Profiteur der Krise: Staatssicherheit und Planwirtschaft im Chemierevier der DDR 1971–1989 [1 ed.] 9783666310614, 9783525310618

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Profiteur der Krise: Staatssicherheit und Planwirtschaft im Chemierevier der DDR 1971–1989 [1 ed.]
 9783666310614, 9783525310618

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Analysen und Dokumente Band 52 Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)

Vandenhoeck & Ruprecht

Mark Schiefer

Profiteur der Krise Staatssicherheit und Planwirtschaft im Chemierevier der DDR 1971–1989

Vandenhoeck & Ruprecht

Umschlagabbildung: Straße nach Wolfen am Chemie-Kombinat in Bitterfeld im Morgenlicht, Dezember 1989 Bildrechte: picture alliance/dpa-Zentralbild, Fotograf: Paul Glaser

Mit 8 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-1064 ISBN 978-3-666-31061-4 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Die vorliegende Arbeit wurde 2017 am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. 

Inhalt

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.1 Thema der Arbeit: Die Überwachung der DDR-Chemieindustrie . 11 1.2 Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.3 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.4 Quellengrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.5 Literatur und Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.6 Die Chemiekombinate Bitterfeld, Leuna und Buna – Entstehungsgeschichte und gemeinsame Merkmale . . . . . . . .

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2. Die Einbindung der Staatssicherheit in die Planwirtschaft . . . . . . . . 59 2.1 Generalkontrollbeauftragter der SED: Über die Zuständigkeiten und Funktionen des MfS in der Planwirtschaft . . . . . . . . . . . 60 2.2 Der Gegenstand der Überwachung: Schauplätze und Akteure der Planwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Das Anliegen der sozialistischen Wirtschaftsordnung . . . 2.2.2 Grundsatzplanung und Interventionsrecht: Die politische Führungsrolle der SED . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Begrenzte Mitbestimmung: Die Rolle der Betriebe im Prozess der Planung und Planumsetzung . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Betriebe unter Aufsicht: Die Vielfalt der Plankontrollen . . 2.2.5 Trennung von Produktion und Handel: Das Außenhandelsmonopol . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Einbettung des MfS in die Planwirtschaft: Die Linie XVIII . 2.3.1 Die Hauptabteilung XVIII . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Die Abteilung XVIII der Bezirksverwaltung Halle . . . . . 2.3.3 Die Präsenz des MfS im Betrieb: Die Objektdienststellen in den Kombinaten Buna, Leuna und Bitterfeld . . . . . . . .

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Inhalt

2.4 Arbeitsmethode I: Die inoffiziellen Mitarbeiter . . . . . . . . . . . 96 2.4.1 Die Eigenschaften des IM-Bestands der Linie XVIII . . . . 99 2.4.2 Im Zentrum der IM-Werbung: Reisekader und Führungskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2.4.3 Anleitung und Zusatzbelastung: Die Arbeitsaufträge des MfS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2.4.4 Weltanschauliches Engagement, Rückversicherung oder normale Berufspflicht? Über die Motivlage der inoffiziellen Mitarbeiter in den Chemiekombinaten . . . . . . . . . . . 110 2.4.5 Kombinatsspitze unter Kontrolle: Die Überwachung des Generaldirektors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 2.4.6 Vertrauensmann des MfS: Der Sicherheitsbeauftragte als inoffizieller Mitarbeiter der besonderen Art . . . . . . . . 122 2.4.7 Löcher im Netzwerk: Die schwierige IM-Rekrutierung unter Arbeitern, Jugendlichen und ausländischen Fachkräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2.5 Arbeitsmethode II: Die offizielle Zusammenarbeit im Betrieb . . 146 2.5.1 Kollegialität auf Leitungsebene: Die Zusammenarbeit zwischen dem Generaldirektor und dem Leiter der Objektdienststelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2.5.2 Plankontrolle, Plandruck und Planlogik – oder: Das MfS als integraler Bestandteil der Planwirtschaft . . . . . . . . 152 2.6 Arbeitsmethode III: Die Überwachungsvorgänge des MfS . . . . 160 2.6.1 Der Operative Vorgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2.6.2 Die Operative Personenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . 165 3. Verflechtung als Risiko – Die Überwachung der Chemiekombinate unter den Bedingungen der ökonomischen Öffnung der DDR 1971–1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 3.1 Wachstum durch Wohlfahrt: Die neue Wirtschaftspolitik seit dem VIII. Parteitag der SED im Jahr 1971 . . . . . . . . . . . . 174 3.2 Öffnung als Sachzwang: Der Aufschwung des Westhandels als Grundlage einer neuen Konsum- und Sozialpolitik . . . . . . . . 185 3.3 »Tarnfirmen« und »Kontrahenten«: Westliche Unternehmen in der Vorstellungswelt des MfS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

Inhalt

3.4 »Ansatzpunkte für Feindangriffe« – Der misstrauische Blick des MfS auf die Führungskräfte im Kombinat . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Zeitaufwendig, politisch und restriktiv: Die »Sicherheitsüberprüfung« des MfS als entscheidende Etappe des Kaderbestätigungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Unter Rechtfertigungsdruck: Die Anleitung der Außenhändler durch Direktiven und Berichtspflichten . . . . . . 3.4.3 Im Dienste des MfS: Die Reisestelle des Kombinats . . .

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3.5 »Stützpunkt« der BASF? Die Westabhängigkeit der Wolfener Farbenfabrik als Ermittlungsgegenstand des MfS . . . . . . . . . 216 3.5.1 Abschluss mit Hindernissen: Die »operative« Arbeit zwischen schrankenloser Überwachungspraxis und begrenzter Sanktionsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 4. Absicherung einer Krisenbewältigung – Die Rolle des MfS in der Phase der Verschuldung und Konsolidierung 1977–1983 . . . . . . . . . . . 235 4.1 Handel im Defizit – über die inneren und äußeren Ursachen einer neuen ökonomischen Herausforderung . . . . . . . . . . . 236 4.1.1 Blockierte Führung: Der Aufschub von Reformen und die Eskalation der Schuldenkrise . . . . . . . . . . . . . . . . 240 4.2 Aufruf zur Abschottung: Die drohende Zahlungsunfähigkeit der DDR und der Lösungsansatz des MfS . . . . . . . . . . . . . . 245 4.3 Konsolidierungsschritt I: Die Lockerung des Außenhandels­ monopols und die schrittweise Einbindung der Kombinate in den internationalen Warenaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . 248 4.3.1 Reformen ohne Wirkung: Die Organisation des Außenhandels als ökonomisches Hemmnis . . . . . . . . . . . . 254 4.3.2 Nutznießer im Kompetenzgerangel: Die Ermittlungen des MfS im Spannungsfeld der Außenhandelsakteure . . . . . 259 4.4 Konsolidierungsschritt II: Aufbau einer gesonderten Außenhandelsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Das Verhältnis von MfS und KoKo . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Vermittler unter Verdacht: Das Vertretergeschäft im Blick des MfS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 »Ein zu großes Risiko« – Die Überwachung der Essener Handelsfirma Plast-Elast-Chemie (Plel) . . . . . . . . . .

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Inhalt

4.5 Konsolidierungsschritt III: Braunkohle fördern, Erdöl veredeln und Material einsparen – Über die »letzte Langfriststrategie« der SED . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 4.5.1 Carbochemie und Höherveredelung: Die Umsetzung der Entschuldungspolitik in den Chemiekombinaten am Beispiel der Leuna-Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 4.6 Mehr als nur Entschuldung: Die Methode der Kompensation als Versuch einer umfassenden industriellen Erneuerung . . . . . . 298 4.6.1 In der Einkaufsfalle: Die ökonomischen Folgen der Kompensationsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 4.6.2 Gesetzgebung, Pläne, Inspektionen: Das Vertrauen des Staates auf Anleitung und Kontrolle . . . . . . . . . . . . 305 4.7 Das MfS als eine weitere Komponente der staatlichen Krisenreaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.1 Überwachung einer Führungskraft: Die passive Beobachter­ rolle des MfS gegenüber dem Betriebsdirektor für Erdöl/ Olefine in den Leuna-Werken . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.2 Die Überwachung eines größeren Investitionsprojekts: Die Stabilisierung der neu erworbenen Methanolanlage mit geheimpolizeilichen Mitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.3 Überwachung eines zentralen Betriebsbereiches: Die Disziplinierung der Hauptabteilung Absatz in Buna . . . . . .

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4.8 Fehlerquelle »Mensch« – Über die Personalisierung von Strukturproblemen und die Vorstellung von der »objektiv richtigen« Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 4.9 Ehrlichkeit als Verhängnis – Paul Just und die Suche des MfS nach den »subjektiven« Problemursachen . . . . . . . . . . . . . 324 4.10 Druck statt Hilfestellung – Die ausbleibende Steuerungsleistung des MfS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 4.11 Kollektive Bestrafung – Die Reaktion des MfS auf die Flucht des Abteilungsleiters für Lizenzen im Kombinat Buna . . . . . . . . 337 5. Staatssicherheit in der Gefahrenzone: Die ökonomische Überforderung der Chemiekombinate und die Suche des MfS nach politischer und technischer Stabilität 1984–1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

Inhalt

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5.1 Erfolgreiche Entschuldung: Der Ausgleich der Außenhandels­ bilanz und die Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit . . . . . 355 5.2 Die Kosten der Konsolidierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Kosten für die Verbraucher: Die Reduzierung der Versorgung für Privathaushalte und Betriebe . . . . . . . . . . . 5.2.2 Kosten für die natürliche Umwelt: Die ökologischen Folgen der Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Kosten für die industrielle Substanz: Die Umschichtung und Absenkung von Investitionen und der Verfall der Industrieanlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.3 Dynamik des Niedergangs: Der betriebliche Arbeitsalltag zwischen Verschleiß, Abwanderung, Überlastung, Produktions­ störung – und noch mehr Verschleiß . . . . . . . . . . . . . . . 365 5.4 Den Teufelskreis durchbrechen: Fünf Notmaßnahmen für eine Stabilisierung der Produktionsbetriebe . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Krisenreaktion I: Anreize gegen Abwanderung – die Bindung, Mobilisierung und Belehrung der Industriebeschäftigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Krisenreaktion II: Der Einsatz von Arbeitskräften unter Zwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Krisenreaktion III: Instandhaltung von Altanlagen – Das Bitterfelder »RSM«-Programm als Fallbeispiel . . . . 5.4.4 Krisenreaktionen IV und V: Analyse und Kontrolle – Die Produktionssicherheit der Chemiekombinate als Angelegenheit des MfS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Gutachter des Verfalls: Die analytische Seite des MfS . . . . . . 5.5.1 Detailfülle, Dramatik – aber nur wenig Erkenntnis: Die begrenzte Aussagekraft der MfS-Analysen . . . . . . 5.5.2 Mahner ohne Einfluss – die ausbleibende Wirkung der MfS-Berichterstattung am Beispiel der Salpetersäureanlage in Bitterfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.3 Kommunikationsstrecke und ersehntes Korrektiv – Das MfS als Ansprechpartner frustrierter Funktionäre . .

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5.6 Hauptursache: »Schlamperei« – Die staatlichen Leiter im Fokus des MfS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394

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5.7 Disziplinarische Herangehensweise I: Der offizielle Kontrollgang oder: Das Vertrauen des Staates auf Regularien und Institutionen 400 5.7.1 Aufwand ohne Nutzen: Der kontraproduktive Effekt des ausgebauten Kontrollregimes . . . . . . . . . . . . . . . . 404 5.8 Disziplinarische Herangehensweise II: Abhilfe bei chronischen Schwierigkeiten – Der OV »Reko« und die Klage über eine »Produktionsideologie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 5.9 Disziplinarische Herangehensweise III: Ermittlungen im Ausnahmezustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9.1 Fallbeispiel I: Der Großbrand im VEB Orbitaplast Weißandt-Gölzau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9.2 Fallbeispiel II: Der Tod zweier Häftlinge in den Bitterfelder Chlorfabriken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9.3 Fallbeispiel III: Der drohende Kollaps der Bitterfelder Altanlage für Chlorate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.10 Primat der Produktion und Vorrang des Westens: Die Ursachen für die Passivität des MfS in den Risikofabriken . . 439 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 Literatur- und Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitungsartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nichtveröffentlichte Quellenbestände . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Angaben zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483

1. Einleitung 1.1 Thema der Arbeit: Die Überwachung der DDR-Chemieindustrie Was ist eigentlich »typisch DDR«? Auf diese Frage ließe sich eine Fülle von Dingen aufzählen, etwa Uniformen von Thälmannpionieren oder Plattenbauten, Simson-Mopeds oder SED-Embleme, allesamt Themen und Gegenstände, die viele heute in einem DDR-Museum erwarten würden. Nicht wenige Assoziationen könnten dabei in die Rubriken »Mangelwirtschaft« und »Überwachung« eingeordnet werden. Im öffentlichen Bild von der verschwundenen SED-Diktatur haben sich die veralteten Industriestätten und der überdimensionierte Überwachungsapparat besonders markant eingeprägt. Auffällig ist allerdings, dass beide Phänomene – die DDR als Überwachungs- und als Industriestaat – nur selten im Zusammenhang gesehen werden. In der kollektiven Erinnerung steht beides oft getrennt – die sozialistische Planwirtschaft für schlechte Versorgung und die Staatssicherheit für die Verfolgung von Oppositionsgruppen. Die vorliegende Arbeit möchte die Themen Wirtschaft und MfS zusammenführen. Gegenstand der Untersuchung sind die allgemeinen Funktionen der Staatssicherheit, ihr konkretes Handeln und die Auswirkungen dieses Handelns innerhalb der ökonomischen Sphäre der DDR. Warum hielten sich in den Industriebetrieben der DDR Offiziere einer politischen Geheimpolizei auf? Was machten sie da genau? Und welche Folgen resultierten daraus? Solche und andere Fragen sollen am Beispiel der Chemieindustrie beantwortet werden. Im Zentrum dieser Untersuchung stehen dabei die drei Großkombinate der Chemie Buna, Leuna und Bitterfeld im Bezirk Halle. In ihnen war die Staatssicherheit mit eigenen Offiziersstäben – sogenannten Objektdienststellen – dauerhaft stationiert. Deren Ziele und Arbeitsweisen und die damit verbundenen Konsequenzen auf die betrieblichen Akteure und Abläufe sollen für die zweite Hälfte der DDR-Zeit, also für den Abschnitt zwischen dem VIII. Parteitag der SED im Jahr 1971 und den späten 1980er-Jahren, genauer betrachtet werden. Begründung und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Warum nimmt sich diese Arbeit vor, die Funktionen, Methoden und Auswirkungen des MfS-Handelns innerhalb der DDR-Volkswirtschaft, hier vor allem innerhalb der Chemiebranche, zu untersuchen? Ein entscheidender Beweggrund

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Einleitung

ist zunächst, dass die geheimpolizeiliche Überwachung der Wirtschaft bisher nur in einigen Teilbereichen, etwa dem Hochtechnologiesektor, genauer analysiert wurde. Die Rolle der Geheimpolizei in den übrigen Industriezweigen betrachtete die MfS-Forschung hingegen nur am Rande. Erst jüngst wurde darauf hingewiesen, dass die Relevanz des MfS für die zentrale Wirtschaftslenkung und für die Funktionsweise des DDR-Wirtschaftssystems als Ganzes noch nicht »abschließend geklärt« ist.1 Grundsätzlich schenkte die MfS-Forschung anderen Gesellschafts- und Politikfeldern, wie dem Justizwesen oder der Literaturszene, eine deutlich größere Aufmerksamkeit. Diese Vernachlässigung des ökonomischen Bereichs erstaunt in zweierlei Hinsicht: Erstens weil das wichtigste Projekt der politischen Führung in der DDR – die zentrale Planung und Anleitung von Produktion und Handel – von Beginn an zu den Überwachungsschwerpunkten der Staatssicherheit gezählt hatte. Seit seiner Gründung wurde das MfS angehalten, jede innere und äußere Störung der innerbetrieblichen Abläufe zu erkennen und abzuwehren. Zweitens weil die meisten Bürger der DDR einen erheblichen Teil ihrer Lebens- und Arbeitszeit in den Betrieben verbrachten. In der Arbeits- und Industriegesellschaft der DDR fand die Kontrolle, Steuerung und zum Teil auch die Erziehung des Einzelnen hauptsächlich über die Betriebe statt. Die beiden Aspekte zeigen bereits, dass das Überwachungsfeld »Wirtschaft« nicht ausgespart bleiben kann, will man die Funktionen und Auswirkungen des MfS-Handelns innerhalb der SED-Diktatur genauer einschätzen. Eine Analyse der Wirtschaftsüberwachung des MfS lohnt aber auch aus einem weiteren Grund: In den Betrieben und Kombinaten2 der DDR spiegelten sich die Strategien und Großprojekte der politischen Führung besonders markant wider. Der Untersuchungsgegenstand kann damit Aufschluss geben, ob und wie das MfS als ein Instrument neben vielen anderen bei der konkreten Umsetzung zentraler politischer Vorhaben der SED an der Basis eingebunden war. Doch warum wählt diese Studie gerade die drei Großkombinate der Chemieindustrie im Bezirk Halle als Fallbeispiel aus? Zunächst muss hier auf die erhebliche ökonomische Bedeutung der Chemiebranche im Allgemeinen verwiesen werden. Ihr kam innerhalb der DDR der Rang eines sogenannten Schlüsselsektors zu, also eines Produktionsbereiches, der für alle anderen Industriezweige essenzielle Grundstoffe zur Verfügung stellte und für die wichtigsten wirtschaftspolitischen Großvorhaben wie der Steigerung der Deviseneinnah1  Dierk Hoffmann, Michael Schwartz, Hermann Wentker: Die DDR als Chance. Desiderate und Perspektiven künftiger Forschung. In: Ulrich Mählert (Hg.): Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein altes Thema. Berlin 2016, S. 37. 2  Ein Kombinat ist ein Zusammenschluss von Produktionsbetrieben. Es besteht aus dem Stammbetrieb und einzelnen Kombinatsbetrieben. Beide Begriffe, Kombinat und Betrieb, werden in dieser Arbeit aber mitunter auch synonym verwendet.

Thema der Arbeit

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men oder der Erweiterung des Konsumgüterangebots unverzichtbar war. Die entscheidenden wirtschaftspolitischen Strategien und Zäsuren waren daher in dieser Branche besonders deutlich ablesbar. Ein weiterer Grund für die Konzentration auf die Chemieindustrie im Bezirk Halle hängt mit dieser ökonomischen Relevanz zusammen: die starke Präsenz des MfS vor Ort. In den drei Kombinaten Buna, Leuna und Bitterfeld, die im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen, war die Staatssicherheit sogar mit einer besonderen Struktureinheit vertreten, der oben bereits erwähnten Objektdienststelle des MfS.  Ihr Aufbau und ihre Arbeitsweise sollen hier umfassend beleuchtet werden, vor allem ihre intensive Zusammenarbeit mit anderen Diensteinheiten des MfS und den verantwortlichen Stellen innerhalb des Kombinats, der Wirtschaftsverwaltung und der SED. Damit möchte diese Untersuchung dazu beitragen, die praktische Überwachungsarbeit der lokalen Diensteinheiten des MfS, deren Kontexte und deren konkreten Auswirkungen auf einzelne Akteure und Sachverhalte besser zu verstehen. Darüber hinaus können in den hier untersuchten Chemiekombinaten zwei Phänomene der späten DDR-Wirtschaftsentwicklung, die das MfS als besondere Herausforderung auffasste und die sich daher wie zwei Leitthemen durch diese Arbeit ziehen sollen, besonders gut studiert werden: Öffnung und Krise. Auf der einen Seite erlangte die DDR im Zuge ihrer völkerrechtlichen Anerkennung eine neue Intensität an internationaler Verflechtung, die sich nicht zuletzt in den erweiterten Außenhandelskontakten der drei untersuchten Betriebe widerspiegelte. Auf der anderen Seite zeichnete sich ab Mitte der 1970er-Jahre eine strukturbedingte Finanz- und Wirtschaftskrise ab, die in den drei Chemiekombinaten besonders deutlich zum Ausdruck kam – unter anderem durch überlastete Maschinen, überhöhte Exportauflagen und zahlreiche Produktionsstörungen. Die Untersuchung möchte zeigen, wie von diesen beiden Entwicklungen und den entsprechenden Reaktionen der beiden Steuerungsinstanzen Wirtschaftsverwaltung und SED die Überwachungsarbeit des MfS vor Ort beansprucht und verändert wurde. Schließlich soll noch ein forschungspraktischer Grund für die Auswahl der Hallenser Chemiebranche als Untersuchungsgegenstand angeführt werden: die exzellente Aktenlage – sowohl bei den Beständen der Staatssicherheit als auch bei denen der Kombinate. Allein die Überlieferungen der drei Objektdienststellen Buna, Leuna und Bitterfeld belaufen sich auf über 360 Meter.3 Sie sind damit deutlich umfangreicher als die Ablagen der zum Energiesektor zählenden Objektdienststelle des Gaskombinats Schwarze Pumpe im ehemaligen 3  OD Buna: 241 lfd. M, OD CKB: 28 lfd. M, OD Leuna: 91 lfd. M. Die Bestände aller drei Diensteinheiten sind vollständig erschlossen. Siehe http://www.bstu.bund.de/DE/InDer Region/Halle/Archiv/Bestandsinformationen/Teilbestaende-Diensteinheiten/_node.html, abgerufen am 3.1.2018.

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Einleitung

Bezirk Cottbus.4 Ausgesagt wird damit auch etwas über die oben angesprochene geheimpolizeiliche Relevanz der Chemiebranche und die Betriebsamkeit der MfS-Offiziere vor Ort. Im Unterschied zu den Hinterlassenschaften der Staatssicherheit in der High-Tech-Branche – hier vor allem der Akten der Objektdienststelle im Mikroelektronikkombinat Carl Zeiss Jena – wurde bislang auch nur ein Bruchteil dieser Unterlagen durchgesehen. Mit großer Wahrscheinlichkeit kann darin noch wertvolles Material für die Geschichte des MfS, aber auch für die Erforschung wirtschafts- und alltagsgeschichtlicher Fragestellungen gefunden werden. Eingeschränkt werden soll der Untersuchungsbereich aber nicht nur auf die Chemiebranche und hier auf die drei Chemiekombinate im Bezirk Halle. Heraus­gehoben werden sollen ebenfalls die Überwachungsfelder Produktionssicherheit und Außenhandel, da das MfS seine Überwachungsmaßnahmen auf diese beiden Bereiche besonders fokussierte.5 Ausgespart wird damit der Umgang der Staatssicherheit mit Ausreiseantragstellern und oppositionellen Personengruppen. Auch die Überwachung der Forschung nimmt bei dieser Studie nur einen kleinen Raum ein. Angesichts der chronischen Innovationsschwäche der DDR-Betriebe wäre für letzteres Thema eine eigenständige Untersuchung für den Bereich der chemischen Industrie lohnenswert.

1.2  Fragestellungen In der vorliegenden Arbeit stehen die Funktionen des MfS innerhalb der Chemie­kombinate und der Wirtschaftsordnung als Ganzes, die Art und Weise des »Handelns« der MfS-Offiziere und die damit verbundenen Auswirkungen auf einzelne Akteure und Sachverhalte im Mittelpunkt. Aus diesen grundsätzlichen Analysepunkten lassen sich mehrere konkrete Einzelfragen ableiten, die hier zu fünf Themenbereichen zusammengefasst werden sollen: Erstens die Zuständigkeiten des MfS.  Gefragt werden soll, welche allgemeinen Funktionen und welche konkreten Aufgaben dem MfS von der SED für den Bereich Wirtschaft übertragen wurden und welche grundsätzlichen und fallbezogenen Ziele sich die Offiziere selbst setzten. Warum wurde die Präsenz einer politischen Geheimpolizei in den drei untersuchten Chemiekombinaten als notwendig erachtet? Welche sicherheitspolitischen Risiken nahmen SED und Staatssicherheit jeweils wahr? Und welche Personengruppen und Problemlagen rückten dabei 4  Der Bestand der OD Schwarze Pumpe bemisst sich auf 43 lfd. M. Siehe http://www.bstu. bund.de/DE/InDerRegion/Cottbus/Archiv/Bestandsinformationen/Teilbestaende-der-Dienst einheiten/teilbestand_cbs_od_schw_pumpe.html?nn=1837460, abgerufen am 3.1.2018. 5  Aufgrund der eingeschränkten Befugnisse der Kombinate sind beim Thema Außenhandel auch die für die Chemiebranche zuständigen Außenhandelsbetriebe zu berücksichtigen.

Fragestellungen

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besonders in den Fokus? Herausgearbeitet werden soll, an welchen Stellen im Kombinat das MfS besonders aktiv war und in welchen Bereichen es überhaupt nicht in Erscheinung trat, wo also die Prioritäten der Überwachungsarbeit lagen und ob und wie sich diese mit der Zeit verschoben. Zweitens die Arbeitsweise des MfS.  Um Funktionen, Auftreten und Wirken der Staatssicherheit im Betrieb zu beschreiben, muss zunächst die ganz grundsätzliche Frage gestellt werden, wie die Offiziere im Kombinat überhaupt »handelten«, mit welcher Vorgehensweise sie also versuchten, ihre geheimpolizeilichen Aufgaben und Ziele zu verwirklichen. Wie sahen zum Beispiel die speziellen »operativen« Methoden aus, um ein personenbezogenes Ziel – etwa die Überwachung oder Versetzung eines Beschäftigten – zu erreichen? Mit welchen Mitteln versuchten die Offiziere, bestimmte technische Probleme aufzuklären und zu lösen? Und wie verfolgten die Offiziere – wenn sie es denn überhaupt taten – bestimmte betriebswirtschaftliche Interessen oder Vorstellungen? Gefragt werden soll dabei auch, welcher grundsätzliche Arbeitsstil und welche übergeordnete Strategie bei all diesen Formen des »Handelns« sichtbar werden. Lässt sich im Rückblick ein immer wiederkehrendes Handlungsmuster der hauptamtlichen Mitarbeiter feststellen oder unterlag ihre Arbeitsweise regelmäßigen Neuerungen und Anpassungen? Die Untersuchung möchte das MfS-Handeln dabei nicht isoliert betrachten, sondern all jene Akteure einbeziehen, mit denen die Offiziere innerhalb des Kombinats in engem Austausch standen, hier vor allem die Vertreter der Generaldirektion und der SED-Kreisleitung, die Führungskräfte der Fach- und Betriebsdirektionen sowie die verschiedenen staatlichen und betrieblichen Kontrollorgane. Gemeinsamkeiten in der Denk- und Arbeitsweise, aber auch spezifische geheimpolizeiliche Eigenheiten sollen dabei herausgearbeitet werden. Ein Blick auf die Arbeitstechniken und Herangehensweisen der Offiziere legt dabei auch das allgemeine Verständnis des MfS von den ökonomischen Abläufen und Problemen im Kombinat offen. Wie die Offiziere ihre ökonomische Umwelt betrachteten, zieht sich als grundlegende Frage durch alle Kapitel: Welches Bild von den leitenden Funktionären entwickelte sich bei ihnen? Welche Erklärungen fanden sie für einzelne technische Zwischenfälle und grundlegende strukturelle Probleme? Und welche Einstellung zeigten sie sowohl gegenüber den wirtschaftspolitischen Vorgaben der SED als auch gegenüber dem betriebswirtschaftlichen Handeln der Kombinate? Thema dieser Arbeit ist damit auch das Verhältnis zwischen politischem Sicherheitsdenken und wirtschaftlichem Handeln in der DDR. Unternahmen die Offiziere den Versuch, die übergeordneten Strategien oder einzelne Entscheidungen von SED und Wirtschaftsverwaltung zu behindern oder abzuändern? Lassen sich Bereiche abstecken, in denen Spannungen zwischen der Geheimpolizei auf der einen Seite und der politikgestaltenden Zentrale sowie der Leitung der Kombinate auf der anderen Seite auftraten? Oder kamen sowohl die ökonomischen Planungen der herr-

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Einleitung

schenden Partei als auch die betrieblichen Entscheidungen der Kombinate den Sicherheitsinteressen und der Arbeitsweise des MfS entgegen? Die Frage nach dem Verständnis der Offiziere für ökonomische Abläufe und Entscheidungen verweist bereits auf den dritten Themenkomplex der Arbeit – die strukturelle Einbettung des MfS in das Kombinat. Auch in Bezug auf den organisatorischen Aufbau und die täglichen Arbeitsabläufe soll das Verhältnis zwischen der Geheimpolizei und dem Kombinat herausgearbeitet werden. Traten die Diensteinheiten der Wirtschaftsüberwachung eher als externe, unabhängige Überwacher und Kontrolleure oder als Elemente eines innerbetrieblichen Kontrollregimes auf? Mit wem und durch wen wurden die Offiziere im Werk aktiv? Wie sah die Zusammenarbeit mit der Generaldirektion, mit der SEDParteiorganisation im Kombinat und mit den leitenden Wirtschaftsfunktionären vor Ort aus? Kann die Geheimpolizei auch als betrieblicher Akteur beschrieben werden, der rein ökonomische Aufgaben ausübte und die planwirtschaftliche Denk- und Verhaltensweisen übernahm? Die Betrachtung der Interaktion der Offiziere mit den übrigen Akteuren im Kombinat soll über die Beschreibung struktureller Merkmale der für Wirtschaftsfragen zuständigen Diensteinheiten des MfS – wie Personalbestand, Fachbereiche oder Unterstellungsverhältnisse, die in der Literatur bereits ausführlich dargelegt wurden – hinausgehen.6 Gezeigt werden soll, wie das praktische Handeln der Offiziere innerhalb der vielschichtigen Beziehungsgeflechte eines Kombinats aussah. Im Mittelpunkt steht damit auch der relativ unpolitische Raum der alltäglichen betrieblichen Arbeit. Viertens das MfS und die ökonomische Krise. Legt man den Fokus der Untersuchung auf die Überwachung der ökonomischen Sphäre, steht zwangsläufig auch der Umgang der Offiziere mit der ökonomischen Überforderung der Betriebe und den Funktionsschwächen des planwirtschaftlichen Systems im Mittelpunkt. Aufgeworfen werden soll die Frage, wie das MfS auf die verschiedenen Krisensymptome wie Verschleißerscheinungen bei den Anlagen oder Planrückstände reagierte. Welche Ursachenanalysen fertigten die Offiziere an und welche Strategien der Krisenbewältigung entwickelten sie? Lassen sich Hinweise feststellen, dass das MfS innerhalb der SED und Wirtschaftsverwaltung auf eine bestimmte Form der Krisenbewältigung drängte? Im Raum steht also die Frage, wie eine Geheimpolizei, die sich gemäß ihrer Zweckbestimmung mit einzelnen auffälligen Personen zu beschäftigen hatte, mit einer Strukturkrise fertig wurde, die weder eindeutige Verantwortliche kannte noch einfache und schnelle Lösungen zuließ. Nachgezeichnet werden soll dabei auch der enge Zusammenhang zwischen der übergeordneten ökonomischen Entwicklung, den betriebswirtschaftlichen Entscheidungen innerhalb der drei Chemiekombinate und der Überwachungsarbeit des MfS vor Ort.

6  Siehe hierzu den Literaturüberblick in Abschnitt 1.5.

Fragestellungen

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Und schließlich fünftens die Möglichkeiten und Grenzen der Einflussnahme des MfS.  Die Art und Weise, wie die Geheimpolizei mit der ökonomischen Krise umging, sagt auch etwas über ihren realen Handlungsspielraum aus. In dieser Arbeit soll nicht nur danach gefragt werden, was die Offiziere im Betrieb genau machten, sondern ob sie überhaupt etwas machten, an welcher Stelle sie also tatsächlich aktiv tätig waren und an welcher Stelle sie nicht handelten oder ein aktives Handeln nur vortäuschten. Wie sah die in der eigenen Berichterstattung oft behauptete »Einflussnahme« in der Wirklichkeit genau aus? Kam sie eher auf direktem Weg durch Anordnungen, Verhaftungen oder Blockaden oder eher auf indirektem Weg durch Gespräche, konspirative Aufträge oder dem Beisteuern von Informationen zustande? Darüber hinaus soll die Wirkung und die »Effizienz« dieses Handelns genauer betrachtet werden. Zum einen in Bezug auf einzelne Personen: Inwiefern waren die Offiziere in der Lage, ihre selbstgesteckten personenbezogenen Ziele zu erreichen? Und welche privaten und beruflichen Auswirkungen waren damit für die betroffenen Personen verbunden? Zum anderen in Bezug auf betriebliche Sachverhalte: Gelang es den Offizieren, auch rein ökonomische Ziele zu erreichen? Lässt sich überhaupt irgendein Einfluss ihrer geheimpolizeilichen Aktivitäten auf die Bereiche Produktion, Forschung und Handel feststellen? Und wenn ja, führte die Überwachungsarbeit der Offiziere dabei vielleicht sogar zu einer Verschärfung einzelner, oft systembedingter Probleme? Oder trug sie dazu bei, diese zu überwinden? Wirkte das MfS an einigen Stellen möglicherweise pragmatisch kompensierend oder korrigierend innerhalb der oft starren und ungenügend abgestimmten Planabläufe innerhalb der Zentralverwaltungswirtschaft? Achtet man auf die personenbezogene Sanktionsfähigkeit und die sachbezogene Lösungskompetenz des MfS wird schnell deutlich, dass die »operative« Arbeit der Offiziere in den drei untersuchten Kombinaten durch vielfältige Zwänge und Abhängigkeiten eingeengt wurde. Bei der Umsetzung der Überwachungsvorgänge lassen sich ganz unterschiedliche rechtliche, politische, methodische und ökonomische Hindernisse beobachten. Die Grenzen der geheimpolizeilichen Handlungsfähigkeit stellen ein weiteres übergeordnetes Thema der Arbeit dar. In diesem Zusammenhang soll auch die Frage beantwortet werden, warum die Spielräume der Diensteinheiten je nach Überwachungsbereich und Kombinat so unterschiedlich ausfielen. Zusammenfassende Erkenntnis der Untersuchung Wie lassen sich die Erkenntnisse dieser Untersuchung in Kurzform zusammenfassen? Zunächst kann festgehalten werden, dass die grundlegende Aufgabe des MfS in den drei Chemiekombinaten darin bestand, im Auftrag der SED eine

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planmäßige und störungsfreie Entwicklung von Produktion, Handel und Forschung sicherzustellen. Mithilfe von Disziplinarmaßnahmen, konspirativen Ermittlungen, offiziellen Kontrollen und Auswertung von technischen und ökonomischen Informationen sollten sämtliche interne und externe Risikofaktoren frühzeitig erkannt und überwunden werden. Schaut man sich das Handeln der Offiziere genauer an, wird deutlich, dass sie bei der Umsetzung dieser Aufgabe vor allem auf zwei Entwicklungen achteten: Einerseits auf die steigende Anzahl von Kooperationsprojekten mit westlichen Unternehmen. Andererseits auf den zunehmenden Verfall von Gebäuden und Anlagen auf dem Werksgelände. In den Phänomenen »Öffnung« und »Krise« erkannten die Mitarbeiter der Geheimpolizei also die größten Risiken für die zentrale Planung und Anleitung von Produktion, Handel und Forschung. Trotz ihres sehr allgemein gefassten Auftrags lenkten die Offiziere ihre Aufmerksamkeit daher vor allem auf zwei Bereiche: Zum einen auf jene Fachdirek­ tionen und Einzelprojekte, bei denen westliche Stellen involviert waren. Zum anderen auf Fabriken und Produktionsabschnitte, die wiederholt durch Havarien und außerplanmäßige Stillstände von sich reden machten – insbesondere dann, wenn diese Störungen wertvolle Neuanlagen betrafen und überregionale Auswirkungen entfalteten. Vergegenwärtigt man sich diese zwei Schwerpunkte des MfS fällt auf, dass nur ein verhältnismäßig kleiner Ausschnitt des betrieblichen Handelns und darin ein überschaubarer Kreis leitender Kader unter besonders intensiver Beobachtung der Staatssicherheit standen. Darüber hinaus zeigt die Studie, dass die Offiziere – trotz der starken Fokussierung ihres Handelns – viele ihrer sach- und personenbezogenen Ziele nicht erreichen konnten. Sowohl bei der Beauflagung der Kombinate mit höheren Sicherheitsstandards als auch bei der Veranlassung disziplinarischer Maßnahmen gegenüber einzelnen Funktionären oder der Umsetzung konspirativer Ermittlungen wird ein stark begrenzter Spielraum des MfS deutlich. Ihren grundsätzlichen Auftrag, eine reibungslose Abwicklung der betrieblichen Prozesse zu garantieren, konnten die Offiziere daher nicht erfüllen – im Gegenteil. An jenen Stellen, an denen sie ihre Überwachung konzentrierten, wirkte sich ihr geheimpolizei­ liches Handeln sogar störend auf die innerbetrieblichen Abläufe aus. Damit trat das MfS weder in der Rolle eines pragmatischen Hilfsorgans der Betriebe noch in der Rolle einer konspirativen Korrektur der Planverwaltung oder eines zusätzlichen ökonomischen Steuerungsorgans in Erscheinung. Vielmehr kommt die Untersuchung zu dem Schluss, dass sich die Offiziere aus dem betrieblichen Alltagsgeschäft weitgehend heraushielten und mit ihren personenbezogenen Überwachungsmaßnahmen einige Grundprobleme der Kombinate – wie den chronischen Arbeitskräftemangel, das fehlende Verantwortungsbewusstsein leitender Kader oder den unterentwickelten internationalen Austausch von Forschern und Außenhändlern – noch verstärkten. Ungewollt beschleunigte das MfS damit

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jene krisenhafte Entwicklung der Branche, für deren Überwindung es eigentlich sorgen sollte. Trotz des ineffizienten und in Teilen kontraproduktiven Auftretens der Offiziere – das zeigt die Studie ebenfalls – wurde die Präsenz der Geheimpolizei im Kombinat aber niemals infrage gestellt. SED, Wirtschaftsverwaltung und Kombinatsleitung verstanden die Überwachungs- und Auswertungsarbeit des MfS vielmehr als selbstverständlichen Bestandteil der Bemühungen, die Disziplin der Funktionäre zu verbessern und die Produktions- und Exportleistungen der Betriebe zu erhöhen. Indem Partei und Staat vor allem auf Regulierung, Kontrolle und Bestrafung vertrauten, verschafften sie den Offizieren neue Instrumente, Ermittlungsfälle und Überwachungsfelder. Fast scheint es, dass das MfS im Zuge der wirtschaftlichen Krise eine ganz neue Relevanz erfuhr. Im Rückblick ist es daher möglich, das Sicherheitsorgan als Nutznießer einer krisengeplagten und dysfunktionalen Wirtschaftsorganisation zu betrachten.

1.3  Aufbau der Arbeit Welche Einzelaspekte und Zeitabschnitte stehen in den jeweiligen Kapiteln im Vordergrund? Das 2. Kapitel präsentiert zunächst die wichtigsten Akteure und Strukturmerkmale der Planwirtschaft und der in sie integrierten Geheimpolizei. Im Mittelpunkt stehen dabei Aufbau, Personal und Arbeitsweise der Objektdienststellen des MfS in den drei Chemiekombinaten Buna, Leuna und Bitterfeld. Die Beschreibung der offiziellen und inoffiziellen Zusammenarbeit der Offiziere mit den leitenden Funktionären macht deutlich, in welcher Weise das MfS in die betrieblichen Abläufe eingebunden war. Zwei Aspekte werden dabei gesondert ausgeführt: Die Kooperation der Objektdienststellen mit den General­direktoren und die Rolle der sogenannten Sicherheitsbeauftragten als besondere Vertrauensleute des MfS. Im Anschluss an diesen Grundlagenteil setzt das 3. Kapitel mit der historischen Darstellung der Wirtschaftsüberwachung ein. Den Auftakt markiert der VIII. Parteitag der SED im Jahr 1971. Das Kapitel beschreibt, wie sich die Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik nachhaltig auf die Entwicklung der Chemiebetriebe auswirkte. Beispiele sind die Einrichtung der Kombinatsstruktur, umfassende Investitionen in die Konsumgüterproduktion und die Ausweitung des Westhandels7. Die Überwachungsarbeit der Offiziere war von diesen Verände7  In dieser Arbeit wird sehr häufig der Begriff »Westhandel« verwendet. Hintergrund ist, dass der Außenwirtschaftsverkehr der DDR in zwei getrennte Planungsbereiche zerfiel: Zum »Osthandel« – oder »Sozialistischem Wirtschaftsgebiet« – zählten die UdSSR, Polen, die ČSSR, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, die Mongolei, Kuba, Vietnam, Jugoslawien, Nordkorea, China, Albanien, Laos, Kambodscha und Mosambik. Der »Westhandel« – oder das »Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet« – umfasste die zwölf Länder der Europäischen Gemeinschaft, also

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rungen unmittelbar betroffen. In ihrem Zentrum stand vor allem die verstärkte Verflechtung des Chemiesektors mit westlichen Märkten. Gezeigt wird, wie das Denken und Handeln der Offiziere umfassend von der Vorstellung einer schädlichen westlichen Einflussnahme beherrscht wurde. Der misstrauische Blick des MfS auf westliche Unternehmen und die mit ihnen kooperierenden Funktionäre soll unter anderem anhand der Auswahl und Anleitung von Reisekadern veranschaulicht werden. Ein abschließendes Fallbeispiel aus der Farbstoff­ forschung im Kombinat Bitterfeld macht deutlich, wie rigoros grundsätzliche ökonomische Probleme – in diesem Fall das der Innovationsschwäche der Farbenfabrik – auf die Interaktion mit westlichen Unternehmen zurückgeführt wurden und welche Auswirkungen eine solche Schlussfolgerung für die involvierten Personen haben konnten. Das 4. Kapitel deckt den Zeitraum von 1977 bis 1983 ab. In dieser Phase wurde die Wirtschaftspolitik der SED vor allem von einer zentralen Herausforderung bestimmt: der zunehmenden Außenhandelsverschuldung gegenüber westlichen Finanzinstituten als unmittelbare Folge der abnehmenden Wettbewerbsfähigkeit und der neuen Sozial- und Konsumpolitik seit 1971. Das Kapitel stellt zunächst die Konsolidierungsstrategie von SED und Wirtschaftsverwaltung vor, beschreibt ihre Auswirkung auf die Chemiebranche und stellt anschließend die Frage, wie sich das MfS in diese Strategie einfügte: Wie haben die Offiziere die Verschuldungskrise wahrgenommen? In welchem Maße wurde ihre reguläre Überwachungsarbeit in den Kombinaten von der angespannten ökonomischen Lage beeinflusst? Wurde dem MfS im Rahmen der Konsolidierungspolitik eine spezifische Rolle übertragen? Und wie wirkte sich ihr konkretes Handeln auf die innerbetrieblichen Abläufe vor allem im Bereich Produktion und Außenhandel der Chemiekombinate aus? Das 5. Kapitel beschäftigt sich schließlich mit den drastischen Folgen der Entschuldungspolitik in den Jahren zwischen 1983 und 1989. Durch den beständigen Druck, Produktion und Export auszuweiten, ließen sich in den Chemiekombinaten schon bald eine Reihe von Überlastungssymptomen feststellen, etwa der Verfall von Anlagen und Gebäuden, häufige Havarien oder die zunehmende Abwanderung von Arbeitskräften. In einem ersten Schritt stellt das Belgien, Luxemburg, Frankreich, Italien, die Niederlande, die Bundesrepublik Deutschland mit Westberlin, Dänemark, Irland, Großbritannien, Griechenland, Spanien und Portugal, ebenso die EFTA-Länder Island, Norwegen, Schweden, Finnland, Schweiz und Österreich, darüber hinaus die Türkei und Zypern sowie alle außereuropäischen Staaten, die nicht zum sozialistischen Wirtschaftsgebiet zählten. Der Wirtschaftshistoriker Matthias Judt hebt innerhalb des Westhandels noch einmal den für die DDR besonders wichtigen Handel mit »westlichen Industrieländern« hervor, zu denen er die Staaten der EG 12, der EFTA sowie die USA, Neuseeland, Australien und Japan zählt. Vgl. Matthias Judt: Der Bereich Kommerzielle Koordinierung. Das DDR-Wirtschaftsimperium des Alexander Schalck-Golodkowski – Mythos und Realität. Berlin 2013, S. 18.

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Kapitel verschiedene Ansätze von SED, Wirtschaftsverwaltung und Kombinat vor, mit dieser Überforderung umzugehen, also das Störgeschehen einzudämmen und einen stabilen Produktionsablauf sicherzustellen. In einem zweiten Schritt wird die Rolle des MfS als Teil dieser Stabilisierungsbemühungen erläutert. Welche sicherheitspolitische Gefahr erkannten die Offiziere im prekären Anlagenzustand der drei untersuchten Chemiekombinate? Welche Ursachen arbeiteten sie heraus und welche Lösungsansätze erachteten sie als sinnvoll? Und wie sah ihre Reaktion auf größere Zwischenfälle und chronische Problemlagen aus? In einem abschließenden Resümee werden die wichtigsten Erkenntnisse der vier Kapitel noch einmal zusammengefasst. Die Gliederung der Arbeit orientiert sich an den ökonomischen und wirtschaftspolitischen Zäsuren zwischen 1971 und 1989. Die Kapitel 3 bis 5, die eine zeitliche Abfolge aufweisen, folgen dabei einem ähnlichen dreiteiligen Aufbau. Der erste Abschnitt zeichnet die übergeordnete wirtschaftliche Entwicklung der DDR nach und fragt, wie die Führung der SED und der Wirtschaftsverwaltung darauf reagierten. Im anschließenden Teil wird dargelegt, wie sich die ökonomischen Rahmenbedingungen und die mit ihnen verbundenen wirtschafts­ politischen Entscheidungen innerhalb der drei untersuchten Chemie­kombinate Buna, Leuna und Bitterfeld widerspiegelten. Dabei soll die Relevanz des Chemie­ sektors für die jeweilige wirtschaftspolitische Phase herausgearbeitet werden. Der dritte Abschnitt geht schließlich auf das MfS ein und zeigt, wie die jeweilige ökonomische Situation und die darauf bezogene ökonomische Strategie von SED, Wirtschaftsverwaltung und den drei untersuchten Kombinaten die praktische Überwachungsarbeit der Offiziere vor Ort prägte und welche Konsequenzen sich daraus für einzelne Akteure und Sachverhalte ergaben. Aus zwei Gründen wurde der Umbruchszeit 1988/89 kein eigenes Kapitel eingeräumt: Zum einen, weil die Rolle des MfS in den drei Chemiekombinaten vor allem für die ökonomisch zwar krisenbehaftete, politisch aber stabile Phase der SED-Diktatur untersucht werden soll. Zum anderen, weil die Überwachungspraxis der Offiziere vor Ort in den Betrieben – bis auf den neuen Schwerpunkt der anschwellenden Ausreisebewegung – in den letzten Jahren der DDR keiner nennenswerten Veränderung unterlag. Ursache dafür war, dass die laufenden Außenhandelsbeziehungen und Investitionsprojekte, die im Mittelpunkt der Überwachung standen, von der politischen Ausnahmesituation 1988/89 weitgehend unberührt blieben – die Zäsur von 1989 in den betrieblichen Verhältnissen also noch nicht ablesbar war. Trotz der politisch turbulenten Zeit gingen die Offiziere ihrer Arbeit in den Kombinaten bemerkenswert routiniert nach. Darüber hinaus trat das MfS in der finalen Krisenzeit auch nicht mit eigenen wirtschaftspolitischen Vorstößen in Erscheinung. Die Diskussionen innerhalb der Staats- und Parteiführung um einen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik – sei es die sogenannte Schürer-Mittag-Kontroverse im Mai 1988 oder die ökonomische Zustandsanalyse der Staatlichen Plankommission und des Minis-

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teriums für Außenhandel im Oktober 1989 – wurden von der Leitung des MfS weder behindert noch gefördert, sondern lediglich zur Kenntnis genommen und für die eigene Überwachungsarbeit berücksichtigt.8 Aufgrund dieser Kontinuität innerhalb der ökonomischen Sphäre werden die Jahre 1983 bis 1989 in einem Abschnitt zusammengefasst

1.4  Quellengrundlage Als Quellengrundlage dieser Studie dienen die Überlieferungen sowohl des MfS als auch der Kombinate, der SED und einzelner staatlicher Organe. Bezüglich der MfS-Unterlagen werden vor allem die Bestände der wirtschaftsbezogenen Diensteinheiten verwendet, also die der Berliner Hauptabteilung XVIII, der Bezirksverwaltung in Halle, der dort angesiedelten Abteilung XVIII sowie der Objektdienststellen in den drei untersuchten Kombinaten Buna, Leuna und Bitterfeld. Vor allem Letztere – die Überlieferungen der Objektdienststellen – bildet die wichtigste Quellenbasis dieser Studie. Ergänzend wurde aber auch auf die Unterlagen der Untersuchungsorgane des MfS zurückgegriffen, hier vor allem auf die Abteilung IX der Bezirksverwaltung Halle. Die Überlieferungen der Geheimpolizei werden in zweifacher Hinsicht verwendet: Zum einen, um etwas über den Aufbau und über die Arbeits- und Denkweise des MfS in den Kombinaten zu erfahren, zum anderen, um Informationen über das Handeln der Kombinatsleitungen, zentrale Großprojekte und typische betriebliche Problemlagen zu gewinnen. Das MfS produzierte zahlreiche Dokumente zu rein ökonomischen Sachverhalten. Auch für allgemeine wirtschaftshistorische Untersuchungen könnten diese Bestände als wertvolle Quellengrundlage herangezogen werden.

8  Über die Reaktion des MfS auf die Krisenanalysen und Schlussfolgerungen der Staatlichen Plankommission und der SED-Führung Ende der 1980er-Jahre siehe Maria HaendckeHoppe-Arndt: Wer wußte was?: Der ökonomische Niedergang der DDR. In: Deutschland Archiv 28 (1995) 6, S. 588–602; Hans-Hermann Hertle: Der Weg in den Bankrott der DDR-Wirtschaft. Das Scheitern der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik am Beispiel der Schürer/ Mittag-Kontroverse im Politbüro 1988. In: Deutschland Archiv 25 (1992) 2, S. 127–131; Ders.: Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? Stasi-Analysen zum ökonomischen Nieder­g ang der DDR. In: Deutschland Archiv 42 (2009) 3, S. 476–487; Doris Cornelsen: Reformdiskussionen und Reformansätze in der DDR. In: Herbert Wilkens (Hg.):Fragen zur Reform der DDR-Wirtschaft: Tagungsband zur Sondertagung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e.V. Bonn 1990, S. 23–30.

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Die sach- und personenbezogenen Akten des MfS Unterteilen lassen sich die MfS-Unterlagen in sach- und personenbezogene Akten. Gerade in den Sachakten vermischen sich Angaben zu rein ökonomischen Themen mit Hinweisen über die Denk- und Vorgehensweise des MfS.  Beispiele für diesen Aktentypus sind überblicksartige Dokumente wie »Jahresarbeitspläne«, »Einschätzungen zur politisch-operativen Lage« oder »Messeauswertungsberichte«, die eine Übersicht über die Aktivitäten des MfS in einem bestimmten Zeitraum vermitteln. Darüber hinaus lassen sich eine ganze Reihe von Aktenvermerken, Berichten und Informationen finden, die zu Einzelthemen Auskunft geben, etwa einer Havarie oder der angenommenen »Störtätigkeit« eines westlichen Unternehmens. Wurde ein Kombinatsbereich oder ein Investitionsprojekt längerfristig überwacht, entstanden meist »Sicherungskonzeptionen«, mit Angaben über den Überwachungsgegenstand und die geplanten geheimpolizeilichen Maßnahmen. Eine Vielzahl an Sachakten behandeln das Themenfeld »Havarien, Brände und Störungen«. Ob Statistiken über das Stör- und Brandgeschehen, MfS-Gutachten zur Gebäudesicherheit oder Auswertungsberichte über Kontrollgänge in Altfabriken – minutiös bilden die Bestände der Wirtschaftsüberwachung die prekären Produktionsbedingungen der 1970er- und 1980er-Jahre ab. Nicht selten enthalten diese Unterlagen auch Auszüge aus Berichten der betrieblichen und staatlichen Kontrollorgane, ein häufiger Autor ist zum Beispiel der Sicherheitsinspektor des Generaldirektors, weshalb sich ähnliches Material auch in den Archiven der Kombinate wiederfinden lässt. Weitere aussagekräftige Dokumente aus den Sachakten sind Organigramme und Planstellenübersichten über den Personalbestand und den Aufbau der Diensteinheiten, Parteiinformationen über die Stimmungslage bei den Beschäftigten und besondere Vorkommnisse im Werk, ferner normative Bestimmungen wie zentrale Dienstanweisungen zur Wirtschaftsüberwachung sowie Briefwechsel und persönliche Notizbücher leitender Offiziere. Die personenbezogenen Überlieferungen bestehen aus den Akten über die Zuträger des MfS und aus den Akten über die Betroffenen der konspirativen Überwachungstätigkeit. Die Akten derjenigen Personen, die mit dem MfS zusammengearbeitet haben, sogenannte inoffizielle Mitarbeiter, Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit oder Kontaktpersonen, beinhalten im ersten Teil die Begründung der Zusammenarbeit, die Einschätzung der betreffenden Person sowie biografische Angaben. Der zweite Teil besteht aus Berichten des IM und des Führungsoffiziers sowie aus Abschriften von Treffgesprächen.9 9  Über den dreiteiligen Aufbau einer IM-Akte (Personalakte, Berichts- oder Arbeitsakte und ein Abschnitt mit Quittungen und Rechnungen) siehe Helmut Müller-Enbergs: Die inoffiziellen Mitarbeiter. Berlin 2011 (BStU, MfS-Handbuch; IV/2), S. 11, 15 u. 52.

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Für den Untersuchungsgegenstand lässt sich aus diesen Dokumenten eine Fülle von wertvollen Hinweisen extrahieren. Zum Beispiel über die Prioritäten des MfS: Welche Personenkreise wurden besonders häufig rekrutiert? Welche Bereiche der Belegschaft nahm die Geheimpolizei nur selten in den Blick? Welche Aufträge formulierten die Offiziere für ihre Zuträger? Welche Fragen stellten sie ihnen? Und für welche Themen zeigten sie gar kein Interesse? Auch über die Arbeitstechniken der Geheimpolizei und ihr Verhältnis zu den leitenden Funktionären der Kombinatsdirektionen geben diese Unterlagen Auskunft. Da IM-Gespräche oft Fachgespräche über betriebliche Angelegenheiten waren, kommen hier auch typische Alltagsprobleme wie die schwierige Umsetzung der Planvorgaben oder das chronische Problem des Fachkräftemangels zur Sprache. Ähnlich wie Sachakten lassen sich also auch personenbezogene Unterlagen für rein wirtschafts- und alltagsgeschichtliche Fragestellungen auswerten. Eine besondere inoffizielle Beziehung pflegte das MfS zum sogenannten Sicher­ heitsbeauftragten der jeweiligen Kombinate. Als Stabsorgan des Generaldirektors und Vertrauensperson des MfS war er für alle Fragen der politischen und technischen Sicherheit zuständig. Seine Akte enthält sowohl Informationen zu staatlichen Leitern als auch Berichte zu technischen und ökonomischen Sachverhalten, etwa die halbjährlichen Einschätzungen zur Leipziger Messe. Unter anderem tauchen hier die Informationsbestände der vielfältigen staatlichen und betrieblichen Inspektionen in gebündelter Form wieder auf.10 Informationen über die geheimpolizeilich observierten Personen wurden in den Vorgangsordnern zu sogenannten Operativen Personenkontrollen und Operativen Vorgängen gesammelt. Sie lassen Rückschlüsse über die Methoden, das Ausmaß und die Folgewirkungen der Überwachung zu. Ein Überblick über den konkreten Sachverhalt, die involvierten Personen, die vermuteten Straftaten und die Ziele der »operativen Maßnahmen« bieten vor allem die Einleitungs- und Abschlussberichte der Vorgänge. Besonders aufschlussreich für das konkrete Handeln und die Interpretationen der Offiziere sind Ablaufpläne für bestimmte konspirative Operationen und Fragenkataloge für bevorstehende Vernehmungen. Typische Schwierigkeiten bei der Umsetzung der »operativen« Zielsetzungen lassen sich aus den kritischen Einschätzungen der Vorgangsarbeit durch das Untersuchungsorgan des MfS, der Abteilung IX der Bezirksverwaltung Halle, herauslesen. Operative Akten aus den drei untersuchten Objektdienststellen können in Ausnahmefällen bis zu 30 Aktenordner füllen. Bei einem solch umfangreichen Vorgang ist die Wahrscheinlichkeit hoch, auch auf Briefwechsel zwischen den verschiedenen Diensteinheiten des MfS zu stoßen. Ein solcher Schriftverkehr kann mitunter eine Vorstellung von der Zusammenarbeit und den Anleitungs10  Die Rolle des Sicherheitsbeauftragten wird in Kapitel 2, Abschnitt 2.4.6 näher ausgeführt.

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verhältnissen innerhalb der hierarchischen Struktur der Staatssicherheit vermitteln. Zusätzlich können in solchen Ordnern nicht selten Auszüge aus IM-Berichten und Ausarbeitungen gefunden werden, die Auskunft über ökonomische und technische Sachverhalte geben. Die Beschreibung der personen- und sachbezogenen Überlieferungen zeigt, dass das MfS-Schriftgut aus ganz unterschiedlichen Quellenarten besteht. Der Wert einer einzelnen Quelle ist dabei stets von der Fragestellung abhängig: Geht es um das MfS selbst oder um die von ihm beobachteten Sachverhalte oder Personen? Die Tätigkeit der Staatssicherheit selbst kann mit dem vorliegenden Material sehr umfassend beleuchtet werden. Vergleichsweise gut lassen sich zum Beispiel das Selbstverständnis sowie die Prioritäten, Arbeitstechniken und Wahrnehmungen der Offiziere in den Kombinaten nachzeichnen. Für eine Analyse des zentralen Akteurs dieser Untersuchung weisen die Überlieferungen des MfS drei Vorteile auf: Erstens der enorme Umfang und die Typenvielfalt der Quellen. Auf der Grundlage von internen Berichten, Ton-Dokumenten, Arbeitsplänen, offiziellen Parteiinformationen oder persönlichen Notizen kann der Untersuchungsgegenstand aus ganz unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Zweitens die starke Reglementierung der MfS-Arbeit: Die Vorgehensweise innerhalb des hierarchisch organisierten Apparates war bis ins Detail von zahlreichen Dienstanweisungen, Richtlinien und Ausführungsbestimmungen geregelt. Auch wenn einige der Vorgaben recht allgemein gehalten waren, geben sie die Schwerpunkte und Methoden dennoch eindeutig wieder. Und drittens die kritische interne Kommentierung der geheimpolizeilichen Aktivitäten. Die »operative« Arbeit der unteren Diensteinheiten, vor allem ihre Anleitung von inoffiziellen Mitarbeitern und Ermittlungen gegen einzelne Verdächtige, wurde durch die Bezirksverwaltung regelmäßig bewertet. Dabei sprach die übergeordnete Ebene ausbleibende Ergebnisse oder das Fehlverhalten einzelner Offiziere oft schonungslos an. Zumindest ansatzweise können die verschiedenen Kon­ trollberichte einen Eindruck von den alltäglichen Schwierigkeiten und dem begrenzten Spielraum der Objektdienststellen im Kombinat vermitteln. Einschränkend muss allerdings erwähnt werden, dass das MfS all diese Dokumente selbst produzierte oder zusammenstellte. Das Bild, das die Geheimpolizei damit von sich selbst preisgab, enthält somit die zwangsläufigen apparatspezifischen Verzerrungen. Zwei Eigenschaften der Überlieferungen sind hier besonders problematisch: Zum einen die ideologisch überformte und nicht selten bürokratisch-phrasenhafte Sprache. Sie vermittelt das Bild einer feindbild­ fixierten und standardisierten, fast mechanischen Arbeitsweise. Inwiefern damit die tatsächlichen Perzeptionen und Abläufe innerhalb der Organisation »MfS« wiedergegeben werden, muss – wie bei jeder Quellenlektüre – kritisch hinterfragt werden. Zum anderen der enorme Umfang der Aktenbestände. Trotz – oder gerade wegen – der Fülle an Dokumenten, ist es oft nicht einfach zu sagen, was die Offiziere eigentlich genau gemacht haben. Gerade den »operativ« täti-

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gen Diensteinheiten an der Basis war sehr daran gelegen, das Bild eines umtriebigen und effizienten Akteurs zu vermitteln. Ob es all das behauptete Handeln tatsächlich gegeben hat, ob das MfS bei einem bestimmten Vorgang als Hauptinitiator auftrat oder lediglich als begleitender Beobachter, soll im Rahmen dieser Arbeit untersucht werden. Der Versuch, die MfS-Überlieferungen in Bezug auf betriebliche und ökonomische Sachverhalte auszuwerten, gestaltet sich noch ein wenig schwieriger. Gewiss warten nahezu alle Akten mit vielfältigen und durchaus realitätsnahen sachbezogenen Informationen auf. Dank seiner guten Vernetzung und konspirativen Arbeitsweise war das MfS stets in der Lage, tief in den Kombinatsraum hineinzuhorchen und unterschiedliche Aussagen zu einem bestimmten Sachverhalt zusammenzutragen. Dabei hatten die Offiziere an einer geschönten Darstellung einzelner Problemsituationen kein Interesse. Sie achteten vielmehr auf eine ungeschminkte Berichterstattung ihrer offiziellen »Partner« und informellen Zuträger und unterzogen deren Angaben regelmäßig einer kritischen Überprüfung. In mindestens vierfacher Hinsicht muss die Wirklichkeitsnähe der sachbezogenen Dokumente trotzdem problematisiert werden. Zunächst durchliefen die Informationen nicht selten mehrere Deutungsinstanzen. Ein inoffizieller Mitarbeiter konnte zum Beispiel die Meinungen eines Kollegen über einen bestimmten betrieblichen Vorfall einem Offizier erläutern, der diese Meinungsäußerung anschließend mit zeitlichem Abstand in einem Gedächtnisprotokoll über das IM-Gespräch schriftlich festhielt. Die Originalaussage, ohne Weglassungen und Abänderungen, wird nur bei wenigen Quellentypen überliefert, etwa bei einer Tonbandaufnahme, einem schriftlichen IM-Bericht oder einem abgefangenen Brief. Darüber hinaus werden die Stellungnahmen und Berichte der Informanten häufig durch Interessen, Motive oder situationsbezogene Zwänge überformt. In der Regel wurde nur das berichtet, was nützte, nicht schadete oder erwartet wurde. Mit einer kritischen Einschätzung eines Außenhandelsvertrags konnte zum Beispiel die Belastung eines Kollegen oder die Absicherung der eigenen Position im Werk verfolgt werden. Der eigentliche Sachverhalt wurde dann schnell für bestimmte Ziele instrumentalisiert, während der tatsächliche Standpunkt des Verfassers oder Gesprächspartners im Dunkeln blieb. Bei den Offizieren kommt zusätzlich eine stark ideologische Wahrnehmung betrieblicher Vorgänge hinzu. Zum Beispiel führten sie Zwischenfälle wie eine Havarie oder einen Lieferausfall fast reflexhaft auf eine fehlerhafte Gesinnung der involvierten Kader zurück, in denen sie wiederum Symptome einer schädlichen Einflussnahme aus dem westlichen Ausland erkennen wollten. Ursachenanalysen und Lageeinschätzungen der Offiziere müssen unter Berücksichtigung dieser ideologischen Erklärungsschemata gelesen werden. Und schließlich waren die überlieferten Akten mit einer eindeutigen Zweckbestimmung gesammelt worden. Die Offi-

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ziere verfassten nicht über alle Personen, Projekte und Vorkommnisse im Werk Berichte, sondern nur über jene, bei denen sie geheimpolizeilich relevante Aspekte vermuteten. Akteure und Sachverhalte, die für die Kombinatsgeschichte zwar wichtig waren, aber außerhalb des geheimpolizeilichen Fokus lagen, spielen daher in den Ablagen der MfS-Diensteinheiten keine Rolle.11 Die Überlieferungen der Kombinate Vergegenwärtigt man sich die Entstehungsbedingungen und Besonderheiten der MfS-Unterlagen wird schnell deutlich, dass sie – wie jede Quellenart – mit alternativen Überlieferungen gespiegelt und ergänzt werden müssen. Dafür bietet sich das Schriftgut der Kombinate und der SED-Organe im Bezirk Halle an. Bei den Beständen der Kombinate Buna, Leuna und Bitterfeld, die im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Standort Merseburg, aufbewahrt werden, lohnt vor allem ein Blick in die Ablagen des Generaldirektors und der Betriebsdirektoren. Hier finden sich unter anderem Vorlagen für die Kombinatsleitungssitzungen, Protokolle von Dienstberatungen sowie Referate und Redemanuskripte der anwesenden Teilnehmer. Aus solchen Quellen können vor allem Hinweise zu Funktionären der Leitungsebene, Kombinatsstrukturen und wichtigen Tagesordnungspunkten gewonnen werden. Weitere Informationen über den Aufbau der Betriebe und die Amtszeiten einzelner Direktoren und Abteilungsleiter bieten Organigramme und Strukturpläne. Biografische Angaben lassen sich ebenso in Urkunden und Danksagungen entdecken. Vertragsunterlagen, betriebsinterne Fortschrittsberichte oder Vorbereitungsmaterialien für Ministerrapporte beinhalten darüber hinaus umfassende Beschreibungen größerer Investitionsprojekte. Die Beziehungen von Spitzenfunktionären zur Kombinatsleitung können wiederum in Dank- und Beschwerdebriefen sowie in Weisungen und Führungsaufträgen des Generaldirektors und der Fach- und Betriebsdirektoren zum Vorschein kommen. In seltenen Fällen taucht hier auch Schriftwechsel mit den Diensteinheiten des MfS auf. Um eine Vorstellung über die grundsätzlichen Herausforderungen der Kombinate zu erhalten, sind persönliche Aufzeichnungen führender Kombinatsvertreter aufschlussreich. Auch die Stellungnahmen einzelner Direktionen zur Planerfüllung und die Rechenschaftslegung des Gesamtkombinats gegenüber dem Ministerium für Chemische Industrie enthalten Informationen über die Anspannung und den Leistungsdruck in den einzelnen Produktionsbereichen. Einen umfassenden Eindruck von der prekären Anlagensubstanz und dem Unfall- und Stör11  Eine Analyse der Vor- und Nachteile der MfS-Überlieferung für die historische Forschung findet sich bei Roger Engelmann: Zu Struktur, Charakter und Bedeutung der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit. Berlin 1994 (BStU, BF informiert; 3/1994), S. 7–17.

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geschehen vermitteln die Auflistungen und Dokumentationen der betrieblichen Inspektionen. Besonders interessant sind hier die Berichte und Schreiben der Inspektion des Generaldirektors sowie der Inspektion für Anlagen- und Produktionssicherheit. Sie werfen ein Schlaglicht auf die nicht selten konfliktbeladenen Beziehungen der Generaldirektion zum Kontrollregime im Werk, in das auch das MfS eingebunden war. In diesem Zusammenhang sind auch die Protokolle des Sicherheitsaktivs als kollektives Beratungsgremium sämtlicher Kontrollorgane lesenswert. Die Überlieferungen der Kombinate enthalten zahlreiche Informationen zu einzelnen Produktlinien, Strukturen, Handelspartnern, Funktionären und Störfällen. Dennoch tauchen die in den IM-Berichten und geheimpolizeilichen Ermittlungen angesprochenen Streitpunkte und Interaktionen zwischen einzelnen Funktionären und Betrieben entweder gar nicht oder nur in abgeschwächter Form wieder auf. Während die MfS-Akten innerbetriebliche Konflikte und Abläufe äußerst plastisch widerspiegeln, beschränken sich die Kombinatsakten in der Regel auf Fakten zu einzelnen betrieblichen Sachverhalten. Die Kombinatsarchivalien sind daher nur in Ausnahmefällen geeignet, Informationen zur Initiierung, Umsetzung und Wirkung von geheimpolizeilichen Maßnahmen gegenzuprüfen. Das MfS selbst spielt in ihnen bis auf wenige Briefwechsel und Kommentare so gut wie keine Rolle. Sehr gut sind die Kombinatsbestände allerdings in der Lage, das eingeschränkte Bild der MfS-Akten von den Aufgaben, Problemen und zentralen Akteuren der Kombinatswelt zu erweitern. Besonders gut geben sie das ganze Ausmaß der Kontrollbürokratie wieder, die neben der Staatssicherheit aus vielen weiteren Sicherheitsorganen mit einer ähnlichen Denk- und Ausdrucksweise bestand. Damit kann dieser Teil der Gegenüberlieferung zumindest indirekt etwas über die Einbettung des MfS in die Betriebsstrukturen und die Wirtschaftsverwaltung als Ganzes aussagen. Die Überlieferungen der SED Eine weitere wichtige Quellengrundlage bilden die Bestände der SED auf Kreisund Bezirksebene, hier vor allem die Akten der betrieblichen »Industriekreisleitung« der SED in den Kombinaten selbst. Sie befinden sich ebenfalls im Landes­ hauptarchiv in Merseburg. Aufbewahrt sind hier unter anderem Protokolle von Mitgliederversammlungen, »Aktivtagungen« oder Sitzungen der Sekretariate und Grundorganisationen. Recherchiert werden können ebenso Einzelinformationen und Monatsberichte der Grundorganisationen für den 1. Sekretär der Kreis- oder Bezirksleitung, Parteibücher und Urkunden sowie Schriftwechsel innerhalb der Parteiorgane und mit der Kombinatsleitung. Auskunft geben diese Unterlagen unter anderem über Probleme der Planerfüllung und über das Unfall- und Störgeschehen im Werk. Auch biografische Angaben zu einzelnen

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Parteimitgliedern, nicht selten auch zu führenden Partei- und Wirtschaftsfunktionären, können hier aufgefunden werden. Weitestgehend unsichtbar bleibt allerdings die tatsächliche Rolle der Industriekreisleitung im Kombinat als einflussreiche, oft letztentscheidende Instanz. Eine besonders erwähnenswerte Teilablage des SED-Bestandes stellen die Unterlagen der Kreis- und Bezirksparteikontrollkommissionen dar. Diese parteiinternen Gerichts- und Aufsichtsorgane schätzten das Verhalten der Parteimitglieder ein und leiteten bei Regelverstößen Parteiverfahren mit Strafmaßnahmen ein. Die Dokumente befassen sich also mit den Vergehen einzelner Mitglieder, die vor allem bei staatlichen Leitern nicht selten auch Gegenstand der geheimen Ermittlungen des MfS waren. Die Fälle und Personen aus den Operativen Vorgängen der Objektdienststellen können hier unter Umständen wieder auftauchen. Um weitere Informationen über sie zu erhalten, kann auf die vielfältigen Unterlagen der Kontrollkommissionen zurückgegriffen werden. Zu ihnen gehören unter anderem Protokolle der Leitungssitzungen, Informationsund Untersuchungsberichte, Abschriften von Vernehmungen sowie Stellungnahmen der Kreisleitungen zu vorliegenden Regelverstößen. Auffällig ist, dass die Kommissionsmitglieder in ihren Einschätzungen und Aussprachen eine ähnlich feindbildgeprägte Wortwahl verwenden wie einige Berichte und Redebeiträge der MfS-Offiziere. Mitunter wirken die Aussagen der SED-Funktionäre sogar noch dogmatischer und ideologieträchtiger als die in den MfS-Unterlagen. Auch gleichen die Vorwürfe gegenüber einzelnen Parteimitgliedern nicht selten den Begründungen des MfS für die Einleitung einer geheimen Überwachung. Dass SED und MfS bei einem Parteiverfahren eng miteinander kooperierten, ist mehr als wahrscheinlich. Bedauerlicherweise lässt sich jedoch die genaue Interaktion zwischen MfS-Offizieren und SED-Funktionären aus den SED-Akten nicht erschließen. Genauso wie bei den Kombinatsüberlieferungen findet die Geheimpolizei auch hier so gut wie keine Erwähnung. Als Ergänzung zu den hier vorgestellten Gegenüberlieferungen der lokalen Partei- und Wirtschaftsorgane werden auszugsweise die Unterlagen der SED und der Wirtschaftsverwaltung auf zentraler Ebene herangezogen. Auf der Seite des Staates stehen dabei die im Bundesarchiv abgelegten Bestände der Ministerien für Chemische Industrie und für Außenhandel sowie der Stabsorgane des Ministerrates im Mittelpunkt – hier vor allem die der Staatlichen Plankommission und der Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion beim Ministerrat. Auf der Seite der SED wird auf die Unterlagen des Politbüros des ZK, der Wirtschaftskommission beim Politbüro sowie der Büros von Erich Honecker und Günter Mittag zurückgegriffen. Aussagekräftig für diese Untersuchung sind ebenfalls die Dokumente der ZK-Abteilungen für Grundstoffindustrie und für Handel, Versorgung und Außenhandel sowie die Redebeiträge und Direktiven im Rahmen der SED-Parteitage. Die Aktenbestände der SED sind im

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Archiv der Parteien- und Massenorganisationen der DDR (SAPMO) abgelegt, das durch das Bundesarchiv verwaltet wird. Zeitzeugeninterviews Um die Aussagen der schriftlichen Überlieferungen des MfS ein weiteres Mal gegenzuprüfen, greift die vorliegende Arbeit ebenfalls auf die Aussagen von sieben Zeitzeugen zurück.12 Solche Gespräche mit ehemaligen Akteuren sind in vielerlei Hinsicht nützlich: Zunächst vermitteln sie zusätzliches Wissen über betriebliche und ökonomische Sachverhalte. Auch wenn es sich nur um Rückblicke einzelner Beteiligter handelt, kann die Bedeutung bestimmter Großprojekte und Grundprobleme mithilfe solcher Gespräche besser nachvollzogen werden. Hilfreich sind in diesem Zusammenhang auch Aussagen über wichtige Protagonisten und Anmerkungen über die betriebliche Alltagspraxis jenseits aller formalen Bestimmungen. Darüber hinaus bieten Zeitzeugeninterviews die Chance, sich vom Hauptakteur eines behandelten Fallbeispiels ein genaueres Bild zu machen, da dessen Vorgeschichte und anschließender Werdegang in den schriftlichen Überlieferungen oft gar nicht oder nur verkürzt wiedergegeben wird. Und schließlich können solche Befragungen dazu beitragen, die Signi­ fikanz und Konsequenz einer bestimmten geheimpolizeilichen Überwachung einzuschätzen, vor allem wenn der Interviewpartner direkt davon betroffen war. Hatte es sich bei seinem Fall um einen außergewöhnlichen Vorgang oder um ein Standardverfahren gehandelt, der einer ganzen Reihe von Beschäftigten widerfahren war? Sind der befragten Person ähnliche Fälle bekannt? Und wie hatte sich das MfS-Handeln in diesem Fall konkret ausgewirkt? Gerade bei letzterem Punkt spielt die persönliche Wahrnehmung eine große Rolle, da sie ja eine entscheidende Form der Auswirkung darstellt. Schriftliche Quellen helfen hier nur bedingt weiter, meist sagen sie nur wenig über Aspekte wie Wahrnehmungen, Gefühle oder persönliche Beziehungen aus. Ein Interview mit Betroffenen kann an dieser Stelle wichtige Ergänzungen beisteuern. Selbstverständlich müssen Angaben von Zeitzeugen stets mit Vorsicht betrachtet werden. Sie geben nicht das tatsächlich Geschehene wieder, sondern eine nachträgliche Version der Vorgänge, mit vielen inhaltlichen Auslassungen 12  Grit Fabienke, bis 1983 Disponentin für PVC-Export im Kombinat Buna; Johanna Fabienke, bis 1983 Leiterin der Lieferantenbuchhaltung im Kombinat Buna; Hans Joachim Scharf, 1976 bis 1982 Hauptabteilungsleiter Absatz im Kombinat Buna; Herbert Flegel, hauptamtlicher Mitarbeiter der Operativgruppe im VEB Synthesewerk Schwarzheide, zuständig für die Überwachung der Forschungsabteilung; Fred Walkow, Chemiker in der Filmfabrik Wolfen; Paul Just, bis 1987 Abschnittsleiter für Polyolefineanwendungen im Kombinat Buna; Hans Leuwer, 1969 bis 1993 Geschäftsführer der Handelsgesellschaft Plast-Elast-Chemie (Plel).

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und zeitlichen Raffungen, meist vermengt mit aktuellem Wissen aus Medien, Wissenschaft und eigener Aktenlektüre. In der Regel wird das Gesagte auch durch den Interviewer selbst beeinflusst. Unvermeidlich geben seine Fragen ein Stück weit die Antworten vor. Insofern besteht die Gefahr, dass sich der Historiker hier seine eigene Quelle erschafft. Daher wurde bei dieser Arbeit darauf geachtet, die Gespräche mit den Zeitzeugen möglichst offen zu führen, nur grob gelenkt durch einzelne Leitfragen. Darüber hinaus werden sie lediglich als Ergänzung zur schriftlichen Überlieferung betrachtet. Von einer systematischen »biografischen Methode« kann also bei dieser Untersuchung nicht gesprochen werden.13 Herangehensweise an die Quellen Da die hier verwendeten Aktenbestände recht umfangreich ausfallen, kann eine vollständige Durchsicht und Analyse der Quellen nicht bewerkstelligt werden. Notwendig ist vielmehr eine wohlüberlegte Auswahl, deren Ablauf im Folgenden kurz dargelegt werden soll. Der erste Schritt besteht darin, anhand der Literatur – aber auch anhand der Quellen – die wichtigsten, gerade für den Chemiesektor relevanten Wendepunkte in der Politik- und Wirtschaftsgeschichte der DDR zu erfassen. Diese zeitlichen und inhaltlichen Markierungen – etwa bestimmte Krisenphasen, wirtschaftspolitische Strategien oder Einzelprojekte – dienen als Eckpunkte für das Quellenstudium. In einem zweiten Schritt werden jene Sachakten des MfS zur Hand genommen, die einen Überblick über die Schwerpunkte und Einzelmaßnahmen der Überwachung vermitteln. Beispiele sind sogenannte Jahresarbeitspläne oder »Einschätzungen über die politisch-operative Lage«. Der Zugriff auf die Quellen setzt somit mit den Überlieferungen des MfS ein. Im Mittelpunkt stehen dabei die Überblicksakten der drei untersuchten Objektdienststellen. Fallweise werden aber auch Sachakten der übergeordneten Ebenen, zum Beispiel der für Außenhandelsfragen zuständigen Hauptabteilung XVIII/7 des MfS, hinzugenommen. Die zuvor festgelegten zeitlichen Abschnitte und inhaltlichen Themen werden bei der Auswahl besonders berücksichtigt. Geprüft werden soll, ob und wenn ja, wie sich die politischen und ökonomischen Zäsuren und Großvorhaben in diesen Quellen nie13  Über die Vor- und Nachteile von Zeitzeugeninterviews siehe Lutz Niethammer: Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis des »Oral History«. Frankfurt 1980; Jürgen H. P. Hoffmeyer-Zlotnik: Handhabung verbaler Daten in der Sozialforschung. In: Ders. (Hg.): Analyse verbaler Daten. Über den Umgang mit qualitativen Daten. Opladen 1992; Dorothee Wierling: Oral History. In: Michael Maurer (Hg.): Aufriss der historischen Wissenschaften. Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft. Stuttgart 2003; Dorothee Wierling: Stasi in der Erinnerung. In: Jens Gieseke (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR. Göttingen 2007, S. 187–208.

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derschlagen, welche zusätzlichen MfS-spezifischen Themen in den Dokumenten zum Vorschein kommen und ob sich dabei Unterschiede zwischen den für Wirtschaftsfragen zuständigen Diensteinheiten des MfS feststellen lassen. In einem dritten Schritt werden die in den Sachakten aufgeführten IM- und Überwachungsvorgänge anhand der oben erwähnten zeitlichen und inhaltlichen Schwerpunkte ausgewählt und analysiert. Die personenbezogenen Akten aller drei Objektdienststellen werden dabei gleichwertig berücksichtigt. Aufgrund der überschaubaren Zahl ist es möglich, für die beiden wichtigsten Überwachungsfelder – den Außenhandel und die Produktionssicherheit – die Akten der größeren Überwachungsprogramme vollständig durchzusehen.14 Ein vierter Schritt besteht darin, die Signifikanz der dokumentierten Handlungen und Einzelpersonen einzuschätzen. Welche Norm kommt in den oft unterschiedlich gelagerten Fällen zum Vorschein? Kann ein Personentypus oder eine »operative« Maßnahme als Standard oder als Extrem eingeordnet werden? Eine solche Bewertung ist die Voraussetzung, um die oben aufgeworfenen Forschungsfragen zu beantworten und mit einer Auswahl aussagekräftiger Fallbeispiele zu illustrieren. Dabei soll auf die Unterschiede zwischen den drei untersuchten Objektdienststellen des MfS in Bezug auf die Schwerpunkte, Methoden, Spielräume und Konsequenzen ihrer Überwachungsarbeit geachtet werden. In einem letzten Schritt kommen schließlich die Gegenüberlieferungen ins Spiel. Die Untersuchung zielt darauf, die für die Geheimpolizei relevanten Personen und innerbetrieblichen Erscheinungen in den Aktenbeständen der Kombinate und SED zu identifizieren. Wie oben bereits erwähnt, ist ein solches Unterfangen nicht immer ganz einfach. Gelingt es, bietet die damit erreichte neue Perspektive die Chance, weitere für den Fall relevante Akteure und Faktoren einzubeziehen. Herausgefunden werden soll, ob ein bestimmter innerbetrieblicher Vorgang tatsächlich auf das Handeln des MfS zurückgeht oder ob weitere Ursachen und Initiatoren erwähnt werden müssen. Aufgrund des Umfangs der Gegenüberlieferungen ist eine zeitliche und thematische Einschränkung der Recherche hier unumgänglich. Sowohl die übergeordneten, die Studie gliedernden Schwerpunkte als auch die Personen und Vorgänge, die die MfS-Überlieferungen selbst in den Mittelpunkt stellen, bestimmen hier den Fokus.

14  In den Objektdienststellen der drei Kombinate liefen pro Jahr nicht mehr als 11 Operative Vorgänge.

Literatur und Forschungsstand

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1.5  Literatur und Forschungsstand Die vorliegende Arbeit greift auf die umfangreiche Literatur zur MfS-Forschung zurück. Sie berücksichtigt ebenso Darstellungen zur Wirtschaftspolitik der SED-Führung, zum planwirtschaftlichen System, zum Außenhandel der DDR und zur Geschichte der mitteldeutschen Chemieindustrie. Eine Auswahl jener Veröffentlichungen, in denen die Rolle des MfS innerhalb der DDR-Wirtschaft angesprochen wird, soll im Folgenden vorgestellt werden. Ziel dieser Besprechung ist es, auf Forschungslücken aufmerksam zu machen und das spezielle Anliegen dieser Arbeit herauszuarbeiten. Auch wenn keine Gesamtbetrachtung über das Verhältnis von Wirtschaft und Staatssicherheit in der DDR vorliegt, werden einzelne Aspekte des Themas dennoch in einer Vielzahl von Monografien, Aufsätzen und Handbüchern behandelt. Daniela Haupt widmet sich zum Beispiel in ihrer Dissertation den Tätigkeitsbereichen der für Wirtschaftsfragen zuständigen Hauptabteilung XVIII des MfS.15 Nahezu alle Überwachungsfelder dieser Diensteinheit werden von ihr angerissen, von der Kernenergie und der chemischen Industrie, über die rüstungsrelevante Forschung bis zur Wirtschaftsspionage des MfS. Haupt möchte herausfinden, welche Funktionen der Geheimpolizei innerhalb der Wirtschaftsordnung übertragen wurden und ob ihre Überwachungstätigkeit den ökonomischen Niedergang der DDR eher beschleunigte oder verzögerte. Um diese Fragen zu beantworten, führt sie allerdings allzu häufig allgemeine Statements von MfS-Offizieren und Auszüge aus Dissertationen und Rechtsvorschriften des MfS an, ohne die tatsächlichen Aktivitäten des MfS hinter diesen Aussagen offenzulegen. Speziell in Hinblick auf den Chemiesektor ist die von Haupt wiedergegebene Selbstdarstellung des Sicherheitsorgans zu hinterfragen. Anhand von Fallbeispielen sind die tatsächlichen Handlungen, Spielräume und Auswirkungen der Wirtschaftsüberwachung zu untersuchen, was die vorliegende Arbeit sich vornimmt. Eine wichtige Vorarbeit dafür leisten Hans-Hermann Hertle und Franz-Otto Gilles. In ihren gemeinsamen Aufsätzen analysieren sie Aufgaben, Aufbau und Arbeitsweise der Objektdienststellen des MfS in den Kombinaten Buna, Leuna und Bitterfeld. Dabei beschränken sich die Autoren nicht auf eine Darstellung rein struktureller Aspekte der Wirtschaftsüberwachung, sondern gehen auch auf typische Reaktionsmechanismen der Offiziere (»Logik des Sich-Durchwurstelns«) und deren Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit des planwirtschaftlichen Systems ein. Knapp und prägnant stellen Hertle und Gilles die grundlegenden Merkmale der Geheimpolizei in den Chemiekombinaten heraus, die

15  Daniela Haupt: Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit auf die Wirtschaft der DDR, unveröffentlichte Dissertation. Lüneburg 2000.

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in der vorliegenden Untersuchung bis auf wenige Ausnahmen verifiziert werden konnten.16 Eher einen Forschungsauftrag formuliert Renate Hürtgen in ihrem Artikel »Stasi in der Produktion« bezüglich der Überwachung der alltäglichen Arbeitswelt in den Industriebetrieben der DDR.17 Sie stellt die Frage, wie tief die geheimpolizeiliche Kontrolle in die Belegschaft unterhalb der Leitungsebene hineinreichte. Als Antwort präsentiert die Autorin keine umfassenden Forschungsresultate, sondern lediglich erste Annahmen, etwa, dass das MfS auf indirekten Wegen, vor allem über die betriebsinternen Inspektionen, Kontakte zur Arbeiterschaft suchte. In diesem Zusammenhang erwähnt sie auch die Rolle des Sicherheitsaktivs, eines Koordinationsgremiums, das beispielhaft für die intensive Interaktion der Offiziere mit leitenden Funktionären der Kontrollorgane stand. Hürtgens These, dass das MfS im Rahmen seiner Überwachungsmaßnahmen eine Art »zweite Wirtschaftsleitung« etablierte, kann für die hier untersuchte Chemieindustrie nicht bestätigt werden. Intensiv arbeitete die Forschung bereits die strukturellen Merkmale der für Wirtschaftsfragen zuständigen Diensteinheiten des MfS heraus. Reinhard Buthmann widmete sich zum Beispiel der Strukturgeschichte sowie der Arbeitsweise und Aufgabenschwerpunkte der Objektdienststellen als besondere Diensteinheit des MfS.18 Genauer geht er dabei auf den IM- und Kaderbestand des MfS im Mikroelektronikkombinat Carl Zeiss Jena Ende der 1980er-Jahre ein. Ähnlich verfährt Maria Haendcke-Hoppe-Arndt in ihrem Beitrag über die »Hauptabteilung XVIII« des MfS.19 Auch bei ihr wird zunächst die Entwicklung der Organisationsstruktur dieser zentralen Diensteinheit nachgezeichnet, um anschließend ihre Kontrollziele aufzulisten und das hauptamtliche Personal und den IM-Bestand näher zu erläutern. Lohnenswert für diese Arbeit ist vor 16 Franz-Otto Gilles, Hans-Hermann Hertle: Überwiegend negativ. Das Ministerium für Staatssicherheit in der Volkswirtschaft dargestellt am Beispiel der Struktur und Arbeitsweise der Objektdienststellen in den Chemiekombinaten des Bezirks Halle. Berlin 1994; Dies.: Stasi in der Produktion – Die »Sicherung der Volkswirtschaft« am Beispiel der Struktur und Arbeitsweise der Objektdienststellen des MfS in den Chemiekombinaten. In: Klaus-Dietmar Henke, Roger Engelmann (Hg.): Aktenlage: Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung. Berlin 1995, S 118–137; Franz-Otto Gilles: The rationale of muddling through: the function of the Stasi in the planned economy. Berlin 1999; Franz-Otto Gilles, Hans-Hermann Hertle: Zur Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR-Wirtschaft. In: Renate Hürtgen, Thomas Reichel (Hg.): Der Schein der Stabilität – DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker. Berlin 2001, S. 173–190. 17  Renate Hürtgen: »Stasi in der Produktion« – Umfang, Ausmaß und Wirkung geheimdienstlicher Kontrolle im DDR-Betrieb. In: Jens Gieseke (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR. Göttingen 2007, S. 295–317. 18  Reinhard Buthmann: Die Objektdienststellen des MfS. Berlin 1999 (BStU, MfS-Handbuch; II/3). 19 Maria Haendke-Hoppe-Arndt: Die Hauptabteilung XVIII: Volkswirtschaft. Berlin 1997 (BStU, MfS-Handbuch; III/10).

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allem ihr Abschnitt über das Schlüsseljahr 1971. Haendcke-Hoppe-Arndt zeigt auf, wie sich die Veränderungen mit Beginn der Ära Honecker – hier vor allem der Ausbau des Sozialstaates und die zunehmende internationale Verflechtung der DDR-Industrie – auf die Organisation und Tätigkeitsbereiche der Wirtschaftsüberwachung auswirkten. Nicht zuletzt in den Chemiekombinaten war diese Zäsur sowohl für die betriebliche als auch für die geheimpolizeiliche Seite deutlich spürbar. Beide Darstellungen – Buthmanns über die Objektdienststellen und HaendckeHoppe-Arndts über die Hauptabteilung XVIII – gehören zur MfS-HandbuchReihe »Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte, Struktur, Methoden«, die von der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde herausgegeben wird. Die Publikationen dieser wissenschaftlichen Reihe präsentieren umfangreiches Strukturwissen und quantitatives Material über die Diensteinheiten des MfS und die hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter, beschreiben allerdings häufig eine Fülle von Details, ohne übergeordnete Fragen nach der genauen Ursache, Funktion und Auswirkung der geheimpolizeilichen Maßnahmen aufzuwerfen. Wie bei einer übergroßen Nahaufnahme steht hier allein das Innenleben der Organisation »Staatssicherheit« im Mittelpunkt. Über die Einbettung der Geheimpolizei in ihre Umwelt, etwa durch die Zusammenarbeit mit leitenden Funktionären im Betrieb, erfährt der Leser nur wenig. Auch das Verhältnis zu den lokalen Organen der SED wird kaum beleuchtet. Die Gemeinsamkeiten der MfS-Offiziere mit anderen betrieblichen und parteilichen Akteuren, vor allem in Bezug auf ihre Sprache, Methodik und Wahrnehmung, können mit einem solchen Blickwinkel nicht ausreichend zur Geltung kommen. Auch das Phänomen, dass die »operativen« Maßnahmen oft nur eingeschränkt durchführbar und begrenzt wirksam waren, wird hier weder hervorgehoben noch umfassend analysiert. Ein Teil der Handbuchbeiträge weist ohnehin einen rein deskriptiven Stil auf, bei dem Kategorien und Formulierungen des MfS ohne Distanz übernommen werden. Streckenweise lesen sich einzelne Abschnitte wie Auszüge aus den Originaldokumenten selbst. Die in den Akten zum Vorschein kommende Selbstinszenierung der Geheimpolizei wird mit dieser Art von Forschung nicht hinterfragt, sondern reproduziert. Die vorliegende Arbeit unternimmt dagegen den Versuch, die genauen Vorgänge hinter den oft formelhaften Aussagen der Dokumente sichtbar zu machen. Sie rückt jene Aspekte in den Mittelpunkt, die im MfS-Handbuch unerwähnt bleiben, also Fragen nach dem Aktionsradius, der Einbindung und den Abhängigkeiten der MfS-Diensteinheiten in der ökonomischen Sphäre. Auch das Nicht- oder Scheinhandeln der Offiziere und ihre typischen, immer wiederkehrenden Reaktionsmuster sollen identifiziert und analysiert werden. Neben den Strukturmerkmalen des MfS befasste sich die Forschung auch mit einzelnen Personengruppen genauer. An erster Stelle müssen hier die hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS genannt werden, deren Herkunft, Mentalität und

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Bildung Jens Gieseke analysierte.20 Seine Untersuchung entwirft das Bild eines abgeschotteten »Sicherheitsmilieus«, in dem die Denk- und Lebensweise jedes Einzelnen umfassend von der Organisation »MfS« vereinnahmt wurde. Gegenüber ihrer Umwelt, so der Autor, grenzten sich die Offiziere durch eine simple Freund-Feind-Unterscheidung ab. Diese antagonistische Wahrnehmung der Umgebung kann auch bei den Vertretern der Objektdienststellen in den Chemiekombinaten beobachtet werden, die selbst belanglosen außenwirtschaftlichen Vorgängen mit großem Misstrauen begegneten. Die fast schon paranoide Perzeption der Zusammenarbeit von staatlichen Leitern und westlichen Vertragspartnern erscheint nachvollziehbarer, wenn man die von Gieseke offengelegte Sozialisation und Mentalität der hauptamtlichen Mitarbeiter berücksichtigt. Wichtig für die vorliegende Arbeit ist ebenso Giesekes Darstellung der schrittweisen Professionalisierung des MfS. Im Laufe der Jahre nahm die formale Qualifizierung der Offiziere immer weiter zu, ohne dass damit eine kreative Lösungskompetenz für ökonomische Sachverhalte einherging. Gezielt antrainierte Denkschablonen sowie die allgemeine soziale und kulturelle Enge des »Sicherheitsmilieus« waren dafür nach Meinung des Autors verantwortlich. Bei den Vertretern der Wirtschaftsüberwachung kam der von Gieseke herausgearbeitete Gegensatz von fachlichem Wissen und ideologischem Handeln besonders deutlich zum Vorschein. In der vorliegenden Untersuchung wird er vor allem bei den beiden zentralen Überwachungsfeldern »Außenhandel« und »Produktionssicherheit« eine Rolle spielen.21 Zusätzlich zu den hauptamtlichen Mitarbeitern des MfS bildet auch die Gruppe der inoffiziellen Mitarbeiter einen Themenschwerpunkt der Forschung. Der Einsatz von IM als zentrale Methode des MfS für die Gewinnung von Informationen und die Umsetzung »operativer« Maßnahmen wurde vor allem von Helmut Müller-Enbergs untersucht. Sein Hauptwerk besteht aus drei Bänden, in denen er die Rekrutierung und Führung der IM, die Spionagetätigkeit des MfS in der Bundesrepublik und die quantitativen Dimensionen des IM-Bestandes behandelt.22 Relevant für die vorliegende Arbeit ist vor allem der erste 20 Jens Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90. Berlin 2000. 21  Ergänzende Hinweise über die sozialen und mentalen Eigenschaften der MfS-Offiziere finden sich bei Katharina Lenski: Die Hauptamtlichen der Stasi. Schattenriss einer Parallelgesellschaft. In: Lutz Niethammer, Roger Engelmann (Hg.): Bühne der Dissidenz und Dramaturgie der Repression. Ein Kulturkonflikt in der späten DDR. Göttingen 2014, S. 237–318. Zum großen Teil greift die Autorin allerdings auf die Aussagen Giesekes zurück. 22  Siehe Helmut Müller-Enbergs (Hg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 1: Richtlinien und Durchführungsbestimmungen. Berlin 1996. Ders. (Hg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 2: Anleitung für die Arbeit mit Agenten, Kundschaftern und Spionen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1998. Ders.: Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 3: Statistiken. Berlin 2008.

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Band, in dem Müller-Enbergs eine Auswahl von Grundsatzdokumenten zur Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern publiziert und diese in einer wissenschaftlichen Einleitung kommentiert. Hier zeichnet er die Entstehung und Veränderung des MfS-eigenen Regelwerks nach, nennt die Merkmale der unterschiedlichen IM-Kategorien und geht auf die Auswahl, Prüfung und Anwerbung der geheimen Unterstützer ein. Auch die Motive der IM sowie ihre Anleitung durch einen Führungsoffizier werden von ihm erläutert. Nützlich für diese Untersuchung ist ebenso der dritte Band, der auf über 700 Seiten sämtliche Einzeldaten zum IM-Bestand aller Diensteinheiten des MfS zusammenführt. Auch das IMNetz im Bezirk Halle wird hier im Detail rekonstruiert. Zusammengefasst und aktualisiert lassen sich all diese Aspekte der IM-Arbeit in Müller-Enbergs Beitrag für das oben erwähnte MfS-Handbuch wiederfinden, auf das diese Arbeit hauptsächlich zurückgreift.23 Auch wenn der Autor betont, dass er »auf der Basis der erreichbaren Quellen« die Bestimmungen des MfS mit der historischen Wirklichkeit abgleichen möchte, bietet seine IM-Trilogie allerdings keine empirische Analyse der IM-Methode.24 Im Mittelpunkt steht die Herausgabe der wichtigsten Vorgaben und Grundsätze des MfS zur IM-Arbeit, ohne die tatsächliche Anwendung dieser Normen systematisch mit konkreten Fallbeispielen gegenzuprüfen. Auf die eingeschränkte Wirkung der IM-Einsätze geht der Autor nur am Rande ein. Gänzlich verzichtet er darauf, eine eigene wissenschaftliche Typologie von Zuträgern zu entwerfen. Damit bleiben alle Unterstützer des MfS, die nicht in einem förmlichen IM-Vorgang erfasst waren – wie die Mitarbeiter der Kaderabteilungen oder die Funktionäre der SED-Organe – außerhalb der Betrachtung. Müller-Enbergs gibt damit vor allem die Idealvorstellung des MfS über den Aufbau und die Funktion eines Systems aus geheimen Unterstützern wieder. Wie genau diese Überwachungsstrategie in der Praxis umgesetzt wurde und welche Folgen sich daraus für alle Beteiligten – sowohl für die Informanten als auch für die Beobachteten – ergaben, soll in dieser Arbeit am Beispiel der Chemie­ kombinate näher untersucht werden. Eine wichtige Erkenntnis soll an dieser Stelle bereits vorweggenommen werden: dass es für den Bereich der Wirtschaft rückblickend gar nicht so einfach ist, Unterstützer und Betroffene der geheimpolizeilichen Überwachung zu unterscheiden. Der IM-Vorgang entpuppt sich hier nämlich nicht nur als eine Form der geheimen Zusammenarbeit, sondern immer auch als eine Maßnahme der langfristigen Anbindung und Kontrolle der jeweiligen Person.

23  Müller-Enbergs: Die inoffiziellen Mitarbeiter. 24  Vgl. Müller-Enbergs(Hg.): Inoffizielle Mitarbeiter, Teil 1, S. 8.

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Genauer auf die inoffiziellen Mitarbeiter der Chemiekombinate im Bezirk Halle geht Wagner-Kyora in seinem Aufsatz »Spione der Arbeit« ein.25 Darin erörtert er die betriebliche Stellung, soziale Prägung und Motivation der IM und beschreibt den Stil und die Themen ihrer Berichte. Der Anlass für seine Beschäftigung mit diesem Personenkreis ist aber keine Untersuchung der Funktion und Arbeitsweise des MfS innerhalb der Industriebetriebe der DDR. Vielmehr möchte er die IM-Berichte für die Erforschung der Selbst- und Fremdbilder der Belegschaftsangehörigen verwenden. Was denken die Arbeiter und Angestellten der Chemiebetriebe über sich selbst? Was denken sie über den jeweils »Anderen«? Welche Eigenschaften ordnen sie sich selbst zu? Und von welchen Verhaltensweisen grenzen sie sich ausdrücklich ab? Wagner-Kyora glaubt, dass in den IM-Berichten ganz unterschiedliche, zum Teil völlig gegensätzliche Selbst- und Fremddeutungen innerhalb und zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen eines Betriebs gefunden werden können. Häufig enthalten die Berichte eines IM zum Beispiel »hoch artifizielle Narrationen« über die eigenen Kollegen und den eigenen Vorgesetzten, was wenig über die tatsächlichen betrieblichen Abläufe, aber viel über die individuelle Wahrnehmung des IM aussagt. Damit bietet diese Quellengattung die Chance, in das vielstimmige Selbstgespräch der »Werktätigen« hineinzuhören und die sich bei diesen diskursiven Vorgang herausbildenden gemeinsamen Beschreibungen der eigenen und der fremden Gruppen (»kollektive Identitätskonstruktionen«) zu erfassen. Eine Analyse der diskursiven Entstehung von Selbst- und Fremdzuschreibungen versteht Wagner-Kyora als Ausgangspunkt für eine »Kollektivbiografie von sozialen Gruppen« in der DDR. Ein herausgehobener inoffizieller Mitarbeiter im Werk, der nicht selten auch als »Offizier im besonderen Einsatz« – also als geheimer hauptamtlicher Mitarbeiter – geführt wurde, war der »Sicherheitsbeauftragte«. Seine Aufgaben, normativen Grundlagen und Einsatzbereiche erläutert Buthmann am Beispiel des Mikroelektronikkombinats Carl Zeiss Jena.26 Hürtgen ergänzt diese Ausführungen, indem sie auf das oft spannungsgeladene Verhältnis des Sicherheitsbeauftragten zur Leitungsebene der Kombinate aufmerksam macht und seine in der Regel nur mittelmäßige Qualifikation hervorhebt.27 Die vorliegende Untersuchung kommt ebenfalls auf diesen besonderen Vertrauensmann des MfS zu sprechen. Näher dargelegt werden seine Bestellung, sein offizielles und inoffizielles Aufgabenspektrum und – in Abgrenzung zu Hürtgen – seine zum Teil durchaus beachtlichen technischen und betriebswirt25 Georg Wagner-Kyora: Spione der Arbeit – Zur Methodik der Alltagsgeschichte mit IM-Berichten aus Industriegebieten. In: Jens Gieseke (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR. Göttingen 2007, S. 209–252. 26  Reinhard Buthmann: Kadersicherung im Kombinat VEB Carl Zeiss Jena. Die Staatssicherheit und das Scheitern des Mikroelektronikprogramms. Berlin 1997. 27  Renate Hürtgen: Die Rechte Hand des MfS im Betrieb – Der Sicherheitsbeauftragte. In: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien (2004) 32–33, S. 38–44.

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schaftlichen Kenntnisse. Stärker als bei Buthmann und Hürtgen soll hier aber auch auf seine konkrete Einbindung in die »operative« Ermittlungsarbeit der Geheimpolizei geachtet werden. In nicht wenigen Fällen übernahm der Sicherheitsbeauftragte zum Beispiel die Koordinierung von MfS-initiierten Expertengruppen als Bestandteil geheim laufender strafrechtlicher Ermittlungen. Die Rolle des MfS in der ökonomischen Sphäre wird ebenfalls in einer Reihe von Branchen- und Betriebsgeschichten angesprochen. Franziska Weil versucht zum Beispiel anhand zweier sächsischer Betriebe Elemente von politischer Herrschaft im betrieblichen Alltag der DDR aufzuspüren und berücksichtigt dabei auch die Aktivitäten des MfS vor Ort.28 Ulrike Schulz wiederum geht den Interessen, Überwachungsmethoden und Einflussmöglichkeiten der MfSOffiziere im VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk »Ernst Thälmann« nach. Ihre Ausführungen sind Teil einer umfassenden Unternehmensgeschichte der Suhler Simson-Werke von der Gründung im Deutschen Kaiserreich bis zur endgültigen Auflösung im Jahr 1991.29 Und im Rahmen seiner Studie zur Infrastrukturpolitik der SED am Beispiel der Deutschen Reichsbahn betrachtet Ralph Kaschka schließlich die Rolle des MfS im Verkehrssektor der DDR.30 Alle drei Autoren betonen, dass die von ihnen untersuchten ökonomischen Bereiche sowie das darin verankerte MfS besonders von den Folgen der Wirtschaftskrise in den 1980er-Jahren beansprucht wurden. Schulz spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer »Dynamik des Niedergangs«, die die Funktionäre in die Zwangslage manövriert habe, zu manipulieren, zu improvisieren und auf immer neue Havarien zu reagieren. Die Möglichkeit des MfS, nach jedem dieser Regel­verstöße und Zwischenfälle umfassende Ermittlungen einzuleiten, habe sich nach Schulz zumindest auf die Beschäftigten der Simson-Betriebe stark verunsichernd ausgewirkt. Kaschka ergänzt, dass im Bereich der Reichsbahnverwaltung die ökonomische Krise eine Ausweitung der »operativen« Aktivitäten des MfS zur Folge hatte. Auslöser sei hier vor allem die Neuausrichtung der Energiepolitik der SED zu Beginn der 1980er-Jahre gewesen, die zu einer spürbaren Aufwertung – und damit auch Überlastung – des Schienenverkehrs geführt habe. In der Folgezeit seien die Kontrollgremien der Bahnverwaltung angehalten worden, das bedrohlich anwachsende Störgeschehen noch konsequenter einzudämmen – ein Unterfangen, bei dem auch das MfS gefordert gewesen sei. Alle drei Untersuchungen heben den intensiven Kontakt zwischen MfSOffizieren und leitenden Angestellten hervor. So habe beispielsweise die 28  Im Mittelpunkt der Studie stehen der VEB Leipziger Arzneimittelwerk und der VEB Goldring Markkleeberg. Siehe Francesca Weil: Herrschaftsanspruch und soziale Wirklichkeit. Zwei sächsische Betriebe in der DDR während der Honecker-Ära. Köln 2000. 29  Ulrike Schulz: Simson. Vom unwahrscheinlichen Überleben eines Unternehmens. 1856– 1993. Göttingen 2013. 30 Ralph Kaschka: Auf dem falschen Gleis.  Infrastrukturpolitik und -entwicklung der DDR am Beispiel der Deutschen Reichsbahn. 1949–1989. Frankfurt 2011.

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Geheimpolizei im Fall der Reichsbahn ihre Untersuchungen zu gefährdeten Gleisabschnitten, Brücken oder Fernmeldeanlagen in enger Abstimmung mit der Leitungsebene der Reichsbahnämter und -direktionen, den Inspektionen des Ministeriums für Verkehrswesen und der Transportpolizei durchgeführt. Schulz und Kaschka konstatieren übereinstimmend, dass das MfS bei solchen Untersuchungen schnell bereit war, technische und betriebswirtschaftliche Probleme auf »subjektive Ursachen«, also auf die Gesinnung und Führungskompetenzen leitender Funktionäre, zurückzuführen – eine Beobachtung, die auch in den Chemiekombinaten gemacht werden kann. Die Neigung der MfSOffiziere, Strukturprobleme zu personalisieren, soll im 4. Kapitel dieser Arbeit näher ausgeführt werden. Schließlich widmen sich Schulz und Kaschka auch der Frage, ob das MfS die Fähigkeit besaß, innerhalb der Wirtschaftsverwaltung steuernd oder korrigierend einzugreifen. Für die Simson-Werke geht Schulz davon aus, dass das MfS über IM-Aufträge und gezielt lancierte Berichte durchaus in der Lage gewesen war, bestimmte sach- und personenbezogene Entscheidungen zu beeinflussen. Da es aber oft reflexhaft und unberechenbar bei zum Teil banalen Anlässen reagierte, hätten diese punktuellen Einflussnahmen nicht zu einer systematischen Steuerung oder Korrektur der innerbetrieblichen Abläufe geführt. Zu einem ähnlichen Befund kommt Kaschka für den Bereich des Verkehrssektors. Die Rolle des MfS als lenkende und korrigierende Instanz kann auch er nicht erkennen. Der Autor macht aber darauf aufmerksam, dass die Offiziere eine solche Rolle manchmal behaupteten und sich für einige Projekte der SED als Ideengeber inszenierten – etwa für ihre Entscheidung Anfang der 1980erJahre, die Erneuerung des Oberleitungsnetzes stärker zu fördern. Kaschka erklärt diesen Hang zur Überhöhung des eigenen Einflusses mit der Notwendigkeit, einen internen Plan zu erfüllen und die Relevanz der eigenen Organisation immer wieder unter Beweis zu stellen – Faktoren, die unübersehbar auch das Berichtswesen und die Überwachungstätigkeit der Objektdienststellen in den Chemiekombinaten prägten. Die Fähigkeit und der Wille der MfS-Offiziere, innerhalb der Betriebe und Wirtschaftsverwaltung eine ökonomische Steuerungsleistung zu erbringen, soll auch in dieser Arbeit untersucht werden. Als Referenz gilt dabei ein Sektor, in dem das MfS besonders umtriebig auftrat und der daher in der MfS-Forschung bereits intensiv betrachtet wurde: die Kombinate und Wissenschaftseinrichtungen der Hochtechnologie. Die meisten Studien, die sich mit diesem Bereich befassen, gehen der Frage nach, wie sich die Präsenz und das Handeln des MfS auf die Innovationsfähigkeit der High-Tech-Branche ausgewirkt haben. Bereits Anfang der 1990er-Jahre hob Jörg Roesler hierbei die Bedeutung der Industriespionage des MfS für die Weiterentwicklung der DDR-Wirtschaft hervor. Der Hauptabteilung XVIII des MfS gesteht er die Rolle zu, entscheidend zur Überwindung von Innovationsbarrieren in der DDR-Industrie beigetragen zu ha-

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ben.31 Roeslers Überlegungen führt Kristie Macrakis in ihrer Studie zum illegalen Technologietransfer weiter.32 Dabei arbeitet die Autorin vor allem das große Ausmaß der Zusammenarbeit von MfS, SED-Führung und Wissenschaftsministerien heraus – ein Kooperationsregime, das auch bei Buthmann detailliert nachgezeichnet wird.33 Raymond Stokes versucht schließlich, die wichtigsten Tätigkeitsfelder des MfS im Bereich Wissenschaft und Hochtechnologie abzustecken und nennt hier vor allem die Kontrolle der inneren Abläufe in den Hochschuleinrichtungen und Betrieben, die Beisteuerung von Expertise sowie die Beschaffung von einfuhrbeschränkten technischen Gütern (»Embargoware«).34 Die Frage, inwiefern das MfS innerhalb des Hochtechnologiesektors als steuerndes Organ auftrat, wird vor allem bei Gerhard Barkleit aufgeworfen.35 In seiner Studie über das Mikroelektronikprogramm der DDR beschreibt er mehrere Projekte, bei denen sich das MfS unmittelbar bei der Planung und Implementierung engagierte – etwa bei der Etablierung einer neuen Produktionslinie für Rüstungsgüter im Mikroelektronikkombinat Carl Zeiss Jena oder beim Aufbau mehrerer Fabriken für Speicherschaltkreise in Erfurt. Barkleit kommt zu dem Schluss, dass sich das MfS im Laufe der 1980er-Jahre im Bereich der Mikroelektronik tatsächlich als drittes Steuerungselement neben SED und Wirtschaftsverwaltung etabliert hatte. Allerdings, so schränkt er ein, nutzten die Offiziere ihr Einflusspotenzial nicht vollständig aus, da ihnen an einer Konfrontation mit der SED-Führung nur wenig gelegen war. Nach Barkleit wurde die Geheimpolizei vor allem in solchen Situationen aktiv, in denen sie ihre ureigenen geheimpolizeilichen Interessen gefährdet sah. Die meisten der hier genannten Studien für den Bereich der Hochtechnologie beschreiben das MfS als konstruktiven Akteur, der für die Umsetzung der Planvorhaben einen unterstützenden, bisweilen sogar steuernden Beitrag leistete. Im Kontrast dazu hebt Buthmann die lähmende Wirkung der geheimpolizeilichen Durchdringung dieses Sektors hervor.36 Seine Studie über die Kadersicherung im Mikroelektronikkombinat Carl Zeiss Jena erläutert Rechtsgrundlagen, Ins31  Jörg Roesler: Industrieinnovation und Industriespionage in der DDR: Der Staatssicherheitsdienst in der Innovationsgeschichte der DDR. In: Deutschland Archiv 27 (1994) 10, S. 1026–1040. 32  Kristie Macrakis: Das Ringen um wissenschaftlich-technischen Höchststand: Spionage und Technologietransfer in der DDR. In: Dieter Hoffmann, Kristie Macrakis (Hg.): Naturwissenschaft und Technik in der DDR. Berlin 1997, S. 59–88. 33  Reinhard Buthmann: Hochtechnologien und Staatssicherheit. Die strukturelle Verankerung des MfS in Wissenschaft und Forschung der DDR. Berlin 2000 (BStU, Analysen und Berichte; 2000/1). 34  Raymond Stokes: Constructing Socialism: Technology and Change in East Germany 1945–1990. Baltimore 2000. 35  Gerhard Barkleit: Mikroelektronik in der DDR. SED, Staatsapparat und Staatssicherheit im Wettstreit der Systeme, HAIT, Berichte und Studien, Nr. 29. Dresden 2000. 36  Buthmann: Kadersicherung.

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titutionen und Ablauf des Kaderbestätigungsverfahrens und macht damit das ganze Ausmaß der sicherheitspolitischen Kontrolle von Führungskräften, Forschern und Außenhändlern in diesem Sektor sichtbar. Ausführlich geht Buthmann dabei auch auf die Sicherheitsüberprüfungen des MfS ein. Permanent, so sein Fazit, hätten die Offiziere mit diesen Musterungen in die Personalfragen des Jenaer Kombinats eingegriffen, etwa indem sie politisch engagierten Fachkräften den Vorzug gaben oder fachlich versierte, aber unpolitische Wissenschaftler ablehnten. Auf diese Weise, so der Autor, habe das MfS eher eine Schwächung der Effizienz und Innovationskraft der High-Tech-Branche bewirkt. Buthmann geht davon aus, dass die geheimpolizeiliche Präsenz im Betrieb vor allem eine Belastung darstellte. In Ansätzen schält sich dieser Befund auch in dieser Arbeit für den Bereich der chemischen Industrie heraus.  Allerdings vermittelt Buthmann den Eindruck, dass die Staatssicherheit das Personalwesen im Mikroelektronikkombinat Carl Zeiss Jena fest im Griff hatte. Um ihren Einfluss auf Kaderfragen darzustellen, verweist er vor allem auf normative Vorgaben wie Direktiven des Zentralkomitees der SED, Richtlinien des MfS oder Beschlüsse des Ministerrates. Anhand von konkreten Fallbeispielen lotet diese Arbeit für den Sektor Chemie hingegen auch die Grenzen der geheimpolizeilichen Einflussversuche aus. Nicht selten scheiterten die Offiziere bereits daran, ein einfaches Disziplinarverfahren gegen einen leitenden Angestellten in Gang zu setzen. Ausführlich sollen die Ursachen für diese eingeschränkte Sanktionsfähigkeit analysiert werden, wie zum Beispiel ökonomische Zwänge – hier vor allem der chronische Fachkräftemangel –, die Eigenmächtigkeiten der Wirtschaftsfunktionäre oder die abweichenden Interessen der Generaldirektionen und der lokalen SED-Organe. Dass das MfS nicht nur im Prestigesektor Mikroelektronik ein besonderes Engagement entfaltete, möchte Gunter Gerick in seiner Studie über das Verhältnis von SED und Staatssicherheit im Bezirk Karl-Marx-Stadt herausarbeiten.37 Ziel seiner Untersuchung ist es, hinter die harmonische Fassade der Staatspartei zu blicken und mögliche Interessengegensätze zwischen SED-Funktionären und MfS-Offizieren ausfindig zu machen. Das Konfliktpotenzial zwischen beiden Akteuren erachtet Gerick dabei als beträchtlich. Vor allem die Ambitionen der Bezirksverwaltung, mithilfe einer eigenen Forschungsstelle die regionalen Betriebe mit Personal und Expertise zu unterstützen, habe seiner Ansicht nach immer wieder zu internen Spannungen mit der SED-Bezirksleitung geführt. Gerick vertritt die These, dass sich das MfS im Bezirk Karl-Marx-Stadt von einem reinen Kontrollorgan zu einer steuernden Instanz weiterentwickelt hatte. In fast allen Betrieben, so der Autor, sei das MfS am Ende an größeren Forschungs- und Investitionsprojekten »beteiligt« gewesen. Innerhalb einer »kons37  Gunter Gerick: SED und MfS. Das Verhältnis der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt und der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit. 1961 bis 1989. Berlin 2013.

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pirativen Grauzone« habe das Sicherheitsorgan sogar Merkmale eines »Staates im Staate« ausbilden können. Damit geht Gerick deutlich weiter als Barkleit, der beim MfS eher eine »konfliktscheue Institution« erkennt, die lediglich bei ausgewählten Vorhaben im Hochtechnologiesektor involviert gewesen sei und sich dabei stets als »Erfüllungsgehilfe der Staatspartei« verstanden habe.38 Mit welchen konkreten Maßnahmen das MfS die Betriebe im Bezirk Karl-Marx-Stadt »zielgerichtet unterstützt« hat, verrät Gerick allerdings nicht. In seiner Untersuchung verweist er lediglich auf einige MfS-eigene Forschungsvorhaben und listet Decknamen von Operativen Vorgängen und Operativen Personenkontrollen auf, ohne das genaue Handeln der Offiziere hinter diesen bürokratischen Vorgängen offenzulegen. Die vorliegende Arbeit zielt dagegen auf die genaue Analyse der »operativen« Maßnahmen im Bereich der Chemieindustrie. Es wird die Frage geklärt, ob mit diesen tatsächlich ein unternehmerisches Handeln oder eher eine strafrechtliche Ermittlung oder vielleicht sogar nur ein passives Beobachten verbunden war. Ein Überwachungsfeld des MfS, das in dieser Untersuchung einen größeren Raum einnehmen soll, ist der Außenhandel der Chemiekombinate. In der Literatur wird die Rolle des MfS auf diesem Gebiet meist mit Verweis auf den sogenannten Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo) abgehandelt. Diese dem Außenhandelsministerium zugeordnete Sonderstruktur war für die Erwirtschaftung von Devisen und die Beschaffung von Embargowaren und Investitions­ gütern verantwortlich. Wie eng die Wirtschaftsüberwachung des MfS – hier vor allem die Hauptabteilung XVIII – mit der KoKo funktionell und personell verknüpft war, arbeitet unter anderem Buthmann heraus.39 Seine Studie über die »Arbeitsgruppe Bereich Kommerzielle Koordinierung« (AG BKK) innerhalb des MfS geht auf die Entstehungsgeschichte und die unterschiedlichen Funktionen sowohl der AG BKK als auch der KoKo selbst ein und skizziert die wichtigsten Geschäftsfelder des Sonderbereichs, etwa den Abfallhandel, die sogenannten Kirchengeschäfte oder die besonders einträglichen Häftlingsfreikäufe. Die Aktivitäten der außerplanmäßigen Außenhandelsorganisation werden im Detail auch bei Matthias Judt analysiert.40 Im Unterschied zu Buthmann rückt er allerdings nicht die Interaktionen zwischen KoKo und MfS in den Mittelpunkt, sondern die vielfältigen Kooperationsformen der KoKo-Handelsfirmen mit westlichen Unternehmen und ostdeutschen Außenhandels- und Produktionsbetrieben. Judt macht deutlich, dass bei den meisten neuartigen Geschäftsmodellen des Westhandels – wie Kompensationsgeschäfte, Gestattungsproduktionen oder Lohnveredelungen – die »Kommerzielle Koordinierung« als 38  Barkleit: Mikroelektronik, S. 131. 39  Reinhard Buthmann: Arbeitsgruppe Bereich Kommerzielle Koordinierung. Berlin 2004 (BStU, MfS-Handbuch; III/11). 40  Judt: Kommerzielle Koordinierung.

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Ideengeber und Vertragspartner auftrat. Die Folge war, dass die Handelsfirmen der KoKo eng in die Planvorhaben der regulären Industrie- und Außenhandelsbetriebe eingebunden waren, zum Beispiel indem sie begehrte Embargowaren beschafften, veredelte Grundstoffe auf westlichen Märkten absetzten oder größere Anlageneinkäufe vorfinanzierten. Judt hebt daher hervor, dass es sich bei der Sonderstruktur »KoKo« keinesfalls um einen abgekapselten Fremdkörper, sondern um einen integralen Bestandteil der DDR-Wirtschaftsordnung handelte. Buthmanns und Judts Ausführungen zur Kommerziellen Koordinierung sind für die vorliegende Arbeit äußerst hilfreich, da sie eine entscheidende Aufgabe der hier betrachteten Objektdienststellen der Chemiekombinate deutlich machen, nämlich die Kontrolle der KoKo-Geschäfte »von unten«, als Ergänzung zu ihrer Absicherung über die Hauptabteilung XVIII und die AG BKK des MfS. Diese Kontrolle betraf zum einen das an die KoKo angebundene Vertretergeschäft, das zu einem Überwachungsschwerpunkt der lokal stationierten Offiziere zählte. Eigentumsformen und Arbeitsweise der westlichen Vertreterfirmen werden ausführlicher bei Peter Krewer und Michael Kruse ausgeführt.41 Zum anderen standen die KoKo-Aktivitäten auch bei größeren Investitionsprojekten im Fokus der Objektdienststellen. Ein häufiger und besonders umworbener Partner der Buna- und Leuna-Werke war dabei die Intrac-Handelsgesellschaft – das gewinnträchtigste Unternehmen des KoKo-Verbandes. Auf deren Geschäftspraktiken geht Judt in einem gesonderten Abschnitt seiner Studie ein. Um die Rolle des MfS in der Wirtschaft angemessen einzuordnen, berücksichtigt diese Arbeit ebenso Überblicksdarstellungen zur Staatssicherheit, auch wenn die Diensteinheiten der Linie XVIII hier nur als Teilaspekt der Gesamt­ organisation erwähnt werden. Eine gelungene Zusammenfassung und Bewertung aller bisherigen Kenntnisse über die Entwicklung, Aufgaben, Arbeitstechniken und Funktionen des MfS innerhalb der SED-Diktatur bietet zum Beispiel Jens Giesekes Buch »Die Stasi«.42 Dargestellt wird die Entstehung und Entwicklung des Sicherheitsapparates von der stalinistischen Phase der frühen 1950er-Jahre, über die Zeit der Entspannungspolitik bis zur finalen Staats- und Wirtschaftskrise Ende der 1980er-Jahre. Gieseke erklärt zentrale Leitbegriffe des MfS wie die »Politisch-Ideologische Diversion« und geht noch einmal auf die wichtigsten Merkmale der IM-Methode ein. Einen größeren Abschnitt widmet er der Frage nach den Ursachen für die permanente und rasante Zunahme des hauptamtlichen Mitarbeiterstabs bis Anfang der 1980er-Jahre. Der Autor vertritt dabei die These, dass nicht nur die neue Herausforderung einer »leisen« Repression im 41  Peter Krewer: Geschäfte mit dem Klassenfeind. Die DDR im innerdeutschen Handel 1949–1989. Trier 2008; Michael Kruse: Politik und deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen von 1945 bis 1989. Berlin 2005. 42  Jens Gieseke: Die Stasi. 1945–1990. München 2001.

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Zuge der Entspannungspolitik, sondern auch die typischen Eigendynamiken einer Großbürokratie als Erklärung für die erstaunliche Expansion der Geheimpolizei herangezogen werden muss.  Giesekes Überblick enthält auch einige nützliche Hinweise zur Rolle des MfS in der Volkswirtschaft. Besonders gewinnbringend für die vorliegende Arbeit sind seine Ausführungen zur ökonomischen Steuerungsfähigkeit der Geheimpolizei. Auf der einen Seite bescheinigt Gieseke den Offizieren ein »hohes Einflusspotenzial« in den Betrieben, da vor allem die prekäre Anlagensicherheit immer wieder Anlass für kritische Situationsanalysen oder konspirative Ermittlungen gegeben hatte. Die Vorstellung, dass das MfS von einem überforderten Kombinat auch profitieren konnte, wird in dieser Arbeit mit dem Begriff des »Krisengewinnlers« weiterentwickelt. Auf der anderen Seite verweist der Autor auf den mangelnden technischen Sachverstand der Offiziere und ihren Hang, hinter jedem Zwischenfall eine »falsche« Gesinnung oder einen versteckten Westeinfluss zu vermuten. Mit dieser mentalen Verfassung, so Gieseke, war das MfS weder bereit noch in der Lage, praktisch im betrieblichen Alltag auszuhelfen oder Ideen für eine Reform des Planungsmodells zu entwickeln – ein Befund, der auch für den Chemiesektor hervorgehoben werden kann. Dennoch, so das Fazit Giesekes, kann an einigen Stellen durchaus ein echter ökonomischer Beitrag des Sicherheitsorgans herausgearbeitet werden. Der Autor erwähnt hier vor allem die Informationsdienstleistung der Geheimpolizei für politische und betriebliche Entscheidungsträger, das Bereitstellen von Expertisen im Rahmen der Technikspionage sowie die Absicherung von illegalen Außenhandelsgeschäften. Der hier dargelegte Forschungsstand43 macht deutlich, dass bislang nur einige Ausschnitte des MfS-Handelns in der ökonomischen Sphäre untersucht wurden. Die vorgestellten Studien behandelten entweder einzelne Akteure des MfS wie den Sicherheitsbeauftragten, eine spezifische geheimpolizeiliche Maßnahme wie die Sicherheitsüberprüfung oder die Rolle des MfS bei besonderen Projekten wie dem Mikroelektronikprogramm. Damit liegen zum Thema MfS und Volkswirtschaft bislang nur Teilergebnisse vor, die in der Regel nicht auf einer umfassenden empirischen Grundlage beruhen. Die vorliegende Studie bietet hingegen eine quellengesättigte Gesamtbetrachtung der Rolle der politischen Geheimpolizei in den Industriebetrieben der DDR am Beispiel der Chemiebranche. Anhand aussagekräftiger Fallbeispiele wird die konkrete Überwachungspraxis der hauptamtlichen Mitarbeiter der unteren Diensteinheiten 43  Für die Politik- und Wirtschaftsgeschichte der DDR, die Geschichte des Chemiereviers und der Organisation der Planwirtschaft – hier vor allem des Außenhandels – greift diese Untersuchung ebenso auf zahlreiche einschlägige Veröffentlichungen zurück, in denen das MfS keine zentrale Rolle spielt. Für einen Überblick über die relevante und hier berücksichtigte Literatur soll an dieser Stelle auf die kommentierte Bibliografie von André Steiner verwiesen werden. Siehe André Steiner: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR. Bonn 2007, S. 255–266.

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des MfS systematisch für die 1970er- und 1980er-Jahre analysiert. Ziel ist es, das tatsächliche Handeln – oder eben Nicht-Handeln – der MfS-Offiziere jenseits aller bürokratischen Schablonen und der mitunter übertriebenen Selbstdarstellungen des MfS in den überlieferten Akten sichtbar zu machen. Die Untersuchung arbeitet dabei erstmals die umfassende Verankerung des MfS in die Strukturen der Kombinate heraus. Dazu zählt zum einen die intensive Interaktion der MfS-Offiziere mit den führenden Wirtschaftsfunktionären der jeweiligen Sicherungsbereiche und zum anderen der unmittelbare Einfluss der übergeordneten Wirtschaftspolitik der SED und Wirtschaftsverwaltung auf die geheimpolizeiliche Überwachungsarbeit an der Basis.  Auf der Grundlage des umfangreichen Aktenmaterials der Bezirksverwaltung sowie der Kreis- und Objektdienststellen des MfS im Bezirk Halle präsentiert die Studie empirisch gefestigte Erkenntnisse über die Auswirkungen der MfS-Aktivitäten auf die Leitungskader und auf die ökonomische und technische Funktionstüchtigkeit der Kombinate. Damit ist die vorliegende Arbeit in der Lage, den grundlegenden Charakter und die Reichweite des geheimpolizeilichen Handelns sowie die Lösungskompetenz der MfS-Offiziere in Hinblick auf ihre selbstgesteckten sachund personenbezogenen Ziele realistisch einzuschätzen.

1.6  Die Chemiekombinate Bitterfeld, Leuna und Buna – Entstehungsgeschichte und gemeinsame Merkmale Die Chemiekombinate im Bezirk Halle bilden in dieser Arbeit den Rahmen für das Handeln des MfS. Im Folgenden soll daher kurz auf deren Entwicklung und typische Eigenschaften eingegangen werden. Wo lagen die Ursprünge dieser sozialistischen Großbetriebe? Und welche Besonderheiten dieses Industriegebietes bildeten sich über die Jahre heraus? Klar ist, dass die DDR den Chemiesektor im Hallenser Raum nicht selbst erfunden hat. Vielmehr blickt diese Region auf eine lange Tradition der chemischen Industrie zurück. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts begannen sich zwischen Halle und Bitterfeld erste kleinere Chemiefabriken anzusiedeln. Damals waren die Unternehmensgründer durch äußerst günstige Standortbedingungen angelockt worden, zu denen unter anderem billige Arbeitskräfte und weitläufiges Bauland, Lagerstätten von wichtigen Rohstoffen wie Braunkohle und Kalisalz sowie eine ausreichende Wasserversorgung durch die Flüsse Mulde und Saale zählten. Nicht unerheblich für viele Ingenieure, Planer und Wissenschaftler war zu dieser Zeit auch die ausgebaute Infrastruktur der Region, die einen Austausch von Gütern und Fachkräften mit den industriellen Zentren des Deutschen Reichs möglich machte.44 44  Vgl. Dirk Hackenholz, Rainer Karlsch: Großchemie in Sachsen-Anhalt. In: Franz-Josef Brüggemeier (Hg): Unter Strom. Energie, Chemie und Alltag in Sachsen-Anhalt, 1890–1990,

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Unter diesen günstigen Voraussetzungen erfuhr der mitteldeutsche Raum eine rasante industrielle Entwicklung. Ausgangspunkt war die Kleinstadt Bitterfeld, in der Ende des 19. Jahrhunderts die drei Pionierunternehmen des Industrie­ reviers gegründet wurden: die Chemische Fabrik Griesheim Elektron AG im Jahr 1893, die Elektrochemischen Werke GmbH – eine Tochter der AEG – im Jahr 1896 sowie eine Farbenfabrik des Berliner Unternehmens Agfa im benachbarten Wolfen im Jahr 1895.45 Markantestes Charakteristikum dieser drei Produzenten war die großtechnische Anwendung der Elektrolyse, einem Verfahren, bei dem chemische Grundstoffe durch strominduzierte Reaktionen gewonnen wurden.46 Eine besondere Stellung hatte dabei von Beginn an die Herstellung von Chlor. 1894 lief in Bitterfeld die erste Chlorelektrolyse an, bis Mitte des 20. Jahrhunderts sollten an diesem Standort noch fünf weitere Anlagen hinzukommen.47 Bitterfeld entwickelte sich damit zu einem Zentrum der Chlorchemie, aus der zahlreiche pharmazeutische Produkte sowie Kunst- und Farbstoffe hervorgingen.48 Eine Expansion des Reviers löste der Erste Weltkrieg aus. Griesheim Elektron erweiterte in dieser Zeit sein Werksgelände um eine Aluminiumfabrik, parallel dazu errichteten die Unternehmen Bayer und Agfa eine Salpetersäureanlage in Greppin.49 Mit Sprengstoffen, Giftgasen und Grundlagenstoffen für Rüstungsgüter waren die Bitterfelder Chemiebetriebe in der Lage, als wichtige Ausstatter der Reichswehr aufzutreten.50 Der kontinuierliche Ausbau des Bitterfelder Produktionsprogramms setzte sich aber auch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges Katalog zur Ausstellung im stillgelegten Kraftwerk Vockerode. Wittenberg 1999, S.  97; vgl. Claus Christ: Wirtschaftsordnung und Umweltschutz am Beispiel der Chemischen Industrie der DDR. In: Zeitzeugenberichte VII – Chemische Industrie. Frankfurt 2005, S. 173. 45  Im Jahr 1910 gründete Agfa ein zweites Werk für Filmmaterialien und Kunstfasern in Wolfen. Vgl. Hackenholz; Karlsch: Großchemie, S. 100; siehe ebenso Adolf Eser: Von Alaun bis Zitronensäure. Ein Streifzug durch die Chemiegeschichte. Muldenstein 2013, S. 15. Eine weitere Pionierfabrik war das »Salzbergwerk Neustaßfurt« in Zscherndorf, später als »Kalichemie Zscherndorf« bezeichnet. Vgl. Edgar Fischer: Tradition und High-Chem. Eine chlorreiche Geschichte im Raum Bitterfeld-Wolfen. Leipzig 2004, S. 30. 46  Vgl. Fischer: High-Chem, S. 44. 47  Anfang der 1950er-Jahre gab es in Bitterfeld die Chlorbetriebe Chlor I, II und III im Werk Süd und die Chlorbetriebe Zersetzer I, II und III im Werk Nord sowie Chlorverflüssigungsanlagen in beiden Werksbereichen und einen Chloratbetrieb im Werk Süd. Vgl. Fischer: High-Chem, S. 102; vgl. Hackenholz; Karlsch: Großchemie, S. 97; vgl. http://www.deutscheschemie-museum.de/index.php?id=36, abgerufen am 3.1.2018. 48  Vgl. Fischer: High Chem, S. 44–50; vgl. ebenso https://www.basf.com/de/de/company/ about-us/sites/ludwigshafen/commitment-for-the-region/education/angebote-7-13/unterrichtsmaterialien/Chloralkalielektrolyse.html, abgerufen am 3.1.2018. 49  Vgl. Eser: Von Alaun bis Zitronensäure, S. 26. 50  Vgl. Friederike Sattler: Unternehmensstrategien und Politik. Zur Entwicklung der mitteldeutschen Chemieindustrie im 20. Jahrhundert. In: Hermann-J. Rupieper, Friederike Sattler, Georg Wagner-Kyora (Hg.): Die Mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert. Halle 2005, S. 125.

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fort. Ob Fotofilme, Waschmittel, Medikamente oder Leichtmetalle – Stück für Stück bildete sich in den 1920er- und 1930er-Jahren jene vielgestaltige Erzeugnispalette heraus, die auch in der DDR-Zeit zum wichtigsten Merkmal dieses Industriestandorts zählte.51 Ende der 1980er-Jahre sollten hier über 4 500 Einzel­ erzeugnisse produziert werden.52 Die Unternehmen der Region Bitterfeld, die sich Anfang der 1930er-Jahre in der »Betriebsgemeinschaft Mitteldeutschland«53 als eine Untergruppe der IG Farbenindustrie AG zusammengeschlossen hatten, gingen nach der Phase der Enteignung, Demontage und Verstaatlichung zu Beginn der 1950er-Jahre in den beiden Volkseigenen Betrieben »Farbenfabrik Wolfen« und »Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld« auf.54 Im Jahr 1969 folgte ihr Zusammenschluss zum Chemiekombinat Bitterfeld (CKB), in das zusätzlich sechs weitere Chemiewerke eingegliedert wurden.55 Damit entstand ein Industriekonglomerat, das allein auf dem Gelände des Stammbetriebs aus mehr als 90 selbstständigen Fabriken und Anlagen bestand. In den 1980er-Jahren arbeiteten hier 18 500 Beschäftigte. In den Teilbetrieben des Kombinats, die weit über die gesamte DDR verstreut lagen, kamen noch einmal ungefähr 12 000 Beschäftigte hinzu.56 Zusammen produzierten sie 7 Prozent der gesamten Chemieproduktion der DDR, das entsprach einem Warenwert von gut 5 Milliarden Mark pro Jahr (1987).

51  Vgl. Hackenholz; Karlsch: Großchemie, S. 113. 52  Vgl. Hauptabteilung XVIII/13 des MfS: Information zu einigen bedeutsamen Problemen des technischen Zustands der Produktions- und Energieerzeugungsanlagen im VEB CKB, 1987; BStU, MfS, BV Halle, HA XVIII, Nr. 12183, Bl. 107. 53  Dazu zählten die Bitterfelder Werke Nord und Süd, die Chemische Fabrik Griesheim, die Säurefabrik Bitterfeld und die Farbenfabrik Wolfen. Vgl. http://www.deutsches-chemiemuseum.de/index.php?id=36, abgerufen am 3.1.2018. 54  Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden 90 % der mitteldeutschen Chemieindustrie in sowjetisches Eigentum umgewandelt. Sowjetische Industrieministerien leiteten die bisherigen Unternehmen als sogenannte »Sowjetische Aktiengesellschaften« (SAGs) an. Aus den SAG-Betrieben gingen zwischen 1952 und 1954 die Volkseigenen Betriebe an den Standorten Schkopau, Leuna und Bitterfeld hervor. Vgl. Hackenholz; Karlsch: Großchemie, S. 113. 55 Zu den Kombinatsbetrieben des Chemiekombinats Bitterfeld zählten der VEB Elek­ trokohle Lichtenberg für chemische Elektrokohle und Graphit, der VEB Vereinigte Sodawerke »Karl Marx« Bernburg-Staßfurt, der VEB Chemiewerk Nünchritz für Fluor- und silikonorganische Chemie, der VEB Chemiewerk Bad Köstritz für anorganische Spezialprodukte mit dem Betriebsteil Mügeln, der VEB Fettchemie Karl-Marx-Stadt mit den Betriebsteilen Mohnsdorf, Zwickau und Dresden sowie der VEB Domal Stadtilm mit den Betriebsteilen Klarofix in Leipzig, USUS Haushaltschemie in Groitzsch und Duxal in Dresden. Vgl. Zweite Ergänzung zum Statut des VEB CKB vom 30.1.1984; LHASA, MER, I 509, Nr. 1385, n. p.; vgl. Heinz Schwarz: Prägungen aus acht Jahrzehnten. Bitterfelder Weg eines Generaldirektors. Schkeuditz 2004, S. 183. 56  Vgl. Christ: Wirtschaftsordnung, S. 170; vgl. Schwarz: Prägungen, S. 183 u. 188.

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Etwa 80 Prozent aller Industriegüter der DDR waren auf die chemischen Erzeugnisse aus Bitterfeld angewiesen.57 An erster Stelle der Produktion stand auch in der DDR-Zeit der Grundstoff Chlor. Zwischen 1960 und 1988 verdoppelte sich das Produktionsvolumen von 100 000 auf 200 000 Tonnen pro Jahr.58 In den 1950er-Jahren trat das CKB aber auch als wichtiger Standort für die Kunststoffproduktion in Erscheinung. So sah das erste Chemieprogramm von 1958 bis 1965 eine deutliche Erweiterung der Bitterfelder PVC-Anlagen vor.59 Erst nach einem schweren Unglück im Juli 1968, als unkontrolliert ausströmendes Vinylchlorid eine Explosion der Produktionshalle für PVC auslöste, wurde die Kunststoffsparte nach Schkopau verlegt.60 Zum Angebotsprofil des Kombinats zählten neben Chlor und PVC ebenso Chlorate, Wasserstoff, Bleich- und Pflanzenschutzmittel sowie Aluminium, Farbstoffe und Gipsschwefel. Nach Angaben des ehemaligen Generaldirektors Heinz Schwarz gingen 30 bis 40 Prozent dieser Güter in den Export, 70 Prozent davon in die Staaten des RGW.61 Mit diesen hohen Anteilen am Außenhandel war das Werk innerhalb der chemischen Industrie keine Ausnahme. Der zweite in dieser Arbeit betrachtete Industriestandort waren die Leuna-Werke. Sie waren ein Ergebnis der industriellen Boomzeit des Ersten Weltkriegs. Zur Gewinnung von Salpeter und Salpetersäure ließ die BASF im Jahr 1916 ein Ammoniakwerk in Merseburg errichten.62 In der Folgezeit entwickelte sich die Kleinstadt südlich von Halle zu einem schnell wachsenden Zentrum für großtechnische Syntheseanlagen. Im Jahr 1924 folgte eine Fabrik zur Herstellung von Methanol und im Jahr 1927 ein Kohlehydrierwerk zur Herstellung von Benzin, Leicht- und Schmierölen aus Braunkohle – damals das erste dieser Art im Deutschen Reich.63 Der Ansatz, Benzin aus heimischer Braunkohle zu gewinnen, wurde vor allem in den 1930er- und 1940er-Jahren stark gefördert, da er zu den Autarkiebestrebungen der NS-Regierung passte. In dieser Zeit avancierte Leuna zum wichtigsten Produzenten für synthetischen Treibstoff.64 Unübersehbar stand also in der ersten Hälfte der Werksgeschichte die chemische Verarbeitung von Braunkohle im Mittelpunkt. Dies sollte sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings grundlegend ändern. Zwar führte der 1954 gegründete VEB Leuna-Werke »Walter Ul57  Vgl. Hauptabteilung XVIII/13 des MfS: Information zu einigen bedeutsamen Problemen des technischen Zustands der Produktions- und Energieerzeugungsanlagen im VEB CKB, 1987; BStU, MfS, BV Halle, HA XVIII, Nr. 12183, Bl. 107. 58  Vgl. Hackenholz; Karlsch: Großchemie, S. 120. 59  Vgl. Eser: Von Alaun bis Zitronensäure, S. 56. 60  Vgl. Christ: Wirtschaftsordnung, S. 169. 61  Vgl. Schwarz: Prägungen, S. 240. 62  Vgl. Hackenholz; Karlsch: Großchemie, S. 103. 63  Vgl. Erika Onderka, Wolfgang Meinl: Leuna. Kraft aus Kohle und Öl. 70 Jahre Kraftstoffe aus den Leuna-Werken. Halle 1997, S. 11 u. 17. 64  Vgl. Hackenholz; Karlsch: Großchemie, S. 109; vgl. Onderka; Meinl: Leuna, S. 17.

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bricht« die kohlebasierte Gewinnung von Kraftstoffen, Methanol und Ammoniak fort. Doch schon bald begannen sich die ökonomischen Grenzen dieser traditionellen Carbochemie abzuzeichnen, weshalb Mitte der 1950er-Jahre auch die Verarbeitung von sowjetischem Erdöl in Angriff genommen wurde.65 Den eigentlichen Auftakt zur modernen Petrochemie bildete aber das Chemieprogramm von 1958. Mit mehreren Großinvestitionen begann die Wirtschaftsverwaltung der DDR in diesem Jahr, eine eigenständige Mineralölindustrie aufzubauen, zu deren Hauptstandorten die Leuna-Werke und das 1964 eingeweihte Erdölverarbeitungswerk in Schwedt zählten.66 Auf dem Werksgelände in Leuna entstanden bis 1968 Anlagen zur Herstellung von Ethylen, Propylen, Olefinen und Caprolactam. Zusammen bildeten sie einen komplett neuen Werksteil – das sogenannte »Leuna II« –, mit dem sich das einstige Kohlehydrierwerk zu einem Zentrum der Erdölverarbeitung weiterentwickelt hatte. Ein längst fälliger Strukturwandel in der DDR-Chemieindustrie wurde damit zumindest ansatzweise nachgeholt.67 Die schnelle Expansion des Werks verlangte nach einer inneren Umstrukturierung, weshalb im Jahr 1969 die Gründung des Kombinats Leuna erfolgte. Mit der neuen Organisationsform sollten die alten und neuen Werksbereiche unter einem gemeinsamen Dach zusammengeführt werden. Der neu geschaffene Großbetrieb besaß beachtliche Ausmaße: Leuna I und II formten mit 14 Quadratkilometern das größte geschlossene Industrieareal des Landes.68 In beiden Werksteilen erwirtschafteten zusammen etwa 27 500 Beschäftigte gut 12 Prozent der Chemieproduktion der DDR.69 In den 1970er- und 1980er-Jahren sah sich das neue Großkombinat vor allem mit drei zentralen Herausforderungen konfrontiert: Erstens mit der »vertieften Spaltung« von Erdöl zu sogenannten hellen Stoffen wie Benzin, anderen Kraftstoffen oder Butadien.70 Mit dem Konzept der Höherveredelung waren die LeunaWerke aufgefordert, nicht mehr heimische Energieträger wie Heizöl, sondern 65  Vgl. Onderka; Meinl: Leuna, S. 51. 66  Raymond Stokes attestiert den Planern und Ingenieuren der DDR »übermenschliche Leistungen« beim Aufbau einer eigenen Mineralölindustrie. Vgl. Rainer Karlsch, Raymond G. Stokes: Faktor Öl. Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1959 bis 1974. München 2003, S. 344. 67  Vgl. Hackenholz; Karlsch: Großchemie, S. 117; vgl. Georg Wagner-Kyora: Vom »nationalen« zum »sozialistischen« Selbst. Zur Erfahrungsgeschichte deutscher Chemiker und Ingenieure im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2009, S. 76. 68  Vgl. Hans Herbert Götz: Der Generaldirektor und sein Werk. In: FAZ v. 5.3.1983, Nr. 54; LHASA, MER, I 525, Nr. 17238, n. p. 69  Vgl. Christ: Wirtschaftsordnung, S.  170; vgl. Rede des Generaldirektors der Chemischen Werke Leuna vom 14.12.1988; LHASA, MER, I 525, Nr. 18814, Bl. 237. 70  Vgl. Raymond Stokes: Von Trabbis und Acetylen – Die Technikentwicklung. In: André Steiner (Hg.): Überholen ohne einzuholen. Die DDR-Wirtschaft als Fußnote der deutschen Geschichte? Berlin 2006, S. 121.

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exportfähige Grund- und Treibstoffe zur Verfügung zu stellen. Für diese Produktionsumstellung waren kostspielige Neuerwerbungen notwendig, unter anderem eine Reformer-, Visbreaker- und Vakuumdestillationsanlage.71 Zweitens mit der erweiterten Erzeugung von Synthesegas auf der Basis von Braunkohleschwelkoks.  Damit entschied sich das Kombinat aufgrund der zunehmend knappen Erdölversorgung, Braunkohle auch weiterhin stofflich in den sogenannten Winkleranlagen zu verarbeiten. Auf diese Weise liefen in den LeunaWerken bis Ende der 1980er-Jahre die moderne Petro- und die traditionelle Carbochemie zeitgleich nebeneinander.72 Und drittens mit der Notwendigkeit, Rohstoffe effizienter auszubeuten und den Energieverbrauch deutlich zu senken. Ein Großprojekt war hierbei die Gewinnung von Methanol und Synthesegas auf der Basis von wiederverwendeten Erdölrückständen.73 Mit diesen drei Großprojekten – Ausbau der Erdölraffination, Weiterführung der Kohleverarbeitung und Intensivierung der Materialausbeute – erweiterte sich der Warenkatalog Leunas auf über 500 Einzelprodukte. Neben Treib- und Schmierstoffen zählten dazu vor allem Leime und Stickstoffprodukte, Waschund Spülmittel sowie Vorprodukte für Plastikkunststoffe und Synthesefasern.74 Mit diesem Produktionsprofil errangen die Leuna-Werke eine wichtige Rolle für die übergeordnete Wirtschaftspolitik – sowohl für das Ziel der 1970er-Jahre, die Konsumgüterversorgung zu verbessern, als auch für die Vorgabe der 1980erJahre, die Exporte auszuweiten und möglichst schnell Devisen zu erwirtschaften. Gerade bei Letzterem konnten die Leuna-Werke einige Erfolge vorweisen. Die Außenhändler des Kombinats pflegten Geschäftskontakte mit Unternehmen in über 40 Ländern und setzten Anfang der 1980er-Jahre gut 18 Prozent ihrer Waren auf westlichen Märkten ab.75 Eng mit den Leuna-Werken verbunden war der dritte hier betrachtete Produktionsstandort: die Buna-Werke in Schkopau. Ihre Gründung geht auf die autarkieorientierte Industriepolitik der NS-Regierung zurück, die Mitte der 1930er-Jahre nicht nur die Kohlehydrierung, sondern auch die Erzeugung von synthetischem Kautschuk förderte. Auf der Grundlage eines Vertrags zwischen dem Deutschen Reich und der IG Farbenindustrie AG wurde im Jahr 1937 die 71  Vgl. Onderka; Meinl: Leuna, S. 70. 72  Vgl. Abteilung Kombinatsentwicklung der Leuna-Werke: Veredelungskonzeption für Leuna 1981–85 vom 31.8.1982; LHASA, MER, I 525, Nr. 24625, n. p. 73 Vgl. Betriebsdirektion Synthesegas der Leuna-Werke: Wissenschaftlich-technische Hauptentwicklungsrichtung und proportionale Leistungsentwicklung des Kombinates 1986– 1990, 1985; LHASA, I 525, Nr. 24586, Bl. 1–20; vgl. Hans Herbert Götz: Der Generaldirektor und sein Werk. In: FAZ v. 5.3.1983, Nr. 54; LHASA, MER, I 525, Nr. 17238, n. p. 74  Vgl. Rede des Generaldirektors der Chemischen Werke Leuna vom 14.12.1988; LHASA, MER, I 525, Nr. 18814, Bl. 237; vgl. Wagner-Kyora: Vom »nationalen« zum »sozialistischen« Selbst, S. 94. 75  Vgl. Hans Herbert Götz: Der Generaldirektor und sein Werk. In: FAZ v. 5.3.1983, Nr. 54; LHASA, MER, I 525, Nr. 17238, n. p.

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Buna Werke GmbH als Tochtergesellschaft des Merseburger Ammoniakwerks ins Leben gerufen.76 Die Kleinstadt Schkopau südlich von Halle erhielt damit die weltweit erste Fabrik, in der Kautschuk künstlich auf der Basis von Kalziumkarbid und Acetylen produziert wurde.77 Mithilfe dieser Ausgangsstoffe entstanden bis Mitte der 1980er-Jahre über 30 Kautschuktypen, die unter anderem für die Fertigung von Reifen, Schläuchen, Kabeln oder Förderbändern verwendet wurden.78 Ein zweites Standbein des neuen Chemieunternehmens kam bereits Anfang der 1940er-Jahre hinzu: die Produktion von Kunststoffen. Fortan standen die Buna-Werke nicht nur für Gummi-Produkte, sondern auch für PVC, Polystyrol oder Polyesterharze als Ausgangsstoffe für Folien, Platten oder Rohre.79 Kautschuk und Kunststoffe blieben auch in der DDR-Zeit die beiden Haupterzeugnisse aus Schkopau. Die Produktion im 1954 gegründeten VEB Chemische Werke Buna beruhte dabei bis zuletzt auf dem aus Braunkohle gewonnenen Grundstoff Karbid. Obwohl die sogenannte Karbid-AcetylenChemie bereits Mitte der 1960er-Jahre als veraltet galt, stieg das Werk bis Anfang der 1970er-Jahre zum größten Karbidproduzenten der Welt auf. Schkopau kann damit als Zentrum der DDR-Carbochemie bezeichnet werden.80 Im Jahr 1970 erfolgte die Einrichtung der Kombinatsstruktur, bei der das Stammwerk in Schkopau mit vier weiteren Kunststofffabriken zu einem sozialistischen Großbetrieb mit insgesamt 29  000 Beschäftigten fusionierte.81 Mit dieser Neuorganisation ging im Laufe der 1970er-Jahre der Erwerb einer Reihe von Neuanlagen einher, unter anderen für die Herstellung von Poly­ acrylaten, Polyolefinen und Tensiden.82 Das Werksgelände südlich von Halle erfuhr damit eine deutliche Ausdehnung. Mit Neuanlagen zur Herstellung von Chlor, Vinylchlorid und Polyvinylchlorid kam zwischen 1976 und 1980 sogar ein komplett neuer Werksteil hinzu. Die Errichtung von »Buna II« – einem 76  Vgl. Hackenholz; Karlsch: Großchemie, S. 109. 77  Vgl. Gabriele Ahlefeld, Astrid Molder, Rudolf Werner: Plaste und Elaste aus Schkopau. 60 Jahre Buna-Werke. Pinneberg 1996, S. 19. 78  Vgl. Georg Wagner-Kyora: Karbidarbeiter in der Bargaining-Community. Klassenlage und Identitätskonstruktion. In: Renate Hürtgen, Thomas Reichel (Hg.): Der Schein der Stabilität – DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker. Berlin 2001, S. 198. 79  Vgl. Heinz Rehmann: Das Buna-Werk Schkopau. Das erste deutsche Buna-Synthesekautschuk-Werk. 1936–1995. Schkopau 2006, S. 31. 80  Vgl. Wagner-Kyora: Vom »nationalen« zum »sozialistischen« Selbst, S. 76; vgl. Hackenholz; Karlsch: Großchemie, S. 117. 81  Zu den Kombinatsbetrieben der Buna-Werke zählten der VEB Ammendorfer Plastwerk bei Halle, der VEB Chemiewerk Greiz-Dölau bei Gera, der VEB Orbitaplast Weißandt-Gölzau mit den Betriebsteilen Westeregeln, Osternienburg und Karl-Marx-Stadt sowie ab 1974 der VEB Eilenburger Chemiewerk bei Leipzig (vorher Teil von Orbitaplast). Vgl. Ahlefeld; Molder; Werner: Plaste und Elaste, S.104; Christ: Wirtschaftsordnung, S. 170. 82  Vgl. Ahlefeld; Molder; Werner: Plaste und Elaste, S. 73.

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Kooperationsprojekt mit der Hoechst-Tochter Uhde – bildete den Abschluss einer mehrjährigen Expansionsphase, mit der sich das Kombinat schrittweise zum größten Kunststoffproduzenten der DDR entwickelte.83 Da ein Großteil der seit Ende der 1960er-Jahre erworbenen Neuanlagen auf petrochemischer Basis liefen, hielt mit der Werkserweiterung auch in Buna die Ölchemie Einzug.84 Bis zur Umstellung der Energiepolitik der DDR Anfang der 1980er-Jahre ging jeweils die Hälfte der Produktion im Kombinat auf die beiden zentralen Grundstoffe Braunkohle und Erdöl zurück.85 Eine vollständige Loslösung von der Kohle-Karbid-Grundlage gelang den Buna-Werken allerdings nicht. Politische Vorgaben und knappe Investitionsmittel zwangen die Kombinatsbetriebe vielmehr dazu, an den veralteten Anlagen und Verfahren der Kohlechemie festzuhalten. Im Zuge der verringerten Erdöllieferungen aus der Sowjetunion ab 1981 erlebten Kohle und Karbid sogar ein regelrechtes Revival. Auch wenn sie materiell verschlissen und technisch rückständig waren, standen zum Beispiel die Karbidöfen im Stammwerk Schkopau im Mittelpunkt eines größeren Rekonstruktionsvorhabens in den ausgehenden 1980er-Jahren.86 Dank der zahlreichen Erweiterungsinvestitionen konnte das Kombinat kurz vor seiner Auflösung im Juni 1990 eine Angebotspalette mit über 800 Einzelprodukten vorweisen.87 Ein Drittel davon ging in den Export, vor allem der Kautschukstrang erwies sich international als wettbewerbsfähig. Noch im Jahr 1989 wurde eine hochmoderne Anlage für Tiefentemperaturkautschuk in Betrieb genommen.88 Stärker als die Leuna-Werke trat das Buna-Kombinat aber auch als Zulieferer für DDR-Betriebe in Erscheinung. Seine Erzeugnisse bildeten die Grundlage für etwa 10 Prozent der gesamten Industrieproduktion in der DDR.89 Vor allem der seit Anfang der 1970er-Jahre forcierte Ausbau des Konsumgütersektors wäre ohne die Plastwerkstoffe aus Schkopau kaum denkbar gewesen. Betrachtet man sich alle drei Standorte zusammen, lassen sich eine ganze Reihe gemeinsamer Merkmale feststellen. Zuallererst fällt die ökonomische Relevanz aller drei Chemiekombinate auf. Sowohl für die nachgelagerten Branchen wie die Textilindustrie oder den Maschinenbau als auch für die großen wirtschaftspolitischen Zielsetzungen der SED-Führung waren die Grundstoffe und Fertigerzeugnisse der Chemiebetriebe im Raum Halle-Bitterfeld unverzichtbar.

83  Vgl. ebenda, S. 104; vgl. Rehmann: Buna-Werk, S. 96. 84  Im Jahr 1966 wurde die Produktion von Tiefentemperaturkautschuk auf der Basis von Erdöl aufgenommen. Vgl. Ahlefeld; Molder; Werner: Plaste und Elaste, S. 73. 85  Vgl. Wagner Kyora: Karbidarbeiter, S. 199. 86  Vgl. ebenda. 87  Vgl. Ahlefeld; Molder; Werner: Plaste und Elaste, S. 94. 88  Vgl. Wagner-Kyora: Karbidarbeiter, S. 198. 89  Vgl. ebenda.

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Neben der ökonomischen Bedeutung kennzeichnete das Revier ebenso eine wechselseitige Abhängigkeit. Sowohl zwischen den Kombinaten als auch zwischen den einzelnen Produktionsbereichen innerhalb eines Kombinats wurden Strom, Dampf, Wärme und chemische Stoffe wechselseitig ausgetauscht. Die Einzelwerke waren also nicht autark, sondern bildeten zusammen eine Verbundchemie, bei der das Produkt eines chemischen Verfahrens in einer Fabrik als Ausgangsstoff eines weiteren Verfahrens in einer benachbarten Fabrik eingesetzt wurde.90 Dass alle drei Akteure dieses Produktionsverbundes eine ausgesprochen breite Produktpalette aufwiesen, kann als weiteres Merkmal der Hallenser Chemiebranche herausgearbeitet werden.91 Auffällig war hier vor allem der Warenkatalog des Chemiekombinats Bitterfeld mit über 4 500 Einzelerzeugnissen. Für diese Aufsplitterung und Unterspezialisierung des Güterangebots spielten ökonomische und ideologische Ursachen eine Rolle: Zunächst erschwerten die Ostbindung des Außenhandels und die damit verbundene Devisenknappheit eine stärkere Integration der DDR in den internationalen Warenaustausch. Chemische Produkte, die im Ausland günstig zu erwerben gewesen wären, mussten damit mühsam in Eigenproduktion erzeugt werden.92 Dieser Sachzwang wurde darüber hinaus durch die politische Vorgabe verschärft, Importe von westlichen Märkten generell zu vermeiden oder zu reduzieren. Ziel der Wirtschaftsplaner war es nicht zuallererst, Marktnischen zu entdecken und in ihnen wettbewerbsfähige Spezialprodukte zu platzieren, sondern – soweit das praktisch möglich war – das gesamte Weltmarktangebot an chemischen Erzeugnissen in Eigenregie herzustellen.93 Nicht die Innovativität, sondern die Vollständigkeit der Produktpalette galt bis zuletzt als wichtigstes Kriterium der DDR-Chemiepolitik.94 Diese Vorgabe allein war für die Chemiekombinate bereits eine enorme Heraus­ forderung. Doch die Planer gingen noch einen Schritt weiter. Sie verlangten von den Produzenten nicht nur ein breites, sondern auch ein erstklassiges Angebot. Im Bereich des Chemiesektors unternahm die DDR damit den Versuch, die beiden eigentlich unvereinbaren Ziele »Vollständigkeit« und »Wettbewerbsfähigkeit« miteinander zu verbinden. Das Streben nach Höchstqualität kann als 90  Vgl. Christ: Wirtschaftsordnung, S. 159. 91  Vgl. Harm G. Schröter: Ölkrisen und Reaktionen in der chemischen Industrie beider deutscher Staaten. Ein Beitrag zur Erklärung wirtschaftlicher Leistungsdifferenzen. In: Johannes Bähr, Dietmar Petzina (Hg.): Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen. Vergleichende Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland 1945–1990, S. 125. 92  Vgl. Raymond G. Stokes: Chemie und chemische Industrie im Sozialismus. In: Dieter Hoffmann, Kristie Macrakis (Hg.): Naturwissenschaft und Technik in der DDR. Berlin 1997, S. 283. 93  Vgl. Olaf Klenke: Ist die DDR an der Globalisierung gescheitert? Autarke Wirtschaftspolitik versus internationale Weltwirtschaft – Das Beispiel Mikroelektronik. Frankfurt 2001, S. 86; vgl. Hackenholz, Karlsch: Großchemie, S. 117. 94  Schröter verweist auf das zentrale Kriterium der »Verfügbarkeit«. Vgl. Schröter: Ölkrisen und Reaktionen, S. 125.

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weitere gemeinsame Eigenschaft der drei untersuchten Chemiekombinate angeführt werden.95 Dem politischen Auftrag, eine vielfältige und hochwertige Produktpalette anzubieten, versuchten Kombinate und Wirtschaftsverwaltung mit drei Strategien zu begegnen: Erstens mit einem schnellen Ausbau des Anlagenparks. In fast jeder Dekade der Nachkriegszeit erlebten die drei Industriestandorte eine Fülle von Erweiterungsinvestitionen. In Buna und Leuna wurden sogar komplett neue Werksteile errichtet. In der Regel gingen diese Expansionsschübe allerdings mit einer chronischen Vernachlässigung der Altanlagen einher. Hochmoderne und stark verschlissene Anlagen standen damit auf den Werksgeländen nebeneinander. Zweitens spielte die forcierte Eigenentwicklung von Verfahren und Anlagen eine wichtige Rolle. Die für die Chemieindustrie ohnehin wichtige Forschung wurde von der DDR-Regierung besonders ernst genommen. Kombinate wurden zu Großforschungszentren ausgebaut, um eine enge Abstimmung zwischen Verfahrensentwicklung und Produktion sicherzustellen. Ein Beispiel dafür sind die Leuna-Werke, die mit über 2 500 Wissenschaftlern das größte industrielle Forschungszentrum der DDR darstellten.96 Die Verknüpfung von Forschung und Produktion hatte hier tatsächlich Erfolg, mit neuen Sorten für Waschmittel und Kunststofffasern konnten die Leuna-Entwickler international wettbewerbsfähige Verfahren vorweisen. Vor allem in der Grundlagenforschung erreichten die drei Chemiekombinate oft Spitzenqualität. Größere Schwierigkeiten bereitete ihnen allerdings die Überführung neuerer Verfahren in die Serienproduktion, insbesondere der Chemieanlagenbau erwies sich hierbei immer wieder als erhebliche Entwicklungsbremse.97 Drittens war die Zweigleisigkeit von Kohle- und Erdölchemie strategisch von Bedeutung. Da in der DDR Rohstoffe knapp waren und nur eingeschränkt importiert werden konnten, setzte der Chemiesektor zunächst im großen Stil auf den Einsatz einheimischer Braunkohle – sowohl als Energieträger für Wärme und Strom als auch als Grundstoff für chemische Verfahren. Eine solche Kohlebasis sollte die Entwicklung einer breiten Produktpalette aus eigener Kraft sicherstellen. Wollte die DDR-Chemie allerdings auch ihrem Anspruch auf Höchstqualität gerecht werden, konnte sie sich einer Hinwendung zur Erdölver95  Vgl. Stokes: Chemie und chemische Industrie, S. 284; Harm G. Schröter: Handlungspfadverengung bis zur »Selbstzerstörung«? Oder: Warum die chemische Industrie im Vergleich zu der der Bundesrepublik zwischen 1965 und 1990 so hoffnungslos veraltete. In: Lothar Baar, Dietmar Petzina (Hg.): Deutsch-Deutsche Wirtschaft 1945 bis 1990. Strukturveränderungen, Innovationen und regionaler Wandel. Ein Vergleich. St. Katharinen 2000, S. 308. 96  Vgl. Hans Herbert Götz: Der Generaldirektor und sein Werk. In: FAZ v. 5.3.1983, Nr. 54; LHASA, MER, I 525, Nr. 17238, n. p. 97  Vgl. Stokes: Chemie und chemische Industrie, S. 283; vgl. Schröter: Handlungspfadverengung, S. 311.

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arbeitung auf Dauer nicht verweigern. Mitte der 1950er-Jahre hielt daher auch in den drei Chemiewerken Buna, Leuna und Bitterfeld die international bereits etablierte Petrochemie Einzug. Zu einer konsequenten Umrüstung auf die neuen Erdölanlagen und -verfahren sollte es aber nicht kommen. Die beiden widersprüchlichen Ziele »Vollständigkeit« und »Qualität« verhinderten vielmehr eine umfassende Modernisierung und Spezialisierung der Produktion. Carbound Petrochemie wurden daher bis zuletzt nebeneinander betrieben und ausgebaut. Damit können drei zentrale Besonderheiten des DDR-Chemiesektors festgehalten werden, die eng aufeinander bezogen waren: die bis zuletzt dominante Rolle der Kohle, der Hang zur Autarkie und das Streben nach Erstklassigkeit. Völlig neu waren diese drei Merkmale allerdings nicht. Der Wirtschaftshistoriker Raymond Stokes weist vielmehr darauf hin, dass die Anlagen, Verfahren und grundlegenden Arbeitsprinzipien der DDR-Chemie auf die industrielle Boomphase der NS-Zeit zurückgeführt werden können. Dem Hallenser Chemierevier bescheinigt er demnach eine »hohe Affinität zu deutschen Langzeittraditionen«.98 Auch wenn die Anstrengungen in den Bereichen Forschung und Investitionen enorm waren, fiel es den Chemiekombinaten im Laufe der 1970er-Jahre immer schwerer, die Nachfrage der Betriebe im Innern zu bedienen und die Exportvorgaben der Planzentrale einzuhalten. Die Produzenten waren sowohl bei der Qualität als auch bei der Quantität der Planvorgaben zunehmend überfordert. Ab Mitte der 1970er-Jahre sahen sich die Planer daher gezwungen, entgegen ihren ursprünglichen Absichten Grundstoffe, Verfahren und Anlagen verstärkt auch aus dem westlichen Ausland einzuführen.99 Diese Technik- und Lizenzeinkäufe sollten helfen, akute Engpässe zu überbrücken und eine schrittweise Modernisierung der Produktionsstandorte einzuleiten. Langfristig, so die Hoffnung, könne die DDR-Chemiebranche dann doch noch als unabhängiger und international wettbewerbsfähiger Gesamtausstatter für chemische Erzeugnisse auftreten. Der Erfolg dieser Strategie ließ aber auf sich warten. Auf der einen Seite verbesserten die kostspieligen Lizenz- und Anlageneinkäufe die Qualität der Produktion nur bedingt, während der Druck auf die Chemiekombinate, auf den Außenmärkten Erfolge vorzuweisen, umso größer wurde. Die Gegenfinanzierung der Investitionen beruhte nämlich zu großen Teilen auf zusätzlichen Exporten chemischer Erzeugnisse. In dieser Situation blieb den kombinatseigenen Außenhändlern oft nichts anderes übrig, als billige Grund- und Treibstoffe sowie einfache Fertigerzeugnisse anzubieten. Das Ideal der Höchstqualität rückte damit in weite Ferne. 98  Vgl. Stokes: Chemie und chemische Industrie, S. 286. 99  Vgl. Hackenholz; Karlsch: Großchemie, S. 118.

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Auf der anderen Seite begaben sich die Produktionsbetriebe mit jedem Technikimport immer stärker in die Abhängigkeit ihrer westlichen Partner. Nicht die planende Zentrale, sondern die Nachfragen, Angebote und Expertisen westlicher Unternehmen bestimmten zunehmend die weitere Ausgestaltung der Chemieindustrie. Auch das ursprüngliche Autarkieziel der Branche war mit dieser Entwicklung kaum noch zu realisieren. Die Unfähigkeit der Kombinate, Spitzenware zu produzieren und abzusetzen und damit die neu erworbenen Anlagen und Verfahren zu finanzieren, kann als allgemeines Überlastungssymptom des DDR-Chemiesektors gedeutet werden. Dass die Produktionsbetriebe weit über ihre Leistungsfähigkeit beansprucht wurden, zeigen auch zwei weitere Phänomene, die am Ende fast symbolisch für das Hallenser Chemiereviers standen: technischer Verfall und ökologische Verschmutzung: Zum einen litten Maschinen und Gebäude unter zunehmendem Verschleiß – eine Entwicklung, die zwar in allen Industriebetrieben der DDR beobachtet werden konnte, die durch die Aggressivität der chemischen Stoffe in den Chemiekombinaten aber besonders weit fortgeschritten war. Als typisches Beispiel können hier die Korrosionsschäden bei den Rohrleitungstrassen mit einem häufigen Ausfall der Strom- und Dampfversorgung genannt werden. Aufgrund der Eigenschaften des Chemiereviers als Verbundsystem und Schlüsselsektor, konnte eine solche havarieanfällige Infrastruktur besonders weitreichende Auswirkungen haben.100 Eng verbunden mit diesem Verschleiß war zum anderen die Umweltbelastung auf dem Werksgelände und in der unmittelbaren Werksumgebung. Ob die Staubemissionen der Bunaer Karbidöfen, die Fluorkonzentration in den Bitterfelder Aluminiumfabriken oder die phenolhaltigen Abwässer auf dem Gelände der Leuna-Werke – alle drei Chemiekombinate kamen dem von Michael Beleites geprägten Begriff des »ökologischen Katastrophengebiets« erstaunlich nahe.101 Zum Sinnbild der mensch- und naturschädigenden Produktionsweise wurde die gelbe Rauchsäule über dem sogenannten Säureeck in Bitterfeld.102 In den Paulingöfen, die an dieser Stelle standen, wurde aus hochkonzentrierter Schwefelsäure Salpetersäure gewonnen. Seit ihrer Inbetriebnahme im Jahr 1916 waren die Öfen nicht mehr saniert worden. Die damit einhergehenden Gefährdungen für die Beschäftigten verdeutlichen, dass es sich bei den Kombinaten auch um technische Risikozonen und physische Gefahrenräume handelte – ein weiteres wichtiges Kennzeichen des Chemiereviers. 100  Vgl. Christ: Wirtschaftsordnung, S. 159. 101  Vgl. Michael Beleites: Die unabhängige Umweltbewegung in der DDR. In: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung e.V. (Hg.): Umweltschutz in der DDR. Analysen und Zeitzeugenberichte – Bd. 3: Beruflicher, ehrenamtlicher und freiwilliger Umweltschutz. München 2007, S. 183. 102  Vgl. Christ: Wirtschaftsordnung, S. 181.

2. Die Einbindung der Staatssicherheit in die Planwirtschaft

Nachdem das Einleitungskapitel auf die Vorgeschichte der drei hier betrachteten Chemiekombinate und die allgemeinen Merkmale und Besonderheiten der DDR-Chemiebranche eingegangen war, steht im folgenden Grundlagenkapitel das allgemeine Verhältnis zwischen Staatssicherheit und Planwirtschaft im Mittelpunkt. In einem ersten Schritt sollen die grundlegenden Funktionen des MfS für die SED und die daraus abgeleiteten konkreten Aufgaben innerhalb des Wirtschaftssystems vorgestellt werden. Anschließend sollen die wichtigsten Schauplätze und Akteure der Planwirtschaft – also der eigentliche Gegenstand der Überwachung – kurz skizziert werden. Besondere Aufmerksamkeit erhalten dabei die Betriebe und Kombinate an der Basis der Wirtschaftsordnung. Da in ihnen Handel und Produktion ganz konkret umgesetzt wurden, standen sie im Fokus der geheimpolizeilichen Überwachung. Welche Handlungsspielräume sie im Rahmen der Planaushandlung und Planumsetzung besaßen und welche Beziehungen sie zu den übergeordneten Organen der Wirtschaftsverwaltung aufbauten, soll an dieser Stelle etwas genauer erläutert werden. Nach dieser Betrachtung der Grundzüge der Wirtschaftsordnung soll in einem weiteren Schritt die darin enthaltene Struktur der Wirtschaftsüberwachung herausgearbeitet werden: die hierarchische Anordnung von Diensteinheiten des MfS entlang der politischen und wirtschaftlichen Systemebenen der DDR. Genauer betrachtet wird dabei die Präsenz der Staatssicherheit vor Ort in den drei untersuchten Chemiekombinaten. Die Beschreibung von Aufgaben und Struktur der Wirtschaftsüberwachung soll einen ersten Eindruck von der intensiven Einbindung des MfS in die Planwirtschaft vermitteln. In einem letzten Schritt wird schließlich auf die praktische Umsetzung der geheimpolizeilichen Arbeit eingegangen. Dabei stehen die drei wichtigsten Arbeitstechniken des MfS im Betrieb zur Diskussion: die offizielle Zusammenarbeit mit staatlichen Leitern, der Einsatz inoffizieller Mitarbeiter sowie die gezielte Bündelung von Überwachungsmaßnahmen in Operativen Personenkontrollen und Operativen Vorgängen. Diese Methoden werden im Zusammenhang mit der spezifischen Terminologie der Staatssicherheit analysiert. Besonders gewürdigt wird dabei die Rolle des Sicherheitsbeauftragten. Die Schwierigkeiten des MfS, die eigenen Ziele mit den vorgestellten Arbeitstechniken zu verwirklichen, lassen sich anhand dieses Instruments besonders gut veranschaulichen. Markant kann hier das ambivalente Verhältnis zwischen beiden Institutionen, Kombinat und Staatssicherheit, herausgearbeitet werden.

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Einbindung der Staatssicherheit in die Planwirtschaft

Dieses Kapitel entwirft somit eine Momentaufnahme der grundlegenden Funktionen und Strukturen der Wirtschaftsüberwachung, bei der zeitliche Veränderungen und Einwirkungen äußerer Faktoren zunächst vernachlässigt werden. Ein solch statischer Blick auf den Untersuchungsgegenstand bietet die Möglichkeit, die Einbettung der Staatssicherheit in die Planwirtschaft zu illustrieren – und das nicht nur in Hinblick auf die Struktur und die konkreten Aufgaben der für die Wirtschaftsüberwachung zuständigen Diensteinheiten des MfS, sondern auch in Bezug auf die Mentalität und den Arbeitsstil der direkt in den Kombinaten eingesetzten Offiziere.

2.1  Generalkontrollbeauftragter der SED: Über die Zuständigkeiten und Funktionen des MfS in der Planwirtschaft Um die Struktur und Arbeitsweise sowie die Auswirkungen der Wirtschaftsüberwachung des MfS zu analysieren und darüber hinaus die Funktion dieses Apparates für die Wirtschaftsordnung der DDR zu bestimmen, muss zuallererst die Frage nach den konkreten Aufgaben des MfS in den Betrieben und im Wirtschaftssystem der DDR als Ganzes beantwortet werden. Dabei fällt gleich auf den ersten Blick auf, dass die Tätigkeiten der MfS-Offiziere ausgesprochen vielfältig waren: Vom Kampf gegen »westliche Agenten« bis zur Aufklärung von Großbränden, von der Disziplinierung eines Abteilungsleiters bis zur Anfertigung von Marktstudien – das Spektrum der Aufgaben und Interessen des MfS schien beinahe grenzenlos. Im Folgenden sollen die verschiedenen Zuständigkeiten der Staatssicherheit für den ökonomischen Bereich etwas geordnet werden, indem zunächst an die grundsätzlichen Funktionen dieses Ministeriums für die SED erinnert wird, um anschließend die mit diesen Funktionen verbundenen Einzelaufgaben darzulegen. Das MfS kann zu allererst als ein Universalinstrument der SED bezeichnet werden, um ihre Politik, in diesem Fall genauer: eine störungsfreie Entwicklung der Wirtschaft, nach allen Seiten abzusichern.1 Für die Funktionstüchtigkeit der Betriebe und die reibungslose Umsetzung aller wirtschaftspolitischen Entscheidungen der Partei- und Staatsführung besaß das MfS also eine grundlegende Mitverantwortung. Um diesen »Generalauftrag« auszuführen, trat das MfS in den Betrieben in zwei zentralen Rollen auf, die zusammen das Wesen einer politischen Geheimpolizei ausmachen: die eines geheimen Nachrichtendienstes und die eines strafrechtlichen Untersuchungsorgans. In seiner ersten Rolle – die eines Nachrichtendienstes – übernahm das MfS die Aufgaben sowohl eines Inlands- als auch eines Auslandsgeheimdienstes. Ziel 1  Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 8 u. 34.

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war die Abwehr politisch motivierter Störungen von innen und von außen. Da das Politische in der DDR stets auf die herrschende Partei bezogen war, erhielt das MfS von Beginn an die Rolle eines Parteiorgans. »Was wir hier machen, ist Parteiarbeit«, verkündete zum Beispiel Wilhelm Zaisser, der erste Minister für Staatssicherheit, im Jahr 1952.2 Das MfS war damit weniger staatliche Behörde, als vielmehr Exekutivorgan der SED. Die hauptamtlichen Mitarbeiter verstanden sich weniger als Ministerialangestellte des Staates, sondern als Elite der herrschenden Partei.3 Welche konkreten Aufgaben ergaben sich aus dieser ersten Funktion für das MfS in den Betrieben? Innerhalb der Wirtschaftsorgane innere und äußere Störungen abzuwehren, bedeutete zunächst, politisch auffällige Verhaltensweisen der Beschäftigten der Betriebe und Industrieministerien in den Blick zu nehmen und gegebenenfalls zu unterbinden. Politische Risikogruppen wie oppositionelle Kreise, Jugendliche, das ärztliche Personal der Betriebspolikliniken, unbequeme Brigadeführer oder Ausreiseantragsteller sollten daher überwacht und sich formierender politischer Protest, allen voran drohende Arbeitsniederlegungen, frühzeitig erkannt und verhindert werden. Schwerpunkte und Arbeitsmethoden der Wirtschaftsüberwachung wurden dabei in zentralen Dienstanweisungen der MfS-Leitung für die »politisch-operative Sicherung der Volkswirtschaft« festgelegt. Die für die 1980er-Jahre geltende Dienstanweisung 1/82 rückte neben den genannten Personenkreisen besonders die Führungskräfte der Betriebe in den Mittelpunkt der Überwachung, also Betriebsdirektoren, Abteilungsleiter, Schichtleiter oder Verhandlungs- und Reisekader.4 Sie sollten besonders kritisch unter Beobachtung stehen: Wie verhielten sie sich gegenüber ihren Angestellten und Vorgesetzten? Welche Eigenmächtigkeiten und Pflichtverletzungen konnten bei ihnen verzeichnet werden? Welche Konflikte zwischen Kollegen ließen sich herausarbeiten? Auch Fragen des Lebensstils, der politischen Gesinnung und des privaten Umfelds waren bei diesem Personenkreis von Interesse. Staatliche Leiter, so die Dienstanweisung 1/82, »die in ihrer politischen und charakterlichen Haltung nicht die Gewähr bieten, dass sie feindlichen Kontaktversuchen entgegentreten«, sollten bevorzugt im Fokus der Geheimpolizei stehen.5 2 Wilhelm Zaisser, Zitat in: Karl Wilhelm Fricke: Zur Geschichte der DDR-Staatssicherheit. In: Bernd Florath, Armin Mitter, Stefan Wolle (Hg.): Die Ohnmacht der Allmächtigen. Geheimdienste und politische Polizei in der modernen Gesellschaft. Berlin 1992, S. 127. 3 Vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S.  277; vgl. ebenso Klaus-Dietmar Henke: Menschliche Spontanität und die Sicherheit des Staates.  Zur Rolle der weltanschaulichen Exekutivorgane in beiden deutschen Diktaturen und in den Reflexionen Hannah Arendts. In: Siegfried Suckut, Walter Süß (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS. Berlin 1997, S. 297. 4  Vgl. Dienstanweisung 1/82 zur politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft der DDR vom 30.3.1982. In: Buthmann: Kadersicherung, S. 145. 5 Ebenda.

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Einbindung der Staatssicherheit in die Planwirtschaft

Ein entscheidendes Kriterium für die Einschätzung ihrer »Leitungstätigkeit« stellte dabei ihr Umgang mit vertraulichen Dokumenten dar. Ein Abfließen sensibler Informationen an westliche Stellen wollte das MfS unbedingt verhindern. Die mit der Kaderbeobachtung eng verbundene Gewährleistung eines umfassenden Geheimnisschutzes zählte zu einer weiteren Aufgabe der MfS-Wirtschaftsüberwachung. Die Prüfung der politischen Zuverlässigkeit von Leitungskadern gerade beim Thema Geheimnisschutz war dabei stets mit der grundsätzlichen Sorge vor systematischen äußeren Angriffen auf die Wirtschaftsorgane der DDR verbunden. Neben der politischen Disziplinierung einzelner Funktionäre stand das MfS gegenüber der SED in der Pflicht, organisierte Sabotage und Spionage, also Formen von Landesverrat und »Staatsverbrechen«, zu bekämpfen. Hinter solchen umfassenden Angriffen auf die Betriebe und die Wirtschaftsordnung als Ganzes wurde meist ein Zusammenspiel von inneren und äußeren Kräften, also von betriebseigenen Funktionären und westlichen Unternehmen und Geheimdiensten vermutet. Solche »negativ-feindlichen« Bündnisse aufzudecken und zu bekämpfen, stellte das entscheidende Ziel der sogenannten Abwehr des MfS in der wirtschaftlichen Sphäre dar.6 Dieser Kernauftrag bestimmte auch die zweite Rolle des MfS: die eines strafrechtlichen Untersuchungsorgans, das für die staatliche Sicherheit der DDR verantwortlich war, also Verbrechen mit einem politischen Charakter verfolgen sollte. Mit dieser Aufgabe grenzte sich das MfS von der alltäglichen Kriminalitätsbekämpfung der Volkspolizei ab.7 Laut § 2 des MfS-Statuts aus dem Jahr 1969 sollte das MfS als »Sicherheits- und Rechtspflegeorgan Angriffe gegen die staatliche Sicherheit und den Schutz der DDR« aufdecken, untersuchen und »vorbeugende Maßnahmen auf diesem Gebiet« treffen.8 Obwohl das MfS ursprünglich nur für Ermittlungen bei »Staatsverbrechen« nach dem 2. Kapitel des Strafgesetzbuches der DDR vorgesehen war,9 entwickelte das Ministerium im Laufe der 1950er-Jahre schnell eine Zuständigkeit »für alle Vorgänge, die in

6  Vgl. ebenda, S. 136 u. 142. 7  Vgl. Jens Gieseke: Das MfS – Ein Kapitel deutscher Polizeigeschichte? In: Hans-Jürgen Lange (Hg.): Staat, Demokratie und Innere Sicherheit in Deutschland. Opladen 2000, S. 116. 8  Statut des MfS. In: Karl Wilhelm Fricke: Das MfS als Instrument der SED am Beispiel politischer Strafprozesse. In: Siegfried Suckut, Walter Süß (Hg.): Zum Verhältnis von SED und MfS. Berlin 1997, S. 204; Über das Statut des MfS siehe auch Fricke: Geschichte der Staatssicherheit, S. 131. 9  Zu den »Staatsverbrechen« zählten unter anderem die Straftatbestände »Spionage« (§ 97), »Landesverräterische Nachrichtenübermittlung« (§ 99), »Landesverräterische Agententätigkeit« (§ 98), »Terror« (§ 101), »Diversion« (§ 103), »Sabotage« (§ 104), »Staatsfeindlicher Menschenhandel« (§ 105), »Staatsfeindliche Hetze« (§ 106) des Strafgesetzbuches der DDR. Vgl. Strafgesetzbuch der DDR in der Fassung vom 19.12.1968. In: www.verfassungen.de/de/ddr/strafgesetz buch74.htm, abgerufen am 3.1.2018.

Zuständigkeiten und Funktionen des MfS in der Planwirtschaft

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irgendeiner Form die innere Stabilität der SED-Diktatur berühren konnten«.10 Das Staatsanwaltschaftsgesetz von 1963, in dem das MfS erstmals als staatliches Untersuchungsorgan aufgeführt wurde,11 verzichtete daher bewusst auf eine genaue Zuordnung der zu bearbeitenden Strafsachen.12 Sobald ein Verbrechen eine politische Dimension erlangte, fühlte sich das MfS verantwortlich. Dazu konnten neben Staatsverbrechen und Geheimnisverratsdelikten auch schwere Wirtschaftsstraftaten wie die »Beschädigung sozialistischen Eigentums«, »spekulative Warenhortung«, »Falschmeldung«, »Bestechung« oder »Brandstiftung« zählen, also die Straftatbestände des 5. Kapitels des DDR-Strafgesetzbuches.13 Großen Wert legte das MfS dabei auf die präventive Wirkung seiner Arbeit. Nicht die Verfolgung von Straftaten, sondern ihre vorbeugende Verhinderung durch die rechtzeitige Vermittlung eines ausreichenden sozialistischen Rechtsbewusstseins sollte im Mittelpunkt der Tätigkeit als Rechtspflegeorgan stehen. Die Kaderkontrolle und -erziehung in den Betrieben war damit immer auch als vorausschauende Bekämpfung politischer Straftaten gedacht.14 Aus diesen beiden Rollen – dem MfS als geheimer Nachrichtendienst und als strafrechtliches Untersuchungsorgan – lassen sich allerdings nicht alle Aktivitäten des Sicherheitsorgans innerhalb der DDR-Wirtschaftsverwaltung ableiten. Häufig beschäftigten sich die Offiziere in den Betrieben und Ministerien mit Angelegenheiten, die weit über ihre klassischen nachrichtendienstlichen, polizeilichen und justiziellen Zuständigkeiten hinausgingen: Nach Bränden und Havarien fertigte das MfS zum Beispiel Ursachenanalysen an und schätzte detailliert den Zustand von Produktions- oder Transportanlagen ein.15 Mit Blick auf die Absatzprobleme und Planrückstände der Betriebe entwickelte es Ideen für ein besseres internes Management, verfasste darüber hinaus Marktstudien und Firmendossiers und untersuchte Möglichkeiten der Importreduzierung 10  Clemens Vollnhals: »Die Macht ist das Allererste«. Staatssicherheit und Justiz in der Ära Honecker. In: Roger Engelmann, Clemens Vollnhals (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR. Berlin 1999, S. 245. 11  Als weitere gesetzliche Untersuchungsorgane werden in diesem Gesetz die Zollverwaltung, der Zollfahndungsdienst, das Ministerium für Außenhandel, das Ministerium des Innern und die Kriminalpolizei genannt. Siehe Clemens Vollnhals: Der Schein der Normalität. Staatssicherheit und Justiz in der Ära Honecker. In: Siegfried Suckut, Walter Süß (Hg.): Zum Verhältnis von SED und MfS. Berlin 1997, S. 215. 12  Vgl. Fricke: Instrument der SED, S. 200. 13  Vgl. Klaus Marxen: »Recht« im Verständnis des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. In: Roger Engelmann, Clemens Vollnhals (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR. Berlin 1999, S. 18. 14  Vgl. Henke: Spontanität, S. 301. 15 Als Beispiel für diese Tätigkeit siehe den Bericht der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) der BV Halle: Darstellung der Situation in ausgewählten Betrieben des Bezirkes unter besonderer Berücksichtigung des Havarie-, Brand- und Störgeschehens, August 1979, abgedruckt in: Hans-Joachim Plötze: Das Chemiedreieck im Bezirk Halle aus der Sicht des MfS. Naumburg 1997, S. 51.

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oder Exportsteigerung.16 Im Rahmen eines Investitionsprojekts interessierten sich die Offiziere sowohl für die Phase der Verhandlung als auch für die Phase der Implementierung und übernahmen unter anderem die Kontrolle der Großbaustellen und des westlichen Montagepersonals.17 Einzelheiten über Umfang, Terminsetzung und Auftragnehmer einer Investition listeten sie in Informationen für den Generaldirektor und die 1. Sekretäre der SED-Kreis- und Bezirksleitungen auf. Dabei machten sie unter anderem auf Finanzierungslücken, Verspätungen bei der Inbetriebnahme oder auf technische Mängel aufmerksam. Durch dieses nahezu unbegrenzte Interesse für alle wichtigen ökonomischen Abläufe in den Betrieben übernahm das MfS im Laufe der Zeit weitere Rollen, die über die Zuständigkeiten einer klassischen Geheimpolizei weit hinausgingen, wie die einer zusätzlichen Brandschutzinspektion, eines ökonomischen Beraters, eines Grundmittelbegutachters oder einer ergänzenden Plan- und Finanzkontrolle. Da die Staatssicherheit in den Betrieben damit auch rein ökonomische Aufgaben ausübte, kann sie als ein integraler Bestandteil der Planwirtschaft bezeichnet werden. Dabei verfolgten die Offiziere stets den Anspruch, neben der Feindund Verbrechensbekämpfung auch als positiver Mitgestalter der sozialistischen Wirtschaftsorganisation aufzutreten. Einen konkreten gesetzlichen Auftrag für all diese Tätigkeiten besaß das MfS allerdings nicht. Das Gesetz zur Gründung des MfS vom 8. Februar 1950 verzichtete bewusst auf eine inhaltliche Eingrenzung der Geheimpolizei – Aufgaben und Befugnisse des neuen Ministeriums wurden in der gesamten Zeit seines Bestehens nicht genauer definiert. Passend zum allumfassenden Gestaltungswillen der SED sollte auch das MfS jederzeit für jeden Sachverhalt einsetzbar sein.18 Derart gesetzlich unbestimmt, blieb den Offizieren nichts anderes übrig, als die allgemeine Interessen- und Stimmungslage der jeweiligen Parteiführung und ihre konkreten Anweisungen als Kompass für die tägliche Arbeit zu nutzen. Ebenso gaben die Entscheidungen der SED-Parteitage, ZK-Plena und Sitzungen der Bezirks- und Kreisleitungen eine Richtung für die Überwachungsagenda 16 Als Beispiel für Firmendossiers und Markteinschätzungen des MfS im Kombinat Bitterfeld siehe den Bericht des Sicherheitsbeauftragten für die OD CKB: Information zu Erkenntnissen, Ergebnissen und Problemen bei der Vorbereitung und Realisierung der Export- und Importaufgaben mit den anderen sozialistischen Ländern vom 8.9.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1123, Bl. 65–68. Siehe ebenso den Bericht des Sicherheitsbeauftragten für die OD CKB: Messevorbereitungsbericht für die LHM 1978 vom 14.8.1978; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1123, Bl. 2–11. 17  Ein Beispiel für die Überwachung einer laufenden Großinvestition im Kombinat Bitterfeld findet sich im Bericht der OD CKB: Realisierungsstand des Investitionsvorhabens »Graphitierung« im VEB CKB vom 24.8.1989; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 21862, Bl. 42–44. 18  Vgl. Fricke: Geschichte der Staatssicherheit, S. 137.

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vor.19 »Die Beschlüsse der Partei sind der Maßstab unserer tschekistischen Arbeit«, lautete dementsprechend ein oft wiederholtes Bekenntnis des seit 1958 amtierenden Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke.20 Trotz dieser potenziellen »Allzuständigkeit«21 des MfS für die Belange der SED, waren die Offiziere der Wirtschaftsüberwachung angehalten, auf eine genaue Trennung zwischen betrieblichem Alltagsgeschäft und geheimpolizeilicher Überwachungsarbeit zu achten. Mielkes zentrale Dienstanweisung aus dem Jahr 1982 betonte, dass bei einer »Unterstützung des Betriebs mit geheimdienstlichen Methoden« die Autorität des MfS »durch Eingriffe in die Verantwortung und Kompetenzen von staatlichen und wirtschaftsleitenden Organen, Kombinaten, Betrieben, Einrichtungen sowie gesellschaftlichen Organisationen« nicht missbraucht werden dürfe.22 Während das praktische Management Angelegenheit der Führungskader, Ingenieure und Techniker bleiben sollte, war das MfS darauf bedacht, stets über alle wichtigen Entscheidungen, Personalfragen und Problemstellungen informiert zu sein. Spätestens ab den 1980er-Jahren nahm das MfS damit die Rolle eines »Generalkontrollbeauftragten« der SED ein, um jede unberechenbare Entwicklung im Voraus zu verhindern und die Umsetzung der zentralen politischen Vorgaben im Betrieb sicherzustellen.23

2.2  Der Gegenstand der Überwachung: Schauplätze und Akteure der Planwirtschaft 2.2.1 Das Anliegen der sozialistischen Wirtschaftsordnung Die oben vorgestellten vielfältigen Kontroll- und Analyseaufgaben des MfS dienten der Absicherung eines zentralen Bestandteils des sozialistischen Projekts »DDR«: der zentral angeleiteten Verwaltungswirtschaft, in der die SED eine entscheidende Grundlage ihrer Herrschaft und ein entscheidendes Instrument für die Erreichung ihrer politischen Ziele sah. Um die Strukturen und Arbeitsmethoden zu verstehen, mit denen das MfS diesen Kernbestand des SED-Staates abzusichern versuchte, müssen zunächst die wichtigsten Facetten dieser neuen Wirtschaftsorganisation vorgestellt werden. Im Folgenden sollen daher

19  Vgl. Walter Süß: Das Verhältnis von SED und Staatssicherheit. Eine Skizze seiner Entwicklung. Berlin 1998 (BStU, BF informiert; 17/1998), S. 30. 20 Mielke, zit. nach: Fricke: Geschichte der Staatssicherheit, S. 127. 21  Vgl. Henke: Spontanität, S. 298. 22  DA 1/82. In: Buthmann: Kadersicherung, S. 148. 23  Vgl. Siegfried Suckut: Generalbevollmächtigter der SED oder gewöhnliches Staatsorgan? Probleme der Funktionsbestimmung des MfS in den sechziger Jahren. In: Siegfried Suckut, Walter Süß (Hg.): Zum Verhältnis von SED und MfS. Berlin 1997, S. 167.

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neben der grundlegenden Idee der Planwirtschaft, die Vielzahl ihrer Akteure sowie deren Beziehungen zueinander betrachtet werden. Ganz allgemein kann die Planwirtschaft als Versuch beschrieben werden, die Gesamtheit aller Produktions- und Austauschprozesse durch eine politische Zentrale im Voraus festzulegen und zu steuern. Nur durch eine vollständige Loslösung von der Irrationalität eines dezentralen und zufälligen Marktes, so die marxistische Idee, sei eine krisenfreie und vernünftige gesellschaftliche Entwicklung möglich.24 Erfolg habe dieses Projekt allerdings nur, wenn die »objektiven Gesetzmäßigkeiten« dieser Entwicklung erkannt und bei der praktischen Wirtschaftspolitik auch berücksichtigt würden, so die Anhänger dieses Ansatzes. Da sich die SED als Vertretung der »Arbeiterklasse« genau dazu in der Lage sah, beanspruchte sie eine politische Führungsrolle in Staat und Gesellschaft, um das in der Geschichte angelegte utopische Ziel einer sozialistischen Gemeinschaft schrittweise zu verwirklichen.25 Das Unterfangen, die Gesamtheit aller Produktions- und Austauschprozesse an einer Stelle zu erfassen und langfristig im Voraus festzulegen, machte eine Aufhebung des Privateigentums in der Wirtschaft notwendig.26 Anstelle einer Vielzahl von unabhängigen Wirtschaftssubjekten sollte die Volkswirtschaft in ihrer Gesamtheit wie ein einziger Großbetrieb geführt werden. Für ihn traf der Staat als »Gesamtunternehmer«27 alle betriebswirtschaftlichen Entscheidungen, unter anderem in den Bereichen Organisationsstruktur, Personal, Innovation, Vermarktung, Angebot und Qualitätssicherung.28 In diesem idealen 24 Vgl. Gerd Fiedler: Wirtschaftstheoretische Grundlagen der Wirtschaftssteuerung in der DDR (von 1949 bis Mitte der 50er Jahre). In: Günter Krause (Hg.): Rechtliche Wirtschaftskontrolle in der Planökonomie. Das Beispiel DDR. Baden-Baden 2002, S. 14; siehe hierzu auch Klaus von Beyme: Steuerung in kommunistischen Systemen. In: Gerd Bender, Rainer Maria Kiesow, Dieter Simon (Hg.): Das Europa der Diktatur. Wirtschaftskontrolle und Recht, Bd. 1. Baden-Baden 2002, S. 13. 25  Vgl. Sigrid Meuschel: Legitimation und Parteienherrschaft in der DDR. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR. 1945–1989. Frankfurt/M. 1992, S. 23 u. 83. 26  Vgl. Christian Heimann: Systembedingte Ursachen des Niedergangs der DDR-Wirtschaft. Das Beispiel der Textil- und Bekleidungsindustrie 1945–1989. Frankfurt 1997, S. 13; vgl. ebenso Henrik Schade, Rolf Steding: Eigentumsverfassung, Vertragskonstruktion und Unternehmensstruktur – Ausdrucksformen rechtlicher Steuerung der Wirtschaft. In: Günter Krause (Hg.): Rechtliche Wirtschaftskontrolle in der Planökonomie. Das Beispiel DDR. Baden-Baden 2002, S. 164. 27  Renate Hürtgen: Entwicklung in der Stagnation? Oder: Was ist so spannend am Betriebsalltag der 70er und 80er Jahre in der DDR? In: Thomas Reichel, Renate Hürtgen (Hg.): Der Schein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker. Berlin 2001, S. 23. 28 Siegfried Wenzel, stellvertretender Vorsitzender der staatlichen Plankommission, erkannte in der Planwirtschaft den Versuch, die »einzelwirtschaftliche Rationalität kapitalistischer Unternehmer auf die gesamte Volkswirtschaft zu übertragen«. Vgl. Siegfried Wenzel: Plan und Wirklichkeit. Zur DDR-Ökonomie. Dokumentation und Erinnerungen. Sankt Katharina 1998, S. 45.

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Modell einer einzigen Hierarchie mit einem gemeinsamen Haushalt und gemeinsamen Produkten, welche nach rein politischen Kriterien verteilt werden sollten, fehlte jeder Wettstreit der Interessengruppen und jeder zufällige Tauschvorgang. Wirtschaft sollte demnach kein selbstständiger Prozess sein, um Angebot und Nachfrage durch dezentrale, unkoordinierte Einzelentscheidungen aufeinander abzustimmen, sondern das politische Instrument einer Partei, um eine spezifische Art des Lebens und des Arbeitens von zentraler Stelle aus zu verwirklichen.29 2.2.2 Grundsatzplanung und Interventionsrecht: Die politische Führungsrolle der SED Dieser übergeordneten zentralen Stelle entsprach in der DDR das Politbüro des Zentralkomitees der SED.30 Zu diesem Exekutivorgan der sozialistischen Partei, in dem zumindest formal über sämtliche wirtschaftspolitische Grundsatzfragen entschieden wurde, zählten die Sekretäre des Zentralkomitees, einige Mitglieder des Ministerrates, eine Auswahl von 1. Sekretären der SED-Bezirksleitungen sowie Vertreter des FDGB und der FDJ.31 In der Praxis funktionierte das Politbüro allerdings nicht als Forum kollektiver Entscheidungsfindung. Die tatsächlichen Diskussionen und Festlegungen wurden stattdessen in kleinere Sonderstäbe rund um den Generalsekretär ausgelagert.32 Alle ökonomischen Fragen konzentrierten sich dabei auf die Person von Günter Mittag, dem als Sekretär des ZK für Wirtschaft neun wirtschaftspolitische ZK-Abteilungen unterstellt waren – darunter die Abteilungen für Sozialistische Wirtschaftsführung, für Planung und Finanzen sowie für den Bereich Grundstoffindustrie.33 Zusätzlich leitete Mittag ab 1976 die Arbeitsgruppe »Zahlungsbilanz« des Politbüros und zählte unter anderem die Staatliche Plankommission, 19 Ministerien, die Staatsbank, die Außenhandelsbank sowie die Post und die Reichsbahn zu seinem Verantwortungsbereich. Dank dieser herausragenden Position war es Mittag jederzeit möglich, in die ökonomischen Abläufe eines Betriebs oder eines Ministeriums hineinzuregieren, also seine persönlichen Vorstellungen oder die 29  Vgl. Rainer Lepsius: Handlungsräume und Rationalitätskriterien der Wirtschaftsfunktionäre in der Ära Honecker. In: Theo Pirker, Rainer M. Lepsius, Rainer Weinert, Hans-Hermann Hertle (Hg.): Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Opladen 1995, S. 357. 30  Vgl. Schulz: Simson, S. 307. 31  Vgl. Lepsius: Rationalitätskriterien, S. 348. 32  Vgl. Rainer Weinert: Wirtschaftsführung unter dem Primat der Parteipolitik. In: Theo Pirker, Rainer M. Lepsius, Rainer Weinert, Hans-Hermann Hertle (Hg.): Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Opladen 1995, S. 300; siehe Lepsius: Rationalitätskriterien, S. 349. 33  Vgl. Lepsius: Rationalitätskriterien, S. 349.

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Sonderwünsche aus dem Politbüro nach Belieben in den Planungsprozess einzuspeisen. Darüber hinaus nahm er sich das Recht, führende Wirtschaftsfunktionäre, vor allem die Generaldirektoren der Kombinate, nach Berlin zu zitieren. Unter vier Augen forderte er dann Selbstkritik ein, gab Weisungen oder verkündete im Ernstfall, wie im Jahr 1983 gegenüber dem Bitterfelder Generaldirektor Heinz Schwarz, die fristlose Entlassung.34 Für alle ZK-Abteilungsleiter, die Mittag unterstanden, und für sämtliche Industrie- und Querschnittsminister war die Mitgliedschaft in der 1976 eingerichteten »Wirtschaftskommission beim Politbüro des ZK« verpflichtend. Diese von Mittag geleitete Institution erlangte bis Ende der 1970er-Jahre eine beachtliche Autorität – nicht nur als beratendes Organ für die Erörterung von Export- und Zahlungsbilanzfragen, sondern auch als Instrument der Kontrolle und Erziehung, um abweichendes Verhalten einzelner Nomenklaturkader öffentlich festzustellen und zu sanktionieren. Rückblickend kann festgehalten werden, dass Mittag für den Bereich Wirtschaft über ein nahezu unbegrenztes Direktionsund Disziplinarrecht verfügte. Grundlage dieser Macht war nicht nur seine bemerkenswerte Ämterhäufung auf der obersten Ebene der SED, sondern auch sein enges Vertrauensverhältnis zu Erich Honecker.35 Nicht ohne Grund erkannten zeitgenössische Beobachter in Mittag einen »zweiten Generalsekretär« für die ökonomische Sphäre. Unterhalb dieser informellen, oft abgeschotteten Gremien rund um die Personen Honecker und Mittag, in denen die wichtigsten ökonomischen Grundsatzentscheidungen gefällt wurden, bildeten die 30 Abteilungen des ZK-Sekretariats mit ihren Unterabteilungen und Referentenstäben den »Apparat« der SED. Die etwa 3 000 Mitarbeiter dieser zentralen Parteibürokratie formulierten die Arbeits- und Entscheidungsvorlagen für das Politbüro und kontrollierten deren praktische Umsetzung. Durch die übergeordnete Bedeutung der Parteibeschlüsse bildeten nicht die Führungskräfte der Ministerien, sondern die Leiter der ZK-Abteilungen die eigentliche Verwaltungselite im SED-Staat. In der Chemiebranche stellte zum Beispiel der Leiter der Abteilung für Grundstoffindustrie im ZK, Horst Wambutt, für die meisten Generaldirektoren einen weit einflussreicheren Gesprächspartner dar, als der Minister für Chemische Industrie, Günther Wyschofsky. Unternahm etwa ein Betrieb den Versuch, das Büro Mittag für ein Sanierungsvorhaben zu gewinnen, sah es sich veranlasst, nicht nur um die Rückendeckung des Ministers, sondern vor allem um die Unterstützung der wichtigsten Fachleute in der zuständigen ZK-Abteilung zu werben.36 Zuallererst aber musste sich ein Betriebs- oder Generaldirektor für seine eigenen Initiativen mit dem hauseigenen SED-Organ – der sogenannten Industrie34  Vgl. Schwarz: Prägungen, S. 247. 35  Vgl. Lepsius: Rationalitätskriterien, S. 348. 36  Vgl. ebenda, S. 351.

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kreisleitung (IKL) – verständigen.37 Was Mittag für die gesamte DDR-Wirtschaft darstellte, war der 1. Sekretär der IKL vor Ort im Betrieb: eine politisch omnipotente Figur, die bei allen Sach- und Personalfragen konsultiert werden musste und für alle Bereiche im Werk ein immerwährendes Eingriffsrecht beanspruchte. Diesem in keiner Betriebs- und Kombinatsverordnung erwähnten Akteur oblag die Letztentscheidung bei allen internen Planungsprozessen.38 Im Rahmen wöchentlicher »Freitagsrapporte« war der Betriebs- oder Generaldirektor zum Beispiel verpflichtet, alle relevanten Vorfälle und betriebswirtschaftlichen Handlungen gegenüber der Industriekreisleitung zu erläutern und von ihr absegnen zu lassen.39 2.2.3 Begrenzte Mitbestimmung: Die Rolle der Betriebe im Prozess der Planung und Planumsetzung Die praktische Umsetzung der wirtschaftspolitischen Grundsatzentscheidungen und Einzelwünsche der SED-Führung lag in der Verantwortung der staatlichen Wirtschaftsverwaltung. Sie bestand aus dem Ministerrat als formal oberstes staatliches Leitungsorgan mit seinem Präsidium und Stabsorganen sowie 45 Ministerien, darunter elf Industrieministerien.40 Hauptaufgabe dieser Planbehörden war die Vorfestlegung und Abstimmung von Bedarf, Aufwand und Verteilung konkreter Güter und Dienstleistungen in einem übergeordneten 37  Die Großkombinate der Chemie im Bezirk Halle verfügten jeweils über eine eigene Betriebsparteiorganisation mit dem Rang einer SED-Kreisleitung. Sie waren den territorialen Kreisleitungen gegenüber gleichrangig und der Bezirksleitung Halle unterstellt. Bei kleineren Betrieben wurde die politische Aufsicht in der Regel von der jeweiligen territorialen Kreis- oder Bezirksleitung der SED übernommen. 38  Die Kombinatsverordnung (KVO) von 1979 geht lediglich auf die Verantwortlichkeit des Generaldirektors gegenüber der SED und seiner engen Zusammenarbeit mit der Betriebsparteiorganisation ein. Die tatsächliche Machtfülle des 1. Sekretärs wird aus diesem Text nicht erkenntlich. Siehe § 5 (2) der KVO: »Der Generaldirektor trägt gegenüber der Partei der Arbeiterklasse und der Regierung der DDR die volle persönliche Verantwortung für die Entwicklung des Kombinats, für die Verwirklichung der in den Beschlüssen des Zentralkomitees und in den staatlichen Plänen sowie in Rechtsvorschriften festgelegten Aufgaben des Kombinats« sowie § 24 (2): »Der Generaldirektor arbeitet nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus, wirkt eng mit den Betriebsparteiorganisationen, den zuständigen Gewerkschaftsorganen und den anderen gesellschaftlichen Organisationen zusammen und sichert die allseitige Einbeziehung der schöpferischen Initiative der Werktätigen des Kombinats in die Leitung und Planung. Er gibt die Ziele für den sozialistischen Wettbewerb vor und legt Rechenschaft ab über die Plandurchführung vor Werktätigen des Kombinats.« Vgl. http://www.verfassungen.de/de/ddr/kombinatsverord nung79.htm, abgerufen am 3.1.2018. 39  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Hans Joachim Scharf in Amsdorf am 24.11.2014. 40 Vgl. Gernot Gutmann, Hannsjörg Buck: Die Zentralplanungswirtschaft der DDR – Funktionsweise, Funktionsschwächen und Konkursbilanz. In: Eberhard Kuhrt (Hg.): Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den 80er Jahren. Opladen 1996, S. 26.

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Gesamtplan.41 Neben dieser genauen Mengensteuerung sollten zusätzlich allgemeine Merkmale des ökonomischen Handelns wie Produktivität, Materialverbrauch, Rentabilität oder Erneuerungsgrad bestimmt und programmmäßig verwirklicht werden. Die Zusammenführung all dieser Zielbestimmungen in einem Gesamtplan sowie dessen Aufschlüsselung in Einzelpläne für jede staatliche Institution und für jeden Betrieb wurde der Staatlichen Plankommission (SPK) übertragen – der wichtigsten Stabsorganisation des Ministerrates und größten Einzelbehörde der DDR.42 Die Staatliche Plankommission arbeitete nach dem Grundprinzip der »Mensurabilität«, also der Überzeugung, dass alle Ziele, Abläufe und Bedingungen einer Volkswirtschaft messbar und damit berechenbar und steuerbar waren. Wirtschaftliche Güter und Austauschprozesse, so die Vorstellung der Wirtschaftsplaner, könnten zahlenmäßig durch Mengen- und Wertkennziffern43 abgebildet und demzufolge langfristig prognostiziert und im Voraus festgelegt werden.44 Tatsächlich wurden Ende der 1980er-Jahre auf der Datengrundlage von etwa 23 000 Betriebsstatistiken pro Monat über 200 000 Kenngrößen vorhergesagt, konkret gemessen und als erwünschte Auflagen in den Jahresplänen verankert. Zu den wichtigsten Leistungswerten zählten dabei die industrielle Warenproduktion45, die Arbeitsproduktivität, das Exportvolumen, der Netto-

41  Vgl. Lepsius: Rationalitätskriterien, S. 355. 42  Vgl. Wolfgang Gößmann: Die Kombinate in der DDR. Eine wirtschaftsrechtliche Untersuchung. Berlin 1987, S. 124. 43  Mengenkennziffern drückten eine güterwirtschaftliche Lenkung von Produktion und Austausch durch konkrete Mengenvorgaben und Mengenzuweisungen aus. Ergänzend trat eine Steuerung von Produktion, Konsum und Handel über Preise, Prämien und Löhnen hinzu. Mit dieser eher dezentralen, indirekten Güterlenkung durch finanzielle Anreize sollten die Planbehörden entlastet werden. Bei einer zentralen Festlegung von Preisen allerdings wäre für eine sinnvolle Steuerung – also für die Ermittlung angemessener Preise – ein Höchstmaß an Informationen über Materialaufwand, Produktionskosten und Bedarf eines Erzeugnisses notwendig gewesen. Hätte diese vollständige Informiertheit tatsächlich bestanden, wäre auch gleich eine mengenmäßige Zuteilung möglich gewesen. Die Lenkung über Preise stellte daher nur eine scheinbare Entlastung der Planbehörden dar. Nicht selten bewirkte die willkürliche Preisfestlegung sogar eine Über- oder Unterversorgung und damit eine Störung des Güteraustauschs. Über die Kombination zweier Lenkungsformen in der Planwirtschaft siehe Heimann: Systembedingte Ursachen, S. 33 u. 42. 44 Über dieses Grundprinzip der »Mensurabilität« siehe Markus Güttler: Die Grenzen der Kontrolle. Das statistische Informationssystem und das Versagen zentralistischer Planwirtschaft in der DDR. In: Richard Bessel, Ralph Jessen (Hg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR. Göttingen 1996, S. 257. 45  Die Kennziffer »Industrielle Warenproduktion« (IWP) fasste die Summe aller produzierten Waren zusammen, inklusive der Vorleistungen von Zulieferbetrieben wie Zwischenprodukte oder Halbfertigwaren. Um den alleinigen Beitrag eines Kombinats für das volkswirtschaftliche Gesamtprodukt besser herauszustellen und Leistungen der Zulieferbetriebe nicht mehrfach zu berücksichtigen, wurde die Kennziffer »IWP« ab 1983 durch die Kennziffer »Nettoproduktion« er-

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gewinn, die Selbstkostensenkung sowie die Produktqualität.46 Die dafür erforderliche Menge an ökonomischen und sozialen Daten wurde von der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik als wichtigstes Hilfsorgan der Staatlichen Plankommission zusammengetragen und ausgewertet.47 Der Versuch, Aufkommen, Bedarf, Materialaufwand und Produktionskosten für alle wirtschaftlichen Güter zu bestimmen und ihre Verteilung zwischen den Betrieben festzulegen – die sogenannte Bilanzierung – konnte der SPK nicht allein gelingen. Sie war dafür auf das Wissen und die Verwaltungskunst der untergeordneten Wirtschaftsorgane angewiesen. Während die Zentrale die wichtigsten Material-, Ausrüstungs- und Konsumgüterbilanzen für etwa 4 000 industrielle Warentypen übernahm, wurde die Bilanzverantwortung für die übrigen Erzeugnisgruppen an einzelne Ministerien und Betriebe delegiert.48 Diese Arbeitsteilung unterstreicht, dass für eine erfolgreiche Wirtschaftsorganisation das Fachwissen, die Organisationserfahrung und die Netzwerke der Wirtschaftsfunktionäre an der Basis unentbehrlich waren. Die Planwirtschaft trat damit nicht als reine Kommandowirtschaft auf, bei der die Betriebe lediglich als Befehlsempfänger die im Plan vorgeschriebenen Leistungsanforderungen umzusetzen hatten. Sie stellte vielmehr ein organisatorisches Beziehungsgeflecht aus wechselseitigen Rechten, Pflichten und Abhängigkeiten dar, bei der die Betriebe als Basis dieser Hierarchie sowohl in der Phase der Planerstellung als auch in der Phase der eigenverantwortlichen Planumsetzung einen nicht zu unterschätzenden Spielraum erlangten.49 Grundlage dieser eigenständigen Gestaltungssphäre und Einflussnahme war dabei vor allem der ständige Wissensvorsprung der Betriebe gegenüber der Plankommission: Ob Angaben über ökonomische Notwendigkeiten von Investitionen, Prognosen über Kosten- und Absatzentwicklungen oder technische Daten über die Kapazitäten des eigenen Anlagenparks – stets mussten sich die Ökonomen der Planzentrale auf die Informationen der Betriebe verlassen – eine Abhängigkeit, die trotz aller Nachprüfungen gezielt von den Betrieben ausgenutzt werden konnte.50 setzt. Die Vorleistungen der Zulieferbetriebe waren darin nicht mehr enthalten. Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 193. 46  Vgl. Staatsbank der DDR, IBF Halle, Sektor Leuna: Stellungnahme zur Planerfüllung 1987 und zum Plananlauf 1988 des VEB Leuna Werke vom 17.3.1988; LHASA, MER, I 525, Nr. 18814, n. p. 47  Vgl. Güttler: Grenzen der Kontrolle, S. 261. 48  Vgl. Fiedler: Wirtschaftstheoretische Grundlagen, S.  15; vgl. Siegfried Wenzel: Wirtschaftsplanung in der DDR. Struktur, Funktion, Defizite. Berlin 1992, S.  10; siehe Günter Strassmann, Erika Süß, Siegfried Wenzel: Zur rechtlichen Dimension des staatssozialistischen Planungsmodells der DDR. In: Günter Krause (Hg.): Rechtliche Wirtschaftskontrolle in der Planökonomie. Das Beispiel DDR. Baden-Baden 2002, S. 140. 49  Vgl. Schade; Steding: Eigentumsverfassung, S. 155. 50  Über das grundsätzliche Problem der ungleichen Informationsverteilung in Planwirtschaften siehe Hans Georg Conert: Die Ökonomie des unmöglichen Sozialismus. Krise und Re-

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Eingespeist wurden betriebliche Interessen vor allem während der einjährigen Planvor- und -rücklaufphase, bei der in intensiven Aushandlungsprozessen zwischen dem Büro Mittag, den verantwortlichen Abteilungen des ZK der SED, der SPK, den Industrieministerien sowie den einzelnen Betrieben die verbindlichen staatlichen Planauflagen vereinbart wurden.51 Innerhalb der Rahmenvorgaben der SED formulierte die Staatliche Plankommission dafür zunächst die zentral vorgegebenen Zielstellungen für alle Industriezweige – die sogenannten Planaufgaben. Diese wurden über die Fachministerien den einzelnen Kombinaten und Betrieben zugeordnet. Anschließend setzte innerhalb jedes einzelnen Betriebs die Plandiskussion in und zwischen den Direktionen ein. In dieser Verhandlungsphase versuchte jedes Kombinat und jeder Betriebsbereich seine Produktionsanlagen möglichst auszubauen, da die zentrale Zuteilung von Investitionsmitteln, Löhnen und Prämien an die Größe des eigenen Betriebsteils oder des Kombinats als Ganzes, also an den Umfang der Warenproduktion und die Anzahl der Beschäftigten, gekoppelt war.52 Ebenso war jeder »Planträger« daran interessiert, die staatlichen Planvorgaben möglichst gering zu halten, um deren Erfüllung oder Übererfüllung im Laufe des Jahres nicht zu gefährden. Von einer erfolgreichen Planumsetzung war die Zuteilung von Prämien und Investitionsmitteln ebenfalls abhängig. Nachdem sich die Kombinate schließlich intern auf ihre Planvorschläge verständigt hatten, mussten diese in ihrer Gesamtheit gegenüber dem zuständigen Ministerium verteidigt werden. Die erfolgreichen Planvorschläge aller Betriebe und Ministerien wurden im Anschluss durch die Plankommission aufeinander abgestimmt und nachfolgend in einen Gesamtplan integriert. Abschließend ging der vollständige Jahresplan zur Korrektur ins Politbüro, bevor er durch die Volkskammer als verbindliche staatliche Planauflage für alle Organe der Wirtschaft verabschiedet wurde.53

form der sowjetischen Wirtschaft unter Gorbatschow. Münster 1990. 51  Vgl. Gutmann; Buck: Zentralplanungswirtschaft, S. 26. 52  Vgl. Christoph Buchheim: Die Wirtschaftsordnung als Barriere des gesamtwirtschaftlichen Wachstums in der DDR. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 82 (1995) 2, S. 194–210, hier 205. 53  Nicht selten wurden die Jahrespläne durch Quartals- und Monatspläne weiter konkretisiert. Längerfristige Projekte und grundsätzliche wirtschaftspolitische Strategien formulierten die auf den Parteitagen der SED festgelegten Fünfjahrpläne. Allgemeinere Zielsetzungen konnten zusätzlich in sogenannten Perspektivplänen für fünf bis sieben Jahre festgeschrieben werden. Über die Plantypen und Planungsphasen siehe auch Gutmann; Buck: Zentralplanungswirtschaft, S. 26 ff.

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2.2.4 Betriebe unter Aufsicht: Die Vielfalt der Plankontrollen In dieser einjährigen Aushandlungs- und Abstimmungsphase zeigten sich die Kombinate und Einzelbetriebe noch am ehesten in der Lage, ihre betrieblichen Interessen gegenüber den Planungsbehörden und der Führung der SED durchzusetzen. Auch nach Inkrafttreten eines Jahresplans war es der Betriebsführung durchaus noch möglich, durch geschicktes Verhandeln auf der Basis ihrer privilegierten Wissensbestände, Kennziffern nachträglich abzuändern, Planrückstände zu begründen oder neue Investitionsprojekte in den laufenden Plan aufnehmen zu lassen – kurz: eine – wenn auch in engen Grenzen – gestaltende Rolle zu spielen. Insgesamt jedoch blieben die Möglichkeiten solcher Eigeninitiativen nach Ablauf der Planungsphase ziemlich begrenzt. Die verabschiedeten staatlichen Planauflagen legten fast alle Aspekte des betrieblichen Handelns im Voraus fest – dazu zählten unter anderem die Produkttypen, Investitionen, Handelspartner, Löhne, Personalentscheidungen und der Gewinn. Diese Festlegungen hatten Gesetzesform, eine unabgestimmte Abweichung entsprach einem Gesetzesverstoß und konnte dementsprechend sanktioniert werden.54 Um die Einhaltung eines Jahresplans sicherzustellen, die Betriebe also auf ihre »Plantreue« zu verpflichten, wurde eine Vielzahl betrieblicher, staatlicher und parteilicher Kontrollgremien in Gang gesetzt. Während eines Planjahres überwachten sie jede Facette des betrieblichen Handelns. Dabei galt: Je detaillierter die Planvorgaben, desto genauer auch die Plankontrollen. Eine umfassende Kontrollbefugnis für alle Finanzfragen wurde zum Beispiel dem vom Fachminister in Abstimmung mit dem Finanzminister ernannten Hauptbuchhalter der Betriebe übertragen. Dieser laut dem Rechtshistoriker Wolfgang Gößmann »zweitmächtigste Mann im Kombinat« oblag die Aufgabe, betriebliche Unregelmäßigkeiten bei der Verwendung von Finanzmitteln aufzudecken, um am Ende eines Haushaltsjahres eine ordnungsgemäße Rechnungslegung für alle genutzten und ungenutzten Fonds gegenüber dem Finanzministerium sicherzustellen.55 Zu dieser Bilanzprüfung zählte eine genaue Dokumentation aller laufenden Kredite, außerplanmäßigen Verluste, verwendeten Grund- und Umlaufmittel sowie eine Auflistung der allgemeinen Verwaltungskosten aller Betriebs- und Fachdirektionen.56 Um die Einhaltung der wichtigsten Finanzkennziffern zu wahren, wurde der Hauptbuchhalter von der Staatli-

54 Vgl. Gerhard Pflicke, Erika Süß: Wirtschaftsrecht. In: Uwe-Jens Heuer (Hg.): Die Rechtsordnung der DDR. Anspruch und Wirklichkeit. Baden-Baden 1995, S. 460. 55  Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 105. 56  Vgl. Kombinat Leuna: Schreiben des Generaldirektors Müller an den Hauptbuchhalter in Leuna, Helmut Frühauf vom 27.11.1987; LHASA, MER, I 525, Nr. 18105, Bl. 13.

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chen Finanzrevision und einer Filiale der DDR-Staatsbank direkt im Kombinat unterstützt.57 Neben solchen Haushaltsfragen wurden auch die Bedingungen der Produktion und die Produkte selbst fortdauernd überwacht. Den Energie- und Materialverbrauch sowie die Beschaffenheit der Erzeugnisse begutachtete zum Beispiel die Staatliche Qualitätsinspektion im Auftrag des Staatlichen Amtes für Standardisierung, Messwesen und Warenprüfung (ASMW). Das im Jahr 1983 als Reaktion auf die abnehmende Produktqualität gegründete Aufsichtsorgan besaß die Möglichkeit, über die Vergabe von Gütesiegeln sowohl auf den Produktionsablauf als auch auf die Finanzen der Produktionsbereiche Einfluss zu nehmen. War eine Betriebsdirektion zum Beispiel in der Lage, die vorgegebenen Qualitätsstandards einzuhalten, zahlte das Amt zusätzliche Gewinnzuschläge. Wurde hingegen Minderqualität festgestellt, konnten Strafzahlungen verhängt oder sogar die Einstellung der Produktion verlangt werden.58 Vor Ort im Betrieb war das ASMW durch eine sogenannte Technische Kontrollorganisation vertreten. Obwohl deren Leiter zum Stab des Generaldirektors zählte, ermöglichte ihre übergeordnete Anbindung an das ASMW trotzdem ein unabhängiges Auftreten im Werk.59 Die Produktkontrolle war damit – ähnlich wie die Finanzkontrolle – ein Beispiel dafür, dass in der DDR ureigene betriebliche Zuständigkeiten an externe Ministerien und Ämter ausgelagert oder von ihnen stark beeinflusst wurden.60 Besonders ausgebaut waren die Plankontrollen im Bereich der technischen Sicherheit und Ordnung auf dem Werksgelände. Eine Vielzahl von staatlichen und innerbetrieblichen Organen befasste sich mit der Auswertung des Unfallgeschehens, der Überarbeitung von Arbeitsschutzanweisungen oder der Sauberkeit am Arbeitsplatz. Dazu zählten unter anderem die Inspektion für Brandschutz und Gesundheitsschutz sowie die Staatliche Bauaufsicht, die zusammen mit weiteren Kontrollorganen unter dem Dach der »Inspektion für Anlagen- und Produktionssicherheit« – kurz: IAPS – zusammengefasst waren.61 Die IAPS wurde 1980 als Stabsorgan des Generaldirektors für die Überwindung der zunehmenden Probleme mit Unfällen und Produktionsunterbrechungen ins Le57  Mit einer solchen Unterstützung war auch die Kontrolle der kombinatseigenen Buchhaltung verbunden. Vgl. Staatsbank der DDR, IBF Halle, Sektor Leuna: Stellungnahme des Direktors Kralisch zur Planerfüllung 1987 und zum Plananlauf 1988 des VEB Leuna Werke vom 17.3.1988; LHASA, MER, I525, Nr. 18814, n. p. 58  Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 111. 59  Vgl. ebenda, S. 115. 60  Weitere Hinweise über die Rolle der Technischen Kontrollorganisation in Leuna siehe Büro des Generaldirektors: Formen und Methoden der Arbeit des Generaldirektors mit seinen Betriebsdirektoren vom 30.4.1977; LHASA, MER, I 525, Nr. 15955, n. p. 61  Vgl. OD Buna: Arbeitsplan für IAPS vom 3.1.1989; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 34, Bl. 124.

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ben gerufen. Ihre Kontrollen und Gefährdungsanalysen erfolgten in enger Abstimmung mit dem Staatlichen Amt für Technische Überwachung (SATÜ).62 Doch noch vor den allgemeinen Arbeitsbedingungen, der Produktqualität und dem Umgang mit Finanzmitteln ging es der Plankontrolle natürlich um die konkrete Umsetzung der Produktionspläne. Zu prüfen, ob die detaillierten Mengenvorgaben des Jahresplans auch tatsächlich eingehalten wurden, oblag dabei unter anderem der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion (ABI), einer ehrenamtlichen Organisation, die sowohl dem Ministerrat als auch dem ZK der SED unterstand.63 In den Zentral-, Bezirks- und Kreiskomitees der ABI versuchten republikweit etwa 280 000 sogenannte Volkskontrolleure verschiedene Formen der Planmanipulationen, wie illegale Lagerungen von Rohstoffen, unerlaubte Reservehaltungen bei Maschinen oder gezielte Verschleierungen von Anlagenkapazitäten, stichprobenhaft aufzudecken.64 Um die Plandisziplin der Leiter zu gewährleisten, besaß die ABI das Recht, Weisungen zu erteilen und Disziplinarmaßnahmen anzuordnen. Auf ihren Kontrollgängen wurde sie dabei von den Arbeiterkontrolleuren der FDJ65 und des FDGB66 unterstützt. Eine weitere Bindung der Betriebe an den Volkswirtschaftsplan resultierte aus dem sozialistischen Vertragsrecht. Die DDR-Planwirtschaft kannte keine Koalitionsfreiheit, vertragliche Beziehungen zwischen Betrieben durften lediglich die im Plan vorgeschriebenen Liefer- und Abnahmeverpflichtungen konkretisieren. Da ausbleibende Lieferungen einen Vertragsbruch darstellten und entsprechend geahndet wurden, rückte das dafür verantwortliche Staatliche Vertragsgericht ebenso in die Rolle eines Plankontrollinstruments.67 62  Vgl. Christ: Wirtschaftsordnung, S. 170; vgl. ebenso OD Buna: Bericht über die Situation in der IAPS in Buna vom 16.3.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 53, Bl. 1. Auf die IAPS und das vielfältige Kontrollregime im Werk wird im 5. Kapitel, Abschnitt 5.7 näher eingegangen. 63  Vgl. Birgit Wolf: Sprache der DDR: Ein Wörterbuch. Berlin 2000, S. 3; siehe ebenfalls http://www.ddr-lexikon.de/Arbeiter-_und_Bauerninspektion, abgerufen am 3.1.2018. 64  Als Beispiel für die Plankontrolle der ABI in Leuna siehe Komitee der ABI, Inspektion Chemische Industrie: Bericht über die Kontrollergebnisse zur Aufholung von Rückständen bei S-Positionen im Kombinat Leuna vom 26.2.1987; LHASA, MER, I 525, Nr. 18105, n. p. sowie das Schreiben der ABI an den Generaldirektor Müller: Information über die Ergebnisse von Kontrollen zur Erfassung und volkswirtschaftlichen Verwertung aller nicht installierten Elektromotoren vom 18.11.1983; LHASA, MER, I 525, Nr. 17238, Bl. 212. 65  Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) war die einzige staatlich anerkannte Jugendorganisation in der DDR. Vgl. Wolf: Sprache der DDR, S. 61. 66 Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) war eine Dachgewerkschaft für 15 Einzelgewerkschaften. Siehe unter anderem Jens Hildebrandt: Gewerkschaften im geteilten Deutschland. Die Beziehungen zwischen DGB und FDGB vom Kalten Krieg bis zur Neuen Ostpolitik 1955 bis 1969. St. Ingbert 2010. 67  Vgl. Dietrich Maskow: Das Scheitern der Differenzierung des Vertragsrechts der DDR und die Konsequenzen. In: Rolf Steding (Hg.): Staat und Recht in den neuen Bundesländern – Rückblick und Ausblick auf eine schwierige Metamorphose. In: Staat und Recht, Sonderheft, 1991, S. 115–123.

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Die wichtigste Institution der Plankontrolle allerdings blieb bis zuletzt das zuständige Fachministerium – für die hier untersuchten Kombinate Buna, Leuna und Bitterfeld das Ministerium für Chemische Industrie. Vor einer Kontrollkommission des Ministeriums stand am Ende eines Planjahres die zentrale Rechenschaftslegung an.68 Diese Abschlussprüfung, bei der, so Gößmann, »jeder Winkel des Kombinats durchleuchtet wurde«69, ergänzte die oft unkoordinierten Einzelinspektionen während eines Planjahres. Ob Gewinn, Produktqualität oder der Energie- und Materialverbrauch – alle Kennziffern eines Jahresplans standen bei dieser Gelegenheit zur Diskussion. Darüber hinaus ließ es sich der weisungsberechtigte Minister nicht nehmen, auch während der laufenden Planphase umfassend in das Tagesgeschäft der ihm unterstellten Betriebe einzugreifen. Zu wesentlichen Fragen wie der Weiterentwicklung des Produktionsprofils, den Entwicklungsergebnissen der Forschung oder den Fertigstellungsterminen bei Großinvestitionen war der Generaldirektor aufgefordert, fortlaufend mit dem Minister Rücksprache zu halten.70 Die Vielzahl der Kontrollorgane und das Ausmaß der Berichtspflichten machen deutlich, wie wenig die Kombinate und Betriebe autonom agierten.71 Trotz ihrer juristischen Selbstständigkeit blieben sie immer nur Verwalter, aber niemals Eigentümer des ihnen in sogenannten Einzelfonds zugewiesenen »Volkseigentums«.72 In der Theorie konnten diese anvertrauten »Fonds« – also Kapital wie Material, Investitionsmittel, Arbeitskräfte oder Anlagen – jederzeit wieder abgezogen, der gesamte Produktionsstandort durch das Ministerium sogar beliebig umstrukturiert oder gar vollständig aufgelöst werden.73 Die innere Organisation des Betriebs und seine langfristige Entwicklung waren maßgeblich von den Entscheidungen des Fachministers abhängig.74 Allerdings kommunizierte dieser nur selten über einseitige Weisungen mit den Vertretern der Betriebe. In der Regel wurden die meisten Sachverhalte einvernehmlich in gemeinsamen Absprachen zwischen Ministerialangestellten und Betriebsdirektoren geregelt.75 Denn das Ministerium war neben seiner Rolle als Planer, Steuerer und Kontrolleur immer auch ein Interessenvertreter seiner unterstellten Betriebe und Kombinate. Im Ringen um Ressourcenzuteilungen bil68  Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 134. 69  Ebenda, S. 52. 70  Vgl. ebenda, S. 130; vgl. ebenso Buchheim: Wirtschaftsordnung als Barriere, S. 202. 71  Vgl. Conert: Der unmögliche Sozialismus, S. 28. 72 Vgl. Schade; Steding: Eigentumsverfassung, S.  164; vgl. Strassmann; Süß; Wenzel: Rechtliche Dimension, S. 133; vgl. Gößmann: Kombinate, S. 144. 73  Vgl. Schade; Steding: Eigentumsverfassung, S. 164; vgl. Günter Krause: Über Grundzüge rechtlicher Wirtschaftssteuerung in der DDR. In: Gerd Bender, Rainer Maria Kiesow, Dieter Simon (Hg.): Das Europa der Diktatur. Wirtschaftskontrolle und Recht, Bd. 1. Baden-Baden 2002, S. 161 ff. 74  Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 45. 75  Vgl. ebenda, S. 130.

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deten die Produzenten und das Ministerium häufig sogar eine machtvolle Allianz, die mit ihrem Informationsvorsprung, ihrer Verwaltungserfahrung und ihrer Sachkompetenz die wirtschaftspolitische Agenda der eigentlichen Entscheidungsträger – also der Plankommission und der ZK-Abteilungen – nicht unerheblich zugunsten ihrer Branche beeinflussen konnte.76 Damit erlangte zum Beispiel das Chemieministerium in der DDR weniger die Funktion einer staatlichen Ministerialbürokratie, als vielmehr die eines Interessensverbandes der chemischen Industrie.77 Diese Interessenskoalition aus Produktionsbetrieben und Industrieministerium kann als Gegenstück zu den Parteigremien der SED verstanden werden, die als eigentliche machthabende Exekutive in der DDR in besonderem Maße auf die Abläufe im Kombinat Einfluss nehmen konnten und damit ebenfalls zur Plankontrolle gezählt werden müssen. Dies galt für die Industriekreisleitung als Parteiorganisation des Betriebs genauso wie für das Sekretariat für Wirtschaftsfragen auf Bezirksebene und für die in Berlin angesiedelten Fachabteilungen des Zentralkomitees.78 Letzteres setzte direkt im Kombinat sogar einen eigenen »Parteiorganisator« ein, um die Zuverlässigkeit der staatlichen Leiter und die Plantreue der Produktionsbereiche sicherzustellen.79 In Abstimmung mit der Wirtschaftskommission Günter Mittags veranstalteten die Parteiorganisatoren im Rahmen der Leipziger Frühjahrs- und Herbstmessen halbjährlich die »Kontrollberatung des ZK der SED mit den Generaldirektoren der Kombinate«.80 Auf diesen sogenannten Leipziger Seminaren schwor Wirtschaftssekretär Mittag in einem zentralen Referat alle Generaldirektoren auf die aktuelle Linie der SED-Wirtschaftspolitik ein.81 In Einzelgruppen unter der Leitung der zuständigen ZK-Abteilungsleiter wurde anschließend für jedes Kombinat der Stand der Planerfüllung diskutiert und Stellungnahmen für bestehende Planabweichungen eingefordert.82 Siegfried Wenzel, ehemaliges Mitglied der Plankommission, empfand diese Begegnungen zwischen Partei- und Wirtschaftsführung weniger als freie Diskussion, sondern vielmehr als einseitige Form der Disziplinie-

76  Vgl. Schulz: Simson, S. 342 u. 354. 77  Vgl. Lepsius: Rationalitätskriterien, S. 353. 78 Vgl. Klaus Krakat: Probleme der DDR-Industrie im letzten Fünfjahresplanzeitraum (1986–1989). In: Eberhard Kuhrt (Hg.): Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den 80er Jahren. Opladen 1996, S. 225. 79  Vgl. Lepsius: Rationalitätskriterien, S. 351. 80 Vgl. Kontrollberatung des ZK der SED: Organisatorische Hinweise vom 4.9.1987; LHASA, MER, I 525, Nr. 181151, n. p. 81  Vgl. Kontrollberatung des ZK der SED: Referat Günter Mittag vom 4.9.1987; LHASA, MER, I 525, Nr. 181151, n. p. Weitere Erläuterungen zu den Leipziger Seminaren siehe Wenzel: Wirtschaftsplanung, S. 21. 82  Vgl. Kombinat Leuna: Schreiben des Büros des Generaldirektors Müller in Leuna an Betriebsdirektor Eckert vom 18.8.1988; LHASA, MER, I 525, Nr. 18814, Bl. 187.

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rung. »Bei Widerspruch«, so Wenzel, »wurden [die anwesenden Wirtschaftsfunktionäre] als fachlich unfähig und abweichend von der Parteilinie bezeichnet.«83 2.2.5 Trennung von Produktion und Handel: Das Außenhandelsmonopol Die oben beschriebenen Beziehungen zwischen Kombinat, Ministerium und SED machen eine ambivalente Position der Produzenten innerhalb der Planwirtschaft deutlich, eine Mischung aus Fremdbestimmung und eigenständiger Gestaltungskraft. Das Kombinat konnte über das Ministerium eigene Vorstellungen zu Investitionen und Produktentwicklungen an relevante Stellen im Ministerrat und in der SED transportieren; gleichzeitig musste es ein permanentes Kontroll- und Interventionsrecht des Ministeriums und der SED-Organe akzeptieren. Die Verbindung von Außensteuerung und Eigenständigkeit der Kombinate wird besonders bei der Organisation des Außenhandels deutlich. Da dieser Bereich – wie später noch gezeigt werden wird – im Mittelpunkt der geheimpolizeilichen Überwachung stand, sollen einige grundlegende Merkmale seiner Organisation im Folgenden kurz dargestellt werden. Für den Außenhandel der DDR galt zunächst der Grundsatz, dass Produktionsbetriebe ihre Erzeugnisse nicht selbst auf den Außenmärkten vertreiben durften. Produktion und Handel sollten stattdessen klar getrennt bleiben. Der direkte Kundenkontakt wurde daher auf gesonderte Außenhandelsbetriebe (AHB) übertragen. Nur sie besaßen das Recht, Kaufverträge abzuschließen und Außenhandelsgeschäfte abzuwickeln.84 Mit einer solchen Entkoppelung von den Außenmärkten sollten die Kombinate von äußeren Einflüssen wie Weltmarktpreisen, Konjunkturkrisen oder dem Nachfrageverhalten ausländischer Kunden abgeschirmt werden. Nicht die Imperative äußerer Märkte, sondern die zentralen Vorgaben des Volkswirtschaftsplans sollten das Produktionsprogramm der Betriebe bestimmen.85 Indem alle Erzeugnisse einer Branche über 83 Wenzel: Wirtschaftsplanung, S.  21. Über das selbstherrliche Auftreten Mittags siehe Andreas Malycha: Die SED in der Ära Honecker. Machtstrukturen, Entscheidungsmechanismen und Konfliktfelder in der Staatspartei. 1971 bis 1989. München 2014, S. 211. 84  Zur Trennung von Produktion und Handel siehe weiterführend Gottfried Zieger: Vergleich des Außenhandelsrechts der DDR mit dem Außenwirtschaftsrecht der Bundesrepublik Deutschland. In: Gernot Gutmann, Gottfried Zieger (Hg.): Außenwirtschaft der DDR und innerdeutsche Wirtschaftsbeziehungen. Rechtliche und ökonomische Probleme, Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Bd. XVI. Berlin 1986, S. 32 ff; siehe ebenso Maria Haendcke-Hoppe: Veränderungen im Außenhandelssystem der DDR. In: Deutschland Archiv 4 (1971) 7, S. 725–729, hier 726 ff. 85  Vgl. Heimann: Systembedingte Ursachen, S. 62; vgl. Maria Haendcke-Hoppe: Außenhandel und Außenhandelsplanung der DDR. In: Deutschland Archiv 8 (1975) 2, S. 154–160, hier 159.

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einen einzigen Außenhandelsbetrieb verkauft wurden, blieb es einem ausländischen Käufer oder Anbieter verwehrt, zwischen verschiedenen DDR-Betrieben auszuwählen.86 Der DDR-Markt trat dem ausländischen Unternehmen also als alleiniger Anbieter und Nachfrager gegenüber.87 Diese in der Verfassung vorgeschriebene Monopolisierung von Angebot und Nachfrage – das sogenannte Außenhandelsmonopol88 – wurde als Grundbedingung eines zentralen Planungsmodells angesehen – eine »fast heilige Doktrin«, so der Wirtschaftshistoriker Gottfried Zieger, die den Argwohn der DDR-Wirtschaftsplaner gegenüber jeder Art von fremden Markteinflüssen widerspiegelte.89 Die strikte Trennung von Produktion und Handel bedeutete ebenso, dass es den Produktionsbetrieben auch für ihre eigenen Beschaffungen und Verkäufe nicht gestattet war, einen ausländischen Geschäftspartner eigenständig auszusuchen. Rein formal durften ihre Waren nur mit einem zugewiesenen Außenhandelsbetrieb gegen einheitliche Industrieabgabepreise getauscht werden. Damit sollte ein Konkurrenzkampf zwischen den Betrieben um einen westlichen Käufer und eine Ausrichtung der Betriebe auf externe Kundenwünsche verhindert werden. Ein Außenhandelsgeschäft zerfiel damit in drei Phasen: Als erstes schlossen Produktions- und Außenhandelsbetrieb einen Import- oder Exportvertrag. Auf dieser Grundlage vereinbarte der AHB im Anschluss mit ausländischen Anbietern oder Abnehmern einen Kauf- oder Liefervertrag auf der Basis von Weltmarktpreisen. Und schließlich war der Produktionsbetrieb verpflichtet, die darin festgelegten konkreten Mengen von den Außenhandelsbetrieben zu beziehen oder pünktlich und qualitätsgerecht an sie auszuführen. Als Zahlungs-

86  Der AHB Chemie-Export-Import übernahm Absatz und Beschaffung für die gesamte Chemiebranche. Er deckte vor allem die Erzeugnisse der Kombinate Buna, Bitterfeld, Piesteritz, Schwarzheide, des Kombinats Gießereianlagenbau und Gußerzeugnisse Leipzig sowie des Kombinats Technische Textilien Karl Marx Stadt ab. Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 88. 87  Vgl. Haendcke-Hoppe: Außenhandel und Außenhandelsplanung, S. 160. 88  Mit der neuen Verfassung von 1969 wurde das Grundprinzip in Artikel 9, Absatz 5 festgeschrieben: »Die Außenwirtschaft einschließlich des Außenhandels und der Valutawirtschaft ist staatliches Monopol«. Vgl. http://www.verfassungen.de/de/ddr/ddr49-i.htm, abgerufen am 3.1.2018. 89  Zieger: Vergleich des Außenhandelsrechts, S. 32. Zieger betont dabei, dass ein formales Außenhandelsmonopol keinesfalls ein zwingendes Charakteristikum einer aus Staatseigentum und zentraler Planung bestehenden Wirtschaftsordnung sein musste. Vielmehr hätte eine formale Aufhebung dieser Regel an den praktischen Planungsabläufen kaum etwas geändert. Denn sobald alle Wirtschaftsabläufe zwischen den Betrieben staatlich geplant sind und das Bankensystem zum Eigentum des Staates zählt, ergibt sich eine staatliche Monopolisierung des Außenhandels ganz von selbst. Eine verfassungsrechtliche Verankerung des Außenhandelsmonopols war damit mehr Symbol und Ideologie als Sachzwang. Siehe Zieger: Vergleich des Außenhandelsrechts, S. 33.

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grundlage dienten diesmal aber nicht die Weltmarktpreise, sondern die staatlich festgelegten Industrieabgabepreise.90 Nach dem reinen Modell des Außenhandelsmonopols wurde den Produktionsbetrieben damit lediglich die passive Rolle eines Zulieferers der Außenhandelsbetriebe zugewiesen. Die Durchführung von Verhandlungen und die Pflege von Handelskontakten – die sogenannte Marktarbeit – sollte hingegen fest in den Händen der Außenhandelsbetriebe unter Anleitung des Ministeriums für Außenhandel verbleiben. Neben dem Qualitätsmanagement und der Finanzkontrolle wurde damit eine weitere ureigene Unternehmerfunktion aus den Produktionsbetrieben herausgenommen und auf spezialisierte Organisationen übertragen.91 Die Folge dieser Auslagerungen betrieblicher Kompetenzen war ein umfangreicher Abstimmungsaufwand: Bei Lieferschwierigkeiten war es dem DDR-Hersteller zum Beispiel untersagt, direkt mit dem betroffenen ausländischen Kunden in Kontakt zu treten. In diesem Fall sollte zunächst das zuständige Büro des Außenhandelsbetriebs zwischengeschaltet werden. Für diese umständlichen Dienstwege, die mit dem Dogma des Außenhandelsmonopols eingeschlagen werden mussten, gab es in der DDR sogar einen eigenen Begriff: die Außenhandelsbinnenbeziehung.92 In der Praxis wurden die entscheidenden Impulse im Außenhandel aber doch von den Produktionsbetrieben gesetzt: Zunächst wurde der internationale Warenaustausch der DDR maßgeblich von der Produktpalette und den Investitionsplänen der Herstellerbetriebe bestimmt. Ihre Jahrespläne mussten daher stets mit den ausländischen Anbietern und Abnehmern in Einklang gebracht werden. Ein direkter Kontakt zum Kunden war an dieser Stelle unvermeidlich. Darüber hinaus verfügten die Manager und Ingenieure der Produktionsbetriebe über das entscheidende Fachwissen, um Angebot und Nachfrage der Außenhandelspartner richtig einschätzen zu können. Für einen erfolgreichen Ver90  Aufgrund der häufigen Abweichungen zwischen Weltmarktpreisen und Binnenpreisen wurde für die Außenhandelsbetriebe ein staatliches Preisausgleichskonto eingerichtet. Vgl. Tae Heon Kim: Außenwirtschaft der DDR und Handelsbeziehungen zwischen der BRD und der DDR. Ihre Konsequenzen für die Deutsche Wirtschafts- und Währungsunion und die Zeit danach. Regensburg 2000, S. 75. Über den praktischen Ablauf eines Außenhandelsgeschäfts siehe Erika Lieser-Triebnigg: Die Einkaufs- und Lieferbedingungen im Außenhandel der DDR. In: Gernot Gutmann, Gottfried Zieger (Hg.): Außenwirtschaft der DDR und innerdeutsche Wirtschaftsbeziehungen. Rechtliche und ökonomische Probleme, Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Bd. XVI. Berlin 1986, S. 46 ff. 91  Vgl. Schulz: Simson, S. 311. 92  Da ein AHB immer mehrere Kombinate betreute, konnte er meist nur mit Verzögerungen auf die alltäglichen Herausforderungen des Außenhandels wie Lieferausfälle oder verändertes Nachfrageverhalten im Ausland reagieren. Ein zu starkes Engagement für ein Produkt und ein Kombinat hätte die Erfüllung seines eigenen Plans gefährdet. Näheres zur Überforderung der AHB und zum Begriff der »Außenhandelsbinnenbeziehungen« siehe Haendcke-Hoppe: Veränderungen im Außenhandelssystem, S. 729.

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tragsabschluss nahmen daher neben den Vertretern der AHB immer auch die Außenhändler der Kombinate und Betriebe an den Verhandlungen teil. Oft bauten die Produzenten zudem an den Außenhandelsbetrieben vorbei Direktkontakte zu ausländischen Unternehmen auf, aus denen sogar eigenständige Außenhandelsprojekte hervorgehen konnten. Außenhandel zählte damit – ungeachtet aller formalen Trennungen – zu einem wichtigen Aufgabenbereich der Kombinate und Einzelbetriebe, für den die Fachdirektionen für Beschaffung und Absatz zuständig waren.93 Diese kombinatseigenen Außenhandelsdirektionen sahen sich besonders von den Handelsbeziehungen mit westlichen Ländern herausgefordert: Während es zwischen den Staaten des RGW 94 möglich war, den Austausch von Waren mithilfe langfristiger Handelsabkommen zeitlich und mengenmäßig genau auf die nationalen Fünfjahrespläne abzustimmen, konnte der Handel mit westlichen Unternehmen weit weniger planmäßig und berechenbar gestaltet werden.95 Hier war die DDR-Seite gezwungen, schnell auf Veränderungen im Bereich der Nachfrage, Angebote, Qualitätsanforderungen und Preise im westlichen Ausland zu reagieren. Folgt man dem Modell des Außenhandelsmonopols, sollten die Produktionsbetriebe eigentlich vor genau solchen externen Markteinflüssen abgeschirmt werden. In der Praxis vertraute das Außenhandelsministerium aber dennoch auf die Expertise, Improvisationskünste und Netzwerke der Außenhändler in den Produktionsbetrieben, um die in den Jahresplänen vorfestgelegten Import- und Exportvorstellungen der Planzentrale gegenüber den Westmärkten wenigstens annähernd verwirklichen zu können. Eine weitere Besonderheit im Westhandel stellten die westlichen Vertretergesellschaften dar, die sich zusätzlich zum DDR-eigenen Außenhandelsbetrieb zwischen Hersteller und Abnehmer schoben. Gegen Provision suchten diese Vermittlungsfirmen für westliche Anbieter einen geeigneten DDR-AHB und für die Angebote der DDR einen geeigneten westlichen Endkunden.96 Für jede Branche und für jedes Land stand der Westhandel der DDR mit spezialisierten 93  Siehe dazu auch Gößmann: Kombinate, S. 88. 94  Der RGW war eine internationale Organisation der sozialistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion, der im Jahr 1949 als Gegenstück zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa gegründet wurde. Ziel des Rates war es, die Arbeitsteilung und Spezialisierung innerhalb des sozialistischen Wirtschaftsraumes auszubauen und die divergierenden Lebens- und Wirtschaftsbedingungen schrittweise anzugleichen. Siehe hierzu Martin Dangerfield: Sozialistische Ökonomische Integration. Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). In: Bernd Greiner, Christian Th. Müller, Claudia Weber (Hg.): Ökonomie im Kalten Krieg. Bonn 2010. Ralf Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe? Die DDR im RGW. Strukturen und handelspolitische Strategien 1963–1976. Köln 2000. 95  Vgl. Lieser-Triebnigg: Einkaufs- und Lieferbedingungen, S. 47. 96  Nicht immer gab es dabei eine echte Vermittlungsleistung. Oftmals stellte die Vertretergesellschaft lediglich eine Zahlungsverpflichtung dar – eine Art »Zugangsgebühr«, um mit dem jeweiligen Land Handel treiben zu können. Vgl. Krewer: Geschäfte, S. 201.

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Einbindung der Staatssicherheit in die Planwirtschaft

Vertretergesellschaften in Verbindung, die zwar formal als unabhängige privatrechtliche Unternehmen auftraten, in der Regel aber ökonomisch und politisch eng mit der DDR-Regierung verknüpft waren. In den meisten Fällen war ihre Gründung durch das Außenhandelsministerium der DDR initiiert worden.97 Der darin angesiedelte »Bereich Kommerzielle Koordinierung« trat als Teilhaber der Firmen auf und übte eine politische und ökonomische Kontrollfunktion aus. Eine der wichtigsten Vertreterfirmen für den Handel mit Chemieprodukten mit der Bundesrepublik war zum Beispiel die Firma Plast-Elast-Chemie (Plel) mit Sitz in Essen.98

2.3  Die Einbettung des MfS in die Planwirtschaft: Die Linie XVIII Die DDR-Wirtschaftsorganisation wies demnach zentrale und dezentrale Elemente der Planung und Planumsetzung auf, die zusammen eine komplexe Wirtschaftsorganisation über mehrere Ebenen mit zahlreichen Akteuren und Schauplätzen ergab. Die Staatssicherheit stand nun vor der Herausforderung, innerhalb dieses Geflechts aus Institutionen und Beziehungen ihr breites Spektrum an geheimpolizeilichen, justiziellen und ökonomischen Aufgaben umzusetzen. Der folgende Abschnitt beschreibt, welche Struktur ihr hierfür zur Verfügung stand. Um die Präsenz des MfS auf den verschiedenen Stufen der Wirtschaftsverwaltung, nicht zuletzt direkt an der Basis im Kombinat, zu veranschaulichen, wird zunächst der Aufbau der wichtigsten Diensteinheiten vorgestellt, der wiederum bereits etwas über die inhaltlichen Prioritäten der Überwachung auf der jeweiligen Ebene aussagt. In welchem Unterstellungsverhältnis die Struktureinheiten zueinander standen und wer sie anleitete, soll dabei ebenfalls thematisiert werden. Darüber hinaus stehen die quantitativen und sozio-biografischen Merkmale des Kaderstamms der Wirtschaftsüberwachung, insbesondere der MfS-Offiziere vor Ort in den drei untersuchten Kombinaten Buna, Leuna und Bitterfeld, im Mittelpunkt. Schließlich soll die Darstellung des institutionellen Aufbaus der Wirtschaftsüberwachung auch die drei prägenden Organisationsmerkmale des MfS berücksichtigen: Das Prinzip der Linie, der Schwerpunkte und der Territorialität.

97  Über das Verhältnis der Vertretergesellschaften zur SED und zur Regierung der DDR siehe Kapitel 4, Abschnitt 4.4.2. 98  Über die Gründung und Entwicklung der Firma Plel und ihre Beziehungen zur SED siehe ebenso Kapitel 4, Abschnitt 4.4.2. Vgl. auch OD Buna: Einschätzung der Firma PLEL vom 12.1.1975; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK, Nr. 3211/87, Bl. 145.

Die Linie XVIII

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2.3.1 Die Hauptabteilung XVIII Strukturell versuchte das MfS alle wichtigen Orte, Personen und Abläufe eines sicherheitspolitisch relevanten Bereiches mit einem grundlegenden Organisationsprinzip zu erfassen: der sogenannten Linie – einer hierarchischen Anordnung von Diensteinheiten analog zum dreigliedrigen Schichtaufbau des ökonomischen und politischen Systems der DDR. Der Staatssicherheitsdienst bildete im Laufe seiner Geschichte zahlreiche fachlich spezialisierte »Überwachungslinien« heraus.99 Zuständig für den Bereich Wirtschaft war dabei die Linie XVIII, zusammengesetzt aus der Hauptabteilung XVIII als Teil der Berliner MfS-Zentrale, einer Abteilung XVIII in jeder Bezirksverwaltung des MfS sowie einzelnen Objektdienststellen und Operativgruppen direkt vor Ort innerhalb größerer Betriebe und Kombinate. Außerdem können die in allen Kreisdienststellen vorhandenen Referate »Volkswirtschaft« auch zur Linie XVIII gerechnet werden. Die Hauptabteilung XVIII an der Spitze der Linie gliederte sich in 13 Abteilungen. Während elf Abteilungen als Pendant zu den Bau- und Industrieministerien des Ministerrates jeweils für einen Industriezweig zuständig waren, übernahmen zwei Querschnittsabteilungen branchenübergreifende Aufgaben wie die Erfassung und Prüfung der Reise- und Auslandskader, die Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten der RGW-Staaten oder die wirtschaftsbezogenen nachrichtendienstlichen Aufgaben in der Bundesrepublik.100 Die drei Großkombinate der Chemie im Bezirk Halle fielen dabei in den Fachbereich der Abteilung XVIII/13.101 Ihre konkrete Überwachung wurde allerdings nicht von Berlin ausgeführt, sondern unteren Diensteinheiten der Linie überlassen. Die Hauptabteilung XVIII stand dabei hauptsächlich in der Pflicht, die »operativ« tätigen Diensteinheiten an der Basis anzuleiten und zu kontrollieren und bei besonders wichtigen oder schwierigen Überwachungsprojekten auch direkte Unterstützung anzubieten. Bei zentralen, in Berlin angesiedelten Organen der Wirtschaftsverwaltung führte die Hauptabteilung XVIII die »operative« Arbeit selbst aus. Unmittelbar von ihr überwacht wurden zum Beispiel die zentralen Plan- und Finanzorgane (Abteilung 4), der FDGB (Abteilung 2) sowie der Gesamtkomplex des Außenhandels inklusive dem Ministerium für Außenhandel, der Deutschen Außenhandelsbank (DABA) und den in Berlin angesiedelten Außenhandelsbetrieben (Abteilung 7). Auch der Finanzsektor mit

99  Zur »Linie« als Grundsatz des Organisationsaufbaus im MfS siehe Lexikoneintrag »Linienprinzip«. In: Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Hg im Auftrag des BStU. Berlin 2012, S. 224. 100  Vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S. 8. 101  Bis 1987 war die Hauptabteilung XVIII/1 für die Überwachung der chemischen Industrie zuständig.

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Einbindung der Staatssicherheit in die Planwirtschaft

der Staatsbank der DDR und dem Ministerium für Finanzen gehörte in ihre Zuständigkeit.102 Die Spitzengremien der SED, wie das Politbüro, die ZK-Sekretariate oder die ZK-Abteilungen für einzelne Industriezweige, wurden von der Hauptabteilung XVIII allerdings nicht systematisch überwacht – auch wenn hier die wichtigsten wirtschaftspolitischen Entscheidungen getroffen wurden. Dies galt auch für die Sekretäre und politischen Mitarbeiter der SED-Organe auf Bezirks- und Kreisebene. Gegenstand kritischer MfS-Einschätzungen wurden führende Parteifunktionäre zwar durchaus.  Trotzdem verstanden die hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS die SED in erster Linie als Auftraggeber und nicht primär als Gegenstand der Überwachung. Umfangreiche »operative« Maßnahmen gegen führende Parteikader umzusetzen, hätte dem Charakter der Staatssicherheit als Exekutivorgan der SED widersprochen. Sollte im Ausnahmefall doch ein Überwachungsvorgang gegen einen leitenden SED-Funktionär eröffnet werden, stimmte Erich Mielke diesen Fall in der Regel mit dem Generalsekretär ab. Einen vollen Einblick in die Überwachungspraxis des MfS erhielt die Parteiführung um Honecker aber nicht. Bis zuletzt blieb die Arbeit der Geheimpolizei auch gegenüber dem Politbüro weitgehend abgeschottet.103 Die Linie XVIII im engeren Sinn, also die Hauptabteilung und die entsprechenden Abteilungen der Bezirksverwaltungen, umfasste im Jahr 1989 1 623 hauptamtliche Mitarbeiter, davon 646 in der MfS-Zentrale.104 Zahlenmäßig gehörte sie damit zu den größeren Überwachungslinien des MfS, vor allem, wenn man die Mitarbeiter der faktisch zur Wirtschaftsüberwachung zählenden Objektdienststellen sowie die Referate für Volkswirtschaft der Kreisdienststellen hinzurechnet.105 Dass mit dieser quantitativen Größe auch ein beachtliches Gewicht innerhalb des MfS einherging, wird unter anderem darin deutlich, dass der Leiter der Hauptabteilung XVIII, Alfred Kleine106, im sogenannten Kollegium des MfS vertreten war, dem hochrangigen 15-köpfigen Beratungsgremium des Ministers für Staatssicherheit.107 Darüber hinaus zählte der Bereich Wirt102  Vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S. 8. 103  Vgl. Süß: Verhältnis SED und Staatssicherheit, S. 12. 104  Vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 396. 105  Nimmt man im Schnitt 8 Mitarbeiter für das Referat Volkswirtschaft der Kreisdienststellen an, beläuft sich die Gesamtzahl des Personals der Linie XVIII auf über 1 800 Personen. In diesem Wert sind die hauptamtlichen Mitarbeiter der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt für die Überwachung der Objekte der SDAG Wismut noch nicht berücksichtigt. 106 Alfred Kleine übernahm im Jahr 1974 die Leitung der Hauptabteilung XVVgl. http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html? ID=1740, abgerufen am 3.1.2018. 107  Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 6. Zu den Mitgliedern des Kollegiums als höchstes beratendes Kollektivgremium im MfS zählten neben dem Leiter der Hauptabteilung XVIII die vier Stellvertreter des Ministers, der Leiter der Hauptabteilung I (Abwehr NVA), der Leiter der Hauptabteilung II (Spionage), der Leiter der Hauptabteilung Kader und Schulung,

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schaft zum Anleitungsbereich des 1. Stellvertreters des Ministers, Generaloberst Rudi Mittig.108 Entsprechend der MfS-eigenen Bedeutung der Stellvertreterfunktion trug Mittig damit die unmittelbare Verantwortung für diesen Teilbereich des MfS.109 2.3.2 Die Abteilung XVIII der Bezirksverwaltung Halle Die oben beschriebene Struktur der Berliner Zentrale wurde von den 15 Bezirksverwaltungen des MfS auf regionaler Ebene wieder aufgenommen, der Hauptabteilung XVIII also eine Abteilung XVIII in den Bezirken zugeordnet.110 In der hier näher betrachteten Bezirksverwaltung Halle arbeiteten im Jahr 1989 in 31 Struktureinheiten – darunter Abteilungen, Arbeitsgruppen und Büros – insgesamt 3 152 Mitarbeiter111, laut Hertle und Gilles wurde gut jeder Zehnte von ihnen für die »Sicherung der Volkswirtschaft« eingesetzt.112 Die Leitung der Bezirksverwaltung Halle übernahm von 1972 bis 1989 Major Karl-Heinz Schmidt, assistiert durch vier Stellvertreter, darunter der besonders einflussreiche »Stellvertreter Operativ«, Oberst Rolf Schöppe.113 Die Abteilung XVIII der Bezirksverwaltung Halle führte in den 1980er-Jahren zunächst Major Eberhard Lawrenz (1982–1983). Ihm folgten Oberstleutnant Erich Reinl (1984–1987) und zuletzt Oberstleutnant Karl-Heinz Schönig (1987–1989).114 Dem Leiter der Abteilung XVIII unterstellt waren im Jahr 1985 64 hauptamtliche Mitarbeiter, die in acht Referaten die wichtigsten ökonomischen Schwer-

der Leiter der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe, der Leiter der Arbeitsgruppe des Ministers, der Leiter der Bezirksverwaltung Berlin sowie der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung im MfS. Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 6. In der Amtszeit Mielkes wurde das Kollegium allerdings nur noch selten zusammengerufen. Vgl. Lexikoneintrag »Kollegium des MfS«. In: MfS-Lexikon, S. 201. 108  Vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S. 4. 109  Vgl. Lexikoneintrag »Stellvertreterbereich«. In: MfS-Lexikon, S. 319. 110  Analog zu den Diensteinheiten der Linie XVIII waren die Hauptabteilung II in der Zentrale und die Abteilung II in der Bezirksverwaltung jeweils für die Spionageabwehr zuständig. Der Auslandsgeheimdienst HV A war auf Bezirksebene durch die Abteilung XV vertreten. Für einige Tätigkeitsbereiche wie der Militärabwehr (Hauptabteilung I) oder der Diensteinheit für internationale Verbindungen (Abteilung X) wurden auf Bezirksebene keine Struktureinheiten gebildet. Siehe Lexikoneintrag »Bezirksverwaltung«. In: MfS-Lexikon, S. 61. 111  Vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 557. Die Mitarbeiterzahl der Bezirksverwaltung Halle berücksichtigt auch die hauptamtlichen Mitarbeiter der Kreis- und Objektdienststellen. 112  Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 6. 113  Vgl. Personenrecherche der BStU, Außenstelle Halle. 114  Vgl. ebenda.

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punkte im Bezirk Halle abdecken sollten.115 Aus Sicht des MfS zählten dazu die chemische Industrie, das Bauwesen, die Landwirtschaft, der Maschinenbau, der Bereich Handel und Versorgung und Wasserwirtschaft, die Energieversorgung sowie der Komplex »Brände und Störungen«.116 Ähnlich der Hauptabteilung XVIII in Berlin überprüfte und koordinierte auch die Abteilung XVIII auf Bezirksebene zunächst vor allem die Überwachungsvorgänge der unteren Diensteinheiten. Darüber hinaus übernahm aber auch sie unmittelbare sicherheitspolitische Verantwortung, die Abteilung XVIII in Halle zum Beispiel für 93 »Objekte der Wirtschaft«, darunter neun zentralgeleitete und vier bezirksgeleitete Kombinate sowie 80 Einzelbetriebe mit zusammen 16 200 Beschäftigten.117 Die Hauptaufmerksamkeit der Abteilung XVIII richtete sich aber auf die Vielzahl der regional angesiedelten staatlichen Plan- und Kontrollorgane. Dazu zählten im Bezirk Halle unter anderem die Industriefiliale der Staatsbank in Halle, die Bezirksstellen der Staatlichen Finanzrevision und der Staatlichen Bilanzinspektion, die Bezirksplankommission, die im Rat des Bezirkes angesiedelte Abteilung für Finanzen und Preise sowie das Amt für Arbeit und Löhne.118 Auch zahlreiche Unterorgane des Chemieministeriums (MfC) waren auf Bezirksebene präsent – und damit im Visier der Abteilung XVIII – wie die Chemieberatungsstelle oder das Zentrale Informationsinstitut des MfC. Darüber hinaus standen der Bezirksvorstand des FDGB und die Industriegewerkschaft Chemie, Glas, Keramik unter geheimpolizeilicher Beobachtung, ebenso die im Bezirk ansässigen wissenschaftlichen Einrichtungen, etwa das Zentralinstitut für Schweißtechnik in Halle, die Technische Hochschule in Merseburg oder die Ingenieurshochschule in Köthen.119

115  Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Auskunftsbericht vom 1.10.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 2285, Bl. 4. 116  Vgl. ebenda. 117  Neben den einzelnen Industriezweigen waren auch die Themen »Produktionssicherheit« und »Störgeschehen« im Bezirk sowie die Überwachung der Bundesrepublik in eigenen Referaten angesiedelt. Für die allgemeine Auswertung und Weiterleitung der gesammelten Informationen stand ebenfalls eine eigene Struktureinheit – die Auswertungs- und Kontrollgruppe – zur Verfügung. Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Auskunftsbericht vom 1.10.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 2285, Bl. 1. 118  Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Auskunftsbericht vom 1.10.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 2285, Bl. 18. 119  Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Die Entwicklung der politisch-operativen Lage in entscheidenden Bereichen der Volkswirtschaft des Bezirkes Halle und Schlussfolgerungen für die weitere Organisierung der politisch-operativen Abwehrarbeit vom 15.10.1986; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 5222, Bl. 351–394; vgl. ebenfalls Abteilung XVIII der BV Halle: Aufbau und Zuständigkeit der Abteilung XVIII vom 1.10.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 256, Bl. 175.

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2.3.3 Die Präsenz des MfS im Betrieb: Die Objektdienststellen in den Kombinaten Buna, Leuna und Bitterfeld Die Basis der Linie XVIII bildeten die sogenannten Operativgruppen, also Stäbe von MfS-Offizieren, die dauerhaft in größeren Werken stationiert wurden. In der gesamten DDR übernahmen Ende der 1980er-Jahre 84 solcher betriebseigenen MfS-Stellen die Vor-Ort-Kontrolle in über 350 Wirtschaftsobjekten.120 Für sechs größere Kombinate standen darüber hinaus »erweiterte Operativgruppen« zur Verfügung: die sogenannten Objektdienststellen (OD). Eingerichtet wurden sie im Jahr 1957 zunächst in den Buna- und Leuna-Werken und im Jahr 1959 im Gaskombinat Schwarze Pumpe sowie in den Braunkohlekombinaten Böhlen und Espenhain.121 Ab 1968 verfügte ebenso das Mikroelektronikkombinat Carl Zeiss Jena und ab 1978 schließlich auch das Chemische Kombinat Bitterfeld über diese besondere Struktureinheit der Linie XVIII.122 Dass von sieben Objektdienststellen gleich drei im Chemierevier des Bezirks Halle angesiedelt waren, zeigt, dass die chemische Industrie als exportintensiver Sektor und Anbieter wichtiger Grundstoffe für die weiterverarbeitende Industrie einen Schwerpunkt der geheimpolizeilichen Überwachung darstellte. Diese »Schwerpunktbildung« beschreibt ein weiteres Organisationsprinzip des MfS: Während relevante Politikfelder, Milieus und Institutionen möglichst lückenlos über eine »Linie« abgedeckt werden sollten, galt es innerhalb dieser Linien, sogenannte Schwerpunkte zu setzen – die geheimpolizeiliche Arbeit also auf besonders relevante Einrichtungen, Personengruppen oder Regionen zu kon-

120  Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 11. 121  Die Einrichtung der ersten Objektdienststellen Ende der 1950er-Jahre war vor allem eine Reaktion des MfS auf eine Grundsatzkritik Ulbrichts an der Arbeit der Geheimpolizei. Im Rahmen einer machtpolitischen Auseinandersetzung mit dem damaligen Minister für Staatssicherheit, Ernst Wollweber, hatte Ulbricht eine grundlegende Neuausrichtung des MfS auf Erscheinungen von ideologischer Aufweichung und Revisionismus im Innern gefordert. Dazu zählte neben einer stärkeren parteipolitischen Schulung und Anleitung der hauptamtlichen Mitarbeiter auch eine stärkere Präsenz des Sicherheitsorgans in den Betrieben, nicht zuletzt in den von Ulbricht besonders geförderten Chemiebetrieben im Bezirk Halle. Über den Machtkampf zwischen Ulbricht und Wollweber siehe Roger Engelmann, Silke Schumann: Der Ausbau des Überwachungsstaates.  Der Konflikt Ulbricht – Wollweber und die Neuausrichtung des Staatssicherheitsdienstes der DDR 1957. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 43 (1995), S. 341–378. Siehe dazu auch Kapitel 3, Abschnitt 3.4 über das Konzept der »Politisch-ideologischen Diversion« als zentralen Leitgedanken des MfS. 122  Die 1976 an der TU Dresden eingerichtete Objektdienststelle zählte zur Linie XX des MfS.  Im Jahr 1981 wurde eine weitere Objektdienststelle für das Kombinat Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« eingerichtet. Sie überwachte den Bau und den späteren Betrieb des Kernkraftwerks in Greifswald. Die Baustelle für einen neuen Kraftwerksblock in Stendal und das Atomkraftwerk Rheinsberg zählten nicht zum Verantwortungsbereich dieser Objektdienststelle. Vgl. Buthmann: Objektdienststellen, S. 3 u. 15.

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zentrieren.123 Selbst innerhalb eines solchen Schwerpunkts, wie den eines Chemiekombinats, sollten weitere Prioritäten der Überwachung festgelegt werden – in der Regel zählten dazu die Themenfelder »Kadersicherung«, »Geheimnisschutz«, »Außenhandel«, »Brände und Störungen«, »Forschung und Entwicklung« sowie die Überwachung von Ausreiseantragstellern und Personen mit politisch auffälligen Verhaltensweisen.124 Innerhalb all dieser Überwachungsbereiche trat ein »Schwerpunkt« besonders hervor: die Fokussierung der MfS-Offiziere auf Westkontakte. Jede Form der ost-westlichen Kommunikation und Interaktion, sei es die Dienstreise eines Außenhändlers, ein grenzüberschreitendes Telefonat oder eine westliche Delegation auf dem Kombinatsgelände, wurde von der Geheimpolizei besonders aufmerksam verfolgt. Anstatt sämtliche Branchen der Volkswirtschaft und sämtliche Fachbereiche eines Kombinats flächendeckend und gleich stark zu überwachen, gingen die Offiziere bei ihrer »operativen« Arbeit also hoch selektiv vor. Während sie ihre geheimpolizeilichen Aktivitäten vor allem auf Führungs- und Fachkräfte mit Westkontakten in den Forschungs- und Außenhandelsabteilungen exportrelevanter Betriebe ausrichteten, blieb der überwiegende Teil der Industriezweige und innerbetrieblichen Produktionsbereiche weitgehend unbehelligt. Selbst in den Kombinaten der Energie-, Chemie- und Mikroelektronikbranche, die politisch als besonders relevant eingestuft wurden und daher häufig über einen eigenen Offiziersstab des MfS verfügten, wurden zum Beispiel nur etwa fünf bis acht Personen pro Jahr intensiv mit geheimpolizeilichen Methoden überwacht – bei einer Beschäftigtenzahl von teilweise bis zu 30 000 Personen. In den meisten Betrieben der DDR waren keine geheimpolizeilichen Mitarbeiter dauerhaft vor Ort stationiert. Ihre Beschäftigten standen lediglich punktuell, meist nur nach besonderen »Vorkommnissen«, unter geheimpolizeilicher Kontrolle der zuständigen Kreisdienststelle. Eine zum Teil übersteigerte Aktivität des MfS in bestimmten Branchen und ausgewählten Abteilungen einzelner Kombinate stand damit eine weitgehende Abwesenheit geheimpolizeilicher Ermittlungen in den übrigen Bereichen der Wirtschaftsverwaltung gegenüber. Das eingangs festgestellte breite Aufgabenspektrum des MfS mit einer potenziellen »Allzuständigkeit« für alle Belange erscheint aus dieser Perspektive stark relativiert. Auch wenn den Offizieren grundsätzlich die Möglichkeit offenstand, sich jederzeit mit jedem Sachverhalt auseinanderzusetzen, blieb das geheimpolizeiliche Handeln im Wirtschaftsleben der DDR am Ende dennoch eine Ausnahmeerscheinung, beschränkt auf wenige Personenkreise und besondere Situationen.

123  Vgl. Lexikoneintrag »Schwerpunktprinzip«. In: MfS-Lexikon, S. 294. 124  Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Die Entwicklung der politisch-operativen Lage in entscheidenden Bereichen der Volkswirtschaft des Bezirkes Halle vom 15.10.1986; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 5222, Bl. 351–394.

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In welchem Anleitungsverhältnis standen die oben genannten Objektdienststellen zur übergeordneten Bezirksverwaltung? Obwohl die Offiziere der drei untersuchten Chemiekombinate der Linie XVIII zugeordnet wurden, waren sie nicht dem Leiter der Abteilung XVIII, sondern dem zuständigen »Stellvertreter Operativ« der Bezirksverwaltung Halle unterstellt.125 Dieser zweitwichtigste MfS-Offizier auf der Bezirksebene besaß das Recht, dem Leiter der Objektdienststelle Weisungen zu erteilen und Disziplinarmaßnahmen zu veranlassen. Er konnte ebenso organisatorische Veränderungen innerhalb der Diensteinheiten vornehmen und Konsultationen über alle bedeutsamen Überwachungsprogramme einfordern.126 Dem Leiter der Abteilung XVIII wurde hingegen nur eine fachliche Anleitung der Objektdienststellen übertragen.127 Diese beinhaltete vor allem ein Mitspracherecht bei der Festlegung von Jahresarbeitsplänen und Überwachungsschwerpunkten, eine Kooperation bei besonderen Vorkommnissen sowie die Weiterbildung der hauptamtlichen Mitarbeiter der Objektdienststellen durch sogenannte Linienschulungen. Beide, Stellvertreter Operativ und Abteilungsleiter, sollten sich bei ihrer disziplinarischen und inhaltlichen Führungstätigkeit eng miteinander abstimmen.128 Auf der Grundlage dieser übergeordneten Anleitung übernahmen die Objektdienststellen die sicherheitspolitische Verantwortung für das jeweilige Stammwerk des Kombinats und für alle nahegelegenen Kombinatsbetriebe. Die Objektdienststelle Buna überwachte zum Beispiel alle politisch und ökonomisch relevanten Aspekte auf dem Werksgelände in Schkopau, einschließlich des Ammendorfer Plastwerks und des Bau- und Montagekombinats Chemie in Halle.129 Diese universelle Zuständigkeit für ein Objekt führte dazu, dass jede Objektdienststelle in der Pflicht stand, das gesamte politische und ökonomische Aufgabenspektrum der Wirtschaftsüberwachung auszuüben. Doch welche Tätigkeiten waren damit genau verbunden? Im Folgenden soll das Aufgabenprofil der MfS-Dienststellen im Kombinat kurz umrissen werden: 125  Vgl. Buthmann: Objektdienststellen, S. 3. 126  Die Anweisung an die Objektdienststelle Buna im September 1984, ein eigenes Referat für die Überwachung der Außenwirtschaftsbeziehungen einzurichten, ist ein Beispiel für eine direkte Intervention des Stellvertreters Operativ in die Organisationsstruktur der Diensteinheit. Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Bericht zur Überprüfung des Standes und der Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung zur politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft in der OD Buna vom 21.11.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 5222, Bl. 813. 127  Vgl. ebenda, Bl. 824. 128  Weitere »unmittelbare Unterstützung«, z. B. durch den »Einsatz operativer Mitarbeiter vor Ort«, erhielt die Objektdienststelle durch das Referat 1 der Abteilung XVIII, zuständig für die chemische Industrie. Vgl. ebenda, Bl. 825. 129  Über die Zuständigkeit der OD Buna vgl. das Schreiben des Leiters der Abteilung XVIII der BV Halle an den Leiter der OD Buna vom 28.12.1971; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 1559, Bl. 20.

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An erster Stelle stand die Überprüfung und Überwachung staatlicher Leiter, vor allem, wenn sie als Verhandlungskader im westlichen Ausland eingesetzt wurden und den Status eines Geheimnisträgers besaßen.130 Die Absicherung des Außenhandels und die Gewährleistung des Geheimnisschutzes bildeten die beiden eng miteinander verknüpften Schwerpunktaufgaben der Objektdienststellen. Über die kombinatseigenen Funktionäre hinaus rückten aber auch westliche Verhandlungspartner und Vertreterfirmen der Kombinate in den Fokus der Überwachung:131 Die Anfertigung von Firmendossiers, die Bespitzelung der Wohnheime für westliches Montagepersonal oder die Beobachtung westlicher Lkw-Fahrer zählte dabei zur Routinearbeit der Offiziere. Besonders genau schauten sie dabei auch auf Orte, an denen östliche und westliche Prokuristen, Kaufleute und Ingenieure direkt aufeinandertrafen, wie die Büros der Fachdirektoren für Beschaffung und Absatz im Kombinat, die Verhandlungsräume des Internationalen Handelszentrums in Berlin132 oder das Messegelände in Leipzig. An der Messeüberwachung waren alle Diensteinheiten der Linie XVIII mit jeweils eigenen »Messeeinsatzgruppen« involviert.133 Die im Rahmen des Außenhandels ausgelösten Anlageninvestitionen auf dem Werksgelände stellten ebenfalls einen wichtigen Überwachungsgegenstand der Objektdienststellen dar, ganz besonders dann, wenn ein westliches Unternehmen als Kooperationspartner eingebunden war. In solchen Fällen standen alle Etappen der Investition – von der Verhandlungsphase bis zur Inbetriebnahme der Neuanlage – unter Beobachtung.134 130  Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 11 u. 22. 131  Ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit westlichen Partnerfirmen ist der Bericht des Leiters der OD Buna, Major Klaus-Ulrich Ehrich, über »Feindliche negative Angriffe des Gegners auf die Bereiche der Wissenschaft und Technik sowie gegen die Außenwirtschaftsbeziehungen und Erfordernisse zur Qualifizierung des Geheimnisschutzes« vom 14.5.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 622, Bl. 57. 132  Die Überwachung des Internationalen Handelszentrums in Berlin zählte zum Verantwortungsbereich der Hauptabteilung XVIII und der 1983 eingerichteten Arbeitsgruppe Bereich Kommerzielle Koordinierung. Vgl. Buthmann: AG BKK, S. 29 u. 46. 133  Unter dem Codewort »Treffpunkt« wurde die Messeüberwachung von der Hauptabteilung XVIII in Berlin, der Abteilung XVIII der Bezirksverwaltungen und den Objektdienststellen in den Kombinaten gemeinsam durchgeführt. Siehe dazu Hauptabteilung XVIII des MfS: Information über die wesentlichen Ergebnisse und Erkenntnisse der Sicherung der Aktion »Treffpunkt 77/F« vom 18.4.1977; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 7645, Bl. 286. Einen Einblick in die Vorbereitung des Messeeinsatzes der OD Bitterfeld im Jahr 1978 bietet der »Messevorbereitungsbericht für die LHM 1978« durch den Leiter der Inspektion des Generaldirektors vom 14.8.1978; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1123, Bl. 2–11. 134  Als Beispiel für das enorme Interesse der Objektdienststellen an Investitionsprojekten mit Beteiligung westlicher Unternehmen siehe OD CKB: Rückflussinformationen über Erkenntnisse bei der Sicherung bedeutsamer Kompensationsvorhaben vom 30.6.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1390, Bl. 16–21.

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Zusätzlich zur intensiven Kontrolle der Außenbeziehungen der Kombinate gewann auch die prekäre Produktions- und Anlagensicherheit im Innern der Betriebe immer mehr an Bedeutung. Der Versuch, Produktionsstörungen, Brände und Havarien möglichst im Vorfeld zu verhindern oder nach deren Eintritt konstruktiv auszuwerten, entwickelte sich im Laufe der 1980er-Jahre zu einer neuen Schwerpunktaufgabe der Objektdienststellen.135 Dabei registrierten die Offiziere auch die damit zusammenhängende Überlastung der Beschäftigten. Mit seinen Gutachten über den instabilen Anlagenzustand und Berichten über die wachsende Resignation und Unzufriedenheit des Stamm- und Leitungspersonals der Betriebe, übernahm das MfS vor Ort immer mehr die Rolle einer Warninstanz für übergeordnete Wirtschafts- und Parteiorgane.136 Ein Umschlagen der angespannten Stimmungslagen in politische Aktionen zu verhindern, lag ebenfalls in der Verantwortung der Offiziere. Jeder Hinweis auf sogenannte Demonstrativhandlungen oder politische Untergrundtätigkeit rief daher die Objektdienststellen auf den Plan.137 Auch Werksangehörige, die aus sozialen oder politischen Gründen die Entscheidung trafen, einen Antrag zur ständigen Ausreise zu stellen, lenkten die Aufmerksamkeit der Offiziere auf sich. Grundsätzlich standen sie in der Pflicht, innerhalb ihres Verantwortungsbereichs den Ausbruch von Arbeitskonflikten und ein Erstarken der Ausreisebewegung zu unterbinden.138 Abgerundet wurde die Überwachungsagenda des MfS im Betrieb mit der Kontrolle der Forschungsabteilung. Wie im Einleitungskapitel bereits ausgeführt, stellten die Kombinate der Chemieindustrie Großforschungszentren dar. Allein auf dem Werksgelände in Leuna arbeiteten Mitte der 1980er-Jahre gut 2 500 Wissenschaftler in der Fachdirektion Forschung und Entwicklung. Deren internationale Kontakte einzugrenzen und ihren Umgang mit vertraulichen Dokumenten zu kontrollieren, umschreibt eine weitere Schwerpunktaufgabe der MfS-Offiziere.139 Diese vielfältigen, hier kurz skizzierten Überwachungsfelder spiegelten sich auch im Aufbau der Objektdienststellen wider. Für die Sicherungsbereiche Forschung, Außenwirtschaft, Anlagensicherheit und politische Untergrundtätig135  Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 22. Ein Beispiel für die intensive Auseinandersetzung der Linie XVIII mit der Anlagensicherheit im Kombinat Bitterfeld ist der Bericht des Leiters der BV Halle: Information über die Ergebnisse einer durchgeführten komplexen Untersuchung zur Leistungs- und Effektivitätsentwicklung in Schwerpunkten des VEB CKB vom 20.12.1986, abgedruckt in: Plötze: Chemiedreieck, S. 132. 136  Die Reaktion des MfS auf die zunehmende technische Instabilität der Betriebe wird ausführlich im 5. Kapitel dargelegt. 137  Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 18. 138  Vgl. ebenda, S. 19. 139  Für ein Beispiel aus dem Kombinat Bitterfeld siehe OD CKB: Die Lage und Situation in der Direktion Forschung und Entwicklung vom 21.4.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 757, Bl. 5.

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keit besaßen die Diensteinheiten jeweils eigene Referate.140 Zusätzlich gab es einen Arbeitsbereich für »Auswertung und Information« (A/I), in dem die wichtigsten geheimpolizeilichen Informationen aufgearbeitet und an übergeordnete Staats-, Partei- und MfS-Organe weitergeleitet wurden. Das Referat A/I stellte damit den Basisbereich des MfS-internen Berichtswesens dar. Pro Referat arbeiteten in den drei untersuchten Objektdienststellen etwa vier bis acht Offiziere.141 Mit 41 hauptamtlichen Mitarbeitern (Soldaten und Zivilbeschäftigte zusammengenommen) verfügte die OD Leuna im September 1989 über den größten Personalbestand, mit 33 Beschäftigten die OD Bitterfeld über den kleinsten. Im Kombinat Buna waren zu dieser Zeit 39 Angehörige des MfS eingesetzt.142 Zur Führungsebene der Diensteinheiten zählten der Leiter der Objektdienststelle, sein Stellvertreter sowie die Leiter der Referate.143 Hinzu kamen in der Regel besondere Beauftragte wie – im Falle der OD Bitterfeld – ein Offizier für

140  Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 11; vgl. ebenso Gilles; Hertle: Stasi in der Produktion, S. 125; Plötze: Chemiedreieck, S. 12 sowie Abteilung XVIII der BV Halle: Bericht zur Überprüfung des Standes und der Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung zur politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft in der OD Buna vom 21.11.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 5222, Bl. 812; vgl. Abteilung KuSch der BV Halle: Planstellen OD Leuna, 1986; BStU, MfS, BV Halle, Abt. KuSch, Nr. 384, Bl. 84; vgl. Abteilung KuSCH der BV Halle: Planstellen OD CKB, 1986; ebenda, Bl. 25; vgl. Abteilung KuSch der BV Halle: Planstellen OD Buna, 1986; ebenda, Bl. 30. 141  Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 11 f. 142  Vgl. Buthmann: Objektdienststellen, S. 19. Nach Hertle und Gilles waren im Jahr 1989 in der OD Buna 40, in der OD Bitterfeld 33 und in der OD Leuna 43 hauptamtliche Mitarbeiter tätig. Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 11. Anfang der 1980er-Jahre arbeiteten in der OD Bitterfeld 25 und in der OD Buna 36 Mitarbeiter. vgl. OD Buna: Auskunftsbericht vom 21.1.1982; BStU, BAf NS, AKG, Nr. 2081, Bl. 127 sowie OD CKB: Auskunftsbericht vom 21.1.1982; ebenda, Bl. 155. 143  Der Leiter der OD Bitterfeld, Werner Kirchner, hatte das Amt von 1978 bis Juni 1989 inne, ihm folgte Oberstleutnant Peter Prüfer. Sein Stellvertreter war Major Huth. Oberstleutnant Hans Jürgen Schmidt leitete von 1970 bis 1987 die OD Buna, gefolgt von Oberstleutnant Klaus-Ulrich Ehrich. Als Stellvertreter diente Major Ewald Janetzek. Die Leitung der OD Leuna hatte bis Dezember 1984 Oberstleutnant Helmut Pohle inne. Sein Nachfolger Oberstleutnant Hans Peter Meißner leitete die Dienststelle bis 1987. Zuletzt übernahm Oberstleutnant Walter Schlechter diese Position. Sein Stellvertreter war Major Trinks. Vgl. dazu Buthmann: Objektdienststellen, S. 19; ebenso AKG der BV Halle: Kontrollbericht zum Stand und zur Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung in den Objektdienststellen CKB vom 24.2.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1276, Bl. 3; AKG der BV Halle: Bericht über die Nachkontrolle in der OD Buna zum Stand und zur Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung vom 22.8.1989; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 1785, Bl. 36; Abteilung KuSch der BV Halle: Planstellen der OD Leuna, 1986; BStU, MfS, BV Halle, Abt. KuSch, Nr. 384, Bl. 84; Abteilung KuScH der BV Halle: Planstellen der OD CKB, 1986; ebenda, Bl. 25; Abteilung KuSch der BV Halle: Planstellen der OD Buna, 1986; ebenda, Bl. 30.

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Die Linie XVIII

Aufklärung, ein Verbindungsoffizier des Betriebsschutzamtes, ein Offizier für Kaderwerbung und ein Mitarbeiter der Linie XX.144 Leiter der OD OSL Walter Schlechter

Personalbestand: 41 HM 170 IM

1. Stellvertreter OSL Reinhold Gärtner

Beauftragter des Leiters Mj Horst Kohlrausch

MA für Aufklärung

Offizier für Kadergewinnung

Referat 1: Auswertung/ Information Mj Friedrich Müller

Referat 2: Außenwirtschaftsbeziehungen Mj Frank Hackbusch

3 Auswerter/1 Erfasser

6 IM-führende MA

Referat 3: Forschung und Entwicklung Mj Klaus-Jürgen Müller 6 IM-führende MA

Referat 4: Anlagen- und Prod.-sicherheit Mj Werner Czirr

Militärische Sicherungsgruppe

5 IM-führende MA

5 IM-führende MA

Mj Werner Czirr

Abb. 1: Die Objektdienststelle Leuna im Jahr 1989145

Die Mehrheit der hauptamtlichen Mitarbeiter trug einen militärischen Dienstgrad und war aktiv in die geheimpolizeiliche Arbeit eingebunden. Hans-Hermann Hertle und Franz-Otto Gilles zählten Ende der 1980er-Jahre für die Objektdienststelle Buna 28 »operativ« tätige Offiziere, also Mitarbeiter, die unmittelbar an Überwachungsmaßnahmen beteiligt waren. Bei einer genaueren Analyse dieses Personenkreises kamen beide Autoren zu dem Schluss, dass die Offiziere im Kombinat Buna mit durchschnittlich 36 Jahren zwar erstaunlich jung waren, im Schnitt aber dennoch über eine 14-jährige Berufserfahrung verfügten. Die Mehrheit der Offiziere der OD Buna war demnach noch vor dem 25. Lebensjahr in den Staatssicherheitsdienst eingetreten (19 von 28) und entsprechend stark von den Aufgaben und der Mentalität des MfS beeinflusst worden.146 Betrachtet man sich den Bildungshintergrund der Offiziere, so fällt bei allen drei Objektdienststellen die dominierende »juristische« Qualifikation der MfS-eigenen Juristischen Hochschule auf. Mit einer solchen Ausbildung war in erster Linie eine ideologische und geheimdienstliche Schulung verbunden und 144  Vgl. AKG der BV Halle: Schlussfolgerungen für die weitere Qualifizierung der Führungs- und Leitungstätigkeit in Auswertung des durchgeführten Kontrolleinsatzes der AKG in der OD CKB vom 16.4.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1276, Bl. 26. 145  OD Leuna: Planstellenbesetzungsnachweis, 1989; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 420, n. p. 146  Vgl. Gilles; Hertle: Stasi in der Produktion, S. 123.

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weniger ein klassisches Studium der Rechtswissenschaften.147 Bemerkenswert ist aber auch, dass sich in jeder Diensteinheit pro Referat mindestens ein Diplomchemiker, Techniker oder Ingenieur befand. Eine Planstellenübersicht der OD Buna aus dem Jahr 1988 listete zum Beispiel 18 Offiziere auf, darunter 14 »Juristen«, zwei Ingenieure, einen Kriminalisten und einen Chemiker.148 Eine ähnliche Tabelle für die Objektdienststelle Leuna aus dem Jahr 1986 nennt 22 Führungskräfte und »operativ« tätige Offiziere. Unter ihnen finden sich 16 »Juristen«, vier Diplomchemiker, ein Verfahrenstechniker und ein Kriminalist.149 In der Objektdienststelle Bitterfeld waren schließlich laut einer »Stellenplanüberwachungsliste« aus dem Jahr 1989 26 Offiziere in der geheimpolizeilichen Arbeit aktiv. Verzeichnet sind hier 13 Juristen, drei Ingenieure, ein Chemiker und ein Techniker.150 Stellt man diese Übersichten nebeneinander wird deutlich, dass trotz der Dominanz der »tschekistischen« Ausbildung alle drei Objektdienststellen auch auf naturwissenschaftlichen und technischen Sachverstand zurückgreifen konnten. Jens Gieseke kommt in seiner Studie über die hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS ganz allgemein zu dem Schluss, dass das Bildungsniveau in allen Diensteinheiten der Linie XVIII über dem MfS-Durchschnitt lag, vergleichbar mit den Mitarbeitern der Hauptverwaltung A.151 Allerdings war damit nach Ansicht des Autors nicht automatisch die Fähigkeit verbunden, ökonomische Probleme analytisch zu durchdringen.152 Obwohl die Offiziere nicht nur über einen höheren Bildungsabschluss, sondern auch über umfassen147  Über die Ausbildung an der Juristischen Hochschule siehe Günter Förster: Die Juristische Hochschule des MfS. Berlin 1994. 148  Nicht gezählt werden hier die Offiziere der militärischen Sicherungsgruppe. Vgl. Abteilung Kader und Schulung der BV Halle: Stellenplan der OD Buna, 1988; BStU, MfS, BV Halle, Abt. KuSCH, Nr. 393, Bl. 57–59. Nach einem weiteren Stellenbesetzungsplan aus dem Jahr 1986 waren in der Objektdienststelle Buna mindestens 19 Offiziere »operativ« tätig, darunter 15 Juristen und jeweils ein Chemiker, Ökonom, Kriminalist und Verfahrenstechniker. Vgl. Abteilung Kader und Schulung der BV Halle: Stellenplan für BU/BO der OD Buna, 1986; BStU, MfS, BV Halle, Abt. KuSCH, Nr. 389, Bl. 57–59. Unter den von Hertle und Gilles näher betrachteten 28 Offizieren der OD Buna waren 14 Juristen, 3 Ingenieure, 3 Kriminalisten und 2 Chemiker. Vgl. AKG der BV Halle: Planstellenbesetzungsnachweis, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, AKG, Nr. 960, Bl. 138–142. 149  Vgl. Abteilung Kader und Schulung der BV Halle: Planstellen der OD Leuna, 1986; BStU, MfS, BV Halle, Abt. KuSCH, Nr. 393, Bl. 85–88. Ein weiterer Planstellenbesetzungsplan der OD Leuna aus den 1980er-Jahren listet 31 Offiziere auf, darunter 9 Juristen, 2 Chemiker, 4 Ingenieure, 1 Kriminologe, 2 Ökonomen und 5 Techniker. Vgl. OD Leuna: Planstellenbesetzungsnachweis, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 420, Bl. 1–6. 150  Vgl. OD CKB: Stellenplanüberwachungsliste vom 1.2.1989; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 207, n. p. Eine Planstellenübersicht aus dem Jahr 1988 nennt von 17 Offizieren 14 Juristen, 1 Chemiker und 1 Kriminalisten. Vgl. Abteilung Kader und Schulung der BV Halle: Planstellen der OD CKB, 1988; BStU, MfS, BV Halle, Abt. KuSCH, Nr. 393, Bl. 70–72. 151  Vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 463. Die Hauptverwaltung A war die Spionageabteilung und der Auslandsgeheimdienst der DDR. 152  Vgl. ebenda.

Die Linie XVIII

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des Fachwissen und zahlreiche Kontakte zu betrieblichen Fachleuten und Führungskräften verfügten, zeigten sie sich weder gewillt noch in der Lage, tiefergehende Reformansätze zu strukturellen Grundproblemen zu entwickeln. Dass einer praktischen und konzeptionellen Lösungskompetenz grundlegende Prinzipien der geheimpolizeilichen Arbeit wie Parteilichkeit, Konspiration und die Fokussierung auf individuelle Verantwortung entgegenstanden, wird unter anderem bei der Reaktion des MfS auf die Exportschwäche und den prekären Anlagenzustand der Kombinate deutlich, zwei zentrale Probleme, die in Kapitel 4 und 5 näher erläutert werden.153 Obwohl die Objektdienststellen zur Linie XVIII gerechnet wurden, besaßen sie mit ihrer umfassenden Zuständigkeit für einen definierten Bereich – dem Kombinat – eher den Charakter einer Kreisdienststelle (KD). Diese Struktureinheit des MfS repräsentierte auf der untersten Ebene das sogenannte Territorialprinzip – neben der Linienanordnung und der Schwerpunktbildung der dritte Organisationsgrundsatz des MfS, der für eine bestimmte Region die vollständige Absicherung aller Sachverhalte und Einrichtungen verlangte. Ähnlich der Objektdienststellen wiesen auch die Kreisdienststellen damit ein sehr breitgefächertes Aufgabenspektrum auf: Es reichte von der Überwachung staatlicher und kultureller Institutionen, über die Absicherung der Staatsgrenze bis zur Kontrolle politisch relevanter Personenkreise. Sämtliche Linienaufgaben traten hier in gebündelter Form wieder auf.154 Zur Standardausstattung einer Kreisdienststelle zählte immer auch ein Referat zur »Sicherung der Volkswirtschaft«, nicht selten sogar mit dem größten Personalbestand.155 Diesem Bereich wurde unter anderem auch die Überwachung der vor Ort ansässigen Kombinatsbetriebe übertragen. So übernahm die KD Bernburg zum Beispiel die Kontrolle der Sodawerke Bernburg-Staßfurt (Kombinat Bitterfeld) und die KD Köthen die Kontrolle des VEB Orbitaplast Weißandt-Gölzau (Kombinat Buna). Auch bei der Überwachung von Personen, die sich berufsbedingt häufig außerhalb des Kombinatsgeländes aufhielten, wie Kaufleute oder Spediteure, griffen die Objektdienststellen auf die Unterstützung der Kreisdienststellen zurück. Da in der gesamten DDR lediglich sieben größere Kombinate über eine eigene Dienststelle des MfS verfügten, wurde die überwiegende Anzahl der Betriebe von den Wirtschaftsreferaten der Kreisdienststellen kontrolliert. Sie trugen damit die Hauptlast der 153 Über die stark verzerrte Wirklichkeitswahrnehmung und die damit einhergehende eingeschränkte Analysefähigkeit der hauptamtlichen Mitarbeiter siehe Lenski: Parallelgesellschaft, S. 310. 154  Vgl. David Gill, Ulrich Schröter: Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-Imperiums. Berlin 1991, S. 58. 155  Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 6. Kreisdienststellen konnten je nach regionaler Besonderheit zwischen 2 und 16 Fachreferate aufweisen. Genauso wie bei Objektdienststellen fand sich auch in jeder KD ein Referat für »Auswertung und Information« und eine Militärische Sicherungsgruppe. Vgl. Dokumentenanhang im MfS-Lexikon, S. 400.

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Wirtschaftsüberwachung. Der Bezirk Halle verfügte insgesamt über 23 Kreisdienststellen, republikweit waren es 209 mit zusammen 10 539 hauptamtlichen Mitarbeitern im Jahr 1989.156

2.4  Arbeitsmethode I: Die inoffiziellen Mitarbeiter Die Linie XVIII bildete die institutionelle Struktur des MfS, mit deren Hilfe die vielfältigen Akteure und Beziehungen innerhalb der Planwirtschaft erfasst und kontrolliert werden konnten. Von ihrem Ausgangspunkt aus, der zentralen Hauptabteilung XVIII in Berlin, über ihre Mitteletage, der Abteilung XVIII auf Bezirksebene, bis zu ihrer Basis, den Operativgruppen und Objektdienststellen in den Betrieben, sollte sie alle Aktivitäten einer Branche, allen voran die der Chemieindustrie, lückenlos abdecken. Im folgenden Abschnitt soll die praktische Vorgehensweise der Dienststellen der Linie XVIII betrachtet werden. Erläutert werden jene Instrumente, mit denen die Offiziere versuchten, ihre zahlreichen geheimpolizeilichen und ökonomischen Linienaufgaben umzusetzen. Das breit angelegte Tätigkeitsspektrum des MfS kann dabei grob in zwei unterschiedliche Bereiche unterteilt werden: den sachlich-analytischen und den personenbezogenen Bereich. Bei der analytischen Arbeit ging es vor allem um die Untersuchung technischer und ökonomischer Sachverhalte. Ziel war hier die Überwindung betriebswirtschaftlicher Schwierigkeiten, zum Beispiel chronische Planrückstände oder der häufige Ausfall einer Produktionsanlage. In solchen Fällen sammelte und analysierte das MfS Informationen, um der SED und der Kombinatsleitung Problemursachen zu schildern und – zumindest in Ansätzen – Problemlösungen anzubieten. Die personenbezogene Arbeit betraf hingegen die Auswahl, Prüfung, langfristige Kontrolle, Disziplinierung und gegebenenfalls Bestrafung einzelner Beschäftigter. In diesem Bereich trat das MfS weniger auswertend und reflektierend, als vielmehr sanktionierend und erziehend auf. Diese beiden Handlungsfelder nahmen die Offiziere aber in der Praxis nicht getrennt wahr. Die Bearbeitung von Personen wurde vielmehr als Teil der Problemlösung gesehen, in der Disziplinierung und Bestrafung also ein Beitrag zur Überwindung ökonomischer und technischer Schwierigkeiten erkannt. Für beide Bereiche, personenbezogene Ermittlung und sachbezogene Analyse, griff das MfS im Wesentlichen auf drei Arbeitsmethoden zurück: den Einsatz inoffizieller Mitarbeiter (IM), die offizielle Kooperation mit staatlichen Leitern und betrieblichen Organen sowie die Durchführung von umfassenden

156  Entsprechend der Mitarbeiterzahl wurden die Kreisdienststellen der Kategorien A (> 84), B (51–83) und C (< 51) unterschieden. Vgl. Dokumentenanhang im MfS-Lexikon, S. 400.

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Überwachungsprogrammen. Diese drei Arbeitstechniken, mit denen die MfSZiele in der Praxis umgesetzt wurden, sollen im Folgenden beschrieben werden. Das Hauptanliegen der MfS-Offiziere der Objektdienststellen bestand darin, zu jedem Zeitpunkt möglichst umfassend und aktuell über alle aus ihrer Sicht relevanten Personen und Sachverhalte im Werk informiert zu sein. Dafür vertrauten sie neben dem Einsatz von Abhörtechnik vor allem auf die Einbindung von Beschäftigten als verdeckte Informanten. Auch wenn das MfS in den 1980er-Jahren diese inoffiziellen Mitarbeiter nur als ein Instrument neben anderen beschrieb, so erscheint der Aufbau eines Netzwerks aus konspirativen Zuträgern im Rückblick als bedeutsamste Überwachungsmethode der Geheimpolizei.157 Wie viele Beschäftigte Teil dieses Netzwerks wurden, aus welchen Berufsgruppen sie stammten, welche Motive sie bewegten und für welche konkreten Zwecke sie genau eingesetzt wurden, soll im Folgenden dargelegt werden. Dabei steht vor allem das besondere Verhältnis zwischen IM und Führungsoffizier sowie der »Sicherheitsbeauftragte« als ein konspirativer Mitarbeiter einer ganz eigenen Kategorie im Mittelpunkt. Ebenfalls deutlich werden sollen die begrenzte Effektivität und die planwirtschaftlichen Eigenheiten dieser Überwachungsmethode, mit der sich das MfS besonders tief in die Denkweisen, Mechanismen und Alltagsprobleme der Kombinate hineinziehen ließ. Eine an der MfS-eigenen Juristischen Hochschule in Potsdam-Eiche eingereichte Dissertation aus dem Jahr 1973 nennt die inoffiziellen Mitarbeiter eine »geheime Verbindung zwischen dem Staatssicherheitsdienst und der Gesellschaft«.158 Dieser Schrift zufolge hätten sie die »Hauptlast in der Auseinandersetzung mit dem Feind« zu tragen.159 In der Tat erhielten »inoffizielle Mitarbeiter« nicht nur den Auftrag, sach- und personenbezogene Informationen zu ermitteln und Hinweise auf Rechtsverletzungen, politische Auffälligkeiten oder technische Risiken zu geben. Neben der Rolle als Beobachter und Hinweisgeber sollten sie den »Kampf« des MfS gegen einen inneren und äußeren politischen »Feind« auch aktiv unterstützen und einen »wirksamen Beitrag« für die »Durchsetzung der Politik der Partei- und Staatsführung« leisten, wie es in der Richtlinie 1/79 des MfS für die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern heißt.160 Mit dem Einsatz von vertraulichen Unterstützern waren also hohe Erwartungen verbunden. »Ohne diese Atmungsorgane können wir nicht leben und arbei157  Vgl. Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 5; vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 114. 158  Werner Koth, Ferdinand Jonak, Karl-Otto Scharbert: Die Gewinnung Inoffizieller Mitarbeiter und ihre psychologischen Bedingungen. Dissertation der JHS Potsdam-Eiche; BStU, MfS, JHS, Nr. 21826, wiedergegeben in: Gieseke: Die Stasi, S. 112 sowie in: Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 8. 159 Ebenda. 160  Richtlinie 1/79 zur Arbeit mit den IM. In: Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 13.

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ten«, so die Schlussfolgerung des Ministers für Staatssicherheit, Ernst Wollweber, im Jahr 1957.161 Um geeignete Personen für eine konspirative Zusammenarbeit zu gewinnen, entwickelte das MfS ein aufwendiges Auswahlverfahren, das aus der umfassenden Prüfung, der Kontaktaufnahme und schließlich der Werbung des Beschäftigten mit einer meist schriftlichen Verpflichtungserklärung bestand.162 Dieser Prozess der Rekrutierung – der sogenannte IM-Vorlauf – sollte eine genaue Bewertung des Lebenswegs, der beruflichen Leistungen, des Charakters, der privaten Beziehungen sowie der politischen Einstellung des Kandidaten mit einschließen und konnte daher einen Zeitrahmen von über einem Jahr in Anspruch nehmen.163 Die Initiative für eine neue IM-Werbung ging in der Regel von einem operativen Mitarbeiter der Objektdienststelle als Teil seiner täglichen Arbeit aus. Er allein konnte die Eignung, Zuverlässigkeit und Gewinnungsmöglichkeit einer Person beurteilen.164 Erfüllte ein IM-Kandidat aus seiner Sicht diese drei Prüfungskriterien, bat der Offizier den Leiter der Dienststelle um die Autorisierung eines neuen IM-Vorgangs.165 Bei besonderen IM-Kategorien musste er dafür auch die Bestätigung höherer Ebenen wie die der Bezirksverwaltung einholen. Unterstützte die Dienststelle den »Werbungsvorschlag« und verlief das Werbungsgespräch erfolgreich, konnte der nun als »Führungsoffizier« des neuen inoffiziellen Mitarbeiters fungierende operative Mitarbeiter einen weiteren IM-Vorgang für sich abrechnen. Er war nunmehr verpflichtet, den begonnenen Kontakt möglichst intensiv zu pflegen. Je häufiger der neue inoffizielle Mitarbeiter an einem geheimen Ort getroffen wurde, so die Grundannahme des MfS, desto ergiebiger würde auch sein »operativer« Beitrag ausfallen.166 Die oben erwähnte Dissertation aus dem Jahr 1973 wünschte sich bei den Offizieren sogar eine »Liebe zur IM-Arbeit« und bezeichnete ihre IM-Netzwerke als »wirkungsvollste tschekistische Waffe«.167 Detailliert festgelegt wurde der Rekrutierungsprozess und die anschließende Arbeit mit den inoffiziellen Mitarbeitern in den dienstlichen Bestimmungen des MfS – den sogenannten Richtlinien. Sie fassten die bis dahin jeweils gültige Praxis der IM-Arbeit zusammen und versuchten gleichzeitig, methodische Schwächen zu überwinden. Nach fünf Novellierungen leitete die oben genannte

161 Wollweber, zit. nach: Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 6. 162  Vgl. Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 43. 163  Vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 130. 164  Vgl. Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 42. 165  Vgl. ebenda, S. 44. 166  Vgl. ebenda, S. 8 u. 13. 167  Koth; Jonak; Scharbert: Gewinnung Inoffizieller Mitarbeiter, wiedergegeben in: Gieseke: Die Stasi, S. 112 sowie in: Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 8.

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Richtlinie 1/79 als besonders umfangreiches Regelwerk die IM-führenden Mitarbeiter des MfS in der letzten Dekade der DDR bis zum Jahr 1990 an.168 2.4.1 Die Eigenschaften des IM-Bestands der Linie XVIII Die Hauptabteilung XVIII in Berlin führte Mitte 1988 1 789 inoffizielle Mitarbeiter.169 Davon zählten 233 IM zur Abteilung 13, die für die chemische Industrie zuständig war.170 Der IM-Bestand der Bezirksverwaltung in Halle umfasste im Jahr 1989 1 719 Personen, dabei waren für die Abteilung XVIII 209 IM registriert.171 In den Chemischen Werken Buna kamen im Jahr 1989 auf etwa 20 500 Beschäftigte172 205 IM, in Bitterfeld waren es 89 IM bei 18 500 Beschäftigten und in Leuna 170 IM bei 27 500 Beschäftigten.173 Diese Gegenüberstellungen von IM- und Beschäftigtenzahlen zeigt, dass sich die geheimpolizeiliche Durchdringung der drei Stammwerke der Chemiekombinate trotz der Anwesenheit einer Objektdienststelle in Grenzen hielt. In den Buna-Werken lag die IM-Quote bei 1:100, in den Leunawerken bei 1:161 und im Kombinat Bitterfeld sogar nur bei 1:207. Zumindest mit Blick auf die reine Anzahl von inoffiziellen Mitarbeitern zählten die Großbetriebe der Chemie damit sicherlich nicht zu den »politisch am dichtesten kontrollierten Räumen in der DDR«, wie Hertle und Gilles es in ihren Aufsätzen formulieren.174 Eine solche Aussage kann allerdings sehr wohl für einzelne Bereiche des Kombinats getroffen werden, wie der Außenhandelsdirek168  Vgl. Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 8 f. 169  Vgl. Müller-Enbergs: IM-Statistiken, S. 323. Alle genannten IM-Zahlen umfassen die Kategorien IMS, IMB, IME und FIM. 170  Vgl. ebenda, S. 324. 171  Vgl. ebenda, S. 540 u. 548, siehe auch Abteilung XVIII der BV Halle: Auskunftsbericht vom 1.10.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt: XVIII, Nr. 2285, Bl. 1. 172  Das Stammwerk Schkopau beschäftigte im Jahr 1989 etwa 18 000 Arbeitskräfte. Die IM-Basis der Objektdienststelle Buna deckte aber ebenso das Ammendorfer Plastwerk und das Bau- und Montagekombinat Chemie in Halle mit zusammen etwa 2 500 Beschäftigten ab. Die Beschäftigtenzahlen von Bitterfeld und Leuna beziehen sich auf den Stammbetrieb. Über den Aufbau und die Größe der Kombinate siehe ebenso Kapitel 1, Abschnitt 1.6. 173  Vgl. Müller-Enbergs: IM-Statistiken, S. 572–574. Der IM-Bestand der OD Bitterfeld lag 1979 bei 140 IM, 1980 bei 127 IM und 1981 bei 123 IM. Vgl. OD CKB: Auskunftsbericht vom 21.1.1982; BStU, BAf NS, AKG, Nr. 2081, Bl. 155. Der IM-Bestand der OD Buna lag 1979 bei 259 IM, 1980 bei 179 IM und 1981 bei 184 IM. Vgl. OD Buna: Auskunftsbericht vom 21.1.1982; ebenda, Bl. 127. 174 Die beiden Autoren beziehen sich mit dieser Aussage allerdings nicht nur auf den IM-Bestand der Objektdienststellen, sondern ebenso auf die dauerhafte Präsenz von bis zu 40 MfS-Offizieren im Kombinat und deren intensive Interaktion mit Vertretern der SED, FDJ, des FDGB und den verschiedenen Sicherheitsorganen. Vgl. Gilles; Hertle: Stasi in der Produktion, S. 131.

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tion oder der Forschungsabteilung, in denen sowohl die konspirativen Quellen als auch die konkrete Tätigkeit der Offiziere massiv konzentriert wurden. In diesen »Räumen« lässt sich tatsächlich eine auch für DDR-Verhältnisse ungewöhnlich hohe Überwachungsdichte feststellen.175 Alle drei Objektdienststellen führten die Mehrzahl ihrer Informanten in der Kategorie »IMS«, also als »Standard-IM«, der eine breite Verwendung unter anderem für allgemeine Überwachungsaufgaben und Personenüberprüfungen fand.176 In Bitterfeld zählten zum Beispiel im Jahr 1984 108 von insgesamt 127 IM zu diesem Typus.177 In die Sonderkategorie »IMB« wurden wiederum nur wenige Informanten eingestuft. Sie war inoffiziellen Mitarbeitern mit sogenannter Feindverbindung, also mit direkten Kontakten zu »feindlichen Stellen« in der Bunderepublik, vorbehalten.178 In den Kombinaten waren das vor allem Reisekader mit Zugang zu höheren Geschäftskreisen in westlichen Unternehmen. Im Jahr 1984 besaßen in Bitterfeld lediglich zwei Zuträger den Rang eines »IMB«.179 Personen in leitenden Positionen oder mit speziellem Fachwissen wurden mitunter auch als »IM im besonderen Einsatz« – kurz: IME – verpflichtet.180 Insbesondere das sogenannte Ingenieur-Technische-Personal, also Chemiker, Verfahrenstechniker oder erfahrene Außenhändler, sollten als »Experten-IM« Gutachten anfertigen und Problemursachen analysieren. Im Jahr 1984 stellten sechs IME der OD Bitterfeld ihre Expertise zur Verfügung.181 Einigen inoffiziellen Mitarbeitern wurde auch die Anleitung weiterer IM übertragen. Diese als »Führungs-IM« bezeichneten Unterstützer des MfS waren in den Kombinaten sowohl bei intensiv überwachten Einzelprojekten als auch in stark IM-durchsetzten Abteilungen wie der Reisestelle aktiv. Auch für sicherheitspolitisch relevante Themenfelder wie der Bereich »Brände und Störungen« 175  Im Laufe der 1980er-Jahre war die Anzahl der IM-Vorgänge leicht rückläufig. Führte die OD Bitterfeld im Jahr 1980 noch 127 IM, so waren es 1987 112 und Ende 1989 nur noch 89 inoffizielle Mitarbeiter. In Leuna schrumpfte der Bestand von 183 im Jahr 1987 auf 179 im Jahr 1988. Gegen Ende des Jahres 1989 waren es nur noch 170 IM. Vgl. Müller-Enbergs: IM-Statistiken, S. 572–574. 176 Vgl. Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S.  16. Zur Kategorie »IM zur politisch-operativen Durchdringung und Sicherung des Verantwortungsbereiches« vgl. Gill; Schröter: Das MfS, S. 101; vgl. ebenso Gieseke: Die Stasi, S. 115. 177  Vgl. AKG der BV Halle: Kontrollbericht zum Stand und zur Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung in der Objektdienststelle CKB vom 24.2.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1276, Bl. 6. 178  Vgl. Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 27. 179  Vgl. AKG der BV Halle: Kontrollbericht zum Stand und zur Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung in der Objektdienststelle CKB vom 24.2.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1276, Bl. 6; zur Kategorie IMB siehe auch Gill; Schröter: Das MfS, S. 102 u. Gieseke: Die Stasi, S. 115. 180  Vgl. Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 20; vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 115. 181  Vgl. Gill; Schröter: Das MfS, S. 105.

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fand dieser IM-Typus Verwendung. Führungs-IM sollten etwa vier bis sechs inoffizielle Mitarbeiter selbstständig anleiten und damit die Arbeit der »operativ« tätigen Offiziere entlasten.182 In Bitterfeld wurden im Jahr 1984 elf solcher inoffizieller »Gruppenleiter« eingesetzt.183 Bei der Aufgabenzuordnung der inoffiziellen Mitarbeiter stand Ende der 1980er-Jahre der Überwachungsbereich »Produktionsanlagensicherheit« an erster Stelle.184 Im Jahr 1989 setzte die Objektdienststelle Bitterfeld für dieses Problemfeld ein Drittel aller IM ein. Zwei weitere Einsatzschwerpunkte bildeten in allen drei Kombinaten die Bereiche »Außenwirtschaft« und »Forschung und Entwicklung«. In Bitterfeld wurden für beide Themenfelder auf jeweils 19 Personen beziehungsweise 12 Prozent des IM-Bestandes zurückgegriffen.185 Im Jahr 1983 führte jeder operative Mitarbeiter der Objektdienststelle Bitterfeld durchschnittlich zehn IM186, in Buna kamen auf einen »operativ« tätigen Offizier acht und in Leuna neun IM.187 Auch wenn das MfS ganz verschiedene Kategorien für ihre inoffiziellen Mitarbeiter erfand, so verfügte diese Personengruppe dennoch über einige gemein182  Vgl. Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 17. 183  Vgl. AKG der BV Halle: Kontrollbericht zum Stand und zur Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung in den Objektdienststellen CKB vom 24.2.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1276, Bl. 6. 184  Die IM-Verteilung Ende der1980er-Jahre legt nahe, dass die prekäre Sicherheit der Produktionsanlagen – und nicht die Abwehr westlicher Einflüsse – den dominierenden Überwachungsgegenstand des MfS im Betrieb darstellte. Tatsächlich entwickelte sich das zunehmende Risiko von Arbeitsunfällen, Havarien und Produktionsausfällen durch die völlige Überalterung der Anlagen- und Gebäudesubstanz zu einem neuen Schwerpunkt der geheimpolizeilichen Kontrollarbeit. Bei näherem Hinsehen wird aber deutlich, dass die Offiziere auch auf diesem Tätigkeitsfeld immer dann besonders aktiv waren, wenn schädliche westliche Einflüsse vermutet wurden. Während sie in den instabilen Altfabriken weder offiziell noch inoffiziell stark präsent waren, zeigten sie große Aktivitäten, sobald eine westliche Neuanlage havarierte oder neu installiert werden sollte. Dass die Offiziere auch beim Thema »Brände und Störungen« auf die angenommenen unsichtbaren Einflüsse aus dem westlichen Ausland fixiert blieben und strukturelle Ursachen wie etwa wirtschaftspolitische Entscheidungen oder systembedingte Dysfunktionen der Wirtschaftsorganisation nur am Rande zur Kenntnis nahmen, erörtert Kapitel 5, Abschnitt 5.10. 185  Die Verteilung der inoffiziellen Mitarbeiter der Objektdienststelle Buna: Produktionsund Anlagensicherheit: 35 %, Außenwirtschaft: 13 %, Forschung und Entwicklung: 8 %. Die Verteilung der inoffiziellen Mitarbeiter der Objektdienststelle Leuna: Produktions- und Anlagensicherheit: 21 %, Außenwirtschaft: 9 %, Forschung und Entwicklung: 9 %. Alle Angaben beziehen sich auf das Jahr 1989. Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 17. 186  Vgl. AKG der BV Halle: Kontrollbericht zum Stand und zur Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung in den Objektdienststellen CKB vom 24.2.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1276, Bl. 6. 187 Vgl. Buthmann: Objektdienststellen, S.  22. In Bitterfeld waren im Jahr 1982 von 25 hauptamtlichen Mitarbeitern 16 in das »operative« Geschäft involviert, in Buna waren es 20 von insgesamt 36 Offizieren. Vgl. OD CKB: Auskunftsbericht vom 21.1.1982; BStU, BAf NS, AKG, Nr. 2081, Bl. 159 sowie OD Buna: Auskunftsbericht vom 21.1.1982; ebenda, Bl. 127.

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same Merkmale. Nach Hansjörg Geiger, von 1990 bis 1995 erster Direktor der Stasi-Unterlagen-Behörde, war der »durchschnittliche IM« republikweit zwischen 25 und 40 Jahre alt (der Anteil der Jugendlichen lag nur bei etwa 10 %), überwiegend männlich (5 bis 10 % der IM waren Frauen) und sehr häufig Mitglied der SED (je nach Region zwischen 47 und 73 %).188 Für die inoffiziellen Mitarbeiter der Chemiekombinate im Bezirk Halle lassen sich leicht abweichende Werte vom DDR-Durchschnitt feststellen: In der SED waren hier gut 75 Prozent, die Mehrzahl hatte das 45. Lebensjahr bereits überschritten und der Frauenanteil lag mit 15 Prozent etwas über dem Durchschnitt. Männliche Parteimitglieder mittleren und höheren Alters dominierten hier also den IM-Bestand. Diese Merkmale geben bereits einen Hinweis auf jene Personenkreise, die bei der IM-Rekrutierung im Mittelpunkt standen: langjährige, gut vernetzte Kader in herausgehobenen Positionen. Solche Führungskräfte mussten fast zwangsläufig männlich, Mitglied der SED und im fortgeschrittenen Alter sein, befanden sie sich doch auf dem Höhepunkt ihrer Karrieren innerhalb einer männlich dominierten Arbeitswelt. Bei diesem Rekrutierungsfokus erstaunt es auch nicht, dass die Mehrheit der IM in den Chemiekombinaten über einen längeren Zeitraum dem MfS zuarbeitete: 60 Prozent von ihnen zwischen sechs und zehn Jahren, 10  Prozent sogar darüber hinaus.189 Diese vergleichsweise lange Dauer lässt sich nach Hertle und Gilles mit den besonderen Bedingungen der Wirtschaftsüberwachung erklären: Anders als bei der Bearbeitung oppositioneller Gruppen waren die MfS-Offiziere in den Kombinaten auf eine vertrauensvolle Kooperation mit staatlichen Leitern angewiesen. Die Objektdienststelle legte daher Wert auf eine möglichst langfristige Zusammenarbeit, auch wenn die Bezirksverwaltung Halle die Offiziere in den Kombinaten immer wieder dazu drängte, ihr inoffizielles Personal zu verjüngen – zu viel Kontinuität, so ihre Befürchtung, berge die Gefahr, dass die Informanten ihre Kontakte zum MfS für private und berufliche Interessen ausnutzen könnten.190 2.4.2 Im Zentrum der IM-Werbung: Reisekader und Führungskräfte Alter, Geschlecht, Parteibindung und Dauer der Zusammenarbeit – die besonderen Merkmale des IM-Bestands der Objektdienststellen haben es bereits angedeutet, dass Funktionäre in herausgehobenen Positionen und mit besonderer funktionaler Bedeutung im Mittelpunkt des Auswahlschemas der Linie XVIII 188  Die Erkenntnisse Geigers sind wiedergegeben in: Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 15 sowie Gieseke: Die Stasi, S. 123. Siehe ebenso Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 39. 189  Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 15; siehe Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 40. 190  Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 15.

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standen. Verfügten diese Kandidaten auch noch über internationale Verbindungen, nicht zuletzt über Westkontakte und über spezielles, vielleicht sogar vertrauliches Fachwissen, waren sie für eine IM-Werbung besonders prädestiniert. Allen voran zwei Personenkreise erschienen durch dieses Raster wie geschaffen für die Unterstützung der Wirtschaftsüberwachung: Außenhändler und Leitungskräfte. Im Folgenden sollen diese beiden IM-Gruppen genauer vorgestellt werden. Zunächst die Gruppe der Außenhändler: Ihre Vertreter standen in regelmäßigem Kontakt mit westlichen Kaufleuten, nahmen an laufenden Vertragsverhandlungen teil und waren mit den Strategien und der Leistungsfähigkeit der westlichen Unternehmen bestens vertraut. Ihre inoffizielle Zusammenarbeit wurde daher gerne gesehen, insbesondere dann, wenn sie in westlichen Ländern eingesetzt wurden. Die Hälfte aller IM der Hauptabteilung XVIII – 901 von 1 789 – waren solche Westreisekader.191 Von den 60 im Stammwerk Bitterfeld im Jahr 1984 tätigen Außenhändlern im »NSW«192 waren 21 inoffiziell für das MfS tätig. Mit einem Verhältnis von 1:3 wies diese Gruppe die höchste IMDichte im Kombinat auf.193 Beim Reisekaderstamm der Leuna-Werke erreichte der IM-Anteil sogar 45 Prozent – von den 169 für westliche Länder eingesetzten Unterhändlern arbeiteten im Jahr 1988 53 als inoffizielle Mitarbeiter und 15 als sogenannte Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit.194 Der zweite Personenkreis, der dem MfS bei der IM-Werbung in den Chemiekombinaten besonders vielversprechend erschien, bestand aus den Führungskräften der Kombinatsbetriebe, zu denen unter anderem Betriebsdirektoren, Hauptabteilungsleiter, Abteilungsleiter und Sektorenleiter zählten. Da viele dieser staatlichen Leiter auch als Verhandlungskader im westlichen Ausland eingesetzt waren, können die beiden bevorzugten IM-Gruppen, Außenhändler und Leitungskader, nicht immer klar voneinander getrennt werden. Allerdings verfügten staatliche Leiter über etwas, das sie von »gewöhnlichen« Reisekadern unterschied und das sie für das MfS besonders wertvoll machte: Sie besaßen Über191  Vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S. 110. 192  Die Abkürzung NSW steht für »Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet«, eine im Bereich der Wirtschaftsbeziehungen offiziell genutzte Bezeichnung für alle Staaten, deren Wirtschaft nicht nach dem planwirtschaftlichen Modell ausgerichtet war. Dazu zählten alle Staaten außer der UdSSR, Polen, der ČSSR, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, der Mongolei, Kuba, Vietnam, Jugoslawien, Nordkorea, China, Albanien, Laos, Kambodscha und Mosambik. 193  Vgl. AKG der BV Halle: Kontrollbericht zum Stand und zur Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung in den Objektdienststellen CKB vom 24.2.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1276, Bl. 9. 194  Vgl. OD Leuna: Anlage 3 zur »Einschätzung der Ergebnisse und der Wirksamkeit der NSW-RK-IM« vom 10.5.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 349, Bl. 45. Als »Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit« (GMS) sollten Personen aus dem öffentlichen Leben mit einer betont staatsbewussten Gesinnung gewonnen werden. Vgl. Gill; Schröter: das MfS, S. 116. Weitere Hinweise zur Kategorie »GMS« siehe Abschnitt 2.4.5.

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blickswissen über zahlreiche Projekte und Strategien im Kombinat sowie die Befugnis, innerhalb ihres Verantwortungsbereichs Entscheidungen zu treffen, Weisungen zu erteilen und gegebenenfalls Sanktionen zu erlassen. Um die sicherheitspolitische Bedeutung dieser Führungskräfte für das MfS noch verständlicher zu machen, muss auf eine spezielle Eigenheit der DDR-Industrie eingegangen werden: der besonderen Konzentration von Wissen und Entscheidungsmacht bei einigen wenigen leitenden Positionen. Grund hierfür war die monopolartige Struktur der Planwirtschaft. Durch einen kontinuierlichen Prozess der Verstaatlichung und Zusammenfassung von Produktion und Handel in immer größeren Organisationseinheiten hatten sich seit den 1950er-Jahren zahlreiche Betriebe und Kombinate zu Alleinherstellern für unverzichtbare wirtschaftliche Erzeugnisse entwickelt: Wasserstoff zum Beispiel wurde allein in Bitterfeld produziert, Farben hingegen nur in Wolfen und Leime ausschließlich in Leuna. Innerhalb eines Werkes wiederum war oft ein einzelner Leitungskader für diese Produkte hauptverantwortlich. Der Leiter der Farbstoffforschung in Wolfen bestimmte zum Beispiel maßgeblich die Farbenpallette der gesamten Chemieindustrie. Der Hauptabteilungsleiter Absatz in den Buna-Werken organisierte wiederum einen Großteil des Kautschukhandels der DDR. Und der Raffineriepark in Leuna, in dem ein beträchtlicher Teil des Mineralöls der DDR veredelt wurde, lag hauptsächlich in der Hand des Betriebsdirektors für Erdöl/Olefine. Da eine so große funktionale Bedeutung auf eine überschaubare Gruppe staatlicher Leiter verteilt war, versuchte das MfS mit Nachdruck, diese herausragenden Spitzenfunktionäre als »IM in Schlüsselpositionen« zu verpflichten. Sie zählten zu den wichtigsten Kontaktpartnern aller drei Objektdienststellen. In der Reduzierung ökonomischer Zuständigkeiten auf einen kleinen Kreis gut geschulter Kader erkannte die SED eine wichtige Voraussetzung, um eine zentrale Planung und Leitung der Wirtschaft erfolgreich umzusetzen. Dieser Hang zur Zentralisierung wurde zusätzlich durch das in sozialistischen Verwaltungen verbreitete Organisationsprinzip der sogenannten Einzelleitung verstärkt, bei dem einem einzelnen Funktionär die ungeteilte Entscheidungskompetenz, Weisungsbefugnis und politische Verantwortung für einen bestimmten Leitungsbereich übertragen wurde.195 Mitbestimmung von unten, kollektive Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip oder die Eigenverantwortlichkeit untergeordneter Angestellter – etwa die Referatsverantwortlichkeit innerhalb der bundesdeutschen Ministerialverwaltung – waren mit diesem Leitungsgrundsatz unvereinbar. Mit der Strategie der »IM in Schlüsselposition« passte sich das MfS an diese Prinzipien und Strukturmerkmale der DDR-Wirtschaftsverwaltung an. 195  Vgl. Schade; Steding: Eigentumsverfassung, S.  176 und Lepsius: Handlungsräume, S. 350.

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In einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit diesen »Einzelleitern« erkannte das MfS allerdings nicht nur die Möglichkeit, sich deren Fachwissen und Entscheidungsmacht nutzbar zu machen. Die Kategorie »IM in Schlüsselpositionen« diente auch dazu, IM-verpflichtete Führungskräfte effektiv unter Kontrolle zu halten. Denn die Monopolisierung von Zuständigkeiten für Produktion und Handel innerhalb der Zentralverwaltungswirtschaft barg auch ein beträchtliches Risiko in sich: Traf nämlich ein Leitungskader bei der Herstellung eines Monopolguts eine falsche Entscheidung, konnte das Auswirkungen weit über das Kombinat hinaus haben. Die fehlende Angebotsvielfalt und die detaillierte Planung aller Tauschbeziehungen machte nicht zuletzt die stark verflochtene DDR-Verbundchemie äußerst störanfällig. Um eine stabile Produktion innerhalb der Großkombinate sicherzustellen, war das MfS daher besonders an einer intensiven Überwachung der funktional bedeutsamen Führungskräfte interessiert. Ein Bereich, in dem sich staatliche Leiter mit weitreichenden Entscheidungskompetenzen und Außenhändler – also die beiden wichtigsten Personenkreise für die IM-Werbung – besonders stark konzentrierten, waren logischerweise die Direktionen für Beschaffung und Absatz der Kombinate. »IM in Schlüsselpositionen« traten hier gehäuft auf, in den Buna-Werken zählten zu ihnen unter anderen der Direktor für Beschaffung und Absatz, sein Stellvertreter, die beiden Hauptabteilungsleiter für Absatz und Beschaffung sowie die Abteilungsleiter für Westexporte, Bilanzierung und Kompensationsgeschäfte. Auf dieser Leitungsebene zeigte das MfS also eine ungewöhnlich starke inoffizielle Präsenz. Der Aussage Wagner-Kyoras, dass die konspirativen Informanten aus den »Machtbeziehungen zwischen den entscheidenden Akteuren der Betriebspolitik« ausgeschlossen gewesen seien, kann somit für die Chemiebranche nicht zugestimmt werden. 196 An höchster Stelle verfügten die Objektdienststellen vielmehr über auskunftsbereite Quellen, die ihnen tiefe Einblicke in die wichtigsten Positionen, Entscheidungsabläufe und Interessengegensätze innerhalb der Direktionsund Kombinatsleitungen einräumten.197

196  Georg Wagner-Kyora: Spione der Arbeit – Zur Methodik der Alltagsgeschichte mit IM-Berichten aus Industriegebieten. In: Jens Gieseke (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR. Göttingen 2007, S. 209–252. 197  Eine häufige IM-Verpflichtung von Führungskräften gab es auch in anderen Branchen, so z. B. in der Mikroelektronik. Siehe Buthmann: Kadersicherung, S. 128 sowie im Fahrzeugbau, siehe Schulz: Simson, S. 373.

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2.4.3 Anleitung und Zusatzbelastung: Die Arbeitsaufträge des MfS Gerhard Kastl, Direktor für Beschaffung und Absatz in Leuna, war ein typisches Beispiel für eine solche auskunftsbereite Quelle in einer »Schlüsselposition«. Als ausgewiesener Experte für den Handel mit Erdölprodukten und wichtiger Unterhändler für den Ausbau der Erdölverarbeitung in den Leuna-Werken im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre übermittelte er der Objektdienststelle Leuna ab 1974 wertvolle Informationen. Seine exzellenten Kontakte zu Leuna-Partnern wie der BASF oder der Voest Alpine AG, sein persönliches Verhältnis zum Generaldirektor Erich Müller und nicht zuletzt seine langjährige Tätigkeit als Direktor der Leipziger Messe machten ihn für das MfS zu einem unverzichtbaren Gesprächspartner.198 Welche Themen standen dabei im Vordergrund? Wie andere Außenhändler, die an internationalen Verhandlungen teilnahmen und Kenntnisse über die langfristige Weiterentwicklung des Kombinats besaßen, konnte Kastl zu drei für das MfS wichtigen Sachverhalten Auskunft geben: Über den aktuellen Stand von laufenden Verhandlungen, über allgemeine ökonomische Entwicklungstrends und – nicht zuletzt – über das Verhalten seiner Kollegen in der Fachdirektion und in den Außenhandelsbetrieben.199 Solche IM-Gespräche waren also zunächst Fachgespräche über den jeweiligen Verantwortungsbereich des staatlichen Leiters. Dabei zeigten die Offiziere des MfS für technische und kaufmännische Details großes Interesse. Im Falle Kastls wurde zum Beispiel nach den Kosten und Nutzen einer neuen Reformeranlage für die Leuna-Werke gefragt: Über welche technischen Eigenschaften verfügte die neu erworbene Anlage? Welche Ursachen gab es für gewährte Preisnachlässe? Und für wie wahrscheinlich wurden Reklamationen bei den von Leuna gelieferten Gütern gehalten?200 Bei ihren Treffen mit staatlichen Leitern und Reisekadern verlangte das MfS auch Hinweise auf mögliche »Störaktionen« westlicher Unternehmen wie Marktabsprachen oder Embargomaßnahmen.201 Ebenso sollten die Informan198  Vgl. OD Leuna: Vorschlag zur Werbung eines IMV vom 4.6.1974; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 151/ 74, Teil I, Bd. 1, Bl. 76. 199  Über die Schwerpunkte in den Verhandlungsberichten der Reisekader siehe die Verhandlungsordnung des CKB Bitterfeld: Regelungen zur Gewährleistung von Sicherheit, Ordnung und Geheimnisschutz bei der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Verhandlungen mit ausländischen Bürgern im In- und Ausland und für die dienstlichen Einreisen in Sperrbereiche der Staatsgrenze der DDR, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1522, Bl. 35–71. 200 Vgl. OD Leuna: Bemerkungen zum Reformer III vom 31.8.1977; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 151/ 74, Teil II, Bd. 2, Bl. 11. 201  Ein Beispiel für die besondere Beachtung »diskriminierender Verhaltensweisen« westlicher Unternehmen ist folgender Bericht der OD Buna: Feindliche negative Angriffe des Gegners auf die Bereiche der Wissenschaft und Technik sowie gegen die Außenwirtschaftsbezie-

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ten allgemeine Analysen zu ökonomischen Fragen liefern, unter anderem zu aktuellen Forschungsthemen und Marktstrategien der Konkurrenzunternehmen, zum Stand der Importreduzierung oder zur Konkurrenzfähigkeit kombinatseigener Produkte.202 Bei diesen Unterhaltungen wurden die Leiter und Außenhändler stets als Fachleute ernst genommen. Die Offiziere erteilten ihren Gesprächspartnern keine Ratschläge oder Weisungen, sondern erkundigten sich genau nach den Ursachen für bestimmte Ergebnisse. Sie unterschieden genau zwischen der praktischen Arbeit der betrieblichen Fachkräfte und den Aufgaben ihres geheimpolizeilichen Apparates, ganz so, wie es in der oben erwähnten Richtlinie 1/82 vorgeschrieben war. Doch das Ökonomische stand niemals allein im Mittelpunkt der MfS-Aufmerksamkeit. Noch wichtiger als technische und wirtschaftliche Sachverhalte waren den Offizieren die Personen im unmittelbaren Umfeld des inoffiziellen Mitarbeiters – ihr konkretes Verhalten und ihre eventuelle Verantwortung für bestimmte Probleme. War es dem IM möglich, bei seinen Kollegen private Kontakte zu westlichen Kaufleuten festzustellen? Verstieß ein Reisekader auf Dienstreisen regelmäßig gegen die Verhandlungsdirektive? Oder hatte sich ein DDR-Unterhändler auffällig schnell auf ein bestimmtes Verhandlungsangebot eines westlichen Unternehmens eingelassen? Bei der Beantwortung solcher Fragen wurden Auskünfte über die Familienverhältnisse, Charakterzüge, Hobbies oder das persönliche Netzwerk der betreffenden Kollegen als besonders wertvoll eingestuft.203 Blieben solche Hinweise in den IM-Berichten aus, löste das schnell eine kritische Stellungnahme der Bezirksverwaltung als übergeordnete Kontrollinstanz der Objektdienststellen aus.  Ein Fehlen von »operativ wertvollem Material« wurde dann beanstandet. Trotz des Interesses der Offiziere an fachlichen Aspekten sollten die Informationen der inoffiziellen Mitarbeiter nicht zu »ökonomisch« oder »technisch« ausfallen. So beanstandete zum Beispiel die Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG)204 der Hallenser Bezirksverwaltung im Jahr hungen und Erfordernisse zur Qualifizierung des Geheimnisschutzes vom 14.5.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 622, Bl. 57. 202  Vgl. OD Leuna: Ergebnisbericht vom 30.11.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 151/ 74, Teil I, Bd. 1, Bl. 133. 203 Siehe OD Leuna: Auskunftsbericht vom 30.12.1971; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 350/87, Teil I, Bd. 1, Bl. 153. 204  Die Auswertungs- und Kontrollgruppe war ein im Jahr 1978 eingerichtetes Funktionalorgan des Leiters der Bezirksverwaltung. Zum einen übernahm sie die Auswertung der Informationen der Kreis- und Objektdienststellen und die Weiterleitung einer Auswahl an die zentrale Auswertungsgruppe in der MfS-Zentrale (ZAIG). Die AKG stellte damit das Mittelstück des MfS-internen Berichtswesens dar. Zum anderen war dieses Funktionalorgan für die Ausarbeitung von dienstlichen Bestimmungen und Weisungen und für die Überprüfung der »operativen« Arbeit der MfS-Diensteinheiten im Bezirk zuständig. Vgl. Lexikoneintrag »Auswertungsund Kontrollgruppe«. In: MfS-Lexikon, S. 53.

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1981, dass die Offiziere im Kombinat Bitterfeld ihre IM-Aufträge »zu einseitig auf ökonomische Aufgabenstellungen und Probleme ausrichten« würden. Die Informationen besäßen damit »keine operativ bedeutsame Aussagekraft«.205 Im Rahmen einer Überprüfung der IM-Einsätze in den Bitterfelder Fabriken für Schwefel- und Salpetersäure im Jahr 1985 vermisste die Bezirksverwaltung in den IM-Berichten ebenfalls Hinweise auf die konkrete Verantwortung einzelner Leiter für bestimmte Missstände. Eine unzureichende Einführung der inoffiziellen Mitarbeiter in ihre Kontrollarbeit wurde dafür als entscheidende Ursache ausgemacht. »Sie waren nicht auf die Herausarbeitung subjektiver Mängel bzw. nicht auf das Erkennen personeller Unsicherheitsfaktoren ausgerichtet«, so die Ansicht der Bezirksverwaltung.206 Ganz allgemein würden die Offiziere zu schnell jene Themen akzeptieren, die von den staatlichen Leitern selbst festgelegt wurden.207 Trotz dieser wiederholten Kritik blieben die Offiziere der Objektdienststellen aber immer an beiden Aspekten interessiert: personenbezogenen Informationen und fachlichen Analysen. Im Grunde berücksichtigten sie damit genau jene beiden Hauptziele der IM-Arbeit, die in der Richtlinie 1/79 auch eingefordert wurden: »operativ verwertbares Material« zu sammeln und den IM »allseitig abzuschöpfen« – also nach möglichen Verfehlungen kombinatseigener Kader zu fragen und sich ebenso den ökonomischen und technischen Kenntnissen des IM zu bedienen. Einen Gegensatz zwischen beiden Vorgaben wollten die meisten Offiziere nicht erkennen, da sie ökonomische Schwierigkeiten in den meisten Fällen ohnehin auf die Handlungen und Charaktereigenschaften einzelner Funktionäre zurückführten.208 Die Vielfalt der Themen, die bei einem IM-Treff abgehandelt wurden, veranschaulicht die zentrale Bedeutung der inoffiziellen Mitarbeiter für die Informationsbeschaffung des MfS. Besonders großen Wert legten die MfS-Offiziere daher auf eine genaue Instruktion der IM. Denn ohne einen exakten IM-Auftrag, so der Hinweis der Auswertungs- und Kontrollgruppe an die Objektdienst-

205  AKG der BV Halle: Bericht über die Ergebnisse der Nachkontrolle zur Führung und Leitung der politisch-operativen Arbeit vom 10.6.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 1785, Bl. 7. 206 OD CKB: Bericht über die Komplexkontrolle im Produktionsbereich P 2 vom 11.9.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 434, Bl. 1. 207  Vgl. AKG der BV Halle: Einschätzung zum erreichten Stand sowie der Qualität und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit, vorrangig zur Arbeit mit NSW-RK-IM, im Referat F/AWB der Objektdienststelle CKB vom 31.8.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1276, Bl. 109. 208  Über die zum Teil widersprüchlichen Zielstellungen der Richtlinie 1/79 an die IM-führenden Offiziere siehe Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 48.

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stelle Bitterfeld im Jahr 1988, bliebe die MfS-Arbeit im Betrieb »ziel- und wirkungslos«.209 Die Führungsoffiziere übertrugen den inoffiziellen Mitarbeitern ganz unterschiedliche Aufgaben: Vertrauliche Dokumente sollten beschafft, die unternehmerischen Entscheidungen von Kollegen wie Lizenzverkäufe oder Kompensationsvorhaben erläutert, Grenzkontrollen bei Auslandsdienstreisen beobachtet oder die allgemeine Stimmung in der eigenen Abteilung eingeschätzt werden. Ein besonderes Anliegen bestand auch im Aufbau kommerzieller Kontakte in den Westen, unter anderem zu leitenden Mitgliedern von Firmenvorständen. Einen solchen Auftrag erhielt zum Beispiel der Abteilungsleiter für PVC-Exporte der Buna-Werke, Günter Schulz, während eines Arbeitsaufenthalts in Paris im Jahr 1987. Sein Kollege von der westdeutschen Metallgesellschaft hatte ihn auf dieser Dienstreise auf einen abendlichen Kneipenbesuch eingeladen. Schulz lehnte zunächst dankend ab, mit dem Hinweis, dass seine Reisedirektive solche Unternehmungen ausdrücklich untersage. Kurz danach erteilte ihm aber die Objektdienststelle Buna den Auftrag, einen »festen und ausbaubaren Kontakt« mit dem Unternehmen herzustellen.210 »Bringen Sie gegenüber H. [Kollege der Metallgesellschaft] zum Ausdruck, dass von ihrer Person her Interesse besteht, am Nachholen eines solchen Angebotes für einen Bummel durch Paris bei Nacht«, so die Anweisung des MfS. »Machen Sie H. gleichzeitig darauf aufmerksam, dass im Zusammenhang mit den zu schaffenden Freiräumen kein weiterer DDR-Bürger informiert sein darf, was sich auch auf ein mögliches Zusammentreffen mit ihnen bezieht.«211 Die Metallgesellschaft zählte zu den größten Industriekonzernen der Bundesrepublik und war ein wichtiger Handelspartner der Buna- und Leuna-Werke. Mit einem solchen Auftrag an Schulz unternahmen die Offiziere den Versuch, an vertrauliche Informationen über die PVC-Strategie des Unternehmens zu gelangen. Darüber hinaus sollte der Abteilungsleiter mit dieser für DDR-Kader unüblichen Verhaltensweise »bei feindlichen Stellen«, also bei westlichen Geheimdiensten, Aufmerksamkeit erregen, wie die Einsatzkonzeption der Objektdienststelle für die Dienstreise von Schulz erläuterte.212 Neben solchen Einzelaufträgen sah das MfS für IM-verpflichtete Wirtschaftsfunktionäre oft auch ganze Bündel an Aufgaben vor. Der Bitterfelder 209  AKG der BV Halle: Einschätzung zum erreichten Stand sowie der Qualität und Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit, vorrangig zur Arbeit mit NSW-RK-IM, im Referat F/ AWB der Objektdienststelle CKB vom 31.8.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1276, Bl. 109. 210  Vgl. OD Buna: Konzeption zum Einsatz des IMB »Bilanz« vom 5.3.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 766/89, Teil II, Bd. 2, Bl. 504. 211 OD Buna: Offensivauftrag vom 5.3.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 766/89, Teil II, Bd. 2, Bl. 505. 212  Vgl. OD Buna: Konzeption zum Einsatz des IMB »Bilanz« vom 5.3.1987; ebenda, Teil II, Bd. 2, Bl. 504.

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Direktor für Beschaffung und Absatz, Albert Dietze, sollte zum Beispiel anlässlich der Leipziger Frühjahrsmesse im Jahr 1980 eine umfangreiche Frageliste beantworten: Gibt es Kenntnisse über neue Leitungsstrukturen bei den teilnehmenden Firmen? Werden neue protektionistische Maßnahmen wie Umweltrichtlinien oder Verpackungsvorschriften gegen die DDR erlassen? Wie kann die Außenhandelsaktivität der Schwellenländer eingeschätzt werden? Welche Einladungen und Empfänge wurden ausgesprochen? Wurden bei Farbstoffen neue Abhängigkeiten geschaffen? Gab es »Kontaktbestrebungen«, die nicht im Zusammenhang mit konkreten Verhandlungen standen? Konnte ein auffälliges Interesse der westlichen Unternehmer an politischen, ökonomischen oder kommerziellen Vorgängen im RGW festgestellt werden?213 Solche Fragenkataloge spiegelten das breite Informationsinteresse der Offiziere und ihre enormen Erwartungen an »IM in Schlüsselposition« wider. Sie machten aber auch deutlich, dass die MfS-Offiziere den Hauptteil ihrer Aufgaben – nämlich die Beobachtung, Analyse und Erschließung neuer Quellen – nicht selbst ausführten, sondern auf ihre inoffiziellen Mitarbeiter übertrugen. Für die betroffenen Kader resultierte aus dieser delegierenden Arbeitsweise des MfS eine spürbare Zusatzbelastung. Anstelle einer engen, formalisierten und gleichrangigen Kooperationsbeziehung, die die Führungsoffiziere ihren IM bei jedem Treffgespräch suggerierten, trat eine umfassende Vereinnahmung der Kader für die Informationsinteressen der Geheimpolizei.214 Indem die Objektdienststelle staatliche Leiter mit konspirativen Arbeitsaufträgen überfrachtete, übte sie an dieser Stelle eine störende Wirkung auf die Außenhandelsbeziehung der Kombinate aus. 2.4.4 Weltanschauliches Engagement, Rückversicherung oder normale Berufspflicht? Über die Motivlage der inoffiziellen Mitarbeiter in den Chemiekombinaten Trotz des zusätzlichen Arbeitsaufwands erklärten sich aber die meisten angesprochenen Wirtschaftsfunktionäre für eine Zusammenarbeit mit dem MfS bereit. Welche Beweggründe brachten sie dazu? Eine Erhebung der Bezirksverwaltung Potsdam aus dem Jahr 1967, deren Ergebnisse durchaus auch für den Bezirk Halle relevant sein dürften, kam zu der Feststellung, dass eine nicht zu unterschätzende Rolle die politische Überzeugung spielte: 60 Prozent der von dieser Diensteinheit geführten inoffiziellen Mitarbeiter gaben ein »gesellschaftliches Erfordernis« als Ursache für die Zusammenarbeit an, 49 Prozent erwähn213  Vgl. OD CKB: Auftrag an Dietze für LFM 1980 vom 4.3.1980; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 1526/70, Teil II, Bd. 5, Bl. 352. 214  Vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 114 u. 125.

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ten ein »sittliches Pflichterleben«.215 Dass nicht wenige IM ihre Zuarbeit für das MfS als weltanschauliches Engagement begriffen, legt auch ihre häufige SED-Mitgliedschaft nahe. Anfang der 1980er-Jahre äußerte Mielke die kritische Bemerkung, dass zu wenige Neuwerbungen aus »feindlich negativen Kreisen« erfolgen würden.216 Auch im Rückblick gaben viele ehemalige inoffizielle Mitarbeiter ein ideelles Motiv für ihre Kooperation mit der Geheimpolizei an.217 Das Gefühl, der DDR einen patriotischen Dienst zu erweisen, wurde von den Führungsoffizieren auch gezielt vermittelt. Gegenüber den IM-verpflichteten Funktionären der Industriebetriebe hoben sie immer wieder die Risiken »gegnerischer Angriffe« und die Dringlichkeit ihrer konspirativen Zusammenarbeit hervor. Dass die Betriebe mithilfe vertraulicher Unterstützer vor negativen äußeren Einflüssen abgeschirmt werden mussten, davon waren die Offiziere der Linie XVIII tatsächlich überzeugt. Ihr Selbstverständnis als »Schild und Schwert« galt nicht nur für die SED, sondern auch für die Betriebe. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, suchten sie den engen Schulterschluss mit den »Werktätigen«, der sich – zumindest in ihrer Vorstellungswelt – im IM-Bestand ihrer Diensteinheit manifestierte.218 Allerdings lohnt es sich, die von den Offizieren und inoffiziellen Mitarbeitern oft behauptete ideologische Motivation zu hinterfragen. Zum einen, weil die IM-führenden Offiziere sehr schnell bereit waren, eine »Verpflichtung aus Überzeugung« festzustellen, da diese in den Richtlinien zur IM-Arbeit als »wichtigste und hauptsächlichste Werbungsart« auch direkt eingefordert wurde. Ein politisch loyaler IM-Kandidat, so die dahinterstehende Idee, versprach besondere Verlässlichkeit und Einsatzbereitschaft.219 Zum anderen, weil gerade im ökonomischen Bereich die Motivlage der IM recht vielschichtig gewesen sein musste. Ob pragmatische Karriereabsichten, Prestigebedürfnis, Abstiegsängste oder Konkurrenzdenken: Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es unter den Fachkräften und Leitungskadern der Industriebetriebe neben weltanschaulichen Motiven auch ganz eigennützige Erwägungen gegeben haben, die vor Ort ansässige Geheimpolizei zu unterstützen. Von den im Jahr 1967 von der BV Potsdam befragten inoffiziellen Mitarbeitern (die nicht ausschließlich in den Betrieben des Bezirks Potsdam eingesetzt waren) nannten zum Beispiel 39 Prozent »lebenspraktische Zielsetzungen«, 27 Prozent »persönliche Vorteilserwägungen« und 12 Prozent »Abenteuerlust« und den »Reiz des Geheimen« als Grund für ihre Kooperation.220 215  Vgl. ebenda, S. 127; vgl. Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 44 f. 216  Vgl. Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 44. 217  Vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 127. 218  Vgl. ebenda, S. 133. 219  In der Richtlinie 1/58 wird die politische Überzeugung als »wichtigste und hauptsächlichste Werbungsart« hervorgehoben. Vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 126. 220  Vgl. Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 44 sowie Gieseke: Die Stasi, S. 127.

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Bei den besonders umworbenen Reisekadern, Geheimnisträgern und Führungskräften der Großkombinate kam hinzu, dass in ihrem Umfeld ein regelmäßiger Kontakt zur Geheimpolizei, ob auf offiziellen oder inoffiziellen Wegen, einfach zur beruflichen Normalität gehörte. Für gehobene Positionen in der Außenhandelsdirektion, der Forschungsabteilung oder der Kombinatsleitung ließ sich ein Zusammentreffen mit der Geheimpolizei nur schwer vermeiden. Es lag dann an der betroffenen Person, wie weit sie sich auf die geforderte Spitzeltätigkeit einließ, ob sie es wagte, die Zusammenarbeit ganz zu verweigern, sich entschied, lediglich über technische Sachverhalte zu berichten oder tatsächlich bereit war, über Kollegen umfassend Auskunft zu geben. Dass einige staatliche Leiter ihre Zuträgerschaft für das MfS als einen fast selbstverständlichen Teil ihrer beruflichen Tätigkeit verstanden, zeigt das Beispiel von Horst Ihloff, der im Jahr 1972 als »Experten-IM« aus der Fachdirektion für Investitionen von der Objektdienststelle Buna angeworben worden war. Als Ihloff im Jahr 1978 vom Kombinat das Angebot erhielt, die Leitung der Abteilung für Kompensationsgeschäfte zu übernehmen, erkundigte sich der IM zunächst bei seinem Führungsoffizier, »ob er diese Stelle im Interesse des MfS auch übernehmen soll«.221 In Abstimmung mit dem MfS nahm er seine neue Aufgabe schließlich an und diente fortan der Objektdienststelle als wichtiger Informant für größere Investitionsvorhaben. Im Jahr 1987 wurde diese Zusammenarbeit allerdings unerwartet auf die Probe gestellt, da der Generaldirektor der Buna-Werke, Hans-Joachim Kozyk, Ihloff die Möglichkeit eröffnete, einen Posten in seinem neu geschaffenen Stabsorgan für Kombinatsentwicklung zu übernehmen. Gegen diesen erneuten Wechsel innerhalb des Kombinats meldete die Objektdienststelle schnell Bedenken an: Mit seiner Versetzung gehe eine entscheidende Quelle aus dem Reisekaderstamm verloren, so eine Notiz von Ihloffs Führungsoffizier Klaus Dieter Franz. »Aus operativer Sicht muss die Stellung bezogen werden, dass eine Arbeitsveränderung des IMB für die politisch-operative Sicherung der NSW-Reisetätigkeit [und] die Sicherung der Verhandlungstätigkeit […] hinderlich wäre und darüber hinaus eine sichere inoffizielle Position im Bereich Technik verloren gehen würde«, so Franz in einem internen Bericht.222 Im Rahmen einer ausführlichen Aussprache versicherte Ihloff seinem Führungsoffizier schließlich, dass er die neue Position in der Kombinatsleitung nur im Einvernehmen mit dem MfS antreten würde. »Zum Ausdruck kam, dass er tatsächlich bereit wäre, das neue

221  OD Buna: Aktenvermerk über ein Telegramm von Horst Ihloff vom 12.1.1978; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 279/72, Teil II, Bd. 3, Bl. 48. 222 OD Buna: Treffauswertung vom 23.11.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 279/72, Teil II, Bd. 8, Bl. 59.

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Aufgabenfeld zu übernehmen. Dies würde er aber nur tun, wenn es vom MfS als wichtiger betrachtet wird, als dies was er jetzt macht«, so Franz.223 Sich bei der Karriereplanung eng mit der Objektdienststelle abzustimmen, zählte für Ihloff offensichtlich zu seinen normalen beruflichen Pflichten. Zwar wird es auch ihm kaum gelungen sein, die regelmäßigen Treffen mit einem MfS-Offizier in konspirativer Atmosphäre als reine Routine einzuordnen. Dennoch floss die Interaktion mit der Objektdienststelle bei ihm, wie bei vielen anderen Außenhändlern und Leitungskadern, in die alltägliche Arbeit ein – auch, um bei dieser Gelegenheit ganz praktische Probleme anzusprechen. Nicht selten wurde die Kommunikation mit dem MfS nämlich als Kanal benutzt, um bestimmte Beschwerden und Wünsche schnell und zielgenau an das Chemie­ ministerium oder an die SED-Kreisleitung zu transportieren.224 Auf diese Weise war es den Funktionären auch möglich, ihre Spitzeltätigkeit als konstruktiven Beitrag für das Kombinat auszulegen und damit gegenüber dem eigenen Gewissen zu rechtfertigen.225 Indem die Offiziere darauf bedacht waren, genau zuzuhören und ihrem Gegenüber Raum für eigene Themen zuzugestehen, fühlten sich die staatlichen Leiter dabei auch tatsächlich ernst genommen – eine innerhalb der bürokratischen Abläufe der Wirtschaftsverwaltung keineswegs alltägliche Erfahrung. Dass sich eine Instanz wie das MfS ausgerechnet für ihren Arbeitsbereich interessierte, vermittelte den staatlichen Leitern zudem ein Gefühl von Relevanz und Prestige. Eine geheime Kooperation mit der Staatssicherheit wurde also auch aus ganz praktischen und eigennützigen, nicht-ideologischen Interessen vollzogen. Nicht zuletzt zählte dazu auch die Annahme, durch einen exklusiven Draht zur Staatssicherheit die eigene Position im Werk besser absichern zu können. Das Motiv der »Rückversicherung« spielte vor allem in der mittleren Leitungsebene der Kombinate, in der Gruppe der sogenannten »anfälligen Aufsteiger«, eine nicht zu unterschätzende Rolle.226 Über eine inoffizielle Zusammenarbeit sollte zum Beispiel der Status als Westreisekader oder Geheimnisträger gesichert oder eine unzureichende Nähe zu SED-Kreisen oder zur Generaldirektion kompensiert werden. Die vielfältigen Verwundbarkeiten und Abstiegsängste ambitionierter

223  OD Buna: Treff bericht vom 16.12.1987; ebenda, Teil II, Bd. 8, Bl. 67. 224  Vgl. Haendke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S.  122; siehe ebenfalls das Interview mit Horst Roigk, ehemaliger Leiter der Hauptabteilung XVIII/4. In: Gisela Karau: Stasiprotokolle. Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern des »Ministeriums für Staatssicherheit« der DDR. Frankfurt 1992, S. 20–34. Über die Rolle des MfS als Beschwerdeinstanz siehe ebenfalls Kapitel 5, Abschnitt 5.5.3. 225  Vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 128. 226  Ebenda. Zu dieser IM-Kategorie siehe ebenfalls Gerhard Barkleit, Anette Dunsch: Anfällige Aufsteiger. Inoffizielle Mitarbeiter des MfS in Betrieben der Hochtechnologie. In: Hannah-Arendt-Institut (Hg.): Berichte und Studien, Nr. 15, Dresden 1998.

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Kader waren den Offizieren genau bekannt. Ihre prekäre Lage konnten sie leicht für eine engere Bindung an die Geheimpolizei ausnutzen. Beispielhaft für einen solchen Fall der »Rückversicherung« steht der Sektorenleiter für Exporte in Leuna, Rudolf Tornitz227, der aufgrund seiner fehlenden SED-Mitgliedschaft im Laufe der 1980er-Jahre zunehmend unter Druck geriet. Sein Vorgesetzter, der Abteilungsleiter für Absatz Lutz Belitz, bemängelte auf einer Sitzung der Abteilungsparteiorganisation der SED im Mai 1986, dass die führende Rolle der SED im Sektor Export bislang nur unzureichend umgesetzt sei. Die »geforderte Formierung der Genossen«, so Belitz, sei seit Jahren nicht erfolgt, Prämien würden viel zu häufig an parteilose Mitarbeiter vergeben.228 Die Leitungsebene, so Belitz, bräuchte daher dringend ein weiteres SED-Mitglied.229 Tornitz, der seit 1971 als inoffizieller Mitarbeiter für das MfS berichtet hatte, wurde im Februar 1986 über seine mögliche Ablösung von seinem Führungsoffizier informiert: »IM [Deckname] wird dargelegt, dass er durch IM »G. Maler« [Abteilungsleiter Absatz Lutz Belitz] offensichtlich langfristig als Sündenbock für bestehende Exportprobleme gestempelt wird und bei Bedarf auch geopfert werden soll«, so eine für Tornitz vorbereitete Information als Teil einer »operativen Maßnahme«.230 Nachdem der Offizier dem Sektorenleiter diese Hinweise gegeben hatte, sicherte er ihm im gleichen Atemzug die volle Unterstützung seines Organs zu. Die Strategie der Objektdienststelle war an dieser Stelle offenkundig: Tornitz sollte sich seiner gefährdeten Stellung bewusst werden, um im Anschluss noch auskunftswilliger und zuverlässiger für das MfS zu berichten. In einem Bericht zur Überprüfung des IM heißt es einen Monat später: »Das Motiv der Zusammenarbeit wird beim IM noch dadurch unterstrichen, dass er in ständiger Sorge um seinen Posten lebt. Mit der Zusammenarbeit versucht er sich gewissen Rückhalt zu verschaffen.«231 Das MfS kannte also die prekäre Lage einzelner Leiter und wusste sie für sich zu nutzen. Eine Zusammenarbeit aus reiner Not, die für den staatlichen Leiter als Zwangserlebnis empfunden werden musste, sollte sich daraus aber nicht ergeben. Die Offiziere zeigten stattdessen Interesse an einem echten Vertrauens227  Name geändert. 228  OD Leuna: Wiedergabe der Aussagen von Lutz Belitz durch einen Mitarbeiter der OD Leuna, vermutlich der Sicherheitsbeauftragte Manfred Vorwerg vom 10.4.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, OD Leuna, Reg-Nr. VIII 844/71, Teil II, Bd. 2, Bl. 72. 229  Vgl. den Bericht des Sicherheitsbeauftragten Manfred Vorwerg über Belitz’ Interesse, ein weiteres SED-Mitglied in seiner Abteilung einzusetzen vom 5.5.1986; ebenda, Teil II, Bd. 2, Bl. 106. 230 OD Leuna: Information über eine Operative Maßnahme vom 10.2.1986; ebenda, Teil II, Bd. 2, Bl. 103. 231  OD Leuna: Ergebnisbericht zur IM-Überprüfung vom 1.3.1986; ebenda, Teil II, Bd. 2, Bl. 169.

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verhältnis, das im Idealfall über eine neutrale Arbeitsbeziehung hinausging. Nur eine Begegnung auf der Basis von Akzeptanz und Sicherheit, so der Ansatz des MfS, könne »operativ« verwertbare Informationen garantieren. Der Eindruck, lediglich ein Werkzeug zu sein, sollte bei den inoffiziellen Mitarbeitern von Beginn an vermieden werden. Um ein Gefühl echter Partnerschaft zu vermitteln, schlug der Führungsoffizier zum Beispiel gleich zu Beginn der IM-Beziehung vor, das »operative Grundanliegen« der Zusammenarbeit gemeinsam zu bestimmen.232 Ungezwungen, aus freien Stücken, sollte der Wirtschaftskader das Gespräch suchen und seine eigenen Themen setzen. Die oben erwähnte Dissertation aus dem Jahr 1973 über die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern forderte gar eine »ehrliche Achtung« des IM als »Kampfgefährte an der konspirativen Front«.233 Der geschützte Raum einer geheimen Begegnung sollte helfen, Hemmungen abzubauen und Vertrauen zu generieren. Sobald sich eine geeignete Arbeitsatmosphäre herausgebildet hatte, sollte der Führungsoffizier den Versuch unternehmen, seine Fragen auf stärker tabuisiertere Themen zu lenken, etwa auf die Charakterzüge befreundeter Kollegen oder das Freizeitverhalten von Familienmitgliedern. Dabei sollte er stets darauf achten, die Skrupel des IM frühzeitig zu zerstreuen, zum Beispiel, indem er die ehrenwerten Aspekte seiner Mitarbeit hervorhob. Nicht wenige Offiziere erwiesen sich dabei als wahre »Menschenspezialisten«, so der Historiker Helmut Müller-Enbergs.234 Am Ende dieser Einführungsphase sollte die sogenannte »Krümmung des IM« stehen, also seine Öffnung für intime Themen und belastende Aussagen auch über ihm nahestehende Personen.235 Doch ob sich die gewünschte Vertrauensseligkeit der inoffiziellen Mitarbeiter unter den realen Bedingungen in den Kombinaten tatsächlich einstellen konnte, bleibt fraglich. Einer offenen und freien Aussprache stand stets die ungleiche Machtverteilung zwischen Kader und Offizier entgegen. Durch bestehende Westkontakte und rechtlich oft prekäre Arbeitsbedingungen empfanden nicht wenige inoffizielle Mitarbeiter ihre berufliche Position im Werk als gefährdet. Ein regelmäßiger Kontakt mit einem Offizier des MfS musste da zwangsläufig, wenn auch nicht immer vordergründig, ein Gefühl der Belastung und Abhängigkeit erzeugt haben.

232  Vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 130. 233  Koth; Jonak; Scharbert: Gewinnung Inoffizieller Mitarbeiter, wiedergegeben in: Gieseke: Die Stasi, S. 112. 234  Müller-Enbergs in einem Interview mit der Wochenzeitung »Die Zeit«: »Diese Menschenspezialisten konnten kommunizieren, sich flexibel auf andere einstellen – und sie eben steuern«. In: http://www.zeit.de/2014/43/stasi-geheimdienst-spionage/seite-2, abgerufen am 3.1.2018. 235  Vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 130.

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Ganz bewusst als Unterordnung und Disziplinierung angelegt war eine inoffizielle Zusammenarbeit nur als eine mögliche Abschlussvariante eines Überwachungsvorgangs.  Um eine observierte Person auch nach Beendigung der »operativen« Maßnahmen zu kontrollieren, entschieden sich die Offiziere in Ausnahmefällen, eine IM-Tätigkeit als »Akt der Wiedergutmachung« aufzuzwingen.236 Auch wenn eine solche Werbung unter Druck eigentlich als riskant galt und nicht zur Regel werden sollte, gaben in der Umfrage der BV Potsdam von 1967 immerhin 23 Prozent der Befragten an, aufgrund eines »Zwangserlebnisses« einer IM-Zusammenarbeit zugestimmt zu haben.237 Von einer erpressten Mitarbeit erwartete das MfS allerdings keine zufriedenstellenden Informationen. Eine verlässliche und ertragreiche Zusammenarbeit verlange das Gefühl von wechselseitiger Kollegialität und Anerkennung, so die IM-Führungslehre. Schaut man sich die Richtlinie zur IM-Arbeit genauer an, wird aber deutlich, dass Vertrauen allein nicht als ausreichende Arbeitsgrundlage erachtet wurde. Vielmehr sollten zusätzlich bestimmte Emotionen und Einstellungen vermittelt werden, ein echtes Bedürfnis nach »Abwehr« zum Beispiel oder die Vorstellung von einem tatsächlich »skrupellosen Vorgehen« des »Feindes«.238 Mit einer solchen sogenannten Feindbildpflege konnte die IM-Beziehung fast den Charakter eines pädagogischen Vorgangs annehmen, bei dem ein staatlicher Leiter im Idealfall »tschekistische« Denkweisen verinnerlichte.239 Neben der Unterrichtung in einzelnen Techniken der konspirativen Arbeit sollte der Führungsoffizier eine »volle, rückhaltlose Identifikation« des IM mit den Aufgaben des MfS herbeiführen.240 Dass dieser erzieherische Ansatz bei der praktischen Arbeit vor Ort tatsächlich ausprobiert wurde, geht aus einer Stellungnahme der Objektdienststelle Buna aus dem Jahr 1982 hervor. Nachdem in der mittleren Führungsetage der Hauptabteilung Absatz vier neue inoffizielle Mitarbeiter platziert worden waren, forderte der verantwortliche Offizier »im Erziehungsprozess dieser IM« eine »Einflussnahme des MfS, dass diese ihre berufliche und fachliche Qualifizierung als einen Bestandteil ihrer spezifischen Aufträge erkennen«.241 Der eigene Beruf sollte hier also zum bloßen Vehikel der geheimpolizeilichen Arbeit uminterpretiert werden. Während die meisten staatlichen Leiter ihre Kontakte zum 236  Vgl. Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 44. 237  Vgl. ebenda, S. 45; ebenso Gieseke: Die Stasi, S. 129. 238  Richtlinie 1/79. In: Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 46. 239  Die Richtlinie 1/79 betonte besonders die Erziehung der IM und die Vermittlung eines klaren Feindbildes. Darin kann zum einen eine Unzufriedenheit über den geringen Erfolg der »operativen« Arbeit erkannt werden. Zum anderen war es wohl auch eine Vorsichtsmaßnahme in der Phase der Entspannung und begrenzten Öffnung der DDR ab Mitte der 1970er-Jahre. Siehe dazu ebenda, S. 13. 240  Ebenda, S. 47; vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 130. 241 OD Buna: Treffauswertung vom 27.9.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1003/82, Teil II, Bd. 3, Bl. 64.

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MfS als normalen Bestandteil ihrer beruflichen Pflichten begriffen, verfolgten die IM-führenden Offiziere das umgekehrte Ziel: Ihrer Meinung nach sollten die staatlichen Leiter sämtliche berufliche Aufgaben, Erfahrungen und Befugnisse primär als Teil ihrer konspirativen Unterstützung der Geheimpolizei verstehen. Tatsächlich fand das MfS für einige höhere Positionen in den hier untersuchten Kombinaten Kandidaten, die ihre eigene Arbeit ganz in den Dienst der Geheimpolizei stellten, also aus eigenem Antrieb Kontrollen durchführten und die Objektdienststellen freiwillig auf angebliche Sicherheitsrisiken im Werk aufmerksam machten. Ulrich Bartz, der im Jahr 1982 die Hauptabteilung Absatz in Buna übernommen hatte und im Rahmen einer Neuordnung seines Bereiches die Installierung mehrerer IM ermöglichte, hatte das MfS-Denken zum Beispiel unverkennbar internalisiert. Die Treffen mit seinem Führungsoffizier nutzte er weniger, um für seine Abteilung Freiräume zu erkämpfen, sondern vielmehr, um auffällige Personen aus freien Stücken, auch ohne konkreten Auftrag des MfS, zu melden. Im Dezember 1982 berichtete er zum Beispiel über eine Verkäuferin mit Westkontakten im Bereich Export. »Vorübergehend wurde sie erst einmal aus der Exportabteilung herausgelöst und in eine unbedeutsame Funktion eingeordnet. Die Grundorganisation ist bereits informiert«, so Bartz gegenüber seinem Führungsoffizier.242 Dieses selbstständige Handeln nach geheimpolizeilicher Manier lobte die Objektdienststelle im Januar 1983 ausdrücklich: Bartz habe »eine ausgesprochen positive Entwicklung in seiner Einstellung zum MfS« genommen. Er erfülle seine Aufträge »mit sehr gutem sowie maximalen operativen Ergebnis« und sei sogar bereit, seine Mutter, Mitglied der evangelischen Kirche in Halle, »zu Aktivitäten« zu veranlassen. Der IM »berichtete so ausführlich, dass mehrmals eine Tonbandaufzeichnung notwendig wurde«, so die Einschätzung der OD Buna.243 Ebenfalls im Jahr 1983 suchte Bartz einen Arbeitskollegen in seiner Privatwohnung auf, der zuvor Interesse für eine Leitungsposition in der Abteilung Bilanzierung signalisiert hatte. Auch Bartz’ Vorgesetzter, der Direktor für Beschaffung und Absatz Klaus Zimmermann, war bei dieser Unterredung anwesend. Beide wollten die »Abgrenzungsbereitschaft« des Kandidaten gegenüber Verwandten in der Bundesrepublik testen. Bei dieser Gelegenheit brachte allerdings die Ehefrau des Kaders »unmissverständlich zum Ausdruck, dass sie unter keinen Umständen bereit ist, ihre Verbindungen zu ihrer in der BRD lebenden Schwester und der dort bei einer Besuchsreise verbliebenen Mutter abzubrechen«, so Bartz in seinem IM-Bericht. Bartz und Zimmermann entschieden da242  OD Buna: Hinweis des Führungsoffiziers an Bartz, Tonbandabschrift vom 3.12.1982; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1003/82, Teil II, Bd. 3, Bl. 89. 243  OD Buna: Stellungnahme zum Treff mit IMS »Leiter« vom 12.1.1983; ebenda, Teil II, Bd. 3, Bl. 121.

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raufhin, »dass unter diesen Umständen eine weitere Entwicklung im DBA-Bereich244 nicht möglich« sei.245 Bartz’ Auftreten ist ein Beispiel dafür, dass sich einige staatliche Leiter tatsächlich mit der Rolle eines »inoffiziellen Mitarbeiters« der Staatssicherheit identifizierten. Gegenüber der Objektdienststelle etablierten sie eine vertrauliche und verlässliche Zusammenarbeit. Einige Funktionäre nahmen den Führungsoffizier dabei sogar als eine Art »Sorgenstelle« wahr, bei der sie ihren aufgestauten Frust über die oft blockierte Kommunikation im Kombinat artikulieren konnten. »Im Gespräch versuchte er sich abzureagieren«, berichtete zum Beispiel ein Referatsleiter der Objektdienststelle Leuna im Jahr 1986. Gerade hatte er eine Unterhaltung mit dem Fachdirektor für Beschaffung und Absatz in Leuna, Gerhard Kastl, über die zunehmenden Schwierigkeiten beim Verkauf von Konsumgütern geführt. »Probleme im Kombinat, die auf den Export voll durchschlagen, belasten mich stark«, hatte ihm Kastl anvertraut. »Beim Generaldirektor habe er dafür kein offenes Ohr.« Da die Exportschwäche schon bald Thema beim 1. Sekretär der SED-Kreisleitung sein würde, »wollte er vom Mitarbeiter die Meinung wissen, wie er sich verhalten soll«, so der Referatsleiter in seinem Bericht. Dieser ermunterte ihn in diesem Fall zur einer »progressiven Betrachtungsweise derartiger Probleme«. »Jetzt zu kapitulieren«, so der Offizier gegenüber Kastl, »sei kein Weg.« Daraufhin »bedankte sich [der IM] beim Mitarbeiter für das Zuhören und betonte nochmals, dass man doch mit niemanden über derartige Dinge reden kann«.246 In den drei untersuchten Chemiekombinaten war Kastl nicht das einzige Beispiel, das belegt, dass ein inoffizieller Mitarbeiter in einer leitenden Position seinen Führungsoffizier als Verbündeten wahrnahm. Auch andere Führungskräfte fühlten sich von der Geheimpolizei trotz all der zusätzlichen Beobachtungsaufträge eher unterstützt als benutzt. Die exklusive Beziehung zum MfS vermittelte ihnen den Eindruck, bei der eigenen Karriere besonders abgesichert zu sein. Nicht selten nahmen sie sich größere Freiheiten heraus. Durch einzelne Aufträge des MfS, wie der Stadtbummel von Günter Schulz durch das abendliche Paris, wurden sie dazu auch gezielt ermutigt. Doch das Wissen um eine besondere Rückendeckung durch das MfS blieb stets trügerisch. Aus Sicht der MfS-Offiziere diente der Aufbau einer engen Bindung zu den leitenden Kadern weniger ihrer Karriere, als vielmehr ihrer andauernden Kontrolle. Gerade gegenüber den inoffiziellen Mitarbeitern in Leitungspositionen war das Misstrauen der Geheimpolizei besonders ausgeprägt. 244  Gemeint ist die Direktion für Beschaffung und Absatz. 245  OD Buna: Bericht des IM »Leiter« vom 2.12.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1003/82, Teil II, Bd. 3, Bl. 183. 246  OD Buna: Gespräch mit einem Offizier des Referats für Außenwirtschaftsbeziehungen vom 6.11.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 151/74, Teil II, Bd.1, Bl. 107.

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IM-Vorgänge für »Schlüsselpositionen« glichen häufig einer auf Dauer angelegten Personenkontrolle. Regelmäßig prüften die Offiziere mit Scheinverhandlungen und fingierten Dokumenten die Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und »operative Fähigkeiten« ihrer IM.247 Staatliche Leiter waren damit häufig beides: Sowohl Unterstützer als auch Betroffene der geheimpolizeilichen Überwachung. Kastl zum Beispiel, der seit 1974 dem MfS zuarbeitete, zunächst als Sektorenleiter für Kombinatsentwicklung in Leuna, ab 1980 als Fachdirektor für Beschaffung und Absatz, stand trotz seiner ausführlichen Berichterstattung unter intensiver Beobachtung. So informierte zum Beispiel sein Stellvertreter die Objektdienststelle über seine fachliche Arbeit und Terminplanung. Der Sektorenleiter für Kundendienst, einer seiner engsten Vertrauten, lieferte Informationen aus den Leitungsberatungen und seinem Privatleben. Der Sektorenleiter für Erdölprodukte berichtete wiederum über Kastls Messebesuche in Leipzig und seine Dienstreisen nach Berlin. Und auch der Gruppenleiter Export wurde als IM im näheren Umfeld des Fachdirektors installiert.248 Damit war Kastl von mindestens fünf inoffiziellen Mitarbeitern umgeben. Laut einer Überwachungskonzeption aus den späten 1980er-Jahren sollten zusätzlich noch Bekannte aus seinem Wohnumfeld auf eine »operative Nutzbarkeit« geprüft werden. Auch das Telefon in seinem Büro und in seiner Privatwohnung wurde mit Beginn der IM-Beziehung abgehört.249 Aus den damit gesammelten Informationen gingen in regelmäßigen Abständen Einschätzungen über Kastls Charakter, Firmenkontakte und Leitungstätigkeit hervor.250 Diese intensiven Beobachtungen und regelmäßigen Einschätzungen offenbaren einen tiefsitzenden Argwohn der Offiziere gegenüber den leitenden Funktionären der Kombinate, ein Misstrauen, das mit jener Vertraulichkeit und Offenheit in Kontrast stand, die eigentlich innerhalb einer IM-Beziehung aufgebaut werden sollte. 2.4.5 Kombinatsspitze unter Kontrolle: Die Überwachung des Generaldirektors Trotz dieser Vorbehalte rekrutierten und führten die MfS-Offiziere – wie oben dargelegt – systematisch IM in Schlüsselpositionen auf der Führungsebene der Kombinate. Eine Stelle wurde bei der Gewinnung von inoffiziellen Mitarbei247  So zum Beispiel bei Gerhard Kastl, vgl. OD Leuna: Ergebnisbericht zur Analyse der IM-Akte »Peter Wolf« vom 30.11.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr.  VIII 151/74, Teil I, Bd.1, Bl. 133. 248  Vgl. OD Leuna: Konzeption zum zielgerichteten IM-Einsatz im Überprüfungsprozess IM »Peter Wolf« vom 29.1.1988; ebenda, Teil I, Bd.1, Bl. 167. 249  Vgl. ebenda, Bl. 158. 250  Vgl. OD Leuna: Ergebnisbericht zur Analyse der IM-Akte »Peter Wolf« vom 30.11.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 151/74, Teil I, Bd.1, Bl. 133.

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tern allerdings stets ausgenommen: Der Posten des Generaldirektors. Als wichtigste »Schlüsselfigur« im Kombinat trat er der Objektdienststelle weniger als Informant, sondern eher als Informationsempfänger gegenüber. Die Berichte des MfS wurden nämlich nicht nur für die 1. Sekretäre der SED auf Kreis- und Bezirksebene, sondern in der Regel auch für die Generaldirektoren der Großkombinate angefertigt. Die Rolle des Kombinatsleiters als Adressat des MfS ergab sich zumeist aus seiner ranghohen Position innerhalb der SED: Die Generaldirektoren aller drei hier untersuchten Chemiekombinate saßen zum Beispiel in der kombinatseigenen Kreisleitung der SED.251 Heinz Schwarz, von 1971 bis 1983 Generaldirektor in Bitterfeld, hatte darüber hinaus bis zu seinem Wechsel ins Kombinat dem Büro für Industrie- und Bauwesen der Hallenser SED-Bezirksleitung vorgestanden.252 Erich Müller, von 1967 bis 1988 Generaldirektor in Leuna, erhielt im Jahr 1976 sogar die Vollmitgliedschaft im ZK der SED.253 Mit SED-Funktionären dieser Ebene inoffiziell zu kooperieren, galt innerhalb des MfS als unüblich. Selbst untere Gremien der SED-Betriebsparteiorganisationen, wie die Grundorganisationen in den Abteilungen, sollten von verdeckten Informanten ausgenommen werden.254 Übernahm ein inoffizieller Mitarbeiter eine Position im Parteiapparat, wurde der entsprechende Vorgang in der Regel formal eingestellt.255 In einigen Fällen legte das MfS aber auch für den Generaldirektor einen internen Vorgang an. Meist handelte es sich dabei um eine Akte zu einem sogenannten Gesellschaftlichen Mitarbeiter für Sicherheit (GMS). Diese Katego251 Vgl. www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424. html?ID=2123, abgerufen am 3.1.2018. 252  Vgl. Schwarz: Prägungen, S. 159. 253  Vgl. Hans Herbert Götz: Der Generaldirektor und sein Werk. In: FAZ v. 5.3.1983, Nr.  54; LHASA, MER, I 525, Nr.  17238. Zumindest innerhalb der SED war Müller damit dem Objektdienststellenleiter Walter Schlechter übergeordnet. Der Generaldirektor des Agrochemischen Kombinats in Piesteritz, Otto König, war Kandidat des ZK; der Generaldirektor des Mikroelektronikkombinats Carl Zeiss Jena, Wolfgang Biermann, war ebenfalls wie Müller Vollmitglied des ZK. Über die Einbindung der Generaldirektoren in die höheren Ebenen der SED siehe Hans Herbert Götz: Zwischen Marx und Markt. Generaldirektoren in der DDR. Freiburg 1988. 254  Die Vorgabe geht auf einen Beschluss der Sicherheitskommission des Politbüros vom Dezember 1954 zurück. Siehe Süß: Das Verhältnis von SED und Staatssicherheit, S. 17. Neuere Forschungen zeigen aber, dass das MfS im Apparat des ZK der SED durchaus inoffiziell vertreten war und nicht davor zurückschreckte, ZK-Abteilungsleiter und Politbüromitglieder umfassend zu überwachen. Vgl. Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 262. 255  In der Regel liefen die vertraulichen Gespräche in der Folgezeit trotzdem weiter, auch wenn die Person nicht mehr aktenkundig geführt wurde. Vgl. Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 260. Während SED-Funktionsträger im Parteiapparat nicht als IM verpflichtet werden sollten, griff das MfS auf Basismitglieder der SED ohne höhere Parteiämter durchaus zurück. Etwa 5 % der 2,3 Mio. SED-Mitglieder waren 1989 als IM tätig. Siehe Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 39.

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rie war für Personen des öffentlichen Lebens mit einer bekannten staatstreuen Grundhaltung vorgesehen.256 Hans-Joachim Kozyk (GMS »Professor«) und Dietrich Lisiecki (GMS »Farbe«), die beiden letzten Generaldirektoren in Buna, sind dafür zwei Beispiele.257 Solche »Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit« spielten bei der praktischen Umsetzung von Überwachungsprogrammen keine zentrale Rolle. In die Techniken des konspirativen Beobachtens und Ermittelns wurden sie nur begrenzt eingeführt.258 Im Normalfall wurden sie für disziplinarische Maßnahmen gegen einzelne Beschäftigte oder für die Klärung eines organisatorischen Problems herangezogen. Die Zusammenarbeit der Offiziere mit den beiden GMS-verpflichteten Generaldirektoren der Buna-Werke wird sich kaum von ihrer offiziellen Kooperation mit den übrigen Kombinatsleitern unterschieden haben. Neben einer IM-Rekrutierung verzichteten die Objektdienststellen ebenso auf formale Überwachungsvorgänge gegen die Kombinatsführung. Die Verantwortung für Havarien, Planmanipulationen oder Korruptionshandlungen suchten die Offiziere gewöhnlich erst ab der Ebene der Betriebsdirektionen. Während leitende Kader – vor allem wenn sie als IM verpflichtet waren – sehr schnell Gegenstand konspirativer Ermittlungen wurden, blieb der oberste Leiter im Kombinat in der Regel verschont. Dies erstaunt zunächst, besaß der Generaldirektor doch eine allgemeine Direktionsbefugnis gegenüber allen Kombinatsteilen und damit formal die »Letztverantwortung« für alle Vorgänge im Betrieb.259 Die Probleme eines ganzen Werkes auf den Mann an der Spitze zurückzuführen, hätte zudem der personenbezogenen Denkweise vieler Offiziere entsprochen. Doch als Herrschaftsinstrument der SED sollte das MfS »operative Maßnahmen« nicht gegen, sondern im Dienste des Generaldirektors durchführen. Zumindest unmittelbar können daher die häufigen Wechsel der Kombinatsleiter in Buna und Bitterfeld nicht mit den geheimpolizeilichen Aktivitäten der jeweiligen Objektdienststellen in Verbindung gebracht werden.260 256  Vgl. Gill; Schröter: Das MfS, S. 116. 257 Dietrich Lisiecki wurde 1981 als »GMS« geworben, damals in seiner Funktion als Hauptabteilungsleiter Kader und Bildung in Buna. Ab 1984 übernahm er die Betriebsdirektion Carbid, 1987 wurde er schließlich Generaldirektor. Vgl. BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, GMS, Reg.-Nr. VIII 1060/81. 258  Vgl. Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 21. 259  Über die Befugnisse und Machtfülle des Generaldirektors siehe weiterführend Gößmann: Kombinate, S. 98. 260  Generaldirektoren in Buna: Oswald Bärwinkel (1970–1977), Helmut Pohle (1977– 1982), Hans-Joachim Kozyk (1983–1987), Dietrich Lisiecki (1987–1990). Generaldirektoren in Bitterfeld: Theo Boethin (1969–1970), Karl Kaduk (1970–1971), Heinz Schwarz (1971– 1983), Adolf Eser (1983–1990). Generaldirektoren in Leuna: Erich Müller (1967–1988), Jürgen Daßler (1988–1990); für Leuna vgl. Strukturplan des Kombinats Leuna, März 1987; LHASA, MER, I 525, Nr. 14816, Bl. 1; für Buna vgl. Rehmann: Buna-Werk, S. 84. Für Bitterfeld vgl. Schwarz: Prägungen, S. 247.

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Einbindung der Staatssicherheit in die Planwirtschaft

Das Fehlen eines Überwachungsvorgangs oder einer strafrechtlichen Ermittlung bedeutete allerdings nicht, dass auf eine Beobachtung des Generaldirektors ganz verzichtet wurde – im Gegenteil. An der Installierung von Abhörtechniken und inoffiziellen Quellen im unmittelbaren Umfeld des Generaldirektors zeigten die Objektdienststellen großes Interesse. Auf diese Weise wollten sie über aktuelle Entscheidungen und langfristige Strategien der Kombinatsleitung auf dem neuesten Stand bleiben. Besonders gut eignete sich dafür das Büro des Generaldirektors. Den meisten Besuchern war dessen Verwanzung bewusst. Hans Joachim Scharf, Hauptabteilungsleiter für Absatz in Buna, erinnerte sich im Rückblick zum Beispiel an »stumme Gespräche« mit dem Generaldirektor Helmut Pohle. Vertrauliche Angelegenheiten, so Scharf, konnten hier zum Teil nur durch den Austausch von Zetteln geklärt werden.261 In Bitterfeld gewann die Objektdienststelle ab 1976 den Büroleiter und persönlichen Mitarbeiter des Generaldirektors Heinz Schwarz, Wilfried Henze, als Informanten.262 Ob Einblicke in die private Lebensführung des Kombinatsleiters, Hinweise über seine engen Vertrauten im Betrieb oder Schwarz’ Idee, sich eine Generaldirektorensuite in einem privaten Sanatorium einrichten zu lassen: Über viele private Details und interne Entscheidungsabläufe gab dieser IM dem MfS bereitwillig Auskunft.263 Als Informationsquelle aus dem engeren Umfeld des Generaldirektors wurden nicht selten auch die hauptamtlichen Stellvertreter der Generaldirektoren – in der Regel gab es einen für Produktion und einen für langfristige Planung und Investition – sowie die Fach- und Betriebsdirektoren herangezogen, die intensiv mit der Kombinatsführung in Kontakt standen. In Buna zählte zu diesem Kreis unter anderem Klaus Zimmermann, in den 1970er-Jahren Fachdirektor für Beschaffung und Absatz, der ab 1976 als IM »Anna« der Objektdienststelle Buna zuarbeitete264, sowie Lothar Stein, Direktor für Ökonomie, den die OD ab 1987 als »Gesellschaftlichen Mitarbeiter« führte.265 2.4.6 Vertrauensmann des MfS: Der Sicherheitsbeauftragte als inoffizieller Mitarbeiter der besonderen Art Noch bedeutender für die Beobachtung der Kombinatsspitze schätzte die Objektdienststelle allerdings die sogenannten Stabsorgane des Generaldirektors ein. Dazu zählten unter anderem die Technische Kontrollorganisation, die Ab261  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Hans Joachim Scharf in Amsdorf am 24.11.2014. 262  Vgl. OD CKB: Beurteilung über die bisherige Zusammenarbeit mit dem IMS »Kratzer« vom 27.2.1980; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 1716/76, Teil I, Bd. 1, Bl. 134. 263  Vgl. OD CKB: Treff bericht vom 2.11.1979; ebenda, Teil II, Bd. 2, S. 35. 264  Vgl. BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 755/76. 265  Vgl. GMS »Soda«; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 287/87.

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teilung Preise, der Hauptbuchhalter, der Justiziar, der Sektor Geheimnisschutz, die Reisestelle sowie die Kontroll- und Beratungsgruppe beim Generaldirektor.266 Besonders intensiv kooperierte das MfS in allen drei Kombinaten mit der Abteilung für Auslandsdienstreisen und dem Sektor Geheimnisschutz. Beide Einrichtungen können als verlängerter Arm des MfS betrachtet werden.267 Von allen Funktionalorganen am engsten mit dem MfS verknüpft war aber die Inspektion des Generaldirektors, eine Diensteinheit, die für die allgemeine Sicherheit und Ordnung im Werk verantwortlich war. Eigens für die Kooperation mit dem MfS besaß der Leiter der Inspektion zusätzlich den Status eines »Sicherheitsbeauftragten«. Diese zweite Funktion beinhaltete eine konspirative Unterstützung der Objektdienststelle auf der Grundlage einer gesonderten Verpflichtungserklärung, die im Folgenden näher erläutert werden soll.268 Sicherheitsbeauftragte gab es in der DDR in allen größeren Einrichtungen der Staats- und Wirtschaftsverwaltung, unter anderem in den Industrieministerien, Außenhandelsbetrieben, den Universitäten, in der Staatlichen Plankommission und der Zollverwaltung.269 Als Reaktion auf eine erweiterte Eigenständigkeit der Betriebe im Rahmen der Reformagenda Walter Ulbrichts hatte der Ministerrat im Jahr 1966 über den Aufbau eines ganzes Systems solcher Kontrolleure verfügt, zunächst nur für die Industrie- und Baubranche, später auch für den Außenhandel, für Einrichtungen im Bereich der Landwirtschaft sowie für das Verkehrs-, Post- und Fernmeldewesen.270 Die Sicherheitsinspekteure aller Staats- und Wirtschaftsorgane sollten in einem republikweiten Netzwerk zusammengefasst und von zentraler Stelle aus – durch die neu geschaffene 266  Vgl. Strukturplan der Leuna-Werke, Stand 1974; LHASA, MER, I 525, Nr.  14816, Bl. 16. Über den Aufbau der Kombinatsleitung siehe ebenfalls Gößmann: Kombinate, S. 98– 122. 267  In Buna berichtete der Leiter der Abteilung Geheimnisschutz, Jürgen Bauermeister, bis 1987 als IM »Gustav«. Vgl. BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AIM 3208/88. Der Leiter der Abteilung Reise- und Auslandskader (Reisestelle des Kombinats), Ulrich Schmidt, wurde als FIM »Uwe Rockmann« geführt. Vgl. BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 820/76. In Leuna kooperierten der Leiter der Reisestelle, Ernst Novak, als FIM »Schindler« und der Leiter des Sektors Geheimnisschutz, Manfred Keil, als IM »Richter« mit den Offizieren des MfS. Vgl. BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 1080/84 und Reg.-Nr. VIII 1543/80. Über die Rolle der Reisestelle als Überwachungs- und Kontrollinstrument der Objektdienststellen siehe Kapitel 3, Abschnitt 3.4.3. 268  Vgl. OD CKB: Verpflichtung von Hans Dieter Portmann zum Sicherheitsbeauftragten im Kombinat Bitterfeld vom 19.1.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 1397/85, Teil I, Bd. 1, Bl. 151. Vgl. Buthmann: Hochtechnologie, S. 142. Die Bezeichnung »Sicherheitsbeauftragter« oder »SB« wurde meist innerhalb des MfS verwendet. Im Werk selbst lief der Posten unter der Bezeichnung »Inspektion« oder »Sicherheitsinspektor«. 269  Vgl. Hauptabteilung XVIII des MfS, Vortrag Rudi Mittigs: Wesen, Inhalt und Methoden der Zusammenarbeit des Ministeriums für Staatssicherheit mit dem System der Sicherheitsbeauftragten bei der Verwirklichung der Beschlüsse des VII. Parteitages, 20.8.1968; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 12107, Bl. 2. 270  Vgl. Ministerrat der DDR: Verfügung 136/66 vom 14.7.1966; BArch, DC 20/5397.

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»Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion« beim Vorsitzenden des Ministerrates – geprüft, geschult und bei ihrer täglichen Arbeit angeleitet werden.271 Dieses Kontrollregime war von Beginn an eine genuine Angelegenheit des MfS. Zunächst besaß der Leiter der Arbeitsgruppe Organisation und Inspektion, Staatssekretär Harry Möbis, den Status eines »Offiziers im besonderen Einsatz« (OibE) und arbeitete damit hauptamtlich für die Staatssicherheit.272 Als zentraler Koordinator aller Sicherheitsbeauftragten unterstand er unmittelbar dem Leiter der Hauptabteilung XVIII des MfS, Alfred Kleine.273 »Das Führungsorgan für das gesamte Kollektiv der Sicherheitsbeauftragten«, stellte Möbis selbst auf einer Dienstkonferenz der Hauptabteilung XVIII im Jahr 1980 fest, »ist eine feste Bastion des Ministeriums für Staatssicherheit.«274 Darüber hinaus war auch der Sicherheitsbeauftragte direkt vor Ort, in einem Kombinat oder einem Ministerium, ein Instrument des MfS, selbst wenn sein Arbeitsbereich, die Sicherheitsinspektion, rein formal ein Stabsorgan des Ministers oder Generaldirektors war. Wie ein Beispiel aus den Leuna-Werken zeigt, wurde die geheimpolizeiliche Anbindung bereits beim Auswahlverfahren für die Mitarbeiter der Inspektion sichtbar: Hier wurde im Juni 1983 Lutz Nagel, ein Betriebsingenieur der Leuna-Werke, durch den Generaldirektor Müller für das Amt des zweiten Sicherheitsinspektors vorgeschlagen. Müller konnte seinen Wunschkandidaten aber nicht selbst ernennen, sondern musste seine Personalie erst beim Staatssekretär Möbis in Berlin vorlegen. Zuvor allerdings ging sein Personalvorschlag an die Objektdienststelle zur Überprüfung. Oberstleutnant Meißner, zu dieser Zeit Leiter der OD Leuna, reichte die Kaderangelegenheit an die Bezirksverwaltung Halle weiter.275 Hier prüfte sowohl die Abteilung XVIII als auch die Abteilung für Kader und Schulung die Personalie, bevor sie den Vorgang nach Berlin überstellten. Da Nagel bereits seit 1976 als IM »Luna« der OD Leuna zuverlässig zugearbeitet hatte und als Kaderleiter in der Fachdirek271  Vgl. ebenda. 272  »Offiziere im besonderen Einsatz« waren hauptamtliche Mitarbeiter des MfS, die an wichtigen Stellen in der staatlichen Verwaltung verdeckt mit einer erfundenen Biografie eingesetzt wurden. Im Jahr 1983 gab es DDR-weit 3 471 dieser Geheimoffiziere. Besonders gehäuft fanden sie sich im Inspektionswesen der Betriebe, im Wachpersonal der DDR-Auslandsvertretungen und im Ministerium des Innern wieder. Vgl. Lexikoneintrag »Offiziere im besonderen Einsatz«. In: MfS-Lexikon, S. 251. 273 Möbis führte weitere 24 Geheimoffiziere des MfS, die in DDR-Betrieben als Sicherheitsbeauftragte eingesetzt waren. Vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S. 11; zu Möbis vgl. auch http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr%2363%3B-1424.html?ID=2351, abgerufen am 3.1.2018. 274  Hauptabteilung XVIII des MfS: Tonbandmitschnitt über den Diskussionsbeitrag von Dr. Harry Möbis. Dienstkonferenz HA XVIII, 1980; BStU, MfS, HA XVIII, Tb 51. 275  Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Antwortschreiben Lawrenz zur Bestätigung von Lutz Nagel als Sicherheitsbeauftragten der OD Leuna vom 15.6.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 929/76, Teil I, Bd. 1, Bl. 202.

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tion Technik über zahlreiche Beziehungen und eine passende politische Gesinnung verfügte, erklärte sich der Leiter der Hauptabteilung XVIII, Alfred Kleine, schließlich bereit, ihn als Sicherheitsinspektor zu bestätigen.276 Ende August 1983 konnte der OD-Leiter dem Generaldirektor dann mitteilen, dass er »nach eingehender Prüfung […] den Vorschlag zum Einsatz des Genossen Lutz Nagel zustimme und seine namentliche Einreichung beim Staatsekretär Möbis vorgenommen werden kann«.277 Die Berufung in die Inspektion durch Möbis erfolgte schließlich im Dezember 1983. Die Funktion eines Sicherheitsbeauftragten des MfS erhielt Nagel mit dieser neuen Position allerdings noch nicht. Er wusste, dass er für diese Aufgabe vorgesehen war, musste aber zunächst eine halbjährige Probephase durchlaufen, in der die reguläre inoffizielle Zusammenarbeit weitergeführt und besonders beobachtet wurde. Als schließlich ein »gutes Verhältnis zum Führungsoffizier«, eine »strikte Einhaltung der Konspiration« sowie »operativ bedeutsame Informationen« konstatiert werden konnten, erfolgte Mitte 1984 die Verpflichtung zum zweiten Sicherheitsbeauftragten der Objektdienststelle Leuna. Nach dem Ausscheiden seines Vorgesetzten, Eberhard Marhold, wurde Nagel Anfang 1986 zum ersten Leiter der Inspektion und obersten Sicherheitsbeauftragten des Kombinats befördert.278 Ein ähnliches Rekrutierungsverfahren durchlief auch der Sicherheitsbeauftragte im Kombinat Bitterfeld, Hans Dieter Portmann. Seit April 1984 in der Inspektion tätig, wurde Portmann im Juni 1985 für eine inoffizielle Zusammenarbeit geworben, aber erst im April 1987 als Sicherheitsbeauftragter vorgeschlagen.279 Nach seiner Bestätigung durch die Bezirksverwaltung im Juli 1987 setzte auch bei ihm eine halbjährige Prüfungsphase ein, sodass er erst im Januar 1988 eine schriftliche Verpflichtung unterschreiben konnte.280 Darin versicherte Portmann, als neuer Sicherheitsbeauftragter »ständig einsatzbereit zu sein« und

276  Vgl. OD Leuna: Eheschließungsangelegenheit vom 27.4.1982; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 929/76, Teil I, Bd. 1, Bl. 95; vgl. Schreiben von Vogel, operativer Mitarbeiter der HA XVIII, an den Leiter der Abteilung XVIII der BV Halle vom 16.8.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 929/76, Teil I, Bd. 1, Bl. 202. 277  Schreiben des OD-Leiters Meißner an Generaldirektor Müller vom 31.8.1983; ebenda, Teil I, Bd. 1, Bl. 210. 278  OD Leuna: Einschätzung der Zusammenarbeit mit dem Genossen Lutz Nagel vom 7.5.1984; ebenda, Teil I, Bd. 1, Bl. 207. 279  Vgl. OD CKB: Vorschlag zur Werbung eines IME vom 3.6.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 1397/85, Teil I, Bd. 1, Bl. 13; vgl. OD CKB: Vorschlag zum Einsatz eines 2. Sicherheitsbeauftragten vom 27.4.1987; ebenda, Teil I, Bd. 1, Bl. 24. 280  Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Schreiben des Leiters der Abteilung XVIII, Erich Reinl, an OD CKB vom 13.7.1987; ebenda, Teil I, Bd. 1, Bl. 150.

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»mit aller Entschlossenheit den Kampf gegen die Feinde der Deutschen Demokratischen Republik zu führen«.281 Diese vier Schritte – Einsatz in der Inspektion – Verpflichtung als IM – Prüfungszeit – Verpflichtung als Sicherheitsbeauftragter – mussten allerdings nicht alle Kader durchlaufen. Im Kombinat Buna übte zum Beispiel Hans Schlag seit der Etablierung des SB-Systems – also seit 1966 – das Amt des Sicherheitsbeauftragten aus. Für den ehemaligen hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS, der im Jahr 1952 einige Monate die Kreisdienststelle Gräfenhainichen geleitet hatte, entfiel eine längere Bewährungszeit. Er galt dem MfS von Beginn an als äußerst zuverlässig und erhielt 1970 den Status eines »Offiziers im besonderen Einsatz« für die Überwachung größerer Investitionsprojekte.282 Das Auswahlverfahren der Sicherheitsbeauftragten in allen drei untersuchten Werken macht deutlich, dass diese Kader unzweifelhaft als enge Vertraute des MfS angesehen werden können. Trotzdem darf seine offizielle Funktion als Sicherheitsinspektor des Generaldirektors nicht vernachlässigt werden. Vorgeschlagen und vor Ort eingesetzt durch den Generaldirektor, geprüft und bestätigt durch die Diensteinheiten der Linie XVIII des MfS und berufen durch die Inspektion des Ministerrates, stand der Sicherheitsbeauftragte in einem dreifachen Unterstellungsverhältnis: Der Generaldirektor – und nur er – besaß formal das Recht, ihm als sein unmittelbarer Vorgesetzter Weisungen zu erteilen.283 Angeleitet wurde der Sicherheitsbeauftragte jedoch durch eine Jahresarbeitsdirektive, die nicht im Kombinat, sondern im Büro des Staatssekretärs Möbis in Berlin erarbeitet wurde, eng abgestimmt mit dem MfS auf Bezirksebene und vor Ort im Kombinat.284 Und für die konspirative Zusammenarbeit entwickelte der verantwortliche Führungsoffizier noch einmal einen ganz eigenen Arbeitsplan, in dem die rein »operativen« Aufträge festgehalten wurden.285 Die Vorgaben kamen damit von drei Seiten und versetzten den Sicherheitsbeauftragten in eine offizielle und inoffizielle Doppelrolle. Wichtig war dem MfS dabei, dass er »die richtige Verbindung« herstellte »zwischen der Erfüllung der Aufträge der staatlichen Leiter, der von der übergeordneten Inspektion vorgegebenen Planung und der Anleitung seitens der operativen Mitarbeiter sei-

281  OD CKB: Verpflichtung von Hans Dieter Portmann vom 19.1.1988; ebenda, Teil I, Bd. 1, Bl. 151. 282  Vgl. OD Buna: Beurteilung des Genossen Hauptmann Schlag vom 30.3.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 4956, Bd. 2, Bl. 212. 283  Vgl. Ministerrat der DDR: Verfügung 136/66 vom 14.7.1966; BArch, DC 20/5397. 284  Vgl. Buthmann: Kadersicherung, S. 64. Über die Aufgaben des Sicherheitsinspektors/ Sicherheitsbeauftragten siehe ebenfalls Buthmann: Hochtechnologie, S. 138 ff. 285  Vgl. OD CKB: Einschätzung der Wirksamkeit des Sicherheitsbeauftragten Hans Dieter Portmann vom 29.4.1989; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 1397/85, Teil I, Bd. 1, Bl. 159.

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ner Diensteinheit«, so die Forderung der Abteilung XVIII der BV Halle im Jahr 1969.286 Die offiziellen Aufgaben der Inspektion legte der Ministerrat 1966 in einer zentralen Verfügung fest, die 1982 noch einmal erweitert wurde und ein ausgesprochen breites Tätigkeitsspektrum umfasste, das vor allem den Interessen des Büros Möbis und der Linie XVIII des MfS als Kontrolleure der Kombinate entgegenkam. »Als fester Bestandteil der Leitungstätigkeit«, so die Vorgabe des Ministerrates, sollte der Sicherheitsbeauftragte demnach ganz grundsätzlich »die Durchführung der von Partei und Regierung gestellten Aufgaben durch Kontrollen unterstützen und die sozialistische Gesetzlichkeit weiter festigen«.287 Konkret und zuallererst zählten dazu, der Unordnung auf dem Werksgelände sowie der »Schlamperei und Verschwendung materieller und finanzieller Mittel« entgegenzuwirken.288 Der Sicherheitsinspektor hatte also die Einhaltung der allgemeinen Werksordnung zu überwachen und dabei vor allem auf die Disziplin und den Führungsstil mittlerer Leiter zu achten. Dafür konnte er jede beliebige Betriebsdirektion unangemeldet inspizieren. Mit einer solchen Aufsicht sollten technische Störungen und Havarien verhindert werden. Die Kontrolle und Aktualisierung der Bedienungsvorschriften und Brandschutzbestimmungen zählte hier genauso dazu wie die Überwachung von Wartungsarbeiten und Generalreparaturen. Kam es dennoch zu einem Vorfall, übernahm der Sicherheitsinspektor die Untersuchung der Ursachen und Schäden vor Ort – meist in enger Kooperation mit Fachleuten des Kombinats und externen Gutachtern. Neben der Einhaltung der Regelwerke und der technischen Handhabung der Anlagen überprüfte der Sicherheitsbeauftragte auch die ökonomische Leistung des Kombinats, also die Planeinhaltung bei Produktion, Forschung und Handel.289 Die Inspektion kann damit als ein Teil der Plankontrolle angesehen werden. In Kooperation mit der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion oder der Finanzrevision schätzte sie vor allem bei Staatsplan- und Politbürovorhaben regelmäßig den Realisierungsstand ein.290 Besonderen Wert legte die Inspektion dabei auf 286  Vgl. Fragenkatalog der Abteilung XVIII der BV Halle an die OD Buna vom 3.4.1969; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 1559, Bl. 57–61. 287  Verfügung 229/82 des Vorsitzenden des Ministerrates, Willi Stoph vom 28.12.1982. In: Buthmann: Kadersicherung, S. 64. 288  Hauptabteilung XVIII des MfS, Vortrag Rudi Mittigs: Wesen, Inhalt und Methoden der Zusammenarbeit des Ministeriums für Staatssicherheit mit dem System der Sicherheitsbeauftragten bei der Verwirklichung der Beschlüsse des VII. Parteitages, 20.8.1968; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 12107, Bl. 5. 289  Vgl. Hauptabteilung XVIII des MfS: Ausführungen des Leiters der AG für Organisation und Inspektion, Genossen Dr. Möbis,anlässlich der Beratung mit Sicherheitsbeauftragten aus dem Bereich des Ministeriums für Chemie, Erkner vom 5.11.1986; BStU, MfS, BV Halle, HA XVIII, Nr. 21409, Bl. 294. 290  Siehe zum Beispiel folgenden Bericht der Inspektion des Generaldirektors: Information über die Durchsetzung der Ministervereinbarung zwischen dem Ministerium Elektrotechnik/

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die Kontrolle der Handelsbeziehungen des Kombinats, speziell mit dem westlichen Ausland: Welche Ursachen gab es für eine Reklamation? Sollte eine Firmeneinladung angenommen werden? Konnte die DDR-Seite ihre Lieferverträge einhalten?291 Solche Fragen ließ sich die Inspektion regelmäßig von den verantwortlichen Funktionären beantworten. Als Beratungsorgan der Kombinatsleitung oblag es ihr dabei auch, bei bestimmten Problemen Lösungsvorschläge vorzulegen – zum Beispiel für eine effektivere Importablöse oder eine schnellere Exportausweitung.292 Ein wichtiges Einsatzfeld war in diesem Zusammenhang die Leipziger Frühjahrs- und Herbstmesse.293 Hier trat die Inspektion des Generaldirektors als sicherheitspolitischer Begleiter und Aufseher auf, um die intensive Interaktion der Wirtschaftskader mit westlichen Kaufleuten zu beobachten und gegebenenfalls einzelne DDR-Kader zu maßregeln.294 Das Verhalten und vor allem die Anleitung der Verhandlungs- und Reisekader zu kontrollieren, zählte aber nicht nur in Leipzig, sondern auch innerhalb des Kombinats zu den zentralen Aufträgen des Sicherheitsinspektors. Auch hier rückten erneut die staatlichen Leiter in den Blick, also die Vorgesetzten der Reisekader: Führten sie eine ausreichende politische Erziehung der Reisekader durch? Achteten sie auf eine regelmäßige Belehrung der Außenhändler über die Anforderungen des Geheimnisschutzes? Konnten sie Übersichten über die Geheimnisträger in ihrem Verantwortungsbereich vorweisen? Wurden die Bestimmungen für die Auswahl, Überprüfung und Bestätigung der Reisekader und Geheimnisträger eingehalten?295 Elektronik und Chemische Industrie zur abgestimmten Produktion von Grund- und Hilfsmaterial sowie Ausrüstungen für die Mikroelektronik im Kombinat VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« vom 13.4.1987; LHASA, MER, I 525, Nr. 18105, n. p. 291  Vgl. Inspektion des Generaldirektors: Information über die Durchsetzung der Ministervereinbarung zwischen dem Ministerium Elektrotechnik/Elektronik und Chemische Industrie zur abgestimmten Produktion von Grund- und Hilfsmaterial sowie Ausrüstungen für die Mikroelektronik im Kombinat VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« vom 13.4.1987; LHASA, MER, I 525, Nr. 18105, n. p. 292  Vgl. VEB Leuna-Werke: Arbeitsplan der Inspektion des Generaldirektors für das erste Halbjahr 1988 vom 25.1.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 929/76, Teil II, Bd. 4, Bl. 41; vgl. ebenso Hauptabteilung XVIII des MfS: Ausführungen des Leiters der AG für Organisation und Inspektion, Genossen Dr. Möbis, anlässlich der Beratung mit Sicherheitsbeauftragten aus dem Bereich des Ministeriums für Chemie, Erkner vom 5.11.1986; BStU, MfS, BV Halle, HA XVIII, Nr. 21409, Bl. 294. 293  Vgl. Leiter der Inspektion des Generaldirektors in Bitterfeld Ruppe: Messevorbereitungsbericht für die Leipziger Herbstmesse 1978 vom 14.8.1978; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1123, Bl. 10. 294  Vgl. OD Buna: Wiedergabe der Ausführungen von Hans Joachim Scharf, HA-Leiters für Beschaffung und Absatz in Buna, über das Verhalten des Bunaer Sicherheitsbeauftragten Hans Schlag auf der Leipziger Messe vom 30.3.1981; BStU, MfS, BV Halle, AOPK, Nr. 1680/82, Bd. 2, Bl. 314. 295  Vgl. Inspektion des Generaldirektors Leuna: Durchführung einer Kontrolle der Inspektion im Kombinatsbetrieb TEGA Leipzig vom 15.5.1987; LHASA, MER, I 525, Nr. 18105, n. p.

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Um eine »straffe Führung« des Kaderstamms bei all diesen Aspekten sicherzustellen, absolvierte der Sicherheitsinspektor in den Fach- und Betriebsdirektionen regelmäßige Kontrollgänge, nicht selten in Begleitung des Reisestellenleiters und des Sektorenleiters für Geheimnisschutz. Ausgewählte Personen, meist Westreisekader, mussten dabei auch zum Einzelgespräch antreten, um ihre Kenntnisse der Kaderpflichten vorzutragen und vergangene Dienstreisen zu erläutern. Der Sicherheitsinspektor wollte mit solchen stichprobenhaften Kontrollgängen eine ausreichende Vorbereitung und Auswertung der Auslandsdienstreisen sicherstellen.296 Aber nicht nur auf die Schulung und Instruktion der Reisekader, sondern auch auf ihre Auswahl sollte der Sicherheitsinspektor Einfluss nehmen. Möbis verlangte eine Beteiligung der Inspektion nicht erst beim laufenden Bestätigungsverfahren, sondern bereits davor, bei der eigentlichen Kaderentscheidung auf höherer Leitungsebene zwischen den Fachdirektoren, dem Generaldirektor und der SED-Industriekreisleitung. »Mithelfen, den richtigen Kader an die richtige Stelle zu bekommen«, sollte nach Möbis ein zentrales Anliegen der Inspektion sein.297 Um all diese Aufgaben zu erfüllen, war der Inspektor in die wichtigsten Gremien für Sicherheitsfragen integriert. Zu ihnen zählten laut Arbeitsplan der Inspektion in Leuna unter anderem das Zentrale Sicherheitsaktiv des Generaldirektors298, die Beratungs- und Kontrollgruppe des Generaldirektors299 sowie die Arbeitsgruppe für »Ausländische Fachkräfte« und »Materielle Verantwortlichkeit«.300 Auch bei den Freitagsrapporten des Generaldirektors und der Fachdirektoren gegenüber der SED-Industriekreisleitung und bei den Arbeitsberatungen im Chemieministerium, meist unter der Leitung des Staatssekretärs Dr. Horst Weihs, nahmen die Sicherheitsinspektoren der Chemiekombinate teil.301 Zwischen den Inspektionen verschiedener Kombinate wurden allerdings keine kontinuierlichen Arbeitsbeziehungen etabliert. Nur in Ausnahmefällen, bei größeren Kooperationsprojekten, stimmten sich die Stabsorgane verschiedener Einrichtungen untereinander ab, so zum Beispiel die Inspektion Leunas mit der Inspektion der Deutschen Reichsbahn Ende der 1980er-Jahre, um wieder296  Vgl. ebenda. 297  Hauptabteilung XVIII des MfS: Ausführungen des Leiters der AG für Organisation und Inspektion, Genossen Dr. Möbis, anlässlich der Beratung mit Sicherheitsbeauftragten aus dem Bereich des Ministeriums für Chemie, Erkner vom 5.11.1986; BStU, MfS, BV Halle, HA XVIII, Nr. 21409, Bl. 281. 298  Zur Rolle des Sicherheitsaktivs im Kombinat siehe Abschnitt 2.5 weiter unten. 299  Hier wurde zweimal pro Monat über Fragen der Reisekader und Auslandsreisen gesprochen. 300 Vgl. VEB Leuna-Werke: Arbeitsplan der Inspektion des Generaldirektors für das I.  Halbjahr 1988 vom 25.1.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr.  VIII 929/76, Teil II, Bd. 4, Bl. 41. 301  Vgl. ebenda.

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holte Probleme beim Transport der chemischen Grundstoffe Caprolactam und Methanol zu klären.302 In fachlicher Hinsicht entsprach die Qualifikation der meisten hier betrachteten Sicherheitsbeauftragten dem des Fachpersonals ihres Verantwortungsbereiches. In der Regel verfügten sie über grundlegende naturwissenschaftliche und betriebswirtschaftliche Kenntnisse. Lutz Nagel war zum Beispiel vor seinem Einstieg in die Leunaer Inspektion als Transformatorenbauer in einem Konstruktionsbüro der Leuna-Werke tätig gewesen. Noch bis Anfang der 1970erJahre hatte er als Betriebsingenieur im Bereich der technischen Entwicklung gearbeitet, bevor er einen leitenden Posten in der Direktion für Kader und Bildung in der Betriebsdirektion Hauptmechanik übernahm.303 Hans Schlag konnte Anfang der 1950er-Jahre zunächst nur auf seine Erfahrungen als Verwaltungsangestellter in seiner Heimatstadt Teuchern zurückgreifen. Von 1953 bis 1958 war er in den Buna-Werken als Kaderinstrukteur angestellt. Bis 1961 holte er allerdings einen Fachschulabschluss im Bereich Arbeitsökonomie nach und diente anschließend bis Mitte der 1960er-Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Arbeitsdirektor des Kombinats. Kurz vor seinem Wechsel in die Inspektion leitete Schlag immerhin eine »ökonomische Gruppe« in der Abteilung Kautschuk.304 Von den hier betrachteten Sicherheitsbeauftragten verfügte Hans Dieter Portmann mit Sicherheit über die höchste Qualifikation. Als promovierter Chemiker war er vor seiner Zeit als Inspektor im Stab des Bitterfelder Generaldirektors als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig.305 Seit seiner Werbung als inoffizieller Mitarbeiter hatte ihn die Objektdienststelle Bitterfeld als »IME«, also als inoffiziellen Mitarbeiter mit Expertenwissen, geführt, um ihn später in seiner Rolle als Sicherheitsbeauftragten vor allem für den Forschungsschwerpunkt

302  Vgl. OD Leuna: Information über die Berichterstattung des Leiters der Inspektion der Leuna-Werke vom 21.3.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 929/76, Teil II, Bd. 4, Bl. 122. Caprolactam ist ein Grundstoff für die Herstellung einer bestimmten synthetischen Faserart, dem sogenannten Polyamid 6 oder »Perlon«. Siehe dazu Hellmuth Vensky: Perlon, das Nazi-Nylon. In: Die Zeit v. 29.1.2013, http://www.zeit.de/wissen/geschichte/2013-01/ perlonkunstfaser-schlack-geschichte, abgerufen am 3.1.2018. Methanol, ein Alkohol, das in den Leuna-Werken seit 1924 im großen Stil aus Kohle und Wasserstoff gewonnen wurde, ist ein wichtiger Ausgangsstoff für Synthesen in der chemischen Industrie. Es wird unter anderem für die Herstellung von Kraftstoffen und Essigsäure verwendet. Vgl. http://www.chemie.de/lexikon/ Methanol.html, abgerufen am 3.1.2018. 303  Vgl. OD Leuna: Vorschlag zur Werbung eines IMS vom 7.7.1976; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 929/76, Teil II, Bd. 1, Bl. 13. 304  Vgl. OD Buna: Vorschlag Hans Schlag vom 13.5.1970; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XII, Nr. 198, Bl. 197. 305 Vgl. OD CKB: Personalfragebogen, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 1397/85, Teil I, Bd. 1, Bl. 40.

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»Biotechnologie« einzusetzen.306 Seine IM-Berichte glichen oft detaillierten Exposés zu naturwissenschaftlichen Fragen; Bewertungen von Personen finden sich in den überlieferten Unterlagen hingegen nur in Ausnahmefällen.307 Allerdings waren die Aufträge des MfS bei ihm auch eher sachbezogen ausgerichtet: Mal sollte Portmann die Ursachen für Reklamationen bei Farbstoffen herausfinden, ein anderes Mal die Datensicherheit der Rechentechnik dokumentieren.308 In der Literatur wird die Qualifikation der Sicherheitsbeauftragten ganz unterschiedlich bewertet. In ihrem Portrait über den Sicherheitsbeauftragten im Leichtmetallwerk Nachterstedt bei Quedlingburg hebt Renate Hürtgen zum Beispiel die »geringen intellektuellen Fähigkeiten« und die »fachlich ungenügende Kompetenz« des Inspektors hervor, weist allerdings im selben Atemzug auf seine Ausbildung als Automatisierungstechniker hin.309 Ulrike Schulz stellt für die Simson-Werke in Suhl hingegen einen gelernten Werkzeugmacher und Ingenieur als Sicherheitsbeauftragten vor, der eng mit dem Betrieb verbunden war. Ihrer Meinung nach konnte er dem MfS sachkundig und detailliert über die verschiedensten Aspekte der Fahrzeug- und Waffenproduktion Auskunft geben, unter anderem zu Planerfüllungszahlen, Werkshavarien, Neuentwicklungen, Absatzproblemen oder Produktionsausfällen.310 Hürtgens Darstellung des Sicherheitsbeauftragten als einen »in der Regel nur notdürftig für sein Amt qualifizierten Funktionär der Staatssicherheit« ist daher an dieser Stelle zu widersprechen.311 Auch wenn die MfS-Offiziere der technischen Elite der Betriebe meist mit großer Distanz begegneten, gelang es ihnen in einigen Fällen durchaus, für ihre Kontrollinstitution kompetentes Personal zu engagieren. Doch unabhängig von der Qualifikation ihrer Mitarbeiter war die Inspektion in der Regel nicht in der Lage, zu allen Fragestellungen kompetent Auskunft zu geben. Für die Analyse ökonomischer und technischer Probleme griff sie daher häufig auf externen Sachverstand zurück. Temporäre Expertengruppen, um einzelne Vorfälle wie den Großbrand in der Abteilung Kraft und Schmierstoffe in

306  Vgl. OD CKB: Einsatz- und Entwicklungskonzeption zum IME »Oskar Holz« vom 24.3.1989; ebenda, Teil II, Bd. 1, Bl. 164. 307 Vgl. OD CKB: Informationsbericht »Einschätzung Komplex Biotechnologie« vom 25.8.1987; ebenda, Teil II, Bd. 2, Bl. 92 – 98. 308  Vgl. die Informationsberichte Portmanns von Juni 1987; ebenda, Teil II, Bd. 2, Bl. 80–87. 309  Hürtgen: Die rechte Hand des MfS im Betrieb, S. 40. 310 Vgl. Vortrag von Ulrike Schulz: »Parallelüberlieferung und Korrektiv – der ›Leiter der Inspektion des Generaldirektors‹ beim VEB Simson 1970–1989« im Rahmen des wissenschaftlichen Kolloquiums des BStU am 1.7.2015. Eine Zusammenfassung über ihren Vortrag in der Außenstelle Suhl des BStU am 31. März 2014 findet sich unter http://www.bstu.bund. de/DE/InDerRegion/Suhl/Notizen/20140409_simson-werke_und_stasi.html, abgerufen am 3.1.2018. 311  Hürtgen: Die rechte Hand des MfS im Betrieb, S. 42.

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Leuna im Jahr 1979312 oder die akuten Exportrückstände bei PVC in Buna im Jahr 1981313 zu untersuchen, wurden in der Regel durch den Sicherheitsbeauftragten geleitet.314 Zusätzlich zu diesen in der Verfügung des Ministerrates festgehaltenen Aufgaben wurde der Sicherheitsinspektor intensiv in die konspirative Arbeit der Objektdienststellen einbezogen. Bereits seine offiziellen, nach außen sichtbaren Tätigkeiten, wie die Analyse von Störfällen oder die Aufsicht über Führungskräfte im Werk, waren stets in ein weniger sichtbares Überwachungsprogramm des MfS eingebettet. Nach seinem eigenen Verständnis und aus Sicht der staatlichen Leiter handelte er weniger als »rechte Hand des Generaldirektors«, sondern vielmehr als wichtigster Stützpunkt der Staatssicherheit im Betrieb. »Es ist deutlich erkennbar«, so die Objektdienststelle Leuna im Jahr 1988, »dass die Funktion des SB und die Inspektion insgesamt von allen Leitungskadern einschließlich der Partei als eine Institution angesehen wird, die offiziell eng mit dem MfS zusammenarbeitet«.315 In seiner Rolle als inoffizieller Mitarbeiter des MfS nahm der Sicherheitsbeauftragte sowohl an der »vorbeugenden operativen Arbeit« – also an der permanenten Suche nach möglichen »gegnerischen Störmaßnahmen« – als auch an konkret laufenden geheimen »Operativen Vorgängen« und strafrechtlichen Ermittlungen teil.316 »Das System der Sicherheitsbeauftragten ist untrennbarer Bestandteil des einheitlichen Systems der Abwehrarbeit im Bereich der Volkswirtschaft«, hieß es zum Beispiel bei einer Veranstaltung der Hauptabteilung XVIII des MfS Mitte der 1980er-Jahre. Es diene der »Analyse volkswirtschaftlich wichtiger […] Beziehungen mit kapitalistischen Konzernen« sowie dem Schutz des 312  Vgl. Fachdirektion Betriebssicherheit: Protokoll der Untersuchungskommission zum Brand im Bau 936 vom 3.1.1979; LHASA, MER, I 525, Nr. 19464, n. p. 313  Bunas Sicherheitsinspektor Hans Schlag leitete zum Beispiel 1981 die Arbeitsgruppe »NSW-Export«. Vgl. OD Buna: Protokoll zu einer Absprache zum OV »Export« in Vorbereitung der LHM 1981 vom 25.8.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 1680/82, Teil II, Bd. 2, Bl. 191. 314  Den Sicherheitsbeauftragten war es erlaubt, zur Untersuchung ökonomischer und technischer Zusammenhänge Expertengruppen einzusetzen. Ebenso besaßen sie das Recht, an allen Sitzungen und Besprechungen der Kombinatsleitung teilzunehmen, dienstliche Unterlagen, einschließlich Kaderakten, einzusehen und »an Ort und Stelle« Befragungen durchzuführen. Vgl. 3. Durchführungsbestimmung des Stellvertreters des Ministers zur Richtlinie vom 23.4.1964 für die Organisierung der operativen Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit auf dem Gebiet der Industrie und des Bauwesens vom 20.7.1966; BStU, MfS, DSt 101123, Bl. 1–9. 315  OD Leuna: Einschätzung der Ergebnisse und Wirksamkeit des Einsatzes des Sicherheitsbeauftragten vom 29.4.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg-Nr.  VIII 929/76, Teil I, Bd. 1, Bl. 175. 316  Hauptabteilung XVIII des MfS, Vortrag Rudi Mittigs: Wesen, Inhalt und Methoden der Zusammenarbeit des Ministeriums für Staatssicherheit mit dem System der Sicherheitsbeauftragten bei der Verwirklichung der Beschlüsse des VII. Parteitages vom 20.8.1968; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 12107, Bl. 5.

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Kombinats vor »feindlicher Kontaktpolitik, ökonomischer Störtätigkeit und politisch-ideologischer Diversion«. Damit nähmen »in allen volkswirtschaftlich wichtigen Bereichen […] Sicherheitsbeauftragte aktiv an der Entlarvung und Liquidierung gegnerischer Kräfte teil«, so die Ausführungen der Hauptabteilung XVIII.317 Der Stellvertreter Operativ der Bezirksverwaltung Halle, Oberst Rolf Schöppe, betonte, dass die Rechtsgrundlage des MfS für die Arbeit mit den Sicherheitsbeauftragten, die zweite Durchführungsbestimmung zur Dienstanweisung 1/82 des Ministers, »bewusst weitreichende rechtliche Möglichkeiten [biete], die Sicherheitsbeauftragten zur Lösung der dem Ministerium für Staatssicherheit übertragenen vielschichtigen Aufgaben einzusetzen«.318 Im Mittelpunkt sollten dabei vor allem die »Sicherungsschwerpunkte« Außenhandel, Produktion, Landesverteidigung und Forschung stehen.319 Ziel war es, das System der Sicherheitsbeauftragten in diesen Bereichen beständig auszuweiten. »Die offizielle sicherheitspolitische Stabsarbeit für den Generaldirektor des Kombinats«, so Möbis im Jahr 1980, »muss auf alle Stufen des Reproduktionsprozesses wie FuE320, Projektierung, Rationalisierung, Produktion und Absatz einschließlich der Arbeit auf den Außenmärkten ausgedehnt werden.«321 Allerdings hatte das MfS bis zuletzt Schwierigkeiten, für all diese Bereiche auch passendes Personal zu finden. Im Jahr 1987 beschwerte sich zum Beispiel die Objektdienststelle Bitterfeld bei der Bezirksverwaltung Halle, dass diese zu schnell der Abberufung von Sicherheitsbeauftragten zustimmen würde. Geeignete Ersatzkader, so die OD in ihrem Schreiben an den Stellvertreter Operativ, würden für die frei gewordenen Positionen oft nicht zur Verfügung stehen.322 War ein Sicherheitsbeauftragter aber erst einmal erfolgreich platziert, sollte er vor allem die Kontrolle der Kaufleute und ihrer Vorgesetzten, die Absicherung der Messen und die Protokollierung der allgemeinen Atmosphäre im Betrieb übernehmen. Zu seiner geheimpolizeilichen Verantwortung zählte allerdings auch – wie weiter oben bereits erwähnt – die Überwachung der Kombinatsführung. Die MfS-interne Einsatzkonzeption für Lutz Nagel in Leuna forderte zum Beispiel ausdrücklich die »Erarbeitung sicherheitspolitischer Einschätzungen und operativer Kontrollen […] des Leitungskollektives des GD«.323 Unter kriti317  Ebenda, Bl. 17. 318  Stellvertreter Operativ der BV Halle, Rolf Schöppe: Brief an die OD CKB, 1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 924, Bl. 34. 319  Vgl. Buthmann: Kadersicherung, S. 63. 320  Abkürzung für Forschung und Entwicklung. 321  Hauptabteilung XVIII des MfS: Tonbandmitschnitt über den Diskussionsbeitrag von Dr. Harry Möbis. Dienstkonferenz HA XVIII, 1980; BStU, MfS, HA XVIII, Tb 51. 322  Vgl. Stellvertreter Operativ der BV Halle, Rolf Schöppe: Brief an die OD CKB, 1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 924, Bl. 34. 323  OD Leuna: Erweiterung der Einsatz- und Entwicklungskonzeption für IMS »Luna« vom 15.1.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 929/76, Teil II, Bd. 1, Bl. 213.

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scher Beobachtung stand dabei weniger der Generaldirektor selbst, als vielmehr seine Stabsorgane, wie zum Beispiel der Leiter der Reisestelle oder der Abteilungsleiter für Geheimnisschutz. »Es muss eingeschätzt werden, dass der Generaldirektor in unverantwortlicher Art seitens seiner Stabsleiterin organisationstechnisch vorbereitet wurde«, erklärte zum Beispiel Hans Dieter Portmann in einem IM-Bericht aus dem Jahr 1988. »Unter Missbrauch des Namens des Generaldirektors« seien »inhaltlich falsche Entscheidungen getroffen« worden.324 Portmann kritisierte hier die Büroleiterin des Bitterfelder Generaldirektors Eser. Anstatt den Kombinatsleiter direkt zu belasten, suchte er – wie die meisten Sicherheitsbeauftragten – die Verantwortung für bestimmte Schwierigkeiten in seinem unmittelbaren Umfeld. Neben dem Büro und den Stellvertretern zählte dazu nicht zuletzt die Sicherheitsinspektion selbst, also jene Organisation, die der Sicherheitsbeauftragte selbst anleitete. Eine »operative Kontrolle der Mitarbeiter GDI« stellte einen weiteren zentralen Überwachungsauftrag für diesen IM der besonderen Art dar.325 Die dargelegten Aufgaben zeigen, dass der Sicherheitsbeauftragte für das »operative« Geschäft der Objektdienststellen einen wichtigen Beitrag leistete. Er entwickelte sich, wie Möbis im Jahr 1980 feststellte, zu einer »eigenständigen Mitarbeiterkategorie des MfS«.326 Einen umfassenden Einblick in die laufenden Überwachungsvorgänge erhielt er dadurch allerdings nicht. Der Sicherheitsbeauftragte führte weder inoffizielle Mitarbeiter noch nahm er an den Dienstbesprechungen der Objektdienststellen teil.327 Obwohl er innerhalb des Kombinats als Vertrauter der Staatssicherheit galt, zählten die MfS-Offiziere ihn nicht zu ihrem engeren Arbeitskollektiv.328 Trotz dieser Distanz war die Bindung an das MfS dennoch eng. So übernahm die Abteilung XVIII der Bezirksverwaltung Halle zum Beispiel die regelmäßige Weiterbildung der Sicherheitsbeauftragten im Bereich des Geheimnisschutzes, des Strafrechts oder des Außenhandels. Auf dem Schulungsprogramm standen neben Vorträgen zur »wirtschaftlichen Störtätigkeit des Gegners« auch Belehrungen zum Umgang mit Reisekadern, eine Einführung in die Vertragsgestal324  OD CKB: Informationsbericht des Sicherheitsbeauftragten Hans Dieter Portmann. Wiedergabe einer Dienstberatung des Generaldirektors Adolf Eser über die Leistungsziele des Kombinats Bitterfeld für das Jahr 1988 vom 9.3.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 1397/85, Teil II, Bd. 2, Bl. 131. 325  OD Leuna: Erweiterung der Einsatz- und Entwicklungskonzeption für IMS »Luna« vom 15.1.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 929/76, Teil II, Bd. 2, Bl. 213. 326  Hauptabteilung XVIII des MfS: Tonbandmitschnitt über den Diskussionsbeitrag von Dr. Harry Möbis, Dienstkonferenz HA XVIII, 1980; BStU, MfS, HA XVIII, Tb 51. 327  Vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S. 50; vgl. ebenso Buthman: Kadersicherung, S. 64. 328  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Herbert Flegel, ehemaliger hauptamtlicher Mitarbeiter der Operativgruppe im Synthesewerk Schwarzheide, zuständig für die Überwachung der Forschungsabteilung, am 28.3.2014.

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tung bei Exporten oder praktische Hinweise für die Überwachung westlicher Monteure oder Kaufleute.329 Darüber hinaus stand der Sicherheitsbeauftragte unter permanenter Aufsicht des MfS: Die Objektdienststelle führte eine Art Personalakte über ihn und behielt die Verwaltungskräfte der Inspektion im Blick.330 Die Abteilung XVIII der Bezirksverwaltung Halle verlangte von den Objektdienststellen zudem in regelmäßigen Abständen Übersichten über die Verbindungsoffiziere, Treffabstände, Arbeitspläne und Einsatzbereiche der Sicherheitsbeauftragten.331 Auch die analytische Qualität ihrer Berichte sollte im Auftrag der Abteilung XVIII immer wieder überprüft werden.332 Schließlich richtete die Bezirksverwaltung auch feierliche Zusammenkünfte für alle im Bezirk eingesetzten Sicherheitsbeauftragten aus, zum Beispiel an den Jahrestagen der Staatssicherheit.333 »Regelmäßig nehmen die verantwortlichen Leiter der Diensteinheiten des MfS die Gelegenheit wahr, mit den Sicherheitsbeauftragten zusammenzukommen, Erfahrungen auszutauschen, neue Probleme zu erörtern sowie die Leistungen der Sicherheitsbeauftragten zu würdigen und die Besten auszuzeichnen«, so die Ausführung des Leiters der Hauptabteilung XVIII des MfS, Rudi Mittig, im Jahr 1968.334 Auf einer solchen Veranstaltung erhielt zum Beispiel Lutz Nagel im Jahr 1989 die Verdienstmedaille der NVA in Bronze für die »Lösung operativer Maßnahmen« in Leuna.335 »Die vom IME erarbeiteten Informationen«, heißt es in der Begründung für diese Ehrung, »decken einen wesentlichen Teil des Informationsbedarfs der Objektdienststelle ab.«336 329  Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Zentrale Schulung des Systems der Sicherheitsbeauftragten der Linie XVIII der BV Halle vom 5.11.1970; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 1559, Bl. 32. 330  Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Schreiben des Leiters der Abteilung XVIII an die OD Buna vom 5.11.1970; ebenda. War der Sicherheitsbeauftragte ein OibE und damit hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS, führte die Abteilung KuSch der zuständigen Bezirksverwaltung eine Kaderakte über ihn, zusätzlich zur Personalakte des Kombinats. 331  Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Schreiben des Leiters der Abteilung XVIII an die OD Buna vom 11.3.1968; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 1559, Bl. 80 f. 332  Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Schreiben des Leiters der Abteilung XVIII an die OD Buna vom 3.4.1969; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 1559, Bl. 57–61. 333 Vgl. BV Halle des MfS: Anlage zur Einladung der Sicherheitsbeauftragten vom 19.1.1971; ebenda, Bl. 29. 334  Hauptabteilung XVIII des MfS, Vortrag Rudi Mittigs: Wesen, Inhalt und Methoden der Zusammenarbeit des Ministeriums für Staatssicherheit mit dem System der Sicherheitsbeauftragten bei der Verwirklichung der Beschlüsse des VII. Parteitages vom 20.8.1968; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 12107, Bl. 22. 335  Vgl. OD Leuna: Vorschlag zur Auszeichnung des IME »Luna« vom 30.5.1989; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 929/76, Teil I, Bd. 1, Bl. 247. 336 OD Leuna: Vorschlag zur Auszeichnung des IME »Luna« vom 30.5.1989; ebenda, Teil I, Bd. 1, Bl. 247.

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Solche Veranstaltungen machen die große berufliche und weltanschauliche Nähe der Sicherheitsbeauftragten zum MfS deutlich, die auch in den periodischen Einschätzungen der Objektdienststellen immer wieder zum Vorschein kam. Die Objektdienststelle Bitterfeld attestierte zum Beispiel ihrem Sicherheitsbeauftragten Hans Dieter Portmann ein »ausgeprägtes sicherheitspolitisches Denken« und eine »hohe Termintreue bei der Lösung inoffizieller Aufgabenstellungen«.337 Als ihm bei seinem Werbegespräch im Jahr 1985 die enge Zusammenarbeit zwischen der Inspektion und dem MfS erläutert wurde, bezeichnete er die dargelegte Beziehung als »selbstverständlich«: »Er brachte zum Ausdruck«, so der Bericht des Verbindungsoffiziers, »dass es die Aufgabe der Inspektion sei, die Sicherheitsinteressen im Kombinat durchzusetzen. Aus diesem Grund war es ihm klar, dass eine direkte Anleitung durch das MfS erforderlich sei. Er sieht die Notwendigkeit einer direkten Verbindung ein.«338 In einer »persönlichen Erklärung« stellte er einige Monate später fest, dass er den »sicherheitspolitischen Aspekt seiner Tätigkeit« immer besser verstehen würde. »Mit Stolz kann ich an dieser Stelle vermerken«, so Portmann, »dass ich bis zum heutigen Tag in keiner Weise gegen sicherheitspolitische Anforderungen verstoßen habe.«339 Die Objektdienststelle Leuna zeigte sich mit ihrem Sicherheitsbeauftragten ebenfalls sehr zufrieden. Lutz Nagel, so ein Aktenvermerk aus dem Jahr 1980, beweise sich als »disziplinierter, dem MfS treu und zuverlässig ergebener IM«. Seine Berichte seien »immer verwertbar« und trügen »oft einen operativ bedeutsamen Charakter«.340 Ähnlich euphorisch lesen sich die Bewertungen von Hans Schlag: »Einer der profiliertesten SBs in der chemischen Industrie«, so die Objektdienststelle Buna im März 1983. Bei ihm hätten die Interessen des MfS »jederzeit Vorrang«, seine gesamte Arbeit würde er nach rein »staatssicherheitsspezifischen Gesichtspunkten« anleiten.341 Diese große Wertschätzung des MfS stand im Kontrast zur unübersehbaren Distanz, mit der die staatlichen Leiter und Generaldirektoren dem Sicherheitsbeauftragten in der Regel begegneten. »Hans Schlag«, so berichtete im Rückblick der Hauptabteilungsleiter für Absatz in Buna, Hans Joachim Scharf, »war der gefürchtetste und verhassteste Mensch, den ich jemals in meinem Leben angetroffen habe.« Dem zu seiner Zeit amtierenden Generaldirektor Helmut 337 OD CKB: Vorschlag zum Einsatz eines 2. Sicherheitsbeauftragten vom 27.4.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 1397/85, Teil I, Bd. 1, Bl. 31. 338  OD CKB: Bericht zur Werbung des IME-Kandidaten Hans Dieter Portmann vom 6.6.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 1397/85, Teil I, Bd. 1, Bl. 16. 339  OD CKB: Persönliche Erklärung Portmanns vom 15.12.1985; ebenda, Teil I, Bd. 1, Bl. 53. 340 OD Leuna: Aktenvermerk vom 20.8.1980; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr.  VIII 929/76, Teil I, Bd. 1, Bl.  158; OD Leuna: Eheschließungsangelegenheit vom 27.4.1982; ebenda, Teil I, Bd. 1, Bl. 95. 341  OD Buna: Beurteilung des Genossen Hauptmann Schlag vom 30.3.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 4956, Bd. 2, Bl. 212.

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Pohle, so Scharf, hätte man sichtlich anmerken können, »dass er ihn am liebsten aus seiner Position entfernt hätte«.342 Schlag erlebte in seiner Zeit als Leiter der Inspektion drei Generaldirektoren, die Scharfs Ausführungen zufolge allesamt ihre Kooperation mit ihm auf das Notwendigste beschränken wollten. Dies widersprach der eigentlichen Zielsetzung der Objektdienststelle, durch möglichst zahlreiche Sicherheitsbeauftragte in den wichtigsten Bereichen und Entscheidungsgremien der Kombinate präsent zu sein. In einem Schreiben an die Objektdienststelle Buna forderte die Abteilung XVIII der Bezirksverwaltung Halle im Jahr 1969 die Offiziere deshalb auf, die staatlichen Leiter besser über die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten der Inspektion aufzuklären. Die Abteilung verlangte Auskunft darüber, ob die Sicherheitsbeauftragten auch »schwerpunktmäßig« eingesetzt würden. »Wo gibt es Erscheinungen, dass Sicherheitsbeauftragte von den staatlichen Leitern in starkem Maße mit nebensächlichen Aufgaben beauftragt werden?«343 Mit dieser Frage sprach die Bezirksverwaltung die fehlende Akzeptanz des Sicherheitsbeauftragten an, ein Phänomen, das das MfS in den 1980er-Jahren nicht nur in den Buna-Werken, sondern auch in vielen anderen Betrieben der DDR beobachten konnte. »Einesteils verzögern staatliche Leiter durch eine ungerechtfertigte Haltung den notwendigen Einsatz von Sicherheitsbeauftragten in ihrem Verantwortungsbereich und zum anderen werden bereits im Einsatz befindliche Sicherheitsbeauftragte an der allseitigen Wahrnehmung ihrer Rechte und Pflichten insbesondere hinsichtlich ihrer Zusammenarbeit mit den Organen des MfS behindert«, so Mittig bei einer Veranstaltung der Hauptabteilung XVIII im Jahr 1968.344 Ein Beispiel für eine besonders angespannte Beziehung zwischen der Inspektion und dem Generaldirektor findet sich in den Leuna-Werken. Im September 1970 entschied Erich Müller, »die Inspektion von der direkten Teilnahmemöglichkeit an Dienstberatungen des Generaldirektors« auszuschließen, wie aus einem Beschwerdebrief des stellvertretenden Sicherheitsinspektors Werner Ziebell an den Generaldirektor aus dem Jahr 1982 hervorgeht.345 Kontakte mit der Kombinatsleitung sollte es, wenn überhaupt, nur noch über einen Assistenten des Generaldirektors geben. Im Jahr 1983 wurde der Sicherheitsbeauftragte 342  Hans Joachim Scharf im Zeitzeugengespräch, Amsdorf bei Halle, am 24.11.2014. 343  Leiter der Abteilung XVIII der BV Halle: Schreiben an die OD Buna über Zusammenarbeit mit dem Sicherheitsbeauftragten vom 3.4.1969; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 1559, Bl. 57. 344  Hauptabteilung XVIII des MfS, Vortrag Rudi Mittigs: Wesen, Inhalt und Methoden der Zusammenarbeit des Ministeriums für Staatssicherheit mit dem System der Sicherheitsbeauftragten bei der Verwirklichung der Beschlüsse des VII. Parteitages vom 20.8.1968; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 12107, Bl. 23. 345  Beschwerdebrief des stellvertretenden Sicherheitsinspektors Werner Ziebell an Generaldirektor Erich Müller vom 25.8.1982; LHASA, MER, I 525, Nr. 17080, n. p.

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»mit dem Ziel der Papiereinsparung« sogar aus dem Verteiler für die Vorlagen der Dienstberatungen herausgenommen. Erst nach mehreren Einsprüchen war es dem damaligen Leiter der Inspektion, Eberhard Marhold, möglich, die Protokolle der Dienstberatungen zumindest im Nachhinein einzusehen.346 Es sollte noch bis zum April 1988 dauern, ehe die Objektdienststelle den »Teilerfolg« verkünden konnte, dass der Sicherheitsbeauftragte nun wieder bei den täglichen Rapporten des stellvertretenden Generaldirektors zugelassen sei. »Bedingt durch die Unterschätzung der Funktion des Sicherheitsbeauftragten durch den Generaldirektor und der Dokumentierung dieser Haltung gegenüber den Leitungskräften des Kombinates«, so eine Einschätzung der OD Leuna aus dem Jahr 1988, »hat der SB nicht die notwendige Autorität und auch nicht den Gesamtüberblick über alle sicherheitspolitischen Zusammenhänge«. Das Verhältnis zur Kombinatsleitung sei »von Misstrauen bestimmt, da der Generaldirektor im Sicherheitsbeauftragten eine Person sieht, die Informationen weitergeben muss, die auch eigene Leitungsschwächen betreffen. So muss der SB viel Aufwand betreiben, um z. B. an langfristige Konzeptionen bestimmter Bereiche heranzukommen.«347 In seinem oben genannten Beschwerdebrief beklagte Ziebell, dass auch »26 Jahre gezeigte fachliche und politische Einsatzbereitschaft, davon 11 Jahre in der Inspektion, sowie ein kollektivbestätigtes persönliches positives Rufbild« den Generaldirektor nicht motivieren konnten, »Aversionsmomente gegen mich und ein spürbares Misstrauen gegen die Inspektionsarbeit allgemein aufzuheben«.348 Stattdessen würden die »stets arbeitsbereiten Genossen der Inspektion als selbstüberschätzte ›Supergenossen‹, ›Geheimniskrämer‹ und ›Vorschriftsbürokraten‹ in persönlich verletzender Form herabgewürdigt« und der Tätigkeitsbericht der Inspektion »durch Wortspielereien in exzessiver Art und Weise skalpiert« werden.349 Als dieser Brief verfasst wurde, weigerte sich der Generaldirektor Müller bereits seit vier Jahren, den durch das MfS geprüften und durch das Büro Möbis bestätigten Leiter der Inspektion auch in sein Amt einzuführen. Einem klärenden Gespräch über die Zukunft der Inspektion mit dem Chemieministerium und der Staatssicherheit ging Müller nach Angaben Ziebells bewusst aus dem Weg.350 346  Vgl. Leiter der Inspektion in Leuna, Eberhard Marhold: Beschwerdebrief an Generaldirektor Erich Müller vom 31.5.1983; LHASA, MER, I 525, 17238, n. p. 347  OD Leuna: Einschätzung der Ergebnisse und Wirksamkeit des Einsatzes des Sicherheitsbeauftragten vom 29.4.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr.  VIII 929/76, Teil II, Bd. 2, Bl. 175. 348  Beschwerdebrief des stellvertretenden Sicherheitsinspektors Werner Ziebell an Generaldirektor Erich Müller vom 25.8.1982; LHASA, MER, I 525, Nr. 17080, n. p. 349 Ebenda. 350  Vgl. ebenda.

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Dass der wichtigste Kontrollposten der Objektdienststelle erst gar nicht besetzt wurde, war sicherlich eine Besonderheit der Leuna-Werke. Als Mitglied des SED-Zentralkomitees konnte sich Generaldirektor Müller bei kaderpolitischen und ökonomischen Entscheidungen einen größeren Freiraum erlauben. Das dominante Auftreten Schlags in Buna zeigt hingegen, dass jene Kombinatsleiter, die nicht über eine exklusive Verbindung nach Berlin verfügten, deutlich stärker von der Industriekreisleitung der SED und der Objektdienststelle des MfS vor Ort – und damit auch von der Sicherheitsinspektion – abhängig waren. Gerade die Gegenüberstellung von Schlag und Ziebell legt nahe, dass der Spielraum, den ein Sicherheitsbeauftragter im Werk erlangen konnte, nicht nur auf seine individuelle Durchsetzungsfähigkeit, sondern vor allem auf die Macht des verantwortlichen SED-Organs zurückging. War der 1. Sekretär der SED-Betriebsparteiorganisation die bestimmende Figur, so war es dem Sicherheitsbeauftragten möglich, als gefürchteter »Zuchtmeister« der staatlichen Leiter aufzutreten. Hatte dagegen der Generaldirektor das uneingeschränkte Sagen, konnten die Sicherheitsbeauftragten marginalisiert werden.351 Der Zusammenhang zwischen dem Verhältnis von SED und Generaldirektion auf der einen Seite und dem Spielraum der Inspektion auf der anderen Seite wurde deutlich sichtbar, als Erich Müller, der starke Mann Leunas, im Oktober 1988 das Kombinat verließ. In der Folgezeit gewann die Inspektion sofort eine ganz neue Relevanz. Laut einer Einschätzung der Objektdienststelle Leuna im April 1989 maß Jürgen Daßler, der Nachfolger Müllers, der Inspektion »mehr Bedeutung bei«. »Grundlage für diese Aufwertung sind Aussprachen des Leiters der OD und des Leiters der Inspektion des MfC mit ihm. Bei dieser Aussprache zeigte der GD, dass er gewillt ist, die Autorität der Inspektion insgesamt zu stärken«, so die Darstellung der Objektdienststelle.352 Als wirklich vertrauensvoller Partner wurde der Sicherheitsbeauftragte jedoch – unabhängig von seinem Gewicht – in kaum einem Kombinat akzeptiert.353 351 Stellt man die Sicherheitsbeauftragten aus dem Kombinat Bitterfeld und aus den Leuna-, Buna- und Simson-Werken nebeneinander, werden allein hier vier verschiedene Grundtypen sichtbar: »isolierter Außenseiter« (Leuna), »gefürchteter Zuchtmeister« (Buna), »anerkannter Wissenschaftler« (Bitterfeld) und »gut vernetzte Vertrauensperson« (Simson). Die Kombination aus der Persönlichkeit des Sicherheitsbeauftragten und der Machtstellung der SED-Kreisleitung vor Ort wird in anderen Werken noch ganz andere Charakteristiken dieser Kontrolleinrichtung mit jeweils ganz unterschiedlichen Spielräumen hervorgebracht haben. 352  OD Leuna: Einschätzung der Wirksamkeit der Arbeit des IME »Luna« als Leiter der Inspektion des Generaldirektors vom 25.4.1989; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 929/76, Teil II, Bd. 2, Bl. 235. 353 Siehe z. B. die Einschätzungen des MfS zum Sicherheitsbeauftragten im Agrochemischen Kombinat Piesteritz und im VEB Magnetfabrik Dessau, KD Dessau: Einschätzung der Arbeit des Sicherheitsbeauftragten Jörg Dembski vom 16.5.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 4956, Bd. 2, Bl. 155 sowie KD Wittenberg: Einschätzung des Leiters der Inspektion des VEB Kombinat Agrochemie Piesteritz vom 29.4.1985; ebenda, Bd. 2, Bl. 161.

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Die Gründe dafür liegen nach Darstellung von Renate Hürtgen nicht nur in der Nähe der Institution zum MfS, sondern auch im allgemeinen Wesen seiner Arbeit: Wer den Auftrag hatte, Fehlverhalten von Führungskräften aufzudecken, auf die Einhaltung staatlicher Normen zu drängen und nach Verantwortlichen für technische Zwischenfälle zu suchen, musste früher oder später mit den staatlichen Leitern im Kombinat in Konflikt geraten.354 Diese fast unvermeidliche Spannung mit den Führungskräften im Betrieb stand der ursprünglichen Strategie des MfS entgegen, mithilfe des Sicherheitsbeauftragten die eigenen geheimpolizeilichen Interessen den staatlichen Leitern derart geschickt nahezubringen, dass sie diese als ihre eigenen Ideen und Entscheidungen wahrnahmen.355 Das enorme Misstrauen gegenüber dem obersten Kontrolleur im Werk machte eine solche ideale Beeinflussung unmöglich. Ob der Ausschluss von wichtigen Entscheidungsrunden, die Abspeisung mit nebensächlichen »Schreibtischanforderungen« oder die offenkundige Distanz all jener betrieblichen Spitzenfunktionäre, die eigentlich seine wichtigsten »Partner« sein sollten: Im Kontrast zu den hohen Erwartungen an das System der Sicherheitsbeauftragten fallen in der Praxis die vielfältigen Schwächen dieses MfS-Instruments ins Auge. »Ein wirksames Agieren des Organs ist nicht gegeben«, musste zum Beispiel die Objektdienststelle Leuna im Jahr 1989 feststellen.356 »In mehreren Fällen wurde die Autorität des Sicherheitsbeauftragten untergraben und es war ersichtlich, dass er zum Teil zielgerichtet aus dem notwendigen Informationsfluss ausgeschlossen wurde. […] Diese Konstellation wirkte sich […] nachteilig auf die Erarbeitung politisch-operativ bedeutsamer und eigenständiger Arbeitsergebnisse aus.«357 Und auch die OD Bitterfeld musste im gleichen Jahr einsehen: Mithilfe des Sicherheitsbeauftragten sei »eine Erarbeitung operativ bedeutsamer Informationen nur begrenzt möglich«.358

354  Vgl. Hürtgen: Die rechte Hand des MfS im Betrieb, S. 42. 355  Vgl. Schrift der JHS des MfS: Das Zusammenwirken des MfS mit den Leitern von Staats- und Wirtschaftsorganen bei der politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft. In: Hürtgen: Rechte Hand des MfS im Betrieb, S. 38. 356  OD Leuna: Einschätzung der Wirksamkeit der Arbeit des IME »Luna« als Leiter der Inspektion des Generaldirektors vom 25.4.1989; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 929/76, Teil II, Bd. 2, Bl. 234. 357 Ebenda. 358 OD CKB: Einsatz- und Entwicklungskonzeption zum IME »Oskar Holz« vom 24.3.1989; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 1397/85, Teil I, Bd. 1, Bl. 166.

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2.4.7 Löcher im Netzwerk: Die schwierige IM-Rekrutierung unter Arbeitern, Jugendlichen und ausländischen Fachkräften Ungeachtet aller beschriebenen Schwierigkeiten blieb der Sicherheitsinspektor einer der wichtigsten inoffiziellen Mitarbeiter des MfS im Betrieb. Er übernahm die Rolle eines Supervisors für alle betrieblichen Akteure, die im Fokus sowohl der Überwachung, als auch der IM-Werbung standen – also unter anderem für Betriebsdirektoren, stellvertretende Generaldirektoren, Büroleiter, Abteilungsleiter, Westreisekader und für die Leiter der Stabsorgane. Auf diese »Werkselite« konzentrierte sich die Überwachungsarbeit besonders.  Darüber hinaus waren die Objektdienststellen in den Chemiekombinaten aber auch an einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen interessiert, nicht zuletzt mit Beschäftigten der mittleren und unteren Ebene der Betriebe. Sobald eine Person in einem sicherheitspolitisch interessanten Umfeld arbeitete, erregte sie die Aufmerksamkeit der MfS-Offiziere. Dass das MfS an vielen Orten im Werk präsent war, verdeutlicht unter anderem eine IM-Liste der Bezirksverwaltung Halle aus den 1980er-Jahren. Sie nennt neben einem Lehrling des Hallenser Bau- und Montagekombinats Chemie auch einen Schlossergehilfen aus Leuna, einen Kraftfahrer und Dispatcher aus Buna, einen Abschnittsleiter aus der Filmfabrik Wolfen, einen Dolmetscher der Industriezweigorganisation »Interchim«359 und sogar eine Reinigungskraft der SED-Bezirksleitung in Halle.360 359  Die »Interchim« war eine zwischenstaatliche Industriezweigorganisation innerhalb des RGW mit Sitz in Halle. Sie war für eine genaue Abstimmung der Produktion chemischer Erzeugnisse verantwortlich. Vgl. Zehn Jahre Interchim. In: ND v. 15.9.1979, S. 4, https://www. nd-archiv.de/artikel/448948.aus-dem-wirtschaftsleben-zehn-jahre-interchim.html, abgerufen am 3.1.2018. 360  Die Liste enthielt über 4 500 Namen, die zwischen 1985 und 1989 von der Bezirksverwaltung Halle sowie den Kreisdienststellen Halle und Halle-Neustadt als inoffizielle Mitarbeiter registriert wurden. Im Jahr 1992 wurde diese Zusammenstellung anonym bei Behörden, Medien und Politikern im Raum Halle in Umlauf gebracht. Daraufhin setzte eine intensive öffentliche Auseinandersetzung über die Präsenz des MfS in der DDR-Gesellschaft und über den Umgang mit dieser Vergangenheit ein. Printmedien wie die »Bild«-Zeitung und die Mitteldeutsche Zeitung begannen, Auszüge der Namensliste zu veröffentlichen. Aufgrund des enormen öffentlichen Interesses entschied sich das Oppositionsbündnis »Neues Forum« im Sommer 1992, die Liste öffentlich auszulegen. Nach der Einreichung mehrerer Klagen stufte allerdings das Oberlandgericht Naumburg im November 1993 diese Auslegung als rechtswidrig ein. Der Bundesgerichtshof bestätigte im Juli 1994 dieses Urteil. »Der Hinweis auf die Tätigkeit als inoffizielle Mitarbeiterin sei geeignet«, so fasste das Bundesverfassungsgericht später die Urteilsbegründung des Oberlandgerichts zusammen, »Ansehen und Wertschätzung der Klägerin in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen und sie gewissermaßen an den Pranger zu stellen. Gerade weil der Beschwerdeführer bei der pauschalierenden Offenlegung nicht nach Art der Tätigkeit differenziert habe, seien alle registrierten Personen unterschiedslos in die Kategorie von Denunzianten eingeordnet worden.« Mit Verweis auf die Meinungsfreiheit legte daraufhin das »Neue Forum« beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde ein. »Die Realität der Stasi-Un-

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Diese Liste zeigt, dass es dem MfS gelang, die Betriebsbelegschaft an ganz unterschiedlichen Stellen zu durchdringen. Betrachtet man sich jedoch den IM-Bestand in den Chemiekombinaten näher, stechen drei Personenkreise hervor, bei denen die Objektdienststellen ganz offensichtlich Schwierigkeiten hatten, inoffizielle Mitarbeiter zu rekrutieren, auch wenn sie sich um deren Gewinnung immer wieder bemühten: Arbeiter direkt an den Produktionsanlagen, jüngere Arbeitnehmer und das Fachpersonal ausländischer Unternehmen. Diese drei Gruppen sollen im Folgenden genauer betrachtet werden. Zunächst scheiterte die Geheimpolizei häufig bei ihren Versuchen, einfache Angestellte und Arbeiter für die inoffizielle Zusammenarbeit zu gewinnen – und das, obwohl sie in ihrem kombinatseigenen IM-Netzwerk nicht selten ein enges Bündnis mit den »Werktätigen« erkennen wollte. Welche Hindernisse standen hier einer Kontaktaufnahme entgegen? Zunächst war dort das Interesse nach einer besonderen Nähe zum MfS, um die eigene Karriere zu beschleunigen oder eine privilegierte Position abzusichern, kaum vorhanden. Im Unterschied zum Angestelltentypus des »anfälligen Aufsteigers« konnten die MfS-Offiziere den Mitgliedern der Produktionsbrigaden keine beruflichen Vorteile anbieten. Das Hauptanliegen der Arbeiter, die Gesundheits- und Arbeitsbedingungen in den Werkshallen zu verbessern, lag jenseits der fachlichen und organisatorischen Möglichkeiten der Offiziere.361

terdrückung«, so ein zentrales Argument des Beschwerdeführers, »könne nur dann begreiflich gemacht werden, wenn das Phänomen »Stasi« aus der Abstraktion der amtlichen Dokumentation und Statistik herausgeführt und für die einzelnen betroffenen Menschen konkret und fasslich dargestellt werde.« Auch wenn die Beschwerde aus formalen Gründen abgewiesen werden musste, verfasste das BVG einen ausführlichen Kommentar, in dem es die Urteile beider Fachgerichte kritisierte: Die Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Kläger sei nicht nachvollziehbar und das »Veröffentlichungsinteresse« des »Neuen Forums« zu wenig beachtet worden. »Die Feststellung des Bundesgerichtshofs«, so das BVG, »die Liste habe zur Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit praktisch nichts beitragen können, hält verfassungsrechtlicher Prüfung ebenfalls nicht stand. Der Bundesgerichtshof hat insoweit die Suggestivkraft, die mit der Veröffentlichung der Liste verbunden war, nicht hinreichend berücksichtigt: Die Liste vermittelt aufgrund ihrer Länge einen nachhaltigen Eindruck von der massiven Durchdringung der Gesellschaft der DDR durch das MfS, verliert sich wegen der konkreten Angaben, insbesondere der Namensnennungen, aber nicht in der Abstraktheit bloßer Zahlen.« Zur gesellschaftlichen Debatte und zum Rechtsstreit über die Hallenser IM-Liste siehe Peter Raue: Das Neue Forum und die hallesche »IM-Liste« – auch eine Prozessgeschichte. In: Verein Zeit-Geschichte(n) (Hg.): Darf man das? Die Veröffentlichung von Stasi-Listen in Halle an der Saale im Sommer 1992 und die Folgen. Halle 2004, S. 54–60; siehe auch www.zeit-geschichten.de; Steffen Reichert: Ein Angriff auf das Stasi-Unterlagen-Gesetz? Inoffizielle und hauptamtliche MfS-Mitarbeiter setzen sich gegen die Veröffentlichung ihrer Namen zur Wehr. In: Horch und Guck 2 (2008) 60, S. 60– 63. Kommentar des BVG zur Ablehnung der Verfassungsbeschwerde: http://www.bundesver fassungsgericht.de, abgerufen am 3.1.2018. 361  Die Offiziere leisteten in den drei untersuchten Kombinaten keinen praktischen Beitrag, um die prekären Arbeitsbedingungen zu verbessern. Über die verschiedenen ideologi-

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Erschwert wurde der Aufbau langfristiger konspirativer Vertrauensbeziehungen auch durch die Fluktuation von Facharbeitern und einfachen Angestellten vor allem im Zuge der sich verschlechternden Arbeits- und Umweltbedingungen. Diese Unbeständigkeit der Stammbelegschaft machte eine langfristige Verwendung von Arbeitern im Rahmen längerfristiger Überwachungsprogramme nur schwer möglich. Und schließlich hatte sich dieses Milieu einen Restbestand an Renitenz und Freude am Widerspruch gegenüber leitenden Angestellten bewahrt, der sich zum Teil auch in den Phänomenen Abwanderung, Arbeitsverweigerung und hoher Krankenstand manifestierte.362 Je höher die Arbeitsbelastung durch härtere Planvorgaben und veraltete Maschinen wurde, desto deutlicher trat die traditionell große Distanz zwischen höheren Angestellten und Arbeitern zutage. Die politische Grundloyalität, die für eine IM-Beziehung als unerlässlich erachtet wurde, war demnach gerade innerhalb der Arbeiterschaft nicht besonders ausgeprägt. Renate Hürtgen weist darauf hin, dass die Beschäftigten auf dieser Ebene die wichtigsten IM-Anforderungen ohnehin nicht erfüllt hätten. So verfügten sie weder über Westkontakte und Überblickswissen noch über einen exklusiven Zugang zu vertraulichen Dokumenten und relevanten Entscheidungsträgern. Auch ihr schriftliches Ausdrucksvermögen blieb in der Regel begrenzt.363 Dennoch hätten sich die Offiziere für eine konspirative Zusammenarbeit mit Vertretern des SED-fernen Milieus sehr offen gezeigt, da die Folgen der zunehmenden Überlastung der Betriebe direkt an den Produktionsanlagen besonders stark zu spüren waren.364 Die Atmosphäre an der Basis besaß aus ihrer Sicht eine hohe sicherheitspolitische Relevanz. Alternativ blieb den Offizieren nur die direkte Kooperation mit den staatlichen und betrieblichen Kontrollorganen im Werk übrig, zum Beispiel mit der Inspektion für Anlagen- und Produktionssicherheit oder mit der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion. Vertreter der Arbeiterschaft waren hier ehrenamtlich tätig und konnten von den Offizieren ganz offiziell angesprochen werden.365 Da diese Kontrollgremien meist durch die Inspektion des Generaldirektors koordiniert wurden, war es dem MfS auch möglich, über ihren besonderen Vertrauensmann im Betrieb, dem Sicherheitsbeauftragten, Kontakt schen, praktischen und fachlichen Barrieren, die einer solchen konstruktiven Aushilfe im Wege standen, siehe Kapitel 5, Abschnitt 5.5.3. 362  Über die ausgeprägte »Meckerkultur« in der DDR-Arbeiterschaft siehe Andrew Port: Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Cambridge 2007, S. 238. 363  Vgl. Hürtgen: Stasi in der Produktion, S. 299. Ähnlich Wagner-Kyora: Spione der Arbeit, S. 226. 364  Vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 123. 365  Vgl. Hürtgen: Die rechte Hand des MfS im Betrieb, S. 43; siehe auch den folgenden Abschnitt dieses Kapitels über die Einbindung des MfS in das offizielle Kontrollregime im Werk.

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zu Schicht- und Brigadeleitern aufzunehmen. Damit hatte das MfS auch ohne ein dichtes Netz aus inoffiziellen Quellen Zugang zu Informationen über die Interessen, Stimmungen und Gesprächsthemen der Stammbelegschaft. Eine weitere Gruppe, die aus geheimpolizeilicher Sicht zwar relevant, mit geheimpolizeilichen Methoden aber nur schwer zu erfassen war, betraf die jugendlichen Werksangehörigen. Sie traten deutlich unbequemer als die älteren Arbeitnehmer auf und weigerten sich überdurchschnittlich oft, eine inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS einzugehen. Obwohl ab Mitte der 1960er-Jahre die IM-Arbeit aller Diensteinheiten der Geheimpolizei stärker auf Jugendliche konzentriert werden sollte, erlangte der Anteil der unter 25-Jährigen am IM-Bestand aller Bezirksverwaltungen des MfS bis zuletzt nicht mehr als 10 Prozent.366 Eine Analyse der Hauptabteilung XX des MfS beklagte im Jahr 1980 eine »hohe Abschreibungsquote« bei jüngeren IM durch »bewusste Dekonspiration«, »mangelhafte Treffdisziplin« und allgemein »unbefriedigende Arbeitsergebnisse«.367 Mit diesem verbreiteten Problem des MfS kämpften auch die Objektdienststellen in den Chemiekombinaten. Obwohl Jugendliche hier in den Berufsschulen konzentriert waren und damit vergleichsweise einfach überwacht werden konnten, waren inoffizielle Mitarbeiter unter den bis zu 2 000 Auszubildenden eines Kombinats eine Seltenheit.368 Trotzdem schenkten die MfS-Offiziere der »Lage der Jugendlichen« besondere Aufmerksamkeit – in ihren Berichten an die SED wurde diesem »Überwachungsschwerpunkt« stets ein eigener Abschnitt eingeräumt.369 Ausländische Fachkräfte bildeten schließlich die dritte Gruppe, bei der die Gewinnung inoffizieller Mitarbeiter zwar sehr erwünscht, aber nur begrenzt erfolgreich war.370 Auf dem Werksgelände in Bitterfeld montierten zum Beispiel im Jahr 1985 600 Arbeitskräfte des polnischen Firmenkonsortiums AHZ CentroZap eine neue Graphitierungsanlage.371 Die Chance, neue IM zu werben, konnte die Objektdienststelle bei diesem Investitionsprojekt trotzdem nicht nutzen. Zwei Jahre später, als ebenfalls im Kombinat Bitterfeld knapp 700 schwe366  Vgl. Gieseke: Die Stasi, S.  123; vgl. ebenso Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 4 u. 39. 367  Lexikoneintrag »Jugend«. In: MfS-Lexikon, S. 181. 368  Vgl. AKG der BV Halle: Kontrollbericht zum Stand und zur Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung in den Objektdienststellen vom 24.2.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1276, Bl. 10. 369  Vgl. OD CKB: Informationsbedarf für die Informationstätigkeit an leitende Parteiund Staatsfunktionäre vom 15.5.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 829, Bl. 67–69. 370  Vgl. AKG der BV Halle: Kontrollbericht zum Stand und zur Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung in den Objektdienststellen vom 24.2.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1276, Bl. 10. 371  Vgl. OD CKB: Einschätzung der politisch-operativen Lage für die Jahresplanung 1989 vom 12.10.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1269, Bl. 16.

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dische Ingenieure, Planer und Monteure eine neue Chloratefabrik errichteten, gelang es den Offizieren immerhin, zwei inoffizielle Mitarbeiter in den neu eröffneten Wohnheimen in Sandersdorf zu platzieren.372 Doch ein solcher vereinzelter Erfolg konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die IM-Decke bei ausländischen Fachkräften in allen drei Kombinaten äußerst dünn blieb. Die Leuna-Werke engagierten zum Beispiel Mitte der 1980er-Jahre über 2 700 ausländische Planer und Monteure, um das Projekt der Höherveredelung von Erdöl voranzubringen – kein Einziger von ihnen konnte als IM geworben werden.373 Ein ähnliches Bild zeigte sich in Buna: Hier wurde die Objektdienststelle ausdrücklich aufgefordert, 60 Monteure der Linde AG im Werkswohnheim Halle-Silberhöhe zu überwachen. Für die »Kontrolle der Montageausführung« bei der Neuanlage für den Kunststoff Niederdruckpolyethylen374 sollte sie eine »negative Beeinflussung von Arbeitskräften« verhindern.375 Obwohl für diese Aufgabe eine eigene Sicherungskonzeption entwickelt und ein ganzes Referat eingespannt wurde, blieben alle Werbeversuche der Objektdienststelle wirkungslos.  Woher kamen die Schwierigkeiten der Geheimpolizei, ausländische Fachkräfte zu kontaktieren? Einmal stand ihre kurze Verweildauer in der DDR dem Aufbau einer inoffiziellen Arbeitsbeziehung entgegen. Im Normalfall nahmen sich die Offiziere für die Rekrutierung eines IM viel Zeit. Allein die Prüfung eines Kandidaten, bevor er überhaupt ein erstes Mal angesprochen wurde, konnte bis zu einem Jahr in Anspruch nehmen. Darüber hinaus gestaltete sich das Verhältnis des ausländischen Personals zu den betrieblichen Sicherheitsorganen grundsätzlich sehr angespannt. Als Ärgernis nahmen die eingereisten Ingenieure und Kaufleute vor allem die Reisestelle mit ihren Sicherheitsvorschriften, Fristen und längeren Befragungen wahr. In der Regel war ihnen genau bewusst, dass sie es bei dieser Einrichtung mit einem Partnerorgan des MfS zu tun hatten.376 Und schließlich konnten die Offiziere 372  Vgl. OD CKB: Einschätzung der Wirksamkeit der politisch-operativen Sicherung der Realisierung des Investitionsvorhabens »Ersatzanlage Chlorate« und der daran beteiligten Personenkreise sowie Schlussfolgerungen zur weiteren Qualifizierung der politisch-operativen Abwehrarbeit vom 19.6.1987; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 2446, Bl. 71. 373  Vgl. OD Leuna: Sicherungskonzeption vom 17.6.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 405, Bl. 8. 374  Der Kunststoff Niederdruckpolyethylen entsteht durch eine Reaktion von Ethen unter niedrigem Druck (60 bar, 60 bis 240 Grad Celsius). Der Thermoplast ist stark belastbar, besitzt einen hohen Schmelzpunkt und zeigt sich beständig gegen Wasser, Säuren, Laugen und organische Lösungsmittel. Aufgrund seiner niedrigen Dichte und hohen Stabilität wird er in vielen Haushaltsgegenständen und in Kinderspielzeug eingesetzt. Auch Trinkwasserrohre und Kabelisolierungen können aus Niederdruckpolyethylen bestehen. Vgl. http://www.seilnacht.com/ Lexikon/k_polyet. html, abgerufen am 3.1.2018. 375  OD Buna: Sicherungskonzeption vom 3.5.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 256, Bl. 269. 376  Siehe dazu auch Kapitel 3, Abschnitt 3.4.3.

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auch den Vertretern der westlichen Vertragspartner, ähnlich wie den einfachen Arbeitern, nur wenige materielle oder berufliche Vorteile anbieten. Geeignete Lockmittel für eine schnelle Anwerbung westlicher IM wie interessante Konsumgüter oder attraktive Geschäftskontakte standen den Objektdienststellen nur selten zur Verfügung.

2.5  Arbeitsmethode II: Die offizielle Zusammenarbeit im Betrieb Die Offiziere in den Chemiekombinaten hatten also Schwierigkeiten, unter Produktionsarbeitern, ausländischen Fachkräften und Jugendlichen eine IM-Basis aufzubauen. Die Strategie, an Informationen auf indirekten Wegen über verdeckte Beobachter zu gelangen, stieß oft an ihre Grenzen. Aus diesem Grund war eine weitere Arbeitsweise der Objektdienststellen bedeutsam, die sich bereits bei der Kommunikation mit Vertretern der Arbeiterschaft über die Arbeiter-und-Bauern-Inspektion angedeutet hat: die offizielle Kooperation der MfS-Offiziere mit betrieblichen Kontrollgremien und staatlichen Leitern. Eine Erläuterung dieser weiteren Methode des MfS soll im Folgenden auch die planwirtschaftlichen Eigenheiten der Objektdienststellen und ihr Verhältnis zur Kombinatsleitung genauer herausarbeiten. Um über alle Sach- und Personalfragen im Betrieb informiert zu bleiben, suchten die Offiziere eine intensive, für alle sichtbare Interaktion mit den wichtigsten Kontroll- und Untersuchungsorganen im Betrieb. Zum einen gelang dies über ihre Präsenz im sogenannten »Sicherheitsaktiv«, in dem alle relevanten Sicherheitsorgane des Kombinats versammelt und durch den Sicherheitsbeauftragten koordiniert wurden. In Leuna vereinte das Sicherheitsaktiv zum Beispiel die Kontroll- und Beratungsgruppe des Generaldirektors, die Arbeiter-und-Bauern-Inspektion und die Sicherheitsinspektion.377 Zum anderen baute die Objektdienststelle bilaterale Kontakte zu den wichtigsten Kontrollgremien auf, unter anderem um auf ihre Informationsbestände und auf ihre Kontroll- und Weisungsbefugnisse zurückgreifen zu können. Und schließlich schlossen die Offiziere im Rahmen einzelner Großprojekte auch Koordinierungsvereinbarun-

377  Vgl. Büro des Generaldirektors: Vorlage für die Beratung des Sicherheitsaktivs des Generaldirektors vom 4.11.1977; LHASA, MER, I 525, Nr. 15957, n. p. Zu den wichtigsten offiziellen Kooperationspartnern im Betrieb siehe Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 32; zum Sicherheitsaktiv vgl. Hürtgen: Stasi in der Produktion, S. 304; Harry Möbis: Das Sicherheitsaktiv – ein Instrument staatlicher Leitungstätigkeit im Kampf für vorbildliche Ordnung, Disziplin und Sicherheit. In: Staat und Recht 28 (1979), S. 873–880.

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gen mit den polizeilichen Organen im Kombinat, wie dem Betriebsschutzamt (BSA), der Volkspolizei oder der Transportpolizei.378 Diese Formen der institutionalisierten Zusammenarbeit verdeutlichen, wie eng die Objektdienststelle auch offiziell in das umfangreiche Sicherheitsregime des Kombinats eingebunden war. Statt als autonomer Akteur Informationen selbstständig zu akquirieren und geheimpolizeiliche Ziele durch einseitiges Handeln oder verdecktes Anweisen zu realisieren, verfolgten die Offiziere ihre Interessen in der Regel durch offenen und routinierten Austausch mit betrieblichen Gremien. Im Rahmen dieser interagierenden Arbeitsweise übertrugen sie das eigentliche »operative« Geschäft – also das Untersuchen, Beobachten, Disziplinieren und Bestrafen – auf ihre Kooperationspartner: Für das Offenlegen von Planmanipulation spannte das MfS zum Beispiel die Arbeiter-und-Bauern-Inspektion ein. Um finanzielle Unregelmäßigkeiten aufzudecken, griff es auf die Staatliche Finanzrevision zurück. Und für eine Analyse des Anlagenbestands beauftragte es entweder die Staatliche Bauaufsicht, das Staatliche Amt für technische Überwachung oder die Inspektion für Anlagen- und Produktionssicherheit. Das MfS handelte also nicht gegen betriebliche Einrichtungen, sondern durch sie. Es benutzte die Vielzahl der Kontrollorgane und leitenden Mitarbeiter im Betrieb, um ureigene »operative« Ziele wie die Versetzung eines Leiters, die Ermittlung von strafrechtlichen Beweisen oder die Absicherung technischer Risikobereiche im Werk zu erreichen. Ginge es nach den Lehrbüchern des MfS, sollten die Offiziere – wie bei der Vorstellung des Sicherheitsbeauftragten bereits erwähnt – ihre Aufträge stets so vermitteln, dass sie von den betrieblichen Sicherheitsorganen als ihre eigenen Ziele aufgefasst wurden. Im Idealfall würden die Vertreter der betrieblichen und staatlichen Inspektionen dann aus freien Stücken das Gespräch mit den Objektdienststellen suchen.379 Das »politisch-operative Zusammenwirken«380, kurz »POZW« – wie das MfS diese regelmäßigen Aussprachen mit staatlichen Leitern im Betrieb nannte – verfolgte dabei zwei zentrale Ziele: die Instrumentalisierung betrieblicher Füh378  Vgl. OD CKB: Koordinierungsvereinbarungen mit dem VPKA, dem BSA, der Transportpolizei, der KD Bitterfeld und dem Binnenzollamt Halle für die Absicherung einer neuen Chloratanlage in Bitterfeld im Jahr 1985, alle v. 18.2.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1392, Bl. 1–8. 379  Vgl. Renate Hürtgen: Der DDR-Betrieb als konflikt- und herrschaftsfreie Zone? Zum Konfliktverhalten von Arbeitern in den siebziger und achtziger Jahren. In: Hermann-J. Rupieper, Friederike Sattler, Georg Wagner-Kyora (Hg.): Die mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert. Halle 2005, S. 267; vgl. ebenso Hürtgen: Die rechte Hand des MfS im Betrieb, S. 38. 380  Für eine umfassende Erläuterung der Strategie »POZW« aus der Perspektive des MfS verweist Hürtgen auf die MfS-interne Dissertation: »Das Zusammenwirken des MfS mit den Leitern von Staats- und Wirtschaftsorganisationen bei der politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft«, 22.7.1975, VVV JHS, 001-203/75, siehe Renate Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation. Vertrauensleute des FDGB im DDR-Betrieb. Köln 2005, S. 238.

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rungskräfte und Sicherheitsorgane für die eigenen geheimpolizeilichen Projekte sowie deren effektive Kontrolle. In Bezug auf Letzteres wurde in der Methode »POZW« sogar eine Form der präventiven Konfliktvermeidung erkannt.381 Denn eine regelmäßige Interaktion mit staatlichen Leitern ermöglichte aus Sicht des MfS ein frühzeitiges Erkennen und Entschärfen von Interessengegensätzen zwischen den Abteilungen und Direktionen. Auf diese Weise bestand die Chance, einen störungsfreien Ablauf von Produktion, Handel und Forschung sicherzustellen. Da die »Partner des POZW« häufig auch als inoffizielle Mitarbeiter verpflichtet waren, unterhielt das MfS zu vielen Führungskräften im Betrieb gleich doppelten Kontakt: eine offizielle Arbeitsbeziehung und eine konspirative Vertrauensbeziehung. Nicht immer waren den betroffenen Kadern die Unterschiede dieser beiden Beziehungsebenen bewusst. Wie oben erläutert, nahmen zumindest einige IM-verpflichtete Funktionäre ihre Treffen mit einem Führungsoffizier auch als Teil ihrer regulären Arbeitsabläufe wahr. Das MfS jedoch unterschied genau zwischen beiden Kommunikationsebenen und bevorzugte bei Leitungskadern, wenn die betreffenden Zielsetzungen damit zu erreichen waren, die offizielle Zusammenarbeit. So betonte zum Beispiel der Leiter der Objektdienststelle im Kombinat Bitterfeld, Werner Kirchner, bei einer Prüfung der IM-Vorgänge aus dem Jahr 1988, dass es nicht mehr notwendig sei, »mit solchen IM zusammenzuarbeiten, die als staatliche Leiter zur Zusammenarbeit mit den Sicherheitsorganen ohnehin verpflichtet sind. Die meisten Fragen«, so Kircher, »können wir doch im POZW klären«.382 2.5.1 Kollegialität auf Leitungsebene: Die Zusammenarbeit zwischen dem Generaldirektor und dem Leiter der Objektdienststelle Zum wichtigsten Ansprechpartner für das »POZW« zählte zweifellos der Generaldirektor. Aufgrund seiner herausgehobenen Position im Werk – ein »Machtfaktor erster Güte«, wie der Rechtshistoriker Wolfgang Gößmann diese Position bezeichnete383 – zeigte das MfS bei ihm ein besonderes Interesse an einer kollegialen und routinierten Zusammenarbeit. Dabei sollte, wie oben bereits erwähnt, mit der Kombinatsleitung keine inoffizielle Beziehung eingegangen werden. Die regelmäßige Kontaktaufnahme zum Generaldirektor stellte vielmehr ein Paradebeispiel für das »politisch-operative Zusammenwirken« dar. 381  Vgl. Hürtgen: Betrieb als konfliktfreie Zone?, S. 267. 382  Leiter der OD CKB: Einladung zur Dienstversammlung vom 22.8.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1276, Bl. 85. 383  Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 35.

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Nicht nur für das MfS, sondern für alle staatlichen Behörden galt der Generaldirektor als Ansprechpartner erster Wahl.384 Um Planvorgaben möglichst reibungslos in den Produktionsbetrieben umsetzen zu können, war diese starke und zentrale Instanz ganz bewusst im Zuge der Kombinatsgründung geschaffen worden. Für die Objektdienststelle blieb die Kommunikation mit der Spitze des Kombinats dabei stets eine Angelegenheit ihres Leiters. Gewöhnlichen operativen Mitarbeitern oder Referatsleitern war es in der Regel nicht gestattet, das Gespräch mit dem Generaldirektor zu suchen. Die Hierarchie im Werk korrespondierte an dieser Stelle mit der Hierarchie innerhalb der MfS-Diensteinheit.385 Im Folgenden soll auf ein persönliches Arbeitsbuch des Leiters der Bitterfelder Objektdienststelle, Werner Kirchner, eingegangen werden, in dem er zwischen 1980 und 1989 seine Anliegen bei den regelmäßigen Treffen mit den beiden Generaldirektoren Heinz Schwarz und Adolf Eser festgehalten hat. Ein Blick in dieses Buch macht deutlich, dass die Inhalte dieser Gespräche außerordentlich breit angelegt waren. Zu den beherrschenden Themen zählten dabei akute praktische Probleme im Werk, wie die Entwicklung der Preise oder Zwischenfälle bei der Lagerhaltung. Kirchner übergab bei diesen Begegnungen die für den Generaldirektor bestimmten Informationen des MfS und erkundigte sich nach seiner persönlichen Einschätzung zu einzelnen Sachverhalten: »Zu welchen Informationen hast Du eine andere Meinung?«, fragte Kirchner zum Beispiel an einer Stelle. Oder: »Welche Informationen entsprechen nicht der Wahrheit?«386 In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre erhielt Generaldirektor Eser monatlich zwischen 20 und 100 solcher Dossiers zu jeweils ganz unterschiedlichen Problemstellungen, zeitweise waren es bis zu sechs Einzelinformationen am Tag.387 An einer Stelle zeigen Kirchners Notizen, dass er den Generaldirektor sogar über einen MfS-Bericht in Kenntnis setzte, der gar nicht für betriebliche Stellen vorgesehen war: Von der Bezirksverwaltung Halle hatte die Objektdienststelle im Dezember 1985 den Auftrag erhalten, eine Zustandsbeschreibung über die Kraftwerke in Bitterfeld anzufertigen. Kirchner erläuterte Eser die Kriterien für dieses interne Gutachten und bat ihn um Unterstützung. »Gibt es Deinerseits Hinweise, die ich mit im Bericht verarbeiten sollte?«, wollte Kircher zum

384  Vgl. ebenda. 385  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Herbert Flegel, ehemaliger hauptamtlicher Mitarbeiter der Operativgruppe im Synthesewerk Schwarzheide, zuständig für die Überwachung der Forschungsabteilung, am 28.3.2014. 386  OD CKB: Notizen des OD-Leiters für die Unterredung mit Generaldirektor Eser vom 18.6.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 720, Bl. 124. 387  Vgl. OD CKB: Notizen des OD-Leiters für die Unterredungen mit den Generaldirektoren Schwarz und Eser, 1980–1989; ebenda, Bl. 2 f. u. 189–192.

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Beispiel wissen.388 Auf diese Weise erhielt Eser zumindest ansatzweise Einblick in die internen Arbeitsweisen und Aufgaben der MfS-Offiziere im Betrieb und war punktuell sogar in der Lage, inhaltlichen Einfluss auf die MfS-interne Berichterstattung zu nehmen. Der OD-Leiter beließ es aber nicht dabei, Informationen zu überreichen und sich nach der persönlichen Meinung des Generaldirektors zu erkundigen. Bei seinen Begegnungen mit Schwarz und Eser drängte er auch darauf, Missstände im Kombinat nicht länger zu ignorieren. So solle die Kombinatsleitung zum Beispiel mit den Vertretern der Technischen Überwachung die Energiebilanz erörtern und zur Vorbeugung von Bränden besser mit der IAPS kooperieren.389 »Stimmt es«, fragte Kirchner im Jahr 1985, »dass im CKB Ausrüstungen für Kraftwerke verrotten und zweckentfremdet gelagert werden?«390 Der MfS-Chef im Betrieb erkundigte sich bei diesen Treffen auch über den Arbeitsstil einzelner Leiter. »Welche politische Haltung wird sichtbar?« Und: »Welche Personen resignieren?«, fragte Kirchner etwa mit Blick auf die Abwanderung von Arbeitskräften oder die Zunahme des Störgeschehens.391 An diesem Punkt ähnelte die Unterhaltung zwischen Kirchner und Eser einem klassischen IM-Treffgespräch, bei dem personenbezogene Informationen über das unmittelbare Umfeld des Kombinatsleiters »abgeschöpft« wurden. Den regelmäßigen Aussprachen mit den Leitern der Objektdienststellen – und der Präsenz des MfS im Betrieb im Allgemeinen – begegneten die Generaldirektoren mit zwiespältigen Gefühlen: Um ein reibungsloses Produzieren ohne aufsehenerregende Konflikte sicherzustellen, war ihnen auf der einen Seite sehr daran gelegen, die widerstrebenden Interessen der Fach- und Produktionsabteilungen auszubalancieren. Rückblickend beschreiben sich die Generaldirektoren oft als »Kümmerer« der Kombinate, die alle Bereiche mit ihren jeweiligen Planauflagen und Prämienerwartungen zufriedenstellen wollten.392 Es lag daher auf der Hand, dass das Verlangen der MfS-Offiziere nach Kontrolle, Ermittlungen und Sanktionen von der Kombinatsleitung als äußerst störend empfunden werden musste. Der grundlegende Zielkonflikt zwischen »Ruhe im Betrieb« und 388  OD CKB: Notizen des OD-Leiters für die Unterredung mit Generaldirektor Eser vom 3.12.1985; ebenda, Bl. 110. 389  Vgl. OD CKB: Notizen des OD-Leiters für die Unterredung mit Generaldirektor Eser vom 10.7.1985; ebenda, Bl. 102. 390  OD CKB: Notizen des OD-Leiters für die Unterredung mit Generaldirektor Eser vom 3.12.1985; ebenda, Bl. 110. 391  OD CKB: Notizen des OD-Leiters für die Unterredung mit Generaldirektor Eser vom 10.7.1985; ebenda, Bl. 102. 392  Siehe die Beiträge von Herbert Richter, Generaldirektor des Gaskombinats Schwarze Pumpe, und Hans-Joachim Lauck, Generaldirektor des Edelstahlkombinats Brandenburg, für das Kapitel »Von der Wiege bis zur Bahre – Das Kombinat als soziale Einheit«. In: Rohnstock Biografien (Hg.): Jetzt reden wir! Was heute aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist. Berlin 2014, S. 141–167.

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»Offenlegen von Missständen und Regelverletzungen« hatte sich schon in dem oben beschriebenen spannungsreichen Verhältnis zwischen Generaldirektion und Sicherheitsbeauftragten angedeutet. Auf der anderen Seite konnte die Kombinatsspitze von einer Zusammenarbeit mit dem MfS natürlich auch profitieren. Ob allgemeine Stimmungsberichte oder einzelne Personeneinschätzungen: Die regelmäßigen Informationen des MfS kamen nicht nur der SED-Kreis- und Bezirksleitung, sondern auch dem Generaldirektor sehr gelegen. Dies galt besonders für die von den Objektdienststellen veranlassten technischen Gutachten über den Zustand der Anlagenund Gebäudesubstanz. Zum einen war es dem Kombinat mit solchen Analysen möglich, bei höheren Stellen, etwa der ZK-Abteilung für Grundstoffindustrien, um die Bewilligung von Sanierungsprogrammen zu werben. Generaldirektor Schwarz hatte mit dieser Strategie Mitte der 1970er-Jahre Erfolg.393 Zum anderen wandte sich das Kombinat aber auch an das MfS, um unangenehme Untersuchungen einer externen Einrichtung stoppen zu lassen. Im Oktober 1988 bat zum Beispiel Generaldirektor Eser den OD-Leiter Kirchner darum, einen auf dem Kombinatsgelände eingesetzten Gutachter der Staatlichen Bauaufsicht zu prüfen, »weil dieser versucht, immer mehr Bauwerke stillzulegen«.394 Ob Kirchner in diesem Fall tatsächlich intervenierte und die Stilllegung einzelner Anlagen verhinderte, ist nicht überliefert. Dass die Objektdienststelle dazu in der Lage gewesen wäre, kann aber mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Wie oben ausgeführt, zählte das MfS zu einem der wichtigsten Auftraggeber der staatlichen Kontrollorgane und stand mit ihrem Leitungspersonal in engem offiziellem und inoffiziellem Kontakt. Wenn sich der Generaldirektor mit einem solchen Anliegen an den Leiter der Objektdienststelle wandte, war ihm zudem sehr genau bewusst, dass auch die Staatssicherheit für ihre Arbeit vor Ort auf die praktische Unterstützung des Kombinats angewiesen war. Dies galt nicht nur für die Umsetzung von Disziplinierungen als ein möglicher Abschluss eines Überwachungsvorgangs. Auch die Verwendung von Liegenschaften des Kombinats für die »operative« Arbeit – wie das Gästehaus in Buna für die Durchführung konspirativer Gespräche – benötigte eine ausdrückliche Zustimmung des Generaldirektors.395 Die Objektdienststelle reichte bei der Kombinatsleitung auch Anträge auf finanzielle Beihilfen ein – »hierzu bitte ich um Unterstützung Deinerseits«, heißt es an einer

393  Die Planung und Umsetzung des »Programms zur Rationalisierung, Stabilisierung und Modernisierung« (RSM-Programm) wird eingehender im Kapitel 5, Abschnitt 5.4.3. behandelt. Vgl. ebenso Schwarz: Prägungen, S. 190–201. 394  OD CKB: Notizen des OD-Leiters für Unterredung mit Generaldirektor Eser vom 18.10.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 720, Bl. 17. 395  Vgl. OD CKB: Notizen des OD-Leiters für Unterredung mit Generaldirektor Eser vom 10.1.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 720, Bl. 84.

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Stelle in Kirchners Aufzeichnungen.396 Selbst auf das Ansehen der im Kombinat stationierten MfS-Offiziere bei der übergeordneten Bezirksverwaltung des MfS schien der Generaldirektor Einfluss zu haben. Zumindest bedankte sich Kirchner im März 1988 bei Eser »für die Prämierung meiner Diensteinheit mit deinem Schreiben an den Leiter BV!«397 Neben solchen beruflichen Angelegenheiten kamen aber auch ganz private Wünsche zur Sprache. So erkundigte sich Kirchner im November 1982 beim Generaldirektor Schwarz, ob er »Silvester den Bungalow haben kann«.398 Das wechselseitige Einvernehmen, das bei diesen Vieraugengesprächen deutlich wird, ergibt das Bild einer fast gleichberechtigten Arbeitsbeziehung. Vor allem, wenn es auf der persönlichen Ebene stimmte, konnten beide Führungskader eine vertrauensvolle Zusammenarbeit entwickeln, die sowohl über das neutrale »POZW« als auch über das Ausfragen und Beauftragen während eines klassischen IM-Gesprächs hinausging. 2.5.2 Plankontrolle, Plandruck und Planlogik – oder: Das MfS als integraler Bestandteil der Planwirtschaft Der betont kooperative Austausch mit den Führungskräften im Werk als eine Vorgehensweise des MfS sollte die nachrichtendienstlichen Methoden der IM-Führung ergänzen. Auf diese Weise erweiterte sich der eigene Spielraum im Werk markant. Für laufende Beweiserhebungen und Ursachenanalysen konnte auf das Fachwissen und die persönlichen Beziehungen der staatlichen Leiter zurückgegriffen werden. Einrichtungen wie die Reisestelle, die Wohnheimleitung oder die Betriebsfeuerwehr boten den Offizieren überdies Zugänge zu Arbeitern, Jugendlichen und Delegationen internationaler Ingenieure und Kaufleute, also zu jenen Gruppen, bei denen die Geheimpolizei traditionell Schwierigkeiten hatte, informelle Zuträger zu platzieren und vertrauliche Informationen »abzuschöpfen«.399 Die delegierende und interagierende Arbeitsweise des MfS zog allerdings auch eine bemerkenswerte Abhängigkeit von all den staatlichen und betrieblichen Zuarbeitern nach sich. Ein Großteil der »operativen« Arbeit beruhte auf dem Fachwissen, der Kreativität und der Analysefähigkeit der »Partner des Zusammenwirkens«. Sobald aber der Wille zur Kooperation bei diesen »Partnern« fehlte oder ein Auftrag eigenwillig uminterpretiert wurde, entstanden für die 396  OD CKB: Notizen des OD-Leiters für Unterredung mit Generaldirektor Eser vom 23.11.1987; ebenda, Bl. 150. 397  OD CKB: Notizen des OD-Leiters für Unterredung mit Generaldirektor Eser vom 27.3.1988; ebenda, Bl. 154. 398  OD CKB: Notizen des OD-Leiters für Unterredung mit Generaldirektor Schwarz vom 4.11.1982; ebenda, Bl. 36. 399  Vgl. Hürtgen: Die rechte Hand des MfS im Betrieb, S. 43.

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MfS-Offiziere schnell neue Einflussbarrieren. Besondere Beachtung musste dabei den jeweiligen Eigeninteressen der Institutionen und Führungskräfte geschenkt werden: Als die IAPS des Chemieministeriums zum Beispiel im Jahr 1987 von der Objektdienststelle Bitterfeld beauftragt wurde, eine Analyse des Anlagenzustands auf dem Werksgelände auszuarbeiten, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ein solcher Auftrag auch als Chance verstanden wurde, mit einer besonders drastischen Darstellung weitere Investitionsmittel für das Kombinat auszulösen.400 Eine auf den ersten Blick neutrale Dienstleistung eines Kontrollorgans konnte hier schnell politisch funktionalisiert werden. Ein anderes Beispiel für einen solchen zwar fachkundigen, aber auch strategisch geschickt handelnden Ansprechpartner des MfS war der Betriebsdirektor für Erdöl/Olefine in Leuna, Wolfgang Nette. Wenn dieser Leitungskader gegenüber Vertretern der Objektdienststelle bestimmte Absatzerwartungen und Kostenprognosen äußerte, etwa im Jahr 1977 in Bezug auf eine neue Reformeranlage für die Herstellung von Vergaserkraftstoffen, behielt er immer auch sein persönliches Projekt im Blick: den Ausbau Leunas zum führenden Raffineriestandort der DDR.401 Ähnlich einseitige Informationen erhielten die Offiziere in allen drei Kombinaten auch bei ihrem Austausch mit Vertretern der Fachdirektionen für Beschaffung und Absatz. Deren Einschätzungen über die Strategien und Erfolgsaussichten laufender Verhandlungen mit westlichen Unternehmen mussten stets vor dem Hintergrund eines schwelenden Kompetenzkonflikts zwischen den Außenhändlern der Kombinate und den Fachleuten der Außenhandelsbetriebe bewertet werden.402 Die Neigung vieler Kader, Informationen einseitig darzustellen und Aufträge eigennützig auszulegen, beschreibt die entscheidende Schwäche des POZW. Zwar war es den Offizieren möglich, verschiedene, auch konkurrierende Gremien und Kader anzusprechen, um auf dieser Weise einer Vereinnahmung für bestimmte Interessen aus dem Weg zu gehen. Trotzdem ließ es sich kaum vermeiden, dass die MfS-Offiziere mit einem interagierenden Arbeitsstil in die alltäglichen Konflikte und grundsätzlichen Interessensgegensätze des Kombinats 400  Vgl. Hauptabteilung XVIII des MfS: Wiedergabe eines Berichts der IAPS des MfC durch die HA XVIII vom 6.4.1987; BStU, MfS, BV Halle, HA XVIII, Nr. 12183, Bl. 70. 401  Vgl. OD Leuna: Bemerkungen zum Reformer III. Gespräch mit IM »Peter Wolf« vom 31.8.1977; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 151/ 74, Teil II, Bd. 2, Bl. 11. Vgl. ebenso OD Leuna: Ergänzung zur Konzeption zur Bearbeitung der OPK »Öl« vom 25.2.1978; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. R 73/97, Bd. 1, Bl. 56. Über die Rolle des Betriebsdirektors für Erdöl/Olefine siehe Kapitel 4, Abschnitt 4.5.1. 402  Vgl. OD Leuna: IM-Bericht von Lutz Belitz, Abteilungsleiter Absatz in Leuna, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 350/87, Teil II, Bd. 6, Bl. 93; vgl. ebenso OD Buna: Wiedergabe eines Treffgesprächs mit »Export« vom 10.7.1980; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 1680/82, Bd. 1, Bl.  253–262. Über den Kompetenzkonflikt zwischen Produktions- und Außenhandelsbetrieben siehe Kapitel 4, Abschnitt 4.3.1.

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hineingezogen wurden – ein Umstand, der eine unabhängige geheimpolizeiliche Kontroll- und Ermittlungsarbeit deutlich erschwerte. Trotz dieser kaum lösbaren Schwierigkeiten bevorzugte das MfS die Strategie der kooperativen Zusammenarbeit mit Führungskräften, wann immer das möglich war. Besonders bei ihren planwirtschaftlichen Pflichten, also bei ihrer Teilnahme an den regulären innerbetrieblichen Plankontrollen, vertrauten die Offiziere auf das »operative Zusammenwirken«. Um Planabweichungen aufzudecken, Verantwortliche zu ermitteln und zu bestrafen oder die politischen, technischen und ökonomischen Ursachen von Planrückständen zu analysieren, griffen die Offiziere auf offizielle Kontrollorgane wie die Arbeiter-und-Bauern-Inspektion oder die Staatliche Bilanzinspektion zurück. Im Jahr 1988 ermittelte die Objektdienststelle Leuna zum Beispiel gegen eine unrechtmäßige Lagerhaltung von Caprolactam, einem Ausgangsstoff für die Herstellung von Kunststofffasern und Folien. Das MfS stellte in diesem Fall seine inoffiziell ermittelten Erkenntnisse der Arbeiter-und Bauern-Inspektion zur Verfügung, um über einen ihrer Kontrollgänge den Manipulationsfall offiziell feststellen zu lassen. Anschließend sollte in Absprache mit dem Generaldirektor ein Disziplinarverfahren gegen die Verantwortlichen eingeleitet werden.403 Indem die Inspekteure der ABI eine durch das MfS festgestellte Manipulation offenlegten, wurden sie unwissentlich für den Abschluss eines geheim laufenden Überwachungsprogramms der Objektdienststelle eingespannt. Ein solcher Vorgang der »Offizialisierung«, also der Umwandlung von inoffiziellen Hinweisen auf eine Straftat in offizielle, gegebenenfalls auch prozesstaugliche Beweismittel, war eine weitere wichtige Funktion des »politisch-operative Zusammenwirkens«.404 Mit ihren nachrichtendienstlich beschafften Informationen über bestimmte Regelverletzungen im Betrieb war es den Offizieren möglich, die oft zufällig und punktuell auftretenden Plankontrollen etwas genauer auf bestimmte Missstände zu lenken und damit ihre Wirkung geringfügig zu steigern. Zumindest in Ansätzen entwickelte das MfS für die in der Regel unabgestimmt auftretenden Vertreter der verschiedenen staatlichen und betrieblichen Kontrollgremien eine koordinierende Funktion. So wies zum Beispiel die Bezirksverwaltung Halle im Jahr 1989 die Arbeiter-und-Bauern-Inspektion an, im Chemiekombinat Bitterfeld sämtliche nichtgeplante Investitionen in den Bereichen Lagerhaltung, Produktion, Forschung, Technik und Soziales aufzulisten und juristisch zu bewerten. Die Inspektoren fahndeten daraufhin nach einer rechtlichen Grundlage für alle laufenden Investitionen im Werk, etwa einem offiziellen Liefervertrag, 403 Vgl. OD Leuna: Abschlussbericht der OPK »Jäger« vom 19.4.1989; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 4884, Bl. 114–116. 404  Den Vorgang der »Offizialisierung« beschreibt unter anderen Rita Selitrenny: Doppelte Überwachung. Geheimdienstliche Ermittlungsmethoden in den DDR-Untersuchungshaftanstalten. Berlin 2003, S. 81.

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einem Beschluss des Ministerrates oder einem RGW-Regierungsabkommen. Für jedes entdeckte Projekt ohne rechtliche Grundlage empfahlen die Kontrolleure anschließend entweder die nachträgliche »Herstellung der Gesetzlichkeit« oder eine »Herausnahme aus dem Investitionsplan«.405 Mit solchen Initiativen war das MfS tatsächlich in der Lage, das Kontrollregime im Werk an einigen Stellen zu aktivieren. Eine systematische und flächendeckende Plankontrolle entwickelte sich daraus aber nicht, da die MfS-Offiziere in der Regel nur bei Verdacht auf schwerwiegendere Wirtschaftsstraftaten oder nach Eintritt größerer Havarien aktiv wurden, also immer dann, wenn sich politische oder wirtschaftliche Verwerfungen mit überregionaler Wirkung abzuzeichnen begannen. Wie oben bereits ausgeführt, reagierten sie dabei besonders sensibel auf jede Form von westlichen Einflüssen. Für die vielen kleineren Unregelmäßigkeiten, die sich während eines Planjahres vor allem zwischen den Betrieben innerhalb der DDR abspielten, zeigte das MfS hingegen wenig Interesse. Obwohl im Laufe der 1980er-Jahre die Plandisziplin der Betriebe – und damit die essenzielle Voraussetzung einer zentralen Wirtschaftssteuerung – immer weiter abnahm, blieb das Kontrollwesen trotz der selektiven Unterstützung durch die Geheimpolizei bis zuletzt lückenhaft und ineffektiv. Die punktuelle Initiierung von Plankontrollen zeigt, wie sehr die Überwachungsarbeit des MfS in die planwirtschaftlichen Abläufe innerhalb der Betriebe eingebettet war. Indem die Objektdienststellen im Rahmen ihrer konspirativen Ermittlungen innerbetriebliche Inspektionen in Bewegung setzten, führten sie an dieser Stelle als Teil ihrer geheimpolizeilichen Aktivitäten auch rein ökonomische Aufgaben aus.  Der Stopp illegaler Investitionen oder die Überprüfung einer Planabrechnung sind Beispiele dafür. Nicht selten kam es jedoch vor, dass die Offiziere in ihren internen Berichten ein aktives wirtschaftliches Engagement lediglich vortäuschten und die ganz normale Routinearbeit eines offiziellen Kontrollorgans kurzerhand als eigenes Handeln auslegten. Das Unterbinden einer Planabweichung oder die Dokumentation eines Anlagenzustands wurden dann mit einem Verweis auf »IM in Schlüsselpositionen« oder »POZW« wie eine Eigenleistung beschrieben. Im Jahr 1984 fertigte die Objektdienststelle Bitterfeld zum Beispiel eine »Analyse neuralgischer Punkte«406 in den Fabriken des Stammbetriebs an, deren Inhalt und Formulierung exakt einem Bericht der IAPS aus dem Vorjahr ähnelte.407 In diesem Fall hatten die Offiziere die Untersuchungsergebnisse ih405  Leiter der Abteilung XVIII der BV Halle, Karl Heinz Schönig: Schreiben an die OD CKB vom 19.5.1989; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 475, Bl. 5. 406  OD CKB: Analyse von neuralgischen Punkten des VEB CKB vom 5.10.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 33, Bl. 3. 407  Vgl. IAPS des CKB: Bericht über die Anlagen- und Produktionssicherheit sowie Arbeits-, Sozial- und Umweltbedingungen im VEB CKB vom 1.7.1983; LHASA, MER, I 509, Nr. 10563, n. p.

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res »Partners« einfach kopiert, um sie zu einem späteren Zeitpunkt als eigene »operative Information« innerhalb des MfS zu verteilen. Dieses Verhalten zeigt, dass die Offiziere tatsächlich davon überzeugt waren, durch ihr offizielles und inoffizielles Interagieren mit betrieblichen Stellen in allen Winkeln des Betriebs permanent präsent zu sein. Folglich ist in den Berichten der Objektdienststellen auch immer wieder von »Einflussnahme« oder »Aktivitäten der Diensteinheit« die Rede – also von aktivem MfS-Handeln, das sich bei näherer Betrachtung nicht selten als Scheinhandeln herausstellte. »Im Zusammenwirken mit der staatlichen Finanzrevision Halle«, schrieb zum Beispiel die Abteilung XVIII der Bezirksverwaltung Halle im Jahr 1988, seien für die Leuna-Werke »Möglichkeiten zur Optimierung der Argon-Bilanz« und damit Einsparungen bei Argon-Importen untersucht worden. Argon, ein Edelgas, das als Füllstoff für Glühlampen oder Schutzmittel beim Schweißen eingesetzt wurde, musste das Kombinat immer wieder teuer von den westdeutschen Unternehmen Linde oder Air Products beziehen. »Im Ergebnis dieser gemeinsamen Bemühungen ist es gelungen, Argon-Importe zu vermeiden und einen valutaökonomischen Nutzen in Höhe von 830 TVM zu erzielen«, so die Darstellung der Abteilung XVIII.408 Mit Sicherheit stand das MfS in diesem Fall in engem Kontakt mit der Finanzrevision. Ob es aber tatsächlich einen aktiven Beitrag für die »Optimierung der Argon-Bilanz« leistete, wie es der Bericht behauptete, darf bezweifelt werden. Die Offiziere hatten technisch und fachlich kaum die Möglichkeit, auf den Materialeinsatz im Werk Einfluss zu nehmen. Wahrscheinlicher ist, dass die Abteilung XVIII an dieser Stelle den regulären Kontrollgang einer staatlichen Inspektion als eine Aktion des MfS auslegte, um den ökonomischen Nutzen der eigenen Arbeit intern mit einem konkreten Wert (830 000 VM) dokumentieren zu können. Ähnlich »selbstaneignend« verhielt sich das MfS auch bei einer Lieferung von Anlagenteilen der Firma Voest Alpine AG aus Österreich im Rahmen der Erweiterung der Erdölverarbeitung in den Leuna-Werken Mitte der 1980er-Jahre. »Durch IM mit Spezialkenntnissen«, behauptete hier ein Bericht der Abteilung XVIII, seien technische Mängel festgestellt und anschließend durch »Reparaturen der Anlage verändert und beseitigt«409 worden. Indem der Verfasser des Berichts die alltägliche Arbeit eines Ingenieurs als Einsatz eines inoffiziellen Mitarbeiters beschreibt, suggerierte er ein besonderes Engagement der Offiziere. Am Ende sei »durch Aktivitäten von IM gegenüber der Voest wegen der verspäteten Inbetriebnahme eine Vertragsstrafe in Höhe von 33,2 Mio. DM durchge408  Abteilung XVIII der BV Halle: Abrechnung erzielter politisch-operativer Arbeitsergebnisse zur Durchsetzung der Wirtschaftsstrategie der Partei vom 25.7.1988; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 4884, Bl. 32. 409  Abteilung XVIII der BV Halle: Einschätzung der Ergebnisse und die Wirksamkeit der NSW-RK-IM bei der Aufklärung von Spionageangriffen, der Abwehr ökonomischer Störtätigkeit und der abwehrmäßigen Sicherung der NSW-RK, o. D.; ebenda, S. 11.

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setzt« worden, so der Bericht. Bei diesem Fall drängt sich der Verdacht auf, dass das MfS überhaupt nicht aktiv geworden ist, auch wenn die Darstellung den gegenteiligen Eindruck vermitteln möchte. Der Bericht der Abteilung XVIII beschreibt hier lediglich den kritischen und selbstbewussten Umgang des technischen Personals der Leuna-Werke mit dem österreichischen Auftragnehmer. Diese Beispiele zeigen, dass bei der Betrachtung des MfS im Betrieb immer wieder die Frage nach dem tatsächlichen »Handeln« oder der tatsächlichen »Einflussnahme« gestellt werden muss. Durch die indirekte, oftmals nur begleitende und beobachtende Arbeitsweise der Offiziere ist es im Rückblick oft schwierig, ihr (behauptetes) Handeln von den Aktivitäten der übrigen Akteure abzugrenzen. Die erfolgreiche Verpflichtung eines führenden Kaders als IM heißt natürlich nicht, dass fortan alle seine Aktivitäten auch tatsächlich durch das MfS kontrolliert oder gar »gesteuert« wurden. Die Neigung vieler Offiziere, in ihren Tätigkeitsberichten ihren Einfluss und Aktionsradius im Betrieb zu überhöhen, erschwert eine angemessene Beurteilung der Rolle des MfS in den Kombinaten der Chemieindustrie. Woher kam dieser Hang, Routineabläufe im Betrieb als eigene Leistungen darzustellen? Ein entscheidender Beweggrund war die generelle Annahme der Offiziere, die Relevanz ihrer eigenen Organisation – in sicherheitspolitischer, aber auch in rein ökonomischer Hinsicht – gegenüber den Organen der SED immer wieder beweisen zu müssen. Dieses im Denken der MfS-Offiziere tief verankerte Gefühl, Rechenschaft ablegen zu müssen, wurde zusätzlich durch interne Planvorgaben verstärkt. Auch die Staatssicherheit war verpflichtet, wie alle übrigen Ministerien, innerhalb eines Jahres einen festgelegten Plan zu erfüllen. Dabei waren die Offiziere im Kombinat aufgefordert, dem Leiter der Objektdienststelle bis Jahresende eine bestimmte Anzahl neuer IM- und Überwachungsvorgänge zu präsentieren.410 Eine externe staatliche oder parteiliche Plankontrolle gab es für das MfS zwar nicht. Planauflagen des Ministerrates, wie sie jedes Industrieministerium zu erfüllen hatte, wären mit dem konspirativen Charakter der Geheimpolizei kaum vereinbar gewesen. War ein Referat der Objektdienststelle aber nicht in der Lage, die »Vorgangsarbeit« in seinem Verantwortungsbereich wie vereinbart auszuweiten, kamen die operativen Mitarbeiter gegenüber der OD-Leitung und der OD-Leiter schließlich gegenüber der Bezirksverwaltung schnell in Erklärungsnot. Dadurch entfaltete sich auch in den unteren Diensteinheiten des MfS, ähnlich wie im Betrieb, ein Trend zum quantitativen Ausstoß von abrechenbaren »Gütern« – im Fall der Kreis- und Objektdienststellen zählten zu diesen »Gütern« IM-Vorgänge, Personenkontrollen, Sachstandsberichte, Marktanalysen oder Ermittlungen. Nicht nur das generelle Misstrauen der Offiziere gegenüber den kombinatseigenen Funktionären, sondern auch ein im Hintergrund wirken410  Vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 122.

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der Plandruck verstärkte also das Interesse an einer beständigen Ausweitung der geheimpolizeilichen Tätigkeiten: Für die Einhaltung der im Plan vorgeschriebenen Anzahl von IM-Treffen griffen die Führungsoffiziere zum Beispiel auf kooperationswillige Kader zurück, selbst wenn deren Informationen weitgehend belanglos waren. Um IM-Neuwerbungen zu beschleunigen, verzichteten sie auf einen langwierigen »Vorlauf« und wählten – trotz anderslautenden Vorgaben – Kandidaten aus dem SED-nahen Milieu aus.411 Im Bereich des Außenhandels waren die Offiziere zudem bereit, auch bei harmlosen Hinweisen ohne dringenden Tatverdacht Personenüberprüfungen oder gar umfassende Überwachungsmaßnahmen einzuleiten.412 Und auch die Betonung der Offiziere, im Rahmen des »politisch-operativen Zusammenwirkens« an der Aufdeckung betrieblicher Missstände mitgewirkt zu haben, kann in einigen Fällen auf die Notwendigkeit einer internen Planerfüllung zurückgeführt werden.413 Dabei zeigten die Offiziere der Linie XVIII ein ausgeprägtes Interesse, bei ihren »operativen Maßnahmen« auch einen konkreten ökonomischen Effekt für die von ihnen überwachten Betriebe und Kombinate herauszustellen: Die Abteilung XVIII der Bezirksverwaltung Halle erklärte zum Beispiel in einer Übersicht aus dem Jahr 1985, dass in einer Bitterfelder Fabrik »durch IM-Einsatz« ein Anlagenimport für das Politbürovorhaben »Katalytische Hydrierung« unterbunden worden sei. Einsparung für das Kombinat: angeblich 2,8 Millionen VM. In demselben Bericht wird die »Verhinderung eines NSW-Exportausfalls im Kombinat Chemische Werke Buna durch Ersatzteilbeschaffung über IM« hervorgehoben. Finanzieller Gewinn für das Kombinat hier: 240 000 VM.414 Mit solchen Auflistungen von Valutabeträgen, die den Kombinaten durch »ope411  Vgl. ebenda, S. 122. 412  Größere Überwachungsvorgänge boten zudem die beste Möglichkeit, sich innerhalb der Diensteinheit zu profilieren. Für einen Aufstieg innerhalb des MfS war für die hauptamtlichen Mitarbeiter eine Mitarbeit an Operativen Personenkontrollen oder Operativen Vorgängen zwingend erforderlich. 413  Die Planlogik des MfS lässt sich nach Ansicht des Historikers Ralph Kaschka auch bei der Überwachung des Verkehrssektors der DDR feststellen. In seiner Studie über die Merkmale der Infrastrukturpolitik der SED am Beispiel der Deutschen Reichsbahn geht der Autor unter anderem auf die Neigung der Offiziere ein, ihren eigenen betrieblichen Einfluss in ihren internen Berichten überzubewerten. »Wie alle anderen gesellschaftlichen Bereiche in der DDR hatte der Geheimdienst Pläne zu erfüllen, was auch das Spionageorgan zu Manipulationen an den eigenen Ergebnissen verleiten konnte«, so Kaschka. »Die Planziele mussten erreicht und am besten deutlich überboten werden. Zusätzlich war die Staatssicherheit gegenüber der SED wahrscheinlich bestrebt, durch Erfolgsmeldungen den hohen Aufwand für den MfS-Apparat zu rechtfertigen und weiter beibehalten zu können. Bei all dem kann intendiert gewesen sein, die eigene Leistung zu überhöhen.« Vgl. Kaschka: Auf dem falschen Gleis, S. 315. 414  Vgl. Erich Reinl, Leiter der Abteilung XVIII: Ergebnisse der Unterstützung der Durchsetzung der ökonomischen Strategie der Partei durch den zielgerichteten Einsatz der spezifischen tschekistischen Kräfte, Mittel und Methoden vom 5.2.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 256, Bl. 73.

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ratives Handeln« angeblich ermöglicht oder erspart worden wären, dokumentierte die Abteilung XVIII ihre Relevanz für die Betriebe im Raum Halle – und das vor allem in ökonomischen und weniger in sicherheitspolitischen Kategorien. Mit welcher Methode die Offiziere diese volkswirtschaftlichen Effekte berechnet hatten und an welcher Stelle genau ein Beitrag des MfS realisiert worden war, lässt sich aus diesem Dokument allerdings nicht herauslesen. Auch hier muss wohl von Scheinhandeln auf dem Papier ausgegangen werden. In ihrem Bestreben, gegenüber der nächst höheren Ebene – in diesem Fall der Bezirksverwaltung in Halle oder der Hauptabteilung XVIII in Berlin – die »Produktivität« und Nützlichkeit ihres eigenen Bereichs darzulegen, ähnelten die Diensteinheiten der Linie XVIII den Produktionsbereichen der Betriebe. Auch in Bezug auf den Plandruck kann das MfS damit als integraler Bestandteil der Planwirtschaft beschrieben werden. Ganz so wie in der Industrie musste sich diese »Tonnenideologie« früher oder später auch bei der Geheimpolizei auf Kosten der Qualität auswirken. Zwar achteten die Offiziere darauf, möglichst viele Leistungen abzurechnen, welche Ergebnisse damit aber verbunden waren, ob die Plandisziplin der Betriebe auf diese Weise tatsächlich verbessert wurde oder eine Weiterentwicklung des geheimdienstlichen Instrumentariums erreicht werden konnte, blieb für sie erst einmal zweitrangig. Bereits im Jahr 1975 bemängelte Mielke auf einem zentralen Führungsseminar eine »ungesunde Wettbewerbsatmosphäre« im gesamten Ministerium zulasten der operativen Arbeit. Die meisten Diensteinheiten, so der Minister, würden ihre Planerfüllung »fast ausschließlich an der Realisierung von quantitativen Kennziffern« messen.415 Um den Hang der Offiziere zum Scheinaktivismus etwas auszubremsen und gleichzeitig eine wirkungsvolle politische Überwachung sicherzustellen, führten die Auswertungs- und Kontrollgruppen (AKG) der Bezirksverwaltungen in regelmäßigen Abständen sogenannte »Komplexkontrollen« durch.416 Dabei wurden Vorgänge, Referate oder ganze Kreis- und Objektdienststellen umfassend durchleuchtet. Ungeschönt listete der Abschlussbericht der AKG dann alle Schwächen der Überwachungsarbeit in der Region oder im Kombinat auf, ganz besonders den ineffektiven Einsatz von inoffiziellen Mitarbeitern, eine immer wiederkehrende Beschwerde dieser internen Plankontrolle. Im März 1980 kritisierte zum Beispiel die Bezirksverwaltung Halle nach einem Kontrollgang im Kombinat Bitterfeld, »dass eine bedeutende Anzahl von IM den Anforderungen nicht gerecht wurde« – »zu routinehaft«, so der Bericht der AKG, würde ihre Werbung ablaufen.417 Vor dem Hintergrund von stren415  Gieseke: Die Stasi, S. 122. 416  Vgl. Gilles; Hertle: Rolle des MfS, S. 188. 417  AKG der BV Halle: Bericht über die Ergebnisse der Nachkontrolle zur Führung und Leitung der politisch-operativen Arbeit vom 10.6.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna,

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geren Vorgaben der im Dezember 1979 erlassenen IM-Richtlinie Nr. 1/79 sah sich die Objektdienststelle Bitterfeld gezwungen, bis Ende Mai 1981 über 110 IM-Vorgänge einzustellen und zu archivieren.418 Drei Jahre später wiederholte die Kontrollgruppe ihre Kritik. Demnach führe die Bitterfelder Diensteinheit zwar 127 inoffizielle Mitarbeiter, mit 41 Prozent von ihnen würden aber keine regelmäßigen Treffen stattfinden, zu einem Fünftel des IM-Bestands gebe es überhaupt keinen Kontakt.419 Mit diesem Hinweis auf IM-Vorgänge als Karteileichen sprachen die Kontrolleure indirekt das bürokratische Planverhalten der Offiziere an. Vorgänge, so der unmissverständliche Vorwurf der AKG, würden aus reinem Selbstzweck eröffnet, um am Ende des Jahres einen möglichst großen mengenmäßigen Zuwachs vorweisen zu können. Als Werner Kirchner, der Leiter der Objektdienststelle Bitterfeld, bei einem weiteren Kontrollgang der Bezirksverwaltung im Jahr 1988 erneut auf dieses Grundproblem aufmerksam gemacht wurde, stellte er bei einer Dienstberatung selbstkritisch fest, dass die Referate seiner Diensteinheit eine »Bunkermentalität« entwickelt hätten. Gegenüber der Bezirksverwaltung, so Kirchner, würden die Offiziere einen »Abrechnungswettkampf« führen. Anstatt sich abzustimmen, »verzettele« sich jeder einzelne operative Mitarbeiter in immer neuen Vorgängen. »Die Qualität der operativen Prozesse«, so Kirchner, würde dadurch »weiter nachlassen«.420

2.6  Arbeitsmethode III: Die Überwachungsvorgänge des MfS Die Art und Weise, wie die Offiziere ihre Interaktionen mit betrieblichen Stellen in ihren Berichten präsentierten, hinterließ oft den Eindruck einer wirkungsvollen Kontrolle und Beeinflussung des betrieblichen Handelns. Scheinbar erfolgreich gelang es ihnen, neue inoffizielle Mitarbeiter zu rekrutieren, unnötige Importe zu verhindern oder Manipulationen aufzudecken. Die Schwächen des geheimpolizeilichen Handelns, das zeigen die kritischen Einschätzungen der Bezirksverwaltung, konnten trotzdem nicht vollständig verschleiert werden. Sowohl Scheinhandeln und bürokratische Standardabläufe, die durch den Plandruck zusätzlich verstärkt wurden, als auch schwer steuerbare Eigeninteressen der betrieblichen »Partner« blieben bis zuletzt allseits bekannte und kaum über-

Nr. 1785, Bl. 4 u. 7. 418  Vgl. ebenda, Bl. 9. 419  Vgl. AKG der BV Halle: Kontrollbericht zum Stand und zur Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung in den Objektdienststellen CKB vom 24.2.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1276, Bl. 10. 420  Siehe die selbstkritischen Anmerkungen von Kirchner als Reaktion auf die Komplexkontrolle: Protokoll zur durchgeführten Dienstversammlung vom 26.8.1988; ebenda, Bl. 72.

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windbare Barrieren für eine optimale geheimpolizeiliche Überwachung und Einflussnahme. In der Praxis blieb dem MfS nichts anderes übrig, als seine offiziellen und inoffiziellen Methoden der Kontrolle geschickt aufeinander abzustimmen und mit dem Einsatz »operativer Techniken«, also Foto-, Kamera- oder Abhörgeräten, zu ergänzen. Eine solche Bündelung aller nachrichtendienstlichen Instrumente zu umfassenden Überwachungsvorgängen geschah im Rahmen sogenannter Operativer Vorgänge und Operativer Personenkontrollen, der invasivsten Maßnahme des MfS gegenüber einzelnen Personen, wenn man von den sehr seltenen Inhaftierungen absieht. 2.6.1 Der Operative Vorgang Der Operative Vorgang – kurz: OV – stellte die höchste Stufe einer konspirativen Überwachung durch das MfS dar.421 Um ihn eröffnen zu können, mussten der vorgangsführenden Diensteinheit stichhaltige Hinweise auf eine verübte Straftat vorliegen.422 Jedem Überwachungsvorgang lag daher ein Strafrechtsparagraf zugrunde – bei den Operativen Vorgängen der Linie XVIII in der Regel Wirtschaftsstraftaten aus dem 5. Kapitel des DDR-Strafgesetzbuches, wie die »verbrecherische Beschädigung sozialistischen Eigentums« (§ 164), »Vertrauensmissbrauch« (§ 165) oder »spekulative Warenhortung« (§ 173). Zusätzlich griffen die Offiziere auf die Straftatbestände des 2. Kapitels des StGB zurück, in dem »Verbrechen gegen die Deutsche Demokratische Republik« aufgelistet waren, darunter »Spionage« (§ 97), »staatsfeindliche Verbindungen« (§ 100), »Diversion« (§ 103) oder »Sabotage« (§ 104). Auch der Vorwurf der Brandstiftung oder der fahrlässigen Verursachung eines Brandes nach § 185 bzw. § 188 aus dem 7. Kapitel (»Straftaten gegen die allgemeine Sicherheit«) sowie des ungesetzlichen Grenzübertritts (§ 213) aus dem 8. Kapitel des StGB (»Straftaten gegen die staatliche Ordnung«) wurden häufig formuliert. Der Operative Vorgang selbst kann als eine geheime Vorermittlung für ein späteres förmliches strafrechtliches Ermittlungsverfahren beschrieben werden. Dafür suchte die vorgangsführende Dienststelle zunächst mit geheimpolizeilichen Methoden inoffizielle Beweise für die vermutete Straftat, um sie nach interner Prüfung gegebenenfalls durch das Untersuchungsorgan des MfS – der Abteilung IX der Bezirksverwaltung – in offiziell für die Justizorgane verwendbare Beweise umzuwandeln. Diese Beweiserhebung führte aus Sicht der vorgangsführenden Offiziere nicht immer zum Erfolg, bedeutete aber in jeder Form, ob mit oder ohne anschließendem Ermittlungsverfahren, eine umfassende Über421  Vgl. Gill; Schröter: Das MfS, S. 131. 422  Vgl. Lexikoneintrag »Operativer Vorgang«. In: MfS-Lexikon, S. 255.

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wachung und nicht selten bereits eine Disziplinierung und Bestrafung der überwachten Person. Damit wurde eine Verfehlung oftmals außerjustiziell geahndet – und das in der Regel ohne den Betroffenen über die genauen Hintergründe der Sanktion zu informieren. Ein Operativer Vorgang konnte auch dann eingeleitet werden, wenn eine Straftat noch gar nicht vorlag, nach Einschätzung des MfS aber unmittelbar bevorstand – der OV diente dann als Maßnahme der Prävention, um verdächtigte »feindlich-negative Kräfte« zu isolieren und zu »entschärfen«.423 War ein Delikt aus Sicht des MfS zweifelsfrei bewiesen, musste das nicht unbedingt zu einem förmlichen Ermittlungsverfahren führen, die Frage der Strafverfolgung blieb bis zuletzt eine Frage der politischen Abwägung innerhalb des MfS und der SED.424 In Abstimmung mit der SED-Industriekreisleitung und der Abteilung IX der Bezirksverwaltung Halle des MfS verzichteten die Objektdienststellen der Chemiekombinate nicht selten auf die Einschaltung der Justiz, um eine Person unterhalb der Schwelle eines Strafprozesses – und damit abseits jeder öffentlichen Wahrnehmung – »zu bearbeiten«. Der OV bot damit die Möglichkeit, Repression jenseits strafrechtlicher Normen auszuüben.425 Die zunehmende Verrechtlichung des behördlichen Handelns seit den 1970er-Jahren sollte auf dieser Weise umgangen werden. Nach Walter Süß kann in der verdeckten Form der Bestrafung auch eine Anpassung des geheimpolizeilichen Handelns an die neuen Bedingungen der internationalen Anerkennung und Verflechtung der DDR mit Beginn der Ära Honecker gesehen werden. Mithilfe der Methode »OV«, so Süß, sei es dem MfS möglich gewesen, seine Überwachungsagenda fortzusetzen, ohne die neu gewonnene Reputation des Staates zu gefährden.426 Vor allem beim Vorgehen gegen die politische Opposition sollte es ein offizielles Ermittlungsverfahren nur noch in Ausnahmefällen geben, als besonders strenge Form der Sanktion.427 In den Kombinaten der Chemieindustrie eröffneten die Offiziere der Objektdienststelle Operative Vorgänge hauptsächlich gegen staatliche Leiter, Geheimnisträger und Außenhändler – also gegen jene Personenkreise, die auch bei der IM-Werbung bevorzugt wurden. In der Regel lief eine Überwachungsmaßnahme zwischen einem und fünf Jahren. Auf der Basis eines detaillierten »Maßnahmeplans« kamen dabei alle technischen und sozialen Instrumente der Über423  Über das MfS-Ideal der präventiven Sicherheit siehe Henke: Spontanität, S. 301. 424  Vgl. Vollnhals: Die Macht ist das Allererste, S. 269. 425  Vgl. ebenda, S. 246. 426  Vgl. Süß: Verhältnis SED und Staatssicherheit, S. 30. 427  Vgl. Vollnhals: Die Macht ist das Allererste, S.  266. Bei den in der ökonomischen Sphäre häufig auftretenden Landesverratsdelikten, dem Straftatbestand der »Republikflucht« und gegenüber Ausreisewilligen war der Operative Vorgang auch in den 1980er-Jahren als konspirative Vorermittlung für ein anschließendes offizielles strafrechtliches Ermittlungsverfahren gedacht.

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wachung zum Einsatz. Als normative Grundlage diente die Richtlinie 1/76 des Ministers für Staatssicherheit, in der die bis dahin übliche Praxis geheimpolizeilicher Überwachung systematisch zusammengefasst wurde.428 Als Beispiel für einen »Standard-OV« im Bereich der Chemiekombinate kann die Überwachung des langjährigen Wirtschaftsfunktionärs Werner Marlow 429 angeführt werden, der in den Buna-Werken die seit 1985 laufende Montage der Neuanlage für den Kunststoff Niederdruckpolyethylen als Aufbauleiter beaufsichtigte. In dieser Funktion wurde er auch als inoffizieller Mitarbeiter für das MfS verpflichtet. Nachdem sich Marlow auf seinen Dienstreisen zum Anlagenanbieter Linde in München wiederholt von der Verhandlungsdelegation entfernt hatte, leitete die Objektdienststelle Buna im November 1985 wegen Verdachts auf »Landesverräterische Agententätigkeit« (§ 98 StGB) den Operativen Vorgang »Merkur« ein.430 Zwar bescheinigte der für den Vorgang verantwortliche Oberstleutnant Klaus-Dieter Franz dem Außenhändler »große Expertise«, »geschicktes Verhandeln« und »viel Engagement bei allen übertragenen Aufgaben«.431 Trotzdem ließ er gegen Marlow über drei Jahre, bis zum Januar 1988, das gesamte Instrumentarium des MfS zum Einsatz kommen: Seine Privatwohnung und sein Büro in Buna wurden konspirativ durchsucht, das Diensttelefon abgehört und Dossiers zu Familienangehörigen und Verwandten angefertigt. In seinem Kollegenkreis erhielten fünf inoffizielle Mitarbeiter den Auftrag, über Marlow zu berichten.432 Ein Blick auf den »Maßnahmeplan« des OV »Merkur« verdeutlicht dabei, wie breit angelegt die Ermittlungen bei einem solchen Vorgang sein konnten. Der im Einleitungsbericht formulierte konkrete Verdachtsfall – bei Marlow eine mögliche Zuarbeit für den Bundesnachrichtendienst – stellte dabei oft nur einen Aspekt der Untersuchung dar. Lagen bei einem einzelnen Kader Hinweise auf mögliche Rechtsverletzungen vor, erkannte die Objektdienststelle vielmehr die Chance, gleich gegenüber einem ganzen Personenkreis oder einem größeren Investitionsprojekt umfassende Recherchen einzuleiten. Ein Großteil der Ermittlungen betraf damit sowohl ökonomische als auch private Details, die mit dem eingangs formulierten Straftatbestand kaum noch etwas zu tun hatten. In manchen Abschlussberichten fand der dem OV ursprünglich zugrunde liegende Paragraf sogar überhaupt keine Erwähnung mehr. Im Falle Marlow nahm das MfS zum Beispiel das Gesamtprojekt Niederdruckpolyethylen-Anlage ins Visier. Bei diesem Investitionsvorhaben der Buna-Werke mit einem Finanzvolumen von über 320 Millionen Mark tauch428  Vgl. Richtlinie 1/76, abgedruckt bei Gill; Schröter: Das MfS, S. 346–402. 429  Name geändert. 430  Vgl. OD Buna: Eröffnungsbericht OV »Merkur« vom 21.11.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 456/89, Bl. 15. 431  OD Buna: Sachstandsbericht vom 14.10.1986; ebenda, Bl. 101. 432  Vgl. OD Buna: Operativplan vom 22.11.1985; ebenda, Bl. 15.

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ten während der Montage immer neue Mängel bei den gelieferten Bauteilen auf.433 Die Objektdienststelle reagierte darauf nicht nur mit der Einleitung des OV »Merkur«, sondern mit zwei weiteren Überwachungsvorgängen – dem OV »Manta« gegen den Baustellenleiter und den OV »Vertrag« gegen den Prozesskoordinator der Linde AG.434 Im Rahmen dieser drei Ermittlungen trugen die Offiziere alle erdenklichen Aspekte zu diesem Investitionsprojekt zusammen – von den beteiligten Unternehmen, über die technischen Details der Anlagen und der geplanten Refinanzierung bis zu den im Kombinat involvierten Kadern.435 In diesen langwierigen und umfassenden Recherchen kam das Streben der Staatssicherheit nach präventiver Sicherheit deutlich zum Ausdruck: Jeder unerwartete Zwischenfall sollte bei einem solchen Projekt ausgeschlossen, jedes mögliche Risiko im Voraus erkannt und beseitigt werden. Nur durch eine umfassende Aufklärung aller ökonomischen und technischen Sachfragen und aller beteiligten Personen mit ihrem jeweiligen privaten Umfeld, so die Zielsetzung der MfS-Offiziere, sollte das Ideal der absolut berechenbaren Wirtschaftsplanung wenigstens annähernd realisiert werden. Für die ursprünglich vermutete Agententätigkeit Marlows konnte am Ende allerdings kein überzeugender Beweis gefunden werden. »Dass die im OV bearbeitete Person keinerlei Kenntnisse von den Aktivitäten des BND hatte und zu keinem Zeitpunkt eine Kontaktierung durch den BND erfolgte«, musste ein Vertreter der Hauptabteilung IX nach einem abschließenden »operativen Vorbeugegespräch« mit dem Baustellenleiter feststellen.436 Die Hauptabteilung XVIII forderte die Objektdienststelle daraufhin ausdrücklich auf, den Vorgang einzustellen und die inoffizielle Zusammenarbeit mit dem staatlichen Leiter weiterzuführen und sogar noch zu vertiefen – eine Vorgabe, die von den Offizieren im Kombinat auch befolgt wurde. Eine solche Einstellung der Überwachungsmaßnahmen ganz ohne Folgen war eine mögliche Variante, einen OV zu beenden. Auch längere disziplinierende Aussprachen in den Räumen der Objektdienststelle waren üblich. Manchmal wurden diese »Erziehungsmaßnahmen« auch auf den Betrieb übertragen – dann folgte ein strenger Verweis durch den Vorgesetzten oder eine Veränderung 433  Vgl. OD Buna: Lageeinschätzung zu erarbeiteten politisch-operativen Ersthinweisen zum kapitalistischen Geschäftsgebahren der BRD-Firma Linde AG vom 15.11.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 456/89, Bl. 21. 434  Vgl. OD Buna: Information zu wesentlichen Ergebnissen der vorgangsmäßigen Sicherung des Investobjektes NDPE-Erweiterung vom 13.6.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1035/86, Bd. 2, Bl. 262; vgl. OD Buna: Einleitungsbericht vom 30.8.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 198/89, Bd. 1, Bl. 9. 435 Vgl. Materialsammlung der OD Buna zum Kompensationsvorhaben »Erweiterung Niederdruckpolyethylenproduktion«, 1983–1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 256, Bl. 9, 171–179 sowie 254–258. 436  OD Buna: Aktenvermerk zum OV »Merkur« vom 13.1.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. AOPK 456/89, Bd. 2, Bl. 173.

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der Prämien, häufig verbunden mit einer öffentlichen Aussprache über das behauptete Vergehen innerhalb des Arbeitskollektivs des Betroffenen.437 Manchmal führte ein Operativer Vorgang auch zu einer inoffiziellen Zusammenarbeit »aus Wiedergutmachung« – wie oben bereits erwähnt eine der wenigen IM-Werbungen unter Zwang. Andere OV endeten mit einer Versetzung, einer fristlosen Entlassung oder gar mit einer Inhaftierung des Überwachten – einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Schwere des Delikts, der Stichhaltigkeit der Beweise und der Abschlussform des Überwachungsvorgangs lässt sich nur schwer erkennen.438 »Ein bespitzelter Bürger wurde strafrechtlich verfolgt, ein anderer unter Druck als IM geworben, ein dritter mit subtilen Zersetzungsmaßnahmen ›bearbeitet‹, bei einem vierten gar nichts unternommen«, so das Fazit von Clemens Vollnhals.439 Entschieden wurde hauptsächlich nach »operativer« Nützlichkeit. Aber auch die Planungen der SED, der Rückhalt und die Relevanz des Betroffenen im Werk und die Abwägung des politischen Risikos beeinflussten den Ausgang dieser Form der Überwachung. 2.6.2 Die Operative Personenkontrolle Einen Operativen Vorgang leitete das MfS immer dann ein, wenn es davon überzeugt war, dass eine Straftat mit einer bestimmten politischen und ökonomischen Relevanz begangen wurde oder unmittelbar bevorstand. Lagen hingegen nur erste Anhaltspunkte einer möglichen Rechtsverletzung vor, wurde zunächst eine umfassende Personenüberprüfung veranlasst. Diese sogenannte Operative Personenkontrolle (OPK) stand in der Hierarchie der Überwachungsprogramme des MfS unterhalb des OV. Sie betraf im Kombinat meist Führungskräfte, Geheimnisträger und Reisekader und sollte klären, ob bei ihnen tatsächlich »feindliche« Einstellungen, auffällige Verhaltensweisen oder gar rechtliche Verstöße entdeckt werden konnten: Gab es ein Abweichen von der Reisedirektive? Flossen vertrauliche Informationen an westliche Firmen ab? 437  Vgl. Rechtsabteilung des Kombinats Leuna: Stellungnahme für den Generaldirektor Müller über die Voraussetzungen einer fristlosen Entlassung vom 6.7.1983; LHASA, MER, I 525, Nr. 17238, n. p. 438  Völlig freie Hand, eine Abschlussvariante für einen Operativen Vorgang auszuwählen, besaßen die Offiziere bei näherem Hinsehen allerdings nicht. Vor allem beim Weg über die Justiz mussten einige rechtliche Hürden genommen werden. Beabsichtigte die vorgangsführende Diensteinheit zum Beispiel, gegen eine überwachte Person ein offizielles strafrechtliches Ermittlungsverfahren über die Staatsanwaltschaft einleiten zu lassen, sah sie sich gezwungen, die behaupteten Gesetzesverstöße auch überzeugend zu beweisen. An dieser Stelle wird doch ein Zusammenhang zwischen der Schwere der Tat und der Variante des Vorgangsabschlusses sichtbar. Die eingeschränkte Sanktionsfähigkeit des MfS durch rechtliche Barrieren wird im 3. Kapitel, Abschnitt 3.5 anhand eines Fallbeispiels aus der Farbenfabrik Wolfen erörtert. 439  Vollnhals: Die Macht ist das Allererste, S. 247.

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Nahm ein staatlicher Leiter im Rahmen von Vertragsverhandlungen bestimmte Begünstigungen an?440 Die Prüfung solcher Anfangsverdachte war aber nicht das einzige mögliche Ziel einer Operativen Personenkontrolle. Häufig beschäftigten sich die Offiziere im Rahmen einer OPK mit größeren politischen oder ökonomischen Sachverhalten, die nicht direkt mit dem Fehlverhalten der überwachten Person im Zusammenhang standen: So sollten zum Beispiel Exporte abgesichert, Anlagen stabilisiert oder die Ursachen für Havarien untersucht werden. Beide Vorgangsarten, Operative Vorgänge und Operative Personenkontrollen, wollten die Offiziere also auch als einen Beitrag für eine bessere Funktionsfähigkeit des Kombinats verstanden wissen und setzten dafür das gesamte Repertoire geheimpolizeilicher Überwachungsmaßnahmen ein. Auch wenn eine OPK dabei weniger intensiv ausfiel als ein OV und weniger Zeit in Anspruch nahm, meist einige Monate, in Ausnahmefällen bis zu einem Jahr, konnten die Folgen dieser Überwachungsvariante für die Betroffenen ähnlich verhängnisvoll sein. So verloren zum Beispiel Außenhändler nach solchen Überprüfungen nicht selten ihre Berechtigung, ins westliche Ausland zu reisen – eine Einschränkung, die ihre beruflichen Ziele und Aufgaben grundlegend veränderte. Sobald im Rahmen der Ermittlungen weitere Auffälligkeiten sichtbar wurden, was bei der stets misstrauischen Beobachtung der Kader sehr wahrscheinlich war, konnte eine OPK auch zu einem OV »hochqualifiziert« werden. Die Personenkontrolle stellte dann eine Vorstufe zu weit umfassenderen Überwachungsmaßnahmen dar. Eine »Rückregistrierung« war aber ebenfalls möglich – bei ausbleibenden Beweisen wurde ein OV dann zu einer OPK zurückgestuft.441 Im Jahr 1984 führten die Offiziere der Objektdienststelle Leuna 8 OV und 35 OPK.442 In Bitterfeld liefen im gleichen Jahr 8 OV und 17 OPK.443 Die Objektdienststelle Buna zählte wiederum im Jahr 1989 11 OV und 30 OPK.444 Wie bereits bei der Einführung des Schwerpunktprinzips erwähnt, richteten die Offiziere der Objektdienststellen ihre geheimpolizeiliche Überwachung damit stark konzentriert auf einen sehr kleinen Personenkreis in ausgewählten Di440 Vgl. Lexikoneintrag »Operative Personenkontrolle«. In: MfS-Lexikon, S.  253. Vgl. ebenso Gill; Schröter: Das MfS, S. 127. 441  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Herbert Flegel, ehemaliger hauptamtlicher Mitarbeiter der Operativgruppe im Synthesewerk Schwarzheide, zuständig für die Überwachung der Forschungsabteilung, am 28.3.2014. 442  Vgl. OD Leuna: Einschätzung der politisch-operativen Lage in Vorbereitung der Planung 1986 vom 15.10.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 226, Bl. 92. 443  Vgl. AKG der BV Halle: Kontrollbericht zum Stand und zur Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung in den Objektdienststellen CKB vom 24.2.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1276, Bl. 16. 444  Vgl. AKG der BV Halle: Bericht über die Nachkontrolle in der OD Buna zum Stand und zur Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung vom 22.8.1989; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 1785, Bl. 40.

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rektionen und Abteilungen aus. Während die Leuna-Werke zum Beispiel Mitte der 1980er-Jahre gut 30 000 Beschäftigte zählten, waren nur 43 von ihnen Gegenstand eines konspirativen Überwachungsvorgangs. Von einer massenweisen und flächendeckenden »Bearbeitung« der Werksangehörigen mit geheimpolizeilichen Instrumenten kann damit keine Rede sein. Dass eine OPK auch Ausgangspunkt für eine IM-Werbung sein konnte, zeigt die Überprüfung eines Mitglieds der Aufbauleitung für das oben beschriebene Projekt der Niederdruckpolyethylen-Anlage in Buna, einem engagierten Reisekader im Team von Werner Marlow. Die Objektdienststelle beobachtete bei dieser Person ein großes Interesse an westlichen Konsumgütern und erkannte darin schnell sogenannte »feindbegünstigende Verhaltensweisen«. Der Reisekader bemühe sich gezielt, von seinen Verhandlungspartnern zum Abendessen eingeladen zu werden, so der Einleitungsbericht der OPK. Mit den dadurch eingesparten Reisezahlungsmitteln kaufe er »Uhrenradios« und »Süßwaren«. Ein solches Verhalten, so die Objektdienststelle, provoziere »Missbrauchshandlungen« des »Gegners«.445 Die Folge war die Einleitung der Überwachungsmaßnahme »OPK«, die nach Ansicht der Offiziere nicht nur der »Sicherung« des Kaders, sondern zugleich der »Sicherung« des gesamten Anlagenimports diente. Allerdings musste die OD nach zweijähriger Beobachtung feststellen, dass der Reisekader die Verhandlungsdirektiven »absolut verlässlich« eingehalten hatte, für das Projekt NDPE stets spezielle Kenntnisse beisteuerte und sogar eine »positiven Einstellung zum Staat« zeigte.446 Daraufhin beschloss die Objektdienststelle, den Reisekader als inoffiziellen Mitarbeiter für die Aufklärung westlicher Firmen zu werben. Die überraschte Reaktion des Außenhändlers beschrieb der für den Vorgang verantwortliche Oberstleutnant Franz in seinem Bericht über das »Kontaktgespräch«: Er konnte nicht verstehen, dass sich das MfS um seine Mithilfe bemüht, da er kein Mitglied der SED sei, sondern parteilos.  Daraufhin wurde ihm verdeutlicht, dass sich das MfS nicht nur auf Informationen von Mitgliedern der SED stützt, sondern auch auf die von Bürgern anderer Glaubensrichtungen [sic!]. In diesem Zusammenhang wurde ihm erklärt, dass eine Zusammenarbeit mit dem MfS ein aktiver Beitrag für die Erhaltung des Friedens sei.

Umgehend, so die Darstellung des Offiziers, erklärte der IM-Kandidat daraufhin seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit – »mit allen Konsequenzen, die daraus entstehen«.447 445 OD Buna: Einleitungsbericht vom 3.1.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 121/86, Bl. 71. 446  OD Buna: Vorschlag zur Werbung vom 9.9.1987; ebenda, Bl. 121. 447  OD Buna: Bericht über das zweite Kontaktgespräch mit dem IM-Kandidaten »Gulden« vom 21.8.1987; ebenda, Bl. 118.

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Zusammenfassung In diesem einführenden Kapitel wurde das grundsätzliche Verhältnis der Staatssicherheit zur Planwirtschaft thematisiert: das Selbstverständnis, die Aufgaben und Funktionen, die Sichtbarkeit und die wichtigsten Instrumente der Geheimpolizei innerhalb der vielschichtigen und akteursreichen DDR-Wirtschaftsordnung. Vorangestellt wurde dabei die essenzielle Bestimmung dieser Institution, mit polizeilichen Befugnissen und geheimdienstlichen Methoden die Projekte der SED – in diesem Fall: ihr Kernvorhaben einer langfristig geplanten und zentral organisierten Verwaltungswirtschaft – umfassend abzusichern und ebenso mitzugestalten. Ein Blick auf die praktische Umsetzung dieses Generalauftrags machte deutlich, dass das MfS in den Betrieben zahlreiche Aufgaben ausübte, die weit über seine geheimpolizeilichen und sicherheitspolitischen Hauptfunktionen hinausgingen: Ob Kadererziehung, technische Begutachtungen, die Erstellung von Marktstudien oder betriebswirtschaftliche Beratungen – das MfS wartete mit einem breiten Spektrum an sach- und personenbezogenen Tätigkeiten auf, sodass es auch als genuines Element der Planwirtschaft betrachtet werden kann. Dass das MfS zur Wirtschaftsordnung dazugehörte, zeigt sich aber nicht nur bei seinen ökonomischen Kontrollaufgaben, sondern auch bei einem spezifisch planwirtschaftlichen Arbeitsstil der Offiziere: Sie standen unter einem permanenten Plandruck, strebten nach immer neuen »Erzeugnissen« wie IM- und Überwachungsvorgängen, vernachlässigten dabei die Qualität dieses »Outputs«, schlugen immer gleiche Standardabläufe ein und hegten den Wunsch, politische und technische Sicherheit möglichst langfristig, planmäßig und präventiv zu organisieren. Mit dieser bürokratisch-planwirtschaftlichen Verhaltensweise waren die Offiziere den Funktionären sozialistischer Produktionsbetriebe nicht unähnlich. Bürokratisch-planwirtschaftlich mutete auch das Bestreben der Offiziere an, in ihren internen Berichten die eigenen »Leistungen« bis ins Detail herauszustellen. Übergeordnete SED- und MfS-Organe sollten genau wissen, dass die operativen Mitarbeiter vor Ort eine Fülle von Aufgaben erledigten, in allen Teilen des Betriebs präsent waren und verschiedene Maßnahmen für eine reibungslose Produktion initiierten. Einige Offiziere ließen es sich dabei nicht nehmen, die alltägliche Routinearbeit betrieblicher Organe unter Verweis auf einen »IM in Schlüsselposition« einfach als Eigenleistung abzurechnen. Die in den Berichten der Objektdienststellen dargelegten Aktivitäten – wie zum Beispiel die Einsparung wertvoller Valutabeträge für einen Import oder die Aufdeckung einer finanziellen Unregelmäßigkeit – müssen daher kritisch hinterfragt werden, da sie sich bei näherer Betrachtung nicht selten als bloßes Scheinhandeln herausstellen.

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Damit das MfS überhaupt die verschiedenen Schauplätze und Interaktionsfelder der Planwirtschaft erfassen und seine Aufgaben umsetzen konnte, bildete es entlang des politischen und wirtschaftlichen Aufbaus der DDR einen dreigliedrigen Hierarchiestrang für den Überwachungsbereich Wirtschaft aus – die sogenannte »Linie XVIII«. Jeder Ebene dieser Linie wurden dabei bestimmte Organe der Wirtschaftsverwaltung zugeordnet. Für deren Überwachung legten die Offiziere regionale, funktionsbezogene und thematische Schwerpunkte fest, wie zum Beispiel die Chemiekombinate im Bezirk Halle, deren Führungskräfte und Außenhändler sowie die Themenbereiche Außenhandel, Forschung und Anlagensicherheit. In Bezug auf die Chemiebranche institutionalisierte sich diese Prioritätensetzung wiederum in der Objektdienststelle als besondere Struktureinheit und Basis der Linie XVIII. Diese Diensteinheit war in die Sicherheitsarchitektur der drei untersuchten Chemiekombinate fest integriert. So bemühten sich die MfS-Offiziere vor Ort stets um eine kollegiale Zusammenarbeit mit den einflussreichsten Fachdirektoren, Abteilungsleitern und Stabsorganen, allen voran natürlich mit dem Generaldirektor an der Spitze. Für die Verwirklichung der »operativen« Ziele war dieses offene, kooperative Auftreten essenziell, da die eigentliche Arbeit der Geheimpolizei, also das Ermitteln, Analysieren, Beobachten oder Bestrafen, häufig nur durch diese staatlichen Leiter verwirklicht werden konnte. Mitnichten glich das MfS damit einem autonomen Organ, das im Verborgenen und auf sich alleingestellt Wissen akquirierte und Personen »bearbeitete«. Vielmehr trat es als selbstverständlicher und für alle sichtbarer Akteur im Kombinat auf, der mit seinen »Partnern« intensiv kooperierte und auf diese Weise in ihre Eigenheiten, Interessenlagen und Konflikte hineingezogen wurde. Einmal mehr wird mit dieser interagierenden Arbeitsweise die Einbindung des MfS in die Planwirtschaft deutlich, genauer: ihre Einbindung in das ausgebaute Kontroll- und Sanktionsregime im Werk als eines ihrer entscheidenden Bestandteile. Diese Einbettung sticht noch einmal prägnanter hervor, wenn man auf die sichtbare Kooperation mit den staatlichen Leitern die gleichzeitig laufenden unsichtbaren, aber dafür umso intensiveren inoffiziellen Beziehungen legt. In diesen bot sich der jeweilige Führungsoffizier als Kümmerer und Zuhörer an: Frust mit den Vorgesetzten, Angst vor möglichem Jobverlust, Aversionen gegenüber Kollegen – alles Verschwiegene und Tabuisierte sollte hier zur Sprache kommen, der jeweilige Kader dabei in einer Atmosphäre der Vertraulichkeit und Konspiration auch für heikle Themen geöffnet werden. Verbunden waren diese Begegnungen mit zahlreichen Aufträgen für bevorstehende Dienstreisen, Verhandlungen oder Messen, darunter detaillierte Fragen zu technischen und ökonomischen Entscheidungen der Kollegen und Geschäftspartner und zu ihrem Charakter und Auftreten – Fragen, bei denen ein enormes Interesse der MfS-Offiziere auch für rein fachliche Aspekte zum Tragen kam.

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Mit dieser Vereinnahmung staatlicher Leiter für die Ziele ihrer im Geheimen ablaufenden Ermittlungen belastete die Objektdienststelle die Arbeit vor allem von jenen IM-verpflichteten Spitzenfunktionären erheblich, die mit westlichen Unternehmen in Verbindung standen. An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass das MfS zwar Aufgaben und Verhaltensweisen der Planwirtschaft übernahm, damit aber nicht zwangsläufig deren Funktionsweise verbesserte, sondern im Rückblick eher ein hinderliches Wirken offenbarte. Die betroffenen IM selbst empfanden ihre geheimen Kontakte zum MfS jedoch nicht immer als Beeinträchtigung – im Gegenteil. Nicht wenige erkannten in ihrem exklusiven Kontakt zu einem Offizier der Geheimpolizei vielmehr die Chance, dem Staat einen patriotischen Dienst zu erweisen, ihrem Arbeitsbereich praktische Hilfe zukommen zu lassen, die eigene Position im Werk abzusichern, Missstände anzusprechen oder sich einer besonderen, wenn nicht gar machtvollen Rolle innerhalb des Betriebs zu vergewissern. Vor allem leitende Funktionäre und Mitglieder des Reisekaderstamms nahmen eine vertrauliche Zusammenarbeit mit einem MfS-Offizier als normalen Bestandteil ihrer beruflichen Pflichten wahr. Das MfS konnte sein Netzwerk aus geheimen Informanten auf ganz unterschiedlichen Motivationen aufbauen. Dabei versuchten die Führungsoffiziere stets, ihren inoffiziellen Mitarbeitern die Dringlichkeit und Nützlichkeit ihrer Unterstützung zu erläutern und ein Gefühl der Wertschätzung und des persönlichen Gewinns zu vermitteln. Der eigentliche Grund für die bevorzugte Werbung von Kadern in Leitungsfunktionen stand allerdings im Kontrast zu all diesen Erwartungen und Suggestionen. Ausschlaggebend war vielmehr ihre Disziplinierung und Überwachung. Die Vorgangskategorie »IM in Schlüsselposition« glich weniger einer privilegierten Beziehung, als vielmehr einer auf Dauer gestellten Operativen Personenkontrolle. Überwachung und Unterstützung gingen hier ineinander über. Ob eine Führungskraft in erster Linie als Begünstigter oder Überwachter agierte, lässt sich im Rückblick nur schwer beurteilen. Fest steht nur eins: Das Misstrauen der Offiziere war gerade gegenüber ihren inoffiziellen Mitarbeitern stark ausgeprägt, ihre als besonders sicher geglaubte Position im Werk damit in Wahrheit am meisten gefährdet. Mit ihrer Fixierung auf Spitzenkader reagierten die Offiziere der Linie XVIII – halb bewusst, halb unbewusst – auf eine charakteristische Risikostruktur innerhalb der Planwirtschaft, nämlich der erstaunlichen Häufung von Kompetenzen und Verantwortung für ganze Produktionslinien bei einem verhältnismäßig kleinen Kreis von Spitzenfunktionären. Ursache hierfür war ein industrieller Konzentrationsprozess, mit dem Arbeitsteilung, Spezialisierung und konkurrierende Produktangebote seit den 1950er-Jahren schrittweise zurückgefahren wurden. Als Folge bestand die DDR-Wirtschaft bereits in den 1970er-Jahren aus zahlreichen »Alleinerzeugern«, die in der Theorie zwar weitgehend autonom funktionieren sollten, sich in der Praxis aber als höchst störanfällig erwiesen. So

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konnten Fehlentscheidungen einzelner Kader an herausgehobenen Stellen leicht zu Kettenreaktionen zwischen den Kombinaten führen, mit Auswirkungen weit über die DDR-Wirtschaft hinaus. Indem solche funktional bedeutenden Leiter in den Fokus der Überwachung gerückt wurden, glaubten die Vertreter der Linie XVIII, das strukturell bedingte Grundrisiko der Wirtschaftsordnung wenigstens ansatzweise unter Kontrolle halten zu können. Eine herausgehobene Rolle bei der Überwachung dieser Führungskräfte spielte dabei die Inspektion des Generaldirektors, eigentlich ein Stabsorgan der Kombinatsleitung, dessen Leiter tatsächlich aber in seiner geheimpolizeilichen Funktion als »Sicherheitsbeauftragter« ein Instrument des MfS war. Indem dieser sämtliche Kontrollgremien und Inspektionen durch seinen Vorsitz im Sicherheitsaktiv anleitete, stand das MfS faktisch an der Spitze des kombinatseigenen Sicherheitsregimes. Damit beschränkte sich die institutionelle Präsenz der Geheimpolizei im Werk nicht auf die Objektdienststelle, sondern umfasste andere wichtige Stabsorgane, wie eben die Sicherheitsinspektion, aber auch die Abteilung für Auslandsdienstreisen oder die Stabsstelle für Geheimnisschutz. Doch obwohl dem MfS diese zentralen Instrumente in der Kombinatsführung zur Verfügung standen, veranschaulichte gerade die praktische Arbeit des Sicherheitsbeauftragten, wie schnell das MfS trotzdem an seine Grenzen gelangte. Schnell verlor die delegierende, indirekte und konspirative Arbeitsmethode der Offiziere ihre Wirkung, sobald die Bereitschaft zur Kooperation bei den staatlichen Leitern, allen voran beim Generaldirektor, ausblieb. Da das MfS gegenüber den Wirtschaftsfunktionären keine Weisungsbefugnis besaß und aus methodischen, rechtlichen und fachlichen Gründen einen direkten Eingriff in die innerbetrieblichen Abläufe in der Regel vermied, war es sehr darauf bedacht, seine eigenen Ziele, wie etwa die Versetzung eines Kaders, die Veranlassung von Disziplinarmaßnahmen oder die Einhaltung von Werksvorschriften, mit einer Mischung aus Überzeugung und Ermahnung in offiziellen und inoffiziellen Gesprächen zu erreichen.448 Für diese Arbeitsweise waren vertrauensvolle Kontakte eine entscheidende Voraussetzung. Die Distanz der staatlichen Leiter gegenüber dem Sicherheitsbeauftragten und die häufige Kritik der Bezirksverwaltung an der Qualität des IM-Bestands im Kombinat zeigt, dass diese Arbeitsgrundlage nicht immer gegeben war. Trotz der beschriebenen Schwächen der operativen Arbeitsmethoden des MfS wies der Überwachungsbereich »Volkswirtschaft« aber auch einige Merkmale auf, die eine geheimpolizeiliche Durchdringung im Vergleich zu anderen Mi448  Das fachliche und disziplinarische Weisungsrecht lag beim Vorgesetzten des jeweiligen Beschäftigten. Allerdings war es dem MfS im Betrieb möglich, auf das gerichtliche Instrument einer Auflage zurückzugreifen, um bestimmte Tätigkeiten oder Verhaltensweisen anzuordnen oder zu unterbinden. Ein Beispiel für das Arbeiten mit Auflagen wird im Kapitel 5, Abschnitt 5.7 ausgeführt.

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lieus und Politikfeldern erleichterte: Zum einen verfügten die Kombinate und Betriebe über eine weitgehend feste Personalstruktur innerhalb eines klar umgrenzten Territoriums. Alle Akteure und Abläufe waren hier an einem Ort konzentriert und mit einer Diensteinheit, wie etwa einer Objektdienststelle oder einer Operativgruppe, gut zu erfassen. Welche Akteure dabei besonders relevant waren, ergab sich durch den hierarchischen Aufbau der Kombinate. Auf allen Ebenen traf das MfS auf staatliche Leiter mit eindeutig definierten Zuständigkeiten und Unterstellungsverhältnissen, deren Verpflichtung als »IM in Schlüsselpositionen« die zielgenaue Überwachung ganzer Direktionen und Abteilungen sowie die Kommunikation zwischen ihnen ermöglichte. Auch die allgemeine Institutionenvielfalt der Planwirtschaft, allen voran die große Anzahl an Kontrollinspektionen in den Kombinaten, spielte dem MfS in die Hände: Die interagierende und delegierende Arbeitsmethode konnte hier bestens angewandt und der eigene Aktionsradius durch ein Einklinken in das dichte Kontrollregime des Kombinats spürbar erweitert werden. Darüber hinaus stellte das Kombinat eine streng regulierte Sicherheitsordnung dar, in der Regelverletzungen durch die oft überhöhten Produktionsanforderungen fast unvermeidlich auftraten. Die Vielzahl an Rechtsnormen, die das tägliche Handeln im Betrieb bestimmten, wie der Volkswirtschaftsplan (als unmittelbar geltendes Volkskammergesetz), die Paragrafen des Wirtschaftsstrafrechts oder die zahlreichen Betriebsverordnungen, machte es den Offizieren leicht, eine geeignete rechtliche Begründung für ihre Überwachungsvorgänge zu finden. Und schließlich bot die strenge Planbindung der Betriebe den MfS-Offizieren die Chance, ihre Überwachungsprogramme frühzeitig vorzubereiten, da der Jahresplan alle größeren Projekte im Voraus festlegte. Die Agenda des Betriebs bestimmte maßgeblich die »operativen« Schwerpunkte der Objektdienststellen. Indem zumindest einige betriebliche Abläufe damit vorhersehbar waren, konnten die Offiziere im Kombinat ihre Instrumente der Überwachung systematisch und durchdacht anwenden. Diese strukturellen Vorteile hoben die methodischen Schwierigkeiten, die das MfS sich selbst bereitete, natürlich nicht auf. Das soll in den nachfolgenden Kapiteln deutlich werden. Nachdem bislang die Funktionen, Aufgabenstellungen und Arbeitsweisen der Staatssicherheit als Kontrolleur und Bestandteil der Planwirtschaft ganz grundsätzlich erörtert wurden, steht nun das praktische Handeln des MfS im historischen Kontext im Mittelpunkt. Dabei sollen die Reichweiten, Schranken und konkreten Auswirkungen der geheimpolizeilichen Arbeit herausgearbeitet werden.

3. Verflechtung als Risiko – Die Überwachung der Chemiekombinate unter den Bedingungen der ökonomischen Öffnung der DDR 1971–1976 Die folgenden Kapitel betrachten die Arbeit des MfS im Betrieb im zeitlichen Verlauf unter Berücksichtigung der wichtigsten wirtschaftspolitischen Zäsuren zwischen 1971 und 1989. Mit dieser diachronen Perspektive sollen die vielfältigen, oft von außen induzierten Veränderungen in den Kombinaten und in der dort verankerten Wirtschaftsüberwachung herausgearbeitet werden. Das vorliegende 3. Kapitel setzt mit dem VIII. Parteitag der SED im Jahr 1971 ein, dem Auftakt in die Ära Honecker. Zunächst werden Inhalt und Hintergründe der mit ihm verbundenen wirtschaftspolitischen Neuausrichtung dargelegt und die Auswirkungen auf die Chemiekombinate im Bezirk Halle erörtert. Im Anschluss wird danach gefragt, ob und wie sich diese Zäsur auf die Linie XVIII des MfS ausgewirkt hat: Welche Themen dominierten die Arbeit der Objektdienststellen in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre? Welche politischen Risiken nahmen die Offiziere wahr? Mit welchen Überwachungsmaßnahmen reagierten sie darauf? Und welches allgemeine Verständnis von Wirtschaft – hier vor allem von der Zusammenarbeit mit westlichen Unternehmen und von diesen Unternehmen selbst – wurde dabei deutlich? Die Grundannahmen der MfS-Offiziere über die sicherheitspolitischen Herausforderungen, ihre Wahrnehmungen und Reaktionsweisen sollen abschließend mit einem Fallbeispiel aus der Farbenfabrik Wolfen, einem Werksteil des Chemiekombinats Bitterfeld, illustriert werden. Im Mittelpunkt steht dabei das allgemeine Bild der MfS-Mitarbeiter von den Spitzenfunktionären und damit zusammenhängend das grundsätzliche Verhältnis zwischen MfS und Kombinat. Darüber hinaus wird beispielhaft die konkrete Wirkung eines Überwachungsvorgangs auf einen einzelnen Kader beschrieben und die methodischen Schwierigkeiten der Offiziere bei der praktischen Überwachungsarbeit thematisiert. Das Fallbeispiel soll dabei die beiden Leitthemen des Kapitels prägnant zusammenführen: Öffnung und Grenzen, genauer: eine zunehmende Interaktion der DDR-Betriebe mit dem westlichen Ausland als ein grundsätzlicher Entwicklungstrend innerhalb der DDR-Wirtschaft und die Schwierigkeiten der MfS-Offiziere bei ihren Versuchen, diese sich verstärkende Verflechtung unter Kontrolle zu halten. Das Kombinat erscheint einmal mehr als unübersichtlicher und stark von externen Faktoren bestimmter Überwachungsgegenstand. Die Erwartungen an

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Überwachung und ökonomische Öffnung der DDR (1971–1976)

das MfS, ihn abzusichern und die Grenzen, die sich dabei immer wieder zeigten, sollen im Folgenden beleuchtet werden.

3.1  Wachstum durch Wohlfahrt: Die neue Wirtschaftspolitik seit dem VIII. Parteitag der SED im Jahr 1971 Um das Thema der ökonomischen Öffnung als beherrschenden Kontext der Überwachungsarbeit des MfS zu Beginn der 1970er-Jahre verstehen zu können, muss zunächst auf das Zäsurjahr 1971 eingegangen werden, das nicht nur einen neuen Ersten Sekretär der SED brachte, sondern auch eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik. Das Hauptanliegen der neuen SED-Führung bestand darin, eine stabile und ausgeglichene Versorgung von Privathaushalten und Betrieben mit Konsum- und Investitionsgütern sicherzustellen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden einige strukturelle und wirtschaftspolitische Weichenstellungen als notwendig erachtet, die in den hier betrachteten Kombinaten der Chemieindustrie unmittelbar wirksam wurden und auch die Wirtschaftsüberwachung des MfS beeinflussten. Auf Ursachen und Konsequenzen des Politikwechsels soll daher im Folgenden etwas genauer eingegangen werden. Warum war es überhaupt notwendig geworden, über die Versorgung von Betrieben und Privathaushalten neu nachzudenken? Ausschlaggebend hierfür waren einige grundsätzliche Probleme bei der zentralen Planung und Verteilung volkswirtschaftlicher Güter gewesen, die sich acht Jahre nach Beginn des von Walter Ulbricht vorangetriebenen »Neuen Ökonomischen Systems« aufgestaut hatten. Ziel seines Reformexperiments war ursprünglich eine effektivere und produktivere Eigensteuerung der Wirtschaft gewesen. Dafür waren den Produktionsbetrieben seit 1963 größere Eigenständigkeiten eingeräumt worden. So durften sie zum Beispiel über den Bedarf an Material und Ausrüstungen selbst entscheiden, Planprojekte nach eigenem Ermessen umsetzen und Gewinne durch sogenannte Valutaanrechte selbstständig für Investitionen ausgeben.1 Die zentrale Anleitung der Betriebe sollte nicht mehr über konkrete Mengenkennziffern, sondern hauptsächlich über finanzielle Zielvorgaben wie Gewinne, Zinsen oder Rentabilität – über sogenannte »ökonomische Hebel« – erfolgen.2 1  Vgl. Falk Küchler: Die Wirtschaft der DDR. Berlin 1997, S. 20; Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe?, S. 135 ff. 2  Vgl. Friederike Sattler: »Betriebsegoismus«? Zum Problem der nicht systemkonformen Nutzung erweiterter betrieblicher Handlungsspielräume im Zuge der DDR-Wirtschaftsreformen. In: Christoph Boyer (Hg.): Sozialistische Wirtschaftsreformen. Tschechoslowakei und DDR im Vergleich. Frankfurt 2006, S.  278. Siehe ebenso André Steiner: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül. Berlin 1999, S. 268–339.

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Zusätzlich hatte Ulbricht allerdings von zentraler Stelle aus angeordnet, Investitionen in ausgesuchten Branchen massiv zu konzentrieren. Vor allem in der zweiten Phase der Reformzeit – im Rahmen des sogenannten Ökonomischen Systems des Sozialismus (ÖSS) – erkannte Ulbricht in der intensiven Förderung bestimmter Industriezweige – allen voran der Branchen Chemie, Werkzeugmaschinenbau und Elektrotechnik – die Grundlage einer beschleunigten wirtschaftlichen Entwicklung.3 Der Aufbau des Petrolchemischen Kombinats in Schwedt mit einer eigenen Pipelineverbindung in die Sowjetunion, die neuen Großkraftwerke in Lübbenau und Vetschau sowie die Umstellung der Verfahren zur Benzinherstellung in Leuna von Kohle auf Öl waren Beispiele für diese Ulbricht’sche Schwerpunktpolitik.4 Beide Ansätze allerdings – eine erweiterte Eigenständigkeit der Betriebe und die staatliche Förderung bestimmter Branchen – entwickelten zusammen schnell eine unbeabsichtigte und problematische Eigendynamik. Auf der Grundlage ihrer neuen Entscheidungskompetenzen richteten die Betriebe nämlich ihr Produktionsprofil zügig auf die staatlich bestimmten Schlüsseltechnologien aus, um von den enormen Förderprogrammen des Staates profitieren zu können. Das dadurch ausgelöste unverhältnismäßige Wachstum einiger privilegierter Bereiche brachte das innere Gefüge der Planwirtschaft schnell durcheinander: Fluktuation bei Arbeitskräften, Engpässe bei Zulieferern und ein starkes Auseinanderdriften des Lohnniveaus innerhalb der Arbeiterschaft waren die Folge.5 Gleichzeitig mussten Produktionssparten, die nicht zu den Schwerpunkten der Regierung zählten – wie die Zulieferindustrien oder die Konsumgüterproduktion – mit einer minimalen Ausstattung an Investitionsgütern und Grundstoffen zurechtkommen, was sich in einer dramatischen Verknappung ihrer Angebote bemerkbar machte.6 Der Ruf nach einer sogenannten »gleichmäßig-proportionalen Entwicklung« – einem Konzept aus der sowjetischen politischen Ökonomie – wurde in dieser Situation immer lauter.7 Bereits im Jahr 1967 hatte eine Gruppierung um den ZK-Sekretär Erich Honecker eine Generalüberholung der Wirtschaftspolitik angemahnt. Durch die zunehmende Unruhe in der Bevölkerung und die anschwellenden Streikbewegungen im Nachbarland Polen Anfang der 1970erJahre erhöhte sich der Handlungsdruck schließlich soweit, dass nach einem ge3  Vgl. Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe?, S. 191. 4  Vgl. Peter Hübner: Konsens, Konflikt und Kompromiss. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ/DDR. 1945–1970. Berlin 1995, S. 110 und Onderka; Meinl: Leuna, S. 56. 5 Vgl. Buchheim: Wirtschaftsordnung als Barriere, S.  210; Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe?, S. 234. 6  Vgl. Buchheim: Wirtschaftsordnung als Barriere, S. 210. Über die problematische, beinahe unkontrollierbare Wirtschaftsentwicklung in der Spätphase der Reformzeit siehe Steiner: Wirtschaftsreform, S. 503–551. 7  Vgl. Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe?, S. 238.

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glückten Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker der VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel mit drei zentralen Zielen einleitete: Zunächst sollte die Fixierung auf einzelne »führende Industriezweige« überwunden werden. Eine gleich starke und wechselseitig abgestimmte Entwicklung aller Wirtschaftsbereiche wurde dagegen als neues Leitmotiv vorgegeben.8 Dies, so die Überzeugung der neuen Führung, könne aber nur durch einen deutlichen Ausbau der staatlichen Planung und Leitung gelingen. Anstelle einer größeren Eigenständigkeit der Betriebe wurde daher eine stärkere hierarchische Steuerung favorisiert. Eine Rezentralisierung der Wirtschaftsorganisation nach sowjetischem Muster rückte damit ins Zentrum der neuen Politik.9 Die Betriebe spürten diese restriktivere Linie an mehreren Stellen: Im Jahreswirtschaftsplan tauchten zum Beispiel neben den bisherigen Finanzkennziffern wieder vermehrt Mengenvorgaben auf – vor allem die Kennziffer »Industrielle Warenproduktion« wurde auf Kosten des Gewinns aufgewertet.10 Darüber hinaus wurden viele Planauflagen durch sogenannte »Darunterpositionen«, also durch ergänzende Vorgaben als Unterpunkte, ausdifferenziert.11 Die Planzentrale bestimmte damit wieder bis ins Detail Menge, Qualität und Vielfalt des Produktionsprogramms.12 Die Möglichkeit, Gewinne einzubehalten und Investitionen eigenständig zu planen, wurde den Betrieben dagegen genommen. Extrawünsche für investive Ausgaben mussten fortan in mühsamen Planverteidigungen gegenüber dem Ministerium und den zentralen Organen der Wirtschaftsverwaltung begründet werden.13 Passend zu dieser Entmachtung der Betriebe gewann die Staatliche Plankommission mit einem neuen Statut im Jahr 1973 deutlich an Einfluss: Indem die oberste Planungsbehörde das Recht übertragen bekam, Ministerien Aufträge zu erteilen und Beschlussvorlagen für den Ministerrat auszuarbeiten, trat sie erstmals als echtes Leitungsorgan in Erscheinung.14

8  Vgl. Doris Cornelsen: Die Wirtschaft der DDR in der Honecker-Ära. In: Gert-Joachim Glaeßner (Hg.): Die DDR in der Ära Honecker. Politik – Kultur – Gesellschaft. Opladen 1988, S. 357. 9  Vgl. Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe?, S.  325; Gerold Ambrosius: »Sozialistische Planwirtschaft« als Alternative und Variante in der Industriegesellschaft – die Wirtschaftsordnung. In: André Steiner (Hg.): Überholen ohne einzuholen. Die DDR-Wirtschaft als Fußnote der deutschen Geschichte? Berlin 2006, S. 21; vgl. ebenso Steiner: Von Plan zu Plan, S. 188. 10  Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 42. 11  Vgl. Pflicke; Süß: Wirtschaftsrecht, S. 462; vgl. ebenso Strassmann; Süß; Wenzel: Rechtliche Dimension, S. 150. 12  Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 38 u. 134. 13 Vgl. Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe?, S.  239; vgl. Strassmann; Süß; Wenzel: Rechtliche Dimension, S. 142. 14  Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 38.

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Die neue Dominanz der Zentrale zeigte sich ebenso in einem novellierten Vertragsgesetz: Akzeptierte der Volkswirtschaftsplan bislang sämtliche Abnahmeund Lieferverträge, die zuvor zwischen den Betrieben weitgehend eigenständig ausgehandelt werden konnten, so durften sich die Vertragsverhandlungen von nun an nur noch innerhalb der eng gesteckten Zielvorgaben des übergeordneten Jahresplans bewegen. Das bislang gültige Verhältnis von Plan und Vertrag kehrte sich damit um.15 Das folgenreichste Projekt der Zentralisierung stellte aber die Eingliederung der meisten Volkseigenen Betriebe in sozialistische Großkonzerne, den sogenannten Kombinaten, dar.16 Bereits in den 1950er-Jahren war diese Organisationsform im Bereich der Schwer- und Grundstoffindustrien eingerichtet worden, das Elektrochemische Kombinat in Bitterfeld (1952) und das Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) bei Fürstenberg/Oder (1951) sind dafür zwei Beispiele.17 Im Zuge des Chemieprogramms von 1958 wurde der industrielle Konzentrationsprozess noch einmal beschleunigt, unter anderem mit der Gründung des Gaskombinats in Schwarze Pumpe (1959) und des Petrolchemischen Kombinats in Schwedt (1963). Sowohl die Schwerpunktbildung des Reformprojekts »NÖS« als auch die schrittweise Abänderung der Reformansätze ab 1969 lösten schließlich eine weitere Gründungswelle von Kombinaten aus.  Vor allem in den Leunawerken war durch die enorme Erweiterung des Anlagenparks im Laufe der 1960er-Jahre eine interne Reorganisation notwendig geworden.18 Im Jahr 1969 wurden die beiden Werksteile I und II zu einem Großkombinat zusammengefasst, das Ulbricht bei einem Werksbesuch als »Modell der Zukunft« pries.19 Nach gleichem Muster entstand zeitgleich das Chemische Kombinat Bitterfeld und ein Jahr später das Kombinat »Chemische Werke Buna«. Die neu geschaffenen Industriekonglomerate des Chemiereviers spiegelten das Ideal einer stark zentralisierten Wirtschaftsorganisation besonders deutlich wider. 15  Vgl. Pflicke; Süß: Wirtschaftsrecht, S. 471; vgl. Strassmann; Süß; Wenzel: Rechtliche Dimension, S. 150. 16  Ergänzend zur Kombinatsgründung leitete die SED-Führung im Februar 1972 eine abschließende Verstaatlichung der noch verbliebenen mittelständischen Unternehmen im Bauund Industriesektor ein. Von dieser blitzartig durchgeführten Vergesellschaftungsaktion waren 2 800 Privatbetriebe, 6 600 halbstaatliche Betriebe und 17 000 Produktionsgenossenschaften des Handwerks mit zusammen 580 000 Beschäftigten betroffen. Aus ihnen gingen 11 100 neue Volkseigene Betriebe hervor. Siehe dazu Klaus Schroeder: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft. München 1998, S.  221; siehe ebenso Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S. 61; Maria Haendcke-Hoppe: Die Vergesellschaftungsaktion im Frühjahr 1972. In: Deutschland Archiv 6 (1973) 1, S. 37–41. 17  Vgl. Jörg Roesler: Kombinate in der Geschichte. Von den ersten VVB bis zur durchgängigen Kombinatsbildung. In: Jahrbuch für Geschichte 31/1984, S. 231. 18  Vgl. Sattler: Betriebsegoismus, S. 290; vgl. Wagner-Kyora: Vom »nationalen« zum »sozialistischen« Selbst, S. 100. 19  Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 38.

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Nachdem in einer abschließenden Konzentrationsphase zwischen 1977 und 1982 die letzten noch verbliebenen selbstständigen Betriebe in größeren Einheiten aufgegangen waren, verfügte die DDR-Industrie Anfang der 1980er-Jahre über 133 zentralgeleitete und 90 bezirksgeleitete Kombinate. Sie bestanden aus über 4 000 Kombinatsbetrieben, in denen 90 Prozent aller Industriebeschäftigten integriert waren.20 Ein Kombinat fasste im Idealfall für ein Erzeugnis alle Etappen eines Produktionsprozesses unter einem Dach zusammen – von der Grundlagenforschung bis zur Endfertigung. Zusätzlich wurden alle Anbieter dieses Erzeugnisses in einer gemeinsamen Organisation vereint.21 Was genau erhoffte sich die SED von diesen im Idealfall autarken Monopolanbietern? Zum einen strebten die Wirtschaftsplaner nach einer deutlich kleineren Anzahl an Produktionsbetrieben, um Einzelpläne besser aufeinander abstimmen und zentrale Planauflagen effektiver durchsetzen zu können. Material würde exakter gelenkt, Manipulationen eher entdeckt und Lieferausfälle durch die Eingliederung von Zulieferbetrieben häufiger verhindert.22 Zum anderen entfiel mit der direkten Unterstellung der Kombinate unter die Branchenministerien die mittlere Verwaltungsebene, die sogenannten »Vereinigungen Volkseigener Betriebe« (VVB). Die letzten VVB löste der Ministerrat im Jahr 1979 auf.23 Das neue zweistufige Leitungssystem sollte helfen, Planungsabläufe zu beschleunigen und Aushandlungskosten einzusparen.24 »Der schnelle Zugriff auf die Wirtschaft, die Durchsetzbarkeit von Weisungen, die lückenlose Kontrolle, die Aufdeckung von stillen Leistungsreserven«, all diese Vorteile versprach sich die Wirtschaftsverwaltung von der Kombinatsbildung, so Gößmann.25 Sogar Hoffnungen auf eine Überwindung der geringen Produktivität und der chronischen Innovationsschwäche – die beiden gravierendsten Probleme der DDR-Industrie – waren mit der Neuorganisation der Industrie verbunden. Denn eine genauere Planung und Kontrolle, so die Überzeugung der Wirtschaftsplaner, brächte auch die Chance, Material effektiver zu verwerten und manuelle Arbeit zurückzudrängen – sprich, die Leistungsfähigkeit der Betriebe zu erhöhen. Zwischen den Kombinaten Buna und 20  Vgl. ebenda, S. 11 u. 18; vgl. ebenso Pflicke; Süß: Wirtschaftsrecht, S. 467. 21  Vgl. Wenzel: Wirtschaftsplanung, S.12; vgl. Roesler: Kombinate, S. 231; vgl. Gößmann: Kombinate, S. 29. 22  Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 23–25. 23  Vgl. Schulz: Simson, S.  346; vgl. ebenso http://www.ddr-wissen.de/wiki/ddr.pl?VVB, abgerufen am 3.1.2018. 24  Wesentliche Kompetenzen der VVB – wie das Prämienwesen, die Preisbefugnis, die Qualitätssicherung oder die Standardisierung – wurden den Kombinaten übertragen. Sie besaßen damit sowohl Unternehmer- als auch Behördeneigenschaften. Da aber beide Funktionen – staatliche Kontrollaufgaben und betriebliches Management – häufig in Konflikt gerieten, blieben die drei Stufen der Wirtschaftsorganisation faktisch weiter bestehen. Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 40 u. 55. 25  Ebenda, S. 25.

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Leuna erwartete man zum Beispiel im Bereich der Lagerung und Instandhaltung eine intensive Zusammenarbeit.26 Darüber hinaus sollte der Einbau von Forschungsabteilungen in die Produktionsbetriebe eine bessere Überleitung von wissenschaftlichen Ergebnissen in die Serienproduktion ermöglichen.27 Als Ergänzung zu den Universitäten wurden Kombinate im Laufe der 1960er-Jahre zu Großforschungszentren ausgebaut, in denen Produktion und Forschung besonders eng miteinander verknüpft werden sollten.28 Damit zusätzlich auch zwischen den Kombinaten eine Kooperation im Bereich der Produktentwicklung zustande kam, richteten zum Beispiel die Chemiekombinate im Bezirk Halle sogenannte »Wissenschaftliche Koordinierungszentren« ein.29 Aufgabe dieser neuen Institution war es, eine innovative Verbundchemie mit kürzeren Erneuerungszyklen und stärkerer Exportleistung aufzubauen.30 All diese Erwartungen zusammengenommen zeigen, dass die Führung der SED und die Elite der Wirtschaftsverwaltung in der Institution »Kombinat« eine ideale Organisationsform für die Industrie erkannten, eine vertikale und horizontale Integration aller Produzenten einer Branche, um eine kostengünstige, innovative und standardisierte Massenproduktion zu ermöglichen.31 Neben der Wiederherstellung einer gleichmäßigen Entwicklung aller Industriezweige durch eine Stärkung der hierarchischen Steuerung bemühte sich die neue SED-Führung ebenso, die Versorgungslage der Bevölkerung spürbar zu verbessern – das zweite zentrale Anliegen des VIII. Parteitages. Der Produktion von Konsumgütern hatte Ulbricht in den 1960er-Jahren einen eher nachgeordneten Stellenwert eingeräumt. Priorität besaß in seiner Ära der Aufbau exportfähiger Industrien. Erst die Verwirklichung guter Standortbedingungen, so sein Credo, würde die Leistungsfähigkeit der Betriebe erhöhen und langfristig auch zu besseren Lebensbedingungen führen. »So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben.« Diese in den 1950er-Jahren populäre Losung der Sozialistischen Wettbewerbsbewegung fasste den Grundansatz der Ulbricht’schen Angebotspolitik prägnant zusammen.32 26  Vgl. Sattler: Betriebsegoismus, S. 290. 27  Vgl. Hans-Jürgen Wagener: Zur Innovationsschwäche der DDR-Wirtschaft. In: Johannes Bähr, Dietmar Petzina (Hg.): Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen. Vergleichende Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland. 1945–1990, S. 38. 28  Vgl. Hackenholz; Karlsch: Großchemie, S. 118. 29  Über die Zielstellung des Wissenschaftlichen Koordinierungszentrums (WKZ) in Buna siehe Kombinat Buna: Verfügung 1/80 über die Stellung, Aufgaben und Arbeitsweise des WKZ vom 14.1.1980; LHASA, MER, I 529, Nr. 4129, n. p. 30  Vgl. Sattler: Betriebsegoismus, S. 290. 31  Über die enormen Erwartungen der SED-Führung und Planungselite an die Kombinatsbildung siehe Gößmann: Kombinate, S. 23–35; siehe auch Roesler: Kombinate, S. 231. 32  Die Parole wird allerdings nicht Ulbricht, sondern der Oberlausitzer Weberin Frieda Hockauf zugeschrieben, die in ihrem Zittauer Webereibetrieb verschiedene Ideen für einen effizienteren Einsatz der einzelnen Webstühle ausprobierte (Frieda-Hockauf-Methoden). Die

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Der neue Kreis um Honecker vertrat hingegen eine grundsätzlich andere Wachstumsphilosophie: Wohlstand, so die neue Lehre, sollte nicht mehr aus einer verbesserten Wirtschaftsleistung resultieren, sondern umgekehrt: ein höherer Lebensstandard zu einer höheren Produktivität führen. »Wachstum durch Wohlstand« hieß der neue Leitgedanke.33 Der VIII. Parteitag verabschiedete daher ein umfangreiches Konsum- und Sozialprogramm, um – so die Diktion der SED – das »materielle und kulturelle Lebensniveau des Volkes« anzuheben.34 Zu der vielbeschworenen »Hauptaufgabe« des neuen Fünfjahrplans für die Jahre 1971 bis 1976 zählten unter anderem neue Kindergartenplätze, bezahlter Mutterschutzurlaub, Mietsubventionen, höhere Mindestlöhne und Renten, kürzere Arbeitszeiten für berufstätige Mütter und nicht zuletzt ein großangelegtes Wohnungsbauprogramm.35 Als Ergänzung zu diesen erweiterten Sozialleistungen des Staates stand auch die Verbesserung des Konsumgüterangebots auf der Agenda. Passend zum laufenden Wohnungsbauprogramm beschloss das ZK der SED zum Beispiel im Jahr 1972, die Produktion von Möbeln, Teppichen und Gardinen auszuweiten.36 Auch für Gegenstände des täglichen Bedarfs wie Reinigungsmittel, Kleidung oder Spielwaren existierte plötzlich ein politisches Interesse. Die neue Relevanz der Kennziffer »Fertigwaren für die Bevölkerung«, die bei der Rechenschaftslegung der Kombinate gegenüber den Ministerien genauer geprüft werden sollte, spiegelte dies wider. An dieser Stelle konnten die in dieser Untersuchung betrachteten Kombinate der chemischen Industrie einen wichtigen Beitrag leisten. Da sie mit Kunststoffen, Leimen oder synthetischen Fasern die Grundstoffe für Konsumgüter fertigten, übernahmen sie im Laufe der 1970er-Jahre eine Schlüsselrolle für die Strategie des Konsumsozialismus. Zwei neue Fabriken für die beiden Kunststoffe Niederdruckpolyethylen und PVC-S ermöglichten den Buna-Werken zum Beispiel, die Herstellung von Haushaltsartikeln, Verpackungen und Rohren Anfang der 1970er-Jahre deutlich auszuweiten.37 Auch die Leuna-Werke boten mit dem Scheuermittel Leunablank, dem Geschirrspülmittel Fit oder dem WaschLosung soll Hockauf im November 1953 verbreitet haben, um wenige Monate nach dem Volksaufstand vom Juni 1953 die Wettbewerbsbewegung wiederzubeleben. Vgl. Weberin Hockauf produziert mehr und bessere Stoffe. In: Neues Deutschland v. 1.10.1953, S. 1. Siehe ebenso http://bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html?ID=1439, abgerufen am 3.1.2018; über Ulbrichts Angebotspolitik siehe Steiner: Von Plan zu Plan, S. 196; Kruse: Deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen, S. 116. 33 Die Neuausrichtung stand auch im Zusammenhang mit dem XXIV. Parteitag der KPdSU im März/April 1971, auf dem eine stärkere Konsumorientierung aller Ostblockstaaten gefordert wurde. Vgl. Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 179. 34  Vgl. Gilles; Hertle: Rolle des MfS, S. 175. 35  Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 196; Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 180. 36  Vgl. Cornelsen: Wirtschaft in der Honecker-Ära, S. 370. 37  Vgl. Ahlefeld; Molder; Werner: Plaste und Elaste, S. 70.

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mittel Leunaplus einen Beitrag für den neuen Wirtschaftskurs. Für den Bereich Konsumgüter wurde hier sogar eine neue Betriebsdirektion eingerichtet.38 Und das Chemische Kombinat Bitterfeld zeigte sich ohnehin in der Lage, mit seinem außerordentlich breiten Sortiment wesentliche Grundstoffe und Fertigwaren für eine verbesserte Grundversorgung der Bevölkerung anzubieten – Wofena (Gardinenspülmittel), Cekapur (Toilettenreiniger) und Wofalor (Weichspüler) sind dafür nur einige Beispiele.39 Auch hier gründete das Kombinat extra einen siebenten Produktionsbereich ausschließlich für Konsumgüter.40 Aber nicht nur die Produkte der Kombinate, sondern auch deren Gewinne sollten für die bessere Versorgung und ausgebaute Sozialstaatlichkeit Verwendung finden. Als Folge der strengeren Gewinnabführung im Rahmen der Rezentralisierung setzte sich der Staatshaushalt Anfang der 1970er-Jahre zu 70 Prozent aus Abgaben der Betriebe und lediglich zu 4 Prozent aus Steuereinnahmen zusammen. Die Betriebe, so das Fazit des Wirtschaftshistorikers Falk Küchler, mussten damit die Hauptlast der neuen Sozialpolitik tragen.41 Langfristig aber würde der höhere Lebensstandard auch den Betrieben nützen: Auf die verbesserte Wohn- und Versorgungslage, so das Kalkül der SED, würden nämlich bald eine größere Motivation und Arbeitsbereitschaft der »Werktätigen« folgen. Die ökonomische Leistungsfähigkeit der DDR-Industrie zu verbessern, stellte ja ein wichtiges Ziel der neuen Konsumorientierung dar. Allerdings war dies aus Sicht der SED nicht das Primäre. Tatsächlich war mit der neuen Ausgabefreudigkeit des Staates auch ein unausgesprochener Gesellschaftsvertrag verbunden: Wohlstand gegen Loyalität. Der Staat würde den einzelnen Bürger mit Konsum- und Sozialleistungen umsorgen, dieser aber auf Kritik verzichten und eines Tages vielleicht sogar das neue sozialistische Gemeinwesen aus eigener Überzeugung anerkennen. Hier wird einmal mehr das instrumentelle Verständnis von Wirtschaft in der DDR deutlich: ein Mittel zum Zweck, um Ruhe zu garantieren und die Herrschaft der SED zu stabilisieren.42 Die Herbeiführung einer sozial abgesicherten, homogenen und konfliktfreien 38  Weitere Informationen über das Sortiment Leunas im Bereich der Konsumgüter siehe den Bericht der Betriebsdirektion Synthesegas: Wissenschaftlich-technische Hauptentwicklungsrichtung und proportionale Leistungsentwicklung des Kombinates 1986–1990, 1985; LHASA, MER, I 525, Nr. 24586, Bl. 1–118. 39  Über das breite Konsumgüterangebot in Bitterfeld siehe auch Doris Cornelsen, Andreas Koch, Horst Lambrecht, Angela Scherzinger: Konsumgüterversorgung in der DDR und Wechselwirkungen zum innerdeutschen Handel. In: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung. Beiträge zur Strukturforschung, Heft 87, 1985, S. 123. 40 Vgl. Kombinat Bitterfeld: 2. Ergänzung zum Statut des VEB CKB vom 30.1.1984; LHASA, MER, I 509, Nr. 1385, n. p. 41  Vgl. Küchler: Wirtschaft der DDR, S. 20. 42  Vgl. Sebastian Gerhardt: »Die Ökonomie ist Mittel zum Zweck« oder: Die DDR und ihr ökonomisches Grundgesetz. In: Horch und Guck 12 (2003) 43, Ökonomie in der Ära Honecker, S. 1–7. hier 2.

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Gemeinschaft entsprach damit nicht nur dem sozialistischen Ideal, sondern vor allem auch den machtpolitischen Interessen der SED.43 Aus einer sozialpolitischen Ruhigstellung der Bevölkerung sollten allerdings keine passiven, unpolitischen Konsumenten hervorgehen. Das Angebot der SED von Wohlstand und Sicherheit beinhaltete stattdessen immer auch die Pflicht des Arbeiters zum Engagement und das Recht der Partei auf Erziehung. Vor allem im Arbeitsleben, in ihren Kollektiven und Brigaden, spürten die »Werktätigen« den täglichen Mitmachzwang sehr intensiv, nicht zuletzt in Form vielfältiger betrieblicher Wettbewerbe. Der »schöpferische Pass des Ingenieurs«, der jeden Techniker verpflichtete, seine eigenen Leistungen genau zu protokollieren, ist dafür ein Beispiel, ebenso die sogenannte »Gegenplanbewegung«, die regelmäßig dazu aufrief, den laufenden Jahresplan zu überbieten. Auch die Prämierung von Arbeitskollektiven, wie die bekannte Pionierbrigade »Nikolai Mamai« der Aluwerker in Bitterfeld, sollte ein möglichst produktives Konkurrenzdenken innerhalb der Arbeiterschaft verankern.44 Ökonomischer Leistungsdruck und politische Belehrung bildeten bei diesen Initiativen eine Einheit. Als Mittelpunkt der täglichen Arbeit und des sozialen Erlebens stellte das Kombinat eine wichtige Erziehungseinrichtung dar. Hier, an der Basis der DDR-Arbeitsgesellschaft, zeigte der paternalistische Wohlfahrtsstaat der Ära Honecker nicht selten einen repressiven Charakter.45 Die Abkehr von der Ulbricht’schen Reformpolitik und die Etablierung eines erweiterten DDR-Sozialstaates dienten also der inneren Festigung der SED-Herrschaft. Erwartet wurde eine stabilere Bindung der Bürger an das sozialistische Gesellschaftsprojekt »DDR«. Abgerundet werden sollte diese neue Fundierung des Staates mit seiner Anerkennung auch nach außen. Neben der 43  Vgl. Meuschel: Legitimation und Parteienherrschaft, S. 10; siehe ebenso Peter Skyba: Konsumsozialismus als Dogma. Statische Stabilisierungsstrategie und innere Erosion der SED-Diktatur. In: Stephan Müller, Gary S. Schaal, Claudia Tiersch (Hg.): Dauer durch Wandel. Institutionelle Ordnung zwischen Verstetigung und Transformation. Köln 2001, S. 255– 267; Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 177. 44  Über die Wettbewerbe der sozialistischen Arbeit im Kombinat Bitterfeld siehe Heinz Schwarz: Thesen zur Geschichtsschreibung des Chemiekombinats, o. D.; LHASA, MER, I 509, Nr. 1384, n. p. Siehe ebenso Marko Demantowsky: Geschichtspropaganda und Aktivistenbewegung in der SBZ und frühen DDR. Eine Fallstudie. Münster 2000; ebenso Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 197. 45  Über die Merkmale des DDR-Sozialstaates der 1970er- und 1980er-Jahre siehe auch Konrad Jarausch: Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur: Zur begrifflichen Einordnung der DDR. In: APuZ (1998) 20, S. 33–46; Torsten Dietrich, Hans Ehlert: »Moderne Diktatur« – »Erziehungsdiktatur« – »Fürsorgediktatur« oder was sonst? Das Herrschaftssystem der DDR und der Versuch einer Definition. In: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien (1998) 12, S. 17–25; Skyba: Konsumsozialismus als Dogma, S. 255–267; Christoph Boyer: Grundlinien der Sozial- und Konsumpolitik der DDR in den siebziger und achtziger Jahren in theoretischer Perspektive. In: Renate Hürtgen, Thomas Reichel (Hg.): Der Schein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker. Berlin 2001, S. 69–84.

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Neuorganisation der Wirtschaft und dem Ausbau des Konsumgüterangebots und der Sozialleistungen stellte die vollständige völkerrechtliche Anerkennung der DDR das dritte große Ziel der SED-Führung zu Beginn der 1970er-Jahre dar. Dafür trat die DDR-Regierung unter der Führung des Vorsitzenden des Ministerrates Willi Stoph ab 1970 mit der neuen Bundesregierung unter Willy Brandt in intensive bilaterale Verhandlungen ein. Ziel der DDR-Seite war die Akzeptanz der eigenen Staatsbürgerschaft, die Aufhebung des bundesdeutschen Wiedervereinigungsanspruchs sowie die Einrichtung diplomatischer Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten. Dieser Linie kam das internationale Interesse an friedlicher Koexistenz und Entspannung entgegen – die Bundesrepublik sprach zeitgleich mit Polen, der ČSSR und der Sowjetunion über wechselseitigen Gewaltverzicht und Anerkennung der Grenzverläufe, die hierbei geschlossenen Einzelverträge waren wiederum verknüpft mit Vier-Mächte-Verhandlungen über ein aktualisiertes Berlin-Abkommen. Bis 1975 entstand aus diesen bi- und multilateralen Verhandlungsrunden ein umfangreiches Vertragswerk. Darin akzeptierte die westliche Seite zwar weder die DDR-Staatsbürgerschaft noch den gemeinsamen Austausch von Botschaftern. Dennoch wurde der DDR eine Eigenstaatlichkeit zugebilligt, die im weiteren Verlauf den Beitritt des ostdeutschen Staates zu internationalen Organisationen ermöglichte und dadurch eine Vervielfachung seiner internationalen Beziehungen bewirkte.46 Dieser kooperative Politikansatz blieb zunächst allerdings auf die diplomatische Ebene der Vertragsverhandlungen begrenzt. Begleitet wurde das Werben der DDR um völkerrechtliche Anerkennung im Ausland nämlich von einem Streben nach ideologischer Abgrenzung im Innern, einer Distanzierung gegenüber dem Westen, die auch von der Sowjetunion wiederholt eingefordert worden war. Nach dem VIII. Parteitag 1971 wurde die politische Rhetorik der SED-Funktionäre kämpferischer, die Anwendung des politischen Strafrechts schärfer und die Präsentation des Staatswesens im Innern – nicht zuletzt an den Schulen und Universitäten – militarisierter.47 »Die Eskalation der Abgrenzung«, 46  Über Gegenstand, Akteure und Wirkung der »neuen deutschen Ostpolitik« siehe unter anderen Monika Kaiser, Peter Bender: Die »Neue Ostpolitik« und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung. München 1996; Helga Haftendorn: Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung. 1949–2000. Stuttgart 2001; Arnulf Baring: Machtwechsel. Die Ära Brandt–Scheel. Stuttgart 1981; Karl Dietrich Bracher, Wolfgang Jäger, Werner Link: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Republik im Wandel 1969–1974. Die Ära Brandt. Stuttgart 1986; Julia von Dannenberg: The Foundations of Ostpolitik. The Making of the Moscow Treaty between West Germany and the USSR. Oxford 2008; Andreas Vogtmeier: Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozialdemokratischen Ostund Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung. Bonn 1996. 47  Über das Strafrechtsänderungsgesetz von 1974 und die Einführung des Wehrkundeunterrichts in der 9. und 10. Klasse ab 1978 siehe Johannes Raschka: Justizpolitik im SED-Staat.

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so Timothy Garton Ash, »war die hässliche Zwillingsschwester der Öffnung zur Bundesrepublik.«48 Diese demonstrative Distanz gegenüber dem Westen zeigte sich auch in der nationalen Selbstbeschreibung der DDR. Während Ulbricht noch eine »sozialistische Menschengemeinschaft« proklamiert und der DDR eine »selbstständige Gesellschaftsformation« zugesprochen hatte, verwarf Kurt Hager auf dem VIII. Parteitag der SED solche Vorstellung ideologischer Vollkommenheit und Eigenständigkeit gegenüber der Sowjetunion. Seiner neuen offiziellen Theorie zufolge, durfte die DDR lediglich über eine »entwickelte sozialistische Gesellschaft« als Vorstufe zu einer »kommunistischen Gesellschaftsformation« verfügen.49 Restbestände bürgerlichen Denkens wurden damit identifiziert und die Notwendigkeit einer weiteren revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft postuliert. Einer einheitlichen deutschen Nation hingegen wurde mit diesem Konzept eine Absage erteilt. Die DDR, so Honecker, sei vielmehr eine »sozialistische Nation neuen Typs«, die BRD hingegen: »Ausland, und noch mehr: imperialistisches Ausland«.50 Diese Betonung der Unvereinbarkeit beider Gesellschaftssysteme und die forcierte ideologische Rückbindung der DDR an die Sowjetunion stellten das weltanschauliche Pendant zur Rezentralisierung des ökonomischen Planungsund Leitungssystems und der Zusammenfassung einzelner Betriebe in Kombinate dar. Beides, so die Vorstellung der neuen SED-Führung, verlange eine stärkere Unabhängigkeit gegenüber westlichen Märkten, allen voran von der Bundesrepublik. Im Mittelpunkt der außenwirtschaftlichen Zielsetzung zu Beginn der 1970er-Jahre standen daher die Weiterführung der von Ulbricht vorangetriebenen Vertiefung der Industriekooperation innerhalb des RGW, der Ausbau bilateraler Handelsbeziehungen zur Sowjetunion und der Versuch, die seit Mitte der 1960er-Jahre deutlich angestiegenen Rohstoff- und Investitionsgüterimporte von westlichen Märkten zurückzufahren.51 Nach den Idealvorstellungen Honeckers böte eine konsequentere Verwirklichung der »Sozialistischen Ökonomischen Integration« die äußeren Rahmenbedingungen, um die einheimische Wirtschaft zentraler und damit effektiver zu organisieren, die Produktivität der Industrie zu erhöhen, den Wohlstand der Bevölkerung und damit die

Anpassung und Wandel des Strafrechts während der Amtszeit Honeckers. Köln 2000, S. 123 u. 137. 48  Timothy Garton Ash: Im Namen Europas.  Deutschland und der geteilte Kontinent. München 1993, S. 280. 49  Vgl. Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom Dritten Reich bis zur Wiedervereinigung. München 2000, S. 294. 50  Rede Honeckers vor Rekruten der NVA vom 6.1.1972. In: Winkler: Der lange Weg, S. 295. 51  Vgl. Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe?, S. 205 u. 260.

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Legitimation der DDR zu stärken und letztendlich eine politische Krise – wie sie sich Ende der 1960er-Jahre abzuzeichnen begann – rechtzeitig abzuwenden.

3.2  Öffnung als Sachzwang: Der Aufschwung des Westhandels als Grundlage einer neuen Konsum- und Sozialpolitik Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass der Beginn der Ära Honecker von einer Reihe politischer Großprojekte gekennzeichnet war. Schnell zeichnete sich allerdings ab, dass einige dieser sozial- und wirtschaftspolitischen Ziele nur schwer miteinander vereinbar waren. Vor allem der Ausbau der Wohlfahrtsstaatlichkeit und die Modernisierung der Industriebetriebe ließen sich kaum mit einer stärkeren handelspolitischen Ostorientierung und einer größeren Unabhängigkeit gegenüber westlichen Handelspartnern in Einklang bringen. Durch die chronischen Lieferschwierigkeiten der RGW-Staaten bei Vorprodukten, Technik- und Konsumgütern und der nur schwer zu überwindenden Ausrichtung der DDR-Betriebe auf westliche Ersatzteile und Investitionsgüter sah sich die DDR vielmehr gezwungen, ihre Handelskontakte mit westlichen Unternehmen beizubehalten und sogar noch auszubauen.52 Eine stärkere Entflechtung von westlichen Märkten scheiterte an den anhaltenden Qualitätsmängeln sowie den häufigen Fertigungs- und Versandproblemen der DDR-Exportprodukte.53 Der unausweichlichen Zusammenarbeit mit westlichen Unternehmen und Banken standen dabei weitaus weniger Hindernisse im Weg als noch in der Reformzeit der 1960er-Jahre. Denn mit der neuen staatlichen Anerkennung der DDR war es der Wirtschaftsverwaltung viel einfacher möglich, Kredite auf dem westlichen Kapitalmarkt aufzunehmen, Handelsvertretungen einzurichten und Zollbestimmungen wechselseitig abzustimmen. Auf die Entspannung der politischen Beziehungen folgte eine Normalisierung des Außenhandels.54 Damit 52  Ahrens spricht hier von einem »Westdrall« der Handelsbeziehungen und führt diesen unter anderem auf eigeninteressierte Entscheidungen leitender Funktionäre auf der mittleren Ebene der Wirtschaftsverwaltung, vor allem in den Ministerien und Kombinatsleitungen, zurück. Dieser Westdrall war auch in den Chemiekombinaten deutlich zu spüren, wie aus den Investitionsentscheidungen in den Leuna-Werken hervorgeht, die in Kapitel 4, Abschnitt 4.5.1 beschrieben werden. Vgl. ebenda, S. 189 u. 265. 53  Vgl. ebenda, S. 239 u. 260. 54  Die Ausweitung des Westhandels zu Beginn der 1970er-Jahre darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die DDR seit ihrer Gründung intensive Handelskontakte mit westeuropäischen Staaten pflegte. Trotz Ostbindung und anfänglichen Autarkiebestrebungen war es nie zu einer kompletten Entflechtung von westlichen Märkten gekommen. Stattdessen wies vor allem der innerdeutsche Warenaustausch in den 1950er- und 1960er-Jahren eine erstaunliche Kontinuität und Verlässlichkeit auf. Laut Peter Fäßler beeinträchtigte selbst die Zäsur des Mauerbaus die Handelsbeziehungen nur geringfügig. Auf der einen Seite verzichtete die bundesdeutsche

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hatte die SED jene praktischen und rechtlichen Voraussetzungen für eine stärkere wirtschaftliche Kooperation geschaffen, auf die sie durch ihr Wohlstandsversprechen auch angewiesen war – und zwar weitaus schneller und umfassender als sie das ursprünglich beabsichtigt hatte.55 Bereits mit Beginn des ÖSS ab 1967 hatte eine deutliche Belebung des Westhandels eingesetzt, dessen Umfang sich bis 1981 noch einmal vervierfachen sollte. Tauschte die DDR im Jahr 1971 noch Güter im Wert von 10 Milliarden VM, verdoppelte sich das Handelsvolumen bis 1974 auf 20 Milliarden VM. Im Jahr 1981 lag der Wert des grenzüberschreitenden Warenverkehrs bereits bei 37,8 Milliarden VM.56 Mit jährlichen Wachstumsraten von über 10 Prozent gewann der Westhandel im Laufe der 1970er-Jahre eine bis dahin nicht gekannte Bedeutung. Aus einem bloßen Lückenfüller für eine weitgehend auf den RGW-Raum ausgerichtete Volkswirtschaft wurde ein essenzielles Instrument der SED-Politik sowohl für ihre neue Konsumstrategie als auch für eine grundlegende Modernisierung weiter Teile der DDR-Industrieanlagen.57 Eine solche Aufwertung des Außenhandels hatte Ulbricht stets angestrebt, durch ausbleibende politische Kontakte aber nur in Ansätzen verwirklichen können. Honecker hingegen stand einer engeren Zusammenarbeit mit westlichen Unternehmen im Bereich Technik und Lizenzen skeptisch gegenüber, musste sie durch den Modernisierungsrückstand der eigenen Industrie, der Leistungsdefizite des RGW und der nachlassenden Unterstützung der Sowjetunion aber doch riskieren – und fand dafür auch die notwendigen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen.58 Seite vollständig auf Wirtschaftssanktionen und begann stattdessen den deutsch-deutschen Austausch aktiv zu fördern. Auf der anderen Seite zeigte auch die DDR-Seite kein Interesse, sich vollständig vom westdeutschen Markt zu entkoppeln. Anfang der 1960er-Jahre unternahm sie lediglich den Versuch, den Austausch von Waren mit größerem »Störpotenzial« zu minimieren. Diese Strategie der sogenannten Störfreimachung zeigte aber nur in einigen Branchen kurzzeitig Wirkung. Vor allem die Eigeninteressen der Betriebe und die mangelnde Kapazität, bestimmte Waren durch Eigenentwicklungen zu ersetzen, standen einer größeren Unabhängigkeit von westdeutschen Einfuhren entgegen. Siehe dazu ausführlicher Peter E. Fäßler: Zwischen »Störfreimachung« und Rückkehr zum Tagesgeschäft. Die deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Mauerbau. 1961–1969. In: Deutschland Archiv 45 (2012) 12, S. 294–304. Zu den deutsch-deutschen Handelsbeziehungen der 1950er- und 1960er-Jahre siehe ebenfalls Friedrich von Heyl: Der innerdeutsche Handel mit Eisen und Stahl 1945–1972. Deutsch-deutsche Beziehungen im Kalten Krieg. Köln 1997; Peter E. Fäßler: Durch den »Eisernen Vorhang«. Die deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen 1949 bis 1969. Köln, Weimar, Wien 2006. 55  Vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 51. 56  Vgl. ebenda, S. 51–53. 57  Vgl. Haendcke-Hoppe: Veränderungen im Außenhandelssystem, S. 726. 58  Vgl. Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe?, S. 286 u. 189. Laut Ahrens unternahm Ulbricht seit Mitte der 1960er-Jahre den Versuch, die DDR-Industrie mithilfe von Investitionsgütern aus westlichen Ländern zu modernisieren. Die Idee des Techniktransfers war ein wichtiger Bestandteil seiner ökonomischen Reformpolitik gewesen. Spätestens ab 1968 lässt sich daher eine deutliche Zunahme von Importen aus westlichen Ländern feststellen. Mit dem Amtsantritt Honeckers wurde dann die »Sozialistische Ökonomische Integration« wieder stärker be-

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Aufschwung des Westhandels

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Mrd. VM

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Ausfuhren Einfuhren

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Abb. 2: Handel mit westlichen Industrieländern59

Die Chemieindustrie fand sich auch bei diesem Aspekt – der Belebung des Westhandels – in einer Schlüsselrolle wieder. Zwei Dinge konnte sie für eine Intensivierung des Außenhandels anbieten: Zum einen ihre Erzeugnisse, die zumindest in Teilen auf westlichen Märkten absatzfähig waren, wie ihre Kunstund Farbstoffe, veredelten Ölprodukte oder synthetischen Kautschuktypen. Zum anderen ihre exzellenten Kontakte zu westlichen Chemieunternehmen. Im Laufe der 1970er-Jahre entwickelten die Kombinate im Raum Halle – allen vo-

tont. Ziel war es, auf westliche Importe soweit wie möglich zu verzichten. Bereits ab Mitte der 1970er-Jahre sah sich die neue SED-Führung jedoch gezwungen, die Ulbricht’sche Strategie der Modernisierung durch Technikimporte im großen Stil wiederaufzunehmen. Die völlig unzureichende Kooperation innerhalb des RGW, die Förderung des einheimischen Konsumgütersektors und die abnehmende Wettbewerbsfähigkeit auch von klassischen Exportbranchen der DDR wie dem Maschinenbau machten die Einfuhr westlicher Investitionsgüter mehr denn je erforderlich. Aus diesem Zwang entwickelte sich genau jene Abhängigkeiten von westlichen Unternehmen und Kreditgebern, die Honecker ursprünglich hatte verhindern wollen. Siehe hierzu Ralf Ahrens: Debt, Cooperation, and Collapse. East German Foreign Trade in the Honecker Years. In: Hartmut Berghoff, Uta Balbier (Hg.): The East German Economy, 1945–2010. Falling Behind or Catching Up? New York 2013, S. 167–170. Siehe ebenso Kapitel 4, Abschnitt 4.6. 59 Vgl. Deutsche Bundesbank: Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975–1989. Frankfurt 1999, S. 50.

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ran die Leuna-Werke – sogar den Anspruch, wieder an die Tradition der gesamtdeutschen Verbundchemie aus der Vorkriegszeit anzuknüpfen.60 Unterstützung für ihre Export- und Importbemühungen fand die Chemiebranche bei der westdeutschen Bundesregierung. Während die Ausweitung des Außenhandels von der DDR-Seite nicht favorisiert wurde und schließlich nur durch drängende Sachzwänge akzeptiert werden musste, stellte sie für die westdeutsche Seite stets ein zentrales Element ihrer Deutschlandpolitik dar – mit drei zentralen Zielsetzungen: Zunächst sollte ein intensivierter wirtschaftlicher Austausch zwischen beiden deutschen Staaten – der sogenannte »innerdeutsche Handel«61 – helfen, die Versorgung Westberlins – und damit den politischen Status der Stadt – abzusichern. In der ökonomischen Verflechtung beider deutscher Teilstaaten erkannte die westdeutsche Seite die praktische Ausgestaltung des 1971 beschlossenen Viermächte-Abkommens über Berlin.62 Darüber hinaus versprach eine Einbindung der DDR in den westeuropäischen Warenaustausch eine verbesserte Versorgung der ostdeutschen Bevölkerung und damit eine innere Stabilisierung der SED-Regierung. Vor allem sozialdemokratische Vertreter der Bundesregierung sahen in einer solchen inneren Festigung des Staatswesens die Chance, eine schrittweise Liberalisierung der Kulturpolitik und des politischen Systems in Gang zu setzen, ein Prozess, der – so die Hoffnung einiger Ostpolitiker – langfristig in einer wechselseitigen politischen Annäherung der beiden deutschen Teilstaaten münden könnte.63 Und schließlich sollte der Ost-West-Handel derart ausgestaltet werden, dass er die Offenheit der »deutschen Frage«, also die besonderen Beziehungen der beiden Teilstaaten zueinander, deutlich sichtbar machte. Gerade das ökonomische Feld bot die Möglichkeit, die Verbundenheit beider Gesellschaften zu betonen und zu verstärken. 60  Über die langfristigen Planungen des Leunaer Generaldirektors Erich Müller siehe Hans Herbert Götz: Der Generaldirektor und sein Werk. In: FAZ v. 5.3.1983, Nr. 54; LHASA, MER, I 525, Nr. 17238, n. p. Siehe ebenso OD Leuna: Sachbericht vom 27.2.1976; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. R 73/97, Bd. 4, S. 56. 61  »Innerdeutscher Handel« war eine Begrifflichkeit der Bundesregierung. Um die staatliche Unabhängigkeit und ideologische Gegensätzlichkeit gegenüber dem westdeutschen Staat zu betonen, sprach die DDR-Seite offiziell von »Außenhandel mit kapitalistischen Ländern«. Vgl. Maria Haendcke-Hoppe: Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden deutschen Staaten: Legende und Wirklichkeit. In: 40 Jahre innerdeutsche Beziehungen (1990), S. 119–140, hier 126. 62  Vgl. Franz Rösch: Außenwirtschaft der DDR und innerdeutsche Wirtschaftsbeziehungen. In: Gernot Gutmann, Gottfried Zieger (Hg.): Außenwirtschaft der DDR und innerdeutsche Wirtschaftsbeziehungen. Rechtliche und ökonomische Probleme. Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Bd. XVI. Berlin 1986, S. 89–98, hier 90. 63  Über Egon Bahrs langfristige Konzeption eines mitteleuropäischen Sicherheitssystems aus Staaten mit einem »demokratischen Sozialismus« siehe Andreas Rödder: Die Bundesrepublik Deutschland. 1969–1990. München 2004, S. 37–40. Vgl. ebenso Henry Kissinger: White House years. New York 1999, S. 410 u. 529.

Aufschwung des Westhandels

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Diese drei Zielsetzungen zeigen: Die Bundesrepublik hatte an einem lebendigen deutsch-deutschen Handel ein großes Interesse. Dem Außenhandel der DDR räumte sie daher bestimmte Privilegien ein: Zum einen entfielen für den bilateralen Güteraustausch die einheitlichen europäischen Außenzölle. Da die DDR für die Bundesrepublik nicht als Ausland gelten durfte, wurde der innerdeutsche Handel von westdeutscher Seite als Binnenhandel aufgefasst.64 Darüber hinaus förderte die Bundesregierung den deutsch-deutschen Handel durch ein spezielles Tauschverfahren, bei dem die beiden Landeswährungen als gleichwertige Maßstäbe akzeptiert wurden. Als praktische Grundlage diente ein Gutscheinsystem zwischen den Nationalbanken beider Länder.65 Lieferte die bundesdeutsche Seite zum Beispiel Waren im Wert von 1 000 WestMark, durfte sie im Gegenzug Waren im Wert von 1 000 Ost-Mark beziehen. Ein DDR-Außenhandelsbetrieb zahlte in diesem Fall 1 000 Ost-Mark an die Staatsbank der DDR, die anschließend 1 000 Gutscheine – sogenannte »Verrechnungseinheiten« (VE) – an die westdeutsche Bundesbank in Frankfurt überwies. Diese zahlte dem Lieferanten schließlich 1 000 West-Mark aus. Die Westseite hatte damit 1 000 Verrechnungseinheiten auf ihrem Verrechnungskonto gut, also ein Anrecht auf DDR-Waren im Wert von 1 000 Ost-Mark.66 Da es bei einem solchen bilateralen Handelsmodell nur schwer möglich war, die wechselseitigen Warenlieferungen exakt auszugleichen, durfte sich jede Seite bis zu einem bestimmten Betrag auf ihrem Verrechnungskonto zinslos verschulden. Dieser gemeinsame Kreditrahmen, der sogenannte »Swing«, betrug in den 1950er-Jahren 200 Millionen Verrechnungseinheiten. Mit einer neuen Swingvereinbarung im Jahr 1974 wurde die Verschuldungsgrenze angehoben und von der jeweiligen Exportleistung des Landes abhängig gemacht. Sie schwankte fortan zwischen 600 und 800 Millionen Verrechnungseinheiten.67 Da hauptsächlich die DDR-Seite den Überziehungsspielraum in Anspruch nahm, wirkte sich der Swing wie ein zinsloser Dauerkredit der Bundesrepublik aus. Allein im Jahr 1974 summierten sich die Zinsersparnisse für die ostdeut-

64 Ein »Quasi-Mitglied« der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde die DDR dadurch aber nicht. Während für DDR-Produkte generell die Zollschranken der übrigen Gemeinschaftsländer galten, unterlag ein Weiterhandel von DDR-Produkten aus der Bundesrepublik innerhalb des gemeinsamen europäischen Marktes zusätzlich zahlreichen Beschränkungen. Vgl. Haendcke-Hoppe: Wirtschaftsbeziehungen, S. 124 u. 129; vgl. Krewer: Geschäfte, S. 116, vgl. Rösch: Außenwirtschaft der DDR, S. 90. 65 Vgl. Peter E. Fäßler: Durch den »Eisernen Vorhang«. Die deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen 1949–1969. In: Stuart Jenks, Michael North, Rolf Walter (Hg.): Wirtschafts- und Sozialhistorische Studien, Bd. 14. Köln 2008, S. 96; vgl. Fäßler: Zwischen »Störfreimachung« und Rückkehr zum Tagesgeschäft, S. 296. 66 Vgl. Raue Töne. In: Der Spiegel v. 17.9.1958, http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-41759119.html, abgerufen am 3.1.2018. 67  Vgl. Kruse: Deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen, S. 137.

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sche Seite auf 50 Millionen DM.68 Durch regelmäßige Überziehungen konnte die DDR gut ein Fünftel ihrer Importe aus der Bundesrepublik kostenfrei einführen, für die übrigen brauchte sie keine Devisen aufwenden. Die Gleichbehandlung der Währungen durch das Modell der Verrechnungseinheiten und der Verzicht auf Zinszahlungen erleichterte die Einfuhr von Waren in die DDR. Zusätzlich versuchte die westliche Seite aber auch, die Ausfuhren der DDR mithilfe von steuerlichen Vergünstigungen anzukurbeln. Um die zunehmende Passivität der DDR-Handelsbilanz etwas abzumildern, erließ der bundesdeutsche Fiskus zum Beispiel seit 1970 11 Prozent der fälligen Umsatzsteuer für Bezüge aus der DDR.69 Nach Angaben des Wirtschaftshistorikers Franz Rösch stellte dieser sogenannte »Umsatzsteuerkürzungsanspruch« oft den wichtigsten Kaufanreiz für westdeutsche Unternehmer dar. Ohne eine solche steuerliche Entlastung hätten DDR-Produkte oft gar keine Abnehmer auf bundesrepublikanischer Seite gefunden.70 Im Gegenzug belastete die Bundesregierung Lieferungen in die DDR mit 6 Prozent des Warenwertes. Größere Investitionsgüterimporte wurden davon aber ausgenommen. Für sie erhielten westdeutsche Unternehmen stattdessen Bundesgarantien. Die dafür etablierte »Gesellschaft zur Finanzierung von Industrieanlagen« (GEFI) sollte eine langfristige Modernisierung der ostdeutschen Industrie unterstützen.71 Der deutsch-deutsche Handel wurde von der Bundesrepublik also ganz gezielt als dynamisches Instrument ihrer Deutschlandpolitik gestaltet. Die politischen Aspekte hatten hier Priorität, ökonomisch hingegen blieb die Beziehung aus westdeutscher Perspektive stets zweitrangig. Der Anteil des innerdeutschen Handels am gesamten Außenhandel der Bundesrepublik betrug in den 1970erund 1980er-Jahren gerade mal 2 Prozent. Die DDR stand damit an 14. Stelle der Außenhandelspartner der BRD.72 Der DDR-Seite waren die Intentionen dieser handelsfördernden Maßnahmen natürlich nicht entgangen. Vor allem die mit dem ökonomischen Sonderstatus der DDR verbundene Absage an eine vollständige Anerkennung ihrer staatlichen Eigenständigkeit wurde von ostdeutschen Regierungsvertretern immer wieder kritisch kommentiert. Der ökonomische Vorteil jedoch, der sich aus dieser Konstruktion ergab, konnte auch von ihnen nicht vollständig ausgeblendet werden. Bereits Anfang der 1970er-Jahre war die Bundesrepublik – nach der Sowjetunion und der ČSSR – zum drittgrößten Handelspartner der DDR avanciert. 68  Vgl. Zwang durch Swing? In: Der Spiegel v. 19.8.1974, http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-41651510.html, abgerufen am 3.1.2018. 69  Die Umsatzsteuer ist eine Form der Verbrauchssteuer, die den Endabnehmer belastet. 70  Vgl. Rösch: Außenwirtschaft der DDR, S. 92. 71  Vgl. Haendcke-Hoppe: Wirtschaftsbeziehungen, S. 135. 72  Vgl. Kuhnle: Bedeutung deutsch-deutscher Wirtschaftsbeziehungen, S.  77; vgl. Kim: Außenwirtschaft der DDR, S. 122.

Westliche Unternehmen in der Vorstellungswelt des MfS

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Jedes dritte Gut, das die DDR in den Westen ausführte, nahm zu diesem Zeitpunkt ein bundesdeutsches Unternehmen ab.73 Hätte die Bundesrepublik die DDR – wie von der SED immer wieder gefordert – tatsächlich als unabhängigen und voll-souveränen Staat behandelt, wäre wahrscheinlich ein Großteil des Westhandels, und mit ihm eine wesentliche Stütze des neuen Konsumsozialismus, zum Erliegen gekommen.74

3.3  »Tarnfirmen« und »Kontrahenten«: Westliche Unternehmen in der Vorstellungswelt des MfS Trotz dieser Relevanz des Westhandels für die politische Handlungsfähigkeit der DDR nahm die SED-Führung den intensiveren Austausch mit westlichen Kaufleuten, aber auch mit Diplomaten, Journalisten und Privatreisenden hauptsächlich als Bedrohung wahr. Die neue Ostpolitik der westdeutschen Regierung ziele darauf ab, die DDR zu öffnen, zu unterwandern und langfristig zu überwinden, so die Befürchtung führender Funktionäre.75 »Bei der Bevölkerung der DDR und unseren sozialistischen Bruderländern dürfen keinerlei Illusionen zugelassen werden, dass etwa durch die neue Bonner SPD/FDP-Regierung unter Brandt/Scheel das strategische Ziel des westdeutschen Imperialismus, die Liquidierung der DDR und der anderen sozialistischen Staaten, aufgegeben sei«76, schrieben zum Beispiel Alexander Schalck-Golodkowski77 und Heinz Volpert78 in ihrer gemeinsamen Dissertation aus dem Jahre 1970. Als Doktoranden der MfS-eigenen Juristischen Hochschule in Potsdam-Eiche untersuchten die beiden Offiziere des MfS, die zugleich wichtige Akteure des DDR-Außenhandels waren, die Chancen und Gefahren der verstärkten Westverflechtung für die 73  Vgl. ebenda. 74  Vgl. Rösch: Außenwirtschaft der DDR, S. 95. 75  Zu den Hauptkritikern einer engen Westkooperation zählten die Politbüromitglieder Werner Krolikowski, Willi Stoph und Alfred Neumann. Vgl. Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 251. 76  Vgl. Alexander Schalck-Golodkowski, Heinz Volpert: Zur Vermeidung ökonomischer Verluste und zur Erwirtschaftung zusätzlicher Devisen im Bereich Kommerzielle Koordinierung des Ministeriums für Außenwirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik. Potsdam 1970, S. 15. 77  Alexander Schalck-Golodkowski war seit 1967 Geheimoffizier des MfS und zwischen 1967 und 1975 stellvertretender Minister für Außenwirtschaft. Vgl. http://www.bundesstift ung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html?ID=2989, abgerufen am 3.1.2018. Über seine Rolle im Bereich des Außenhandels und beim Aufbau des Bereichs »Kommerzielle Koordinierung« siehe Kapitel 4, Abschnitt 4.4. 78  Heinz Volpert galt als enger Vertrauter Mielkes und war ab 1969 im »Büro der Leitung« für »Sonderaufgaben« wie Häftlingsfreikäufe und Devisenbeschaffung zuständig. Volpert wurde 1972 zum Oberst befördert. Vgl. http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-warwer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html?ID=3648, abgerufen am 3.1.2018.

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DDR-Außenhandelspolitik. Dabei betonten sie, dass die Bundesrepublik ihre »Aggressionspolitik« mit »veränderten, verfeinerten, raffinierteren und schwer erkennbaren Mitteln und Methoden« fortsetze.79 Ziel der ausgebauten Wirtschaftsbeziehungen sei es, die DDR aus dem sozialistischen Wirtschaftsverband herauszubrechen und von ihren sozialistischen Verbündeten zu isolieren. Für einzelne ausgewählte Industriezweige wie der Chemieindustrie würde dabei eine derart große Abhängigkeit erzeugt werden, dass diese als Hebel für »ökonomische Störaktionen« und »politische Erpressungen« dienen könnte.80 Solche Ausführungen zeigen, dass die partielle Öffnung der DDR im ökonomischen Bereich weniger mit Wachstum und Modernisierung, als vielmehr mit Destabilisierung und Kontrollverlust assoziiert wurde. Auch wenn es sich hierbei in Teilen um erwünschte Standardaussagen einer MfS-eigenen, von Erich Mielke persönlich betreuten Hochschulschrift handelte, die nur in Ansätzen die tatsächliche Überzeugung von Schalck-Golodkowski und Volpert widerspiegelte, so lässt sich aus dieser doch die vorherrschende Sichtweise der SED- und MfS-Führung auf die neue Interaktionsdichte mit westlichen Medien, Regierungsstellen und Unternehmen herauslesen, eine Sichtweise, die von großer Verunsicherung geprägt war. Der Historiker Peter Graf Kielmansegg spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer »neurotischen Existenzangst«.81 Politisch sichtbar wurde diese durch verschiedene institutionelle Veränderungen im Laufe der 1970er-Jahre, etwa der Verschärfung des politischen Strafrechts mit einer erweiterten Möglichkeit, unerwünschte Westkontakte zu kriminalisieren, oder der Ausrichtung der Rechtsprechung auf den militärischen Ernstfall.82 Auch das Bedürfnis der Wirtschaftsplaner, den Westhandel um die Bundesrepublik herumzulenken, drückte die Furcht vor einer ökonomischen Vereinnahmung durch westdeutsche Unternehmen aus. »Diversifizierung« hieß an dieser Stelle das Stichwort der SED für die Außenhandelsplanungen des Ministerrates.83 Am eindrücklichsten ließ sich das Bedrohungsgefühl der SED aber am republikweiten Ausbau des MfS ablesen. Die Anzahl der hauptamtlichen Mitarbeiter schnellte von 45 500 Personen im Jahr 1971 auf 81 500 Personen im Jahr 1982 in die Höhe.84 Das IM-Netzwerk vergrößerte sich im gleichen Zeitabschnitt von schätzungsweise 122 400 auf 178 700 Zuträger.85 In ihrer Geheim79 Schalck-Golodkowski; Volpert: Vermeidung ökonomischer Verluste, S. 26. 80  Ebenda, S. 17. 81  Peter Graf Kielmansegg: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschlands. Berlin 2000, S. 538. 82  Vgl. die Analyse und Entstehungsgeschichte der beiden Strafrechtsänderungsgesetze von 1974 und 1979 bei Raschka: Justizpolitik, S. 48, 127 u. 136. 83  Vgl. Haendcke-Hoppe: Wirtschaftsbeziehungen, S. 128. 84  Vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 72. 85  Vgl. Müller-Enbergs: IM-Statistiken, S. 35. Im Jahr 1989 sollen es 189 000 IM gewesen sein. Bei diesen IM-Zahlen handelt es sich allerdings um Ergebnisse von Hochrechnungen, die in der MfS-Forschung recht umstritten sind. Da nicht jeder IM-Vorgang eine zivile und natür-

Westliche Unternehmen in der Vorstellungswelt des MfS

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polizei erkannte die SED scheinbar ein geeignetes Instrument, um den intensiveren Austausch mit westlichen Journalisten, Ingenieuren oder Kaufleuten unter Kontrolle zu halten. Die Gefahren der neuen Offenheit mit einer sprunghaft gestiegenen Anzahl von Ein- und Ausreisen wurden dabei besonders von den Diensteinheiten der Linie XVIII hervorgehoben. Alfred Kleine, der kurz nach dem VIII. Parteitag der SED die Leitung der Hauptabteilung XVIII übernommen hatte, verstand die Abwehr westlicher »Kontaktpolitik« als entscheidende Aufgabe seines Verantwortungsbereiches. Dafür stufte er gleich zu Beginn seiner Amtszeit in Abstimmung mit der MfS-Führung eine Reihe von Vereinen, Berufsverbänden, medizinischen Gesellschaften, Verlagen und Reisebüros der Bundesrepublik als »feindliche Einrichtungen« ein, um sie nachfolgend über einen längeren Zeitraum überwachen zu lassen.86 Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen dabei westliche Unternehmen, sogenannte »Kontrahenten«, wie sie in den MfS-internen Berichten bezeichnet wurden, darunter Branchengrößen der chemischen Industrie wie Voest Alpine, Sandoz, Montedison, Ciba Geigy, BASF oder Hoechst. In regelmäßigen Abständen listeten die Diensteinheiten der Linie XVIII in ausführlichen Firmendossiers und Messeberichten deren angebliche »ökonomischen Störtätigkeiten« und »feindlichen Angriffe« auf, etwa die Lieferung funktionsuntüchtiger Maschinen, die unsachgemäße Montage von Anlagen, die gezielte Herbeiführung von Importabhängigkeiten oder die Übergabe gefälschter Prüfzertifikate.87 Aus Sicht des MfS würden die Unternehmen mit derartigen Störversuchen drei Hauptziele verfolgen: Erstens die gezielte Diskreditierung von DDR-Produkten, um sie langfristig von westlichen Märkten verdrängen zu können.88 »Reklamationen bei kleinsten Anlässen mit dem Ziel, Preisvorteile zu erlangen. Dabei nehmen die Drohungen, den Markt zu verlieren, zu«, berichtete zum Beispiel der Sicherheitsbeauftragte des Kombinats Bitterfeld, Karl Heinz Beier, im Rahmen

liche Person außerhalb des MfS abbildete (sondern in einzelnen Fällen auch eine konspirative Wohnung, einen hauptamtlichen Mitarbeiter oder eine Doppelzählung), könnte die tatsächliche Anzahl der Zuträger deutlich niedriger ausfallen. Über die Diskussion der bislang verwendeten IM-Zahlen und IM-Kategorien siehe Ilko-Sascha Kowalczuk: Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR. München 2013, S. 209 ff. 86  Vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S. 71. 87  Als Beispiel siehe den Bericht der OD Buna: Feindliche negative Angriffe des Gegners auf die Bereiche der Wissenschaft und Technik sowie gegen die Außenwirtschaftsbeziehungen und Erfordernisse zur Qualifizierung des Geheimnisschutzes vom 14.5.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 622, Bl. 57; ebenso den Bericht der Abteilung XVIII der BV Halle: Einschätzung der Ergebnisse und die Wirksamkeit der NSW-RK-IM bei der Aufklärung von Spionageangriffen, der Abwehr ökonomischer Störtätigkeit und der abwehrmäßigen Sicherung der NSW-RK, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 4884, Bl. 8–16. 88  Vgl. Schalck-Golodkowski; Volpert: Vermeidung ökonomischer Verluste, S. 25 u. 32.

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Überwachung und ökonomische Öffnung der DDR (1971–1976)

der Vorbereitung der Leipziger Herbstmesse im Jahr 1982.89 Westliche Regierungsstellen würden ein solches aggressives Vorgehen nach Meinung der Offiziere auch noch unterstützen. So bezeichnete die Hauptabteilung XVIII im Jahr 1977 die Gesundheits- und Umweltrichtlinien der EWG für den Handel mit Leim, Pflanzenschutzmitteln und Waschmitteln als »Perfektionierung der Störungen« und »Kampagne gegen die DDR«.90 Zweitens würden westliche Unternehmen DDR-Betriebe als »Versuchsfeld« nutzen, um Neuentwicklungen und technisch unausgereifte Verfahren auszutesten. Dass viele Vertragspartner »Billiglösungen« liefern würden, zählte zu den Standardvorwürfen der Objektdienststellen. Solche subtilen Formen der Diskriminierung offenzulegen, verstanden die MfS-Offiziere als Teil ihrer Überwachungspflichten und rückten sich damit selbst in die Rolle eines Schutzschilds für die Kombinate.91 Und schließlich behaupteten die MfS-Offiziere die gezielte Beeinträchtigung von DDR-Betrieben im Auftrag westlicher Geheimdienste. Für Schalck-Golodkowski und Volpert stellte der Einsatz von sogenannten Tarnfirmen die gefährlichste und wirkungsvollste Methode westlicher Staaten dar, um die Volkswirtschaft der DDR zu unterwandern. »Dem MfS«, heißt es in ihrer Dissertation, ist es in den zurückliegenden Jahren gelungen, […] den Nachweis zu führen, dass im System der wirtschaftlichen Störtätigkeit der BND eng mit führenden westdeutschen Konzernen zusammenarbeitet. So wurde eindeutig nachgewiesen, dass der BND in großen Konzernen Stützpunkte geschaffen hat, die im Auftrage des BND […] Spionage, Sabotage, Diversion und andere Verbrechen gegen die Staatsmacht und speziell gegen die Volkswirtschaft organisieren.92

Verdrängen, ausnutzen, sabotieren – die Offiziere des MfS unterstellten westlichen Managern und Kaufleuten also eine ganze Reihe von Aktivitäten, um die Weiterentwicklung der ostdeutschen Betriebe zu beeinträchtigen und einen Erfolg der DDR-Industrie auf westlichen Märkten zu verhindern. Wie ausgeprägt das Feindbild »Unternehmer« war, illustriert eine Einschätzung des MfS über den Anlagehersteller Linde, einer der wichtigsten Geschäftspartner der Buna-Werke. »Unduldsam« und »überkritisch« sei der Verhandlungsstil seiner Unterhändler, »aggressiv« das gesamte »kapitalistische Geschäftsgebaren« der

89  Kombinat Bitterfeld, Inspektion des Generaldirektors: Information zur Vorbereitung der Leipziger Herbstmesse 1982 vom 9.8.1982; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr.  1123, Bl. 102. 90  Hauptabteilung XVIII des MfS: Information über die wesentlichen Ergebnisse und Erkenntnisse der Sicherung der Aktion »Treffpunkt 77/F« vom 18.4.1977; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 7645, Bl. 286. 91  Vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 371. 92 Schalck-Golodkowski; Volpert: Vermeidung ökonomischer Verluste, S. 27.

Der Blick des MfS auf die Führungskräfte im Kombinat

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Firma, so ein Bericht der Objektdienststelle Buna aus dem Jahr 1985.93 In eine Neuanlage für hochwertige Kunststoffe habe der Münchner Konzern gezielt »havarieverursachende Störquellen« eingebaut.94 Um »Profitinteressen« durchzusetzen, liefere er bewusst veraltete Modelle zu überhöhten Preisen.95 Und auch der Kontakt zu gegnerischen Geheimdiensten könne belegt werden – »über Jahre«, so eine Analyse der Hauptabteilung XVIII aus dem Jahr 1986, seien Mitarbeiter der Linde AG »zu Spionage und Angriffen auf die Volkswirtschaft durch den BND« missbraucht worden.96

3.4  »Ansatzpunkte für Feindangriffe« – Der misstrauische Blick des MfS auf die Führungskräfte im Kombinat Einen Konzern wie die Linde AG betrachtete das MfS also als echte Gefahr. Seine Geschäftspraktiken wurden in den Lageberichten und Messeauswertungen oft mit Begriffen wie »Angriff«, »Aggression« oder »Wirtschaftskrieg« beschrieben. Gewiss war diese antagonistische Sprache auch einem bestimmten MfS-Jargon geschuldet, der mit durchaus sachlichen Analysen über die aktuelle Marktlage oder über tatsächliche Handelshemmnisse einhergehen konnte. Das tiefsitzende Misstrauen, das im Stil und Inhalt der meisten Berichte deutlich wird, scheint aber durchaus auch der realen Denkweise der Offiziere entsprochen zu haben, einer Überzeugung, sich gegen schädliche westliche Einflussnahmen immer wieder behaupten zu müssen. Es verwundert daher nicht, dass die Diensteinheiten der Linie XVIII ihr Überwachungsprogramm nahezu ausschließlich auf den Westhandel konzentrierten. Obwohl etwa 60 bis 70 Prozent der Ausfuhren der Chemiekombinate im Bezirk Halle und 75 Prozent der Ausfuhren der gesamten DDR-Volkswirtschaft auf den RGW-Raum entfielen, spielten die Beziehungen zu östlichen Handelspartnern bei der »Wirtschaftsabwehr«, zumindest bei den hier untersuchten Objektdienststellen, so gut wie keine Rolle.97 Auch die Austauschbeziehungen zwischen den Betrieben und Kombinaten, 93  OD Buna: Ersthinweise auf Störtätigkeit der BRD-Firma Linde AG im Rahmen des K-Geschäfts NDPE vom 25.9.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 279/72, Teil I, Bd. 1, Bl. 162. 94 Ebenda. 95  OD Buna: Information zu wesentlichen Ergebnissen der vorgangsmäßigen Sicherung des Investobjektes NDPE-Erweiterung vom 13.6.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1035/86, Bd. 1, Bl. 261. 96  OD Buna: Stellungnahme zum Anlegen des OV »Vertrag«, o. D.; ebenda, Bd. 1, Bl. 21. 97  Der Exportanteil lag bei allen drei untersuchten Kombinaten zwischen 30 und 40 %. Davon betrug der Anteil der Ausfuhren in nicht-sozialistische Staaten Mitte der 1980er-Jahre bei den Buna-Werken 50 %, bei den Leuna-Werken 40 % und beim Kombinat Bitterfeld 14 %. Vgl. Kuhnle: Bedeutung deutsch-deutscher Wirtschaftsbeziehungen, S. 75. Zahlen für Buna vgl. Kombinat Buna, AG Außenwirtschaft: Erkenntnisse und Schlussfolgerungen zur weiteren

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bei denen improvisierte und oft regelwidrige Geschäftspraktiken zum Alltag gehörten,98 gerieten nur selten in den Fokus der Geheimpolizei. Wurden jedoch bei einem Vorfall Kontakte ins westliche Ausland vermutet, reagierte das MfS zügig und nicht selten übersteigert, sodass von einer regelrechten »Westfixierung« gesprochen werden muss. Ausschlaggebend für diese starke Konzentration der Überwachung auf ost-westliche Interaktionen war die grundlegende Annahme, dass westliche Unternehmen ostdeutsche Kader mit einer bewussten Strategie beeinflussen würden, um sie langfristig für ihre oben beschriebenen Störversuche nutzbar zu machen.99 Zum Einsatz kämen dabei nicht so sehr harte Instrumente wie Zwang oder Drohungen, sondern vielmehr weiche Lockmitteln wie Konsumgüter, Geldzahlungen oder positive Vorstellungen über die westliche Lebensweise. Die Methoden der westlichen Konzernzentralen waren dabei nach Meinung der Offiziere vielfältig: Westliche Bankkonten würden eingerichtet, Hotelrechnungen bezahlt und Partys in Privatwohnungen organisiert.100 »Mit diesen Aktivitäten der Korruption«, so die Objektdienststelle der Buna-Werke im Jahr 1987, »sollen Buna-Kader politisch-ideologisch beeinflusst, ihr politischer Standpunkt getestet und aufgeweicht werden. So werden Voraussetzungen geschaffen zur Durchsetzung der kapitalistischen Firmeninteressen, die letztendlich Buna bezahlen muss.«101 Qualifizierung der Außenhandelstätigkeit des Kombinats VEB CWB vom 15.12.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. 3211/87, Bl. 32. Für Leuna vgl. OD Leuna: Lageeinschätzung zu den Außenwirtschaftsbeziehungen NSW im Verantwortungsbereich der OD Leuna vom 10.9.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 300, Bl. 1; für Bitterfeld vgl. ZAIG: Wiedergabe eines Berichts des SATÜ des MfC durch MfS vom 22.5.1987; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 3588, Bl. 2, abgedruckt in: Plötze: Chemiedreieck, S. 83. 98  Siehe hierzu André Steiner: Bolsche Vita in der DDR? Überlegungen zur Korruption im Staatssozialismus. In: Jens Ivo Engels, Andreas Fahrmeir, Alexander Nützenadel (Hg.): Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa (Beihefte der Historischen Zeitschrift, Bd. 48). München 2009, S. 249–274; vgl. ebenfalls Zeitzeugengespräch mit Hans Joachim Scharf, ehemaliger Hauptabteilungsleiter Absatz in der Direktion Beschaffung und Absatz in Buna, in Amsdorf, am 24.11.2014. 99 Vgl. Hauptabteilung XVIII des MfS: Information über die wesentlichen Ergebnisse und Erkenntnisse der Sicherung der Aktion »Treffpunkt 77/F« vom 18.4.1977; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 7645, Bl. 286. 100  Über die vom MfS wahrgenommenen Strategien westlicher Unternehmen siehe Abteilung XVIII der BV Halle: Die Entwicklung der politisch-operativen Lage in den entscheidenden Bereichen der Volkswirtschaft des Bezirkes Halle und Schlussfolgerungen für die weitere Organisierung der politisch-operativen Abwehrarbeit, 1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 3544, Bl. 27–44; ebenso OD CKB: Einschätzung der Ergebnisse und der Wirksamkeit der NSW-RK/AK-IM bei der Aufklärung von Spionageangriffen, der Abwehr der ökonomischen Störtätigkeit und der abwehrmäßigen Sicherung von NSW-RK/AK vom 4.5.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1522, Bl. 130. 101  OD Buna: Feindliche negative Angriffe des Gegners auf die Bereiche der Wissenschaft und Technik sowie gegen die Außenwirtschaftsbeziehungen und Erfordernisse zur Qualifizie-

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Die Vorstellung, westliche Unternehmen würden bei ihrer »intensiven Betreuung der DDR-Kader« immer neue »operative Ansatzpunkte für Feindangriffe« schaffen, nahm bisweilen paranoide Züge an.102 Ganz nach geheimdienstlicher Manier interpretierten die Offiziere selbst übliche Gepflogenheiten zwischen Kaufleuten als verdächtige Vorgänge. Aus einfachen Werbegeschenken konnten dann Korruptionshandlungen, aus freundschaftlichen Beziehungen die »Kontaktpolitik des Gegners« werden. Ausflüge und Abendveranstaltungen bezeichneten die Offiziere in ihren Berichten als ideologische Einflussnahmen – eine sogenannte »Abendeinladungspolitik« –, Pausengespräche mit DDR-Kadern über ihre Arbeitsbedingungen als »Strategie der Abschöpfung«. Ob ein »falsches« Wort, ein »falscher« Gesprächspartner oder ein »falscher« Zeitpunkt – problemlos konnten in dieser Vorstellungswelt belanglose Einzelbefunde zu verdächtigen Gesamtbildern zusammengesetzt werden. Aus dieser Perspektive war es den Offizieren jederzeit möglich, eine Dienstreise ins westliche Ausland oder ein Außenhandelsgeschäft mit westlichen Partnern in ein »operativ relevantes« Vorkommnis zu verwandeln. Die intensive Beschäftigung mit der »weichen Macht« des Westens war keine Besonderheit der Offiziere der Wirtschaftsüberwachung, sondern ein allgemeines Charakteristikum der Staatssicherheit. Bereits im Jahr 1958 hatte die Leitung des MfS für die schädliche Durchdringung der DDR mit »kapitalistischen Leitbildern« das Konzept der sogenannten »politisch-ideologischen Diversion« – kurz: PID – entwickelt.103 In den Folgejahren avancierte »PID« zum wichtigsten Leitgedanken der Geheimpolizei, ein Schlüsselbegriff, der sowohl das unterschwellige Einwirken westlicher Ideen und Lebensweisen als auch das ideologisch abweichende Denken und Handeln einiger DDR-Bürger bezeichnerung des Geheimnisschutzes vom 14.5.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 622, Bl. 59. 102  Vgl. OD Buna: Information zu wesentlichen Ergebnissen der vorgangsmäßigen Sicherung des Investobjektes NDPE-Erweiterung vom 13.6.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1035/86, Bl. 261. 103  Der Entwicklung des Konzepts »PID« war die Forderung Ulbrichts vorausgegangen, das MfS stärker für den Kampf gegen riskante Tendenzen der Liberalisierung im Innern einzusetzen. Wollweber, so Ulbrichts Vorwurf im Jahr 1957 an den damaligen Minister für Staatssicherheit, würde die »operative« Arbeit zu einseitig auf die Bekämpfung westlicher Sabotage und Spionage ausrichten. Diese klassische »Abwehrarbeit«, so Ulbricht, würde den neuen »Feindmethoden« der inneren Zersetzung zu wenig gerecht werden. Notwendig sei daher ein verschärftes Vorgehen gegen revisionistische Kreise im Innern, eine stärkere Präsenz der Geheimpolizei in den Betrieben und eine intensivere parteipolitische Schulung der operativen Mitarbeiter. Mielke, zu dieser Zeit stellvertretender Minister und von Ulbricht geförderter Gegenspieler Wollwebers, verinnerlichte diese Kritik. Seine spätere Leitung des MfS war stark von der Vorstellung einer von außen induzierten »ideologischen Diversion« im Innern beeinflusst. Nach Gieseke entwickelte Mielke das Konzept »PID« zur zentralen »Sicherheitsdoktrin des Poststalinismus«. Vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 75. Über die grundlegende Kritik Ulbrichts am MfS und den Machtkampf zwischen Ulbricht und Wollweber siehe Engelmann; Schumann: Ausbau des Überwachungsstaates, S. 341–378.

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te.104 Beides sahen die Offiziere dabei im Zusammenhang: So wurden Erscheinungen der »politisch-ideologischen Diversion« im Innern, wie zum Beispiel »ungenügende Parteilichkeit«, »Duldsamkeit gegenüber bürgerlichen Anschauungen« oder »Zweifel an der Richtigkeit der zentralen Planung«, auf Einflüsse westlicher Medien, Freunde oder Geschäftspartner zurückgeführt.105 Aus Sicht der Offiziere trat der äußere »Feind« demnach häufig in der Gestalt eines sogenannten Trägers der politisch-ideologischen Diversion auf, also eines fehlbaren, vom Westen manipulierten DDR-Bürgers. Mit einer solchen negativ beeinflussten Person musste nach Meinung des MfS grundsätzlich in allen Institutionen und Bevölkerungsschichten gerechnet werden. Anfällig für »abweichende« oder »westliche« Denk- und Verhaltensweisen war nach dem Konzept der »PID« auch das loyalste SED-Mitglied. Als besonders hoch wurde die Wahrscheinlichkeit von »politisch-ideologischer Diversion« jedoch in den Kreisen führender Wirtschaftsfunktionäre angesehen – und das aus dreierlei Gründen: Erstens aufgrund ihrer häufigen Kontakte zu westlichen Handelspartnern, die mit Beginn der Entspannungspolitik noch einmal deutlich zugenommen hatten. Von allen Vertretern der DDR-Funktionselite bewegten sich staatliche Leiter und Außenhändler der großen Exportkombinate wahrscheinlich am häufigsten im westlichen Ausland. Zweitens aufgrund ihrer Kompetenzhäufung als Folge der monopollastigen Struktur der Wirtschaftsorganisation. Aus Sicht des MfS würden westliche Unternehmen und Geheimdienste bei diesen »Schlüsselpositionen« daher besonders häufig ansetzen, um »kapitalistische Firmeninteressen« durchzusetzen. Und schließlich, drittens, aufgrund von Restbeständen bürgerlichen Denkens, die nach Ansicht der Offiziere bei den Führungskräften, Ingenieuren und Kaufleuten der Industriebetriebe und Kombinate noch am stärksten ausgeprägt waren. Die Vertreter der Geheimpolizei gingen davon aus, dass leitende und technische Wirtschaftsfunktionäre nicht nur im Fokus westlicher Einflussnahmen standen, sondern für diese Einflussnahmen auch besonders empfänglich waren. Deutlich würde das unter anderem bei ihrem oft übersteigerten Interesse an Konsumgütern, bei ihrem häufigen Abweichen von den Planvorgaben oder bei ihrem angeblichen Hang zu »Zweifel, Resignation und Defätismus«.106 Dass die Offiziere der Objektdienststellen den Wirtschaftsfunktionären mit besonders ausgeprägtem Misstrauen begegneten, kann auch ganz grundsätzlich 104  Vgl. Lexikoneintrag »Politisch-ideologische Diversion«. In: MfS-Lexikon, S. 72; ebenso Gieseke: Die Stasi, S. 75. 105  Abteilung XVIII der BV Halle: Rückflussinformationen über Erkenntnisse bei der Sicherung bedeutsamer Kompensationsvorhaben vom 30.6.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1390, Bl. 16–21. 106 Vgl. OD Leuna: Lageeinschätzung zu den Außenwirtschaftsbeziehungen NSW im Verantwortungsbereich der OD Leuna vom 10.9.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 300, Bl. 12; vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 372.

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auf ihre geheimpolizeiliche Sozialisation zurückgeführt werden: Aufgewachsen in separaten Wohnquartieren, ausgebildet in MfS-eigenen Bildungsstätten und Parteischulen und eingebunden in das Offizierskollektiv ihrer Diensteinheit bewegten sich die hauptamtlichen Mitarbeiter in einer stark abgeschotteten sozialen Sphäre.107 In ihr wurde der individuelle Wert des Einzelnen der Verpflichtung auf ein alles überragendes Ziel – die Sicherheit des Staates – untergeordnet. Die manipulative und zweckgemäße »Verwendung« von Menschen – auch von Mitmenschen, Kollegen, Freunden und Familienmitgliedern – galt hier als berufliche Kernkompetenz, ein misstrauischer Blick auf das unmittelbare soziale Umfeld als geheimpolizeiliche Grundvoraussetzung. Ganz im Sinne des präventiven Sicherheitsgedankens wurden Argwohn gegenüber Kollegen und Mitbürgern sowie Vorsicht bei den eigenen Handlungen gezielt antrainiert und auch im Privaten eingefordert: Eheleben, Freizeitgestaltung, ja selbst die Erziehung der eigenen Kinder mussten mit den Sicherheitsbedürfnissen der eigenen Institution und ihren Grundsätzen der konspirativen Arbeit in Einklang gebracht werden. Die Fähigkeit, mit alternativen Lebensstilen, Denkweisen und Berufsfeldern offen und interessiert umzugehen, musste bei dieser Ausbildung und bei dieser umfassenden beruflichen Vereinnahmung gezwungenermaßen stark begrenzt bleiben.108 Berücksichtigt man diese enge Einbindung in ein klar umrissenes sozio-kulturelles »Sicherheitsmilieu«109 wird verständlich, warum die Offiziere des MfS Kaufleute und betriebliche Führungskräfte, die permanent Netzwerke knüpften und für jeden neuen Kundenkontakt offen waren, als unzuverlässige, vielleicht sogar befremdliche Berufsgruppe wahrnehmen mussten. Vor allem ihre Bereitschaft, westliche Unternehmen als echte Partner anzuerkennen, ein kollegiales Verhältnis aufzubauen, ja sogar Freundschaften zu schließen, stieß bei den Offizieren des MfS auf Unverständnis. »Zum Teil«, so Schalck-Golodkowski und Volpert in ihrer Dissertation, »herrscht bei DDR-Wirtschaftsfunktionären blindes Vertrauen zu den Geschäftspartnern aus Westdeutschland und Westberlin. Das führt zu Leichtfertigkeit und Vernachlässigung der Wachsamkeit, insbesondere auf dem Gebiet des Geheimnisschutzes«. Vor allem in der Figur des »seriösen Geschäftsmannes«, der angeblich loyal an der Seite der DDR stand, erkannten beide Autoren eine heimtückische Falle. »Man will trotz einer Vielzahl vorliegender Beweise einfach nicht wahrhaben, dass viele dieser äußerlich so ›freundlich‹ auftretenden Geschäftsleute – in der Maske eines Biedermannes – gekaufte Agenten imperialistischer Geheimdienste sind bzw. im Auftrage 107  Eine Darstellung der abgeschirmten Lebenswelt der hauptamtlichen Mitarbeiter bietet Lenski: Parallelgesellschaft, S. 244. 108  Vgl. ebenda, S. 242, 259 u. 315. Gieseke erkennt in der Berufswelt des MfS, die weit in den privaten Raum ausgriff, Merkmale einer »totalen Organisation« nach dem Konzept des Soziologen Erving Goffmann. Vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 277. 109  Vgl. Lenski: Parallelgesellschaft, S. 244.

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der Konzerne umfangreiche Störtätigkeit gegen die Volkswirtschaft der DDR durchführen«, so die Ausführungen von Schalck und Volpert.110 Mit einem zentralen Grundprinzip des MfS kollidierte diese Offenheit der Wirtschaftsfunktionäre ganz besonders: mit dem grundlegenden Verbot, im Privatleben Westkontakte zu pflegen. Dies galt sowohl für jeden hauptamtlichen Mitarbeiter als auch für alle Mitglieder seiner Familie.111 Der Westen musste daher in den Augen der meisten Offiziere bis zuletzt eine unbekannte Sphäre bleiben, eine gefährliche Gegenwelt, in der man nur mit ausgeprägtem Feindbewusstsein und politischem Instinkt bestehen konnte. Kaufleute, die im Ausland lediglich als unpolitische Experten und pragmatische Unterhändler auftreten wollten, unterschätzten aus dieser Perspektive ihre eigene Gefährdung, verkannten, dass sie im Zentrum einer subtilen und langfristig angelegten Strategie der Einflussnahme standen. 3.4.1 Zeitaufwendig, politisch und restriktiv: Die »Sicherheitsüberprüfung« des MfS als entscheidende Etappe des Kaderbestätigungsverfahrens Aufgrund der dominanten Vorstellung, staatliche Leiter und Außenhändler seien äußeren Einflussnahmen besonders intensiv ausgesetzt, verwundert es nicht, dass ihrer Auswahl und Kontrolle eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Wie genau ein Reisekader für eine Auslandsdienstreise überprüft und im weiteren Verlauf mithilfe von Direktiven und Berichtspflichten angeleitet wurde, soll im Folgenden näher betrachtet werden. Der Umgang mit dieser Personengruppe, der hier aus den Überlieferungen der Kombinate Leuna und Bitterfeld rekonstruiert wird, veranschaulicht die enormen bürokratischen Anstrengungen, um die Interaktionen mit westlichen Handelspartnern unter Kontrolle zu halten. Neben dem MfS waren dabei zahlreiche betriebliche, parteiliche und staatliche Stellen involviert. Am Anfang des Auswahl- und Überprüfungsverfahrens für Reisekader stand der Antrag eines Fach- oder Betriebsdirektors des Kombinats, um eine Personalie samt ausgearbeiteter Direktive bestätigen zu lassen.112 Dieser Antrag benötigte zunächst die Unterschrift sowohl des Sekretärs der SED-Grundorganisation der antragstellenden Direktion als auch die des Fachdirektors für Absatz 110 Schalck-Golodkowski; Volpert: Vermeidung ökonomischer Verluste, S. 71. 111  Vgl. Lenski: Parallelgesellschaft, S. 244. 112  Formal antragsberechtigt für Einreisen und Ausreisen waren alle Fach- und Betriebsdirektoren, der Hauptbuchhalter des Kombinats, der 1. Sekretär der Kreisleitung der SED, der Vorsitzende des Kreisverbands der IG Chemie, Glas und Keramik sowie der 1. Sekretär der Kreisleitung der FDJ. Vgl. Kombinat Leuna, Generaldirektion: Ordnung über die Arbeitsweise der Reisestelle des Generaldirektors vom 22.12.1983; LHASA, MER, I 525, Nr. 17238, Bl. 145.

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und Beschaffung, bevor er bei der Reisestelle des Kombinats (in der Direktion Kader und Bildung) eingereicht werden konnte.113 Hier wurde der Kader- und Verhandlungsvorschlag kurz vorgeprüft, um ihn anschließend an den Generaldirektor weiterzuleiten, der ihn wiederum seiner Kontroll- und Beratungsgruppe (KBG), einer Art »Kaderabteilung« an der Spitze des Kombinats, überstellte.114 Dem KBG kam nun die Aufgabe zu, Kandidat und Direktive mit der SED-Kreisleitung im Kombinat abzustimmen, ein Vorgang, der für den Erfolg des Antrags entscheidende Bedeutung hatte und bis zu einem Monat dauern konnte.115 Den Hauptteil dieser Bearbeitungszeit, etwa 20 Tage, nahm dabei eine von der SED veranlasste Kaderprüfung des MfS in Anspruch, eine sogenannte Sicherheitsüberprüfung, die als Kern des Kaderbestätigungsverfahrens angesehen werden kann. Diese umfassende Musterung einer Person bildete neben dem Operativen Vorgang und der Operativen Personenkontrolle eine eigenständige geheimdienstliche Überwachungsmaßnahme, deren Ablauf in einer eigenen Richtlinie geregelt wurde und im Folgenden kurz dargelegt werden soll.116 Grundsätzlich dienten »Sicherheitsüberprüfungen« dazu, »sicherheitspolitisch bedeutsame« Personen, wie Reise- und Verhandlungskader, Führungskräfte im Betrieb oder politisch auffällige Personenkreise, zu durchleuchten.117 Eine solche Personenüberprüfung galt als niedrigste Stufe der Überwachung und benötigte eigentlich keinen konkreten Anlass, wie etwa einen Straftatverdacht oder eine bevorstehende Dienstreise.118 Da die Offiziere mit der zunehmenden Interaktion der Kombinate mit westlichen Unternehmen nahezu alle Leiter und Geheimnisträger als »sicherheitspolitisch bedeutsam« einstuften, entwickelte sich die »Sicherheitsüberprüfung« im Laufe der 1970er-Jahre zu einem wahren Massengeschäft der Objektdienststellen, für die nicht selten eine eigene Arbeitsgruppe oder sogar ein ganzes Referat eingesetzt wurde.119 Die OD Buna 113  Vgl. Kombinat Leuna: Schema des Durchlaufes von Anträgen auf Genehmigung von Auslandsdienstreisen, 1983; LHASA, MER, I 525, Nr. 17238, Bl. 167. 114  Vgl. Kombinat Leuna, Generaldirektion: Aktennotiz über Gespräch von Generaldirektor Erich Müller mit dem Leiter der Kontroll- und Beratungsgruppe beim Generaldirektor vom 16.6.1977; LHASA, MER, I525, Nr. 15955, n. p. 115  Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Auswahl, Bestätigung und Einsatz von Auslandsund Reisekadern der Linie XVIII zu dienstlichen Aufenthalten im NSW vom 29.5.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 300, Bl. 261. 116  Vgl. Richtlinie des MfS Nr.  1/82 zur Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen vom 17.11.1982, abgedruckt in: Buthmann: Kadersicherung, S. 174–200. 117  Vgl. Präambel zur Richtlinie des MfS Nr. 1/82 zur Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen vom 17.11.1982. In: ebenda, S. 61 u. 174. 118  Vgl. Gill; Schröter: Das MfS, S. 124. 119  Vgl. Buthmann: Kadersicherung, S. 61. Nach Ansicht des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk zählten die jährlich »hunderttausenden ›Sicherheitsüberprüfungen‹« zur »Alltagsarbeit« der Kreis- und Objektdienststellen. Siehe Kowalczuk: Stasi konkret, S. 203.

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führte zum Beispiel im Jahr 1980 370 und im Jahr 1981 512 »Sicherheitsüberprüfungen« durch.120 In Bitterfeld waren es sogar 1 249 Überprüfungen im Jahr 1980 und 1 695 im Jahr 1981.121 Im Mittelpunkt einer solchen MfS-internen Musterung stand stets das Charakterbild der betreffenden Person, vor allem seine innere Haltung zum sozialistischen Staat, seine politische Entwicklung der vergangenen Jahre sowie mögliche abweichende oder gar »feindliche« Verhaltensweisen. Auch der Zustand seiner Ehe, seine Vorlieben in der Freizeit und sein familiärer Hintergrund waren von Interesse.122 Besonders intensiv suchten die Objektdienststellen nach privaten und dienstlichen Kontakten ins westliche Ausland und nach Verbindungen zu sogenannten feindlich-negativen Personen wie Kirchenvertretern oder Ausreiseantragstellern. All diese Informationen sollten letztlich dem MfS ermöglichen, die sozialen und ökonomischen »Bindungen« der Person einzuschätzen, zum Beispiel an die »gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR«, an »Heimat« oder »berufliche Tradition«, an die »Familie« oder an »materielle Werte wie Wochenendgrundstücke, Vermögenswerte und Fahrzeuge«.123 Daraus ließ sich wiederum auf die Zuverlässigkeit des Kaders, auf seine Anfälligkeit für Korruption oder eine mögliche Fluchtgefahr schließen. Zu den typischen Ausschlusskriterien zählten demnach charakterliche Schwächen wie »Schwatzhaftigkeit«, Sucht- oder Korruptionsanfälligkeit, »westliche« Denk- und Verhaltensweisen, kirchliche Bindungen, Westkontakte (auch bei Freunden und Verwandten) sowie Regelverstöße auf vergangenen Dienstreisen, zum Beispiel gegen die Zollund Devisenbestimmungen oder gegen die Reisedirektive.124 Die fachliche Eignung spielte hingegen keine Rolle. Statt die Leistungen des Beschäftigten für das Kombinat zu berücksichtigen, zählte ausschließlich seine sicherheitspolitische Tauglichkeit. Dabei galt aus Sicht der Offiziere jede Ar120 Vgl. OD Buna: Auskunftsbericht vom 21.1.1982; BStU, BAf NS, AKG, Nr.  2081, Bl. 133. 121  Vgl. OD CKB: Auskunftsbericht vom 21.1.1982; ebenda, Bl. 162. 122  Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Auswahl, Bestätigung und Einsatz von Auslands- und Reisekadern der Linie XVIII zu dienstlichen Aufenthalten im NSW vom 29.5.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 300, Bl. 251. Vgl. ebenso OD Buna: Auszug aus der Rückflussinformation der Abteilung XVIII zur Aufklärung von NSA-Reise- und Auslandskader vom 12.4.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1189/88, Bl. 287. 123  Richtlinie des MfS Nr.  1/82 zur Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen vom 17.11.1982. In: Buthmann: Kadersicherung, S. 182. 124  Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Übersicht über den Stand der Aufklärung von NSW-RK/AK und eingeleitete Reisesperren. Anlage zu einem Bericht der Abteilung XVIII über die Sicherung der Außenwirtschaftsbeziehungen vom 10.5.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 256, Bl. 351 f.; vgl. ebenso Anlage zum Schreiben des Stellvertreters Operativ der BV Halle, OSL Rolf Schöppe, an alle KD/OD-Leiter: Information zum Stand und zu Problemen der Durchsetzung der Prinzipien von Sicherheit und Ordnung bei der Auswahl, Bestätigung und dem Einsatz von Kadern aus Objekten der Linie XVIII zu dienstlichen Aufenthalten im NSW vom 11.11.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 300, Bl. 254.

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beitskraft grundsätzlich als austauschbar, als mechanisch versetzbare Beschäftigungseinheit. Faktoren wie Teamfähigkeit, Identifikation mit dem Standort oder berufliche Erfahrung wurden hingegen kaum beachtet. »Das MfS hat so etwas per Selbstverfasstheit nicht erkennen können«, so Reinhard Buthmann. »Es offenbarte hierin seinen ›blinden Fleck‹ als eine Fehlwahrnehmung erster Ordnung.«125 Trotz dieser Unfähigkeit, einen Kader aus betrieblicher Perspektive adäquat und pragmatisch zu bewerten, zeigten die Objektdienststellen bei einer »Sicherheitsüberprüfung« großes Talent, in relativ kurzer Zeit eine Vielzahl biografischer, beruflicher und sozialer Informationen zusammenzutragen. Ein solches schnelles »Profiling« wurde durch ganz unterschiedliche Quellenzugänge möglich gemacht: Zunächst konnten die Offiziere auf MfS-eigene Datenbanken zurückgreifen, unter anderem auf die Reisedatenspeicher der Hauptabteilung VI (zuständig für die Überwachung des grenzüberschreitenden Reiseverkehrs, der Passkontrollen und der Interhotels), die Adressdateien und Schriftspeicher der Abteilung M (zuständig für die Postkontrolle) oder die sogenannte Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskartei jeder einzelnen Diensteinheit, in der alle bislang gesammelten Informationen über die zu prüfende Person zusammengestellt waren. Darüber hinaus besaßen die Objektdienststellen Zugang zu den Informationsspeichern verschiedener staatlicher Einrichtungen wie der Zollverwaltung, der Ämter für Arbeit, der Finanzorgane oder der Volkspolizei. Bei wichtigen Sicherheitsüberprüfungen gewannen die MfS-Offiziere entscheidende Hinweise auch durch den Einsatz von inoffiziellen Mitarbeitern im Arbeits- und Wohnumfeld des betroffenen Kaders. Sie stellten die amtlich nicht registrierten und nicht eindeutig messbaren »weichen« Daten wie Charakterzüge, persönliche Vorlieben, aktuelle Konfliktlagen oder soziale Kontakte zur Verfügung. Die Auswertung all dieser Informationsbestände stellte die Objektdienststelle in einem sogenannten Auskunftsbericht zusammen, der am Ende der »Sicherheitsüberprüfung« von der Abteilung XVIII der Bezirksverwaltung und von der für Reisekader zuständigen Hauptabteilung XVIII/9 in Berlin gegengelesen wurde.126 Signalisierten der Leiter der Hauptabteilung XVIII und der Stellvertreter Operativ der Bezirksverwaltung ihre Zustimmung zum Kadervorschlag, konnte die Objektdienststelle im Kombinat der SED-Kreisleitung eine Genehmigung des Antrags empfehlen. Mit der Unterschrift des 1. Sekretärs war dann der wichtigste Teil des Kaderbestätigungsverfahrens abgeschlossen.127 Als ein125  Buthmann: Kadersicherung, S. 128. 126 Vgl. Stellvertreter Operativ der BV Halle: Überprüfung- und Bestätigungsverfahren zum Einsatz von Auslands- und Reisekadern vom 11.11.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 300, Bl. 245. Vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S. 8. 127  Vgl. Kombinat Leuna, Generaldirektion: Aktennotiz über ein Gespräch von Generaldirektor Erich Müller mit dem Leiter der Kontroll- und Beratungsgruppe beim Generaldirektor vom 16.6.1977; LHASA, MER, I525, Nr. 15955, n. p.

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satzbereit galt der betroffene Reisekader zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht. In einigen Fällen musste der Generaldirektor nämlich noch eine Ministerbestätigung einholen, vor allem wenn es sich um Verhandlungen innerhalb von Regierungskommissionen des RGW oder um die Ausarbeitung von völkerrechtlichen Abkommen und internationalen Wirtschaftsverträgen handelte.128 Für einen solchen Umweg über das Ministerium mussten weitere sechs Wochen veranschlagt werden.129 Als allerletzten Schritt war der Generaldirektor schließlich noch verpflichtet, für alle ausgewählten Kader bei der Abteilung für Auslandsdienstreisen der Arbeitsgruppe Organisation und Inspektion des Ministerrats die Ausstellung einer Reisekadernummer zu beantragen. Erst wenn das Büro Möbis grünes Licht gab, war das Bestätigungsverfahren erfolgreich durchlaufen.130 Scheiterte das Auswahlverfahren an irgendeiner Stelle, blieb es Aufgabe des antragstellenden Betriebsdirektors, dem Außenhändler seinen Ausschluss von der bevorstehenden Dienstreise zu erläutern. Vor allem das MfS legte großen Wert darauf, dass die eigentliche Ursache für eine Ablehnung nicht bekannt wurde. »Dem zuständigen staatlichen Organ«, heißt es in der Richtlinie zur Sicherheitsüberprüfung, sind »für das Gespräch mit der zu überprüfenden Person geeignete Legenden […] zu übermitteln, sodass bei der betreffenden Person keine Vermutung einer Mitwirkung des MfS an der Entscheidung aufkommen kann.«131 Der Kaderstamm für Westreisen, der mit diesem Prüfungsverfahren zusammengestellt wurde, bestand im Kombinat Buna im Jahr 1987 aus 130 Personen. Sie absolvierten etwa 100 Dienstreisen pro Jahr ins westliche Ausland und beteiligten sich an bis zu 500 Verhandlungsrunden mit Vertretern westlicher Firmen auf dem Territorium der DDR, entweder auf dem Gelände des Stammwerks Schkopau oder in den Räumen der Außenhandelsbetriebe in Berlin.132 Die Leu128  Ebenso bei Beratungen in den Institutionen des RGW und bei Verhandlungen über Planabstimmungen zwischen den Betrieben der DDR, vgl. Kombinat Bitterfeld: Organisationsanweisung. Regelung zur Gewährleistung von Sicherheit, Ordnung und Geheimnisschutz, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1522, Bl. 48 f. 129  Vgl. Ministerium für Chemische Industrie: Ordnung 3/82 zur Auswahl, Bestätigung und Vorbereitung von Reise- und Auslandskadern und zur Durchführung von Auslandsdienstreisen im Bereich der chemischen Industrie vom 25.6.1982; BArch, DG 11/3492, n. p. 130 Vgl. Stellvertreter Operativ der BV Halle: Überprüfung- und Bestätigungsverfahren zum Einsatz von Auslands- und Reisekadern vom 11.11.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 300, Bl. 245. 131  Richtlinie des MfS Nr.  1/82 zur Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen vom 17.11.1982. In: Buthmann: Kadersicherung, S. 194. 132  Vgl. OD Buna: Feindliche negative Angriffe des Gegners auf die Bereiche der Wissenschaft und Technik sowie gegen die Außenwirtschaftsbeziehungen und Erfordernisse zur Qualifizierung des Geheimnisschutzes vom 14.5.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 622, Bl. 57.

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na-Werke setzten im Jahr 1986 158 und das Kombinat Bitterfeld im Jahr 1982 200 Außenhändler ein. Alle drei Kombinate zusammen unterhielten Handelsbeziehungen zu Unternehmen in mehr als 20 westlichen Ländern.133 Buthmann bezeichnet die Auslese für diesen Kaderstamm als ausgesprochen restriktiv. Schon bei geringfügigen Auffälligkeiten waren MfS und SED bereit, selbst talentierte und gefragte Fachkräfte aus ihren Positionen zu entfernen, aus Bewerbungsverfahren herauszunehmen oder für Westreisen zu sperren.134 Durch den Umfang an gesammelten Informationen und der langen Liste an möglichen Ausschlusskriterien war es den Offizieren ein Leichtes, jederzeit eine fehlende Eignung feststellen zu können. Der Überprüfung haftete demnach etwas Willkürliches an. Nicht selten nahmen die Offiziere ein paar Unregelmäßigkeiten auch zum Anlass, um eine »Sicherheitsüberprüfung« zu einer »Operativen Personenkontrolle« oder sogar zu einem »Operativen Vorgang« auszuweiten. Dass diese Überprüfungspraxis weitreichende Folgen für den Betroffenen haben konnte, war dem MfS genau bewusst. »Die im Ergebnis der Sicherheitsüberprüfungen zu treffenden Entscheidungen tragen einen zutiefst politischen Charakter und können zugleich weitgehende Auswirkungen auf die persönliche Entwicklung und die Realisierung persönlicher Interessen der überprüften Person haben«, heißt es unmissverständlich in der entsprechenden Richtlinie.135 Dass aber auch die kombinatseigene Außenhandelsarbeit als Ganzes und mit ihr die übergeordnete Sozial- und Konsumpolitik der SED durch die restriktive Kaderprüfung in Mitleidenschaft gezogen wurde, realisierten Vertreter von SED und MfS weniger deutlich. Einen störenden Effekt konnte man zum Beispiel im Kombinat Leuna beobachten, das seine Dienstreisen ins westliche Ausland zwischen 1971 und 1980 mehr als verdoppelt hatte und daher umso stärker auf talentierte Außenhändler angewiesen war.136 Anstatt aber auf den erhöhten Fachkräftebedarf der Leuna-Werke einzugehen, hielten führende Stellen von Partei, MfS und Ministerrat am langwierigen Genehmigungsverfahren fest. Im Juni 1977 beschwerte sich zum Beispiel der Generaldirektor Erich Müller beim Leiter der Kontroll- und Beratungsgruppe seines Kombinats, dass die Prüfung einer Delegation von Außenhändlern, die mit dem österreichischen Unternehmen Voest Alpine Verhandlungen über den Ankauf einer neuen Vakuumdestil133  Vgl. OD CKB: Einschätzung der politisch-operativen Lage für die Jahresplanung 1989 vom 12.10.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr.  1269, Bl.  13; vgl. Leiter der Inspektion des Generaldirektors, Lutz Nagel: Sicherheitspolitische Studie des Kombinats VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« für den Fünfjahresplan 1986–1990 vom 23.12.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 402, Bl. 12. 134  Vgl. Buthmann: Kadersicherung, S. 130. 135  Vgl. Präambel der RL 1/82. In: ebenda, S. 61. 136  Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Auswahl, Bestätigung und Einsatz von Auslandsund Reisekadern der Linie XVIII zu dienstlichen Aufenthalten im NSW vom 29.5.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 300, Bl. 261.

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lation aufnehmen sollte, anderthalb Monate beanspruchte. Eine Bearbeitung bei der »Dienststelle MfS« vom 29.4 bis 18.5, so die Feststellung Müllers, sei »deutlich zu lang«.137 Eine Beschleunigung der Genehmigungsverfahren bewirkte diese kritische Stellungnahme allerdings nicht. Der Kombinatsleitung blieb daraufhin nichts anderes übrig, als einige ihrer eigenen Prüfinstanzen, wie die Rechtsabteilung oder die Reisestelle, zu streichen. Auf diese Weise sollte wenigstens der Antragsweg vom Fachdirektor bis zum Generaldirektor verkürzt werden.138 Aufgrund der Dringlichkeit zahlreicher Vertragsverhandlungen setzte sich die Generaldirektion seit Beginn der 1980er-Jahre in einigen Fällen aber auch gänzlich über die Bestätigungspflichten für Außenhandelsdelegationen hinweg. Mit großer Verärgerung musste zum Beispiel der Stellvertreter Operativ der Bezirksverwaltung Halle, Rolf Schöppe, im November 1981 feststellen, dass es bei den Leuna-Werken zunehmend üblich sei, Außenhändlern auch ohne Zustimmung des Leiters der Hauptabteilung XVIII und seiner Diensteinheit auf Dienstreisen zu schicken. »Diese Handhabung«, so Schöppe, »widerspricht völlig der angewiesenen Verfahrensweisen und erreicht ein nicht mehr vertretbares Ausmaß.«139 Auch an dieser Stelle ist allerdings auf die ZK-Mitgliedschaft von Kombinatsdirektor Müller hinzuweisen, ohne die eine solche Brüskierung des MfS kaum denkbar gewesen wäre. 3.4.2 Unter Rechtfertigungsdruck: Die Anleitung der Außenhändler durch Direktiven und Berichtspflichten Die allgemeinen Merkmale der Sicherheitsüberprüfung und das Beharren der Bezirksverwaltung, das umständliche Bestätigungsverfahren einzuhalten, zeigen deutlich, dass das MfS vor allem bei der praktischen Organisation der kombinatseigenen Außenhandelsbeziehungen nicht als pragmatische Hilfe, sondern als störende Barriere auftrat. Weder achteten die MfS-Offiziere darauf, gut vernetzte und erfahrene Außenhändler auszuwählen, noch stellten sie sich bei der 137  Kombinat Leuna, Generaldirektion: Aktennotiz Erich Müller vom 16.6.1977; LHASA, MER, I 525, Nr. 15955, n. p. 138  Vgl. Kombinat Leuna: Schema des Durchlaufes von Anträgen auf Genehmigung von Auslandsdienstreisen, 1983; LHASA, MER, I 525, Nr. 17238, Bl. 167. In besonders dringenden Fällen konnte der Generaldirektor bei der Kontroll- und Beratungsgruppe auch einen »Sofortbearbeitungsantrag« einreichen. Für ein größeres Kompensationsprojekt wie das der Vakuumdestillation wäre auch eine »Jahresgeneraldirektive« möglich gewesen. Für einzelne Ausreisen hätte es dann nur noch einer »Teildirektive« mit kürzerer Bearbeitungszeit bedurft. Vgl. Kombinat Leuna, Inspektion des Generaldirektors: Schreiben des Sicherheitsinspektors an Generaldirektor Müller vom 14.6.1977; LHASA, MER, I 525, Nr. 15957, n. p. 139  Stellvertreter Operativ der BV Halle: Überprüfung- und Bestätigungsverfahren zum Einsatz von Auslands- und Reisekadern vom 11.11.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 300, Bl. 246.

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Prüfung der Verhandlungskollektive auf den Zeitdruck und die konkreten organisatorischen Erfordernisse der jeweiligen Dienstreise ein. Priorität besaß aus ihrer Sicht, dass die sicherheitspolitischen Ausschlusskriterien eingehalten wurden. Hatte ein Außenhändler das Prüfungsverfahren schließlich erfolgreich durchlaufen, blieb er weiterhin im Fokus der Sicherheitsorgane. Kombinat und MfS achteten darauf, dass seine Eigenständigkeit auch bei der anschließenden praktischen Arbeit im Ausland stark begrenzt blieb. Für eine maximale Kontrolle der Westreisekader wurde dabei auf drei Instrumente zurückgegriffen, die im Folgenden erläutert werden sollen: auf Verhandlungsdirektiven, Berichtspflichten sowie die politische Anleitung und konspirative Beobachtung mithilfe der Reisestelle. Zunächst legte die Verhandlungsdirektive die allgemeinen Verhaltensregeln, praktischen Abläufe und inhaltlichen Zielsetzungen der Dienstreise detailliert im Voraus fest, um die Spielräume der Reisekader für eigene fachliche Initiativen oder persönliche Unternehmungen möglichst kleinzuhalten. Die Direktive verfolgte das Ziel, den einzelnen Unterhändler auf die Standpunkte des Kombinats und die übergeordnete handelspolitische Konzeption der DDR einzuschwören.140 Die Ausarbeitung dieses umfassenden offiziellen Arbeitsauftrags lag in der Verantwortung des Betriebsdirektors und bedurfte einer Bestätigung durch den Generaldirektor.141 Auch wenn diese Bestätigung nie ohne Gegenzeichnung des Sicherheitsbeauftragten erfolgte und die Objektdienststelle vor Reisebeginn jede Direktive zur Einsicht erhielt, vermied es das MfS in der Regel, sich bei diesen organisatorischen und inhaltlichen Festlegungen direkt einzumischen. Auch an dieser Stelle galt die Vorgabe der Richtlinie 1/82, dass zwischen »operativer« und betrieblicher Arbeit genau unterschieden werden sollte.142 Unternahmen die Offiziere doch einmal den Versuch, spezifische Sicherheitsinteressen in den Direktiven zu verankern, konnte das schnell Proteste der kombinatseigenen Außenhandelsdirektion auslösen. Im Jahr 1987 konfrontierte zum Beispiel der Sicherheitsbeauftragte der Leuna-Werke den Direktor für Beschaffung und Absatz, Gerhard Kastl, mit einer ganzen Reihe von Sicherheitsvorschriften, die in zukünftige Verhandlungsdirektiven eingefügt werden sollten. Unter anderem sollte den Außenhändlern untersagt werden, Verhandlungen in öffentlichen Restaurants zu führen. Mit deutlichen Worten wies 140  Siehe Verhandlungsordnung Kombinat Bitterfeld: Regelungen zur Gewährleistung von Sicherheit, Ordnung und Geheimnisschutz bei der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Verhandlungen mit ausländischen Bürgern im In- und Ausland und für die dienstlichen Einreisen in Sperrbereiche der Staatsgrenze der DDR, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, CKB, Nr. 1522, Bl. 60. 141  Auch muss hier wieder die Notwendigkeit einer »Ministerbestätigung« bei den o. g. Fällen berücksichtigt werden. Vgl. ebenda, Bl. 48–50. 142  Vgl. DA 1/82. In: Buthmann: Kadersicherung, S. 148.

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Kastl diese Vorgaben zurück. In einem Schreiben an den Generaldirektor Müller stellte er klar, dass nur er allein für Exportfragen verantwortlich sei und sich dabei stets nach internationalen Gepflogenheiten richte.143 Direktiven mitzugestalten, stünde neben den Fach- und Betriebsdirektoren nur der SED-Industriekreisleitung, dem Generaldirektor und in Ausnahmefällen dem Minister zu. Überdies würden die Forderungen der Inspektion »die notwendige Marktarbeit nur verkomplizieren«, so Kastl. Generaldirektor Müller, der der Inspektion während seiner gesamten Amtszeit ohnehin mit großen Vorbehalten gegenüberstand, ergriff bei dieser Angelegenheit klar Position für seinen Außenhandelsdirektor. Auf sein Beschwerdeschreiben entgegnete er lapidar: »Denen brauchst du das nicht zu erzählen, die machen sowieso bloß Käse [sic!].«144 Der Sicherheitsbeauftragte – und mit ihm die Objektdienststelle – wurden in diesem Fall also klar in ihre Schranken gewiesen, und das, obwohl es sich um ein rein sicherheitspolitisches Anliegen gehandelt hatte. Allerdings blieb den Offizieren in solchen Situationen immer noch die Möglichkeit, ihren Sicherheitsgesichtspunkten indirekt Geltung zu verschaffen, über den Weg einer klassischen IM-Zusammenarbeit. So erhielten IM-verpflichtete Außenhändler neben der offiziellen Instruktion im Rahmen der Reisedirektive immer auch inoffizielle Aufträge in schriftlicher Form, die eigens durch den Leiter der Objektdienststelle gegengezeichnet werden mussten.145 Da ein Drittel des Reisekaderstamms mit solchen zusätzlichen Geheimdirektiven abgedeckt wurde, blieben alltägliche, aber aus Sicht des MfS sicherheitsrelevante Situationen – wie Verhandlungspausen oder Feierabende, der Umgang mit Geschenken oder das Verhalten bei ungeplanten Kontakten – unter Aufsicht und Kontrolle der zuständigen Objektdienststelle. Noch wichtiger als die Direktiven erachtete das MfS allerdings die umfassenden Berichtspflichten der Reisekader, um ihr Verhalten auf Dienstreisen angemessen kontrollieren und beeinflussen zu können. Die über die Reisestelle des Kombinats organisierte Berichterstattung der Außenhändler bestand dabei aus zwei Teilen: dem »Sofortbericht«, der sogenannte Teil 1, und dem ausführlicheren »Verhandlungsbericht«. Im ersten Teil, der spätestens drei Tage nach Beendigung der Dienstreise vorliegen musste, wurden klassische Sicherheitsfragen abgehandelt, wie Korruptionsversuche, Schwierigkeiten beim Grenzübertritt, Kontaktanfragen von unbekannten Personen oder das allgemeine Verhalten der Verhandlungspartner – Vorkommnisse also, die in erster Linie die Staatssicher143  Vgl. OD Leuna: Wiedergabe des Schriftverkehrs vom 19.8.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 151/ 74, Teil II, Bd. 2, Bl. 117. 144  OD Leuna: Ergebnisbericht zur Analyse der IM Akte »Peter Wolf« vom 30.11.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 151/ 74, Teil II, Bd. 2, Bl. 133. 145  Vgl. AKG der BV Halle: Bericht über die Nachkontrolle in der OD Buna zum Stand und zur Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung vom 22.8.1989; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 1785, Bl. 40.

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heit interessierten.146 Da allen Reisekadern bewusst war, dass dieser »Teil 1« für das MfS bestimmt war, bewirkte er eine kritische wechselseitige Beobachtung im Verhandlungsteam und einen Hang zur Vorsicht und Selbstdisziplinierung während der Dienstreise.147 Im zweiten Teil, dem »Verhandlungsbericht«, nahmen die Unterhändler dann zu den erreichten Ergebnissen der Verhandlungen Stellung: Welche Verhandlungsstrategie war beim Partnerunternehmen deutlich geworden? Welche allgemeinen außenwirtschaftlichen Trends ließen sich beobachten? Und welche Kombinatsinteressen konnten konkret verwirklicht werden?148 Der Verhandlungsbericht thematisierte also rein fachliche Fragen zum laufenden Investitions- oder Exportvorhaben. Er musste spätestens zwei Wochen nach Beendigung der Dienstreise bei der Reisestelle eingehen.149 Beide Aspekte, der Inhalt der Verhandlungen und die sicherheitspolitischen Umstände der Reise, wurden anschließend von der Reisestelle des Kombinats in Abstimmung mit der Objektdienststelle ausgewertet und auf widersprüchliche Angaben überprüft. Bei Unstimmigkeiten zitierte die Reisestelle nicht selten einzelne Delegationsteilnehmer zu einer mündlichen Befragung.150 Für IM-verpflichtete Reisekader stand nach der Einreichung der beiden Berichtsformen noch ein ausführliches Gespräch mit dem Führungsoffizier auf dem Plan, bei dem nicht selten auch operative Mitarbeiter der Abteilung XVIII der Bezirksverwaltung und der Offizier für Aufklärung der Objektdienststelle anwesend waren.151 Hans Joachim Scharf, bis Anfang der 1980erJahre Hauptabteilungsleiter für Absatz in den Buna-Werken, erinnert sich, dass zu Beginn der 1970er-Jahre bei solchen Treffen noch hauptsächlich westliche Unternehmen im Mittelpunkt standen, hier vor allem ihre Strategien, Ziele und 146  Vgl. Verhandlungsordnung Kombinat Bitterfeld: Regelungen zur Gewährleistung von Sicherheit, Ordnung und Geheimnisschutz bei der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Verhandlungen mit ausländischen Bürgern im In- und Ausland und für die dienstlichen Einreisen in Sperrbereiche der Staatsgrenze der DDR, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, CKB, Nr. 1522, Bl. 67. 147  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Hans Joachim Scharf, ehemaliger Hauptabteilungsleiter Absatz in der Direktion Beschaffung und Absatz in Buna, in Amsdorf am 24.11.2014. 148  Vgl. Verhandlungsordnung Kombinat Bitterfeld: Regelungen zur Gewährleistung von Sicherheit, Ordnung und Geheimnisschutz bei der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Verhandlungen mit ausländischen Bürgern im In- und Ausland und für die dienstlichen Einreisen in Sperrbereiche der Staatsgrenze der DDR, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, CKB, Nr. 1522, Bl. 68. 149  Vgl. ebenda, Bl. 63. 150  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Hans Joachim Scharf, ehemaliger Hauptabteilungsleiter Absatz in der Direktion Beschaffung und Absatz in Buna, am 24.11.2014. 151  Vgl. AKG der BV Halle: Bericht über die Nachkontrolle in der OD Buna zum Stand und zur Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung vom 22.8.1989; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 1785, Bl. 40; vgl. ebenfalls die Weisung 2/85 des Leiters der OD CKB vom 28.3.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1522, Bl. 30.

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allgemeinen Umgangsformen. In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre sei das Interesse der Objektdienststelle allerdings von den Unternehmen zu den Buna-eigenen Kadern umgeschwenkt. Fortan sollten in erster Linie Fragen über persönliche Vorlieben, auffällige Verhaltensweisen oder Regelverstöße der eigenen Kollegen erläutert werden.152 Scharfs Beobachtung lässt darauf schließen, dass mit der zunehmenden Intensität der ost-westlichen Handelsbeziehungen das ohnehin starke Misstrauen der Offiziere gegenüber den eigenen DDR-Führungskräften und Außenhändlern noch einmal deutlich zugenommen haben musste. Ein Blick in die IM-Akten der Reisekader macht allerdings ebenso deutlich, dass sich auch in den 1980er-Jahren viele IM-Gespräche weiterhin um konkrete Vertragsinhalte drehten. Warum ein bestimmter Preis vereinbart wurde, warum eine Reklamation nicht verhindert werden konnte oder warum ein bestimmter Anbieter in Betracht gezogen wurde, mussten die Außenhändler ihren Führungsoffizieren ausführlich erläutern, vor allem dann, wenn bei ihnen der Verdacht im Raum stand, westliche Unternehmen bevorteilt zu haben. Durch eine solche intensive Nachkontrolle stand der IM bei all seinen Aktivitäten im Ausland unter permanentem Rechtsfertigungsdruck. Es war vor allem dieses nachträgliche Zur-Rede-Stellen und Erklärungen abverlangen – und weniger eine direkte Intervention oder das Untersagen bestimmter Handlungen –, durch die die Offiziere der Objektdienststelle einmal mehr einen störenden Einfluss auf die Außenhandelsarbeit ausübten. Indem sich Außenhändler für jede Abweichung von ihrer Direktive erklären mussten, entwickelten sie ungewollt eine Mentalität der Vorsicht und Regeltreue, die sich zwangsläufig lähmend auf die Außenhandelsgeschäfte auswirken musste. Spielräume für Eigeninitiativen, improvisierte Kontakte oder vertrauliche Gespräche, also jene notwendigen und eigentlich selbstverständlichen Grundlagen kaufmännischer Tätigkeit, wurden mit den Kontrollinstrumenten der Direktiven, Berichtspflichten und nachträglichen Gespräche spürbar eingeschränkt. 3.4.3 Im Dienste des MfS: Die Reisestelle des Kombinats Als eine Etappe im Kaderbestätigungsverfahren und Organisator der Berichterstattung nach jeder Dienstreise ist sie bereits genannt worden: die Reisestelle – das wichtigste Instrument für das MfS, um Reisekader zu kontrollieren, anzuleiten und bei Bedarf zu maßregeln. Für die politische, fachliche und orga-

152  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Hans Joachim Scharf, ehemaliger Hauptabteilungsleiter Absatz in der Direktion Beschaffung und Absatz in Buna, am 24.11.2014.

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nisatorische Vor- und Nachbereitung aller Dienstreisen oblag ihr die Hauptverantwortung.153 Die Verbindungen zwischen Reise- und Objektdienststelle waren daher eng geknüpft: Im Kombinat Bitterfeld zählte die Reisestelle zum Beispiel zur Inspektion des Generaldirektors, der Sicherheitsbeauftragte war damit ihrem Leiter gegenüber weisungsbefugt.154 In den Leuna-Werken unterstand die Reisestelle zwar direkt dem Generaldirektor, war aber als »Sektor KBI« organisatorisch der Fachdirektion Kader und Bildung zugeordnet. Deren Leiter unterhielt zur Objektdienststelle in der Regel ähnlich intensive Kontakte wie der Sicherheitsinspektor.155 Darüber hinaus stand an der Spitze der Reisestelle meist ein zuverlässiger und langjähriger inoffizieller Mitarbeiter, in den Buna-Werken zum Beispiel seit 1985 Ulrich Schmidt156, der zuvor in der Direktion Forschung und Entwicklung als »Führungs-IM« und Sicherheitsbeauftragter gedient hatte, und in Bitterfeld Wilfried Henze, Sohn eines hauptamtlichen Mitarbeiters, der seit 1981 als IM »Paul Kratzer« tätig war.157 Wie sehr das MfS diese Stabsstelle als eigenes Instrument beanspruchte, zeigt ein Vorgang aus dem Jahr 1988 aus dem Kombinat Bitterfeld, als die dortige Reisestelle im Rahmen der Errichtung einer neuen Chlorateanlage um fünf Mitarbeiter erweitert wurde. Die Objektdienststelle nutzte diese Gelegenheit, um zwei neue IM zu platzieren. Dabei erhielten der Reisestellenleiter Henze und der Sicherheitsbeauftragte Karl Heinz Beier den Auftrag, für beide Positionen bestimmte Funktionspläne auszuarbeiten, um den »notwendigen operativen Freiraum« der neuen Mitarbeiter »sicherzustellen«, wie es in einem Protokoll der Diensteinheit heißt.158 Dieser Auftrag macht deutlich, dass es der Objektdienststelle scheinbar problemlos möglich war, auf die personelle Zusammensetzung und die Aufgabenbereiche der Reisestelle Einfluss zu nehmen.159 153  Vgl. Kombinat Bitterfeld: Ordnung über die Aufgaben und Struktur der Reisestelle im VEB CKB vom 7.6.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1522, Bl. 73. 154  Vgl. OD CKB: Persönlicher Auftrag für »Paul Kratzer« vom 29.4.1980; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 1716/76, Teil I, Bd. 1, Bl. 139. 155  Vgl. Kombinat Leuna: Ordnung über die Arbeitsweise der Reisestelle des Generaldirektors vom 22.12.1983; LHASA, MER, I 525, Nr. 17238, Bl. 144. 156  Ulrich Schmidt wurde 1976 als IM der Objektdienststelle Buna geworben und bis 1978 zu einem »Führungs-IM« weiterentwickelt. Im Februar 1985 übernahm er die Leitung der Abteilung Reise- und Auslandskader in Buna. Vgl. OD Buna: Stellungnahme zum Einsatz des FIM »Uwe Rockmann« als Leiter der Abteilung Reise- und Auslandskader im Kombinat vom 19.1.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg. Nr. VIII 820/76, Teil I, Bd. 1, Bl. 177. 157  Vgl. OD CKB: Einschätzung des Reisestellenleiters vom 2.10.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 1716/76, Teil I, Bd. 1, Bl. 225. 158 OD CKB: Protokoll zur Dienstversammlung am 22.8.1988 vom 26.8.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1276, Bl. 74. 159  Die Reisestellen aller Chemiekombinate wurden von der Abteilung für Auslandsdienstreisen im Chemieministerium koordiniert. Deren Kontrolle wiederum übernahm die Abtei-

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Für die im Außenhandel engagierten DDR-Reisekader stand es außer Frage, dass die Reisestelle einen Außenposten des MfS darstellte. Aber auch den meisten westlichen Geschäftspartnern, die sich oft nur kurzzeitig auf dem Werksgelände aufhielten, war bekannt, dass sich hinter dieser Einrichtung die Staatssicherheit verbarg. Als Beispiel kann der Baustellenleiter der Linde AG, Thomas Seydlitz,160 angeführt werden, der im Kombinat Buna Mitte der 1980er-Jahre für die Errichtung einer neuen Produktionsanlage verantwortlich war. Gegenüber einer Mitarbeiterin der Reisestelle, die als IM »Begleiter« den Auftrag erhalten hatte, eine persönliche Beziehung zu ihm aufzubauen, beschwerte er sich offen über die »Aushorchpraktiken« ihrer Kollegen.161 Seydlitz erwarte, so ein Bericht der Objektdienststelle Buna im März 1987, eine baldige Begegnung mit dem MfS. »Durch IM liegen Informationen vor, dass er vor dieser Konfrontation große Angst hat und verschiedene Vorkommnisse in seinem Umfeld damit in Zusammenhang bringt.«162 Ganz allgemein, schloss das Dokument, würde »die Reisestelle […] durch Linde als Institution zur Aushorchung gesehen«.163 »Ich versuche ihm dann immer am Problem Terrorismus zu erklären«, erzählte die Mitarbeiterin der Reisestelle ihrem Führungsoffizier, »dass dieses Organ [das MfS] wichtig ist und wenn wir die nicht hätten, würde es bei uns ähnlich aussehen, wie bei denen drüben. Einen direkten Kontakt zwischen Reisestelle und MfS mache ich ihm dabei nicht plausibel.«164 In der Realität bestand ein solcher »direkter Kontakt« natürlich sehr wohl, und das nicht nur in Form einer inoffiziellen Kooperation, sondern auch ganz regulär, im Rahmen des sogenannten politisch-operativen Zusammenwirkens. Auf offiziellen Wegen verlangte die Objektdienststelle von der Reisestelle eine Vielzahl von Dienstleistungen, etwa die rechtzeitige Unterrichtung über bevorstehende Termine, Ziele und Teilnehmer von Westreisen und Westbesuchen, die schnelle Meldung von Vorfällen im Ausland oder die Abwicklung und Auswertung der Berichterstattung der Reisekader. Neben einer inhaltlichen Analyse der Dienstreisen erwartete die Objektdienststelle ebenso eine kritische Einschätzung des Kaderstamms an sich.165 Anfang der 1980er-Jahre machte zum lung 13 der Hauptabteilung XVIII des MfS in Berlin. Vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S. 8. 160  Name geändert. 161 OD Buna: Information zur Reisestelle, o.  D.; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. AOPK 198/89, Bd. 2, Bl. 70. 162  OD Buna: Zwischenbericht über Dossierarbeit zu Linde vom 27.3.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 198/89, Bl. 61. 163  OD Buna: Information zur Reisestelle, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 198/89, Bd. 2, Bl. 70. 164  OD Buna: Tonbandabschrift vom 6.11.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 198/89, Bl. 33. 165  Vgl. OD CKB: Protokoll zur Dienstversammlung am 22.8.1988 vom 26.8.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1276, Bl. 83; vgl. ebenso Abteilung XVIII der BV Halle: Kon-

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Beispiel der Reisestellenleiter des Kombinats Bitterfeld, Wilfried Henze, die Objektdienststelle darauf aufmerksam, dass die Außenhändler des Kombinats in ihrer Mehrheit überaltert, schlecht ausgebildet und unorganisiert seien. Es gebe »nur sporadische Verlegenheitsreisen für bestimmte Produkte«, jedoch keine »Gesamtstrategie für den Außenhandel«, so Henze.166 Eine solche schonungslose Rückmeldung konnte die Objektdienststelle für ihr eigenes Berichtswesen gegenüber der Kombinatsleitung und den Gremien der SED im Bezirk gut gebrauchen. Die Reisestelle sollte die Offiziere aber nicht nur mit derartig ungeschönten Einschätzungen versorgen, sondern auch sicherstellen, dass diese Probleme abgestellt wurden, dass also Reisekader genauer ausgewählt und besser angeleitet wurden. Aus Sicht des MfS besaß die Reisestelle damit auch die Aufgabe, das Leitungspersonal der Außenhandelsdirektion im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit zu überwachen.167 Um die Disziplin und Zuverlässigkeit der Außenhändler sicherzustellen, setzten das MfS und die übrigen kaderüberwachenden Institutionen neben Direktiven, Berichtspflichten und Kontrollen durch die Reisestelle noch zwei weitere Mittel ein: Erziehung und Druck. Zum einen wurde die politische Schulung der Kader als essenziell erachtet. Nur wenn ein klares Feindbild existierte, so die Überzeugung der Offiziere und einiger Funktionäre des Kombinats, wenn Außenhandel als »Klassenkampf« und Kaufleute als »Kontrahenten« verstanden wurden, bestand die Chance, den angenommenen subtilen und offenen Einflussnahmen der westlichen Unternehmen standzuhalten.168 Zum anderen gab es für die verantwortlichen Stellen – nicht zuletzt für das MfS – die immerwährende Möglichkeit, die Genehmigung für Westreisen zu entziehen. Diese unausgesprochene, aber stets im Raum stehende Androhung entfaltete eine stark disziplinierende Wirkung, da der Status eines »Westreisekaders« mit einem beachtlichen Prestige verbunden war. Der Kaderstamm der Exportabteilung zählte zur Elite des Kombinats, der »Einsatz im NSW« zum Höhepunkt jeder Außenhandelskarriere. Dafür hatten die angehenden Kaufleute oft schon seit der Oberschule auf alle Westkontakte verzichtet, die Aufnahme auf eine Handelsschule in Leipzig oder Berlin bestanden, eine Mitgliedschaft in der SED beantragt, ein Parteilehrjahr besucht und sich schließlich in der Außenhandelsdirektion des Kombinats so weit nach oben gearbeitet, dass sie am zeption zur Entwicklung der IMB- und Blickfeldarbeit in den Kombinaten und Einrichtungen der chemischen Industrie im Bezirk Halle vom 1.6.1982; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1522, Bl. 26. 166  OD CKB: Einschätzung des Kontrolltreffs mit IM »Paul Kratzer« vom 13.12.1980; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 1716/76, Teil II, Bd. 2, Bl. 67. 167  Vgl. OD Buna: Feindliche negative Angriffe des Gegners auf die Bereiche der Wissenschaft und Technik sowie gegen die Außenwirtschaftsbeziehungen und Erfordernisse zur Qualifizierung des Geheimnisschutzes vom 14.5.1987; BStU, MfS, BV Halle, Buna, Nr. 622, Bl. 59. 168 Ebenda.

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Ende eine Zulassung für Dienstreisen ins »nichtsozialistische Ausland« erhielten.169 Eine solche Westreiseerlaubnis versprach – auch wenn das offiziell niemand zugeben durfte – Einkaufsmöglichkeiten, Restaurantbesuche, Einladungen für Konzerte oder Sportveranstaltungen sowie einen spannenden Einblick in kapitalistische Unternehmen, vor allem aber: echtes Verhandeln, statt bloßes Verteilen, und das über wertvolle Investitionsgüter auf der Basis von Devisen.170 Erst als »NSW-Reisekader«, so Lutz Kalbitz, in Leuna verantwortlich für den Einkauf von Ölverarbeitungsanlagen, sei man »ein vollwertiger Mitarbeiter der Abteilung Absatz«.171 Ein Verlust wiederum – der Reiseberechtigung oder der sogenannten VVS-Verpflichtung, also des Status als »Geheimnisträger« – kam einem empfindlichen Karriereeinschnitt gleich, für nicht wenige das Ende ihrer beruflichen Entwicklung. Dass eine Streichung als Reisekader jederzeit erfolgen konnte, war den Außenhändlern bei jedem IM-Treffen und bei jedem Termin in der Reisestelle bewusst. Besonders die geheimen, aber dennoch spürbaren Ermittlungen des MfS, sei es eine »Sicherheitsüberprüfung«, um ein Verhandlungskollektiv zusammenzustellen, oder ein Operativer Vorgang, um den Verdacht einer Straftat aufzuklären, verstärkten das grundlegende Gefühl, in seiner beruflichen Position permanent gefährdet zu sein. Dieser andauernde Druck kam den Offizieren der Objektdienststellen sehr gelegen, bildete er doch eine ideale Grundlage, um disziplinierend einzuwirken und eine konspirative Zusammenarbeit aufzubauen. Neben dem Einsatz von Direktiven und Berichtspflichten, der konspirativen Beobachtung und politischen Schulungen durch die Reisestelle war es dieser bewusst erzeugte Zustand der Unsicherheit und Abhängigkeit der Reisekader, durch den die Außenaktivitäten der Kombinate unter Kontrolle gehalten werden sollten. All diese Maßnahmen waren praktisch kaum zu realisieren ohne den Einsatz der Reisestelle – für den Überwachungsbereich »Außenhandel« das wichtigste Hilfsorgan der Objektdienststellen neben dem Sicherheitsbeauftragten. Wie jeder Kooperationspartner des MfS stand aber auch sie unter kritischer Beobachtung. Ihr gegenüber traten die Offiziere als »Kontrolleur der Kontrolleure« auf – und hatten dabei einiges zu beanstanden: Die Leiterin der Reisestelle in Leuna sei zum Beispiel laut einer Einschätzung der Objektdienststelle aus dem Oktober 1989 »für diese Funktion nicht geeignet«. Bei Kaderprüfungen würde die 169  Vgl. Zeitzeugeninterview mit Grit Fabienke, ehemalige Außenhandelskauffrau in der Abteilung Export im Kombinat Buna, am 25.3.2014 und mit Hans Joachim Scharf, ehemaliger Hauptabteilungsleiter Absatz in der Direktion Beschaffung und Absatz in Buna, am 24.11.2014. 170  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Hans Joachim Scharf, ehemaliger Hauptabteilungsleiter Absatz in der Direktion Beschaffung und Absatz in Buna, am 24.11.2014. 171  OD Leuna: IM-Bericht vom 29.8.1978; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 350/87, Teil II, Bd. 4, Bl. 232.

Der Blick des MfS auf die Führungskräfte im Kombinat

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Funktionärin Sicherheitsfragen nur ungenügend Beachtung schenken. Von »gezielten Einflussnahmen auf den IM« erwartete das MfS vor Ort »sichtbare Veränderungen in der Arbeitsweise von GDR«.172 Auch die Beiträge des eigentlich als verlässlich geltenden Leiters der Reisestelle im Kombinat Bitterfeld, Wilfried Henze, kommentierte die Objektdienststelle im Jahr 1987 kritisch: Seine Berichte als IM seien zu formal und technisch und würden sich von seinen Informationen für den Generaldirektor kaum unterscheiden. Vor allem das besondere Interesse des MfS an personenbezogenen Informationen würde Henze nur ungenügend berücksichtigen, so eine interne Bewertung der OD.173 Der für den Bereich Außenwirtschaft verantwortliche Referatsleiter der OD, Major Götz Biel, erwog eine Disziplinierung des Reisestellenleiters mithilfe des Sicherheitsbeauftragten, der für das MfS als »Offizier im besonderen Einsatz« arbeitete. Werner Kirchner, der Leiter der Objektdienststelle in Bitterfeld, reagierte auf diesen Vorschlag zunächst skeptisch: »Soll der OibE die Aufgaben lösen, die dem Genossen Biel [als Führungsoffizier] nicht gelungen sind?«, so Kirchner. Und weiter: »Lässt sich bei 2 000 Mark Brutto keine wirksamere Maßnahme finden, damit dieser für das hohe Gehalt die entsprechenden Leistungen bringt oder ist der IM [Henze] der Ansicht, dass er unentbehrlich ist?«174 Am Ende willigte Kirchner aber doch ein, wohl auch aus Mangel an Alternativen. Ein geeigneter Ersatzkader stand der Objektdienststelle nämlich so schnell nicht zur Verfügung. Ein wenig »unentbehrlich« war Henze in dieser Situation tatsächlich. »Es wird empfohlen«, so Kirchner abschließend, »die Einflussnahme auf den Leiter der Reisestelle über den Leiter der Inspektion zu verstärken. Schwerpunkt sollte dabei die Wiederherstellung der ehemaligen Leistungsbereitschaft des Reisestellenleiters sein.«175

172  Das Kürzel »GDR« stand für Reisestelle des Generaldirektors. Vgl. OD Leuna: Einschätzung der Arbeit der Reisestelle des Generaldirektors vom 30.10.1989; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 370, Bl. 1–4. 173  Vgl. OD CKB: Einschätzung des Reisestellenleiters vom 2.10.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 1716/76, Teil I, Bd. 1, Bl. 225. 174  OD CKB: Notizzettel des OD-Leiters Werner Kirchner, o. D.; ebenda, Teil I, Bd. 1, Bl. 234. 175  Leiter der OD CKB, Werner Kirchner: Information über die Wirksamkeit der Reisestelle im VEB CKB vom 3.5.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1522, Bl. 136.

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3.5  »Stützpunkt« der BASF? Die Westabhängigkeit der Wolfener Farbenfabrik als Ermittlungsgegenstand des MfS Ob das zeitaufwendige Bestätigungsverfahren, die regelmäßigen Musterungen in Form von »Sicherheitsüberprüfungen« oder die lückenlose Anleitung über Direktiven und Berichtspflichten mithilfe der Reisestelle im Kombinat – der Umgang mit Außenhändlern bot zahlreiche Beispiele, die zeigen, dass die auf Abgrenzung und Kontrolle ausgerichteten Reaktionen des MfS auf die zunehmende Verflechtung der DDR mit dem westlichen Ausland sichtbar werden. Die Reise- und Verhandlungstätigkeit der Außenhändler verkörperte die neue Intensität der Außenwirtschaftsbeziehungen ganz besonders und stand daher im Mittelpunkt der geheimpolizeilichen Überwachung. Aus Sicht des MfS stellten aber auch solche Experten und Führungskräfte ein potenzielles Sicherheitsrisiko dar, die eng mit westlichen Unternehmen und Forschungseinrichtungen kooperierten, auch wenn sie selbst nicht als Reiseoder Verhandlungskader im westlichen Ausland eingesetzt wurden. Einen solchen von außen beeinflussten Fachkader wollte das MfS zum Beispiel in Günther Eßbach, dem Leiter der Farbstoffforschung in der Wolfener Farbenfabrik, erkennen. Der gegen ihn durchgeführte Überwachungsvorgang fiel verhältnismäßig umfangreich aus und ist daher gut geeignet, die tiefsitzenden Vorbehalte der Offiziere gegenüber der ökonomischen Teilöffnung der DDR zu Beginn der 1970er-Jahre zu veranschaulichen. Um das Vorgehen des MfS im Fall Eßbach besser zu verstehen, muss zunächst etwas genauer auf die Besonderheiten der Wolfener Farbenfabrik eingegangen werden. Als Alleinerzeuger von organischen Farbstoffen besaß der seit 1969 zum Bitterfelder Werkskomplex zählende Kombinatsbetrieb eine herausgehobene Bedeutung für die gesamte DDR-Volkswirtschaft. Im Jahr 1972 lag das produzierte Volumen dieser Farbstoffe bei gut 1 000 Tonnen.176 Der überwiegende Teil davon, etwa 80  Prozent, fand in der Textilindustrie Verwendung, darunter besonders die seit den 1950er-Jahren hergestellten sogenannten Komplexfarbstoffe. Bekannt unter dem Handelsnamen »Wofalane« war diese Farbstoffklasse durch ihre Anteile von Chrom, Kobalt oder Kupfer besonders für das Färben von synthetischen Fasern geeignet.177 Aufgrund dieser hohen volkswirtschaftlichen Relevanz schenkte auch die SED-Führung der Wolfener Farbstoffproduktion besondere Aufmerksamkeit. Als Grundstoff der Textilbranche und wichtiger Devisenbringer fügte sich die176 Vgl. KD Bitterfeld: Zwischenbericht zum OV »Farbe« vom 31.1.1973; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 1156/76, Bd. 1, Bl. 55. 177  Vgl. ebenda.

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ser Produktionszweig exakt in die neue Politik der Konsumgüterförderung ein. Deutlich wurde die politische Unterstützung der Wolfener Produktionsanlagen unter anderem auf dem VIII. Parteitag der SED im Jahr 1971, als das Politbüro die Aufnahme einer eigenen Direktive allein für die Farbstoffproduktion in den neuen Fünfjahrplan veranlasste. Ihr Titel lautete: »Entwicklung neuer Farbstoffe für die Leichtindustrie als Voraussetzung für die Erfüllung der Hauptaufgabe«.178 Trotz dieser politischen Aufmerksamkeit litt die Farbenfabrik allerdings an einer entscheidenden Schwäche: Sie war kaum in der Lage, mehr als 40 Prozent des Farbenbedarfs der DDR-Industrie abzudecken.179 Da vor allem die schnell anwachsende Produktion synthetischer Fasern in Bitterfeld im Laufe der 1960er-Jahre immer größere Farbstoffmengen notwendig gemacht hatte, musste zum Zeitpunkt des VIII. Parteitags über die Hälfte aller Farbstoffe aus westlichen Ländern importiert werden. Besonders akut sahen die Produktionsrückstände bei modernen Farbstoffklassen aus, etwa bei basischen und reaktiven Farbstoffen für Baumwolle und Viskosefasern, bei optischen Aufhellern für die Waschmittel- und Papierindustrie oder bei Pigmenten für Lacke und Kunststoffe. Für die Herstellung der immer relevanteren Dispersionsfarbstoffe für Synthesefasern wie Polyester oder Azetatseide konnten die Wolfener Farbmischanlagen überhaupt keine Kapazitäten anbieten.180 Hier lag demnach eine vollständige Abhängigkeit von westlichen Einfuhren vor, ähnlich wie bei den sogenannten Zwischenprodukten, also bei jenen Einzelpigmenten, die für den Aufbau komplexerer Farbstoffe benötigt wurden. Das Haupthemmnis für eine größere Eigenständigkeit der Wolfener Farbstoffpalette muss dabei in der kombinatseigenen Forschungsabteilung verortet werden. Bei Zwischenprodukten und neueren Farbtypen gelang es den Wolfener Entwicklern nur selten, Versuchsabläufe im Labormaßstab in eine standardisierte Massenanfertigung überzuleiten.181 Dieses Grundproblem der »Überführung« gab es auch in anderen Industriezweigen der DDR und sollte ursprünglich mit der Bildung von Großkombinaten überwunden werden. Doch die erwünschte Kooperation zwischen Forschung und Produktion blieb nicht zuletzt durch die unterschiedlichen Planausrichtungen der einzelnen Direktionen 178  KD Bitterfeld: Arbeitsprogramm zur Sicherung der Farbstoffforschung vom 11.5.1972; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 1156/76, Bd. 5, Bl. 5. 179  Vgl. Produktionsbereich P5 des CKB: Farbstoffversorgung und Bestandsanalyse für das Jahr 1975 vom 10.2.1975; LHASA, MER, I 509, Nr. 1208, n. p. 180  Vgl. Redebeitrag Heinz Schwarz für die Beratung mit dem Präsidenten der AdW der DDR vom 1.10.1974; LHASA, MER, I 509, Nr. 1267, n. p. 181  Vgl. Produktionsbereich P5 des CKB: Farbstoffversorgung und Bestandsanalyse für das Jahr 1975 vom 10.2.1975; LHASA, MER, I 509, Nr. 1208, n. p; vgl. ebenso Fachdirektor für Beschaffung und Absatz, Albert Dietze: Stellungnahme der ZAG Farbstoffe zum Vorbereitungsmaterial für die Verteidigung der Staatsplanaufgabe 1974 des Investkomplexes Farbstoffe/ Zwipro vom 21.8.1974; LHASA, MER, I 509, Nr. 1255, n. p.

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bis zum Ende der DDR unbefriedigend. Auf die damit einhergehende chronische Innovationsschwäche reagierten viele Betriebe mit der Nachentwicklung westeuropäischer Patente, was wiederum in regelmäßigen Abständen zu Urheberrechtskonflikten mit westlichen Herstellern führte. So reichten zum Beispiel die Patentinhaber BASF, Ciba Geigy und Hoechst regelmäßig Klagen beim westdeutschen und Schweizer Bundespatentgericht gegen die Farbstoffexporte aus Wolfen ein.182 Erschwerend kam hinzu, dass Wolfen in der DDR eine Monopolstellung für Farben innehatte und mit zahlreichen sozialistischen Ländern Lieferverpflichtungen unterhielt, sodass sich die Importabhängigkeit der Farbenfabrik schnell auf den gesamten RGW-Raum übertrug – eine Situation, die sich mit dem primären Ziel des RGW, eine größere Autonomie gegenüber westlichen Märkten zu erlangen, nur schwer vereinbaren ließ. In einem Regierungsabkommen aus dem Jahr 1975 verpflichtete sich zum Beispiel die Organisation »Interchim«, ein RGW-interner Zusammenschluss von Staaten für eine bessere Koordinierung der chemischen Produktion, die Nachfrage nach organischen Farbstoffen und Farbstoffzwischenprodukten bis Anfang der 1980er-Jahre aus eigener Herstellung »höchstmöglich zu decken«. Um die »Abhängigkeit vom kapitalistischen Ausland« zu überwinden, sollte die Farbstoffproduktion im gesamten Wirtschaftsraum des RGW von 1974 bis 1980 um ganze 244 Prozent gesteigert werden.183 Für dieses ambitionierte Ziel stand die Farbenfabrik Wolfen besonders in der Pflicht. Das Problem ihrer hohen Westabhängigkeit wurde daher auch immer wieder kritisch angesprochen. Günther Wyschofsky, Minister für Chemische Industrie, mahnte zum Beispiel bei einem Werksbesuch in Wolfen im Jahr 1973, dass »die Farbenfabrik sich darüber im Klaren sein muss, dass sie eine Farbenfabrik ist und dass es daher ihre historische Aufgabe ist, das Problem der Entwicklung und Herstellung von modernen und weltmarktfähigen, speziell auch für Synthesefasern geeigneten Farbstoffen in eigener Verantwortung zu lösen«.184 Um die grundlegenden Probleme bei der »Überführung« zu beheben, also Forscher, Anwendungstechniker, Produzenten und Außenhändler besser aufeinander abzustimmen, richtete das Werk im Mai 1973 eine »Zentrale Arbeitsgruppe Farbstoffe« unter Leitung des Fachdirektors für Absatz und Beschaffung,

182  Vgl. KD Bitterfeld: Sachstandsbericht vom 16.10.1973; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 1156/76, Bd. 1, Bl.  106; vgl. ebenso KD Bitterfeld: Eröffnungsbericht vom 30.9.1970; ebenda, Bd. 1, Bl. 15. 183  Kombinat Bitterfeld: Vorlage zur Dienstberatung des Generaldirektors.  Verstärkung der Leitungsebenen P5. Bestätigung der Kadervorschläge vom 28.1.1975; LHASA, MER, I 509, Nr. 1208, n. p. 184  Günther Wyschofsky in KD Bitterfeld: Zwischenbericht vom 31.1.1973; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 1156/76, Bd. 1, Bl. 64.

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Albert Dietze, ein.185 In dieser AG sollten auch zwei Großinvestitionen für eine bessere Eigenständigkeit und Exportfähigkeit des Farbstoffsektors umgesetzt werden: ein Neubau für synthetische Farbstoffe (FNB I) und ein Neubau für Zwischenprodukte (Zwipro) – zwischen 1973 und 1976 zwei zentrale Modernisierungsvorhaben in Wolfen, mit denen zusammen über 200 Millionen Mark ausgegeben werden sollten.186 Schon nach kurzer Zeit entwickelten sich diese beiden Projekte allerdings zu Dauerbaustellen im Werk: Sie verursachten außerplanmäßige Ausgaben, gefährdeten den offiziellen Zeitplan der Produktion und brachten eine Reihe staatlicher Leiter in Bedrängnis. Bei einer Dienstberatung im Januar 1975 verkündete zum Beispiel der Bitterfelder Generaldirektor Heinz Schwarz, dass der erst kürzlich eingesetzte Leiter des Farbstoffneubaus, Dr. Dabrunz, »aufgrund starker Mängel in der Leitungstätigkeit von dieser Funktion entbunden werden« müsse. Auch sein Nachfolger, Dr. Lindner, sei »nicht in der Lage, die anstehenden Fragen leitungsmäßig zu beherrschen«, so Schwarz. Ähnlich angespannt schien die Lage auch im Bereich »Zwipro« gewesen zu sein. Auch hier würde der amtierende Betriebsleiter Dr. Lindau nach Angaben des Generaldirektors »den Leistungsanforderungen nicht gerecht« werden. »Er hat diesen Mangel bereits selbst erkannt, indem er um die Ablösung von seiner jetzigen Funktion gebeten hat«, so Schwarz auf der Dienstberatung. Erst ein Jahr zuvor hatte er Lindau einen Verweis wegen »ungenügender Leitungstätigkeit« erteilen müssen.187 Diese Ermahnungen und Entlassungen verdeutlichen, unter welchem Druck »P5« – der Produktionsbereich für Farben im Kombinat Bitterfeld – Mitte der 1970er-Jahre stand: Auf der einen Seite sollten die Wolfener in immer kürzerer Zeit immer größere und anspruchsvollere Farbstoffmengen bereitstellen. Auf der anderen Seite wurden sie ermahnt, ihre Westabhängigkeit zu reduzieren und endlich eigenständige Zwischenprodukte und Farbenpaletten anzubieten. Die Forderung nach einem vollständigen, aber auch hochwertigen Warenangebot überforderte die Farbenfabrik zusehends – ein Hinweis, dass »Eigenständigkeit« und »Erstklassigkeit« – die beiden im ersten Kapitel vorgestellten Leitprinzipien der DDR-Chemieindustrie – nur schwer miteinander zu vereinbaren waren.188 In den Fokus der Auseinandersetzungen um die Vielfalt und Qualität der Wolfener Farbenindustrie musste dabei zwangsläufig auch Günther Eßbach 185  Vgl. Kombinat Bitterfeld: Protokoll über die Beratung der Staatsplanauflage des PWT 1974 mit dem stellvertretenden Minister für Chemie vom 10.9.1974; LHASA, MER, I 509, Nr. 1255; vgl. ebenso Protokoll der Operativgruppe CKB: AG Farbe vom 8.8.1974; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 1156/76, Bd. 4, Bl. 138. 186  Vgl. Kombinat Bitterfeld: Vorlage zur Dienstberatung des Generaldirektors. Verstärkung der Leitungsebenen P5. Bestätigung der Kadervorschläge vom 28.1.1975; LHASA, MER, I 509, Nr. 1208, n. p. 187 Ebenda. 188  Siehe Kapitel 1, Abschnitt 1.6.

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rücken, der zwischen 1963 und 1969 die Produktionsabteilung »Farbstoffe« in Wolfen geleitet hatte und im Jahr 1970 die Leitung der Farbstoffforschung übernahm.189 Eßbach galt als führender Farbenexperte der DDR. Ihm wurden profunde Kenntnisse der wichtigsten internationalen Entwicklungen auf diesem Feld und gute Kontakte zu westeuropäischen Branchengrößen wie BASF, Hoechst, Bayer oder Ciba Geigy nachgesagt. In Wolfen hatte er Forschung, Produktion und Absatz der gesamten Farbstoffpalette maßgeblich mitbestimmt und dafür bereits im Jahr 1960 den staatlichen Ehrentitel »Verdienter Erfinder« erhalten.190 Doch wegen seiner außergewöhnlichen Fachkenntnisse und seiner einflussreichen Position im Werk kursierten von Beginn an auch eine Reihe von Vorwürfen gegen Eßbach, die über inoffizielle Mitarbeiter schnell das MfS vor Ort erreichten. Er habe alles unternommen, um die Farbenpallette Wolfens auf seine eigenen Patente auszurichten, lautete dabei die schwerwiegendste Anschuldigung. Dadurch würde Eßbach mit jedem produzierten Farbstoff eine Patentvergütung erhalten, die sich monatlich auf etwa 15 000 Mark summiere.191 Aus diesem Grund stünde er einer Weiterentwicklung der Farbstoffproduktion, vor allem einer Abkehr von den durch ihn maßgeblich mitentwickelten Metallkomplexfarbstoffen – den sogenannten Wofalanen –, grundsätzlich entgegen. »Die Wofalane«, so die Feststellung des MfS in einem internen Bericht aus dem Jahr 1973, »sind das Steckenpferd des Dr. E. und er hat alle seine Kraft darauf konzentriert, diese Farbstoffgruppe in jeder Beziehung zu stärken, um im Endeffekt daraus, durch die von ihm auf diesem Gebiet erworbenen Patente, für die Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse und Anerkennung seiner Person als profiliertester Farbstoffexperte der DDR einen Vorteil zu ziehen«.192 Hierin, so die Ansicht der gegen Eßbach ermittelnden Offiziere des MfS, liege die eigentliche Ursache für die schleppende Modernisierung des Bitterfelder Farbensektors. Da es sich bei Eßbachs Farbchemikalien darüber hinaus in Teilen um sogenannte Scheinpatente handelte, also um Nachentwicklungen westlicher Muster, vermutete das MfS einen anrüchigen Deal: Indem westliche Unternehmen wie Sandoz, Hoechst oder Bayer Eßbach die Umsetzung seiner Plagiate in die Produktion gestatteten und ihm damit seine Zusatzeinnahmen ermöglichten, erhielten sie im Gegenzug die Chance, in den DDR-Markt einzudringen und die Farbherstellung in Wolfen – und damit im gesamten RGW – auf ihre gelieferten Zwischenprodukte und Weiterentwicklungen umzustellen. Eßbach, so der Vorwurf, würde also eine Westabhängigkeit der Farbenfabrik nicht nur to189 Vgl. KD Bitterfeld: Eröffnungsbericht vom 30.9.1970; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 1156/76, Bd. 1, Bl. 13. 190  Vgl. KD Bitterfeld: Sachstandsbericht vom 21.2.1972; ebenda, Bd. 1, Bl. 37. 191  Vgl. KD Bitterfeld: Eröffnungsbericht vom 30.9.1970; ebenda, Bd. 1, Bl. 13. 192  KD Bitterfeld: Sachstandsbericht vom 16.10.1973; ebenda, Bd. 1, Bl. 119.

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lerieren, sondern sogar gezielt fördern, da sie sich zu seinem individuellen Vorteil auswirkte. »Dr. [Eßbach] hat durch bewusstes Unterlassen der Entwicklung von Dispersionsfarbstoffen und ihrer Produktionsüberführung die Textilindustrie in eine totale Abhängigkeit von NSW-Importen – ca. 90 Prozent – gebracht, obwohl die Voraussetzungen für die eigene Entwicklung vorhanden waren«, so eine Notiz der Kreisdienststelle Bitterfeld aus dem Jahr 1974.193 Für das MfS lag hier ein klassischer Fall von »Stützpunkttätigkeit« vor: Ein ideologisch anfälliger, aber einflussreicher Kader wird von westlichen Unternehmen als »Türöffner« benutzt, um die Farbenfabrik Wolfen und mit ihr die gesamte Farb- und Textilbranche des RGW zu unterwandern. Nicht die grundlegenden Strukturprobleme der Farbenindustrie wie das der Überführung, sondern die ideologisch-moralische Unzuverlässigkeit einzelner herausgehobener Führungskräfte wie Eßbach stellte aus Sicht der SED und der Staatssicherheit das entscheidende Risiko der Volkswirtschaft dar – vor allem dann, wenn deren Entscheidungen durch die Monopolstellung ihrer Betriebe Auswirkungen weit über das Werksgelände hinaus haben konnten. Im Verhalten Eßbachs erkannte das MfS sogar eine Gefährdung des gesamten neuen Wirtschaftskurses der SED. »Durch diese verbrecherische Handlung«, so das Fazit des MfS, »hat der Verdächtige vorsätzlich die auf dem VIII. Parteitag der SED beschlossenen Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen der DDR durchkreuzt und einen erheblichen materiellen und ideellen Schaden bewusst herbeigeführt, welcher sich gegenwärtig noch nicht umfassend nachweisen lässt.«194 Als Reaktion auf diese Anschuldigungen leitete die Kreisdienststelle Bitterfeld, die vor der Einrichtung der Objektdienststelle im Jahr 1978 für den Betriebsteil Wolfen verantwortlich war, im September 1970 den sogenannten Spitzenvorgang Farbe ein.195 Als rechtliche Grundlage ihrer konspirativen Vorermittlungen wählten die Offiziere dabei den Straftatbestand der »Sabotage« nach § 104 des Strafgesetzbuches aus, ein besonders schwerwiegender Vorwurf, der bei einer späteren Schuldfeststellung vor Gericht eine Haftzeit von mindestens drei Jahren, in schweren Fällen auch eine lebenslängliche Freiheitsstrafe bedeuten konnte.196 Obwohl es zu den ureigensten Pflichten einer politischen Geheimpolizei zählte, Staatsverbrechen wie »Sabotage«, »Spionage« oder »landesverräterische Agententätigkeit«, also Angriffe auf die staatliche und gesellschaftliche Ordnung der DDR, zu verhindern oder aufzudecken, erstaunt die Auswahl des Paragrafen 104, da im DDR-Justizwesen der 1970er- und 1980er193 NSAG »Farbe« der KD Bitterfeld: Einschätzung zum Spitzenvorgang »Farbe« vom 4.7.1974; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 1156/76, Bd. 1, Bl. 161. 194  KD Bitterfeld: Abschließender Bericht zum Operativ-Spitzenvorgang »Farbe«, o. D.; ebenda, Bd. 1, Bl. 190. 195  Vgl. KD Bitterfeld: Eröffnungsbericht vom 30.9.1970; ebenda, Bd. 1, Bl. 13. 196  Theoretisch konnte Sabotage bis Dezember 1987 sogar mit dem Tode bestraft werden.

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Jahre Strafprozesse auf Basis solcher Landesverratsdelikte kaum noch üblich waren. Über die Gründe, warum die Kreisdienststelle Bitterfeld bei diesem Fall ein »Staatsverbrechen« und keine einfache Wirtschaftsstraftat wie »Vertrauensmissbrauch« oder »Vorteilsnahme« vermutete, kann nur spekuliert werden. Vielleicht, weil die Diensteinheit vor Ort die Chance erkannte, endlich eine spektakuläre Ermittlung einzuleiten, bei der es um echte Feindtätigkeit ging. Vielleicht aber auch, weil die Offiziere tatsächlich davon überzeugt waren, dass die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der Farbenfabrik etwas mit den Verbindungen einzelner Forscher und Außenhändler zu westeuropäischen Großunternehmen zu tun hatte. Nicht wenige Operative Vorgänge der Linie XVIII waren von dem Bestreben getragen, komplexe ökonomische Probleme auf das Fehlverhalten einzelner Funktionäre zu reduzieren. Hätte diese Sichtweise tatsächlich der Realität entsprochen, wäre es dem MfS möglich gewesen, mit einigen wenigen, gezielt eingesetzten geheimpolizeilichen Maßnahmen einen enormen ökonomischen Nutzen zu erzielen. Ganz gleich welcher Beweggrund in diesem Fall den Ausschlag gegeben hatte, der drastische Vorwurf der Sabotage setzte ungewöhnlich umfangreiche Überwachungsmaßnahmen in Gang: Die Offiziere durchsuchten mehrmals konspirativ Eßbachs Privaträume, überprüften seine Kontostände und Steuerunterlagen, schnitten seine Telefonate mit westlichen Vertragspartnern mit, dokumentierten seinen Briefverkehr mit Freunden in der Bundesrepublik und sprachen »zur Aufklärung des Persönlichkeitsbildes und des Elternhauses« mit Personen aus seinem früheren Leben – unter anderem mit einem ehemaligen Direktor der EOS Crimmitschau und einem Chemieprofessor der Martin-Luther-Universität in Halle.197 »Im Wohngebiet wurden weitere Informationen zur Person des Dr. E. erarbeitet«, heißt es in einem Protokoll der im Kombinat Bitterfeld ansässigen Operativgruppe des MfS.198 Die Hauptlast der Ermittlungen übertrugen die operativen Mitarbeiter allerdings, wie häufig bei solchen Vorgängen, auf externe Sachverständige. Im Februar 1973 stellte die Kreisdienststelle Bitterfeld dafür eine Untersuchungskommission zusammen, die sowohl für das MfS als auch für die Inspektion des Ministerrates, also für das Büro Möbis in Berlin, jeweils ein betriebswirtschaftliches und ein patentrechtliches Gutachten erstellen sollte. Dabei ging es um die Frage, welchen ökonomischen Schaden Eßbachs Forschungsstrategie tatsächlich bewirkt hatte und wie die aktuelle Rechtslage bei der Herstellung von Farbstoffen aussah.199 Die fachliche Leitung dieser Expertengruppe übernahm 197 Vgl. KD Bitterfeld: Abschlussbericht vom 20.11.1975; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 1156/76, Bd. 1, Bl. 286. 198 Protokoll der Operativgruppe CKB: AG »Farbe« vom 18.12.1973; ebenda, Bd. 6, Bl. 84. 199 Vgl. KD Bitterfeld: Operativplan zum OV »Farbe« vom 15.2.1973; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 1156/76, Bd. 5, Bl. 169.

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der Direktor des Instituts für organische Chemie an der TU Dresden, der als Experten-IM direkt an die Kreisdienststelle Bitterfeld angebunden war. Die praktische Organisation oblag dem Sicherheitsbeauftragten im Kombinat Bitterfeld, der in enger Abstimmung mit dem Generaldirektor Schwarz und der Industriekreisleitung der SED die Freistellung der Fachleute von ihrer regulären Arbeit und ihre Ausstattung mit Büros und Gästezimmern im Kombinat arrangierte.200 Die entscheidende Untersuchungsleistung lag damit einmal mehr bei den beauftragten »Partnern« des MfS und weniger bei den Offizieren selbst. Für den weiteren strafrechtlichen Umgang mit Eßbach wollte sich die Kreisdienststelle ganz auf deren Expertise verlassen. Das Beobachtungsprogramm gegen Eßbach erstreckte sich schließlich über fünf Jahre, von September 1970 bis November 1975. Es produzierte Schriftstücke für insgesamt 29 Aktenordner und beschäftigte eine eigens für diesen Vorgang gegründete »nichtstrukturelle Arbeitsgruppe« der Kreisdienststelle Bitterfeld. Mindesten 25 inoffizielle Mitarbeiter kamen dabei zum Einsatz.201 Eßbach realisierte die intensive Bespitzelung hinter seinem Rücken und die Recherchen eines ganzen Expertenteams über seinen Arbeitsbereich sehr genau. »Ich merkte, dass ich irgendwie zurückgedrängt wurde«, schilderte er die Situation bei einer Vernehmung im September 1975 gegenüber einem Offizier der Kreisdienststelle. »Wenn Sie seit 1959 mit verantwortlich waren und im Ausland tätig waren und plötzlich werden sie nicht mehr herangezogen – dann fragt man sich, was denn da los ist. Da denkt man, hier muss doch irgendeiner sein, der dich vielleicht aus persönlichen Gründen oder vielleicht Angst hat, dass du einen Erfolg hast. Da habe ich gemerkt, dass einer gegen mich arbeitet, und zwar strategisch geschickt.« Im weiteren Verlauf dieses Gesprächs erwähnte Eßbach auch, dass er sich eine Postkontrolle »eingebildet« habe. »In dieser Zeit habe ich auch festgestellt, dass die Briefe länger gehen, als von anderen. Dann konnte man auch eindeutig sehen, dass die Briefe geklebt waren, wenn man sie ins Licht gehalten hat. Das waren Zeiten, da habe ich die Welt nicht mehr verstanden. Da habe ich gedacht, hier ist ein Komplott gegen dich geschmiedet worden«, so Eßbach.202 Besonders deutlich registrierte der Leiter der Forschungsabteilung seine intensive Beobachtung auf Urlaubs- und Dienstreisen – unsichtbare Begleiter verfolgten ihn hier bei allen seinen Unternehmungen. »Der Verdächtige befand sich vom 13.11. bis 15.11 im Urlaub«, hält zum Beispiel ein Protokoll der Kreisdienststelle aus dem Jahr 1974 fest. »Dazu wurden die IM ›Wilhelm‹, ›Heide‹, 200  Vgl. Protokoll der Operativgruppe CKB: AG »Farbe« vom 26.6.1972; ebenda, Bd. 6, Bl. 22. 201  Vgl. KD Bitterfeld: Maßnahmeplan vom 1.3.1974; ebenda, Bd. 5, Bl. 79. 202 KD Bitterfeld: Gespräch mit [Eßbach], Tonbandabschrift vom 25.9.1975; ebenda, Bd. 2, Bl. 184.

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›Varna‹ und ›Karl II‹ zur operativen Kontrolle eingesetzt. […] Der Verdächtige äußerte sich nach seinem ČSSR-Urlaub gegenüber den Sekretärinnen, dass er sich dort niemals allein gefühlt habe und ständig fremde Personen um ihn herum waren.«203 »Als ich dann aus der ČSSR zurückkam«, so Eßbach bei seiner späteren Befragung, »habe ich wieder bemerkt, dass ich überwacht wurde. Ich habe dieselbe Frau immer wieder gesehen, einmal ohne und einmal mit Perücke. Das fällt auf.«204 Einmal, im November 1974, entschied das MfS sogar, ein Treffen mit seinem westdeutschen Bruder in Rumänien ganz zu unterbinden. Das Risiko einer Flucht stuften die Offiziere als zu hoch ein. »Es wurde festgelegt«, so die Arbeitsgruppe des OV »Farbe«, »dass die geplante Urlaubsreise des Dr. E. von Ende Juli bis 9. August nach Rumänien gestrichen wird.«205 Der Leiter der KD Bitterfeld, Oberstleutnant Harald Hartleb, bat den Generaldirektor Schwarz, Eßbach eine Verschiebung der Fahrt nahezulegen. »Bei meiner Rumänienreise wurde mir ja gesagt, dass ich davon Abstand nehmen sollte«, erinnert sich Eßbach bei seinem späteren Verhör. »Es ginge um meine Sicherheit. Das wurde vom Schwarz gesagt. Er gab mir den guten Rat, nicht zu fahren. […] Ich dachte, dass ich durchdrehe. Ich wollte an jemanden schreiben, an wen, das wusste ich nicht. Vielleicht an das Zentralkomitee oder an die höchste Stelle überhaupt mit der Bitte, die Angelegenheit einmal aufzuklären.« »Sie hätten doch auch zu uns kommen können«, sagte daraufhin der Vernehmer der Kreisdienststelle. Eßbach entgegnete: »Das wäre das Letzte gewesen.«206 3.5.1 Abschluss mit Hindernissen: Die »operative« Arbeit zwischen schrankenloser Überwachungspraxis und begrenzter Sanktionsfähigkeit Um Eßbach der Sabotage zu überführen, setzte die Kreisdienststelle also alle erdenklichen Beobachtungsmaßnahmen ein. Das Ziel des Operativen Vorgangs stand dabei von Beginn an fest: Auf justiziellem Weg, also über einen offiziellen Strafprozess, sollte Eßbach aus dem Werk entfernt werden. »Ermittlungsverfahren mit Haft bei der Abteilung IX der BV«, so formulierte es der Einleitungsbericht unmissverständlich.207 Und auch dem Betroffenen war nach kurzer Zeit 203  NSAG »Farbe« der KD Bitterfeld: Protokoll vom 15.11.1974; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 1156/76, Bd. 6, Bl. 205. 204 KD Bitterfeld: Gespräch mit [Eßbach], Tonbandabschrift vom 25.9.1975; ebenda, Bd. 2, Bl. 184. 205 Ebenda. 206  Ebenda, Bl. 202. 207  KD Bitterfeld: Eröffnungsbericht vom 30.9.1970; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 1156/76, Bd. 1, Bl. 13.

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klar, worauf all die verdeckten, aber wahrnehmbaren Maßnahmen abzielten: »Ich soll abgeschossen werden«, vertraute Eßbach laut einem Protokoll der Kreisdienststelle einem Kollegen an, »gewisse Institutionen arbeiten gegen mich, um mir was anzuhängen.«208 Dass auch fünf Jahre nach Beginn der konspirativen Ermittlungen weder eine offizielle Anklageerhebung noch ein Haftbefehl erfolgte, deutet aber darauf hin, dass der bevorzugte Weg über die Justiz – trotz der Annahme einer Sabotagehandlung und trotz intensiver geheimpolizeilicher Untersuchungen – schwieriger war als gedacht. Die Kreisdienststelle stand bei dieser Vorgehensweise nämlich vor der Herausforderung, die Verletzung einer Rechtsnorm nicht nur formal für die Eröffnung eines internen Vorgangs zu behaupten, sondern für die offiziellen Justizorgane der DDR, in diesem Fall für die Staatsanwaltschaft in Halle, auch überzeugend nachzuweisen. Ob ihr eine solche überzeugende Beweisführung im Fall Eßbach gelang, ob also die inoffiziell ermittelten Informationen als offizielle Beweismittel taugten, überprüfte die für strafrechtliche Untersuchungen zuständige Abteilung IX der Bezirksverwaltung Halle im Juli 1974. Eine solche Vorgangsprüfung übte die Untersuchungsabteilung gegenüber allen »operativ« tätigen Diensteinheiten aus.  Ihre oft schonungslosen Einschätzungen der konspirativen Ermittlungsarbeit glichen einer strengen internen Qualitätskontrolle, nicht selten mit der abschließenden Ermahnung, eine laufende Überwachungsmaßnahme doch besser einzustellen oder wenigstens gründlich zu überarbeiten. Einen solchen Hinweis gab es auch im Fall Eßbach. Die Vertreter der Linie IX kamen hier zu dem Urteil, dass kaum eine der behaupteten Verfehlungen überzeugend belegt war. Den zentralen Vorwurf der Bitterfelder Kreisdienststelle, Eßbach hätte die Weiterentwicklung der DDR-Farbindustrie bewusst hintertrieben, bezeichneten sie zum Beispiel als eine »durch nichts bewiesene These«.209 Eine konkrete Rechtspflicht, bestimmte Farben zu entwickeln, habe für Eßbach nie bestanden. Der Einschätzung der Kreisdienststelle, Eßbach habe mit seinem Verhalten einen volkswirtschaftlichen Schaden von bis zu 300 000 Mark verursacht, konnte die Abteilung IX daher »in keiner Weise« folgen.210 Zwei Herangehensweisen der Kreisdienststelle störten die Vertreter der Untersuchungsabteilung dabei ganz besonders: Erstens dass sie einem staatlichen Leiter wie Eßbach die gesamte »strafrechtliche Verantwortlichkeit für alle in seinem Verantwortungsbereich begangenen Manipulationen, Unkorrektheiten oder Gesetzesverletzungen« übertragen wollte.211 »Mit einer derartigen un208  KD Bitterfeld: Protokoll vom 21.4.1975; ebenda, Bd. 6, Bl. 240. 209  Abteilung IX der BV Halle: Einschätzung OV »Farbe« vom 10.7.1974; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 1156/76, Bd. 1, Bl. 215. 210  Ebenda, Bl. 216. 211 Ebenda.

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gerechtfertigten Ausdehnung der Verantwortlichkeit auf die Person des Verdächtigen«, so die Kritik der Prüfer, »werden alle staatlichen Weisungen und Regelungen über die Abgrenzung von Verantwortungsbereichen in Wirtschaftseinrichtungen der DDR verwischt.«212 Zweitens bemängelten sie, dass eine solche überzogene Schuldzuweisung zum großen Teil auf Erkenntnissen externer Experten beruhe, deren Formulierungen von der Kreisdienststelle kritiklos übernommen worden seien. Sachverständige, so der Einwand der Abteilung IX, hätten weder das Recht noch die Möglichkeiten, zu solchen Einschätzungen zu gelangen.213 Die »operative Arbeit« dürfe nicht ausschließlich auf die Partner des MfS übertragen werden. Und schließlich stellten die Kontrolleure auch die starke Konzentration der Überwachung auf einen einzelnen Fachkader wie Eßbach infrage. Nicht ein Farbstoffexperte allein, sondern die inakzeptablen Kontakte der meisten Leiter im Kombinat Bitterfeld zu »DDR-feindlichen Gruppen in NSW-Konzernen« seien ihrer Ansicht nach die Hauptursache für die fehlende Qualität der Wolfener Farbstoffe. Die Überwachungsarbeit müsse daher in Zukunft noch deutlich breiter aufgestellt werden.214 Das Untersuchungsorgan der Bezirksverwaltung stellte der Kreisdienststelle Bitterfeld also ein ausgesprochen mangelhaftes Zeugnis aus. Aufgrund der unbefriedigenden Beweislage war es ihr vorerst nicht möglich, die Eröffnung eines offiziellen Ermittlungsverfahrens zu unterstützen.215 Doch trotz dieser deutlichen Kritik, sowohl am Gegenstand als auch an der Methode ihres wohl wichtigsten Überwachungsprojekts, wollten die Offiziere nicht von ihrem Vorhaben ablassen. »Die Bearbeitung hat weiterhin das Ziel, einen Abschluss herbeizuführen mit Einleitung eines Ermittlungsverfahrens«, hält ein Bericht der »Nichtstrukturellen Arbeitsgruppe« der Kreisdienststelle Bitterfeld aus dem September 1974 fest. »Grundbedingung bei der Bearbeitung muss sein, dass jeder Mitarbeiter der Arbeitsgruppe überzeugt ist, dass die bearbeitete Person ein Feind der Republik ist, der mit allen Mitteln und Methoden versucht, uns zu schädigen.«216 »Mit der Verhaftung des Verdächtigen«, so ein späterer Kommentar, würden »im VEB Chemiekombinat Bitterfeld keine schädigenden oder nachteiligen Auswirkungen« eintreten.217 Am Ende nützten aber auch solche Durchhalteparolen wenig. Spätestens im Juni 1975 mussten die MfS-Offiziere einsehen, dass ihr Versuch, Eßbach mit212  Ebenda, Bl. 215. 213  Vgl. ebenda, Bl. 211. 214  Vgl. ebenda, Bl. 219. 215  Vgl. ebenda. 216  KD Bitterfeld: Protokoll vom 10.9.1974; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. AOP 1156/76, Bd. 6, Bl. 186. 217  KD Bitterfeld: Abschließender Bericht zum Operativ-Spitzenvorgang »Farbe«, o. D.; ebenda, Bd. 1, Bl. 196.

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hilfe eines Gerichtsverfahrens aus dem Werk zu drängen, gescheitert war. Zu diesem Zeitpunkt hatte nämlich die Abteilung IX nach einem weiteren Kontrollgang abermals feststellen müssen, dass ausreichende Beweise für ein strafrechtliches Vergehen gegen Eßbach immer noch nicht vorlagen – und das, obwohl in der Zwischenzeit das Überwachungsprogramm noch einmal deutlich ausgeweitet worden war.218 Der Weg über die Justiz blieb damit versperrt. Die Hürde »Abteilung IX«, oder besser: die Beweisanforderungen des geltenden Strafrechts, hatte sich in diesem Fall als zu hoch erwiesen. Die Erfahrung, dass die strafrechtliche Sanktionsfähigkeit des MfS begrenzt blieb, machten zu Beginn der 1970er-Jahre nicht nur die Offiziere der Kreisdienststelle Bitterfeld. Im Zuge der Ausdifferenzierung des Strafrechts in der DDR und der zunehmenden Erwartungen der Bürger an eine rechtsförmig handelnde Verwaltung hatten in der Ära Honecker auch andere Diensteinheiten der Geheimpolizei Schwierigkeiten, ihre »operativen« Ziele mithilfe der Justiz zu erreichen: Mal gelang es ihnen nicht, eine genaue Rechtspflicht der überwachten Person aufzuzeigen, und mal scheiterten sie daran, den Zusammenhang zwischen einer Tat und einem bestimmten ökonomischen Schaden überzeugend darzulegen. Zwar hatten die vorgangsführenden Offiziere im Rahmen ihrer konspirativen Vorermittlungen weiterhin freie Hand, mit Strafrechtsparagrafen zu hantieren. So legten sie in ihren internen Berichten fallweise ein alltägliches Verhalten als schweres Verbrechen oder eine offenkundige Straftat als Bagatelldelikt aus.  Nicht selten wurde die Rechtsgrundlage eines Operativen Vorgangs im Laufe der Ermittlungen auch beliebig ausgetauscht und der Abschluss der Überwachung nach aktuellen politischen Erwartungen ausgerichtet. Doch wenn es um das offizielle und offen sichtbare Bestrafen einer Person ging, zum Beispiel in Form eines Disziplinarverfahrens im Werk oder eines Strafprozesses vor Gericht, sollte jeder Anschein von Willkür vermieden werden. Um Ruhe im öffentlichen Raum und in den Betrieben sicherzustellen, war die SED sehr darauf bedacht, das stärker entwickelte Rechtsempfinden der Bürger zu berücksichtigen. Den Vertretern der Linie IX des MfS kam daher die Aufgabe zu, die oft übereifrigen operativen Diensteinheiten an der Basis mit ihren nicht selten überzogenen Vorwürfen gegen einzelne staatliche Leiter und Außenhändler etwas zu bremsen. Zwar übten sie gegenüber den operativen Diensteinheiten keine allgemeine Rechtsaufsicht mit einem Anleitungs- oder Weisungsrecht aus.  Eine Intervention in die alltägliche Überwachungspraxis der Kreis- und Objektdienststellen war in der MfS-internen Kompetenzverteilung nicht vorgesehen. Stand aber die Entscheidung an, eine konspirative Überwachung in einen offiziellen Strafprozess der Justizorgane zu überführen, war die Abteilung IX als

218  Vgl. Abteilung IX der BV Halle: Einschätzung OV »Farbe« vom 13.6.1975; ebenda, Bd. 1, Bl. 223.

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Prüfinstanz in der Pflicht sicherzustellen, dass nur juristisch stichfeste Fälle den Weg in ein offizielles Strafverfahren fanden. Kam die interne Überprüfung, wie im Fall Eßbach, zu einem negativen Urteil, brauchte der OV allerdings nicht sofort eingestellt werden. Den Offizieren blieb dann immer noch die Möglichkeit, eine Sanktion über den Betrieb – also über die Vorgesetzten der überwachten Person – zu veranlassen. Bei Eßbach gelang dies zumindest teilweise. Der Generaldirektor Heinz Schwarz und der Fachdirektor für Forschung und Entwicklung, Gottfried Kötz, signalisierten zwar, dass ihnen an einer Maßregelung oder gar Entlassung ihres Farbstoffexperten nicht gelegen war. »Der GD hat scheinbar kein sonderliches Interesse, gegen Dr. E. disziplinarische Maßnahmen einzuleiten«, musste die Kreisdienststelle im April 1974 feststellen.219 Dennoch gelang es dem MfS, beide Führungskräfte – Schwarz und Kötz – wenigstens für eine Versetzung Eßbachs zu gewinnen. Laut Konzeption der Kreisdienststelle sollte der Forschungsdirektor dem Generaldirektor dafür Schwächen von Eßbach bei der Leitungstätigkeit »offiziell unterbreiten«, um auf diese Weise eine Ablösung »voll zu legalisieren«.220 Dass sich beide Leiter tatsächlich an diese Vorgabe des MfS hielten, lag nicht zuletzt am Drängen des 1. Sekretärs der Bitterfelder Industriekreisleitung, Werner Czogalla, der sich nachdrücklich für eine Ablösung Eßbachs aussprach. Gegenüber dem Leiter der Kreisdienststelle Bitterfeld, Harald Hartleb, meinte Czogalla im August 1974, dass eine Entfernung Eßbachs aus der Forschungsabteilung »nun endlich realisiert werden müsste«. Mit dem Generaldirektor hätte er dafür auch schon eine »entsprechende Absprache« geführt.221 Im Januar 1975 war es dann schließlich soweit: Schwarz nahm Eßbach aus der Direktion für Forschung und Entwicklung heraus und übertrug ihm die Leitung des sogenannten Technikums Azo-Ost, einem Betriebsteil für die Erzeugung von synthetischen Azofarben.222 Damit blieb Eßbach auch weiterhin in führender Position im Kombinat, allerdings nicht mehr im Bereich der Farbstoffentwicklung, sondern im Bereich der Produktion. Über die Hintergründe seiner Versetzung wurde Eßbach dabei nicht informiert. »Mir wurde dann eröffnet, dass ich aus der Forschung wegmüsste. Warum, wurde mir nicht gesagt«, so Eßbach gegenüber einem Offizier der Kreisdienststelle.223 219 KD Bitterfeld: Protokoll vom 20.4.1974; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 1156/76, Bd. 6, Bl. 135. 220  KD Bitterfeld, NSAG »Farbe«: Protokoll vom 9.8.1974; BStU, MfS, BV Halle, KD Bitterfeld, AOP 1156/76, Bd. 4, S. 178. 221  KD Bitterfeld, NSAG »Farbe«: Protokoll vom 9.8.1974; ebenda. 222  Vgl. KD Bitterfeld, NSAG »Farbe«: Protokoll vom 17.1.1975; ebenda, Bd. 4, S. 218. Azofarbstoffe zeichnen sich durch ihre starke Leuchtkraft aus und werden zur Färbung von Textilien, Fetten und Ölen, zum Einfärben von Wachsen, Stroh, Holz und Papier eingesetzt. 223  KD Bitterfeld: Gespräch mit [Eßbach], Tonbandabschrift vom 25.9.1975; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 1156/76, Bd. 2, Bl. 202.

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Um Eßbach fortan besser im Blick zu behalten, wurde das Azowerk zusätzlich um einen Sekretär aus der SED-Grundorganisation der Farbenfabrik verstärkt. In einer Notiz des Generaldirektors heißt es: »Kollege Dr. Eßbach wird als guter Praktiker mit der Leitung des Betriebs [Azo-Ost] betraut. Ihm zur Seite wird der erfahrene Genosse [Nachname] berufen, der aufgrund seines jetzigen Einsatzes als stellvertretender GO-Sekretär der P5 so eingeschätzt werden kann, dass er hierfür die besten Voraussetzungen mitbringt.«224 Zusätzlich zu dieser Aufsicht durch einen Parteifunktionär lud die Kreisdienststelle Eßbach im September 1975 zu einer ausführlichen Befragung in ihr Büro auf dem Werksgelände ein. Bei diesem Quasi-Verhör musste er zu einer Reihe von fachlichen, privaten und politischen Sachverhalten Stellung nehmen. Ob Planabsprachen mit dem Chemieministerium, die Zusammensetzung moderner Dispersionsfarben, die Kooperation mit RGW-Ländern oder seine persönliche Einstellung zu politischen Ereignissen wie dem 13. August 1961 – insgesamt gingen die Offiziere mit Eßbach über 100 Einzelfragen durch.225 Der Sinn eines solchen Verhörs war zunächst, weitere fachliche Details über das Problem der Importabhängigkeit und die Schwierigkeiten beim geplanten Farbstoffneubau zu erhalten. Darüber hinaus diente dieses Treffen aber auch einer nachhaltigen Disziplinierung des Funktionärs, vermutlich eine Art Ersatz für die fehlgeschlagene Inhaftierung. Mithilfe einer solchen ausgedehnten geheimpolizeilichen Befragung wollten ihm die Offiziere zu verstehen geben, dass er auch weiterhin unter genauer Beobachtung der Sicherheitsorgane stand. Betriebliche Versetzung, geheime Disziplinierung und parteiliche Kontrolle – der Kreisdienststelle wird im Herbst 1975 klar gewesen sein, dass sie ein besseres Ergebnis ihres aufwendigen Vorgangs kaum erreichen konnte. Im November 1975 entschloss sie sich deshalb, den »Spitzen-OV Farbe« zu beenden, nicht ohne noch einmal den Erfolg der mehrjährigen Überwachung herauszustreichen: Mit der Auswertung der erstellten Expertengutachten im Ministerrat sei »ein gutes Ergebnis« erreicht worden. Ein »positiver Vorgangsabschluss« sei nicht an eine Festnahme gebunden. Die bisher eingeleiteten Maßnahmen seien »richtig und notwendig« gewesen, so ein Protokoll der Kreisdienststelle aus dem Juni 1975.226 Mit solchen Rechtfertigungen konnten die Offiziere aber nur mühsam verbergen, dass sie ihr ursprüngliches Ziel weit verfehlt hatten. Zwischen einer Haftstrafe aufgrund langjähriger Sabotagehandlungen und einer bloßen Verset224  Kombinat Bitterfeld: Vorlage für die Dienstberatung des Generaldirektors.  Verstärkung der Leitungsebenen P5. Bestätigung der Kadervorschläge vom 28.1.1975; LHASA, MER, I 509, Nr. 1208, n. p. 225  Vgl. KD Bitterfeld: Teil I und Teil II des Befragungsplans, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 1156/76, Bd. 6, Bl. 253–288. 226 KD Bitterfeld: Protokoll vom 17.6.1975; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 1156/76, Bd. 6, Bl. 247.

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zung in eine neue leitende Position bestand doch ein beträchtlicher Unterschied. Obwohl sie bis zuletzt davon überzeugt waren, dass es sich bei Eßbach um einen negativ beeinflussten Wirtschaftskader handelte, der die Importabhängigkeit der Wolfener Farbenfabrik ganz bewusst herbeigeführt hatte, mussten sie am Ende mit ansehen, wie dieser »Stützpunkt« westlicher Unternehmen im Werk verblieb und in führender Position seine Karriere fortsetzte. Nachdem sich Eßbach mühelos in »Azo-Ost« eingearbeitet hatte, übernahm er nämlich im Jahr 1981 auch noch die Verantwortung für den endlich fertiggestellten Farbstoffneubau. Sein Vorgesetzter Hans Lohmann, übergeordneter Direktor aller sieben Produktionsbereiche in Bitterfeld, stellte anerkennend fest: »Kollege Dr. Eßbach hat mit seinem Kollektiv Azo-Ost eine progressive Entwicklung genommen.«227 Mit diesem aus Sicht der Offiziere zwiespältigen Ausgang des OV »Farbe« werden zwei Gegensätze bei der Überwachungsarbeit in den Chemiekombinaten deutlich: Erstens der Kontrast zwischen einem schier grenzenlosen »operativen« Handeln und erheblich eingeschränkten Sanktionsmöglichkeiten. Während die Offiziere bei ihren konspirativen Überwachungsmethoden einen nahezu schrankenlosen Spielraum in Anspruch nehmen konnten, ohne sich von einer übergeordneten Instanz rechtfertigen zu müssen, bereiteten ihnen exekutive Eingriffe erstaunliche Schwierigkeiten. Auch wenn es sich um ein ausführendes Organ der SED mit zahlreichen Sonderbefugnissen handelte, war es dem MfS keinesfalls möglich, eigenständig und willkürlich einzelne Kader zu versetzen, zu entlassen oder zu verhaften. Um ihre Sanktionsziele umzusetzen, waren die Offiziere vielmehr gezwungen, entweder einflussreiche Personen im Werk zu überzeugen – ausschlaggebend waren hier vor allem der 1. Sekretär der Industriekreisleitung der SED und der Generaldirektor des Kombinats – oder es musste ihnen gelingen, eine Straftat der betreffenden Person überzeugend nachzuweisen, um nach einer eingehenden Prüfung durch die Abteilung IX ein offizielles Ermittlungsverfahren auszulösen. Beides gestaltete sich nicht immer einfach. Durch die gestiegenen Anforderung der strafrechtlichen Beweisführung und die oft ausbleibende Kooperationsbereitschaft der Kombinatsleitung waren den Offizieren nicht selten die Hände gebunden. Um wenigstens ein Mindestmaß an Druck und Disziplinierung ausüben zu können, blieb dem MfS vor Ort am Ende oft nur eine konspirative Maßregelung der überwachten Spitzenfunktionäre übrig, entweder im Rahmen eines IM-Gesprächs oder im Rahmen eines längeren Verhörs.  Zweitens zeigte sich bei der Überwachungsarbeit ein Kontrast zwischen dem Repressionsbedürfnis der operativen Diensteinheiten und dem Ruhebedürfnis von SED und Kombinat: Dass die Offiziere bei den von ihnen überwachten 227  Kombinat Bitterfeld, Büro des Generaldirektors: Information für den Genossen Generaldirektor zur Abstimmung von Kadervarianten im Sekretariat der Kreisleitung vom 6.7.1981; LHASA, MER, I 509, Nr. 846, n. p.

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Personen in der Regel auch konkrete Konsequenzen sehen wollten, veranschaulicht der Fall Eßbach deutlich. Überwachungsmaßnahmen wurden in den frühen 1970er-Jahren noch nicht in erster Linie als präventive Vorsorge, sondern vielmehr als Vorermittlung für ein offizielles Strafverfahren verstanden. Gerade in der Phase der ökonomischen Westöffnung der DDR-Wirtschaft zeigten die operativen Diensteinheiten an der Basis großen Ehrgeiz, aktiv gegen ausgewählte Kader im Bereich Forschung und Außenhandel vorzugehen. Im Vergleich dazu traten die Vertreter der lokalen SED-Organe und der Kombinatsleitung deutlich zurückhaltender auf. Zwar stand auch aus ihrer Sicht das MfS in der Pflicht, die Risiken der neuen ost-westlichen Verflechtung unter Kontrolle zu halten. Doch erwarteten sie von den Offizieren der Staatssicherheit, dass sie bei ihren Aktivitäten die Interessen von Partei, Kombinat und Beschäftigten berücksichtigten. Ob die Verfügung über fähige Fachkräfte, die Berücksichtigung des Rechts- und Gerechtigkeitsempfindens der Beschäftigten, die Sicherstellung der Planumsetzung oder die Wahrung der Reputation des Betriebs bei den ausländischen Handelspartnern – es gab eine ganze Reihe von Aspekten, die SED-Funktionäre und staatliche Leiter in Einklang bringen mussten. Geheimpolizeiliche Kriterien, die sich aus zunehmend anachronistischen Feindbildern speisten, konnten dabei nicht überwiegen. Um politische Sicherheit zu garantieren, ohne dabei die Ruhe und den Interessenausgleich innerhalb der Kombinatsbetriebe zu gefährden, sollten die Mitarbeiter der Geheimpolizei keine größere öffentliche Aufmerksamkeit erregen und keine größeren betrieblichen Verwerfungen produzieren. Mit der Neigung der Offiziere, bei einflussreichen Personen mit Westkontakten spektakuläre Fälle wie »Sabotage« oder »feindliche Agententätigkeit« zu konstruieren, war dieser Ansatz aber nur schwer vereinbar. Zusammenfassung Die Frage, welche sicherheitspolitischen Risiken das MfS zu Beginn der 1970erJahre innerhalb der Chemieindustrie wahrnahm und wie es darauf reagierte, war Gegenstand dieses Kapitels.  Als beherrschendes Thema der Wirtschaftsüberwachung erwies sich dabei die zunehmende Interaktion der Chemiekombinate mit westlichen Unternehmen. Vor allem in den Versuchen der westlichen Handelspartner, die ostdeutschen Betriebe mithilfe korruptionsanfälliger Wirtschaftsfunktionäre zu unterwandern, um sie langfristig von den westeuropäischen Märkten zu verdrängen, vermuteten die Offiziere eine entscheidende sicherheitspolitische Gefahr. Die Zunahme der ost-westlichen Handelskontakte war von der politischen Führung ursprünglich gar nicht vorgesehen. Bei ihrem Versuch, den sozialistischen Staat auf ein stabileres Fundament zu stellen, hatte die neue SED-Führung um Erich Honecker zunächst auf eine umfassende Entflechtung gesetzt,

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also auf eine ideologische und ökonomische Abgrenzung der DDR gegenüber der Bundesrepublik als Ergänzung zu ihrer vollständigen völkerrechtlichen Anerkennung. Zu dieser Abgrenzung zählte auch das Bemühen der SED, die soziale Grundversorgung in der DDR auszubauen. Eine höhere Wohlfahrt, so das Kalkül, würde nicht nur die Überlegenheit der DDR gegenüber dem westdeutschen Teilstaat beweisen, sondern auch die Produktivität und Zufriedenheit der »Werktätigen« steigern. Die auf dem VIII. Parteitag 1971 verkündete stark auf Konsum und Soziales ausgerichtete neue »Hauptaufgabe« der SED verfolgte damit drei Ziele: eine Absetzung von der Bundesrepublik, die Generierung von ökonomischen Wachstum und nicht zuletzt: eine Ruhigstellung der Bevölkerung, um die Herrschaft der SED abzusichern. Damit diese Strategie aufging, musste die Wirtschaftsplanung allerdings deutlich effektiver organisiert werden; davon waren führende Vertreter der SED und Wirtschaftsverwaltung überzeugt. Ein geeignetes Mittel dafür sahen sie – in bewusster Distanzierung zum Konzept des Neuen Ökonomischen Systems – in einer Rezentralisierung des Planungsmodells, die sich im Laufe der 1970erJahre unter anderem durch eine Ausdifferenzierung der Wirtschaftspläne, einer weiteren Verstaatlichung kleinerer Handwerks- und Zuliefererbetriebe, einem Ausbau des Inspektionswesens und nicht zuletzt durch die Zusammenfassung von Betrieben eines Produktionszweigs zu größeren Kombinaten bemerkbar machte. Beides, Zentralismus und erweiterte Sozialstaatlichkeit, waren mit hohen Erwartungen verbunden. Von den Strukturreformen, die nach dem VIII.  Parteitag eingeleitet wurden, erhoffte sich die SED unter anderem eine bessere Qualität der produzierten Güter, eine genauere Umsetzung der Wirtschaftspläne, eine höhere Motivation der Beschäftigten und einen effektiveren Umgang der Betriebe mit Material und Energieträgern. Schnell stellte sich allerdings heraus, dass das Versprechen der SED auf eine verbesserte Sozial- und Konsumgüterversorgung und eine Modernisierung der Industrie ohne eine verstärkte Einfuhr von westlichen Fertigwaren und Investitionsgütern kaum zu halten war. Entgegen dem ursprünglichen Ziel einer ökonomischen Abgrenzung löste die Sozial- und Industriepolitik der beginnenden Honecker-Ära eine deutliche Belebung der west-östlichen Handelsbeziehungen aus. Bis zum Ende der 1970er-Jahre erreichte die DDR-Volkswirtschaft ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß an internationaler Verflechtung – eine Entwicklung, die nicht zuletzt durch die neue völkerrechtliche Anerkennung der DDR möglich geworden war. Auf die Wirtschaftsüberwachung des MfS kamen in dieser Situation zwei widersprüchliche Aufgaben zu: Auf der einen Seite war sie verpflichtet, die Risiken einer stärkeren Westöffnung des Landes unter Kontrolle zu halten, die intensivere Interaktion mit westlichen Unternehmen und Regierungsstellen also genau zu beobachten und jeden Versuch einer schädlichen Einflussnahme von

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außen im Voraus zu erkennen und abzuwehren. Auf der anderen Seite waren die Offiziere aber auch aufgefordert, die Sozial- und Konsumpolitik der SED abzusichern, mit anderen Worten: alles dafür zu unternehmen, dass der Außenhandel reibungslos abgewickelt und größere Investitionen ohne Zwischenfälle umgesetzt werden konnten. Bei der Umsetzung dieser beiden Aufgaben sollte das MfS zudem noch darauf achten, dass das Ansehen der DDR nach außen und die Ruhe der Belegschaft im Innern der Betriebe möglichst wenig beeinträchtigt wurden. Nicht immer gelang es der Geheimpolizei, diese gegensätzlichen sicherheitspolitischen und ökonomischen Imperative in Einklang zu bringen. Es konnte vielmehr herausgearbeitet werden, dass die Vorgaben, Ermittlungen und Überprüfungen des Sicherheitsorgans den Interessen der drei untersuchten Chemiekombinate oft zuwiderliefen. Besonders beeinträchtigt fühlten sich jene drei Personenkreise, die im Zentrum der Überwachung standen: Führungskräfte, Forscher und Außenhändler mit Westkontakten. Das zeitaufwendige Verfahren zu ihrer Auswahl und ihre intensive Kontrolle durch Berichtspflichten, Verhandlungsdirektiven und regelmäßige Aussprachen können als Störfaktoren der Wirtschaftsüberwachung in der Arbeit der Kombinate betrachtet werden. Auch der abschließende Fall Eßbach beschreibt ein Handeln des MfS, das für den betroffenen Betrieb – der Farbstofffabrik in Wolfen – nicht gerade vorteilhaft ausfiel. Gegen den Willen der Kombinatsleitung wurde hier die Ablösung eines erfahrenen Forschers betrieben, ohne dass dadurch das Grundproblem der Wolfener Farbstoffpalette – ihre starke Abhängigkeit von westlichen Zwischenprodukten – behoben worden wäre. Das Vorgehen gegen Eßbach offenbarte dabei einen für die Wirtschaftsüberwachung charakteristischen Widerspruch: Auf der einen Seite ein fast grenzenloser Spielraum der Offiziere bei Überwachung und Informationsbeschaffung. Vor allem durch die Einbindung zahlreicher Akteure, wie der Sicherheitsinspektion, externer Experten oder betrieblicher Kontrollorgane, gelang es den Kreis- und Objektdienststellen in kurzer Zeit, eine Vielzahl von Informationen zu einer Person oder einem Sachverhalt zusammenzutragen. Auf der anderen Seite die eingeschränkten Möglichkeiten der operativen Mitarbeiter, auf eine Person sanktionierend einzuwirken. Die Veranlassung einer Verwarnung, Versetzung, Entlassung oder Verhaftung bereitete den Offizieren vor Ort immer wieder erstaunliche Schwierigkeiten. Gelingen konnte dies entweder über den Betrieb, dann brauchten die Offiziere eine Unterstützung der Kreisleitung und eine Kooperation mit der Generaldirektion, oder über die Justiz, dann war es notwendig, die Verletzung von Strafrechtsnormen klar nachzuweisen. Auch wenn SED und Kombinatsleitung in Ausnahmefällen sehr wohl daran interessiert waren, disziplinierende Exempel zu statuieren, sollte der Anschein von Willkür unbedingt vermieden werden, vor allem, wenn hochkarätige Fachleute betroffen waren.

4. Absicherung einer Krisenbewältigung – Die Rolle des MfS in der Phase der Verschuldung und Konsolidierung 1977–1983

Im folgenden Kapitel soll ein Phänomen im Mittelpunkt stehen, das ebenfalls mit der Weichenstellung von 1971 im Zusammenhang stand und führende Vertreter der Regierung und der SED, aber auch die Offiziere der Linie XVIII auf ähnliche Weise beschäftigte: die wachsende Westverschuldung der DDR, die sich ab Mitte der 1970er-Jahre abzuzeichnen begann und bis zum Jahr 1981 ein fast schon existenzbedrohendes Ausmaß annehmen sollte. Das Kapitel geht zunächst auf die inneren und äußeren Ursachen dieser krisenhaften Situation im Außenhandel ein und stellt im Anschluss die Reaktion von SED und Planverwaltung vor: ihre zögerlichen Einzelmaßnahmen zu Beginn der Schuldenkrise ab 1974 und schließlich – als die Probleme immer akuter wurden – ihre umfassende Gesamtstrategie der Konsolidierung Anfang der 1980er-Jahre. Diese bestand im Wesentlichen aus drei Komponenten: einer Neuregelung der Beziehungen zwischen den Kombinaten und den regulären Außenhandelsbetrieben, dem Aufbau einer gesonderten Außenhandelsstruktur sowie dem Ausbau der höheren Veredelung von chemischen Grundstoffen insbesondere im Bereich der Erdölverarbeitung. Alle drei Ansätze sollen in diesem Kapitel im Einzelnen behandelt werden: die mit ihnen verbundenen Erwartungen, die veranlassten konkreten strukturellen Veränderungen in den drei untersuchten Chemiekombinaten sowie ihre tatsächliche gesamtökonomische Wirkung. Ein besonderes Augenmerk soll dabei auf die zentralen Investitionsprojekte in den Kombinaten Buna und Leuna gelegt werden, bei denen deutlich wird, dass die Industriebetriebe der DDR die Hauptlast der übergeordneten Entschuldungspolitik zu tragen hatten. Da sich die Reaktion von SED und Wirtschaftsverwaltung unmittelbar auf die Verhältnisse in den hier untersuchten Chemiebetrieben auswirkte, bildete sie auch den dominanten Kontext für das Handeln des MfS vor Ort. Im ersten Teil des Kapitels soll daher untersucht werden, in welcher Form die veränderten Strukturen und Auflagen der Kombinate die Überwachungspraxis der Offiziere beeinflussten. Bildeten sich im Zuge der einzelnen Reformschritte neue Überwachungsschwerpunkte heraus – und wenn ja, welche? Ging damit auch – zumindest an einigen Stellen – eine Neuausrichtung oder Anpassung der geheimpolizeilichen Methodik einher? Mit der Beantwortung dieser Fragen soll deutlich werden, wie eng die Überwachungsagenda des MfS mit der allgemeinen wirtschaftspolitischen Agenda von Staat und SED verknüpft war.

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Rolle des MfS in der Phase der Verschuldung und Konsolidierung

Im zweiten Teil des Kapitels stehen schließlich die vielfältigen Komplikationen der Konsolidierungspolitik im Mittelpunkt, die spätestens ab Ende der 1970erJahre immer deutlicher hervortraten: die nur mäßige Belebung der Exporte, die Beibehaltung und Verschärfung der Abhängigkeit von westlichen Einfuhren, eine meist unseriöse Kalkulation der einzelnen Investitionsvorhaben und schließlich – damit eng verknüpft – die Unwirtschaftlichkeit der Strategie als Ganzes. Um all diesen Schwierigkeiten zu begegnen, reagierten Staats- und Parteiführung mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen, bei denen stets die Elemente Anleitung und Kontrolle dominierten. In diesem Kapitel soll dargelegt werden, wie sich das MfS in dieses Reaktionsmuster von Wirtschaftsverwaltung und SED einfügte, welche Risiken es selbst erkannte, wie es beabsichtigte, auf diese zu reagieren und was es am Ende tatsächlich unternahm. Von besonderem Interesse ist dabei der konkrete Effekt der Überwachungsarbeit für die betroffenen Großprojekte in den Kombinaten: Stellten sich die Aktivitäten der Objektdienststellen eher als störende Blockade oder eher als pragmatische und unkonventionelle Hilfestellung heraus? Können Hinweise auf eine ausgleichende und korrigierende oder sogar steuernde Rolle des MfS innerhalb der Kombinate und der Wirtschaftsverwaltung als Ganzes gefunden werden? Die Frage nach den Auswirkungen der operativen Arbeit muss den Fokus zwangsläufig auf Personen richten, die für die Umsetzung der verschiedenen Investitionsvorhaben hauptverantwortlich waren und daher Gegenstand der geheimpolizeilichen Maßnahmen waren: Führungskräfte wie Abteilungsleiter, Verhandlungsführer oder Anlagenbetreiber. Aus welchen Gründen sie überwacht wurden und welche Folgen sich daraus für ihren beruflichen Werdegang ergaben, soll mithilfe aussagekräftiger Fallbeispiele dargestellt werden.

4.1  Handel im Defizit – über die inneren und äußeren Ursachen einer neuen ökonomischen Herausforderung Der wirtschaftspolitische Ansatz Honeckers, durch eine verbesserte Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern und Sozialleistungen einen Wachstumsschub innerhalb der DDR-Wirtschaft in Gang zu setzen, ging für eine kurze Zeit tatsächlich auf. Als Folge des VIII. Parteitags der SED im Jahr 1971 erlebte die DDR bis Mitte der 1970er-Jahre eine Sonderkonjunktur mit relativ hohen Wachstumsraten, einem aufblühenden Ost-West-Handel und einem deutlich verbesserten Lebensstandard. Der kulturelle Aufbruch der frühen Honecker-Ära wurde begleitet von einem ökonomischen Zwischenhoch.1 Doch sehr schnell setzte neben der Intensivierung der Westkontakte ein weiterer unbeabsichtigter Effekt der Konsumstrategie ein, der die DDR-Wirt1  Vgl. Krakat: Probleme der DDR-Industrie, S. 238; Steiner: Von Plan zu Plan, S. 178.

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schaftspolitik in den folgenden Jahren immer stärker beschäftigen sollte: die schnelle Zunahme der Staatsschulden bei westlichen Kreditgebern. Bereits 1970 kippte die Außenhandelsbilanz der DDR gegenüber ihren westlichen Partnern ins Negative.2 Während der Außenhandel bis ins Jahr 1981 nicht in der Lage war, einen Überschuss zu erwirtschaften, nahm das Defizit der Handelsbilanz immer größere Dimensionen an. Lag die West-Verschuldung im Jahr 1973 noch bei 3 Milliarden DM, so schnellte der Wert bis zum Jahr 1977 auf 16 und bis 1979 auf 21 Milliarden DM in die Höhe.3 Die Schuldendienstquote, also das Verhältnis des Schuldentilgungsbetrags zu den Exporteinnahmen, erreichte im Jahr 1977 115 Prozent und kletterte bis Ende der 1970er-Jahre auf über 150 Prozent.4 30

Mrd. VM

25 20 15 10 5 0 1970

1976

1978

1980

1983

1986

1988

Abb. 3: Verschuldung der DDR gegenüber westlichen Industrieländern5

Für die DDR war dieses Phänomen relativ neu, war es ihr bislang doch möglich gewesen, über größere Guthaben auf westlichen Bankkonten zu verfügen und innerhalb des RGW als Kreditgeber aufzutreten. Die niedrigen Zinsen im OECD-Raum der 1960er- und frühen 1970er-Jahre und die exklusiven Kon-

2  Vgl. Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe?, S. 239. Laut Malycha gab es bereits Mitte der 1960er-Jahre eine leichte Außenhandelsverschuldung gegenüber westlichen Ländern im Umfang von 455 Mio. VM. Vgl. Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 187. 3 Vgl. Deutsche Bundesbank: Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR. 1975–1989. Frankfurt 1999, S. 22. 4  Vgl. Charles S. Maier: Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus. Frankfurt 2000, S. 123. 5  Vgl. Bundesbank: Zahlungsbilanz, S. 60.

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takte der DDR zum Europäischen Binnenmarkt der EWG über den innerdeutschen Handel hatten sie in diese komfortable Lage versetzt.6 Doch im Laufe der 1970er-Jahre führte eine ungünstige Kombination aus äußeren und inneren Faktoren zu einer ungewohnten Belastung der DDR-Zahlungsbilanz: Zunächst bewirkte der Kurswechsel des VIII. Parteitags natürlich eine deutliche Zunahme der Staatsausgaben, und das weniger in den Bereichen Forschung und Industrie, als vielmehr in den Bereichen Konsum und Soziales.7 Die damit ausgelösten massiven Importe von Rohstoffen, Zwischenprodukten, Konsum- und Investitionsgütern aus westlichen Ländern konnten nur schwer durch eigene Exporte aufgefangen werden – die Qualität vieler ostdeutscher Erzeugnisse genügte einfach nicht den Ansprüchen westlicher Kunden.8 Die Ausfuhren ostdeutscher Güter wurden zudem durch Mängel beim Kundendienst und häufige Produktionsunterbrechungen als Folge ausfallender Zulieferungen gebremst.9 Darüber hinaus war es dem DDR-Außenhandel nicht möglich, jene Produkte, die auf westlichen Märkten problemlos absatzfähig waren, vollständig an westliche Abnehmer auszuführen. Da die DDR große Mengen an Rohstoffen wie Erdöl, Erdgas, Steinkohle oder Kupfer aus der Sowjetunion importierte, war sie im Gegenzug auch verpflichtet, Grundstoffe- und Fertigwaren aus den Bereichen Landwirtschaft, Maschinenbau, Fahrzeugbau, Textilien, Elektrotechnik und Metallurgie auf der Basis langfristiger Verträge nach Osten zu liefern – allesamt Erzeugnisse, die im Westhandel wertvolle Devisen eingebracht hätten.10 Die enge Anbindung des Handels an die östliche Vormacht, die ausufernden Kosten der neuen Sozial- und Konsumpolitik sowie die ausbleibende Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Erzeugnisse mussten den DDR-Außenhandel gegenüber westlichen Ländern früher oder später ins Defizit treiben. Erschwerend kam hinzu, dass sich im Zuge der ersten Ölkrise im Jahr 1973 Kredite auf dem westlichen Kapitalmarkt deutlich verteuert hatten. Als die DDR Mitte der 1970er-Jahre aufgefordert wurde, ein Drittel ihrer Verbindlichkeiten zu tilgen, sah sie sich gezwungen, weitere Kredite zu deutlich schlechteren 6  Vgl. Küchler: Wirtschaft der DDR, S. 37 u. 54; Karl C. Thalheim: Außenwirtschaft als Bestimmungsfaktor von Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsentwicklung in der DDR. In: Gernot Gutmann, Gottfried Zieger (Hg.): Außenwirtschaft der DDR und innerdeutsche Wirtschaftsbeziehungen. Rechtliche und ökonomische Probleme, Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Bd. XVI. Berlin 1986, S. 19. 7  Vgl. Küchler: Wirtschaft der DDR, S. 33. 8  Vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 136. 9  Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe?, S. 265. 10  Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 221. Über die Warenstruktur des DDR-Außenhandels siehe Maria Haendcke-Hoppe, Karl C. Thalheim: Struktur und Entwicklungsperspektiven der außenwirtschaftlichen Verflechtung der DDR. In: Deutschland Archiv 6 (1973) 10, S. 1039– 1052, hier 1043. Siehe ebenfalls Kim: Außenwirtschaft der DDR, S. 90.

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Zinsbedingungen aufzunehmen. Unaufhaltsam bewegte sich der DDR-Staatshaushalt damit in eine Schuldenspirale hinein.11 Zusätzlich zu den Krediten westlicher Banken nahmen aber auch die Kosten der Handelsbeziehungen mit den östlichen Partnern zu. Mitte der 1970erJahre veranlasste die Sowjetunion nämlich ganz bewusst eine Verteuerung ihrer Rohstofflieferungen in die Ostblockstaaten, indem sie auf einen neuen Preisbildungsmechanismus innerhalb des RGW drängte. Bislang waren die Preise für sowjetische Rohstofflieferungen auf der Basis der durchschnittlichen Weltmarktpreise der vergangenen fünf Jahre bestimmt und parallel zur Planperiode auf fünf Jahre festgesetzt worden. Dieses sogenannte Bukarester Prinzip aus dem Jahr 1958 sollte Planungssicherheit gewährleisten und eine üppige Subvention der RGW-Staaten durch die Moskauer Regierung ermöglichen.12 Die veränderte Vereinbarung aus dem Jahr 1975 sah nun vor, die Rohstoffpreise jährlich auf der Grundlage der letzten drei Jahre festzulegen. Damit kamen Preissteigerungen auf dem Weltmarkt, wie sie in den 1970er-Jahren besonders drastisch zu beobachten waren, für die RGW-Länder deutlich schneller zur Geltung. Preise, die nach dem alten Preisbildungsmechanismus erst im Jahr 1980 eingetreten wären, wurden nun schon ab 1975 wirksam. Während im Jahr 1976 Erdöl auf dem Weltmarkt noch doppelt so teuer war wie Erdöl aus der SU, entsprach der sowjetische Preis im Jahr 1978 bereits 80 Prozent des Weltmarktpreises.13 Dadurch häufte die DDR auch gegenüber dem sowjetischen Handelspartner einen wachsenden Schuldenberg an – im Jahr 1982 belief sich das Defizit bereits auf 1,6 Milliarden Rubel.14 Als Konsequenz nahm die ohnehin enge Handelsbindung der DDR an die Sowjetunion noch einmal deutlich zu. Denn mit jeder Verteuerung der Rohstofflieferungen musste zur Gegenfinanzierung auch ein größeres Volumen an Grundstoffen und Fertigwaren bereitgestellt werden. Neben der fehlenden Absatzfähigkeit der eigenen Produkte auf den westlichen Märkten behinderte somit auch die Rohstoffpolitik der Sowjetunion eine spürbare Ausweitung der Westexporte.15 11  Vgl. André Steiner: Bundesrepublik und DDR in der Doppelkrise europäischer Industriegesellschaften. Zum sozialökonomischen Wandel in den 1970er-Jahren. In: Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 3 (2006) 3, S. 342–362, hier 347; vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 136; vgl. Küchler: Wirtschaft der DDR, S. 54. 12  Schröter: Ölkrisen und Reaktionen, S. 114; Kim: Außenwirtschaft der DDR, S. 65. Zur Preispolitik im RGW ausführlich Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe?, S. 302–311. 13  Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S.  213; Cornelsen: Wirtschaft in der Honecker-Ära, S. 359; Schröter: Ölkrisen und Reaktionen, S. 114. 14  Vgl. Hans-Hermann Hertle: Die Diskussion der ökonomischen Krisen in der Führungsspitze der SED. In: Theo Pirker, Rainer M. Lepsius, Rainer Weinert, Hans-Hermann Hertle (Hg.): Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Opladen 1995, S. 308–354. 15  Jörg Roesler warnt allerdings davor, die ökonomischen Probleme der DDR allein mit der Abhängigkeit gegenüber der Sowjetunion zu erklären. Ein »Moskauer Alibi« möchte Roes-

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4.1.1 Blockierte Führung: Der Aufschub von Reformen und die Eskalation der Schuldenkrise Höher verzinste Westkredite und verteuerte Rohstofflieferungen, dazu höhere Konsumausgaben, chronische Absatzschwäche und eine immer engere Handelsbindung an die Sowjetunion: Es gab also vielfältige Gründe, warum die DDR ab Mitte der 1970er-Jahre mit außenwirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Dass sich die Rahmenbedingungen für das übergeordnete Projekt »Konsumsozialismus« schon nach kurzer Zeit deutlich verschlechtert hatten, wurde auch von der neuen SED-Führung um Honecker sehr genau registriert.16 Bereits Ende des Jahres 1973 wiesen Gerhard Schürer, Chef der Staatlichen Plankommission, Günther Ehrensperger, Abteilungsleiter für Planung und Finanzen in der SPK und damit einer der führenden Finanzexperten des Ministerrates, sowie Werner Krolikowski, ZK-Sekretär für Wirtschaft und Vorgänger von Günther Mittag, auf den gefährlichen Trend einer rapide zunehmenden Westverschuldung hin. Nach ihren Hochrechnungen würde sich der Negativsaldo gegenüber westlichen Handelspartnern bis Ende des Jahrzehnts von 2 Milliarden DM im Jahr 1973 auf über 80 Milliarden DM im Jahr 1980 vergrößern.17 Neben dieser pessimistischen Prognose diskutierte das Zentralkomitee der SED Anfang des Jahres 1974 zusätzlich ein Gutachten über die Wirtschaftslage von Helmut Koziolek und Otto Reinhold, zwei Volkswirten aus dem »Zentralinstitut für Sozialistische Wirtschaftsführung beim Politbüro«. Ähnlich wie Schürer, Ehrensperger und Krolikowski machten auch diese beiden Autoren die SED-Führung auf das riskante Ungleichgewicht zwischen Konsum und Wertschöpfung in der DDR aufmerksam. Um die Staatsausgaben zurückzufahren und den Kaufkraftüberhang abzubauen, sollten ihrer Meinung nach Verbraucherpreise erhöht und Löhne in weniger leistungsstarken Sektoren abgesenkt werden. Darüber hinaus forderten Koziolek und Reinhold, Investitionen im produktiven Bereich deutlich auszuweiten, Subventionen für Mieten, Grundnahrungsmittel und Heizkosten abzubauen, die Kennziffer »Gewinn« in den Jahreswirtschaftsplänen der Kombinate wieder stärker zu betonen und die in den vergangenen ler rückblickend nicht akzeptieren. Vielmehr verfügte die DDR-Führung sowohl bei der inneren Organisation der Wirtschaft – zum Beispiel in Gestalt des NÖS –, als auch bei der Etablierung von Außenhandelsbeziehungen über einen erheblichen Handlungsspielraum. Vgl. Jörg Roesler: Der Handlungsspielraum der DDR-Führung gegenüber der UdSSR. Zu einem Schlüsselproblem des Verständnisses der DDR-Geschichte. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 41 (1993) 4, S. 293–304. Auch Ahrens erkennt in der engen Handelsbindung an die SU nicht das entscheidende ökonomische Entwicklungshemmnis für die DDR. Ein Großteil der in die SU gelieferten Güter sei auf den Westmärkten kaum absatzfähig gewesen. Nach Ahrens bereitete es der DDR sogar Schwierigkeiten, industrielle Fertigwaren innerhalb des RGW abzusetzen. Vgl. Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe?, S. 168. 16  Vgl. Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 183. 17  Vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Wer wusste was?, S. 591.

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Jahren erfolgte Zentralisierung der Wirtschaftslenkung zumindest teilweise zurückzunehmen.18 Mehr Investitionen und weniger Konsum, dazu eine erweiterte Eigenständigkeit der Betriebe – so ließen sich die Forderungen der Gutachter zusammenfassen, die unverkennbar an die Grundsätze des »Neuen Ökonomischen Systems« der Ulbricht-Ära erinnerten. Bis Ende der 1970er-Jahre wiederholten Vertreter der Wirtschaftsverwaltung in regelmäßigen Abständen diese oder ähnliche Reformideen, wie etwa Gerhard Schürer und Günter Mittag im Jahr 1977, als sie in einem Appell an Erich Honecker vor den unkontrollierbaren Folgen einer ausufernden Staatsverschuldung warnten.19 Die SED-Führung um Honecker wollte sich jedoch auf diese Reformforderungen nicht einlassen und erteilte jedem grundsätzlichen Kurswechsel eine Absage. In der Zeit nach Ulbricht, so Honecker, habe es keine falsche Richtungsentscheidung gegeben, die Strategie des VIII. Parteitags von 1971, also eine Generierung von Wachstum durch einen höheren Lebensstandard, bleibe der richtige Weg.20 Schnell kristallisierten sich bei dieser Diskussion drei Tabuthemen heraus: Versorgung, Sozialleistungen und Preise. Produktion und Soziales gegeneinander auszuspielen, so der Vorwurf Honecker an die »Reformer«, entspreche einer falschen Ideologie, da die zahlreichen sozialpolitischen Maßnahmen, wie die Bereitstellung von Wohnungen und der Ausbau des Bildungswesens, den produktiven Sektor erst möglich gemacht hätten. Eine Preiserhöhung wiederum würde das Verschuldungsproblem nicht lösen, sondern eher verschlimmern: Die Motivation der »Werktätigen« ließe nach, die Produktivität bräche ein und das Wirtschaftswachstum käme zum Erliegen, so die Argumentation Honeckers.21 Dass selbst geringfügige Veränderungen in den Bereichen Preise, Versorgung und Soziales unkontrollierbare Auswirkungen haben konnten, davon war der reformskeptische Flügel in der SED überzeugt. Vor allem die sogenannte Kaffeekrise im Jahr 1977, bei der eine Reduzierung des Kaffeeangebots ungewöhnlich heftige Proteste ausgelöst hatte, stand für viele Spitzenfunktionäre der SED als warnendes Beispiel.22 18  Vgl. Hertle: Diskussion ökonomischer Krisen, S. 313. 19  Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 212; vgl. Hertle: Diskussion ökonomischer Krisen, S. 314 u. 325. 20  Vgl. Hertle: Diskussion ökonomischer Krisen, S. 315; Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 206. 21  Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 212; vgl. Hertle: Diskussion ökonomischer Krisen, S. 325. 22 Als Reaktion auf gestiegene Importpreise bei Gewürzen und Genussmitteln infolge einer Missernte in Brasilien entschied das Politbüro im Jahr 1976, die preiswerte Kaffeesorte »Kosta« aus dem Sortiment zu nehmen und als Alternative einen Kaffeemix anzubieten, der zur Hälfte aus einem Kaffeeersatz bestand. Dieses lösliche Getränk stieß in breiten Teilen der Bevölkerung allerdings schnell auf Ablehnung. Im Jahr 1977 setzte ein für DDR-Verhältnisse ungewöhnlich heftiger Bürgerprotest mit zahlreichen Eingaben bei öffentlichen Stellen ein. Diese sogenannte »Kaffeekrise« war für die SED ein deutliches Signal, dass eine Verteuerung

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Der Kreis um Honecker verweigerte sich also einer grundlegenden Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik. Anstelle eines umfassenden Umbaus der Wirtschaftsorganisation bestätigte der IX. Parteitag der SED im Jahr 1976 vielmehr die fünf Jahre zuvor eingeleitete Sozial- und Konsumagenda der sogenannten Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik: Das Wohnungsbauprogramm wurde noch einmal erweitert und die staatlichen Subventionen in den Bereichen Wohnungswesen, Bildung, Versorgung und Verkehr ausgebaut. Kritischen Diskussionen über die Konsumlastigkeit der Investitionen und die Realitätsferne der Wirtschaftspläne ging der Generalsekretär zunehmend aus dem Weg.23 Das ökonomische Hauptproblem der unausgeglichenen Handelsbilanz blieb damit auch in der neuen Planperiode von 1976 bis 1981 bestehen – und nahm ab 1977 noch einmal deutlich bedrohlichere Ausmaße an. Denn in jener Zeitspanne, in der die inneren Ursachen der Verschuldung durch eine blockierte politische Führung nicht beseitigt werden konnten, begannen sich die äußeren Krisenfaktoren ein weiteres Mal zu intensivieren: Zunächst rutschten die westeuropäischen Volkswirtschaften infolge eines weiteren Ölpreisschocks im Jahr 1979 in eine Rezession, die sich auf den DDR-Westexport unmittelbar dämpfend auswirkte: Entweder konnten die eigenen Waren jetzt gar nicht mehr, oder nur noch zu einem deutlich niedrigeren Preis abgesetzt werden.24 Darüber hinaus brach zwischen der DDR und ihrem mit Abstand wichtigsten Handelspartner, der Sowjetunion, ein unerwarteter Handelskonflikt aus, der für oder Reduzierung von Nahrungs- und Genussmitteln mit hohen Risiken verbunden war. Daher sollte es Preissteigerungen zukünftig nur noch bei neuen und importierten Produkten mit verbesserter Qualität geben. Vertreter der Wirtschaftsverwaltung, hier vor allem Schürer und Mittag, drängten allerdings auch in der Folgezeit auf eine Anhebung der Verbraucherpreise, vor allem nachdem sich die Zahlungsbilanz- und Bargeldprobleme Ende der 1970er-Jahre noch einmal deutlich verschärft hatten. Im Sommer 1979 bereiteten sie Preiserhöhungen auf breiter Front vor – ein Experiment, das laut Andreas Malycha diesmal auch von Honecker unterstützt oder zumindest stillschweigend geduldet wurde. Doch als Einzelheiten der Preisreform in der Öffentlichkeit bekannt wurden, breitete sich abermals Unruhe in der Bevölkerung aus. Das MfS warnte die politische Führung daraufhin vor den unkontrollierbaren Folgen der geplanten Maßnahmen. Aus einer »übermächtigen Angst vor politischen Erschütterungen«, so Malycha, ließ Honecker das Vorhaben schließlich in letzter Minute abbrechen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war der SED-Führung klar, dass ihre Herrschaft ohne ausreichende Versorgung, stabile Verbraucherpreise und umfassende Sozialleistungen kaum aufrechtzuerhalten war – eine Erkenntnis, die sich in ihren Augen ein Jahr später noch einmal erhärtete, als im Nachbarland Polen Preiserhöhungen eine Streikbewegung in Gang setzten. Über die »Kaffeekrise« von 1977 und das Preisexperiment von 1979 siehe Andreas Malycha: Der »Konsumsozialismus« der Honecker-Ära und der Eklat um die Erhöhung der Verbraucherpreise im Herbst 1979. In: Deutschland Archiv 45 (2012) 2, S. 305–318. Über die kulturelle und politische Bedeutung des Kaffees in beiden deutschen Staaten siehe Monika Sigmund: Genuss als Politikum. Kaffeekonsum in beiden deutschen Staaten. München 2015. 23 Vgl. Gutmann; Buck: Zentralplanungswirtschaft, S.  15. Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 211. 24  Vgl. Cornelsen: Wirtschaft in der Honecker-Ära, S. 359.

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die weitere wirtschaftliche Entwicklung der DDR entscheidende Konsequenzen haben sollte. Dieser Konflikt löste zu einem für die DDR-Führung denkbar ungünstigen Zeitpunkt eine markante Eskalation der Schuldenkrise aus.25 Was war geschehen? Im Oktober 1981 hatte die Sowjetunion ohne jegliche Vorwarnung die jährlichen Erdöllieferungen auf Basis der RGW-Bedingungen von 19 auf 17 Millionen Tonnen reduziert.26 In der Folgezeit wurden zusätzlich alle Getreide- und Steinkohlelieferungen gekappt und jegliche Kredite für den bilateralen Austausch gestrichen.27 Das Schuldenproblem der DDR nahm daraufhin dramatische Züge an: Binnen Kürze sprang das staatliche Defizit bei westlichen Banken von 21 Milliarden DM im Jahr 1979 auf 25,1 Milliarden DM im Jahr 1982, während die Zinsen für neue Kreditaufnahmen noch einmal spürbar anzogen.28 Zur gleichen Zeit gerieten auch die sozialistischen Partnerländer der DDR unter zunehmenden finanziellen Druck. Im Laufe des Jahres 1981 sah sich zum Beispiel Polen gezwungen, seine Zahlungsunfähigkeit zu erklären, gefolgt von Rumänien, Ungarn und Kuba. Auf diese Zahlungsausfälle reagierten die westlichen Finanzmärkte Ende des Jahres 1981 mit einem allgemeinen Kreditboykott gegenüber allen Staaten des Ostblocks, sodass es der DDR im gesamten Jahr 1982 nicht mehr möglich war, weitere langfristige Kredite aufzunehmen.29 Die anfänglichen Bilanzschwierigkeiten Mitte der 1970erJahre hatten sich mit dieser unerwarteten Situation zu einer beinahe existenziellen Liquiditätskrise ausgewachsen. »Es wurde zeitweise um die Beschaffung der Devisen für die termingerechte Bezahlung jeder einzelnen Rechnung gerungen«, so der stellvertretende Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, Siegfried Wenzel, im Rückblick.30 Nach übereinstimmenden Berechnungen der Außenhandelsbank und des Finanzministeriums der DDR stand auch der ostdeutsche Staat Ende des Jahres 1982 kurz davor, die Einstellung seiner Schuldendienste verkünden zu müssen.31 Innerhalb weniger Monate war die DDR in die schwerste ökonomische Krise seit ihrem Bestehen geschlittert. Über die Hintergründe dieser verhängnisvollen Entscheidung der Sowjetunion im Sommer 1981 gibt es bis heute nur Mutmaßungen. Breschnew deutete gegenüber Honecker interne Probleme an. »Die ungünstigen Witterungsverhältnisse der letzten Jahre haben dazu geführt«, so Breschnew in einem Schrei25  Vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 140; vgl. Hertle: Diskussion ökonomischer Krisen, S. 325. 26  Die restlichen 2 Mio. Tonnen wurden zwar weiterhin geliefert, mussten aber mit konvertierbaren Devisen bezahlt werden. Vgl. Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe?, S. 333. 27  Vgl. Hertle: An die Sowjetunion verkaufen?, S. 481. 28  Vgl. Bundesbank: Zahlungsbilanz der DDR, S. 22. 29  Vgl. Kruse: Deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen, S. 192; vgl. Hertle: Diskussion ökonomischer Krisen, S. 325. 30 Wenzel: Wirtschaftsplanung, S. 9. 31  Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 224; vgl. Hertle: Diskussion ökonomischer Krisen, S. 326; vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 139.

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ben an Honecker im August 1981, »dass es uns nicht gelungen ist, die geplanten Getreideerträge zu erzielen. Das laufende Jahr gestaltet sich ebenfalls ungünstig.«32 Tatsächlich wurde die sowjetische Landwirtschaft zu Beginn der 1980erJahre von mehreren Missernten in der Ukraine getroffen, darüber hinaus trieben aber auch der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan im Dezember 1979 und ein erneuter ost-westlicher Rüstungswettlauf die staatlichen Ausgaben in die Höhe.33 Nach Meinung Breschnews sollte daher das auf den Weltmärkten deutlich teurere Erdöl weniger großzügig an die RGW-Partner verteilt, sondern lieber international zugunsten des sowjetischen Staatshaushalts abgesetzt werden.34 Diese Entscheidung resultierte nach den Darstellungen der Wirtschaftshistoriker Matthias Judt und Harm Schröter aber auch aus einem grundsätzlichen Unbehagen der Sowjetunion gegenüber den zunehmenden Geschäftspraktiken der RGW-Staaten mit westlichen Unternehmen, die ganz besonders im Fall der DDR zu einem guten Teil auf dem Weiterverkauf veredelter Mineralölprodukte basierten. Breschnew hatte bereits im Juli 1979 deutliche Kritik an der Verschuldungspolitik Honeckers geäußert.35 Mit einer Reduzierung der jährlichen Rohstofflieferungen, so die Idee der sowjetischen Führung, sollten die ausufernden Ost-West-Verflechtungen seit Beginn der 1970er-Jahre zumindest ein Stück weit begrenzt werden.36 Die SED traf die Vorgehensweise ihrer Bruderpartei völlig unvorbereitet. Noch im November 1980 hatte ein Bericht des SED-Zentralkomitees für die Vorbereitung des X. Parteitags 1981 die »fundamentale Bedeutung« der »gesicherten umfangreichen Lieferungen der Sowjetunion an Rohstoffen und Energieträgern« hervorgehoben.37 Geschockt von der überraschenden Neufestlegung der Lieferbedingungen war den Spitzen von Partei und Staat schnell klar, dass die seit Jahren schwelende Schuldenkrise nun nach einer weit umfassenderen und radikaleren wirtschaftspolitischen Antwort verlangte. Rückblickend, im Jahr 1993, fasste Gerhard Schürer die damalige Atmosphäre innerhalb der politischen Führung mit folgenden Worten zusammen:

32  Brief des Generalsekretärs der KPdSU, Leonid Breschnew, an Erich Honecker, vom 27.  August 1981, deutsche Übersetzung siehe http://www.chronik-der-mauer.de/material/180388/brief-von-kpdsu-generalsekretaer-leonid-breschnew-an-sed-generalsekretaer-erich-honecker-mit-der-ankuendigung-die-rohoellieferungen-zu-kuerzen-27-august-1981, abgerufen am 3.1.2018. 33  Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 252. 34  Vgl. Schröter: Ölkrisen und Reaktionen, S. 122. 35  Vgl. Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 246. 36  Vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 228; vgl. Schröter: Ölkrisen und Reaktionen, S. 122. 37  ZK der SED: Interne Analyse des internationalen Kräfteverhältnisses vom 7.11.1980; BArch, DY 30, Nr. 2054, Bl. 21.

Aufruf zur Abschottung

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1981 war die Westverschuldung zu einer Katastrophe geworden. Und in diese Situation hinein sind dann auch noch Probleme gekommen – die UdSSR hatte die Erdöllieferung von 19 auf 17 Millionen Tonnen gekürzt, wir konnten aber ohne diese 2 Millionen Tonnen nicht auskommen und mussten deshalb große Strukturveränderungen vornehmen –, sodass sich alles gebündelt hat in einem Knäuel von Sorgen und Ausweglosigkeit. Das war einer der Punkte, wo man fragen musste, wie geht’s weiter mit der DDR.38

4.2  Aufruf zur Abschottung: Die drohende Zahlungsunfähigkeit der DDR und der Lösungsansatz des MfS Auf Schürers Frage, wie es mit der DDR nun weitergehen sollte, fand die SED-Führung in der Folgezeit tatsächlich eine umfassende Antwort. Schrittweise entwickelte sie eine vielschichtige Strategie der Entschuldung, die sich auf die innere Organisation, Aufgabenstellung und alltägliche Arbeitsweise der hier betrachteten Chemiekombinate deutlich auswirken sollte. Bevor allerdings die wirtschaftspolitischen Entscheidungen und ihre Folgen im Detail vorgestellt werden, soll der Blick zunächst auf die Krisenwahrnehmung des MfS Anfang der 1980er-Jahre gelenkt werden. Welchen sicherheitspolitischen Stellenwert maßen die Vertreter die Linie XVIII dem Schuldenproblem bei? Und welche wirtschaftspolitischen Forderungen leiteten sie daraus ab? Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass sich das MfS mit den wachsenden Verbindlichkeiten der DDR gegenüber westlichen Banken eingehend auseinandersetzte, da es in einer solchen Verschuldung vor allem das politische Risiko einer kaum noch zu kontrollierenden Westabhängigkeit erkannte. Kritische Rückmeldungen aus den Plan- und Finanzorganen wurden von Erich Mielke sehr ernst genommen. Wiederholt ließ er die Hauptabteilung XVIII Ende der 1970er-Jahre die Situation der Handelsbilanz prüfen, die bereits im Jahr 1979 vor der Gefahr eines unmittelbar bevorstehenden Staatsbankrotts warnte.39 Als Spitzenfunktionäre wie Gerhard Beil (stellvertretender Minister für Außenhandel), Günter Ehrensperger (Leiter der ZK-Abteilung Planung und Finanzen) und Gerhard Schürer (Chef der SPK) in vertraulichen Runden immer deutlicher die katastrophalen Folgen der konsumorientierten Wirtschaftspolitik ansprachen, veranlasste Mielke im November 1980 eine weitere Geheim­studie

38  Gerhard Schürer in: Haendcke-Hoppe-Arndt: Wer wusste was?, S. 592. 39  Siehe zum Beispiel HA XVIII des MfS: Zum Stand und zur Problematik der Zahlungsbilanz der DDR vom 5.2.1979; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 12478, Bl. 15.

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Rolle des MfS in der Phase der Verschuldung und Konsolidierung

zur ökonomischen Lage der DDR. Sie sollte die umfangreichste Analyse des MfS zu ökonomischen Fragen werden.40 Verantwortlich für das Projekt wurde die Hauptabteilung XVIII, hier vor allem Horst Roigk, dem als Leiter der Abteilung XVIII/4 die Überwachung der zentralen Organe der Wirtschaftsverwaltung wie der SPK, des Finanzministeriums, der Staatsbank oder der Zentralverwaltung für Statistik oblag. Für die praktische Umsetzung wurde Roigk eine Expertengruppe zur Seite gestellt, die nicht nur Einblick in alle relevanten Regierungsdokumente erhielt, sondern auch mit führenden Vertretern der DDR-Wirtschaftselite in regem Kontakt stand – darunter Arno Donda, Chef der staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, Werner Polze, Direktor der Deutschen Außenhandelsbank und Harry Möbis, Leiter der Arbeitsgruppe Organisation und Inspektion beim Ministerrat. Auch Experten der Plankommission sowie die Generaldirektoren der wichtigsten Großkombinate stellten für dieses Gutachten ihr Wissen zur Verfügung.41 An dieser Stelle wird einmal mehr deutlich, dass die Geheimpolizei hervorragende Fähigkeiten besaß, zu einem bestimmten Sachverhalt schnell und lückenlos alle wichtigen Informationen zusammenzutragen, in diesem Fall nicht nur zu einer einzelnen Person, wie bei einer »Sicherheitsüberprüfung« oder zu einem einzelnen Investitionsprojekt, wie bei zahlreichen Operativen Vorgängen, sondern auch zur Situation der Volkswirtschaft als Ganzes. Dank der intensiven offiziellen und inoffiziellen Kooperation der Diensteinheiten der Linie XVIII mit den wichtigsten Institutionen der Wirtschaftsverwaltung zeigte sich das MfS über die wirtschaftliche Gesamtlage und die entscheidenden ökonomischen Problemstellungen bestens informiert. Das Gutachten aus dem Jahr 1980, das aufgrund der überraschenden Entscheidung der Sowjetunion zur Drosselung der subventionierten Erdölimporte im Januar 1982 noch einmal überarbeitet werden musste, kam ganz allgemein zu einem pessimistischen Gesamtergebnis: Die Beschaffung von Bargeld- und Warenkrediten sei auch nach 1982 keineswegs gesichert, die Erfüllung der Exportpläne mit einem Rückstand von 2,1 Milliarden VM für das laufende Planjahr kaum machbar, die Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit hingegen sehr groß. »Und dann haben wir einen Schrecken gekriegt«, so Roigk im Rückblick. »Nach einer Woche wussten wir, dass die Volkswirtschaft der DDR am Zusammen-

40 HA XVIII des MfS: Empfehlungen und Lösungsvorschläge im Interesse des weiteren stabilen Leistungsanstiegs in der Volkswirtschaft der DDR vom 24.11.1980; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 4692, Bl. 13–38. Siehe auch Hertle: An die Sowjetunion verkaufen?, S. 478; Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 261. 41  Vgl. Hertle: An die Sowjetunion verkaufen?, S. 479.

Aufruf zur Abschottung

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bruch war.«42 Aus eigener Kraft, so das damalige Fazit der Gutachter, sei die DDR nicht mehr imstande, ihre ökonomischen Probleme zu lösen.43 Um die unmittelbaren Folgen eines Staatsbankrotts – wie die flächendeckende Stilllegung von Anlagen, eine Reduzierung der Lebensmittelversorgung oder eine massenhafte Entlassung von Industriebeschäftigten – abzuwenden, verlangten Roigk und Kleine eine fundamentale Neuausrichtung der Außenwirtschaftspolitik: Investitionsvorhaben mit westlichen Partnern müssten ausgesetzt, eine weitere Einfuhr hochwertiger Konsumgüter gestoppt und alle weiteren westlichen Importe auf absolut unverzichtbare Grundstoffe und Zwischenprodukte begrenzt werden, so die Kernforderungen der Studie. Parallel dazu solle die Sowjetunion dazu bewegt werden, sämtliche Verpflichtungen der DDR bei westlichen Banken zu übernehmen. Als Ausgleich könne sie all jene Erzeugnisse von der DDR abnehmen, die bislang in westliche Länder ausgeführt wurden. Die Handelsbeziehungen nach Osten könnten derart ausgeweitet werden, dass am Ende auch die Sowjetunion in die Lage versetzt werden würde, sich mithilfe der ostdeutschen Produkte schrittweise von allen westlichen Märkten abzukoppeln.44 Die Zielrichtung dieses Gutachtens war eindeutig: Als Lösung für die akute Zahlungsbilanzkrise forderte die Hauptabteilung XVIII eine komplette ökonomische Entflechtung der DDR von ihren westeuropäischen und bundesdeutschen Partnern und im Gegenzug eine drastische Intensivierung der ohnehin bereits engen Handelsbindung an die Sowjetunion. Roigks Reformpapier kann daher als letzter Versuch der Linie XVIII gelesen werden, die Ende der 1960er-Jahre intensivierte und vom MfS stets kritisch kommentierte ökonomische Westöffnung der DDR radikal umzukehren. Der Trend zu einer immer engeren ost-westlichen Interaktion sollte aufgehalten und das Ideal einer abgeschotteten »alternativen Weltökonomie« sozialistischer Staaten – so wie sie Honecker noch bis Ende der 1960er-Jahre gefordert hatte – doch noch verwirklicht werden.45 Mit solchen Forderungen trat einmal mehr ein konservativer, bisweilen weltfremder Grundzug des MfS zutage, das Streben, sich gegen eine bestimmte Entwicklung zu stemmen und den Idealzustand einer so nie dagewesenen Vergangenheit wiederherzustellen. Ob die praktische Überwachungsarbeit der regionalen Diensteinheiten gegenüber staatlichen Leitern und Reisekadern in den Betrieben, die wie im Fall Eßbach stark von Misstrauen und oft völlig überzogenen Straftatverdachten geprägt war oder die hier beschriebenen grundsätzlichen konzeptionellen Überlegungen zu wirtschaftspolitischen Fragen – an vie42  Horst Roigk in: Haendcke-Hoppe-Arndt: Wer wusste was?, S. 597. 43 Vgl. HA XVIII des MfS: Analyse über die Situation in der Volkswirtschaft vom 25.1.1982; BStU, MfS, HA XVIII 4693; siehe auch Hertle: An die Sowjetunion verkaufen?, S. 481 u. 489. 44  Vgl. ebenda, S. 483 u. 494. 45  Klenke: An der Globalisierung gescheitert?, S. 16.

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len Stellen erscheint das MfS als eine Organisation, die nicht bereit war, sich mit grundsätzlichen Merkmalen der politischen und ökonomischen Realität in den 1970er- und 1980er-Jahren abzufinden. Mit ihrer skeptischen Sicht auf die Westkontakte der Kombinate, ihrem handelspolitischen Ideal der Hinwendung zur Sowjetunion und ihren oftmals realitätsfremden Ermittlungen gegen einzelne Kombinatsvertreter wirkten die Offiziere teilweise wie Vertreter der 1950er-Jahre, die in der Ära der Entspannungspolitik noch lange nicht angekommen waren.

4.3  Konsolidierungsschritt I: Die Lockerung des Außenhandelsmonopols und die schrittweise Einbindung der Kombinate in den internationalen Warenaustausch Ob die oben besprochene Studie innerhalb der Staats- und Parteiführung tatsächlich verteilt wurde, ist nicht genau überliefert.46 Sicher ist, dass der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, damals nichts von den etwas aus der Zeit gefallenen Vorschlägen erfahren hatte und sie rückblickend in einem Gespräch mit Hans Hermann Hertle als »irrsinnig« und »absolute Idiotie« bezeichnete.47 Doch selbst wenn die strukturellen Überlegungen der MfS-Offiziere innerhalb der SED-Führung bekannt geworden wären, hätten sie bei den relevanten Entscheidungsträgern wohl kaum eine politische Reforminitiative in Gang gesetzt. Zum einen, weil dem MfS nicht die Kompetenz und Befugnis zugeschrieben wurde, wirtschaftspolitische Grundsatzkonzepte zu entwickeln. Die Geheimpolizei war für die Absicherung, nicht für die Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik vorgesehen.48 Zum anderen, weil die SED-Führung um Honecker wirtschaftspolitisch längst einen anderen Weg eingeschlagen hatte, dessen Prioritäten sich grundsätzlich von den Zielvorstellungen der Linie XVIII unterschieden. Ihr schwebte der Versuch vor, die DDR hart zu konsolidieren, ohne dabei Abstriche bei den Sozialleistungen und bei der alltäglichen 46  Anfang Februar 1982 drängte Rudi Mittig, erster Stellvertreter Mielkes, auf eine umfassende Entschärfung der Studie. Kritische Abschnitte, wie die detaillierte Darstellung der Auslandsschulden seit 1971, die Kritik an der Wirtschaftskommission Günter Mittags oder die Zweifel an den wirtschaftspolitischen Zielen des VIII. Parteitags, sollten gestrichen werden. Die abgespeckte Version las sich deutlich optimistischer. Wenn die Beschlüsse der Partei besser umgesetzt würden, so der Tenor, sei die wirtschaftliche Lage durchaus beherrschbar. Nach Malycha ist es gut möglich, dass die überarbeitete Fassung der Studie tatsächlich an Honecker weitergeleitet wurde. Vgl. Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 272. 47  Vgl. Hertle: An die Sowjetunion verkaufen?, S. 483. 48  Nach 1982 fertigte das MfS keine weitere gesamtwirtschaftliche Studie auf der Basis von Expertengesprächen an. Mielke sah ein, dass sein Ministerium nicht dafür geschaffen war, eine alternative Wirtschaftspolitik zu entwickeln. Vgl. Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 272.

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Versorgung vornehmen zu müssen.49 Weder sollte die Kooperation mit westlichen Unternehmen zurückgedreht noch das Planungsmodell nach den Vorstellungen Kozioleks und Reinholds mit Marktelementen oder erweiterten Befugnissen der Betriebe umgebaut werden. Ziel war es vielmehr, Importe aus dem westlichen Ausland deutlich zu reduzieren und wenn möglich auf den innerdeutschen Handel umzulenken, Exporte hingegen maximal auszuweiten sowie Devisen und wertvolle Embargogüter auf unkonventionellen Wegen herbeizuschaffen. Doch wie sollte eine solche ideale Entwicklung – Erfolg auf den Westmärkten bei gleichzeitiger Verringerung der Einfuhren und Aufrechterhaltung der Versorgung – auf einmal gelingen? Drei strukturelle Veränderungen waren dafür aus Sicht führender Vertreter des Politbüros und der Planverwaltung notwendig: Erstens eine stärkere Ausrichtung der Produktionsbetriebe auf die Nachfrage der Endkunden im westlichen Ausland; zweitens der Aufbau eines zusätzlichen außerplanmäßigen Außenhandels, um Devisen zu erwirtschaften und Investitionsgüter zu beschaffen und drittens die Umstellung der Wärme- und Energieerzeugung von Erdöl auf Braunkohle, um die Produktion veredelter Erdölerzeugnisse auszuweiten, die anschließend sofort dem Absatz auf westlichen Märkten zugeführt werden sollten. Eng verbunden mit dieser Neuverwendung von Energieträgern wurde ein ehrgeiziges Programm zur Materialund Energieeinsparung aufgelegt – die sogenannte Intensivierung –, um trotz der umfassenden Reduzierung der Importe von sowjetischer Seite eine ausreichende Versorgung der Industrie mit Rohstoffen, Ersatzteilen, Elektrizität und Wärme sicherzustellen.50 49  Den Haushalt sanieren, ohne die Versorgung der Bevölkerung zu beeinträchtigen – diesen Grundsatz konnte die SED im Laufe der 1980er-Jahre nur bedingt aufrechterhalten. Während die meisten Sozialleistungen wie Mietzuschüsse, kostenfreie Kindergärten oder Lebensmittelsubventionen tatsächlich unangetastet blieben, kam es beim Angebot von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern zu spürbaren Einschränkungen. Über die Auswirkungen der Konsolidierungspolitik auf die Privathaushalte siehe Kapitel 5, Abschnitt 5.2.1. Siehe ebenso Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 142; Hertle: Diskussion ökonomischer Krisen, S. 326. 50  Als ein wichtiges Teilprojekt der Intensivierung beschloss die 6. Tagung des ZK der SED im Jahr 1977 ein Programm zur Entwicklung mikroelektronischer Bauteile. Die Belieferung der eigenen Betriebe mit EDV – allen voran im Bereich des Maschinenbaus – sollte dazu beitragen, industrielle Abläufe zu automatisieren und damit kostengünstiger zu gestalten. Angewendet wurde dabei die Strategie der Nachentwicklung, bei der illegal beschaffte Muster von elektronischen Bauelementen und Speicherschaltkreisen analysiert und kopiert wurden. Zu den Zentren der mikroelektronischen Produktion entwickelten sich die Kombinate für Mikroelektronik in Jena, Erfurt und Frankfurt/O. Die Jahre 1981 bis 1982 sowie 1986 bis 1988 markieren die Hochphasen des Programms. Vor allem mit dem XI. Parteitag im Jahr 1986 wurde das Projekt noch einmal deutlich ausgeweitet. Auf Initiative Günter Mittags wurde die Errichtung zweier Halbleiterfabriken mit einem Investitionsvolumen von 3 Mrd. Mark und 500 Mio. DM beschlossen. Mittag war davon überzeugt, dass nur mithilfe dieses neuen Investitionsschwerpunkts das Problem der Außenschulden langfristig überwunden werden konnte. Eine Konzentration allein auf den Re-Export von Erdölprodukten reichte seiner Meinung nach nicht mehr aus. Zwischen 1977 und 1989 wurden in der High-Tech-Branche gut 14 Mrd. Mark investiert.

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Diese drei Maßnahmen waren zu Beginn der 1980er-Jahre nicht vollkommen neu, sondern bereits mit den ersten Anzeichen einer drohenden Schuldenkrise, also ab Mitte der 1970er-Jahre, in Ansätzen konzipiert worden. Jetzt aber, im Laufe des Jahres 1981, wurden sie zu einer kohärenten Gesamtstrategie zusammengefasst, mit der die SED versuchte, ihrer bis dahin größten ökonomischen Herausforderung zu begegnen: einem drohenden Bankrott des Staates und damit – als unmittelbare Folge – dem Verlust ihrer Fähigkeit, die Wirtschaft des Landes planmäßig von zentraler Stelle aus zu leiten und zu gestalten. Schnell wird dabei deutlich, dass dieser Ansatz auf einen Ausbau der ökonomischen Kooperation mit westlichen Unternehmen setze, eine Herangehensweise, die mit den oben diskutierten Vorschlägen der Hauptabteilung XVIII des MfS unvereinbar war. Im Folgenden sollen die drei Komponenten der Entschuldungsstrategie genauer vorgestellt werden: die konkreten Reformschritte, die damit verbundenen Erwartungen und schließlich die tatsächlich eingetretenen Effekte. Im Mittelpunkt stehen dabei jene Akteure, die die Hauptlast der Konsolidierung zu tragen hatten: die Handels- und Produktionsbetriebe der DDR. Welche Erwartungen wurden an sie gestellt? Welche neuen Aufgaben kamen auf sie zu? Und welche organisatorischen Veränderungen löste der ökonomische Ausnahmezustand der frühen 1980er-Jahre bei ihnen aus? Jede Veränderung in den unteren Strukturen der Wirtschaftsverwaltung musste dabei auch unmittelbare Auswirkungen auf die Diensteinheiten der Linie XVIII des MfS haben: Die Wirtschaftsüberwachung konzentrierte sich stets auf die Volkseigenen Betriebe und Kombinate und war unmittelbar in ihre inneren Abläufe eingebunden. In einem weiteren Schritt soll daher gefragt werden, wie sich die Entschuldungspolitik auf die alltägliche Praxis der Geheimpolizei vor Ort auswirkte. Welche Vor- und Nachteile resultierten aus der wirtschaftspolitischen Strategie der SED für die Überwachung der Betriebe? Und welchen konkreten Beitrag konnte und sollte das MfS für die Überwindung der akuten Wirtschafts- und Liquiditätskrise leisten? Mit einer Darstellung der gesamtwirtschaftlichen Herausforderungen und ihrer strukturellen Auswirkungen innerhalb der Betriebe der Chemiebranche sollen die Bedingungen verständlich werden, unter denen das MfS seine vielfältigen Aufgaben in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren umzusetzen hatte. Über die Konzeption und Umsetzung des Mikroelektronikprogramms siehe Barkleit: Mikroelektronik, S. 22; Hertle: Diskussion ökonomischer Krisen, S. 332; Gerhardt: »Die Ökonomie ist Mittel zum Zweck«, S. 4; Olaf Klenke: Das Mikroelektronikprogramm und die »Dritte industrielle Revolution« in der DDR (1977–1989). Zwischen Rationalisierung und sozialem Konflikt. Berlin 2005; Ders.: Globalisierung, Mikroelektronik und das Scheitern der DDR-Wirtschaft. In: Deutschland Archiv 35  (2002)  3, S.  421–428. Über die Einbindung des MfS in dieses Projekt siehe vor allem Barkleit: Mikroelektronik und Buthmann: Hochtechnologien und Staatssicherheit sowie den Abschnitt 4.10 in diesem Kapitel.

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In dem Versuch, Exporte maximal auszuweiten, erkannte die SED den wichtigsten Beitrag für eine ökonomische Stabilisierung der DDR. Ausnahmslos alle Einzelmaßnahmen waren auf dieses übergeordnete Ziel ausgerichtet. Eine erste Stimulierung des Absatzes sollte dabei unter anderem durch eine Vereinfachung der bislang recht umständlichen Außenhandelsorganisation erreicht werden: Produktionsbetriebe und Außenmärkte sollten enger vernetzt, die Abstimmungswege zwischen Erzeugern, Zwischenhändlern und Endkunden deutlich verkürzt und das Produktionsprofil der Betriebe zielgenauer auf die äußere Nachfrage ausgerichtet werden. Eine Großreform aus einem Guss legte die SED dabei zwar nicht vor. Doch erwog sie Anfang der 1970er-Jahre und vor allem zwischen 1978 und 1981 kleinere Einzelmaßnahmen, die in ihrer Gesamtheit die Organisation des Außenhandels deutlich veränderten. Den Anfang machte das sogenannte einheitliche Betriebsergebnis, das bereits im Jahr 1971 für die Produktionsbetriebe eingeführt worden war. Darin sollte neben der Planerfüllung eines Produktionsbetriebs auch das Außenhandelsergebnis des zu ihm gehörenden Außenhandelsbetriebs (AHB) berücksichtigt werden. Für den Erfolg oder Misserfolg eines Planjahres zählte fortan nicht mehr nur die Produktion der festgelegten Gütermenge, sondern auch der tatsächliche Erlös dieser Güter auf den Außenmärkten. Die vorherrschende Fixierung der Erzeuger auf die Kennziffer »industrielle Warenproduktion« sollte dadurch überwunden werden.51 Eine eigenständige Außenhandelstätigkeit wurde den Produktionsbetrieben mit dem »einheitlichen Betriebsergebnis« aber noch nicht übertragen. Die Einnahmen aus dem Absatzgeschäft, die für ihre eigene Abrechnung jetzt relevant wurden, hingen weiterhin von der Kundenwahl und dem Verhandlungsgeschick der Außerhandelsbetriebe ab. Dies änderte sich allerdings – zumindest im begrenzten Umfang – mit einer Verordnung des Ministerrates aus dem November 1978, mit der die sogenannte Eigengeschäftstätigkeit der Kombinate wiederbelebt wurde. War es den Produktionsbetrieben bislang lediglich in Ausnahmefällen gestattet gewesen, Ersatzteile an westliche Unternehmen zu verkaufen (aber nicht zu beziehen), konnten die Außenhandelsbetriebe von nun an den ihnen zugeordneten Kombinaten die Befugnis erteilen, umfangreichere Handelsverträge im eigenen Namen abzuschließen – und das nicht nur für einzelne Ersatzteile, sondern auch für Fertigwaren und Importgüter.52 Für ein solches sogenanntes Eigengeschäft bedurfte es zunächst eines Beschlusses des Ministerrates oder des Ministers für Außenhandel, bei sogenannten Importeigengeschäften ausschließlich einer Zustimmung des Ministerrates. Wurde eine solche Genehmigung erteilt, legten der Außenhandelsbetrieb und das betreffende Kombinat 51  Vgl. Maria Haendcke-Hoppe: Veränderungen in der DDR-Außenhandelsorganisation. In: Deutschland Archiv 13 (1980) 2, S. 160; Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe?, S. 200. 52  Vgl. Haendcke-Hoppe: Veränderungen in der Außenhandelsorganisation, S. 161.

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alle Modalitäten des anstehenden Geschäfts, wie Preise und Zahlungsbedingungen, in einer gesonderten »Eigengeschäftsvereinbarung« fest. Die praktische Umsetzung der darin genannten Ein- und Ausfuhren lag dann in der Verantwortung des Kombinats.53 Von dieser Arbeitsteilung versprach sich die Regierung sowohl eine Entlastung der Außenhandelsbetriebe als auch eine bessere Einbindung der Kombinate in den Außenhandel. Während sich die Kombinate vor allem um den Absatz jener Produkte kümmern sollten, die sie als Alleinerzeuger produzierten, erhielt die Außenhandelsverwaltung die Möglichkeit, sich auf ihr eigentliches Kerngeschäft zu konzentrieren: die Ausarbeitung einer allgemeinen Absatzstrategie und die Vermarktung der Produkte im Ausland.54 Produktion und Handel sollten also enger zusammenrücken. Um diesem Ziel noch ein Stück näherzukommen, wurden im Jahr 1979 zwei weitere Veränderungen innerhalb der Außenhandelsorganisation eingeführt: Zum einen sollten die Kontore der AHB ihre Warenprogramme und Dienstleistungen genauer mit den Kombinaten abstimmen. Da ein Außenhandelsbetrieb meist mehrere Kombinate zu betreuen hatte, war es ihm oft nicht möglich, sich intensiv für ein einzelnes Werk oder gar eine einzelne Produktgruppe zu engagieren.55 Um die Kommunikation dennoch zu verbessern, sollten deshalb wenigstens die Direktoren der AHB-Handelskontore in die Leitungen der entsprechenden Kombinate integriert werden. Zum anderen wurde ein neuer Typus von Außenhandelsbetrieben ins Leben gerufen: der spezialisierte AHB, der nicht mehr dem Ministerium für Außenhandel, sondern entweder einem Fachministerium oder einem Kombinat direkt unterstellt wurde. Seine Produktpalette sollte deutlich kleiner ausfallen und sich an dem ihm zugeordneten Produktionsbetrieb orientieren.56 Eigengeschäftstätigkeit, Einbindung der Kontore in die Kombinatsleitung sowie ministerielle und kombinatseigene AHB: Unübersehbar war die Regierung seit 1978 bestrebt, das staatliche Außenhandelsmonopol zumindest graduell zu lockern, um dadurch die Leistungsfähigkeit des Apparats, allen voran beim Westexport, zu verbessern. Eine tatsächlich eigenständige Außenhandelsfunktion der Kombinate war mit diesen stückweisen Veränderungen aber immer noch nicht verbunden. Die wichtigsten Entscheidungen beim internationalen Warenverkehr traf auch weiterhin das Ministerium für Außenhandel. Zum einen war es in der Lage, über 53  Vgl. ebenda. 54  Vgl. ebenda. 55  Der AHB Chemie-Export-Import betreute zum Beispiel die Kombinate Buna, Leuna, Bitterfeld und Piesteritz; ebenso das Synthesewerk Schwarzheide, das Kombinat Technische Textilien Karl-Marx-Stadt sowie das Kombinat Gießereianlagenbau und Gußerzeugnisse Leipzig. Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 88. 56  Vgl. Haendcke-Hoppe: Veränderungen in der Außenhandelsorganisation, S. 160.

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seine Außenhandelsbetriebe oder über den Ministerrat die Eigengeschäfte der Kombinate jederzeit zu widerrufen.57 Zum anderen bestimmte es über Weisungen und Verfügungen auch die Aktivitäten der kombinatseigenen Außenhandelsbetriebe auf den Außenmärkten maßgeblich – und das häufig, ohne dabei die ebenfalls weisungsbefugten Leitungen der Kombinate einzubeziehen.58 Allen Lockerungen zum Trotz blieb eine echte Autonomie der Kombinate im Außenhandel also in weiter Ferne. Als sich die ökonomische Situation im Sommer 1981 dramatisch zuspitzte, entschied sich der Ministerrat aber immerhin, die Außenhandelskompetenzen der Kombinate noch einmal auszuweiten. Dafür wurde in den regulären Außenhandelsbetrieben eine Vertretung der Kombinate eingerichtet: die sogenannte Außenhandelsfirma (AHF). Sie wurde sowohl der Leitung des AHB als auch der Leitung des Kombinats unterstellt. So war zum Beispiel der Leiter der Außenhandelsfirma der Leuna-Werke, Karl Heinz Liebig, zum einen dem Generaldirektor des AHB Chemie-Export-Import, Kurt Falkenberg, weisungsgebunden und zum anderen als Fachdirektor für Außenwirtschaftsbeziehungen in Leuna dem Generaldirektor Erich Müller rechenschaftspflichtig.59 In der Außenhandelsverwaltung der Chemiebranche gab es ab Juli 1981 zehn solcher Repräsentanzen größerer Kombinate.60 Mit ihnen war auch eine erweiterte Zuständigkeit der kombinatseigenen Fachdirektionen für Beschaffung und Absatz verbunden. Zwar regelte das Ministerium für Außenhandel die Bereiche Strategie, Marktarbeit und Gütermenge auch weiterhin allein. Doch bei der Festlegung der Preise, der Durchführung von Vertragsverhandlungen und der Auswahl westlicher Partner erhielt nun auch das Kombinat ein größeres Mitspracherecht.61 Auch wenn sich all diese Reformschritte zwischen 1978 und 1981 als äußerst zaghaft erwiesen, kam mit den punktuellen Neuausrichtungen Ende der 1970erJahre erstmals Bewegung in das bislang so starre Außenhandelssystem der DDR.62 Die Wirtschaftshistorikerin Haendcke-Hoppe spricht sogar von einer »spektakulären« Weiterentwicklung: »Spektakulär deshalb, weil nach 30-jähriger relativ konstanter äußerer Organisationsstruktur des Außenhandelsapparates die Landschaft auf diesem Gebiet weitgehend verändert wurde.«63 57 Vgl. Maria Haendcke-Hoppe:  Die Umgestaltung des Außenhandelsapparats in der DDR. In: Deutschland Archiv 14 (1981) 4, S. 380. 58  Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 94. 59  Über die Funktion der Außenhandelsfirma für die Leuna-Werke vgl. OD Leuna: IM-Gespräch mit dem Fachdirektor für Beschaffung und Absatz, Gerhard Kastl, vom 29.7.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 151/ 74, Teil II, Bd. 2, Bl. 207. 60  Vgl. OD Leuna: IM-Gespräch mit dem Fachdirektor für Beschaffung und Absatz, Gerhard Kastl, vom 29.7.1981; ebenda, Teil II, Bd. 2, Bl. 207. 61  Vgl. ebenda. 62  Vgl. Haendcke-Hoppe: Veränderungen in der Außenhandelsorganisation, S. 159. 63  Haendcke-Hoppe: Umgestaltung des Außenhandelsapparats, S. 378.

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Rolle des MfS in der Phase der Verschuldung und Konsolidierung

4.3.1 Reformen ohne Wirkung: Die Organisation des Außenhandels als ökonomisches Hemmnis Ökonomisch blieb der erste Baustein der Entschuldungsstrategie – eine schrittweise Neuausrichtung der Beziehungen zwischen Herstellern, Außenhandelsbetrieben und Kunden – allerdings ohne größeren Effekt, eine nennenswerte Ausweitung der Exporte konnten die Maßnahmen nicht in Gang setzen. Die Ursachen hierfür müssen in der fehlenden Konsequenz der Reformansätze gesehen werden. Vor allem drei entscheidende Schwächen der Außenhandelsorganisation blieben bestehen: Erstens gab es auch weiterhin keine ausschließliche Orientierung der Hersteller auf die Nachfrage und mögliche Gewinnerwartung auf ausländischen Märkten. Dies lag unter anderem an einer Vielzahl von sogenannten Richtungskoeffizienten, die der Staat dem im Jahr 1971 eingeführten »einheitlichen Betriebsergebnis« beigefügt hatte. Mithilfe solcher Zuschläge oder Abzüge zum Exporterlös sollten die Einnahmen der Betriebe – und damit ihr betriebswirtschaftliches Verhalten – noch effektiver von zentraler Stelle aus gesteuert werden. Sie ermöglichten zum Beispiel den Absatz auch unrentabler Güter oder lenkten Produkte bestimmter Kategorien in bestimmte Länder. Nicht die externe Nachfrage, sondern die politischen Entscheidungen der SED und der Plankommission bestimmten damit nach wie vor die Produktion der Kombinate.64 Die externe Steuerung der Produzenten zeigte sich aber nicht nur in den Koeffizienten, sondern vor allem in Gestalt des eigentlichen Jahresplans, der eine flexible Ausrichtung der Produktion auf tatsächlich knappe und begehrte Güter am meisten behinderte. Ursache dafür war, dass die Planerfüllung weiterhin vorrangig an der Kennziffer »Industrielle Warenproduktion« (IWP) gemessen wurde. Allein ihre Überbietung versprach eine zufriedenstellende Zuteilung von Materialien, Arbeitskräften, Prämien und Investitionsmitteln im folgenden Planjahr. Ein Erfolg auf den Außenmärkten wurde dagegen nur wenig belohnt, der eingefahrene Gewinn war entweder lange zuvor für betriebliche Investitionen, Lohnzulagen oder verbesserte Arbeitsbedingungen verplant worden oder musste gänzlich an den Staatshaushalt abgeführt werden.65 Hinzu kam, dass Art und Anzahl der im Jahresplan festgelegten Exportgüter häufig von den technischen Kapazitäten der Kombinate bestimmt wurden.66 Im Rahmen der jährlichen Planaushandlungen achteten nämlich die kombinats64  Vgl. Haendcke-Hoppe: Veränderungen im Außenhandelssystem, S. 729. 65  Zur Verwendung der betrieblichen Gewinne siehe Buchheim: Die Wirtschaftsordnung als Barriere, S.  204; ebenso Wagener: Innovationsschwäche, S.  30; André Steiner: Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang. Zum wirtschaftlichen Niedergang der DDR. In: Konrad H. Jarausch, Martin Sabrow (Hg.): Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR. Göttingen 1999, S. 162. 66  Vgl. Wagener: Innovationsschwäche, S. 30.

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eigenen Direktionen »Technik«, »Produktion« und »Forschung« genau darauf, dass nur solche Exportgüter in den Plan aufgenommen wurden, die sie logistisch sowie anlagen- und verfahrenstechnisch auch reibungslos produzieren konnten. Nicht Rentabilität, sondern technische Machbarkeit stellte damit das entscheidende Kriterium bei der innerbetrieblichen Planerstellung dar. Die Nachfrage und Wettbewerbsfähigkeit der planmäßig festgelegten Exportgüter wurde dabei einfach behauptet, spätere Absatzschwierigkeiten der zuständigen Außenhandelsdirektion überlassen. Albert Dietze, Fachdirektor für Beschaffung und Absatz in Bitterfeld, nannte diese Vorgehensweise eine »Rückwärtsrechnung«: »Man geht aus vom gewünschten IWP-Zuwachs und täuscht einen NSW-Effekt vor, der in der Verantwortung von A [Abteilung Absatz] liegt, das diesen trotz Einspruch nicht beeinflussen kann, zum Schluss aber vertreten musste«, so Dietze.67 Die Kombinate folgten also nicht ausschließlich der Nachfrage, die Kundenorientierung wurde stattdessen von zusätzlichen Anreizen überlagert, was am Ende den Absatzerfolg schmälerte. Ähnlich inkonsequent zeigte sich die Außenhandelsorganisation bei der Verteilung der Kompetenzen zwischen Kombinat und Außenhandelsbetrieb – das zweite Problem der verschiedenen Reformschritte seit Ende der 1970er-Jahre. Wer war nun eigentlich befugt, einen Außenhandelsvertrag abzuschließen? Das fragten sich vor allem die westlichen Anbieter und Kunden, die mit der DDR-typischen Trennung von Produktion und Handel wenig anfangen konnten. Dass die meisten Vertragsabschlüsse mit den Kombinaten unter einer Vorbehaltsklausel standen und noch einer Genehmigung eines Außenhandelsbetriebs bedurften, war den westlichen Verhandlungspartnern oft gar nicht bewusst.68 Die nur stückweisen Verlagerungen von Befugnissen an die Kombinate, ohne dass sich der Ministerrat zu einer wirklichen Autonomie der Produzenten im Außenhandel durchringen konnte, bewirkte jedenfalls für ausländische Partner eine stete Rechtsunsicherheit, die ebenfalls nicht zu einem besseren Außenhandelsergebnis beitrug.69 Eine fundamentale Neuordnung der Zuständigkeiten, zum Beispiel mit einer Umwandlung der Außenhandelsbetriebe in Exportabteilungen der Kombinate, wollte die politische Führung bis zuletzt nicht riskieren. Zu groß sei die Gefahr – so das immer gleiche Argument –, dass westliche Unternehmen die DDR-Betriebe gegenseitig ausspielen und die Organe der Wirtschaftsverwaltung dadurch – trotz aller Koeffizienten und Planbindungen – jegliche Kontrolle über das unternehmerische Handeln der Kombinate verlieren würden. 67  OD CKB: IM-Bericht zur Leipziger Herbstmesse 1983 vom 22.9.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AIM 316/85, Teil II, Bd. 6, Bl. 134. 68  Vgl. Haendcke-Hoppe: Veränderungen in der Außenhandelsorganisation, S. 161. 69  Vgl. Gößmann: Kombinate, S.  88; vgl. Haendcke-Hoppe: Veränderungen in der Außenhandelsorganisation, S. 161; vgl. Dies.: Umgestaltung des Außenhandelsapparats, S. 381.

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Und schließlich führten die oben beschriebenen Veränderungen auch nicht zu der erhofften Vereinfachung der Außenhandelsorganisation – im Gegenteil: Mit den neu gegründeten Außenhandelsfirmen und kombinatseigenen AHB nahm die Unübersichtlichkeit der Außenhandelsstruktur eher zu. Zu den DDR-weit 30 klassischen Außenhandelsbetrieben kamen bis Ende 1980 noch einmal 24 AHB der Kombinate und 27 AHB der Ministerien hinzu.70 Mit ihrer Doppelunterstellung sowohl unter das Kombinat bzw. Fachministerium als auch unter das Ministerium für Außenhandel waren Interessenskonflikte vorprogrammiert.71 Haendcke-Hoppe erkannte in den Neugründungen sogar eine regelrechte »Dekonzentration des Außenhandels«.72 Die Reform erhöhte den Abstimmungsaufwand zwischen den Beteiligten und verlangsamte das Tempo der Geschäftsabwicklung, und das ausgerechnet in einer Zeit, in der gestiegene Anforderungen auf den Außenmärkten einen effizienten und anpassungsfähigen Außenhandelsapparat dringend erforderlich machten. Wie lähmend sich die Vielfalt der Akteure auf die Außenbeziehungen der Kombinate auswirken konnte, zeigt der Versuch des amerikanischen Unternehmens Monsanto, mit dem Chemiekombinat Bitterfeld ins Geschäft zu kommen. Bereits Ende der 1970er-Jahre hatte Monsanto begonnen, mit dem Außenhandelsdirektor Albert Dietze Gespräche über eine Anlage zur Herstellung von Gummihilfsmitteln aufzunehmen. Als der Vertrag Mitte der 1980er-Jahre fertig ausgearbeitet vorlag, verlangte allerdings Herbert Roloff, Generaldirektor des AHB Industrieanlagen-Import, die Gespräche abzubrechen. Seine Begründung: Nicht das Kombinat, sondern allein sein Außenhandelsbetrieb sei für ein solches Projekt berechtigt, eine Einordnung in seinen Plan allerdings bis auf Weiteres nicht möglich. Dietze unternahm zunächst den Versuch, sein Projekt zu retten und verwies auf die Unterstützung durch Generaldirektor Eser und Chemie minister Wyschofsky. Am Ende war es ihm aber nicht möglich, sich gegen Roloffs Einspruch durchzusetzen. Für die neue Planperiode 1986 bis 1990 gelangte der Anlageneinkauf daher weder in den Investitionsplan des Kombinats noch in den Beschaffungsplan des Außenhandelsbetriebs. »Die Konzernleitung [von Monsanto]«, so der Direktor der Außenhandelsfirma Bitterfelds im Dezember 1985, »versteht nach amerikanischen Grundsätzen nicht, dass über ein Vorhaben nunmehr über sieben Jahre mit der DDR verhandelt und dabei kein Abschluss erreicht wurde.«73

70  Vgl. Haendcke-Hoppe: Umgestaltung des Außenhandelsapparats, S. 381. 71  Vgl. ebenda, S. 382. 72  Tae Heon Kim: Außenwirtschaft der DDR und Handelsbeziehungen zwischen der BRD und der DDR. Ihre Konsequenzen für die Deutsche Wirtschafts- und Währungsunion und die Zeit danach. Regensburg 2000. 73 HA XVIII des MfS: IM-Bericht vom 26.12.1985; BStU, MfS, HA XVIII, AIM 12285/87, Teil II, Bd. 1, Bl. 203–205.

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Der Streit zwischen Roloff und Dietze hebt das spannungsreiche Konkurrenzverhältnis zwischen den Außenhandelsbetrieben und den exportorientierten Kombinaten hervor, das durch die Reformversuche der frühen 1980er-Jahre keineswegs entschärft, sondern weiter verkompliziert wurde. Wie mangelhaft die Organisation des Außenhandels weiterhin blieb, zeigen vor allem jene drei Themenfelder, die immer wieder Anlass für Auseinandersetzung boten: Zunächst klagten die Kombinate häufig über eine unzureichende Informationspolitik der Außenhandelsbetriebe. Über laufende Vertragsverhandlungen und über die allgemeine Marktsituation in westlichen Ländern würden die AHB die Exportabteilungen der Kombinate bewusst im Unklaren lassen – einer Einmischung in die internen Entscheidungsabläufe der AHB, so die Mutmaßungen der Kombinatsvertreter, sollte auf diese Weise vorgebeugt werden. »Durch die verminderte Information des AHB«, beschwerte sich zum Beispiel der Hauptabteilungsleiter für Absatz im Kombinat Buna, Hans Joachim Scharf, gegenüber dem Sicherheitsbeauftragten Hans Schlag im Jahr 1981, »bin ich nicht in der Lage, die volle Verantwortung für einen effektiven und rentablen Export zu übernehmen.«74 Das zweite Streitthema betraf den Kundenkontakt. Viel zu begrenzt sei dieser, so die einhellige Meinung aufseiten der Kombinate. »Weil diese Kontakte fehlen, verliert man auch die Lust an der Funktion Hauptabteilungsleiter Absatz«, so Scharf gegenüber einem Offizier der Objektdienststelle. »Ich bin nicht bereit, die Verantwortung für den Export zu übernehmen, wenn die eigentliche Exportarbeit durch den AHB gemacht wird.«75 Im Gegensatz zu diesen Beschwerden, behaupteten die Außenhandelsbetriebe, dass die Direktbeziehungen der Kombinate zu den Endkunden im Laufe der 1970er-Jahre rasant zugenommen hätten – ein Phänomen, das auch von neutralen Beobachtern bestätigt werden konnte. Laut einer Analyse Haendcke-Hoppes aus dem Jahr 1980 würden sich selbst jene Kombinate und kombinatseigenen Außenhandelsbetriebe intensiv in den Außenwirtschaftsbeziehungen der DDR engagieren, die dafür laut Außenhandelsverordnung eigentlich gar keine Befugnis hatten.76 Diese rege Eigengeschäftstätigkeit der produzierenden Betriebe, so der Einwand der regulären AHB, gefährde nicht nur die eigene Planerfüllung, sondern auch die zentrale Koordinierung des Außenhandels insgesamt, da ein genauer Überblick über alle laufenden Import- und Exportbeziehungen kaum noch möglich war. 74  OD Buna: Antworten auf den Fragenkatalog des Sicherheitsbeauftragten Schlag vom 30.11.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 1680/82, Bd. II, Bl. 9. 75  OD Buna: Wiedergabe eines Treffgesprächs mit »Export« vom 10.7.1980; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 1680/82, Bd. II, Bl. 256. 76  Haendcke-Hoppe führt diese Aktivitäten auch auf eine völlig unzureichende Informationspolitik des Ministeriums für Außenhandel zurück. Vgl. Haendcke-Hoppe: Veränderungen in der Außenhandelsorganisation, S. 161.

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Und schließlich kritisierten die Exportabteilungen der Kombinate wiederholt die unbefriedigende fachliche Eignung der AHB-Außenhändler. »Fehlende Qualität wird durch überforsches Auftreten vertuscht«, so Dietze mit Blick auf den AHB Chemie-Export-Import.77 Die eigentliche Kenntnis über die technischen Parameter der Produkte besaßen seiner Meinung nach allein die Fachleute im Kombinat. Nur sie seien in der Lage, die Angebote der Partnerfirmen adäquat einzuschätzen. Rudolf Tornitz,78 Sektorenleiter für Export in den Leuna-Werken, meinte sogar, die Kombinate seien zum Teil gezwungen, an den AHB vorbei direkte Verhandlungen einzuleiten, »da relativ oft die Mitarbeiter der AHB ihren eigenen Anforderungen nicht gerecht würden«.79 Information, Kontakt und Kompetenz – diese drei Streitpunkte spielten also bei den meisten Auseinandersetzungen zwischen Produktions- und Außenhandelsbetrieben eine Rolle. Ein Beispiel für einen solchen Konflikt stellte der Versuch der Leuna-Werke dar, auf der Leipziger Messe im Frühjahr 1982 das Gas Propylen eigenständig an die westdeutsche Metallgesellschaft zu verkaufen. Der Außenhandelsbetrieb Chemie-Export-Import hatte dieses Geschäft zuvor ausdrücklich abgelehnt, da er sich von der Konkurrenzfirma Klöckner einen höheren Abnahmepreis versprach. Als Leuna trotzdem die Metallgesellschaft auswählte, verfasste AHB-Chef Kurt Falkenberg einen Beschwerdebrief an den Generaldirektor Müller und attackierte darin vor allem den Sektorenleiter für Erdöl, Lutz Kalbitz. Ohne Rücksprache habe dieser die Lieferung arrangiert, das Außenhandelsmonopol damit verletzt und volkswirtschaftliche Kosten von über 20 000 DM verursacht. Eine »Entscheidung« des Generaldirektors, sprich eine Entlassung Kalbitz, so sein Fazit, müsse nun dringend erfolgen.80 Müller reagierte auf diese Anschuldigung umgehend: Noch im Laufe des Monats April, so seine Weisung an den Direktor für Beschaffung und Absatz, Gerhard Kastl, müsse Kalbitz seinen Posten räumen, falls sich der von Falkenberg geschilderte Sachverhalt als zutreffend herausstellte. Auch ein Disziplinarverfahren gegen den Leitungskader wäre dann unabwendbar.81 Doch Kastl entschied sich in diesem Fall, das Verhalten seines Sektorenleiters energisch zu verteidigen: Leuna, so seine Gegendarstellung in einem Brief an Müller, habe »nicht die Absicht, in die staatlich geordnete Verkaufstätigkeit einzugreifen«, doch würde der AHB den Vertrieb der Leunaprodukte »viel zu theoretisch füh77  OD CKB: IM-Bericht, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AIM 316/85, Teil II, Bd. 4, Bl. 7. 78  Name geändert. 79  OD Leuna: IM-Bericht vom 30.8.1978; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 844/71, Teil II, Bd. 3, Bl. 249. 80  Vgl. OD Leuna: Schreiben des AHB Chemie-Export-Import an Generaldirektor Müller, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 151/ 74, Teil II, Bd. 2, Bl. 255. 81  Vgl. Generaldirektor Leuna: Weisung an Direktor BA, Gerhard Kastl, vom 12.4.1982; ebenda, Teil II, Bd. 2, Bl. 253.

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ren, […] ohne die konkreten Bedingungen des Produktionsanfalls, der Lagerung und der Transporte zu beachten«. Hätte Leuna auf der Leipziger Messe nicht schnell reagiert, wäre die Planerfüllung in weite Ferne gerückt und der volkswirtschaftliche Schaden weit schwerwiegender ausgefallen.82 Nach diesen Ausführungen Kastls billigte Müller die Vorgehensweise seiner Absatzdirektion. Auf Kalbitz, einem erfahrenen Experten für den Einkauf von Erdölverarbeitungsanlagen, hätte der Generaldirektor zu Beginn der 1980er-Jahre, als die Leuna-Werke im großen Stil in den Ausbau ihrer Öl-Raffinerien investierten, ohnehin nur schwer verzichten können.83 4.3.2 Nutznießer im Kompetenzgerangel: Die Ermittlungen des MfS im Spannungsfeld der Außenhandelsakteure Welche Rolle spielte nun das MfS bei den Veränderungen innerhalb des geplanten Außenhandels? Zunächst einmal wurden alle Verschiebungen der Kompetenzen und die damit einhergehenden Konflikte zwischen den Leitungskräften der Produktions- und Außenhandelsbetriebe von den Offizieren aufmerksam registriert, handelte es sich hierbei doch um einen Bereich, der im absoluten Mittelpunkt der Wirtschaftsüberwachung stand. Wie bereits oben dargelegt, stellte der Westhandel für das MfS so etwas wie die Achillesferse der Planwirtschaft dar – hier boten sich seiner Meinung nach dem äußeren »Feind« die meisten Angriffspunkte, hier zeigte die DDR ihre größte Verwundbarkeit. Um den Austausch mit westlichen Unternehmen überschaubar zu halten, hatten die Vertreter der Linie XVIII stets eine besonders strikte Umsetzung des Außenhandelsmonopols bevorzugt: Je zentralisierter der Außenhandel abgewickelt wurde und je weniger Akteure sich dabei beteiligten, so die Überzeugung der Offiziere, desto effektiver könnten die Vorgänge kontrolliert, wirtschaftliche Schädigungen abgewehrt und die Planerfüllung auf diese Weise sichergestellt werden. Die schrittweisen Veränderungen innerhalb der Außenhandelsorganisation seit Mitte der 1970er-Jahre wiesen allerdings in eine ganz andere Richtung: Die Zahl der Teilnehmer vervielfachte sich, das Handelsvolumen schwoll an und die Kombinate nahmen immer öfter schwer zu kontrollierende Direktbeziehungen auf. Aus der Perspektive des MfS stellte diese »Dekonzentration des Außenhandels« (Haendcke-Hoppe) daher eine echte sicherheitspolitische Herausforderung dar. Sie zu meistern, nahm einen beträchtlichen Teil der geheimpolizeilichen 82  Vgl. OD Leuna: Antwortschreiben von Gerhard Kastl an Generaldirektor Müller vom 14.4.1982; ebenda, Teil II, Bd. 2, Bl. 257. 83  Dass Kalbitz auf seinem Posten verbleiben konnte, erwähnt der Sektorenleiter für Export, Rudolf Tornitz [geänderter Name], in einem IM-Gespräch. Vgl. OD Leuna: IM-Gespräch vom 8.5.1982; BStU, MfS, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 844/71, Teil II, Bd. 3, Bl. 243.

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Ressourcen der Linie XVIII Anfang der 1980er-Jahre in Anspruch. Je aktiver die Kombinate in die direkten Austauschbeziehungen mit westlichen Unternehmen eintraten, desto relevanter wurde dabei der Überwachungsbeitrag der Objektdienststellen direkt vor Ort. Ihre Kontrolle der Direktionen für Beschaffung und Absatz bildete eine wichtige Ergänzung zur Überwachung der Außenhandelsbetriebe durch die Hauptabteilung XVIII/7 der Zentrale des MfS in Berlin. Die mehrgleisige und zunehmend spannungsgeladene Kompetenzverteilung im Außenhandel stellte das MfS aber nicht nur vor eine Herausforderung, sondern bot dem Sicherheitsorgan für die Überwachungsarbeit auch einige Vorteile. In der Regel waren die operativen Mitarbeiter über die schwelenden Kompetenzkonflikte gut informiert. Indem sie auf beiden Seiten, also in den Fachdirektionen der Kombinate und in der Führungsebene und im Reisekaderstamm der Außenhandelsbetriebe, inoffizielle Mitarbeiter platzierten, waren sie in der Lage, über IM-Gespräche wechselseitige Vorwürfe und Kritiken »abzuschöpfen«, die sie für die Überwachung einzelner Funktionäre zielgenau einsetzen konnten. Wie geschickt das MfS das Konkurrenzverhältnis für die eigenen Ermittlungen ausnutzte, illustriert beispielhaft der Operative Vorgang gegen Albert Dietze, einem ranghohen Mitarbeiter der Fachdirektion für Beschaffung und Absatz im Kombinat Bitterfeld. Formal ging es bei diesem Fall um den Vorwurf der »Bestechlichkeit«. Der Außenhändler würde, so ein Sachstandsbericht der Objektdienststelle Bitterfeld aus dem September 1986, »jede Art von Geschenken« annehmen und sei »in hohem Maße korruptionsgefährdet«.84 Um diese Anschuldigung zu untermauern, konnte der vorgangsführende Hauptmann Götz Biel auf die Aussagen des Direktors der Bitterfelder Außenhandelsfirma, Kurt Büchel, zurückgreifen, der sich in der Vergangenheit wiederholt über die Missachtung seiner Kompetenzen durch Dietze beschwert hatte. Mit westeuropäischen Unternehmen wie Incofi, Hoechst oder Degussa, so Büchel, führe der staatliche Leiter immer wieder Direktverhandlungen ohne jede Absprache durch. Im Frühjahr 1983 habe Dietze zum Beispiel dem Geschäftsführer des Schweizer Handelsunternehmens Incofi, Wolfgang Schütz, eine große Menge an Natronlauge weit unterhalb der üblichen Marktpreise versprochen. Aus diesem Deal habe sich, so Büchel, für das Planjahr 1984 ein Verlust von 340 000 Mark für das Kombinat Bitterfeld ergeben.85 »Der IM schätzt ein«, so Biel, »dass direkte Kontakte des Schütz zum Kombinat Bitterfeld nicht notwendig sind, da alle Probleme kommerzieller Art über den AHB realisiert werden. […] Trotzdem

84 OD CKB: Sachstandsbericht vom 25.9.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 93/89, Bd. 1, Bl. 84. 85 Vgl. Hauptabteilung XVIII des MfS: Treff bericht vom 28.1.1985; BStU, MfS, HA XVIII, AIM 12285/87, Teil II, Bd. 1, Bl. 26.

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stellte der IM 1984 zweimal fest, dass Schütz bei seinen Reisen in die VR Polen über das CKB fährt und dort [den Außenhändler] aufsucht.«86 In diesem Fall schienen beide Seiten, AHB und MfS, ein Interesse an einer Belastung Dietzes zu haben: Büchel, der seit 1982 als IM »Fritz« für die Hauptabteilung XVIII/187 arbeitete, nutzte die Chance, um gegenüber dem MfS den störenden Eigensinn der Kombinatsvertreter hervorzuheben. Wenn der Außenhandel ausschließlich über den Außenhandelsbetrieb liefe, so seine Botschaft, gelänge der Export weit reibungsloser und gänzlich ohne ökonomische Ausfälle. Der Objektdienststelle im Kombinat Bitterfeld wiederum kam diese Darstellung sehr gelegen, war sie doch auf der Suche nach belastendem Material gegen den staatlichen Leiter. Dabei interessierten sie sich gar nicht primär für seine Kompetenzüberschreitungen und auch nicht für seine angebliche Korruptionsanfälligkeit. Intern lobten die Offiziere Dietze sogar für sein Organisationstalent: »Er versteht es immer wieder«, so eine Einschätzung der Objektdienststelle aus dem Jahr 1987, »auftretende Disproportionen zwischen Produktions- und Absatzentwicklung, Bestandsaufstockung und Vertragsrückständen auszugleichen.«88 Für einen Missbrauch seiner Funktion gebe es dagegen »keine Hinweise«, vielmehr habe Dietze »seine fachlichen Pflichten […] stets mit hoher Einsatzbereitschaft, Ausdauer und Beharrlichkeit sowie mit Übersicht und Können realisiert«.89 Trotz dieser hervorragenden Bewertung nahm die Objektdienststelle die Vorwürfe Büchels dankbar an. Denn es gab noch einen ganz anderen Aspekt, der die Geheimpolizei zu einem Operativen Vorgang gegen Dietze veranlasste: seine überdeutliche Kritik an den politischen und wirtschaftlichen Zuständen in der DDR, die besonders mit der Überlastung des Kombinats im Zuge der Verschuldungskrise seit Ende der 1970er-Jahre zunehmend an Schärfe gewann. »Ich habe drüben Computer gesehen und wir sind der Arsch der Welt«, erklärte Dietze zum Beispiel einem Kollegen im Kombinat im Januar 1987. Und gegenüber einem Mitarbeiter seiner Direktion erwähnte er zur gleichen Zeit: Mich kotzt das an – Mensch. Arbeiterklasse – Scheiße ist das. Scheiße. Keiner macht mehr was. Aber gelobt werden sie, weil sie Arbeiter sind. Die schaden dem Sozialismus, das ist sagenhaft. Und wenn du was sagst, dann bist du auch noch Feind der

86  Hauptabteilung XVIII des MfS: IM-Information zur Person Schütz, Firma Incofi vom 28.1.1985; ebenda, Teil II, Bd. 1, S. 30. 87  Die Hauptabteilung XVIII/1 des MfS war bis 1987 für die Überwachung der chemischen Industrie zuständig. 88 OD CKB: Sachstandsbericht vom 8.9.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 93/89, Bd. 1, Bl. 163. 89  Ebenda, Bl. 199.

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Arbeiterklasse. Da wirst du abgelöst in diesem Staat. Das ganze Gerede von der Progressivität der Arbeiterklasse, das können wir uns alle in den Schornstein schreiben.90

Im »krassen Gegensatz zu seiner fachlich guten Aufgabenerfüllung«, so die Objektdienststelle in ihrem Abschlussbericht im November 1988, stehe seine »ablehnende Einstellung zur Wirtschafts- und Sozialpolitik der Partei- und Staatsführung«. Dietze »verherrliche« die Marktwirtschaft und »negiere« die »Kampfkraft der Arbeiterklasse«.91 Für die Objektdienststelle konnte es keinen Zweifel geben: Eine derartige Grundeinstellung stellte für eine Spitzenposition im Außenhandel ein zu großes Sicherheitsrisiko dar. Gerade im Exportbereich wurde eine ausreichende ideologische Standfestigkeit für unerlässlich erachtet. Dietzes politische Unzuverlässigkeit war der eigentliche Grund, warum die Offiziere zwischen Januar 1985 und November 1988 einen OV gegen ihn anstrengten. Da ihnen aber offenbar seine negativen Äußerungen über die DDR als strafrechtliche Grundlage nicht ausreichten, konzentrierten sie sich mit »Bestechlichkeit« (§ 247 StGB) und »Vertrauensmissbrauch« (§ 165 StGB) auf zwei unpolitische Straftatbestände, für deren »Beweis« die Beschwerden des AHF-Direktors Büchel gerade zur rechten Zeit kamen.92 Unwissentlich leistete Büchel damit einen Beitrag für eine konspirativ laufende Ermittlung der Geheimpolizei. Trotz der fast vierjährigen Überwachung Dietzes kam es am Ende aber nicht, wie ursprünglich von der Objektdienststelle angestrebt, zu einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Ähnlich wie im Fall Eßbach gelang es den Offizieren auch diesmal nicht, die behaupteten Straftaten überzeugend zu belegen.93 Statt einer Anklage mit Untersuchungshaft entschieden sich die Offiziere im Sommer 1988, den Außenhandelsdirektor im Rahmen einer konspirativen Aussprache mit dem Vorwurf der Korruption zu konfrontieren und ihn zu einer »freiwilligen« Kündigung zu drängen. Dass sie mit dieser Vorgehensweise Erfolg hatten, bescheinigt ein Auswertungsbericht der Objektdienststelle vom Juli 1988, wonach Dietze »seine Bereitschaft zur Herauslösung als NSW-Reisekader und Aufgabe seiner Leitungsfunktion« selbst bekundet habe und dabei auf »gesundheitliche Aspekte« verweisen würde. »Diese Reaktion«, so der Bericht wei90  OD CKB: Faktenanalyse zum OV vom 29.1.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 93/89, Bd. 1, Bl. 98. 91  OD CKB: Abschlussbericht vom 18.11.1988; ebenda, Bd. 1, Bl. 235. 92  Vgl. OD CKB: Eröffnungsbericht zum OV vom 14.1.1985; ebenda, Bd. 1, Bl. 6. 93  Um die »operativen« Kapazitäten der Offiziere auf den OV gegen Dietze zu konzentrieren, stellte die OD Bitterfeld Mitte der 1980er-Jahre eigens zwei laufende OPK zurück, richtete eine »Nichtstrukturelle Arbeitsgruppe« ein und nahm die Informationen von mindestens 9  inoffiziellen Mitarbeitern im unmittelbaren Umfeld des Außenhandelsdirektors in Anspruch. Über die umfangreichen Überwachungsmaßnahmen gegenüber Dietze siehe BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 93/89, Bd. 1, Bl. 14–16 u. 33–35.

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ter, »ist im Zusammenhang mit seiner seit dem Juli 1988 hohen psychischen Belastung und Verunsicherung zu sehen.«94 Der spätere Abschlussbericht des OV registrierte darüber hinaus »eine deutlich anzusehende Erschütterung« bei Dietze, »strafprozessuale Maßnahmen« und »anderweitige Sanktionen« würde er nicht mehr ausschließen.95

4.4  Konsolidierungsschritt II: Aufbau einer gesonderten Außenhandelsorganisation Das Fallbeispiel aus dem Kombinat Bitterfeld kann zwei Merkmale der Überwachungsarbeit des MfS, die sich in allen drei untersuchten Chemiekombinaten finden lassen, deutlich machen: Erstens die erstaunlichen Schwierigkeiten der Offiziere, ihre selbstgesteckten »operativen« Ziele zu erreichen. Die im vorangegangenen Kapitel am Fall Eßbach dargelegte eingeschränkte strafrechtliche Sanktionsfähigkeit des MfS wird auch beim Vorgehen gegen Dietze wieder sichtbar. Und zweitens die Möglichkeit der Offiziere, bei ihren konspirativen Ermittlungen die Interessenskonflikte zwischen den einzelnen Akteuren der DDR-Außenhandelsorganisation auszunutzen, hier vor allem die Spannungen zwischen der Direktion für Beschaffung und Absatz und der innerhalb des Außenhandelsbetriebs angesiedelten Außenhandelsfirma des Bitterfelder Kombinats. Mit dem Rückgriff auf belastende Aussagen des Direktors der Außenhandelsfirma war es der Objektdienststelle am Ende möglich geworden, Dietze aus seiner Position zu entfernen, also ein entscheidendes »operatives« Ziel zu verwirklichen. Ohne größeres Aufsehen im Betrieb zu erregen, wurde der ideologisch als unzuverlässig geltende staatliche Leiter mithilfe eines geheimen Verhörs so unter Druck gesetzt, dass er sich am Ende gezwungen sah, das Kombinat zu verlassen. Die Strukturen, in denen sich die Offiziere bewegten, etwa die Kompetenzverteilung innerhalb des Außenhandels oder die Rechtslage innerhalb der wirtschaftlichen Sphäre, wirkten sich auf die geheimpolizeiliche Arbeit also teilweise einschränkend und teilweise vorteilhaft aus. In einem Fall konnte ein Konkurrenzverhältnis für die eigenen Ermittlungen ausgenutzt werden, in einem anderen Fall musste auf eine Ablösung oder Verhaftung eines Funktionärs aufgrund hoher rechtlicher Hürden verzichtet werden. Einfluss nehmen konnte das MfS auf diese Rahmenbedingungen aber kaum. Wie bereits ausgeführt, waren zumindest die Offiziere der lokalen Diensteinheiten nicht in der Lage, bestimmte Großtrends – selbst wenn sie ihnen kritisch gegenüberstanden – aufzuhalten, sei 94  OD CKB: Information zum OV vom 25.7.1988; ebenda, Bd. 1, Bl. 230. 95  OD CKB: Abschlussbericht OV vom 18.11.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 93/89, Bd. 1, Bl. 237.

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es die zunehmende Verrechtlichung staatlichen Handelns, die »Dekonzentration« der Außenhandelsorganisation oder die Intensivierung der ost-westlichen Handelsbeziehungen. Im folgenden Abschnitt soll die zweite Komponente der Entschuldungsstrategie vorgestellt werden: die Etablierung einer gesonderten Außenhandelsorganisation als Ergänzung zum geplanten Außenhandel. Nach einer skizzenhaften Beschreibung dieser neuen Institution sollen auch hier die Auswirkungen der Reform auf die drei untersuchten Chemiekombinate erläutert werden. In diesem Zusammenhang soll vor allem geklärt werden, wie die neue Struktur mit der Wirtschaftsüberwachung des MfS verbunden war und welche besonderen geheimpolizeilichen Aufgaben daraus resultierten. Der neue außerplanmäßige Außenhandel hatte sich im Laufe der 1960erJahre schrittweise herausgebildet. Er bestand zunächst aus losen, DDR-eigenen Handelsgesellschaften und SED-nahen Privatfirmen in der Bundesrepublik, die jeweils mit dem Ziel eingerichtet worden waren, auf unkonventionellen Wegen Devisen zu erwirtschaften und dringend benötigte Embargowaren, Rohstoffe und Investitionsgüter zu beschaffen. Auf Initiative von Alexander Schalck-Golodkowski, zum damaligen Zeitpunkt 1. Sekretär der SED-Kreisleitung im Außenhandelsministerium, entschied der Ministerrat im Jahr 1966, diese verschiedenen Handelsaktivitäten in einer neuen Dachorganisation zu bündeln, dem »Bereich Kommerzielle Koordinierung« – kurz: KoKo.96 Nach den Vorstellungen Schalcks würde es mit einem solchen Netzwerk möglich sein, die Westkontakte der DDR noch effektiver für die Sanierung des Staatshaushalts und die Modernisierung der heimischen Industrie auszunutzen. Die Leitung und den Ausbau der neuen, im Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel97 angesiedelten Struktureinheit übernahm Schalck-Golodkowski selbst – zwischen 1967 und 1975 als stellvertretender Minister für Außenwirtschaft und ab 1975 als Staatssekretär für Außenhandel.98 Die Verschärfung der Zahlungsbilanzschwierigkeiten führte dazu, dass sein Bereich innerhalb des Institutionengefüges des SED-Staates eine zunehmende Aufwertung erfuhr. Im Jahr 1976 gelangte die KoKo zum Beispiel in den unmittelbaren Verantwortungsbereich Günter Mittags. Formal blieb sie eine Ein-

96  Vgl. Kruse: Deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen, S. 218. Vgl. Roger Engelmann: Der Bereich »Kommerzielle Koordinierung«. In: Daniela Münkel (Hg.): Staatssicherheit. Ein Lesebuch zur DDR-Geheimpolizei. Berlin 2015, S. 154. 97  Im Jahr 1967 erfolgte die Umbenennung in »Ministerium für Außenwirtschaft«, 1973 schließlich in »Ministerium für Außenhandel«. Vgl. Krewer: Geschäfte, S. 136. 98 Vgl. http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr, abgerufen am 3.1.2018.

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richtung des Außenhandelsministeriums, faktisch wurde sie aber fortan wie eine Abteilung des SED-Zentralkomitees behandelt.99 Dass die SED-Führung große Erwartungen in die KoKo setzte, zeigte sich in den umfangreichen Privilegien, die sie deren Handelsfirmen einräumte: An erster Stelle zählte dazu die Freistellung von der Planbindung. Die KoKo-Firmen konnten frei darüber entscheiden, wie sie ihren grundlegenden Auftrag – die Erwirtschaftung von Devisen und die Beschaffung besonderer Güter – umsetzten. Hinzu kam, dass die KoKo-Gesellschaften ab 1972 formal als ausländische Firmen definiert wurden. Dadurch war es ihnen möglich, Gewinne einzubehalten und über uneingeschränkt hohe Guthaben zu verfügen. Während reguläre Außenhandelsbetriebe ihre Gewinne automatisch an den Staatshaushalt abführen mussten, war es den KoKo-Unternehmen erlaubt, mit ihren angehäuften Devisen unternehmerisch tätig zu werden, etwa Firmenanteile zu erwerben oder Börsengeschäften nachzugehen.100 Die Befreiung von einem Jahresplan und der Besitz von Valuta stellten die wohl wirkungsmächtigsten Privilegien der KoKo dar und machten sie für die Betriebe der DDR zu einem gefragten Geschäftspartner. Trotz ihres formalen Status als »Devisenausländer« besaßen KoKo-Betriebe die Befugnis, jederzeit auf die Produktionsanlagen der DDR-eigenen Betriebe und Kombinate zurückzugreifen – auch darin waren sie gegenüber den regulären Außenhandelsbetrieben im Vorteil. Und schließlich wurde Schalcks Sonderbereich die Möglichkeit eingeräumt, die Zölle und Grenzkontrollen für seine westlichen Partner selbst zu bestimmen – im Jahr 1971 erhielt er dafür alle notwendigen staatlichen Hoheitsrechte.101 Unter diesen für DDR-Verhältnisse optimalen Arbeitsbedingungen etablierte die KoKo im Laufe der 1970er-Jahre immer neue Geschäftsmodelle, stets mit der Absicht, dem Staatshaushalt auf kurzen Wegen neue Devisen und begehrte Waren- und Rohstoffe zu beschaffen.102 Dazu zählten unter anderem der Verkauf exklusiver Güter wie Gemälde, Antiquitäten oder Waffen, der Handel mit Abfall- und Mineralölprodukten sowie verschiedene Sondervereinbarungen mit

99  Vgl. Hertle: Diskussion ökonomischer Krisen, S.  316; vgl. Kruse: Deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen, S. 223. 100  Vgl. Hertle: Diskussion ökonomischer Krisen, S. 316; vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 26 u. 45. 101  Über die Privilegien der KoKo siehe genauer Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 46 und Krewer: Geschäfte, S. 190. 102  Die schnelle Beschaffung von Devisen stand vor allem mit der Eskalation der Schuldenkrise Anfang der 1980er-Jahre im Mittelpunkt der KoKo-Geschäfte. Zu Beginn – in den 1970er-Jahren – strebte der nicht-geplante Außenhandel aber noch eine langfristige Modernisierung der DDR-Industrie mithilfe westlicher Investitionsgüter an. Über den Prioritätenwechsel siehe Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 143.

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westlichen Unternehmen wie die »Gestattungen«103, »Lohnveredelungen«104 oder »Dreiecksgeschäfte«105. Zum KoKo-Bereich zählten ebenfalls die Devisenläden der Intershop GmbH und der Versandhandel der SED-eigenen Firma Genex. Schließlich wurden auch die finanziellen Transaktionen zwischen den west- und ostdeutschen Kirchgemeinden und der Häftlingsfreikauf über die KoKo abgewickelt.106 Auf all diesen Geschäftsfeldern erwirtschaftete Schalck-Golodkowskis Firmennetzwerk zwischen 1967 und 1989 etwa 28 Milliarden DM.107 Kurz vor ihrer Auflösung im März 1990 belief sich das Guthaben der KoKo auf 8,1 Milliarden DM.108 Diese Einnahmen machen deutlich, dass der Aufbau einer gesonderten Außenhandelsstruktur eine weit größere ökonomische Dynamik entfachte, als die vorsichtige Verschiebung der Kompetenzen zwischen den 103  Bei einer Gestattungsvereinbarung stellten westdeutsche Unternehmen ostdeutschen Betrieben Technologie und Anwendungswissen zur Verfügung, damit sie in ihrem Auftrag westdeutsche Markenware produzierten. Die Produktionsanlagen zählten dabei weiterhin zum Eigentum des westlichen Partners. Einen Teil der Erzeugnisse durfte die DDR als Gegenleistung einbehalten und dem eigenen Export oder Binnenmarkt zur Verfügung stellen. Zahlreiche Produkte der sogenannten Delikat- und Exquisitläden stammten aus Gestattungsproduktionen. Siehe dazu weiterführend Krewer: Geschäfte, S. 241; Ulrich Stache: In der DDR investieren und kooperieren. Wiesbaden 1990, S. 67. 104  Bei einem passiven Lohnveredelungsgeschäft ließ die DDR ihre Grundstoffe und Halbfertigwaren in westlichen Unternehmen gegen Entgelt weiterverarbeiten. Die Ware blieb dabei Eigentum der DDR und wurde anschließend als DDR-Ware exportiert. Bei einem aktiven Lohnveredelungsgeschäft importierte die DDR westliche Ware, um sie gegen Entgelt in den eigenen Betrieben weiterzuverarbeiten. Siehe Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 94, 31 u. 182; ebenso Krewer: Geschäfte, S. 242; Stache: In der DDR investieren, S. 69. 105  Dreiecksgeschäfte ermöglichten sowohl der DDR, als auch der Bundesrepublik, Waren über einen Drittstaat zu liefern oder zu beziehen. Nicht selten organisierte die DDR-Seite dabei einen Warenkreislauf, um die im innerdeutschen Handel üblichen Verrechnungseinheiten in Devisen umzuwandeln. Dabei erwarb ein Außenhandelsbetrieb der Koko zunächst bundesdeutsche Ware gegen Verrechnungseinheiten. Anschließend wurde diese Ware an ein Unternehmen in einem dritten westlichen Staat gegen Devisen weiterverkauft. Dieser wiederum leitete die Ware zurück an den ursprünglichen Anbieter in der Bundesrepublik. Die Kosten des Weiterhandels übernahm dabei die DDR-Seite, die bei diesem Geschäftsmodell nicht primär an einem Gewinn, sondern an der Generierung von Devisen interessiert war. Vgl. Krewer: Geschäfte, S. 153; Stache: In der DDR investieren, S. 42. 106  Über die verschiedenen Geschäftspraktiken der KoKo-Firmen siehe Engelmann: Bereich »Kommerzielle Koordinierung«, S.  157–159; Kruse: Deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen, S.  225; Judt: Kommerzielle Koordinierung, S.  25. Siehe ebenso Armin Volze: Die Devisengeschäfte der DDR. Genex und Intershop. In: Deutschland Archiv 24 (1991) 11, S. 1145–1159. 107  Laut Judt gab Schalck-Golodkowski im September 1989 einen Gesamtgewinn von 27,6 Mrd. VM an. Dieter Lösch und Peter Plötz bestätigten diesen Wert in ihrem 1994 veröffentlichten Gutachten über die KoKo für das Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv. Vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 18 u. 258. Laut Kruse waren es 25 bis 30 Mrd. VM. Vgl. Kruse: Deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen, S. 230. Siehe ebenso Buthmann: AG BKK, S. 19. 108  Vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 26 u. 45.

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Plan-AHB und den Kombinaten. Mit der KoKo als »wichtigste Innovation der Ära Honecker«, so Hans-Hermann Hertle, gelang es der DDR-Regierung trotz enger Handelsbindung an die Sowjetunion, die eigenen Devisenbestände aufzubessern, einfuhrbeschränkte Güter und moderne Industrieanlagen einzukaufen und die Westverschuldung zumindest ein Stück weit zurückzufahren.109 4.4.1 Das Verhältnis von MfS und KoKo Welche Rolle spielte nun die Staatssicherheit bei der zweiten Antwort der SED auf die ökonomischen Schwierigkeiten der späten 1970er- und frühen 1980erJahre? Zwei gegensätzliche Aspekte können hier beobachtet werden: Einerseits waren KoKo und MfS personell und funktional eng miteinander verknüpft, andererseits beurteilte die Hauptabteilung XVIII des MfS die Handelsaktivitäten des Sonderbereichs äußerst skeptisch. Zunächst fallen die personellen Überschneidungen zwischen MfS und KoKo ins Auge. In allen sicherheitspolitisch relevanten Bereichen der Sonderstruktur wurden hauptamtliche Vertreter der Staatssicherheit eingesetzt. Im Jahr 1987 führte das MfS in den KoKo-Firmen zum Beispiel 25 Offiziere im besonderen Einsatz (OibE); insgesamt verfügten im Jahr 1989 20 Prozent der KoKo-Mitarbeiter über einen Offiziersrang des MfS.110 Die wichtigste Schnittstelle zwischen beiden Institutionen stellte dabei von Beginn an der Kopf und Ideengeber der KoKo dar: Alexander Schalck-Golodkowski. Kurz bevor er die Leitung der KoKo übernahm, war er im Oktober 1966 als OibE im Rang eines Oberstleutnants verpflichtet worden. Im Jahr 1975 erfolgte seine Beförderung zum Oberst des MfS. Die Anleitung der geheimpolizeilichen Arbeit Schalcks übernahm dabei sein enger Vertrauter Heinz Volpert111, mit dem er zu Beginn der 1970er-Jahre die im dritten Kapitel mehrfach zitierte Dissertation über die Risiken und Vorteile des Westhandels verfasst hatte. Mit dem Status eines OibE war der KoKo-Chef verpflichtet, für alle Sicherheitsfragen und »operativen« Aufgaben innerhalb des KoKo-Verbands gegenüber der Führung des MfS Rechenschaft abzulegen. Aber nicht nur Schalck, sondern auch seine Stellvertreter, zunächst Horst Roigk und anschließend Manfred Seidel, wurden als Geheimoffiziere der Staatssicherheit geführt. Beide stammten aus der für die Überwachung des Außen109  Vgl. Hertle: Diskussion ökonomischer Krisen, S. 316. 110  Vgl. Buthmann: AG BKK, S. 36. 111  Formell war Volpert Ende der 1960er-Jahre stellvertretender Leiter der Hauptabteilung XX. Als »Beauftragter des Ministers« wurde er ab 1969 im »Büro der Leitung« für »Sonderaufgaben« wie Häftlingsfreikäufe und Devisenbeschaffung eingesetzt. Im Jahr 1972 erfolgte seine Beförderung zum Oberst. Vgl. http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-werin-der-ddr-%2363%3B-1424.html?ID=3648, abgerufen am 3.1.2018.

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handels verantwortlichen Abteilung 7 der Hauptabteilung XVIII des MfS. Im Bereich der KoKo übernahm Seidel die Leitung der Abteilung I und war damit für politisch brisante Geschäftsbereiche wie die Beschaffung von Embargoware, den Handel mit Antiquitäten oder die Belieferung der Politbürosiedlung Wandlitz mit »Westwaren« verantwortlich.112 Diese personelle Verflechtung an der Spitze der KoKo gibt einen Hinweis darauf, dass das MfS im neuen ungeplanten Außenhandel sowohl ein »operatives« Instrument als auch einen Überwachungsgegenstand sah. Verantwortlich für beide Aspekte war zunächst die Hauptabteilung XVIII/7 des MfS. Im Rahmen ihres im Jahr 1970 angelegten »Objektvorgangs« für den Bereich KoKo war sie auf der einen Seite daran interessiert, mithilfe der Geschäftskontakte der KoKo-Firmen ökonomisch und »operativ« relevante Informationen zu gewinnen.113 Auf der anderen Seite stand die Abteilung in der Pflicht, die Leiter und Außenhändler der KoKo-Firmen nicht nur sicherheitspolitisch zu kontrollieren, sondern ihre Geschäftspraktiken auch unter ökonomischen Gesichtspunkten einzuschätzen. Die Vertreter der Linie XVIII des MfS übernahmen damit jene Funktion der Plankontrolle, die bei den regulären Außenhandelsorganen den staatlichen und betrieblichen Inspektionen vorbehalten war.114 »Zwar konnte KoKo sehr frei über die Art und Weise ihrer Geschäftstätigkeit entscheiden«, so Matthias Judt, »doch wenigstens das MfS sollte wissen, was KoKo konkret unternahm.«115 Im Laufe der 1970er-Jahre machte sich allerdings immer deutlicher bemerkbar, dass die Hauptabteilung XVIII/7 mit dieser ökonomischen und sicherheitspolitischen Aufsicht an die Grenzen ihrer Kapazitäten gelangte. Vor allem in personeller Hinsicht fühlte sich die Diensteinheit mit ihrem äußerst heterogenen Aufgabenspektrum überlastet.116 Aus diesem Grund wurde im September 1983 die »Arbeitsgruppe Bereich Kommerzielle Koordinierung« (AG BKK) innerhalb der MfS-Zentrale ins Leben gerufen. Angesiedelt im Stellvertreterbereich Rudi Mittigs, sollte diese selbstständige Diensteinheit unter der Leitung von Wolfram Meinel fortan alle KoKo-bezogenen Überwachungsaufgaben der Hauptabteilung XVIII/7 übernehmen.117 Allerdings dauerte es noch bis Mitte der 1980er-Jahre, bis die sicherheitspolitischen Zuständigkeiten für die Handelsunternehmen der KoKo innerhalb der Linie XVIII des MfS eindeutig ge112  Vgl. Engelmann: Bereich »Kommerzielle Koordinierung«, S. 155. 113  Vgl. Buthmann: AG BKK, S. 46. 114  Vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 20. 115  Ebenda, S. 27. 116  Buthmann nennt mit Verweis auf den Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung der Geschäftspraktiken der KoKo Personalmangel als Hauptgrund für die Überforderung der HA XVIII/7 und die Gründung der AG BKK innerhalb des MfS. Vgl. Buthmann: AG BKK, S. 46. 117  Vgl. Buthmann: AG BKK, S. 47.

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regelt waren. So flossen die Informationen einiger inoffizieller Mitarbeiter eine Zeit lang sowohl an die Hauptabteilung XVIII/7 als auch an die AG BKK. Erst im Oktober 1986 wurde die Verantwortung für die Absicherung der KoKo ausschließlich der neuen Diensteinheit übertragen.118 In den Firmen des KoKo-Netzwerkes führte die AG BKK Ende der 1980erJahre schätzungsweise 180 inoffizielle Mitarbeiter.119 Zählt man noch die »Gesellschaftlichen Mitarbeiter für Sicherheit« (GMS), die »Kontaktpersonen« (KP) und »inoffiziellen Mitarbeiter« anderer Diensteinheiten des MfS hinzu, waren zu dieser Zeit etwa 10 Prozent der gut 3 000 KoKo-Beschäftigten konspirativ für das MfS tätig.120 Diese Zahlen zeigen, dass die Staatssicherheit den Bereich Kommerzielle Koordinierung als »operativ« hoch relevanten Bereich einstufte. Aufgrund ihres intensiven Engagements auf westlichen Märkten und ihrer politisch zum Teil riskanten Unternehmungen wie die Beschaffung von Embargowaren lag es auf der Hand, dass die Firmen der KoKo von der Geheimpolizei intensiv beobachtet wurden. Trotzdem wäre es abwegig, die KoKo als »Filiale des MfS« oder das MfS als entscheidenden Akteur der KoKo zu bezeichnen.121 Während die »Kommerzielle Koordinierung« in erster Linie ein unternehmerisch hoch aktives Firmennetzwerk innerhalb des Außenhandelsministeriums blieb, beschränkten sich die operativen Mitarbeiter des MfS auf dessen sicherheitspolitische Überwachung und hielten sich ansonsten aus allen innerbetrieblichen Geschäftsabläufen heraus.122 Dass die Vertreter der Hauptabteilung XVIII auf eine praktische Unterstützung der KoKo nicht nur verzichteten, sondern darüber hinaus ihre vielfältigen Geschäftspraktiken außerhalb der Planabläufe auch äußerst kritisch beurteilten, geht aus dem oben besprochenen Gutachten von Horst Roigk und Alfred Kleine aus den Jahren 1980 und 1982 hervor. Bedenken meldeten die Autoren hier vor allem gegenüber den neuen Kooperationsformen des Westhandels an, wie etwa Kompensationsvorhaben, Gestattungen oder Lohnveredelungen. Diese maßgeblich von der Wirtschaftskommission Günter Mittags und der KoKo seit Mitte der 1970er-Jahre initiierten Geschäftsmodelle würden zu einer neuen Qualität der ökonomischen Verflechtung führen, so die Studie, wodurch die »Wirkungs­ 118  Vgl. ebenda, S. 47 u. 50. 119  Vgl. ebenda, S. 36. 120  Vgl. ebenda, S. 5 u. 42. 121  Vgl. Engelmann: Bereich »Kommerzielle Koordinierung«, S. 156. 122  Eine Ausnahme bildeten hier höchstens die MfS-eigenen Unternehmen ASIMEX, Camet, Gerlach, Interport und Intertechna, die unmittelbar an die Hauptverwaltung A des MfS angebunden oder – wie im Fall des Unternehmens Günter Forgber – direkt der Hauptabteilung XVIII des MfS unterstellt waren. Laut Krewer übernahm aber selbst bei diesen Firmen die KoKo alle unternehmerischen Entscheidungen, während sich das MfS auf »operative« Tätigkeiten und Personalfragen beschränkte. Vgl. Krewer: Geschäfte, S. 198.

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mechanismen des kapitalistischen Marktes« immer stärker den »volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozess« in der DDR bestimmen würden.123 Dieser beobachtete Trend zu »neuen Abhängigkeiten« und »ökonomischen Verlusten für die DDR« stand mit dem ebenso im Gutachten skizzierten Ideal einer Abgrenzung des Außenhandels zum Westen und einer Hinwendung zur Sowjetunion im Widerspruch. Folgerichtig erhoben Roigk und Kleine die Forderung, auf sämtliche außerplanmäßige Anlagen- und Ausrüstungsimporte zu verzichten.124 Darüber hinaus bemängelte die Analyse der Hauptabteilung XVIII, dass der Bereich KoKo zusammen mit dem Büro Mittag faktisch ein »zweites Leitungssystem« in der Wirtschaft etabliert habe. Indem diese Parallelregierung leitende Parteiorgane gezielt »desinformiere« und die wichtigsten Sachverhalte »verbindlich vorentscheiden« würde, sei der eigentlich zuständige Ministerrat »im Hinblick auf die Leitung, Planung und Organisation der Volkswirtschaft nicht aktionsfähig«.125 Da aber nach Überzeugung der Offiziere eine solche Verwischung der Kompetenzen maßgeblich zur Eskalation der Krise beigetragen habe, müsse alles dafür getan werden, den »sozialistischen Planungsmechanismus« wiederherzustellen.126 Das hieß konkret, dass alle Geschäftspraktiken, »die der vollen Durchsetzung der Verantwortlichkeit des Ministerrates und seiner Organe bei der einheitlichen Leitung der Volkswirtschaft entgegenstehen« – sprich: die außerplanmäßigen Aktivitäten der KoKo – umgehend eingestellt werden sollten.127 Entgegen der sonst üblichen Praxis des MfS wurden hier eindeutig interne Ursachen für die ökonomische Krisensituation angeführt.128 Mit diesem Dokument tritt das ambivalente Verhältnis des MfS gegenüber der KoKo zum Vorschein: Auf der einen Seite bewertete die Hauptabteilung XVIII die Geschäftsmodelle und Kompetenzaneignungen der neuen Außenhandelsorganisation als ökonomisch schädlich und sicherheitspolitisch riskant. Unmissverständlich wurden die Eingriffe Mittags und der zweite Außenhandel Schalcks als Problem benannt.129 Auf der anderen Seite schien es ihr kaum möglich, die von dieser Struktureinheit ausgehende rasante Weiterentwicklung der ost-westlichen Wirtschaftskooperation in irgendeiner Weise auszubremsen oder in eine andere Richtung zu lenken. Ob Abfallgeschäft, Antiquitätenhandel oder Kreditvereinbarungen – am Ende blieb den Offizieren der Linie XVIII nichts anderes übrig, als die Geschäftstüchtigkeit der KoKo-Firmen zu akzeptieren, sie mit eigenem Spitzenpersonal wie Roigk und Seidel sogar noch zu unterstützen und sie sicherheitspolitisch wie ökonomisch abzusichern. 123  Hertle: An die Sowjetunion verkaufen?, S. 483. 124  Ebenda, S. 494. 125  Ebenda, S. 492. 126  Vgl. ebenda. 127  Ebenda, S. 480. 128  Vgl. Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 266. 129  Vgl. ebenda, S. 267.

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4.4.2 Vermittler unter Verdacht: Das Vertretergeschäft im Blick des MfS Spielte die neue außerplanmäßige Außenhandelsorganisation auch für die Chemiekombinate im Bezirk Halle eine Rolle? Und wenn ja, wie wirkte sich diese Struktur auf die Überwachungsarbeit der Objektdienststellen vor Ort aus? Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass die Firmen des KoKo-Verbandes für die Kombinate der Chemiebranche wichtige Geschäftspartner darstellten, hier vor allem die auf Chemieerzeugnisse spezialisierten Handelsgesellschaften der KoKo sowie die unter dem Dach der KoKo zusammengefassten Vertreterfirmen im westlichen Ausland. Beide Akteure besaßen für die Außenbeziehungen der Kombinate und Außenhandelsbetriebe eine grundlegende Bedeutung und standen daher im Mittelpunkt der geheimpolizeilichen Überwachungsarbeit der Objektdienststellen des MfS.  In Bezug auf die Handelsgesellschaften der KoKo sticht vor allem die Intrac-Handelsgesellschaft als der mit Abstand wichtigste KoKo-Partner der Chemiebranche hervor. Zwar betraf das Hauptgeschäftsfeld des 1964 gegründeten Unternehmens zunächst den Weiterverkauf von Gütern wie Erdöl, Kupfer, Quecksilber oder Industriediamanten, die von westlicher Seite im Rahmen der Häftlingsfreikäufe geliefert wurden. Doch im Laufe der 1970er-Jahre rückte immer stärker auch der Handel mit veredelten Erdölprodukten und chemischen Grundstoffen in den Mittelpunkt der Intrac-Geschäfte, sodass die Firma enge Kontakte zum Außenhandelsbetrieb Chemie-Export-Import, zu den Leunaund Buna-Werken sowie zum Petrolchemischen Kombinat in Schwedt etablierte.130 Die wichtigste Dienstleistung der Intrac-Gesellschaft bestand dabei in der Vorfinanzierung von Industrieanlagenimporten auf der Grundlage ihrer enormen Devisenbestände. Das finanzkräftigste Unternehmen der KoKo, das zwischen 1967 und 1989 etwa 12,5 Milliarden Valutamark erwirtschaften konnte, entwickelte sich damit zu einem unverzichtbaren Partner der Chemiekombinate bei größeren Investitionsprojekten.131 Besonders aktiv zeigte sich die Handelsgesellschaft beim Ausbau der Erdölveredelung in Schwedt und Leuna sowie bei der Umstellung der Energieversorgung von Heizöl auf Braunkohle – also bei jenen zwei Großvorhaben, die den dritten und letzten Baustein der Konsolidierungspolitik ausmachten. In welche konkreten Einzelprojekte die Intrac dabei involviert war und welche Rolle die Objektdienststellen des MfS bei diesen Investitionsvorhaben spielten, soll im Abschnitt 4.5 weiter unten näher erläutert werden. 130  Vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S.  22. Neben dem Rohstoffhandel war die Firma Intrac auch im Abfallgeschäft aktiv. Ab den 1980er-Jahren nahm sie im großen Stil Sondermüll aus westlichen Ländern gegen Devisen ab. Vgl. Engelmann: Bereich »Kommerzielle Koordinierung«, S. 157. 131  Vgl. Engelmann: Bereich »Kommerzielle Koordinierung«, S. 157.

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Den zweiten wichtigen Kooperationspartner für Kombinate und Außenhandelsbetriebe, der zumindest indirekt mit der KoKo-Struktur verknüpft war, stellten die sogenannten Vertretergesellschaften im westlichen Ausland dar. Eine solche Vertreterfirma stand zwischen den Außenhandelsbetrieben der DDR und den Herstellern und Kunden im westlichen Ausland. Für ein bestimmtes westliches Land und für eine bestimmte Güterklasse sollte sie gegen Provision für DDR-Exporte westliche Abnehmer und für DDR-Importe westliche Anbieter vermitteln.132 Welche Vertreterfirma für ein Kombinat besonders relevant wurde, ergab sich aus seinem Warensortiment: Den Leim-Export der Leuna-Werke wickelte zum Beispiel das belgische Unternehmen Robor ab. Für die Buna-Werke mit ihrem Fokus auf Kunststoffen und Kautschuk avancierte das westdeutsche Unternehmen Plast-Elast-Chemie zum wichtigsten Zwischenhändler. Und die vielfältigen Erzeugnisse der Bitterfelder Kombinatsbetriebe wurden unter anderem über die Unternehmen Janson (Schweden), Christensen (Dänemark) und Soprochim (Frankreich) vertrieben.133 Für den gesamten West-Export der DDR standen im Jahr 1970 über 970 Vertretergesellschaften im westlichen Ausland zur Verfügung.134 Aus Sicht des MfS stellte das Vertretergeschäft allerdings eine sicherheitspolitische Schwachstelle im Außenhandel dar. In ihren internen Lagebeurteilungen erhoben die Offiziere der Linie XVIII gegenüber den westlichen Vertriebsorganisationen zum Teil schwere Vorwürfe: Sie würden wahlweise DDR-Außenhändler bestechen, Außenhandelsbetriebe und Kombinate gegeneinander ausspielen, die DDR mit überhöhten Provisionssätzen schädigen, vertrauliche Informationen sammeln oder als Tarnfirmen für westliche Geheimdienste auftreten.135 Vor allem die lokalen Diensteinheiten des MfS waren davon überzeugt, dass solche Aktivitäten maßgeblich zur chronischen Exportschwäche der von ihnen überwachten Betriebe beitragen würden. Es verwundert daher kaum, dass jene Vertreterfirmen, die den Vertrieb zentraler Exportlinien übernahmen, von ihnen besonders misstrauisch beobachtet wurden. Die sicherheitspolitisch als riskant eingestuften Vermittler weckten von Beginn an auch das Interesse Schalck-Golodkowskis.  Bereits in seiner Dissertation aus dem Jahr 1970, die neben einer Erörterung der Risiken des Westhan132  Eine echte Vermittlungsleistung ging allerdings von den wenigsten Vertreterfirmen aus. Nicht selten stellten sie für westliche Anbieter lediglich eine Zahlungsverpflichtung dar, um mit der DDR-Seite ins Geschäft kommen zu können. Vgl. Krewer: Geschäfte, S. 202. 133  Vgl. OD Leuna: Lageeinschätzung zu den Außenwirtschaftsbeziehungen – NSW im Verantwortungsbereich der OD Leuna vom 10.9.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 300, Bl. 8. 134  Vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 86. 135 Vgl. OD Leuna: Lageeinschätzung zu den Außenwirtschaftsbeziehungen/NSW im Verantwortungsbereich der OD Leuna vom 10.9.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr.  300, Bl.  1–15; vgl. Schalck-Golodkowski; Volpert: Vermeidung ökonomischer Verluste, S. 29.

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dels auch als Masterplan der »Kommerziellen Koordinierung« gelesen werden kann,136 drängte er darauf, das Vertretergeschäft stärker an die DDR zu binden – entweder durch die Gründung »offizieller nationaler Vertreterorganisationen« oder durch Privatfirmen mit DDR-loyalen Vertrauensleuten als Eigentümer.137 Eine solche direkte oder indirekte Kontrolle des Vertretergeschäfts versprach aus Sicht Schalcks gleich mehrere Vorteile: Erstens würden die Provisionszahlungen der Endkunden und Endabnehmer – in der Regel zwischen 2 und 8 Prozent der Umsatzsumme – direkt an den DDR-Staatshaushalt fließen. Zweitens könnten die Vertreterfirmen für »operative« Zwecke – unter anderem als Reservoir für neue IM-Werbungen – eingesetzt werden. Drittens besäße das MfS die Möglichkeit, den Reisekaderstamm der Vertreterfirmen geheimpolizeilich zu schulen. Und schließlich, viertens, gelänge über eine solche Anbindung der Firmen an den ostdeutschen Staat auch eine bessere Kontrolle der Außenhandelsaktivitäten der Kombinate und Außenhandelsbetriebe. Vor allem der Kontakt zwischen westlichen Geschäftsreisenden und ostdeutschen Kaufleuten sollte mit dieser Neuorganisation umfassend überwacht und auf ein Minimum reduziert werden.138 Im Laufe der 1970er-Jahre schaffte es die DDR-Regierung tatsächlich, ihre Kontrolle über das westliche Vertretergeschäft schrittweise auszuweiten. Dominant wurde hier vor allem das von Schalck-Golodkowski favorisierte Modell der »abgedeckten Parteifirma«, die meist auf Initiative des Außenhandelsministeriums von einem SED-loyalen Vertrauensmann, zum Beispiel einem Mitglied der westdeutschen DKP, gegründet und geführt wurde.139 In einem Vertrag mit einem DDR-Außenhandelsbetrieb wurde dieser DDR-nahen Vertriebsorganisation dann das Alleinverkaufsrecht für alle Erzeugnisse einer bestimmten Branche übertragen. Zusätzlich war diese Firma dafür vorgesehen, kommunistische Parteien in westlichen Ländern zu finanzieren und für die DDR-Seite Luxusgüter und Embargoware zu organisieren.140 Um die SED-nahen Zwischenhändler institutionell mit der KoKo zu verknüpfen, ließ Schalck im Jahr 1967 die Transinter GmbH als Dachverband für alle ausländischen Vertreterfirmen gründen. Im Jahr 1973 folgte die Simpex GmbH als Bindeglied zwischen den Parteifirmen, dem Bereich Kommerzielle Koordinierung und der Abteilung Verkehr des ZK der SED.141 Mit Simpex und Transinter gelang es der KoKo, sämtliche Anfragen und Angebote westlicher Unternehmen gegenüber DDR-Außenhandelsbetrieben im Blick zu 136  So Krewer: Geschäfte, S. 164. 137  Vgl. Schalck-Golodkowski; Volpert: Vermeidung ökonomischer Verluste, S. 64. 138 Vgl. ebenda, S.  67; Judt: Kommerzielle Koordinierung, S.  86; Krewer: Geschäfte, S. 20. 139  Vgl. Krewer: Geschäfte, S. 197. 140  Vgl. ebenda. 141  Vgl. Buthmann: AG BKK, S. 59.

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behalten.142 Das in die KoKo-Struktur eingebundene System der westlichen Vertretergesellschaften diente einer weiteren Absicherung des Außenhandelsmonopols, zusätzlich zur Trennung von Produktion und Handel innerhalb der DDR. Zwischen einem Produktionsbetrieb in der DDR und einem Abnehmer im westlichen Ausland standen damit zwei staatlich kontrollierte Instanzen: die SED-nahe, über Transinter angeleitete Parteifirma und der gegenüber dem Außenhandelsministerium weisungsgebundene Außenhandelsbetrieb. 4.4.3 »Ein zu großes Risiko« – Die Überwachung der Essener Handelsfirma Plast-Elast-Chemie (Plel) Die Existenz der Transinter GmbH und die enge Kooperation mit den Außenhandelsbetrieben macht deutlich, dass es sich bei den meisten im Westen angesiedelten Vertretergesellschaften weniger um selbstständige Unternehmen, als vielmehr um Außenposten der DDR-Außenhandelsorganisation handelte. Aufgrund dieser engen Anbindung erstaunt es, dass die drei untersuchten Objektdienststellen des MfS im Vertretergeschäft auch in den 1980er-Jahren noch immer ein hohes sicherheitspolitisches Risiko erkennen wollten. Als verhängnisvoll erachteten sie vor allem die angeblich undurchsichtigen Abmachungen zwischen Wirtschaftsfunktionären und westlichen Vertretern, die sich ihrer Meinung nach nachteilig auf die Exportleistungen der Betriebe und die übergeordnete Entschuldungspolitik der SED auswirken würden. Vor allem bei den Objektdienststellen Buna und Leuna ist auffällig, dass sie ihre Überwachungsarbeit beinahe obsessiv auf die Vertretergesellschaften der Chemiebranche ausrichteten. Bei diesem Schwerpunkt sahen die Offiziere an der Basis eine notwendige Ergänzung zu den »operativen« Maßnahmen der Hauptabteilung XVIII/7 und der AG BKK, um den Westhandel auch dort, wo er ganz praktisch abgewickelt wurde – zwischen den Vertreterfirmen und den Exportabteilungen der Kombinate – umfassend geheimpolizeilich abzusichern. Welches Ausmaß diese Fixierung auf das Vertretergeschäft annehmen konnte und welche Auswirkungen sich daraus für die im Außenhandel engagierten Akteure ergaben, soll im Folgenden am Beispiel der Essener Handelsgesellschaft Plast-Elast-Chemie (Plel) veranschaulicht werden. Das Hauptgeschäftsfeld der Firma bestand im Vertreiben von ostdeutschen Lösungsmitteln, Kunststoffen und Kautschukprodukten auf dem westdeutschen Markt. Das Unternehmen stand dafür vor allem mit den Buna-Werken in Kontakt, setzte aber auch Produkte der Kombinate Leuna, Bitterfeld, Piesteritz und Schwarzheide ab. Spä-

142  Vgl. ebenda, S. 29.

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testens ab den 1970er-Jahren hatte sich Plel zum wichtigsten Vermittler für deutsch-deutsche Chemiegeschäfte entwickelt.143 Die Ursprünge der Beziehungen von Plel zum ostdeutschen Chemiesektor gingen auf die Firma Kleinholz zurück, eine renommierte Mineralölraffinerie im Essener Stadthafen, die mit Hilfe ehemaliger IG-Farben-Mitarbeiter bereits in den frühen 1950er-Jahren erste Geschäftsbeziehungen mit den Leuna- und Buna-Werken aufgebaut hatte. Auch wenn Kleinholz vor allem Mineralölprodukte handelte, engagierte sich das Unternehmen schrittweise auch im Kunststoff- und Kautschukgeschäft, für das es mit Partnern in der DDR, aber auch in Rumänien und Japan in Verbindung stand. Im Jahr 1968 wurde Kleinholz überraschend vom amerikanischen Investor Armand Hammer aufgekauft. Für die Chemiesparte des Unternehmens bedeute diese Übernahme eine tiefe Zäsur: Zum einen zeigte Hammer wenig Interesse an chemischen Produkten. Für sein Unternehmen Occidental Petroleum stand ausschließlich das Ölgeschäft im Mittelpunkt. Zum anderen wollte sich die DDR-Seite beim Absatz ihrer Chemieerzeugnisse nicht auf einen amerikanischen Akteur einlassen. Gerhard Nitzsche, Generaldirektor des Außenhandelsbetriebs Chemie, machte deutlich, dass er die Geschäftsbeziehungen zwar gerne fortführen wolle, dafür aber eine eigenständige Firma nötig sei. Für den Leiter des 12-köpfigen Teams der Chemieabteilung von Kleinholz, Hans Leuwer, blieb damit nur der Schritt in die Selbstständigkeit. Im Jahr 1968 gründete er mit seinem engsten Vertrauten Erich Frohnhoff das Unternehmen Plel, das sich als klassischer Zwischenhändler ganz auf die Kontaktpflege und Beratung von westdeutschen Kunden der DDR-Chemie konzentrieren wollte. Dieser Schritt sollte sich auszahlen. Mit 30 Beschäftigten und rund 200 Millionen DM Jahresumsatz konnte Plel bis Mitte der 1980er-Jahre zur wichtigsten Verkaufsniederlassung der DDR-Chemie in der Bundesrepublik aufsteigen.144

143  Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Analyse vorliegender Erkenntnisse zur Firma Plast-Elast-Chemie Essen vom 22.2.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 1593, Bl. 102. 144  Die Angaben zur Firmengeschichte von Plel gehen auf ein Zeitzeugengespräch mit Hans Leuwer am 9.11.2017 in Essen zurück.

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Abb. 4: Messestand von Plast-Elast-Chemie auf der Kunststoffmesse »K« 1983 in Düsseldorf

Die Staatssicherheit wollte auch bei diesem neuen Partner des AHB – ähnlich wie bei den übrigen Handelsgesellschaften – ein großes sicherheitspolitisches Risiko erkennen. Zum einen fiel den Offizieren auf, dass die Geschäftsführung sehr auf ihre Eigenständigkeit bedacht war. Leuwer und Frohnhoff verstanden sich stets als Inhaber einer normalen westdeutschen Handelsfirma ohne spezielle politische Anbindung an die DDR. Die Rolle einer DDR-Parteifirma hätten sie niemals akzeptiert. »Die Person Leuwer«, stellten die Offiziere im Jahr 1980 fest, »gibt sich als ein echter Vertreter einer kapitalistischen Vertreterfirma aus, die sämtliche Interessen, Verhaltensweisen und Gepflogenheiten dem Profitstreben unterordnet«.145 Zum anderen unterstellte das MfS dem Unternehmen unseriöse Absatzprognosen und undurchsichtige Geschäftsbeziehungen. Vor allem für die zu Beginn jedes Jahres mit dem AHB festgelegten Richtmengen für Ein- und Ausfuhren gab es aus Sicht der Objektdienststelle keinerlei Sicherheiten. Verfehlte das Unternehmen die Absatzziele, standen dem DDR-Außenhandel keine effektiven Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Diese Situation war aus Sicht der Ge145  OD Buna: Sachstandsbericht zum OV »Export« vom 9.9.1980; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 1680/82, Bd. 1, Bl. 210.

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heimpolizei untragbar, da sie bei Plel nicht nur von verdeckten Preisabsprachen und unseriösen Kundenkontakten, sondern auch von negativen politischen Einflüssen auf die Führungskräfte des AHB und der Kombinate ausgingen. In einigen Dokumenten ist sogar von einer »Tarnfirma« westlicher Geheimdienste die Rede, die in den Handels- und Produktionsbetrieben »Stützpunkte« aufbauen und Informationen abschöpfen wolle. Dass gut 40 Prozent des gesamten Westexports der Buna-Werke von einer solchen Firma abhing, barg für die Objektdienststelle Buna »ein zu großes Risiko in sich«.146 Entsprach diese Wahrnehmung der Realität? Stellte die Firma Plel tatsächlich ein politisches und ökonomisches Risiko für den DDR-Außenhandel dar? Zunächst muss festgehalten werden, dass die Handelsgesellschaft ökonomisch vollständig von der DDR-Seite abhängig war: Dreiviertel des Umsatzes gingen auf Buna-Erzeugnisse zurück, wesentliche Aspekte der Außenhandelsverträge wurden vom AHB festgelegt und wenn nötig, konnte der Vertretervertrag jederzeit widerrufen werden. Darüber hinaus legten Leuwer und Frohnhoff großen Wert auf Transparenz, die Preis- und Mengenfestlegungen des AHB waren für sie bindend und sollten für alle Beteiligten jederzeit einsehbar sein. Von geheimen Vorabsprachen mit Endkunden, wie sie das MfS unterstellte, hätte ihre Firma keinen Nutzen gehabt. Betrachtet man die Außenhandelsbeziehungen in den 1970er- und 1980er-Jahren, lässt sich in der Tat eine intensive und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Kaufleuten der Plel, den Vertretern des AHB, den Außenhändlern und Anwendungstechnikern der Kombinate und den Mitarbeitern der Handelskontore feststellen. Blieben die Absätze tatsächlich unterhalb der Erwartungen – was durchaus vorkam –, lag das in der Regel nicht am mangelnden Engagement Plels oder anderer Zwischenhändler, sondern am Unvermögen des Außenhandels, die vereinbarten Mengen für den innerdeutschen Handel freizustellen. Nicht selten hatte die DDR-Seite Schwierigkeiten, die verkaufte Ware fristgerecht zu liefern, da entweder Transportmöglichkeiten fehlten oder die Chemieprodukte kurzfristig für den RGW-Raum verplant wurden. In dieser Situation mussten die Vertretergesellschaften mit Ersatzware einspringen und darauf achten, dass die Abnehmer trotz der fehlenden Verlässlichkeit der DDR für weitere Geschäfte mit dem AHB offenblieben.147 Neben dieser geschäftlichen Ausrichtung auf die DDR sorgte das Außenhandelsministerium auch dafür, die Handelsgesellschaft Plel politisch an sich zu binden. Sehr zum Missfallen der Geschäftsführung installierte sie kurz nach 146  OD Buna: Probleme der Außengestaltung des Kombinats Buna, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 1680/82, Bd. 1, Bl. 87. Als Tarnfirma wird Plel in folgendem Dokument bezeichnet: Analyse vorliegender Erkenntnisse zur Firma Plast-Elast-Chemie Essen vom 22.2.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 1593, Bl. 125. 147  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Hans Leuwer am 9.11.2017.

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der Unternehmensgründung einen DDR-loyalen Gesellschafter, dem 50 Prozent der Firmenanteile übertragen wurden. Dieses Arrangement, das der AHB mit der Plel-Leitung zuvor nicht abgesprochen hatte, sollte ein Mindestmaß an politischer Kontrolle ermöglichen und vermutlich einen Teil des Firmengewinns für die politische Arbeit der lokalen DKP abzweigen. Als erster verordneter »Zwangsgesellschafter« tauchte Ende 1969 Hans Eigner auf, ein bekennender Kommunist, der sein Amt als Essener Stadtrat aus politischen Gründen aufgeben musste und sich daher dem Ost-West-Handel zugewandt hatte.148 Nach seinem Tod im Jahr 1973 erhielt seine Frau die Firmenanteile für eine kurze Zeit, bevor schließlich Karl Heinz Schlurmann, Chef der Firma Chemoplast, diese Aufgabe übernahm. Da Chemoplast zum KoKo-Komplex zählte, war Plel zumindest zu diesem Zeitpunkt indirekt an die Transinter angebunden.149 Berücksichtigt man diese doppelte Ankopplung an die DDR – wirtschaftlich über den AHB und politisch-juristisch über die Anteile DDR-loyaler Personen – erscheint die Wahrnehmung der Staatssicherheit von Plel als riskanten und undurchsichtigen Akteur einigermaßen absurd. Gewiss strebten Leuwer und Frohnhoff stets nach größerer Eigenständigkeit und nahmen die externen Gesellschafter als großes Ärgernis wahr, auch wenn diese im Hintergrund blieben und keinerlei Einfluss auf das laufende Geschäft ausübten. Als Schlurmann im Jahr 1984 ausfallen musste, da das MfS ihn als Agenten des BND überführt hatte, gelang es Plel erfolgreich, einen weiteren DDR-Teilhaber zu verhindern.150 Gegenüber dem AHB hatten Leuwer und Frohnhoff dabei auch mit dem vollständigen Abbruch der Beziehungen gedroht.151 Trotzdem ging von dieser Geschäftsführung keinerlei Gefahr aus. Mit ihren exzellenten Kontakten zu Vorständen von über 350 Chemieunternehmen, darunter Branchengrößen wie Continental, Hüls oder Phoenix, stellte sie vielmehr einen Glücksfall für den DDR-Außenhandel dar. Ohne dieses über Jahrzehnte aufgebaute Netzwerk wäre der von der SED-Führung vorangetriebene Ausbau des Westhandels kaum möglich gewesen. Nicht ohne Grund hatte der AHB selbst die Überführung des Teams Leuwer und Frohnhoff in eine eigen148  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Hans Leuwer am 9.11.2017. Zur Biografie Eigners siehe Gröne, Elisabeth: Hans Eigner. In: Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Hg.): Flurgespräche. http://www.flurgespraeche.de/impressum, abgerufen am 3.1.2018. 149  Vgl. Milliarden mit Koko. Die heimlichen Geschäfte des Alexander Schalck-Golodkowski. In: Spiegel Spezial v. 1.2.1990, www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-52397644.html, abgerufen am 3.1.2018. 150  Zur Agententätigkeit Schlurmanns siehe Köppe, Ingrid: Abweichender Bericht der Berichterstatterin der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen im 1. Untersuchungsausschuss des 12. Deutschen Bundestages: »Werkzeuge des SED-Regimes. Der Bereich Kommerzielle Koordinierung und Alexander Schalck-Golodkowski«, S.  27. Https://berndpulch.files.wordpress. com/2012/02/koeppe-bericht_ht.pdf, abgerufen am 3.1.2018. 151  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Hans Leuwer am 9.11.2017.

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ständige Handelsgesellschaft als exklusiven Partner der DDR in die Wege geleitet. Das MfS behandelte das Unternehmen dennoch als großes Sicherheitsrisiko und konzentrierte seine »operativen« Maßnahmen auf die Geschäftsführung und ihre Ansprechpartner in den Kombinaten Buna, Leuna und Schwarzheide. Die Federführung der Überwachung übernahm die Abteilung XVIII/5 der Bezirksverwaltung Halle. Sie konzentrierte sich vor allem auf die beiden Geschäftsführer Leuwer und Frohnhoff bei ihren Dienstreisen in die DDR.152 Leuwer wurde darüber hinaus von 1974 bis 1987 in der OPK »Handel« bearbeitet.153 Die vorgangsführende Diensteinheit war zunächst die Objektdienststelle Buna. Aufgrund der vielfältigen Beziehungen Leuwers zu Wirtschaftsfunktionären in der gesamten DDR gab sie die Verantwortung 1982 an die Hauptabteilung XVIII/1 in der Berliner MfS-Zentrale ab.154 Das Referat 2 der OD Buna blieb aber auch weiterhin für die Beobachtung der Firma auf dem Gelände des Stammbetriebs zuständig.155 Es organisierte vor allem die umfangreiche Überwachung des Plel-Messestands auf der Herbst- und Frühjahrsmesse in Leipzig. Bemerkenswert ist, dass die Kaufleute der Firma von dieser geheimpolizeilichen Betriebsamkeit wenig zu spüren bekamen. Bei ihren Aufenthalten in der DDR wurde ihre Arbeit nicht sonderlich beeinträchtigt, nur gelegentlich gab es einen diskreten Hinweis von DDR-Außenhändlern auf abgehörte Verhandlungsräume. Im Rückblick konnte sich Hans Leuwer auch nicht an eine Konfrontation mit MfS-nahen Sicherheitsorganen wie der Reisestelle oder der Sicherheitsinspektion auf dem Werksgelände der Betriebe erinnern.156 Im Kontrast dazu stellte die Überwachung der Plel für ihre Geschäftspartner in der DDR eine enorme Belastung dar. Betrachtet man das Vorgehen der Offiziere näher, wird schnell deutlich, dass nicht die Firma als solche, sondern die Interaktion von DDR-Funktionären mit ihr im Mittelpunkt der geheimpolizeilichen Arbeit stand. Fast gewinnt man den Eindruck, dass das MfS eine Handelsgesellschaft wie Plel ganz gezielt als besonders »unzuverlässig« und »feindlich« einstufte, um die mit ihr in Kontakt stehenden Außenhändler der Kombinate und Außenhandelsbetriebe jederzeit unter Druck setzen zu können. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit dem Hauptabteilungsleiter für Absatz der Buna-Werke Hans Joachim Scharf. Sein Fall illustriert, wie misstrauisch das 152  Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Analyse vorliegender Erkenntnisse zur Firma Plast-Elast-Chemie Essen vom 22.2.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 1593, Bl. 102. 153  Vgl. Hauptabteilung XVIII/13 des MfS: Abschlussbericht OPK »Handel« vom 20.3.1987; BStU, MfS, HA XVIII, AOPK 3211/87, Bd. II, Bl. 267. 154  Vgl. OD Buna: Sachstandsbericht zum OV »Export« vom 9.9.1980; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 1680/82, Bd. 1, Bl. 209. 155  Vgl. OD Buna: Leiterentscheidung zur operativen Bearbeitung der BRD-Firma Plast-Elast-Chemie Essen vom 8.3.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 1593, Bl. 156. 156  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Hans Leuwer am 9.11.2017.

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MfS die Zusammenarbeit des Kombinats mit der Firma Plel beobachtete und welche Konsequenzen sich daraus ergeben konnten. Sichtbar wird dabei auch die enge Zusammenarbeit von SED und MfS, um einen Spitzenfunktionär wie Scharf innerhalb des Kombinats zu isolieren und zu sanktionieren. Scharf wurden zu Beginn der 1980er-Jahre gleich zwei Dinge angelastet: Erstens dass er mithilfe der Vertretergesellschaft eigene Beschaffungen für seine Abteilung am Außenhandelsbetrieb vorbei arrangieren würde. Damit, so der Vorwurf der Offiziere, übertrete Scharf seine betrieblichen Kompetenzen und unterlaufe das staatliche Außenhandelsmonopol. Und zweitens, dass Scharf für die Firma Plel als sogenannter »Stützpunkt« agiere, also vertrauliche Informationen über das Kombinat an sie weiterleite. Aus dieser Perspektive erschien das Unternehmen weniger als Vertretungsorgan der DDR-Chemie, sondern mehr als Agent feindlicher Organisationen im westlichen Ausland, das Scharf als verdeckten Bündnispartner gewonnen hatte. Wie kamen die Offiziere zu diesen beiden Unterstellungen? Zunächst galt Scharf tatsächlich als Verfechter einer weitergehenden »Eigengeschäftstätigkeit« der Kombinate im Bereich des Außenhandels. Gefördert von seinem Vorgesetzten und Mentor Asmus Eggert, Direktor für Beschaffung und Absatz der Buna-Werke in den 1960er-Jahren, hatte er sich immer wieder für verbesserte Kundenkontakte seines Kombinats eingesetzt. Durch sein Organisationsgeschick gelang Scharf die Etablierung eines weitreichenden Netzwerks zu westlichen Firmenvertretern und – darauf aufbauend – eine rasche Karriere innerhalb der Außenhandelsdirektion der Buna-Werke, zunächst im Bereich Binnenmarkt, schließlich auch in der Exportabteilung. Im Jahr 1976 konnte er die Leitung der Hauptabteilung Absatz übernehmen.157 In dieser Funktion kam Scharf auch mit dem Plel-Geschäftsführer Hans Leuwer häufiger in Kontakt. Indem sie größere Absatzprojekte im Bereich Kautschuk und PVC gemeinsam bestritten, entwickelte sich zwischen beiden Kaufleuten schon bald ein freundschaftliches Verhältnis. Die Offiziere der Objektdienststelle Buna beobachteten diese Vertrauensbeziehung von Beginn an mit großem Argwohn. Besonders alarmiert zeigten sie sich Anfang der 1980er-Jahre, als sie geschäftliche Abmachungen zwischen beiden außerhalb des regulären Plans entdecken konnten. Scharf hatte Leuwer wiederholt darum gebeten, Büromaterialien wie Taschenrechner oder Schreibgeräte für seine Abteilung zu organisieren. Im Gegenzug sollte Plel Preisnachlässe oder die Lieferung von zusätzlichem Kautschuk erhalten.158 Obwohl diese Beschaf157  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Hans Joachim Scharf am 24.11.2014. 158  Vgl. SED Kreisleitung Buna: Information der Kreisparteikontrollkommission an die Bezirksparteikontrollkommission vom 22.1.1982; LHASA, MER, IV/E–4/05/171, n. p. Vgl. OD Buna: Sachstandsbericht zum OV Export vom 9.9.1980; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 1680/82: Bd. 1, Bl. 196.

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fungen keine größeren Kosten verursachten, wollten die Offiziere an dieser Stelle Formen von »Vertrauensmissbrauch« und »wirtschaftsschädigendem Verhalten« erkennen.159 »Zusammenfassend […] muss herausgearbeitet werden«, so ein Bericht der Objektdienststelle Anfang der 1980er-Jahre, »dass Scharf als Stützpunkt von Leuwer handelte, diesem Zusatzgeschäfte und Gewinne vermittelte und diese Geschäfte mit geringen Vorteilen für das Kombinat durch Beschaffungen zu rechtfertigen sucht.«160 Als Reaktion auf diese Beobachtung leiteten die Offiziere im Januar 1980 den Operativen Vorgang »Export« ein. Aufgrund seiner »Verhandlungen ohne Direktive«, so der Einleitungsbericht, habe Scharf seine Leitungsfunktion missbraucht und das »Außenhandelsmonopol der DDR durchbrochen«.161 Darüber hinaus vermuteten die Offiziere aber auch die Weitergabe vertraulicher Informationen, weswegen sie auch den schwerwiegenderen Straftaten der »Spionage« (§ 97 StGB) und der »Unbefugten Offenbarung wirtschaftlicher Geheimnisse« (§ 172 StGB) nachgingen. Damit wird deutlich, dass die Offiziere im Zusammenspiel von Leuwer und Scharf nicht nur eine einfache Kompetenzüberschreitung eines Wirtschaftsfunktionärs erkennen wollten, sondern sogar bereit waren, einen Landesverrat anzunehmen. Ein solcher weitreichender Verdacht gegen einen Spitzenfunktionär löste – ähnlich wie in den Fällen Eßbach und Dietze – umfangreiche »operative« Maßnahmen aus. Zwischen Januar 1980 und März 1982 überwachten die Offiziere Scharfs Verhandlungsraum auf dem Buna-Werksgelände in Schkopau und seinen Messestand in Leipzig. Darüber hinaus veranlassten sie mehrere konspirative Arbeitsplatzdurchsuchungen, mieteten eine Wohnung gegenüber seinem Wohnhaus in Amsdorf bei Halle an und installierten in seinem unmittelbaren Umfeld, unter anderem im Amsdorfer Fußballverein, mindestens 15 inoffizielle Mitarbeiter.162 »Die Bearbeitung hat gezeigt«, so das abschließende Fazit der Objektdienststelle im März 1982, »wie ein leitender Kader aus dem Bereich Beschaffung und Absatz so in die Abhängigkeit eines Kontaktpartners aus der BRD gerät, dass er sich entschließt, gegen seine Pflichten und Einsichten zum Nachteil der Volkswirtschaft der DDR und des MfS zu handeln. Dass schwerwiegende Schäden ausblieben, ist Ergebnis der operativen Sicherungsarbeit des MfS.«163 Trotz dieser »operativen Sicherungsarbeit« gelang es der Objektdienststelle aber nicht, den eingangs vermuteten Straftatbestand der Spionage überzeugend 159  Vgl. OD Buna: Eröffnungsbericht vom 29.1.1980; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 1680/82, Bd. 1, Bl. 4. 160  OD Buna: Vorschlag zur Durchführung einer Befragung vom 4.1.1982; ebenda, Bd. 1, Bl. 45. 161  OD Buna: Eröffnungsbericht vom 29.1.1980; ebenda, Bd. 1, Bl. 4. 162  Vgl. OD Buna: Maßnahmeplan vom 29.1.1980; ebenda, Bd. 1, Bl. 9–13. 163  OD Buna: Abschlussbericht vom 29.3.1982; ebenda, Bd. 2, Bl. 165.

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zu belegen. Dass dieser Anfangsverdacht weit überzogen war, mussten die verantwortlichen Offiziere aus dem Referat Außenwirtschaftsbeziehungen schnell einsehen. Ähnlich wie im Fall Eßbach erklärte die Abteilung IX der Bezirksverwaltung auch bei diesem Vorgang, dass die gesammelten Informationen für die Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens nicht ausreichen würden.164 An der Zielsetzung, Scharf aus seiner Position zu entfernen, hielt die Objektdienststelle aber dennoch fest. Als ersten Schritt in diese Richtung schlug der Leiter der OD Buna Hans Jürgen Schmidt ein mehrtägiges konspiratives Verhör außerhalb des Werksgeländes vor – eine sogenannte »operative Befragung«. Sie sollte einmal der wirkungsvollen Disziplinierung von Scharf dienen und darüber hinaus die Möglichkeit bieten, genügend belastendes Material für seine Entlassung oder sogar für eine Anklage vor Gericht zu sammeln.165 Da ein solcher faktischer Arrest eine drastische, eigentlich illegale Maßnahme des MfS darstellte, die in dieser Form weder vom Volkspolizeigesetz noch von der Strafprozessordnung der DDR gedeckt war, von den drei untersuchten Objektdienststellen aber trotzdem wiederholt veranlasst wurde, soll auf diesen Vorgang an dieser Stelle etwas ausführlicher eingegangen werden.166 »Die Befragung soll in der Zeit vom 11. bis 16.1.1982 für die Dauer von maximal drei Tagen durchgeführt werden«, heißt es im Ablaufplan der Objektdienststelle Buna. Dazu wird zur Wahrung der Konspiration Scharf mit einer Kombination167 für die Zeit der Befragung aus dem Arbeitsprozess herausgelöst. Diese Herauslösung erfolgt unter Legende einer Delegierung zu einer Arbeitsgruppe des MfC. […] Für die Befragung wurden Räumlichkeiten der Schule für Diensthundewesen in Pretzsch vorgesehen. Dort sind entsprechende Vorrausetzungen vorhanden, um eine mehrtägige Befragung unter Wahrung der Konspiration durchzuführen.168

Ganz so wie es das Drehbuch der Objektdienststelle vorsah, wurde Scharf Mitte Januar, während einer Arbeitsberatung in seiner Direktion, über eine Dienstreise nach Berlin unterrichtet. Scharf ahnte in dieser Situation bereits, dass es 164  Vgl. OD Buna: Abschlussbericht, 29.3.82; ebenda, Bd. 2, Bl. 164. 165  Vgl. OD Buna: Vorschlag zur Durchführung einer Befragung als wesentliche Maßnahme zum Abschluss des OV »Export« vom 4.1.1982; ebenda, Bd. 1, Bl. 35. 166  Bei der Durchsicht der Akten der drei Objektdienststellen für die 1970er- und 1980er-Jahre ließen sich 5 mehrtägige Verhöre von staatlichen Leitern auffinden, allesamt in den Kombinaten Buna und Bitterfeld. 167  Unter einer »operativen Kombination« verstand das MfS eine Verknüpfung zweier verschiedener, für die Zielperson scheinbar nicht zusammenhängender, legendierter Maßnahmen. Vgl. Lexikoneintrag »Operative Kombination«. In: MfS-Lexikon, S. 253. 168  OD Buna: Vorschlag zur Durchführung einer Befragung als wesentliche Maßnahme zum Abschluss des OV »Export«, 4.1.1982; BStU, MfS, OD Buna, AOPK 1680/82, Bd.  1, Bl. 35.

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sich um eine Konfrontation mit der Staatssicherheit handeln könnte.169 Tatsächlich holten ihn am nächsten Morgen zwei Mitarbeiter des MfS von seiner Wohnung in Amsdorf ab und brachten ihn in die Polizeischule nach Pretzsch in der Nähe von Wittenberg. Sofort nach seiner Ankunft wurde ihm zu verstehen gegeben, dass es sich bei seinem Fall um ein Verratsdelikt handeln würde. »Wenn wir hier fertig sind, gehen sie fünf bis sieben Jahre ins Gefängnis«, so ein anwesender Offizier zur Begrüßung.170 Dabei wurde Scharf nicht mitgeteilt, wie lange das Verhör dauern würde. »Ich hatte nur meine Aktentasche dabei«, erinnerte sich Scharf im Rückblick. Am Ende verbrachte er drei Tage und zwei Nächte in Gewahrsam des MfS. Waschzeug und Kleidung für die Nacht organisierten die Offiziere.171 Einen leitenden Kader ohne Vorankündigung aus seiner Arbeitsroutine herauszunehmen und an einem geheimen Ort über mehrere Tage festzuhalten, war auch für die DDR-Verhältnisse der frühen 1980er-Jahre ein ungewöhnlicher Vorgang. Sowohl die Strafprozessordnung als auch das Polizeigesetz gestatteten einen Freiheitsentzug eigentlich nur für maximal 24 Stunden.172 Nach Ablauf dieser Frist musste entweder die Freilassung erfolgen oder – wenn es sich um eine Maßnahme im Bereich der Strafverfolgung handelte – ein Haftrichter eingeschaltet werden. Gewiss verstießen die meisten geheimpolizeilichen Praktiken gegen geltendes Recht. Allerdings war das MfS angehalten, dabei eine gewisse Verhältnismäßigkeit zu wahren, immerhin kam ihm mit der Untersuchungs­ 169  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Hans Joachim Scharf am 24.11.2014. 170  Ebenda. 171  Ebenda. 172  Das DDR-Recht kannte zwei unterschiedliche Formen staatlichen Freiheitsentzugs im Vorfeld des Strafvollzugs: die Untersuchungshaft und die polizeiliche Festnahme. Eine Untersuchungshaft war bei einem Verdacht auf eine Straftat mit einer Straferwartung von über zwei Jahren ohne zusätzliche Anforderungen möglich. Nach § 126 StPO musste der Inhaftierte allerdings spätestens am Tag nach der Festnahme dem Haftrichter vorgeführt werden. Bei einer polizeilichen Festnahme wurde zwischen Maßnahmen der Strafverfolgung und Maßnahmen der Gefahrenabwehr unterschieden. Im Rahmen der Strafverfolgung konnten sogenannte »vorläufige Festnahmen« nach § 125 Abs. 2 StPO angeordnet werden. Sie betrafen Personen, die unmittelbar bei der Tat angetroffen wurden oder im Verdacht standen, zu fliehen. Nach § 126, Abs. 4 StPO musste der vorläufig Festgenommene »unverzüglich, spätestens am Tag nach seiner Ergreifung dem Kreisgericht« vorgeführt werden und ein Haftbefehl beantragt werden. Bei Ablehnung eines Haftbefehls bestand die Möglichkeit, die Ermittlungsunterlagen dem Rechtsmittelgericht vorzulegen und eine weitere Festnahme für 24 Stunden zu veranlassen. Im Rahmen der Gefahrenabwehr gab es die Möglichkeit eines »polizeilichen Gewahrsams« nach § 15 Volkspolizeigesetz. Diese polizeiliche Maßnahme konnte gegen Personen angewendet werden, die die »öffentliche Ordnung und Sicherheit« erheblich gefährdeten. Für den polizeilichen Gewahrsam war eine Maximaldauer von 24 Stunden festgeschrieben. Das MfS war ermächtigt, die Befugnisse sowohl des VP-Gesetzes, als auch der StPO anzuwenden. Vgl. Micha Christopher Pfarr: Die strafrechtliche Aufarbeitung der Misshandlungen von Gefangenen in den Haftanstalten der DDR. Berlin 2013, S. 84–86.

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abteilung IX auch die Rolle eines Rechtspflegeorgans zu.173 Eine Festsetzung von Scharf weit über 24 Stunden hinaus rechtfertigte die Objektdienststelle in diesem Fall juristisch in zweifacher Weise: Zum einen erklärte sie die Befragung zu einer »Prüfungshandlung« nach § 95 der Strafprozessordnung.174 Gemeint war damit die strafprozessuale Maßnahme einer »Zuführung zur Befragung«, mit der die Untersuchungsorgane im Rahmen von strafrechtlichen Ermittlungen die Möglichkeit besaßen, einen Straftatverdacht genauer zu überprüfen. Ein solcher Vorgang diente nicht selten der Beweiserhebung für die Einleitung eines offiziellen Ermittlungsverfahrens und galt daher als Vorstufe zu einer sogenannten »vorläufigen Festnahme« nach § 125 Abs. 2 StPO. Eine zeitliche Beschränkung einer solchen Zuführung war im einschlägigen Paragrafen 95 StPO nicht festgelegt. Allerdings ergibt sich aus der Logik der Regelung zu vorläufiger Festnahme und Verhaftung, dass das Festhalten einer Person über 24 Stunden hinaus ohne die Einschaltung von Staatsanwaltschaft und Haftrichter unzulässig war. Zum anderen begründeten die Offiziere die Überschreitung der 24-Stunden-Frist kurioserweise mit dem aus der Perspektive von Scharf nach wie vor bestehenden IM-Verhältnis zur Objektdienststelle. Tatsächlich wurde Scharf seit 1972 vom MfS als IM »Klaus Peter« geführt. Die Zusammenkunft in der Polizeischule wurde damit als ein verlängertes IM-Treffgespräch ausgelegt. »Da Scharf keinen Anlass hat anzunehmen, dass sein Vertragsverhältnis zum MfS als IM nicht mehr besteht, ist die Möglichkeit gegeben, Scharf über den Zeitraum von 24 Stunden hinaus zu befragen, ohne dabei gegen die bestehenden Rechtsvorschriften der StPO zu verstoßen«, so die Argumentation der Objektdienststelle bei der Vorbereitung der »operativen Maßnahme«.175 An der Befragung in Pretzsch beteiligten sich mehrere Offiziere aus Buna, die Scharf allesamt aus seinen bisherigen IM-Gesprächen kannte. Jeder von ihnen übernahm einen bestimmten Themenbereich, besprochen wurden unter anderem seine Zusammenarbeit mit Leuwer, angebliche Verschleierungen von Planrückständen und sein ehrenamtliches Engagement beim Amsdorfer Fußballver173  Die »operative Befragung« wurde hier allerdings nur von Vertretern der Linie XVIII ausgeführt. 174  Vgl. Pfarr: Strafrechtliche Aufarbeitung, S. 86. 175  OD Buna: Vorschlag zur Durchführung einer Befragung als wesentliche Maßnahme zum Abschluss des OV »Export« vom 4.1.1982; BStU, MfS, OD Buna, AOPK 1680/82, Bd. 1, Bl. 35. In anderen Fällen wurde mit dem Verweis auf die IM-Verpflichtung auch die Freiwilligkeit der Anwesenheit des Befragten hervorgehoben. So heißt es zum Beispiel bei einer »operativen Befragung« eines Abteilungsleiters aus dem Bereich Anwendungstechnik der Buna-Werke im Jahr 1986: »Zu Beginn der Befragung wird dem [Deckname] eröffnet, dass er zur Klärung schwerwiegender, durch ihn verursachter Handlungen Stellung nehmen soll. Dabei wird er auf die Freiwilligkeit seiner derzeitigen Anwesenheit beim MfS basierend auf seiner Verpflichtung zur inoffiziellen Zusammenarbeit hingewiesen.« Vgl. OD Buna: Befragungsplan vom 12.11.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 2991/88, Bl. 366. Das Fallbeispiel wird im Abschnitt 4.11 genauer ausgeführt.

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ein. »Dem MfS ist aus gesicherten Quellen bekannt, dass sie Leuwer gegenüber den Informationsbedarf des MfS erläutert haben. Nehmen sie Stellung zu diesen Dekonspirationen!«, heißt es zum Beispiel an einer Stelle. Oder: »Ihnen wurde nachgewiesen, dass sie unehrlich und entgegen der Rechtspflichten sich unter zum Teil konspirativen Bedingungen mit Leuwer getroffen haben. Worin bestanden ihre Ziele?« Und weiter: »Dem MfS ist aus gesicherten Quellen bekannt, dass sie betriebliche Unterlagen mit vertraulichem Charakter zu Hause aufbewahren. Nehmen sie hierzu Stellung!«176 Am Ende wurde Scharf aufgefordert, ein vorformuliertes »persönliches Geständnis« zu unterschreiben. »Ich habe alle Zugeständnisse gemacht, die sie mir vorgelegt haben«, so Scharf im Rückblick.177 In der vorgefertigten Selbstkritik hieß es unter anderem, dass er nicht den »Mut« gefunden habe, sein enges Verhältnis zu Leuwer zu beenden – auch, weil er auf die »materiellen Zuwendungen« von Plel nicht verzichten wollte. Ferner, dass ihm alle seine Pflichtverletzungen bewusst seien und diese auf seine »charakterlichen Schwächen« zurückgeführt werden müssten, nicht zuletzt auf sein »Geltungsbedürfnis«, seine »Selbstüberschätzung« und seinen »leichtfertigen Umgang mit Weisungen und Normativen«.178 Beendet wurde die Aussprache mit einer Verpflichtung Scharfs zum absoluten Stillschweigen. Auch gegenüber seiner Ehefrau sollte er den Vorgang nicht erwähnen. »Und ich habe auch aus reiner Angst bis um Ende der DDR keinem etwas gesagt«, erinnert sich Scharf im Nachhinein.179 Um seine Verschwiegenheit zu kontrollieren, wurde für den März 1982 noch ein kürzeres Nachfolgetreffen anberaumt.180 Mit dieser »Befragung« war der Vorgang aus Sicht der Objektdienststelle aber noch nicht erledigt. Das erklärte Ziel der Offiziere blieb auch weiterhin die Entlassung Scharfs von seinem Posten als Hauptabteilungsleiter.181 Dem Generaldirektor Helmut Pohle sollten dafür die Ergebnisse der Befragung in einem Protokoll »zur Entscheidungsfindung« übergeben werden.182 Nach einer längeren Aussprache des Falls in der Fachdirektion für Beschaffung und Absatz wurde Scharf schließlich am 20. Januar 1982 von seinem Posten als Hauptabteilungsleiter für Absatz entbunden. 176  OD Buna: Plan der Befragung vom 4.1.1982; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 1680/82, Bd. 1, Bl. 42. 177  Zeitzeugengespräch mit Hans Joachim Scharf am 24.11.2014. 178  OD Buna: Befragungsprotokoll vom 14.1.1982; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 1680/82, Bd. 1, Bl. 68. 179  Zeitzeugengespräch mit Hans Joachim Scharf am 24.11.2014. 180  Vgl. OD Buna: Bericht zur zweiten Befragung vom 12.3.1982; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 1680/82, Bd. 1, Bl. 86. 181  Vgl. OD Buna: Eröffnungsbericht vom 29.1.1980; ebenda, Bd. 1, Bl. 7. 182  OD Buna: Plan der Befragung vom 4.1.1982; ebenda, Bd. 1, Bl. 36.

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Parallel zu diesem Disziplinarverfahren im Kombinat leitete die SED-Industriekreisleitung des Buna-Kombinats ein Parteiverfahren gegen Scharf wegen »Klassenverrats und Korruption, Bestechung und Spekulation« ein.183 Die Kreisparteikontrollkommission hielt dem abgesetzten Funktionär dabei vor allem seine eigenmächtigen Einkäufe von Bürotechnik für seinen Arbeitsbereich vor. »Unter grober Verletzung der revolutionären Wachsamkeit und des Geheimnisschutzes«, so der Kommissionsvorsitzende, habe sich »Genosse Scharf mit einem Bürger aus dem kapitalistischen Ausland liiert«, um »nicht notwendige Büroausrüstung im Gesamtwert von min. 51 000 M« zu organisieren.184 Scharf verteidigte sich gegen diesen Vorwurf mit dem Hinweis, die Importe hätten allein der »Rationalisierung der Büroarbeit« gedient. Es handele sich um »Sofortbedarf zur Vermeidung größerer Ausfälle von Warenproduktion«. Vor allem der Versandbereich PVC, die Abteilung Auslandsdienstreisen und der Bereich Lösungsmittel hätten bei ihm immer wieder Artikel wie Rechner oder Verpackungsautomaten bestellt. »Da der gesamte Exportbereich durch diese kurzfristigen Lösungen […] profitierte, musste ich annehmen, dass das stillschweigende Dulden einer indirekten Aufforderung gleichkam«, so Scharf.185 Die Kontrollkommission wollte sich von dieser Argumentation aber nicht überzeugen lassen. Aus ihrer Sicht seien Scharf »die sozialistischen Moralprinzipien und sozialistische Lebensweise, die sich in der Vorbildrolle und Bescheidenheit eines Kommunisten« ausdrückten, stets fremd geblieben.186 Folgerichtig traf sie im Februar 1982 die Entscheidung, Scharf wegen »prinzipienlosen, liberalen und kapitulantenhaften Verhaltens« aus der SED auszuschließen.187 Zu diesem Urteil gingen allerdings einige Mitglieder der Abteilungsparteiorganisation auf Distanz. »Die Beschaffung von Ersatzteilen«, so ein Funktionär, »würde er nicht negativ sehen.« Vor allem die beschafften Computer hätten die Arbeit in der Abteilung deutlich erleichtert. »Der Parteiausschluss sei zu hart; die Genossen hätten auf Scharf stärker erzieherisch einwirken können.«188 Andere verteidigten die Reaktion von Partei und Kombinat. Christa Krüger, Gruppenlei183  SED-Kreisleitung Buna: Protokoll Nr. 2/82 über die Sitzung der Kreisparteikontrollkommission vom 20.1.1982; LHASA, MER, IV/E–4/05/167, Bl. 4. 184  SED-Kreisleitung Buna: Protokoll Nr. 2/82 über die Sitzung der Kreisparteikontrollkommission vom 20.1.1982; LHASA, MER, IV/E–4/05/167, Bl. 4. 185  SED-Kreisleitung Buna: Stellungnahme zum Problem der außerplanmäßigen Importe vom 4.2.1982; LHASA, MER, IV / E–4/05/171, n. p. 186  SED-Kreisleitung Buna: Protokoll Nr. 2/82 über die Sitzung der Kreisparteikontrollkommission vom 20.1.1982; LHASA, MER, IV/E–4/05/167, Bl. 4. 187  SED-Kreisleitung: Einschätzung zum unparteilichen Verhalten und Funktionsmissbrauch des Genossen Scharf, Hans Joachim in der Direktion Beschaffung und Absatz vom 18.3.1982; LHASA, MER, IV/E–4/05/171, n. p. 188  SED-Kreisleitung Buna: Aktenvermerk über die Aussprache am 4.2.1982 mit Genossen der APO im Zusammenhang mit dem Parteiverfahren gegen den Genossen Hans Joachim Scharf vom 11.2.1982; LHASA, MER, IV/E–4/05/171, n. p.

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ter Export für Organische Spezialprodukte, meinte zum Beispiel, Scharf sei »kein Dummer« gewesen. »Er hat mit doppelter Zunge geredet. Die Strafe kann nicht hart genug sein.«189 Und die Sekretärin der Grundorganisation, Birgit Leibrich, pflichtete ihr bei: »Wir müssen unbedingt noch wachsamer und konsequenter sein und mehr Wert auf Parteilichkeit legen.«190 Auf den Verlust seines Postens folgte also noch der Ausschluss aus der Partei. Konnte Scharf daraufhin noch eine Zukunft im Kombinat Buna haben? Als Scharf vom Generaldirektor Pohle sein Entlassungsschreiben vorgelesen bekam, ahnte er, dass Pohle das nicht freiwillig tat, sondern eine Vorgabe der Kreisleitung umzusetzen hatte. Tatsächlich wollte der Kombinatsleiter seinen bisherigen Chef-Außenhändler nicht vollständig verlieren, sondern an anderer Stelle im Werk halten. Im Februar 1982 verhalf er ihm daher zu einer Anstellung im Neuererwesen in der Betriebsdirektion Thermoplaste. »Dort bist du ruhig und alles Weitere entscheiden wir später«, so Pohle zu Scharf.191 Das für Neuentwicklungen zuständige Neuererwesen hatte allerdings nur wenig mit der Arbeit eines Außenhändlers gemein und konnte daher für Scharf nur eine Zwischenstation darstellen. Nach einer dreijährigen Wartezeit drängte es ihn wieder in den Außenhandel. Allerdings musste er akzeptieren, dass ein Posten im Exportbereich für ihn auf absehbare Zeit unerreichbar blieb. Mitte der 1980er-Jahre unternahm aber der neue Generaldirektor Hans-Joachim Kozyk den Versuch, ihn bei der SED-Kreisleitung als Kandidaten für den Bereich Beschaffung vorzuschlagen. Diese Initiative hatte tatsächlich Erfolg. Bevor er allerdings seine neue Funktion als stellvertretender Hauptabteilungsleiter Beschaffung antreten durfte, musste Scharf noch ein weiteres Mal beim MfS vorsprechen. »Die Partei hat entschieden, dass sie wieder eine Leitungsfunktion einnehmen dürfen«, eröffnete ihm dabei der Leiter der Objektdienststelle Hans Jürgen Schmidt, um ihm anschließend die Einhaltung der wichtigsten Sicherheitsregeln nahezulegen.192 Sein Fall aus dem Jahr 1982, so die unzweideutige Botschaft, sei den Offizieren noch gut in Erinnerung. Eine weitere Verfehlung dürfe er sich nicht leisten.193 Nach dieser Vorwarnung blieb Scharf eine weitere Begegnung mit der Geheimpolizei erspart. Ohne weitere Zwischenfälle sollte er in seinem neuen Arbeitsgebiet bis zur Privatisierung des Kombinats im Sommer 1990 verbleiben und über jede Art der Beschaffung, »von Ersatzteilen bis zu industriellen Großanlagen«, maßgeblich mitentscheiden.194 189  SED-Kreisleitung Buna: Aussprache der Kreisparteikontrollkommission mit Kollegen von Scharf vom 5.2.1982; LHASA, MER, IV/E–4/05/171, n. p. 190  Ebenda. 191  Zeitzeugengespräch mit Hans Joachim Scharf am 24.11.2014. 192  Ebenda. 193  Vgl. ebenda. 194  Ebenda.

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4.5  Konsolidierungsschritt III: Braunkohle fördern, Erdöl veredeln und Material einsparen – Über die »letzte Langfriststrategie« der SED In diesem Abschnitt soll das dritte Element der Konsolidierungspolitik behandelt werden, das ganz grundsätzlich in der Zielsetzung bestand, mit Rohstoffen effektiver umzugehen, sie also sparsamer zu verwenden, intensiver auszubeuten und höher zu veredeln. Auch hier spielen die Handelsfirmen der KoKo eine entscheidende Rolle. Wie dieser dritte Konsolidierungsschritt konkret aussah, mit welchen strukturellen Veränderungen er sich in den Chemiekombinaten im Bezirk Halle niederschlug und welche Folgen sich daraus für die Überwachungsarbeit des MfS ergaben, soll im Folgenden näher erläutert werden. Der neue Umgang mit Rohstoffen betraf in der DDR vor allem zwei Ressourcen: Braunkohle und Erdöl. Die Verwendung beider Energieträger stand dabei in einem engen Zusammenhang. Im Laufe der 1960er-Jahre hatte sich zunächst die Praxis etabliert, Rohöl einzukaufen, zu verarbeiten und als hochwertigen Grundstoff weiterzuverkaufen. Möglich wurde dieses gewinnbringende Geschäftsmodell durch den stabilen und günstigen Bezug von Erdöl aus der Sowjetunion und seinem lukrativen Absatz in Westeuropa auf der Basis stetig steigender Weltmarktpreise.195 Leuna und Schwedt, die Zentren der Erdölverarbeitung, waren durch diese vorteilhaften Handelsbedingungen zum Rückgrat der DDR-Exportindustrie aufgestiegen. Aufgrund der guten Rentabilität der Mineralölprodukte war der Regierung der DDR sehr daran gelegen, den begehrten Rohstoff Erdöl möglichst umfassend dem Außenhandel zur Verfügung zu stellen – ganz besonders ab Mitte der 1970er-Jahre, als die Sowjetunion begann, ihre Erdöllieferungen in die DDR schrittweise zu verteuern.196 Nach Vorstellungen der Wirtschaftsplaner sollte Erdöl daher nur noch in Ausnahmefällen als Energieträger, hauptsächlich aber in veredelter Form als Exportgut verwendet werden. Die Erzeugung von Wärme- und Elektroenergie, die bislang zu einem guten Teil auf Heizöl als Primärenergieträger basierte, sollte dagegen ab 1977 schrittweise auf einheimische Rohstoffe, hier vor allem auf Braunkohle, umgestellt werden. Mit dieser Strategie der sogenannten Heizölablöse versprach sich die Wirtschaftsverwaltung eine erweiterte Produktion »heller Stoffe« wie Dieselkraftstoffe, Benzin und Metha-

195  Durchschnittlicher Weltmarktpreis für eine Tonne Rohöl: 1970: 13$, 1975: 77$, 1980: 144$, 1982: 272$; vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 140. Judt verweist bei diesen Zahlen auf Karlsch; Stokes: Faktor Öl. 196  Vor allem durch den veränderten Preisbildungsmechanismus innerhalb des RGW.

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nol – Erzeugnisse, die trotz höherer Bezugskosten gegenüber der Sowjetunion weiterhin erfolgreich auf westlichen Märkten abgesetzt werden konnten.197 Die Bemühungen, die Ressource Öl stärker stofflich und weniger energetisch zu nutzen und parallel dazu die Braunkohlenförderung auszubauen, setzten schrittweise als Folge der beginnenden Verschuldung in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre ein. Ein kohärentes wirtschaftspolitisches Programm zeichnete sich zunächst aber noch nicht ab. Dies änderte sich erst mit der plötzlichen Drosselung der subventionierten Erdöllieferungen durch die Sowjetunion im Jahr 1981. Zusätzlich zu den strukturellen Veränderungen beim geplanten und nicht-geplanten Außenhandel wurden nun die beiden eng miteinander gekoppelten Maßnahmen der Höherveredelung und der Energieträgerumstellung zu einer konzertierten Aktion zusammengeführt und ausgeweitet.198 Bei den Rohstoffen Erdöl und Braunkohle ließ sich diese »letzte Langfriststrategie der SED«199 an der Entwicklung verschiedener Verbrauchs-, Produktions- und Exportzahlen ablesen: Von 1981 bis 1985 gelang es der Wirtschaftsverwaltung, den inländischen Verbrauch von Heizöl um 6 Millionen Tonnen abzusenken, während die Förderung von Braunkohle stark ausgeweitet wurde. Ende der 1980er-Jahre wurden gut zwei Drittel der Wärme- und Energieversorgung der DDR über Fernwärme und Verstromung durch Braunkohlekraftwerke abgedeckt.200 Mit der Freisetzung von Heizöl beschleunigte sich der Abbau von Braunkohle: Lag das Fördervolumen im Jahr 1980 noch bei etwa 270 Millionen Tonnen, expandierte es bis ins Jahr 1985 auf über 312 Millionen Tonnen.201 Damit entwickelte sich die DDR bis Mitte der 1980er-Jahre zum weltweit größten Förderer und Verbraucher von Braunkohle.202 Dass das dadurch freigewor197  Zur Strategie der »Heizölablöse« siehe unter anderem Christian Felix Matthes: Stromwirtschaft und deutsche Einheit. Eine Fallstudie zur Transformation der Elektrizitätswirtschaft in Ost-Deutschland. Berlin 2000, S. 53; Schröter: Ölkrisen und Reaktionen; Die Energiepolitik der DDR. Mängelverwaltung zwischen Kernkraft und Braunkohle/Hg. Friedrich Ebert Stiftung (FES). Bonn 1988, S. 12; Hans-Hermann Hertle: »Sie müssen aus den Wolken heruntersteigen«. Öl und Braunkohle als Segen und Fluch. In: Ders., Stefan Wolle (Hg.): Damals in der DDR. Der Alltag im Arbeiter- und Bauernstaat. München 2006, S. 252; Hertle: Diskussion ökonomischer Krisen, S. 258. 198  Vgl. Schröter: Ölkrisen und Reaktionen, S. 122. 199 Ebenda. 200  Laut Küchler verringerte sich der Heizölverbrauch von 1980 bis 1989 um 80 %. Vgl. Küchler: Wirtschaft der DDR, S. 98. 201  Vgl. Energiepolitik der DDR, S.  10; Matthes: Stromwirtschaft, S.  55; Jörg Roesler: Umweltprobleme und Umweltpolitik in der DDR, Landeszentrale für Politische Bildung Thüringen. Erfurt 2006, S. 45. 202  Weitere Ausführungen zur Braunkohlenwirtschaft in der DDR finden sich bei Steiner: Von Plan zu Plan, S. 226; Energiepolitik der DDR, S. 10; Maria Nooke: Für Umweltverantwortung und Demokratisierung. Die Forster Oppositionsgruppe in der Auseinandersetzung mit Staat und Kirche. Berlin 2008, S. 87; Hansjörg Buck: Umweltpolitik und Umweltbelastung. Das Ausmaß der Umweltbelastung und Umweltzerstörung beim Untergang der DDR 1989/90.

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dene Heizöl unmittelbar in die chemische Veredelung floss und anschließend in raffinierter Form dem Außenhandel zur Verfügung gestellt wurde, belegen die Exportzahlen der Erdölbranche: Mit einem Anstieg von 12 auf 27 Millionen Tonnen konnten sich die Ausfuhren hier zwischen 1981 und 1985 fast verdreifachen.203 Ein Viertel aller Güter des innerdeutschen Handels gingen zwischen 1982 und 1985 auf die Erdölverarbeitung zurück, sie machten im Jahr 1984 23 Prozent des Gesamtexportwertes der DDR aus.204 Die Kombination aus Einsparung von Heizöl, Erweiterung der Raffination und Ausbau der Braunkohlenförderung erwies sich für die Belebung des Exports also als äußerst erfolgreich. Entscheidend ergänzt wurden diese drei Schritte durch das Bestreben der Wirtschaftsverwaltung, Ressourcen nicht nur umzulenken und neu zu verwenden, sondern auch effizienter auszubeuten und sparsamer einzusetzen. Die Etablierung einer »sozialistischen Materialökonomie«, die seit dem VIII. Parteitag der SED im Jahr 1971 auch unter dem Stichwort »Intensivierung« propagiert wurde, kann als wichtiger Zusatz zur »Heizölablöse« und »Höherveredelung« verstanden werden. Auf allen Ebenen der Wirtschaftsverwaltung war dieses Spar- und Effektivierungsprogramm mit ganz unterschiedlichen Maßnahmen verbunden: Mit der Wiederverwendung von Industrieabfällen sollte zum Beispiel der Hang vieler Betriebe zur Vorratshaltung gemindert und Materialien ohne größere Verluste verarbeitet werden.205 Eine Verteuerung der Rohstoffe über eine Industriepreisreform im Jahr 1976 sollte darüber hinaus weitere Sparanstrengungen auslösen.206 Ebenso wurde eine Arbeitsgruppe für »Rationelle Energieanwendung« beim Ministerrat damit beauftragt, für jeden Betrieb Grenzwerte des Energieverbrauchs festzulegen und deren Einhaltung zu kontrollieren.207 Und schließIn: Eberhard Kuhrt (Hg.): Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den 80er Jahren. Opladen 1996, S. 237. 203  Vgl. Gerhardt: Ökonomie ist Mittel zum Zweck, S. 4. 204  Vgl. Haendcke-Hoppe: Wirtschaftsbeziehungen, S. 129. 205  Über die Ziele und Methoden der Wiederverwendung von Rohstoffen und Materialien in DDR-Betrieben und Privathaushalten siehe unter anderem Gößmann: Kombinate, S.  80; Wolfgang Zimmermann: Die industrielle Arbeitswelt der DDR unter dem Primat der sozialistischen Ideologie. Münster 2002, S. 140; Jakob Calice: Sekundärrohstoffe – eine Quelle, die nie versiegt. Konzeption und Argumentation des Abfallverwertungssystems in der DDR aus umwelthistorischer Perspektive, Diplomarbeit, Universität Klagenfurt 2005; Sandra Hollerbuhl: SERO: Mobilisierung der Bevölkerung für Recycling. In: Stefan Bollinger, Fritz Vilmar (Hg.): Die DDR war anders: kritische Würdigung ihrer wichtigen sozialkulturellen Einrichtungen. Berlin 2002, S. 159–183. 206  Eine Weitergabe der Verteuerung an die Verbraucher war dabei untersagt. War ein Betrieb nicht in der Lage, die gestiegenen Kosten durch Einsparungen auszugleichen, gewährte ihm die Wirtschaftsverwaltung in der Regel eine finanzielle Unterstützung, zum Beispiel über eine Absenkung der Gewinnabführung. Siehe Cornelsen: Wirtschaft in der Honecker-Ära, S. 370. 207  Vgl. Matthes: Stromwirtschaft, S. 53; Energiepolitik der DDR, S. 53.

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lich fand die Verminderung der Energieintensität der Betriebe mit neuen Material- und Energieverbrauchsnormen ab 1978 auch Eingang in die Jahrespläne. Die Plankontrolle für diesen Bereich wurde ab 1983 dem Amt für Standardisierung, Messwesen und Warenprüfung übertragen.208 Auch wenn viele dieser Maßnahmen am Ende durch planwirtschaftliche Fehlanreize und überalterte Anlagen wieder zunichte gemacht wurden, spielte die »sozialistische Materialökonomie« dennoch bei vielen Brigadeinitiativen und Neuererwettbewerben eine wichtige Rolle. Sie stellte eine weitere Komponente der Konsolidierungsstrategie neben den Veränderungen in der Außenhandelsorganisation und dem Ausbau der Höherveredelung auf der Grundlage der Energieträgerumstellung von Heizöl zu Braunkohle dar.209 4.5.1 Carbochemie und Höherveredelung: Die Umsetzung der Entschuldungspolitik in den Chemiekombinaten am Beispiel der Leuna-Werke Im Zentrum sowohl der Materialeinsparung als auch der Energieträgerumstellung mussten zwingenderweise die Betriebe der Chemie- und Energiebranche stehen. Mit massiven Investitionen in den Braunkohleabbau und in die Erdölverarbeitung sowie einem veränderten Produktionsprofil und neuen Vorgaben zur Rohstoffverwendung schlug sich die wirtschaftspolitische Großstrategie der SED hier am markantesten nieder. Die Erwartungen und Schwierigkeiten, die damit verbunden waren, sollen nachfolgend am Beispiel der Leuna-Werke veranschaulicht werden. Erörtert wird dabei auch der Beitrag der KoKo-Firma Intrac und im weiteren Verlauf die Auswirkungen der kombinatsinternen Veränderungen auf die Überwachungsarbeit des MfS.  Die Kombinatsführung der Leuna-Werke unter Erich Müller legte zunächst einmal großen Wert auf eine effektivere Verwendung der Wärme- und Elektroenergie. Das auf allen Parteitagen seit 1971 proklamierte Ziel der »Intensivierung« wurde hier mit einem besonders ambitionierten Energiesparprogramm in Angriff genommen.210 Ausschlaggebend dafür war, dass die 208  Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 110; vgl. ebenso Staatsbank der DDR, IBF Halle, Sektor Leuna: Stellungnahme zur Planerfüllung 1987 und zum Plananlauf 1988 des VEB Leuna-Werke vom 17.3.1988; LHASA, MER, I525, Nr. 18814, n. p. 209  Laut Küchler beruhten die Exportsteigerungen bei Erdölprodukten zu 73 % auf der »Heizölablöse« und immerhin zu 12 % auf Einsparungen beim Dieselkraftstoffverbrauch. Letzterer ging vor allem auf die großflächige Verlagerung des Warentransports auf den Eisenbahnverkehr zurück. Siehe Küchler: Wirtschaft der DDR, S. 111. Über den Ausbau des Güterverkehrs der Deutschen Reichsbahn im Rahmen der »Heizölablöse« siehe auch Kaschka: Auf dem falschen Gleis. 210  Der Journalist Hans Herbert Götz spricht von einem äußerst ehrgeizigen Programm. Siehe Hans Herbert Götz: Der Generaldirektor und sein Werk. In: FAZ v. 5.3.1983, Nr. 54;

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Leuna-Werke über 12 Prozent der DDR-weiten Energiemenge für Wärme und Strom verbrauchten und die Kosten dafür gut die Hälfte des Kombinatshaushaltes in Anspruch nahmen.211 Mit über 2 000 Einzelmaßnahmen sollte dieser Anteil ab 1979 schrittweise abgesenkt werden. Dazu zählten unter anderem die Festlegung von Kontingenten für Heizöl, Erdgas, Vergaser- und Dieselkraftstoffe, die Einsparung von Prozessenergie durch den Einsatz hochaktiver Katalysatoren, die Einführung monatlicher »energiewirtschaftlicher Analysen« für das Gesamtwerk, die Erarbeitung von »Intensivierungskonzeptionen« für alle Kraftwerke sowie die konsequente Förderung der Sekundärenergienutzung.212 Zwischen 1981 und 1986 konnte der Energieverbrauch durch all diese Maßnahmen immerhin um gut 8 Prozent abgesenkt werden.213 Neben diesem Energieeinsparprogramm setzten die Leuna-Werke mit der Ausweitung der »Heizölablöse« ab 1981 auch auf die Weiterführung und den Ausbau der stofflichen Verarbeitung von Braunkohle – also auf ihre Verschwelung, Verkokung und Vergasung. Die ursprünglich anvisierte Umstellung der organischen Chemie von Braunkohle auf Erdöl wurde damit gestoppt, die eigentlich als veraltet geltende Carbochemie hingegen wiederbelebt.214 Besonders deutlich zeigte sich das im Weiterbetrieb der sogenannten Winkleranlagen, in denen Synthesegas für die Gewinnung von Methanol und Ammoniak auf der Basis von Braunkohlenschwelkoks erzeugt wurde. Im Jahr 1983 wurden 44 Prozent der im Werk produzierten Gasmenge aus Braunkohle gewonnen und ein Drittel der verarbeiteten 6,5 Millionen Tonnen Braunkohle für die Produktion von chemischen Grundstoffen – und nicht für die Gewinnung von Elektro- und Wärmeenergie – eingesetzt.215 Die markantesten Veränderungen in den Leuna-Werken löste aber ein umfassendes Investitionsprogramm für den Ausbau der Höherveredelung von Erdöl LHASA, MER, I 525, Nr. 17238, n. p. 211  Vgl. Vortrag Heinz Böttger, Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED, Februar 1983; LHASA, MER, I 525, Nr. 17238, n. p. 212  Vgl. Vortrag Felix Eckert, Betriebsdirektor Energiewirtschaft: Rationelle Energieanwendung vom 22.2.1983; LHASA, MER, I 525, Nr. 17238, n. p. 213 Vgl. Redemanuskript des Generaldirektors Erich Müller vom 24.6.1987; LHASA, MER, I 525, Nr. 19102, n. p. 214  Das Revival der Carbochemie ließ sich auch an anderen Stellen im Chemiedreieck beobachten. So blieb in Schkopau und Piesteritz die Karbidproduktion erhalten und auch die eigentlich für die Stilllegung vorgesehene Braunkohlenverschwelung in Espenhain und Böhlen wurde weitergeführt. Siehe dazu auch Hertle: Diskussion ökonomischer Krisen, S. 326 und Ders.: Öl und Braunkohle, S. 252. 215  Vgl. Vortrag Reinhard Nitzsche, Fachdirektor für Produktion und stellvertretender Generaldirektor, anlässlich des Besuchs von Gerhard Schürer in Leuna vom 24.2.1983; LHASA, MER, I 525, Nr. 17238, n. p. Über die Weiterführung der Carbochemie siehe ebenso Generaldirektor Erich Müller: Über die Möglichkeiten und Ergebnisse der Intensivierung großtechnischer Prozesse der Erdölverarbeitung und Carbochemie in Leuna, o. D.; LHASA, MER, I 525, Nr. 17238, n. p.

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aus. Im Mittelpunkt stand dabei der Versuch, das im Rahmen der Energieträgerumstellung freigesetzte schwere Heizöl noch umfassender zu »hellen« Stoffen wie Super- und Normalbenzin, Dieselkraftstoff, Äthylen, Propylen oder Methanol zu verarbeiten. Im selben Zuge war die Kombinatsführung bestrebt, auch die anfallenden Erdölrückstände für eine weitere stoffliche Verarbeitung auszunutzen.216 Am Beginn einer längeren Investitionsreihe standen im Jahr 1978 sowohl der Einkauf einer Vakuumdestillation als auch der eines Reformers – zwei Anlagen, die beide der Erzeugung von Diesel- und Vergaserkraftstoffen dienten.217 Ein Jahr später folgte im Rahmen eines Partnerschaftsprojekts zwischen den Leuna-Werken und dem weißrussischen Chemiezentrum Nowopolozk die sogenannte Polymir-60-Anlage zur Herstellung von Hochdruckpolyethylen, einem Kunststoff, der sich besonders für die Produktion von Folien und Verpackungsmaterial eignete.218 Deutlich ausgeweitet wurden die Investitionen in die Höherveredelung und Intensivierung dann mit der Forcierung der Heizölablöse ab 1981. Mit dem Erwerb einer sogenannten Visbreakeranlage, um aus Erdölresten Synthesegas zu gewinnen, und einer Methanolanlage, um das gewonnene Synthesegas in Methanol, hochwertige Kraftstoffe, Schwermetalle und Schwefel umzuwandeln, realisierten die Leuna-Werke zwischen 1982 und 1986 eines der größten Erweiterungsvorhaben der DDR-Industrie mit einem Investitionsvolumen von insgesamt 2,3 Milliarden Mark.219 Dieser sogenannte Komplex zur vollständigen Nutzung von Erdölrückständen (Komplexvorhaben) wurde von einer gesonderten Fachdirektion organisiert.220 216  Vgl. ebenda. 217  Vgl. OD Leuna: IM-Bericht über Erdölverarbeitung in Leuna vom 23.3.1976; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 151/ 74, Teil II, Bd.1, Bl. 218; ebenso OD Leuna: Bemerkungen zum Reformer III, IM-Bericht vom 31.8.1977; ebenda, Teil II, Bd. 2, Bl. 11. 218  Vgl. Redemanuskript des Generaldirektors Erich Müller vom 28.4.1987; LHASA, MER, I 525, Nr.  18105, Bl.  237; weitere Hinweise zu diesem Projekt siehe ebenfalls Hans Herbert Götz: Der Generaldirektor und sein Werk. In: FAZ v. 5.3.1983, Nr. 54; LHASA, MER, I 525, Nr. 17238, n. p. 219  Vgl. Fachdirektion AR (Komplexvorhaben): Bericht zum Stand der Realisierung des Investitionsvorhabens »Komplex zur vollständigen stofflichen Verwertung der Erdölrückstände Leuna« vom 12.1.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 405, Bl. 132; ebenso Fachdirektion AR: Fortschrittsbericht zur Realisierung des Investitionsvorhabens »Komplex zur vollständigen stofflichen Verwertung der Erdölrückstände in Leuna« vom 14.12.1982; LHASA, MER; I 525, Nr. 17081, n. p.; Stellvertretender Generaldirektor, Abteilung für Kombinatsentwicklung: Veredelungskonzeption für Leuna 1981–85 vom 7.9.1982; LHASA, MER, I 525, Nr. 24625, n. p. 220  Vgl. Betriebsdirektor Synthesegas: Wissenschaftlich-technische Hauptentwicklungsrichtung und proportionale Leistungsentwicklung des Kombinates 1986–1990, 1985; LHASA, MER, I 525, Nr. 24586, Bl. 1–118; siehe ebenfalls »Schema zur Erfassung der Leitungsstruktur der Kombinate«, Anhang eines Schreibens von Prof. Koziolek, Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED, an Generaldirektor Müller vom 13.12.1982; LHASA, MER, I 525, Nr. 17080, n. p.

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Parallel dazu begannen ab 1983 die Vorbereitungen für den Aufbau einer neuen Pyrolyse, um aus Erdölfraktionen – und nicht wie bislang aus Rohbenzin – den chemischen Grundstoff Ethylen für die Herstellung von Kunststoffen und Reinigungsmitteln zu gewinnen. Mit diesem letzten Großvorhaben der Höherveredelung wurde es möglich, Rohbenzin einzusparen und dieses für die Produktion von Vergaserkraftstoffen in den Reformeranlagen zu verwenden.221 All diese Einzelprojekte zusammengenommen führten zu einer deutlichen Erweiterung der Erdölverarbeitung in Leuna. Die zielgerichtete Konzentration der Investitionen auf die Raffination von Rohöl ging dabei vor allem auf die Planungen des Betriebsdirektors für Erdöl/Olefine, Wolfgang Nette, zurück. Mit Unterstützung des Generaldirektors Erich Müller rückte Nette vom ursprünglichen Ansatz für die Leuna-Werke ab, eine breit angelegte Produktpalette aus verschiedenen Kunst-, Roh- und Grundstoffen aufzubauen.222 Im Mittelpunkt standen bei ihm dagegen die absatzfähigen »hellen« Produkte wie Benzin, Methanol oder Dieselkraftstoffe. Andere traditionelle Erzeugnisse des Kombinats wie Caprolactam, Polyäthylen oder Epoxidharze wurden in seiner Amtszeit deutlich weniger gefördert.223 Dass Nette sich mit seiner Linie vollständig durchsetzen konnte, veranschaulicht die oben skizzierte Entwicklung Leunas bis Mitte der 1980er-Jahre. Grundlage seines Erfolgs waren vor allem seine guten Beziehungen innerhalb der SED und seine starke Position innerhalb des Werkes: Der Betriebsdirektor pflegte ein enges Vertrauensverhältnis zu Müller, saß in einer Arbeitsgruppe des Zentralkomitees der SED zur Planung größerer Investitionsprojekte und leitete mit der Betriebsdirektion Erdöl/Olefine den ökonomisch bedeutsamsten Produktionsbereich des Kombinats, in dem Ende der 1980er-Jahre gut 40 Prozent aller Leunawaren hergestellt wurden.224 Nette verfügte also nicht nur über wertvolle Expertise auf dem Gebiet der Erdölverarbeitung, sondern auch über die notwendigen Kontakte, um diese in wichtige Entscheidungsrunden an der Spitze von Kombinat und Partei einfließen zu lassen. Die Sonderstellung des Betriebsdirektors wurde auch von der Objektdienststelle Leuna hervorgehoben, indem sie darauf aufmerksam machte, dass führende Funktionäre der Leuna-Werke davor zurückschreckten, Bedenken gegen seine strategische Neuausrichtung anzumelden. Innerhalb seiner eigenen Betriebsdirektion, so ein Bericht

221 Generaldirektor Erich Müller: Komplexer Vorschlag zum K-Vorhaben »Freisetzung von Rohbenzin durch schwere Erdölfraktionen im Olefinkomplex Leuna« vom 4.4.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 412, Bl. 257. 222  Vgl. OD Leuna: Sachbericht zu Wolfgang Nette vom 27.2.1976; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, R 73/97, Bd. 4, Bl. 56. 223  Über Nettes Strategie siehe OD Leuna: Sachstandsbericht zur OPK »Öl« vom 2.2.1977; ebenda, Bd. 4, Bl. 92. 224  Vgl. OD Leuna: Zwischenbericht zur OPK »Öl« vom 13.7.1976; ebenda, Bd. 4, Bl. 68.

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des MfS aus dem Jahr 1976, sei sogar von einer »Nette-Diktatur« die Rede.225 Ob diese Beobachtungen der Realität entsprachen und Nette tatsächlich von einer autoritären Aura umgeben war, kann auf der Grundlage des vorliegenden Quellenmaterials nicht geklärt werden. Zweifellos zeigt seine Rolle aber, dass machtbewusste und durchsetzungsstarke Funktionäre an der Basis der Wirtschaftsverwaltung die Entwicklung der DDR-Industrie durchaus mit beeinflussen konnten. Innerhalb der auf wenige Großbetriebe reduzierten Wirtschaftsorganisation war es solchen Spitzenfunktionären möglich, eine nicht zu unterschätzende gestalterische Rolle einzunehmen. Die Weiterentwicklung der Kombinate allein auf die übergeordneten Vorgaben der SED-Führung oder des Ministerrates zurückzuführen, entspräche daher einer zu vereinfachten Darstellung des DDR-Wirtschaftssystems mit den Produktionsbetrieben an der Basis als bloße Befehlsempfänger.226 Bei seinem Projekt, Leuna zum führenden Raffineriestandort der DDR auszubauen, setzte Nette, allen Aufrufen zur Importablöse zum Trotz, ausschließlich auf den Einkauf schlüsselfertiger Westanlagen.227 Dafür griff er auf seine guten Kontakte zur KoKo-Handelsgesellschaft Intrac zurück, ohne deren Unterstützung der Aus- und Umbau Leunas im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre kaum vorstellbar gewesen wäre. Die Finanzkraft und die Handelsverbindungen der Intrac boten Nette die Möglichkeit, Investitionsgüter nach dem Prinzip der sogenannten Kompensation einzukaufen. Im Rahmen von »Industrievereinbarungen« zwischen Intrac, den Leuna-Werken und den jeweils zuständigen Außenhandelsbetrieben organisierte die KoKo-Firma hierbei Anlagen und Rohstoffe, die anschließend über den Export der damit produzierten Güter abgezahlt werden sollten.228 Zwischen 1981 und 1986 verpflichteten sich die Leuna-Werke zum Beispiel für die Gegenfinanzierung des neuen Reformers aus dem Jahr 1978, eine halbe Million Tonnen Kraftstoffe an die Firma Intrac zu liefern, die damit wiederum die Versorgung Westberlins mit Benzin und Diesel gewährleisten sollte.229

225  Vgl. OD Leuna: Konzeption zur Bearbeitung der OPK »Öl« vom 23.2.1976; ebenda, Bd. 1, Bl. 29. 226  Über die unternehmerischen Handlungsspielräume der Betriebe siehe Lepsius: Rationalitätskriterien, S. 357 sowie Schulz: Simson, S. 302. 227  Vgl. OD Leuna: Abschrift einer IM-Tonbandaufzeichnung vom 14.1.1977; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, R 73/97, Bd. 5, Bl. 111. 228  Vgl. Kruse: Deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen, S. 119 u. 228. 229 Zur Gegenfinanzierung des Reformers siehe OD Leuna: Bericht über das Projekt »Freisetzung von Rohbenzin durch schwere Erdölfraktionen im Olefinkomplex Leuna« vom 5.12.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, R 73/97, Bd. 5, Bl. 208–280. Laut Matthias Judt machten die Geschäfte zwischen Leuna, dem AHB, Intrac und dem Westberliner Abnehmer Rex Mitte der 1970er-Jahre gut 12 % des innerdeutschen Handels aus. Vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 66 u. 183.

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Solche Intrac-Geschäfte auf Kompensationsbasis waren bei allen Chemiekombinaten sehr angesehen. Denn Intrac lieferte nicht nur teure Anlagen und wertvolle Rohstoffe schnell und unkompliziert. Sie nahm auch – im Gegensatz zu den gewöhnlichen Außenhandelsbetrieben – Exportgüter gegen Devisen ab.230 Damit war es den Kombinaten möglich, über KoKo-Vereinbarungen einen eigenen Valutafonds einzurichten und auf dieser Basis eigenständige Beschaffungen zu realisieren.231 »Die Geschäfte über den AHB Intrac bedeuten«, so Horst Ihloff, Leiter der Abteilung Kompensationsgeschäfte in den Buna-Werken, gegenüber einem Offizier der Objektdienststelle des MfS, »dass unser Kombinat zusätzlich, also nicht geplante, Produktexporte realisieren kann und über den erwirtschafteten Valutaerlös eigenständige NSW-Importe an Technik- oder Rohstoffimporten vornehmen kann.«232 Darüber hinaus zeigte sich die Intrac-Gesellschaft auch in der Lage, mithilfe spezieller Handelsbeziehungen solche Produkte im Ausland abzusetzen, für die ein regulärer AHB meist keine Abnehmer mehr fand. Gegenüber dem Plel-Geschäftsführer Leuwer meinte der Absatzchef der Buna-Werke Scharf einmal: »Mensch, ich brauch dir doch nicht erzählen, warum wir die Intrac-Gesellschaft haben. Wir machen Intrac-Geschäfte, weil wir Dinge verkaufen wollen, die der AHB nicht verkaufen kann.«233 Diese vorteilhaften Bedingungen führten dazu, dass sich alle drei hier untersuchten Chemiekombinate im Bezirk Halle für eine Kooperation mit der Intrac-Handelsgesellschaft stark machten – ein Wettbewerb, bei dem Leuna im Vergleich zu Buna und Bitterfeld in der Regel die besseren Karten hatte. Zwei Gründe waren hierfür ausschlaggebend: Zum einen konnte sich der Leunaer Generaldirektor Müller über seinen Sitz im ZK direkt mit den Vertretern der KoKo abstimmen. Zum anderen verfügte das Werk als erdölverarbeitender Standort über attraktive Erzeugnisse, die relativ problemlos auf westlichen Märkten abgesetzt werden konnten. Nettes Fokussierung auf die Höherveredelung passte dabei exakt zur übergeordneten wirtschaftspolitischen Großstrategie der Entschuldung seit Anfang der 1980er-Jahre. Um die Beziehungen zur Intrac 230  Die Plan-AHB nahmen Waren nicht gegen Valuta, sondern nur gegen reguläre Industrieabnahmepreise in DDR-Mark ab. 231  Vgl. Kruse: Deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen, S. 228. Entsprechend dem staatlichen Valutamonopol durften die plangebundenen Betriebe und Kombinate rein formal keine Valuta besitzen. Das Privileg, eigenständig und unbegrenzt über Devisen verfügen zu können, besaßen lediglich die Betriebe der »Kommerziellen Koordinierung« mit ihrem Sonderstatus als »Devisenausländer«. Da allerdings einigen Betrieben aufgrund von »Industrievereinbarungen« oder »Valutaanrechtsgeschäften« mit KoKo-Betrieben trotzdem Devisen zustanden, richtete der KoKo-Bereich für sie sogenannte Valutaanrechtskonten ein. Vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 211; ebenso Krewer: Geschäfte, S. 170. 232 OD Buna: IM-Treff bericht vom 27.10.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 279/72, Bd. 8, Bl. 217. 233  Die Aussage Scharfs ist in einem IM-Bericht für die OD Buna überliefert. O. D.; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 1680/82, Bl. 423.

Konsolidierungsschritt III: Über die »letzte Langfriststrategie« der SED

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im Rahmen des oben genannten Visbreaker- und Methanolprojekts noch besser koordinieren zu können, richtete Leuna im Mai 1982 sogar einen eigenen »Erdölstab« als Pendant zum KoKo-Bereich im Außenhandelsministerium ein. Dieses Gremium repräsentierte jenen Kreis privilegierter Leuna-Funktionäre, der in die wichtigsten Kompensationsvorhaben des Kombinats eingeweiht war. Dazu zählten neben Müller und Nette auch Dieter Krug, Direktor für Beschaffung und Absatz, Lutz Belitz, Abteilungsleiter Absatz, Lutz Kalbitz, Leiter eines Sektors für Sondergeschäfte mit Erdölprodukten sowie Runald Vogel, Direktor für Ökonomie der Leuna-Werke.234 Das Buna-Kombinat hingegen hatte bei diesem Kampf um lukrative Intrac-Vereinbarungen meist das Nachsehen. Das lag zum einen an den Generaldirektoren der 1970er- und 1980er-Jahre, Helmut Pohle, Hans-Joachim Kozyk und Dietrich Lisiecki, die es nicht schafften, exklusive Kontakte zur SED-Führung aufzubauen. »Wir hatten keinen in Berlin«, resümierte Scharf im Rückblick.235 Zum anderen waren aber auch die Produkte der Buna-Werke weit weniger exportfähig als die der Leuna-Werke und zudem umfassend für den Binnenmarkt verplant. Vor allem Erzeugnisse wie Kunststoffe, Kautschuk oder Lösungsmittel wurden permanent in den Betrieben der DDR nachgefragt. Die Spielräume für zusätzliche Exportgeschäfte blieben dadurch stark begrenzt. Und schließlich war die Einfädelung von Intrac-Geschäften im Buna-Kombinat auch bei Weitem nicht so gut organisiert wie in Leuna. Zwar gab es hier ab 1984 eine eigene Abteilung für Kompensationsvorhaben.236 Trotzdem leisteten sich der Betriebsdirektor für Investition, Karl Heinz Saalbach, und der Direktor für Beschaffung und Absatz, Klaus Zimmermann, bis Ende der 1980er-Jahre einen Kompetenzstreit über die Ansiedlung des Intrac-Geschäfts, der die Handelsaktivitäten des Kombinats in diesem Bereich spürbar lähmte.237

234  Vgl. OD Leuna: Information zum Problem Erdölstab in Leuna vom 25.5.1982; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 350/87, Bd. 5, Bl. 161; vgl. Generaldirektor Erich Müller: Richtlinien für die Arbeit des Stabes zur Sicherung einer optimalen Fahrweise der Erdölverarbeitung in Leuna vom 25.5.1982; LHASA, MER, I 525, Nr. 17080, n. p. 235  Zeitzeugengespräch mit Hans Joachim Scharf am 24.11.2014. 236  Vgl. Horst Ihloff: Handschriftliche Notizen über die Aufgaben und den Aufbau der Abteilung Kompensationsgeschäfte, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr.  VIII 279/72, Bd. 3, Bl. 364. 237  Vgl. OD Buna: Treff bericht IM »Paul Strube« vom 27.10.1988; ebenda, Teil II, Bd. 8, Bl. 217.

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4.6  Mehr als nur Entschuldung: Die Methode der Kompensation als Versuch einer umfassenden industriellen Erneuerung Das Prinzip Anlagen gegen Fertigwaren war also beliebt, das demonstrierte der Wettbewerb zwischen den Buna- und Leuna-Werken um den besten Intrac-Deal. Zunächst waren solche Tauschvorgänge nur innerhalb der DDR-Industrie üblich, hier vor allem zwischen den KoKo-Handelsgesellschaften und den produzierenden Betrieben und Kombinaten. Ab 1975 jedoch, als sich die Westverschuldung immer deutlicher abzuzeichnen begann, wurde dieses Geschäftsmodell auch zunehmend auf die Zusammenarbeit mit westlichen Unternehmen übertragen.238 Die DDR zeigte dabei ein großes Interesse, die aus dem Westen importierten Investitionsgüter möglichst vollständig mit Kompensationsware abzubezahlen. Auch wenn Produkte aus der DDR auf westlichen Märkten nicht immer den besten Ruf genossen, fanden sich westliche Anlagelieferanten in der Regel bereit, etwa 30  Prozent des Anlagenwerts mit Gütern gegenfinanzieren zu lassen.239 Diese mussten nicht ausschließlich durch die gelieferten Maschinen produziert werden, sondern konnten auch aus ganz anderen Branchen stammen.240 Die beiden wichtigsten Partner der Leuna-Werke, die sich im Rahmen des Komplexvorhabens Mitte der 1980er-Jahre auf dieses Verfahren einließen, waren zum Beispiel die Lurgi Gesellschaft für Mineralöltechnik aus Frankfurt und die Voest Alpine Montan AG aus Linz/Österreich. Vorangetrieben wurde die Strategie der Kompensation vor allem durch den ZK-Sekretär Günter Mittag, der sich auf diesem Weg eine umfassende Modernisierung der DDR-Industrie versprach. Mithilfe solcher Tauschgeschäfte, so seine Idee, würden Anlagen schnell importiert, Exporte – und damit Devisenerträge – merklich erhöht, Importe von Zwischenprodukten, Grundstoffen, Halb- und Fertigteilen durch eigene Fabrikate ersetzt und die Rentabilität der DDR-Waren nachhaltig verbessert – und das alles, ohne den Devisenbestand der DDR antasten zu müssen.241 238  Vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 94; vgl. Krewer: Geschäfte, S. 242. 239  Westliche Unternehmen bevorzugten wann immer es ging eine Barzahlung in Devisen. Ein Tauschgeschäft »Anlagen gegen Grundstoffe und Fertigprodukte« duldeten sie meist nur widerwillig. Vor allem bei Konsumgütern, zum Teil aber auch bei chemischen Grundstoffen, waren die Unternehmen mit der Qualität der gelieferten Ware oft unzufrieden. Das fehlende »Prestige« der DDR-Produkte thematisiert der Journalist Matthias Walden in seinem Artikel »Das Faß ohne Boden«. In: Die Welt v. 13.3.1979; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 7645, Bl. 35. 240  Vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 103 u. 264. 241  Vgl. ebenda, S. 94; Krewer: Geschäfte, S. 242; Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 197.

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Die Erwartungen der SED-Wirtschaftsplaner an das »Wundermittel« Kompensation waren also enorm. Innerhalb von wenigen Jahren, so die Hoffnung Mittags, könnte die DDR mit dieser Strategie das technologische Niveau der Bundesrepublik erreichen. Zwischen beiden deutschen Staaten, so der leitende Gedanke hinter dieser Prognose, klaffe eine »Technologielücke«, die über die Einfuhr von Anlagen einfach geschlossen werden könne. Verfüge die DDR erst einmal über den gleichen Maschinenpark wie die Bundesrepublik, trete sie auch automatisch als ebenbürtiger Marktteilnehmer auf und könne auf diese Weise ihre unausgeglichene Handelsbilanz dauerhaft ausbalancieren.242 Die umfangreichen Investitionen in die Höherveredelung, Intensivierung und Energieträgerumstellung dienten aus dieser Perspektive weniger einer kurzfristigen Entschuldungspolitik, sondern vielmehr einer langfristigen Konsolidierungsstrategie auf der Basis einer nachholenden industriellen Modernisierung.243 Aber nicht nur die DDR-Seite, sondern auch einige westliche Lieferanten erkannten im Modell der Kompensation eine ganze Reihe von Vorteilen: Einmal würde die Bereitstellung modernster Anlagen für die DDR-Wirtschaft ihrer Meinung nach die Grundlage einer künftigen Nachfrage des ostdeutschen Staates legen. Denn je mehr sich die DDR mit westlicher Technologie eindecke, so das Kalkül, desto größer sei später auch ihre Abhängigkeit von den dazugehörigen Ersatzteilen und Weiterentwicklungen. Zusätzlich zu dieser Bindung der DDR als langfristigen Kunden bot die Kompensationsmethode die Chance, überschüssige und zum Teil veraltete Fertigwaren und Investitionsgüter innerhalb des RGW-Raums abzusetzen. Auf diese Weise konnte die Nachfrageschwäche auf westlichen Märkten im Zuge der zweiten Ölkrise seit 1979 zumindest teilweise ausgeglichen werden.244 Und schließlich lieferte die DDR zur Refinan242  Die Strategie der Kompensation war damit auch eine Abkehr von dem Versuch, eine völlig eigenständige Chemieindustrie ohne äußere Abhängigkeiten aufzubauen. Auf der Basis einheimischer Rohstoffe und der forcierten Eigenentwicklung von Verfahren und Anlagen war die Wirtschaftsverwaltung noch bis Mitte der 1970er-Jahre bestrebt gewesen, die wichtigsten Erzeugnisse und Verfahren der Chemie aus eigener Kraft zu entwickeln. Entgegen den Forderungen vieler Kombinate hatte sich die SPK lange geweigert, Anlagen oder Lizenzen aus dem westlichen Ausland einzukaufen. Dass sich die DDR-Planer mit dieser Zielsetzung übernommen hatten, wurde im Laufe der 1970er-Jahre deutlich: Die Produzenten konnten den zunehmenden Ansprüchen der in- und ausländischen Abnehmer nicht länger folgen, wichtige Entwicklungen von Anlagen und Verfahren kamen nur langsam voran oder mussten ganz eingestellt werden. Die nach 14 Jahren erfolglos abgebrochene Entwicklung eines neuen Verfahrens zur Herstellung von Polyethylen in den Buna-Werken ist dafür ein Beispiel. Günter Mittag ersetzte schließlich die Strategie der Eigenentwicklung durch die Strategie der nachholenden Modernisierung durch Technik- und Lizenzeinkäufe und akzeptierte damit, dass sich der Chemiestandort DDR zumindest in Ansätzen von westlichen Kooperationsprojekten abhängig machen musste. Vgl. Hackenholz; Karlsch: Großchemie, S. 118. 243  Über die Dominanz der »nachahmenden Innovation« in der DDR und ihre langfristigen Risiken siehe Schröter: Handlungspfadverengung, S. 304–325. 244  Vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 93.

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zierung ihrer Neuanlagen Grundstoffe und Fertigwaren nicht nur über einen längeren Zeitraum, sondern auch weit unterhalb der üblichen Marktpreise. Alles in allem stellten DDR-Betriebe für westliche Unternehmer kostengünstige Produktionsstätten dar, die sich durch geringe Gesundheits- und Umweltauflagen, ein niedriges Lohnniveau, eine praktische Nähe zum Europäischen Binnenmarkt sowie gut ausgebildete Fachkräfte auszeichneten. Die Idee der Kompensation bediente also Interessen auf beiden Seiten.245 Die Anzahl der Gegengeschäftsvereinbarungen nahm daher im Laufe der 1970erJahre sprunghaft zu. Während zwischen 1972 und 1979 Großanlagen im Wert von 2 Milliarden DM auf Kompensationsbasis in die DDR geliefert wurden, zeigte die ostdeutsche Regierung allein im Jahr 1979 Interesse an 40 weiteren Großprojekten im Wert von 4 Milliarden DM.246 Der Schwerpunkt lag dabei stets bei den Branchen Bergbau und Chemie. Die enorme Menge an Kompensationsware, die mit diesen Vereinbarungen auf die westlichen Märkte strömte, wurde von spezialisierten Firmen vertrieben. Allein in der Bundesrepublik gab es im Jahr 1978 etwa 120 dieser sogenannten Kompensateure mit einem Jahresumsatz von über einer Milliarde DM.247 Ein Beispiel für ein größeres Kompensationsprojekt der ostdeutschen Chemie­ industrie war der Einkauf zweier Anlagen für Vinylchlorid und Polyvinylchlorid von der Firma Friedrich Uhde GmbH durch die Buna-Werke. Unter der Leitung des stellvertretenden Generaldirektors Harald Maiwald setzten die Verhandlungen für dieses sogenannte Komplexvorhaben im September 1974 ein.248 Grundlage der Großinvestition mit einem Gesamtvolumen von 1,1  Milliarden DM und 2 Milliarden Mark war ein von der Bundesregierung gedeckter Kredit, der mit Lieferungen von PVC und Natronlauge an das Unternehmen Hoechst bis

245  Auch wenn sich einige westliche Unternehmen auf die Lieferungen von Anlagen gegen Fertigprodukte einließen, blieb das Modell der »Gegengeschäfte« stets einseitig. Während die DDR immer häufiger westliche Investitionsgüter bezog, gab es aus der Bundesrepublik weder von privater, noch von öffentlicher Hand Anlageanfragen. Die DDR-Seite sprach daher ab 1977 wiederholt von einer bedauerlichen »Einbahnstraße« (Honecker) im innerdeutschen Handel und forderte die Bundesregierung auf, Einfluss auszuüben, »damit die DDR […] auf dem Markt der BRD regelmäßig Anfragen für Anlagenlieferungen in die BRD« erhalte. Vgl. Informationsmaterialien für das Gespräch zwischen dem Mitglied des Politbüros des ZK der SED, Genossen Dr. Günter Mittag, und dem Bundesminister für Wirtschaft der BRD, Lambsdorff, anlässlich der Leipziger Frühjahrsmesse 1979 vom 23.2.1979, kein Verfasser; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 7645, Bl. 77. 246  Vgl. ebenda. 247  Vgl. Kompensation ist ein Milliardengeschäft. In: Süddeutsche Zeitung v. 5.9.1978. In: ebenda, Bl. 86. 248  Vgl. Schreiben des Direktors des Wissenschaftlichen Koordinierungszentrums Buna, Klaus Hoffmann, an den Bunaer Generaldirektor Helmut Pohle vom 8.5.1980; LHASA, MER, I 529, Nr. 4129, n. p.

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1988 abbezahlt werden sollte.249 Mit der Inbetriebnahme der Neuanlagen im März 1980 stieg Buna zum größten Hersteller für Plast- und Elasterzeugnisse in der DDR auf.250

Abb. 5: Generaldirektor Helmut Pohle (mit Zeigestock) erläutert Erich Honecker das Modell des Komplexvorhabens bei der feierlichen Übergabe der neuen Kunststoffanlagen am 13.3.1980 im Kombinat Buna. Mit auf dem Bild: Willi Hoerkens (links neben Honecker), Vorstandsmitglied der Hoechst AG; Lothar Jaeschke (rechts neben Pohle), Vorstandsvorsitzender der Uhde GmbH (Foto: BArch Berlin, Bild 183-W0313-0059/ Rainer Mittelstädt)

4.6.1 In der Einkaufsfalle: Die ökonomischen Folgen der Kompensationsmethode Vom oben geschilderten Komplexvorhaben versprach sich das Buna-Kombinat eine deutliche Reduzierung von Kunststoffimporten und einen größeren Exporterfolg auf den Westmärkten – zwei Ziele, die bei fast allen Kompensationsprojekten formuliert wurden. Die praktische Realisierung solcher Zielset249  Vgl. Rehmann: Buna-Werk, S. 91; vgl. ebenso AHB Chemie-Export-Import: Information zur Realisierung und Sicherung der Refinanzierung des Kompensationsobjektes »Komplexvorhaben Buna« vom 6.3.1978; BArch, DY 30, Nr. 17637, n. p. 250  Vgl. Rehmann: Buna-Werk, S. 91.

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zungen gestaltete sich allerdings schwieriger als gedacht. Schneller als erwartet stieß die Strategie der Modernisierung durch Technikimporte als langfristiges Ziel der Konsolidierungspolitik an ihre Grenzen. Im Folgenden soll erläutert werden, welche Probleme sowohl im Detail als auch ganz grundsätzlich bei diesem Geschäftsmodell auftraten und wie die Kombinate und die Organe der übergeordneten Wirtschaftsverwaltung darauf reagierten. Das grundlegende Problem der Kompensationsidee bestand zunächst darin, dass der erhoffte Ablöseeffekt bei Importen nur im Ausnahmefall eintrat. In der Regel steigerten die Anlageneinkäufe die Abhängigkeit der DDR-Wirtschaft von westlichen Märkten eher – und damit auch das eigentlich zu überwindende Defizit im Außenhandel. Drei Ursachen waren hierfür verantwortlich: Erstens die unzureichende Qualität der ostdeutschen Kompensationsware: Trotz großer Anstrengungen im Bereich Forschung und Entwicklung war es selbst der Chemiebranche nur in Ausnahmefällen möglich, tatsächlich innovative und international nachgefragte Produkte hervorzubringen. Die DDRSeite sah sich daher gezwungen, für die technologisch anspruchsvollen Neuanlagen große Mengen an einfachen chemischen Grundstoffen zur Verfügung zu stellen. Um bestimmte Lieferverpflichtungen rechtzeitig einhalten zu können, mussten mitunter sogar weitere Importe ausgelöst werden. Da die DDR-Ware darüber hinaus nur zu niedrigen Preisen abgesetzt werden konnte, verstärkte die Methode der Kompensation den ohnehin vorhandenen Ruf der DDR als Dumpingland. Die Folge waren juristische und politische Komplikationen: So strengten zum Beispiel zahlreiche Großunternehmen der westlichen Chemieindustrie Antidumpingverfahren gegen DDR-Kombinate an,251 während sich der westdeutsche Mittelstand seit Ende der 1970er-Jahre über die ostdeutsche Billigware beschwerte und von »marktfeindlichen Tauschgeschäften« sowie einem »Handel auf Steinzeitniveau« sprach.252 Zweitens machte sich die fehlende Möglichkeit der Kombinate, die komplexen Neuanlagen eigenständig zu warten und weiterzuentwickeln, negativ bemerkbar. Ganz so, wie es sich die westlichen Lieferanten erhofft hatten, kamen die ostdeutschen Produzenten tatsächlich nicht umhin, auch die zu den erworbenen Maschinen gehörenden Ersatzteile und Neuerungen zu importieren und 251  Unter anderem die BASF und das britische Unternehmen Imperial Chemical Industries gegen die Leuna-Werke im Jahr 1983. Dem Leuna-Kombinat wurde bei diesem Streitfall vorgeworfen, sowohl das Hochdruckpolyethylen für Folien und Verpackungsmaterialien, als auch das Lösungsmittel Dimethylformamid viel zu billig auf dem europäischen Markt zu vertreiben. Vgl. OD Leuna: IM-Bericht über Hauptexportlinien Leunas 1983, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 844/71, Teil II, Bd. 3, Bl. 270. 252  Informationsmaterialien für das Gespräch zwischen dem Mitglied des Politbüros des ZK der SED, Genossen Dr. Günter Mittag, und dem Bundesminister für Wirtschaft der BRD, Lambsdorff, anlässlich der Leipziger Frühjahrsmesse 1979 vom 23.2.1979, kein Verfasser; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 7645, Bl. 84.

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in einigen Fällen sogar westliche Fachkräfte anzuheuern. Solche Nachrüstungen und Hilfestellungen wurden in immer kürzeren Abständen notwendig, da die technologische Entwicklung weltweit immer rasanter und die Wünsche westlicher Verbraucher immer anspruchsvoller wurden. Die DDR lief damit dem technischen Niveau des Westens ständig hinterher. Indem ein einzelner Import eine ganze Kette weiterer Importe nach sich zog, fand sich die DDR-Seite schon bald in einer »Einkaufsfalle« wieder.253 Die dritte Ursache für das chronische Problem der Importabhängigkeit war schließlich das Ausbleiben einer grundlegenden Modernisierung der DDR-Industrie trotz der zahlreichen Technikimporte. Anders als es die Vorstellung von einer schnell schließbaren »Technologielücke« suggerierte, konnte jede installierte Neuanlage immer nur eine Insellösung für ein völlig veraltetes Technikumfeld anbieten. Eine nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit und Unabhängigkeit der ostdeutschen Wirtschaft ergab sich daraus jedoch noch nicht, dazu hätte es zusätzlich einer Überwindung systemischer Strukturprobleme bedurft, wie der fehlenden Eigenständigkeit und Spezialisierung der Betriebe, ihrer ungenügenden Einbindung in die internationale Arbeitsteilung oder ihrer Fixierung auf eine standardisierte Massenproduktion. Vor allem die behäbige Größe und unzureichende Eigenverantwortung der Produzenten brachte beim verantwortlichen Personal oft eine Mischung aus Resignation und Missmanagement mit sich, die die Realisierung zahlreicher Investitionsprojekte verzögerte und verteuerte. Das Problem der Dumpingpreise, die hartnäckige Abhängigkeit von Ersatzteilen und ein kurzsichtiges, rein auf technische Aspekte reduziertes Verständnis von wirtschaftlicher Modernisierung – es gab eine ganze Reihe von Gründen, warum der Ansatz »Entschuldung und Wettbewerbsfähigkeiten durch Technikimporte« langfristig nicht funktionieren konnte. Deutlich wurde das bei den Refinanzierungsplänen von fast allen größeren Kompensationsprojekten in den hier betrachteten Chemiekombinaten, die oft auf völlig illusionären Annahmen zu Exportgewinnen und Importeinsparungen beruhten und meist schon nach wenigen Monaten als überholt betrachtet werden mussten. Wie vielfältig die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Kompensationsmethode waren, ließ sich besonders in den Buna-Werken beobachten, in denen Anfang der 1980er-Jahre jedes zweite Großprojekt auf finanziell unsicherer Grundlage stand.254 Das betraf neben dem prestigeträchtigen Komplexvorhaben zum Beispiel auch das eng damit verknüpfte Projekt einer neuen Heizwalze – einem sogenannten Kalander –, die im Bunaer Kombinatsbetrieb Orbitaplast in Weißandt-Gölzau Ende 1981 für die Herstellung von anspruchsvollen Hartfolien in Betrieb genommen werden sollte. Die Bezahlung der für 26 Millionen DM vom italienischen 253  Vgl. Krewer: Geschäfte, S. 247; Klenke: An der Globalisierung gescheitert, S. 96. 254 Vgl. OD Buna: Treffauswertung vom 6.2.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 279/72, Teil II, Bd. 3, Bl. 306.

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Hersteller Cogis Impianti importierten Anlage sollte über den Verkauf der mit ihr produzierten Hartfolien gelingen, wofür auf das hochwertige PVC aus den neuen, im Rahmen des Komplexvorhabens von Uhde gelieferten Kunststoffanlagen vertraut wurde.255 Doch obwohl die Planungen für das Komplexvorhaben bereits seit 1974 und für das Kalanderprojekt seit 1977 liefen, zeigte sich das Kombinat bis zum Termin der Inbetriebnahme im Dezember 1981 nicht in der Lage, qualitativ ausreichendes PVC-Pulver zur Verfügung zu stellen. Der hohe Schmutzanteil im Buna-PVC machte die Herstellung von Hartfolien mithilfe des neuen Kalanders unmöglich.256 Erschwerend kam hinzu, dass der Kombinatsbetrieb Orbitaplast Schwierigkeiten hatte, für die Neuanlage ausreichendes Personal mit geeigneten Fachkenntnissen zusammenzustellen. Selbst für eine ältere Walze fehlte dem Werk Ende der 1970er-Jahre noch eine komplette Schicht. Und schließlich war ein erfolgreicher Absatz von Hartfolien im Laufe des Projekts ohnehin fraglich geworden, da genau zu jener Zeit, als der Kalander in Betrieb genommen werden sollte, auf den Westmärkten eine lebendige Konkurrenz für dieses Produkt entstanden war. Bereits im Jahr 1978 hatte der Betriebsdirektor von Orbitaplast in einem Schreiben an den Generaldirektor Pohle daher darum gebeten, den Einkauf der Anlage noch einmal zu überdenken. Seiner Meinung nach sei eine gesicherte Refinanzierung aufgrund der externen Marktverhältnisse und der heimischen Arbeitskräftesituation kaum zu bewerkstelligen.257 Doch Pohle ließ sich von dem einmal geplanten Vorhaben nicht abbringen, sodass sich das Werk Anfang der 1980er-Jahre gezwungen sah, qualitativ wertvolles PVC zu importieren, um ein Anlaufen der neuen Heizwalze überhaupt zu ermöglichen.258 Der Grundansatz, Anlagen einzukaufen, um Importe abzulösen, wurde damit in sein Gegenteil verkehrt.259 Dieses Fallbeispiel aus dem Kombinat Buna macht deutlich, dass die Kosten eines Kompensationsprojekts die damit erzielten Einnahmen und Ersparnisse oftmals überstiegen. Die negative Bilanz betraf dabei nicht nur einzelne Vorhaben wie in Orbitaplast, sondern auch den Gesamtansatz von Höherveredelung, Energieträgerumstellung und höherer Materialausbeute. Die eigentlich als Teil 255 Vgl. KD Köthen: Eröffnungsbericht OV »Kalander« vom 17.7.1985; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 2074/87, Bd. 1, Bl. 11. 256 Vgl. OD Buna: IM-Bericht vom 13.5.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 279/72, Teil II, Bd. 3, Bl. 327. 257  Vgl. Schreiben des Betriebsdirektors von Orbitaplast Weißandt-Gölzau an Generaldirektor Helmut Pohle vom 13.1.1978; BStU, MfS, BV Halle, Reg-Nr. VIII 279/72, Teil II, Bd. 3, Bl. 332. 258 Vgl. OD Buna: IM-Bericht vom 13.5.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 279/72, Teil II, Bd. 3, Bl. 327. 259 Schon bald nach der Inbetriebnahme des Kalanders traten aufgrund mangelhafter Wartungsarbeiten zahlreiche Störfälle auf. Die Produktion von Hartfolie entwickelte sich immer mehr zu einem Problembereich im Kobinatsbetrieb Orbitaplast. Im Jahr 1986 kam es schließlich zu einer schweren Havarie, in deren Folge die Neuanlage völlig zerstört wurde. Über die Hintergründe und Folgen dieses Vorfalls siehe Kapitel 5, Abschnitt 5.9.1.

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der Entschuldungspolitik konzipierte Strategie verschlang bis 1985 gut 15 Milliarden Mark und entwickelte sich damit zu einem der teuersten Vorhaben der Ära Honecker neben dem Mikroelektronikprogramm.260 Da diese Aufwendungen auch durch die beachtlich gestiegenen Exporte bei Mineralölprodukten und Kunststoffen nicht aufgewogen werden konnten, entpuppte sich der dritte Baustein der Konsolidierungspolitik gesamtwirtschaftlich als Verlustrechnung.261 Die Frage, warum SED-Führung und Wirtschaftsverwaltung an dieser eigentlich unökonomischen Strategie dennoch festhielten, lässt sich nur mit Verweis auf den unmittelbar wirkenden Problemdruck seit Ende der 1970er-Jahre beantworten. Anstatt nachhaltig zu modernisieren, ging es bei den Anlageneinkäufen tatsächlich zunächst erst einmal darum, einige kurzfristige Ziele zu erreichen, hier vor allem die schnelle Aufbesserung der Devisenbestände, die Absicherung des inländischen Konsumgüterverbrauchs und den Ausgleich der reduzierten Erdöllieferungen aus der SU. 4.6.2 Gesetzgebung, Pläne, Inspektionen: Das Vertrauen des Staates auf Anleitung und Kontrolle Dass die Wirtschaftlichkeit vieler Kompensationsprojekte nicht gegeben war, wird vor allem durch die mit ihnen einhergehenden Krisensymptome wie Vertragsverletzungen, Planrückstände oder Ausgabenmanipulationen angezeigt. Die Organe der Wirtschaftsverwaltung betrachteten diese Phänomene aber nicht nur als ein ökonomisches, sondern zunehmend auch als ein politisches Problem – nämlich als die abnehmende Fähigkeit des Staates, größere Investitionsprojekte von der Zentrale aus erfolgreich umzusetzen. Um dieser offenkundigen staatlichen Steuerungsschwäche entgegenzuwirken und die »Plandisziplin« der Betriebe wiederherzustellen, reagierte der Ministerrat zu Beginn der 1980er-Jahre mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen. Allein im November 1981, zu Hochzeiten der Verschuldungskrise, wurden 70 neue Vorschriften für die Produktionsbetriebe erlassen, bis 1984 kamen weitere 120 Einzelgesetze hinzu.262 Die wichtigsten Instrumente für die Zurückgewinnung der staatlichen Autorität in der ökonomischen Sphäre sollen im Folgenden vorgestellt werden. Die Rolle des MfS als wichtige Ergänzung für dieses Maßnahmepaket wird in einem gesonderten Abschnitt im Anschluss ausgeführt.

260  Ein Investitionsaufwand von 15 Mrd. Mark wird bei Schröter genannt. Vgl. Schröter: Ölkrisen und Reaktionen, S. 118; Steiner: Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang, S. 179. 261  Vgl. Steiner: Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang, S. 181. 262  Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 47; Cornelsen: Wirtschaft in der Honecker-Ära, S. 370.

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Als ersten Schritt drängte der Ministerrat darauf, die bereits ab 1971 spürbar ausgebaute zentrale Bilanzierung noch einmal deutlich auszuweiten, also die Prüfung des Bedarfs und die Sicherstellung der Verteilung und Verarbeitung von Gütern noch umfassender bei der Staatlichen Plankommission und beim Ministerrat anzusiedeln.263 Übernahm die oberste staatliche Ebene im Jahr 1969 etwa 250 Bilanzen, so erweiterte sich ihre Zuständigkeit bis 1970 auf 800 und bis 1982 auf über 2 100 Erzeugnisgruppen. Damit wurden ab Mitte der 1980er-Jahre gut 75  Prozent der Industrieproduktion von zentraler Stelle aus bestimmt.264 Mit dieser erneuten Zentralisierung der Planerstellung wurden auch die konkreten Planauflagen für die Betriebe noch einmal anspruchsvoller und detaillierter. Für ausgewählte Kennziffern gab es zum Beispiel ab 1983 eine zusätzliche Monats- und Quartalsplanung, während die Mengenanforderungen für alle Branchen immer unrealistischere Ausmaße annahmen.265 Die meisten ökonomischen Kenngrößen wie Export, Energieeinsparung, Preise oder Löhne wurden dabei rein voluntaristisch, ohne Bezug zu den tatsächlichen Produktionsbedingungen vor Ort festgelegt, häufig angereichert mit persönlichen Vorstellungen und Prestigeprojekten führender SED-Funktionäre.266 Nicht selten ließ das Politbüro die ausgearbeiteten Planvorschläge der SPK wieder zurücksenden, mit der Bemerkung, die Betriebe und Ministerien sollten ihre »Reserven besser mobilisieren« und »den Initiativen der Arbeiterklasse stärker vertrauen«.267 Die ohnehin schon wirklichkeitsfremden Pläne sollten damit noch einmal überboten werden. Das Hauptproblem der ungenügenden Planerfüllung wurde mit diesen Maßnahmen der Zentralisierung und Ausdifferenzierung der Planerstellung aber nicht gelöst, sondern noch einmal verschärft. Um hier gegenzusteuern und die Betriebe stärker in die Pflicht zu nehmen, installierte der Ministerrat zu Be263  Über die Funktion der Bilanzierung siehe Conert: Unmöglicher Sozialismus, S. 21. 264  Vgl. Pflicke; Süß: Wirtschaftsrecht, S. 462; Steiner: Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang, S. 161; Gößmann: Kombinate, S. 48. 265  Vgl. Pflicke; Süß: Wirtschaftsrecht, S. 470. 266  Vgl. Heimann: Systembedingte Ursachen, S. 22. Ein Beispiel für die völlig willkürliche Festlegung von ökonomischen Parametern war Honeckers 4-%-Vorgabe für das Wachstum des Lohn-, Geld- und Warenfonds sowie der Arbeitsproduktivität. Die Zusammenfassung dieser vollkommen unterschiedlichen und zum Teil sogar gegensätzlichen Kenngrößen unter einem gemeinsamen Wachstumsziel war nach Lepsius rein willkürlich, kaum zu realisieren und sogar kontraproduktiv. Die Ausweitung der Geldmenge um 4 % hätte nämlich das chronische Problem der zu hohen Kaufkraft weiter verstärkt. Siegfried Wenzel argumentierte an dieser Stelle, dass jedes wirtschaftspolitische Ziel zunächst künstlich sei und auch nicht vollständig umgesetzt werden müsse, sondern in erster Linie der Vergewisserung der eigenen Ambitionen und der Motivation der Beschäftigten diene. Über den Voluntarismus und Maximalismus der SED bei der Erstellung der Jahrespläne siehe Lepsius: Rationalitätskriterien, S. 355; Heimann: Systembedingte Ursachen, S. 23. 267 Wenzel: Wirtschaftsplanung in der DDR, S. 16.

Die Methode der Kompensation als Versuch einer Erneuerung

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ginn der 1980er-Jahre eine ganze Reihe neuer ständiger Arbeitsgruppen, die unter anderem für die »materiell-technische Sicherung der kontinuierlichen Plandurchführung« oder für die Gewährleistung einer »planmäßigen Durchführung zentraler Investitionsvorhaben« zuständig waren.268 Auch mit der »Importsteuerung« wurde eine eigene Arbeitsgruppe beauftragt. Sie hatte eine Anweisung des Ministerrats aus dem Jahr 1980 an die Betriebe zu überwachen, nach der Importe nur noch bei Vorliegen einer »Ablösekonzeption« und einer ausdrücklichen Genehmigung des Ministerrats eingeleitet werden durften.269 Darüber hinaus reagierte die SED-Führung auf den drohenden Kontrollverlust bei der Planumsetzung mit einer strengeren Anwendung des Wirtschaftsstrafrechts. Ursprünglich wollte sie die Strafnormen sogar verschärfen und ließ hierfür 1983 ein Strafrechtsänderungsgesetz ausarbeiten. Für typische Manipulationshandlungen wie »spekulative Warenhortung« (§ 173 StGB), »Falschmeldung« (§ 171 StGB) oder »Vertrauensmissbrauch« (§ 165 StGB) sollte ein deutlich höheres Strafmaß verankert werden. »Es ging«, so Johannes Raschka, »um die Stabilisierung der Volkswirtschaft und die Begrenzung der extremen ökonomischen Schwierigkeiten mit den Mitteln strafrechtlichen Zwangs.«270 Zwar entschied sich die SED aufgrund außenpolitischer Erwägungen am Ende gegen eine solche Gesetzesnovelle, dennoch ermöglichten die Leitungsdokumente von Polizei, Justiz und Staatsanwaltschaft ab 1983 eine strengere Auslegung der bestehenden Paragrafen.271 Raschka spricht in diesem Zusammenhang von einer »Verschärfung [des Strafrechts] unterhalb der Oberfläche«.272 Ein neues rechtliches Instrument wurde aber dennoch eingeführt: Als Reaktion auf die nachlassende Vertragsdisziplin der Betriebe etablierte der Minis­ terrat im März 1982 im Rahmen eines neuen Vertragsgesetzes den Tatbestand »Zulassen von Vertragsrückständen«. War ein Betrieb nicht in der Lage, seine Lieferverträge fristgerecht einzuhalten, konnte der Staat fortan eine höhere »Produktionsfondsabgabe«273 verlangen.274 Das ursprünglich als Schlichtungs­ 268  Vgl. Pflicke; Süß: Wirtschaftsrecht, S. 470. 269  Vgl. Politbüro des ZK der SED: Beschluss des PMR 1980 »Zur NSW-Ablöse und Senkung des Importaufwands«, Protokoll Nr. 50/80 vom 9.12.1980; BArch, DY 30, J IV 2/2/18701871, n. p. 270  Raschka: Justizpolitik, S. 193. 271  Die akute Liquiditätskrise ab 1981 hatte die SED-Führung dazu bewogen, mit der Bundesregierung Verhandlungen über Bürgschaften für zwei Großkredite einzuleiten. Um die Gesprächsatmosphäre nicht unnötig zu belasten, wurde nach Raschka auf eine provokative innere Strafrechtsverschärfung verzichtet. Vgl. Raschka: Justizpolitik, S. 189–203, Zitat S. 203. Über die Sonderkredite zur Stützung der DDR-Bonität siehe Kapitel 5, Abschnitt 5.1. 272  Raschka: Justizpolitik, S. 203. 273  Seit 1967 waren die Betriebe verpflichtet, eine Abgabe im Wert von 6 % des Anlagevermögens an den Staat zu entrichten. Diese Form der Kapitalsteuer war als Anreiz für einen sparsameren Einsatz des »Grundfonds« gedacht. Vgl. Conert: Unmöglicher Sozialismus, S. 15. 274  Vgl. Pflicke; Süß: Wirtschaftsrecht, S. 474; Gößmann: Kombinate, S. 50.

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instanz gedachte Staatliche Vertragsgericht wurde mit dem neuen Vertragsgesetz in ein staatliches Kontrollorgan umgewandelt, um die Einhaltung der zwischenbetrieblichen Liefer- und Abnahmeverpflichtungen zu überwachen.275 Damit die verschärfte Rechtslage im Kombinat auch Wirkung zeigen konnte, baute der Ministerrat zusätzlich das System der Inspektionen aus.  Vor allem in den Bereichen Investitionen, Bilanzierung, Produktentwicklung und Preise nahmen die externen Kontrollen deutlich zu.276 Ein Beispiel dafür war die im Jahr 1983 eingerichtete Staatliche Qualitätsinspektion (SQI), die für bestimmte prüfungspflichtige Erzeugnisse Gütesiegel vergeben sollte. Angebunden an das zeitgleich eingerichtete »Amt für Standardisierung, Messwesen und Warenprüfung« (ASMW), war die SQI befugt, bei Mängelerscheinungen Auflagen zu erteilen oder Gewinnabschläge zu veranlassen.277 Damit sollte das chronische Problem der unzureichenden Produktqualität behoben werden, das immer wieder zu Reklamationen und Preisnachlässen geführt und auf diese Weise die Refinanzierung größerer Kompensationsprojekte in Gefahr gebracht hatte. Diese Einzelinspektionen wurden zusätzlich durch sogenannte Komplexbrigaden aus Vertretern des Zentralkomitees der SED, der Bezirksleitung der SED, des MfS, der Volkspolizei und der Staatsanwaltschaft ergänzt, die unangemeldet im Betrieb auftauchen und alle Vorgänge eines Projekts oder einer ganzen Direktion überprüfen konnten.278 Eine »permanent inspizierende und instruierende und nicht zuletzt spitzelnde Präsenz der Zentrale vor Ort«, so Thomas Lindenberger, wurde in der Folgezeit für viele staatliche Leiter zur Alltagserfahrung.279 Der Betrieb sollte »gläsern« werden, um die von der SED angenommene Hauptursache für den ausbleibenden Planerfolg – die Eigenmächtigkeiten der Wirtschaftsfunktionäre vor Ort – ein für alle Mal zu unterbinden.280

4.7  Das MfS als eine weitere Komponente der staatlichen Krisenreaktion Mit einer weiteren Zentralisierung der Bilanzen, neuen Inspektionen und einer schärferen Anwendung rechtlicher Regelungen ergriffen SED-Führung und Ministerrat verschiedene Maßnahmen, um die Steuerungsfähigkeit des Staates wiederherzustellen und die zahlreichen Kompensationsvorhaben zum Erfolg zu 275  Vgl. Strassmann: Rechtliche Dimension, S. 135. 276  Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 53; vgl. Pflicke; Süß: Wirtschaftsrecht, S. 474. 277  Vgl. Gößmann: Kombinate, S. 110 u. 112. 278  Vgl. Pflicke; Süß: Wirtschaftsrecht, S. 474. 279  Thomas Lindenberger: Alltagsgeschichte und ihr möglicher Beitrag zu einer Gesellschaftsgeschichte der DDR. In: Richard Bessel, Ralph Jessen (Hg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR. Göttingen 1996, S. 317. 280  Zum »Gläsernen Betrieb« siehe Buchheim: Wirtschaftsordnung als Barriere, S. 205.

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führen. Sichtbar wird dabei eine Mischung aus hierarchischer Anleitung, punktueller Kontrolle und schnellerer Sanktion. Bei dieser Art der Krisenreaktion verwundert es kaum, dass auch dem MfS eine entscheidende Rolle für die Verbesserung der Plandisziplin der Betriebe und eine erfolgreiche Umsetzung der SED-Konsolidierungspolitik übertragen wurde. Sichtbar wird das unter anderem in einem neuen Grundsatzdokument der Staatssicherheit aus dem März 1982: der Dienstanweisung 1/82 »zur politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft«.281 Darin hebt die MfS-Führung die »Energieanwendung und -bereitstellung auf der Grundlage der einheimischen Braunkohle«, die »Entwicklung und den effektiven Einsatz hochveredelter chemischer und metallurgischer Werkstoffe« sowie die »Senkung des Rohstoff- und Materialverbrauchs« als neue Schwerpunktthemen der Wirtschaftsüberwachung hervor.282 Auch die »Verhinderung ungerechtfertigter Importe« und die Förderung des »devisenrentablen Exports« mit »politisch-operativen Möglichkeiten«, um eine »sichere Zahlungsbilanz zu gewährleisten«, werden ausdrücklich als »sicherheitspolitische Erfordernisse« der Linie XVIII herausgestrichen.283 Unverkennbar spielen hier die zentralen Eckpunkte der aktuellen Konsolidierungs- und Modernisierungsstrategie der SED eine zentrale Rolle. Doch welche Überwachungsmaßnahmen waren mit diesem Auftrag ganz konkret verbunden? Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass die MfS-Offiziere in den Betrieben angehalten wurden, sowohl einzelne größere Investitionsprojekte als auch die dabei involvierten Akteure genauer in den Blick zu nehmen. Drei typische Überwachungsgegenstände aus den frühen 1980er-Jahren sollen im Folgenden vorgestellt werden: Erstens ein zentraler Verantwortlicher für Investitionsfragen – der oben bereits erwähnte Betriebsdirektor für Erdöl/ Olefine in Leuna, Wolfgang Nette. Zweitens ein größeres Kompensationsvorhaben: die Mitte der 1980er-Jahre installierte neue Methanolanlage in den Leuna-Werken und drittens ein wichtiger Koordinierungsbereich – die Fachdirektion für Beschaffung und Absatz in den Buna-Werken. Anhand dieser drei Fallbeispiele sollen zwei wesentliche Merkmale der Überwachungsarbeit herausgearbeitet werden: Zum einen, dass das MfS in den hier betrachteten Chemiekombinaten vor allem auf den Einsatz und die Kontrolle von Formalien und disziplinarischen Maßnahmen vertraute, um den vielfältigen Schwierigkeiten bei größeren Investitionsprojekten zu begegnen. Im Mittelpunkt der Reaktionen standen also Belehrungen, Vorschriften und – gegenüber ausgewählten Personen – auch Sanktionen. Zum anderen, dass die Spielräume der Objektdienststellen dabei recht unterschiedlich ausfielen. Das MfS war 281  Vgl. Dienstanweisung 1/82 des MfS zur politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft der DDR vom 30.3.1982. In: Buthmann: Kadersicherung, S. 136–162. 282  Ebenda, S. 138. 283  Ebenda, S. 139 u. 148.

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nicht in der Lage, in jedem Kombinat gleich selbstbewusst und umfassend zu agieren. – Deutlich wird vielmehr, dass es – je nach machtpolitischem Kontext – mal als rigoroses Disziplinarorgan und mal als zurückhaltender Beobachter auftrat. 4.7.1 Überwachung einer Führungskraft: Die passive Beobachterrolle des MfS gegenüber dem Betriebsdirektor für Erdöl/Olefine in den Leuna-Werken Für die Objektdienststelle des MfS in den Leuna-Werken war es naheliegend, jene Person in den Fokus zu rücken, die maßgeblich die Neuausrichtung der Produktion auf die Erdölveredelung vorantrieb und damit für zahlreiche Kompensationsprojekte im Kombinat Leuna verantwortlich war: Betriebsdirektor Wolfgang Nette. Wie kein anderer stand er für die Investitionskooperation mit westeuropäischen Chemieunternehmen, mit dem langfristigen Ziel, die gesamtdeutsche Verbundchemie aus der Vorkriegszeit wiederzubeleben.284 Dass eine Person, die die Entwicklung der Leuna-Werke derart stark prägte, interne Kritik provozieren musste, war fast unvermeidlich. Es konnte daher nur eine Frage der Zeit sein, bis eine Reihe von Anschuldigungen, die im Werk kursierten, über inoffizielle Kanäle auch die Objektdienststelle in Leuna erreichten. Insbesondere leitende Angestellte aus der Forschungsabteilung, der Auftragsleitung für das sogenannte Projekt »Reko Erdöl«285 und aus der Betriebsdirektion für Erdöl/Olefine versorgten die MfS-Offiziere mit zahlreichen Vorwürfen, die sich im Laufe der Zeit zu drei für das MfS relevanten Verdachtsmomenten verdichteten: Zum einen habe Nette, so die erste Unterstellung, beim Standortvergleich mit Schwedt Mitte der 1970er-Jahre gezielt manipuliert, um den Leuna-Werken den Zuschlag für eine erweiterte Erdölverarbeitung zu ermöglichen. Würde sich diese Behauptung bewahrheiten, hätte sich Nette gegenüber dem Chemieministerium der »Falschmeldung und Vorteilserschleichung« nach § 171 StGB schuldig gemacht.286 Darüber hinaus äußerte die Objektdienststelle den Verdacht, Nette agiere als »Stützpunkt der BASF«, da er mit seiner Konzentration auf die Erdölverarbeitung bewusst die Bereiche Caprolactam, Polyäthylen und Epoxidharze vernach284  Vgl. OD Leuna: IM-Bericht zum Investitionsprojekt Pyrolyse vom 4.1.1978; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, R 73/97, Bd. 5, Bl. 155. 285  Das Projekt »Reko Erdöl« bezeichnet die Ausweitung des Volumens der jährlichen Erdölverarbeitung in Leuna von 5 auf 8 Mio. Tonnen. Die dafür notwendigen Investitionen setzten mit dem Fünfjahrplan für die Jahre 1976 bis 1980 ein. 286  Vgl. OD Leuna: Sachstandsbericht zur OPK »Öl« vom 2.2.1977; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, R 73/97, Bd. 4, Bl. 88.

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lässige und auf diese Weise westlichen Unternehmen wie der BASF bei diesen Grundstoffen weiterhin einen entsprechenden Absatz in der DDR ermögliche. Falls Nette eine solche Abhängigkeit tatsächlich beabsichtigt hatte und davon finanziell profitierte, würde sich aus Sicht der Objektdienststelle das gesamte Projekt der Höherveredelung als privater Deal Nettes zulasten der DDR-Volkswirtschaft herausstellen.287 Und schließlich prüften die Offiziere den immer wieder erhobenen Vorwurf, dass Nette die leunaeigene Forschungsabteilung gezielt umgehen würde, um Anlagen ohne Prüfung von Alternativen sofort bei westlichen Anbietern zu erwerben. Ein Beispiel dafür war eine Neuanlage für den chemischen Grundstoff Buten288, für die der Betriebsdirektor Anfang der 1980er-Jahre den westdeutschen Anbieter Klöckner-Humbold-Deutz favorisierte. Um das Chemieministerium von einem solchen Import zu überzeugen, habe Nette, so ein IM-Hinweis aus der Forschungsabteilung, den Forschungsdirektor zu einer Stellungnahme gedrängt, dass die Leuna-Werke eine solche Anlage nicht allein entwickeln könnten. Tatsächlich, so der IM, sei das Kombinat aber sehr wohl in der Lage gewesen, innerhalb von zwei Jahren eine vergleichbare Anlage zu installieren. Auch in diesem Fall stand der Verdacht im Raum, dass Nette eine westdeutsche Firma zulasten der DDR bevorteilt hatte, um seine individuellen Vorstellungen von der Weiterentwicklung des Kombinats so schnell wie möglich umzusetzen.289 Als Reaktion auf diese Vorwürfe leitete das MfS zwischen 1967 und 1986 insgesamt drei Operative Personenkontrollen ein, die allerdings allesamt nach jeweils mehreren Jahren ergebnislos eingestellt werden mussten.290 Obwohl die Offiziere das Ausmaß der Kompensationspraxis seit 1978 als hoch riskant einstuften und Nette ein »rücksichtsloses Paktieren mit der westdeutschen Industrie« vorwarfen, taten sie am Ende nichts, um die Neuausrichtung Leunas aufzuhalten.291 Auch jene Investitionsvorhaben, die laut den OPK-Zielstellungen ausdrücklich gestoppt werden sollten – wie der genannte Einkauf der Buten-Anlage – wurden schließlich stillschweigend hingenommen.292 Der Abschluss287 Vgl. OD Leuna: Ergänzung zur Konzeption zur Bearbeitung der OPK »Öl« vom 25.2.1978; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, R 73/97, Bd. 1, Bl. 56. 288  Die Anlage produzierte das Gas n-Buten 1, ein Grundstoff für die Herstellung von hochwertigem Polyäthylen. 289  Vgl. OD Leuna: Einleitungsbericht OPK »Öl« vom 20.10.1982; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, R 73/97, Bd. 2, Bl. 19. 290  1. OPK 1967–1973, 2. OPK 1976–1981, 3. OPK 1982–1986, vgl. OD Leuna: Zusammenfassender Bericht über die Handlungen des OPK »Öl« vom 6.1.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, R 73/97, Bd. 2, Bl. 137; vgl. ebenso OD Leuna: Abschlussbericht OPK »Öl« vom 4.11.1981; ebenda, Bd.1, Bl. 10. 291  OD Leuna: Abschlussbericht OPK »Öl« vom 4.11.1981; ebenda, Bd.1, Bl. 10. 292 Der Einleitungsbericht zur dritten OPK forderte eine »vorbeugende Verhinderung eines K-Vorhabens zur Gewinnung von n Buten-1 durch Nutzung aller Möglichkeiten, dieses

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bericht der zweiten OPK gegen Nette aus dem Jahr 1981 kam sogar zu der Feststellung, dass sich der Ausbau der Leuna-Werke zu einem führenden Raffineriestandort der DDR als richtiger Weg erwiesen habe und eine Wirtschaftsschädigung durch Nette nicht herausgearbeitet werden konnte. Stattdessen wurde die »zielstrebige und kompromisslose Verhandlungsführung« des Wirtschaftsfunktionärs lobend hervorgehoben.293 Bei diesem Fallbeispiel blieb das MfS bemerkenswert passiv. Fast 20 Jahre lang wird der Protagonist Nette kritisch beobachtet, dabei jede belastende Aussage über ihn akribisch festgehalten, ohne dass sich daraus am Ende irgendeine spürbare Konsequenz ergab. Sein rigoroser Westkurs, der den diversen Ablösekonzeptionen eigentlich diametral widersprach, blieb trotz der vielfältigen Vorwürfe vor allem aus der Forschungsabteilung folgenlos.  Nettes unangefochtene Stellung innerhalb einer politisch mächtigen Betriebsdirektion, seine guten Kontakte ins ZK der SED, die Unterstützung des einflussreichen Generaldirektors Müller und nicht zuletzt die übergeordnete wirtschaftspolitische Priorität der Produktion und des Exports höherveredelter Erdölprodukte machten ihn für die Offiziere vor Ort anscheinend unangreifbar. 4.7.2 Die Überwachung eines größeren Investitionsprojekts: Die Stabilisierung der neu erworbenen Methanolanlage mit geheimpolizeilichen Mitteln Dass sich die Objektdienststelle Leuna bei aller Zurückhaltung gegenüber Nette dennoch bis ins Detail für sein Gesamtvorhaben der intensiveren Erdölverarbeitung interessierte, führt die geheimpolizeiliche Überwachung im Zusammenhang mit der Beschaffung einer neuen Methanolanlage vor Augen, die seit 1982 geplant und im Jahr 1986 in Betrieb genommen wurde. Aus schweren Erdölrückständen sollte hier Methanol für die Herstellung von Kraftstoffen und Leimen gewonnen werden. Für die Refinanzierung dieses Kompensationsprojekts war bis 1993 der Verkauf von 500 000 Tonnen Methanol an das westdeutsche Unternehmen Metallgesellschaft vorgesehen.294 Doch obwohl die Marktsituation für dieses Geschäft äußerst günstig ausfiel, kam das Projekt schon bald nach dem Anlaufen der Anlage in ernste Schwierigkeiten. Durch Produktionsstörun-

Vorhaben als DDR Eigenleistung zu errichten«. Vgl. OD Leuna: Einleitungsbericht OPK »Öl« vom 20.10.1982; ebenda, Bd. 2, Bl. 14. 293  OD Leuna: Abschlussbericht OPK »Öl« vom 4.11.1981; ebenda, Bd.1, Bl. 14. 294  Vgl. OD Leuna: Konzeption zur politisch-operativen Sicherung der Realisierung des Kompensationsvorhabens »Komplex zur vollständigen stofflichen Verwertung von Erdölrückständen« vom 17.6.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 405, Bl. 18.

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gen und Lieferausfälle hatte sich bereits zwei Jahre nach Inbetriebnahme, im Jahr 1988, ein Plandefizit von gut 70 000 Tonnen Methanol angehäuft.295 Die Gründe für diese Komplikationen waren vielfältig: Zunächst fehlte es in den Leuna-Werken permanent an Ersatzteilen. Vor allem die improvisierten Dichtungen, die dadurch notwendig wurden, lösten bei der Neuanlage immer wieder schwere Havarien aus.  Darüber hinaus traten Probleme beim Methanoltransport auf. Durch Erosionsschäden waren die Leunaer Kesselwagen derart verformt, dass sich die Deutsche Bundesbahn mehrmals weigerte, ihren Einsatz auf westdeutschem Territorium zu gestatten.296 Und schließlich zeigte sich das Betreiberkollektiv mit den technischen Anforderungen der importierten Fabrik überfordert. Häufige Fehlbedienungen führten dabei zu vorzeitigen Abnutzungserscheinungen, wodurch sich das ohnehin hohe Störgeschehen der Anlage noch einmal verstärkte. Der dadurch aufgestaute Frust bei den Beschäftigten spiegelte sich in einer auffallend starken Abwanderung aus der für die Anlage verantwortlichen Betriebsdirektion für Synthesegas wider. Ein Anlagenbetreiber, der den Leiter der Abteilung Methanol um eine Entbindung von seiner Funktion bat, erwähnte als Begründung für seinen Weggang, dass »die Anforderungen der Anlage und das Reparaturgeschehen« sein »physisches Leistungsvermögen« übersteigen würden.297 All diese Schwierigkeiten zeigen: Bei der Methanolanlage handelte sich um ein typisches Beispiel für ein Kompensationsvorhaben, das zunächst mit hohen Erwartungen gestartet war und anschließend durch zahlreiche werksinterne Probleme im Bereich Technik, Management, Personal und Produktqualität in ernsthafte Schwierigkeiten geriet. Als unmittelbare Folge kam nicht nur der Jahresplan der Leuna-Werke für Warenproduktion und Exporte in Verzug. Auch das von Generaldirektor Müller vorangetriebene Großprojekt der effizienten Materialverwendung und Energieeinsparung wurde durch die häufigen Zwischenfälle bei der Neuanlage gefährdet.298 Als die Methanollieferungen der Leuna-Werke Ende der 1980er-Jahre immer lückenhafter wurden, reagierte schließlich auch der Projektpartner Metallgesellschaft mit einer deutlichen Kritik an der Unzuverlässigkeit des Kombinats. Das in Düsseldorf ansässige Unter295  Über die Marktsituation von Methanol vgl. OD Leuna: IM-Bericht vom 23.12.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 151/74, Teil II, Bd. 3, Bl. 32. Zu den Anfahrschwierigkeiten der Neuanlage vgl. OD Leuna: IM-Bericht vom 23.12.1988; ebenda, Teil II, Bd. 3, Bl. 32. 296 Vgl. OD Leuna: Eröffnungsbericht vom 20.12.1988; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 3821, Bl. 10. 297  OD Leuna: Informationen über Fluktuationsabsichten, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 95/89, Bd. 1, Bl. 106. 298  Vgl. Schreiben von Generaldirektor Erich Müller an den Minister für Chemie Günther Wyschofsky: Rechenschaftslegung vor dem Minister für das Jahr 1986 vom 23.3.1987; LHASA, MER, I 525, Nr. 18105, Bl. 250.

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nehmen sah sich gezwungen, die Fehlbeträge unter hohen Mehrkosten bei alternativen Anbietern zu besorgen.299 In dieser zugespitzten Situation schaltete sich auch die Objektdienststelle des MfS in Leuna ein. Mit einer genauen Analyse der Probleme und einer Bewertung des verantwortlichen Personals versuchten die Offiziere ab 1988, den Betrieb der Anlage wieder in geregelte Bahnen zu bringen. In enger Abstimmung mit dem Referat »Brände und Störungen« der Abteilung XVIII der Bezirksverwaltung Halle setzten sie dafür zunächst eine umfassende Revision der Anlage durch das Staatliche Amt für Technische Überprüfung (SATÜ) in Gang, um im Anschluss eine Großreparatur anzuordnen. Die Leitung der Instandsetzung übertrugen sie dabei vier sogenannten Experten-IM, bei denen es sich um Werksangehörige mit dem entsprechenden technischen Spezialwissen handelte.300 Darüber hinaus nahm die Objektdienststelle in einem »Operativen Vorgang gegen Unbekannt« die Leitungskader der Betriebsdirektion für Synthesegas in den Blick.301 Im Mittelpunkt stand hier vor allem der Leiter der Methanolabteilung, der bis 1985 als stellvertretender Direktor der Auftragsleitung maßgeblich für die Planung und Umsetzung des Methanolprojekts verantwortlich gewesen war.302 Betrachtet man das »operative« Handeln in diesem Fall genauer, dann fällt auf, dass die Offiziere auf härtere Bestrafungen verzichteten und stattdessen die Belehrung der verantwortlichen Leitungskader über ihre individuellen Kontrollaufgaben in den Mittelpunkt stellten. Im Rahmen ihrer Ermittlungen erkundigten sie sich zum Beispiel, ob in der Vergangenheit alle Störungen erfasst und alle Reparaturen protokolliert und in jeder Abteilung die Funktionspläne korrekt eingehalten worden waren.303 Hätten die Leitungskräfte der Betriebsdirektion solche Vorgaben in der Vergangenheit besser beachtet, so die hinter diesen Recherchen stehende Überzeugung, wären die Zwischenfälle bei Weitem nicht so stark außer Kontrolle geraten.

299  Vgl. OD Leuna: Operativinformation über die Komplexkontrolle in der Niederdruckmethanolanlage vom 17.8.1989; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 3821, Bl. 79. 300  Vgl. OD Leuna: Operativplan OV »Methanol« vom 23.12.1988; ebenda, Bl. 8; vgl. OD Leuna: Reaktionen im VEB Leuna Werke zu Instandsetzungsarbeiten an der neuen Methanolanlage vom 3.3.1989; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 95/89, Bd. 1, Bl. 152. 301  OD Leuna: Eröffnungsbericht vom 20.12.1988; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 3821, Bl. 10. 302  Über die Funktion der Auftragsleitung siehe Schema zur Erfassung der Leitungsstruktur der Kombinate, Anhang eines Schreibens von Prof. Koziolek, Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED, an Generaldirektor Erich Müller vom 13.12.1982; LHASA, MER, I 525, Nr. 17080, n. p. 303  Vgl. Referat »Brände und Störungen« der Abteilung XVIII der BV Halle: Ergebnisbericht über die Dienstreise in die OD Leuna vom 18.2.1989; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 3821, Bl. 14.

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Darüber hinaus führten sie ein »operatives Gespräch« mit dem Leiter der Abteilung Methanol, um ihn an seine »formalen Pflichten« zu erinnern und eventuell strafrechtlich relevante Handlungen herauszufinden.304 Und schließlich überreichten sie dem Direktor der Betriebsdirektion für Synthesegas, Jürgen Daßler, »Empfehlungen […] über die Gewährleistung einer effektiven Kontrolle und Unterstützung der Abteilung Gasprodukte« und verfassten für den Generaldirektor eine Information über die veranlassten technischen Kontrollen und Reparaturen.305 Im Zentrum der geheimpolizeilichen Aktivitäten standen also ganz eindeutig die Mittel der Ermahnung, Kontrolle und Analyse. Von einem sanften Druck auf die verantwortlichen Leiter und ihrer Verpflichtung auf die wichtigsten Betriebsvorschriften versprach sich das Sicherheitsorgan »bedeutende Stabilisierungsmaßnahmen mit einem hohen volkswirtschaftlichen Effekt«, wie es in einem Sachstandsbericht heißt.306 Bedenkt man die Wichtigkeit der Methanolanlage und die zum Teil akuten Probleme seit ihrer Inbetriebnahme so wird – ähnlich wie im Fall Nette – an dieser Stelle ein zurückhaltendes Auftreten des MfS im Kombinat Leuna sichtbar. Weder griffen die Offiziere hart durch und drängten einzelne Verantwortliche aus ihren Positionen noch sprachen sie in ihren internen Berichten die grundlegenden Ursachen der technischen und betriebswirtschaftlichen Schwierigkeiten an. In erster Linie reduzierten sie die Ursache der häufigen Zwischenfälle auf die unzureichenden Kontrollmaßnahmen und das mangelnde Pflichtbewusstsein der involvierten Kader, ohne daraus aber spürbare Konsequenzen für die Beteiligten zu ziehen. Allgemeine ökonomische Zwänge wie der offenkundige Fachkräftemangel in der Abteilung Methanol, vor allem aber eine allgemein schwache Stellung der Offiziere innerhalb der Leuna-Werke dürften die Ursachen für diese Passivität gewesen sein. 4.7.3 Überwachung eines zentralen Betriebsbereiches: Die Disziplinierung der Hauptabteilung Absatz in Buna Eine ähnliche Strategie, um in Schwierigkeiten geratene Kompensationsprojekte zu unterstützen, verfolgte das MfS auch in den Buna-Werken. Die Offiziere vertrauten auch hier auf die Elemente »Analyse«, »Kontrolle«, »Vorschriften« und »Ermahnungen«, ohne dabei weiterreichende ökonomische Problemlösungen anzubieten. Schnell wird allerdings deutlich, dass die Vertreter der OD Buna 304  Vgl. OD Leuna: Operatives Gespräch der OD mit dem Abteilungsleiter Methanol vom 22.12.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 95/89, Bd. 1, Bl. 59. 305  Vgl. OD Leuna: Sachstandsbericht vom 27.6.1989; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 3821, Bl. 67. Vgl. Referat »Brände und Störungen« der Abteilung XVIII der BV Halle: Operative Absprache vom 14.4.1989; ebenda, Bl. 45. 306  OD Leuna: Sachstandsbericht vom 27.6.1989; ebenda, Bl. 67.

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gegenüber den leitenden Funktionären des Kombinats weitaus repressiver auftraten als ihre Kollegen in den Leuna-Werken. Der Spielraum für »operative« Aktivitäten schien im Kombinat Buna deutlich größer zu sein. Im Folgenden sollen zwei Erklärungen für dieses Phänomen vorgestellt werden, um im Anschluss auf das eigentliche Handeln der Offiziere im Kombinat Buna einzugehen. Nachdem bislang mit Nette eine Schlüsselfigur für die Investitionsprojekte der Chemiebranche und mit der Methanolanlage ein typisches Großprojekt auf Kompensationsbasis betrachtet wurde, soll dabei mit der Direktion für Beschaffung und Absatz ein entscheidender Koordinierungsbereich für die Abwicklung der wichtigsten Investitions- und Außenhandelsvorhaben des Buna-Kombinats im Mittelpunkt stehen. Woher kam also das deutlich offensivere Agieren der Offiziere in den Buna-Werken? Zum einen muss die grundsätzliche politische Einflusslosigkeit der Bunaer Kombinatsführung als Ursache angeführt werden. In den 1980er-Jahren waren die Generaldirektoren allesamt nur kurz im Amt und erhielten keine höheren Funktionen innerhalb der SED. Die SED-Kreisleitung war damit das eigentliche Machtzentrum im Kombinat, was der MfS-Objektdienststelle als ihr wichtigstes Werkzeug eine vergleichsweise große Handlungsfähigkeit verlieh. Konnte der Generaldirektor dagegen eine längere Amtszeit vorweisen und innerhalb der SED-Hierarchie eine Position über dem 1. Sekretär der Kreisleitung erreichen, wie das ZK-Mitglied Müller in Leuna, hatte das lokale SEDOrgan oftmals das Nachsehen – und mit ihm auch die Objektdienststelle. Wie unterschiedlich die Machtverhältnisse zwischen Kreisleitung und Generaldirektion verteilt sein konnten, illustriert zum Beispiel das völlig unterschiedliche Gewicht der jeweiligen Sicherheitsbeauftragten in Buna und Leuna, auf das bereits im zweiten Kapitel eingegangen wurde. Das härtere Durchgreifen der Offiziere kann zum anderen aber auch mit dem hohen Plandruck für die Buna-Werke erklärt werden. Die Auflagen waren hier besonders hoch, da das Kombinat eine spezifische Bedeutung für die Binnenversorgung der DDR besaß: Buna-Produkte wie Kautschuk oder Thermoplastiken wurden in allen Betrieben der DDR permanent nachgefragt. Als umfassender Ausstatter der einheimischen Industrie, allen voran der Produzenten von Konsumgütern, konnte sich das Kombinat Planrückstände weit weniger erlauben als reine Exportbetriebe wie Leuna oder Schwedt. Hinzu kam, dass die Anforderungen an den Export Anfang der 1980er-Jahre besonders in den Buna-Werken drastisch zugenommen hatten, da just mit dem Beginn der akuten Zahlungsbilanzkrise auch die Abbezahlung des oben bereits vorgestellten Komplexvorhabens (KVB) für die Erweiterung der Kunststoffproduktion fällig wurde. Auch durch diese unglückliche Fügung war die allgemeine Anspannung zu Beginn der 1980er-Jahre hier besonders deutlich zu spüren, was auch zu einer härteren Gangart des MfS geführt haben könnte.

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Wie genau sah nun diese härtere Gangart aus? Seit Anfang der 1980er-Jahre war das Kombinat vor allem damit beschäftigt, die Refinanzierung des Komplexvorhabens sicherzustellen. Wie häufig bei solchen Anlageneinkäufen drehte sich die Diskussion bei diesem Projekt vor allem um die Qualität der produzierten Exporterzeugnisse, in diesem Fall um die Qualität der Buna-Kunststoffe. Während der Verhandlungen war dem Vertragspartner Hoechst als Gegenleistung für die Anlagenlieferung hochwertiges Suspensions-PVC versprochen worden. Dessen Herstellung bereitete Buna allerdings größere Schwierigkeiten als gedacht, sodass es wiederholt auf Emulsions-PVC zurückgreifen musste, ein weitaus anspruchsloserer Kunststoff, den Hoechst allerdings nicht als Kompensationsware akzeptieren wollte. Dass auf die unzureichende Typenpalette der Buna-Werke im Bereich PVC bereits zu Beginn der Planungen für das Komplexvorhaben im Jahr 1975 hingewiesen worden war, rief der Direktor des Wissenschaftlichen Koordinierungszentrums, Klaus Hoffmann, in einem Schreiben an den Generaldirektor Helmut Pohle im Mai 1980 in Erinnerung.307 Die damalige Entscheidungsfindung im Führungsstab sei jedoch, so Hoffmann, von »stark politischen Aspekten« beeinflusst gewesen. »Der Vertragsabschluss mit Hoechst war gesetzt. Die Einwände zur PVC-Qualität wurden nur zur Kenntnis genommen.«308 Als die Qualitäts- und Exportprobleme schließlich wie prognostiziert Anfang der 1980er-Jahre eintraten, reagierte das MfS vor Ort mit hektischem Druck auf einzelne verantwortliche Kader, allen voran auf die Führungskräfte der Betriebsdirektion Absatz und Beschaffung. Das oben beschriebene massive Vorgehen gegen den Leiter der Hauptabteilung Absatz, Hans Joachim Scharf, mit einem mehrtägigen Verhör und abschließender Entlassung, war nicht nur auf die allgemeinen Vorbehalte gegenüber der Vertreterfirma Plel zurückzuführen, sondern stand auch mit den akuten Schwierigkeiten beim Komplexvorhaben im 307 Das »Wissenschaftliche Forschungs- und Koordinierungszentrum«, kurz: »WKZ«, ging im Januar 1980 auf Veranlassung des Chemieministeriums aus der Hauptabteilung Anwendungstechnik hervor und war direkt beim Generaldirektor angesiedelt. Es sollte den Bedarf hochpolymerer Werkstoffe besser abschätzen, eine möglichst zügige Überleitung innovativer Kunst- und Gummistoffe vom Laborstadium in die Massenproduktion herbeiführen und Spielräume für Importablösen ausloten. Studien über Dämmstoffe, PVC-Typen oder die Entwicklung der Gummiindustrie sind Beispiele für die Arbeiten des WKZ. In ähnlicher Form wurden solche Zentren für Forschungs- und Strategiefragen auch in anderen Chemiekombinaten aufgebaut. Aus ihnen sollte ein Netzwerk aus betrieblichen Forschungsdirektionen, Industrieministerien und Hochschuleinrichtungen hervorgehen, um langfristig zu einer innovativeren und wettbewerbsfähigeren chemischen Industrie zu gelangen. Vgl. WKZ Buna: Einschätzung der Einrichtung und Wirksamkeit des »Wissenschaftlichen Forschungs- und Koordinierungszentrums« vom 31.10.1980; LHASA, MER, I529, Nr. 4129, n. p.; Kombinat Buna: Verfügung 1/80 über die Stellung, Aufgaben und Arbeitsweise des WKZ vom 14.1.1980; LHASA, MER, I 529, Nr. 4129, n. p. 308  Schreiben des Direktors des WKZ, Klaus Hoffmann, an den Generaldirektor der Buna-Werke Helmut Pohle vom 8.5.1980; LHASA, MER, I 529, Nr. 4129, n. p.

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Zusammenhang. Denn Scharf wurden Anfang der 1980er-Jahre neben seinem Vertrauensverhältnis zum Plel-Geschäftsführer Leuwer und dem Aufbau eines illegalen Beschaffungswesens für Büromaterialien nicht zuletzt auch die jahrelange Untererfüllung des PVC-Exportplans vorgeworfen. Nach Überzeugung der Objektdienststelle war dafür weniger eine originäre Fehlplanung innerhalb des kleinen Vorbereitungsteams für das KVB um Harald Maiwald und Helmut Pohle verantwortlich, sondern vielmehr die unzuverlässigen Absatzkonzeptionen Leuwers, der im Jahr 1976 zum Beispiel einen Verkauf von 50 Kilotonnen PVC für das Jahr 1979 versprochen hatte, am Ende aber nur 18 Kilotonnen realisieren konnte. Bereits im Jahr 1980 beliefen sich die Kosten der Exportausfälle dadurch auf mindestens 12 Millionen Mark.309 Scharf, so der Vorwurf der Objektdienststelle, habe sich auf die risikoreichen Abmachungen mit Plel nur allzu schnell eingelassen, da für ihn der Erfolg des Komplexvorhabens weniger entscheidend gewesen sei, als die außerplanmäßigen Beschaffungen für seine Abteilung. In diesen Egoismen leitender Kader, so die Überzeugung des MfS, liege die eigentliche Ursache für die chronische Exportschwäche der Kombinate und die schleppende Umsetzung vieler Kompensationsprojekte. »Scharf hat Anteil daran«, so der Abschlussbericht des Operativen Vorgangs »Export«, »dass das Kombinat Buna seit Jahren den NSW-Export-Plan untererfüllt, weil er sich mit dieser Aufgabenstellung nicht identifizierte und […] durch Sondergeschäfte behinderte.«310 Um die leitenden Vertreter der Fachdirektion stärker zu disziplinieren und die Außenhandelsarbeit der Buna-Werke bis zur Leipziger Frühjahrsmesse im Jahr 1982 auf Erfolgskurs zu bringen, setzte die Objektdienststelle im November 1981 in Absprache mit dem Generaldirektor die »Arbeitsgruppe NSW-Export« ein.311 Ziel der AG war es, mit den Vertretern der Außenhandelsdirektion eine grundlegende Aussprache über die Refinanzierungsprobleme bei Kompensationsprojekten und möglichen Veränderungen im Exportbereich zu führen. Dafür bat der Leiter der Arbeitsgruppe, Sicherheitsbeauftragter Hans Schlag, alle Abteilungsleiter um eine schriftliche Stellungnahme. Unter anderem wollte der Inspekteur wissen, welche persönlichen Verbesserungsvorschläge sie für den Exportbereich beisteuern können und welche konkreten Maßnahmen sie in ihren Abteilungen bereits eingeleitet haben. Bei den Adressaten lösten diese Fragen allerdings erhebliche Unruhe aus. Die staatlichen Leiter erkannten darin eine unangemessene Einmischung in ihren

309  Vgl. OD Buna: Ergebnisbericht OV »Export« vom 5.5.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 1680/82, Bd. 1, Bl. 15. 310  OD Buna: Abschlussbericht OV »Export« vom 29.3.1982; ebenda, Bd. 2, Bl. 165. 311  Vgl. OD Buna: Protokoll zu einer Absprache zum OV »Export« in Vorbereitung der LHM 1981 vom 25.8.1981; ebenda, Bd. 2, Bl. 191.

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Verantwortungsbereich und eine gefährliche Aufforderung zur Selbstkritik.312 Um den Einzelgesprächen mit der Inspektion aus dem Weg zu gehen, legten sie beim Generaldirektor Pohle Beschwerde ein. Der Kombinatsleiter wandte sich daraufhin direkt an Schlag. Dieser berichtete gegenüber der Objektdienststelle: Er erklärte mir, dass er Informationen vorliegen habe, wonach durch einen von mir übergebenen Fragespiegel bei den staatlichen Leitern im DBA-Bereich eine große Verunsicherung eingetreten sei. In einer Situation, in der von allen große Anstrengungen für die maximale Erfüllung der NSW-Exporte verlangt werden müssen, halte er eine solche zusätzliche Belastung nicht für gut. Wörtlich sagte er: ›So geht das nicht‹.313

Am Ende füllten die staatlichen Leiter den Fragebogen aber trotzdem aus – und das mit zum Teil deutlichen Worten. Der Abteilungsleiter für Absatz Thermoplaste/PVC, Günter Schulz, monierte zum Beispiel in einer seiner Antworten die starke Fixierung des Kombinats auf die Kennziffer »Warenproduktion«. »Die Willkür der Produktion im Sinne der Sicherung der Kennziffer WP«, so Schulz, setze »der termin- und vertragsgerechten Auslieferung entscheidende Grenzen.« Die Folge seien »hohe Bestände bei gleichzeitig hohen Vertragsrückständen«.314 Sein Kollege, der Abteilungsleiter Absatz für den Bereich Organische Spezialprodukte, hob vor allem die »Nichterfüllbarkeit der Planvorgaben« hervor. Die Exportanforderungen seien mit dem bereitgestellten Warenfonds völlig unvereinbar. Um eine Planerfüllung zu gewährleisten, müssten notfalls auch Abstriche bei der Binnenversorgung hingenommen werden.315 Und der Hauptabteilungsleiter für Absatz, Hans Joachim Scharf, nutzte die Nachfragen des Sicherheitsbeauftragten, um einmal mehr für sein Kernanliegen zu werben: der vollständigen Übertragung der Außenhandelskompetenzen auf die Kombinate. Eine Bündelung aller Marktinformationen, Kundenkontakte und Verhandlungen bei einer Exportdirektion des Kombinats, so Scharf, würde den 312  Über eine Aussage von Ulrich Bartz, zu dieser Zeit stellvertretender Direktor für Beschaffung und Absatz, sagte Sicherheitsberater Schlag: »Er habe aber gespürt, dass die betroffenen Leiter sehr unsicher geworden seien, dass sie bei der Darstellung der Verantwortung und eventuellen Verstößen gegen gesetzliche Bestimmungen zur persönlichen Verantwortung gezogen werden könnten. Da er [Bartz] selbst nicht mehr weiß, wie alle Weisungen und Forderungen, die an den DBA gestellt werden, erfüllt werden sollen, habe er [Bartz] es für erforderlich gehalten, den GD über die Situation zu informieren.« OD Buna: Bericht des Sicherheitsbeauftragten Hans Schlag vom 30.11.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 1680/82, Bd. 2, Bl. 3. 313  OD Buna: Bericht des Sicherheitsbeauftragten Hans Schlag vom 30.11.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 1680/82, Bd. 2, Bl. 4. 314  Antwort auf Fragenkatalog von Günter Schulz vom 27.11.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 1680/82, Bd. 2, Bl. 14. 315  Antwort auf Fragenkatalog vom 23.11.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 1680/82, Bd. 2, Bl. 17.

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Absatzerfolg deutlich verbessern. Das gegenwärtige Kompetenzchaos hingegen stehe einer reibungslosen Planumsetzung diametral entgegen. »Man kann oftmals nicht mehr alle sich widersprechenden Weisungen und Aufgaben umsetzen, die da unaufhörlich auf uns zurollen«, so Scharf gegenüber einem Offizier der Objektdienststelle. »Auch ist das gesamte Leitungsgefüge total verschoben. Minister, Generaldirektor und Direktoren kümmern sich um Dinge, die in den Verantwortungsbereich von HA-Leitern, Abteilungsleitern gehören. […] Die Qualität der Leitung der Prozesse leidet darunter. Man kommt sich als Handlanger und nicht mehr als verantwortlicher Leiter vor.«316 Die »AG NSW-Export« des Sicherheitsinspektors Schlag erhielt also ein vielfältiges Feedback. Ungeschönt, konstruktiv und realitätsnah schilderten die Verantwortlichen ihre Sicht auf die Probleme des Außenhandels. Die Rolle der Handelsfirma Plel spielte da nur am Rande eine Rolle. Ob die Objektdienststelle Buna auf dieser Basis ein tragfähiges Konzept für organisatorische Reformen entwickelte, ist nicht überliefert. Fest steht aber, dass sie für die Rettung des Komplexvorhabens zunächst einmal auf eine stärkere Disziplinierung der Außenhandelsdirektion setzte. Die Entlassung Scharfs im Februar 1982 bildete dabei nur den Auftakt. Von seinem Nachfolger, dem neuen Hauptabteilungsleiter für Absatz Ulrich Bartz, verlangten die Offiziere eine deutlich bessere Kooperation. »Es wurde Einigkeit erzielt, dass zur Erreichung der Zielstellung der Refinanzierung [des Komplexvorhabens] die Zusammenarbeit mit dem MfS notwendig und nicht umgehbar ist«, so ein Bericht der Objektdienststelle nach einem ersten Treffen mit Bartz.317 Um »feindliche Handlungen zu erkennen«, sollte auch der Umgang mit Plel überdacht werden, »denn wenn Feindtätigkeit betrieben wird, dann über die Vertreterfirmen«, so der Bericht weiter.318 Aus Sicht der Offiziere erwies sich Bartz dabei schnell als ideale Besetzung. In seinem neuen Amt versorgte er die Offiziere mit detaillierten Übersichten zu Importen, Exporten und Absatzrückständen.319 Darüber hinaus meldete er freiwillig politisch auffällige Beschäftigte320 und sorgte dafür, dass die Kontakte zur Plel-Geschäftsführung auf das Notwendigste reduziert wurden – unter anderem mit einem Teilnahmeverbot

316  Antworten auf Fragenkatalog von Hans Joachim Scharf vom 30.11.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 1680/82, Bd. 2, Bl. 10. 317  OD Buna: Kontaktgespräch mit Ulrich Bartz vom 1.7.1980; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1003/82, Teil 2, Bd. 3, Bl. 8. 318 Ebenda. 319  Vgl. ebenda. 320  Im Dezember 1982 meldete Bartz der OD z. B. eine Verkäuferin in der Hauptabteilung Absatz mit häufigen Westkontakten. Siehe dazu Kapitel 2, Abschnitt 2.4.4. Vgl. ebenso OD Buna: IM-Bericht. Tonbandabschrift vom 3.12.1982; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1003/82, Teil II, Bd. 3, Bl. 89.

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für Buna-Außenhändler an den sogenannten PVC-Abenden der Handelsgesellschaft im Anschluss an größere Verhandlungsrunden.321 Diese sicherheitsaffine Grundgesinnung von Bartz bestärkte das MfS darin, die inoffizielle Zusammenarbeit mit ihm auszubauen. Diente Bartz der Objektdienststelle noch bis zum Frühjahr 1982 als einfache »Kontaktperson«, wurde er mit Übernahme seiner neuen Funktion als Hauptabteilungsleiter Absatz als inoffizieller Mitarbeiter (IM »Leiter«) geworben.322 Ein Jahr später stand bereits seine Qualifizierung zu einer höheren IM-Kategorie – einem »IM der Abwehr mit Feindverbindung« (IMB) – zur Diskussion.323 Dass die Objektdienststelle mithilfe der neuen Vertrauensperson auch ihre inoffizielle Präsenz in der Direktion Beschaffung und Absatz ausbauen konnte, bezeugt ein Bericht über ein Treffgespräch zwischen Bartz und seinem Führungsoffizier, Oberstleutnant Klaus Dieter Franz, aus dem September 1985. Bei dieser Unterredung wurde Bartz beauftragt, eine Person zum Gruppenleiter »Organische Spezialprodukte« (OSP) zu befördern, die Franz als IM »Jurist« führte. Im kommenden Jahr, so die Vorgabe Franz an Bartz, solle »Jurist« dann auch die Leitung der Abteilung OSP übernehmen, da es beim jetzigen Leiter »kaderpolitische Bedenken« gebe. »Bis spätestens Ende 1986«, so Franz, seien »die Vorbehalte [gegenüber dem jetzigen Leiter] soweit verdichtet, dass diese auch zur Herauslösung aus seiner Funktion als Abteilungsleiter führen können.«324 Darüber hinaus wünschte sich der Führungsoffizier den Einsatz von IM »Bilanz« als neuen Abteilungsleiter Export und von IM »Vase« als neuen Abteilungsleiter PVC-Exporte. Obwohl Bartz an dieser Stelle auf die unzureichenden Erfahrungen der beiden vorgeschlagenen Kandidaten aufmerksam machte, hielt Franz an seinen Personalwünschen fest.325 Bei der Auswertung des Treffens verkündete der Offizier schließlich zufrieden, dass »im Rahmen der Sicherung der Außenwirtschaftsbeziehungen […] die IM ›Bilanz‹, ›Vase‹ und ›Jurist‹ gedeckt in Funktionen lanciert wurden, die der […] aufklärungsmäßige[n] Abwehrarbeit im und nach dem Operationsgebiet326 für den kommenden Planzeitraum optimal Rechnung tragen«.327 Um sich der »auftragsgemäß […] eingeleiteten Aktivitäten« von Bartz noch einmal zu vergewissern, ging Franz bei einem weiteren 321  Vgl. OD Buna: Treffauswertung vom 15.3.1982; ebenda, Teil II, Bd. 3, Bl. 44. 322  Vgl. OD Buna: Vorschlag zur Werbung eines inoffiziellen Mitarbeiters vom 30.5.1982; ebenda, Teil II, Bd. 1, S. 93. 323  Vgl. OD Buna: Stellungnahme zum Treff mit IMS »Leiter« vom 12.1.1983; ebenda, Teil II, Bd. 3, Bl. 121. 324 OD Buna: Treffauswertung vom 27.9.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1003/82, Teil II, Bd. 4, Bl. 62. 325  Vgl. ebenda. 326  Der MfS-Ausdruck »im und nach dem Operationsgebiet« stand gleichbedeutend für das Territorium der Bundesrepublik. 327 OD Buna: Treffauswertung vom 27.9.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1003/82, Teil II, Bd. 4, Bl. 63.

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Treffen im November 1985 wiederholt auf die Personalangelegenheiten seiner Abteilung ein. Anschließend konnte der Führungsoffizier feststellen, dass »unter Einhaltung der Konspiration der weitere Einsatz des IMB ›Bilanz‹ als Abteilungsleiter Export, der Einsatz des IM ›Vase‹ auf der Hauptexportstrecke PVC sowie das problemlose perspektivische Herauslösen des IM ›Hansen‹ über den IM ›Leiter‹ [Bartz] veranlasst [wurden]«.328

4.8  Fehlerquelle »Mensch« – Über die Personalisierung von Strukturproblemen und die Vorstellung von der »objektiv richtigen« Entscheidung Die enge Zusammenarbeit mit Bartz zeigt deutlich, dass die Objektdienststelle des MfS in Buna den Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Komplexvorhabens hauptsächlich mit einer stärkeren Maßregelung der Leitungskräfte im Exportbereich begegnen wollte. Die Offiziere platzierten mithilfe des neuen loyalen Hauptabteilungsleiters geeignete inoffizielle Mitarbeiter, entfernten einzelne aus ihrer Sicht unzuverlässige Führungskräfte wie Scharf oder IM »Hansen«, beorderten die verbliebenen Leiter zu Einzelgesprächen mit dem Sicherheitsbeauftragten und veranlassten, die Beziehungen zur Vertreterfirma Plel auf ein Minimum zurückzufahren. Die oben angeführten Fallbeispiele aus der Hauptabteilung Absatz in Buna und der Betriebsdirektion für Synthesegas in Leuna verdeutlichen, dass das MfS für eine verbesserte Exportleistung der Kombinate weniger auf Erfahrung und Eigeninitiative, sondern vorrangig auf Ermahnung, Loyalität und Kontrolle setzte. Komplexe Strukturprobleme wie die unzureichende Qualität der Buna-Kunststoffe oder die Instabilität der Leunaer Methanolanlage wurden dabei schnell in Personalprobleme wie eine fehlende Motivation, falsche Gesinnung oder eine zu große »Feindnähe« der verantwortlichen Funktionäre umgedeutet. Die Investitionsprojekte, so die dahinterliegende Grundannahme, seien stimmig berechnet und angemessen vorbereitet. Ihre praktische Umsetzung jedoch scheitere hauptsächlich an den Eigeninteressen und der ideologischen Schwäche einzelner Funktionäre, hinter denen nicht selten ein verdeckter westlicher »Kontrahent« wirke. Die Suche nach individuellem Fehlverhalten dominierte damit die tägliche Arbeit der MfS-Offiziere. Gewiss zählte dies auch zu den Aufgaben und Kompetenzen einer polizeilichen Ermittlungsbehörde. Ihr Hang zur Personalisierung entsprach aber auch dem Versuch, eigentlich kaum beherrschbare Herausforderungen – wie die fehlende Plandisziplin der Betriebe oder die Finanzierungslücken bei Anlageneinkäufen – auf ein greifbares, verständliches und auch lösbares Format zu bringen – und zwar greifbar und lösbar mit dis328  Ebenda, Bl. 83.

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ziplinarischen und geheimpolizeilichen Mitteln. Indem die MfS-Offiziere die Wirtschaftsfunktionäre in relevanten Positionen beobachteten, zur geheimen Zusammenarbeit verpflichteten, in Aussprachen und Verhören disziplinierten oder mit konspirativen Ermittlungen belasteten, glaubten sie, einen Beitrag für ein besseres Funktionieren des Kombinats und der Wirtschaftsorganisation als Ganzes leisten zu können. Dieses personenbezogene und feindbildgeleitete Handeln kontrastierte mit dem eigentlich sehr realistischen und umfassenden Kenntnisstand der Offiziere über die tatsächlichen strukturellen Schwächen der Industrieproduktion und des Außenhandels.  Sowohl die Hauptabteilung XVIII des MfS in Berlin als auch die Objektdienststellen an der Basis verfügten über exzellente Kontakte zu Planern im Ministerrat, Volkswirten an den Universitäten und Managern in den Betrieben. Ob das chronische Problem der Überleitung, die illusionären Exportvorgaben der SED, die Kundenferne der Kombinate oder die Minderqualität der Kompensationsware: All die im System angelegten Dysfunktionen wurden von den zahlreichen Gesprächspartnern der Offiziere ausführlich geschildert. Expertise zu akquirieren, stellte für die Linie XVIII also kein Problem dar, das Gutachten der Hauptabteilung XVIII des MfS aus dem Jahr 1982 und die zur gleichen Zeit eingerichtete »AG NSW-Export« der Objektdienststelle Buna sind dafür zwei Beispiele. Trotzdem vermuteten die Offiziere in konkreten Problemfällen – wie bei einer Methanolanlage voller Funktionsmängel oder bei PVC ohne ausreichender Qualität – schnell fahrlässiges Verhalten, wenn nicht gar »feindliche« Absichten der involvierten Kader. Strukturelle Faktoren wurden erst einmal ausgeblendet, individuelles Fehlverhalten dagegen als wahrscheinlichste Fehlerquelle in den Mittelpunkt gerückt. Um bei ihnen ein zuverlässiges Funktionieren wiederherzustellen, vertrauten die Offiziere auf eine strengere Anleitung durch Direktiven und Betriebsvorschriften, begleitet durch eine verstärkte konspirative Kontrolle. Das grundsätzliche Misstrauen gegenüber einzelnen Personen ging demnach mit einem geradezu uferlosen Vertrauen auf Regeln und Kontrolle einher. Dieses Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster war keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal des MfS, sondern entsprach einer grundlegenden Denkweise innerhalb der SED und tendenziell auch der Wirtschaftsverwaltung. Lag ein komplexes Problem vor, wie der chronische Fachkräftemangel, die ökologische Belastung im Zuge der Energieträgerumstellung oder die Innovationsschwäche der Kombinate, standen zuallererst die verantwortlichen Funktionäre vor Ort in der Kritik. Auch in Partei und Staatsverwaltung wurden Strukturfragen gern »personalisiert«. Der Versuch, die schwindende Plandisziplin über den Ausbau der Inspektionen oder über eine verschärfte Anwendung des Wirtschaftsstrafrechts wiederherzustellen, illustriert diesen Mechanismus.  Vor allem im Rückblick erscheint diese Reduzierung der Fehleranalyse auf das individuelle Versagen einzelner Funktionäre als Kunstgriff, um von den po-

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litisch-ideologisch bedingten Strukturfehlern abzulenken und die Probleme lösbar erscheinen zu lassen. Für die Akteure der Zeit allerdings basierte diese Herangehensweise auch auf der Überzeugung, dass die Planvorgaben der Partei eine »objektiv richtige«, weil »wissenschaftlich« gefundene Entscheidung wiedergaben. Bei der Umsetzung des Jahresplans, so die leitende Vorstellung, ginge es weniger um einen Prozess des Ausprobierens und Revidierens, als vielmehr um die Verwirklichung jener »objektiven Gesetzmäßigkeiten«, die der Produktion und dem Austausch von Waren innewohne, die von der »Politischen Ökonomie« als exakter Wissenschaft beschrieben und durch die Beschlüsse der Partei verwirklicht werde.329 Das Gegenstück zur »objektiv richtigen« Entscheidung bildeten wiederum die negativ konnotierten »subjektiven Verhaltensweisen«. Das »Subjektive« drückte nicht Wissenschaftlichkeit aus, sondern Eigeninteresse und stand damit der geordneten, planmäßigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft entgegen. Geriet ein Staatsplan- oder Politbürovorhaben in Schwierigkeiten, stand ein solcher »Subjektivismusvorwurf« schnell im Raum, also die Vermutung, ein Funktionär an der Spitze oder im Apparat der Wirtschaftsverwaltung habe unprofessionell oder nach rein individuellen Erwägungen gehandelt.330 Hinweise auf »objektive Faktoren«, also auf tieferliegende, strukturelle Ursachen oder verhängnisvolle Parteitagsbeschlüsse, wurden in den Parteigremien, allen voran im Politbüro, vehement abgewehrt.331 Dieses Misstrauen in der SED gegenüber eigenständigen Entscheidungen und partikularen Interessen kam bei ihrem wichtigsten Instrument für Kontrolle und Disziplinierung – dem MfS – besonders deutlich zum Ausdruck. Dessen personenfixierte Überwachungsarbeit kann somit auch als Pendant zur SED-typischen Gegenüberstellung von »objektiv richtigem« Plan und »subjektiv« schädlichem Einzelhandeln beschrieben werden.

4.9  Ehrlichkeit als Verhängnis – Paul Just und die Suche des MfS nach den »subjektiven« Problemursachen Welche gravierenden Folgen diese Strategie der Personalisierung für einzelne Funktionäre haben konnte, zeigt der Umgang mit Paul Just, einem Abschnittsleiter im Wissenschaftlichen Koordinierungszentrum der Buna-Werke. Sein Beispiel veranschaulicht, dass SED und MfS vor allen im Kombinat Buna zum Teil sehr drastisch gegen einzelne ausgewählte Leitungskräfte vorgingen. Dieser Fall soll hier ausführlicher behandelt werden, da er den Widerspruch zwi329  Vgl. Fiedler: Wirtschaftstheoretische Grundlagen, S. 11 u. 14. 330  Vgl. Weinert: Wirtschaftsführung, S. 304. 331  Vgl. Fiedler: Wirtschaftstheoretische Grundlagen, S.  20; Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 211.

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schen der Kenntnis struktureller Ursachen für bestimmte betriebliche Probleme und der gleichzeitigen Suche nach individuellen Verantwortlichen besonders gut sichtbar macht. Warum wurde das MfS auf Just aufmerksam? Als technischer Berater für die Anwendung von Buna-Kunststoffen stand der staatliche Leiter mit zahlreichen westlichen Abnehmern, allen voran mit der Vertreterfirma Plel, in engstem Kontakt. Schnell wurde er daher für die Schwierigkeiten eines der wichtigsten Nachfolgeprojekte der Produktionserweiterung im Bereich PVC (Komplexvorhaben) verantwortlich gemacht: der Errichtung einer neuen Anlage für Niederdruckpolyethylen (NDPE) durch den amerikanischen Anlagenhersteller Dow Chemical ab Mitte der 1980er-Jahre.332 Das Thermoplast NDPE war besonders gut für die Herstellung von wasserund säurebeständigen Fässern, Rohren und Kanistern geeignet und zählte daher in den 1980er-Jahren zu den gefragtesten Gütern der DDR-Chemiebranche. Mit einer Investition von 350 Millionen Mark und 100 Millionen DM sollte die Produktion von NDPE daher zwischen 1985 und 1987 um bis zu 25 000 Tonnen gesteigert werden. Die Buna-Werke versprachen sich davon ein Exportwachstum im Wert von 18 Millionen DM und eine Importablöse im Wert von 20 Millionen DM.333 Diese wie gewohnt äußerst optimistische Absatzerwartung bildete die Grundlage eines Refinanzierungsvertrags mit dem Münchner Anlagenlieferanten Linde. Die Realisierung der geplanten Exportzuwächse lag in der Verantwortung der Firma Plel, die in der Pflicht stand, für das Buna-NDPE geeignete Abnehmer zu finden. Obwohl die Kalkulation aus Sicht des Kombinats wohldurchdacht erschien, kam Plel aber schon frühzeitig, bereits Ende 1985, mit den notwendigen Exporteinnahmen in Verzug, da den westlichen Abnehmern immer wieder Preisnachlässe gewährt werden mussten. Die Hauptursache war eine völlig unzureichende Qualität des Buna-NDPE. Hatte das anspruchslose PVC-E bereits das Komplexvorhaben gefährdet, so brachte die Unzulänglichkeit der Buna-Thermoplaststoffe nun auch das Folgeprojekt, die Neuanlage für Niederdruckpolyethylen, in Bedrängnis.  Dass ungenügende Qualität einmal mehr die Kompensationsstrategie des Kombinats durchkreuzt hatte, war auch der Objektdienststelle Buna nicht entgangen, die von Beginn an das Projekt intensiv beobachtet hatte.334 Im Juli 1986 332  Vgl. OD Buna: Eröffnungsbericht vom 12.7.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 2991/88, Bd. 1, Bl. 85. 333  Vgl. Zentrale staatliche Inspektion für Investition: Gutachten des Investitionsvorhabens »Erweiterung der Produktion von NDPE im Kombinat«, Mai 1984; LHASA, MER, I 529, Nr. 3462, n. p. Vgl. auch OD Buna: Sicherungskonzeption K-Vorhaben »Erweiterung NDPE-Produktion« vom 22.12.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 256, Bl. 258. 334  Laut Sicherungskonzeption der OD Buna liefen im Rahmen dieser Investition 3 OV, 5  OPK und 24  Sicherheitsüberprüfungen. Insgesamt kamen 16 IM zum Einsatz. Vgl. OD

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musste sie einsehen, dass »das Produkt NDPE […] im NSW-Export schon seit mehreren Jahren eine Exportware mit latenter Reklamationsgefahr [darstellt]«. Hauptursache war laut MfS-Analyse die außergewöhnlich kleine Projektierung der Anlage mit 25 Kilotonnen, wodurch eine nachgeordnete und nicht synchrone Produktion der einzelnen Polyethylentypen notwendig wurde. Ungewöhnlich viele Übergangsprodukte und das aufwendige Zwischenlagern einzelner Produkttypen waren die Folge. Hinzu kamen die deutlich gestiegenen Qualitätsanforderungen der westlichen Abnehmer vor allem in Bezug auf die Festigkeit und Belastbarkeit der Folien und Spritzgußtypen.335 Bei dieser realistischen Einschätzung wollten es die Offiziere des MfS aber nicht belassen. Vielmehr waren sie davon überzeugt, dass die niedrigen Erlöse auch auf das Fehlverhalten einzelner Leiter zurückgeführt werden konnten. Ganz besonders hinderlich wirkte sich ihrer Meinung nach das Verhalten von Paul Just aus, der als Experte für Polyolefine336 westliche Kunden bei der richtigen Anwendung von NDPE beriet. Dabei, und das wurde ihm schließlich zum Verhängnis, machte er die Abnehmer auch auf die bestehenden Qualitätsmängel der Buna-Ware aufmerksam und gab ihnen Hinweise, wie diese trotzdem erfolgreich verarbeitet werden konnte.337 Um überhaupt ein Minimum an NDPE-Absatz zu realisieren, empfahl er zum Beispiel der Vertretergesellschaft Plel, spezialisierte Firmen auszuwählen, die mit der Minderqualität technisch gut umgehen konnten und ihnen dafür reduzierte Preise zu gewähren.338 Das MfS, und im weiteren Verlauf auch die SED-Kreisleitung, wollten in dieser Beratungstätigkeit aber weniger eine faire Kundenbetreuung, als vielmehr eine Form der Korruption mit erheblicher Schädigung des Kompensationsprojekts erkennen. Denn Just, so der Vorwurf, würde mit seinen Hinweisen auf Qualitätsmängel die Verhandlungspartner zu Forderungen nach Preisnachlässen geradezu animieren und diese gegen Annahme von Geschenken und

Buna: Sicherungskonzeption K-Vorhaben »Erweiterung NDPE-Produktion« vom 22.12.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 256, Bl. 258. 335 OD Buna: Ergebnisbericht vom 8.7.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 2991/88, Bd. 2, Bl. 143. Vgl. Zeitzeugengespräch mit Paul Just am 9.8.2017. 336  Sammelbezeichnung für Thermoplasten, die sich durch gute chemische Beständigkeit und elektrische Isoliereigenschaften auszeichnen. Zu ihnen zählen unter anderem Polyethylen und Polypropylen. Polyolefine entstehen durch eine Reaktion (Polymerisation) von Alkenen wie Ethylen, Propylen oder Buten-1. Vgl. http://www.chemie.de/lexikon/Polyolefine.html, abgerufen am 3.1.2018. 337  Vgl. Kreisleitung der SED Buna, Kreisparteikontrollkommission: Einschätzung zum partei- und staatsfeindlichen Verhalten des Genossen Paul Just vom 1.9.1987; LHASA, MER, IV/F-405/120, n. p. 338  Vgl. OD Buna: Abschlussbericht vom 30.5.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 2991/88, Bd. 2, Bl. 424.

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Einladungen auch bereitwillig akzeptieren.339 Damit bringe er nicht nur das Kombinat um seine verdienten Einnahmen, sondern ermögliche auch dem Zwischenhändler Plel erhebliche »Sonderprofite«.340 Dessen Geschäftsführung habe er darüber hinaus – so ein weiterer Vorwurf – mit belastenden Hinweisen über den Generaldirektor Hans-Joachim Kozyk, den Direktor des WKZ Klaus Hoffmann und den Abteilungsleiter für PVC-Exporte Günter Schulz versorgt und auf diese Weise »zugelassen, dass leitende Kader des Kombinates durch den Klassengegner verleumdet wurden«.341 Die Liste der Anschuldigungen gegen Just war also lang. Aus Sicht der Geheimpolizei und der lokalen SED repräsentierte er genau jenen Funktionärstypus, dessen unberechenbaren Eigeninitiativen, ideologische Unreife und Offenheit gegenüber westlichen Unternehmen ein Haupthindernis für zentrale Planprojekte wie das der NDPE-Neuanlage darstellten.342 Genau bei solchen eigensinnigen Kadern wollte die OD Buna disziplinierend eingreifen und leitete daher im Juli 1985 wegen Verdachts auf »Vertrauensmissbrauch« (§ 165 StGB), »unbefugtes Offenbaren von wirtschaftlichen Geheimnissen« (§ 172 StGB) und »Bestechung« (§ 247 StGB) ein intensives Überwachungsprogramm ein, das sich bis in den Mai 1988 erstrecken sollte.343 Sie durchsuchte Haus, Bungalow und Arbeitsplatz des Reisekaders und setzte 16 IM auf ihn an. Just kannte nicht das Ausmaß der Überwachung, registrierte aber, wie vertrauliche Unterlagen plötzlich verschwanden und Kollegen auf Distanz gingen. Spätestens als sein Vorgesetzter Hoffmann vor weiteren Auslandsreisen abriet, ahnte Just, dass im Hintergrund Ermittlungen gegen ihn im Gange waren.344 Das Ergebnis dieser operativen Maßnahmen fiel allerdings schon früh zugunsten des Verdächtigten aus: Ähnlich wie in den anderen beschriebenen Fällen stellte die Untersuchungsabteilung IX der Bezirksverwaltung Halle bereits 339  Vgl. Kreisleitung der SED Buna, Kreisparteikontrollkommission: Information 18/87 für die Bezirksparteikontrollkommission vom 7.8.1987; LHASA, MER, IV/ F-405/117, n. p.; vgl. Kreisleitung der SED Buna, Kreisparteikontrollkommission: Einschätzung zum parteiund staatsfeindlichen Verhalten des Genossen Paul Just vom 1.9.1987; LHASA, MER, IV/F405/120, n. p. 340  Auszug aus dem Abschlussbericht der OD Buna: »Just empfahl Kunden für PLEL, die diese Qualitätsmängel bearbeiten können. Er nahm in Kauf, dass Plel diese Produkte zu Normalpreisen an BRD-Kunden verkaufte und so Sonderprofite erzielte«. In: OD Buna: Abschlussbericht vom 30.5.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 2991/88, Bd. 2, Bl. 424. 341  Kreisleitung der SED Buna, Kreisparteikontrollkommission: Einschätzung zum partei- und staatsfeindlichen Verhalten des Genossen Paul Just vom 1.9.1987; LHASA, MER, IV/ F-405/120, n. p. 342  Vgl. OD Buna: Abschlussbericht vom 30.5.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 2991/88, Bd. 2, Bl. 428. 343  Vgl. OD Buna: Eröffnungsbericht vom 12.7.1985; ebenda, Bd. 2, Bl. 85. 344  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Paul Just am 9.8.2017.

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im April 1986 bei einer strafrechtlichen Überprüfung des Vorgangs fest, dass Just die Reklamationsforderungen der Kunden in den meisten Fällen zu Recht unterstützt hatte, dafür keine größeren Geschenke entgegengenommen hatte und sich damit auch für keine Straftat verantworten müsse.345 Just selbst, so die Abteilung IX, würde die zum Verkauf vorgesehenen Produkte auch nur nach technischen Kriterien überprüfen, über Preisnachlässe aber gar nicht selbst entscheiden. Diese Zuständigkeit liege vielmehr bei der Direktion für Beschaffung und Absatz in Abstimmung mit dem zuständigen Außenhandelsbetrieb.346 Das entscheidende Problem blieb – das mussten schließlich auch die Offiziere der Objektdienststelle einsehen – die unzureichende Qualität der Buna-Thermoplaste.347 Bei einer späteren Aussprache im Rahmen eines Parteiverfahrens vor der Kreisparteikontrollkommission der SED verteidigte sich Just, dass es ihm immer nur um eines gegangen war: Kunden zu halten und den Absatz zu sichern. Fielen Schwierigkeiten an, bei der Menge oder bei der Qualität des NDPE, musste man den Abnehmern schnell mitteilen: »Das Material kann man mit einem bestimmten Risiko auch dort und dort einsetzen«, so Just, »damit sie sich nicht anderweitig eindecken.«348 »Es war nie meine Absicht gewesen«, so Just weiter, »der Republik zu schaden. Ich wollte nur einige Dinge wieder in Ordnung bringen.«349 Doch trotz der entlastenden Einschätzung der Abteilung IX und Justs nachvollziehbarer Argumentation hielt die Objektdienststelle Buna an ihrer Version fest: Mit der Weitergabe von technischen Hinweisen über den Zustand des NDPE habe Just einzelne Westfirmen gezielt und widerrechtlich begünstigt und damit seine Pflichten als Reisekader und Geheimnisträger verletzt. Besonders verwerflich empfand das MfS eine Skizze über die Standorte von Buna-Silos, die bei einem leitenden Mitarbeiter von Plel gefunden worden war und die auf Informationen von Just zurückgeführt werden konnte.350 Plel hatte sich bei Just einst über die Lagerkapazitäten Bunas erkundigt, um die kontinuierliche Lieferfähigkeit des Kombinats besser einschätzen zu können. Um eine solche Kooperation zu sanktionieren und im Werk ein warnendes Exempel zu statuieren, entschieden sich das MfS und die SED-Kreisleitung 345  Vgl. Abteilung IX der BV Halle: Strafrechtliche Einschätzung vom 21.4.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 2991/88, Bd. 2, Bl. 110–132. 346  Vgl. ebenda, Bl. 127. 347 Vgl. OD Buna: Ergebnisbericht vom 8.7.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 2991/88, Bd.2, Bl. 143. 348  Kreisleitung der SED, Kreisparteikontrollkommission: Aktennotiz über die Aussprache mit dem Genossen Paul Just vom 26.6.1987; LHASA, MER, IV/F-405/120, n. p. 349 Ebenda. 350  Vgl. OD Buna: Abschlussbericht vom 30.5.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 2991/88, Bd. 2, Bl. 424 u. 428. Vgl. Zeitzeugengespräch mit Paul Just am 9.8.2017.

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in diesem Fall für harte Disziplinarmaßnahmen: Zunächst setzte die Objektdienststelle im Februar 1987 eine »operative Befragung« an, die nach dem gleichen Schema ablief wie bei Hans Joachim Scharf im Jahr 1982. Am gleichen Ort, in der Polizeischule Pretzsch bei Wittenberg, musste sich Just an zwei Tagen den Fragen der OD-Offiziere stellen. Als Legende für seine Familie und Werkskollegen diente dabei ein verlängerter Geschäftstermin in Berlin. »Die Herauslösung des [Deckname] aus dem Arbeits- und Freizeitbereich«, so der Ablaufplan der Objektdienststelle Buna, »erfolgt konspirativ unter Nutzung einer BRD-Dienstreise. [Deckname] wird nach Beendigung der im Dezember geplanten Dienstreise auf dem Bahnhof Merseburg durch zwei operative Mitarbeiter zugeführt. Die Ehefrau und die Arbeitsstelle wird informiert, dass eine kurzfristige Verlängerung der Dienstreise durch den AHB-Chemie angekündigt wurde.«351 Die verspätete Rückkehr Justs an seinen Arbeitsplatz sollte dabei durch den Leiter der Reisestelle im Werk erläutert werden.352 Während der zweitägigen Unterredung konfrontierten die Offiziere Just mit ihren gesammelten Hinweisen auf einen Geheimnisverrat: »Mitarbeiter des AHB-Chemie haben eingeschätzt«, so Oberstleutnant Klaus Dieter Franz, »dass der PLEL-Vertreter Frohnhoff über detaillierte Kenntnisse zur NDPE-Produktionsanlage sowie zur NDPE-Neuanlage (K-Vorhaben) verfügt und diese zum Unterlaufen der Außenhandelsstrategie des AHB benutzt. Als Informant wurden sie benannt. Nehmen sie dazu Stellung!«353 Darüber hinaus sollte Just seine »Verstöße gegen die Reisedirektiven« schildern und die durch ihn bewirkten »Einnahmeausfälle« des Kombinats vorrechnen.354 Ebenso wurde er aufgefordert, auf alle »geheimzuhaltenden Informationen« einzugehen, die er »an NSW-Firmenvertreter oder an andere NSW-Institutionen in schriftlicher oder mündlicher Form« übergeben hätte. In diesem Zusammenhang kam auch die Plel-Skizze der Buna-Silos zur Sprache. 355 »Das wurde dann massiv, stark massiv, schon in Richtung: wir wissen alles über sie«, so Just im Rückblick.356 Um ihn zum Reden zu bringen, drohten die Offiziere mal mit Abstrichen bei der Rente357 und mal mit einer Haftstrafe. Am Ende dieser zweitägigen Prozedur wurde Just – ähnlich wie Scharf – darauf eingeschworen, absolutes Stillschweigen zu wahren und in der kommenden Zeit zwei Mal pro Woche in einer kon351  OD Buna: Konzeption zum Abschluss des OV vom 22.10.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 2991/88, Bd. 2, Bl. 364. 352  Vgl. OD Buna: Befragungsplan vom 12.11.1986; ebenda, Bd. 2, Bl. 366. 353  OD Buna: Ablaufplan der konspirativen Zuführung vom 24.2.1987; ebenda, Bd. 2, Bl. 372. 354  Vgl. ebenda. 355  Vgl. ebenda. 356  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Paul Just am 9.8.2017. 357  Zur Disposition stand vor allem die Zusatzrentenversicherung der technischen Intelligenz.

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spirativen Wohnung in Schkopau vorzusprechen. Bei einer dieser Nachkontrollen berichtete Just laut einer Aktennotiz, »dass es ihm gegenüber seiner Ehefrau aufgrund starker seelischer Belastung sehr schwer gefallen ist, er aber die vereinbarte Legende wirksam angewendet hätte«.358 Wie genau es mit ihm im Werk nun weitergehen würde, erfuhr Just auch bei all diesen Nachbesprechungen, die sich über den gesamten März und April erstreckten, nicht. Eine Entscheidung, so ein anwesender Offizier, könne frühestens im Frühsommer getroffen werden. »Obwohl er beteuerte, dafür Verständnis zu haben und auch die psychische Belastung bis dahin ertragen werde«, heißt es in einem Bericht der OD Buna, »unternahm er nochmals zu einem späteren Zeitpunkt der Gesprächsführung den Versuch, dem Unterzeichner eine Meinungsäußerung zur Andeutung der Entscheidungsfindung abzubitten, was abgewehrt wurde.«359 Es sollte noch bis zum Juni 1987 dauern, bevor die Objektdienststelle den Generaldirektor und die Kreisleitung der SED ausführlich über seinen Fall in Kenntnis setzten. Daraufhin folgte in kurzer Abfolge ein strenger Verweis durch den WKZ-Direktor Hoffmann, die Streichung Justs als Reisekader und Geheimnisträger und schließlich, am 20. Juli 1987, seine Entlassung aus seiner bisherigen Funktion innerhalb des Buna-Kombinats.360 Doch damit war der Fall Just noch nicht erledigt. Denn im Anschluss an die betriebliche Disziplinierung setzte ein Parteiverfahren ein, das nach den Worten des Vorsitzenden der Kreisparteikontrollkommission der SED, Rüdiger Geist, weitere »äußerst umfangreiche Untersuchungen« umfassen sollte, »um das Auftreten des Leiters zu werten und Schlussfolgerungen zu ziehen«.361 Zwischen Juni und August 1987 musste sich Just auf mehreren Sitzungen der Kontrollkommission mit Vorwürfen über sein Verhalten auseinandersetzen. Völlig »unklassenmäßig« und »vertrauensselig« habe er demnach »imperialistische Betriebe als Geschäftspartner« betrachtet und damit »den gegenwärtigen Klassenkampf unterschätzt«.362 »Jetzt sagst du«, so Geist an einer Stelle zu Just, »dass du alles im Sinne der Partei gemacht hast. Das ist doch eine Lüge! Ich kann dir auch sagen, warum von dir keine parteiliche Wertung deines Verhaltens kommt. Weil 358  OD Buna: Bericht über erfolgte Aussprache mit der OV-Person vom 3.3.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 2991/88, Bd. 2, Bl. 403. 359 Ebenda. 360  Vgl. OD Buna: Abschlussbemerkung über das Disziplinarverfahren gegen [Just] vom 20.7.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 2991/88, Bd. 2, Bl.  420; siehe auch OD Buna: Abschlussbericht vom 30.5.1988; ebenda, Bd. 2, Bl. 429. 361  Kreisleitung der SED Buna, Grundorganisation im WKZ: Protokoll der außerordentlichen GO-Leitungssitzung vom 5.9.1987; LHASA, MER, IV/F-405/120, n. p. 362  Kreisleitung der SED Buna, Kreisparteikontrollkommission: Analyse der im Jahr 1987 ausgesprochenen Parteistrafen und Parteierziehungsmittel vom 26.11.1987; LHASA, MER, IV/F-405/118, n. p.

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du uns jahrelang belogen hast!«363 Und sein Kollege Gauglitz ergänzte: »Du hast das Kombinat verraten, hast der Firma Plel zusätzliche Profite verschafft und ich unterstelle dir, dass du dir durch die Besuche in den Privatwohnungen der Vertreter dieser Firma und die Einladungen zu Abendessen und die dadurch eingesparten Spesengelder persönlichen Nutzen herausgeschunden hast.«364 Die Einwände eines Kommissionsmitglieds, Just habe für jede Einladung über eine schriftliche Genehmigung des Generaldirektors verfügt, ließ Geist nicht gelten. Auch die Hinweise, dass es Justs Pflicht gewesen sei, Kunden über Produktfehler zu informieren und viele Kollegen, die keine Reisekader seien, die Dinge nicht richtig einschätzen könnten, fanden kein Gehör.365 »Gegen die mindere Qualität Protest einlegen«, so Geist, »und dem Klassengegner verkaufen mit dem Hinweis, welche BRD-Firmen daraus hochwertige Erzeugnisse herstellen können, das ist das, wo du der Firma Plel Extraprofite verschafft hast, solchen Imperialisten, die uns Kommunisten am liebsten mit Stumpf und Stiel ausrotten möchten«.366 Dieses Parteiverfahren mit beinahe stalinistischen Zügen endete schließlich am 19. August 1987 mit Justs Ausschluss aus der SED. »Genossen, die derartig gegen das Statut verstoßen, haben in der Partei nichts zu suchen«, so Geist abschließend. Ein halbes Jahr, vom ersten Stasi-Verhör im Februar bis zur Entfernung aus der Partei im August 1987, hatte sich der Bestrafungsvorgang von MfS, Betrieb und SED schließlich gezogen. Der Umgang mit Just erscheint im Rückblick ungewöhnlich rigide und musste innerhalb des Wissenschaftlichen Koordinierungszentrums einige Unruhe ausgelöst haben. Zumindest berichtete Ernst Bräutigam, der Mitte 1987 die Leitung des WKZ übernommen hatte, gegenüber der Objektdienststelle, dass der stellvertretende Leiter der Abteilungsgewerkschaft »Unverständnis über die Härte der Maßnahmen« gezeigt habe. »Ich musste im Beisein von Just erst eine Grundsatzdiskussion führen«, so Bräutigam.367 In persönlichen Aussprachen habe er anschließend »Akzente gesetzt« und seine »offensive Vorgehensweise mit APO-Sekretären368 festgelegt«.369 Danach, so Bräutigam, sei schnell eine gewisse Beruhigung der Situation eingetreten. »In Einzelgesprächen zögernde Zustimmung. Keine negative Diskussion, 363  Kreisleitung der SED Buna, Kreisparteikontrollkommission: Aussprache mit Paul Just, o. D.; LHASA, MER, IV/F-405/120, n. p. 364 Ebenda. 365  Vgl. ebenda. 366 Ebenda. 367  OD Buna: Bemerkung des Direktors des WKZ über Disziplinarverfahren gegen [Just] vom 20.7.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 2991/88, Bd. 2, Bl. 420. 368  Die Abkürzung »APO« steht für Abteilungsparteiorganisation. 369  Vgl. OD Buna: Bemerkung des Direktors des WKZ über Disziplinarverfahren gegen [Just] vom 20.7.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOP 2991/88, Bd. 2, Bl. 420.

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aber Feststellungen, dass Einladungen auch persönlicher Art insbesondere bei Plel gang und gäbe seien und auch persönliche Gespräche bei langen Autofahrten z. B. nicht zu vermeiden seien. Zusammenfassende Meinung, dass man hier auf einem schmalen Grad wandelt«, so ein Bericht Bräutigams für die Objektdienststelle.370 Die Entfernung Justs schien aber nicht nur im Werk, sondern auch beim wichtigsten Vertragspartner der Buna-Werke in der Bundesrepublik, der Vertretergesellschaft Plel, Verärgerung ausgelöst zu haben. Sich immer wieder auf neue DDR-Mitarbeiter einstellen zu müssen, sei für die Handelsbeziehungen äußerst hinderlich, so ein Vorstandsmitglied des Unternehmens. »Wie weit er mit den imperialistischen Firmen liiert war, zeigt, dass ein Vertreter der Firma Plel, Herr Becker, gegenüber einem Vertreter des Leunakombinats sein Ungehaltensein zum Ausdruck brachte, warum Just nicht mehr in die BRD ausreisen darf. Er wollte unbedingt über den Vertreter von Leuna die Ursachen ergründen«, so der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung in Leuna, Rudi Veckenstedt, in einem Schreiben an seinen Parteikollegen Horst Philipp in Buna.371 Damit zeigt der Fall Just in aller Deutlichkeit, wie selbst Ende der 1980er-Jahre Parteiapparat und MfS im Betrieb mit einem anachronistisch anmutenden klassenkämpferischen Habitus und sachfremden sicherheitspolizeilichen Phobien die ökonomische Effizienz von Schlüsselbereichen stark beeinträchtigten.

4.10  Druck statt Hilfestellung – Die ausbleibende Steuerungsleistung des MfS Der Umgang mit Just ist ein Beispiel dafür, wie strukturelle Schwierigkeiten – hier die Refinanzierung der Neuanlage für Niederdruckpolyethylen – in erster Linie einem einzelnen Funktionär angelastet wurden. Obwohl den Offizieren die tieferliegenden Ursachen für die Absatzschwäche des Kombinats genau bekannt waren, versuchten sie einmal mehr ökonomische Probleme mit einer angeblich undurchsichtigen Beziehung zwischen einem anfälligen Kader und einer »kapitalistisch« gesinnten Vertreterfirma zu erklären. Dass die Objektdienststelle Buna neben dieser Suche nach individuellen Verantwortlichkeiten auch praktische Vorschläge für eine bessere Vorbereitung und Umsetzung von solchen Großprojekten wie das der NDPE-Anlage entwickelte, geht aus den Quellen nicht hervor. Die personenbezogene Ermittlung, meist auf der Basis harter Straftatvermutungen wie »Geheimnisverrat« oder »Vertrauensmissbrauch«, ge370  Vgl. ebenda. 371  Schreiben von Rudi Veckenstedt, 1. Sekretär der SED-Kreisleitung der Leuna-Werke, an Horst Philipp, 1. Sekretär der Kreisleitung in Buna vom 4.8.1987; LHASA, MER, IV/F405/120, n. p.

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noss eindeutig Priorität. Initiativen, das Kombinat bei größeren Kompensationsvorhaben konstruktiv zu unterstützen, etwa durch Materialbeschaffungen außerhalb der Planabläufe oder durch Bereitstellung interner Firmenunterlagen für Vertragsverhandlungen, beschränken sich bei allen drei hier untersuchten Objektdienststellen auf wenige Ausnahmen.372 Die Fixierung auf die Überwachung und Bestrafung einzelner Beschäftigter in verantwortungsvoller Position steht der Idee vom MfS als ausgleichenden und unterstützenden Akteur innerhalb der Betriebe und Wirtschaftsverwaltung entgegen, die innerhalb der MfS-Forschung immer wieder diskutiert wurde. Ausgangspunkt dieser Vorstellung war eine allgemein formulierte Arbeitshypothese des Zeithistorikers Klaus-Dietmar Henke Anfang der 1990er-Jahre, in der das MfS als »unentbehrliche Sonderinstanz«373 beschrieben wurde, die mit Direkthilfen, Informationsdiensten und Koordinierungsmaßnahmen dem politischen und planwirtschaftlichen System »erhebliche Stabilisierungsleistungen« anbieten würde.374 Vor allem aufgrund ihrer flächendeckenden und manipulativen Einsatzfähigkeit, so Henke, sei die Geheimpolizei in der Lage gewesen, »staatliche Steuerungsfunktionen in Schlüsselbereichen« zumindest teilweise zu ersetzen.375 In die gleiche Richtung wies auch Clemens Vollnhals, als er das MfS als »Schmiermittel« bezeichnete, mit dem versucht werden sollte, »alle Mängel des parteibürokratischen Sozialismus in den Griff zu kriegen«. »Man wird diesem Apparat dann gerecht«, so Vollnhals, »wenn man – hypothetisch – von einem großangelegten Versuch vorbeugender verdeckter Sozialsteuerung mit konspirativen Mitteln ausgeht«.376 Bezogen auf die Wirtschaft könnte man mit diesen Grundannahmen zwei Dinge erwarten: eine Kompensations- und eine Steuerungsfunktion des MfS. Beim Kompensieren würde es um eine punktuelle bis reguläre Aushilfe der Betriebe mit Grundstoffen, technischen Anlagen oder Informationen gehen. Bei der Steuerung würde sich das MfS darüber hinaus aktiv an der Planung und Implementierung betrieblicher Projekte beteiligen, also direkt in das praktische Management eingreifen. Ließen sich solche praktischen und konstruktiven Beiträge tatsächlich feststellen, würde das MfS innerhalb der Wirtschaftsverwaltung und Betriebe als inoffizielles Korrekturorgan auftreten, das den Versuch 372  Dass das MfS in seltenen Fällen auch außerplanmäßige Materiallieferungen organisierte, wird im Kapitel 5, Abschnitt 5.5.3 ausgeführt. 373  Klaus Dietmar Henke: Zu Nutzung und Auswertung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41 (1993) 4, S. 575–587, hier 585. 374  Vgl. Henke: Spontanität, S. 304. 375  Henke: Nutzung der Unterlagen, S. 585. 376  Vollnhals zitiert von Gieseke, Jens: Abschlußdiskussion. In: Klaus-Dietmar Henke, Roger Engelmann (Hg.): Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung. Berlin 1995, S. 231.

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unternommen hätte, auf der Basis seiner konspirativen Kontakte und speziellen Wissensbestände strukturelle Funktionsdefizite der Planwirtschaft auszugleichen. Grundsätzlich kann sich Renate Hürtgen eine solche Rolle der Geheimpolizei vorstellen. Zumindest für die 1980er-Jahre erkennt sie Anzeichen dafür, dass die Diensteinheiten der Linie XVIII tatsächlich »eine Art zweite Wirtschaftsleitung« etabliert hatten. Dabei verweist sie vor allem auf einige Operative Personenkontrollen, mit denen die Offiziere nicht nur einzelne Personen, sondern gleich ganze Produktionsabläufe in den Blick nahmen. Indem die Offiziere auf ihren Dienstkonferenzen betriebliche Managementfragen bis ins Detail besprachen, würden sie ein ökonomisches Engagement offenbaren, das weit über bloßes Überwachen hinausginge, so Hürtgen.377 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Gunter Gerick für den Bezirk Karl-Marx-Stadt. In seiner Studie über das Verhältnis von SED und MfS möchte er in der von ihm näher untersuchten Bezirksverwaltung der Staatssicherheit eine »Kompensationsagentur« mit erheblichen »Steuerungsambitionen« erkennen.378 Mithilfe von »Spezialisten, mikrorechnergestützter Prüftechnik und spezifischer Software«, so Gerick, hätten die Offiziere in nahezu allen Betrieben der Region unmittelbar an einzelnen Projekten mitgewirkt, etwa bei der Herstellung keramischer Werkstoffe an der Bergakademie in Freiberg oder bei der Einführung von Computertechnik im VEB Robotron Buchungsmaschinenwerk Karl-Marx-Stadt.379 Ein entscheidendes Anliegen dieser praktischen Beiträge sei es gewesen, fehlerhafte Entscheidungen der lokalen Wirtschaftsverwaltung auszugleichen und die Effizienz der Betriebe im Großraum Karl-MarxStadt zu steigern, so der Autor.380 Ein solches betriebswirtschaftliches Engagement der Offiziere, wie Hürtgen und Gerick es beschreiben, kann in den hier betrachteten Hallenser Chemiekombinaten nicht beobachtet werden. Weder sprangen die Diensteinheiten der Linie XVIII hier kurzfristig als Krisenhelfer ein noch traten sie langfristig als Regulierungsorgane in Erscheinung. Für eine sinnvolle ökonomische Unterstützung der Kombinate fehlten den Objektdienststellen drei grundlegende Voraussetzungen: Erstens die finanziellen und logistischen Mittel, um innerhalb der oft großtonnagigen Chemieindustrie betriebswirtschaftlich aktiv zu werden; zweitens die Befugnisse und den ausdrücklichen Auftrag der SED, eine solche ökonomische Sonderrolle auch ausüben zu dürfen und drittens der politische Wille und die intellektuellen Kapazitäten, sich ganz praktisch und lösungsorientiert mit unternehmerischen Fragen auseinanderzusetzen. In den Mittelpunkt ihrer 377  Vgl. Hürtgen: Stasi in der Produktion, S. 298. 378  Gerick: SED und MfS, S. 307 u. 429. 379  Ebenda, S. 306 f. 380  Vgl. ebenda, S. 306.

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Überwachung rückten die Offiziere der drei untersuchten Objektdienststellen vielmehr die Interaktionen leitender Funktionäre mit westlichen Unternehmen. Herausgehobenes Ziel war es dabei, eventuelle Störungen oder Abhängigkeiten durch westliche Ideen, Erzeugnisse oder Geschäftsmodelle zu unterbinden. Eine rein praktische Unterstützungs- und Steuerungsfunktion konnte sich mit dieser Ausrichtung der geheimpolizeilichen Arbeit nicht herausbilden. Wenn die Offiziere überhaupt Einfluss auf betriebliche Abläufe ausübten, dann meist in restriktiver Form, indem sie Eigeninitiativen behinderten, Reisegenehmigungen verwehrten oder Einzelpersonen »herauslösten«. Schwer vorstellbar, dass solche Interventionen eine Flexibilisierung der Planwirtschaft oder eine Korrektur von administrativen Fehlentscheidungen bewirkt haben sollten. Indem die Objektdienststellen die zahlreichen Regelverletzungen der staatlichen Leiter genau registrierten und jede außerplanmäßige Aktivität als potenzielles Sicherheitsrisiko einstuften, verschärften sie die in der Wirtschaftsorganisation angelegten Dysfunktionen eher.381 Ausgleichend und unkonventionell traten in den Chemiekombinaten nicht die Offiziere des MfS, sondern die Führungskräfte und Facharbeiter in den einzelnen Betriebsdirektionen auf. Allein sie waren in der Lage, die überzogenen und oft ungenau abgestimmten Plananforderungen in ein machbares Arbeitsprogramm zu übersetzen, nebenbei noch Ersatz für unvorhergesehene Lieferausfälle zu organisieren und das Chaos nach schweren Havarien zu managen. Ihnen – und nicht der vor Ort stationierten Geheimpolizei – war es zu verdanken, dass die Wirtschaftsorganisation bei aller Überregulierung und Unterversorgung am Ende trotzdem halbwegs funktionsfähig blieb und ambitionierte Großprojekte wie das der Heizölablöse zumindest teilweise erfolgreich umgesetzt werden konnten. Diese Feststellung kann allerdings nur für die hier untersuchte Chemieindustrie getroffen werden. In anderen Branchen und Institutionen mag der konstruktive Beitrag des MfS größer ausgefallen sein. Zumindest punktuell erkennt zum Beispiel Ralph Kaschka in seiner Studie über die Infrastrukturpolitik der SED eine unterstützende Rolle des MfS bei der Absicherung der Deutschen Reichsbahn. Zwar konzentrierte sich die für den Schienenverkehr zuständige Hauptabteilung XIX des MfS – ähnlich wie die Objektdienststellen in den Chemiekombinaten – hauptsächlich auf die Überwachung größerer Investitionsprojekte, die Dokumentation von Verschleißerscheinungen und die strafrechtliche Ermitt­ lung bei größeren Störfällen. In der Endphase der DDR gewann aber auch die Beschaffung von Embargogütern größere Bedeutung. Die Organisation von 381  Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S. 124. Abweichend dazu kann Kaschka für den Verkehrssektor der DDR nicht feststellen, »dass das MfS mit seiner Bürokratie die Schwächen der DDR-Wirtschaft noch verstärkt hat«. Vgl. Kaschka: Auf dem falschen Gleis, S. 328.

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Rechentechnik für eine neue Dispatcherzentrale in Erfurt nennt Kaschka dafür als Beispiel.382 Ein längerfristiges betriebswirtschaftliches Engagement innerhalb der Bahnverwaltung und einen korrigierenden Einfluss auf die Verkehrspolitik der SED kann aber auch er dem MfS nicht bescheinigen. Ein solches Agieren lässt sich allerdings für den Bereich der Mikroelektronik durchaus feststellen.383 In seiner Analyse über das Zusammenspiel von SED, Wirtschaftsverwaltung und Staatssicherheit in diesem Sektor kommt Gerhard Barkleit zu dem Schluss, dass sich die Offiziere hier keineswegs auf Kontrollen und Ermittlungen beschränkten, sondern mit Beschaffungen und praktischen Planungen als gestaltende Kraft in Erscheinung traten.384 Für die High-TechBranche möchte er daher nicht von einer klassischen Doppelbürokratie aus SED und Industrieministerien sprechen, sondern von einer »Führungstrias« mit dem MfS als drittem Steuerungselement.385 Wie sah dieses steuernde Eingreifen der Offiziere in der Mikroelektronik genau aus? Barkleit arbeitet heraus, dass die Offiziere unter anderem bei der Besetzung von Leitungspositionen mitwirkten, den Aufbau einer militärtechnischen Produktionslinie im Mikroelektronikkombinat Carl Zeiss Jena vorantrieben und sich Ende der 1980er-Jahre vehement gegen die Verlagerung von Chipfabriken in die Staaten des RGW aussprachen. Darüber hinaus beteiligte sich das MfS aktiv bei der Beschaffung von illegaler Embargoware. Als Beispiel nennt Barkleit den Erwerb von Chipmustern durch inoffizielle Kontakte zum japanischen Hersteller Toshiba.386 Voraussetzung für ein solches ökonomisches Engagement war eine institutionalisierte Zusammenarbeit der Hauptabteilungen XVIII/5 und XVIII/8 des MfS, der Bezirksverwaltungen Dresden, Erfurt und Gera sowie der Objektdienststelle im Mikroelektronikkombinat Carl Zeiss Jena mit der Wirtschaftskommission beim Politbüro und den Ministerien für Elektrotechnik und Elektronik sowie für Wissenschaft und Technik.387 Die Leiter der MfS-Diensteinheiten saßen dafür in der sogenannten Politischen Führungsgruppe, einem Spitzengremium, in dem führende Vertreter aus Partei und Wirtschaftsverwaltung grundsätzliche Fragen zur Förderung der Hochtechnologie in der DDR besprachen und entschieden.388 Für das Prestigeprojekt Mikroelektronik lassen sich also beachtliche ökonomische Aktivitäten des MfS nachweisen. Barkleit hebt allerdings auch hervor, dass die Offiziere selbst in diesem Bereich in der Regel zurückhaltend auf382  Vgl. ebenda, S. 319. 383  Über die Hintergründe des Mikroelektronikprogramms siehe die Ausführungen im Kapitel 4, Abschnitt 4.3. 384  Vgl. Barkleit: Mikroelektronik, S. 131. 385  Vgl. ebenda, S. 11. 386  Vgl. ebenda, S. 99. 387  Vgl. ebenda, S. 16. 388  Vgl. ebenda, S. 16.

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traten und ihr tatsächliches ökonomisches Steuerungspotenzial nur selten voll ausschöpften. An einer Konfrontation mit der SED hatte keine der involvierten Diensteinheiten ein Interesse. Seiner Rolle als »Erfüllungsgehilfe der Staatspartei«, so Barkleit, wollte das MfS auch in diesem Sektor bis zuletzt treu bleiben. Offensiv hätten die Offiziere immer nur dann interveniert, wenn sie ureigene geheimpolizeiliche Interessen gefährdet sahen.389 Auf einen Sonderfall für ein aktives ökonomisches Handeln des MfS macht Gunter Gerick in seiner bereits oben erwähnten Studie über das Verhältnis von SED und Staatssicherheit im Bezirk Karl-Marx-Stadt aufmerksam. Mit der sogenannten Entwicklungsstelle Kartell betrieben die Offiziere der Bezirksverwaltung eine eigene Forschungsabteilung.390 Um die Produktivität der regionalen Betriebe mithilfe innovativer Verfahren zu steigern, stellte die Diensteinheit ein eigenes Team aus Ingenieuren und Forschern zusammen. Laut Gerick konnte die MfS-eigene Denkfabrik dabei durchaus Erfolge vorweisen. Als Beispiele für ihre Entwicklungen nennt er unter anderem eine mikroelektronische Steuerung für den Waschautomaten »Kompakt« und ein Verfahren für die Verwertung von Alttextilien.391 Dass das MfS mit diesen Eingriffen in die regionale Wirtschaftsplanung seine eigenen Kompetenzgrenzen deutlich überschritt, betont der Autor allerdings ebenfalls. Ende der 1980er-Jahre löste das eigenmächtige Handeln der Offiziere derart große Spannungen mit der eigentlich zuständigen Wirtschaftsverwaltung und der SED auf Bezirksebene aus, dass die »Entwicklungsstelle Kartell« im Jahr 1988 geschlossen werden musste.392

4.11  Kollektive Bestrafung – Die Reaktion des MfS auf die Flucht des Abteilungsleiters für Lizenzen im Kombinat Buna Die von Hürtgen, Gerick und Barkleit geschilderten konstruktiven Beiträge des MfS lassen sich in den Chemiekombinaten nicht beobachten. Die Überwachungsarbeit war hier fast ausschließlich auf die Bearbeitung einzelner Führungskräfte ausgerichtet und beinhaltete keine wesentliche ökonomische Dienstleistung. Diese Feststellung kann durch das abschließende Fallbeispiel noch einmal verdeutlicht werden. Es zeigt ein besonders hartes Vorgehen der Offiziere im Kombinat Buna gegen einen einzelnen Funktionär und sein unmittelbares Umfeld, ohne dass dabei irgendeine praktische Hilfestellung sicht389  Vgl. ebenda, S. 133. Über die Zusammenarbeit von SED, Fachministerien und MfS im Bereich der Hochtechnologie siehe ebenfalls Buthmann: Hochtechnologien und Staatssicherheit, S. 202–219. 390  Vgl. Gerick: SED und MfS, S. 312. 391  Vgl. ebenda. 392  Vgl. ebenda, S. 306, 312 u. 429.

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bar wird. Vorgestellt werden soll dieser Vorgang, weil er trotz seiner Außergewöhnlichkeit geeignet ist, einige grundlegende Charakteristiken der Offiziere aller drei Objektdienststellen offenzulegen: Einmal die Perzeption von westlichen Unternehmen als reale Gefahr und leitende Funktionäre im Betrieb als deren potenzielle Verbündete, eine Vorstellung, die mit diesem Ereignis noch einmal verstärkt wurde. Darüber hinaus das immer gleiche Standardrepertoire an geheimpolizeilichen Maßnahmen, auf das die Offiziere auch in einer sicherheitspolitischen Ausnahmesituation wie dieser reflexhaft zurückgriffen und mit dem sie ihre »operativen« Ziele nur begrenzt erreichten. Ebenso die Eigendynamik, die eine solche Vorgehensweise zwischen den involvierten Akteuren auslösen konnte – im vorgestellten Fall zog der fast schon obsessive Ermittlungseifer der Offiziere am Ende eine ganze Familie in Mitleidenschaft. Und schließlich eine gewisse Überzogenheit und Nervosität, mit der die lokalen Vertreter des MfS und der SED Mitte der 1980er-Jahre agierten. Darin wird noch einmal der enorme Leistungsdruck deutlich, unter dem die Betriebe der Chemiebranche im Bezirk Halle durch die übergeordnete Konsolidierungspolitik und die Herausforderungen größerer Investitionsprojekte standen. Was genau war geschehen? Im April 1983 war der Abteilungsleiter für Lizenzen in Buna, Peter Fabienke, von einer Dienstreise zur Kunststoff- und Kautschukmesse in Düsseldorf nicht wieder zurückgekehrt.393 Fabienke, der seit 1974 die Leitung des ertragreichen und sehr prestigeträchtigen Lizenzgeschäfts geleitet hatte, war damit aus Sicht des MfS und der SED »republikflüchtig« geworden. Aus zwei Gründen stuften sowohl das Kombinat als auch das MfS den Weggang Fabienkes als schwerwiegenden Vorfall ein: Zunächst wusste Fabienke natürlich über alle wichtigen Herstellungsverfahren und Patente der Buna-Werke bestens Bescheid. Als exzellenter Wirtschaftsjurist und ausgewiesener Fachmann für Buna-Kunststoffe hatte ihn die Objektdienststelle im Jahr 1975 als »Experten-IM« für das Erstellen von Außenhandelsgutachten angeworben.394 Würde Fabienke westliche Kunden auf Mängel bei Maschinen und Verfahren aus Buna aufmerksam machen, so die Befürchtung, konnte das den Verkauf von Waren und Nutzungsrechten empfindlich stören. In einer Zeit, in der die Refinanzierung von Kompensationsvorhaben ein Höchstmaß an PVC- und NDPE-Exporten verlangte, schätzten MfS-Offiziere und führende Kombinatsvertreter einen derartigen Informationsabfluss als besonders riskant ein. »Er war voll informiert über die Angebotskonzeption von Lizenzen für den RGW, das 393  Vgl. Schreiben Armin Hübners, Mitglied der Kreiskontrollkommission der SED-Kreisleitung in Buna, an die Bezirksparteikontrollkommission der SED in Halle vom 4.5.1983; LHASA, MER, IV/E-4/05/169, Bl. 28. 394  Vgl. OD Buna: Eröffnungsbericht OV »Torgau« vom 25.4.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1042/83, Bl. 10.

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NSW und die Entwicklungsländer sowie über die Vorhaben im Iran und in Indien«, so Hans-Ekkehard Winderle, 2. Sekretär der SED-Kreisleitung in Buna kurz nach Fabienkes Flucht.395 Seiner Einschätzung nach drohten nicht zuletzt durch seine Kenntnisse zum neuen Buna-Katalysator für die Herstellung von Ethylenoxid396, dessen Einführung auf dem westlichen Markt für Mai 1983 vorgesehen war, Exportverluste von bis zu 350 000 Dollar.397 Im Zusammenhang mit dieser Angst vor einer Rufschädigung des Kombinats nahm die Objektdienststelle darüber hinaus die engen Kontakte Fabienkes zur westdeutschen Firma Battenfeld Extrusionstechnik GmbH als sicherheitspolitisch brisant wahr. Battenfeld, ein international führender Hersteller von Spritzgießmaschinen und Extrusionsanlagen, zählte zu Bunas Großkunden bei PVC und nutzte zudem ein Buna-Patent für die Verarbeitung von Kautschuk.398 Für die Pflege der Geschäftsbeziehungen hatte Fabienke stets eine wichtige Vermittlerrolle übernommen. Das Unternehmen wurde als derart relevant betrachtet, dass der neue Hauptabteilungsleiter für Absatz, Ulrich Bartz, erst im Januar 1983 von der Objektdienststelle Buna den Auftrag erhalten hatte, die Beziehungen zu Battenfeld deutlich auszubauen – und das nicht nur aus ökonomischen, sondern auch aus sicherheitspolitischen Gründen. »Dem IM wurde auch erläutert, dass es im Grunde nicht nur um den Absatz von PVC geht, sondern auch um operative Interessen«, so die Objektdienststelle nach einen Treffen mit Bartz. »Es soll eine Grundlage für spätere Bindungen zwischen Buna und Battenfeld geschaffen werden, um unter Ausnutzung dieser verlässlichen Quellen und Stützpunkte Voraussetzungen für die Kontrolle des PVC-BRD-Marktes und darüber hinaus zu schaffen.«399 Bartz zeigte sich gegenüber dem Anliegen der OD aufgeschlossen, laut Treffbericht hielt er »auch aufgrund seiner offiziellen Funktion eine solche Vorgehensweise für wirtschaftlich-kommerziell nützlich«.400 Exklusives Wissen und relevante Kundenkontakte – diese beiden Vorzüge hatten Fabienke also zu einem einflussreichen Kader innerhalb der Buna-Werke gemacht. Sein plötzliches Verschwinden verursachte bei seinen Kollegen aus der Fachdirektion Forschung und Entwicklung und bei den Offizieren des MfS daher eine deutlich wahrnehmbare Verunsicherung. Weder seine Familie noch 395  Schreiben Hans-Ekkehard Winderle, 2. Sekretär der SED-Kreisleitung in Buna, an die Bezirksparteikontrollkommission vom 4.5.1983; LHASA, MER, IV/E 4/05/169, Bl. 30. 396  Ethylenoxid ist ein farbloses, hochentzündliches Gas, das unter anderem als Desinfektionsmittel für Nahrungsmittel, organische Dämmstoffe und Textilfasern verwendet wird. Vgl. www.chemie.de/lexikon/Ethylenoxid.html, abgerufen am 3.1.2018. 397  Vgl. Schreiben Hans-Ekkehard Winderle, 2. Sekretär der SED-Kreisleitung in Buna, an die Bezirksparteikontrollkommission vom 4.5.1983; LHASA, MER, IV/E 4/05/169, Bl. 30. 398  Vgl. OD Buna: IM-Gespräch mit HA-Leiter Absatz Ulrich Bartz vom 12.1.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 1003/82, Teil II, Bd. 3, Bl. 114. 399 Ebenda. 400 Ebenda.

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seine engsten Mitarbeiter aus der Lizenzabteilung waren zuvor in seine Fluchtpläne eingeweiht gewesen.401 Das DDR-Verhandlungsteam in Düsseldorf zeigte sich am Abreisetag von seinem Fernbleiben völlig überrascht. Für die Offiziere der Objektdienststelle war von Beginn an klar, dass es sich bei Fabienkes Verhalten um eine »Verratshandlung« handelte – ein »gelungener Feindangriff«, wie eine Aktennotiz es nannte. Als unmittelbare Reaktion auf diesen Vorfall suchten sie noch am gleichen Tag die Familie des Geflüchteten auf und hielten ihre Wohnung zwei Wochen lang besetzt: Sie warteten auf einen Anruf von Fabienke, befragten Hausbewohner über seine Familie und fahndeten in privaten Unterlagen nach möglichen Tatmotiven. Gegenüber dem MfS erwähnte der Abteilungsleiter Bartz später, dass sich die Tochter des staatlichen Leiters, Grit Fabienke, die in seinem Bereich ein praktisches Jahr als Vorbereitung für ihr Außenhandelsstudium absolvierte, »sehr enttäuscht über das Verhalten der Sicherheitsorgane« gezeigt habe, »so wie z. B. eine Hausdurchsuchung durchgeführt wurde und in einer sehr direkten Weise mit ihr gesprochen worden sei«.402 Ihre Mutter, Johanna Fabienke, die ebenfalls in den Buna-Werken arbeitete, wurde in dieser Zeit jeden Morgen von MfS-Offizieren zum Kombinat begleitet und aufgefordert, sich nicht in ihrem Büro, sondern im Gebäude der Objektdienststelle direkt am Werkseingang zu melden. Von 8.00 bis 20.00 Uhr, so Fabienke im Rückblick, fand dann jeweils ein Verhör statt, bei dem sie die immer gleichen Fragen der Offiziere beantworten musste: Wissen sie etwas über die Hintergründe der Flucht? Stehen sie in Kontakt mit ihrem Ehemann? Welche Motive hatte er für seine Handlung? Was wird er in der Bundesrepublik gegen Buna unternehmen?403 Um den Fall genauer aufzuklären, eröffnete die Objektdienststelle noch im April 1983 wegen Verdachts auf »Ungesetzlichem Grenzübertritt« (§ 213 StGB), »Spionage« (§ 97 StGB) und »Landesverräterischer Agententätigkeit« (§ 100 StGB) den Operativen Vorgang »Torgau«. Ausdrückliches Ziel der Ermittlungen war dabei nicht nur die Analyse der Hintergründe, Unterstützer und Folgewirkung der Flucht, sondern auch die »Rückführung« des ehemaligen Abteilungsleiters, um ihm auf dem Boden der DDR den Prozess zu machen.404 Wie dringlich das aus Sicht des MfS war, zeigten Gerüchte über eine angebliche Zusammenarbeit Fabienkes mit der Firma Battenfeld im Sommer 1984. Über einen IM wurde der Objektdienststelle die Information zugetragen, die Geschäftsführung der Firma habe den Generaldirektor der Buna-Werke, Hans-Joachim Kozyk, in einem Schreiben darum gebeten, Fabienke als Sach401  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Grit Fabienke am 25.3.2014. 402  OD Buna: IM-Bericht Ulrich Bartz, Tonbandabschrift vom 24.6.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1003/82, Bd. 3, Bl. 145. 403  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Johanna Fabienke am 2.8.2014. 404  Vgl. OD Buna: Eröffnungsbericht zum Einleiten des OV »Torgau« vom 25.4.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1042/83, Bl. 10 u. 15.

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verständigen für eine laufende Lizenzverhandlung zu akzeptieren.405 Daraufhin schärften die Offiziere der OD ihren IM-verpflichteten Außenhändlern ein, dem Unternehmen zu verdeutlichen, »dass Unterstützungshandlungen für Torgau406 die Beziehungen zwischen Battenfeld und Buna nachhaltig belasten« würden.407 Ob Fabienke tatsächlich die Nähe zu seinem früheren Kunden gesucht hatte, kann mit dem vorliegenden Quellenmaterial nicht geklärt werden. Fest steht aber, dass das MfS noch bis Mitte der 1980er-Jahre keine Mühen scheute, den ehemaligen Kader auf das Territorium der DDR zurückzulocken: Dafür schickten die Offiziere zunächst eine seiner Schwestern auf Westreise, um Fabienke von einem DDR-Besuch in seiner ehemaligen Heimatstadt Torgau zu überzeugen. Der ehemalige Kader durchschaute bei diesem Treffen aber schnell den dahinterstehenden Auftrag des MfS.408 Daraufhin drängten die Offiziere Johanna Fabienke, ihren Ehemann telefonisch zur Rückkehr zu bewegen, was laut einem Bericht des MfS »auf strikte Ablehnung der Fabienke stieß und in Folge auf die Nichtbereitschaft der Ehefrau zu solchen Unterstützungsmaßnahmen«.409 Und schließlich probierte es die Objektdienststelle mit einem langjährigen Kollegen Fabienkes, der im April 1983 ebenfalls an der Dienstreise nach Düsseldorf teilgenommen hatte. Er erhielt den Auftrag, Kontakt mit seinem ehemaligen Chef aufzunehmen und auch bei der Battenfeld-Geschäftsführung das Thema Fabienke zur Sprache zu bringen.410 Schnell musste die Objektdienststelle aber in diesem Fall über einen sogenannten Kontroll-IM feststellen, dass der Reisekader die Wünsche der Offiziere nicht umsetzte. »Durch das Unterlassen von zugesicherten Aktivitäten behindert er die Aufklärung der im OV Torgau behandelten Straftaten«, so ein Bericht der OD.411 Auf diese Weise würde er sich »mit den feindlichen Interessen« der Firma und des Geflüchteten »identifizieren«.412 405  Vgl. KD Zeitz: IM-Bericht über ein Gespräch mit Johanna Fabienke vom 14.9.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1600/83, Bd. 4, Bl. 162. 406  Deckname für Peter Fabienke. 407  OD Buna: Ergebnisbericht zur OPK vom 2.11.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1042/83, Bd. 2, Bl. 87. 408  Vgl. OD Buna: Sachstandsbericht vom 9.10.1983; ebenda, Bd. 2, Bl. 77. 409 Ebenda. 410  Vgl. OD Buna: Ergebnisbericht zur OPK vom 2.11.1983; ebenda, Bd. 2, Bl. 87. 411  Ebenda, Bl. 90. 412  Ebenda. Als Reaktion auf die »ungenügende Bereitschaft zur Zusammenarbeit« des Außenhändlers mit dem MfS leitete die Objektdienststelle im Januar 1983 eine Operative Personenkontrolle ein. Drei Jahre stand der Vertraute Fabienkes unter teils massiver Beobachtung, ein Aufstieg des Kaders innerhalb der Forschungsabteilung des Kombinats konnte damit aber nicht verhindert werden. Im Abschlussbericht der OPK stellte die Objektdienststelle zwar eine »sicherheitspolitische Nichteignung« für seine Position fest, allerdings ohne Initiativen für seine »Ablösung« zu unternehmen, da die beobachtete Person bereits aus eigenen Stücken entschieden hatte, das Kombinat im Frühjahr 1986 zu verlassen. Vgl. OD Buna: Abschlussbericht vom 30.1.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, AOPK 963/86, Bl. 6.

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Die Offiziere hatten also mit all ihren Rückholaktionen kein Glück: Ein indirekter Kontakt über inoffizielle Mitarbeiter kam nicht zustande, und auch das Unternehmen Battenfeld ließ sich nicht auf eine Diskussion über ihr Beraterpersonal ein. Fabienke dagegen stand nach seiner Flucht im regen Austausch mit seiner Ehefrau und Tochter. Mithilfe von Briefen, die von Freunden in die DDR geschmuggelt wurden – und später bei Wohnungsdurchsuchungen in die Hände der Offiziere fielen – erörterte er eine mögliche Übersiedlung der Familie in die Bundesrepublik. Um mit seinen Angehörigen zu kommunizieren, nutzte er auch das Diensttelefon der Tochter in der Exportabteilung des Kombinats. »Sie hat zwischenzeitlich telefonisch mit ihrem Vater gesprochen«, so der Bericht des Hauptabteilungsleiters für Absatz Bartz für das MfS. »Dort habe ihr Vater gesagt, dass sie dort (DDR) als Kind eines Agenten vorgestempelt sei und damit keine Entwicklungsperspektive habe.«413 Aufgrund dieser Kommunikation per Post und Telefon stufte das MfS auch die Ehefrau und die Tochter, die beide in den Buna-Werken angestellt waren, als ein zunehmendes Sicherheitsrisiko ein. Je erfolgloser die Offiziere bei der Verfolgung des Geflüchteten waren, desto mehr wandten sie sich Stück für Stück seiner zurückgelassenen Familie zu. »Wegen zu viel Publikumsverkehr« wurde zum Beispiel Johanna Fabienke kurz nach der Flucht ihres Ehemannes aufgefordert, ihren Posten als Leiterin der Lieferantenbuchhaltung in Buna zu räumen.414 Fortan war sie als Sachbearbeiterin in der Reisekostenabteilung des Kombinats tätig.415 Zur gleichen Zeit musste auch ihre Tochter, Grit Fabienke, ihre damalige Stelle als Disponentin für den Westexport von PVC aufgeben. Ihr Vorgesetzter Bartz schätzte vor allem ihre beruflichen Kontakte zum Hauptabnehmer Hoechst als zu riskant ein, persönlich veranlasste er daher ihre Versetzung in den Bereich Binnenmarkt.416 Dass damit auch ihr geplantes Studium an der Hochschule für Ökonomie in Berlin, für dessen Vorbereitung sie noch im gleichen Jahr die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Freiberg besuchen wollte, zur Disposition stand, wurde ihr bei einer Aussprache mit dem Kaderleiter des Kombinats, Dietrich Lisiecki, deutlich gemacht. »Ein solches Studium«, so Lisiecki gegenüber Grit Fabienke im Juni 1983, »käme überhaupt nie infrage«.417 Wenn sie schon einen Studiengang belegen wolle, dann höchstens in den Fächern »Politische Ökonomie« oder »Volks-

413  OD Buna: IM-Bericht Ulrich Bartz, Tonbandabschrift vom 24.6.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1003/82, Teil II, Bd. 3, Bl. 145. 414  Zeitzeugengespräch mit Johanna Fabienke am 2.8.2014. 415  Vgl. Abteilung IX der BV Halle: Meldung über den Abschluss eines Strafverfahrens vom 20.3.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1600/83, Bd. 3, Bl. 20. 416 Vgl. OD Buna: IM-Bericht Ulrich Bartz, Tonbandabschrift vom 24.6.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1003/82, Teil II, Bd. 3, Bl. 145. 417  So die Wiedergabe der Aussprache durch Ulrich Bartz. Vgl. ebenda.

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wirtschaftsplanung«. Vorher allerdings müsse sie sich »von ihren Eltern lossagen« und sich »in der Produktion bewähren«, so Lisiecki.418 Für Grit Fabienke kam das alles nicht infrage. Aus ihrer Sicht wurde ihr mit der Entfernung aus dem Exportbereich jede attraktive Perspektive im Kombinat Buna, ja in der DDR als Ganzes genommen. Kurz nach dem Gespräch mit Lisiecki entschied sie sich daher, zusammen mit ihrer Mutter einen »Antrag zur ständigen Ausreise aus der DDR« zu stellen. Prompt leitete die OD Buna daraufhin gegen beide Beschäftigten eine Operative Personenkontrolle ein, die sogenannte OPK »Zusammenhang«.419 Zeitgleich musste sich die Tochter aufgrund ihrer SED-Mitgliedschaft vor der Abteilungsparteiorganisation rechtfertigen. Zu einer Rücknahme des »rechtswidrigen Ersuchens auf Übersiedlung« konnten die Funktionäre der SED sie aber nicht bewegen; »trotz mehrerer Aussprachen«, wie der stellvertretende Vorsitzende der Kreisparteikontrollkommission, Armin Hübner, bemerkte, war sie »nicht bereit, ihren parteifeindlichen Standpunkt aufzugeben«.420 Am 18. Juli 1983 erfolgte daher »wegen Überlaufens zum Klassenfeind« der Parteiausschluss.421 Ihre beruflichen Entwicklungschancen hatten sich damit ein weiteres Mal verschlechtert. Mit einem Rauswurf aus der SED, daran gab es für Grit Fabienke keinen Zweifel, blieb ihr der Weg zu leitenden Positionen im Kombinat – allen voran im Exportbereich – für immer verbaut. Um aus dieser Sackgasse auszubrechen, musste sie nun erst recht die DDR verlassen, immer wieder erkundigte sie sich daher im Laufe des Jahres 1984 beim Rat der Stadt Halle-Neustadt über den Bearbeitungsstand ihres Antrags.422 An der von ihr und ihrer Mutter vehement eingeforderten Familienzusammenführung zeigten die staatlichen Stellen und das MfS allerdings wenig Interesse, die Flucht Fabienkes sollte nach Meinung der Verantwortlichen nicht belohnt werden und Nachahmer finden. Außerdem wurde die Familie auch weiterhin als Lockmittel gebraucht, um den Vater eines Tages doch noch in die DDR zu überführen. Grit und Johanna Fabienke hatten in der DDR zu bleiben, so die Vorgabe der Objektdienststelle, am besten im Kombinat Buna an ungefährlicher Stelle, um eine maximale sicherheitspolitische Kontrolle gewährleisten zu können. 418  Abteilung IX der BV Halle: Befragungsprotokoll vom 8.11.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1600/83, Bd. 3, Bl. 142. 419  Die OPK »Zusammenhang« lief ab Juli 1983. Vgl. OD Buna: Schlussbericht OV »Zusammenhang« vom 24.1.1985; ebenda, Bd. 3, Bl. 19. 420 Schreiben Armin Hübner, Mitglied der Kreiskontrollkommission der SED-Kreisleitung in Buna, an die Bezirksparteikontrollkommission der SED in Halle vom 21.7.1983; LHASA, MER, IV/E-4/05/169, Bl. 37. 421 Ebenda. 422 Vgl. OD Buna: Schlussbericht OV »Zusammenhang« vom 24.1.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1600/83, Bd. 3, Bl. 19; Zeitzeugengespräch mit Grit Fabienke am 25.3.2014.

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Doch beide Antragsteller ließen sich von ihrer einmal getroffenen Entscheidung nicht abbringen. Als immer deutlicher wurde, dass eine Ausreise in die Bundesrepublik kaum Aussicht auf Erfolg hatte, reichte Grit Fabienke beim Rat der Stadt weitere »Anträge auf Wohnsitzänderung« ein, insgesamt 34 bis zum November 1984.423 Mit einer »zunehmend feindlichen Einstellung«, so die Beobachtungen des MfS, würden sich Mutter und Tochter »unnachgiebig in ihrer Absicht [zeigen], die DDR verlassen zu wollen«.424 Im Juni 1984 wurde daraufhin die OPK »Zusammenhang« zu einem Operativen Vorgang hochgestuft, aufgrund der Vorbereitung eines »Ungesetzlichen Grenzübertritts« nach § 213 StGB, wie es im Eröffnungsbericht heißt.425 Die Federführung des Vorgangs übernahm der Leiter des Referats für Außenwirtschaftsbeziehungen, Major Ewald Janetzek, der in der Vergangenheit regelmäßig bei der Familie Fabienke zu Gast gewesen war. Seine Zugehörigkeit zum MfS war der Mutter und Tochter damals aber nicht bekannt gewesen.426 Mit der Eröffnung des OV wurde die Überwachung der Familie noch einmal deutlich ausgeweitet – jedes Telefonat, jeder Besuch und jeder Briefwechsel wurden von nun an genau registriert. Bei dieser Gelegenheit fingen die Offiziere »durch Fahndungsmaßnahmen der Abteilung M«427 ein Schreiben ab, in dem »Grit F. mit dem Gedanken spielt, sich einfach in den Zug zu setzen, um in Richtung Grenze zu fahren, solange bis eine Inhaftierung erfolgt, um dann abgeschoben zu werden«.428 Nachdem die Tochter weitere solcher Protestformen erörterte, zum Beispiel einen Artikel über ihren Fall in einer westdeutschen Zeitung, nahm Janetzek das zum Anlass, um gegen sie und ihre Mutter ein offizielles strafrechtliches Ermittlungsverfahren einleiten zu lassen. In diesem Fall bereitete es der Objektdienststelle keine größeren Schwierigkeiten, die Abteilung IX der Bezirksverwaltung von einem strafrechtlichen Vorgehen gegen die Familie zu überzeugen. Um die angedrohten »politischen Demonstrativhandlungen« zu verhindern, wurden Grit und Johanna Fabienke noch im November 1984 festgenommen und in die Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung des MfS in Halle überführt.429 Dort verblieben sie fast ein halbes Jahr, getrennt von423 Vgl. OD Buna: Schlussbericht OV »Zusammenhang« vom 24.1.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1600/83, Bd. 3, Bl. 19. 424  Ebenda, Bl. 39. 425  Vgl. ebenda. 426  Vgl. ebenda; vgl. Zeitzeugengespräch mit Grit Fabienke am 25.3.2014. 427  Die Abteilung M war eine der Hauptabteilung II des MfS unterstellte Abteilung, die für eine systematische Kontrolle der nationalen und internationalen Postsendungen zuständig war. Die Diensteinheit unterhielt dafür in allen zentralen Postämtern getarnte Kontrollstellen. Siehe Lexikoneintrag »Postkontrolle«. In: MfS-Lexikon, S. 265. 428 OD Buna: Eröffnungsbericht OV »Zusammenhang« vom 20.6.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1600/83, Bd. 2, Bl. 39. 429  Abteilung IX der BV Halle: Meldung über den Abschluss eines Strafverfahrens vom 20.3.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1600/83, Bd. 3, Bl. 24.

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einander, ohne über das laufende Strafverfahren gegen sie im Detail informiert zu werden – bis zum 8. März 1985, als die »Verhandlung« vor dem Hallenser Kreisgericht durchgeführt wurde, die eher einer schnellen Aburteilung als einem richtigen Prozess glich.430 Nach kurzen Statements der Anwälte verlas der Richter noch am Vormittag das Urteil, das wohl schon lange im Voraus festgestanden haben musste: ein Jahr und acht Monate Freiheitsentzug wegen »ungesetzlicher Verbindungsaufnahme« nach § 219 und einer »Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit« nach § 214 StGB.431 Zu diesem Zeitpunkt lag die Flucht Peter Fabienkes zwei Jahre zurück, ein Zeitabschnitt, in dem seine in der DDR verbliebene Familie immer stärker aus dem Arbeitsleben in Buna hinaus und in eine Konfrontation mit dem Staat hineingedrängt wurde. Was mit seinem unerwarteten Fernbleiben von der Reisedelegation im April 1983 begonnen hatte – die genauen Motive hierfür bleiben bis heute ungeklärt432 – endete mit der Inhaftierung seiner Ehefrau und Tochter im Frühjahr 1985. Dieses Vorgehen des MfS erscheint zunächst ungewöhnlich rigide und kam einer kollektiven Bestrafung der Familie gleich. Dennoch handelte es sich hierbei auch um eine Standardreaktion bei Fluchtfällen. Sie diente vor allem der Abschreckung potenzieller »Nachahmungstäter« bei Reisekadern, zu deren wichtigster Rückversicherung stets die Familie zählte. Die ab Mitte März 1985 einsetzende Haftzeit verbrachten Grit und Johanna Fabienke in der Haftanstalt Hohenleuben, einem neuen Gefängnisbau in der Nähe von Gera, der fast ausschließlich für politische Gefangene vorgesehen war. Dass sie den Strafvollzug zusammen antraten, erfuhren beide erst kurz nach ihrer Ankunft in der thüringischen Kleinstadt.433 Entgegen ihren Erwartungen waren Johanna und Grit Fabienke gezwungen, die gesamte Haftstrafe, also alle 20 Monate, in Hohenleuben abzusitzen. Ihre anfängliche Hoffnung auf eine vorzeitige Entlassung erfüllte sich nicht. Während viele ihrer Mitinsassen schon kurz nach ihrem Haftantritt freigekauft wurden, hatte das MfS in ihrem Fall wohl ein Veto eingelegt. Erst im Juli 1986 konnten beide das Gefängnis verlassen und nach Halle zurückkehren. Der grundlegende Konflikt zwischen der Familie und den staatlichen Behörden war mit dieser Haftstrafe allerdings noch nicht gelöst worden; das wurde in der Folgezeit schnell deutlich: Grit und Johanna Fabienke bestanden auch wei430  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Grit Fabienke am 1.3.2016. 431  Vgl. Abteilung IX der BV Halle: Meldung über den Abschluss eines Strafverfahrens vom 20.3.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1600/83, Bd. 3, Bl. 17. 432  Grit Fabienke kann sich im Rückblick daran erinnern, dass ihr Vater durch immer unrealistischere Gewinnerwartungen der Kombinatsleitung an das Lizenzgeschäft zunehmend unter Druck geraten war. Die Angst, für fehlende Deviseneinnahmen der Buna-Werke einmal persönlich zur Verantwortung gezogen zu werden, könnte zu seiner Fluchtentscheidung beigetragen haben. Vgl. Zeitzeugengespräch mit Grit Fabienke am 14.4.2016. 433  Vgl. Zeitzeugengespräch mit Grit Fabienke am 25.3.2014.

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terhin auf eine Übersiedlung in die Bundesrepublik, was ihnen von der DDRSeite, allen voran vom MfS, strikt verwehrt wurde. Als Arrangement favorisierte die Geheimpolizei vielmehr eine erneute Anstellung der beiden im Kombinat Buna. Nur mit einer Wiedereingliederung in die dortige Arbeitswelt, so die Meinung der Offiziere, könne eine effektive Überwachung der Familie für die Zukunft sichergestellt werden. Nach diesen Planungen des MfS wollten sich die Betroffenen aber nicht richten. Stattdessen suchten Grit und Johanna Fabienke eine Anstellung außerhalb des Werks und betonten bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihren Wunsch, die DDR so schnell wie möglich verlassen zu wollen. Bei einer Vorladung Johanna Fabienkes im November 1987 musste die Objektdienststelle Buna zum Beispiel feststellen, »dass sie fest entschlossen ist, ihr Übersiedlungsersuchen aufrechtzuerhalten und sie auf keinen Fall in der DDR verbleiben [möchte]«.434 Laut einem Bericht Janetzeks habe Fabienke bei ihrer Vernehmung sogar betont, dass es für sie keine Zukunft im sozialistischen Staat gebe, da »die 20-monatige Haft bei ihr zu Hass auf das System geführt habe, sie sich ständig kontrolliert fühle und sie zu niemanden Vertrauen finden könne«. In diesem Zusammenhang habe sie auch auf ihren »instabilen Gesundheitszustand nach der Haft [und] die nicht vorhandene Perspektive ihrer Kinder« hingewiesen, so Janetzek.435 Beinahe erleichtert fügte der Offizier hinzu: »In Bezug auf ihre Übersiedlung äußerte sie, dass sie während der Haft erkannt hat, dass es keinen Sinn hat, die Übersiedlung außerhalb der Gesetzlichkeit erzielen zu wollen. Vielmehr sei sie und ihre Familie darauf bedacht, in keinem Fall Handlungen zu unternehmen, die eine erneute Inhaftierung nach sich ziehen könnten.«436 Aus Sicht des MfS hielt sich aber besonders die Tochter, Grit Fabienke, nicht an diese Linie, da sie schon bald nach ihrer Entlassung begann, verschiedene Kirchengruppen im Raum Halle aufzusuchen. Innerhalb der entstehenden Oppositionsszene fand sie sich nach eigenen Worten schon bald in der Rolle eines Mahners wieder, um die Aktivisten über mögliche Konsequenzen ihrer politischen Arbeit aufzuklären. Dass eine einzige provokative Andeutung schnell zu einer Verhaftung führen konnte, wusste sie aus eigener Erfahrung zu berichten. Geduldig würde das MfS auf Anlässe für einen Zugriff warten, so ihre Warnung. Die Kommunikation zwischen den Gruppen zu professionalisieren, verstand sie daher als ihre vorrangige Aufgabe.437 434  OD Buna: Gespräch mit Johanna Fabienke vom 10.11.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1600/83, Bd. 2, Bl. 23. 435 Ebenda. 436  Ebenda, Bl. 24. 437 Vgl. Zeitzeugengespräch mit Grit Fabienke am 25.3.2014. Die Zeitgeschichtsforschung zu den Menschenrechts- und Umweltgruppen in der DDR weist darauf hin, dass viele Aktivisten ab 1987 deutlich offensiver auftraten. Demnach suchte eine jüngere Generation stärker als bislang die Öffentlichkeit. Mit Veranstaltungen ausschließlich in den geschützten – und

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Dieses Engagement war der Objektdienststelle im Kombinat Buna natürlich nicht entgangen, beide Fabienkes standen auch nach ihrer Entlassung aus der Haft weiter unter lückenloser Beobachtung, der OV »Zusammenhang« war noch lange nicht zu den Akten gelegt worden. Eine Ausreise wurde weiterhin blockiert, obwohl sich mittlerweile auch das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen in diesen Fall eingeschalten hatte. In einem Schreiben an ein befreundetes Ehepaar der Familie Fabienke stellte ein Vertreter des Ministeriums im September 1988 ernüchtert fest, dass die bisherigen Vermittlungsversuche ohne Erfolg geblieben seien. »Obwohl seit Jahren immer wieder auf das besonders schwere Schicksal dieser Familie aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen worden ist, dass eine Lösung von hier aus als dringlich angesehen wird, hat die andere Seite sich zu meinem Bedauern noch nicht bereitgefunden, das erbetene Entgegenkommen zu zeigen.«438 Bemerkenswert ist, dass die »andere Seite« – hier vor allem das MfS – die Familie unter allen Umständen in der DDR halten wollte. Dafür bot Janetzek der Mutter Ende 1987 sogar eine Wohnung in einer Stadt ihrer Wahl an, ebenso Unterstützung bei der Arbeitssuche und eine Universitätszulassung ihrer Kinder – immer unter der Bedingung, dass sie und ihre Tochter von ihrem Wunsch nach Übersiedlung in die Bundesrepublik Abstand nehmen würden.439 Auf derlei Kompromisse wollten sich beide Fabienkes allerdings auch weiterhin nicht einlassen, was die Konfrontation mit den staatlichen Stellen noch einmal bis in das Jahr 1989 verlängerte. Erst als der Repressionspraxis des MfS gegenüber den Ausreisewilligen mit den Beschlüssen der Wiener KSZE-Nachfolgekonferenz zu einem guten Teil die Grundlage entzogen wurde, stellte die Objektdienststelle Buna der Familie Fabienke eine Ausreise in Aussicht.440 Zuvor allerdings, im Januar 1989, kam es noch einmal zu einer letzten Konfrontation zwischen Ewald Janetzek und Grit Fabienke. Bei einem Besuch in ihrer Wohnung schärfte ihr der Offizier ein, auf jeden weiteren Kontakt zu Friedensgruppen und Umweltaktivisten im Großraum Halle zu verzichten. Ihre »Entlassung aus der Staatsangehörigkeit« würde kurz bevorstehen, könnte durch eine erneute Provokation von ihrer Seite aber noch zunichte gemacht werden. »Der Grit wurde erläutert«, so Janetzek in seinem Bericht über das Gespräch, gut kontrollierten – Räumen der evangelischen Kirche wollte sie sich nicht mehr länger abfinden. Vielleicht war Fabienke nach ihrer Haftentlassung über diese neue Bereitschaft zur Stellungnahme und Auseinandersetzung im öffentlichen Raum überrascht. 438 Schreiben des Bundesministeriums für Innerdeutsche Beziehungen vom 15.9.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1600/83, Bd. 2, Bl. 5. 439  Vgl. OD Buna: Gespräch mit Johanna Fabienke vom 10.11.1987; ebenda, Bd. 2, Bl. 23. 440  Über die Auswirkung des KSZE-Folgeprozesses in Wien auf die Reiseregelungen in der DDR siehe Hans-Hermann Hertle: Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates. Wiesbaden 1999, S. 87–91. Siehe ebenso Helmut Altrichter, Hermann Wentker: Der KSZE-Prozess. Vom Kalten Krieg zu einem neuen Europa. 1975 bis 1990. München 2011.

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dass die Übersiedlung noch vor Inkrafttreten der neuen Reiseverordnung441 genehmigt wurde. […] Der Unterzeichner äußerte dann die Vermutung, dass eine Genehmigung vielleicht auch schon früher erfolgt wäre, wenn nicht die Grit F. durch ihr Verhalten bei den Nachtgebeten diese Entscheidung erschwert hätte. Unter diesem Gesichtspunkt wurde der Grit dringend angeraten, sich bei der Vorbereitung und Durchführung von Nachtgebeten [und] Missbrauchshandlungen zu enthalten und sich an solchen nicht zu beteiligen, weil dies den Termin einer Ausreise ungünstig beeinflussen könnte.442 Am Ende des Gesprächs suchte die F. in Erfahrung zu bringen, warum ihre Familie so lange (5 ½ Jahre) auf die Genehmigung zur Ausreise warten musste. Hierauf wurde angeführt: Straftat des Peter Fabienke [und die] eigene Straftat trotz Belehrung […] haben die Entscheidung wesentlich beeinflusst, wobei auch heute noch Argumente bestehen, die einer Zustimmung zur Ausreise entgegenstehen.443

Zusammenfassung Die abschließende Frage Grit Fabienkes, warum ihr Fall die Sicherheitsbehörden derart lange beschäftigt hatte, spielte auf eine bemerkenswerte Eigenschaft der MfS-Arbeit in den Chemiekombinaten an: den eingeengten Blick der Offiziere auf einige ausgewählte Personen und Organisationen, die oft über Jahre Gegenstand geheimpolizeilicher Überwachung wurden, ganz gleich, welche wirtschaftliche Bedeutung sie eigentlich besaßen. Ob die überzogene Beschäftigung mit der Firma Plel, die langwierige Verfolgung von Scharf oder Just oder eben der massive Druck auf die Familie Fabienke – die alltägliche Arbeit der Objektdienststellen wurde von einzelnen zentralen Vorgängen vereinnahmt, die mit den immer gleichen Maßnahmeplänen in bürokratischer Routine abgearbeitet wurden. Dass die Diensteinheiten des MfS dabei nur in Ausnahmefällen einen übergeordneten Blick auf die grundsätzlichen Entwicklungsbedingungen der 441  Am 30. November 1988 beschloss der Ministerrat die »Verordnung über Reisen von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik nach dem Ausland«. Sie trat zum 1.1.1989 in Kraft und sollte die Reisemöglichkeiten in den Westen erweitern. Siehe Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Stand 1988, Teil I, http://www.verfassungen.de/de/ddr/reise verkehr88.htm, abgerufen am 3.1.2018. Die Neuregelung provozierte allerdings schnell Proteste. Viele Bürger kritisierten, dass die bisherige Genehmigungspraxis nur schriftlich fixiert worden sei, die Verordnung zu viele »Kann-Bestimmungen« und unkonkrete Formulierungen enthalte und die bürokratischen Hürden für Ausreisen weiterhin zu hoch seien. Im April 1989 musste die Verordnung daher noch einmal überarbeitet werden. Vgl. Artikel auf https://www. bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2014_Deutsche_Einheit/1989-04-01-reiseverordnung.html, abgerufen am 3.1.2018. 442  OD Buna: Gespräch mit Grit Fabienke vom 4.1.1989; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1600/83, Bd. 2, Bl. 35. 443  Ebenda, Bl. 37.

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Kombinate und der Chemiebranche als Ganzes einnahmen, die konzeptionelle und vor allem praktisch-betriebswirtschaftliche Arbeit dagegen weitgehend der SED und den Organen der Planverwaltung überließen, sollte das vorliegenden Kapitel deutlich machen. Es behandelte zunächst die Frage, welche politische Antwort die Partei- und Staatsführung auf die rasant zunehmenden Zahlungsbilanzschwierigkeiten seit 1977 fanden und erörterte anschließend, wie sich diese Krisenreaktion auf die Struktur und Aufgaben der Kombinate und auf die Überwachungspraxis der darin verankerten Geheimpolizei auswirkte. Drei Komponenten des Konsolidierungsansatzes standen dabei im Mittelpunkt: Erstens eine engere Verknüpfung von Produktion und Abnehmern über die Einführung einer »Eigengeschäftstätigkeit« der Kombinate; zweitens die Etablierung einer neuen Außenhandelsstruktur mit privilegierten Betrieben jenseits einer strengen Planbindung und drittens der Ausbau der Produktion ver­ edelter Ölprodukte bei gleichzeitiger Umstellung der Wärme- und Stromerzeugung von Heizöl auf Braunkohle. Eng damit verknüpft war ein Sparprogramm, um Materialien, Rohstoffe und Energie effizienter einzusetzen und umfassender auszubeuten. Diese drei Maßnahmen sollten nicht nur helfen, die akuten Liquiditätsprobleme zu überwinden. Sie wurden auch als Chance begriffen, die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Betriebe zu verbessern – und zwar so weit, dass das 1971 eingeleitete Sozialprogramm auf eine sichere ökonomische Grundlage gestellt werden konnte. Bei dieser Vorgehensweise setzte die SED vor allem auf zwei »Zaubermittel«: die Ressource Öl und das Prinzip der Kompensation. Die Produkte der Erdölveredelung, wie Benzin, Methanol oder Dieselkraftstoffe, sollten für die Abbezahlung modernster Industrieanlagen verwendet werden und zusätzlich noch so viel Gewinn abwerfen, dass Schulden zurückgefahren und das erreichte Niveau der Sozialleistungen und Konsumgüterversorgung beibehalten werden konnten. Dabei ging die SED vielfältige Kooperationsformen mit westlichen Unternehmen ein – etwa Gestattungen, Kompensationsvereinbarungen oder Lohnveredelungen – um den Staatshaushalt zu sanieren, den technologischen Rückstand aufzuholen und den Wohlfahrtsstaat abzusichern. Der Einsatz von Devisen sollte dabei sparsam erfolgen und grundsätzliche Veränderungen am planwirtschaftlichen Modell vermieden werden. Der Chemiebranche kam bei dieser Strategie wieder einmal eine Schlüsselrolle zu: Wurden ihre Erzeugnisse bereits für die Konsum- und Sozialagenda des VIII. Parteitags der SED im Jahr 1971 herangezogen, bildeten sie nun auch die entscheidende Grundlage für die Konsolidierungspolitik ab Ende der 1970erJahre, die sich mit einer Neuauflage der Carbochemie, höheren Planvorgaben für Export und Produktion, einem Ausbau der Braunkohleverstromung sowie Großinvestitionen in die Erdölveredelung und Kunststoffproduktion unübersehbar in den Kombinaten Buna, Leuna und Bitterfeld bemerkbar machte.

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Das MfS beobachtete diesen wirtschaftspolitischen Kurs der SED mit großer Skepsis. Vor allem die Zunahme der west-östlichen Verflechtungen, die am Ende keine größere Eigenständigkeit und Wettbewerbsfähigkeit der Branche herbeiführte, sondern ihre Verschuldung und Importabhängigkeit noch einmal verschärfte, stellte aus der sicherheitspolitischen Perspektive der Geheimpolizei ein enormes Risiko dar. Diesem Trend etwas entgegenzusetzen, zeigte sich das MfS aber nicht in der Lage, die Forderung der Hauptabteilung XVIII nach einer stärkeren Entkoppelung von den Westmärkten blieb jedenfalls, wie gezeigt wurde, ohne größere Resonanz. Die SED erwartete von ihrem Sicherheitsorgan aber auch keine alternativen Konzepte, sondern die Absicherung ihrer einmal eingeschlagenen Linie. Im vorliegenden Kapitel konnte deutlich gemacht werden, dass sich die Objektdienststellen an diese Vorgabe hielten und immer nur passiv auf jene Großvorhaben reagierten, die ihnen von der Kombinatsleitung und der übergeordneten Wirtschaftsverwaltung »vorgesetzt« wurden: Stand Ende der 1970er-Jahre die Erweiterung der Kunststoffverarbeitung in Buna an, wurde darauf der Schwerpunkt der geheimpolizeilichen Arbeit gelegt. Initiierte das Kombinat Leuna einen deutlichen Ausbau der Höherveredelung von Erdöl, heftete sich die Objektdienststelle an dieses Projekt an und überwachte zentrale Akteure wie Nette oder Einzelvorhaben wie das der Methanolanlage. Die Agenda der Wirtschaftsverwaltung bestimmte damit die Überwachungsagenda der Geheimpolizei. Mit diesem reaktiven Verhaltensmuster offenbarten die Offiziere eine routinierte, fast schon mechanische Arbeitsweise: Während die Kombinate der existenziellen Wirtschaftskrise unmittelbar ausgesetzt waren und mit wachsenden Anforderungen für Exporte, Produktqualität und Materialeinsparungen zu kämpfen hatten, gingen die Offiziere ihren immer gleichen »operativen« Standardaufgaben nach – sie platzierten IM, prüften Reisekader, entwarfen »Sicherungskonzeptionen« und ermittelten bei Planrückständen oder technischen Schwierigkeiten. In dieser Alltagspraxis zerfielen die großen ökonomischen Herausforderungen in einzelne kleine Überwachungsvorgänge, die in Jahresarbeitsplänen aufgelistet und nacheinander abgearbeitet wurden. An strukturellen Veränderungen wie neue Fachdirektionen für einzelne Großinvestitionen, zusätzliche Akteure wie die KoKo-Handelsbetriebe oder neue Geschäftsmodelle wie die Kompensationsidee passten sich die Offiziere dabei pragmatisch an und bauten sie in ihre geheimpolizeilichen Aktivitäten ein. Das Vorgehen gegen Albert Dietze in Bitterfeld, bei dem die Objektdienststelle die Spannungen zwischen der Außenhandelsdirektion des Kombinats und dem Außenhandelsbetrieb ausnutzen konnte, wurde dafür als Beispiel vorgestellt. Als mechanische Umsetzung von Jahresplänen wollten die Offiziere selbst ihre alltägliche Überwachungsarbeit natürlich nicht verstanden wissen. Die vorgestellten Einzelfälle zeigen vielmehr, dass sie mit ihren geheimpolizeilichen Maßnahmen stets konstruktive Beiträge leisten wollten, um die innerbetrieb-

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lichen Abläufe reibungsloser zu gestalten und auf diese Weise die Leistungsfähigkeit der Betriebe zu erhöhen. Dabei dominierte der Gedanke: je effektiver die Kontrolle einzelner Leitungskräfte, desto genauer die Planumsetzung, und je genauer die Planumsetzung, desto erfolgreicher das Kombinat und die Chemiebranche als Ganzes. Der Glaube an den Plan stand damit über allem, kam ein Projekt in Schwierigkeiten, wurde dafür schnell der Unsicherheitsfaktor »Mensch« verantwortlich gemacht. Vertreter der SED und des MfS waren dabei geneigt, komplexe und kaum beherrschbare Strukturprobleme in weniger komplexe und damit – scheinbar – lösbare Personalprobleme umzudeuten. Mit dieser Herangehensweise war es ihnen möglich, eine grundlegende Kritik an der übergeordneten Planung zu vermeiden und Handlungsfähigkeit vorzutäuschen. Chronische Probleme der Betriebe wie die ungenügende Produktqualität, die enorme Havarieanfälligkeit oder die unwirtschaftliche Lagerhaltung wurden dann mit strengeren Betriebsvorschriften, weiteren Inspektionen oder der Disziplinierung ausgewählter Kader beantwortet. Anleitung und Kontrolle standen im Mittelpunkt dieser Krisenreaktion, ein grundlegendes Misstrauen gegenüber einzelnen Personen traf auf ein ausgeprägtes Vertrauen gegenüber zentralen Beschlüssen und betrieblichen Normen. Dieser Mechanismus der Personalisierung passte natürlich ideal zur Rolle der Offiziere als Geheimpolizisten, die daran interessiert waren, für bestehende Probleme klar benennbare Schuldige und nicht praktische Lösungen zu finden. Dabei stellte sich heraus, dass die betroffenen Funktionäre in den einzelnen Kombinaten höchst unterschiedlich behandelt wurden: War der betroffene Funktionär politisch einflussreich, wie der Betriebsdirektor für Erdöl/Olefine in Leuna, Wolfgang Nette, musste sich das MfS auf ein passives Beobachten beschränken, obwohl er ökonomisch durchaus folgenschwere und im Werk recht umstrittene Entscheidungen traf. Gegen Wirtschaftsfunktionäre, die keinen größeren politischen Rückhalt genossen, ging das MfS hingegen recht rüde und mit illegalen Mitteln (konspirative Zuführung) vor – selbst wenn die eigene Untersuchungsabteilung keine strafrechtlich relevanten Verfehlungen feststellen konnte. Ob ein staatlicher Leiter stärker oder schwächer unter Druck gesetzt wurde, schien damit weniger von seiner tatsächlichen ökonomischen Relevanz, als vielmehr vom Einfluss der vor Ort ansässigen Objektdienststelle abzuhängen, die unverkennbar mit der Stärke der jeweiligen SED-Betriebsparteiorganisation korrelierte. Der von den Offizieren oft behauptete »Stabilisierungseffekt« konnte sich mit einer solchen willkürlichen und stark auf einzelne Personen fixierten Arbeitsweise kaum einstellen. Weder beteiligten sich die Offiziere ganz praktisch an der betriebswirtschaftlichen Planung noch stellten sie Materialien oder Informationen außerhalb der regulären Planabläufe zur Verfügung. Im Unterschied zur Mikroelektronikbranche lässt sich in den drei untersuchten Chemiekombinaten keine kompensatorische oder gar steuernde Funktion des MfS feststellen.

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Rolle des MfS in der Phase der Verschuldung und Konsolidierung

Im Rückblick fallen eher die störenden Einflussnahmen der Objektdienststellen auf, etwa die Entfernung erfahrener Außenhändler wie Scharf und Dietze, die Verfolgung einer ganzen Familie wie im Fall Fabienke oder die fast manische Überwachung der Vertretergesellschaften wie beim Unternehmen Plel, das geradezu als Inkarnation des »Klassenfeindes« behandelt wird, obwohl es zum Komplex »Kommerzielle Koordinierung« gehörte. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass sich die Überwachungsarbeit des MfS weniger als »Schmiermittel«, sondern eher als »Sand« im inneren Gefüge der Kombinate bemerkbar machte. Die Präsenz des MfS als ein Haupthindernis für die Entwicklung der Chemiebranche darzustellen, würde allerdings deutlich zu weit greifen. Die grundlegenden Entwicklungshemmnisse müssen vielmehr in der übergeordneten Wirtschaftspolitik der SED und in den Konstruktionsfehlern der Wirtschaftsorganisation als Ganzes gesucht werden. Wie sich diese beiden Faktoren langfristig auf die hier untersuchten Kombinate auswirkten, ist Gegenstand des folgenden Kapitels. Dabei steht vor allem die Antwort der Wirtschaftsverwaltung und des MfS auf die zunehmende Instabilität und Überlastung der Chemiestandorte als unmittelbare Konsequenz der Konsolidierungsstrategie der SED im Mittelpunkt.

5. Staatssicherheit in der Gefahrenzone: Die ökonomische Überforderung der Chemiekombinate und die Suche des MfS nach politischer und technischer Stabilität 1984–1989

Das letzte Kapitel behandelte die Überwachung der Chemiekombinate in einer Phase, in der die SED-Führung den Versuch unternahm, die massive Staatsverschuldung bei westlichen Kreditgebern durch eine Reihe von Gegenmaßnahmen schrittweise abzubauen. In den Mittelpunkt ihrer Anstrengungen stellte sie dabei vor allem eine Reform der Außenhandelsorganisation, den Ausbau der Erdölverarbeitung, die massive Förderung von Exportgütern aller Art vor allem für westliche Märkte sowie verschiedene Anstrengungen, Rohstoffe und Materialien im Verarbeitungsprozess sparsamer und effizienter einzusetzen. Wie stark die damit ausgelösten strukturellen Veränderungen innerhalb der Chemiekombinate im Bezirk Halle die Überwachungsarbeit der Linie XVIII berührten, stand im Zentrum der Analyse. Im Folgenden sollen die Auswirkungen dieser wirtschaftspolitischen Strategie genauer betrachtet werden, zunächst für die natürliche Umwelt und binnenwirtschaftliche Versorgung der DDR, die in einem kurzen Exkurs besprochen werden, und anschließend ausführlicher für die Betriebe der chemischen Industrie. Schnell zeichnete sich nämlich ab: Die Entschuldungspolitik der SED ging an die Substanz. Vor allem die Kapazitäten der exportorientierten Produktionsbetriebe, allen voran die der Chemiebranche, wurden umfassend in Anspruch genommen, der fortschreitende Verschleiß bei Anlagen und Gebäuden und die häufigen Produktionsunterbrechungen durch Brände und Havarien machten eine starke Überlastung dieses Teils der DDR-Industrie sichtbar. In diesem Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, wie die Kombinate mit dieser chronischen Überforderung fertig wurden: Welche Gegenmaßnahmen ergriffen sie zusammen mit den übergeordneten Stellen der Wirtschaftsverwaltung, um die Produktion aufrechtzuerhalten und das Störgeschehen zurückzudrängen? Und welche Rolle übernahm bei diesem Unterfangen das MfS? Um eine ungefähre Vorstellung vom Ausmaß des Verfalls und den damit verbundenen Risiken zu gewinnen, soll zunächst ein Blick in einige besonders veraltete und überlastete Betriebsteile in den Kombinaten Buna und Bitterfeld geworfen werden. Die Zustandsbeschreibungen des MfS und anderer Kontrollorgane

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Staatssicherheit in der Gefahrenzone (1984–1989)

können einen guten Eindruck davon vermitteln, was ein Verschleißgrad von mehr als 50 Prozent in der Realität tatsächlich bedeutete. Im Anschluss daran stellt das Kapitel fünf verschiedene Lösungsansätze der Wirtschaftsverwaltung vor, mit deren Hilfe die technische Sicherheit erhöht und die Abwanderung von Fachkräften gestoppt werden sollte: die Motivation und Schulung der Beschäftigten, der Rückgriff auf Strafgefangene und Bausoldaten in besonders gefährlichen Produktionsbereichen, die Umsetzung von Sanierungsprogrammen für einzelne Anlagen oder ganze Werksabschnitte, die Protokollierung und Begutachtung von Verschleißzuständen und Schadensfällen und schließlich der Einsatz von Kontrollen und disziplinarischen Mitteln. Bei den beiden letztgenannten Maßnahmen kam auch das MfS mit ins Spiel, ausführlich soll sowohl die analytische als auch die kontrollierende und sanktionierende Herangehensweise der Geheimpolizei thematisiert werden. Zuvor soll aber die Frage geklärt werden, wie sehr die Offiziere des MfS die prekäre Anlagensicherheit überhaupt bei ihrer alltäglichen Arbeit beachteten: Erkannte die Staatssicherheit in der sichtbaren Überforderung der Betriebe irgendeine sicherheitspolitische Dimension? Schenkte sie diesem Problemfeld gar eine ähnlich große Aufmerksamkeit wie den Vorgängen beim Außenhandel? Nach der Diskussion des allgemeinen Stellenwerts der inneren Instabilität für die Überwachungsarbeit soll die Betrachtung der analytischen Seite des MfS im Mittelpunkt stehen, also die verschiedenen Gutachten, Berichte und Analysen der Offiziere zum Thema Verschleiß, Störungen und Anlagensicherheit. Das Kapitel erläutert, mit welchen Methoden sie ihre Auswertungen durchführten und zu welchen Ursacheneinschätzungen und Lösungsansätzen sie kamen. Der letzte Abschnitt des Kapitels erörtert schließlich die überwachende und disziplinarische Seite des MfS. Dabei sollen drei verschiedene Tätigkeitsfelder der Offiziere im Kombinat vorgestellt werden: Erstens der reguläre, in der Regel sichtbare Kontrollgang durch einen Werksbereich, meist in Begleitung offizieller betrieblicher Inspektionen; zweitens die Beschäftigung des MfS mit Anlagen oder Einzelprojekten, die durch wiederholte Komplikationen wie Verzögerungen oder Störfälle von sich reden machten, und drittens das Aktivwerden der MfS-Offiziere nach einem konkreten Vorfall, zum Beispiel nach einem Großbrand oder nach dem Zusammenbruch eines ganzen Fabrikteils. Ein genauerer Blick auf diese drei Tätigkeitsbereiche soll helfen, zwei Fragen zu klären: Erstens, welche Überzeugungen und Strategien der Krisenreaktion des MfS zugrunde lagen und zweitens, welche konkreten Folgen damit einhergingen, wie sich das analysierende und kontrollierende Handeln des MfS also auf die technische Stabilität der Produktionsanlagen und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten auswirkte.

5.1  Erfolgreiche Entschuldung: Der Ausgleich der Außenhandelsbilanz und die Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit Die Auswirkungen der Konsolidierungspolitik auf die Betriebe und die darin integrierte Geheimpolizei stehen in den folgenden Ausführungen im Mittelpunkt. Zuvor allerdings soll noch kurz das Ergebnis der Entschuldungs- und Modernisierungsbemühungen erwähnt werden, denn das fiel, trotz aller Refinanzierungsprobleme bei den Kompensationsvorhaben, nicht nur negativ aus.  Das langfristige Projekt, die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Industrie spürbar zu verbessern, konnte zwar nicht erreicht werden. Auf das Phänomen der Einkaufsfalle mit einer immer gravierenderen Importabhängigkeit wurde bereits im letzten Kapitel eingegangen. Doch bei den kurz- und mittelfristigen Zielsetzungen, die auf die Wiedererlangung der eigenen Kreditwürdigkeit und den schrittweisen Ausgleich der Zahlungsbilanz abzielten, konnte die SED-Führung bis Mitte der 1980er-Jahre einige Erfolge vorweisen: So verringerten sich die Schulden bei westlichen Banken markant, von 25,1 Milliarden DM im Jahr 1982 auf 15,5 Milliarden DM im Jahr 1985, während die 1981 abrupt unterbrochenen Finanzbeziehungen zum westlichen Kapitalmarkt schrittweise revitalisiert werden konnten.1 Ab 1984 war es der DDR wieder möglich, ungebundene Kredite mit längeren Laufzeiten aufzunehmen.2 Spätestens zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich ab, dass es der SED gelungen war, die akute Liquiditätskrise zu überwinden und einen massiven Einbruch von Produktion und Versorgung abzuwenden. Fünf Einnahmequellen hatten diesen Konsolidierungserfolg möglich gemacht. An erster Stelle stand die Steigerung des Exports: Der massive Druck auf die Handels- und Produktionsbetriebe, ihre Ausfuhren in das westliche Ausland auszubauen, hatte Wirkung gezeigt. Zwischen 1980 und 1984 nahm das Exportvolumen um 80 Prozent zu, allein im Jahr 1982 konnten gegenüber dem Vorjahr 22 Prozent mehr Waren ausgeführt werden. 80 Prozent der damit generierten Einnahmen wurden unmittelbar für die Schuldentilgung aufgewendet.3 Eine erhebliche Rolle spielten ebenso die Einnahmen der KoKo: Unterstützt wurden die Exportanstrengungen der regulären Betriebe durch die erfolgreichen Geschäftspraktiken der KoKo-Firmen, die – wie im letzten Kapitel ausgeführt wurde – mithilfe verschiedener Geschäftsmodelle zwischen 1967 und

1  Vgl. Deutsche Bundesbank: Zahlungsbilanz der DDR, S. 22. 2  Vgl. Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 158. 3  Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 227.

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1989 etwa 28 Milliarden DM Gewinn erwirtschaften konnten.4 Im Jahr 1982 war es dem »Bereich Kommerzielle Koordinierung« zum Beispiel möglich, dem Staatshaushalt 1,5 Milliarden DM für Technologie- und Anlagenimporte sowie 6,7 Milliarden DM für die »Sicherung der Zahlungsbilanz« zur Verfügung zu stellen.5 Von Bedeutung waren drittens die Einnahmen, die aus dem deutsch-deutschen Verhältnis resultierten, unter anderem Visagebühren, die Transit- und Postpauschale oder der Gefangenenfreikauf. Die Transitpauschale als größter Einzelposten dieser »paraökonomischen« Renteneinnahmen spülte zum Beispiel jährlich zwischen 850 und 950 Millionen DM in die Staatskasse.6 Viertens wurde die DDR auch durch Tauschgeschäfte mit der Sowjetunion unterstützt. Um in der akuten Krisenphase zum Jahreswechsel 1981/82 überhaupt handlungsfähig zu bleiben, schloss die Moskauer Regierung mit der DDR verschiedene Sondervereinbarungen ab. Einmal ließ sich die östliche Vormacht auf zusätzliche Erdöllieferungen gegen Lebensmittel ein und stützte damit das von ihr eigentlich kritisch beäugte Modell eines Weiterverkaufs veredelter Erdölprodukte. Priorität besaß für sie neben der Stabilität der DDR zunächst einmal die Überwindung der heimischen Landwirtschaftskrise, die den Handelskonflikt innerhalb des RGW hauptsächlich ausgelöst hatte. Für dieses Ziel zeigte sich die Führung der KPdSU auch bereit, von der DDR französische und westdeutsche Agrarerzeugnisse mit ungewöhnlich kurzen Zahlungsfristen entgegenzunehmen. Da gegenüber den westlichen Lieferanten eine Begleichung der Rechnungen bei diesen Gütern erst nach einem knappen Jahr üblich war, wirkte sich dieser Weiterverkauf an die Sowjetunion für die DDR-Seite wie ein kurzfristiger Kredit aus. Einen ähnlichen Vorteil zog die DDR aus einem sowjetischen Angebot von 850 000 Tonnen Rohöl gegen »Valuta«. Auch hier räumte der Lieferant, diesmal die östliche Seite, eine besonders lange Zahlungsfrist ein, sodass die DDR die Möglichkeit erhielt, über einen Re-Export dieses Rohöls zumindest kurzfristig an Devisen zu gelangen. Der permanent fällige Schuldendienst brauchte auf diese Weise nicht unterbrochen werden.7 Und schließlich verbesserten Bürgschaften der Bundesrepublik die ökonomische Lage der DDR erheblich. Die Tauschgeschäfte mit der Sowjetunion stabi4  Vgl. Buthmann: AG BKK, S. 19; Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 18 u. 258; Kruse: Deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen, S. 230. 5  Vgl. Buthmann: AG BKK, S. 24. 6 Kuhnle bezeichnet diese Sondereinnahmen als »paraökonomische Aspekte« der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen. Siehe Kuhnle: Bedeutung der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen. Über die historischen Hintergründe der Transferzahlungen siehe Hertle: Diskussion ökonomischer Krisen, S. 320; Hertle: Der Fall der Mauer, S. 40. Über den Umfang der Transitpauschale siehe http://www.ddr-wissen.de/wiki/ddr.pl?Transitpauschale, abgerufen am 3.1.2018. 7  Ausführlicher beschrieben werden diese Sondergeschäfte bei Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 150.

Die Kosten der Konsolidierung

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lisierten die Kreditwürdigkeit der DDR auf niedrigem Niveau. Doch eine nachhaltige Verbesserung der Bonität ergab sich daraus noch nicht, diese leiteten erst die Garantien der Bundesrepublik für je einen Kredit einer Tochter der Bayrischen Landesbank über eine Milliarde DM im Jahr 1983 und einer Tochter der Deutschen Bank über 960 Millionen DM im Jahr 1984 ein, die im Gegenzug über eine potenzielle Verpfändung der Transitpauschale bei Zahlungsausfall abgesichert wurden.8 Neben dieser Rückversicherung waren auch Erleichterungen beim grenzüberschreitenden Reiseverkehr und Veränderungen bei der Sicherung der innerdeutschen Grenze Teil des von Franz Josef Strauß und Alexander Schalck-Golodkowski ausgehandelten Deals.9 Da die DDR die gewährten Kredite nicht für die Schuldentilgung aufbrachte, sondern langfristig als Finanzpolster bei westlichen Banken anlegte, konnte sich ihr Ansehen auf dem westlichen Kapitalmarkt in der Folgezeit nachhaltig verbessern.10

5.2  Die Kosten der Konsolidierung Innere Anstrengungen und äußere Unterstützung hatten also bis Mitte der 1980er-Jahre eine deutliche ökonomische Stabilisierung der DDR möglich gemacht. Das Kalkül der SED-Führung, einzelne, bis dahin lose nebeneinander betriebene Einzelmaßnahmen zu einer kohärenten Strategie zu bündeln, war aufgegangen. Doch diese Konsolidierungspolitik – ein laut dem Wirtschaftshistoriker Michael Kruse »erstaunlicher ökonomischer Kraftakt« – brachte nicht nur außenwirtschaftliche Erfolge, sondern auch erhebliche Nebenwirkungen im Innern mit sich.11 Vor allem für drei Bereiche stellten sich belastende Effekte ein, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen: für die Versorgung der Betriebe und Privathaushalte, für die natürliche Umwelt, und vor allem für das Anlagenkapital der DDR-Industrie.

8  Vgl. ebenda, S. 158. 9  Zu den Gegenleistungen der DDR zählten der Abbau der Selbstschussanlagen, die Entfernung der Minen entlang der deutsch-deutschen Grenze, eine leichtere Abfertigung von Bundesbürgern beim Grenzübertritt sowie die Befreiung von Kindern beim Mindestumtausch. Vgl. Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 286. 10  Über die Hintergründe, Entstehung und Wirkung beider Kredite siehe weiterführend Peter Przybylski: Tatort Politbüro. Honecker, Mittag und Schalck-Golodkowski, Bd. 2. Berlin 1992; Hertle: Diskussion ökonomischer Krisen, S. 329; Kruse: Deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen, S. 201; Manfred Kittel: Franz Josef Strauß und der Milliardenkredit für die DDR 1983. In: Deutschland Archiv 40 (2007) 4, S. 647–656, hier 647; Reinhard Buthmann: Megakrise und Megakredit. In: Deutschland Archiv 38 (2005) 12, S. 991–1000, hier 991; Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 158. 11  Kruse: Deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen, S. 189.

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5.2.1 Kosten für die Verbraucher: Die Reduzierung der Versorgung für Privathaushalte und Betriebe Die politische Vorgabe »Export um jeden Preis«, ganz gleich, welche Wirtschaftlichkeit die Geschäfte eigentlich besaßen, wirkte sich sehr zulasten des inländischen Warenangebots aus. »Erdölprodukte und chemische Erzeugnisse, Stickstoff und Kali, Eier und Zement, Möbel, Haushalts- und Industrienähmaschinen, Mähdrescher, Gasherde und Fahrräder, Fleisch und Düngemittel, Butter und Waffen« – all diese von Hans-Hermann Hertle aufgezählten Konsumund Investitionsgüter, Grundstoffe und Fertigwaren wurden dem Binnenmarkt entzogen und gegen Devisen auf westlichen Märkten verkauft.12 Betriebe und Privathaushalte spürten die damit einhergehende Mangelversorgung täglich.13 Für die wirtschaftspolitische Gesamtstrategie der SED ergaben sich daraus mindestens zwei Widersprüche: Zum einen stand sich die Exportfixierung selbst im Weg. Vor allem die Ausfuhr wertvoller chemischer Grundstoffe wie Chlor, Chlorate, PVC oder Wasserstoff brachte die auf diesen Gütern aufbauende weiterverarbeitende Produktion im Innern der DDR ins Stocken – und damit auch den von ihr ausgehenden Export anspruchsvoller Fertigwaren. Die Exportindustrie entzog sich also ihre eigene Arbeitsgrundlage. »Bei einer weiteren Anzahl von Produkten in Leuna und Buna wird durch die verantwortlichen Genossen in erster Linie die Erfüllung der NSW-Exporte gesehen«, so der Wirtschaftsfunktionär Dieter Thalwitzer, der in Leuna für die Exporte von Rohstoffen verantwortlich war. »Das führt aber dazu, dass bei diesen Engpassprodukten die Inlandsversorgung leidet, vorhandene Bestände, die eine kontinuierliche Produktion garantieren sollen, auf Null runtergefahren wurden und man von der Hand in den Mund lebt.«14 Darüber hinaus konterkarierte dieser Ausverkauf des eigenen Landes den ursprünglichen Ansatz des VIII. Parteitags der SED aus dem Jahr 1971, ökonomisches Wachstum und politische Akzeptanz vor allem über soziale Sicherheit und eine bessere materielle Versorgung zu generieren. Nachdem hohe Erwartungen geweckt worden waren und in einer kurzen Phase des ökonomischen Aufschwungs auch vorübergehend bedient werden konnten, ließ sich das Wohlstandsversprechen der SED spätestens ab Anfang der 1980er-Jahre nicht mehr

12  Hertle: An die Sowjetunion verkaufen?, S. 476. 13  Über die Versorgungsengpässe im Bezirk Halle siehe Hans-Joachim Plötze, Edda Ahrberg (Hg.): »... mal gibt es kein Brot am Nachmittag, mal kein Schnittkäse, mal kein Quark ...«. Die Versorgung der Bevölkerung 1989 im Bezirk Halle mit Waren des täglichen Bedarfs, Sachbeiträge 12 des Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Sachsen-Anhalt. Magdeburg 2000, S. 76. 14 Thalwitzer in OD Leuna: Treff bericht vom 12.11.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 2699/86, Teil II, Bd. 3, Bl. 54.

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einlösen.15 Zwar blieb die ausgeprägte Sozialstaatlichkeit der DDR mit ihrer Übersubventionierung von Mietwohnungen, Bildungseinrichtungen und Grundnahrungsmitteln bestehen. Die Vielfalt des Warenangebots musste jedoch deutlich zurückgefahren werden – und das ausgerechnet in einer Zeit, in der eine neue Generation mit ganz neuen Ansprüchen an materiellen und auch an postmateriellen Werten auftrat.16 Die Verflechtung mit westlichen Märkten, die eigentlich eine verbesserte Konsumgüterversorgung sicherstellen sollte, bewirkte am Ende genau das Gegenteil. Die täglichen Mühen und die ungenügenden Entfaltungsmöglichkeiten, die mit den massiven Versorgungsproblemen einhergingen, lösten eine große Unzufriedenheit in der Bevölkerung aus, die von den internen Stimmungsberichten des MfS deutlich widergespiegelt wurde.17 Versorgungsfragen nahmen hier im Laufe der 1980er-Jahre einen herausgehobenen Platz ein. Über die »Meinungen der Werktätigen« im Kombinat Buna hieß es zum Beispiel im November 1986, dass »Frauen bemängeln, dass sie sehr viel Zeit verlaufen müssen, um die Dinge und Produkte im Handel zu erhalten, die sie zu kaufen wünschen«. Dabei würden »Südfrüchte nur unter dem Ladentisch verkauft werden«, ebenso »Textil-, Leder- und Industriewaren«.18 Die Stimmungsmessungen der Geheimpolizei zeigten auch, dass ein Vergleich mit der Bundesrepublik den täglichen Ärger mit der Mangelversorgung noch verstärkte. Als das ZK der SED zum Beispiel im Dezember 1988 die ökonomischen Probleme der DDR thematisierte, nahm das die Bevölkerung laut MfS sofort zum Anlass, die »bessere Bedürfnisbefriedigung der BRD-Bürger durch ein umfassendes Warenangebot [und] ein hohes Niveau an Dienstleistungen« hervorzuheben. »Der Verweis auf die Suppenküchen für die Arbeitslosen in der BRD«, so ein Bericht der Zentralen Aus-

15  Über das Wohlstandsversprechen der SED siehe Skyba: Konsumsozialismus als Dogma, S. 255–267; Boyer: Grundlinien der Sozial- und Konsumpolitik der DDR, S. 69–84. 16  Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 197 u. 223; ebenso Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 290. 17  Ein Indikator für die chronische Unterversorgung war das sogenannte Zwangssparen der Bürger, also ihre unverhältnismäßig hohen Spareinlagen bei den Sparkassen der DDR. Die Geldinstitute belohnten die Sparguthaben der DDR-Bürger mit hohen Zinssätzen und gaben sie in Form von Krediten an die Staatsbank der DDR weiter, die mit diesem Kapital wiederum inländische Exportbetriebe finanzierte. Damit verstärkten die Bürger mit ihren Sparguthaben indirekt und unbeabsichtigt die innere Güterknappheit und damit ihren eigenen Mangel an Kaufkraft. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von einer »inneren Verschuldung« des Staates und der Betriebe gegenüber den eigenen Bürgern. Siehe http://wirtschaftslexikon. gabler.de/ Definition/geldueberhang.html, abgerufen am 3.1.2018; Kruse: Deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen, S. 117; Judt: Kommerzielle Koordinierung, S. 142; Gerhardt: Ökonomie ist Mittel zum Zweck, S. 5. 18  OD Buna: Stimmungen und Meinungen der Werktätigen im Verantwortungsbereich der OD vom 21.11.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 662, Bl. 104.

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wertungs- und Informationsgruppe des MfS (ZAIG)19, »sei ihrer Meinung nach nicht geeignet, um über die Lücken und Mängel in der Versorgung der Bevölkerung in der DDR hinwegzusehen.«20 5.2.2 Kosten für die natürliche Umwelt: Die ökologischen Folgen der Wirtschaftspolitik Die massiven Anstrengungen der Wirtschaftsverwaltung, den Staatshaushalt zu konsolidieren, machten sich also in der Alltagswelt der Bürger spürbar bemerkbar. Doch der Engpass bei Gütern und Dienstleistungen blieb nicht die einzige Folgewirkung der Entschuldungspolitik. Vor allem die Umstellung der Wärmeund Stromerzeugung von Heizöl auf Braunkohle und die Vorgabe für alle Industriebetriebe, das Volumen ihrer Produktion deutlich zu steigern, wuchs sich zu einer massiven Belastung der natürlichen Umwelt aus – ein zweiter »Kostenfaktor« der SED-Wirtschaftsstrategie, der die allgemeine Lebensqualität der Bürger ein weiteres Mal minderte. Tatsächlich waren die ökologischen Eingriffe während der Amtszeit Honeckers massiv: Bis 1980 waren landesweit bereits 75 Kleinstädte und Dorfgemeinden im Zuge der Braunkohleförderung devastiert worden.21 Bis zum Jahr 2030 sollten allein im Bezirk Cottbus noch einmal 150 Ortsabbrüche dazukommen.22 Da Braunkohletagebaue in immer kürzeren Abständen aufgeschlossen werden mussten, nahm der Landschaftsverbrauch immer drastischere Ausmaße an – zwischen 1976 und 1988 summierte er sich auf über 42 500 Hektar, lediglich die Hälfte dieser Fläche sollte in den 1980er-Jahren einer Rekultivierung unterzogen werden.23 Zur Zerstörung und Verschmutzung von Böden und Gewässern kam die Belastung der Luft hinzu: Die Verbrennung der zunehmend durch Sand und 19  Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS – kurz: ZAIG – stand an der Spitze des MfS-internen Berichtswesens. In diesem Organ landeten ausgewählte Berichte der Auswertungsgruppen aus den Hauptabteilungen und territorialen Diensteinheiten. Die ZAIG verfasste daraus zusammenfassende Lageberichte für die Partei- und Staatsführung. Ihr oblag ebenfalls die Aufgabe, die Verwaltungsabläufe im Ministerium sowie die geheimpolizeiliche Überwachungsarbeit zu optimieren. Vgl. Frank Joestel, Roger Engelmann: Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe. Berlin 2011 (BStU, MfS-Handbuch). 20  ZAIG des MfS: Erste Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung auf die 7. Tagung des ZK der SED vom 13.12.1988; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 4245, Bl. 1–8. 21 Vgl. Nooke: Umweltgruppe Forst, S.  89; vgl. Falk Beyer: Energiepolitik der DDR, http://www.gruenes-blatt.de/index.php/2006-01:Energiepolitik_der_DDR. 22  Im Jahr 1981 wurde ein Fünftel der Fläche des Bezirks Cottbus zum sogenannten Bergbauschutzgebiet erklärt und damit für die Überbaggerung freigegeben. Vgl. Nooke: Umweltgruppe Forst, S. 89. 23  Vgl. Buck: Umweltpolitik und Umweltbelastung, S. 237.

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Schwefel verunreinigten Braunkohle setzte Emissionen von Staub, Stickoxidgasen, Schwefeldioxid und Kohlendioxid frei.24 Bei CO2 erreichte die DDR Ende der 1980er-Jahre mit 21 Tonnen den weltweit höchsten Pro-Kopf-Ausstoß, ein doppelt so hoher Betrag wie in der Bundesrepublik.25 Mit 5  444 Tonnen pro Jahr lag die Belastung mit Schwefeldioxid sogar 26-mal höher als in Westdeutschland. Allein die beiden Kohlekraftwerke Jänschwalde und Boxberg im Bezirk Cottbus emittierten im Jahr 1988 das gleiche Volumen an SO2, wie die gesamte Energiewirtschaft der BRD und der Länder Skandinaviens zusammen.26 Umwelttechnologien wie Rauchgasentschwefelungsanlagen, die in westlichen Kraftwerken zur Standardausstattung zählten, hätten diese extreme Form der Luftverschmutzung spürbar mindern können. Doch Investitionen in solche Filtertechniken genossen in der DDR keine politische Priorität. Zwischen 1981 und 1985 betrugen die Jahresausgaben für ökologische Belange der Ministerien für Umwelt und Wasserwirtschaft und für Kohle und Energie zusammengenommen gerade mal 875 Millionen Mark.27 Ein Großteil davon wurde für die kommunale Abwasserentsorgung bereitgestellt.28 Für das Planjahr 1980 verkündete der Umweltminister Hans Reichelt in einem Schreiben an Günter Mittag sogar, weitere Umweltschutzmaßnahmen streichen zu wollen, um – wie er es begründete – »Mittel für produktive Aufgaben« freisetzen zu können.29 Die braunkohlebasierte Energiepolitik und die viel zu gering angesetzten Umweltausgaben hinterließen am Ende weitreichende ökologische Folgeschäden. Laut einem Gutachten des Berliner Instituts für Ökologische Wirtschaftsforschung wies Anfang der 1990er-Jahre die Hälfte des ostdeutschen Waldbestandes »schwere Schäden« auf. Zwei Drittel aller Fließgewässer galten als »stark« bis »sehr stark« belastet, 40 Prozent der Bodenfläche als »stark beeinträchtigt«. 45 Prozent der Oberflächengewässer konnten nicht mehr als Trinkwasserreservoir genutzt werden.30 Als besonders betroffen nannte die Studie den Bezirk Halle, »die Region um Bitterfeld«, so die Autoren der Studie, sei »der vermut24  Vgl. Beyer: Energiepolitik der DDR, http://www.gruenes-blatt.de/index.php/2006-01:Energiepolitik_der_DDR; Die Energiepolitik der DDR, S. 53. 25  Vgl. Buck: Umweltpolitik und Umweltbelastung, S. 229. 26  Vgl. Matthes: Stromwirtschaft, S. 67; Die Energiepolitik der DDR, S. 53. 27  Im Jahr 1986 wurden die staatlichen Umweltinvestitionen auf jährlich 1,3 Mrd. Mark heraufgesetzt. Vgl. Staatliche Zentralverwaltung für Statistik: Statistische Jahresberichte 1982– 1988, Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Teil II: Umweltschutz, 1983; BArch, DE 2, Nr. 30152, Bl. 6. 28  Ebenda, Bl. 7. 29  Schreiben Hans Reichelt, Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, an Günter Mittag vom 23.11.1979; BArch, DY, Nr. 3023, Bl. 1147. 30  Vgl. Herbert Schwenk: Gewusst und verheimlicht. Vom Abenteuer des Umgangs mit der Umwelt in der DDR. In: Ludwig Elm, Dietmar Keller, Reinhard Mocek (Hg.): Ansichten zur Geschichte der DDR, Bd. 4. Berlin 1997, S. 245.

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lich am stärksten umweltbelastete Raum in Europa«.31 Um die Schäden in der gesamten DDR zu beheben, berechnete das Institut einen Investitionsaufwand von 58 Milliarden DM.32 Dieser sogenannte Umweltreport beschrieb erstmals mit genauen Prozentwerten jene Umweltkrise, die von den Bürgern der DDR bereits Mitte der 1980er-Jahre nicht nur wahrgenommen, sondern in zahlreichen Eingaben an offizielle Stellen zum Teil recht schonungslos angesprochen wurde.33 Die mitunter wütenden Klagen über die alltäglichen Belastungen und über die Untätigkeit der staatlichen Behörden in diesen Eingaben machen deutlich, dass auch die ökologischen Folgen der Konsolidierungspolitik zu einem Ansehensverlust des Staates beigetragen hatten. Die Erfahrung der Umweltverschmutzung und der Mangelversorgung ergaben zusammengenommen ein ausgeprägtes ökonomisches und ökologisches Krisenbewusstsein, ein Gefühlsmix aus Ohnmacht, Zukunftsangst und Frustration, der sich zu DDR-Zeiten in den Eingaben der Bürger und MfS-Stimmungsberichten abbildete, und später, nach der Wiedervereinigung, durch repräsentative Meinungsumfragen bestätigt wurde.34 Laut einer Erhebung der Concret GmbH, einem Institut für angewandte Wirtschafts- und Sozialforschung, zeigten sich im September 1990 60 Prozent der ehemaligen DDR-Bürger unzufrieden über den ökologischen Zustand ihrer Region.35 70 Prozent bemängelten das staatliche Handeln bei Umweltfragen und ein ebenso großer Teil drückte seine Besorgtheit über die Auswirkungen der Umweltkrise auf künftige Generationen aus.36 31 Ulrich Petschow, Jürgen Meyerhoff, Claus Thomasberger: Umweltreport. Bilanz der Zerstörung. Kosten der Sanierung. Strategien für den ökologischen Umbau. Eine Studie des Instituts für Ökologische Wirtschaftsforschung. Frankfurt/M. 1990, S. 44. 32  Das Münchner Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung kam sogar auf einen Wert von 211 Mrd. DM. Vgl. Schwenk: Gewusst und verheimlicht, S. 246. 33  Allein beim Ministerium für Umwelt und Wasserwirtschaft gingen im Jahr 1984 3 946 dieser individuellen Beschwerdebriefe ein. Vgl. ebenda, S. 250. 34  Das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« veröffentlichte im Februar 1990 eine Erhebung, nach der das Thema »Umweltschutz« in der DDR-Bevölkerung sogar als relevanter betrachtet wurde als das Thema »Versorgung«. Ökologie und Demokratisierung nahmen demnach den gleichen Stellenwert ein. Ein solch ausgeprägtes Umweltbewusstsein der DDR-Bürger kann allerdings auch auf die intensive Medienberichterstattung und die breite öffentliche Debatte unmittelbar nach der Wiedervereinigung zurückgeführt werden. Mitte der 1980er-Jahre wäre bei ähnlichen repräsentativen Erhebungen wohl kaum das Thema Umwelt an erster Stelle der drängendsten Probleme des Landes gelandet. Vgl. Das Land der 1000 Vulkane. In: Der Spiegel, Sonderheft: Giftküche DDR v. 8.1.1990, S. 27. 35  In Kooperation mit der Stiftung Gesellschaftsanalyse e.V. Berlin führte das Unternehmen im September 1990 eine repräsentative Umfrage mit 1 150 Personen zum Thema »Umweltkrisenbewusstsein von DDR-Bürgern« durch. Vgl. Helmar Hegewald, Herbert Schwenk: Umweltbewusstsein ehemaliger DDR-Bürger. In: Utopie kreativ (1991) 6, S. 86–91, hier 86. 36  Vgl. Herbert Schwenk: Die Unzufriedenheit ist groß – doch das Wissen recht gering. In: Neues Deutschland v. 19.10.1990, S. 5; Hegewald; Schwenk: Umweltbewusstsein ehemaliger DDR-Bürger, S. 86. Weitere Literatur zur Umweltverschmutzung in der DDR Nooke: Um-

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5.2.3 Kosten für die industrielle Substanz: Die Umschichtung und Absenkung von Investitionen und der Verfall der Industrieanlagen Die Auswirkungen der Entschuldung auf die natürliche Umwelt waren also enorm, die damit einhergehende Unzufriedenheit ausgeprägt und politisch riskant. Schaut man sich die Ursachen für die hohen ökologischen Kosten genauer an, dann fallen nicht nur fehlende Umweltinvestitionen und die Dominanz der Braunkohle auf. Ausschlaggebend für die ökologische Krise war auch die enorme Überalterung der Maschinen und Anlagen im produzierenden Gewerbe, die als dritte große Folgewirkung der Entschuldungspolitik der 1980erJahre angeführt werden kann. Dass der Anlagenbestand derart stark auf Verschleiß gefahren wurde, hing mit drei Merkmalen der staatlichen Investitionstätigkeit zusammen: der selektiven Förderung bestimmter Industriezweige, der Reduzierung des gesamten Investitionsvolumens und der Präferenz der Betriebe und Planverwaltung für die Beschaffung von Neuanlagen auf Kosten der Sanierungen von Altanlagen. Zunächst zählte es zu den typischen Eigenheiten der DDR-Wirtschaftspolitik, bestimmte Schwerpunkte bei den Investitionen zu bilden. Im Zuge der Heizölablöse zog die Wirtschaftsverwaltung zum Beispiel Investitionen aus dem produzierenden Gewerbe ab – unter anderem aus der Chemieindustrie und dem Werkzeugmaschinenbau –, um sie in den Energiesektor umzuleiten. 30 Prozent aller investiven Ausgaben nahm in den 1980er-Jahren die Braunkohlenförderung in Beschlag.37 Hinzu kam, dass die Regierung zur gleichen Zeit für nichtproduktive Bereiche wie Soziales oder Verteidigung immer größere Summen zur Verfügung stellte – allein der Etat der Nationalen Volksarmee vergrößerte sich zwischen 1981 und 1988 von 9,4 auf 15,7 Milliarden Mark.38 Wenn überhaupt im produzierenden Gewerbe Geld ausgegeben wurde, dann vorrangig für kostspielige Prestigeprojekte wie der Erdölverarbeitung in Schwedt und Leuna oder der Entwicklung von Speicherschaltkreisen in den Mikroelektronikkombinaten in Erfurt und Jena.39 Diese Prioritätensetzung der politischen Führung war ein wesentlicher Grund für den Substanzverlust bei Maschinen, Fabrikgebäuden und

weltgruppe Forst; Sebastian Pflugbeil: Die Umweltzerstörung und die ökologischen Folgen der Rohstoff- und Energiewirtschaft in der DDR. In: Materialien zur Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«, Bd. III/2. Baden-Baden 1999, S. 557–586; Beleites: Unabhängige Umweltbewegung, S. 179–224; Tobias Huff: Natur und Industrie im Sozialismus. Eine Umweltgeschichte der DDR. Göttingen 2015. 37  Vgl. Gutmann; Buck: Zentralplanungswirtschaft, S. 10. 38  Vgl. ebenda, S. 12. 39  Über die Investitionsschwerpunkte der SED-Führung in den 1980er-Jahren siehe Küchler: Wirtschaft der DDR, S. 98–111.

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Transportwegen – ganz besonders in jenen Branchen, die nicht in den Genuss der ökonomischen Schwerpunktförderung kamen. Neben der problematischen Neuausrichtung der Investitionszuteilung nahm aber auch das Gesamtvolumen der Investitionen im Verhältnis zum Nationaleinkommen sukzessive ab. Lag die staatliche Investitionsquote im Jahr 1970 noch bei 29 Prozent, schrumpfte sie bis 1986 auf 26,5 Prozent und bis 1989 auf 18  Prozent.40 »Dieser faktische Stillstand und sogar Rückgang der Investitionen«, so der Ökonom Karl C. Thalheim, »war eines der ernstesten wirtschaftlichen Probleme, mit denen die DDR zu kämpfen hatte; er war ganz überwiegend durch den Zwang zum Ausgleich der Zahlungsbilanz bedingt.«41 Schließlich wirkte sich auch die Form der Investitionen auf die industrielle Substanz aus, genauer: die Vorgabe der Wirtschaftsverwaltung, das Produktionsvolumen möglichst schnell auszuweiten. Investitionen sollten demnach weniger für Sanierungsarbeiten, sondern in erster Linie für die Erweiterung der Produktion durch Neuanlagen eingesetzt werden. In der Regel wurde eine Großreparatur nur dann genehmigt, wenn mit ihr eine Leistungssteigerung nachgewiesen werden konnte – eine Vorbedingung, die viele notwendige Sanierungen verhinderte.42 In den Buna-Werken flossen zum Beispiel zwischen 1975 und 1980 drei Viertel aller Investitionsmittel in die Erweiterung und nur ein Viertel in die Sanierung, zwischen 1981 und 1985 lag das Verhältnis hier bei 68 zu 32 Prozent.43 Das mangelnde Interesse an der Erneuerung spiegelte sich auch im System der Abschreibungen wider: Indem der jährliche Wertverlust einer Anlage mit gerade mal 6 Prozent des Anschaffungswerts veranschlagt wurde, peilte der Staat eine möglichst lange Nutzungsdauer der »Grundmittel« an.44 Eine hohe Aussonde40  Klenke bezieht sich bei diesen Zahlen auf Wolfgang Marschall: Wende in der Strukturund Technologiepolitik der DDR. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 207, 1990, S. 574. Vgl. Klenke: An der Globalisierung gescheitert?, S. 5. Laut dem »Umweltreport DDR« des Instituts für Ökologische Wirtschaftsforschung sank der Anteil der Investitionen im produzierenden Bereich am verwendeten Nationaleinkommen von 16 % im Jahr 1970 auf 10 % im Jahr 1980. Vgl. Petschow; Meyerhoff; Thomasberger: Umweltreport, S. 14. 41  Thalheim: Außenwirtschaft als Bestimmungsfaktor, S. 22. 42  Vgl. ZAIG des MfS: Hinweise über Gefährdungen der Arbeits- und Produktionssicherheit besonders in den Industriezweigen Chemische Industrie, Kohle und Energie sowie Erzbergbau, Metallurgie und Kali, 1987; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 17202, Bl. 307. 43  Vgl. Büro des Generaldirektors, Kombinat Chemische Werke Buna: Begründung für die erforderlichen Maßnahmen im Kombinat Buna, 1988–1995, internes Arbeitspapier, 1987; LHASA, MER, I 529, Nr. 3746, n. p. 44  In der Bundesrepublik Deutschland gibt das Bundesministerium für Finanzen sogenannte Abschreibungstabellen (Afa-Tabellen) heraus. Sie enthalten für jede Industriebranche Richtwerte für die durchschnittliche Nutzungsdauer und Abschreibungswerte der dort eingesetzten Anlagengüter. Die Abschreibungssätze beruhen auf Erfahrungswissen und stellen keine bindenden Rechtsnormen dar. Sie bilden aber eine wichtige Grundlage für die Berechnung der steuerlichen Abschreibungen. In der Chemieindustrie betrug der Abschreibungssatz zum Beispiel im Jahr 2014 für Maschinen und Apparate 10 % und für Rohrleitungssysteme 15 %.

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rungsquote, also ein schnelles Auswechseln des Anlagenbestands, genoss hingegen keine Priorität.45 Statt auf Innovationen und Spezialisierungen zu setzen, strebte die Wirtschaftsverwaltung vor allem nach einem quantitativen und breit angelegten Wachstum – ein Ansatz, der besonders in der Chemiebranche beobachtet werden konnte.46 Ziel war es hier, eine möglichst vollständige Produktpalette zu entwickeln, die mit Beginn der Verschuldungskrise zudem umfassend für den Export zur Verfügung gestellt werden sollte. Beides, der Hang zur Autarkie und der Druck, das Produktionsvolumen schnell auszuweiten, stand einer regelmäßigen Erneuerung des Anlagenbestands entgegen.

5.3  Dynamik des Niedergangs: Der betriebliche Arbeitsalltag zwischen Verschleiß, Abwanderung, Überlastung, Produktionsstörung – und noch mehr Verschleiß Umschichtung der finanziellen Ressourcen, Reduzierung des Investitionsvolumens und eine Fixierung auf Erweiterung: Als Konsequenz dieser Wirtschaftspolitik der SED wurden die Betriebe gezwungen, mit immer älteren Anlagen immer mehr zu produzieren. Vor allem in den weniger geförderten Branchen nahm der Verfall des Kapitalstocks Anfang der 1980er-Jahre bedrohliche Ausmaße an. Nach einer Studie der Hauptabteilung XVIII des MfS erreichte der Verschleißgrad47 im Jahr 1988 in der chemischen Industrie durchschnittlich Speziell in der Erdölverarbeitung wird der Abschreibungssatz zum Beispiel für Gasverarbeitungsanlagen und Raffinationsanlagen mit 12 % angegeben. Vgl. http://www.bundesfinanzministerium.de, abgerufen am 3.1.2018. 45 Vgl. Christ: Wirtschaftsordnung, S.  163; vgl. ebenso Daniela Beutler, Lothar Mertens: Mängel und Probleme der DDR-Ökonomie in MfS-Berichten über Brände, Havarien und andere Störungen. In: Karl Eckart, Jens Hacker, Siegfried Mampel (Hg.): Wiedervereinigung Deutschlands: Festschrift zum 20jährigen Bestehen der Gesellschaft für Deutschlandforschung. Berlin 1995, S. 178; Küchler: Wirtschaft der DDR, S. 111. 46  Laut Küchler herrscht in dezentralen Wirtschaftsordnungen oft ein dynamisches Wirtschaftsverständnis vor, bei dem ökonomische Entwicklung vor allem bei schneller Erneuerung erwartet wird. Hier gilt das Kriterium der Innovation. In zentralistischen Wirtschaftsordnungen dominiert dagegen ein statisches Wirtschaftsverständnis, das ökonomische Entwicklung vor allem in einem gleichmäßigen Wachstum aller Branchen erkennt. Hier gilt das Kriterium der Vollständigkeit. Vgl. Küchler: Wirtschaft der DDR, S. 37. 47  Die sozialistische Betriebswirtschaftslehre trifft die Unterscheidung zwischen wertmäßigem und moralischem Verschleiß. Der wertmäßige – oder physische – Verschleiß beschreibt die jährliche Wertminderung der Produktionsmittel um einen festgelegten Prozentsatz des Beschaffungswerts (Abschreibung) durch materielle Abnutzung. Der wertmäßige Verschleiß stellt somit die Summe aller Abschreibungen dar. Setzt man diese Summe ins Verhältnis zum Gesamtwert der Anlage (oder eines Kombinats oder einer ganzen Volkswirtschaft), ergibt sich die

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55 Prozent und im Bereich der Schwermaschinen- und Anlagenfertigung sogar 57 Prozent.48 Republikweit galten im Jahr 1989 20 Prozent aller Produktionsanlagen als voll abgeschrieben.49 Besonders drastisch stellte sich die Lage in den hier untersuchten Chemiekombinaten im Bezirk Halle dar: In Bitterfeld erreichte der durchschnittliche Verschleißgrad im Jahr 1984 59 Prozent, während 16 Prozent des Grundfonds voll abgeschrieben waren.50 60 Prozent der Anlagen im Stammbetrieb hatten im Jahr 1986 nach Angaben der MfS-Bezirksverwaltung Halle eine Betriebsdauer von 40 Jahren überschritten.51 Ein ähnliches Bild bot sich in den Buna-Werken: Im Jahr 1986 betrug die Abschreibungsquote hier 53 Prozent, ein Fünftel aller Grundmittel galt dabei als voll abgeschrieben.52 Laut einer Analyse der Objektdienststelle Buna würde »das technische Niveau« der Werksanlagen »im Wesentlichen den Bedingungen der Produktionsaufnahme vor ca. 40 Jahren entsprechen«.53 Nicht ganz so dramatisch, aber dennoch beunruhigend, lesen sich die Werte aus Leuna: Hier lag die Verschleißquote des Grundmittelbestands im Jahr 1986 nach Berechnungen der Sicherheitsinspektion des Kombinats bei 46,5 Prozent54, wobei 23 Prozent der Anlagen älter als 25 Jahre waren.55 Welche konkreten Zustände sich hinter diesen abstrakten Abschreibungswerten verbargen, illustriert ein Gutachten des MfS über die Produktionssicherheit auf dem Gelände des Buna-Stammwerks in Schkopau aus dem Jahr Verschleißquote. Der moralische Verschleiß beschreibt hingegen einen Wertverlust, der prozentual nicht genau fixiert ist, der auch nicht aus einer materiellen Abnutzung hervorgeht, sondern aus neuen Arbeits- und Produktionsbedingungen. Da sich nach der Marx’schen Arbeitswertlehre der Wert eines Gutes aus dessen Herstellungszeit bemisst, führt jede neue Herstellungstechnik, die den Herstellungsaufwand verringert, automatisch auch zu einer Wertminderung des produzierten Gutes. Vgl. Beutler; Mertens: Mängel und Probleme, S. 246. 48  Vgl. Analyse der Hauptabteilung XVIII des MfS, wiedergegeben in: Beutler; Mertens: Mängel und Probleme, S. 247. 49  Vgl. Steiner: Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang, S. 175. 50  Vgl. OD CKB: Konzeption zur Qualifizierung der vorbeugenden Verhinderung, Aufklärung und Bekämpfung von Bränden, Havarien und Störungen sowie Umweltbelastungen im VEB CKB vom 19.12.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 476, Bl. 11. 51  Vgl. Leiter der BV Halle: Information über die Ergebnisse einer durchgeführten komplexen Untersuchung zur Leistungs- und Effektivitätsentwicklung in Schwerpunkten des VEB CKB vom 20.12.1986, abgedruckt in: Plötze: Chemiedreieck, S. 132. 52  Vgl. Leiter der OD Buna: Bericht über den Stand der Produktions- und Anlagensicherheit in ausgewählten Bereichen im Stammbetrieb des Kombinates VEB CWB vom 17.12.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 32, Bl. 2. 53  Ebenda, Bl. 3. 54  Vgl. ZAIG des MfS: Hinweise über die Gefährdungen der Arbeits- und Produktionssicherheit besonders in den Industriezweigen Chemische Industrie, Kohle und Energie sowie Erzbergbau, Metallurgie und Kali vom 26.8.1986; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 5233, Bl. 4. 55  Vgl. Sicherheitsinspektion des Generaldirektors, Kombinat Leuna: Sicherheitspolitische Studie des Kombinats VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« für den Fünfjahresplan 1986–1990 vom 23.12.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 402, Bl. 10.

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1986. Demnach mussten in der Betriebsdirektion Thermoplaste, zuständig für die Produktion von Chlor, PVC und Vinylchlorid, Maschinen mit Planen abgedeckt werden, da viele Dächer in Folge hoher Staubablagerungen eingestürzt waren. »Durch Rißbildung in den Fundamenten und Wänden ist die generelle Bausicherheit wesentlich eingeschränkt«, so das Dokument.56 Bei den elektrotechnischen Anlagen sei der Verschleiß so weit fortgeschritten, dass »infolge Isolationsminderung« Werktätige »durch Stromeinwirkungen« gefährdet werden würden.57 Fehlende Signale und funktionsuntüchtige Sicherheitsventile würden vor allem bei der Herstellung von PVC-S58 eine »hohe Explosionsgefahr« verursachen.59 In der Betriebsdirektion Elaste, die für die Herstellung von Butadien, Kautschuk und Acetaldehyd verantwortlich war, fiel laut MfS-Bericht vor allem die Fabrik für Acetaldehyd60 negativ ins Auge: »Durch Säureeinwirkung« würden hier »Apparate, Bühnenträger, Rohrleitungen und drucktechnische Anlagen erhebliche Korrosionsschäden« aufweisen, 37  Prozent der Maschinen seien »total verschlissen«.61 »Seit 1940«, so die Analyse, habe es »keine nennenswerten Veränderungen an den MSR-Ausrüstungen« – also an der Mess-, Steuerungsund Regelungstechnik – mehr gegeben. Die ungenaue Bedienung der Anlagen, die daraus folgte, habe zu einer »extremen Überschreitung der Quecksilberbelastung« geführt, die zeitweilig die zulässigen Grenzwerte »um das 50-Fache« überstieg.62 Als weiteres Beispiel – diesmal aus der Betriebsdirektion für Organische Spezialprodukte – führten die Gutachter des MfS die Acrylnitrilfabrik für die Herstellung von Blausäure und Acetylen an, in der sie einen »explosions- und brand56  Leiter der OD Buna: Bericht über den Stand der Produktions- und Anlagensicherheit in ausgewählten Bereichen im Stammbetrieb des Kombinates VEB CWB vom 17.12.1986; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 19531, Bl. 49. 57 Ebenda. 58  PVC-S ist eine Weiterentwicklung von PVC, die sich unter anderem durch hohe Wasserfestigkeit auszeichnet. 59  Vgl. Leiter der OD Buna: Bericht über den Stand der Produktions- und Anlagensicherheit in ausgewählten Bereichen im Stammbetrieb des Kombinates VEB CWB vom 17.12.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 32, Bl. 8 f. 60 Acetaldehyd ist ein wichtiger Ausgangsstoff der chemischen Industrie. Die farblose, flüchtige und leicht entzündliche Flüssigkeit dient unter anderem der Herstellung von Essigsäure, Essigsäureanhydrid und Butadien. Vgl. http://www.seilnacht.com/Chemie/ch_aceta. htm, abgerufen am 3.1.2018. 61  Leiter der OD Buna: Bericht über den Stand der Produktions- und Anlagensicherheit in ausgewählten Bereichen im Stammbetrieb des Kombinates VEB CWB vom 17.12.1986; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 19531, Bl. 53. 62  Ebenda. Seit 1977 bedurfte es für die weitere Produktion von Acetaldehyd einer Ausnahmegenehmigung des Chemieministeriums. Als diese 1984 verwehrt wurde, ließ das Kombinat die Anlagen ohne jede Rechtsgrundlage weiterlaufen. Vgl. Anlage zur ZAIG-Information 4/85 vom 21.1.1985; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 20543, Bl. 67–73.

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gefährdeten sowie hochtoxischen Arbeitsbereich« lokalisierten. »Der allgemeine Zustand von Ordnung und Sauberkeit ist katastrophal«, so die Analyse. An vielen Stellen würden »Undichtigkeiten« und »Leckagen« auftreten, die »grundsätzlich nur mit Bandagen als Provisorien abgedichtet« seien und daher regelmäßig »Blausäureverlust« zuließen. Die Dachhaut würde auch hier »einen solchen Verschleißgrad« aufweisen, »dass durch Nässeeinwirkung die Korrosionserscheinungen« zunähmen.63 Die Schilderungen des Gutachtens geben eine ungefähre Vorstellung davon, was »materieller Verschleiß« von 50 Prozent und mehr in der konkreten Realität bedeutete. Die Studie zählte neben den genannten Bereichen auch eine ganze Reihe weiterer Risikozonen in den Buna-Werken auf, darunter die explosionsgefährdeten Karbidöfen, die rostigen Tanklager für Natronlauge, undichte Rohrleitungen für Chlor- und Kohlenmonoxid und das instabile Werkskraftwerk I 72. Zusammengenommen ergab sich daraus das Bild eines überforderten und vernachlässigten Industriebetriebs, der für die Beschäftigten immer mehr zu einem Raum voller physischer Gefahren geworden war.64 Als entscheidender Indikator für den Verfall zählte dabei in allen Industriebetrieben der DDR das Unfall- und Havariegeschehen. So traten in den Buna-Werken zum Beispiel im Jahr 1984 143 größere Zwischenfälle auf,65 in den Leuna-Werken waren es laut MfS-Registrierung im Jahr 1986 304 und im Kombinat Bittterfeld im gleichen Jahr 340 schwerwiegendere Ereignisse.66 In den zehn größten Chemiekombi63  Leiter der OD Buna: Bericht über den Stand der produktions- und Anlagensicherheit in ausgewählten Bereichen im Stammbetrieb des Kombinates VEB CWB vom 17.12.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 32, Bl. 56. 64  Die Studie der Objektdienststelle Buna konzentrierte sich auf die gefährdetsten Bereiche des Kombinats. Nicht alle Betriebe der chemischen Industrie wiesen einen derart fortgeschrittenen Verschleiß auf. Der im Rahmen des Komplexvorhabens aufgebaute neue Kombinatsteil »Buna II« konnte sich zum Beispiel als hochmodernes Vorzeigewerk sehen lassen, ebenso das Agrochemische Kombinat in Piesteritz oder das Petrolchemische Kombinat in Schwedt. Da die meisten Investitionsmittel nicht in die Erneuerung, sondern in die Erweiterung flossen, befanden sich meist einzelne leistungsstarke Neuanlagen inmitten eines verschlissenen und überalterten Technikumfeldes.  65  Zu größeren »Störungen« oder »Zwischenfällen« konnten zum Beispiel Brände, Rohrbrüche, Explosionen, Überschwemmungen, Vergiftungserscheinungen oder Gebäudeeinstürze zählen. Vgl. OD Buna: Einschätzungen der politisch-operativen Lage vom 26.9.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 400, Bl. 9. In Buna verringerte sich die Anzahl der Störfälle gegen Ende der 1980er-Jahre leicht: Im Jahr 1987 waren es 102 und im Jahr 1988 105 größere Vorfälle. Vgl. OD Buna: Lageeinschätzung zur Situation im Kombinat Buna vom 30.4.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 280, Bl. 104. 66  Im Jahr 1987 wurden in Bitterfeld 496 und in Leuna 325 größere Vorfällen gezählt. Vgl. OD CKB: Einschätzung der politisch-operativen Lage für die Jahresplanung 1987 vom 12.10.1987, abgedruckt in: Plötze: Chemiedreieck, S. 206; Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 24. Je nach Zählweise und Kategorisierung von »Störungen« kommen die Auswertungen des MfS, der Betriebe und der Ministerien zu ganz unterschiedlichen quantitativen Angaben. So verzeichnete eine weitere Studie der Objektdienststelle Bitterfeld für das Jahr 1987 217 und

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naten der DDR wurden im Jahr 1985 insgesamt 2 373 Produktionsstörungen durch Brände und Havarien gezählt – ein Spitzenwert unter allen Branchen der DDR-Volkswirtschaft.67 Der enge Zusammenhang zwischen den Verschleißerscheinungen und dem Unfall- und Störgeschehen deutet bereits an, dass es sich bei einem bestimmten Grad der Abnutzung und Überalterung der Industrieanlagen keinesfalls um einen statischen Zustand innerhalb der Industriebetriebe handelte. Vielmehr löste das Phänomen »Verschleiß« eine ganze Reihe weiterer Folgewirkungen aus, die sich wechselseitig zu einer immer rasanteren Niedergangsdynamik verstärkten: Zunächst waren Altanlagen generell mit Arbeitsbedingungen verbunden, die bei den Beschäftigten schnell zu physischer Ermattung und gesundheitlichen Beeinträchtigungen führten. Eine vergleichsweise hohe Anzahl an Arbeitskräften fiel dadurch regelmäßig krankheitsbedingt aus oder entschied sich, den betroffenen Produktionsbereich ganz zu verlassen. Nicht zuletzt jüngere Arbeitskräfte blieben häufig fern, für Leitungspositionen standen daher in den besonders risikoreichen Altfabriken immer weniger Nachwuchskader zur Verfügung. Die Folge war, dass die Arbeitsbelastung für die verbliebenen Beschäftigten noch einmal deutlich zunahm. Die sich abzeichnende Überforderung schlug sich wiederum in einer unachtsamen Bedienung der Maschinen nieder, was die Wahrscheinlichkeit von Unfällen und Stillständen weiter erhöhte. Zusammen mit den ohnehin häufig unterbrochenen Materiallieferungen resultierte daraus eine äußerst unregelmäßige Fahrweise der Maschinen, die zusätzlich zu ihrer schnellen Abnutzung beitrug. Das damit angehäufte umfangreiche Reparaturaufkommen konnte von der ausgedünnten Stammbelegschaft kaum noch bewältigt werden, lediglich zentrale Instandsetzungsmaßnahmen wurden abgearbeitet. Einmal mehr erhöhte sich damit die Gesundheitsgefährdung und die tägliche Arbeitsbelastung der Beschäftigten, damit auch das Störgeschehen und die Arbeitsunfälle, sodass bei all der negativen Dynamik Resignation und Fluktuation um sich griffen – ein Teufelskreis, der dringend nach einer Intervention von außen verlangte, sollten die betroffenen Produktionsabschnitte nicht vollständig in sich zusammenbrechen.

für das Jahr 1988 207 Störungen. Vgl. OD CKB: Einschätzung der politisch-operativen Lage für die Jahresplanung 1989 vom 12.10.1988; BStU, MfS, OD CKB, Nr. 1269, Bl. 20. 67  Vgl. ZAIG des MfS: Hinweise über die Gefährdungen der Arbeits- und Produktionssicherheit besonders in den Industriezweigen Chemische Industrie, Kohle und Energie sowie Erzbergbau, Metallurgie und Kali, o. D., wahrscheinlich 1986; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 17202, Bl. 304.

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Staatssicherheit in der Gefahrenzone (1984–1989)

Planrückstände beschleunigter Verschleiß

unregelmäßige Fahrweise

Beschleunigung der Produktion

Verschleiß der Anlagen

mangelnde Wartung der Anlagen

Abwanderung

Überlastung der Beschäftigten

Unfälle/hoher Krankenstand

Abb. 6: Der Niedergangszyklus im Kombinat

Der Druck, für solche Risikobereiche etwas zu unternehmen, war also beachtlich und das Krisenbewusstsein bei den verantwortlichen Stellen auch durchaus ausgeprägt. Nach einer Beratung der 1. Sekretäre der Bezirks- und Kreisleitungen mit Horst Wambutt, Abteilungsleiter für Grundstoffindustrien im ZK der SED, im Januar 1983, hielt das Abschlussprotokoll zum Beispiel fest, dass »die Entwicklung des Stör- und Havariegeschehens besorgniserregend« sei. Die Vielzahl der Zwischenfälle würde die Kooperationsbeziehungen mit dem RGW beeinträchtigen, weitere Importe aus dem »NSW« erforderlich machen, die Erfolge beim Export gefährden, erhebliche Mittel für den Wiederaufbau binden sowie »Unsicherheit bei Leitern und Werktätigen« bewirken, sodass »keine gute Arbeitsatmosphäre« aufkomme.68 »Die Tendenz«, so das Fazit der Runde, erfordere »schnelles Handeln« und eine »sofortige grundlegende Wende in der staatlichen Leitungstätigkeit«.69 68  SED-Kreisleitung im Kombinat Bitterfeld: Auswertung der Beratung mit den 1. Kreissekretären, Parteibeauftragten und Leitern der Inspektionen für Arbeits- und Produktionssicherheit des Bereiches der Grundstoffindustrie am 13.1.1983 in Grimma vom 7.2.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 882, Bl. 60. 69  Ebenda, Bl. 61.

5.4  Den Teufelskreis durchbrechen: Fünf Notmaßnahmen für eine Stabilisierung der Produktionsbetriebe Die Erkenntnis, dass schnell etwas passieren müsse, war also auf allen politischen Ebenen vorhanden. Doch welche Lösungsansätze wurden von der Parteiführung, der Wirtschaftsverwaltung und den Betrieben entworfen, um den immer bedrohlicheren Teufelskreis aus Verfall, Störgeschehen, Abwanderung und Überlastung zu durchbrechen? Im Folgenden sollen fünf Maßnahmebündel vorgestellt werden, die hauptsächlich in den Kombinaten konzipiert wurden und – zumindest teilweise – auf der Ebene der Fachministerien Unterstützung fanden. Während die Führung der SED hauptsächlich auf das Dogma »Produktion und Export um jeden Preis« setzte, waren die unteren Bereiche der Wirtschaftsverwaltung gezwungen, mit den daraus resultierenden Folgen für die industrielle Substanz und die tägliche Arbeitsorganisation fertig zu werden. Zwei der fünf Krisenreaktionen waren dabei mit Aktivitäten des MfS verbunden, dessen Überwachungsarbeit durch den kritischen Zustand der Produktionsanlagen stark beeinflusst wurde. Wie genau es darauf reagierte und welche grundsätzliche Rolle es bei diesem Problemfeld einnahm, soll weiter unten im Einzelnen besprochen werden. 5.4.1 Krisenreaktion I: Anreize gegen Abwanderung – die Bindung, Mobilisierung und Belehrung der Industriebeschäftigten Ein Versuch, das Störgeschehen zu minimieren und die Fahrweise der Anlagen zu stabilisieren, wurde in einer besseren Vorbereitung der Arbeitskräfte vor Ort gesehen. Mit Trainingsmaßnahmen und Arbeitsschutzanweisungen bemühten sich die Generaldirektionen der Chemiekombinate zum Beispiel, die Aufmerksamkeit des Schichtpersonals beim Bedienen der Altanlagen zu steigern. Ein Arbeiten unter permanentem Havarierisiko, so die dahinterstehende Idee, könne erlernt und Zwischenfälle durch eine verbesserte Aufklärungsarbeit verringert werden.70 Neben regelmäßigen »Antihavarieübungen« versuchte man über »Sozialistische Wettbewerbe« die Motivation und Disziplin der Beschäftigten zu steigern. Im Jahr 1987 riefen die Leuna-Werke zum Beispiel den »Kampf um die Störquelle Null«71 aus, während im Buna-Kombinat die Initiative »Technologi70  Vgl. Anlage eines Schreibens des Generaldirektors der Leuna-Werke an alle Fach- und Betriebsdirektionen: Maßnahmen zur Umsetzung der Ergebnisse der Arbeitsberatung zur Erhöhung von Ordnung, Sicherheit und Disziplin in der chemischen Industrie vom 21.7.1987; LHASA, MER, I 525, Nr. 18105, Bl. 91–96. 71  Eine kombinatseigene Kommission sollte bei dieser Initiative für jedes Quartal die drei besten Direktionen in der Kategorie »Ordnung und Sauberkeit« auswählen. Vgl. Sicherheitsin-

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sche Disziplin – mein persönlicher Beitrag zur Planerfüllung ohne Unfälle, Störungen und Havarien« propagiert wurde.72 Um den Trend zur Abwanderung zu stoppen und eine stabile Stammbelegschaft aufzubauen, setzten die Kombinatsleitungen in besonders neuralgischen Werksteilen neben Motivationskampagnen und Trainingsmaßnahmen auf finanzielle Anreize. In den Buna-Werken versprach zum Beispiel Generaldirektor Dietrich Lisiecki im Jahr 1989 jedem Arbeitnehmer, der sich für eine längerfristige Tätigkeit in der Acetaldehydfabrik bereit erklärte, einen monatlichen Lohnzuschlag von 100 Mark sowie eine Jahresendprämie von 1  000 Mark. Ebenso sollten Kur- und Ferienplätze die Attraktivität der Arbeitsplätze in diesem Werkteil erhöhen.73 In gleicher Weise verfuhr sein Amtskollege Adolf Eser in Bitterfeld. In Werksabschnitten, die für ihr Havarierisiko besonders berüchtigt waren, wie die Aluminium- oder Chlorfabrik, versuchte Eser, die Beschäftigten über eine jährliche Gratifikation von bis zu 2 500 Mark für einen längeren Arbeitseinsatz zu gewinnen.74 Die Wirkung solcher »stammbelegschaftsfördernden Maßnahmen« hielt sich allerdings in Grenzen. Vor allem die chronisch niedrige Kaufkraft in der DDR verhinderte, dass Lohnzuwächse und Prämien eine größere Anziehungskraft entfalten konnten. Darüber hinaus waren die meisten Beschäftigten laut Renate Hürtgen auch weniger an einem höheren materiellen Lebensstandard, als vielmehr an einer geringeren Arbeitsbelastung, einer professionelleren Arbeitsorganisation und einer angemesseneren Berücksichtigung ihrer gestiegenen Qualifikationen interessiert.75 Denn Resignation und Abwanderung resultierten neben der physischen Unsicherheit vor allem aus den kaum noch zu bewältigenden Plananforderungen, den zahlreichen Produktionsstillständen und dem Gefühl, gegen all das nichts ausrichten zu können. Eine größere betriebliche Autonomie, weniger Leistungsdruck und ein gesünderes Arbeitsumfeld hätten die Stimmung unter den Arbeitern und Führungskräften also weit nachhaltiger verbessert, als punktuelle Prämien oder die Ausrufung immer neuer Wettbewerbe – Maßnahmen, die allerdings nicht in der Hand der Kombinate und Betriebe lagen, sondern zum Kompetenzbereich der politischen Führung zählten. Der Einsatz agitatorischer und finanzieller Mittel blieb damit nur eine Scheinspektion des Generaldirektors der Leuna-Werke: Information über die Entwicklung, wesentliche Ursachen und begünstigende Bedingungen des Brand-, Stör-, Unfall- und Havariegeschehens vom 13.1.1987; LHASA, MER, I 525, Nr. 18105, Bl. 98. 72  Diese Initiative rief zu einem freiwilligen Engagement der Beschäftigten für mehr Sauberkeit in ihrem Arbeitsbereich auf. Vgl. Redebeitrag des Generaldirektors Dietrich Lisiecki auf der Sitzung der Bezirksleitung der SED vom 28.4.1988; LHASA, MER, I 529, Nr. 3745, n. p. 73  Vgl. Generaldirektor Dietrich Lisiecki: Eingabe an Ministerpräsidenten Modrow vom 6.12.1989; LHASA, MER, I 529, Nr. 4944, n. p. 74  Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 39. 75  Vgl. Hürtgen: Entwicklung in der Stagnation, S. 23 u. 28.

Notmaßnahmen für eine Stabilisierung der Produktion

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lösung, um Handlungsfähigkeit vorzutäuschen und die eigene Hilflosigkeit zu verdecken. 5.4.2 Krisenreaktion II: Der Einsatz von Arbeitskräften unter Zwang Da nicht in allen Risikozonen mithilfe von Anreizen und Wettbewerben eine dauerhafte Belegschaft aus Zivilbeschäftigten aufgebaut werden konnte, griffen einige Kombinate in Absprache mit den dazugehörigen Ministerien auch auf besondere Arbeitsbrigaden zurück. Strafgefangene zählten zum Beispiel dazu, die unter anderem im Kombinat Bitterfeld ab 1968 zum Einsatz kamen. Im Jahr 1974 arbeiteten hier in insgesamt neun verschiedenen Produktionsabschnitten 30276, im Jahr 1982 47977 Häftlinge aus der Strafvollzugsanstalt Bitterfeld.78 Zu den Haupteinsatzorten zählten dabei die Fabriken Chlor I und Chlor III mit 116 Strafgefangenen (1983)79, die beiden Aluminiumwerke mit 169 Strafgefangenen (1982)80 sowie die Anlage für Kalkammonsalpeter mit 57 Strafgefangenen (1982)81. Auch in den Chlorfabriken der Buna-Werke wurden in den 1980er-Jahren bis zu 200 Häftlinge aus der nahegelegenen Haftanstalt Raßnitz eingesetzt.82 Kurzfristig überbrückt werden konnte der akute Arbeitskräftemangel in einigen Werkteilen ebenfalls mit der Einbindung ausländischer Fachkräfte, im Kombinat Bitterfeld unter anderem mit Arbeitern aus Polen, Algerien und Viet-

76  Vgl. Vorlage für Dienstberatung des Generaldirektors: Stand und Aufgaben beim Einsatz von Strafgefangenen im Stammbetrieb des Chemiekombinats vom 16.12.1974; LHASA, MER, I 509, Nr. 1208, n. p. 77  Vgl. Hans Lohmann, Kombinat Bitterfeld: Schlussfolgerungen aus dem Bericht des Leiters der StVE Bitterfeld zur Lage in den Strafgefangeneneinsatzabteilungen im 1. Halbjahr 1982 vom 1.7.1982; LHASA, MER, I 509, Nr. 846, n. p. 78  Vgl. Justus Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck. Strafgefangene und Bausoldaten in der Industrie der DDR. Berlin 2012, S. 94. 79  Vgl. Leiter der Strafvollzugseinrichtung Bitterfeld: Kurzeinschätzung zur Situation in den Chlorbetrieben vom 6.4.1983, abgedruckt in: Plötze: Chemiedreieck, S. 67. 80  Vgl. Hans Lohmann, Kombinat Bitterfeld: Schlussfolgerungen aus dem Bericht des Leiters der StVE Bitterfeld zur Lage in den Strafgefangeneneinsatzabteilungen im 1. Halbjahr 1982 vom 1.7.1982; LHASA, MER, I 509, Nr. 846, n. p. 81  Vgl. ebenda. 82  Vgl. Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck, S. 89. Über die Organisation, Funktion und Auswirkung der Häftlingsarbeit in den Kombinaten Buna und Bitterfeld siehe ausführlich Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck; ebenso Ders.: »Mit dem Mut zum gesunden Risiko«. Die Arbeitsbedingungen von Strafgefangenen und Bausoldaten in den Betrieben der Region Bitterfeld, Buna und Leuna unter besonderer Berücksichtigung des VEB Chemiekombinat Bitterfeld. Magdeburg 2003.

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Staatssicherheit in der Gefahrenzone (1984–1989)

nam.83 Auch der Einsatz von Soldaten der NVA – sogenannte Spaten- oder Bausoldaten – half in besonders gefährlichen und daher von der Stammbelegschaft gemiedenen Werkshallen, einen Notbetrieb am Laufen zu halten. So wurde die Produktion in der Aluhütte I in Bitterfeld von 1986 an bis zur geplanten Stilllegung im Jahr 1989 durch 30 Armeeangehörige unterstützt.84 Auch im Rahmen größerer Investitionsprojekte fanden Bausoldaten für Mauer-, Abbruch- und Tiefbauarbeiten Verwendung.85 Der volkswirtschaftliche Mehrwert solcher »Sonderarbeitskräfte« kann nach Einschätzung von Justus Vesting »nicht hoch genug« eingeschätzt werden.86 Vor allem der Einsatz von Arbeitskräften unter Zwang, also von Soldaten und Strafgefangenen, habe den Weiterbetrieb jener verfallenen und havarieanfälligen Fabriken erst möglich gemacht, in denen besonders wichtige Grundstoffe und lukrative Exportprodukte wie Aluminium, Wasserstoff, Chlorate oder Chlor produziert wurden.87 Laut Vesting hätten allein die bis zu 500 Strafgefangenen in Bitterfeld »einen jährlichen Nutzen von einer Milliarde Mark« erwirtschaftet.88 An einigen »neuralgischen Punkten der Volkswirtschaft«, so Vesting, habe das System der erzwungenen Arbeitseinsätze sogar einen konstitutiven, also für die kontinuierliche Produktion in den Betrieben unerlässlichen Charakter erlangt – eine strategische Reserve, die Ministerien und Kombinate bei der jährlichen Aushandlung ihrer Volkswirtschaftspläne wie selbstverständlich mit berücksichtigten.89

83  Im Jahr 1982 arbeiteten in Bitterfeld 42 Personen aus Polen und 70 Personen aus Algerien. Vgl. Hans Lohmann, Kombinat Bitterfeld: Situationsbericht über den Einsatz von polnischen Werktätigen in Produktionsabteilungen des Stammbetriebs vom 8.12.1982; LHASA, MER, I 509, Nr. 846, n. p.; OD CKB: Einschätzung der politisch-operativen Lage für die Jahresplanung 1989 vom 12.10.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1269, Bl. 21. 84  Vgl. Kombinat Bitterfeld: Niederschrift über eine Beratung am 9.12.1987 zur arbeitshygienischen Situation in den Alu-Elektrolysen des VEB CKB, o. D.; LHASA, MER, I 509, Nr. 1028, Bl. 37. 85  Vgl. Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck, S.146. 86  Ebenda, S. 118. 87  Vgl. ebenda, S. 179. 88  Vesting bezieht sich bei dieser Zahl auf einen Aktenvermerk der Objektdienststelle Bitterfeld aus dem Jahr 1981. Mit welcher Methode die Objektdienststelle diesen Wert berechnet hat, wird von ihm allerdings nicht ausgeführt. Vgl. ebenda, S. 118. 89  Ebenda, S. 187.

Notmaßnahmen für eine Stabilisierung der Produktion

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5.4.3 Krisenreaktion III: Instandhaltung von Altanlagen – Das Bitterfelder »RSM«-Programm als Fallbeispiel Obwohl die Verwendung von »Sonderarbeitskräften« ursprünglich nur als kurzfristige Notlösung angedacht gewesen war, erlangte sie im Laufe der 1980erJahre eine systemunterstützende Funktion, weit wirkungsvoller als die Arbeit mit Wettbewerben oder Prämien. Noch wichtiger und vor allem nachhaltiger waren allerdings die Bemühungen der Kombinate, beim Politbüro und im Ministerrat eine Aufstockung der Mittel für Instandhaltung und Erneuerung zu erreichen. Das Beispiel des Kombinats Bitterfeld zeigt, dass ein solches Ersuchen im Ausnahmefall durchaus Erfolg haben konnte. Mitte der 1970er-Jahre wurde hier ein umfassendes Modernisierungsvorhaben in Angriff genommen, das im Folgenden als eine weitere Form der Krisenreaktion vorgestellt werden soll. Die Initiative für dieses Projekt ging vor allem auf den neuen Bitterfelder Generaldirektor Heinz Schwarz zurück, der kurz nach dem VIII. Parteitag der SED im Jahr 1971 die Leitung des Kombinats übernommen hatte und gleich zu Beginn seiner Amtszeit eine Grundsanierung des Werkes für unerlässlich erklärte. Ausschlaggebend dafür war vermutlich seine Erinnerung an das schwere Unglück in den Bitterfelder PVC-Anlagen im Jahr 1968, die ihm die akuten Risiken eines fortschreitenden Verfalls deutlicher als jemals zuvor vor Augen geführt hatten.90 Um sein zentrales Anliegen einer Generalinstandsetzung voranzutreiben, begann Schwarz ab 1972 alle baulichen und technischen Mängel auf dem Werksgelände mit Unterstützung der Deutschen Bauakademie aufzulisten. Diese umfassende Defizitanalyse sollte ihm helfen, das Politbüro von der Notwendigkeit einer grundlegenden Sanierung zu überzeugen.91 Tatsächlich hatte Schwarz mit dieser Herangehensweise Erfolg. Nach eingehender Prüfung seines Investitionsplans verabschiedete das Politbüro im Oktober 1976 das längerfristig angelegte »Programm zur Rationalisierung, Stabilisierung und Modernisierung der Grundfonds des CKB« – kurz: »RSM«.92 Schwarz' Vorhaben galt in der Geschichte der DDR als Novum: Zum ersten Mal sollte hier ein ganzes Kombinat mit 90 selbstständigen Fabriken Gegenstand einer grundlegenden Sanierung werden.93 Priorität besaß dabei aus90  So Heinz Schwarz in seiner Autobiografie »Prägungen aus acht Jahrzehnten«, S.  188. Die im Juli 1968 durch unkontrolliert ausströmendes Vinylchlorid ausgelöste Explosion zählte mit 42 Toten und über 260 Verletzten zu den schwersten Industrieunfällen in der Geschichte der DDR. 13 Produktionsgebäude wurden vollständig zerstört, darunter die gesamte PVC-Erzeugung und die Produktionsanlage für das Insektizid Bi-58. Vgl. Vorstand der Chemie-AG Bitterfeld-Wolfen (Hg.): Bitterfelder Chronik. 100 Jahre Chemiestandort Bitterfeld-Wolfen. Dresden 1993, S. 80. 91  Vgl. Schwarz: Prägungen, S. 190. 92  Vgl. ebenda, S. 190. 93  Vgl. ebenda, S. 183 u. 188.

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drücklich die Erneuerung und nicht, wie sonst üblich, die Erweiterung, wobei die Hälfte der bewilligten Gelder für die soziale Infrastruktur wie Bäder, Küchen oder Aufenthaltsräume vorgesehen war.94 Um den Verschleiß bei den Altanlagen aufzuhalten, die Unfallrisiken zu verringern und wenigstens ein Minimum an Umweltschutz zu gewährleisten, wurden insgesamt 143 Einzelobjekte in das Modernisierungsprogramm aufgenommen, darunter besonders verfallene Fabriken wie das Aluwerk I oder der Natronlaugenschmelzbau, ebenso Gleisund Energieanlagen, das Abwassersystem sowie die über 200 Kilometer langen Rohrleitungen.95 Auch die vollständige Schließung einzelner Bereiche mit irreparablen Schäden, wie die Fabrik für Kontaktschwefelsäure mit einem Verschleißgrad von über 90 Prozent, war Teil dieses Projekts.96 Unmittelbare Gefährdungen für mehr als 2 200 Beschäftigte sollten mit all diesen Maßnahmen abgebaut werden.97 Als besonderes »Highlight« von »RSM« galt die Fabrik »Chlor IV«, in der ab 1981 Chlor aus einer modernen Diaphragma-Elektrolyse98 gewonnen werden konnte. Der neue Werksbereich für 119 Beschäftigte stand in großem Kontrast zu den Altanlagen Chlor I und Chlor III und wurde im Laufe der 1980er-Jahre wiederholt als »Sozialistischer Musterbetrieb« ausgezeichnet.99 94  Die Hälfte der im Programm vereinbarten Investitionsmittel sollte jeweils für den Produktionsbereich und für die technische und soziale Infrastruktur verwendet werden. Dabei waren 60 % der gesamten Mittel für die Sanierung von Altanlagen und 40 % für den Erwerb neuer Anlagen vorgesehen. Vgl. Büro des Generaldirektors, Kombinat Bitterfeld: Entwicklung und Struktur der Grundfondsreproduktion im VEB CKB. 1976–1983 vom 26.1.1983; LHASA, MER, I 509, Nr. 1385, n. p. 95  Vgl. ebenda. 96 Die »Kofa«-Anlage war die älteste Fabrik für Kontaktschwefelsäure in der DDR. Sie wurde 1923 in Betrieb genommen und 1978 stillgelegt. Vgl. Schreiben Generaldirektor Schwarz an Minister Wyschofsky: Produktionseinstellung in Kofa vom 18.10.1978; LHASA, MER, I 509, Nr. 846, n. p. 97  Vgl. Büro des Generaldirektors, Kombinat Bitterfeld: Entwicklung und Struktur der Grundfondsreproduktion im VEB CKB. 1976–1983 vom 26.1.1983; LHASA, MER, I 509, Nr. 1385, n. p. 98  Beim Diaphragmaverfahren wird im Gegensatz zum Amalgamverfahren (siehe Abschnitt 5.9.2) kein Quecksilber verwendet. Eine wässrige Lösung mit Kalium- oder Natriumchlorid wird hier durch eine Kathode (Minuspol) aus Stahl und einer Anode (Pluspol) aus Titan elektrisch aufgeladen. An der Kathode lagern sich bei dieser Reaktion Wasserstoff, Kalium- oder Natriumionen sowie Hydroxidionen an, wobei sich Letzteres zu Kalium- oder Natronlauge verbindet. An der Anode bleibt das gewünschte Chlor zurück. Beide Elektroden sind bei diesem Verfahren durch eine poröse Trennwand aus Asbest, dem sogenannten Diaphragma, getrennt, um die Entstehung von Nebenprodukten zu verhindern. Vgl. http://www.chemie.de/lexikon/Chloralkali-Elek trolyse.html; ebenso http://www.seilnacht.com/Lexikon/chloralk.html, abgerufen am 3.1.2018. 99  Im Jahr 1987 verlieh der Leiter der Bezirksverwaltung Halle, Karl Heinz Schmidt, dem Kollektiv der Bitterfelder Fabrik »Chlor IV« zum 5. Mal in Folge den Ehrentitel »Felix Edmundowitsch Dzierzynski«, unter anderem für eine »hohe Grundfondsauslastung«, eine erfolgreiche Verringerung der Materialkosten und die »Senkung der Störquelle auf Null«. Nach 6 Jahren Betriebszeit wies aber auch der Bereich »Chlor IV« starke Korrosionsschäden auf. Vertreter

Notmaßnahmen für eine Stabilisierung der Produktion

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Zumindest in den ersten Jahren konnte das RSM-Programm also beachtliche Erfolge vorweisen. Mit der Bewilligung dieses Großprojekts erlangte Schwarz den Ruf eines innovativen Sanierers.  Nach eigenem Bekunden trat er in dieser Zeit als gefragter Referent innerhalb der DDR-Wirtschaftselite in Erscheinung.100 Allerdings ahnten die Beteiligten in Bitterfeld von Beginn an, dass die von der SED-Spitze freigesetzten Investitionsmittel viel zu gering angesetzt waren: Lediglich 2,9 Milliarden Mark durfte das Kombinat bis 1985 außerplanmäßig ausgeben, mindestens 12 Milliarden Mark wären allerdings nach eigenen Berechnungen für eine tatsächliche Generalinstandsetzung nötig gewesen.101 Allein die vollabgeschriebenen Maschinen hätten ein Investitionsvolumen von gut 4 Milliarden Mark gebraucht.102 Der Produktionsdirektor Hans Lohmann, einer der wichtigsten Ideengeber des Programms, musste daher im Januar 1983 feststellen, dass eine »wesentliche Verbesserung des Zustandes der Grundfonds hinsichtlich Altersstruktur und Verschleißgrad« nicht erreicht werden konnte. »Es wurde lediglich eine weitere Zustandsverschlechterung verhindert«, so Lohmann.103 Hinzu kam, dass das Politbüro ab 1981 die Schwerpunkte des Investitionsvorhabens neu ausrichtete. Standen ursprünglich die Altanlagen im Mittelpunkt, räumte die SED im Zuge der akuten Zahlungsbilanzkrise der Anschaffung modernerer Maschinen für eine schnellere Ausweitung von Produktion und Export erneut den Vorrang ein. Statt auf Anlagensicherheit, Umwelt und Soziales zu setzen, sollte sich das Kombinat nun wieder verstärkt auf »Ausgaben mit Leistungszuwachs« konzentrieren.104

des Betreiberkollektivs machten die Objektdienststelle darauf aufmerksam, dass die Anlage spätestens im Jahr 1992 außer Betrieb genommen werden müsste, falls bis dahin keine grundlegende Sanierung erfolge. Vgl. BV Halle des MfS: Vorschlag zum Ablauf der Verleihung des tschekistischen Ehrennamens »Felix Edmundowitsch Dzierzynski« an die Abteilung Chlor IV des VEB CKB, 1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1127, Bl. 142 f.; OD CKB: Operative Information zu einer bestehenden Gefährdungssituation in der Produktionsanlage P1/E IV (Chlor IV) des VEB CKB vom 25.4.1988; ebenda, Bl. 147–149. 100  So Schwarz in seiner Biografie. Das Innovative bei »RSM« war seiner Ansicht nach der Versuch einer sogenannten Komplexsanierung, also der Instandsetzung eines kompletten Werks, im Unterschied zu den bisherigen »Punkt- oder Liniensanierungen«, bei denen entweder eine einzige Anlage oder eine Produktionslinie erneuert wurden. Vgl. Schwarz: Prägungen, S. 201 u. 249. 101  Vgl. Büro des Generaldirektors, Kombinat Bitterfeld: Entwicklung und Struktur der Grundfondsreproduktion im VEB CKB. 1976–1983 vom 26.1.1983; LHASA, MER, I 509, Nr. 1385, n. p. 102  Vgl. ebenda. 103 Ebenda. 104  Ausdruck dieser neuen Zielstellung war auch eine Umbenennung des Programms in »RRM« im Jahr 1981 – also in »Rationalisierung, Rekonstruktion und Modernisierung«. Vgl.

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Darüber hinaus wurde mit Beginn der 1980er-Jahre auch das Volumen des Programms schrittweise zurückgefahren. Zwar warb Schwarz beim Politbüro und Ministerrat immer wieder um eine Verlängerung und Aufstockung der Sanierungsmittel. Trotzdem musste er spätestens ab 1983 einsehen, dass sein Experiment, ein ganzes Kombinat von Grund auf zu erneuern, zum Scheitern verurteilt war.105 Über die Investitionspolitik geriet der Generaldirektor am Ende derart in Konflikt mit der Führung der SED, dass Günter Mittag im Dezember 1983 seine fristlose Entlassung verfügte. Laut Schwarz kommentierte er seine Entscheidung mit den Worten: »Generaldirektoren, die hinter meinem Rücken Milliarden fordern, statt mir Milliarden zu bringen, brauche ich nicht.«106 In der Folgezeit sollte eine Neuauflage des RSM-Programms bis zur Privatisierung des Kombinats im Juni 1990 nicht mehr zustande kommen. Als unmittelbare Folge der abgebrochenen Sanierung nahm der Verfall in den besonders instabilen Werksteilen rapide zu – hier vor allem in den Fabriken für Salpetersäure, Chlorate, Aluminium und Schwefelfarben sowie in den Kohlekraftwerken Süd und Wolfen. Schwarz’ Nachfolger in der Generaldirektion, Adolf Eser, gelang es zwar, für einige Akutbereiche weitere Sanierungsmittel bewilligt zu bekommen. So listete der letzte Fünfjahresplan für die Chlorelektrolyse, Graphitanlage und Chlorbenzolanlage Modernisierungsausgaben im Wert von insgesamt 1,7 Milliarden Mark auf.107 Doch aufgrund seiner generellen Überforderung und Unterfinanzierung wurde dem Kombinat Bitterfeld mit dem Abbruch des RSM-Programms jede Chance genommen, sich langfristig zu einem leistungsfähigen und international wettbewerbsfähigen Industriestandort weiterzuentwickeln. Im Unterschied zu Bitterfeld wurde in den Buna-Werken keine vergleichbare Generalinstandsetzung in Angriff genommen.108 Zwar erreichten die Generaldirektoren Helmut Pohle und Hans-Joachim Kozyk zahlreiche Beschlüsse des Politbüros und des Ministerrates für eine Teilsanierung des Kombinats – zum Beispiel für die Erneuerung der Karbidöfen und der Chlorelektrolysen sowie für Büro des Generaldirektors, Kombinat Bitterfeld: Entwicklung und Struktur der Grundfondsreproduktion im VEB CKB. 1976–1983 vom 26.1.1983; LHASA, MER, I 509, Nr. 1385, n. p. 105 Vgl. Gesprächsnotizen Lohmann für ein Treffen mit Minister Wyschofsky vom 29.10.1982; LHASA, MER, I 509, Nr. 1384, n. p. 106  So Mittag laut Schwarz; vgl. Schwarz: Prägungen, S. 247. 107 Vgl. Hauptabteilung XVIII des MfS: Wiedergabe eines Berichts der IAPS vom 6.4.1987; BStU, MfS, HA VXIII, Nr. 12183, Bl. 72. 108  In den Buna-Werken wurde zwischen 1980 und 1985 ebenfalls ein Programm zur Rationalisierung und Modernisierung umgesetzt. Das Investitionsvolumen belief sich auf 2,3 Mrd. Mark. Im Mittelpunkt standen hier aber nicht die Sanierung von Altanlagen, sondern die Automatisierung der Produktion mithilfe mikroelektronischer Steuerungselemente und der Aufbau einer biologischen Abwasseraufbereitungsanlage. Bestanteil der Automatisierung wurden unter anderem die Produktionsanlagen für Acetaldehyd, Styren, Vinylacetat und Vinylchlorid. Vgl. Ahlefeld; Molder; Werner: Plaste und Elaste, S. 94 f.

Notmaßnahmen für eine Stabilisierung der Produktion

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die Stabilisierung der Dampferzeuger in den Kraftwerken.109 Eine tatsächliche Investition resultierte aus all diesen Absichtserklärungen aber nicht. »Die meisten Beschlüsse wurden […] entweder mit großer Verzögerung oder gar nicht erfüllt und brachten damit keine Verbesserung auf den angeführten Teilgebieten«, so Generaldirektor Dietrich Lisiecki im Jahr 1987. »Die Nichterfüllung der gefassten Beschlüsse ist eine wesentliche Ursache für den eingetretenen desolaten Zustand des Kombinats.«110 Obwohl das Staatliche Amt für Technische Überwachung zahlreiche Sanierungsvorschläge ausgearbeitet hatte, verzeichnete das Kombinat für die Planperiode 1981 bis 1985 einen Rückstand bei den dringendsten Sanierungsinvestitionen von 1,1 Milliarden Mark.111 Als Hauptursachen für die Untätigkeit der Buna-Werke im Bereich der Erneuerung nannte Lisiecki in einem internen Arbeitspapier neben den fehlenden Arbeitskräften und der Fixierung auf Neuanlagen vor allem den viel zu geringen Instandhaltungsfonds. Für ein Minimum an Stabilisierung hätte Buna zum Beispiel zwischen 1986 und 1990 Investitionen im Wert von 960 Millionen Mark benötigt, während der Fünfjahresplan lediglich einen Betrag von 667 Millionen Mark vorsah. »Mit eigenen Kräften« so Lisiecki, sei »Buna außerstande, die anstehenden Maßnahmen allein abzusichern.«112 Immerhin versuchte das Kombinat ab 1987, ein umfassendes Modernisierungsprogramm nach Bitterfelder Vorbild auf die Beine zu stellen. Die vom Politbüro im Oktober 1987 beschlossene sogenannte Bunavorlage sah bis 1995 eine technische Generalüberholung der Karbid-, Chlor und Kautschukproduktion, eine Stabilisierung der Werksversorgung mit Prozessdampf, Elektroenergie und Wasser, einen verbesserten Brand- und Umweltschutz sowie einen Ausbau der sozialen Infrastruktur vor. Obwohl eine Expertengruppe des Chemieministeriums den Investitionsbedarf der Buna-Werke für eine solche umfassende Modernisierung auf etwa 17,7 Milliarden Mark taxierte, zog Minister Wyschofsky eine Obergrenze bei 9,3 Milliarden Mark – ein »Minimalprogramm«, so Lisiecki, mit dem »trotz der Konzentration auf Stabilisierung und Erneuerung eine komplexe technologische Erneuerung nicht im Entferntesten erreicht werden« könne.113 Doch selbst zu diesen eingeschränkten Maßnahmen sollte es am Ende nicht mehr kommen, da der Vorsitzende des Ministerrates, Willi Stoph, Ende 1987

109  Bereich Karbid: Politbürobeschluss v. 16.6.1982, Ministerratsbeschluss v. 25.6.1982; Bereich Chlor: Beschluss des Präsidiums des Ministerrates v. 5.4.1984; Bereich Energetik: Ministerratsbeschluss v. 3.7.1986; vgl. Büro des Generaldirektors Lisiecki: Begründung für die erforderlichen Maßnahmen im Kombinat Buna, 1988–1995, internes Arbeitspapier, 1987; LHASA, MER, I 529, Nr. 3746, n. p. 110 Ebenda. 111  Vgl. ebenda. 112 Ebenda. 113  Vgl. ebenda.

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entschied, die »Bunavorlage« aufzuschieben und erst mit der Ausarbeitung des Fünfjahrplans für den Zeitraum 1991 bis 1995 behandeln zu wollen. 5.4.4 Krisenreaktionen IV und V: Analyse und Kontrolle – Die Produktionssicherheit der Chemiekombinate als Angelegenheit des MfS Die Beispiele aus den Kombinaten Buna und Bitterfeld zeigen, dass in Einzelfällen größere Sanierungsprogramme tatsächlich in Angriff genommen wurden. Sie waren aber stets zu knapp bemessen, erhielten keine ausdauernde politische Unterstützung und wurden – wenn überhaupt – nur schleppend umgesetzt. Trotzdem zählten die zaghaften Erneuerungsversuche immer noch zu den nachhaltigsten Bemühungen der Kombinate und Ministerien, die Niedergangspirale aus Verfall und Abwanderung zu stoppen. Investitionen in Erneuerungen bildeten das dritte Maßnahmepaket neben der Motivation der Beschäftigten und dem Einsatz von »Sonderarbeitskräften«. Zwei weitere Krisenreaktionen lassen sich darüber hinaus beobachten, mit denen der Verschleiß und das Störgeschehen zusätzlich eingedämmt werden sollten: Analysen und Kontrollen. Verschleißzustände und Störungen sollten registriert und ausgewertet und das Verhalten der Beschäftigten in den Risikobereichen überwacht und gegebenenfalls sanktioniert werden. Bei diesen beiden letzten Reaktionsweisen des Staates kam auch das MfS zum Zuge. Die Methoden, mit denen die Geheimpolizei in den Werken auf den neuen Gefahrengegenstand reagierte und wie sich dieses Handeln auf die Betriebe auswirkte, sollen im Folgenden genauer betrachtet werden. Zuvor soll allerdings festgehalten werden, dass das MfS für Bauzustände, Produktionsausfälle, Gesundheitsrisiken oder Brandschutzbestimmungen – also für das weite Feld der Arbeits- und Produktionssicherheit – ganz grundsätzlich ein lebhaftes Interesse zeigte. Zwei Gründe können für diese Sensibilität angeführt werden: Zum einen ergab sich die Beschäftigung mit Havarien, Unfällen und Produktionsausfällen aus der Funktion der Staatssicherheit als Untersuchungsorgan. Bei schweren Zwischenfällen stand das Ministerium in der Pflicht, Hinweisen auf sicherheitspolizeiliche Straftaten wie »Brandstiftung« oder »Sabotage« nachzugehen. Zum anderen übertrug die SED dem MfS auch eine generelle Mitverantwortung für eine planmäßige und stabile Entwicklung der Wirtschaft. Der Zustand der Produktionsanlagen musste damit automatisch in den Fokus der Offiziere rücken. Als Bürokratie, die sich ausschließlich mit Sicherheitsfragen befasste, entwickelte das MfS für Räume mit existenziellen physischen Gefahren grundsätzlich eine hohe Aufmerksamkeit, ganz besonders dann, wenn diese Räume – wie die Kombinate der Chemieindustrie – zu einem ökonomischen Schlüsselsektor zählten, der für die Konsum- und Ent-

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schuldungspolitik der SED, ja für die Funktionstüchtigkeit der Wirtschaft als Ganzes, eine essenzielle Rolle spielte. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die politische Dimension des Verfalls von den MfS-Offizieren des MfS immer wieder betont wurde. So erklärte Rudi Mittig, Stellvertreter Mielkes, im Jahr 1987, dass der »durch Brände, Havarien und andere Störungen verursachte materielle Schaden zugleich immer auch ein politischer Schaden« sei.114 Dass der Verlust der industriellen Substanz und die daraus resultierenden Störfälle vom MfS nicht als sicherheitspolitische Nebensächlichkeit aufgefasst wurden, wird auch in der bereits mehrfach erwähnten grundlegenden Dienstanweisung 1/82 »zur politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft« deutlich, die unter anderem eine Konzentration der »vorbeugenden, schadensabwendenden Arbeit […] auf die Verhinderung von Bränden, Explosionen und Havarien sowie anderen Störungen der Betriebs-, Anlagen- und Produktionssicherheit« einforderte.115 Der Leiter der Objektdienststelle im Kombinat Buna, Klaus Ulrich Ehrich, bezeichnete das Arbeitsfeld »Brände und Störungen« sogar als eine »Hauptlinie der operativen Sicherungsarbeit«, gleichwertig mit der Überwachung der Außenwirtschaftsbeziehungen.116 Diese Schwerpunktsetzung spiegelte sich auch im Aufbau der Objektdienststellen in den Chemiekombinaten wider, die jeweils über ein eigenes Referat für »Brände und Störungen« bzw. für »Produktions- und Anlagensicherheit« verfügten. In der Objektdienststelle Buna wurden für dieses Sachgebiet sogar die meisten hauptamtlichen Mitarbeiter eingesetzt.117

5.5  Gutachter des Verfalls: Die analytische Seite des MfS Dem Problem der Überalterung und der Havariegefährdung räumten die Offiziere also einen hohen sicherheitspolitischen Stellenwert ein. Doch welche konkreten geheimpolizeilichen Maßnahmen folgten daraus? In den nächsten Abschnitten soll eine analytische und eine disziplinarische Seite der Thematik herausgearbeitet werden, die jeweils zu den zwei zusätzlichen, oben bereits erwähnten Krisenreaktionen des Staates zählten: der Erfassung und Auswertung des Störgeschehens sowie der Kontrolle und gegebenenfalls Disziplinierung einzelner verantwortlicher Beschäftigter. Auch wenn beide Herangehensweisen des

114 Mittig. In: Beutler; Mertens: Mängel und Probleme, S. 238. 115  Vgl. Dienstanweisung 1/82 des MfS zur politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft der DDR vom 30.3.1982, abgedruckt in: Buthmann: Kadersicherung, S. 136–162. 116  Gilles; Hertle: Stasi in der Produktion, S. 126. 117  Objektdienststelle Buna im Jahr 1988: Referat 1: Auswertung und Information: 6 HM; Referat 2: Außenwirtschaftsbeziehungen: 5 HM; Referat 3: Produktions- und Anlagensicherheit: 8 HM; Referat 4: Forschung und Entwicklung: 7 HM; vgl. ebenda, S. 123.

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MfS hier zunächst getrennt erzählt werden sollen, so wird im weiteren Verlauf deren enge Verknüpfung in der Praxis deutlich werden. Auf der analytischen Seite protokollierte das MfS zunächst für jeden Betrieb, jeden Bezirk und für die Volkswirtschaft als Ganzes alle wesentlichen Merkmale des Störgeschehens, hier vor allem die Anzahl und Art der Zwischenfälle, den dadurch entstandenen Sachschaden, etwaige Personenschäden sowie die jeweiligen Kosten der Produktionsausfälle. Die Hauptabteilung XVIII führte dafür eine zentrale Kartei über das Störgeschehen in der gesamten DDR-Industrie.118 Zusätzlich zu dieser quantitativen Registrierung von Störungen verfassten die Diensteinheiten der Linie XVIII detaillierte Analysen über den Zustand einzelner Anlagen, Betriebsteile, Werke oder ganzer Industriezweige. Über die Ergebnisse dieser Analysen wurden in regelmäßigen Abständen die politischen und ökonomischen Entscheidungsträger auf der jeweiligen Ebene informiert. Die Hauptabteilung XVIII übernahm zum Beispiel eine jährliche Gesamtdarstellung »über den Anlagenzustand und das Brand-, Havarie- und Störgeschehen in der Volkswirtschaft der DDR« für die Unterrichtung des Politbüros und des Ministerrates.119 Damit setzte die Wirtschaftsüberwachung auch eine konkrete Vorgabe der Dienstanweisung 1/82 um, die eine »ständige, aktuelle Einschätzung der inneren Lage und die Festlegung der notwendigen Maßnahmen zu ihrer Stabilisierung« einforderte.120 Dokumentiert werden sollten demnach »Erkenntnisse über Handlungen, Vorkommnisse und Erscheinungen, einschließlich dem Brand-, Havarie- und Störgeschehen, die eine stabile Entwicklung der Volkswirtschaft beinträchtigen«.121 Nach Haendcke-Hoppe-Arndt gingen die MfS-Offiziere mit ihren Analysen aber weit über diese allgemein formulierte Anweisung hinaus.122 Mit dem Ehrgeiz einer modernen Bürokratie entwickelte sich das MfS zu einem minutiösen Begutachter der einzelnen Branchen und Produktionsbetriebe, in dessen Berichten der ökonomische Niedergang der DDR eindrucksvoll festgehalten wurde. Der folgende Abschnitt möchte den Informations- und Analysegehalt dieser Berichte etwas genauer betrachten und dabei Rückschlüsse auf die Arbeitsweise, Mentalität und intellektuellen Fähigkeiten der Offiziere ziehen. Auffallend ist hier zunächst, dass die Informationen des MfS zum Thema »Brände und Störungen« in der Regel nur geringe Exklusivität aufwiesen, also meist ohne besondere und wirklich neue Erkenntnisse aufwarteten. Erklären lässt sich das mit dem Hinweis, dass weder die Erfassung noch die Auswertung des Störgeschehens 118  Vgl. Beutler; Mertens: Mängel und Probleme, S. 242. 119  Vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 151. 120  Vgl. Dienstanweisung 1/82 des MfS zur politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft der DDR, 30.3.1982, abgedruckt in: Buthmann: Kadersicherung, S. 146. 121  Ebenda, S. 150. 122  Vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S. 123.

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eine alleinige Tätigkeit der Staatssicherheit darstellte, sondern vielmehr eingebettet war in eine allgemeine Reaktion des Staates auf die zunehmende Instabilität der Anlagen und Fabrikgebäude. Mit anderen Worten: Das MfS sammelte die Informationen nicht allein, sondern im engen Austausch mit zahlreichen staatlichen Einrichtungen, wie zum Beispiel der Arbeitsschutzinspektion des FDGB, der Arbeitshygieneinspektion des Ministeriums für Gesundheitswesen oder der Staatlichen Bauaufsicht des Ministeriums für Bauwesen, die allesamt eigene Erhebungen und Dokumentationen ausarbeiten ließen.123 Einige dieser Analysen gaben die Offiziere des MfS auf Kombinats- oder Bezirksebene gezielt in Auftrag, andere, die ohnehin routinemäßig anfielen, verwendeten sie einfach in ihrer eigenen Berichterstattung. Eine vollkommen eigenständige Datenerhebung leisteten die Offiziere in der Regel nicht. Ihre fachliche Expertise und technische Ausstattung wäre dafür einfach nicht ausreichend gewesen. Dass die Dienststellen der Linie XVIII mit dieser delegierenden Arbeitsweise keine überlegene Informiertheit besaßen, sondern die Wissensbestände ihrer Partner häufig nur wiederholten, wurde auch von den Adressaten der Analyseberichte, also von den Generaldirektoren, Ministern oder 1. Sekretären der SEDKreis- und Bezirksleitungen, mit Erstaunen registriert. Nach Hans-Hermann Hertle »rieb sich mancher Industrieminister verwundert die Augen, wenn er ihm längst bekannte vertrauliche Berichte aus seinem Ressort über Defizite in seinem Zuständigkeitsbereich einige Wochen später nochmals mit ausgewechseltem Kopfbogen als ›streng geheime‹ MfS-Information auf den Tisch bekam«.124 Doch auch wenn die Offiziere keine exklusiven Informationen anbieten konnten, besaßen sie dennoch die Fähigkeit, die vielen nebeneinander existierenden Wissensbestände in den Kombinaten und Ministerien auf der Basis ihrer vielfältigen Kontakte zu bündeln und in Bezug auf ganz unterschiedliche Sachverhalte aufzuarbeiten. Angereichert mit Hinweisen aus IM-Gesprächen und abgefangenen Korrespondenzen präsentierten sie »kenntnisreich und ohne ideologische Verbrämung«, so Haendcke-Hoppe-Arndt, einzelne Problemsituationen, die in der Summe eine nüchterne, ungeschönte und detailreiche Gesamt123  Die Diensteinheiten des MfS übernahmen die Erfassungen von Unfällen, Bränden und Produktionsstörungen bei Weitem nicht allein. Vielmehr lassen sich auf allen Ebenen der Wirtschaftsverwaltung offizielle Störauswerter finden, unter anderem die »Gruppe Anlagen und Produktionssicherheit« in jeder Betriebsdirektion und die Inspektion für Anlagen und Produktionssicherheit (IAPS) auf der Ebene der Kombinats- und Betriebsleitung. Siehe zum Beispiel Betriebsdirektion Energetik der Buna-Werke: Störungsauswertung September 1986 vom 14.10.1986; LHASA, MER, I 529, Nr. 5951, n. p.; Betriebsdirektion Organische Spezialprodukte der Buna-Werke: Jahresanalyse 1986 zum Störgeschehen vom 16.1.1987; LHASA, MER, I 529, Nr. 5951, n. p. Ein Beispiel für eine »Auswertung des Störgeschehens« der IAPS im Eilenburger Chemiewerk, einem Kombinatsbetrieb der Buna-Werke, ist das Schreiben des Leiters der IAPS in Eilenburg an den Leiter der IAPS im Stammwerk Schkopau vom 27.2.1987, LHASA, MER, I 529, Nr. 5951, n. p. 124  Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 42.

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darstellung aller industriellen Krisensymptome der DDR ergaben.125 Diese Kombination aus Überblickswissen, Faktenreichtum und Realitätsnähe zeichneten die MfS-Informationen gegenüber den Berichten der SED, der staatlichen Organe und der Kombinate aus. 5.5.1 Detailfülle, Dramatik – aber nur wenig Erkenntnis: Die begrenzte Aussagekraft der MfS-Analysen Als Beispiel für eine solche ungeschönte und erschöpfende Gesamtdarstellung kann die Dokumentation des Anlagenzustands im Kombinat Bitterfeld durch die Hauptabteilung XVIII des MfS aus dem Dezember 1986 angeführt werden.126 Darin führten die Offiziere unter anderem aus, dass die Dächer von 98 Bitterfelder Produktionsgebäuden »so stark beschädigt [seien], dass eine akute Einsturzgefahr und die Gefahr elektrischer Kurzschlüsse durch eindringendes Regenwasser« bestehe.127 »Bei Windgeschwindigkeiten über 55 km/h«, so das Gutachten, müssten »22 Gebäude aus Sicherheitsgründen von den Werktätigen verlassen werden.«128 Darüber hinaus betonte der Bericht, dass »32 Km Chlorleitungsnetz, über alle Betriebsteile und vorbei an Wohngebieten […] erheblich verschlissen und erneuerungsbedürftig« seien. Chlor, so ein ergänzender Hinweis, sei »ein Lungengift, das in einer Konzentration von 2,5 mg/Liter sofort tödlich wirkt«.129 An anderer Stelle wurde die fehlende zentrale Abwasseranlage angesprochen, die seit Beginn ihrer Planung im Jahr 1968 wiederholt aufgeschoben worden sei, wodurch eine »direkte Einleitung chemisch hoch belasteter Abwässer in die Mulde« notwendig werde.130 Und schließlich ging der Bericht auch auf die fast 10 Kilometer langen Stromleitungen ein, die einen »so großen Verschleiß« aufwiesen, dass eine »vollständige Erneuerung« unausweichlich sei. »Da es bisher nicht möglich war, die dazu notwendige Stahlmenge für die Herstellung der Gittermasten bereitzustellen, konnte diese Investitionsmaßnahme ebenfalls noch nicht eingeordnet werden«, so der Bericht.131 125  Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S. 123. 126  Vgl. Leiter der BV Halle des MfS: Information über die Ergebnisse einer durchgeführten komplexen Untersuchung zur Leistungs- und Effektivitätsentwicklung in Schwerpunkten des VEB CKB vom 20.12.1986, abgedruckt in: Plötze: Chemiedreieck, S. 132. 127  ZAIG des MfS: Information über die vorliegenden Ergebnisse aus Untersuchungen zu einigen bedeutsamen Problemen des technischen Zustandes der Produktions- und Energieerzeugungsanlagen sowie der Gebäude im CKB vom 22.5.1987; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 20632, Bl. 3. 128 Ebenda. 129  Ebenda, Bl. 6. 130 Ebenda. 131  Ebenda, Bl. 5.

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Auffällig bei dieser und anderen Zustandsbeschreibungen des MfS war, dass die Autoren der Gutachten zwar viele verschiedene Einzelprobleme auflisteten, tiefergehende Überlegungen über die tatsächlichen Ursachen der Instabilität aber aussparten. Oft musste die bloße Aufzählung von Problemen schon als »Analyse« herhalten. So fielen den Offizieren bei der Betrachtung der Chemiekombinate immer wieder ähnliche Missstände auf, etwa der häufige Arbeitskräftemangel132, die unzureichende Ersatzteilversorgung133, die regelwidrige Lagerung brennbarer Materialien134 oder die völlig unzureichenden Reparaturleistungen.135 Naheliegende Fragen nach den eigentlichen Hintergründen für diese wiederkehrenden Phänomene wurden aber nicht gestellt: Warum fiel es den Kombinaten so schwer, eine stabile Stammbelegschaft aufzubauen? Wieso fehlte es den Anlagenbetreibern immer wieder an Ersatzteilen? Warum wurde die Wartung und Pflege der Maschinen so chronisch vernachlässigt? Und wieso gab es offensichtlich nicht genügend Lagerkapazität für brand- und explosionsgefährdete Stoffe? Anschaulich wurden einzelne Probleme dargelegt, ihre wechselseitigen Zusammenhänge aber außer Acht gelassen. Eine Diskussion der Wechselwirkungen zwischen Plananforderungen, Art und Weise der Investitionen, Leistungsfähigkeit der Zulieferbetriebe, Vernachlässigung der baulichen Infrastruktur, Fachkräfteausstattung sowie den Verschleißzuständen der Anlagen fand nicht statt. Die Gutachten des MfS blieben damit eigentümlich oberflächlich, mehr Deskription als Reflexion, obwohl doch die Auswertung von Informationen zu den Kernaufgaben und Kernkompetenzen der ostdeutschen Geheimpolizei zählte. Um die Frage zu beantworten, warum die Offiziere des MfS auf eine tiefergehende Analyse der technischen und ökonomischen Zustände in den DDR-Industriebetrieben verzichteten, können vier Faktoren angeführt werden: Erstens die begrenzten intellektuellen Fähigkeiten der hauptamtlichen Mitarbeiter: Obwohl die Vertreter der Linie XVIII, wie Jens Gieseke betont, über ein für MfS-Verhältnisse überdurchschnittliches Bildungsniveau verfügten und nicht selten – wie im 2. Kapitel gezeigt wurde – auf naturwissenschaftliche und technische Kenntnisse zurückgreifen konnten, dominierte bei ihnen am Ende doch die rein geheimpolizeiliche Schulung und Mentalität.136 Damit waren sie vor al132  Vgl. OD CKB: Einschätzung der politisch-operativen Lage für die Jahresplanung 1989 vom 12.10.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1269, Bl. 21. 133  Vgl. Leiter der BV Halle des MfS: Information über die Ergebnisse einer durchgeführten komplexen Untersuchung zur Leistungs- und Effektivitätsentwicklung in Schwerpunkten des VEB CKB vom 20.12.1986, abgedruckt in: Plötze: Chemiedreieck, S. 132. 134  Vgl. ZAIG des MfS: Hinweise zum Schadensgeschehen auf dem Gebiet der Volkswirtschaft im Jahr 1984 vom 26.2.1985; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 17202, Bl. 344. 135  Vgl. Hauptabteilung XVIII des MfS: Wiedergabe eines Berichts der IAPS des MfC vom 6.4.1987; BStU, MfS, HA VXIII, Nr. 12183, Bl. 74. 136  Vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 471. Über das Ausbildungsniveau der hauptamtlichen Mitarbeiter siehe Kapitel 2, Abschnitt 2.3.3.

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lem auf das Beobachten der Beschäftigten und Protokollieren von Missständen, aber weniger auf die fundierte Erörterung ökonomischer Zusammenhänge und die Entwicklung innovativer Lösungsansätze spezialisiert. Zweitens fehlte dem MfS auch schlicht der Wille, die ökonomischen Strukturen umfassend zu analysieren und kritisch zu hinterfragen. Auch wenn den Offizieren an einem ausgeprägten Problembewusstsein der SED-Führung durchaus gelegen war, strebten sie keine grundlegenden Änderungen in der stark zentralisierten Industrieorganisation an. Als konservatives Element innerhalb des Systems verstand sich der Sicherheitsapparat stets als Verteidiger einer hierarchischen Spielart der Planwirtschaft. Aus diesem Grund lassen sich in den Analyseberichten auch keine grundsätzlichen Kritiken und Verbesserungsvorschläge entdecken, die etwa auf eine Erweiterung der betrieblichen Kompetenzen, eine Veränderung der Kennziffern oder eine Neuausrichtung der Investitionsschwerpunkte abzielen. Statt Initiativen für ein Projekt zu ergreifen, beließen es die Berichte der Auswertungsreferate bei der Aufzählung einzelner Missstände und Zwischenfälle. Drittens spielte die politische Befangenheit des MfS eine erhebliche Rolle. Selbst wenn die Offiziere der lokalen Diensteinheiten daran interessiert gewesen wären, grundlegende Reformansätze zu initiieren, wäre ihnen das von der Leitung des Ministeriums wohl kaum gestattet worden. Ihre Aufgabe sollte darin bestehen, über Regelverletzungen und Störfälle vor Ort ausführlich zu informieren, ohne dabei einzelne politische Entscheidungen oder gar das Planungsmodell als Ganzes infrage zu stellen. Berücksichtigt man diese einschränkenden Vorgaben von oben, ist es durchaus denkbar, dass einige der hauptamtlichen Mitarbeiter intern weitaus kritischer und grundsätzlicher über ökonomische Probleme diskutierten, als die Gutachten und Parteiinformationen es nach außen offenbarten. Hinzu kam schließlich, viertens, die politische Befangenheit der Kooperationspartner des MfS. Auch den betrieblichen Organen und ministeriellen Inspektoren, die den Offizieren ihre Expertise zur Verfügung stellten, war es nicht erlaubt, betriebliche und politische Fehlentscheidungen oder grundsätzliche Dysfunktionen innerhalb der DDR-Wirtschaft zu thematisieren. Ursache hierfür war vor allem die Fremdsteuerung und Kontrolle der Betriebe, die sich nicht zuletzt durch die Anwesenheit der Geheimpolizei vor Ort sichtbar und spürbar manifestierte. Mit ihrer misstrauischen Überwachungsarbeit behinderten die MfS-Offiziere damit genau jene Artikulations- und Problemlösungsfähigkeit der betrieblichen Akteure, von der ihre eigene Erfassungs- und Auswertungsarbeit eigentlich abhängig war. Die fehlende Autonomie der Betriebe führte damit zu einem eigenartigen Phänomen: Während eine Vielzahl von Institutionen dafür zuständig war, zu kontrollieren, zu protokollieren und auszuwerten, ließen die zahlreichen dabei anfallenden Berichte und Statistiken jede analytische Tiefe und jede konzeptionelle Kreativität vermissen. Die begrenzte Aussagekraft

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der MfS-Berichte spiegelte damit nicht nur die Merkmale und Arbeitsmethoden der Staatssicherheit, sondern auch die gehemmte Kommunikation und das Fehlen einer kritischen Aussprache innerhalb der gesamten ökonomischen Sphäre und im Herrschaftsapparat der DDR wider. An einer Stelle allerdings nahmen die Offiziere des MfS kein Blatt vor dem Mund: Beim Kernproblem der unzureichenden Erneuerungsinvestitionen. Auch wenn die MfS-Berichte keine konkreten Verantwortlichen nannten und etwas abstrakt von »zentralen Stellen« sprachen, thematisierten sie dennoch klar und deutlich die viel zu gering angesetzte finanzielle Ausstattung der Betriebe: Der »Ersatz verschlissener Produktionsanlagen«, heißt es zum Beispiel in einem Bericht der ZAIG aus dem Jahr 1984, ist »nur mit hohem Aufwand an Investitionen möglich. Die kurzfristig dauerhafte Sanierung solcher in der Volkswirtschaft existierender Gefahrenstellen übersteigt die gegenwärtigen volkswirtschaftlichen Potenzen. Die für bestimmte Sanierungsmaßnahmen vorhandenen betrieblichen Revisions-, Wartungs- und Instandhaltungskapazitäten sind für eine solche Aufgabenstellung überfordert.«137 Ähnlich unmissverständlich stellte die Objektdienststelle Buna im Jahr 1986 fest, dass »erforderliche Bilanzteile […] durch die zuständigen zentralen Organe nicht im vollen Umfang bereitgestellt« wurden. »Hinsichtlich der Grundfondsreproduktion«, so die Diensteinheit, habe es »über Jahre [eine] ungenügende Leitungs- und Führungstätigkeit« gegeben.138 5.5.2 Mahner ohne Einfluss – die ausbleibende Wirkung der MfS-Berichterstattung am Beispiel der Salpetersäureanlage in Bitterfeld Die Störerfassungen und Zustandsanalysen des MfS waren also auf der einen Seite faktenreich, umfassend und nah an der Wirklichkeit, blieben aber auf der anderen Seite rein deskriptiv und ohne praktische Lösungsansätze. Doch was genau konnte das MfS mit dieser Form der Informationsverarbeitung bewirken? Gelang es den Offizieren mit ihren Analyseberichten, die Entscheidungsträger in Partei und Wirtschaft in irgendeiner Weise zu beeinflussen?

137  ZAIG des MfS: Hinweise zum Schadensgeschehen auf dem Gebiet der Volkswirtschaft im Jahr 1984 vom 26.2.1985; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 17202, Bl. 357. 138  OD Buna: Bericht über den Stand der Produktions- und Anlagensicherheit in ausgewählten Bereichen im Stammbetrieb des Kombinates VEB Buna-Werke vom 17.12.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 32, Bl. 18 u. 45. Auch hier muss allerdings ergänzt werden, dass nicht nur die Offiziere des MfS, sondern auch die Vertreter der Betriebe die ungenügende Ausstattung mit Sanierungsmitteln deutlich ansprachen – so z. B. Heinz Schwarz bei der Diskussion um das RSM-Programm in Bitterfeld.

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Zunächst kann festgehalten werden, dass die Diensteinheiten der Linie XVIII die Fähigkeit besaßen, unterschiedliche Expertisen nicht nur zusammenzuführen, sondern sie auch zielgenau in die Spitzengremien von SED und Wirtschaftsverwaltung zu lancieren. Ein Beispiel dafür ist die oben vorgestellte Dokumentation über das Kombinat Bitterfeld aus dem Dezember 1986, die im Mai 1987 von Mielke persönlich an den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung in Halle, Hans-Joachim Böhme, sowie an ranghohe Vertreter des Ministerrates, darunter Willi Stoph, Werner Krolikowski und Gerhard Schürer, übermittelt wurde.139 Möglich wurde eine solche direkte Weiterleitung durch die engen personellen Verknüpfungen zwischen SED und MfS. So waren die Leiter der Objektdienststellen qua Amt immer auch Mitglieder der jeweiligen Kreisleitungen der SED, während den Leitern der Bezirksverwaltung des MfS ein Platz in den Bezirksleitungen der SED eingeräumt wurde. Erich Mielke wiederum saß seit 1976 als Vollmitglied im Politbüro der SED und galt als enger Vertrauter Honeckers. Über diese Direktkontakte war es durchaus möglich, dass auch einzelne Hinweise aus den unteren Diensteinheiten – nach einer entsprechenden Filterung auf der Ebene der Bezirksverwaltungen und der Hauptabteilung XVIII in Berlin – ihren Weg bis an die Spitze der SED und des Ministerrates fanden. Dass die Berichte des MfS nicht nur bei wichtigen Entscheidungsträgern landeten, sondern dort auch tatsächlich gelesen und verarbeitet wurden, kann am Beispiel einer Analyse der Staatlichen Bauaufsicht über das Kombinat Bitterfeld gezeigt werden, die im Juni 1981 von der Hauptabteilung XVIII in Form eines MfS-Berichts direkt an Günther Wyschofsky, Günter Mittag und Werner Krolikowski weitergereicht wurde.140 In diesem Fall wandte sich Krolikowski eine Woche später an Mielke mit dem Hinweis, dass die Wirtschaftskommission beim Politbüro den Bericht des MfS auf ihrer letzten Sitzung ausgewertet habe und der Chemieminister beauftragt worden sei, einen Maßnahmeplan zu erstellen, um die aufgelisteten Missstände zu beheben.141 Einen Monat später wiederum verkündete Krolikowski in einem weiteren Schreiben an Mielke, dass der Maßnahmekatalog Wyschofskys jetzt vorliege und in den neuen Fünfjahrplan für die Jahre 1981 bis 1986 eingebaut werden würde. Selbstbewusst fügte er hinzu: »Die vom Ministerium für Staatssicherheit aufgezeigten Gefahrenzu139  Vgl. Schreiben Erich Mielke an Joachim Böhme: Information über die vorliegenden Ergebnisse aus Untersuchungen zu einigen bedeutsamen Problemen des technischen Zustandes der Produktions- und Energieerzeugungsanlagen sowie der Gebäude im CKB vom 22.5.1987; BStU, MfS, BV Halle, AKG, Nr. 2096, Bl. 110–118. Die Empfänger des Schreibens ergeben sich aus dem Verteiler auf dem Dokument. BStU, MfS, ZAIG, Nr. 20632. 140  Vgl. Hauptabteilung XVIII des MfS: Information über die vorliegenden Ergebnisse der Untersuchung bestehender Mängel im baulichen Zustand von Produktionsgebäuden und -anlagen in einigen Kombinaten der chemischen Industrie vom 26.6.1981; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 5367, Bl. 2–9. 141  Vgl. Schreiben Werner Krolikowski an Erich Mielke vom 30.6.1981; ebenda, Bl. 13.

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stände sind inzwischen teilweise nicht mehr gegeben bzw. werden kurz- oder langfristig beseitigt.«142 Auch wenn Krolikowskis abschließender Kommentar sehr optimistisch anmutet und sich an den Gefahrenzuständen in Bitterfeld de facto nichts geändert hatte – das RSM-Programm wurde genau zu dieser Zeit schrittweise zurückgefahren –, macht das Beispiel trotzdem deutlich, dass die Berichte der Linie XVIII die Entscheidungsfindung in den Spitzen von SED und Wirtschaftsverwaltung zumindest graduell beeinflussen konnten. Dass die Partei- und Wirtschaftsfunktionäre ein gewisses Interesse für die Analyseberichte des MfS zeigten, lag dabei auch an der Fähigkeit der Offiziere, einzelne Schwierigkeiten wie Brände, Arbeitsunfälle oder Produktionsunterbrechungen dramatisch in Szene zu setzen. Statt Zwischenfälle isoliert zu beschreiben, hoben sie deren gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Auswirkungen hervor – etwa auf benachbarte Industriezweige, umliegende Wohngebiete oder auf die Stimmung der Beschäftigten. Auf diese Weise übersetzten sie technische Defizite in politische Probleme – und trafen damit den Nerv der SED-Funktionäre.143 Das Warnen und Mahnen übergeordneter Stellen kann als wichtigste Funktion des MfS beim Thema Störgeschehen und Anlagensicherheit angesehen werden. Im Laufe der 1980er-Jahre zeigte sich allerdings, dass ein sichtbarer Effekt der Dokumentationen und Berichte, also eine konkrete Verbesserung der Zustände oder eine Veränderung der Wirtschaftspolitik der SED, auf sich warten ließ. Es scheint, als ob die Hinweise der Linie XVIII umso irrelevanter wurden, je mehr Hiobsbotschaften und Hilfegesuche das Politbüro aus den Produktionsbetrieben erreichten. Immer häufiger musste sich das MfS daher mit der Rolle eines ohnmächtigen Mahners begnügen, der einen bestimmten Missstand zwar deutlich ansprach, dabei aber keinerlei politische Reaktionen hervorrufen konnte. Ein Beispiel für ein solches vergebliches Handeln ist die Kritik der Bezirksverwaltung Halle des MfS an einer unterlassenen Erneuerung der Salpetersäureanlage in Bitterfeld, der im Folgenden vorgestellt werden soll. Um diesen Fall genauer zu verstehen, muss auf die Vorgeschichte dieses Problembereichs etwas genauer eingegangen werden. Der Generaldirektor Heinz Schwarz hatte nämlich bereits im Jahr 1976 die sogenannten Paulingöfen, in denen seit 1916 aus Schwefelsäure und Kalkammonsalpeter hochkonzentrierte Salpetersäure (Hoko) gewon142  Schreiben Werner Krolikowski an Erich Mielke vom 17.8.1981; ebenda, Bl. 14. 143  Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 35 u. 37. Die Berichte betrieblicher und staatlicher Stellen lesen sich allerdings nicht minder dramatisch. Auch hier wird auf die gesamtwirtschaftlichen Folgen verwiesen. So bemerkte ein Bericht des Staatlichen Amts für Technische Überprüfung im November 1988, dass der instabile Anlagenzustand in Buna 10 % der Warenproduktion der chemischen Industrie mit einem jährlichen Gesamtwert von 70 Mrd. Mark gefährde. Vgl. Stellungnahme des MfC zum SATÜ-Bericht über den Zustand der Produktions- und Energieerzeugungsanlagen in Buna vom 28.11.1986, wiedergegeben in: Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 38.

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nen wurde, dem Politbüro als besonders instabil gemeldet und ihre Aufnahme in sein RSM-Programm gefordert. Zu diesem Zeitpunkt hatte ihr Verschleißgrad bereits 78 Prozent betragen.144 Die SED-Führung lehnte diese Forderung jedoch mit dem Verweis ab, dass mittelfristig die Salpetersäureproduktion ohnehin in das modernere Agrochemische Kombinat in Piesteritz verlegt werden würde. Bis dahin, so die Botschaft an Schwarz, reiche eine notdürftige Stabilisierung aus.145 Acht Jahre später allerdings, im Jahr 1984, revidierte das Politbüro diese Planung und legte Bitterfeld doch noch als Standort für eine längerfristige Salpetersäureproduktion fest. Für die Kombinatsleitung und dem Chemieministerium stand nun außer Zweifel, dass der Einkauf einer Neuanlage zügig angegangen werden musste. Denn der Verschleiß im Fabrikgebäude hatte mittlerweile derartige Ausmaße angenommen, dass nur noch sechs von einst 17 Paulingöfen betrieben werden konnten.146 Die eingeschränkte Fahrweise der Anlage unter extremen Havarierisiken machte eine umfassende Erneuerung dringend notwendig. Trotz der zugespitzten Situation geschah allerdings weitere zwei Jahre fast nichts, da zwischen dem Kombinat und dem Chemieministerium ein Streit über den geeigneten Typus der Neuanlage ausgebrochen war. Während die Bitterfelder Generaldirektion eine Kooperation mit einem westlichen Anbieter favorisierte, beharrte das Ministerium, unterstützt von der Staatlichen Plankommission, auf der Einfuhr einer sowjetischen Anlage im Rahmen eines längerfristigen Regierungsabkommens.147 Die Kombinatsseite war allerdings davon überzeugt, dass der geplante sowjetische Anlagentypus für den Bitterfelder Standort völlig ungeeignet war. Dennoch sollte es noch bis zum November 1986 dauern, bis Wyschofsky den Standpunkt der Bitterfelder übernahm und den Weg für einen Westimport auf Kompensationsbasis freimachte.148 Doch damit war das Problem noch lange nicht gelöst. Anfang 1987 fasste nämlich das Chemieministerium völlig unerwartet den Entschluss, die geplante Investition zugunsten eines neuen Kraftwerksbaus im Kombinat Buna noch einmal um zwei Jahre zurückzustellen, eine Entscheidung, die ohne jede Konsultation mit der Bitterfelder Kombinatsführung getroffen worden war.149 Damit 144 Vgl. Leiter der BV Halle: Information über bestehende akute Gefährdungen bei der Produktion hochkonzentrierter Salpetersäure im VEB Chemiekombinat Bitterfeld vom 30.7.1987; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 12183, Bl. 126 u. 128. 145  Vgl. ebenda, Bl. 128. 146  Vgl. ebenda. 147  Vgl. ebenda. 148  Vgl. OD CKB: Information über bestehende akute Gefährdungen bei der Produktion hochkonzentrierter Salpetersäure im VEB Chemiekombinat Bitterfeld vom 16.6.1987; BStU, MfS, BV Halle, AKG, Nr. 1442, Bl. 16. 149  Vgl. Leiter der BV Halle: Information über bestehende akute Gefährdungen bei der Produktion hochkonzentrierter Salpetersäure im VEB Chemiekombinat Bitterfeld vom 30.7.1987; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 12183, Bl. 128.

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war auch nach über zehn Jahren eine Verbesserung der Produktionsbedingungen für die Beschäftigten der Hoko-Anlage nicht in Sicht. In dieser Situation schaltete sich schließlich auch das MfS in die Diskussion ein. In einem ausführlichen Bericht über die Probleme im Bereich Salpetersäure formulierte die Objektdienststelle Bitterfeld im Juni 1987 eine deutliche Kritik am Verhalten des Chemieministeriums. »Die über Jahre durch verantwortliche Kader des MfC nicht geklärten Fragen«, so das Referat für Produktions- und Anlagensicherheit, »stellen die Leitung des VEB CKB vor eine nahezu ausweglose Situation. […] Es muss eingeschätzt werden, dass das unter den gegebenen Bedingungen existierende Risiko für das weitere Betreiben der Anlage für den Generaldirektor nicht mehr tragbar ist.«150 Leitungskader, so heißt es in dem Dokument weiter, »zeigen für eine solche Investitionspolitik des jahrelangen Hinhaltens […] kein Verständnis«.151 Ohne diese direkte Kritik am Ministerium, dafür aber in einer ähnlich deutlichen Sprache, fasste der Leiter der Bezirksverwaltung Halle, Karl Heinz Schmidt, die Ausführungen der Objektdienststelle einen Monat später als Parteiinformationen zusammen und sendete sie direkt an den 1.  Sekretär der SED-Bezirksleitung, Hans Joachim Böhme. »Von den Pauling-Anlagen gehen seit Jahren akute Gefährdungen für das Betreiberpersonal, für Werktätige in angrenzenden Betrieben und für die Bewohner des angrenzenden Territoriums […] aus«, so Schmidt.152 »Seit 1975 haben sich die Schäden an der Bausubstanz besorgniserregend durch die im verseuchten Untergrund wirkende hochkonzentrierte Schwefelsäure verstärkt.« So sei das Abwassersystem funktionsuntüchtig, die Öfenfundamente abgesenkt und das Tragwerk des Gebäudes instabil. »Damit erhöht sich die Gefahr von Gewaltbrüchen und Abreißungen von Rohrleitungen, die 330 Grad heiße Schwefelsäure oder Erdgas führen und damit von Explosionen mit Katastrophencharakter.«153 Die Gemeinden Greppin, Wachtendorf und Teile der Stadt Wolfen, so Schmidt, seien durch den Ausbruch heißer Schwefelsäure unmittelbar gefährdet.154 Die Bezirksverwaltung Halle trat hier ganz eindeutig in der Rolle eines Mahners auf. Die Situation wurde anschaulich beschrieben, ökonomische und gesellschaftliche Konsequenzen betont, die Passivität übergeordneter Instanzen klar angesprochen und das Ganze direkt an den wichtigsten Parteifunktionär in der 150  OD CKB: Information über bestehende akute Gefährdungen bei der Produktion hochkonzentrierter Salpetersäure im VEB Chemiekombinat Bitterfeld vom 16.6.1987; BStU, MfS, BV Halle, AKG, Nr. 1442, Bl. 22. 151 Ebenda. 152  Leiter der BV Halle: Information über bestehende akute Gefährdungen bei der Produktion hochkonzentrierter Salpetersäure im VEB Chemiekombinat Bitterfeld vom 30.7.1987; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 12183, Bl. 127. 153 Ebenda. 154  Vgl. ebenda.

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Region, den 1. Sekretär der Bezirksleitung Halle, adressiert. Eine Verbesserung stellte sich mit dieser Intervention des MfS allerdings nicht ein. Weder legte das Chemieministerium in der Folgezeit weitere Paulingöfen still, noch bewilligte es eine Notsanierung der Fabrik oder beschaffte – wie ursprünglich geplant – eine Neuanlage. Unter extremen Havariegefahren und Gesundheitsbelastungen mussten die Beschäftigten des Bitterfelder Kombinats stattdessen noch bis 1990 weiter in den Altanlagen Salpetersäure produzieren. Als Grundlage für die Erzeugung von Farbstoffen, Pharmazeutika und Sprengstoffen war dieser Werkteil ökonomisch einfach zu bedeutsam gewesen.155 5.5.3 Kommunikationsstrecke und ersehntes Korrektiv – Das MfS als Ansprechpartner frustrierter Funktionäre Der Fall Salpetersäureproduktion in Bitterfeld macht deutlich, dass die Diensteinheiten der Linie XVIII mit ihren Warnungen und Berichten schnell an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stießen, selbst wenn sie gemeinsam den Versuch unternahmen, übergeordnete Stellen gezielt zum Handeln zu bewegen. Dieser offenkundigen Einflusslosigkeit zum Trotz wandten sich betriebliche Leiter im Laufe der 1980er-Jahre immer öfter an das MfS, in der Hoffnung, ihre Wünsche und Beschwerden auf diese Weise schneller ins jeweilige Fachministerium oder in die Gremien der SED transportieren zu können. Das interne Berichtswesen des MfS war ihnen zwar nicht bekannt, sie ahnten jedoch zu Recht, dass es einen regen Austausch zwischen MfS-Offizieren und Parteifunktionären gab. Nicht wenige Führungskräfte der Betriebe erachteten die Kommunikationsstrecke »MfS« als weitaus effektiver, als den umständlichen und am Ende oft vergeblichen offiziellen Dienstweg innerhalb der Wirtschaftsverwaltung.156 »Patrioten und Wirtschaftskader, die als zuverlässige und standhafte Genossen bekannt sind«, stellte zum Beispiel Horst Roigk, Leiter der Abteilung XVIII/4, im Jahr 1982 fest, »wenden sich zunehmend mit Besorgnis über die Entwicklung […] an das Ministerium für Staatssicherheit«, da sie anderweitig keine Möglichkeit sehen, »Bedenken an zentral vorgegebenen Leistungszielen, die sie selbst für unreal halten, zu äußern und konstruktive Unterstützung für die Lösung der Probleme zu erhalten«.157 Den unteren Diensteinheiten der Linie XVIII blieb in dieser Situation nichts anderes übrig, als die angestaute Wut der Leiter über den Leistungsdruck und die alltäglichen Gefahren in den Betrieben zur Kenntnis zu nehmen und auf den übergeordne155  Vgl. Christiane Kohl: »Die Leute werden dun im Kopf«. In: Der Spiegel v. 8.1.1990, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13497016.html, abgerufen am 3.1.2018. 156  Vgl. Schwarz: Prägungen, S. 315. 157 Roigk. In: Hertle: Die DDR an die Sowjetunion verkaufen?, S. 487.

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ten Ebenen zu kommunizieren. Unbeabsichtigt wurden sie damit zum Sprachrohr der frustrierten Wirtschaftsfunktionäre an der Basis, was ihre Rolle als Mahner und Warner auf diesem Themenfeld noch einmal verstärkte.158 Dass sich die staatlichen Leiter mit praktischen Anliegen an die Offiziere wandten, hatte auch etwas mit ihrer grundsätzlichen Hoffnung und Erwartung zu tun, dass die Geheimpolizei als geheime Steuerungs- und Korrekturinstanz auftreten könnte, um schnelle Abhilfe zu organisieren und die gröbsten Fehlentscheidungen der politischen Führung zu berichtigen. »Wer, wenn nicht die allseits präsente und ›allmächtige‹ Staatssicherheit sollte ihnen helfen können bei der Beschaffung von dringend benötigten Dachziegeln für die maroden Bauten oder Ersatzteilen für die brachliegenden Produktionsanlagen, und wer sonst hätte die Möglichkeit, über seine eigenen Kanäle zusätzlich unverblümte Alarmmeldungen nach oben zu geben, um Kurskorrekturen zu bewirken«, so die von Gieseke beschriebene Vorstellung der staatlichen Leiter.159 Doch die Idee vom geheimen Regulator überschätzte den Einfluss der Offiziere vor Ort erheblich, wie das Beispiel der Salpetersäureproduktion in Bitterfeld zeigt. Dass das MfS materielle und finanzielle Ressourcen freisetzen und Entscheidungen des Politbüros revidieren könne, entsprach dem verbreiteten Trugbild von der Allgegenwart und Allmacht des Staatssicherheitsapparates. Auch wenn die Offiziere dieses Image selbst pflegten, wollten sie die damit verbundene Rolle einer Anlaufstelle für Beschwerden und einer geheimen Korrektur der Wirtschaftsverwaltung nicht übernehmen. Ähnlich wie im Bereich der Außenwirtschaft traten sie auch auf dem Überwachungsfeld »Brände und Störungen« weder mit unkonventionellen Lösungskonzepten noch mit praktischen Hilfsangeboten an die staatlichen Leiter heran.160 Für eine derartige konstruktive Mitgestaltung fehlte es den Offizieren sowohl am Willen und an tech158  Vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S.  122; Malycha: SED in der Ära Honecker, S. 263. 159  Gieseke: Die Stasi, S. 154. 160  Gemeint ist hier, dass es keine regelmäßige, selbstverständliche praktische Hilfestellung des MfS für die Betriebe gab. In Ausnahmefällen konnte es eine konstruktive Unterstützungsleistung der Offiziere aber durchaus geben. Hans Hermann Hertle fand hierfür ein Beispiel in den Überlieferungen der Objektdienststelle Bitterfeld. Vertreter der OD nahmen demnach im Jahr 1986 Kontakt zum Kombinat Pumpen und Verdichter (KPV) in Halle auf, um eine außerplanmäßige Lieferung von Verdichtern für die Produktion von Wasserstoff in die Wege zu leiten. Dieser ungewöhnliche Schritt war notwendig geworden, da die Bitterfelder Wasserstoffanlage unter massivem Verschleiß litt. Anfragen des Generaldirektors Eser nach Ersatzteilen beim Ministerium für Chemie und beim Generaldirektor des KPV waren wiederholt abgewiesen worden. Um einen vollständigen Zusammenbruch der Wasserstoffproduktion abzuwenden, entschloss sich die Objektdienststelle in dieser Situation zu intervenieren – und das scheinbar mit Erfolg. Nach Hertle konnten die Offiziere eine Sonderlieferung von Verdichtern für das Kombinat erreichen, die nachträglich durch das Ministerium für Schwermaschinen- und Anlagenbau und durch das Ministerium für Chemische Industrie gebilligt wurde. Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 36.

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nischen und intellektuellen Kapazitäten als auch an politischen Befugnissen durch die SED. Aus der praktischen Organisation von technischer Sicherheit und baulicher Infrastruktur wollten sich die Angehörigen des MfS stattdessen lieber heraushalten, um sich ganz auf das Protokollieren und Auswerten der Probleme sowie auf das Weiterleiten ihrer Expertise zu konzentrieren.

5.6  Hauptursache: »Schlamperei« – Die staatlichen Leiter im Fokus des MfS Das bislang beschriebene informierende, statistisch erfassende und auswertende Vorgehen des MfS war Teil der vierten Strategie des Staates, um das Störgeschehen einzudämmen und den zunehmenden Verschleiß in den Betrieben wenigstens ansatzweise aufzuhalten. Daneben zeigte das staatliche Handeln aber noch eine zweite Seite, um dem Krisengeschehen Herr zu werden: das disziplinarische Vorgehen in den Betrieben, also das Überwachen, Erziehen und gegebenenfalls auch Bestrafen einzelner verantwortlicher Kader. Auch bei dieser fünften und letzten Krisenreaktion war das MfS gefragt, wobei es auch diesmal nicht allein auftrat, sondern einmal mehr im Verbund mit den Organen der SED und den zahlreichen Kontrollgremien der Ministerien und Betriebe. Die disziplinarische Vorgehensweise von betrieblichen, staatlichen und parteilichen Stellen beruhte auf der Überzeugung, dass die Häufigkeit der Havarien und der schlechte Zustand der Anlagen auch etwas mit dem Charakter und Verhalten der Wirtschaftsfunktionäre in den Betrieben und Kombinaten zu tun haben mussten. »Ungenügende Leitungstätigkeit« entwickelte sich im Laufe der 1980er-Jahre zu einem häufig wiederholten Standardvorwurf. »Überhaupt liegen die tieferen Ursachen für Brände und Havarien im Verhalten vieler verantwortlicher Kader, letzten Endes in einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber der Verantwortung, die mit jeder Arbeit unternommen wird«, stellte zum Beispiel Harry Möbis, der zentrale Koordinator aller Sicherheitsbeauftragten, im Jahr 1986 fest.161 Nach ähnlichem Muster argumentierte die Hauptabteilung XVIII des MfS. Im »liberale[n] Verhalten von Leitern und [der] Schlamperei sowie Gleichgültigkeit des Bedienungs- und Instandhaltungspersonals« wollte sie in einem Bericht aus dem Jahr 1986 eine Hauptursache für die instabile Produktion erkennen.162 Und auch Horst Wambutt, Leiter der Abteilung Grundstoffindustrie des ZK der SED, erläuterte auf der oben bereits erwähnten Zusammen161  Hauptabteilung XVIII des MfS: Ausführungen Möbis anlässlich der Beratung mit Sicherheitsbeauftragten aus dem Bereich des Ministeriums für Chemie in Erkner vom 5.11.1986; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21409, Bl. 270. 162  Hauptabteilung XVIII des MfS: Information über den Zustand von Ausrüstungen und das Betriebsregime in bedeutenden Produktions- und Energieerzeugungsanlagen des Kombinats VEB Chemische Werke Buna vom 9.10.1986; BStU, MfS, HA XI, Nr. 2097, Bl. 5.

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kunft mit den 1. Sekretären der SED im Jahr 1983, dass die Havarieanfälligkeit der Betriebe weniger mit den »Instabilitäten in den Altanlagen«, sondern vielmehr mit »der Duldung von Verstößen gegen Betriebsvorschriften, Unordnung und Schlamperei im Betriebsablauf« zu tun habe.163 Diese Aussagen machen deutlich: Obwohl die Verschleißquote jeder Anlage genau berechnet und jede Störung akribisch protokolliert wurde – sprich: den Vertretern des MfS und der staatlichen und betrieblichen Organe das Ausmaß des Verfalls in den Betrieben ziemlich deutlich vor Augen stand –, wurde den Leitern vor Ort trotzdem die Hauptverantwortung für die fehlende Anlagensicherheit zugeschoben. Vor allem in den Stellungnahmen der Parteifunktionäre, aber auch in den Berichten des MfS, wurde auf individuelles Versagen weitaus deutlicher abgehoben, als auf unzureichende Sanierungen oder verspätete Stilllegungen. Damit kommt im Rückblick eine völlig gegensätzliche Wahrnehmung zum Vorschein: Während Teile der betrieblichen Leitungskräfte die Offiziere des MfS als Vertrauenspersonen schätzten und sich von ihnen ein aushelfendes oder korrigierendes Eingreifen in die innerbetrieblichen Abläufe erhofften, gingen diese in ihren internen Äußerungen auf Distanz und betonten »subjektives Fehlverhalten« als eine entscheidende Ursache für Unfälle und Produktionsstörungen. Woher kam diese Bereitschaft des MfS und der übrigen Partei- und Kontrollorgane, die leitenden Funktionäre der Betriebe als Hauptursache für die prekäre Produktionssicherheit auszumachen? Zwei Aspekte können hier als Erklärungen angeführt werden: Zum einen lässt sich – wie schon bei den Themen Investitionen und Außenhandel – die Neigung vieler MfS-Offiziere und Parteifunktionäre beobachten, Sachprobleme in Personalprobleme umzuwandeln. Wurden zum Beispiel die Grenzwerte für bestimmte Giftstoffe überschritten, hatte das Wartungspersonal schlecht gearbeitet, explodierte eine Maschine, lag ein Bedienungsfehler vor, brach in einer Fabrikhalle ein Feuer aus, waren die Vorschriften für die Materiallagerung verletzt worden. Mit diesem Mechanismus der Personalisierung erschienen auch beim Thema Anlagensicherheit komplexere Strukturprobleme lösbar. Mit einer Belehrung der Anlagenbetreiber oder einer Überarbeitung von Bedienungsvorschriften konnte dann – ähnlich wie beim Einsatz von Prämien und Wettbewerben – Handlungsfähigkeit vorgetäuscht werden, auch wenn allen Beteiligten eigentlich klar war, dass mit der herrschenden Produktions- und Investitionspraxis eine durchgreifende Stabilisierung kaum bewerkstelligt werden konnte. Die Fokussierung auf einzelne Personen geht aber auch auf die Tatsache zurück, dass viele Leiter die Ordnung in ihrem Verantwortungsbereich tatsächlich 163  SED-Kreisleitung im Kombinat Bitterfeld: Auswertung mit den 1. Kreissekretären, Parteibeauftragten und Leitern der IAPS des Bereiches Grundstoffindustrie am 13. Januar 1983 vom 7.2.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 882, Bl. 65.

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nicht besonders ernst nahmen und einer genauen Einhaltung der Vorschriften nur wenig Beachtung schenkten. Die Überzeugung des MfS und der übrigen Sicherheitsorgane, dass die staatlichen Leiter ein Teil des Problems seien, hatte also durchaus ihre Berechtigung. So registrierten die Objektdienststellen und Sicherheitsbeauftragten immer wieder Missstände wie Müllhalden auf dem Werksgelände, zugestellte Fluchtwege, verschmutzte Maschinen oder ungesicherte Feuerstellen. Auch von fehlender Eigeninitiative, vorzeitigem Feierabend oder Alkoholmissbrauch der Schichtleiter und Anlagenfahrer war in den Berichten der Kontrollorgane die Rede.164 Es lag auf der Hand, dass aus solchen Zuständen und Verhaltensweisen keine optimale Fahrweise der Maschinen resultieren konnte. Gerade Altanlagen verlangten eigentlich nach einem Maximum an Konzentration, Erfahrung und Sauberkeit. Jede Unachtsamkeit und jede zusätzliche Verunreinigung konnte hier das Unfallrisiko enorm erhöhen.165 An dieser Stelle war es daher durchaus sinnvoll, disziplinarische Maßnahmen zu ergreifen, also mit Belehrungen, Kontrollen und Bestrafungen zu arbeiten. Im Unterschied zum Überwachungsgegenstand der Außenwirtschaft, stimmte die Denk- und Arbeitsweise der Offiziere im Bereich der Werksordnung und Anlagensicherheit zum Teil mit der realen Problemsituation überein. Doch auch wenn die Fokussierung auf Personen keine reine Selbsttäuschung der Kontrollorgane darstellte und der Vorwurf der »ungenügenden Leitungstätigkeit« nicht immer ganz abwegig war, so ließen die Offiziere bei ihrem disziplinarischen Auftreten – ähnlich wie bei ihren Analysen – die tieferliegenden Gründe für die beobachtete Resignation und Unordnung außer Acht. Vertreter des MfS und der staatlichen Kontrollorgane tendierten eher, im individuellen Fehlverhalten eine primäre Ursache zu erkennen und alle übrigen Komplikationen wie Verschleiß, Stillstände oder Chaos auf dem Werksgelände daraus abzuleiten. Würde sich jeder einzelne »Werktätige« genau an die Pläne und Vorschriften halten und Engagement über seinen unmittelbaren Arbeitsbereich hinaus zeigen, so die dahinterstehende Überzeugung, würde sich in den Werkshallen auch nicht ein solches Gefahrenpotenzial entwickeln.166 Der entgegengesetzte 164  Vgl. ZAIG des MfS: Hinweise zum Schadensgeschehen auf dem Gebiet der Volkswirtschaft und im Verkehrswesen der DDR im Jahr 1983, o. D.; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 17202, Bl. 366; Hauptabteilung XVIII des MfS: Ausführungen Möbis anlässlich der Beratung mit Sicherheitsbeauftragten aus dem Bereich des Ministeriums für Chemie in Erkner vom 5.11.1986; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21409, Bl. 265. 165 Schwarz weist darauf hin, dass für das Betreiben von Altanlagen ein strenges Kontrollregime und ein Zehnfaches an Personal notwendig waren. Vgl. Schwarz: Prägungen, S. 192. 166  Diese Vorstellung wird bei Harry Möbis in einem Aufsatz über das betriebliche Sicherheitsaktiv aus dem Jahr 1979 deutlich: »Analysiert man die Störungen der verschiedensten Art, die in Kombinaten, Betrieben und anderen Einrichtungen eintraten und zu volkswirtschaftlichen Schäden und Verlusten führten, so zeigen ihre Ursachen, dass sie vermeidbar gewesen wären, wenn man die Gesetze, Regelungen und Bestimmungen eingehalten hätte, wenn Ver

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Abb. 7 u. 8: Alltägliches Chaos auf dem Werksgelände in Leuna 1981

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Gedanke, dass Strukturprobleme auch bestimmte Verhaltensweisen begünstigen konnten, dass die Vertreter der SED und Wirtschaftsverwaltung durch die von ihnen festgelegte Unterfinanzierung, Überlastung und Fremdbestimmung der Betriebe erst jene Mentalität hervorbrachten, die sie anschließend in ihren Reden und Berichten laut beklagten, kam seltener auf. In den verschiedenen »Eigensinnigkeiten« der Beschäftigten, wie der unterentwickelten Verantwortung für die betriebliche Infrastruktur, einem Hang zur privaten Aneignung von betrieblichem Eigentum oder verschiedenen Formen der Arbeitszurückhaltung, wollten sie lieber die Facetten einer »unterentwickelten sozialistischen Arbeitsmoral«, als die Eigenschaften eines von der Politik selbstgeschaffenen abhängigen und überforderten Arbeitnehmertypus’ erkennen.167 Diese personenzentrierte Denk- und Arbeitsweise kann als weiterer Grund angeführt werden, warum die Sicherheitsorgane – hier vor allem das MfS – im Rahmen ihrer Auswertungsarbeit keine tiefergehenden Strukturanalysen entwickelten. Allerdings wurde die »Personalisierung« der Missstände weder durch das MfS noch durch die staatlichen und betrieblichen Kontrollorgane verabsolutiert. Das geht aus den strafrechtlichen Auswertungen der Schadensgeschehnisse in der Volkswirtschaft durch die ZAIG und die Justizorgane hervor, in denen nicht – wie Daniela Beutler und Lothar Mertens es nahelegen – jedes Vorkommnis automatisch auf eine Fahrlässigkeit oder gar eine bewusste Straftat der Beschäftigten zurückgeführt wurde.168 Die Bewertungen verweisen vielmehr auf einen halbwegs realistischen Blick auf die Ursachen des Störgeschehens. Für die gesamte chemische Industrie verzeichnete die ZAIG zum Beispiel im Jahr 1983 127 schwerwiegende Zwischenfälle.169 Bei 45 von ihnen wurde ein »fahrlässiges«, bei fünf sogar ein »vorsätzliches Handeln« angenommen. Für den überwiegenden Teil jedoch (69 Vorfälle) konnten das MfS und die Justizorgane keinerlei strafbares Fehlverhalten feststellen.170 Ähnlich sah es im gleichen Jahr für die Volkswirtschaft insgesamt aus: Hier untersuchte das MfS 1 340 Schadensereignisse näher und führte 393 Fälle auf »Fahrlässigkeit« und 109 Fälle auf »Vorsatz« zurück.171 Den größten Anteil jedoch, 838 Vorkommnisse, musste es in die Kahaltensnormen und Disziplin den Bedingungen entsprochen hätten«. In: Möbis: Das Sicherheitsaktiv, S. 875. 167  BV Halle des MfS: Lageeinschätzung auf dem Gebiet BuS in der Volkswirtschaft des Bezirkes Halle«, 1986; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 434, Bl. 44. 168  So heißt es bei Beutler und Mertens: »Die rein nach objektiven Ursachen wie z. B. Materialverschleiß begründeten Vorkommnisse und Schadensfälle in der Industrie wurden vom MfS zurückgewiesen.« In: Beutler; Mertens: Mängel und Probleme, S. 238. 169  Dazu konnten Brände, Explosionen, Produktionsunterbrechungen und andere Störungen gehören. 170  Vgl. ZAIG des MfS: Hinweise zum Schadensgeschehen auf dem Gebiet der Volkswirtschaft und im Verkehrswesen der DDR im Jahr 1983, o. D.; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 17202, Bl. 375. 171  1 543 Fälle wurden insgesamt registriert.

Staatliche Leiter im Fokus des MfS

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tegorie »keine strafrechtliche Relevanz« einordnen.172 Noch etwas markanter fiel diese Verteilung bei einer Erhebung der Inspektion für Anlagen- und Produktionssicherheit im Jahr 1986 für das Kombinat Buna aus. Demnach gingen im Stammwerk Schkopau lediglich 16 Prozent der Zwischenfälle auf ein fehlerhaftes Verhalten von einfachen Beschäftigten und leitenden Mitarbeitern zurück, während 64 Prozent der Störungen mit der Überalterung und Instabilität der Produktionsanlagen in Zusammenhang gebracht wurden.173 Diese Zahlen machen deutlich, dass trotz der Neigung vieler SED-Funktionäre und MfS-Offiziere, staatliche Leiter für das Störgeschehen in die Verantwortung zu nehmen, die konkreten Ermittlungsergebnisse der Inspektionen und Justizorgane – inklusive des MfS – ein differenziertes Bild bieten, das zeigt, dass die Fehler einzelner Leiter zwar an vorderster Stelle Erwähnung fanden, die Beschäftigten der Betriebe aber nicht massenweise beschuldigt, Tatbestände wie Sabotage nicht konstruiert und die große Bedeutung struktureller Ursachen wie Verschleiß oder Überlastung durchaus anerkannt wurden.174 172  Vgl. ZAIG des MfS: Hinweise zum Schadensgeschehen auf dem Gebiet der Volkswirtschaft und im Verkehrswesen der DDR im Jahr 1983, o. D.; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 17202, Bl. 375. Im Jahr 1984 wurden von 1 034 Vorkommnissen in der gesamten Volkswirtschaft 925 Vorfälle untersucht. In 307 Fällen wurde »fahrlässiges Handeln«, in 98 Fällen »vorsätzliches Handeln« und in 487 Fällen »Handeln ohne strafrechtliche Relevanz« festgestellt. Vgl. ZAIG des MfS: Hinweise zum Schadensgeschehen auf dem Gebiet der Volkswirtschaft im Jahr 1984 vom 26.2.1985; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 17202, Bl. 349. 173 Vgl. Inspektion des Generaldirektors, Kombinat Buna: Sicherheitspolitische Studie des Kombinats VEB Chemische Werke Buna mit Schlussfolgerungen für den Zeitraum 1986– 1990«, 1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 280, Bl. 10. 174  Bei der Auswertung von Bränden und Störungen in der Volkswirtschaft achtete das MfS sehr genau auf eventuelle »Anhaltspunkte für Staatsverbrechen«. Trotzdem waren die Offiziere in den 1980er-Jahren nur in Ausnahmefällen in der Lage, Handlungen mit staatsfeindlichen Motiven nachzuweisen. So wurden zum Beispiel im Jahr 1983 in der gesamten DDR-Wirtschaft 1  340 größere Vorkommnisse registriert. Bei 109 Vorfällen konnte ein vorsätzliches Handeln des Verursachers festgestellt werden; daraus gingen 66 Ermittlungsverfahren hervor. Lediglich bei zwei Brandstiftern lag nach Ansicht des MfS eine staatsfeindliche Zielstellung vor: eine Rachehandlung nach einer verbüßten mehrjährigen Freiheitsstrafe und eine Protesthandlung gegen die herrschenden »gesellschaftlichen Verhältnisse«. Vgl. ZAIG des MfS: Hinweise zum Schadensgeschehen auf dem Gebiet der Volkswirtschaft und im Verkehrswesen der DDR im Jahr 1983, o. D.; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 17202, Bl. 375–377. Nach einer Untersuchung von 1 034 Zwischenfällen im Jahr 1984 konnte das MfS »keine feindlichen Angriffe auf die ökonomischen Grundlagen der sozialistischen Staatsmacht in Form von Diversion oder Sabotage« nachweisen. »Verdachtsprüfungen in diese Richtungen bestätigen nicht das Vorliegen von Staatsverbrechen«, so der Bericht der ZAIG. Vgl. ZAIG des MfS: Hinweise zum Schadensgeschehen auf dem Gebiet der Volkswirtschaft im Jahr 1984, 26.2.1985; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 17202, Bl. 353. Als Hauptmotive für eine vorsätzliche Verursachung einer Störung oder eines Brandes arbeitete das MfS in den Jahren 1983 bis 1988 private Konflikte, Verärgerung über den Vorgesetzten im Berufsleben, Unzufriedenheit mit den Arbeits- und Wohnverhältnissen, Alkoholeinfluss sowie schlicht eine »Freude am Feuer« heraus. Vgl. Berichte der ZAIG für die Jahre 1983 bis 1988; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 17202, Bl. 32–363.

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Trotz dieser realistischen Einschätzung hoben die Offiziere, wie oben bereits erwähnt, in ihren internen Berichten die Unzuverlässigkeit der Leiter und Beschäftigten als Ursache für die Krisenzustände im Innern der Betriebe hervor und räumten dem Element der Kontrolle und Disziplinierung einen wichtigen Stellenwert ein. Doch wie sah nun diese disziplinarische Seite des MfS genau aus? In welchen Situationen wurden die Offiziere aktiv und welche Methodik wandten sie dabei an? Drei unterschiedliche Routinen des MfS im Betrieb sollen im Folgenden betrachtet werden: Erstens der reguläre Kontrollgang, meist in Zusammenarbeit mit einer betrieblichen oder staatlichen Inspektion; zweitens die Überwachung eines ganzen Betriebsbereiches oder eines laufenden Projekts bei wiederholten Problemen und Zwischenfällen und drittens die Ermittlung bei einem konkreten Vorfall, zum Beispiel nach einer schweren Havarie oder in einer zugespitzten Situation.

5.7  Disziplinarische Herangehensweise I: Der offizielle Kontrollgang oder: Das Vertrauen des Staates auf Regularien und Institutionen Im Rahmen der regulären Kontrollgänge des MfS – die intern meist als sogenannte OSSD-Komplexkontrollen175 bezeichnet wurden – suchten die MfS-Offiziere ganz offen das Gespräch mit den Beschäftigten eines Produktionsbereiches, um den allgemeinen Zustand der Anlagen und Fabrikhallen zu überprüfen und auf die Einhaltung allgemeiner Betriebsvorschriften und offizieller Weisungen der Kombinatsleitung zu drängen. Eine solche »Komplexkontrolle« fand zum Beispiel im Dezember 1986 im Kombinat Buna statt. Auslöser war hier die Behauptung der Betriebsdirektoren für Thermoplaste, Organische Spezialprodukte, Elaste und Carbid, eine Weisung des Chemieministeriums aus dem Vormonat für eine bessere Instandhaltung nicht umsetzen zu können.176 Ein solches Auftreten gleich mehrerer Direktoren, die »die von ihnen geforderte Disziplin ernsthaft infrage«177 stellten, befand die Objektdienststelle als »nicht akzeptabel« und veranlasste daher eine ausführliche Untersuchung der betroffenen Werkteile. Heraus kam ein umfangreicher Bericht über den Anlagenzustand des Kombinats, an dessen Ende der Leiter der Objektdienststelle, Hans 175  Die Abkürzung »OSSD« stand für Ordnung, Sicherheit, Sauberkeit und Disziplin am Arbeitsplatz und auf dem Werksgelände. Die Formel fand in den Weisungen und Redebeträgen von SED-Funktionären, Kombinatsvertretern und MfS-Offizieren eine häufige Verwendung. 176  Vgl. OD Buna: Aktuelle Erscheinungen im Zusammenhang mit den Stabilisierungsprozessen im Kombinat VEB Chemische Werke Buna vom 22.12.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 1724, Bl. 12. 177 Ebenda.

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Jürgen Schmidt, dem Generaldirektor »zur Wiederherstellung der Gesetzlichkeit« und »zur Disziplinierung leitender Kader« eine »Auflage« erteilte.178 Dieser zufolge sollte zum Beispiel die Betriebsdirektion Energetik die Sauberkeit in den Industriekraftwerken soweit verbessern, dass eine verlässlichere Erzeugung von Prozessdampf sichergestellt werden konnte. Die Betriebsdirektion Thermoplaste wiederum wurde angehalten, Sicherheitsventile bei den PVC-E-Anlagen einzubauen und eine seit Langem geforderte Gefahrenanalyse einzureichen. Und die Betriebsdirektion Elaste hatte den Brandschutz wiederherzustellen, die MSR-Technik besser zu kennzeichnen und einen Beschluss des Chemieministeriums aus dem Jahr 1978 für den Weiterbetrieb der Acetaldehydproduktion umzusetzen. »Zur Kontrolle der Realisierung der zu erteilenden Auflage«, heißt es am Ende, »werden spezifische Mittel und Methoden des MfS eingesetzt.«179 Das MfS trat hier einmal mehr als Ermahner und Sprachrohr auf, diesmal allerdings als Ermahner des Betriebs und Sprachrohr der übergeordneten Ebene, nicht umgekehrt. Es bestand auf Umsetzung der ministeriellen Weisung und baute diese noch durch eigene Auflagen aus. Als Vervielfältiger und Verstärker der externen Anordnungen versuchte die Objektdienststelle hier einen Beitrag zu leisten, um das System der hierarchischen Anleitung der Betriebe auch gegen den Willen von vier Betriebsdirektoren aufrechtzuerhalten. Bei diesem Beispiel wird deutlich, dass das MfS und die übergeordneten Stellen der Wirtschaftsverwaltung die Symptome der Überforderung, wie das verbreitete Chaos auf dem Werksgelände und die resignierende Weigerung der staatlichen Leiter, dagegen vorzugehen, auch ganz grundsätzlich als staatlichen Kontrollverlust werteten, vergleichbar mit den Fehlkalkulationen, Planmanipulationen und Exportrückständen im Rahmen größerer Kompensationsprojekte, die im vergangenen Kapitel beschrieben wurden. Ob die Finanzierungsschwierigkeiten im Bereich des Außenhandels oder die Unzuverlässigkeit bei Technik und Personal im Rahmen der täglichen Produktion. Stets stand die übergeordnete Frage nach der Steuerungsfähigkeit des Staates im Raum. Um sowohl die Ordnung im Betrieb als auch die Anleitungsautorität der staatlichen Organe wiederherzustellen, setzten Ministerien, Kombinate und MfS – das wurde mit der oben beschriebenen Komplexkontrolle deutlich sichtbar – vor allem auf zwei zentrale Elemente: Vorschriften und Institutionen. Auf der einen Seite vertrauten die Verantwortlichen auf Weisungen, Betriebsvorschriften oder »zentrale Beschlüsse«. Im Mai 1985 verabschiedeten zum Beispiel das Politbüro und der Ministerrat die »Grundsätze für die Gewährleistung einer hohen technologischen

178  OD Buna: Bericht über den Stand der Produktions- und Anlagensicherheit in ausgewählten Bereichen im Stammbetrieb des Kombinates VEB Buna-Werke vom 17.12.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 32, Bl. 19. 179 Ebenda.

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Disziplin, Ordnung und Sicherheit in den Kombinaten und Betrieben«.180 Auf der Grundlage dieser übergeordneten Vorgabe entstanden in allen Kombinaten »Leitungsdokumente« der Generaldirektoren, in Leuna zum Beispiel die zentrale »Kombinatsanordnung 105«181 oder in Buna das »Grundlagendokument zur technologischen Disziplin, Ordnung und Sicherheit«182. Diese Grundsatzordnungen wurden wiederum für jeden einzelnen Produktionsbereich durch spezifische »Normative«, »Ordnungen« oder »Maßnahmepläne« konkretisiert.183 Die Forderungen dieser Dokumente waren dabei stets die gleichen, ein Mix aus Kontrollen, Ursachenanalysen, Vorschriften und Trainingsmaßnahmen. Auf der anderen Seite führte diese Flut an Dokumenten und Regularien zu einer ausgesprochenen Vielfalt an Kontrollgremien. Die Leuna-Werke installierten zum Beispiel im Laufe der 1980er-Jahre einen »Beirat für Anlagensicherheit« und für besonders gefährdete Betriebsdirektionen »Arbeitsgruppen zur Auswertung von Störungen«. Sie gründeten ebenso eine »Arbeitsgruppe für materielle Verantwortlichkeit bei subjektiv verursachten Störungen«, einen »Gutachterausschuss für Anlagenstörungen« in der Fachdirektion Produktion und schließlich eine »Zentrale Havariekommission« beim Generaldirektor.184 Nimmt man noch die regulären Direktionen und Stabsorgane für Sicherheitsfragen hinzu – wie den Sicherheitsinspektor des Generaldirektors oder die Fachdirektion für Sicherheit185 – wird ein wahres »Getümmel an Institutionen« (Gieseke) sicht180  Beschluss des Ministerrates: Grundsätze für die Gewährleistung einer hohen technologischen Disziplin, Ordnung und Sicherheit in den Kombinaten und Betrieben zur Steigerung der Effektivität und Qualität der Produktion vom 9.5.1985; BArch, DC 20-I/3, Nr. 2173, Bl. 115. 181  KA 105: »Grundsätze für die Gewährleistung einer hohen technologischen Disziplin, Ordnung und Sicherheit im VEB Leuna-Werk zur Steigerung der Effektivität und Qualität der Produktion«; vgl. Sicherheitsinspektion des Generaldirektors, Kombinat Leuna: Sicherheitspolitische Studie des Kombinats VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« für den Fünfjahresplan 1986–1990 vom 23.12.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 402, Bl. 5. 182  Vgl. OD Buna: Berichterstattung zur Analyse der Durchsetzung des Ministerratsbeschlusses vom 9.5.1985 vom 30.4.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 280, Bl. 5. 183  Beispiele für solche »spezifischen Dokumente« waren »Antihavariemaßnahmepläne«, »Alarmordnungen«, »Brandschutzbestimmungen«, »Ordnungen für Lagerplätze« oder »Ordnungen über den Einsatz von Kräften und Mitteln in außergewöhnlichen Situationen«. Vgl. Möbis: Das Sicherheitsaktiv, S. 876. 184  Bezüglich der Einrichtung neuer Gremien für Sicherheitsfragen vgl. Inspektion des Generaldirektors, Kombinat Leuna: Sicherheitspolitische Studie des Kombinats VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« für den Fünfjahresplan 1986–1990 vom 23.12.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Bl. 41; Inspektion des Generaldirektors, Kombinat Leuna: Information über die Entwicklung, wesentliche Ursachen und begünstigende Bedingungen des Brand-, Stör-, Unfall- und Havariegeschehens vom 13.1.1987; LHASA, MER, I 525, Nr. 18105, n. p. 185  Zu den Stabsorganen des Generaldirektors zählten zum Beispiel in Leuna die Abteilung I für Geheimnisschutz, das Wissenschaftlich-Technische Zentrum, die Rechtsabteilung, die Inspektion des Generaldirektors und das Büro des Generaldirektors. Vgl. Kombinat Leuna: Strukturplan des Generaldirektors in Leuna, 1974; LHASA, MER, I 525, Nr. 14816, Bl. 16.

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bar – eine ausufernde Sicherheitsbürokratie, die mit jeder Havarie und mit jeder Produktionsunterbrechung anzuwachsen schien.186 Mit beiden Instrumenten – Vorschriften und Institutionen – verfolgten die Leitungen der Kombinate und der Wirtschaftsverwaltung das grundsätzliche Ziel, ungeplante Zwischenfälle einzudämmen und ihre eigene Steuerungsfähigkeit wiederherzustellen. Das MfS war in diese Form der staatlichen Krisenreaktion prominent eingebunden. Es zählte im Bereich Anlagensicherheit zu den zentralen Akteuren und stand mit den übrigen Kontrollinstitutionen in einem regen offiziellen und inoffiziellen Austausch. Beispielhaft war etwa die Zusammenarbeit des MfS mit der »Inspektion für Anlagen- und Produktionssicherheit« – kurz: IAPS. Dieser Dachverband für alle betrieblichen und staatlichen Inspektionen war im April 1980 auf Anordnung des Ministerrates gegründet worden. Damit hatte die Regierung eine weitere Institution ins Leben gerufen, um der zunehmenden Instabilität der Produktionsanlagen Herr zu werden.187 Wie intensiv das MfS mit dieser neuen Oberinspektion kooperierte, lässt sich besonders anhand der Buna-Werke veranschaulichen. Hier etablierte die Objektdienststelle mit dem Leiter der IAPS, Armin Hübner, eine enge offizielle Zusammenarbeit. Laut einem Bericht des Referatsleiters für »Produktions- und Anlagensicherheit« der OD, Reinhard Kretschmer, erklärte sich Hübner zum Beispiel im April 1987 bereit, dem MfS alle zwei Wochen seine Informationen, Auflagen und Analysen zur Verfügung zu stellen.188 Zusätzlich gelang es den MfS-Offizieren im März 1988, den Leiter der Brandschutzinspektion und Stellvertreter Hübners als inoffiziellen Mitarbeiter zu gewinnen. Langfristig, so die Planungen des MfS, sollte dieser Funktionär die Gesamtleitung der IAPS übernehmen. Für seinen Stellvertreterposten war bereits ein weiterer IM als »Reservekader« eingeplant.189 An einer offiziellen und inoffiziellen Zusammenarbeit mit der IAPS schien die Geheimpolizei also großes Interesse zu haben. Drei Gründe können hierfür angeführt werden: Zunächst verfügte der zentrale Akteur der werkseigenen Sicherheitsbürokratie über umfangreiches Wissen zu den aktuellen Gebäude- und Anlagenzuständen sowie zum Unfallgeschehen im Betrieb. Die meisten Gutachten des MfS gingen auf die Kenntnisse und Untersuchungen der staatlichen und betrieblichen Inspektionen zurück. Darüber hinaus wollten sich die Offiziere den Kontroll-, Prüf- und Auflagenbefugnissen der IAPS bedienen, zum Beispiel, um Sperrbereiche einzurichten oder Ordnungsstrafen verhängen zu las-

186  Gieseke: Die Stasi, S. 153. 187  Zum Ministerratsbeschluss über die »Maßnahmen zur Erhöhung des Regimes der technischen Sicherheit« vgl. Christ: Wirtschaftsordnung, S. 170. 188  Vgl. OD Buna: Bericht über das durchgeführte Gespräch mit dem Leiter der IAPS vom 3.4.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 34, Bl. 26. 189 Vgl. OD Buna: Bericht über ein operatives Gespräch mit dem Leiter IAPS vom 4.2.1988; ebenda, Bl. 54.

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sen.190 Solche Weisungs- und Sanktionsmittel konnten auch für die Disziplinierung einer bestimmten Person oder einer ganzen Betriebsdirektion im Rahmen eines Operativen Vorgangs des MfS eingesetzt werden. Und schließlich suchten die Offiziere den Kontakt zur IAPS, um die unter ihrem Dach vereinten Inspekteure genauer im Blick zu behalten, um also innerhalb der Betriebe als »Kontrolleur der Kontrolleure« aufzutreten. Dabei wurde das MfS von der Idee geleitet, dass Schwierigkeiten im Bereich der Produktionssicherheit wie häufige Brände oder Produktionsunterbrechungen auch auf eine ineffiziente Kontrollarbeit des Inspektionswesens zurückgeführt werden könnten. Mit der Arbeit Hübners zeigte sich die Objektdienststelle Buna zum Beispiel einigermaßen unzufrieden. In einem Bericht aus dem Juni 1987 erwähnte Referatsleiter Kretschmer, dass »von diesem wesentlichsten Funktionalorgan bezüglich Anlagen- und Produktionssicherheit noch immer zu wenig Wirksamkeit« ausginge.191 »Die erforderlichen Schlussfolgerungen aus unserer Partei-Info zu seiner Person« habe Hübner allerdings gezogen, so Kretschmer weiter. »Im Prinzip« sei er sogar »dankbar«, dass »in Auswertung dieser Information und mithilfe parteilicher Auseinandersetzung die Leistungsfähigkeit seiner Leitungstätigkeit sowie die Wirksamkeit seines Kollektivs wiederhergestellt werden konnte. Insofern war ihm die Einflussnahme des MfS eine ehrliche und wirkungsvolle Unterstützung.«192 5.7.1 Aufwand ohne Nutzen: Der kontraproduktive Effekt des ausgebauten Kontrollregimes Das MfS als »ehrliche und wirkungsvolle Unterstützung« der IAPS? Die fast ironisch klingende Formulierung Kretschmers führt zu der Frage, was genau die Kontrollgänge der Offiziere und ihre intensive Kooperation mit den verschiedenen Inspektionen des Betriebs eigentlich genau bewirken konnten. Resultierten aus dem inspizierenden und disziplinierenden Handeln des MfS und seiner »Partnerorgane« tatsächlich ein größeres Sicherheitsbewusstsein bei der Belegschaft und damit eine bessere Ordnung auf dem Werksgelände? War das gesamte System der Sicherheitsorgane mit seinen Instrumenten der Analysen, Kontrollgänge, Auflagen und Ordnungsstrafen geeignet, die Aufmerksamkeit des Anlagenpersonals zu verbessern, die Abnutzung der Maschinen zu verlangsamen, vermeidbare Fehler zu verhindern und die Vielzahl der Störfälle zu redu190  Über den Rückgriff des MfS auf die rechtlichen Befugnisse der Inspektionen siehe Beutler; Mertens: Mängel und Probleme, S. 242. Über die täglichen Routinearbeiten der IAPS siehe Arbeitsplan der IAPS vom 3.1.1989; ebenda, Bl. 124. 191  OD Buna: Bericht über ein operatives Gespräch mit dem Leiter IAPS vom 9.6.1987; ebenda, Bl. 39. 192  OD Buna: Bericht über ein durchgeführtes operatives Gespräch mit dem Leiter der IAPS vom 3.4.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 34, Bl. 25.

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zieren? Welche Wirkung entfaltete also die erste Herangehensweise des MfS auf der disziplinarischen Seite? Rein statistisch gesehen, schien die Mischung aus Reglementierung, Ermahnung, Motivation und punktueller Sanierung – also das Set an Reaktionen, das sich seit Ende der 1970er-Jahre bei der Störbekämpfung herausgebildet hatte – nicht ganz wirkungslos gewesen zu sein. Zumindest verringerte sich die Anzahl der Störungen in der gesamten DDR-Industrie im Laufe der 1980er-Jahre laut MfS-Zählung deutlich: Wurden im Jahr 1983 republikweit noch 1 543 Schadensfälle verzeichnet, waren es im Jahr 1985 nur noch 1 010 und im Jahr 1987 nur noch 828 größere Vorkommnisse.193 Auch wenn die Abteilung XVIII der Bezirksverwaltung Halle im Jahr 1986 konstatierte, dass eine »Wende noch nicht erzielt werden konnte«, schienen auch die Großkombinate der Chemie im Raum Halle etwas an Stabilität gewonnen zu haben.194 Gab es in den Leuna-Werken im Jahr 1984 noch 667 größere Störfälle, waren es im Jahr 1986 nur noch 304 und im Jahr 1988 lediglich 233 Vorkommnisse.195 In Buna ging die Zahl der registrierten Vorfälle von 201 im ersten Halbjahr 1983 auf 143 im ersten Halbjahr 1984 zurück.196 Ob diese Zahlen tatsächlich als Erfolg der Auflagen und Kontrollen der Objektdienststellen und Inspektionen einzuschätzen sind, ist allerdings fraglich. Zunächst sprach das allgemeine Chaos in den Produktionshallen dagegen: Hier nahmen Korrosion und Abnutzung bis Ende der 1980er-Jahre immer größere Ausmaße an, während die tatsächliche Unordnung mit den vielen Beschlüssen zu Sauberkeit und Disziplin kontrastierte. Aufwand und Ergebnis scheinen in keinem angemessenen Verhältnis gestanden zu haben, bereits das schiere Ausmaß der für die Anlagensicherheit zuständigen Strukturen kann als Indikator für ihre Ineffizienz gedeutet werden. Auch stellte sich in jenen Produktionsabschnitten keine Besserung ein, für die das MfS konkrete Auflagen erteilt und Sicherheitsmaßnahmen eingefordert hatte. Die Mahnungen der Bezirksverwaltung Halle bezüglich der Zustände in der Bitterfelder Salpetersäureanlage, die am Ende keine durchgreifende Modernisierung des Produktionsbereichs auslösten, wurden bereits erwähnt. Ähnlich wirkungslos blieb auch die oben beschriebene Komplexkontrolle der Objekt193  Vgl. ZAIG des MfS: Hinweise zum Schadensgeschehen auf dem Gebiet der Volkswirtschaft und im Verkehrswesen der DDR für die Jahre 1983, 1984, 1985, 1986, 1987 und 1988, erstellt jeweils im Februar des Folgejahres; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 17202, Bl. 24–32, 162–183, 344–362. 194  Abteilung XVIII der BV Halle: Die Entwicklung der politisch-operativen Lage in entscheidenden Bereichen der Volkswirtschaft des Bezirkes Halle vom 12.6.1986; BStU, MfS, BV Halle, Nr. 5222, 2/2, Bl. 565. 195 Vgl. OD Leuna: Einschätzung über das Störgeschehen der OD Leuna. In: Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 24. 196  Vgl. OD Buna: Übersicht über das Gesamtstörgeschehen 1983/1984, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 280, Bl. 91.

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dienststelle Buna im Dezember 1986. So war die Betriebsdirektion Elaste bei dieser Gelegenheit beauftragt worden, die seit 1978 verlangten Mindeststandards für den Weiterbetrieb der Acetaldehydfabrik einzuführen. Zwar folgten darauf tatsächlich einzelne Instandhaltungsarbeiten. Doch bereits im Jahr 1988 wurden diese ohne Angaben von Gründen wieder eingestellt, sodass die schlechten Gesundheits- und Arbeitsbedingungen weitgehend bestehen blieben.197 Im Juni 1989 musste die Objektdienststelle in einem internen Bericht zugeben, dass es im Bereich Acetaldehyd immer noch keine intakten Signalanlagen gebe, die Korrosion hingegen weiter vorangeschritten sei und die Quecksilberbelastung noch immer weit über der Norm liege – kurz: die Situation sich seit 1986 kaum verändert habe.198 Ähnlich wirkungslos blieb auch die Auflage für die Betriebsdirektion Energetik. Hier hatte die Objektdienststelle die Verantwortlichen ermahnt, ein Konzept des Ministerrates für mehr Disziplin und Sauberkeit in den Industriekraftwerken aus dem Juli 1986 umzusetzen, um vor allem die wichtige, aber hoch anfällige Versorgung der Produktionsbereiche mit Prozessdampf abzusichern.199 Auch hier war das Ergebnis wenig zufriedenstellend. Weit entfernt von einer stabilen Fahrweise, kam es in den beiden stark überalterten Kohlekraftwerken I 72 und A 65 des Buna-Kombinats zu immer neuen Zwischenfällen und ungeplanten Abschaltungen. Mit 54 Ausfällen der Dampferzeuger erreichte das Störgeschehen im ersten Quartal 1987 sogar einen neuen Rekordwert.200 Die vielen Unterbrechungen bei der Strom-, Wärme- und Prozessdampfversorgung im Winter 1986/87 veranlassten das Chemieministerium schließlich, die Planungen für ein komplett neues Industriekraftwerk aufzunehmen, das im Jahr 1993 ans Netz gehen sollte.201

197  Vgl. AKG der BV Halle: Ausgewählte Probleme im Bereich Acetaldehyd der Betriebsdirektion Elaste vom 10.6.1989; BStU, MfS, BV Halle, AKG, Nr. 1244, Bl. 134. 198  Vgl. ebenda, Bl. 134 f. 199  Vgl. OD Buna: Bericht über den Stand der Produktions- und Anlagensicherheit in ausgewählten Bereichen im Stammbetrieb des Kombinates VEB Buna-Werke vom 17.12.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 32, Bl. 19. Über das »Konzept zur Sicherung der Prozessdampferzeugung« des Ministerrates vom 3.7.1986 vgl. Büro des Generaldirektors, Kombinat Buna: Begründung für die erforderlichen Maßnahmen im Kombinat Buna, 1988–1995, 1987; LHASA, MER, I 529, Nr. 3746, n. p. 200  Vgl. Betriebsdirektion Energetik, Kombinat Buna: Störungsauswertung, I. Quartal 1987 vom 8.5.1987; LHASA, MER, I 529, Nr. 5956, n. p. Im dritten Quartal 1986 zählte die Betriebsdirektion Energetik 42 Störfälle. Vgl. Betriebsdirektion Energetik, Kombinat Buna: Störauswertung, III. Quartal 1986 vom 20.10.1986; LHASA, MER, I 529, Nr. 5951, n. p. 201  Laut dem Beschluss des Ministerrates vom 12.2.1987 und des Präsidiums des Ministerrates vom 29.10.1987 sollte das neue »Ersatzkraftwerk III« mit einem Investitionsaufwand von 1,9 Mrd. Mark bis 1993 errichtet werden. Um dieses Projekt zu finanzieren, wurde auf eine Erneuerung der Salpetersäureanlage in Bitterfeld vorerst verzichtet. Vgl. SED-Kreisleitung Kombinat Buna: Material für Sondersekretariatssitzung der Kreisleitung der SED Buna, o. D.;

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Das Auftreten des MfS und das System der Kontrollen als Ganzes hatte demnach nur begrenzte Auswirkungen. Auch wenn die Geheimpolizei in einzelnen Fällen die Inspektionen durchaus zielgenau auf bestimmte Missstände ausrichten und in den Gremien der SED für ein stärkeres Problembewusstsein sorgen konnte, gelang es ihr am Ende nicht, das betriebliche Kontrollregime zu einer nachhaltigen Stabilisierung des Anlagenbetriebs und einer wirkungsvollen Disziplinierung der Kader zu befähigen. Auf der einen Seite produzierte das MfS – und mit ihm die immer neuen Gremien und Inspektionen – häufig nur eine Vervielfältigung der ohnehin schon zahlreichen Analysen und Kontrollgänge.202 Dadurch entstand zwar mehr Papier, aber keineswegs eine höhere Sicherheit und Verlässlichkeit der Produktionsabläufe. Auf der anderen Seite führte das disziplinarische Herangehen zu einer ausgeprägten Vermeidungshaltung der betrieblichen Funktionäre – Störfälle wurden nicht mehr gemeldet und die Ursachen einzelner Zwischenfälle verschleiert. »Störungen fallen auf den Leiter zurück und bringen nur Kritik ein«, so fasste die Bezirksverwaltung Halle die Stimmung unter den Führungskräften der Chemiekombinate im August 1979 zusammen.203 Zwischenfälle anzuzeigen, so die gängige Meinung, bringe keine Unterstützung, sondern nur »Prämienabzug« und Nachteile bei der »Wettbewerbsführung« ein – alles in allem also ein nutzloser, ja sogar schädlicher »administrativer Akt«. Laut Schätzungen des MfS lag die Zahl der tatsächlichen Zwischenfälle in den drei großen Hallenser Chemiekombinaten daher deutlich höher, in den Leuna-Werken zum Beispiel um ganze »30 bis 50 Prozent über den gemeldeten Störungen«.204 An dieser Stelle wird deutlich, dass dem kontrollierenden und disziplinarischen Auftreten der Offiziere und der übrigen Inspektoren etwas Kontraproduktives anhaftete: das System der Störerfassung wurde geschwächt, eine selbstkritische Debatte über die Ursachen der innerbetrieblichen Probleme umgangen und unkonventionelle Lösungsansätze behindert. Gut möglich, dass das Arbeiten mit Auflagen, Ermahnungen und regulären Kontrollgängen – das eigentlich als ein Element der Krisenbewältigung gedacht war – am Ende sogar zu einer Verschlechterung der instabilen Produktionsbedingungen geführt hatte.

LHASA, MER, I 529, Nr. 3746, n. p.; siehe ebenso Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 40 u. Abschnitt 5.5.2. 202  Vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 153. 203  Anlage eines Briefes der Bezirksleitung der SED an den Leiter der BV Halle des MfS: Darstellung der Situation in ausgewählten Betrieben des Bezirkes unter besonderer Berücksichtigung des Havarie-, Brand- und Störgeschehens vom 11.9.1979, abgedruckt in: Plötze: Chemiedreieck, S. 53. 204 Ebenda.

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5.8  Disziplinarische Herangehensweise II: Abhilfe bei chronischen Schwierigkeiten – Der OV »Reko« und die Klage über eine »Produktionsideologie« Der Unwille einiger Leiter, Zwischenfälle zu erfassen oder Weisungen des Chemieministeriums umzusetzen, bestärkten die MfS-Offiziere in ihrer Überzeugung, dass die Betriebe der chemischen Industrie ein effektiveres Kontrollregime dringend benötigten. Wie bei der engen Zusammenarbeit mit der IAPS bereits sichtbar geworden, erachteten sie dabei auch den Einsatz geheimpolizeilicher Mittel, also die Arbeit mit konspirativen Quellen und systematischen Überwachungsprogrammen, als wirkungsvolle Antwort auf das Krisengeschehen. Vor allem der Rückgriff auf inoffizielle Mitarbeiter weckte hohe Erwartungen. Vom Einsatz sogenannter Signal-IM an neuralgischen Stellen im Werk versprach sich das MfS zum Beispiel ein ehrlicheres Feedback über die tatsächliche Gefahrenlage bei den technischen Anlagen und damit die Möglichkeit, Havarierisiken im Vorfeld zu erkennen und zu entschärfen.205 Ein Großteil der rekrutierten inoffiziellen Mitarbeiter in den Chemiekombinaten diente daher – zumindest auf dem Papier – den Referaten für Produktions- und Anlagensicherheit. Die Objektdienststelle Buna ordnete zum Beispiel im Jahr 1985 fast die Hälfte ihrer IM-Basis – 98 von 203 Personen206 – der Kategorie »Brände und Störungen« zu.207 In den Leuna-Werken wurden im Jahr 1989 ein Fünftel und in Bitterfeld im gleichen Jahr ein Drittel aller IM für diesen Bereich eingesetzt. Damit rekrutierten die Objektdienststellen weit mehr inoffizielle Mitarbeiter für das Überwachungsfeld »Anlagensicherheit«, als für den zentralen Schwerpunkt »Außenwirtschaft«.208 Dass die Offiziere umfassend auf geheimpolizeiliche Methoden vertrauten, hing allerdings nicht nur mit ihren Erwartungen an verlässlichere Rückmeldungen und präventive Sicherungsmaßnahmen zusammen. Ausschlaggebend war auch, dass sie schlicht über keine Alternativen verfügten. Um die Fahrweise der veralteten Anlagen zu stabilisieren und die Gefahren in den verschlissenen Werkshallen einzudämmen, hatten die MfS-Offiziere neben Begutachtungen und offiziellen Kontrollgängen kein anderes Instrument im Repertoire, als ein Netz aus konspirativen Zuträgern aufzuspannen und fallweise einzelne leitende 205  Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 32. 206  Vgl. Müller-Enbergs: Statistiken, S. 572. 207  Vgl. OD Buna: IM-Bestand im Bereich Brände und Störungen, 1985; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 417, Bl. 123. 208  Anteil der inoffiziellen Mitarbeiter in den Referaten »Produktions- und Anlagensicherheit« (PAS) und »Außenwirtschaftsbeziehungen« (AWB) im Jahr 1989: OD Leuna: 21 % PAS/ AWB: 9 %; OD Buna: 35 % PAS/AWB: 13 %; OD CKB: 32 % PAS/AWB: 19 %; vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 17; Gilles; Hertle: Stasi in der Produktion, S. 126.

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Funktionäre oder bestimmte Werksbereiche mithilfe von Operativen Vorgängen zu überwachen. Wie bereits bei der Überwachung des Außenhandels wird auch an dieser Stelle die mechanische Arbeitsweise der MfS-Offiziere deutlich, die auf relativ akute Krisenszenarien – wie dem drohenden Zusammenbruch ganzer Produktionslinien – mit den immer gleichen Instrumentarien und Standardprozeduren einer Sicherheitsbürokratie reagierten. Wie genau die Objektdienststellen ihre geheimpolizeiliche Komponente einsetzten, zeigt der zweite Auftritt des MfS auf der disziplinarischen Seite der Krisenreaktion: der Versuch, mithilfe eines sogenannten OV gegen Unbekannt die Ursachen für chronische Schwierigkeiten in einer bestimmten Betriebsdirektion oder bei einem konkreten Einzelprojekt ausfindig zu machen. Als Beispiel dafür soll im folgenden Abschnitt der Operative Vorgang »Reko« vorgestellt werden, mit dem die Objektdienststelle Bitterfeld seit Februar 1981 auf das großangelegte Modernisierungsvorhaben »RSM«209 Einfluss nehmen wollte. Was veranlasste die Offiziere dazu, das innovative Sanierungsprojekt des Generaldirektors Schwarz mit geheimpolizeilichen Maßnahmen zu begleiten? Auslöser war eine allgemeine Unzufriedenheit der MfS-Offiziere mit der schleppenden Umsetzung des Programms. Seit Ende der 1970er-Jahre war die Generalinventur zunehmend ins Stocken geraten: Sanierungen wurden aufgeschoben, verantwortliche Stellen zeigten sich wenig kooperativ und der erwartete Produktionszuwachs – einst das Hauptargument für die Bewilligung der Investition – ließ auf sich warten. Nach Meinung der Objektdienststelle gingen all diese Probleme aber nicht auf die schwindende Unterstützung des Kombinats durch das Politbüro zurück, sondern vielmehr auf die »ungenügende leitungsmäßige Vorbereitung und Beherrschung des Gesamtprozesses RSM durch die zuständigen Fachdirektionen«.210 Feststellen mussten die Offiziere eine »Nichtbeherrschung der Komplexität« vor allem bei der Generaldirektion des Kombinats, die die »Bewältigung der Aufgabenstellung« deutlich »unterschätzt« habe.211 Die geheimpolizeiliche Methode eines Operativen Vorgangs sollte in dieser Situation Abhilfe schaffen. Dabei verdächtigten die Offiziere zunächst alle betei­ ligten Führungskräfte pauschal einer »fahrlässigen Verletzung ihrer beruflichen Pflichten« (§ 165 StGB), die am Ende zu einer »schweren wirtschaftlichen Schädigung« (§ 167 StGB) des Produktionsstandorts geführt habe: »Aufgrund der vorliegenden Gesamtlage und den daraus für die Planerfüllung 1981 resultierenden Untererfüllungen und Reduzierungen der staatlichen Auflagen wird vor­ 209  Das Kürzel »RSM« steht für Rationalisierung, Stabilisierung und Modernisierung und bezeichnet ein Sanierungsprogramm, das ab 1976 durch den Bitterfelder Generaldirektor Heinz Schwarz vorangetrieben wurde. Siehe Abschnitt 5.4.3. 210  OD CKB: Eröffnungsbericht zum OV »Reko« vom 26.2.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 2560/82, Bd. 2, Bl. 4. 211 Ebenda.

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geschlagen, eine vorgangsmäßige Bearbeitung des operativ bedeutsamen Sachverhaltes gegen Unbekannt gemäß des Verdachtes von Handlungen nach §§ 165, 167 StGB einzuleiten«, so der Einleitungsbericht des OV »Reko«.212 Was sollte nun eine solche Ermittlung »gegen Unbekannt« bewirken? Drei Ziele skizzierten die Offiziere zu Beginn des Vorgangs, die zusammengenommen das allgemeine Reaktionsmuster des MfS auf dem Überwachungsfeld »Produktions- und Anlagensicherheit« wiedergaben: Analysen, Kontrollen und Disziplinierungen. Erstens sollten die Ursachen des Missmanagements und die daraus resultierenden ökonomischen Kosten genau ermittelt werden. Zweitens sollte eine »MfS-gelenkte Expertengruppe« aus »betrieblichen und staatlichen Kontrollorganen« den Sanierungsfortschritt vor Ort begutachten. Ausgewählt wurden hier die Altanlage Chlorate, die Farbstofffabrik in Wolfen und der modernisierte Produktionsstandort »Chlor IV«.213 Und schließlich sollten für die Probleme beim RSM-Programm einzelne Verantwortliche gefunden und offen oder verdeckt bestraft werden. Der sogenannte Operativplan nahm hierbei die »Durchsetzung von disziplinarischen Maßnahmen und Ordnungsstrafverfahren schon während der operativen Bearbeitung« in Aussicht.214 Zwei Dinge waren bei diesen Zielstellungen auffällig: Zum einen die Fokussierung des MfS auf leitende Funktionäre, bei denen die eigentlichen Ursachen für die Erfolglosigkeit des Modernisierungsprojekts vermutet wurden. Zum anderen der Anspruch der Offiziere, einen ökonomischen Beitrag leisten zu wollen. Der Einsatz geheimpolizeilicher Methoden sollte also nicht nur der Aufklärung einer möglichen Straftat dienen, sondern auch mithelfen, einen bestimmten Betriebsteil wieder funktionstüchtig zu machen oder ein konkretes Planvorhaben – hier das RSM-Projekt – zum Erfolg zu führen. Knapp zwei Jahre später zeigte sich die Objektdienststelle davon überzeugt, dass der OV »Reko« einen solchen substanziellen ökonomischen Beitrag auch tatsächlich geleistet hatte, zumindest behauptete der Abschlussbericht im September 1982, »dass insbesondere zur weiteren Stabilisierung der Produktionssicherheit eine Vielzahl vorbeugender Maßnahmen realisiert und damit die Zielstellung erreicht wurde«.215 Doch welche »vorbeugenden Maßnahmen« waren damit konkret gemeint? Auf welchen Wegen sollte es den Offizieren gelungen sein, die Produktionssicherheit im Kombinat Bitterfeld zu stabilisieren? Wirft man einen genaueren Blick auf die Ergebnisse des Vorgangs, wird schnell deutlich, dass außer zwei routinehaften »Komplexkontrollen« in der Chlor-IV-Anlage und im Farbstoffneubau nicht viel geschehen war. In den wirk212 Ebenda. 213  Ebenda, Bl. 5. 214  OD CKB: Operativplan zum OV »Reko« vom 26.2.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 2560/82, Bd. 2, Bl. 7. 215  OD CKB: Abschlussbericht zum OV »Reko« vom 15.9.1982; ebenda, Bd. 2, Bl. 35.

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lich gefährdeten und sanierungsbedürftigen Werkshallen, wie der Aluminiumfabrik oder der Chlorelektrolyse, ließen sich die Vertreter der Objektdienststelle und der übrigen Inspektionen so gut wie nicht blicken. Eine überzeugende Erklärung für den schleppenden Verlauf des Sanierungsprogramms wurde im Abschlussbericht des Überwachungsvorgangs nicht geboten. Und eine professionellere Umsetzung des RSM-Projekts konnte der Einsatz »operativer Mittel« ebenfalls nicht bewirken – im Gegenteil. Ab 1981 fuhren übergeordnete Stellen das Programm schrittweise zurück; im Jahr 1983 wurde es sogar ganz abgebrochen. Die ambitionierte Zielstellung des OV stand damit im Kontrast zu seinem dürftigen Ergebnis; der ganze Vorgang entpuppte sich schnell als nutzloser Routineakt einer Sicherheitsbürokratie. Als führende Funktionäre des Kombinats, allen voran der Generaldirektor Heinz Schwarz, den Versuch unternahmen, für eine Erweiterung oder wenigstens Verlängerung des Investitionsprogramms zu werben, sprang ihnen das MfS nicht helfend zur Seite. Vielmehr unternahmen die vorgangsführenden Mitarbeiter den Versuch, genau wie im Einleitungsbericht angekündigt, disziplinarisch zu wirken – bei den Verantwortlichen vor Ort wurden ja die eigentlichen Ursachen der betriebswirtschaftlichen Probleme vermutet. Doch selbst an dieser Stelle, beim Einsatz bestrafender und erzieherischer Mittel, zeigte sich das MfS eigentümlich handlungsunfähig. Exemplarisch dafür steht der Versuch, gegen den Produktionsdirektor Hans Lohmann vorzugehen, der als zweitwichtigster Mann neben dem Generaldirektor besonders mit dem Missmanagement beim RSM-Programm in Verbindung gebracht wurde. Das MfS warf ihm vor allem vor, Verzögerungen beim prestigeträchtigen Farbstoffneubau über längere Zeit geduldet zu haben.216 Aus diesem Grund verlangte der Leiter der Bitterfelder Objektdienststelle, Werner Kirchner, im Januar 1982 eine innerbetriebliche Maßregelung Lohmanns – eine Forderung, die im Kombinat allerdings auf wenig Resonanz stieß. Zumindest hält ein interner Bericht fest, dass »dem Generaldirektor vorgeschlagen [wurde], gegen den Produktionsdirektor Dr. Hans Lohmann ein Disziplinarverfahren einzuleiten, was er aber aus unbekannten Gründen nicht durchführte«.217 Hinter der Idee, Lohmann unter Druck zu setzen, stand eine simple Logik: Wenn Funktionäre in leitender Verantwortung die Hauptquelle für die Missstände im Betrieb waren, so musste deren Disziplinierung eine nachhaltige Wirkung entfalten. Besonders effektiv wäre dann die Disziplinierung jenes obersten Funktionärs, der allen anderen Führungskräften in den Produktionsbereichen vorgesetzt war. Doch diese aus Sicht der Offiziere schlüssige Strategie scheiterte an der mangelnden Kooperation des Generaldirektors. In einer Zeit, in der das 216  Vgl. OD CKB: Sachstandsbericht vom 18.1.1982; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 2560/82, Bd. 2, Bl. 23. 217 Ebenda.

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Kombinat enorme Exportanstrengungen zu leisten hatte und um die Weiterführung des Sanierungsprojekts RSM kämpfte, wollte und konnte Schwarz auf seinen Chefplaner und engsten Vertrauten Lohmann nicht verzichten.218 Damit zeigte sich das MfS in diesem Fall außerstande, selbst eine vergleichsweise harmlose Sanktion wie einen Verweis oder eine Abmahnung innerhalb des Kombinats in die Wege zu leiten. Ähnlich zahnlos trat der Papiertiger »MfS« auch nach einer Havarie in der erneuerten Fabrik »Chlor IV« auf. Nach einem Brand in einem Zellensaal sahen die Offiziere der Objektdienststelle ein vorsätzliches Handeln bei einem Abschnittsleiter und einem Schichtleiter als erwiesen an. Auch aus Sicht der Staatsanwaltschaft Halle lag der Straftatbestand der Brandstiftung zweifelsfrei vor.219 Dennoch war es dem MfS nicht möglich, im Rahmen des laufenden »OV Reko« ein offizielles Strafverfahren zu initiieren; »zentrale Stellen« außerhalb des Kombinats, so der Abschlussbericht des Überwachungsvorgangs, würden dies verhindern. Damit war wohl das Ministerium für Chemische Industrie oder die Bezirksleitung der SED in Halle gemeint, in jedem Fall eine höhere Instanz, die nach den Worten der Objektdienststelle »negative ideologische Auswirkungen« befürchtete und daher eine Weiterführung der Chlorproduktion als weit wichtiger erachtete, als den »positiven Effekt eines Strafverfahrens«. »Aufgrund der vorhanden Situation im CKB, dass die Produktion vor der Sicherheit steht und diese Produktionsideologie durch die übergeordnete Leitung in die Köpfe hineingetragen wird, sind zur Zeit keine strafrechtlichen Maßnahmen möglich«, so die abschließende Erklärung der Objektdienststelle.220 Die Veranlassung von Sanktionen scheiterte hier also sowohl auf dem Weg über das Werk als auch auf dem Weg über die Justiz. Mal legten »übergeordnete Stellen« ein Veto ein und mal verweigerte der Generaldirektor die Zusammenarbeit. Ähnlich wie im Fall Günther Eßbach, dem Leiter der Wolfener Farbstoffforschung, der im 3. Kapitel vorgestellt wurde, kam das MfS mit seiner indirekten und delegierenden Arbeitsweise auch hier schnell an seine Grenzen. Im Ganzen betrachtet, erwies sich dieser »OV gegen Unbekannt« als ähnlich wirkungslos wie die zuvor beschriebenen offiziellen Kontrollgänge der Offiziere: Der »analytische Beitrag« blieb marginal, die disziplinarischen Versuche hatten keinen Erfolg und ein echter »Stabilisierungseffekt« vor Ort kam nicht zustande. Dabei zeigt sich rückblickend, dass das MfS vor allem durch das übergeordnete Dogma »Produktion um jeden Preis« ausgebremst wurde, einem Leistungsdruck, der zu einem guten Teil für jenes Missmanagement und jene prekären 218  Über die zentrale Rolle Lohmanns im Kombinat Bitterfeld siehe Schwarz: Prägungen, S. 186. 219  Vgl. OD CKB: Abschlussbericht zum OV »Reko« vom 15.9.1982; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, AOP 2560/82, Bd. 2, Bl. 35. 220 Ebenda.

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Produktionsbedingungen verantwortlich war, die mit den geheimpolizeilichen Mitteln eigentlich bekämpft werden sollten.

5.9  Disziplinarische Herangehensweise III: Ermittlungen im Ausnahmezustand Der oben beschriebene Überwachungsvorgang steht beispielhaft für den Versuch des MfS, chronische Probleme bei einem bestimmten Projekt oder in einem bestimmten Werksbereich mithilfe geheimpolizeilicher Methoden zu analysieren und, wenn möglich, auch zu überwinden. Im Folgenden soll die Reaktion der MfS-Offiziere auf einen konkreten industriellen Störfall thematisiert werden. Auch hier wurde das MfS mit konspirativen und disziplinarischen Mitteln aktiv, besonders dann, wenn sich eine bestimmte politische, strafrechtliche oder ökonomische Tragweite des Zwischenfalls abzuzeichnen begann. In diesem Abschnitt steht die Frage im Mittelpunkt, ob das MfS in solchen zugespitzten Ausnahmesituationen irgendetwas ausrichten konnte, zum Beispiel das Kombinat zu überzeugen, die Ursachen einer Havarie zu beseitigen oder personelle und organisatorische Veränderungen einzuleiten. Die Art und Weise, wie das MfS auf verschiedenen Ebenen auf eine akute Störung reagierte, welche Instrumente es dabei einsetzte und welche Folgen sich daraus für die betroffenen Personen ergaben, sollen anhand dreier Fallbeispiele vorgestellt werden: der Explosion einer Kalanderanlage im Bunaer Kombinatsbetrieb Orbitaplast im Jahr 1986, dem Vergiftungstod zweier Strafgefangener in den Bitterfelder Chlorelektrolysen in den Jahren 1980 und 1982 sowie dem unmittelbar bevorstehenden Kollaps der Altanlage Chlorate im Kombinat Bitterfeld im Jahr 1985. 5.9.1 Fallbeispiel I: Der Großbrand im VEB Orbitaplast Weißandt-Gölzau Das erste Fallbeispiel handelt von einem Großbrand in der Kunststofffabrik Orbitaplast in der anhaltinischen Kleinstadt Weißandt-Gölzau. Der an die Buna-Werke angegliederte Kombinatsbetrieb erlebte am 28. August 1986 eine schwere Katastrophe, als in einer Werkshalle ein hochentzündliches Gemisch aus Staub, Luft und Paraloid221 Feuer fing und die dadurch ausgelöste Explosion zwei wertvolle Heizwalzen zur Herstellung von Hartfolien zerstörte.222 221  Zusatzstoff für die Herstellung von PVC, der über die Festigkeit der Kunststofffolien entscheidet. 222  Vgl. Marcus Michel: Krankhafte Angst der Stasi vor einer Sabotage. In: Mitteldeutsche Zeitung vom 18.8.2011, S. 8.

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Um die Reaktion des MfS auf dieses Ereignis besser verstehen zu können, muss zunächst auf die Vorgeschichte der ausgebrannten Heizwalzen eingegangen werden. Der Betrieb Orbitaplast hatte eine dieser Walzen, den »Kalander 7«, erst wenige Jahre zuvor von einem italienischen Hersteller im Wert von 26 Millionen DM erworben.223 Mit dem Einkauf einer solchen modernen Anlage war es dem Werk gelungen, zum Alleinhersteller für exportfähige Hartfolien für anspruchsvolle Verpackungsmaterialien aufzusteigen. Seit der Inbetriebnahme der neuen Hochleistungswalze im Jahr 1982 produzierte der Buna-Standort für Kunststoffhalbzeuge pro Tag etwa 56 Tonnen Folien und erzielte damit einen Exporterlös von gut 450 000 Mark.224 Bei der Produktionshalle, die im August 1986 durch den Großbrand schwer beschädigt wurde, hatte es sich also um einen ökonomisch hoch relevanten Vorzeigebereich im Kombinat Buna gehandelt. Umso erstaunlicher ist es, dass die Abteilung Kalander schon lange vor dem Unglück, eigentlich seit Beginn der Neuinvestition, immer wieder durch technische Probleme und organisatorisches Missmanagement von sich reden machte. Wie das vergangene Kapitel gezeigt hatte, war bereits die Planung des Kompensationsprojekts ab 1979 durch fehlendes Personal und mangelnde Qualität des notwendigen PVC-Pulvers beeinträchtigt worden.225 Nachdem die Produktion schließlich zu Beginn des Jahres 1982 angelaufen war, kam es immer wieder zu ungeplanten Unterbrechungen. Zwischen 1982 und 1985 traten zehn größere Havarien auf, allein im ersten Halbjahr 1985 wurden 65 Störungen registriert. Im Geschäftsjahr 1984/85 musste die neue Walze ganze 38 Tage stillstehen.226 Die unregelmäßige Fahrweise verursachte Exportausfälle im Wert von bis zu 3 Millionen DM pro Jahr, sodass die Refinanzierung der Anlage deutlich in Verzug geriet.227 Aufgrund der ökonomischen Bedeutung des Kalanders und der intensiven Kooperation der Kalanderabteilung mit westlichen Unternehmen weckte das in Schwierigkeiten geratene Projekt frühzeitig auch das Interesse des MfS, hier 223  Vgl. KD Köthen: Eröffnungsbericht OV »Kalander« vom 17.7.1985; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 2074/87, Bd. 1, Bl. 11. 224  Vgl. Michel: Krankhafte Angst der Stasi, S.  8; Marcus Michel: Einblick zurück auf den Großbrand 1986 bei Orbita. In: Mitteldeutsche Zeitung v. 17.2.2008, https://www.mzweb.de/koethen/ein-blick-zurueck-auf-den-grossbrand-1986-bei-orbita-8306574, abgerufen am 3.1.2018. 225  Siehe Kapitel 4, Abschnitt 4.6.1. 226 Vgl. KD Köthen: Eröffnungsbericht OV »Kalander« vom 17.7.1985; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 2074/87, Bd. 1, Bl. 12; vgl. KD Köthen: Sachstandsbericht zum OV »Kalander« vom 18.10.1985; ebenda, Bd. 1, Bl. 62. 227  Vgl. Sicherheitsinspektion des Generaldirektors, Kombinat Buna: Sicherheitspolitische Studie des Kombinats VEB Chemische Werke Buna mit Schlussfolgerungen für den Zeitraum 1986–1990, 1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Nr. 280, Bl. 26; vgl. KD Köthen: Sachstandsbericht zum OV »Kalander« vom 18.10.1985; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 2074/87, Bd. 1, Bl. 62.

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vor allem das der Abteilung XVIII der Bezirksverwaltung Halle und der Kreisdienststelle Köthen, in deren Zuständigkeitsbereich der Kombinatsbetrieb Orbitaplast lag. Besonders die Unordnung in der Werkshalle war den Offizieren auf ihren Kontrollgängen nicht verborgen geblieben: Die Lüftungstechnik sei defekt, mehrere Walzen korrodiert und Kabelkanäle mit Wasser gefüllt, hielt zum Beispiel ein Protokoll der Abteilung XVIII aus dem Jahr 1985 fest.228 Die unübersehbare Verwahrlosung in der Fabrik führten die MfS-Offiziere in erster Linie auf eine »äußerst schlechte Leitungstätigkeit« vom Betriebsdirektor bis zum Abschnittsleiter zurück.229 Sie verletzten systematisch die Gesundheits- und Brandschutzbestimmungen, vernachlässigten die Instandhaltung und achteten nicht auf eine ausreichende Ersatzteilversorgung der Anlagen, so ein Bericht der KD Köthen.230 Ein weiteres Mal, davon waren die Offiziere überzeugt, bringe im Fall Kalander das »ausgeprägte Desinteresse« und das »nicht vertretbare niedrige Verantwortungsbewusstsein« der staatlichen Leiter ein großes Investitionsvorhaben in Gefahr.231 Um das Störgeschehen zu reduzieren und einen geordneten Anlagenbetrieb sicherzustellen, musste sich nach Meinung der Kreisdienststelle vor allem bei der Disziplin der Funktionäre etwas ändern. Auf zwei Wegen versuchten die Offiziere ab Mitte der 1980er-Jahre, dieses Ziel zu erreichen: mithilfe offizieller Druckmittel wie Auflagen und Aussprachen und mit dem Versuch, rechtliche Verfehlungen mit nachrichtendienstlichen Methoden nachzuweisen. Zunächst vertrauten die Offiziere auf eine direkte Kommunikation mit den Verantwortlichen. Dafür stellten sie wieder einmal – ähnlich wie beim OV »Reko« in Bitterfeld – eine »Expertengruppe« zusammen, diesmal unter der Leitung des Sicherheitsbeauftragten Günter Raschendörfer, der dem MfS als »Offizier im besonderen Einsatz« diente.232 Zusammen mit Vertretern des Kombinats und Fachleuten der TH Merseburg und des Wissenschaftlich-Technischen Zentrums für Arbeitsschutz in der Chemischen Industrie Halle konsultierte Raschendörfer im Sommer 1985 20 leitende Funktionäre der Abteilung Kalander, um sie an ihre Pflichten für die Pflege und Bedienung der Walzanlagen zu erin-

228 Vgl. Abteilung XVIII der BV Halle: Zwischenbericht zum Stand der Bearbeitung des OV »Kalander« vom 23.9.1985; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 2074/87, Bd. 1, Bl. 36–38. 229 Ebenda. 230  Vgl. KD Köthen: Eröffnungsbericht OV »Kalander« vom 17.7.1985; ebenda, Bd. 1, Bl. 12; vgl. KD Köthen: Sachstandsbericht zum OV »Kalander« vom 18.10.1985; ebenda, Bd. 1, Bl. 62. 231  Abteilung XVIII der BV Halle: Zwischenbericht zum Stand der Bearbeitung des OV »Kalander« vom 23.9.1985; ebenda, Bd. 1, Bl. 36. 232  Vgl. ebenda.

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nern. Geprüft wurde, ob sie Brandschutzbelehrungen durchführten, Reparaturen anwiesen und die Einhaltung der Werksordnung kontrollierten.233 Parallel dazu veranlasste die Kreisdienststelle einen Kontrollgang der Staatlichen Finanzrevision und der Arbeitsschutzinspektion des FDGB, um eventuelle Verletzungen von technischen Vorschriften zu registrieren und die Höhe der entstandenen Sachschäden zu ermitteln. Nach Angaben der Abteilung XVIII der BV Halle zeigten sich die leitenden Mitarbeiter der Abteilung Kalander dabei allerdings wenig kooperationswillig. So seien die Finanzinspektoren über das wahre Ausmaß der Kosten getäuscht und die »eingeleiteten Disziplinarmaßnahmen« abgewehrt worden, wie ein Sachstandsbericht der Dienststelle hervorhob.234 Um den Druck auf das Personal vor Ort zu erhöhen, erarbeitete Raschendörfers Expertengruppe zehn Sofortmaßnahmen, die der Leiter der Kreisdienststelle Köthen, Karl-Heinz Conrad, dem Betriebsdirektor von Orbitaplast, Rudolf Schnittfincke, im September 1985 in Form einer Auflage überreichte.235 Gefordert wurde darin unter anderem eine sofortige Generalinstandsetzung des Kalanders, der Einbau neuer Messgeräte, die Verbesserung der Hallenbelüftung und eine Konkretisierung der betrieblichen Vorschriften.236 Schnittfincke wurde vom Leiter der Kreisdienststelle angehalten, bis Ende September schriftlich über die Umsetzung dieser Maßnahmen Vollzug zu melden.237 Die Intervention des MfS schien beim Betriebsdirektor einigermaßen Eindruck hinterlassen zu haben. Zumindest berichtete Raschendörfer der Kreisdienststelle, dass Schnittfincke eilig eine Sondersitzung der Leitungsmitglieder einberufen und die Auflage des MfS verlesen habe. »Sichtlich verärgert und gereizt«, so Raschendörfer, habe er dabei festgestellt, »dass diese Auflage ein Spiegelbild unserer Arbeit, besonders gegenüber der Untersuchungsgruppe« sei.238 Die geforderte Stellungnahme zur Auflage des MfS überreichte Schnittfincke nach nur wenigen Tagen persönlich an den KD-Leiter Conrad. Dabei ver233  Vgl. KD Köthen: Bericht zur Absprache mit der BV Halle vom 23.7.1985; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 2074/87, Bd. 1, Bl. 17. 234  Abteilung XVIII der BV Halle: Ergebnisbericht zum Stand der Bearbeitung des OV »Kalander« vom 9.5.1986; ebenda, Bd. 1, Bl. 228. 235  Vgl. Inspektion des Generaldirektors: Probleme K7 – Empfehlungen der Expertenkommission des MfS an den Direktor des Betriebs Orbitaplast Schnittfincke vom 23.1.1986; ebenda, Bd. 1, Bl. 210; vgl. Schreiben des KD-Leiters Conrad an Betriebsdirektor des VEB Orbitaplast Weißandt-Gölzau Rudolf Schnittfincke vom 11.9.1985; ebenda, Bd. 1, Bl. 191. 236  Vgl. Inspektion des Generaldirektors: Probleme K7 – Empfehlungen der Expertenkommission des MfS an den Direktor des Betriebs Orbitaplast Schnittfincke vom 23.1.1986; ebenda, Bd. 1, Bl. 210. 237  Vgl. Schreiben des KD-Leiters Conrad an Betriebsdirektor des VEB Orbitaplast Weißandt-Gölzau Rudolf Schnittfincke vom 11.9.1985; ebenda, Bd. 1, Bl. 191. 238  KD Köthen: Abschrift der Information über die Auswertung einer Auflage des Leiters der KD Köthen des MfS an den Direktor des Betriebs, Dr. Schnittfincke, vom 3.10.1985; ebenda, Bd. 1, Bl. 277.

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sicherte er ihm, dass ein Maßnahmeplan erarbeitet sei, dessen Umsetzung von ihm persönlich kontrolliert werden würde.239 Conrad nutzte dieses Zusammentreffen mit Schnittfincke allerdings, um noch einmal scharfe Kritik an der Leitungsebene des Kombinatsbetriebs Orbitaplast zu üben. »Eure Leiter sind alles Lügner, haben nicht die Wahrheit gesagt«, so überliefert Raschendörfer eine Aussage Conrads, der sich dabei vor allem auf das Verhalten der Abteilungsleiter gegenüber der Finanzrevision bezog. »Er war so geschockt, dass er darauf nicht antworten konnte«, so Raschendörfer über die Reaktion Schnittfinckes. »So etwas habe er noch nicht erlebt. […] Man kann doch nicht einzelne für »alle« Leiter bezeichnen.« Im Stammwerk Buna habe er »mit den Genossen vom MfS gut zusammengearbeitet […]. So ein Verhältnis wie dieses gab es nicht«, beschwerte sich Schnittfincke laut den Aufzeichnungen Raschendörfers.240 Die Grundsatzkritik des Dienststellenleiters war Teil der ersten Strategie des MfS, Ordnung in die Problemabteilung Kalander zu bekommen. Dabei arbeiteten die Offiziere neben Ermahnungen und Auflagen vor allem mit Kontrollgängen der Inspektionen und mit Aussprachen zwischen den Funktionären und den Vertretern der Expertengruppe. Ähnlich wie beim OV »Reko« blieb die Wirkung all dieser disziplinarischen Maßnahmen allerdings überschaubar. »Lediglich verbal« würde der Betrieb die Anordnungen der Kreisdienststelle und Empfehlungen der Expertengruppe anerkennen, so eine Feststellung der Abteilung XVIII der Bezirksverwaltung Halle aus dem Mai 1986.241 Tatsächlich umgesetzt würden sie nur sehr langsam. Als Beispiel nannte die Abteilung XVIII die Generalinstandsetzung des neuen Kalanders, die im Herbst 1985 versprochen, aber erst ein halbes Jahr später in Angriff genommen wurde.242 »Hartnäckig« würden sich die Leiter des Betriebs jeder »Disziplinierung entziehen«.243 Eine »Wende zur Minimierung des Störgeschehens« sei mit diesem Verhalten nicht absehbar. Hohe Ausfallquoten und regelmäßige technische Störungen, so die Offiziere, blieben in Orbitaplast auch in der ersten Hälfte des Jahres 1986 weiter auf der Tagesordnung. Waren die Offiziere mit ihrer zweiten Herangehensweise – dem Versuch, ausgewählten Funktionären eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Missstände in der Abteilung Kalander nachzuweisen – erfolgreicher? Zunächst 239 Vgl. KD Köthen: Bericht des Sicherheitsbeauftragten Raschendörfer, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 2074/87, Bd. 1, Bl. 280. 240 So die Aufzeichnungen des Sicherheitsbeauftragten Raschendörfer, o. D.; ebenda, Bd. 1, Bl. 280. 241  Abteilung XVIII der BV Halle: Ergebnisbericht zum Stand der Bearbeitung des OV »Kalander« vom 9.5.1986; ebenda, Bd. 1, Bl. 229. 242  Vgl. ebenda. 243  Abteilung XVIII der BV Halle: Entscheidungsvorschlag zum Stand der Bearbeitung des OV »Kalander« vom 31.3.1987; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 2074/87, Bd. 2, Bl. 56.

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bereitete es den Offizieren auch auf diesem Weg Schwierigkeiten, ihre selbstgesteckten Ziele zu erreichen. In den Mittelpunkt ihrer konspirativen Ermittlungen hatten die Offiziere den Leiter der Abteilung Kalander, den Direktor für Technik und den Abteilungsleiter für Instandhaltung gerückt. Um aufzuzeigen, dass diese Führungskräfte maßgeblich das Störgeschehen mit verursacht hatten, eröffneten sie im Juli 1985 den Operativen Vorgang »Kalander« wegen Verdachts auf »fahrlässige Beschädigung von Produktionsmitteln«.244 Zusätzlich hatte die Kreisdienststelle bereits im August 1984 begonnen, den Betriebsdirektor Schnittfincke im Rahmen der OPK »Rohr« genauer in den Blick zu nehmen.245 Ziel der beiden Vorgänge war es, die Voraussetzungen für strafrechtliche Maßnahmen auszuloten. Doch auch in diesem Fall gelang es den Offizieren nicht, die Missstände in der Kalanderhalle überzeugend auf das Handeln des überwachten Personenkreises zurückzuführen. Zu diesem Ergebnis kam die Untersuchungsabteilung der Bezirksverwaltung Halle ein halbes Jahr später, im Januar 1986, als sie die Beweisführung der Kreisdienststelle kritisch kommentierte. Zwar mussten auch die Vertreter der Linie IX zugeben, dass die Reparatur und Pflege des Kalanders völlig vernachlässigt worden war. Eine Reduzierung der Ursachen auf den Bereich Technik, Instandhaltung und Betriebsleitung, wie es die Kreisdienststelle nahelegte, sei ihrer Meinung nach aber dennoch unzulässig.246 Bei einem derart umfassenden Projekt wie der Errichtung einer neuen Heizwalze seien ebenso Funktionäre aus den Bereichen Forschung, Absatz sowie der Sicherheitsinspektion und der Kaderabteilung involviert. Eine solche »komplexe Verantwortlichkeit« sowie die starke »Verflechtung der Störursachen« würden eine genaue strafrechtliche Bewertung unmöglich machen, so die Argumentation der Abteilung IX.247 Grundsätzlich konstatierten die Offiziere eine »mangelhafte Leitungstätigkeit […] auf allen Ebenen im VEB Orbitaplast«.248 Um sich weitere »äußerst schwierige« und »sehr aufwendige« strafrechtliche Ermittlungen zu ersparen, empfahl die Untersuchungsabteilung ein weiteres Mal, auf das bürokratische Instrument einer Auflage zurückzugreifen.249 Dass damit im Laufe des Jahres 1986 keine Stabilisierung der Folienproduktion erreicht werden konnte, wurde bereits oben dargestellt. Beide Strategien des MfS – der Einsatz von Beauflagungen und Aussprachen und die Durchführung 244  KD Köthen: Eröffnungsbericht OV »Kalander« vom 17.7.1985; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 2074/87, Bd. 1, Bl. 13. 245  Vgl. KD Köthen: Eröffnungsbericht OV »Rohr« vom 6.11.1986; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 3064/87, Bd. 1, Bl. 14. 246  Vgl. Abteilung IX der BV Halle: Strafrechtliche Einschätzung zum OV »Kalander« vom 15.1.1986; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 2074/87, Bd. 1, Bl. 71. 247  Ebenda, Bl. 76. 248  Ebenda, Bl. 75. 249  Ebenda, Bl. 77.

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geheimpolizeilicher Maßnahmen – hatten sich damit als weitgehend wirkungslos erwiesen. Die Katastrophe im Sommer 1986 mussten die Offiziere daher wie eine nachträgliche Bestätigung empfunden haben – sowohl für ihre Vorwürfe gegenüber den Verantwortlichen in Orbitaplast als auch für die Erfolglosigkeit ihrer eigenen »operativen« Anstrengungen. Am 28. August 1986 ging der neu importierte Kalander und mit ihm die gesamte Produktionshalle in Flammen auf. Ein Kurzschluss an einem Elektrogabelstapler hatte einen Behälter mit explosionsgefährdeten Zusatzstoffen in Brand gesetzt.250 Wirklichkeit wurde damit auch eine fast schon prophetische Aussage der Abteilung XVIII aus dem Oktober 1985, dass aufgrund der Arbeitsbedingungen in der Kalanderabteilung »weitere schwere Havarien zu erwarten« seien.251 Wie reagierte das MfS auf diesen erneuten Zwischenfall, der alle bisherigen Störfälle in den Schatten stellte und bei einem Anlagenfahrer zum Vergiftungstod durch Kohlenmonoxidgase und bei einem weiteren zu schweren Verletzungen führte und darüber hinaus Sachschäden von über 44 Millionen Mark verursachte?252 In dieser Ausnahmesituation konzentrierten sich die Offiziere ganz auf den Nachweis einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Zunächst wurde der OV »Kalander« auf den Direktor für Produktion ausgeweitet und um die Straftatbestände »Brandstiftung« und »fahrlässige Verursachung eines Brandes« ergänzt.253 Zwar gelang es den Ermittlern auch diesmal nicht, die vier verdächtigten Funktionäre einer Straftat zu überführen. Doch erhielten immerhin zwei der überwachten Personen, der Direktor für Produktion und der Leiter der Abteilung Kalander, auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft Halle ein Ordnungsstrafverfahren durch die Arbeitsschutzinspektion des FDGB. Zusätzlich wurde 250  Vgl. AKG der Bezirksverwaltung Halle: Dokumentation, 1987; BStU, MfS, BV Halle, AKG, Nr. 357, Bl. 13. 251 KD Köthen: Sachstandsbericht zum OV »Kalander« vom 18.10.1985; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 2074/87, Bd. 1, Bl. 66. 252  Über die finanziellen Kosten der Katastrophe kursieren unterschiedliche Angaben. Die Bezirksverwaltung Halle beziffert den Gebäudeschaden auf 7 Mio. und den Schaden bei technischen Ausrüstungen auf 37 Mio. Mark. Die Diensteinheit geht zusätzlich von gesamtwirtschaftlichen Kosten von über 176 Mio. Mark aus. Vgl. BV Halle des MfS: Lageeinschätzung auf dem Gebiet Brände und Störungen in der Volkswirtschaft des Bezirkes Halle, 1986; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 434, Bl. 49; ebenso BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 172, Bl. 40. In den Unterlagen der KD Köthen wird ein Ausfall von »Industrieller Warenproduktion« im Wert von 65 Mio. Mark angegeben. Die Kosten für den Wiederaufbau der Kalanderanlage werden hier auf 60 Mio. Mark geschätzt. Vgl. KD Köthen: Eröffnungsbericht OV »Rohr« vom 6.11.1986; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 3064/87, Bd. 1, Bl. 14. Der Journalist Marcus Michel nennt eine Schadenssumme von 15 Mio. Mark für technische Ausrüstungen und 5 Mio. Mark für die zerstörte Fabrikhalle. Vgl. Marcus Michel: Einblick zurück auf den Großbrand 1986 bei Orbita. In: Mitteldeutsche Zeitung v. 17.2.2008, https://www.mz-web.de/koethen/ ein-blick-zurueck-auf-den-grossbrand-1986-bei-orbita-8306574, abgerufen am 3.1.2018. 253  Vgl. KD Köthen: Abschlussbericht zum OV »Kalander« vom 10.6.1987; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 2074/87, Bd. 2, Bl. 61.

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gegen beide ein betriebsinternes Disziplinarverfahren eingeleitet.254 Die gleichen Sanktionen mussten auch der Leiter der IAPS, der Brandschutzinspektor sowie ein Abschnitts- und ein Schichtleiter erdulden.255 In den Mittelpunkt der Bemühungen von MfS und Staatsanwaltschaft, die Katastrophe in Weißandt-Gölzau strafrechtlich aufzuklären, geriet aber der Direktor von Orbitaplast, Rudolf Schnittfincke. Ihm wurde vor allem zur Last gelegt, die regelwidrige Lagerung von hochexplosiven Stoffen über Jahre geduldet zu haben. Die ermittelnden Offiziere der Abteilung IX und der Kreisdienststelle Köthen, die nach dem Kalanderbrand eine gemeinsame Untersuchungsgruppe eingerichtet hatten, hoben in ihren Ermittlungsberichten besonders hervor, dass Schnittfincke bereits im Oktober 1984 von der Staatsanwaltschaft Karl-MarxStadt in einem Beschwerdebrief auf die fehlenden Vorkehrungen zum Brandschutz in seinem Betrieb aufmerksam gemacht worden war.256 Zudem hätten leitende Mitarbeiter die akute Brandgefahr in der Kalanderhalle immer wieder angesprochen. Aufgrund der Dimension des Vorfalls und der zahlreichen Vorwürfe gegen Schnittfincke war es den Offizieren an dieser Stelle vergleichsweise einfach möglich, eine Bestrafung auf dem juristischen Weg zu erreichen. Am 6. September 1986 leitete die Kriminalpolizei erste Ermittlungen gegen Schnittfincke ein, die schon wenige Tage später von der Abteilung IX der Bezirksverwaltung Halle des MfS übernommen wurden.257 In der Folgezeit führten MfS-Offiziere mehrere konspirative Durchsuchungen des Büros und der Privatwohnung Schnittfinckes sowie zwei längere Vernehmungen des Betriebsdirektors durch.258 Im November 1986 empfahl der Leiter der Bezirksverwaltung Halle, Karl Heinz Schmidt, bei der Staatsanwaltschaft Halle Haftbefehl gegen Schnittfincke zu beantragen.259 Zeitgleich stufte die KD Köthen die bereits laufende OPK »Rohr« zu einem Operativen Vorgang hoch.260 Im Mai 1987 mündete das durch das MfS geführte Ermittlungsverfahren schließlich in der Anklageerhebung vor dem Bezirksgericht Halle. Die Richter sahen schnell den Vorwurf der »Brandstiftung«, der »fahrlässigen Verursachung eines Brandes« und der »Verletzung der Gesundheits- und Arbeitsschutzbestimmungen« als erwiesen an. Schnittfincke, der be254  Vgl. AKG der Bezirksverwaltung Halle: Dokumentation, 1987; BStU, MfS, BV Halle, AKG, Nr. 357, Bl. 23–30. 255  Vgl. ebenda. 256  Vgl. Abteilung IX der BV Halle: Information zum Stand der Untersuchungen im EV gegen Unbekannt vom 19.9.1986; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 3064/87, Bd. 1, Bl. 58. 257  Vgl. Abteilung IX, NSAG: Information vom 14.10.1986; ebenda, Bd. 1, Bl. 59. 258  Vgl. ebenda; vgl. BV Halle des MfS: Information zum Stand der Untersuchungen vom 2.12.1986; ebenda, Bd. 1, Bl. 67. 259  Vgl. Bezirksverwaltung Halle des MfS: Information über Ursachen und Pflichtverletzungen vom 24.11.1986; ebenda, Bd. 1, Bl. 65. 260  Vgl. KD Köthen: Eröffnungsbericht OV »Rohr« vom 6.11.1986; ebenda, Bd. 1, Bl. 14.

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reits seit Dezember in der Untersuchungshaftanstalt des MfS in Halle einsaß, wurde im Juni 1987 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und einer Schadensersatzzahlung von 2 500 Mark verurteilt. Dieser Richterspruch markierte den Abschluss eines zügigen und vergleichsweise harten Vorgehens des MfS und der Justizorgane gegen den Leiter einer Fabrik, die von einem andauernden Ausnahmezustand gekennzeichnet war. Nachdem es den Offizieren des MfS und den Vertretern der übrigen staatlichen Kontrollorgane über Jahre nicht gelungen war, mit »operativen« oder disziplinarisch-bürokratischen Mitteln die Leiter in Orbitaplast auf Linie zu bringen, einzelne Schuldige für das Missmanagement auszumachen und die Anlagenstabilität zu verbessern, erkannten sie nach der schweren Havarie die Chance, ein wirkungsvolles Exempel zu statuieren. Dabei sollte die Botschaft vermittelt werden, dass nicht so sehr einzelne technische Probleme, sondern die Pflichtverletzung leitender Kader, allen voran die des Betriebsdirektors Schnittfincke, die chronische Instabilität der Anlagen und die abschließende Katastrophe in Orbitaplast verursacht hätten. Nicht zufällig wurde daher die Entscheidung des Gerichts vor einem geladenen Publikum verkündet. Die Abteilung IX des MfS hatte dafür unter anderem einzelne staatliche Leiter der Chemiekombinate Buna, Leuna und Bitterfeld sowie ausgewählte Vertreter des Chemieministeriums, des Staatlichen Amtes für technische Überprüfung, des Zentralkomitees der SED, der regionalen Kreisleitungen der SED sowie der drei Objektdienststellen des MfS im Bezirk Halle eingeladen.261 Darüber hinaus veranstaltete die SED im Kombinat Buna im Juli 1987 eine »Parteiaktivtagung« für leitende Parteimitglieder, auf der der Fall Schnittfincke noch einmal ausführlich ausgewertet wurde. Vor den versammelten Fach- und Betriebsdirektoren, Abteilungsleitern und Sekretären der Abteilungsparteiorganisationen referierte der für das Verfahren verantwortliche Staatsanwalt über die Wichtigkeit der Produktionssicherheit und die Gefährdung, die durch Fahrlässigkeit und regelwidriges Verhalten verursacht würden. Ordnung und Sauberkeit, so seine zentrale Botschaft, seien keine Sache des persönlichen Ermessens, sondern eine »Frage der Gesetzlichkeit«.262 Und schließlich erarbeitete die Auswertungs- und Kontrollgruppe der Bezirksverwaltung Halle eine detaillierte Dokumentation des Großbrands und seiner Ursachen.263 Mithilfe von Abbildungen und Erläuterungen sollte deutlich gemacht werden, welche gravierenden Folgen eine Verletzung des Arbeits- und Brandschutzes haben konnte. Sowohl den Diensteinheiten des MfS

261  Vgl. Abteilung IX der BV Halle: Vorschlag zur Durchführung der gerichtlichen Hauptverhandlung vom 26.5.1987; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 3064/87, Bd. 1, Bl. 124. 262  KD Köthen: Information vom 17.7.1987; ebenda, Bd. 1, Bl. 135. 263  Vgl. AKG der Bezirksverwaltung Halle: Dokumentation, 1987; BStU, MfS, BV Halle, AKG, Nr. 357.

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als auch den Kreis- und Bezirksleitungen der SED und dem Rat des Bezirks wurde diese Fallbeschreibung als Schulungsmaterial zur Verfügung gestellt.264 Unübersehbar bemühten sich die Vertreter der SED und des MfS also, das Unglück von Orbitaplast im Nachhinein erzieherisch auszunutzen. Damit war die Hoffnung verbunden, dass die harte Bestrafung Schnittfinckes und die intensive Auswertung des Strafprozesses die leitenden Funktionäre in den Buna-Werken und in den übrigen Chemiekombinaten nachhaltig für die Beachtung der betrieblichen Vorschriften sensibilisieren könnten. Zwei Dinge waren bei dieser Vorgehensweise auffällig: Zum einen die Reduzierung der Verantwortlichkeit auf einen kleinen Kreis von Funktionären, am Ende vor allem auf die Person Schnittfincke, dessen Pflichtverletzungen als Hauptursache für die vielfältigen technischen und organisatorischen Schwierigkeiten hingestellt wurden. Diese starke Fokussierung auf einzelne Leiter löste vor allem im engeren Bekanntenkreis des ehemaligen Betriebsdirektors Befremden aus. Nach Darstellung der Abteilung XVIII der BV Halle meinte ein ehemaliger Kollege Schnittfinckes, »dass er es nicht fassen kann, dass ein so hohes Strafmaß ausgesprochen wurde. […] Er vertritt die Auffassung«, so der Bericht weiter, »dass das, was mit Schnittfincke passiert ist, täglich jedem staatlichen Leiter widerfahren kann. Deshalb sei keiner mehr bereit, Verantwortung zu übernehmen.«265 Zum anderen ist bemerkenswert, dass in all den Auswertungsrunden, Dokumentationen und internen Ermittlungsberichten des MfS und der Staatsanwaltschaft nur wenig von den strukturellen Ursachen der Regelverletzungen die Rede war. Warum war die Instandsetzung des Kalanders immer wieder verschoben und die Pflege der Anlagenteile über Jahre vernachlässigt worden? Warum hatte sich das Anlagenpersonal überfordert gezeigt? Wieso waren hochexplosive Stoffe vorschriftswidrig in der Nähe der Heizwalzen gelagert worden? Mit dem Aufwerfen solcher Fragen hätten sich die Offiziere und Sachverständigen mit einigen grundsätzlichen Problemen der Wirtschaftsorganisation auseinandersetzen müssen, etwa mit dem Fachkräftemangel und der mangelhaften Finanzausstattung der Betriebe oder mit ihrer unterentwickelten Infrastruktur, die unter anderem im Fehlen von Lagerhallen und Reparaturtechnik sichtbar wurde. Kenntnisse von diesen tieferliegenden Ursachen der prekären Anlagensicherheit besaßen die Ermittler zur Genüge. Im Oktober 1985 machte zum Beispiel ein inoffizieller Mitarbeiter die Kreisdienststelle Köthen darauf aufmerksam, dass die Reparaturfachleute in Orbitaplast 18 Stunden am Tag im Einsatz seien, ohne dabei ausreichend von der SED und der Betriebsleitung unterstützt zu werden. »Die moralische Begeisterung der Kollegen steigt und fällt mit dem Einsatz von 264  Vgl. Abteilung IX: Schreiben an Leiter der BV Halle. Erläuterungen über die vorliegende Dokumentation vom 10.9.1987; ebenda, Bl. 1. 265  Abteilung XVIII der BV Halle: Information zum OV »Rohr« vom 16.6.1987; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 3064/87, Bd. 1, Bl. 130.

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Originalersatzteilen«, so der IM.266 Arbeitsgruppen mit Sachverständigen, wie die des Sicherheitsinspektors Raschendörfer, seien zwar sinnvoll, würden das Grundproblem der unzureichenden Materialversorgung aber nicht lösen.267 Doch anstatt auf solche Hinweise einzugehen und neue Ideen für einen stabileren Produktionsablauf zu entwickeln, versuchten die Offiziere einfach per Auflage, den Arbeits- und Brandschutz wiederherzustellen und das Management vor Ort zu verbessern. Dass der Einsatz von Aussprachen, geheimen Überwachungsprogrammen und öffentlichkeitswirksamen Strafverfahren die tatsächlich verbreitete Unachtsamkeit und Verantwortungslosigkeit der Leitungskader und des sonstigen Personals reduzierte, ist nicht ersichtlich. Der verheerende Brand in Weißandt-Gölzau brach aus, obwohl Orbitaplast schon Gegenstand intensiver Aktivitäten zur Verbesserung der Anlagensicherheit war, was einmal mehr die fehlende Effektivität der MfS-Maßnahmen auf dem Arbeitsfeld Brände und Störungen deutlich macht. 5.9.2 Fallbeispiel II: Der Tod zweier Häftlinge in den Bitterfelder Chlorfabriken Ein weiteres Beispiel für das Aktivwerden des MfS bei schwerwiegenden Störfällen trug sich im Kombinat Bitterfeld zu: die Reaktion auf den Vergiftungstod zweier Strafgefangener in den Chlorfabriken I und III Anfang der 1980erJahre. Auch hier versuchten die Offiziere mit disziplinarischen Mitteln, einen ökonomisch hoch relevanten Produktionsabschnitt zu stabilisieren. Der Fall zeigt zunächst eine erstaunliche Passivität des Sicherheitsapparates, ein langes Nicht-Handeln, das erst mit der Zäsur zweier Todesfälle in hektische Betriebsamkeit umschlug. Durchaus ideenreich begannen Vertreter des Kombinats, des MfS und der staatlichen Inspektionen anschließend, verschiedene Krisensymptome zu kurieren, um allerdings auf eine Behebung der tieferliegenden strukturellen Probleme der Chlorfabriken einmal mehr zu verzichten. Doch wie war es zu diesem tragischen Vorfall gekommen? Um den Hintergrund des Unglücks genauer zu verstehen, muss man sich zunächst den Zustand der Chlorfabriken268 auf dem Bitterfelder Kombinatsgelände in den 1970erund 1980er-Jahren vergegenwärtigen: Ihre Dächer und tragenden Wände waren instabil, ihre Fundamente mit Rissen durchzogen und die Betonkonstruktionen 266 KD Köthen: Abschrift eines IM-Berichts vom 28.10.1985; BStU, MfS, BV Halle, KD Köthen, AOP 2074/87, Bd. 1, Bl. 287. 267  Vgl. KD Köthen: Abschrift eines IM-Berichts vom 28.10.1985; ebenda. 268  Zu den vier Chlorelektrolysen zählten die Altfabriken Chlor I und III, der Anfang der 1980er-Jahre modernisierte Bereich »Chlor IV« – alle drei in Bitterfeld – sowie eine Chlorelektrolyse in Wolfen.

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der Elektrolyseanlagen korrodiert.269 Unübersehbar zeigten sich Technik und Betreiberpersonal der Chlorfabriken durch die hohen Planvorgaben des Chemieministeriums überfordert, daran hatten auch einige punktuelle Sanierungen im Rahmen des RSM-Programms nichts ausrichten können. Doch an einem Zurückfahren der Produktion war nicht zu denken, schon gar nicht zu Beginn der 1980er-Jahre, da das reaktionsfreudige Chlor die Grundlage für zahlreiche exportrelevante Produkte wie Medikamente, Kunststoffe, Pflanzenschutzmittel oder Wasserstoff darstellte.270 Zudem genoss Flüssigchlor in Bitterfeld ein gewisses Prestige, da es seit der Gründungszeit des Industriestandorts hergestellt wurde, also zu den Traditionsprodukten im Chemierevier zählte. Etwa 100 000 Tonnen flossen jährlich aus den Elektrolysezellen. Ein Volumen, mit dem das Werk die Chlorversorgung im gesamten Wirtschaftsraum des RGW sicherzustellen hatte.271 Aufgrund dieser besonderen ökonomischen Bedeutung war die Kombinatsführung nicht gewillt, auf die prekären Arbeitsbedingungen an den Chlorelektrolyseanlagen Rücksicht zu nehmen – selbst dann nicht, als die Risiken im Laufe der 1970er-Jahre immer unverantwortlichere Ausmaße annahmen. Auslöser zahlreicher Unfälle und Verletzungen war dabei vor allem das für die Chlorgewinnung angewendete Amalgamverfahren, bei dem eine Lösung aus Natrium- und Kaliumchlorid zwischen graphithaltigen Elektroden und quecksilbergefüllten Anoden elektronisch getrennt wurde.272 Heraus kam neben Chlor ein Gemisch aus Quecksilber, Alkalilauge273 und Wasserstoff, das in einem sogenannten Turmzersetzer weiter verarbeitet wurde.274 Um die chemischen Reaktionen in den Elektrolysewannen permanent am Laufen zu halten, war es notwendig, die Graphitanoden täglich auszuwechseln, ein Vorgang, bei dem die Arbeiter unmittelbar mit einer heißen Quecksilberchloridlösung in Berührung kamen. »Beim Öffnen der Bäder und dem Herausziehen der verschlissenen Anodenreste tropft aus dem anhaftenden Graphitschlamm metallisches Quecksil269  Vgl. OD CKB: Lageeinschätzung über Chlorerzeugung, -verflüssigung, -transport in Rohrleitungen und auf Schiene im VEB CKB vom 6.4.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1127, Bl. 119–123. 270 Über die wirtschaftliche Bedeutung von Chlor siehe https://www.basf.com/de/de/company/about-us/sites/ludwigshafen/commitment-for-the-region/education/angebote-7-13/unterrichtsmaterialien/Chloralkalielektrolyse.html abgerufen am 3.1.2018. 271  Vgl. OD CKB: Lageeinschätzung über Chlorerzeugung, -verflüssigung, -transport in Rohrleitungen und auf Schiene im VEB CKB vom 6.4.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1127, Bl. 119. 272  Über das alternative Diaphragmaverfahren in der Chlorfabrik IV siehe Abschnitt 5.4.3. 273  Alkalilauge bezeichnet die wässrige Lösung von Natrium- und Kaliumhydroxit. 274  Zum Amalgamverfahren für die Herstellung von Chlor siehe auch OD CKB: Lageeinschätzung über Chlorerzeugung, -verflüssigung, -transport in Rohrleitungen und auf Schiene im VEB CKB vom 6.4.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1127, Bl. 120 sowie Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck, S. 96.

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ber in den Zellensaal«, so ein Bericht der Hauptabteilung XVIII aus dem Jahr 1981.275 Die Gesundheitsbelastung einer solchen Tätigkeit sprengte jede Vorstellung. Mit hohen Temperaturen von bis zu 50 Grad, einer chlor- und quecksilbergesättigten Luft und einer hohen Explosionsgefahr durch Chlorate und Wasserstoff zählten die Chlorfabriken zu den gefährlichsten Arbeitsplätzen im Kombinat.276 Dass die Fabrikleiter Mühe hatten, unter diesen Bedingungen eine stabile Belegschaft aus zivilen Arbeitskräften aufzubauen, versteht sich von selbst. Schon frühzeitig, seit 1972, mussten daher Strafgefangene als Ersatzkräfte herhalten, im Jahr 1983 zum Beispiel 116 Häftlinge aus der Strafvollzugsanstalt Bitterfeld.277 Ihr Einsatz zeigt, dass eine Stilllegung der Chloranlagen unter allen Umständen vermieden werden sollte. Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen war mit dieser Notlösung allerdings nicht verbunden – im Gegenteil. »Durch notwendige Sicherheitsmaßnahmen des Strafvollzugs wurden natürliche Be- und Entlüftungsöffnungen im Bauwerk zugemauert«, stellte die Arbeitsschutzinspektion im Jahr 1981 fest.278 Fenster, Türen, Luken, Lichtschächte – Öffnungen jeglicher Art, die als potenzielle Fluchtwege dienen konnten, wurden von den Vertretern der Strafvollzugseinrichtung verschlossen. Solche Maßnahmen führten in der Folgezeit noch einmal zu einer deutlichen Verschlechterung der Raumluft. Am Ende war die Belastung so stark, dass die Beschäftigten in regelmäßigen Abständen aus den Zellensälen herausgenommen und »zur Erholung« in die benachbarte Blockgießerei gebracht werden mussten.279 Selbst Vertreter der Kombinatsleitung hatten die ermittelten Urin- und Blutwerte immer öfter als zu riskant eingestuft. Ohne Zweifel lag hier also eine Ausnahmesituation vor, bei der irgendeine Intervention aus dem vielfältigen Kontrollnetzwerk im Kombinat angebracht gewesen wäre. Doch obwohl die systematische Verletzung der Bau-, Arbeits- und Hygienebestimmungen offenkundig war, zeigten leitende Funktionäre und mit ihnen die Offiziere des MfS für die Lage der Arbeiter in den Chlorfabriken we275  Abteilung XVIII/BuS der BV Halle: Untersuchungsbericht zu tödlichen Quecksilbervergiftungen im CKB vom 1.5.1981, abgedruckt in: Plötze: Chemiedreieck, S. 64. 276  Vgl. OD CKB: Lageeinschätzung über Chlorerzeugung, -verflüssigung, -transport in Rohrleitungen und auf Schiene im VEB CKB vom 6.4.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1127, Bl. 119; vgl. ebenso Christ: Wirtschaftsordnung, S. 195. 277  Insgesamt arbeiteten im Jahr 1983 511 Häftlinge im Kombinat Bitterfeld. Vgl. StVE Bitterfeld: Kurzeinschätzung zur Situation in den Chlorbetrieben« vom 6.4.1983, Anhang eines Schreibens des Leiter der StVE Bitterfeld an Werner Czogalla, 1. Sekretär der SED-Kreisleitung im Kombinat Bitterfeld, abgedruckt in: Plötze: Chemiedreieck, S. 75. Über den Beginn des Einsatzes von Strafgefangenen ab 1972 siehe das Schreiben von Heinz Schwarz an Werner Czogalla vom 29.5.1981; LHASA, MER, I 509, Nr. 846, n. p. 278  Abteilung XVIII/BuS der BV Halle: Untersuchungsbericht zu tödlichen Quecksilbervergiftungen im CKB vom 1.5.1981, abgedruckt in: Plötze: Chemiedreieck, S. 63. 279  Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck, S. 87.

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nig Interesse. Dies änderte sich auch nicht am 12. April 1980, als sich der erste Todesfall eines Strafgefangenen aus der Fabrik Chlor III ereignete. Ein 22-jähriger Arbeiter war an diesem Tag an einer akuten Blutvergiftung durch Quecksilber verstorben.280 »Die in den Körper eingeatmeten Hg-Dämpfe«, heißt es in einem späteren Untersuchungsbericht des MfS zur Todesursache, »werden aufgrund der Körpertemperatur von 37 Grad nicht kondensiert, sodass sie Lunge, Niere und Blutbahn diffundieren und dort zur Zersetzung des Blutes führen. Ein Ausstoß dieser Gifte erfolgt dann über die Gewebezellen nach außen.«281 Auch nach diesem Vorfall hielten sich die Offiziere und die übrigen betrieblichen und staatlichen Inspektionen auffallend zurück. Die Produktion lief weiter, als wäre nichts geschehen. Spürbare Konsequenzen gab es keine – bis zum 9. März 1981. An diesem Tag verbreitete sich die Nachricht im Kombinat, dass ein weiterer Strafgefangener, diesmal aus der Chlorfabrik I, einer akuten Nierenentzündung erlegen war.282 Die Leipziger Universitätsklinik konnte auch bei ihm eine erhebliche Überschreitung der Quecksilberwerte im Urin feststellen.283 Auf die staatlichen und betrieblichen Kontrollorgane wirkte sich dieser zweite Todesfall wie eine Initialzündung aus.  Auf einmal reagierten sie mit einer ganzen Reihe von Aktivitäten. Im April 1981 leitete zum Beispiel die Brandschutzinspektion der Deutschen Volkspolizei Halle strafrechtliche Ermittlungen wegen Verdachts auf eine »fahrlässige Tötung« ein.284 Zeitgleich stellte die Kombinatsführung hastig eine Expertengruppe aus Medizinern, Technikern und Vertretern der Arbeitshygieneinspektion zusammen, um die Ursachen der Quecksilbervergiftung »konsequent aufzudecken«.285 Aus diesen Beratungen unter der Leitung des Produktionsdirektors Hans Lohmann ging ein »Sofortprogramm« hervor, das unter anderem eine bessere gesundheitliche Überwachung der Beschäftigten und einige technische Neuerungen in den Elektrolysehallen beinhaltete.286 An erster Stelle jedoch stand eine Belehrung der Strafgefangenen über ihre individuelle Reinlichkeit, denn die »Nichteinhaltung der persönlichen Hygiene […] beim Umgang mit Hg«, so die Argumentation des Generaldirektors Heinz Schwarz, habe maßgeblich zu den katastrophalen Zuständen in den Chlorfabri280  Vgl. Abteilung XVIII/BuS der BV Halle: Untersuchungsbericht zu tödlichen Quecksilbervergiftungen im CKB vom 1.5.1981, abgedruckt in: Plötze: Chemiedreieck, S. 59. 281  Ebenda, S. 64. 282  Vgl. ebenda, S. 59. 283  Vgl. Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck, S. 100. 284  Ob es zu einer Anklageerhebung vor Gericht kam, ist laut Vesting nicht überliefert. Vgl. ebenda, S. 101. 285  Schreiben von Heinz Schwarz an Werner Czogalla vom 29.5.1981; LHASA, MER, I 509, Nr. 846, n. p. 286  Vgl. ebenda.

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ken beigetragen. »Es ist keine Seltenheit«, führte Schwarz in einem Schreiben vom 29. Mai 1981 an den 1. Sekretär der Kreisleitung, Werner Czogalla, aus, dass Kollegen 25 Jahre und länger in den Elektrolysen arbeiten. Selbst 40-jährige Dienstjubiläen konnten begangen werden. Der [1981 verstorbene Strafgefangene] war in Chlor I drei Monate beschäftigt, davon zwei Monate als Badewärter an einem Hg-exponierten Arbeitsplatz. Eine Hg-Vergiftung unter diesen Umständen ist Fachleuten der Produktion nicht erklärlich. Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass absichtlich und vorsätzlich die Bestimmungen beim Umgang mit Hg missachtet werden, um persönliche Vorteile zu erzwingen (Erreichung Invalidität bzw. Arbeitsplatzwechsel).287

Laut Schwarz lag die Hauptverantwortung für die Todesfälle also bei den »Sonderarbeitskräften« selbst, die Elektrolyseanlagen hingegen liefen ordnungsgemäß, wie er in seinem Schreiben hervorhob, eine Aussetzung der Häftlingsarbeit, gar eine Schließung der Chlorfabriken, kam für ihn nicht infrage.288 Selbst einen schnelleren Austausch der Arbeiter wollte er unter allen Umständen verhindern und warnte diesbezüglich vor »ernsthaften Besetzungsproblemen«.289 Wäre es nach ihm gegangen, hätte die Produktion weiterlaufen sollen wie bisher. Ein paar Schulungsmaßnahmen und eine Verschärfung der Arbeitsvorschriften hätten als Antwort auf den »Zwischenfall« genügt. In einer Zeit, in der das Kombinat enorme Exportauflagen zu stemmen hatte, wollte Schwarz auf den exportträchtigen Sektor »Chlor« am allerwenigsten verzichten. Doch wie reagierte das MfS in dieser Situation? Genügten den Offizieren ebenfalls ein paar disziplinarische Mittel und eine bessere Vorbereitung der Beschäftigten? Fest steht, dass auch die Vertreter der Geheimpolizei nach dem zweiten Todesfall ihre Passivität überwanden und sich den Zuständen in den Chlorfabriken zuwandten. Im April 1981 ließ die Abteilung XVIII eine umfassende Untersuchung der Quecksilbervergiftungen ausarbeiten.290 Zwei Sorgen trieben die Offiziere dabei besonders um: Zum einen die Reaktion westlicher Medien über die Vorgänge im Kombinat. Der abschließende Bericht der Abteilung XVIII hob hervor, dass der erste Todesfall im April 1980 »im Fernsehen der BRD verallgemeinert und DDR-diskriminierend ausgewertet« worden sei.291 Um das Ansehen der DDR nicht weiter zu beschädigen, sollten solche 287 Ebenda. 288  Vgl. ebenda. 289  Schreiben des Bitterfelder Generaldirektors an den Leiter des Medizinischen Dienstes der StVE Bitterfeld vom 7.4.1981. In: Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck, S. 100. 290  Vgl. Abteilung XVIII/BuS der BV Halle: Untersuchungsbericht zu tödlichen Quecksilbervergiftungen im CKB vom 1.5.1981, abgedruckt in: Plötze: Chemiedreieck, S. 59–66. 291  Tatsächlich wurde in westdeutschen Medien darüber berichtet. Bekannt werden konnte der Vorfall vor allem über die Eltern der beiden Verstorbenen, die zu dieser Zeit in der Bundesrepublik lebten. Vgl. Abteilung XVIII/BuS der BV Halle: Untersuchungsbericht zu tödlichen

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Beiträge in der Zukunft unter allen Umständen verhindert werden. Zum anderen befürchteten die Offiziere kritische Stimmen innerhalb der Belegschaft über die Häftlingsarbeit an sich.292 »Bisher sind solche Erscheinungen jedoch nicht bekannt geworden«, so die Abteilung XVIII. »Es deutet sich jedoch an, dass im CKB Diskussionen in Gang kommen, die das Verbot von SG-Einsätzen im Chlorbereich fordern.«293 Das System der »Sonderarbeitskräfte«, das wird mit diesen beiden Überlegungen sichtbar, wurde von der Bezirksverwaltung keineswegs infrage gestellt. Ähnlich wie die Leitung des Kombinats, waren auch die Offiziere des MfS sehr an einer Aufrechterhaltung der Chlorproduktion interessiert. Sie zeigten sich daher entsetzt, mit welcher Leichtfertigkeit das Kombinat die besondere Arbeitskraftreserve in der Vergangenheit aufs Spiel gesetzt hatte. Vor allem der fahrlässige Umgang mit Quecksilber wurde von den Offizieren deutlich gerügt. Selbst in den Bussen für die Strafgefangenen, so der Bericht der Abteilung XVIII, hätte man noch Spuren des Metalls finden können.294 Die Vorfälle auf vorsätzliche Handlungen der Häftlinge zurückzuführen, wie Schwarz es in seinem Brief an Czogalla getan hatte, greife eindeutig zu kurz. Nötig seien vielmehr, so die Offiziere, »entscheidende Veränderungen arbeitsorganisatorischer Art« sowie eine »prophylaktische, therapeutische und Nachuntersuchung« der Strafgefangenen.295 »Ein ›Nur-Austausch‹ vergifteter SG (so wie es nach dem 2. Todesfall praktiziert wurde) kann nicht der alleinige Lösungsweg sein«, so der Bericht.296 Auch an dieser Stelle trat das MfS wieder mit Mahnungen an die Wirtschaftsfunktionäre vor Ort heran – Mahnungen, die allerdings in den Fabrikhallen des Kombinats zunächst ungehört verhallten. Auf das »Sofortprogramm« des Generaldirektors folgten nämlich bis zum Sommer 1981 keine wesentlichen Besserungen. Schwarz verteidigte die Lage eher, als sie substanziell zu verändern. Als Konsequenz entschied das MfS im Juni 1981, zwei Vertreter der Hauptabteilung IX, also der Untersuchungsabteilung des MfS in Berlin, nach Bitterfeld zu schicken, um die Chlorfabriken erneut zu inspizieren und auf vorbeugende Maßnahmen zu drängen – diesmal sogar mit Erfolg.297 Auf den erhöhten Druck aus Berlin begann sich das Kombinat tatsächlich zu bewegen, binnen weniger Wochen veranlasste es regelmäßige Blut- und Urinuntersuchungen, verteilte Quecksilbervergiftungen im CKB vom 1.5.1981, abgedruckt in: Plötze: Chemiedreieck, S. 65. Vgl. Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck, S. 102. 292  Vgl. Abteilung XVIII/BuS der BV Halle: Untersuchungsbericht zu tödlichen Quecksilbervergiftungen im CKB vom 1.5.1981, abgedruckt in: Plötze: Chemiedreieck, S. 65. 293 Ebenda. 294  Vgl. ebenda, S. 63. 295  Ebenda, S. 65. 296 Ebenda. 297 Vgl. den gemeinsamen Bericht der Hauptabteilungen VII und IX des MfS vom 26.6.1981. In: Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck, S. 103.

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Atemschutzmasken, installierte Lüftungsschächte, sanierte die Unterkünfte der Arbeitsbrigaden und suchte verstärkt das Gespräch mit den leitenden Angestellten vor Ort. Auch wenn es in den Chlorfabriken weiterhin an grundlegenden Dingen wie Körperpflegemittel oder Ersatzkleidung mangelte und sich nach wie vor keine zivilen Fachkräfte bereit fanden, die Häftlinge angemessen in die Arbeit an den Chlorelektrolysen einzuführen, hatte sich die Lage bis zum Herbst 1981 doch etwas entspannt.298 Das MfS hatte damit den Anfang gemacht, die Verantwortlichen stärker in die Pflicht zu nehmen, andere staatliche Stellen wie das Ministerium für Gesundheitswesen folgten: Das Kombinat und die Strafvollzugseinrichtung Bitterfeld wurden in den folgenden Jahren immer wieder aufgefordert, im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Bedingungen der Häftlingsarbeit zu verbessern, aufsehenerregende Zwischenfälle zu verhindern und damit die Weiterführung der Chlorproduktion sicherzustellen.299 Konkret wurden bis 1983 die Intervalle der Blut- und Urinkontrollen verkürzt, die zulässigen Grenzwerte für den Quecksilbergehalt im Blut abgesenkt, der Austausch der Häftlinge beschleunigt und eine Trennung von Arbeits- und Freizeitkleidung eingeführt, wie der Leiter der Strafvollzugseinrichtung Bitterfeld in einer »Kurzeinschätzung« aus dem Jahr 1983 darlegte.300 Mit höheren Monatslöhnen von über 2  000 Mark versuchten die Chlorbetriebe zudem, mehr ziviles Personal anzuwerben.301 All diese Maßnahmen können vor allem auf die Interventionen des MfS zurückgeführt werden, das sich für die Zukunft fest vornahm, die Einhaltung der neuen Regelungen regelmäßig zu kontrollieren.302 Mit ihrem mahnenden und kontrollierenden Auftreten war es den Offizieren tatsächlich gelungen, einige, wenn auch

298  Vgl. ebenda. 299  Das MfS unternahm verschiedene Anstrengungen, um ein überregionales Bekanntwerden der katastrophalen Arbeitsbedingungen in den Chlorfabriken zu verhindern. Unter anderem achtete es darauf, dass Häftlinge aus den Elektrolysen nicht mehr freigekauft und die hygienischen Bedingungen vor Ort schnell verbessert wurden. Den »Medien der BRD«, so ein Bericht der Hauptabteilungen VII und IX vom 5.5.1982, sollte damit die Möglichkeit genommen werden, »solche Fälle politisch aufzuwerten und zur Diskreditierung der DDR zu benutzen«. Vgl. Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck, S. 105. Trotz dieser Maßnahmen wurden die westdeutschen Medien – wenn auch mit einiger Verzögerung – auf das Thema aufmerksam. Den Auftakt machte die »FAZ« mit einem kurzen Artikel vom 25.3.1983 unter dem Titel »›Todeskommando‹ in Bitterfeld«, es folgten weitere Zeitungen mit ausführlicheren Beiträgen, darunter der »Tagesspiegel« und die »Berliner Morgenpost«. Über die Reaktion der SED und des Kombinats auf diese Berichterstattung siehe ebenda, S. 107–109. 300  Vgl. Leiter der StVE Bitterfeld: Kurzeinschätzung zur Situation in den Chlorbetrieben vom 6.4.1983, abgedruckt in: Plötze: Chemiedreieck, S. 74 f. 301  Der DDR-Durchschnittslohn lag zu dieser Zeit zwischen 800 und 1 000 Mark. Vgl. Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck, S. 103. 302  Vgl. Information der Hauptabteilungen und IX des MfS vom 5.5.1982. In: ebenda, S. 105.

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nur kosmetische, Veränderungen in der Organisation der Häftlingseinsätze herbeizuführen.303 Mit diesem Fallbeispiel werden einige typische Merkmale des MfS-Handelns in zugespitzten Ausnahmesituationen deutlich, die in ähnlicher Weise auch bei den Offizieren in den Leuna- und Buna-Werken beobachtet werden können und daher an diese Stelle noch einmal kurz zusammengefasst werden sollen: Zunächst fällt auf, dass die Offiziere der Objektdienststelle Bitterfeld lange Zeit gar nichts taten, lediglich zuschauten, obwohl die katastrophalen Zustände in den Chlorfabriken mehr als offensichtlich waren. Solange die Produktion reibungslos lief, wurde eine akute physische Gefährdung der Arbeitskräfte billigend in Kauf genommen. Dabei verhielt sich das MfS genauso passiv wie das gesamte Kontrollnetzwerk im Kombinat.304 Dies änderte sich abrupt, als mit dem zweiten Todesfall Diskussionen über den Nutzen der Häftlingsarbeit aufkamen und westliche Medien auf die Vorfälle aufmerksam wurden. Plötzlich stand die Zukunft der Chlorproduktion auf dem Spiel. Es schien, als ob eine ökonomische und politische Grenze durchbrochen worden war. Auf die bisherige Passivität folgte Aktionismus, auf einmal musste alles ganz schnell gehen – medizinische Untersuchungen, bauliche Veränderungen, neue Kleidung. Als sich das Kombinat bis Mitte des Jahres nicht zügig genug bewegte, wurde sogar eine Delegation aus der Berliner MfS-Zentrale entsandt. Deutlich wird hier ein überstürztes, reaktives Vorgehen der Offiziere sichtbar, das zeigte, dass lange Zeit abgewartet wurde, um dann, nach einem konkreten Zwischenfall, hektisch mit Kontrollgängen und Auflagen in Erscheinung zu treten. In diesem Ad-hoc-Handeln ähnelte das MfS – wieder einmal – der Planverwaltung, die bei grundlegenden Problemen oder Gefahrenquellen ebenfalls gern länger wegsah, sich ihren bürokratischen Standardabläufen widmete, um dann, bei einer dramatischen Zuspitzung der Situation in Form einer Havarie oder eines Todesfalls, Aktionsprogramme aufzusetzen und schnelle Verbesserungen einzufordern. Das Ideal der Prävention und der langfristigen Planung, welches MfS und Wirtschaftsverwaltung immer wieder betonten, trat hinter die Praxis 303  Vesting hebt hervor, dass durchgreifende Veränderungen vor Ort erst nach der Intervention des MfS eingeleitet wurden. Vgl. ebenda, S. 113. 304  Die in Bitterfeld zu beobachtende Passivität des MfS traf allerdings nicht auf alle störanfälligen und überlasteten Produktionsbereiche in den drei hier untersuchten Kombinaten zu. Während die Objektdienststelle Bitterfeld in den Chlorfabriken kaum präsent war, zeigte zum Beispiel die Kreisdienststelle Köthen reges Interesse für die Problemabteilung Kalander im VEB Orbitaplast Weißandt-Gölzau, wie das Fallbeispiel im Abschnitt 5.9.1 zeigte. Der Unterschied zwischen der Chlor- und der Kalanderfabrik bestand darin, dass Weißandt-Gölzau über eine noch nicht vollständig abbezahlte Westanlage verfügte, in den Bitterfelder Chlorelektrolysen I und III hingegen ausschließlich Altanlagen in Betrieb waren. Auch auf dem Überwachungsfeld der Produktionssicherheit genossen also Investitionsprojekte mit Westbeteiligung Priorität. Die Hintergründe hierfür werden ausführlicher im Abschnitt 5.10 weiter unten erläutert.

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des impulsiven Reagierens zurück: Nicht der Plan, sondern die Ereignisse bestimmten die Agenda. Neben dem Passiven und Reaktiven sticht ferner das Temporäre des MfS-Handels hervor. Im Unterschied zum Bereich des Außenhandels, der permanent und auch ohne nennenswerte Zwischenfälle im Fokus der Geheimpolizei stand, rückten auf dem Überwachungsfeld »Brände und Störungen« einzelne Fabrikhallen erst dann ins Blickfeld der Offiziere, wenn sich ein »Vorkommnis« von besonderer Tragweite ereignete. Kam es zu einem größeren Unfall mit überregionaler Auswirkung, fand sich eine solche Fabrikhalle plötzlich im Zentrum der geheimpolizeilichen Aufmerksamkeit wieder, dann konnte aus einem blinden Fleck des Sicherheitsapparates vorübergehend ein sicherheitspolitischer »Schwerpunkt« werden. Bearbeitet wurde ein solcher Krisenbereich dann meist mit disziplinarischen und normativen Instrumenten, also mit Belehrungen, Vorschriften und intensiveren Kontrollgängen. Dass dabei häufig nur Symptome behandelt wurden, eine nachhaltige Behebung der Produktionsrisiken aber ausblieb, zeigt das Beispiel der Chlorfabriken eindrücklich. Während das MfS und die übrigen Inspektionen vor Ort auf adäquate Kleidung, bessere Hygiene und eine ausreichende medizinische Betreuung der Arbeitskräfte drängten, wurde zeitgleich das RSM-Programm – also der Versuch einer wirklich durchgreifenden Erneuerung des Kombinats – durch das Politbüro zusammengestrichen. Die Folge dieser fehlenden Unterstützung von zentraler Stelle war, dass sich die Arbeitsbedingungen in den Chlorfabriken bis Mitte der 1980er-Jahre trotz all der prophylaktischen Maßnahmen vor Ort nicht wirklich verbesserten. So musste das Staatliche Amt für technische Überprüfung auf einem Kontrollgang in den Elektrolysezellen im Jahr 1984 feststellen, dass die Strafgefangenen noch immer giftigen Dämpfen aus Quecksilber, Laugen und Chlorgas ausgesetzt waren und die Explosionsgefahr durch brüchige Elektrokabel und korrodierte Rohrleitungen sogar weiter zugenommen hatte.305 Einmal mehr traten an dieser Stelle die Grenzen der werkseigenen Sicherheitsbürokratie hervor, die zwar durchaus sinnvolle Notlösungen initiierte, am Grundproblem der prekären Arbeitsbedingungen aber nichts ändern konnte. Ähnlich wie das »Personalisieren« von Strukturproblemen, entsprach damit auch der Aktionismus nach größeren Unfällen lediglich einer Art Simulation von Handlungsfähigkeit, einer Botschaft an die Belegschaft, dass das Kombinat, die Staatssicherheit oder das Ministerium für Chemie durchaus in der Lage waren, ordnend einzugreifen und Probleme zu lösen, obwohl man sich tatsächlich längst mit den alltäglichen Risiken, der zunehmenden Chaotisierung der

305  Vgl. Bericht der Inspektion des SATÜ vom 21.5.1984. In: Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck, S. 110.

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betrieblichen Abläufe und dem permanenten Zwang zum Improvisieren abgefunden hatte. 5.9.3 Fallbeispiel III: Der drohende Kollaps der Bitterfelder Altanlage für Chlorate Langes Nichtstun und dann überstürztes Eingreifen – diese spezifische Reaktionsweise des MfS kam in den Chlorfabriken besonders deutlich zum Vorschein. Dass es sich hierbei um keine Ausnahme, sondern um ein häufig anzutreffendes Verhaltensmuster der Objektdienststelle Bitterfeld handelte, erwies sich auch in anderen Risikozonen des Kombinats, etwa bei der Altanlage für die Herstellung von Chloraten. Die überforderte Fabrik spielte sicherheitspolitisch zunächst ebenfalls keine Rolle, bis sie Mitte der 1980er-Jahre völlig in sich zusammenzubrechen drohte und dadurch die Aufmerksamkeit der MfS-Offiziere erregte. Der Schauplatz Chloratefabrik ist das dritte und letzte Fallbeispiel für das Auftreten des MfS in einer zugespitzten Ausnahmesituation. Mit ihm soll deutlich gemacht werden, dass die Offiziere auch auf dem Überwachungsfeld »Brände und Störungen« hauptsächlich auf die Interaktionen mit westlichen Akteuren und weniger auf die akuten physischen und ökonomischen Gefahren im Innern reagierten. Das Kombinat Bitterfeld verfügte über die einzige Chlorateanlage in der gesamten DDR. In ihren 320 Elektrolysezellen wurden jährlich etwa 28 000 Tonnen Chlorate aus den Ausgangsstoffen Natrium- und Kaliumchlorid gewonnen.306 Die ökonomische Bedeutung dieser Produktion war für die gesamte DDR beträchtlich: Zum einen zählten Chlorate zu jenen Gütern des Kombinats, die problemlos auch auf westlichen Märkten abgesetzt werden konnten. Sie machten gut 10 Prozent des Bitterfelder Westexports aus. Das entsprach einem Jahreserlös von etwa 11 Millionen DM.307 Zum anderen gingen auf Chlorate wichtige Produktlinien zurück, wie etwa Farbstoffe, Bleichmittel, Zellulose oder Pflanzenschutzmittel. Als essenzieller Grundstoff der chemischen Industrie bildeten Kalium- und Natriumchlorate die Basis für eine gesamtwirtschaftliche Jahresproduktion im Wert von über einer Milliarde Mark.308 Einmal mehr handelte es sich hier also, ähnlich wie bei den Chlorfabriken, um einen ökonomisch äußerst relevanten Betriebsteil, der sich aber trotzdem – oder gerade deswegen – in einem katastrophalen Zustand befand. Seit 306  Vgl. Kombinat Bitterfeld: Situationsbericht Chlorat vom 1.3.1985; LHASA, MER, I 509, Nr. 1028, n. p; vgl. OD CKB: Analyse von neuralgischen Punkten des VEB CKB vom 5.10.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 33, Bl. 4. 307 Vgl. Kombinat Bitterfeld: Situationsbericht Chlorat vom 1.3.1985; LHASA, MER, I 509, Nr. 1028, n. p. 308  Vgl. ebenda.

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der Inbetriebnahme der Chlorateanlage im Jahr 1916 hatte es keine durchgreifende Sanierung mehr gegeben. Entsprechend düster sah das Bild aus, das die Bauakademie der DDR im Jahr 1984 über die Fabrikhalle zeichnete: Chlorleitungen seien durchgerostet, Wände rissig, der Baugrund abgesunken und »tragende Konstruktionsteile der fördertechnischen Anlagen« durch »jahrzehntelanges Einwirken aggressiver Stoffe« einsturzgefährdet.309 Ebenso eindringlich warnte die Objektdienststelle Bitterfeld ein Jahr später, dass »Risiken durch Explosionen von Wasserstoff und Chlorat« bestünden, in deren Folge es zu »Flächenbränden und starken Zerstörungen in der Anlage sowie angrenzenden Betrieben« kommen könnte.310 Ein geregelter Betrieb der Anlagen war unter diesen Umständen kaum noch möglich, rechtlich ging es bereits ab 1977 nur noch über eine Ausnahmegenehmigung.311 Im Jahr 1979 forderte das SATÜ daher die endgültige Stilllegung der Fabrik, selbst der Generaldirektor Schwarz fand im gleichen Jahr in einem Schreiben an den Minister für Chemische Industrie, Günther Wyschofsky, »keine Rettungsvariante mehr« und plädierte für eine schrittweise Abschaltung der Elektrolysezellen bis 1982.312 Laut Schwarz ließe sich die Situation nur noch über den Import einer »schlüsselfertigen Neuanlage« verbessern.313 Dass Wyschofsky all diese Mahnungen in den Wind schlug und die Altanlage trotzdem weiterproduzieren ließ, lag mit Sicherheit am hohen außenwirtschaftlichen Konsolidierungsdruck zu Beginn der 1980er-Jahre. Auf ein Exportprodukt wie Chlorate wollte man unter keinen Umständen verzichten, gerade die Chemiebranche sollte einen wesentlichen Teil zum Ausgleich der Handelsbilanz beitragen. Zudem waren Kombinat und Ministerium angehalten, den Einsatz von »Valuta« für eine kostspielige Neuanlage so lange wie möglich hinauszuzögern. Vor Ort in Bitterfeld wirkten sich diese übergeordneten Vorgaben der Produktionssteigerung und Importvermeidung verheerend aus: Unfälle und Produktionsunterbrechungen nahmen in der Chloratefabrik immer größere Ausmaße an. Im April 1984 hatte sich die Situation schließlich so weit verschlechtert, dass ein Totalausfall der Produktion unmittelbar bevorstand und sich der Ministerrat gezwungen sah, der Einfuhr einer Neuanlage zuzustimmen.314 Allerdings wurde 309 Ebenda. 310  OD CKB: Konzeption zur politisch-operativen Sicherung der Maßnahmen zur Beseitigung der Havariegefährdung in der Chloratanlage des VEB CKB vom 27.6.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 64, Bl. 34. 311  Vgl. Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck, S. 123. 312  Schreiben Heinz Schwarz an Günther Wyschofsky: Ausführliche Darstellung der Lage in der Altanlage Chlorate, September 1979; LHASA, MER, I 509, Nr. 846, n. p. 313 Ebenda. 314  Vgl. Beschluss des Präsidiums des Ministerrates vom 5.4.1984; vgl. Kombinat Bitterfeld: Situationsbericht Chlorat vom 1.3.1985; LHASA, MER, I 509, Nr. 1028, n. p.

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das Kombinat aufgefordert, die Altanlage noch bis zur Inbetriebnahme des Neubaus, also noch mindestens zwei weitere Jahre, »unter Havariebedingungen« am Laufen zu halten. Dass dieser Auftrag gar nicht so einfach zu bewerkstelligen war, zeigte sich im Januar 1985, als Teile des Fabrikgebäudes völlig in sich zusammenbrachen. »Alle angedachten und bereits in Realisierung befindlichen Maßnahmen mit der Zielstellung, eine vertretbare Sicherheit für die Werktätigen und für die Aufrechterhaltung der Produktion zu erreichen«, so ein Kommentar der Kombinatsleitung, »sind durch das am 23.1.1985 eingetretene Ereignis nicht mehr zu verantworten. An diesem Tag stürzte ohne vorher erkennbare Anzeichen der Deckenabschnitt eines Badganges in den Keller.«315 Selbst eine Expertengruppe des Chemieministeriums kam kurz danach zu der Einschätzung, »dass die Instabilitäten im Bauwerk und seiner Tragelemente nicht mehr überschaubar und nicht mehr statisch nachweisbar« seien. »Zur Vermeidung der akuten Gefährdung von Menschen«, so die Experten, müsse die Anlage »so schnell wie möglich« zurückgefahren werden.316 Trotz dieser Hinweise sprach sich Adolf Eser, der Nachfolger von Schwarz im Amt des Generaldirektors, gegen eine sofortige Stilllegung der Chloratefabrik aus. Er veranlasste stattdessen eine Notstabilisierung der Zugänge zu den Zellensälen der Elektrolysen, um bis zur Inbetriebnahme der Neuanlage den Kollaps weiterer Gebäudetrakte zu verhindern.317 Diese Vorgehensweise wurde im März 1985 noch einmal durch einen Beschluss des Ministerrats zur Altanlage Chlorate bekräftigt.318 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das im Bitterfelder Kombinat ansässige MfS kein größeres Interesse für diesen Produktionsbereich gezeigt. Obwohl die Fahrweise der Elektrolysen bereits seit 1977 gegen geltendes Recht verstieß, war das Sicherheitsorgan vor Ort weder durch regelmäßige Kontrollgänge und offizielle Auflagen noch durch besondere inoffizielle Kontakte oder gar geheimpolizeiliche Ermittlungen aufgefallen. Das änderte sich schlagartig mit der akuten Zuspitzung der Situation im Januar 1985. Nach dem Einsturz des Zugangs zu den Waschanlagen wandte sich Alfred Kleine, Leiter der Hauptabteilung XVIII in Berlin, direkt an den Stellvertreter Operativ der Bezirksverwaltung Halle, Rolf Schöppe, um sich über den 315  Kombinat Bitterfeld: Situationsbericht Chlorat vom 1.3.1985; LHASA, MER, I 509, Nr. 1028, n. p. 316 Ebenda. 317 Vgl. Kombinat Bitterfeld: Situationsbericht Chlorat vom 1.3.1985; LHASA, MER, I 509, Nr. 1028, n. p. 318 Vgl. Information über durchgeführte Maßnahmen zur Beseitigung der akuten Gefährdung der Werktätigen in der Chlorataltanlage des CKB, kein Verfasser, wahrscheinlich Dokument der Abteilung Chlorat des CKB vom 26.8.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1127, Bl. 41.

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Zustand in der Bitterfelder Chloratefabrik auf den neuesten Stand bringen zu lassen.319 Kleine forderte Schöppe bei dieser Gelegenheit auf, die Altanlage unverzüglich als »besonders havariegefährdeten Schwerpunkt« einzuordnen und mithilfe »politisch-operativer Mittel« sicherzustellen, dass fortan alle staatlichen Vorschriften eingehalten werden. Auch eine neue »Sicherungskonzeption« sei in der gegebenen Situation notwendig. Sollte es eine neue Gefahrenlage vor Ort geben, müsse die Hauptabteilung in Berlin sofort durch die Objektdienststelle benachrichtigt werden, so Kleine.320 Eine einzelne Fabrik im Bezirk Halle wurde damit ein Tagesordnungspunkt in Berlin. Von einem vernachlässigten Ort des Verfalls avancierte die Altanlage Chlorate quasi »über Nacht« zu einem wichtigen Sicherheitsinteresse des MfS. Zumindest erklärten die Offiziere ihre Absicht, diesem Bereich von nun an größere Beachtung zu schenken. In der Praxis waren mit der Einordnung der Fabrik als »Schwerpunktbereich« allerdings keine spürbaren Konsequenzen verbunden. Zwar sah die Objektdienststelle nunmehr zwei Mitglieder des Betreiberkollektivs für eine inoffizielle Zusammenarbeit vor, doch ihre Rekrutierung scheiterte am mangelnden Interesse der Kandidaten. Da sich auch von den übrigen Beschäftigten keiner für eine Unterstützung der Geheimpolizei bereitfand, blieb den MfS-Offizieren nichts anderes übrig, als sich auf eine offizielle Kooperation mit dem Leiter der Abteilung Chlorate, Axel Eichoff, zu beschränken.321 Neben der fehlenden inoffiziellen Zusammenarbeit lassen sich auch nach dem Vorfall im Januar 1985 keine strafrechtlichen Ermittlungen oder umfangreicheren Überwachungsprogramme feststellen. Am Ende unternahm die Objektdienststelle nicht viel mehr, als den 1. Sekretär der Industriekreisleitung im Kombinat Bitterfeld, Werner Czogalla, regelmäßig über den Fortschritt der Reparaturarbeiten zu informieren.322

319  Vgl. Brief Kleine an Stellvertreter Operativ der BV Halle vom 27.3.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 2446, Bl. 187 f. 320  Ebenda, Bl. 188. 321  Vgl. OD CKB: Zwischeneinschätzung des Standes der Wirksamkeit der politisch-operativen Sicherung der Maßnahme zur Beseitigung der Havariegefährdung in der Chlorataltanlage vom 24.10.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 2446, Bl. 193. 322  Für die Umsetzung des Ministerratsbeschlusses rief das Kombinat die »Expertengruppe Chlorat« ins Leben, in der auch ein Mitarbeiter der Objektdienststelle vertreten war. Die praktische Ausführung der Stabilisierung im Rahmen dieser Arbeitsgruppe oblag den Fachleuten der Bereiche Technik und Produktion, assistiert von Vertretern der Staatlichen Bauaufsicht und des Staatlichen Amtes für Technische Überwachung. Vgl. Information über durchgeführte Maßnahmen zur Beseitigung der akuten Gefährdung der Werktätigen in der Chlorataltanlage des CKB, kein Verfasser, vermutlich ein Dokument der Abteilung Chlorat des CKB vom 26.8.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1127, Bl. 41; vgl. OD CKB: Zuarbeit zur Parteiinformation vom 15.8.1985; ebenda, Bl. 35.

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Deutlich umtriebiger und handlungsfähiger zeigte sich das MfS hingegen bei der parallel laufenden Installation der Neuanlage. Die schwedischen Unternehmen SIAB und Cellchem lieferten zwischen 1986 und 1988 die Bauteile einer modernen Chloratefabrik im Wert von knapp 1,2 Milliarden Mark. Der Devisenaufwand belief sich auf gut 360 Millionen DM.323 Mit diesem Kompensationsvorhaben verband das Kombinat einmal mehr hohe Erwartungen: So sollte das produzierte Chloratevolumen auf bis zu 40 000 Tonnen pro Jahr verdoppelt und die Erlöse auf den Westmärkten von 11 auf 25,4 Millionen DM erhöht werden.324 Das MfS war sich der erheblichen ökonomischen Bedeutung dieser Investition bewusst und entschied sich daher, möglichst alle Phasen des Projekts – von der Projektierung, über die Bau- und Montageausführung bis zum Probebetrieb und der Endabnahme der Anlage – zu überwachen.325 Dafür konnte es im Vorbereitungs-, Realisierungs- und letztendlichem Betreiberkollektiv auf insgesamt neun inoffizielle Mitarbeiter und drei gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit zurückgreifen.326 Mithilfe dieser konspirativen Quellen sollte die Qualität der gelieferten Anlagenkomponenten geprüft und das verantwortliche Personal überwacht werden.327 Zu Letzterem zählten vor allem 650 Fachkräfte aus Schweden, für deren Beobachtung die Objektdienststelle zwei inoffizielle Mitarbeiter in den eigens für die Gäste errichteten Wohnheimen in der Gemeinde Sandersdorf bei Halle gewann.328 Zusätzlich drängte der Leiter der Objektdienststelle, Werner Kirchner, den Generaldirektor Eser dazu, eine eigene Reisestelle nur für dieses Projekt einzurichten. Die Bewegungen der ausländischen Monteure und Ingenieure sollten mit dieser Erfassungsstelle besser unter Kontrolle gehalten werden.329

323  Vgl. Kombinat Bitterfeld: Vorbereitungsmaterial für den 3. Ministerrapport zum Vorhaben »Ersatzanlage Chlorate« vom 20.1.1987; LHASA, MER, I 509, Nr. 1028, n. p. 324  Vgl. Fachdirektion Technik, Kombinat CKB: Konzeption zur Sicherung der Chloratproduktion in Bitterfeld durch Neubau einer Anlage vom 31.1.1985; LHASA, MER, I 509, Nr. 1028, n. p. 325  Vgl. OD CKB: Sicherheitskonzeption des MfS für die »Ersatzanlage Chlorate« vom 2.3.1987; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 2446, Bl. 213–216. 326  Vgl. OD CKB: Einschätzung der Wirksamkeit der politisch-operativen Sicherung der Realisierung des Investitionsvorhabens »Ersatzanlage Chlorate« und der daran beteiligten Personenkreise sowie Schlussfolgerungen zur weiteren Qualifizierung der politisch-operativen Abwehrarbeit vom 19.6.1987; ebenda, Bl. 71. 327  Vgl. OD CKB: Sicherheitskonzeption des MfS für die »Ersatzanlage Chlorate« vom 2.3.1987; ebenda, Bl. 206–216. Vgl. Schreiben OD-Leiter Kirchner an Generaldirektor Eser vom 4.2.1986; LHASA, MER, I 509, Nr. 1028, n. p. 328  Vgl. OD CKB: Sicherheitskonzeption des MfS für die »Ersatzanlage Chlorate« vom 2.3.1987; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr. 2446, Bl. 210. 329  Vgl. Schreiben OD-Leiter Kirchner an Generaldirektor Eser vom 4.2.1986; LHASA, MER, I 509, Nr. 1028, n. p.

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Den eigentlichen Fokus der Überwachung legte die Bitterfelder Objektdienststelle aber auch bei diesem Vorhaben auf die kombinatseigenen Fach- und Führungskräfte, die erst nach einer ausdrücklichen Zustimmung des MfS für die Planung und Umsetzung der Anlageninstallation eingesetzt werden durften. Kirchner forderte Eser in einem Schreiben noch einmal eindringlich auf, »alle DDR-Kader, die im Realisierungskollektiv dieses Vorhabens integriert bzw. in der Reisestelle und im Pfortendienst eingesetzt werden sollen, […] der OD CKB umgehend zur Bestätigung vorzulegen«. Bei Projekten solcher Größe habe es sich bewährt, so Kirchner, »die vorgesehenen Kader […] der zuständigen Dienststelle des MfS zur Bestätigung einzureichen und nach erfolgter Bestätigung über ihren Einsatz durch einen Beschluss im Sekretariat der Kreisleitung [der SED] zu entscheiden«.330 Besondere Beachtung schenkten die Offiziere dabei den Projektteilnehmern in führenden Positionen, wie etwa dem Leiter des Vorhabenkollektivs, seinem Stellvertreter sowie dem Leiter der Abteilung Projektierung.331 Während Letzterem zum Beispiel die Bevorteilung eines Nachauftragnehmers vorgeworfen wurde – für das holländische Unternehmen P.T.F. Conveyor Systems sei er als sogenannter Stützpunkt, also als Vertrauensperson und verdeckter Fürsprecher der Firma, aufgetreten –, bestand nach Ansicht der Offiziere beim stellvertretenden Leiter des Vorhabenkollektivs ein Risikofaktor aufgrund seiner Verwandtschaft in Westberlin. Auch ihm wurde eine zu große Nähe zu einem beteiligten Unternehmen unterstellt, weswegen die Objektdienststelle gegen ihn die OPK »Chlorat« eröffnete.332 Auch wenn solche Unterstellungen routiniert und erwartbar wirkten und für die Betroffenen keine größeren Auswirkungen hatten, fällt doch die asymmetrische Aufmerksamkeit der MfS-Offiziere deutlich ins Auge: auf der einen Seite weitgehende Passivität bei der Altanlage Chlorate, auf der anderen Seite rege Betriebsamkeit bei der Installation der Neuanlage. Auch in anderen neuralgischen Bereichen der Kombinate Bitterfeld, Leuna und Buna konnte man dieses Handlungsmuster beobachten: Während jede Neuinvestition enorme Aktivitäten der Offiziere auslöste,333 erregte der Normalbetrieb in den Risikozonen höchstens dann Aufsehen, wenn ein unmittelbarer Totalausfall bevorstand und dadurch politischer oder weitreichender ökonomischer Schaden drohte. Wenn 330 Ebenda. 331  Vgl. OD CKB: Information zum Schwerpunktbereich »Chlorat« vom 2.3.1988; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII, Nr.  2446, Bl.  28; vgl. OD CKB: Operative Information vom 13.6.1986; ebenda, Bl. 159. 332  Vgl. OD CKB: Operative Information vom 13.6.1986; ebenda, Bl. 159. 333  Beispiele für solche intensiv überwachten Investitionsprojekte sind neben der »Ersatzanlage Chlorate« auch die moderne Elektrolyseanlage »Chlor IV«, die neue Lüftungsanlage im Aluminiumwerk II – beides in Bitterfeld – und das geplante Industriekraftwerk »EKW III« auf dem Stammgelände der Buna-Werke.

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aber die Gefährdungen nich akut waren, überließ das MfS alle Fragen der Sicherheit den Leitern vor Ort. Im Jahr 1988 bearbeitete die Objektdienststelle Bitterfeld für das Überwachungsfeld »Brände und Störungen« gerade mal drei Operative Personenkontrollen.334 Zu diesem Zeitpunkt liefen 65 Anlagen auf dem Gelände des Stammwerks außerhalb der gesetzlichen Bestimmungen, von denen für mindestens 7  000 Beschäftigte massive Gesundheitsgefährdungen und Unfallrisiken ausgingen.335 Ähnlich sah es in den Buna- und Leuna-Werken aus. Auch hier waren viele Produktionsbereiche gezwungen, beim Betreiben der Anlagen gegen die gesetzlichen Bestimmungen zu verstoßen, ohne dass die Referate für »Produktions- und Anlagensicherheit« der Objektdienststellen sonderlich aktiv wurden.336 Während die Diensteinheiten der Linie XVIII bei Investitionsprojekten mit westlicher Beteiligung sofort aktiv wurden, bei ihrer Planung und Umsetzung misstrauisch auf jede Kleinigkeit achteten und schnell dabei waren, geheimpolizeiliche Überwachungsprogramme einzuleiten, duldeten sie in den akuten Risikozonen permanente Rechtsbrüche und lebensbedrohliche Risiken über längere Zeit.337 An dieser Stelle muss die Aussage der Historiker Beutler und Mertens korrigiert werden, dass das MfS auf dem Feld der Anlagensicherheit »im Zweifelsfall […] immer eine Verletzung der beruflichen Pflichten« nachwies, »um sich Pluspunkte bei der Partei für jeden denunzierten 334  Von insgesamt 3 Operativen Vorgängen und 23 Operativen Personenkontrollen. Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 18. 335  Vgl. Hauptabteilung XVIII des MfS: Wiedergabe eines Berichts der IAPS vom 6.4.1987; BStU, MfS, HA VXIII, Nr. 12183, Bl. 72; vgl. Bezirksverwaltung Halle des MfS: Information über die Ergebnisse einer durchgeführten komplexen Untersuchung zur Leistungs- und Effektivitätsentwicklung in Schwerpunkten des VEB CKB vom 20.12.1986; abgedruckt in: Plötze: Chemiedreieck, S. 132. 336  In den Leuna-Werken waren zum Beispiel im Jahr 1988 mindestens 22 Anlagen betroffen, die Objektdienststelle führte aber in dieser Zeit nur einen Operativen Vorgang und 3 Operative Personenkontrollen mit Bezug zur prekären Anlagensicherheit durch. Vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 17; vgl. Inspektion des Generaldirektors: Sicherheitspolitische Studie des Kombinats VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« für den Fünfjahresplan 1986–1990 vom 23.12.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Nr. 402, Bl. 10. In den Buna-Werken liefen 1988 20 Anlagen mit einer Ausnahmegenehmigung. Das Referat »Brände und Störungen« der Objektdienststelle bearbeitete im gleichen Zeitraum 15 OPK und 5 OV. Vgl. Büro des Generaldirektors, Kombinat Buna: Begründung für die erforderlichen Maßnahmen im Kombinat Buna«, 1988–1995, internes Arbeitspapier, 1987; LHASA, MER, I 529, Nr. 3746; vgl. Gilles; Hertle: Überwiegend negativ, S. 16. 337  Auch schwerwiegendere Zwischenfälle führten nicht zwangsläufig zu einem Überwachungsvorgang des MfS. Als es z. B. im Jahr 1986 zu insgesamt 77 größeren Störfällen im Kombinat Buna kam, eröffnete die Objektdienststelle lediglich 2 neue Operative Personenkontrollen. Aus den 1 046 im Jahr 1985 registrierten Vorkommnissen in der gesamten DDR-Industrie gingen nur 20 Operative Vorgänge und 5 Operative Personenkontrollen hervor. Drei von diesen Überwachungsprogrammen mündeten später in offiziellen Ermittlungsverfahren. Vgl. ZAIG des MfS: Hinweise zum Schadensgeschehen auf dem Gebiet der Volkswirtschaft im Jahr 1985, o. D.; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 17202, Bl. 271 u. 280.

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leitenden Mitarbeiter zu verdienen«.338 Auffällig war vielmehr der eigenartige Kontrast zwischen einem übertriebenen Misstrauen der Offiziere gegenüber den Akteuren größerer Investitions- und Außenhandelsprojekte und einem ausgeprägtem Desinteresse gegenüber den staatlichen Leitern in den überlasteten und havariegefährdeten Altbereichen.

5.10  Primat der Produktion und Vorrang des Westens: Die Ursachen für die Passivität des MfS in den Risikofabriken Das widersprüchliche Verhalten der MfS-Offiziere erstaunt zunächst, da die Staatssicherheit das betriebliche Störgeschehen eigentlich als ein politisch und wirtschaftlich hoch relevantes Phänomen einstufte und in ihren internen Analysen und Redebeiträgen immer wieder den Einsatz »vorgangsmäßiger Mittel und Methoden« für eine innere Stabilisierung der Betriebe hervorhob.339 Als strafrechtliches Ermittlungsorgan stand sie zudem in der Pflicht, schwerwiegenderen Rechtsverstößen nachzugehen und, wie es in der Dienstanweisung 1/82 heißt, »begünstigende Bedingungen für Gesetzesverletzungen« aufzudecken und zu beseitigen.340 Auch die Tendenz der MfS-Offiziere, den prekären Anlagenzustand und die Vielzahl der Havarien in den Betrieben der Disziplinlosigkeit und der fehlenden sozialistischen Gesinnung der staatlichen Leiter zuzuschreiben, die als Symptom einer schwindenden staatlichen Steuerungsfähigkeit gesehen werden konnte, hätte eigentlich zum Handeln animieren müssen. Dass das MfS in den Risikobereichen der Betriebe dennoch derart zurückhaltend auftrat, soll im Folgenden anhand von fünf Faktoren erklärt werden. Zunächst stand auch die Arbeit des MfS unter dem alles dominierenden Dogma der Priorität von Produktion und Export. In Zeiten der zugespitzten ökonomischen Krise bestanden höhere Stellen wie das Chemieministerium oder der Ministerrat in der Regel auf ein Weiterproduzieren – und das selbst bei Anlagen, die technisch dazu kaum noch in der Lage waren und sämtliche gesundheits- und arbeitsschutzrechtlichen Kriterien verletzten. Im Kontrast zur starken sicherheitspolitischen Reglementierung des Außenhandels herrschte in den besonders verfallenen, ökonomisch aber hoch bedeutsamen Produktionsbereichen wie der Aluminiumfabrik, den Chlorelektrolysen oder der Salpetersäureanlage ein klarer Vorrang der wirtschaftlichen Interessen vor der Sicherheit, ein 338  Beutler; Mertens: Mängel und Probleme, S. 239. 339  Siehe z. B. BV Halle: Lageeinschätzung auf dem Gebiet BuS in der Volkswirtschaft des Bezirkes Halle, 1986; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 434, Bl. 72. 340  Siehe Dienstanweisung 1/82 des MfS zur politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft der DDR vom 30.3.1982, abgedruckt in: Buthmann: Kadersicherung, S. 140.

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»heimliches Primat der Ökonomie«, so Justus Vesting, dem sich andere Zielsetzungen wie die Einhaltung der Gesetzlichkeit, die Verbesserung des Umweltschutzes, körperliche Unversehrtheit und manchmal sogar sicherheitspolitische Gesichtspunkte unterzuordnen hatten.341 Ein wenig hilflos sprach die Objektdienststelle Bitterfeld im Rahmen des OV »Reko« sogar von einer »Produktionsideologie«, die sich in den leitenden Köpfen der Wirtschaftsverwaltung festgesetzt habe.342 Neben dem ökonomischen Druck von oben waren den MfS-Offizieren darüber hinaus auch durch den chronischen Fachkräftemangel der Betriebe die Hände gebunden. Vor allem in den krisenanfälligen Werksbereichen bereitete es der Kombinatsleitung zunehmend Schwierigkeiten, engagierte Nachwuchskader für Leitungspositionen zu finden. Was brachte in dieser Situation ein Operativer Vorgang oder eine durch das MfS veranlasste Sanktion gegen einen Schichtleiter oder einen Brigadeführer, wenn dieser anschließend den Risikobereich ebenso verließ? Ein hartes und flächendeckendes disziplinarisches Durchgreifen der Sicherheitsorgane hätte die ohnehin starke Fluktuation der Fach- und Führungskräfte weiter beschleunigt und keine der innerbetrieblichen Probleme gelöst.343 Mit dem Phänomen der schnellen Abwanderung war eine weitere Ursache für die Passivität der MfS-Offiziere in den Altbereichen verknüpft: ihre alltägliche Überforderung bei der praktischen Organisation der Überwachung. Genauso wie die staatlichen Leiter daran scheiterten, eine planmäßige Produktion zu realisieren, sahen sich auch die Vertreter des MfS außerstande, präventiv Sicherheit zu gewährleisten. Beide Seiten reagierten lediglich ad-hoc auf die immer neuen Zwischenfälle und wurden bei ihrer Arbeit durch die Unstetigkeit der Belegschaft, die physischen Gefahren in den Fabrikhallen und die Aussichtslosigkeit, für die Vielzahl der Störfälle einzelne Verantwortliche zu finden, behindert. Nicht nur die Dominanz des Ökonomischen, sondern auch die ganz praktischen Hindernisse im Alltag bremsten also die Aktivitäten der Offiziere aus. 341  Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck, S. 189. 342  Siehe die Ausführungen zum OV »Reko« im Abschnitt 5.8. 343  Erwähnt werden muss an dieser Stelle, dass ein Großteil der Kontrollen und Disziplinarmaßnahmen nicht vom MfS, sondern von anderen Sicherheitsorganen umgesetzt wurden, u. a. von der Volkspolizei (bei Verdacht auf Straftaten), der Arbeitsschutzinspektion des FDGB (bei Arbeitsunfällen) oder dem Staatlichen Amt für Technische Überprüfungen (bei technischen Störungen). Im Jahr 1986 führte z. B. das SATÜ im Bezirk Halle 12  484 technische Prüfungen durch. Bei dieser Gelegenheit erteilte es 2 353 Auflagen und leitete 410 Ordnungsstrafverfahren ein. Die Arbeitsschutzinspektion absolvierte im gleichen Jahr 12 375 Kontrollen, daraus erfolgten 3 324 Auflagen und 958 Ordnungsstrafverfahren. Die Bezirksverwaltung Halle des MfS führte für den Überwachungsbereich »Chemische Industrie« zur gleichen Zeit lediglich 4 Operative Vorgänge, 4 Operative Personenkontrollen und 11 Ermittlungsverfahren durch. Vgl. BV Halle: Lageeinschätzung auf dem Gebiet BuS in der Volkswirtschaft des Bezirkes Halle«, 1986; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 434, Bl. 49 u. 56.

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Vor dem Hintergrund all dieser ökonomischen Zwänge und organisatorischen Schwierigkeiten verwundert es kaum, dass sich das MfS vor allem den Neuanlagen zuwandte. Für die praktische »operative« Arbeit boten sie gleich drei entscheidende Vorteile: Erstens bestand eine bessere Verortbarkeit der Verantwortung. Während in den Altbereichen Havarien auch ohne menschliches Zutun auftraten, konnte man bei einer Störung in einer Neuanlage mit großer Wahrscheinlichkeit von einem individuellen Versagen ausgehen. Dieser menschliche Faktor war – zweitens – auch vergleichsweise einfach nachzuweisen, da es sich bei den modernisierten Arbeitsbereichen in der Regel um kleinere und stabilere Belegschaften handelte, das MfS hier also leichter in der Lage war, »operativ« tätig zu werden, sprich Ermittlungen durchzuführen, IM zu rekrutieren und größere Überwachungsvorgänge umzusetzen. Und schließlich nahmen die Offiziere vor allem die Neuanlagen in den Blick, da es sich hierbei meist um wertvolle Investitionsgüter mit dringend benötigten Produktionsleistungen handelte, ein »operatives« Vorgehen an dieser Stelle also – zumindest aus Sicht des MfS – einen größeren ökonomischen »Nutzen« versprach. Deutlich zum Vorschein kommen diese ökonomischen und pragmatischen Erwägungen bei der oben beschriebenen Überwachung der Ersatzanlage Chlorate in Bitterfeld und der Kalanderanlage in Weißandt-Gölzau. Eine weitere Ursache für die ungleiche Aufmerksamkeit für Alt- und Neuanlagen darf allerdings nicht vergessen werden: die klassische Fixierung des MfS auf »westliche Einflüsse«. Da beim Einkauf und Aufbau einer Neuanlage in der Regel westliche Unternehmen mit im Spiel waren, zeigte das MfS in diesen Fällen auch aufgrund seiner geheimdienstlichen Denkweise eine viel größere Sensibilität. Eine Überwachung von westlichen Monteuren auf dem Werksgelände entsprach einfach besser dem Rollenverständnis eines MfS-Offiziers, als eine Beschäftigung mit verrosteten Werkshallen oder störanfälligen Maschinen, selbst wenn Letzteres ebenfalls zu einer zentralen Aufgabe der Geheimpolizei zählte. Neben den ökonomischen Zwängen für das Kombinat, einer allgemeinen Überforderung der Offiziere und den praktischen Vorteilen bei der Überwachung moderner Anlagenkomplexe bestimmte nicht zuletzt diese ideologische Komponente die Schwerpunktsetzung der Objektdienststellen. Zusammenfassung In diesem Kapitel stand der Umgang der Kombinate und der darin eingebetteten Staatssicherheit mit den zunehmenden Verfallserscheinungen bei Fabrikgebäuden und Produktionsanlagen im Mittelpunkt der Betrachtung. Gefragt wurde nach den tatsächlichen und angenommenen Ursachen für die prekäre Anlagenstabilität und den daraus abgeleiteten Lösungsansätzen. Welche Maßnahmen für die Stabilisierung der Betriebe wurden von Staat, Partei und Betrie-

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ben eingeleitet? Welche Wirkung konnten sie entfalten? Und welche Rolle spielte dabei die vor Ort ansässige Geheimpolizei? Das Problem der Überalterung des Anlagenkapitals und das dadurch ausgelöste Störgeschehen wurde zu Beginn des Kapitels als ein Kostenfaktor der übergeordneten Entschuldungspolitik dargestellt, zusätzlich zu den massiven ökologischen Auswirkungen und der eingeschränkten Versorgung von Privathaushalten und Betrieben. Um den Teufelskreis aus Verschleiß, Unfällen, Produktionsunterbrechungen und Abwanderungen zu durchbrechen, reagierten die Betriebe und die Organe der Wirtschaftsverwaltung mit fünf Notmaßnahmen: Erstens der Motivierung und Sensibilisierung der Beschäftigten durch Wettbewerbe, Prämien und spezielle Trainingsprogramme; zweitens dem Rückgriff auf besondere Arbeitskräfte unter Zwang, hier in erster Linie auf Bausoldaten und Strafgefangene; drittens der Umsetzung von Sanierungsinvestitionen wie das RSM-Programm in Bitterfeld; viertens, mit intensiven Anstrengungen, das Verfall- und Störgeschehen zu vermessen, zu registrieren und zu analysieren und schließlich, fünftens, mit einer verstärkten Kontrolle und fallweise auch Disziplinierung der betrieblichen Leiter in den betroffenen Fabriken. All diese fünf Kraftanstrengungen dienten dazu, die Stabilität der Anlagen zu erhöhen und ein Höchstmaß an Produktion unter den besonderen Anforderungen der Konsolidierungsphase sicherzustellen. Bei den beiden letztgenannten Maßnahmen, der Analyse und Kontrolle, kam auch das MfS mit ins Spiel. Die Diensteinheiten der Linie XVIII maßen dem Problemfeld »Brände und Störungen« eine ebenso große sicherheitspolitische Relevanz bei, wie dem Überwachungsgegenstand »Außenwirtschaft«. Die Objektdienststellen in den drei untersuchten Chemiekombinaten setzten einen Großteil ihrer hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter für diesen Sicherungsbereich ein. Bei der praktischen Umsetzung dieser Schwerpunktaufgabe werden eine analytische und eine disziplinarische Seite des MfS sichtbar: Zunächst verfassten die Offiziere zahlreiche Dokumentationen über die verschlissene Bau- und Anlagensubstanz der Industriebetriebe und das damit verbundene Störgeschehen. Bei diesen Analysen fällt auf, dass die Autoren zwar zahlreiche Fakten zusammentrugen und übergeordnete politische Auswirkungen ansprachen, die strukturellen Ursachen der prekären Produktionssicherheit aber außer Acht ließen. Den Ausführungen der Offiziere haftete daher etwas Deskriptiv-Oberflächliches an. Für diese Art der »Analyse«, die eher einer detaillierten Zustandsbeschreibung glich, können zahlreiche Ursachen angeführt werden: einmal die geheimpolizeiliche Herangehensweise, für Verschleiß und Unfälle individuelle Schuldige und nicht betriebswirtschaftliche Lösungen finden zu wollen und ebenso das fehlende Interesse des MfS, substanzielle Veränderungen am hierarchischen Planungs- und Steuerungsmodell der DDR-Wirtschaft einzufordern. Ferner die politische Befangenheit der Offiziere, denen es nur begrenzt erlaubt

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war, systembedingte Probleme anzusprechen oder zentrale Partei- und Staatsorgane zu kritisieren. Und schließlich das Arbeitsprinzip des MfS, Auswertungen nicht selbst auszuführen, sondern an staatliche und betriebliche Stellen zu delegieren, die wiederum politisch ähnlich befangen auftraten. Die fehlende analytische Tiefe der MfS-Berichte reflektierte damit die allgemeine Unfähigkeit der Wirtschaftsverwaltung, strukturelle Dysfunktionen umfassend zu reflektieren und sie eigenhändig zu korrigieren. Wenn die MfS-Berichte keine ökonomischen Zusammenhänge erklärten und kaum praktische Lösungen anboten, warum wurden dann so viele von ihnen produziert? Zwei Gründe wurden hierfür genannt: Zum einen die bürokratische Neigung des MfS und der Planverwaltung, Verschleißzustände und Störereignisse quasi als Selbstzweck zu protokollieren und auszuwerten. Gerade den Offizieren in ihrer Rolle als begleitende Beobachter der betrieblichen Abläufe war es wichtiger, den Überblick im Betrieb zu bewahren und relevante Ereignisse weiterzumelden, als kreative Lösungsansätze für ökonomische Fragen zu entwickeln. Der Berichtseifer ergibt sich zum anderen aber auch aus der im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre immer deutlicher werdenden Alarmfunktion der Offiziere. Indem sie die Organe der SED und der Wirtschaftsverwaltung auf den prekären Gebäude- und Anlagenzustand und die völlig unzureichenden Sanierungsinvestitionen in den Betrieben aufmerksam machten, konnten sie deren Problembewusstsein schärfen und ihre eigene Relevanz als unverzichtbares Sicherheitsorgan vor Ort hervorheben. Wirtschaftspolitische Konsequenzen erzielte das MfS-Berichtswesen allerdings nur in Ausnahmefällen. Wie das Kapitel zeigte, waren die Diensteinheiten der Linie XVIII zwar in der Lage, ihre Analysen zielgenau bei den wichtigsten Entscheidungsträgern in Partei und Regierung zu platzieren, eine Revision von Investitionsschwerpunkten oder eine Absenkung der Produktionsauflagen resultierte daraus aber nicht. Als Beispiel dafür wurde die Diskussion um die Erneuerung der Salpetersäureanlage im Kombinat Bitterfeld vorgestellt. Neben dem protokollierenden und auswertenden Umgang mit dem Thema Anlagensicherheit setzten MfS, Kombinat und Planverwaltung auch auf kontrollierende und disziplinarische Elemente – die zweite Seite der staatlichen Krisenreaktion, die im letzten Abschnitt des Kapitels genauer ausgeführt wurde. Das MfS absolvierte zusammen mit den staatlichen Inspektionen im Werk offizielle Kontrollgänge und leitete bei chronischen Problemen in einer Betriebsdirektion oder nach einem akuten Zwischenfall geheimpolizeiliche Ermittlungen ein. Leitender Gedanke hinter diesem disziplinarischen Handeln war, dass ein erheblicher Teil der Verschleißzustände und Unfälle auf die Verantwortungslosigkeit und Führungsschwächen leitender Funktionäre zurückgeführt werden könne. Selbst wenn tatsächlich Vorschriften verletzt und die Ordnung in den Werkshallen vernachlässigt wurden, zeigte sich hier erneut die Tendenz des MfS und seiner »Partner« im Betrieb, Strukturprobleme zu »personalisieren«, sie also als

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lösbar erscheinen zu lassen, und zwar lösbar mit bürokratischen und disziplinarischen Mitteln. Betrachtet man sich diesen Mechanismus näher, wird dabei sowohl bei den Vertretern der Kombinatsleitung und der werksinternen Kontrollorgane als auch bei den MfS-Offizieren der Objektdienststellen ein ausgeprägtes Vertrauen auf Kontrollen und Vorschriften sichtbar. Anlagenstabilität, so die Vorstellung, könne per Weisung einfach verordnet und durch neue Inspektionen sichergestellt werden. Verschleißerscheinungen wiederum ließen sich durch »zentrale Beschlüsse« zu Ordnung und Disziplin effektiv zurückdrängen. Diese Denkweise führte im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre zu einer Fülle an neuen Regularien und Kontrolleinrichtungen. Zusammen ergaben sie das Bild einer ausufernden Sicherheitsbürokratie, die oft mehr Fassade als tatsächlicher Akteur war und in einem eigenartigen Kontrast zum desolaten Zustand der Fabrikhallen stand. Das MfS war mit dieser bürokratischen Struktur eng verbunden. Zum einen arbeiteten die Offiziere selbst mit Auflagen und Anordnungen und verwiesen bei ihren Kontrollgängen stets auf übergeordnete Beschlüsse und Vorschriften. Zum anderen übten sie die Aufsicht über die betrieblichen und staatlichen Inspektionen aus und bedienten sich deren Befugnisse und Sanktionsmittel. Neben der Arbeit mit Vorschriften und Kontrollgremien vertrauten die Offiziere aber auch auf diesem Themenfeld auf ihr klassisches geheimpolizeiliches Instrumentarium, also auf den Einsatz von inoffiziellen Mitarbeitern und auf die Durchführung Operativer Vorgänge. Dies wirkt im Rückblick etwas reflexhaft und mechanisch, wie eine Sicherheitsverwaltung, die auch in Ausnahmesituationen auf die immer gleichen geheimpolizeilichen Standardverfahren zurückgriff. Trotzdem waren die Offiziere davon überzeugt, dass die Anwendung dieser Methodik zu einer besseren Funktionsfähigkeit des Kombinats beitragen könnte – indem zum Beispiel Havarierisiken rechtzeitig erkannt, die Effektivität der Inspektionen erhöht, die Aufmerksamkeit übergeordneter Stellen geweckt, Sanierungsprogramme reibungsloser umgesetzt oder leitende Funktionäre wirkungsvoll diszipliniert wurden. Ihre Ermittlungen, bei denen sie hauptsächlich nach einzelnen Verantwortlichen für bestimmte Missstände fahndeten, wollten sie immer auch als substanziellen ökonomischen Beitrag für das Kombinat verstanden wissen. Führt man die analytische und die disziplinarische Seite des MfS zusammen, traten die Offiziere auf dem Gebiet der Produktions- und Anlagensicherheit in ganz unterschiedlichen Rollen auf: mal als Stabilisatoren gefährdeter Projekte und mal als Kontrolleure der Inspektoren, mal als Begutachter der Anlagensubstanz und Hinweisgeber für übergeordnete Stellen und mal als strafrechtliche Ermittler nach schwereren Zwischenfällen. Diese Vielfalt der Herangehensweisen vermittelt den Anschein großer Aktivität im Zuge der enormen Herausforderungen durch einen fast permanenten Ausnahmezustand. Tatsächlich wird

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aber ebenso deutlich, dass das MfS auch erstaunlich häufig nicht handelte, dass die Offiziere gerade in den Risikozonen der Kombinate rechtlose Zustände lange duldeten, auf größere Überwachungsvorgänge verzichteten, nur wenige inoffizielle Mitarbeiter warben und – genauso wie im Bereich der Außenwirtschaft – den staatlichen Leitern keine praktische Hilfestellung anboten. Obwohl sich die Vertreter des MfS als Anwälte für Sicherheit verstanden, zeigten sie sich ausgerechnet in jenen Fabriken, in denen es tatsächlich eine akute Gefährdung der Anlagensicherheit gab, merkwürdig passiv. Wenn überhaupt gehandelt wurde, dann erst »in letzter Sekunde«, wenn es »politisch« zu werden drohte, wenn zum Beispiel eine negative Berichterstattung in westlichen Medien, Unruhe in der Bevölkerung oder der Totalzusammenbruch einer ökonomisch relevanten Produktionslinie zu befürchten war. Dann kippte die Passivität der Offiziere in Aktionismus um, dann wurden Schwerpunkte eingerichtet, Sicherungskonzeptionen erarbeitet, alarmierende Berichte verfasst, neue Vorschriften veranlasst und strafrechtliche Ermittlungen aufgenommen. Der Vergiftungstod von Strafgefangenen in den Chlorfabriken Bitterfelds wurde als ein Auslöser solcher Ad-hoc-Aktionen vorgestellt. Woher kam dieser zurückhaltende, reaktive und mitunter impulsive Arbeitsstil, bei dem das Handeln der Offiziere nicht von einem langfristigen Plan, sondern von unvorhergesehenen Ereignissen bestimmt wurde? Das Kapitel nannte hier vor allem das übergeordnete Primat der Produktion, das im Bereich der Altanlagen zu größerer Zurückhaltung zwang als im Bereich des Außenhandels. Als Ursachen wurden auch das realistische Bewusstsein der Offiziere für die strukturellen Ursachen der Probleme, die kontraproduktive Wirkung härterer disziplinarischer Maßnahmen als weitere Verschärfung der Arbeitskräftenot und die praktischen Schwierigkeiten für die Überwachungsarbeit in den risikoreichen Altfabriken angeführt. Als entscheidenden Punkt verwies das Kapitel aber auf die Fixierung der drei Objektdienststellen auf die Interaktion mit westlichen Unternehmen. Sobald eine Neuanlage aus dem westlichen Ausland ins Spiel kam, zeigten sich die Offiziere besonders aufmerksam. Das verdeutlicht besonders der Kontrast zwischen der Abwesenheit der Geheimpolizei in der alten Chloratefabrik und ihrer hektischen Betriebsamkeit bei der Installierung der Ersatzanlage. Die tschekistische Logik, dass die originäre politische Gefahr nicht von den Verschleißzuständen im Innern, sondern von unsichtbaren Einflüssen von außen herrührte, war damit auch Ende der 1980er-Jahre noch immer dominant. Berücksichtigt man diese ideologischen, praktischen und ökonomischen Einschränkungen der geheimpolizeilichen Arbeit, wirkt es im Rückblick erstaunlich, dass sich einige staatliche Leiter ausgerechnet bei den Offizieren des MfS eine ausgleichende Regulierung der innerbetrieblichen Abläufe erhofft hatten.

6. Zusammenfassung Die vorliegende Studie analysierte die Überwachung der Zentralverwaltungswirtschaft der DDR durch das Ministerium für Staatssicherheit am Beispiel der drei Chemiekombinate Buna, Leuna und Bitterfeld im Bezirk Halle. Gegliedert wurde die Arbeit entlang dreier übergeordneter wirtschaftspolitischer Zäsuren: der Einleitung einer neuen Sozial- und Konsumpolitik mit dem VIII. Parteitag der SED im Jahr 1971, der anschließenden Phase der Außenhandelsverschuldung seit Mitte der 1970er-Jahre sowie der Konsolidierungspolitik in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre. Diese drei Einschnitte spiegelten sich unmittelbar in den drei untersuchten Chemiekombinaten wider und bildeten damit den Kontext für das Handeln der in ihnen verankerten Geheimpolizei. Die Arbeit fragte nach den grundsätzlichen Zielen und den konkreten Aufgaben des MfS: Wie sah der allgemeine Auftrag der SED an die Offiziere für den ökonomischen Bereich aus? In welchem Verhältnis standen diese Vorgaben zu den wirtschaftspolitischen Strategien der SED in den jeweiligen Phasen? Welche konkreten Einzelziele verfolgten die Offiziere tatsächlich in den Kombinaten? Und wie haben sich die Prioritäten dieser Ziele im Laufe der Zeit verschoben? Deutlich werden sollte dabei der spezifische Blick des MfS auf die ökonomischen Abläufe innerhalb der Chemiebranche. Welche politischen und ökonomischen Risiken nahm das Sicherheitsorgan wahr? Welche Bereiche rückte es in den Mittelpunkt seiner Überwachungsmaßnahmen? An welchen Stellen war es gar nicht präsent? Und welche Erklärungsansätze entwickelte es für einzelne und übergeordnete Problemstellungen? Anhand aussagekräftiger Fallbeispiele ging die Studie den Methoden und längerfristigen Strategien der Geheimpolizei nach. Diskutiert wurden ihre Auswirkungen sowohl auf einzelne ökonomische Sachverhalte als auch auf die involvierten Personen. Auf zwei Aspekte wurde dabei besonders geachtet: Erstens ob von den Aktivitäten der Offiziere ein unterstützender oder ein hinderlicher Effekt für die Funktionsfähigkeit der Betriebe und der Wirtschaftsverwaltung als Ganzes ausging und zweitens ob sich bei ihnen ein festes, immer wiederkehrendes Reaktionsmuster oder eine Anpassung an die verschiedenen neuen Herausforderungen – also eine Art Lernprozess – erkennen lässt. In diesem Zusammenhang wurde auch immer wieder nach den Handlungsspielräumen der lokalen Diensteinheiten des MfS gefragt, also nach den Fähigkeiten der Offiziere, ihre selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Die Durchsetzungsfähigkeit der Geheimpolizei fiel dabei je nach Kombinat und Themenfeld äußerst unterschiedlich aus. Die Ergebnisse der Arbeit sollen im Folgenden thesenartig zusammengefasst werden.

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Fokussierung auf Westkontakte und häufiges Nicht-Handeln: Das MfS als Ausnahmeakteur Betrachtet man das Handeln der Objektdienststellen des MfS in den drei Chemiekombinaten Buna, Leuna und Bitterfeld genauer, fällt zunächst die hoch selektive, stark auf wenige Sachverhalte begrenzte »operative« Arbeit der Offiziere ins Auge. Im Fokus der Überwachung standen stets Funktionäre mit Westkontakten, hier vor allem Westreisekader, staatliche Leiter und Vertreter der Export- und Forschungsabteilungen. In deren Beeinflussung durch westliche Ideen und Interessen wollten die Objektdienststellen die größte Beeinträchtigung der Kombinate für die planmäßige Verwirklichung ihrer Produktions- und Außenhandelsziele erkennen. Diese Gefährdung von außen wurde umso bedrohlicher wahrgenommen, je mehr die Interaktion der Chemiebranche mit westlichen Partnern im Laufe der 1970er-Jahre an Intensität zunahm. Die durchweg als risikoreich eingestufte ökonomische Westöffnung der DDR als Folge der Investitions- und Konsumpolitik der SED kann als beherrschender Kontext für die Überwachungsarbeit des MfS in den drei untersuchten Chemiekombinaten beschrieben werden. Das Gegenstück zu dieser Konzentration auf die west-östliche Zusammenarbeit im Bereich Außenhandel, Investitionen und Forschung stellte die weitgehende Abwesenheit der Offiziere in den übrigen Bereichen der Kombinate dar. Das MfS interessierte sich weder für die Beziehungen der Betriebe untereinander – obwohl es hier häufiger zu Manipulationen, Lieferausfällen und Vertragsverletzungen kam – noch für die Handelskontakte der Kombinate innerhalb des RGW, obwohl zwei Drittel ihrer Ausfuhren mit östlichen Vertragspartnern abgewickelt wurden. Auch die störanfälligen Altfabriken standen außerhalb des Überwachungsfokus des MfS. Während die Mitarbeiter der Objektdienststellen auf alltägliche und harmlose Gepflogenheiten im Außenhandel übersensibel reagierten, duldeten sie offensichtliche Rechtsverstöße und Sicherheitsrisiken im Bereich der Produktionsanlagen über längere Zeit. Erst bei größeren Zwischenfällen mit überregionalen Auswirkungen wurden sie aktiv – dann mit pragmatischen und durchaus sinnvollen Notlösungen in enger Kooperation mit betrieblichen und staatlichen Inspektionen und Leitungskräften. Damit kann festgehalten werden, dass das MfS in den Kombinaten stets ein Ausnahmeakteur blieb, ein Sicherheitsorgan, das nur in zugespitzten Situationen und nur auf ausgewählten Themenfeldern in Erscheinung trat. Statt einen dominanten Einfluss auf die innerbetrieblichen Abläufe auszuüben, fand es sich im Regelfall in der Rolle eines passiven und begleitenden Beobachters wieder.

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Personalisierung von Sachproblemen und Vertrauen auf Regeln und Kontrolle – das wiederkehrende Reaktionsmuster des MfS Auch wenn die Offiziere ihre Überwachungsarbeit auf wenige Schwerpunkte begrenzten, interessierten sie sich innerhalb dieser Schwerpunktbereiche für eine Vielzahl von Sachverhalten: Mal war es die schleppende Refinanzierung der Niederdruckpolyethylenanlage in den Buna-Werken, mal die häufigen Produktionsunterbrechungen bei der Neuanlage für Methanol im Kombinat Leuna und mal die Verzögerung beim Sanierungsprojekt »RSM« in Bitterfeld. Im Rückblick wird dabei deutlich, dass das MfS auf diese ganz unterschiedlich gelagerten Probleme mit einem festen Set aus vier Standardmaßnahmen reagierte: Erstens mit der Durchführung von offiziellen Kontrollgängen, in deren Rahmen nicht selten technische Veränderungen mithilfe einer Auflage angeordnet wurden; zweitens mit dem Versuch, das vor Ort vorhandene IM-Netz weiter auszubauen; drittens mit dem Einsatz von externen Sachverständigen, um rechtliche, technische und ökonomische Fragen klären zu lassen und schließlich, viertens, mit strafrechtlichen Ermittlungen gegen einzelne leitende Funktionäre. Häufig wurde den betroffenen Personen dabei ein unverhältnismäßig großer Wirkradius unterstellt und die Gesamtverantwortung für alle Probleme innerhalb ihres Anleitungsbereiches übertragen. Die den Überwachungsvorgängen zugrunde liegenden Straftatvorwürfe beliefen sich in der Regel auf Wirtschaftsstraftaten wie »Vertrauensmissbrauch« oder »Beschädigung des sozialistischen Eigentums«, manchmal aber auch auf Formen von Staatsverbrechen wie Spionage, Sabotage oder Geheimnisverrat. Besonders in letztgenannten Fällen konnte der Ermittlungseifer der Objektdienststellen dann mit spürbaren Überwachungsmaßnahmen und mehrtägigen Verhören beinahe exzessive Formen annehmen. Bei diesem festgefügten Reaktionsmuster fallen drei Merkmale auf: Zunächst die Neigung der Offiziere, einzelne Zwischenfälle und chronische Schwierigkeiten im Betrieb auf das Fehlverhalten verantwortlicher Funktionäre vor Ort zurückzuführen. Selbst bei komplexeren Strukturproblemen waren sie schnell bereit, auf die Führungsschwächen und Gesinnungsprobleme des Leitungspersonals zu verweisen. Deutlich kommt hier das tiefsitzende Misstrauen der Offiziere gegenüber den Beschäftigten der Kombinate zum Vorschein. Als besonderes Sicherheitsrisiko wurde dabei vor allem deren enorme Kompetenzanhäufung sowie deren Offenheit gegenüber westlichen Geschäftspraktiken und Lebensstilen eingestuft. Eng mit diesen Vorbehalten verbunden war – zweitens – ein ausgeprägtes Vertrauen der Offiziere auf Vorschriften und Kontrollen. Nach ihrem Verständnis sollten sich die staatlichen Leiter wie »Funktionäre« im eigentlichen Wortsinn verhalten, also wie Einzelteile einer Maschine »funktionieren«. Wenn sich jeder an seinem Platz genau an die Vorgaben der Betriebsleitung und der übergeordneten Stellen hielte, so der leitende Gedanke, könnte man auch größere

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Projekte wie die Energieträgerumstellung oder die Anlagenmodernisierung auf Kompensationsbasis erfolgreich realisieren. Aus dieser Perspektive erscheint es nachvollziehbar, dass der Einsatz disziplinarischer, bürokratischer und geheimpolizeilicher Mittel als sinnvoller ökonomischer Beitrag verstanden wurde. In ihren internen Berichten hoben die Offiziere neben dem sicherheitspolitischen Aspekt immer auch den ökonomischen Mehrwert ihrer »operativen« Maßnahmen hervor. Und schließlich kann – drittens – festgehalten werden, dass die Annahmen und Reaktionsweisen des MfS große Ähnlichkeiten mit jenen der SED und der Wirtschaftsverwaltung aufwiesen. Auch die anleitende Zentrale vermutete bei Problemen im Bereich der Produktionssicherheit und des Außenhandels oft individuelles Fehlverhalten der lokalen Funktionäre und vertraute als Problemlösung auf eine Mischung aus Analysen, Disziplinarmaßnahmen, verstärkter Kontrolle und Auflagen. Sowohl bei den Offizieren des MfS als auch bei den Vertretern der SED-Führung und der Planorgane kontrastierte ein allgemeines Misstrauen gegenüber den verantwortlichen Personen mit einem ausgeprägten Vertrauen auf Normen und Kontrollinstitutionen. Die Wirkungslosigkeit des ökonomischen Beitrags Wie lässt sich der »Erfolg« dieses Reaktionsmusters im Rückblick beurteilen? Zeigte sich das MfS tatsächlich in der Lage – zusammen mit den Vertretern der Kombinate, der SED und der übergeordneten Wirtschaftsverwaltung –, seine verschiedenen sach- und personenbezogenen Ziele zu erreichen? Zunächst fällt auf, dass in Bezug auf die betrieblichen und ökonomischen Anliegen kaum eine geheimpolizeiliche Maßnahme die gewünschte Wirkung entfaltete. Die Offiziere schafften es zum Beispiel nicht, das Missmanagement beim RSM-Programm in Bitterfeld zurückzudrängen, die chronischen Qualitätsprobleme bei den Kunststoffanlagen in den Buna-Werken zu beheben oder die chaotischen Zustände im Kombinatsbetrieb Orbitaplast in Weißandt-Gölzau zu überwinden. Drei Ursachen können für diese eingeschränkte ökonomische Problemlösungsfähigkeit des MfS angeführt werden: Erstens die Fixierung auf einzelne Personen und Teilprobleme, ohne die strukturellen Zusammenhänge bestimmter Schwierigkeiten in den Blick zu nehmen. Obwohl das MfS auf umfangreiches Fach- und Überblickswissen zurückgreifen konnte, führte es keine tiefergehenden Analysen der ökonomischen Funktionsschwächen durch und präsentierte keine unkonventionellen und nachhaltigen Lösungsansätze. Erklären lässt sich das mit den geringen betriebswirtschaftlichen Kenntnissen der Offiziere, ihrer politischen Befangenheit und praktischen Überforderung sowie ihrem Glauben, dass innerbetriebliche

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Schwierigkeiten vor allem auf Personen, und nicht auf organisatorische Defizite oder falsche Planvorgaben zurückgeführt werden können. Eine zweite Ursache lag in dem oft kontraproduktiven Effekt der meisten geheimpolizeilichen Maßnahmen. Vor allem an jenen Stellen, an denen die Geheimpolizei ihre Aktivitäten konzentrierte, bewirkte sie eher eine Verstärkung typischer betrieblicher Funktionsprobleme. Beispiele dafür sind das zeitaufwendige Prüfungsverfahren für Reisekader, das die Außenhandelsarbeit lähmte, die Entfernung erfahrener Forscher und Außenhändler, die den Fachkräftemangel vergrößerte sowie die permanenten offiziellen und inoffiziellen Kontrollen der staatlichen Leiter, die den ohnehin verbreiteten Hang zur Verschleierung von Störfällen und Fehlkalkulationen weiter verstärkten. Am Ende schuf die Krisenreaktion des MfS – zusammen mit der Krisenreaktion der SED, der Wirtschaftsverwaltung und der Kombinatsleitung – genau jenen risikoscheuen, resignierenden und unzuverlässigen Kadertypus, der anschließend als Hauptursache für alle Zwischenfälle und chronischen Funktionsprobleme im Betrieb benannt wurde. Und schließlich ergab sich die ökonomische Wirkungslosigkeit der Überwachungsarbeit aus der Weigerung der Offiziere, den Kombinaten ganz praktisch mit Materialien, Kontakten oder Spezialwissen auszuhelfen. Rückblickend kann für den Bereich der Chemieindustrie weder eine kompensatorische noch eine steuernde Funktion des MfS festgestellt werden. Bis auf wenige Ausnahmen hielten sich die hier untersuchten Objektdienststellen aus dem betrieblichen Alltagsgeschäft der Betriebe heraus und konzentrierten sich ganz auf ihre »operativen« Angelegenheiten. Damit kann das mitunter in der Literatur verbreitete Bild von der Geheimpolizei als eine ausgleichende inoffizielle Korrekturinstanz, die einer rigiden offiziellen Planzentrale gegenüberstand, nicht bestätigt werden. Vielmehr wird deutlich, dass die MfS-Offiziere als Ermahner der betrieblichen Funktionäre, Sprachrohr der übergeordneten Planverwaltung und Oberkontrolleur der zahlreichen Inspektionen auftraten, mit dem Ziel, auf der Basis ihrer polizeilichen und geheimdienstlichen Befugnisse, Rechtsbrüche aufzudecken, Störfälle einzudämmen und ganz allgemein die Steuerungsfähigkeit der Zentrale wiederherzustellen. Wenn die Betriebe überhaupt durch das MfS unterstützt wurden, dann höchstens in Form alarmierender Berichte über den zunehmend prekären Gebäude- und Anlagenzustand auf dem Werksgelände. Dass diese detailreichen Gutachten die wichtigsten Entscheidungsträger innerhalb der SED und Wirtschaftsverwaltung erreichten und von diesen auch zur Kenntnis genommen wurden, konnte mit den Überlieferungen belegt werden. Nur schwer lässt sich hingegen rekonstruieren, ob die Krisenkommunikation der Offiziere in Einzelfällen auch zu einer tatsächlichen Veränderung der wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozesse führte. Festgehalten werden kann lediglich, dass die übergeordnete Verwaltung auch bei akuten Gefahrenzuständen und deutlichen

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Warnungen des MfS nur langsam reagierte – wie die Diskussion über die Erneuerung der Salpetersäureanlage in Bitterfeld zeigte – und die Führung der SED bei ihren übergeordneten wirtschaftspolitischen Zielvorgaben keinerlei Abstriche vornahm. Grenzen des Zugriffs – die eingeschränkte Sanktionsfähigkeit des MfS Wenn die Offiziere bei ihren sachbezogenen Anliegen kaum Erfolge vorweisen konnten, waren sie dann in der Lage, ihre personenbezogenen Ziele zu erreichen? Auch hier muss eine erstaunliche Durchsetzungsschwäche der vor Ort ansässigen Geheimpolizei festgestellt werden: Im Kombinat Bitterfeld weigerte sich zum Beispiel die Kombinatsleitung, ein vom MfS gewünschtes Disziplinarverfahren gegen den Produktionsdirektor Hans Lohmann einzuleiten. In den Leuna-Werken schien es für die Offiziere unmöglich gewesen zu sein, die folgenreichen Aktivitäten des Betriebsdirektors für Erdöl/Olefine, Wolfgang Nette, einzuschränken. Und im Bunaer Kombinatsbetrieb Orbitaplast hatte die Kreisdienststelle Köthen beträchtliche Schwierigkeiten, die leitenden Kader in der Abteilung Kalander zu disziplinieren. Obwohl die Offiziere ihre »operative« Arbeit auf einen kleinen Kreis von Spitzenfunktionären fokussierten und diesen oft über mehrere Jahre mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln überwachten, fiel es ihnen am Ende dennoch schwer, eine konkrete Bestrafung zu veranlassen – etwa eine Versetzung, eine Entlassung, ein offizielles Ermittlungs- oder ein betriebliches Disziplinarverfahren. Eine fast unbegrenzte Überwachungspraxis traf damit auf eine bemerkenswert eingeschränkte Sanktionsfähigkeit. Auch für dieses Phänomen lassen sich drei Hindernisse für die »operative« Arbeit anführen: Erstens die praktischen Schwierigkeiten der Überwachungsarbeit aufgrund der Überforderung der Betriebe. Angesichts des chronischen Fachkräftemangels und der hohen Fluktuation vor allem in den krisenanfälligen Altfabriken waren die dort zuständigen Leitungskräfte sehr daran interessiert, auf jegliche Versetzungen, Disziplinarmaßnahmen oder gar Entlassungen zu verzichten. Ein hartes bestrafendes Vorgehen des MfS und der Justizorgane hätte hier das Problem der Abwanderung vor allem von jungen Arbeitskräften weiter verschärft. In diesen Bereichen galt das Primat der Produktion. Fanden die Offiziere keine Interaktion mit westlichen Unternehmen vor, hielten sie sich in der Regel mit weitergehenden sicherheitspolitischen Forderungen zurück. Zweitens die rechtlichen Hürden der Überwachungsarbeit. Verfolgten die Offiziere das Ziel, gegen einen Beschäftigten ein offizielles Strafverfahren über die Justiz eröffnen zu lassen, waren sie gezwungen, ihren geheimen Vorermittlungen einen Strafrechtsparagrafen zugrunde zu legen und dessen Beweisanforderungen zu erfüllen. Nicht selten scheiterten die Kreis- und Objektdienststellen

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daran, das Untersuchungsorgan des MfS – hier die Abteilung IX der Bezirksverwaltung Halle – von der Stichhaltigkeit ihrer Straftatvermutungen zu überzeugen. Nicht selten mussten die oft überschießenden Anschuldigungen der lokalen Diensteinheiten im Laufe der »Operativen Vorgänge« wieder zurückgenommen, die Ermittlungen bisweilen sogar ganz eingestellt werden. Diese strengen internen Prüfungen innerhalb des MfS gingen auf den Wunsch der SED zurück, jeden Anschein einer justiziellen Willkür nach außen zu vermeiden. Gerade in den 1980er-Jahren stand das MfS in der Pflicht, politische Sicherheit zu gewährleisten, ohne das Rechtsempfinden der Bürger im Innern und die neugewonnene völkerrechtliche Anerkennung des Staates nach außen über die Maßen zu beeinträchtigen. Eine dritte Ursache für die eingeschränkte Sanktionsfähigkeit der Geheimpolizei geht schließlich auf ihre indirekte Arbeitsweise zurück: Waren die MfS-Offiziere in einer bestimmten Situation nicht in der Lage, einen Operativen Vorgang in einen offiziellen Strafprozess zu überführen, stand ihnen immer noch die Möglichkeit offen, die Bestrafung einer überwachten Person über den Betrieb zu veranlassen, zum Beispiel in Form einer Versetzung oder Ermahnung. In der Regel gingen sie dabei nicht autonom vor, sondern griffen auf bestimmte Partnerorgane zurück – etwa auf den Sicherheitsbeauftragten, um eine Belehrung auszusprechen oder auf eine Kontrollinspektion, um ein Ordnungsstrafverfahren einleiten zu lassen. Diese delegierende Arbeitsweise brachte allerdings auch eine enorme Abhängigkeit von diesen betrieblichen oder staatlichen Akteuren mit sich. Verweigerte ein Organ die Zusammenarbeit, konnte das den Spielraum der Offiziere erheblich einschränken. Ob die Ziele eines Überwachungsvorgangs erreicht werden konnten, lag am Ende vor allem an der Unterstützung der SED. Gab sie grünes Licht, war es den Offizieren relativ einfach möglich, ihre konspirativen Vorermittlungen mit einer spürbaren Sanktion abzuschließen. Die Versetzung von Günther Eßbach in Bitterfeld oder die Entlassung von Paul Just in Buna, inklusive Parteiausschluss und innerbetrieblicher Aussprache, erfolgte vor allem auf Betreiben des lokalen SED-Organs.  Setzten die Funktionäre der Partei dagegen andere Prioritäten, wie die erfolgreiche Umsetzung eines Planprojekts, liefen die »operativen« Maßnahmen in der Regel ins Leere. Die erfolglosen Ermittlungen im Rahmen des RSM-Programms sind dafür ein Beispiel. Im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre wurde es für die Führung der SED immer schwieriger, die auseinanderstrebenden ökonomischen und sicherheitspolitischen Interessen in Einklang zu bringen. Durch den hohen Konsolidierungsdruck war es für sie kaum noch möglich, eine rein geheimpolizeiliche Sicht auf ökonomische Probleme einzunehmen. Die sicherheitspolitischen Prämissen des MfS kollidierten immer öfter mit den wirtschaftspolitischen Handlungszwängen der SED, der Kombinate und der Planorgane. Neben den praktischen, rechtlichen und methodischen Hindernissen der »operativen« Arbeit, war es vor

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allem dieser grundlegende Gegensatz zwischen »Sicherheit« und »Wirtschaft«, der die Sanktionsfähigkeit der Offiziere deutlich einschränkte. Auch wenn diese Grenzen in allen drei untersuchten Kombinaten vorhanden waren, fällt dennoch auf, dass sich die Kreis- und Objektdienststellen in ihrem Durchsetzungsvermögen deutlich voneinander unterschieden. Während die Offiziere in den Leuna-Werken Spitzenfunktionäre wie Wolfgang Nette trotz langjähriger Beobachtung weitgehend gewähren ließen, setzten ihre Kollegen in den Buna-Werken die von ihnen überwachten Personen weitaus stärker unter Druck. Die vorgestellten »operativen« Maßnahmen gegen Schnittfincke, Scharf und Just stehen dafür als Beispiele. Erklären lassen sich diese unterschiedlichen Spielräume vor allem mit den Machtverhältnissen im Kombinat – hier vor allem zwischen der Kreisleitung der SED und der Generaldirektion: Stand der Generaldirektor innerhalb der SED-Hierarchie über dem 1. Sekretär der kombinatseigenen Industriekreisleitung, blieb das lokale SED-Organ vergleichsweise einflusslos – und mit ihm die Objektdienststelle als sein wichtigstes Instrument. Die Leuna-Werke mit dem ZK-Mitglied Erich Müller an der Spitze sind dafür ein Beispiel. Lag das Machtzentrum hingegen bei der Industriekreisleitung, konnte das MfS vor Ort deutlich dominanter in Erscheinung treten. In den Buna-Werken war es den Offizieren zum Beispiel möglich, mit Auflagen, Arbeitsgruppen, konspirativen Ermittlungen und Kontrollgängen ein spürbar strengeres Kontrollregime zu etablieren. Dass die Wirtschaftsüberwachung in der Chemiebranche generell etwas intensiver ausfiel als in anderen Industriezweigen – vergleichbar mit dem Agieren des MfS in den Betrieben und Wirtschaftsorganen der Hochtechnologie –, geht dabei auch auf drei weitere Aspekte zurück: auf die ökonomische und sicherheitspolitische Relevanz dieser Branche, auf die starke Vernetzung ihrer Betriebe ins westliche Ausland und nicht zuletzt auf die Stationierung der Geheimpolizei direkt vor Ort in Form betriebseigener Objektdienststellen oder Operativgruppen. Zwischen Standardprozeduren und Aktionismus – Die bürokratische und reaktive Arbeitsweise der Offiziere Auch wenn die Zugriffsmöglichkeiten und Wirkradien der Offiziere von Kombinat zu Kombinat variierten, wies die Überwachungsarbeit aller lokalen Diensteinheiten einen gemeinsamen Grundcharakter auf: eine eigenartige Gegensätzlichkeit aus bürokratischen Standardprozeduren und überstürztem Ad-hoc-Handeln. Auf der einen Seite reagierten die Objektdienststellen auf technische Zwischenfälle und verdächtige Personen mit den immer gleichen Maßnahmeplänen und Instrumenten. Selbst in zugespitzten Ausnahmesituationen wie einer schweren Havarie spulten sie ein standardisiertes Überwachungs-

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programm ab, das aus den oben genannten Elementen der Analyse, Kontrolle, Ermittlung und Bestrafung bestand. Eine Anpassung oder Weiterentwicklung dieses festgefügten Reaktionsmusters lässt sich auch bei neuartigen Schwierigkeiten oder der oben beschriebenen Wirkungslosigkeit der Überwachungsmaßnahmen kaum beobachten. Im Rückblick haftete der Arbeitsweise der Offiziere ein stark mechanisch-bürokratischer Grundzug an. Diese erste Eigenschaft wird verständlicher, wenn man das MfS als politische Verwaltung versteht, deren Handeln durch planwirtschaftliche Denklogiken und ministerielle Abläufe angeleitet wurde. In einer solchen bürokratischen Hierarchie waren nicht innovative Strategien und tatsächliche Lösungskompetenzen, sondern die routinehafte Abrechnung neuer Fälle und Überwachungsleistungen gefragt. Nicht selten führte diese Orientierung auf einen quantitativen Ausstoß von »Gütern« sogar zu einem Scheinhandeln der Offiziere, bei dem die alltägliche Arbeit eines staatlichen Leiters, Außenhändlers oder Ingenieurs einfach als »Einflussnahme über IM« beschrieben wurde, um sie damit als eine Form des eigenen geheimpolizeilichen Engagement abbuchen zu können. Der Eindruck, dass die Überwachungsarbeit der Offiziere aus bürokratischem Routinehandeln bestand, ergibt sich zum Teil allerdings auch aus der Art der Überlieferungen. Die Quellen geben die Aktivitäten der Offiziere in immer gleichen Formaten wie »Operativplänen«, »Sicherungskonzeptionen« oder »Sachstandsberichten« wieder. Die darin enthaltene bürokratische Sprache bestand aus feststehenden, häufig wiederkehrenden Textbausteinen und Phrasen, die den Anschein einer schablonenhaften Denk- und Arbeitsweise der Offiziere noch verstärken. Die pragmatische und flexible Seite der Geheimpolizei, die es ebenfalls gab – wie etwa die kollegiale Arbeitsbeziehung der Dienststellenleiter zu den Generaldirektoren der Kombinate –, kann in solchen Dokumenten nur in Ansätzen zum Vorschein kommen. Die tatsächliche, und in den Überlieferungen mit Nachdruck abgebildete, bürokratische Vorgehensweise der Offiziere stand auf der anderen Seite im Kontrast zu ihrem reaktiven und situativen Verhaltensmuster. Vor allem auf dem Überwachungsfeld der Anlagensicherheit wurde das MfS oft erst im Ausnahmezustand aktiv, nachdem sich eine Situation derart zugespitzt hatte, dass überregionale ökonomische und sicherheitspolitische Auswirkungen zu befürchten waren. Dann griff es zusammen mit seinen betrieblichen und staatlichen »Partnern« überstürzt mit Überwachungsprogrammen, mahnenden Berichten, disziplinarischen Maßnahmen und technischen Notlösungen ein. Die Reaktionen des MfS, der Justiz und der Wirtschaftsverwaltung auf den Zusammenbruch der Chloratefabrik in Bitterfeld oder auf den Großbrand in der Kalanderabteilung in Weißandt-Gölzau wurden dafür als Fallbeispiele angeführt. Dieses Getriebensein von Ereignissen hatte kaum noch etwas mit dem ursprünglichen Ziel des MfS gemein, potenzielle Sicherheitsgefahren lange im Voraus durch vorbeugende Erziehungsmaßnahmen, Ermahnungen oder Ent-

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lassungen zu beseitigen. Statt dem Ideal der Planmäßigkeit und Prävention näherzukommen, begleiteten die Offiziere die zunehmend chaotischen innerbetrieblichen Abläufe mit einer Mischung aus Abwarten, Aktionismus und dem routinierten Abarbeiten einzelner Vorgänge. Diese Überwachungspraxis des MfS entsprach sowohl der Herrschaftspraxis der SED als auch der Managementpraxis der Wirtschaftsverwaltung. Während die Parteiführung ihre übergeordnete Macht innerhalb des Betriebs und innerhalb des gesamten politischen und ökonomischen Systems der DDR weniger durch eine umfassende planmäßige Steuerung, sondern vielmehr durch punktuelles, situationsbezogenes Intervenieren ausübte,1 vollzogen die Funktionäre der Kombinate und Ministerien nicht einfach die vorfestgelegten Abläufe eines Jahresplans, sondern versuchten mit viel Improvisation und kurzfristigen Ad-hoc-Aktionen, unvorhergesehene Zwischenfälle zu handhaben, um die von oben vorgegebenen Produktions- und Handelsziele wenigstens ansatzweise realisieren zu können. Aus der Zeit gefallen? Das MfS als Bremser und Unterstützer der Wirtschaftspolitik der SED Dass SED, Wirtschaftsverwaltung und MfS stark reaktiv auftraten, meist von Fall zu Fall agierten, obwohl sie eigentlich die Akteure einer langfristig ausgerichteten Planwirtschaft waren, zeigt, dass sie mit den vielfältigen ökonomischen Herausforderung in der Spätphase der DDR, wie der Überalterung der Anlagen, den gestiegenen Ansprüchen der Konsumenten oder der hohen Staatsverschuldung, scheinbar überfordert waren. Während die Führungsebene der SED sowie Vertreter der Betriebe, Ministerien und Planorgane verschiedene Strategien entwickelten, um Produktion und Handel den neuen Vorgaben und Bedingungen anzupassen – die Exportförderung von veredelten Mineralölprodukten oder die neuartigen Geschäftsmodelle mit westlichen Unternehmen wurden als Beispiele angeführt –, verfolgten die Vertreter der Linie XVIII die damit einhergehende ökonomische Öffnung der DDR mit großem Unbehagen. Der Blick der Offiziere auf westliche Vertreterfirmen als geheimdienstliche »Tarnfirmen« oder auf einzelne staatliche Leiter, Forscher und Außenhändler als westliche »Stützpunkte« legt nahe, dass sie die west-östlichen Interaktionen am liebsten verlangsamt oder sogar vollständig unterbunden hätten. Auch das Konzeptpapier der Hauptabteilung XVIII aus dem Jahr 1982, in dem eine vollständige Abkoppelung des Außenhandels von sämtlichen westlichen Märkten gefordert wurde, offenbarte, wie sehr das MfS mit der eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Strategie der SED haderte. Vor allem in Bezug auf die Außenhandelsaktivitäten der

1  Siehe hierzu Lindenberger: Alltagsgeschichte. S. 318.

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Kombinate und Außenhandelsbetriebe trat die Geheimpolizei als bremsendes Element innerhalb der Wirtschaftsverwaltung in Erscheinung. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob die Offiziere der lokalen Diensteinheiten mit ihren Praktiken und Perzeptionen nicht mehr so recht zur wirtschaftspolitischen Agenda der SED und zu den allgemeinen ökonomischen Rahmenbedingungen der 1970er- und 1980er-Jahre »passten«, ob sie »unzeitgemäß« dachten und handelten, wie ein Überrest aus einer längst vergangenen Epoche. Gewiss war bei den Diensteinheiten der Linie XVIII ein abwehrender und konservativer Grundzug nicht zu übersehen. Sie aber als ein Fremdkörper innerhalb der Betriebe und wirtschaftlichen Grundordnung der DDR zu beschreiben, macht aus zweierlei Gründen wenig Sinn: Zum einen herrschte auch in Teilen der SED und der Wirtschaftsverwaltung ein stark antagonistisches Verständnis von wirtschaftlichen Beziehungen vor, das sich dadurch äußerte, dass westliche Kooperationspartner wie selbstverständlich als »Feinde« und wirtschaftlicher Austausch als »Klassenkampf« verstanden wurden. Die Parteikontrollverfahren in den Buna-Werken und die grundsätzliche Kritik der Kreis- und Bezirksleitungen über die mangelhafte Leitungstätigkeit der Wirtschaftsfunktionäre sind Beispiele für diese misstrauische und konfrontative Denkweise auch außerhalb der Geheimpolizei. Das MfS »passte« also sehr wohl zur Spätphase der DDR. Es war Teil einer politisch-ökonomischen Sphäre, in der flexible und in begrenztem Maße auch reformbereite Kräfte zeitgleich neben dogmatischen und konservativen Akteuren existierten. Zum anderen ist die Vorstellung von den Objektdienststellen als »Fremdkörper« oder externe Blockierer kaum realistisch, da sie als Vertreter der innerbetrieblichen Sicherheitsbürokratie unmittelbar in alle Großprojekte der Kombinate eingebunden waren. Die Agenda der SED und Wirtschaftsverwaltung – wie das Komplexvorhaben in Buna oder der Ausbau der Erdölraffination in Leuna – bestimmte das Überwachungsprogramm des MfS.  Dabei waren die Offiziere davon überzeugt, dass sie mit ihren »operativen« Maßnahmen einen konstruktiven Beitrag für das Gelingen der laufenden Projekte leisten würden. Einen Gegensatz zwischen betriebswirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Prämissen konnten sie nicht erkennen. Erst für den rückblickenden Betrachter wird deutlich, dass das konkrete Handeln der Offiziere und ihr eigenes Rollenverständnis innerhalb der Betriebe nur schwer miteinander zu vereinbaren waren: Auf der einen Seite ihr misstrauischer Blick auf die Funktionäre und deren Initiativen und internationalen Kontakte. Auf der anderen Seite ihre Selbstsicht als Förderer und Beschützer – oder – in ihren eigenen Worten – als »Schild und Schwert« der Kombinate und der SED.

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Das MfS als Krisengewinnler Viele der hier zusammengefassten Beobachtungen über die Verhaltensweisen der Offiziere in den drei untersuchten Chemiekombinaten geben Anlass zu der Vermutung, dass das MfS im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre in die Defensive geraten war, dass es wenig durchsetzungsstark auftrat und am Ende daran scheiterte, politische Sicherheit effektiv zu organisieren. Beispiele dafür sind die eingeschränkte Fähigkeit der Offiziere, gegenüber ausgewählten Personen Sanktionen zu erlassen, ihre Zwangslage, ständig auf unvorhergesehene Zwischenfälle reagieren zu müssen sowie ihr Unvermögen, sowohl einzelne betriebswirtschaftliche Probleme zu lösen – etwa die Instabilität von Anlagen oder die Qualitätsmängel der Exportprodukte – als auch größere makroökonomische Entwicklungen aufzuhalten oder gar umzukehren. Das MfS erscheint aus dieser Perspektive wie ein Verlierer der angespannten ökonomischen Lage seit den späten 1970er-Jahren. Allerdings ist auch eine ganz andere Interpretation denkbar. Berücksichtigt man, dass die Defizite der Wirtschaftsorganisation vor allem durch einen Ausbau der Regulierung und eine Verstärkung der Kontrollen überwunden werden sollten, fällt es nicht schwer, das MfS auch als Profiteur der Krisenreaktion von SED und Wirtschaftsverwaltung zu beschreiben. In dreifacher Hinsicht wirkten sich die krisenhafte ökonomische Entwicklung und die durch sie ausgelösten politischen Maßnahmen auch vorteilhaft auf die Arbeitsbedingungen der Objektdienststellen aus: Um die Funktionsfähigkeit der Betriebe zu verbessern und die Anleitungsfähigkeit des Staates zu stärken, vertrauten SED-Führung und Wirtschaftsverwaltung – erstens – auf eine verschärfte Anwendung des Strafrechts, dem Ausbau des Inspektionswesens und dem Einsatz von Plänen, Vorschriften und Auflagen. Auf diese Weise war das MfS in der Lage, für seine Ermittlungen auf zusätzliche »Partner« und eine erweiterte normative Grundlage der »operativen« Arbeit zurückzugreifen. Neben neuen Instrumenten bescherte die Krise dem MfS ebenso neue Tätigkeitsfelder, wie die Aufklärung von Manipulationshandlungen oder die Untersuchung von Havarien und Anlagenausfällen. Das erweiterte Spektrum der Ermittlungen half den Offizieren dabei, den eigenen Plan zu erfüllen und ihre Präsenz im Betrieb zu legitimieren. Indem SED und Wirtschaftsverwaltung für die Stabilisierung der Produktion vor allem auf schärfere Vorschriften, Kontrollen und Sanktionen vertrauten, wurde das MfS nicht als Teil des Problems, sondern als Teil der Lösung betrachtet. Und schließlich – drittens – brachte die Überforderung des Kombinats und die Art und Weise, wie übergeordnete Stellen darauf reagierten, die staatlichen Leiter in eine rechtlich prekäre Situation, wodurch es für die Offiziere einfacher wurde, ausgewählte Personen unter Druck zu setzen. Durch die Kombination

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aus unrealistischen Plananforderungen, Überregulierung der Produktionsabläufe und Überalterung der Maschinen waren die verantwortlichen Funktionären kaum noch in der Lage, Verträge, Grenzwerte oder Jahrespläne einzuhalten, sich also rechtlich einwandfrei zu verhalten. Bei Bedarf besaßen die Offiziere damit jederzeit die Möglichkeit, das Fehlverhalten eines Funktionärs festzustellen und gegen ihn belastendes Material zusammenzutragen. Gerade wegen ihrer personenbezogenen Arbeitsweise spielten die oft improvisierten und regelwidrigen Abläufe innerhalb der Betriebe der Geheimpolizei in die Hände. Mit neuen Instrumenten, Einsatzfeldern und Ermittlungsfällen scheint es also, als ob das MfS von der ökonomischen Krise seit Mitte der 1970er-Jahre auch profitieren konnte. Weniger in materieller oder finanzieller Hinsicht, aber mit Blick auf neue Möglichkeiten, ihre eigene Rolle im Betrieb zu rechtfertigen und zu erweitern, traten die Offiziere als Nutznießer einer dysfunktionalen Wirtschaftsorganisation auf.2 Sich selbst hätten die Offiziere allerdings nicht in der Position eines »Krisengewinnlers« gesehen. Vielmehr verstanden sie sich als Teil eines überforderten Kombinats, das im permanenten Krisenmodus versuchte, mit den hohen Leistungsanforderungen und häufigen Störfällen fertig zu werden. Eher unbewusst profitierten die Offiziere von jenen systembedingten Funktionsschwächen, die sie mit ihren geheimpolizeilichen Mitteln eigentlich bekämpfen sollten, um sie auf diese Weise aber dennoch – wenn auch unbeabsichtigt – zu verstärken. Fasst man die Einzelthesen zusammen, lässt sich feststellen, dass das MfS in den Chemiekombinaten ein wichtiger Teil der staatlichen Bemühungen war, mit einer nahezu ausweglosen Zwangslage umzugehen: der Produktion immer größerer Mengen an anspruchsvollen Gütern mit immer instabileren Anlagen und völlig unzureichenden Investitionsmitteln. Um unter diesen Ausnahmebedingungen wenigstens ein Mindestmaß an Ordnung und Funktionsfähigkeit aufrechtzuerhalten, reagierten SED und Wirtschaftsverwaltung mit einem ganzen Set an Not- und Scheinmaßnahmen, zu denen neben der Personalisierung von Strukturproblemen, der Verschärfung von betrieblichen Vorschriften und der Einrichtung immer neuer Kontrollorgane auch die Arbeit mit Wett2 Gieseke weist darauf hin, dass sich gerade aufgrund der ökonomischen Krise der hauptamtliche Mitarbeiterstamm des MfS ab 1981 etwas verringerte. Die akute Zahlungsbilanzkrise verzögert das bis dahin ungebremste Wachstum des Apparats. Im Kapitel 2, Abschnitt 2.4.1 über den IM-Bestand der Linie XVIII im Bezirk Halle wird zudem ausgeführt, dass die Anzahl der inoffiziellen Mitarbeiter im Kombinat Leuna und Bitterfeld Anfang der 1980erJahre leicht rückläufig war. Diese Entwicklung widerspricht der Vorstellung vom MfS als »Krisengewinnler«. Rein quantitativ zog das MfS – zumindest unmittelbar – keinen Nutzen aus den ökonomischen Schwierigkeiten. Allerdings boten die verschiedenen Krisensymptome im Kombinat wie unerfüllte Pläne und zahlreiche Havarien den Offizieren immer wieder die Möglichkeit, neue Ermittlungen einzuleiten. In einem dysfunktionalen Kombinat fiel es den Offizieren umso leichter, die Wichtigkeit ihrer geheimpolizeilichen Arbeit – wie die Aufklärung von Störungen oder individuellen Verfehlungen – herauszustreichen. Vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 34.

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bewerben und finanziellen Anreizen sowie die genaue »Analyse« der Havarien und Störfälle zählten. In dieses System aus Aktivismus und Ad-hoc-Lösungen war das MfS eng eingebunden. Als entscheidender Akteur der umfangreichen werkseigenen Sicherheitsbürokratie trug es mit seinen Ermittlungen, Disziplinierungen, Informationen und Analysen dazu bei, den Anschein von staatlicher Handlungsfähigkeit zu wahren und einen kompletten Zusammenbruch der betrieblichen Ordnung zu verhindern. Eine tatsächliche Überwindung der chronischen Funktionsprobleme der Chemiekombinate war mit all den geheimpolizeilichen Aktivitäten aber nicht verbunden. Vor allem dort, wo das MfS seine »operative« Arbeit fokussierte, in den Direktionen für Forschung, Investition und Außenhandel, lassen sich dagegen zahlreiche störende Auswirkungen feststellen. Weit entfernt von einer pragmatischen Aushilfe zeigten sich die MfS-Offiziere hier eigenartig weltfremd, mit Perzeptionen, Gefahreneinschätzungen und Überwachungsprogrammen, die häufig überzogen und irrational anmuteten und nicht so recht in die Phase der ökonomischen Öffnung und politischen Entspannung passen wollten. Infrage gestellt wurde die Präsenz der Geheimpolizei in den Betrieben dadurch aber keineswegs – im Gegenteil. Indem SED und Wirtschaftsverwaltung das MfS zum festen Bestandteil ihrer wirtschaftspolitischen Gegenmaßnahmen machten, konnte es von den selbst mit verursachten betrieblichen Krisenerscheinungen am Ende noch profitieren. Im Rückblick erscheint das MfS als Ausdruck der Überforderung und Überreglementierung der Kombinate und als Nutznießer der dadurch mit bewirkten Funktionsprobleme.

Danksagung Das vorliegende Buch beruht auf einem Promotionsprojekt, das im Februar 2017 erfolgreich abgeschlossen werden konnte. An dieser Stelle möchte ich mich besonders bei den nachstehenden Personen bedanken, die ganz entscheidend zum Gelingen dieses Vorhabens beigetragen haben: Mein Dank gilt zunächst Prof. Dr. Nützenadel, der für diese Arbeit die universitäre Betreuung übernahm und die Studie mit zahlreichen Hinweisen kritisch begleitete. Im Rahmen seines Kolloquiums des Lehrstuhls für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der HU Berlin flossen wertvolle Ideen in die Untersuchung ein. Darüber hinaus bedanke ich mich ganz besonders bei Dr. Roger Engelmann, der als Projektleiter an der Stasi-Unterlagen-Behörde die Studie mit großem Engagement fachlich anleitete. Ohne sein umfassendes Fachwissen und differenzierten Anmerkungen wäre diese Untersuchung in dieser Form nicht möglich gewesen. Vor allem seine minutiöse inhaltliche und sprachliche Überarbeitung des umfangreichen Manuskripts war für mich eine unschätzbare Hilfe. Danken möchte ich ebenfalls Prof. Dr. Münkel für ihre organisatorische Unter­stützung und abschließende wissenschaftliche Begutachtung der Arbeit. Ebenso gilt der Stasi-Unterlagen-Behörde mein Dank, die mit einer Projektstelle die finanzielle und materielle Grundlage dieser Untersuchung legte. An dieser Stelle möchte ich ganz besonders die Mitarbeiter der Außenstelle Halle hervorheben, die schnell und zuverlässig meine zahlreichen Rechercheaufträge bearbeiteten, das Projekt mit großem Interesse verfolgten und jederzeit mit wertvollen Ratschlägen zur Seite standen. Besonders nennen möchte ich hier die bis April 2014 amtierende Leiterin der Außenstelle, Uta Leichsenring, und die Sachgebietsleiterin für Archivwesen, Angela Friedenberger. Nicht vergessen möchte ich ebenfalls die Zeitzeugen, die mir in längeren Interviews wichtige Einblicke in ihre damalige Lebenswelt gewährten. Ihre Schilderungen und fachlichen Erklärungen ermöglichten mir ein besseres Verständnis von den allgemeinen Zeitumständen und ihren individuellen Fallbeispielen. Und schließlich gilt mein besonderer Dank meinem Freund und Kollegen Martin Stief, der das Projekt von Beginn an mit all seinen Ideen und praktischen Ratschlägen enorm bereicherte. Die hier vorliegende Studie ist nicht zuletzt auch ein Ergebnis unserer intensiven, oft auch kontroversen Diskussionen, die schon für sich genommen eine wertvolle Erfahrung darstellen.

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Abkürzungen ABI Arbeiter-und-Bauern-Inspektion Abt. Abteilung AdW Akademie der Wissenschaften der DDR Amt für Nationale Sicherheit Af NS AG Arbeitsgruppe AG BKK Arbeitsgruppe Bereich Kommerzielle Koordinierung AHB Außenhandelsbetrieb AHF Außenhandelsfirma Archivierter IM-Vorgang AIM AKG Auswertungs- und Kontrollgruppe des MfS Archivierter Operativer Vorgang AOP AP Allgemeine Personenablage APO Abteilungsparteiorganisation der SED Aus Politik und Zeitgeschichte APuZ ASMW Amt für Standardisierung, Messwesen und Warenprüfung AWB Außenwirtschaftsbeziehungen BAf NS Bezirksamt für Nationale Sicherheit BArch Bundesarchiv BASF Badische Anilin- und Sodafabrik BD Betriebsdirektor Bd. Band Abteilung Bildung und Forschung der/s BStU BF BGL Betriebsgewerkschaftsleitung Bl. Blatt Bau- und Montagekombinat BMK BND Bundesnachrichtendienst Bezirksparteikontrollkommission der SED BPKK BPO Betriebsparteiorganisation der SED Betriebsschutzamt der Deutschen Volkspolizei BSA BStU Bundesbeauftragte/r für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik BuS Brände und Störungen BV Bezirksverwaltung des MfS CKB Chemiekombinat Bitterfeld CO2 Kohlendioxid ČSSR Tschechoslowakische Sozialistische Republik CWB Chemische Werke Buna DA Deutschland Archiv DABA Deutsche Außenhandelsbank Direktion für Beschaffung und Absatz DBA DDR Deutsche Demokratische Republik DKP Deutsche Kommunistische Partei DM Deutsche Mark DSt Dokumentenstelle DVP Deutsche Volkspolizei EFTA European Free Trade Association EKO Eisenhüttenkombinat Ost EKW Ersatzkraftwerk

Abkürzungen EOS Erweiterte Oberschule EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung Freier Deutscher Gewerkschaftsbund FDGB Freie Deutsche Jugend FDJ FES Friedrich-Ebert-Stiftung FIM Führungs-IM FNB Farbstoffneubau FuE Forschung und Entwicklung GD Generaldirektor Inspektion des Generaldirektors GDI GDR Reisestelle des Generaldirektors Gesellschaft zur Finanzierung von Industrieanlagen GEFI Genex Geschenkdienst- und Kleinexport GmbH GMS Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit Geheime Verschlusssache GVS HA Hauptabteilung HDPE Hochdruckpolyethylen Hydrargyrum = Quecksilber Hg HM Hauptamtliche/r Mitarbeiter des MfS Hptm. Hauptmann HV A Hauptverwaltung A des MfS IAPS Inspektion für Anlagen- und Produktionssicherheit IBF Industriebankfiliale IKL Industriekreisleitung der SED Inoffizieller Mitarbeiter IM Inoffizieller Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung IMB IME Inoffizieller Mitarbeiter im besonderen Einsatz Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration IMS INTERCHIM Zwischenstaatliche ökonomische Organisation der RGW-Länder für kleintonnagige chemische Erzeugnisse mit Sitz in Halle IWP Industrielle Warenproduktion JHS Juristische Hochschule KA Kombinatsanordnung KBG Kontroll- und Beratungsgruppe des Generaldirektors FDKB Fachdirektion für Kader und Bildung KD Kreisdienststelle des MfS KL Kreisleitung der SED KoKo Kommerzielle Koordinierung KP Kontaktperson KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion KPKK Kreisparteikontrollkommission der SED KPV Kombinat Pumpen und Verdichter in Halle KuSCH Hauptabteilung Kader und Schulung KVB Komplexvorhaben Buna KVO Kombinatsverordnung LFM Leipziger Frühjahrsmesse LHASA Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt LHM Leipziger Herbstmesse Ltn. Leutnant M Mark der DDR

465

466 MAI MAK

Anhang

Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel Maximale Arbeitsplatzkonzentration/Materialien, Ausrüstungen und Konsumgüter Ministerium der Finanzen MdF MER Standort Merseburg des Landeshauptarchivs Ministerium für Chemische Industrie MfC MfS Ministerium für Staatssicherheit MG Metallgesellschaft Mio. Millionen Mj Major Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg MLU Mrd. Milliarden Ministerium für Wissenschaft und Technik MWT MZ Mitteldeutsche Zeitung nicht paginiert n.p. ND Neues Deutschland NDPE Niederdruckpolyethylen Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung NÖS NSAG Nichtstrukturelle Arbeitsgruppe Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet NSW NVA Nationale Volksarmee OD Objektdienststelle OECD Organization for Economic Co-operation and Development Offizier im besonderen Einsatz OibE OPK Operative Personenkontrolle OSL Oberstleutnant OSP Organische Spezialprodukte OSSD Ordnung, Sicherheit, Sauberkeit und Disziplin Operativer Vorgang OV P5 Produktionsbereich 5 (Bereich Farben, Benzen, Naphtol) im Chemiekombinat Bitterfeld Produktions- und Anlagensicherheit PAS PID Politisch-Ideologische Diversion Plel Handelsgesellschaft Plast-Elast-Chemie mbH POZW Politisch-Operatives Zusammenwirken PUT Politische Untergrundtätigkeit PVC Polyvinylchlorid PWT Jahresplan des Ministeriums für Wissenschaft und Technik Reg.-Nr. Registriernummer RGW Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe RK Reisekader RL Richtlinie RSM Programm zur Rationalisierung, Standardisierung und Modernisierung der Grundfonds des Chemiekombinats Bitterfeld SAG Sozialistische Aktiengesellschaft SATÜ Staatliches Amt für Technische Überwachung SB Sicherheitsbeauftragter SBZ Sowjetische Besatzungszone SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SERO VEB Kombinat Sekundärrohstofferfassung SG Strafgefangene/r

Abkürzungen

467

SO2 Schwefeldioxid SPK Staatliche Plankommission SQI Staatliche Qualitätsinspektion StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozessordnung StVE Strafvollzugseinrichtung SÜ Sicherheitsüberprüfung Sozialistisches Wirtschaftsgebiet SW TEGA Technische Gase Technische Hochschule TH Technische Kontrollorganisation TKO TVM Tausend Valutamark VE Verrechnungseinheit VEB Volkseigener Betrieb vgl. vergleiche VM Valutamark VP Volkspolizei VR Volksrepublik Vereinigung Volkseigener Betriebe VVB VVS Vertrauliche Verschlusssache Wissenschaftliches Forschungs- und Koordinierungszentrum für die PlastWKZ und Elasterzeugung und -anwendung im Chemischen Kombinat Buna ZAG Zentrale Arbeitsgruppe Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS ZAIG ZK Zentralkomitee der SED Zwischenprodukte für Farbstoffe Zwipro

468

Anhang

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474

Anhang

Maskow, Dietrich: Das Scheitern der Differenzierung des Vertragsrechts der DDR und die Konsequenzen. In: Rolf Steding (Hg.): Staat und Recht in den neuen Bundesländern – Rückblick und Ausblick auf eine schwierige Metamorphose. In: Staat und Recht, Sonderheft, 1991, S. 115–123. Matthes, Christian Felix: Stromwirtschaft und deutsche Einheit. Eine Fallstudie zur Transformation der Elektrizitätswirtschaft in Ost-Deutschland. Berlin 2000. Meuschel, Sigrid: Legitimation und Parteienherrschaft in der DDR. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR. 1945–1989. Frankfurt/M. 1992. Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Hg. im Auftrag des BStU. Berlin 2012. Möbis, Harry: Das Sicherheitsaktiv – ein Instrument staatlicher Leitungstätigkeit im Kampf für vorbildliche Ordnung, Disziplin und Sicherheit. In: Staat und Recht 28 (1979), S. 873– 880. Müller-Enbergs, Helmut: Die inoffiziellen Mitarbeiter. Berlin 2011 (BStU, MfS-Handbuch; IV/2). Müller-Enbergs, Helmut (Hg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 1: Richtlinien und Durchführungsbestimmungen. Berlin 1996. Müller-Enbergs, Helmut (Hg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 2: Anleitung für die Arbeit mit Agenten, Kundschaftern und Spionen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1998. Müller-Enbergs, Helmut (Hg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 3: Statistiken. Berlin 2008. Niethammer, Lutz: Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis des »Oral History«. Frankfurt 1980. Nooke, Maria: Für Umweltverantwortung und Demokratisierung. Die Forster Oppositionsgruppe in der Auseinandersetzung mit Staat und Kirche. Berlin 2008. Onderka, Erika; Meinl, Wolfgang: Leuna. Kraft aus Kohle und Öl. 70 Jahre Kraftstoffe aus den Leuna-Werken. Halle 1997. Petschow, Ulrich; Meyerhoff, Jürgen; Thomasberger, Claus: Umweltreport. Bilanz der Zerstörung. Kosten der Sanierung. Strategien für den ökologischen Umbau. Eine Studie des Instituts für Ökologische Wirtschaftsforschung. Frankfurt/M. 1990. Pfarr, Micha Christopher: Die strafrechtliche Aufarbeitung der Misshandlungen von Gefangenen in den Haftanstalten der DDR. Berlin 2013. Pflicke, Gerhard; Süß, Erika: Wirtschaftsrecht. In: Uwe-Jens Heuer (Hg.): Die Rechtsordnung der DDR. Anspruch und Wirklichkeit. Baden-Baden 1995, S. 427–474. Pflugbeil, Sebastian: Die Umweltzerstörung und die ökologischen Folgen der Rohstoff- und Energiewirtschaft in der DDR. In: Materialien zur Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«, Bd. III/2. Baden-Baden 1999, S. 557–586. Plötze, Hans-Joachim: Das Chemiedreieck im Bezirk Halle aus der Sicht des MfS. Naumburg 1997. Plötze, Hans-Joachim; Ahrberg, Edda (Hg.): »... mal gibt es kein Brot am Nachmittag, mal kein Schnittkäse, mal kein Quark ...«. Die Versorgung der Bevölkerung 1989 im Bezirk Halle mit Waren des täglichen Bedarfs. Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Sachsen-Anhalt. Sachbeiträge 12. Magdeburg 2000. Port, Andrew: Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Cambridge 2007. Przybylski, Peter: Tatort Politbüro. Honecker, Mittag und Schalck-Golodkowski, Bd. 2. Berlin 1992. Raschka, Johannes: Justizpolitik im SED Staat. Anpassung und Wandel des Strafrechts während der Amtszeit HoneckerS. Köln 2000.

Literatur- und Quellenverzeichnis

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Raue, Peter: Das Neue Forum und die hallesche »IM-Liste« – auch eine Prozessgeschichte. In: Verein Zeit-Geschichte(n) (Hg.): Darf man das? Die Veröffentlichung von Stasi-Listen in Halle an der Saale im Sommer 1992 und die Folgen. Halle 2004, S. 54–60. Rehmann, Heinz: Das Buna-Werk Schkopau. Das erste deutsche Buna-Synthesekautschuk-Werk. 1936–1995. Schkopau 2006. Reichert, Steffen: Ein Angriff auf das Stasi-Unterlagen-Gesetz? Inoffizielle und hauptamtliche MfS-Mitarbeiter setzen sich gegen die Veröffentlichung ihrer Namen zur Wehr. In: Horch und Guck. 17 (2008) 60, S. 60–63. Rödder, Andreas: Die Bundesrepublik Deutschland. 1969–1990. München 2004. Rösch, Franz: Außenwirtschaft der DDR und innerdeutsche Wirtschaftsbeziehungen. In: Gernot Gutmann, Gottfried Zieger (Hg.): Außenwirtschaft der DDR und innerdeutsche Wirtschaftsbeziehungen. Rechtliche und ökonomische Probleme. Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Bd. XVI. Berlin 1986, S. 89–98. Roesler, Jörg: Umweltprobleme und Umweltpolitik in der DDR. Landeszentrale für Politische Bildung Thüringen. Erfurt 2006. Roesler, Jörg: Kombinate in der Geschichte. Von den ersten VVB bis zur durchgängigen Kombinatsbildung. In: Jahrbuch für Geschichte, 31, 1984, S. 221–271. Roesler, Jörg: Der Handlungsspielraum der DDR-Führung gegenüber der UdSSR. Zu einem Schlüsselproblem des Verständnisses der DDR-Geschichte. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 41 (1993) 4, S. 293–304. Roesler, Jörg: Industrieinnovation und Industriespionage in der DDR: Der Staatssicherheitsdienst in der Innovationsgeschichte der DDR. In: Deutschland Archiv 27 (1994) 10, S. 1026–1040. Rohnstock Biografien (Hg.): Jetzt reden wir! Was heute aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist. Berlin 2014. Sattler, Friederike: »Betriebsegoismus«? Zum Problem der nicht systemkonformen Nutzung erweiterter betrieblicher Handlungsspielräume im Zuge der DDR-Wirtschaftsreformen. In: Christoph Boyer (Hg.): Sozialistische Wirtschaftsreformen. Tschechoslowakei und DDR im Vergleich. Frankfurt 2006, S. 267–311. Sattler, Friederike: Unternehmensstrategien und Politik. Zur Entwicklung der mitteldeutschen Chemieindustrie im 20. Jahrhundert. In: Hermann-J. Rupieper, Friederike Sattler, Georg Wagner-Kyora (Hg.): Die Mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert. Halle 2005, S. 119–176. Schade, Henrik; Steding, Rolf: Eigentumsverfassung, Vertragskonstruktion und Unternehmensstruktur – Ausdrucksformen rechtlicher Steuerung der Wirtschaft. In: Günter Krause (Hg.): Rechtliche Wirtschaftskontrolle in der Planökonomie. Das Beispiel DDR. Baden-Baden 2002, S. 153–179. Schalck-Golodkowski, Alexander; Volpert, Heinz: Zur Vermeidung ökonomischer Verluste und zur Erwirtschaftung zusätzlicher Devisen im Bereich Kommerzielle Koordinierung des Ministeriums für Außenwirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik. Potsdam 1970. Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft. München 1998. Schröter, Harm G.: Handlungspfadverengung bis zur »Selbstzerstörung«? Oder: Warum die chemische Industrie im Vergleich zu der der Bundesrepublik zwischen 1965 und 1990 so hoffnungslos veraltete. In: Lothar Baar, Dietmar Petzina (Hg.): Deutsch-Deutsche Wirtschaft 1945 bis 1990. Strukturveränderungen, Innovationen und regionaler Wandel. Ein Vergleich. St. Katharinen 2000, S. 304–325. Schröter, Harm G.: Ölkrisen und Reaktionen in der chemischen Industrie beider deutscher Staaten. Ein Beitrag zur Erklärung wirtschaftlicher Leistungsdifferenzen. In: Johannes Bähr, Dietmar Petzina (Hg.): Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen. Vergleichende Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland 1945–1990, S. 109–138.

476

Anhang

Schulz, Ulrike: Simson. Vom unwahrscheinlichen Überleben eines Unternehmens. 1856–1993. Göttingen 2013. Schwarz, Heinz: Prägungen aus acht Jahrzehnten. Bitterfelder Weg eines Generaldirektors. Schkeuditz 2004, S. 183. Schwenk, Herbert: Gewusst und verheimlicht. Vom Abenteuer des Umgangs mit der Umwelt in der DDR. In: Ludwig Elm, Dietmar Keller, Reinhard Mocek: Ansichten zur Geschichte der DDR, Bd. 4. Berlin 1997, S. 237–276. Selitrenny, Rita: Doppelte Überwachung. Geheimdienstliche Ermittlungsmethoden in den DDR-Untersuchungshaftanstalten. Berlin 2003. Sigmund, Monika: Genuss als Politikum. Kaffeekonsum in beiden deutschen Staaten. München 2015. Skyba, Peter: Konsumsozialismus als Dogma. Statische Stabilisierungsstrategie und innere Erosion der SED-Diktatur. In: Stephan Müller, Gary S. Schaal, Claudia Tiersch (Hg.): Dauer durch Wandel. Institutionelle Ordnung zwischen Verstetigung und Transformation. Köln 2001, S. 255–267. Stache, Ulrich: In der DDR investieren und kooperieren. Wiesbaden 1990. Steiner, André: Bolsche Vita in der DDR? Überlegungen zur Korruption im StaatssozialismuS.  In: Jens Ivo Engels, Andreas Fahrmeir, Alexander Nützenadel (Hg.): Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa (Beihefte der Historischen Zeitschrift; Bd. 48). München 2009, S. 249–274. Steiner, André: Bundesrepublik und DDR in der Doppelkrise europäischer Industriegesellschaften. Zum sozialökonomischen Wandel in den 1970er-Jahren. In: Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 3 (2006) 3, S. 342–362. Steiner, André: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienzund Machtkalkül. Berlin 1999. Steiner, André: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR. Bonn 2007. Steiner, André: Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang. Zum wirtschaftlichen Niedergang der DDR. In: Konrad H. Jarausch, Martin Sabrow (Hg.): Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR. Göttingen 1999, S. 153–192. Stokes, Raymond G.: Chemie und chemische Industrie im Sozialismus. In: Dieter Hoffmann, Kristie Macrakis (Hg.): Naturwissenschaft und Technik in der DDR. Berlin 1997, S. 283– 296. Stokes, Raymond G.: Constructing Socialism: Technology and Change in East Germany 1945– 1990. Baltimore 2000. Stokes, Raymond G.: Von Trabbis und Acetylen – Die Technikentwicklung. In: André Steiner (Hg.): Überholen ohne einzuholen. Die DDR-Wirtschaft als Fußnote der deutschen Geschichte?. Berlin 2006, S. 105–125. Strassmann, Günter; Süß, Erika; Wenzel, Siegfried: Zur rechtlichen Dimension des staatssozialistischen Planungsmodells der DDR. In: Günter Krause (Hg.): Rechtliche Wirtschaftskontrolle in der Planökonomie. Das Beispiel DDR. Baden-Baden 2002, S. 140. Suckut, Siegfried: Generalbevollmächtigter der SED oder gewöhnliches Staatsorgan? Probleme der Funktionsbestimmung des MfS in den sechziger Jahren. In: Siegfried Suckut, Walter Süß (Hg.): Zum Verhältnis von SED und MfS. Berlin 1997, S. 151–167. Süß, Walter: Das Verhältnis von SED und Staatssicherheit. Eine Skizze seiner Entwicklung. Berlin 1998 (BStU, BF informiert; 17/1998). Thalheim, Karl C.: Außenwirtschaft als Bestimmungsfaktor von Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsentwicklung in der DDR. In: Gernot Gutmann, Gottfried Zieger (Hg.): Außenwirtschaft der DDR und innerdeutsche Wirtschaftsbeziehungen. Rechtliche und ökonomische Probleme, Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Bd. XVI. Berlin 1986, S. 11–24.

Literatur- und Quellenverzeichnis

477

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478

Anhang

Zeitungsartikel Christiane Kohl: Die Leute werden dun im Kopf. In: Der Spiegel v. 8.1.1990, http://www.spiegel. de/spiegel/print/d-13497016.html, 3.1.2018. Das Land der 1000 Vulkane. In: Der Spiegel v. 8.1.1990, Jg. 44, Sonderheft: Giftküche DDR. Hans Herbert Götz: Der Generaldirektor und sein Werk. In: FAZ v. 5.3.1983, Nr. 54, S. 7. Hellmuth Vensky: Perlon, das Nazi-Nylon. In: Die Zeit v. 29.1.2013, http://www.zeit.de/wissen/ geschichte/2013-01/perlon-kunstfaser-schlack-geschichte, abgerufen am 3.1.2018. Herbert Schwenk: Die Unzufriedenheit ist groß – doch das Wissen recht gering. In: Neues Deutschland v. 19.10.1990, S. 5. Marcus Michel: Einblick zurück auf den Großbrand 1986 bei Orbita. In: Mitteldeutsche Zeitung v. 17.2.2008, http://www.mz-web.de/koethen/ein-blick-zurueck-auf-den-grossbrand1986-bei-orbita.de, abgerufen am 3.1.2018. Marcus Michel: Krankhafte Angst der Stasi vor einer Sabotage. In: Mitteldeutsche Zeitung v. 18.8.2011, S. 8. Raue Töne. In: Der Spiegel v. 17.9.1958, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41759119.html, abgerufen am 3.1.2018. Weberin Hockauf produziert mehr und bessere Stoffe. In: Neues Deutschland v. 1.10.1953, S. 1. Zwang durch Swing? In: Der Spiegel v. 19.8.1974, http://www.spiegel.de/spiegel/print/ d-41651510.html, abgerufen am 3.1.2018.

Internetressourcen www.basf.com www.bstu.bund.de www.bundesfinanzministerium.de www.bundesstiftung-aufarbeitung.de www.bundesverfassungsgericht.de www.chemie.de www.chronik-der-mauer.de www.ddr-lexikon.de www.ddr-wissen.de www.freiheit-und-einheit.de www.gruenes-blatt.de www.mz-web.de www.nd-archiv.de www.seilnacht.com www.spiegel.de www.verfassungen.de www.zeit.de www.zeit-geschichten.de

Literatur- und Quellenverzeichnis

479

Nichtveröffentlichte Quellenbestände Bundesarchiv Berlin, Abteilung DDR - Ministerrat (DC 20) - Staatliche Plankommission der DDR (DE 1) - Ministerium für Chemische Industrie (DG 11) - Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel (DL 2) - Ministerium für Wissenschaft und Technik (DF 4) Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen im Bundesarchiv (SAPMO), Bestand SED - VIII./IX./X. Parteitag der SED (DY 30/IV 1) - Tagungen des Zentralkomitees der SED (DY 30) - Politbüro des Zentralkomitees der SED (DY 30) - Büro Honecker (DY 30) - Büro Mittag (DY 3023) - Volkswirtschaftspläne (DY 3023) - ZK-Abteilung der SED für Grundstoffindustrie (DY 30) - ZK-Abteilung der SED für Handel, Versorgung und Außenhandel (DY 30) - VE AHB Chemieanlagen Export Import (DY 30) - Wirtschaftskommission beim Politbüro des ZK der SED (DY 30) Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) - Leitungsbereich des MfS - Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) - Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft) - Leitung der Bezirksverwaltung Halle - Auswertungs- und Kontrollgruppe der BV Halle - Abteilung XVIII der BV Halle (Volkswirtschaft) - Abteilung IX der BV Halle (Untersuchungsorgan) - Abteilung Kader und Schulung der BV Halle - Objektdienststelle Buna - Objektdienststelle Leuna - Objektdienststelle Bitterfeld - Kreisdienststelle Bitterfeld - Kreisdienststelle Köthen Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Merseburg (LHASA) - SED-Bezirksleitung (P 516) - Industriekreisleitung der SED Buna (P 517-2) - Industriekreisleitung der SED Chemiekombinat Bitterfeld (P 517-1)

480

- - - - -

Anhang

Industriekreisleitung der SED Leuna (P 517-3) VEB Kombinat Chemische Werke Buna (I 529) VEB Chemiekombinat Bitterfeld (I 509) VEB Kombinat Leuna-Werke »Walter Ulbricht« (I 525) VEB Orbitaplast Weißandt-Gölzau (I 449) Abbildungen

Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4:

Objektdienststelle Leuna des MfS im Jahr 1989 Handel mit westlichen Industrieländern Verschuldung gegenüber westlichen Industrieländern Messestand von Plast-Elast-Chemie auf der Kunststoffmesse »K« 1983 in Düsseldorf (Foto Privatbesitz von Hans Leuwer, ehemaliger Geschäftsführer von Plast-Elast-Chemie Essen) Abb. 5: Generaldirektor Helmut Pohle (mit Zeigestock) erläutert Erich Honecker das Modell des Komplexvorhabens bei der feierlichen Übergabe der neuen Kunststoffanlagen am 13.3.1980 im Kombinat Buna. (Foto: BArch Berlin, Bild 183-W0313-0059/Rainer Mittelstädt) Abb. 6: Der Niedergangszyklus im Kombinat Abb. 7/8: Alltägliches Chaos auf dem Werksgelände in Leuna 1981 (Fotos: Leuna-Werke: Havarien und Störungen, 1981; LHASA, MER, I 525, Nr. 19465, n. p.)

Personenregister Bahr, Egon 183, 188 Bartz, Ulrich 117 f., 319–322, 339 f., 342 Bärwinkel, Oswald 121 Bauermeister, Jürgen 123 Beier, Karl Heinz 193, 211 Beil, Gerhard 245 Belitz, Lutz 114, 153, 297 Biel, Götz 215, 260 Biermann, Wolfgang 120 Boethin, Theo 121 Böhme, Hans-Joachim 388, 391 Brandt, Willy 183, 191 Bräutigam, Ernst 331 f. Breschnew, Leonid 243 f. Büchel, Kurt 260–262 Conrad, Karl-Heinz 416 f. Czirr, Werner 93 Czogalla, Werner 228, 425–428, 435 Dabrunz, Abteilungsleiter 219 Daßler, Jürgen 121, 139, 315 Dietze, Albert 110, 217, 219, 255–258, 260–263, 281, 350, 352 Donda, Arno 246 Ehrensperger, Günter 240, 245 Ehrich, Klaus-Ulrich 90, 92, 381 Eichoff, Axel 435 Eigner, Hans 278 Eser, Adolf 47, 49, 121, 134, 149–152, 256, 372, 378, 393, 434, 436 f. Eßbach, Günther 216, 219–221, 223–231, 233, 247, 262 f., 281 f., 412, 453 Fabienke, Grit 30, 214, 340, 342–348, 352 Fabienke, Johanna 30, 340–348, 352 Fabienke, Peter 338–342, 345–348, 352 Falkenberg, Kurt 253, 258 Flegel, Herbert 30 Franz, Klaus Dieter 112 f., 163, 167, 321, 329 Frohnhoff, Erich 275–279, 329 Gärtner, Reinhold 93 Gauglitz (KPKK) 331 Geist, Rüdiger 330 f. Hackbusch, Frank 93 Hartleb, Harald 224, 228 Henze, Wilfried 122, 211, 213, 215 Hockauf, Frieda 179 f. Hoerkens, Willi 301 Hoffmann, Klaus 300, 317, 327, 330

Honecker, Erich 29, 68, 84, 162, 173, 175 f., 180, 182, 184–187, 227, 231 f., 236, 240–244, 247 f., 267, 300 f., 305 f., 360, 388, 480 Hübner, Armin 338, 343, 403 f. Ihloff, Horst 112 f., 296 f. Jaeschke, Lothar 301 Janetzek, Ewald 92, 344, 346 f. Just, Paul 30, 324–332, 348, 453 f. Kaduk, Karl 121 Kalbitz, Lutz 214, 258 f., 297 Kastl, Gerhard 106, 118 f., 207 f., 253, 258 f. Kellner, Karl 93 Kirchner, Werner 92, 148–152, 160, 215, 411, 436 f. Kleine, Alfred 84, 124 f., 193, 247, 269 f., 434 f. Kohlrausch, Horst 93 König, Otto 120 Kötz, Gottfried 228 Koziolek, Helmut 240, 249, 293, 314 Kozyk, Hans-Joachim 112, 121, 287, 297, 327, 340, 378 Kretschmer, Reinhard 403 f. Krolikowski, Werner 191, 240, 388 f. Krüger, Christa 286 Lawrenz, Eberhard 85, 124 Leibrich, Birgit 287 Leuwer, Hans 30, 275–281, 284 f., 296, 318, 480 Liebig, Karl Heinz 253 Lindau, Betriebsleiter 219 Lindner, Abteilungsleiter 219 Lisiecki, Dietrich 121, 297, 342 f., 372, 379 Lohmann, Hans 230, 373 f., 377 f., 411 f., 426, 452 Maiwald, Harald 300, 318 Marhold, Eberhard 125, 138 Meißner, Hans Peter 92, 124 f. Mielke, Erich 65, 84 f., 111, 159, 191 f., 197, 245, 248, 381, 388 f. Mittag, Erich 78 Mittag, Günter 21 f., 29, 67–69, 72, 77, 240–242, 248 f., 264, 269 f., 298–300, 302, 361, 378, 388 Mittig, Rudolf 85, 135, 137, 248, 268, 381

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Anhang

Möbis, Harry 124–129, 133 f., 138, 146, 204, 222, 246, 394, 396, 402 Müller, Erich 73, 75, 77, 106, 120 f., 124 f., 137–139, 165, 188, 201, 203, 205 f., 208, 253, 258 f., 291–294, 296 f., 312– 314, 316, 454 Müller, Friedrich 93 Müller, Klaus-Jürgen 93 Nagel, Lutz 124 f., 130, 133, 135 f., 205 Nette, Wolfgang 153, 294–297, 309–312, 315 f., 350 f., 452, 454 Novak, Ernst 123 Philipp, Horst 332 Pohle, Helmut 92, 121 f., 137, 285, 287, 297, 300 f., 304, 317–319, 378, 480 Polze, Werner 246 Portmann , Hans Dieter 123, 125 f., 130, 134, 136 Portmann, Hans Dieter 131 Prüfer, Peter 92 Raschendörfer, Günter 415–417, 423 Reichelt, Hans 361 Reinhold, Otto 240, 249 Reinl, Erich 85, 125, 158 Roigk, Horst 113, 246 f., 267, 269 f., 392 Roloff, Herbert 256 f. Saalbach, Karl Heinz 297 Schalck-Golodkowski, Alexander 191–194, 199 f., 264–267, 270, 272 f., 278, 357 Scharf, Hans Joachim 30, 69, 122, 128, 136 f., 196, 209 f., 214, 257, 279–287, 296 f., 317–320, 322, 329, 348, 352, 454 Schlag, Hans 126, 128, 130, 132, 136 f., 139, 257, 318–320

Schlechter, Walter 92 f., 120 Schmidt, Hans Jürgen 92, 282, 287, 401 Schmidt, Karl-Heinz 85, 376, 391, 420 Schmidt, Ulrich 123, 211 Schnittfincke, Rudolf 416–418, 420–422, 454 Schönig, Karl-Heinz 85, 155 Schöppe, Rolf 85, 133, 202, 206, 434 f. Schulz, Günter 109, 118, 319, 327 Schürer, Gerhard 21 f., 240–242, 244 f., 248, 292, 388 Schütz, Wolfgang 260 f. Schwarz, Heinz 48 f., 68, 120–122, 149– 152, 182, 217, 219, 223 f., 228, 375– 378, 387, 389 f., 392, 396, 409, 411 f., 425–428, 433 f. Stoph, Willi 127, 183, 191, 379, 388 Strauß, Franz Josef 357 Ulbricht, Walter 87, 123, 174–177, 179, 182, 184, 186 f., 197, 241 Veckenstedt, Rudi 332 Volpert, Heinz 191–194, 199 f., 267, 272 f. Walkow, Fred 30 Wambutt, Horst 68, 370, 394 Weihs, Horst 129 Wenzel, Siegfried 66, 71, 77 f., 243, 306 Winderle, Hans-Ekkehard 339 Wollweber, Ernst 87, 98, 197 Wyschofsky, Günther 68, 218, 256, 313, 376, 378 f., 388 f., 433 Zaisser, Wilhelm 61 Ziebell, Werner 137–139 Zimmermann, Klaus 117, 122, 297

Angaben zum Autor Dr. Mark Schiefer wurde 1981 in Karl-Marx-Stadt geboren. Er studierte Politik­wissenschaft und Neuere und Neueste Geschichte an der TU Dresden. Seit 2012 ist er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen tätig. Im Jahr 2017 wurde er an der Humboldt-Universität zu Berlin im Fach Wirtschafts- und Sozialgeschichte promoviert.