testo critico, traduzione, commento, indice delle parole, Rom 1964. Den jungen Lukan behandelt möglicherweise das Epigramm Nr. 49. In den Z.5–6 wird das Redetalent des jungen Marcus gepriesen: Sic dulci Marcus qui nunc sermone fritinnit / facundo patruos provocet ore duos. Vgl. zu dieser Diskussion H. Papajewski, An Lucanus sit poeta, DVLG 40 (1966), 485–508. Declamavit et Graece et Latine cum magna admiratione audientium. Text nach C. Braidotti (Hrsg.), Le vite antiche di M. Anneo Lucano, Introduzione e testo critico, Bologna 1972, 2,22. Zur Stelle vgl. A. Ambühl, Krieg und Bürgerkrieg bei Lucan und in der griechischen Literatur, Studien zur Rezeption der attischen Tragödie und der hellenistischen Dichtung im Bellum civile, Berlin u. a. 2015, 19. – Die Biographie steht in der Tradition der antiken Dichterviten und schreibt (unmittelbar vor der zitierten Stelle) dem jungen Lucan ein Bienenwunder zu; vgl. allgemein zum Topos I. Opelt, Das Bienenwunder in der Ambrosiusbiographie des Paulinus von Mailand, VC 22 (1968) 38–44, besonders 43. Dieser legendenhafte Zug mindert die Glaubwürdigkeit der eher sachlichen Nachricht über Lukans Deklamationen nicht. Zum Aufenthalt in Athen Suet. vita Lucani p. 50 Reifferscheid. Vgl. über Ovid bei Seneca die sehr guten Darstellungen Fairweathers (1981), 264–270, und H. Fränkels, Ovid, A Poet between Two Worlds, Berkeley 1945, 5–8. Sen. contr. 2,2,8. Sen. contr. 2,2,9.

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Später fügt Seneca hinzu, Ovid habe suasoriae lieber als controversiae deklamiert, da ihm jede Beweisführung (argumentatio) lästig gewesen sei;133 beim Gebrauch der Wörter sei er regelkonform und ohne große Freiheiten (minime licenter) vorgegangen. Das sei – so Seneca – in den Gedichten ganz anders, weil Ovid dort seine Regelverstöße (vitia) sehr bewusst und mit großer Hingabe begangen habe. Mit einer Anekdote illustriert Seneca Ovids hartnäckige Zuneigung zu genau den Versen, die seine Freunde wegen der Freizügigkeit ihrer Sprache gerne verworfen sehen möchten.134 Aus dieser Skizze ergibt sich, dass Seneca zumindest bei Ovid den Unterschied zwischen Deklamation und Dichtung im Grad der licentia und in der Handhabung der Regeln des ordo und der argumentatio sieht.135 Daher scheint Seneca – anders als er es im Falle der Historiographie tut – der Dichtung keinen per se höheren Rang als der Deklamation zuzusprechen.136 Ovid schätzt er überaus (summi ingenii vir), und diese Bewunderung Ovids teilt Seneca mit Alfius Flavus (bzw. dessen Kritiker Cestius Pius) und P. Vinicius, den Seneca summus amator Ovidi nennt. Im Zentrum der Bewunderung stehen dabei Ovids sententiae und damit der Dichter Ovid, der seine Herkunft aus der Rhetorik nicht verleugnet.137 Es zeigt sich also sehr deutlich, dass Senecas Satz facilis ab hac (sc. eloquentia) in omnes artes discursus est (contr. 2 pr. 3) auch für die Dichtung gilt und dass, da die Deklamatoren die sententiae des Dichters aufgreifen, dieser Übergang in beide Richtungen möglich ist.138

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Der generelle Vorwurf des molestum betrifft allerdings nicht nur Ovid, sondern – wie oben zu sehen war – die Deklamatoren insgesamt; vgl. oben S. 201. Sen. contr. 2,2,12 verbis minime licenter usus est, non in carminibus, in quibus non ignoravit vitia sua sed amavit. manifestum potest esse , quod rogatus aliquando ab amicis suis, ut tolleret tres versus, invicem petit, ut ipse tres exciperet, in quos nihil illis liceret. aequa lex visa est: scripserunt illi quos tolli vellent secreto, hic quos tutos esse vellet. in utrisque codicillis idem versus erant, ex quibus primum fuisse narrabat Albinovanus Pedo, qui inter arbitros fuit: ‚semibovemque virum semivirumque bovem‘; secundum: ‚et gelidum Borean egelidumque Notum‘ […]. ex quo apparet summi ingenii viro non iudicium defuisse ad compescendam licentiam carminum suorum sed animum. aiebat interim decentiorem faciem esse, in qua aliquis naevos fuisset. Vgl. auch contr. 9,5,17 Et propter hoc et propter alia, quibus orator potest poetae similis videri, solebat Scaurus Montanum inter oratores Ovidium vocare; nam et Ovidius nescit quod bene cessit relinquere. Auch hier ist der Mangel an Kontrolle und Beschränkung ein Merkmal. Vgl. Fairweather, 1981, 315, über Senecas Vorliebe für die zeitgenössische Poesie. Sen. contr. 3 ex. 7 Alfius Flavus hanc sententiam dixit: ipse sui et alimentum erat et damnum. hunc Cestius, quasi corrupte dixisset, obiurgans: apparet, inquit, te poetas studiose legere: iste sensus eius est, qui hoc saeculum amatoriis non artibus tantum, sed sententiis implevit. […] und contr. 10,4,25 P. Vinicius, summus amator Ovidi, hunc aiebat sensum disertissime apud Nasonem Ovidium esse positum, quem ad fingendas similes sententias aiebat memoria tenendum. Das gilt natürlich auch für die Philosophie: so blüht der Deklamator und Philosoph Fabianus auf, sobald er auf ein Thema trifft, das eine Kritik des moralischen Zustands seiner Zeit erfordert (contr. 2 pr. 2).

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5.4 Zusammenfassung Der ältere Seneca wendet sich in seinen Oratorum et rhetorum sententiae divisiones et colores an seine erwachsenen Söhne in der Absicht, das Andenken (memoria) und die Kenntnis der Deklamatoren seiner Zeit wachzuhalten und das kritische Urteil (iudicium) seiner Söhne zu fördern und so ihre Fähigkeit zur Nachahmung zu schulen. Dabei wirbt Seneca nicht direkt und unmittelbar für die Rhetorik, er greift aber für die Protreptik typische Motive auf: so stellt Seneca seine Söhne als lernbegierig dar (audire velle) und erhöht den Gegenstand seines Werks, die sacerrima eloquentia (maius-Motiv). Seneca wirbt nun nicht für einen bestimmten Lehrer oder ein bestimmtes Lernen, sondern für eine institutionalisierte Praxis. Im Vorwort zum zweiten Buch der controversiae wendet sich Seneca an seinen jüngsten Sohn Annaeus Mela und beschreibt dabei seine Rolle als hortator und laudator. Dabei wird deutlich, dass sich durch das Studium der Rhetorik allgemein und im Besonderen durch das, was die Deklamatoren in ihren Schulen lehren, üben und praktizieren, vielfältige Möglichkeiten öffnen. Neben den klassischen Wegen, die in das Gerichtswesen und in die Staatsverwaltung führen, finden sich weitere Ziele, die jemand, der die Deklamationsschulen absolviert, anstreben kann: in der Rhetorik selbst, in der Philosophie, in der Geschichtsschreibung und in der Dichtung. Senecas Präsentation dieser Möglichkeiten steht in der Tradition des Anspruchs der Rhetorik auf Universalität und kann gut als Werbung aufgefasst werden, auch wenn Seneca selbst seine Präferenzen – bis auf die Geschichtsschreibung – kaum zu erkennen gibt und seinen Söhnen eine bemerkenswerte Freiheit der Entscheidung zubilligt.

6 Ergebnisse Das hier untersuchte Motiv der Protreptik zur Rhetorik entsteht, als in Griechenland Redner und Redelehrer beginnen, in Auseinandersetzung mit der Sophistik und der Philosophie für ihr Angebot zu werben. Es bildet sich, ausgehend insbesondere von Isokrates, eine wirkmächtige Tradition heraus, die in der römischen Literatur seit Cato dem Älteren erstmals sichtbar wird, in Ciceros Werken ihren Höhepunkt erreicht und in der frühen Kaiserzeit bei Seneca dem Älteren begegnet. Dabei wird das Motiv der Protreptik zur Rhetorik kontinuierlich den veränderten literarischen, politischen und sozialen Bedingungen angepasst, so dass diese Tradition in einem mehrdimensionalen, situativen Prozess umgestaltet und so lebendig gehalten wird. (1) Isokrates wirbt für sein Bildungsangebot, das er mit Begriffen wie φιλοσοφία und λόγων παιδεία beschreibt, auch in den Reden An Nikokles (Isoc. 2) und Nikokles (Isoc. 3) und in der enkomiastischen Biographie Euagoras (or. 9). Das Besondere sind hier die persönliche Anrede an den jungen Fürsten Nikokles und die fiktive Reaktion des Nikokles darauf. Dabei hat Isokrates als Lehrer eine persönliche Bindung an Nikokles, die auch darin besteht, dass er ein Enkomion auf dessen Vater Euagoras verfasst. Nikokles ist weniger als Person fassbar, sondern steht für den Schüler, der eine herausgehobene Position anstrebt und sich das dafür geeignete Wissen – eben die rhetorische Bildung des Isokrates – aneignen möchte. Isokrates’ Protreptik steht in der Tradition, die insbesondere mit den Sophisten verbunden ist und auch Platon und Xenophon beeinflusst, und ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Isokrates mit anderen Angeboten bzw. Schulen konkurriert und unterschiedliche institutionalisierte Strukturen bestehen. Die diskutierten Schriften des Isokrates erhalten ihren protreptischen Charakter vor allem aus ihren Proömien und Epilogen bzw. aus ihrem Rahmen; die Gegenstände ihrer Hauptteile sind paränetischer Natur und den Themen ‚Beratung eines Fürsten‘ (Isoc. 2) und ‚Vorbildliches Leben eines Fürsten‘ (Isoc. 8) gewidmet. Sieht man nun in der Werbung für die Beredsamkeit und ihren Unterricht das zentrale Anliegen dieser Texte, so lassen sich die Hauptteile wiederum als epideiktische Proben verstehen, die Isokrates’ Kompetenzen als Lehrer und Berater zeigen. Die Isokrates kennzeichnende Spezifik im Vergleich mit den Werbungen der Philosophen, die für uns zunächst in

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Dialogen bzw. dialogartigen Schriften sichtbar werden und später eine eigene Gattung (heute meist verlorener) Werbeschriften bilden, liegt nicht nur in der literarischen Form, sondern auch in der Betonung des großen Werts der λόγοι für einen Schüler, der eine wichtige Rolle im Staat anstrebt bzw. wie Nikokles ein junger Fürst ist; man kann hier von Protreptik für die Rhetorik sprechen. Sie erscheint auch – in teils deutlicher Nachahmung des Isokrates – in der Rede An Demonikos [Isoc. 1] und im Erotikos des Ps.-Demosthenes (or. 61) und wird später insbesondere von Dionysios von Halikarnassos fortgeführt. Es hat sich als sinnvoll erwiesen, für die Beschreibung dieses Prozesses auf das Konzept des Motivs zurückzugreifen. Da es sich bei der Protreptik für die Rhetorik nicht um eine literarische Gattung handelt und auch direkte Rezeption bzw. Intertextualität nur in wenigen Fällen nachweisbar sind, ist das Motiv ein geeignetes Instrument, weil es Wiedererkennbarkeit und Iteration gut beschreiben kann. Beide Eigenschaften kennzeichnen protreptische Texte, in denen ähnliche Formen und Absichten immer wieder deutlich sichtbar werden. Die Werbung für die Rhetorik und den Lehrer und um den Schüler ist mit verschiedenen protreptischen Motiven verbunden: insbesondere mit dem Motiv der Gabe, dem Lob der Redekunst, der Aufforderung zu Anstrengung und Übung, der Warnung vor dem Scheitern und dem Versprechen von Ruhm. Bei Dionysios von Halikarnassos sind protreptische Motive im Rahmen von De compositione verborum zu finden; die Werbung richtet sich an einen jungen Römer, der zum Studium aufgefordert wird. Anders als bei Isokrates ist eine Disziplin der Rhetorik auch der Gegenstand der Schrift, so dass Dionysios unmittelbar für ihr Studium und damit seinen eigenen Unterricht wirbt. (2) Cato der Ältere tritt in diese Tradition, indem er auch in Konkurrenz mit griechischen Lehrern wie Karneades, die in Rom erfolgreich für ihren Unterricht werben, zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der griechischen Bildung und zu ihrer Rezeption gelangt. Soweit es aus den Fragmenten von Ad filium ablesbar ist, richtet sich Cato an seinen Sohn mit einer deutlichen Protreptik für die Beredsamkeit; daneben stehen möglicherweise weitere Wissensbereiche wie Medizin und Landwirtschaft. Er übernimmt so das von den Griechen geprägte formale Muster, für die Aneignung eines bestimmten Wissens in persönlicher Ansprache zu werben. Was nun den Inhalt dieser Werbung betrifft, so ist die Beredsamkeit bei Cato sehr eng mit praktischer Erfahrung verbunden, weniger deutlich mit der Rhetorik als einer erlernbaren Techne. Wie Catos eigener Ehrentitel ‚römischer Demosthenes‘ und sein dezidierter Spott über Isokrates zeigen, ist dieses scheinbare Erfahrungswissen aber nicht voraussetzungslos, sondern steht bereits unter dem prägenden Einfluss der griechischen Kultur. Cato überträgt nun das Schema, das auch bei Isokrates und anderen vorliegt, auf die Verhältnisse in Rom. Da Lehrer hier nicht zur Verfügung stehen oder aus verschiedenen Gründen als ungeeignet erscheinen und abgelehnt werden, übernimmt Cato selbst diese Aufgabe und wirbt bei seinem Sohn für das Bildungsangebot, das er ihm

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macht und das in der Nachahmung seines eigenen Vorbilds besteht. Aus der literarischen Form der Protreptik ergibt sich, dass der junge Cato als ein prominenter Schüler präsentiert wird, der eine erfolgreiche Laufbahn im Staat anstrebt. Zugleich unterstreicht Cato als Autor allgemein den Nutzen und den Wert der Beredsamkeit für einen künftigen Politiker, indem er zu ihrem Studium auffordert und auf seinen eigenen Erfolg und sein eigenes Vorbild verweist. (3) Cicero setzt diese protreptische Tradition fort und wendet sich ebenso wie Cato – wenn auch nicht in direkter Anknüpfung an ihn – an seinen Sohn Marcus; daher ist es sinnvoll, hier De officiis vor De oratore zu nennen. Im Spätwerk De officiis richtet sich Cicero im Rahmen der Vorworte und des Epilogs an Marcus, der gerade in Athen studiert, mit der Aufforderung, seine Fähigkeiten in der oratio zu üben und zu verbessern. Cicero wirbt hier also in erster Linie für die Beredsamkeit; ein Widerspruch zur Philosophie, die der junge Cicero in Athen studiert und zu der das Thema von De officiis gehört, oder eine offenkundige Konkurrenz besteht allerdings nicht, weil Cicero in seinem Konzept des idealen Redners die Trennung von Philosophie und Rhetorik als beendet ansieht und in De officiis einen entsprechend weiten Begriff von oratio bzw. orationis facultas zugrunde legt. Für das Verständnis der Aufforderungen und Ermahnungen in De officiis und ihrer Bedeutung für das Verhältnis von Vater und Sohn ist es sinnvoll, sie in ihrem Kern als literarische Protreptik zu begreifen. Cicero ermuntert mit protreptischen Motiven seinen Sohn zu seinem Studium, dem er in Athen bei Kratippos und anderen Lehrern nachgeht, und warnt mit ihn mit sehr deutlichen Worten davor, in seinem Eifer nachzulassen oder sogar zu scheitern. Auf diese Weise erscheint der junge Cicero als Adressat von Protreptik und damit ebenso wie der junge Cato und früher Alkibiades oder Nikokles als ein Politiker am Beginn seiner Laufbahn im Staat. Von dieser Protreptik im Rahmen aus betrachtet, ist die eigentliche Abhandlung über die Pflichtenlehre auch (als ein philosophisches Werk eigenen Rechts allerdings nicht ausschließlich) vergleichbar mit einer sophistischen Epideixis, mit der ein Lehrer seine Kompetenz unter Beweis stellt und nützliches Wissen vermittelt; besonders im Vorwort zum dritten Buch wird der junge Marcus aufgefordert, sich der Philosophie zu widmen. Zugleich präsentiert sich Cicero, auch wenn er seinen Sohn vordergründig zum Studium bei Kratippos auffordert, selbst als Vorbild, indem er das Studium seiner eigenen Reden und Bücher empfiehlt. Ciceros großes Werk De oratore, das in die Form eines Dialogs gekleidet ist, arbeitet mit komplexen Strategien und Formen der Protreptik für die Rhetorik. In den persönlichen Vorworten wendet sich Cicero zwar an seinen Bruder Quintus und damit nicht an einen potentiellen Schüler; es wird aber deutlich, dass Cicero eigentlich seinen Neffen und seinen Sohn und damit die junge Generation im Blick hat, der für das richtige Studium der Rhetorik die geeigneten Bücher, Lehrer und Institutionen fehlten. Hier liegt die enge persönliche Bindung innerhalb einer Familie vor, die bereits für die Protreptik Catos und (später) für De officiis kennzeichnend ist.

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Im Vorwort zum ersten Buch wirbt Cicero zunächst für sein eigenes Werk, für sich als Lehrer und Vorbild und damit für das richtige Studium. Mit dem maius-Motiv, das für das erste Proömium zentral ist, wird das Lob der Rhetorik vorbereitet, indem der Gegenstand als etwas sehr Bedeutsames und sein Erwerb als erstrebenswert dargestellt werden. Im Dialog selber bemühen sich zunächst die Figuren der Schüler Sulpicius und Cotta um die Figuren der Lehrer Antonius und Crassus, die sich zunächst noch sehr zögerlich verhalten, und um ihren Unterricht (Motiv des audire velle). Indem Cicero als Figuren der Lehrer zwei ehemalige Konsuln wählt, greift er auch in De oratore die schon bei Isokrates angelegte und auch bei Cato vorliegende Verbindung von Rhetorik und einer politischen Karriere bzw. einer Tätigkeit im Staat auf. Dass im Grundkonzept von De oratore das Motiv der Protreptik – wenn auch in besonderer Form – angelegt ist, zeigen die einzelnen literarischen Elemente, die Cicero gleich zu Beginn des Gesprächs verwendet, nämlich Crassus’ Lob der Beredsamkeit und seine cohortatio zum Studium, die sich an Sulpicius und Cotta richtet. Die Person des orator perfectus, deren Ideal Crassus später im dritten Buch entwirft, lässt sich als Figur eines Vorbilds oder eines Lehrers und damit als Protreptik für einen bestimmten Unterricht verstehen: Cicero wirbt für die Hinwendung zur skeptischen Akademie und für die besonders in der Methode des in utramque partem disputare angelegte Kombination von Rhetorik und Philosophie. Diese Erhebung über den eigentlichen Gegenstand von De oratore hinaus entspricht wiederum dem hier als protreptisch gedeuteten maius-Motiv. Innerhalb der Handlung des Dialogs gestaltet Cicero im dritten Buch von De oratore eine protreptische Situation, in der sich die Schüler für (Cotta) und gegen (Sulpicius) das Angebot des Crassus entscheiden. Auch der Verweis des Crassus auf den jungen Hortensius am Schluss hat eine protreptische Funktion und bildet mit dem Anfang des ersten Buchs einen Ring, indem er dessen cohortatio aufgreift. Die Formen der Paränese bzw. der Beratung eines Herrschers, die bei Isokrates mit der Protreptik eng verknüpft ist, lassen sich bei Cicero in den Briefen an seinen Bruder Quintus (insbesondere ad Q. fr. 1,1) beobachten. Das Besondere ist hier, dass Cicero im Kontext einer engen persönlichen Bindung zu einem bestimmten Handeln ermuntert, Vorbilder benennt und vor Fehlern warnt und damit Motive benutzt, die denen der Protreptik nahestehen. Cicero wirbt hier allerdings nicht für eine bestimmte Bildung, es lässt sich aber sehen, dass er ähnliche literarische Formen handhabt, adaptiert und nutzt. (4) Der ältere Seneca wendet sich in seinen Büchern Oratorum et rhetorum sententiae divisiones et colores an seine bereits erwachsenen Söhne, als er selbst schon in hohem Alter steht; daher geht es ihm nicht darum, junge Leute zum Studium der Rhetorik aufzufordern, sondern um Werbung für die Deklamatoren und ihre Schulen. Seneca möchte dabei nicht nur das Andenken an seine eigene Generation und ihre Deklamatoren bewahren, sondern auch die große Bandbreite der Möglichkeiten demonstrieren, die sich für den ergeben, der in diesen Schulen Unterricht genossen hat. Diese

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Auffächerung, die mit der Rhetorik nun Philosophie, Geschichtsschreibung, Dichtung und Deklamation selbst verbindet, geschieht auch vor dem Hintergrund, dass Seneca zum einen die persönlichen Risiken, die sich in seiner Zeit aus der traditionellen Laufbahn in Prozessen und im Staat ergeben, sieht und bewertet, zum anderen sich auch am zeitgenössischen Diskurs über den Niedergang der Redekunst beteiligt. Seneca vertritt dabei ein Dekadenzmodell, steht aber gleichzeitig in der Tradition, die in der Rhetorik die geeignete Vermittlerin universeller Kompetenzen sieht. Seneca gibt zwar – mit Blick auf sein eigenes Werk – der Geschichtsschreibung den Vorzug, lässt aber seinen Söhnen eine große Freiheit in ihrem Urteil darüber, welche Möglichkeit politischer oder literarischer Tätigkeit zu ihnen selbst am besten passt. Seine Protreptik für die Rhetorik ist also mit Blick auf die Möglichkeiten, die sich insbesondere aus den Übungen der Deklamatorenschulen ergeben können, angelegt. (5) Cato, Cicero und Seneca haben gemeinsam, dass sie sich als Väter an ihre Söhne wenden. Hierbei entsprechen sie zum einen traditionellen Rollenbildern, die in der antiken und insbesondere der römischen Gesellschaft fest verankert sind und die den Vätern Verantwortung für und auch Kontrolle über die Bildung ihrer Söhne zuweisen, zum anderen sind sie Teil und Akteure eines Prozesses, der als Intellektualisierung (Scholz, 2011) bezeichnet und zugleich als Transfer beschrieben werden kann. In diesem Umfeld hebt sich die Protreptik für die Rhetorik noch einmal als Erscheinung ganz eigener Art ab, weil Väter, deren Erfolge zu großen Teilen auf ihrer Redekunst beruhen – das gilt besonders für Cato und Cicero, möglicherweise weniger für Seneca –, ihre Söhne zum Studium eben der Redekunst und zur Nachahmung ihres Vorbilds auffordern. Dabei sind die Söhne nicht nur – wie es Cicero in De officiis zum jungen Marcus sagt (1,78) – Erben des Ruhms ihrer Väter, sondern müssen durch eigenes Bemühen selbst die Grundlage möglicher Erfolge legen. Im Umstand, dass die Väter zugleich als Lehrer, zumindest aber als Ratgeber ihrer Söhne auftreten, ist auch eine Reaktion auf das Fehlen entsprechender Bildungsstrukturen in Rom zu sehen. Bei Cato zeigt sich dieser Mangel, als Karneades und andere, die sich eigentlich als Gesandte in Rom aufhalten, öffentlich in Erscheinung treten, Unterricht anbieten und dabei auf Catos Kritik und Ablehnung stoßen; die Bücher ad filium können als Bemühen gedeutet werden, diese Fehlstelle zu schließen. Cicero lässt in der Szenerie von De oratore die Lehrer mit den Schülern als Privatleute an Feiertagen Gespräche über den richtigen Unterricht führen und die Unzulänglichkeit vorhandener Lehrbücher und die Lebensferne der griechischen geprägten Schulrhetorik allgemein beklagen; in seiner eigenen Biographie und der seines Sohnes finden sich intensive Begegnungen mit vielen griechischen Lehrern sowohl in Griechenland selbst als auch in Rom; doch erst für Seneca lässt sich sagen, dass mit den Deklamatorenschulen in Rom ein deutlich professionalisierter Rahmen für das Studium bzw. Training der Rhetorik vorhanden ist. Damit kann in Zusammenhang gebracht werden, dass Seneca seinen erwachsenen Söhnen gegenüber nicht für das Studium der Beredsamkeit wirbt, sondern für

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die Schulung ihres Urteils, für die Wahrnehmung der Möglichkeiten, die sich aus diesem Unterricht ergeben, und damit für die Institution selbst, auch wenn ihre Defizite diskutiert und kritisiert werden. Die hier untersuchte Protreptik kann also vor dem Hintergrund des Transfers der griechischen Bildung nach Rom und der damit verbundenen Besonderheiten gesehen werden; der Ablauf und das Voranschreiten dieses Transfers sind von Cato bis Seneca maior deutlich wahrnehmbar. (6) Diesen Prozess kann man auch als Transformation verstehen, die einen Referenzrahmen erzeugt. Dabei sind Spannungen deutlich wahrnehmbar, indem in Rom die griechische Rhetorik zugleich übernommen und deutlich kritisiert wird. Es werden also Modelle und Maßstäbe herangezogen und zugleich infrage gestellt. Das hat neben politischen, historischen und kulturellen Dimensionen auch Ursachen, die in der Sache selbst liegen. In ihrer Grundstruktur ist die Protreptik auf Widersprüchlichkeiten dieser Art gut vorbereitet, da es bei ihr um Werbung für richtige Lehrer geht und eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Angeboten vorausgesetzt wird und zwar zunächst ganz unabhängig von Kategorien wie Fach (Rhetorik gegen Philosophie), Ort (Griechenland gegen Rom) und Zeitgeschmack (Konservative gegen Modernisten). Betrachtet man die verbreitete Kritik an der Schulrhetorik oder an ‚den Griechen‘, so steht hinter ihr auch das eigene Bemühen um Schüler. Wenn man diesem Beschreibungsmodell folgt, lässt sich festhalten, dass immer auch eine Aktualisierung der mehrschichtigen Transformation stattfindet, die von dem ausgeht, der gerade für sein Angebot wirbt und sich dabei von anderen abzugrenzen sucht. Daher ist auch das Vorgehen der hier untersuchten römischen Autoren erklärlich, dass sie protreptische Motive übernehmen, ohne sich dabei direkt auf die Autoren (z. B. Isokrates) zu berufen, bei denen sie diese Motive vorfinden; denn das könnte ihrer Absicht entgegenstehen, in erster Linie für das eigene Angebot zu werben. Zugleich werden für eben dieses scheinbar eigenständige Angebot die vorhandenen Lehrgegenstände und ihre grundlegenden Muster übernommen und nur geringfügig adaptiert, so dass der Prozess dieser Transformation an vielen Stellen im Ergebnis zu einer großen Konstanz und Kontinuität führt.

7 Literaturverzeichnis Artikel aus der RE und DNP werden nicht aufgeführt; das gilt in der Regel auch für Editionen antiker Texte sowie für Kommentare, die zur Erklärung einzelner Stellen herangezogen worden sind. Ausgaben zentraler Texte M. Catonis praeter librum de re rustica quae extant, ed. H. Jordan, Leipzig 1860. Cicero, De oratore: M. Tulli Ciceronis scripta quae manserunt omnia, Fasc. 3, ed. K. F. Kumaniecki, Leipzig 1969. Cicero, De officiis: M. Tulli Ciceronis scripta quae manserunt omnia, Fasc. 48, ed. C. Atzert, Leipzig 41963. L. Annaeus Seneca Maior, Oratorum et rhetorum sententiae, divisiones, colores, ed. L. Håkanson, Leipzig 1989.

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8 Register Index locorum Ailianos VH 7,2: 2675 7,21: 161440 Aischines (der Sokratiker) SSR VI A 41–54: 14–16 Anaximenes FGrHist 72 F 18: 2675 Rh. Al. siehe unter Aristoteles Antisthenes SSR V A 11: 147 Appianos BC 4,221: 158428 Hisp. 160: 5013 Apsines Contr. Fig. 409 (Spengel): 82104

Protr. fr. 1 (Ross): 35116 fr. 2 (Ross): 35117 fr. 9 (Ross): 35118 Rh. 1368a17: 2464 1415a9–40: 160436 [Rh. Al.] 1421b21–23: 2568 1436a33–39: 160436 Augustinus conf. 3,4,7: 6513 9,6,14: 176530 Ausonius gratiarum actio ad Grat. imp. 7,31: 4327 Basileios ad adol. 5,55–77: 183566

Aristippos SSR IV A 144: 147

Bibel Act 18,12–17: 19816

Aristoteles περὶ βασιλείας fr. 2 (Ross): 7038

Boethius arithm. pr. 3,1–16 (Friedlein): 176530

238 cons. 1, Prosa 4,5: 7038 Caesar Gall. 2,8,3: 87127 6,30,2: 6824 6,35,2: 6824 6,42,1: 6824 Cassius Dio 46,18,5: 157418 58,18: 212103 59,19,7: 19819 Cato maior ad fil. fr. (Jordan) 1: 55, 5862, 60–61 5: 5652 6: 5862, 59 10: 5652, 57 12: 6180 14: 5652, 5862, 59, 111217 15: 5652, 60 16: 60 agr. 61: 5652 orat. frgg. 163–171 (ORF 8): 4912 orig. FRH 3 5,3: 5125 FRH 3 7,1–4: 5125 Cicero ac. 1,12: 152399 2,77: 85117 ad Brut. 1,5,3: 158426 2,3,6: 158425 ad Q. fr. 1,1: 66–73, 75–76, 106 1,1,9: 186581 1,1,16: 156417 1,1,18: 169489 1,1,27: 85117 1,1,38: 169489 1,1,45: 143355

Register

2,3,4: 7250 3,3,4: 82–83 Arch. 1: 163447 13: 165459 Att. 1,2,1: 147372 1,19,8: 7674 2,16,3: 85117 2,20: 156416 3,23,5: 85117 4,6,3: 139344 4,16,1: 175523 4,16,3: 98168 5,9,1: 7252 5,10,1: 148374 5,11,4: 148374 5,17,3: 148374 6,1,12: 122268, 148374 6,7,1: 7252 9,13,3: 164453 12,7: 148377 12,14,3: 175523 12,24,1: 148378 12,27,2: 148378 12,32,2: 148377, 152400 13,1,1: 148379 13,19,5: 167477 13,28,3: 134321 13,45,2: 7252 14,7,1: 151394 14,7,2: 148380 14,11,2: 149381 14,13,4: 149381 14,16,3: 149383 14,17,5: 149383 14,18,4: 149383 15,13a,2: 168487 15,15,3–4: 152396 15,16: 153405 15,16,1: 148380, 151–152 16,1: 152396 16,3,4: 152396 16,11,4: 169487, 179 Brut. 1: 1975 2: 802 15: 118248

Index locorum

21: 189592 32: 144358 65: 495, 5019 69: 4910 120–121: 168483 143: 183562 151: 152398 173: 134322 204: 122268 289–291: 189592 298: 5120 301: 84108 310: 155410, 163449, 163452 315: 153, 162446 368: 82101 Cael. 73–74: 188589 carm. frg. 6,71–78: 7040 Catil. 1,16: 100175 2,25: 104189 Cato 26: 5015, 98168 30: 6936 58: 6936 79: 6936 84: 5864 Cluent. 139: 7676 de orat. 1,1: 89134, 115230 1,5: 135327 1,6–20: 79–83 1,15: 106200 1,16–19: 129297 1,16: 7780, 85, 117 1,17: 183562, 20349 1,19: 105194 1,21: 127289, 20991 1,22: 110214 1,22–23: 83107 1,24–95: 83–89 1,26: 109212 1,27: 109212 1,28–29: 99 1,30: 140, 141 1,30–34: 108

1,31: 187587 1,32–33: 115 1,33: 134323 1,34: 110214, 129295 1,38: 110215 1,40: 118245 1,44: 165459 1,45: 113226 1,45–47: 125, 141 1,47: 6830 1,48: 6075 1,51: 213114 1,52: 105196 1,55: 105196 1,61: 165459 1,64: 127289, 165463 1,76: 165459 1,79: 8093 1,80–95: 141, 183565 1,84: 105196 1,94: 123 1,96: 99172 1,96–112: 89–93 1,97: 105194 1,105: 100173 1,105–106: 132310–313 1,106: 99172 1,113–121: 111219 1,113–159: 93–97 1,115: 118244 1,116: 118241 1,119–121: 120 1,125: 20561 1,126: 112221 1,131–133: 102185 1,134: 20137 1,136: 100172 1,137: 92146, 120256 1,142: 165459 1,148: 92146, 100172 1,149–159: 102 1,159: 110213 1,160: 135329 1,160–165: 97–98 1,161–162: 100174 1,165: 129296 1,199: 118240 1,202–209: 99–101

239

240 1,204: 8093, 116–117 1,205: 120256 1,206: 108206, 114228 1,208: 101178, 120257 1,209–262: 101 1,211: 110215 1,249–50: 127289 1,252: 101180, 118241 1,256–265: 101–103 1,262: 118241 1,263: 20991 1,264: 117, 118241 1,265: 98168 2,1–11: 103–106, 114 2,3: 94155 2,5: 112223, 6074 2,7: 20456 2,11: 118243, 118249 2,13: 20136 2,14: 92146 2,14–16: 107 2,16: 92146, 114 2,21–26: 107 2,26: 120256 2,28–29: 108206 2,28–40: 146 2,33–35: 84110 2,33–38: 107–108 2,38: 118241 2,39: 108208 2,41: 118241 2,57: 144358 2,62: 118241 2,74: 120256 2,76: 118240 2,78: 144356 2,79: 187584 2,80–81: 6077 2,85–96: 108–112 2,86–87: 20450 2,88: 118241 2,88–92: 141 2,89: 188590 2,94: 144358 2,99–113: 125279 2,107: 188590 2,114–216: 112 2,145: 144356

Register

2,153: 92145 2,161: 8093 2,185–216: 120 2,186: 7252 2,186–187: 120258 2,187–189: 187586 2,227: 134322 2,255: 146369 2,286: 118244 2,289: 120260 2,291: 92146 2,307–332: 112 2,313: 120259 2,345: 118242 2,350–361: 112 2,361: 112222 2,361–367: 112–114 2,364: 121261 2,366–367: 119254 2,367: 92146 3,1–13: 193612 3,1–16: 114–117 3,3: 134323 3,3–6: 110214 3,6: 143352 3,7: 136332 3,10: 189593 3,14: 20455 3,15: 8093, 126283 3,17–18: 117–121 3,18: 176529 3,19–55: 121–124 3,34–35: 20669 3,55: 133316, 137335 3,56–81: 123–127 3,57: 133319 3,60–61: 116236 3,63: 130301 3,69: 136, 137334 3,74: 108209, 187584 3,76: 130301 3,76–78: 185575 3,80: 135, 140347 3,81: 118241 3,82–90: 127–128 3,86: 131306 3,89: 166468 3,91–143: 128–135

Index locorum

3,96: 20140 3,97: 8093 3,119: 118243 3,121: 118241, 129295 3,126: 137335 3,129: 92145 3,142–143: 167479 3,144: 97164 3,144–147: 123, 125, 135–138 3,147: 92146 3,176: 118243 3,226: 110215 3,228: 134323 3,228–230: 138–141 3,230: 178541 3,367: 121261 div. 2,1–4: 167478 2,4: 119, 165464, 168484 2,96: 7673 div. in Caec. 1–4: 121261 dom. 130: 190595 fam. 1,5,4: 73 1,7: 82101 1,7,5: 7357 1,7,9: 7357 1,9: 82101 1,9,23: 81 2,7,2: 74 3,8: 160437 3,10: 160437 4,5: 151388 4,7: 7458, 160437 4,7,1: 172503 4,9: 7458 5,5: 160437 5,12: 214119 5,13: 160437 5,16: 160437 5,18: 7458 6,22,3: 172503 7,7,2: 175520 7,9,2: 175520 9,8,1: 118248 9,14: 7458

9,14,4: 191602 9,18,3: 164 10,5: 7458 10,6: 7458 10,26,3: 172503 12,16: 149–152 12,22: 7458 12,24: 7458 15,20: 151389 15,21: 151389 fat. 3: 92146, 164458 fin. 1,1: 167475 1,1–11: 104190 1,14: 168483 1,65: 154409 2,1: 92145 2,20: 5653 2,102: 5653 3,8–9: 142 5,1–2: 6933 5,2: 117239, 142351 5,5: 7252 5,5–7: 143–144 5,6: 162446 5,9–95: 145–146 5,48: 175522 5,79: 5754 Hortensius 19 (Grilli): 6410 58 (Grilli): 649 inv. 1,1–5: 64 1,2–3: 84111 1,4–5: 190596 1,6: 130302 1,29: 101181 1,32: 83106 2,1–5: 20668 Lael. 18–19: 180551 58: 164453 leg. 1,54: 117239 1,58–62: 84110 1,58–62: 170494 3,14–15: 7040

241

242 Manil. 1: 120257, 160437 Mil. 1: 120257, 160437 Mur. 29–30: 95157 nat. deor. 1,5–12: 104190 1,8: 165464 1,17: 137338 1,18: 108206 1,59: 137338 1,108: 183562 1,113: 137338 1,122: 173513 2,1–2: 137338 2,148: 84110, 85114 off. 1,1–2: 177–178 1,1–6: 160–169 1,2: 131305, 171, 181556 1,4: 133317, 171501 1,18: 181556 1,18–151: 181 1,28: 181558 1,32–33: 182561 1,37: 5970 1,42–60: 182 1,77: 115233 1,77–78: 192–193 1,78: 168484, 186579, 191600–601 1,93–151: 182–185 1,121: 192 1,132: 187585 1,132ff.: 164454 1,133: 171502 1,134–137: 185574 1,151: 173513 2,1–8: 169–171 2,31–85: 185–190 2,45: 148375 2,48: 194 2,48ff.: 164454 2,67: 165459, 193 3,1–6: 171–175 3,2: 189593 3,3: 170493, 186581 3,5: 161439, 179547, 181552

Register

3,5–6: 149387 3,6: 186580 3,7: 170497 3,11–120: 176532 3,14: 152395, 180549 3,16: 180551 3,58: 181558 3,79–81: 7676 3,121: 119251, 176–178 opt. gen. 13: 5017 orat. 12: 171502 35: 118247 40: 144358 41–42: 139342 44: 20559 52: 164457 54: 118247 62: 133317–318 99: 167473 129: 190595 226: 5017 part. 1: 91140 132: 119251 140: 118247, 119251, 176527 Phil. 1,15–6: 163450–451 2,1: 190595 2,34: 151392 3,19: 7252 3,22: 135325 4,12: 85117 5,21: 163450 5,31: 163450 5,34: 163450 5,38: 163450 5,40: 163450 5,45: 163450 5,53: 163450 10,24: 163450 11,1–9: 151391 11,23: 104189 11,40: 163450 14,29: 163450 14,35: 163450 Planc.

Index locorum

23: 111218 51: 142349 Q. Rosc. 20: 101181 Rab. perd. 1: 160437 Rab. Post. 2: 173510 rep. 1,37: 119255 3,6,9: 5334 6,18: 172504 Sest. 144: 8199 Tim. 2: 161441 Tusc. 1,1: 7884 1,7: 6618, 90136, 133317, 135328, 167479, 177 1,82: 136: 329 1,119: 171500 2,4: 6515 2,5: 6516 2,11: 170492 2,13: 171500 2,62: 6936 3,6: 6515 3,10–19: 7249 4,5: 5332 5,2: 137336 5,5: 6517 5,5–6: 170494 Verr. 2,5,187: 100175 Cicero Sohn Cic. fam. 16,21: 152–158 16,21,4–6: 162446 16,21,8: 175523 Clemens Alexandrinus Paed. 2,10,110: 183566 Columella 11,1: 5652

Corpus Inscriptionum Latinarum I 2662: 87124 I2 10: 192608 Demosthenes [Ep.] 3,11: 2041 Or. 2,20: 214115 10,73: 191604 11,13: 214115 18,247: 173513 60,37: 19104 [61]: 30–31: [61,40]: 172505 [61,42]: 166467 Diodorus Siculus 26.1.1: 5017 Dionysios von Halikarnass [Rh.] 5,1: 1827 6,4: 2571 Amm. 1,3: 5019 Comp. 1,3–4: 32–33: 20,17–18: 33: 25,5: 33111 26,18: 176528 Dem. 44,3: 3096 45,3: 151394 Isoc. 6,3: 1929 Ennius ann. fr. 11 (Skutsch): 5018 fr. 213f. (Skutsch): 5549 Epicharmos fr. 218 PCG: 7674

243

244 Epikuros ep. 3: 35 Sent. Vat. 74: 154409 Eupolis 102,5–7 PCG: 5230 Gellius 6,3,7–55: 498 13,9,2: 157420 Germanicus 303: 136332 Gorgias Hel. 8–13: 2459 Hermippos fr. 64 (Wehrli): 1932 Hermogenes [Meth.] 25: 1827 Historia Augusta Tac. 4,4: 7039 Homeros Il. 9,443: 124275 11,514: 33109 Od. 13,1–2: 135329 15,125–128: 32106 Horatius carm. 1,1,4–6: 134322 2,7: 152400 epist. 1,7,69–70: 154408 2,1,50: 5018 2,2,41–52: 152400 2,2,45: 117239

Register

Iamblichos 96,1–11: 185576 Isokrates Ep. 7,7–9: 2673 9,11: 2673 Or. [1]: 28–30 [1,2]: 189592 [1,3]: 16348 [1,44]: 20 2: 18–24 2,1: 32105 2,1–2: 173514 2,4: 2881 2,10–11: 7459 2,13: 2993, 8093 2,16: 6828 2,23: 7148 2,27–29: 6827 2,32: 7146 2,50–52: 162445 2,54: 8093, 173515 3: 18–24 3,1–9: 6934 3,2: 174516 3,5–6: 84111 3,7: 168480 3,10: 7043 3,36–39: 6829 3,44: 7146 4,48–9: 2462 4,75: 2249 5,109–112: 2673 8,141: 192606 9: 24–27 9,3: 7146 9,50–51: 6934 9,60: 7148 9,76–81: 172–173, 175, 192610 9,79: 6932, 7252, 143355 9,81: 131305, 166467 10,8–13: 2460 12,3: 2145 12,10: 105197 12,11: 2142

Index locorum

13: 2253, 2460 15,67–73: 1933 15,72–73: 2250 15,84–5: 2255, 144359 15,161–2: 2357 15,184: 2145 15,199–200: 2674 15,203–4: 2356 15,253–7: 2462 Iulius Victor rhet. p.3 (Giomini/Celentano): 5652 Iuvenalis 7,197–8: 4429 Livius 34,15,9: 5123 39,40,4–8: 483 Lucretius 1,936–49: 215121 2,1–2: 136332 Lukianos Somn. 6: 183566 Menander Rhetor 388–394: 184570 Nepos Cat. 3,2: 499, 5015 3,3: 4911 Nonius Marcellus 4,275 (Mercier): 148376 Ovidius am. 3,4,17: 20771 ars 1,472: 93148 epist. 17,235–6: 136332

met. 13,121–122: 216 Platon [Alc. 1] 104a–134c: 15–17 105e4–5: 168486 127d8–e2: 169489 Ap. 25e3: 153403 29d–e: 147 30b: 147 33b3: 91142 36c–d: 147 Clit. 407a–410a: 14 407b1–5: 2887 Crit. 54d2–5: 172504 Ep. 326a7–b4: 7038 Euthd. 278e–307c: 14–15 Euthphr. 3d9: 91143 Grg. 448d9: 91142 449a2–4: 92 458c2–5: 91 506b2–3: 91142 Menex. 247a6–b4: 191606 Phaedr. 229b: 117293 261a–b: 121262 279a5–b1: 139345 Phd. 61a1: 7252, 143355 84c1–2: 135329 Prt. 310d5–6: 101177 310d–e: 184569 315a6–b2: 5230 319e–320b: 1618 328d4: 5231 337d–e: 174517 342e–343b: 5755

245

246 R. 343b: 6937 473c11–d5: 7038 536c2: 5439 Plautus Amph. 735: 154408 804: 154408 Plinius maior nat. 7,112: 5335, 5440, 152399 7,171: 5652 14,147: 157418 18,174: 5652 29,27: 5652 Plutarchos Moralia [2e5–8]: 109211 [4c–d]: 5866 1,38d7–e3: 93147 1,39a10–b2: 93148 273e10–f3: 5970 800b3–4: 6932 Brut. 24: 152400 45: 158425 Caes. 3: 152397 Cat. Ma. 2,5: 5015 4,1–2: 50 4,3: 5121 11,4: 5442 12,5: 6182 14,2: 5123 20,1–6: 5866 20,6–7: 5969 21,8: 6180 22,1: 5227 22,2: 5228 22,3: 52 22,5–7: 5338 23,1: 5439, 5443 23,2: 5546, 5547, 5651, 5864, 6178 23,3: 5650

Register

23,7: 5229 Cic. 4,6–7: 163452 24,7–8: 179546, 162442, 157420 24,8–9: 156414 45: 158425 49,6: 158427 Dem. 11: 7673 Pomp. 42,5: 152399 75,3: 161440 Poseidonios fr. 178 (Theiler): 4913 Prodikos 84,2 (Diels-Kranz): 183566 Quintilianus inst. 1 pr. 1: 4218 1 pr. 6: 4217, 8198 1 pr. 9: 4321 1,2,25: 4220 2,5,10: 20770 2,5,20: 19710 2,5,21: 4910 2,16: 42–43 3,1,4–5: 215121 3,1,19: 5860 3,3,5: 20560 4 pr. 2–3: 43 5,12,20: 20347 6 pr. 1–2: 4216 8,2,18: 19710 8,6,67: 189592 10,1,3: 20667 10,1,8: 20667 10,1,39: 19710 10,1,91–92: 4328 10,1,112: 43 10,2,1: 20667 12,1,1: 43, 5861, 20245 12,1,35: 5335 12,3,9: 4910 12,11,23: 482

Index locorum

Quintus Cicero pet. 74–77 Rhetorica ad Herennium 1,7: 8093 3,17: 20559 Sallustius or. Lep. 24: 214115 Seneca philosophus benef. 4,30,2: 157418 clem. 1,5–6: 7148 dial. 3,14,1: 186581 12,2,4: 19920 12,17,3: 213113 epigr. 49,5–6 (Prato): 216126 epist. 40,12: 19928 49,2: 19925 55,11: 154408 94,27: 57: 100,12: 213111 108,17–22: 19926, 213113 Seneca rhetor contr. 1 pr.: 196–197 1 pr. 1: 205, 20986 1 pr. 2–5: 20454 1 pr. 6–10: 20241 1 pr. 6: 20668, 20986 1 pr. 8: 20346 1 pr. 9: 5652, 202 1 pr. 10: 20451 1 pr. 11: 204 1 pr. 12–24: 201, 20988 1 pr. 18–19: 20454 1 pr. 22: 20030, 20033, 20134, 20987 1 pr. 24: 20564, 20988 1,1,13: 20557

1,3,11: 212104 1,5,9: 20452 1,8,16: 214120 2 pr.: 20029, 212 2 pr. 1: 212106, 20880 2 pr. 1–3: 213107 2 pr. 2: 213111, 216138 2 pr. 3: 20992, 210, 216 2 pr. 4: 19921, 210, 212 2 pr. 5: 20774, 213108 2,1,25: 213109 2,1,36: 20881 2,2,8: 20776, 20880, 216131 2,2,9: 216132 2,2,12: 20138, 20452, 216134 2,4,12–13: 20562, 20775 2,5,11: 20881 2,5,13: 20881 2,5,18: 213109 3 pr. 3: 20557 3 pr. 8: 21093 3 pr. 8–18: 212102 3 pr. 16–17: 20879 3 ex. 7: 216137 4 pr. 1: 176530, 20563 7 pr. 1–9: 20989 7 pr. 4: 213110 7 pr. 5: 20883 7,4,10: 20665, 20666 9 pr. 1: 20140 9 pr. 1–5: 20139, 212102 9 pr. 2: 206 9,1,13–14: 1979, 214115 9,2,23: 20877 9,2,26: 1979 9,2,27: 20770 9,3,12: 20885 9,3,13: 163452 9,5,17: 216135 10 pr. 1: 20135, 212 10 pr. 2–3: 20882 10 pr. 12: 20878, 20885 10 pr. 13: 206, 20880, 20988 10 pr. 14: 211 10 pr. 15: 20881 10 pr. 16: 21199 10,1,13: 20775, 20884

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248 10,4,23: 163452, 20557 10,4,25: 216137 suas. 1,9: 213109 1,16: 20771 2,12: 213112 3,7: 20881 4,5: 20135 6,16: 214, 19923 6,22: 215124 6,25: 215125 7,13: 19814, 20879 7,13–14: 157418 Suetonius Dom. 15,1: 4326 gramm. fr. 40 (Brugnoli): 4323 Vesp. 18,1: 4324 vita Lucani 50: 216129 Tacitus ann. 6,3: 212103 13,2,1: 19928 13,45,1: 19921 16,17,1–5: 19918 dial. 14,3: 20773 30,5: 165459 34: 108210 40,1: 115232 Terentius Haut. 195–196: 176528

Register

Themistios 9: 36 22,280: 183566 Theopompos FGrHist 115 F 103,12: 1935 FGrHist 115 F 114: 2675 Thukydides 2,45: 191605 2,51,4: 5547 Tibullus 1,4,17–20: 93148 Valerius Maximus 4,4,10: 191602 7,2, ext. 4: 7038 8,7, ext. 1: 5017 Vergilius Aen. 3,718: 136329 vita Lucani 2,22 (Braidotti): 216128 Xenophon HG 7,5,16: 191604 Mem. 1,2,8: 153403 1,2,24: 153403 2,1,21–34: 183–184 2,6,39: 99170, 185576 3,6: 147, 91143 4,2: 147 4,2,39: 125280

Stichwörter

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Stichwörter – in Auswahl und zur Ergänzung des Inhaltsverzeichnisses – Alter (Lebensalter) 28, 41, 50, 81 f., 90, 98, 104 ff., 112, 129, 139, 152, 162, 167 ff., 179, 187, 196 f., 204 Anstrengung 21, 27, 61, 102, 109, 116, 174, 184 ff., 194, 201 Begabung 42, 93 ff., 109 ff., 118, 122, 141, 180, 184, 210 Beratung, Berater 17 ff., 21 ff., 41, 59, 66 ff., 130 f., 162 f. Deklamation, Deklamator 196 ff. Enkomion 25 ff., 31, 36, 69, 116, 125, 170 f., 219 Epideixis 13 f., 52 f., 92, 133, 167, 194, Fortschritt 21, 26, 39, 43, 61, 72, 81, 87 ff., 109, 148 ff., 166, 175 ff., 180, 206 ff. Fürstenerziehung 21 ff., 34 f., 61, 71, 111 Gabe 20 ff., 28, 31 ff., 38 f., 42, 73, 80, 118 f., 173, 176 ‚Hören wollen‘ 91 f., 100, 114, 119, 138, 141, 200 f. Lehrbuch 44, 59, 81 ff., 99, 106, 123, 128 f., 135, 141, 159, 207 Lehrvortrag 52 f., 90 ff., 98, 107, 113 ff., 117 ff., 122, 135 ff. Lob der Beredsamkeit 24, 42, 64, 84 f., 107 f., 115, 168, 187 f. Lob der Philosophie 65, 170 maius-Motiv (Rhetorik) 22, 80 f., 89, 116 f., 121, 129, 136, 141, 183, 188, 194, 203

Orakel 56 f., 202 Paränese 13 ff., 18 ff. und passim περὶ βασιλείας 19, 66 Philosophenkönig 54, 69 f., 76 f., 134 Protreptik 13 ff., 18 ff. und passim Protreptikos 22, 25, 29 f., 34 f., 65, 77, 170 Scheitern 26 f., 31 ff., 72, 111, 166, 174 f., 181, 194, 210 Schulrhetorik 45, 124 ff., 130, 188 Selbstreflexion 16 f., 26, 43, 57, 125, 166 Theater 69 Thesis 82, 103, 128 f., 199 Training (Übung) 29, 34, 51 ff., 72, 76, 93 ff., 106, 109 f., 128, 162, 185, 201, 213, 220 Transfer 45 ff. Transformation 45 ff. Vater, Väter 19, 26, 28 ff., 32, 41, 58 ff., 63, 104, 134, 147 ff., 160 ff., 176 ff., 190 ff., 197 ff., 211 ff. Veri simile 103, 170 Vir bonus 43, 59 f., 99, 111, 124, 180, 202 f. Vollkommener Redner 43, 99, 124 ff., 134 ff., 141, 189 f. Wettstreit 22, 33, 42, 51, 65, 72, 80, 85, 115, 133 f., 205, 208

a lt e rt u m s w i s s e n s c h a f t l i c h e s ko l l o q u i u m Interdisziplinäre Studien zur Antike und zu ihrem Nachleben Herausgegeben von Rainer Thiel und Meinolf Vielberg. Wissenschaftlicher Beirat: Walter Ameling (Köln), Susanne Daub (Jena), Michael Erler (Würzburg), Angelika Geyer (Jena), Jan Dirk Harke (Jena), Christoph Markschies (Berlin), Norbert Nebes (Jena), Tilman Seidensticker (Jena), Timo Stickler (Jena) und Christian Tornau (Würzburg).

Franz Steiner Verlag

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ISSN 1438–0552

Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg (Hg.) Leitbilder der Spätantike – Eliten und Leitbilder 1999. 133 S. und 8 Taf. mit 15 s/w-Abb., kt. ISBN 978-3-515-07547-3 Detlef Lotze Bürger und Unfreie im vorhellenistischen Griechenland Ausgewählte Aufsätze. Hg. von Walter Ameling und Klaus Zimmermann 2000. 318 S., geb. ISBN 978-3-515-07673-9 Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg (Hg.) Leitbilder in der Diskussion 2001. 120 S., kt. ISBN 978-3-515-07852-8 Claudia Sode Jerusalem – Konstantinopel – Rom Die Viten des Michael Synkellos und der Brüder Theodoros und Theophanes Graptoi 2001. 316 S., kt. ISBN 978-3-515-07711-8 Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg (Hg.) Leitbilder aus Kunst und Literatur 2002. 164 S. mit 32 Farb- und 12 s/w-Abb., kt. ISBN 978-3-515-08046-0 Walter Ameling (Hg.) Märtyrer und Märtyrerakten 2002. 148 S. und 12 Taf. mit 19 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08234-1 Günther Schörner Votive im römischen Griechenland Untersuchungen zur späthellenistischen und kaiserzeitlichen Kunst und Religionsgeschichte 2003. XVIII, 638 S. und 100 Taf., geb. ISBN 978-3-515-07688-3 Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg (Hg.)

Leitbild Wissenschaft? 2003. 216 S. mit 6 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08348-5 9. Oliver Ehlen Leitbilder und romanhafte Züge in apokryphen Evangelientexten Untersuchungen zur Motivik und Erzählstruktur (anhand des Protevangelium Jacobi und der Acta Pilati Graec. B) 2004. 312 S., kt. ISBN 978-3-515-08470-3 10. Stefano Conti Die Inschriften Kaiser Julians 2004. 224 S. und 13 Taf., kt. ISBN 978-3-515-08443-7 11. Sabine Anselm Struktur und Transparenz Eine literaturwissenschaftliche Analyse der Feldherrnviten des Cornelius Nepos 2004. 204 S. mit 25 Tab., kt. ISBN 978-3-515-08478-9 12. Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg Der Fremde – Freund oder Feind? Überlegungen zu dem Bild des Fremden als Leitbild 2004. 168 S., kt. ISBN 978-3-515-08577-9 13. Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg (Hg.) Zwischen Historiographie und Hagiographie Ausgewählte Beiträge zur Erforschung der Spätantike 2005. 107 S. und 2 Taf., kt. ISBN 978-3-515-08661-5 14. Judith Steiniger P. Papinius Statius, Thebais Kommentar zu Buch 4, 1–344 2005. 181 S., kt. ISBN 978-3-515-08683-7

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Sabine Hübner Der Klerus in der Gesellschaft des spätantiken Kleinasiens 2005. 318 S. mit 3 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-08727-8 Jürgen Dummer Philologia sacra et profana Ausgewählte Beiträge zur Antike und zu ihrer Wirkungsgeschichte. In Verb. mit Roderich Kirchner und Claudia Sode hg. von Meinolf Vielberg 2006. 408 S. mit 5 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08663-9 Johannes Hahn / Meinolf Vielberg (Hg.) Formen und Funktionen von Leitbildern 2007. 321 S. mit 1 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08998-2 Dagmar Hofmann Suizid in der Spätantike Seine Bewertung in der lateinischen Literatur 2007. 250 S., kt. ISBN 978-3-515-09139-8 Jürgen Dummer / Meinolf Vielberg (Hg.) Leitbilder im Spannungsfeld von Orthodoxie und Heterodoxie 2008. 178 S., kt. ISBN 978-3-515-09241-8 Stefan Freund / Meinolf Vielberg (Hg.) Vergil und das antike Epos Festschrift für Hans Jürgen Tschiedel. Hg. in Verbindung mit Volker Michael Strocka und Raban von Haehling 2008. XV, 565 S. mit 18 Abb., 4 Diagr., 5 Tab. und 1 farb. Falttaf., geb. ISBN 978-3-515-09160-2 Walter Ameling (Hg.) Topographie des Jenseits Studien zur Geschichte des Todes in Kaiserzeit und Spätantike 2011. 193 S. mit 3 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09882-3 Oliver Ehlen Venantius-Interpretationen Rhetorische und generische Transgressionen beim „neuen Orpheus“ 2011. 479 S. mit 5 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09872-4 Meinolf Vielberg (Hg.) Die klassische Altertumswissenschaft an der Friedrich-SchillerUniversität Jena

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Eine Ringvorlesung zu ihrer Geschichte 2011. 256 S. mit 23 Abb. und 1 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09865-6 Peter Kritzinger Ursprung und Ausgestaltung bischöflicher Repräsentation 2016. 340 S. mit 16 Abb., kt. ISBN 978-3-515-11499-8 Judith Hagen Die Tränen der Mächtigen und die Macht der Tränen Eine emotionsgeschichtliche Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie 2017. 356 S., kt. ISBN 978-3-515-11852-1 Lydia Merkel Von der Fabeldeutung mit dem Zauberstab zum modernen Mythenverständnis Die Mythentheorie Christian Gottlob Heynes 2019. 350 S. mit 1 Abb. und 23 Diagr., kt. ISBN 978-3-515-12489-8 Meinolf Vielberg (Hg.) Universitäts- und Bildungslandschaften um 1800 200 Jahre Philologisches Seminar in Jena 2020. 203 S. mit 14 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12580-2 Beate Klein Der bunte Roman Der Farbgebrauch im antiken und christlichen Roman unter besonderer Berücksichtigung von Petrons Satyrica, den Metamorphosen des Apuleius und den pseudoklementinischen Rekognitionen 2022. 172 S. mit 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09046-9 Johannes Breuer Rhetorik und Religion Die Bewertung und Nutzung paganer Wissensfelder bei Arnobius von Sicca 2021. 476 S., kt. ISBN 978-3-515-12946-6 Michail Grazianskij Kaiser Justinian und das Erbe des Konzils von Chalkedon 2021. 317 S., kt. ISBN 978-3-515-08842-8

Die antike Rhetorik dient nicht nur der Produktion und Rezeption von Texten, sondern ist auch Teil des Erziehungswesens der Antike. Wer in der Beredsamkeit Unterricht anbietet, muss sein Selbstverständnis darstellen und für sich werben, besonders wenn er mit den Angeboten anderer um die Gunst der Schüler konkurriert – diese Werbung für Rhetorik wird unter dem Begriff Protreptik zusammengefasst. In literarisch geformten Texten entsteht ein eigenes Motiv der Protreptik zur Rhetorik, als in Griechenland Redner und Redelehrer beginnen, in Auseinandersetzung mit der Sophistik und der Philosophie für ihr Angebot zu werben.

ISBN 978-3-515-13291-6

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Roderich Kirchner zeigt, dass sich, ausgehend insbesondere von Isokrates, eine wirkmächtige Tradition herausbildet, die in der römischen Literatur seit Cato dem Älteren erstmals sichtbar wird, in Ciceros Werken ihren Höhepunkt erreicht, aber auch in der frühen Kaiserzeit bei Seneca dem Älteren noch angewendet wird. Dabei werden die Motive kontinuierlich den veränderten literarischen, politischen und sozialen Bedingungen angepasst, so dass diese Tradition in einem mehrdimensionalen, situativen Prozess umgestaltet und so lebendig gehalten wird.

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